Band 35
Die Seelenheiler von Rainer Castor
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Band 35
Die Seelenheiler von Rainer Castor
MOEWIG
Alle Rechte vorbehalten © by Pabel-Moewig-Verlag KG, Rastatt www.perry-rhodan.net Bearbeitung: Rainer Castor Redaktion: Sabine Kropp Titelillustration: Arndt Drechsler Vertrieb: Edel Germany GmbH, Hamburg Druck und Bindung: Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany 2009 ISBN: 978-3-8118-4113-0
Prolog 1235. positronische Notierung, eingespeist im Rafferkodeschlüssel der wahren Imperatoren. Die vor dem Zugriff Unbefugter schützende Hochenergie-Explosivlöschung ist aktiviert. Fartuloon, Pflegevater und Vertrauter des rechtmäßigen Gos’athor des Tai Ark’Tussan. Notiert am 24. Prago des Tedar, im Jahre 10.499 da Ark. Bericht des Wissenden. Es wird kundgegeben: Seit wir auf der Totenwelt Hocatarr den Leichnam von Imperator Gonozal VIII. in unsere Gewalt gebracht haben und die Flucht aus dem Hoca-System ebenso wie die körperliche Reanimation durch das Lebenskügelchen aus dem Mikrokosmos gelang, ist viel geschehen. Schon der erste Einsatz auf der Seniorenwelt Xoaixo erwies sich unter dem Strich als erfolgreich. Wir haben Thaher Gyats »Legende« zu der eigenen gemacht: Demnach hat Orbanaschol damals seinen Bruder ausgeschaltet, um selbst an die Macht zu kommen – offiziell wurde der Unfalltod auf Erskomier verkündet, tatsächlich aber wurde der Verwundete nach Xoaixo verschleppt und dort versteckt. Gonozal wurde zum Schweigen gebracht, seine Psyche zerstört, praktisch lebt nur noch der Körper Seiner Erhabenheit. Der Imperator spricht nicht, scheint kaum etwas zu hören, von Verstehen ganz zu schweigen. Dennoch ist der Höchstedle trotz seines Zustands irgendwie seinen Bewachern entwischt, vielleicht gab es unbekannte Helfer? Es gelang uns auf Xoaixo, ihn Orbanaschols Häschern zu entreißen. Der Öffentlichkeit bekannt war bislang nur, dass Seine Erhabenheit am 17. Prago des Tarman 10.483 da Ark auf dem Planeten Erskomier bei einem Jagdunfall umgekommen war. Seither regiert sein Halbbruder Veloz unter dem Thronnamen Orbanaschol III. das Tai Ark’Tussan. Die über Xoaixo verhängte Nachrichtensperre hatte zunächst verhindert, dass großflächig Informationen über die dortigen
Ereignisse ins Imperium gesickert waren. Andererseits war und ist sie keineswegs so total, wie es sich der Fette wohl erhofft hatte. Erste Gerüchte über Gonozals Auftreten breiteten sich aus. Falgrohst erwies sich als weitere bestandene Prüfung, obgleich wir fast in eine vom Fetten und seinen Leuten vorbereitete Falle getappt wären. Mit Sonnenträger Olfkohr und seinen Leuten haben wir fortan Unterstützer auf unserer Seite, deren Wert kaum hoch genug eingeschätzt werden kann. Mein alter Freund ist bereit, für unsere Sache zu kämpfen – und einen Ausbilder wie ihn können wir auf Kraumon gut gebrauchen. Und dann folgte unser Eingreifen bei der Schlacht im Marlackskor-Sektor am 15. Prago des Tedar 10.499 da Ark; fortan werden sich die Berichte und Gerüchte um Gonozals Auftreten noch weniger unterdrücken lassen. Auch nach vielen Untersuchungen hat sich am grundlegenden Zustand Gonozals bedauerlicherweise absolut nichts geändert. Seine Behandlung mit dem aus den Zhy Bewussten Seins materialisierten OMIRGOS-Kristallen hatte leider nur bedingt Erfolg; er kann einfache Anweisungen befolgen, und bis zu einem gewissen Grad ist es mir über die Kristalle der 1024 Facetten möglich, Kontakt zu dem unbeseelten Körper herzustellen und Einfluss zu nehmen. Zu rein vegetativem Leben erweckt, ist und bleibt er eine biologisch lebende Larve, der das Maßgebliche fehlt. Verstand, Persönlichkeit, Geist, Seele, das Wahre Sein – egal, wie man es nennen will – haben wir nicht zurückrufen können. Ich weiß, dass Atlan es inzwischen zutiefst bereut, den toten Körper seines Vaters der geheimnisvollen Wirkung des letzten Lebenskügelchens ausgesetzt zu haben. Diese Hülle hinterlässt inzwischen, bei aller sonstigen Tragik, dennoch einen durchaus imponierenden Eindruck. Die Gestalt ist die eines hochgewachsenen Arkoniden, dessen Aussehen dem eines rund sechzig Arkonjahre alten Mannes entspricht. Von der Veränderung als Folge der Wiederbelebung ist fast nichts mehr zu sehen. Verschwunden sind die gelbliche Farbe und der pergamentartige Eindruck der Haut, sie haben einer deutlich glatteren und bleichen Konsistenz Platz gemacht. Kontaktlinsen ergeben das Rot der Augen,
eine Perücke mit halblangem Haar bedeckt den kahlen Schädel – mit speziellem Biokleber unverrückbar platziert. Das markante Gesicht, das Atlans so ähnlich sieht, ist den meisten Arkoniden noch bestens bekannt. So hat Gonozal VIII. Imperator des Großen Imperiums, zu seinen Lebzeiten ausgesehen. Zwei Pragos sind seit unserer Flucht von Vayklon vergangen. Die uns aufgezwungene Schleichfahrt bedingte, dass wir uns Kraumon nur wenig genähert haben. Es war Atlans Mutter Yagthara, die uns zu einer Kursänderung überredete und sich auch durch den Hinweis auf die dringend nötige Reparatur und Instandsetzung der ISCHTAR nicht umstimmen ließ. Mit drei Transitionen wurde die Distanz zum Hoca-System überwunden, es befindet sich am Rand von Thantur-Lok, 54 Lichtjahre von Arkon entfernt. Hocatarr ist ein ungemütlicher Planet, eine düstere, wolkenverhangene Welt. Kahle Felsenberge, modrige Schluchten und ausgedehnte Sumpfflächen bestimmen das Bild der vier Großkontinente. Freiwillig würde dort vermutlich niemand landen, das Klima ist alles andere als angenehm. Und die Totenwelt ist ein einziger Friedhof! Nur höchste Würdenträger und Imperatoren werden direkt in der KARSEHRA bestattet. Die Arena der Großen Mutter ist das Kernstück der berühmten Heldengedenkstätte. Das Sargschiff in Hocatarrs geostationärem Orbit über der KARSEHRA ist ein Diskus von rund 1200 Metern Durchmesser und etwa halb so großer Höhe. Entlang des Äquators gibt es Hunderte Andocktunnel und Zugangsrampen unterschiedlicher Länge. Der Hintergrund seiner Funktion ist, dass normale Sterbliche die Totenwelt nicht betreten dürfen. Außer ausgewählten Trauernden und engsten Verwandten eines Toten gelangt niemand auf die Oberfläche der Totenwelt oder zur Begräbnisstätte. Mit dem arkonidischen Sonnensymbol geschmückte Pilgerschiffe müssen im Orbit bleiben. Die Angehörigen übergeben die Toten dem Sargschiff und erleben die eigentliche Bestattung per Trivid mit. Selbst der Kreis der engsten Angehörigen von Hochadeligen wird klein gehalten, nicht einmal beim Tod eines Imperators betreten mehr als wenige Dutzend
Personen Hocatarr. Und unabhängig davon sind es stets nur Schiffe der Priesterinnen, die überhaupt dort landen dürfen beziehungsweise zwischen Oberfläche und Sargschiff pendeln. Der Transport der Toten und ihrer Angehörigen erfolgt per Transmitter. Hier herrscht zu unserem Glück weiterhin bemerkenswerte Stille. Die Priesterinnen wollen die Ereignisse keineswegs aufbauschen. Ganz im Gegenteil. Dass der Tod der Arkanta eine wichtige Rolle bei den geschockten Priesterinnen spielt, dass es vielleicht sogar zu internen Machtkämpfen um die Nachfolgerin kommt, wurde von uns zwar vermutet, doch es gibt in dieser Hinsicht nach wie vor keine Bestätigung. Unabhängig davon sind das ohnehin Dinge, die die Frauen der Totenwelt von jeher unter sich geregelt haben. Vor diesem Hintergrund konnten wir sicher sein, dass sie sich nicht an Orbanaschol wenden werden. Fest steht allerdings auch, dass wir uns die Priesterinnen natürlich nicht zu Freunden gemacht haben. Und genau das ließ Atlans Mutter handeln; ihre Argumentation mag emotional geprägt gewesen sein, folgte aber der Logik. Schon vor einiger Zeit wurde Yagtharas diplomatische Note den Priesterinnen übermittelt. Ich hatte es als grundsätzlichen Versuch, die aufgepeitschten Wogen zu glätten, begrüßt. Zwischen den Zeilen wurde von Yagthara angedeutet, dass sie zu höchster Buße bereit sei, sollte es auf Hocatarr als erforderlich und angemessen betrachtet werden. Zur Not sei sie sogar bereit, den Rest ihres Lebens auf der Totenwelt in strenger Klausur zu verbringen. Die Priesterinnen hatten bislang nicht auf dieses Angebot reagiert, deshalb wollte Yagthara das Heft des Handelns in die eigene Hand nehmen, deshalb kehrten wir ins Hoca-System zurück. Und seit einer Tonta haben wir eine Antwort vorliegen. Yagtharas Angebot der Buße, so die Kurzfassung, wird von den Totenpriesterinnen akzeptiert. Atlans Mutter hat sich entschieden. Niemand kann sie umstimmen. Dem Abschied, kurz und schmerzlos, folgte dann allerdings eine Aufforderung, die zwischen den Zeilen auch schon aus der Antwort der Priesterinnen herauszulesen war. Wir müssten uns, so Yagthara eindringlich, um das Wohl ihres
Gatten kümmern und dabei keine – ausdrücklich betont: keine! – Möglichkeit außer Acht lassen. Und dann sprach sie das aus, was ich schon seit einer ganzen Weile befürchtete: »Fliegt nach Perpandron! Lasst Mascudar von den Goltein-Heilern untersuchen. Vielleicht können sie helfen …« Meine bemerkenswert unbeherrschte Reaktion rief nicht nur Atlans Erstaunen hervor. Obwohl ich zunächst auswich, um mich zu beruhigen, blieb mir dann doch nichts anderes übrig, als von Ereignissen zu berichten, die ich am liebsten vergessen hätte …
Vergangenheit Arkon I: 2. Prago des Dryhan 10.477 da Ark Seine Erhabenheit war wütend. Hätte man die Türen im Kristallpalast zuschlagen können, der Imperator hätte sie genussvoll mit großem Lärm in die Fassungen geworfen. Hinter dem Höchstedlen schloss sich fast lautlos das schwere Portal. Die große, mit zahlreichen Reliefs führender Künstler versehene Platte aus goldbedampftem Arkonstahl bewegte sich auf Prallfeldern, die ein fast reibungsfreies Gleiten ermöglichten. »Weibervolk!«, schimpfte der Tai Moas und verschränkte die Hände hinter dem Rücken, während er durch die leeren Gänge in seinen Wohnbereich zurückstapfte. Dort angekommen, trank er zuerst einen großen Becher eines erfrischenden Saftes und setzte sich mit missmutigem Gesicht hinter den Tisch, der mit Datenstreifen, Dokumenten und Speicherkristallen übersät war. An der Stirnwand des Raumes reihten sich mehr als ein Dutzend Bildschirme aneinander, von denen über die Hälfte eingeschaltet war. »Keon’athor Arbai«, rief der Imperator. »Was gibt es?« Auf einem der Bildschirme zuckte ein hoher Offizier zusammen, drehte sich um und suchte nach dem Objektiv der Kamera. Erst als er seinerseits das Bild des Imperators erkennen konnte, begann er zu sprechen. »Euer Erhabenheit, ich habe eine Meuterei zu melden.« Arbai machte eine kurze Pause, während der Imperator die Augen schloss und leise seufzte: »Schon wieder?« »Es handelt sich um die Besatzungen eines Geleitzugs«, berichtete der Keon’athor. An seiner Miene war zu erkennen, dass es sich nicht um eine jener kleinen Meutereien handelte, wie sie in einer so großen Flotte wie der Arkons an der
Tagesordnung waren. »Die Männer fordern, dass der Konvoi mehr Begleitschutz erhält. Ich habe vergeblich versucht, den Männern klarzumachen, dass wir zunächst Palua mit ausreichend Gerät versorgen müssen, damit wir genügend Erz fördern können, um das Metall für neue und bessere Schiffe zu bekommen. Erst dann, habe ich den Männern erklärt, könne man wieder Geleitzüge von Dutzenden schweren Einheiten begleiten lassen, früher nicht.« Der Admiral stockte. »Sind Sie krank, mein Imperator?« Der Zhdopanthi schüttelte langsam den Kopf, lehnte er sich in seinem Sessel zurück und setzte jenes zuversichtliche Lächeln auf, das er immer zeigen musste, wurde die Lage kritisch. Zuversicht, das war das, was die Offiziere und Mannschaften brauchten. Ein Imperator, der sich müde oder verzagt gezeigt hätte, wäre eine Gefahr ersten Grades für die Disziplin der Rottenbesatzungen gewesen. Solange der Imperator, der die besten nur denkbaren Informationen hatte, zuversichtlich lächelte, war der Krieg gegen die Methans zu gewinnen. Und er musste gewonnen werden, sonst war Arkon verloren. Zu viele Opfer hatte das Schlachten im Raum schon gekostet, als dass eine der Parteien sich mit weniger als der völligen Vernichtung des Gegners zufriedengegeben hätte. »Sprechen Sie weiter, Admiral. Können Sie dem Konvoi Geleitschutz geben?« »Ich kann, allerdings müsste ich dazu eine Flanke in bedrohlicher Art und Weise schwächen.« Der Imperator zitierte eine alte Kriegsweisheit: »Wer alles verteidigen will, verteidigt am Ende gar nichts mehr. Können Sie eine Verbindung zu den Meuterern herstellen?« »Es wird nur wenige Augenblicke dauern, mein Imperator.« Der Blick des Imperators flog rasch und routinemäßig über die anderen Bildschirme. Auf einem der Monitore strebten gerade zwölf Schlachtschiffe in den Himmel über Arkon III. Es
war ein beeindruckendes Bild von Kraft und militärischer Stärke. Es verlor für jene an Eindruckskraft, die schon Dutzende, manchmal gar Hunderte solcher Schiffe ausgeglüht durchs All hatten treiben sehen. Der Imperator presste die Fingerspitzen an den Kopf und massierte die Schläfen. »Ich möchte schlafen«, murmelte er so leise, dass die Mikrofone die Worte nicht auffangen konnten. »Endlich wieder einmal ruhig durchschlafen, nicht von Schlachten träumen, von Intrigen und Verrat.« Der Bildschirm, der vor wenigen Augenblicken noch den Admiral gezeigt hatte, flackerte kurz und zeigte dann das Gesicht eines jungen Mannes. Der Imperator war erstaunt, er kannte das Gesicht. Vor einem halben Jahr erst hatte er dem jungen Offizier eigenhändig den Rang eines Sonnenträgers verliehen. Der Has’athor wurde blass, als er seinen Gesprächspartner erkannte. »Euer Erhabenheit!« »Hören Sie zu«, sagte der Imperator ernst. »Ich habe gerade mit dem Admiral gesprochen, dem Sie und Ihre Männer unterstehen. Admiral Arbai braucht Schiffe, Schiffe jeder Zahl und Größe. Er wartet auf Nachschub von Arkon Drei. Arkon Drei wiederum wartet auf ausreichenden Nachschub an hochwertigen Erzen. Diese Erze werden auf Palua abgebaut. Dort leben mehr als dreißigtausend Männer, die auf moderne Erzförderungsanlagen warten und große Geschütze, mit denen sie die Gefahr eines Angriffs der Maahks abwehren können. Diese Männer warten auf Ihren Konvoi und seine Ladung. Und Sie wiederum warten auf Schiffe von Ihrem Admiral – erkennen Sie den Kreislauf?« Der Offizier nickte stumm. »Sie können diesen Kreislauf auch anders sehen. Wenn Ihr Konvoi Palua erreicht, bekommt Arkon bald genug Erz, um Schiffe für Geleitzüge bauen zu können. Ich gebe zu, dass dieser Konvoi ungewöhnlich riskant ist – vor allem wegen des fehlenden Geleitschutzes, aber wenn Sie nicht bald losfliegen, wird das
Risiko für Arkon entschieden größer, als das Ihre jetzt ist! Haben Sie mich verstanden?« Der Has’athor nickte. »Tai Moas, wir werden sofort aufbrechen.« Der Höchstedle lächelte schwach. »Warten Sie noch, bis die beiden Kreuzer bei Ihnen eintreffen, die Ihnen Geleitschutz geben werden. Ich werde Anweisung an den Admiral geben, die beiden Einheiten in Marsch zu setzen.« »Wir werden auch so unser Ziel erreichen. Lassen Sie die Kreuzer bei Keon’athor Arbai, wahrscheinlich braucht er sie dringender als wir.« Er grüßte, dann wechselte wieder das Bild. Der Admiral starrte den Imperator verblüfft an. »Höchstedler. Selbst wenn ich den Befehl bekommen hätte, ich hätte keinen einzigen Kreuzer für den Geleitzug abstellen können. Sämtliche Kreuzer sind in den Reparaturdocks.« »Das weiß ich, Admiral«, sagte der Imperator lächelnd und trennte die Verbindung. Im gleichen Augenblick schwand das selbstsichere Lächeln aus dem Gesicht. Der Mann stützte sich mit den Ellenbogen auf dem Tisch auf und vergrub das Gesicht in den Händen. Leise trat ein Mann in den großen Raum, sah den Imperator, hörte auch das leise Seufzen des mächtigsten Mannes der bekannten Galaxis und sagte: »Kann ich helfen?« Der Imperator sah auf und zeigte ein verzerrtes Lächeln. »Fartuloon!« Seine Gestalt straffte sich. »Was führt dich her?« »Der Zufall. Aber ich sehe, dass ich gebraucht werde. Was bedrückt Euch, raubt Euch den Schlaf und lässt Eure Hände zittern?« »Meine Hände zittern nicht.« Der Imperator verzichtete darauf, die Hände auszustrecken, weil ihn das Lügen gestraft hätte. Fartuloon konnte er mit seiner Behauptung nicht irritieren.
»Ich bin einer Eurer Bauchaufschneider. Wenn ich Euch helfen soll, muss ich alles wissen, was für die Diagnose oder Therapie wichtig ist. Und im Fall eines Imperators gilt das sogar für Staatsgeheimnisse.« Diesmal wirkte das Lächeln echt. »Fartuloon, lass das nicht meine Berater hören. Wenn sie erfahren, dass nichts sicher ist vor einem allzu neugierigen Bauchaufschneider, werden sie eine Revolution anzetteln.« »Dazu brauchen sie nicht mich als Vorwand. Eine kleine Revolte ist schon jetzt im Gange.« Fartuloon war einer der Leibärzte des Höchstedlen aus dem Großen Khasurn derer von Gonozal, der als Gonozal VIII. das Tai Ark’Tussan regierte, und eine Kapazität auf allen Gebieten der Medizin. Einige Eigenheiten, die er absichtlich hervorkehrte, hatten dazu beigetragen, dass er den Ruf eines etwas schrulligen Wissenschaftlers hatte. Er gefiel sich stets in der Rolle des geheimnisumwitterten Mannes, verkörperte perfekt den Lebemann, der an keiner schönen Frau achtlos vorbeigehen konnte, den Gourmet, für den Speise und Trank ein Teil seines Lebensinhaltes waren. Zweifellos spielte er diese Rollen deshalb so gut, weil sie durchaus seinem Charakter entsprachen. Und doch war es nur eine Maske, nicht die wahre Persönlichkeit. Fartuloon war als Yoner-Madrul nicht nur Arzt, Wissenschaftler und Philosoph, sondern von seiner ganzen Art ebenso ein hervorragender Kämpfer, der durch den Brustharnisch und das Schwert Skarg die Nähe zur Tradition der Arkon-Ritter betonte, den Dagoristas, auch Tron’athorii Huhany-Zhy genannt. Er machte keinen Hehl daraus, dass er erfolgreich als Gladiator gekämpft und sogar an den KAYMUURTES teilgenommen hatte. Er lebte unter Arkoniden und wurde von diesen akzeptiert, war selbst jedoch keineswegs ein Angehöriger dieses Volkes, vielleicht nicht einmal von kolonialarkonidischer
Abstammung. Dies belegten seine korpulente Statur und die gelben Augen ebenso wie seine eigene Aussage, zwar an der ARK SUMMIA teilgenommen und diese bestanden zu haben, nicht aber einen aktivierten Extrasinn zu besitzen. Über welche besondere Eigenschaften er wirklich verfügte, war nur seinen engen Freunden und Vertrauten bekannt. Fartuloon hatte es in den Jahren seines Wirkens am Herrscherhof verstanden, eine ganze Anzahl solcher zu gewinnen, die zum Teil höchste Positionen innehatten. Ihnen allen war gemeinsam, dass sie Gonozal VIII. treu ergeben waren, so wie auch der Bauchaufschneider selbst. Der Imperator war ein Mann, dem Ränke und Winkelzüge fremd waren. Als Oberster Befehlshaber der Imperiumsstreitkräfte stand er voll seinen Mann und versuchte angesichts des riesigen Reiches die Imperiale Regierungsebene nach besten Kräften in den Griff zu bekommen, die Tagespolitik auf untergeordneter Ebene dagegen überließ er weitgehend seinen Beratern und den dafür ernannten Regierungsmitgliedern des Berlen Than. Inwieweit diese ihn aber immer gut berieten oder ihrer Aufgabe gerecht wurden, stand auf einem anderen Khasurn-Blatt … Fartuloon hatte aufgrund seiner Vertrauensstellung einen oft positiven Einfluss und war so etwas wie ein väterlicher Freund, obwohl er seinem Aussehen nach deutlich jünger einzustufen war – wobei allerdings niemand das genaue Alter des Bauchaufschneiders kannte. Die offizielle Akte wies als Geburtsjahr 10.441 da Ark aus, aber jeder Eingeweihte wusste, dass es falsch war. Als Fartuloon vor Jahren in die Dienste des Imperators trat, hatte er bereits so ausgesehen wie heute – korpulent, kahlköpfig, mit schwarzem Vollbart –, die Überprüfungen hatten keine Ergebnisse gebracht, und wiederholt gab es glaubwürdige Berichte, laut denen Fartuloon mit genau diesem Aussehen bereits vor dem genannten
Geburtsjahr wichtigen Persönlichkeiten begegnet sein sollte. Gonozal VIII. seufzte. »Ich weiß, mein Bruder ist angeblich kräftig dabei, Leute zu provozieren, die mir feindlich gesinnt sind. Auch du hast mich schon oft gewarnt, weil es längst so scheint, als meine Veloz die aufrührerischen Reden tatsächlich so, wie er sie hält. Nun ja, er ist hitzköpfig und hat – obwohl Bruder des regierenden Imperators – nicht den Erfolg bei Frauen, den er sich gern wünscht. Er ist leichtsinnig und unbedacht. Aber Veloz steht für mich über jedem Verdacht, merk dir das! Lass uns nicht weiter davon reden.« »Er ist eine Gefahr für das Imperium«, stellte Fartuloon kalt fest. »Wenn er so fortfährt …« »Fartuloon!« »Ich schweige – zu diesem Gegenstand. Ansonsten aber …« Fartuloon prüfte den Puls des Imperators, maß den Blutdruck. Obwohl der Höchstedle lebhaft protestierte, unterzog ihn Fartuloon einer eingehenden Untersuchung, soweit dies ohne intensive Laborbenutzung möglich war. »Stress«, diagnostizierte er. »Überanstrengung, zu starker Druck aufs Gemüt, zu wenig Schlaf, zu viele Aufputschmittel – Ihr solltet Euch erholen, mein Imperator.« »Ich werde deinen Ratschlag befolgen, mich in mein Privathaus beim Gonozal-Stammsitz im Kogruk-Hochland zurückziehen, der Muße pflegen, viel lesen, viel schlafen, mich mit guten Freunden treffen und unterhalten – und warten.« »Worauf warten?« »Entweder wird man mich in die Luft sprengen, weil ich das Tai Ark’Tussan im Stich gelassen habe – oder die Maahks kommen, um sich bei mir persönlich für die Schützenhilfe zu bedanken, die ich ihnen durch meine Untätigkeit erwiesen habe. Fartuloon, willst du es nicht einsehen? Ich kann mir keine Ruhe gönnen. Auf meinen Schultern …« » … ruht das Imperium! Den Spruch kenne ich auswendig,
habe ihn oft genug gehört.« »Außerdem bin ich körperlich in Hochform. Ich war niemals in meinem Leben so gesund wie gerade jetzt.« »Das mag stimmen. Aber es gibt nicht nur den Körper. Euer Geist hat gelitten, Ihr seid unruhiger, hektischer geworden. Die psychische Belastung ist zurzeit zu groß. Was macht übrigens die ehrwürdige Gemahlin Yagthara?« »Sie schmollt.« »Und davon lasst Ihr Euch die Nachtruhe rauben? Es ist nicht zu glauben! Ein Imperator Arkons, verliebt wie ein junger Kadett – noch dazu in die eigene Frau. Das hat es meines Wissens seit mehr als viertausend Jahren nicht mehr gegeben. Wenn ich mich recht erinnere, war es Robal der Fünfte, der seine Frau so sehr liebte – oder zu lieben wähnte –, dass er einen Admiral aus Eifersucht erschoss. Er wurde seinerzeit zum Tode verurteilt, konnte aber fliehen. Man hat nie wieder etwas von ihm gehört. Nach ihm kam der erste Gonozal auf den Kristallthron Arkons. Wollt Ihr diesem Mann nacheifern?« Das Lächeln des Imperators wirkte auf Fartuloon wenig beruhigend. »Ein Traum, Fartuloon, ein Traum, der so schön ist, dass er schon wieder völlig unglaublich ist. Ein stiller, friedlicher Planet, auf dem ich mit Yagthara leben könnte, wo wir unsere Kinder bekommen und erziehen könnten. Ich möchte einen Sohn haben, Fartuloon, einen Sohn, auf den ich stolz sein kann. Er soll eines Tages das Imperium regieren; er wird es gut regieren, und ich werde dann auf meinen Sohn stolz sein können …« »Hört auf zu schwärmen. Euer Sohn würde Euch verfluchen, würde er erfahren, dass Ihr Euch entweder für das Imperium bis zum körperlichen und geistigen Zusammenbruch geschunden – oder Euch schmählich vor der Verantwortung gedrückt habt. Ihr müsst Euch endlich entscheiden. Ihr braucht viel Ruhe, damit Eure überreizten Nerven wieder einwandfrei
arbeiten können, damit Ihr wieder Entscheidungen trefft und nicht der Stress Euch beherrscht, der Euch lähmt und unsicher macht. Früher seid Ihr nie, wenn Ihr ein Problem zu lösen hattet, im Zimmer auf und ab gelaufen. Ihr solltet Euch sehen – den Rücken gebeugt wie ein alter Mann, die Hände auf dem Rücken zusammengelegt, die Stirn gefurcht, nervös mit den Lippen zuckend. Soll ich Euch vormachen, wie Ihr jetzt ausseht?« Die Karikatur gelang vorzüglich, wider Willen musste der Imperator lachen. »Übergebt die Staatsgeschäfte für eine Weile dem Berlen Than. Ruht Euch aus, findet wieder zu Euch selbst, und Euer gestörtes Verhältnis zu Eurer Frau wird sich auch sehr schnell wieder einrenken, wenn Ihr Euch endlich etwas mehr Zeit für sie nehmt.« »Zeit«, seufzte der Imperator. »Zeit ist, was mir fehlt. Es muss doch einen Weg geben, meine angegriffene Gesundheit wiederherzustellen, ohne dass ich meine Aufgaben als Imperator vernachlässige.« »Manche Dinge brauchen eben Zeit und Geduld, daran lässt sich nichts ändern, nicht einmal dann, wenn man Imperator des Großen Imperiums ist. Die Zeit überwindet jegliche Herrschaft.« »Ich werde es mir überlegen, alter Freund. Ich sage dir dann, wie ich mich entschieden habe.« Fartuloon empfand die Worte als Aufforderung, den Raum zu verlassen. Gehorsam zog sich der Bauchaufschneider zurück. Der Imperator biss sich auf die Lippe und dachte angestrengt nach. Die Lage war schwierig, sehr schwierig sogar. Die Fronten im Methankrieg waren alles andere als stabil, hinzu kamen Unruhen im Imperium, privater Ärger, unzuverlässige Mitarbeiter – manchmal hatte der Imperator das Gefühl, er werde eines Tages unter der Last der Verantwortung zusammenbrechen. Das aber konnte er sich nicht leisten. Es hätte das Imperium geschwächt, denn Gonozal
war sich sicher, dass sein Bruder Orbanaschol, dem im Fall seines Ausscheidens das Amt des Imperators zufallen würde, das Imperium mit unfehlbarer Sicherheit in den Untergang führen würde. Zwar hätte der Imperator durchaus die Möglichkeit gehabt, diese Klemme zu umgehen und einen anderen Mann mit der Regierung zu betrauen – aber dem stand die Familienehre im Wege. Nach seinem Rücktritt würden Jahrtausende vergehen müssen, bis man das Imperium wieder einem Mitglied der Familie Gonozal anvertraut hätte. In solchen Dingen hatte man auf der Kristallwelt und im Imperium ein überaus langes Gedächtnis. Es dauerte lange, bis sich der Imperator entschieden hatte. Es entsprach seiner Art, diesen Entschluss unverzüglich in die Tat umzusetzen.
Als Fartuloon am nächsten Morgen die privaten Gemächer des Imperators betrat, fand er seinen Freund und Patienten nicht allein vor. Der Imperator hatte es sich auf einer Liege bequem gemacht. Neben der Liege stand ein Sessel, in ihm saß ein Mann, der Fartuloon auf den ersten Blick unsympathisch war. Der Mann war schon ziemlich alt, hager und knochig. Die Stirn war kahl, dort, wo noch Haare hätten wachsen können, waren sie geschoren. Die kahle Fläche war offenbar gründlich mit einer wachsartigen Substanz bearbeitet worden und hätte im Licht der Deckenlampen spiegeln müssen, wären nicht die Tätowierungen gewesen, die den Schädel von einer Schläfe zur anderen bedeckten. Fartuloon konnte nicht erkennen, wozu die Tätowierungen dienten und was die verworrenen Muster darstellen sollten. Immerhin wusste er ziemlich bald, mit wem er es zu tun hatte – der Mann musste einer jener Goltein-Heiler sein, die überall im Gespräch waren und trotz ihrer dubiosen Methoden Zugang zu höheren und höchsten gesellschaftlichen
Schichten hatten. Der Heiler trug ein langes dunkelblaues Gewand, das mit silbernen Fäden bestickt war. Auch dieses Muster wirkte, wie die Tätowierung des Schädels, fremdartig, geheimnisvoll – und auf Fartuloon fast schon bedrohlich. Das Gesicht des Heilers zeigte die hageren, ausgemergelten Züge eines Asketen. Fartuloon sah ihm an, dass er sich seiner Sache, so obskur sie auch sein mochte, bedingungslos hingab. Arkoniden, die sich weit über das, was sich mit dem Verstand erklären ließ, für eine bestimmte Sache engagierten, waren schon immer auf Fartuloons Misstrauen gestoßen, und dem Heiler gegenüber empfand der Bauchaufschneider fast körperlichen Ekel. »Wer ist dieser Mann?«, fragte der Seelenheiler, als er Fartuloon sah – die Stimme klang, dass musste selbst Fartuloon zugeben, selbstsicher und vertrauenerweckend. Sie klang so, als wisse der Mann sehr genau, was er könne und wovon er rede, so, als seien seine Praktiken anerkannte Wissenschaft. »Mein Freund und Bauchaufschneider«, sagte der Imperator. Der Goltein-Heiler musterte Fartuloon mit sichtlicher Skepsis. »Ich glaube nicht, dass ich seine Hilfe brauchen werde.« »Als ich von Erholung sprach, meinte ich etwas anderes.« Fartuloon sah den Mann an. »Ich halte nicht viel von solchen Methoden, wie sie diese Seelenklempner vertreten« »Das denken viele, bis sie selbst Hilfe brauchen – und natürlich auch bekommen. Jeder hat seine Ansichten und Verfahren – entscheidend ist letztlich, welches Ergebnis dabei herauskommt. Wer heilt, hat recht!« »Ich werde auch ohne Hilfe dieses …« »Dimon Murvee«, stellte sich der Mann gelassen vor. Er schien nicht die mindeste Furcht vor einer Auseinandersetzung mit Fartuloon zu haben. Vermutlich hatte er diesen Dialog – wenn auch nicht wörtlich, so doch sinngemäß – schon viele Male durchexerzieren müssen. Es gab sicherlich nur wenige
Bauchaufschneider auf den Arkonwelten, die es sich widerspruchslos gefallen ließen, dass ihnen Patienten abgejagt wurden, vor allem, wenn es sich um so prominente und somit zahlungskräftige Zayii des Hochadels handelte. Fartuloon rief sich ins Gedächtnis, was er über Goltein-Heiler wusste: Sie galten als Ärzte der Seele. Es hieß, sie befreiten den Patienten von unreinen, unheilsamen Gedanken, die seine Seele bedrängten, und pflanzten ihm stattdessen reine, heilsame ein. Die schlechten Gedanken aber sammelten sie angeblich auf Perpandron, wo sie seit altersher ihr Hauptquartier hatten. Ein vernünftiger Arkonide konnte dieses Sammeln natürlich nur symbolisch verstehen; aber die Goltein-Heiler bestanden darauf, dass sie tatsächlich die »Substanz« der schlechten Gedanken – was immer das sein mochte – aus dem Bewusstsein des Patienten entfernten und nach Perpandron brachten, sofern die Behandlung nicht ohnehin dort stattfand. »Fartuloon«, unterbrach der Imperator, bevor der Bauchaufschneider mit ausgesuchten Worten über den Seelenheiler herfallen konnte. »Ich habe dir gesagt, dass ich keine Zeit habe, mich zur Erholung aus den Amtsgeschäften zurückzuziehen. Dieser Mann sagt von sich, dass er mir helfen könne, ohne dass ich pausieren müsste. Warum soll ich keinen Versuch mit ihm wagen? Was kann es schaden?« »Das wüsste ich auch gerne. Nützen wird diese … Pseudokur mit Sicherheit nicht, aber ich frage mich besorgt, was für Schädigungen sie nach sich ziehen wird.« »Sind je Fehlschläge bekannt geworden?«, fragte Dimon Murvee siegessicher. Fartuloon spürte den Blick des Imperators auf sich, aber er blieb bei der Wahrheit und verneinte. Triumphierend sah der Goltein-Heiler den Bauchaufschneider an. Fartuloon stieß ein unwilliges Knurren aus, dann verließ er den Raum. Auf dem
Gang stieß Fartuloon auf einen alten Erzfeind, den Ersten Leibarzt des Imperators. Er hatte sein Amt zwar offiziell noch inne, war aber längst ins zweite Glied zurückgetreten – unfreiwillig, was hauptsächlich Fartuloons Einfluss zuzuschreiben war. Immerhin war der Mann ein erstklassiger Mediziner, und Fartuloon erklärte ihm rasch den Sachverhalt, hoffte darauf, dass in diesem Fall persönliche Empfindlichkeit hinter der Berufsehre zurückstehen würde, aber Fartuloon sah sich getäuscht. »Der Imperator trifft seine Entscheidungen nach seinem eigenen Willen, und in diesem besonderen Fall hielt er es für richtig, auch mich zu konsultieren. Da die Kuren bestimmter Leute« – er warf einen geringschätzigen Seitenblick auf Fartuloon – »seiner angegriffenen Gesundheit offenbar nicht bekommen, riet ich ihm zu dieser Lösung.« »Sie wollen den Imperator allen Ernstes diesem … Kurpfuscher überantworten?«, fragte Fartuloon, sichtlich betroffen. »Neue Zeiten verlangen neue Methoden, lieber Kollege«, entgegnete der entthronte Erste Leibarzt. Fartuloon hielt sich nur mit Mühe zurück, grüßte flüchtig, dann ließ er den Kollegen stehen. Er drehte sich nicht um, denn dass dieser ihm hinterhergrinsen würde, wusste er. Grimmig murmelte er: »Jetzt gibt es nur noch eine Instanz …«
Die Zofe huschte eilig davon, als Fartuloon die Gemächer Yagtharas betrat. Die Frau des Imperators machte einen ähnlichen Eindruck wie ihr Mann, sah müde und überfordert aus. Trotz ihrer offenkundigen Schwäche zeigte sie ein freundliches Lächeln, als Fartuloon näher trat. Der Bauchaufschneider kannte die Gebräuche im Kristallpalast zur Genüge, er konnte zwischen einer echten Sympathiebezeigung
und dem künstlichen Dauerlächeln unterscheiden. »Du siehst angegriffen aus, Fartuloon«, sagte Yagthara leise. »Willst du um Urlaub nachsuchen?« »Urlaub? Lächerlich.« Er setzte sich auf den niedrigen Hocker neben dem Ruhelager Yagtharas und suchte nach Worten. »Ich bin sehr besorgt. Ich habe deinem Mann klarzumachen versucht, dass er unbedingt Ruhe braucht, um seine überreizten Nerven zu schonen. Statt meinem Rat zu folgen, hat er sich von bestimmten Leuten einreden lassen, einen Versuch mit diesen Scharlatanen zu machen.« »Von was für Scharlatanen redest du?« »Ich meine diese angeblichen Seelenheiler. Ich möchte wissen, wer dem Imperator zu diesem Unfug geraten hat – der Betreffende kann nicht ganz bei Sinnen sein und …« An der Art, wie sich die Gesichtszüge Yagtharas änderten, konnte Fartuloon ablesen, dass er nicht weiterzusprechen brauchte. Er hatte nicht im Traum daran gedacht, dass sich unter den Ratgebern des Imperators, die ihn zu diesem Entschluss gedrängt hatten, auch die Frau Gonozals befand. Fartuloon stand auf, deutete eine Verbeugung an und entfernte sich rasch. Er wusste, dass er verloren hatte. »Jetzt kommt es darauf an, das Schlimmste zu verhüten …« An Bord der ISCHTAR: 24. Prago des Tedar 10.499 da Ark »Und was ereignete sich dann?«, fragte ich, weil Fartuloon abrupt seinen Bericht beendete. Der Bauchaufschneider zuckte mit den Schultern. »Ich konnte nichts in Erfahrung bringen. Dein Vater verbrachte in den darauffolgenden Arkonperioden viele Tontas mit dem Heiler; für eine Weile begab er sich sogar nach Perpandron. Niemand durfte die beiden stören, auch ich hatte keinen Zutritt. Was genau der Heiler mit deinem Vater angestellt hat, konnte
ich nie in Erfahrung bringen.« »Hat die Kur geholfen?« »Es sah zumindest so aus. Dein Vater wirkte ruhiger und gelöster, aber ich hatte auch den Eindruck, dass er sich auf merkwürdige Art und Weise verändert hatte. Irgendetwas war mit ihm geschehen, hatte seinen Charakter beeinflusst – und ich bin mir bis heute sicher, dass dieser Einfluss gewiss nicht gut war. Es gab gewisse Gerüchte …« Er brach ab, weigerte sich auch auf Nachfrage, weitere Informationen dazu mitzuteilen. Stille breitete sich in der Zentrale der ISCHTAR aus. Auch ich dachte über die Worte Fartuloons nach. Seine Ansicht stand im krassen Gegensatz zu Mutters »letztem Wunsch«. Im Frontbereich der Panoramagalerie waren Hocatarr und das riesige Sargschiff zu sehen. Noch während Fartuloon sprach, hatte die astrogatorische Abteilung Informationen zur Welt der Goltein-Heiler zusammengestellt und eingeblendet. Perpandron war der vierte von sieben Planeten der gelben Sonne Teifconth; das System befand sich knapp 3100 Lichtjahre oberhalb der Hauptebene der Öden Insel fast genau unterhalb des Kugelsternhaufens Thantur-Lok, die Distanz zu Arkon betrug 17.459 Lichtjahre. Es handelte sich um einen der Kristallwelt ähnlichen Planeten mit leicht höherer Gravitation und drei großen Kontinenten. Fartuloon ließ ein unwilliges Brummen hören. Ich drehte mich zu dem dicken Bauchaufschneider um. »Perpandron ist die Hauptwelt der Goltein-Heiler.« Fartuloon machte weiterhin ein Gesicht, als handele es sich dabei um eine militante Sekte. »Eine Gruppe von Seelenärzten, die überall im Imperium ihr Unwesen treiben. Obwohl ihre Methoden sehr umstritten sind, haben sie dennoch einen erstaunlich guten Ruf.« »Was an ihren Methoden ist denn so umstritten?«, fragte ich.
Gerade von meinem Lehrmeister hatte ich eigentlich eine andere Reaktion erwartet. Er, der sich selbst geheimnisvoll gab und genug über paranormale wie auch paramechanische Aspekte wusste, war doch sonst für »alternative Methoden« durchaus aufgeschlossen. Fartuloon verzog das Gesicht. »Es heißt, dass sie alles Böse und Belastende aus den Seelen ihrer Patienten entfernen und förmlich sammeln. Alles Negative übernehmen sie und tragen es auf Perpandron zusammen. Ich möchte dazu anmerken, dass es eine Geisteskrankheit nur in zweierlei Form gibt – einmal als abstrakten Begriff, der in Wörterbüchern steht, zum anderen als Krankheit, die von ihrem Patienten nicht zu trennen ist. Ich halte es für absoluten Unfug, wenn behauptet wird, man könne einem Patienten durch gutes Zureden oder was auch immer den Wahnsinn entnehmen wie ein Organ und anschließend transportieren. Eine Geisteskrankheit ist entweder hirnorganisch bedingt, ist Folge einer hyperenergetischen Ursache auf das Bewusstsein oder schlicht idiopathisch!« »Was, bitte, heißt idiopathisch?«, wollte ein Mann wissen. »Es bedeutet, dass die Bauchaufschneider keine Ahnung davon haben«, sagte ich. »Übrigens: Wir kennen Körper ohne Bewusstseine, die dennoch leben – nämlich Androiden. Und es gibt auch real vorhandene Bewusstseine, die unabhängig vom Körper existieren. Denk nur an die Fähigkeiten der Varganen oder die der Vecorat! Die Energie und das Wirkungsspektrum eines Bewusstseins unterliegen nicht allein konventionellen Gesetzen, sondern sind ebenso im Bereich quantenmechanischer Prozesse wie auf hyperphysikalischer Ebene wirksam.« Das Gesicht meines Lehrmeisters und Ziehvaters umwölkte sich noch stärker. »Mich stört das Theater, das die Goltein-Heiler spielen – und sich auch noch bemerkenswert
gut bezahlen lassen. Die meisten ihrer Patienten müssen zwangsläufig den festen Glauben haben, durch magische, geheimnisvolle Kräfte geheilt worden zu sein. Und die Heiler tun nichts, um diesem Unfug Einhalt zu gebieten – im Gegenteil, sie fördern ihn nach Kräften. Und was ihre Heilungserfolge angeht – die können auch mit anderen Hilfsmitteln ohne Scharlatanerie erzielt werden. Ganz abgesehen davon: Man stelle sich vor, an Bord dieses Schiffes gebe es eine Fehlschaltung im Bordrechner, der daraufhin verrückt wird. Ich kann mir sehr wohl vorstellen, dass ein fähiger Mann die Schaltung ausfindig macht und den Fehler korrigiert. Dazu wird er die einzelnen Teile so schalten, wie es technisch sinnvoll und korrekt ist. Nachher ist aber die Fehlschaltung als solche verschwunden. Der Mann wird sie unmöglich aufheben und mitnehmen können.« »Es sei denn, er baut die schadhafte Stelle ganz aus und fügt ein neues, korrekt arbeitendes Teil an die Stelle des alten ein«, gab ich zu bedenken. »Das mag sein. Auf die Seelenheiler übertragen, würde dies bedeuten, dass sie ihren Patienten ein Stück ihres Bewusstseins, ihres Charakters förmlich abnehmen, dafür quasi ein neues Stück Seele einbauen – das erscheint mir mehr als absonderlich. Und selbst wenn – wie würde es dir gefallen, eines Stücks deines Ichs beraubt zu werden?« Auf der einen Seite erschienen mir seine Argumente ziemlich einleuchtend zu sein, auf der anderen Seite ließ der Tonfall, in dem Fartuloon sprach, die Vermutung zu, dass er von einem Vorurteil den Heilern gegenüber fast besessen war. »Mein Onkel war einmal in der Behandlung eines Goltein-Heilers«, bemerkte Karmina da Arthamin plötzlich. »Und wie wir gehört haben, war auch Imperator Gonozal Patient eines Heilers.« Fartuloon atmete zischend ein. Einen besseren Beweis für
seine Befangenheit hätte er mir kaum liefern können. Er bedachte mich mit einem bitterbösen Blick. Ich begriff, dass er für die Goltein-Heiler ein Gefühl der Eifersucht empfand. Offenbar konnte er es bis heute mit seiner ärztlichen Standesehre nicht vereinbaren, dass mein Vater einmal nicht seinem Rat gefolgt war, sondern sich in die Hände von – nach Fartuloons Ansicht – Quacksalbern und Scharlatanen begeben hatte. Führte ich mir die über sie vorliegenden Berichte vor Augen, war ich alles andere als überzeugt, genau das in ihnen zu sehen. Die Entscheidung meiner Mutter war eindeutig. Deutlich erinnerte ich mich ihres Auftretens, als wir auf Kraumon die Reanimierung meines Vater mit dem letzten Lebenskügelchen diskutiert hatten. Es war ausgerechnet sie gewesen, die aufstand, mich mit brennendem Blick ansah, dann die anderen und mit leiser Stimme sagte: »Frage eins: Ist es möglich? Antwort: Ja. Frage zwei: Dient es unserem Ziel und damit dem Großen Imperium? Antwort: Ja. Frage drei: Würde Mascudar einem solchen Vorhaben unter den gegebenen Voraussetzungen zustimmen? Antwort: Ja! Frage vier: Stimme ich zu? Antwort: Ja! Ich will, dass wir es versuchen – ich will, dass dieses fette Scheusal von Brudermörder endlich vom Thron gefegt wird! Das Tai Ark’Tussan befindet sich in einem Krieg, dessen wahre Ausmaße wir noch gar nicht abschätzen können. In einer solchen Zeit hat der Beste das Reich zuführen. Mein Mann wird es, nach allem, was wir wissen, nicht mehr können; sehr wohl aber du, mein Sohn. Du bist der designierte Nachfolger, dir steht es zu, den Kristallthron zu besteigen. Und wenn dir dabei dein toter Vater helfen kann, wird er es tun!« Ich sagte: »Mutters Wunsch ist eindeutig! Sie will, dass wir nach Perpandron fliegen und …« Aufgepasst! Der Impuls des Extrasinns war von schmerzhafter Stärke. Ich fuhr herum. Im Hintergrund der
Zentrale saß mein Vater, ließ die Geschehnisse teilnahmslos über sich ergehen. Ein Medoroboter stand bereit; Bauchaufschneider Albragin hatte die persönliche Betreuung übernommen. Es war erschütternd, diesen lebenden Leichnam zu sehen. Aber jetzt war plötzlich Leben in ihn gekommen. Er, der so gut wie nichts mehr tun konnte, wenn man ihn nicht mit einfachen, kurzen Anweisungen und Befehlen dazu brachte, richtete sich unvermittelt auf. Der Blick meines Vaters war auf den Bildschirm gerichtet, der den Planeten Perpandron zeigte. Seine Lippen öffneten sich, er begann zu stammeln, unverständliche Silben, die keinen Sinn ergaben. Ich schluckte, spürte, wie sich mein Herzschlag beschleunigte. Fartuloon war blass geworden, die Männer sprangen von ihren Sitzen auf und starrten auf meinen Vater, der langsam zum Bildschirm hinübertappte. Er drehte den Kopf, aber der Blick war leer, schien durch mich hindurchzugehen. Doch er deutete auf den Bildschirm, wo das Teifconth-System mit Perpandron dargestellt war. Sein Lallen war unverständlich, aber ich wusste sofort, dass es zwischen meinem Vater und dieser Welt eine geheimnisvolle, fast gespenstisch anmutende Beziehung gab. Ich trat zu meinem Vater, legte ihm den Arm um die Schultern. Es gab etwas in diesem nicht mehr beseelten Körper, etwas lebte noch darin, aber es war nicht genug, um ihn wieder in die Welt der bewusst Lebenden zurückzuführen. Behutsam führte ich ihn an seinen Platz zurück. Mein Vater wirkte völlig erschöpft, Albragin injizierte ein Beruhigungsmittel. Meine Gedanken beschäftigten sich mit meinem Vater und dem Planeten der Heiler. Es gab für mich keinen Zweifel mehr – wenn ich etwas für meinen Vater tun wollte, musste ich Perpandron anfliegen. Vielleicht hatten die geheimnisumwitterten Goltein-Heiler tatsächlich ein Mittel oder eine Methode, mit dem oder der die nur unvollständig
geglückte Wiedererweckung vollendet werden konnte. »Funkverbindung zu Hocatarr!«, befahl ich. »Anfrage, ob die Priesterinnen Kontakte zu den Seelenheilern haben. Wenn ja, wäre es auch in ihrem Sinne, könnten sie einen … hm, Termin vereinbaren. Am besten so, dass es so unverfänglich wie möglich aussieht.« Fartuloon seufzte und wandte sich an mich. »Was hast du vor?« »Ich beabsichtige, Perpandron anzufliegen. Wir werden Mutters Wunsch umsetzen.« Seine Miene zeigte sofort, dass er mit diesem Vorhaben überhaupt nicht einverstanden war. »Das ist heller Wahnsinn. Die halbe Galaxis ist in Aufregung, man sucht überall nach uns. Die ersten Erfolge mit Gonozal lassen sich nun nicht mehr so ohne Weiteres wiederholen; erst recht nicht mit einem Gonozal als Patient dieser … dieser …« »Ich bin dabei.« Ich musste mich nicht erst umdrehen, um zu wissen, wer das gesagt hatte. Ras Tatendrang kannte wieder einmal keine Grenzen. Ich nickte kurz, während Fartuloon erbittert den Kopf schüttelte. »Ich glaube, Sie sehen die Angelegenheit zu einseitig, Fartuloon«, mischte sich Karmina da Arthamin ein. »Die Heiler werden – genau wie die Totenpriesterinnen – von Orbanaschol ziemlich unbehelligt gelassen; es ist kaum anzunehmen, dass es dort auch nur eine Flotteneinheit gibt. In dieser Hinsicht bestehen sie, wenn ich richtig informiert bin, auf ihrer Unabhängigkeit und ihrem besonderen Status. Und weil sie gerade in den Hochadelskreisen viele Erfolge haben, ist ihnen auch von dieser Seite her Unterstützung sicher.« »Narren!«, schimpfte er. »Ein Schiff voll Narren. Will noch jemand bei diesem Wahnsinnsunternehmen mitmachen?« »Ich!« Ich wusste nicht, was die Sonnenträgerin zu diesem Entschluss gebracht hatte, aber ihre Begleitung konnte mir nur
willkommen sein. Fragend sah ich Fartuloon an, aber der Bauchaufschneider schüttelte abermals nur den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust. Auf seine Hilfe konnte ich demnach nicht bauen. Unterdessen ging die Antwort von Hocatarr ein: »Ankunft avisiert, Tarnname Minol für den Patienten übermittelt und als Mitglied einer hochgestellten Familie ausgewiesen. Detailinformationen im Anhang.« Nach einer Pause folgte ein Zusatz, der nur von meiner Mutter stammen konnte. »Viel Glück!«
1. Legende von Caycon und Raimanja: … geschah in der dunklen Zeit, als das Große Imperium nur als Idee in den Köpfen einiger vorausschauender Männer existierte, dass sich Caycon und Raimanja in Liebe zusammenfanden. In dem Chaos, das damals auf Arkon herrschte, wurde ihre Liebe harten Bewährungsproben ausgesetzt, denn ihre Familien standen sich in offener Feindschaft gegenüber. Caycon war der jüngste Sohn der Akonda-Familie, die im Großen Befreiungskrieg, der zur Loslösung vom Mutterimperium geführt hatte, eine führende Rolle gespielt hatte und die neue Kolonie im Kugelsternhaufen Urdnir regierte. Raimanja dagegen gehörte zur Sulithur-Familie, die die Opposition anführte und die politischen Ziele der Akonda-Familie erbittert bekämpfte. Es blieb nicht bei den Auseinandersetzungen der Redner im Regierungshaus. Oft bekämpften sich Anhänger beider Familien mit der Waffe in der Hand, und manchmal tobten tagelang erbitterte Straßenkämpfe. Unter diesen Umständen konnten Caycon und Raimanja nicht darauf hoffen, die Einwilligung ihrer Familien zur Eheschließung zu erlangen. Als sie dennoch zusammenzogen, wurden sie aus ihren Familien ausgestoßen. Sie begannen ihr gemeinsames Leben nur mit den Besitztümern, die sie am Leibe trugen. Freunde halfen ihnen, sich eine Hütte zu bauen. Als Raimanja schwanger wurde, wurde das Paar eines Nachts von Fremden überfallen, gefangen genommen und in den Weltraum entführt. Was dort mit ihnen geschah, liegt auf ewig im Dunkel der Geschichte verborgen. Aber es steht fest, dass dem Liebespaar später die Flucht aus dem Raumschiff der Fremden gelang. Sie flohen nach Perpandron, wo Raimanja nach Ablauf der Zeit einen Sohn gebar. Dieser Sohn war ein Waches Wesen, das zurückkehren und große Dinge vollbringen wird, wenn seine Zeit gekommen ist …
An Bord der PARONON: 17. Prago der Hara 10.499 da Ark Galur da Paro hatte Angst. Furcht quälte ihn, als das Diskusschiff im Standarduniversum materialisierte und Kurs auf den Planeten Perpandron nahm. Auf den Darstellungen der Taster zeichnete sich die Welt der Seelenheiler deutlich ab. Der junge Adlige betrachtete beklommen das Bild der Instrumente. Er hatte Angst vor dem, was auf ihn wartete, Angst vor der Möglichkeit, dass auch diese letzte Hoffnung vergeblich war, dass er mit seiner privaten Lakhros würde weiterleben müssen. »Ich habe Angst«, sagte der Mann leise. Er war Pilot und Passagier; sonst gab es kein lebendes Wesen an Bord der schnellen Jacht. Die Geräusche, die die Pilotenkanzel erfüllten, stammten von den Maschinen der PARONON, seinem hastigen Atem und – nur für ihn hörbar – dem Hämmern seines von Furcht angetriebenen Herzens. Angst war es gewesen, die Galur da Paro nach Perpandron getrieben hatte. Er hoffte, hier endlich diese Angst vergessen, für immer zurücklassen zu können. Aber er fürchtete sich auch davor, ein völlig neues Leben beginnen zu müssen. Seit er bewusst denken konnte, war Galurs Leben von Angst bestimmt worden. Ihm selbst war erst sehr spät klar geworden, dass er nicht mehr Herr seiner Entschlüsse war, dass ihn die Furcht, die tief in seinem Innern wurzelte, leitete und führte, sein Leben einschnürte und beengte. Seine Angst hatte ihn vom Flottendienst befreit; die Angst verhinderte, dass er sich kaum an den Jagdvergnügungen des Adels beteiligte. Galur hatte alles versucht, um diesem lautlosen Würgegriff zu entkommen, aber die Angst war stärker gewesen. Perpandron war Galurs letzte Chance für ein Leben als freier Mann. Die vierte Welt des Teifconth-Systems kam langsam näher. Ein Pfeifen aus dem Hyperkom belehrte den Adligen darüber, dass er von der planetaren Ortung erfasst worden war. Er
schob den schmalen Plastikstreifen, den er auf Arkon I erhalten hatte, in den Schlitz an der Seite des Funkgeräts. Er wusste, dass auf der Karte ein Signal vorprogrammiert war, das seine Ankunft auf dem Planeten ankündigte und die Kontrolleure davon überzeugte, dass der Ankömmling kein Ungebetener war. »Wir empfangen das Signal«, klang eine angenehme Stimme aus dem Lautsprecher. »Landen Sie auf dem Nebenfeld. Überlassen Sie den Landeanflug dem Autopiloten. Er wird Sie sicher absetzen. Ende.« Unwillkürlich nickte der junge Mann, erst dann wurde ihm bewusst, dass man ihn überhaupt nicht sehen konnte. Gehorsam befolgte Galur die Anweisungen. Langsam senkte sich die Jacht auf den Planeten hinab. Seine Größe entsprach etwa der der Kristallwelt, die Eigenrotation betrug rund achtzehn Tontas. Es war warm in der Kanzel, aber Galur da Paro begann zu frösteln. Ihn bedrückte das Bewusstsein, dass er jetzt keine Chance mehr hatte, dem Unausweichlichen zu entgehen. Die Automatik würde ihn auf dem Planeten absetzen, Galur hatte nicht die leiseste Vorstellung, was dann mit ihm geschehen würde. Unwillkürlich zog er die Jacke enger um die Schultern. Die Automatik brachte die Jacht sanft dem Boden des Hauptkontinents näher, der als riesiges Dreieck von der nördlichen Polarregion bis weit südlich des Äquators reichte. Bald konnte Galur sehen, dass er nicht der Einzige war, der Hilfe auf Perpandron suchte. Vom rund zehn Kilometer durchmessenden Landefeld des Raumhafens nahe der westlichen Kontinentküste starteten und landeten wiederholt Schiffe, mal kleine Fahrzeuge wie die fünfzig Meter durchmessende Leka von Galur, aber auch Raumschiffe, die tausend und mehr Passagiere transportieren konnten. Er fragte sich, wie viele der Hilfesuchenden wieder gesund den Planeten
verlassen mochten. »Ein Trockendock für arkonidische Wracks.« Nicht weit vom Raumhafen und der ihn zu einem Viertel umgebenden Siedlung entfernt erhob sich als Tafelberg eine Felsplattform von beachtlichen Ausmaßen und mindestens dreihundert Metern Höhe. Die Oberseite des grob rechteckigen, fünfzehn mal sieben Kilometer großen Gebildes war bemerkenswert eben und unverkennbar Ergebnis einer sorgfältigen Bearbeitung, obwohl das rote Felsmaterial im Laufe vieler Jahrhunderte stark verwittert war. Dennoch war für einen leidlich aufmerksamen Beobachter klar zu erkennen, dass diese gewaltige Fläche keine Laune der Natur war – zu deutlich waren die Spuren der Bearbeitung. Sie mussten von einem Volk stammen, das längst ausgestorben war und von dem es anscheinend außer dieser Plattform kein anderes Zeichen seiner früheren Existenz gab. Wer dieses Volk war, wie es einmal ausgesehen hatte, erinnerte sich Galur, war bislang nicht herausgefunden worden. Wahrscheinlich verspürten die Seelenheiler auch nicht die geringste Lust, dieses Geheimnis aufzuklären; es genügte, dass es dieses Rätsel gab, konnte es den besonderen Ruf von Perpandron doch nur erhöhen. Im Zentrum des Tafelbergplateaus erhoben sich die vier kuppelförmigen Hauptgebäude der Goltein-Heiler – glatte und völlig fensterlose Gebilde, von denen Galur aus der Infobroschüre wusste, dass sie einen Basisdurchmesser von annähernd zweihundert und eine Höhe von hundert Metern aufwiesen. Ringsum gab es inmitten parkähnlicher Bepflanzung des Felsens Dutzende kleinerer Gebäude, die in ihrer flachen Kastenform nicht der arkonidischen Kelchbauweise entsprachen; weitere Kliniken oder Unterkünfte für die Patienten und vielleicht auch Besucher. Ein leichter Ruck ging durch den Rumpf der Jacht, als die
vier Teleskopstützen ausgefahren waren und der Diskus behutsam vom Autopiloten auf dem Landefeld abgesetzt wurde. »Sie können das Schiff verlassen«, wurde Galur informiert. »Wir wünschen einen angenehmen Aufenthalt.« »Witzbolde«, schimpfte er. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sich irgendjemand auf einen Besuch Perpandrons freute. Das Traktorfeld der Schleuse nahm Galur und sein Gepäck auf und setzte ihn sanft auf dem Boden des Landefelds ab. Es war heiß, die Sonne stand fast senkrecht über dem Mann. Ein angenehm trockener Wind wehte über die Schiffe und Arkoniden, die sich zwischen den Raumern bewegten. Ein Taxigleiter kam Beute suchend näher, Galur winkte. Der Pilot hielt an, half beim Gepäck und ließ Galur einsteigen. »Sie sind zum ersten Mal auf Perpandron?« Galur setzte sich und machte ein verdrossenes Gesicht. »Hier ist wohl jeder eine Art Seelenschnüffler?« »Man bekommt so seine Erfahrungen. Ich hole seit zwanzig Jahren die Patienten vom Landefeld ab und bringe sie zu den Kliniken. Wenn man eine solche Arbeit so viele Jahre lang macht, weiß man ziemlich bald, wen man vor sich hat. Habe ich recht?« »Ja«, bestätigte Galur unwillig. »Ich bin zum ersten Mal hier.« »Machen Sie sich keine Sorgen, Erhabener. Was auch immer Sie bedrücken mag, hier werden Sie Hilfe und Heilung finden. Es gibt nichts, was man hier nicht könnte.« Der Mann flog schnell und geschickt. Galur fand kaum Zeit, sich näher umzusehen. Überall gingen Personen; manche schlurften mit hängenden Schultern, andere wiederum sahen sich oft um, als suchten sie nach etwas. Galur spürte, dass er in eine Welt geraten war, die mit normalen Maßstäben nicht mehr gemessen werden konnte. Mehr als neunzig Prozent der Personen, die diesen Planeten bevölkerten, waren mehr oder
minder erkrankt. Das Bedrückende daran war, dass diese Krankheiten lange Zeit nicht erkannt worden waren und sich verschlimmert hatten, bis es in der gesamten bekannten Galaxis nur noch einen Platz gab, an dem die Möglichkeit bestand, die Krankheiten zu heilen – eben Perpandron. Wer hier ohne Heilung abflog, dem konnte niemand mehr helfen. »In welcher Klinik werden Sie untergebracht?«, wollte der Pilot wissen. Galur zuckte mit den Schultern. »Aber Sie werden doch wenigstens Ihren persönlichen Heiler kennen?« »Mir wurde gesagt, ich solle mich bei Dargai Thal melden. In Hauptkuppel Zwei.« »Ein guter Mann, ein sehr guter sogar. Ich würde behaupten, dass Thal einer der besten Heiler ist, die Perpandron je gesehen hat. Besser sind eigentlich nur Tai-Laktrote Scoopar und natürlich der Weise Mantar höchstselbst; doch Letzterer befindet sich in der Goltein-Schule auf der Kristallwelt. Tai-Laktrote Klemir-Theron ist in meinen Augen zu ehrgeizig und von sich selbst überzeugt. Ich bin sicher, Tai-Laktrote Thal wird Ihnen helfen können. Es wird allerdings nicht ganz billig sein.« »Geld spielt keine Rolle.« Wenn ich von allen Gütern so viel hätte, wie ich Geld habe, brauchte ich diesen Planeten und seine obskuren Heiler nicht. Und hätte ich das Geld nicht, wäre ich auch nicht hier. »Wir sind am Ziel, Erhabener«, sagte der Fahrer. Galur stieg aus, bezahlte den Flug und gab ein ansehnliches Trinkgeld. Während sich der Gleiter rasch entfernte, betrat Galur die Kuppel durch den Haupteingang. Im Innern war es angenehm kühl. Instinktiv zog Galur prüfend die Luft durch die Nase, aber der typische Geruch nach Krankenhaus fehlte. In der Eingangshalle gab es einen Informationsschalter. Der Roboter erklärte Galur, wo er Dargai Thal finden konnte. Galur
spürte, wie seine Hände feucht wurden, als er den Gang entlangschritt. Wieder überfiel ihn die Angst und ließ sein Herz schneller schlagen.
»Sie haben also Angst?«, erkundigte sich der Seelenheiler. Galur nickte. Angst war auch jetzt das vorherrschende Gefühl. Sie war nicht so schlimm wie sonst, aber greifbar und gegenwärtig. Angst, vermischt mit der Hoffnung, dass er sich ihrer hier würde endgültig entledigen können. Galur sah den Mann genau an. Dargai Thal war noch relativ jung; er konnte schwerlich älter als vierzig Arkonjahre sein. Das Gesicht war gleichmäßig geschnitten, fiel durch kein besonderes Merkmal auf – vom kahl geschorenen und von arabesken Tätowierungen überzogenen Schädeldach einmal abgesehen. Die rötlichen Augen blickten freundlich, interessiert, aber auch zurückhaltend. In gewisser Weise fühlte sich Galur geborgen, gleichzeitig suchte er nach einem Weg, diesem Gespräch zu entrinnen. Galur wusste, dass er das, was er für seine absolut privaten Geheimnisse hielt, diesem Mann nicht allzu lange vorenthalten konnte. Irgendwann würde das Gespräch – und diese Unterhaltung war nicht mehr als ein Vorgeplänkel – auf die Themen kommen, die Galur nicht zu berühren wünschte, die aber gleichzeitig Kernpunkt seiner Welt waren. »Wovor?« Galur biss sich auf die Lippen; er konnte nicht erkennen, was sich hinter der Stirn seines Gegenübers abspielte. Thal sah ihn nur an und wartete geduldig auf eine Antwort. Was sollte Galur dem Heiler sagen, welche Antwort traf wirklich zu? »Unter anderem auch davor, mit mir darüber zu sprechen?« Galur nickte. »Hören Sie zu. Es gibt viele Heiler auf Perpandron und viele Methoden zu heilen. Wenn mein Verfahren Ihnen nicht hilft
oder zusagt, steht es Ihnen selbstverständlich frei, sich für einen anderen Goltein-Heiler zu entscheiden. Ich bin sicher, dass wir Ihnen werden helfen können. Es fragt sich nur, welches Verfahren wir anwenden. Meine Methode ist langwierig, kompliziert und anstrengend, sowohl für mich als auch für den jeweiligen Patienten. Dafür aber biete ich als Heilung einen hundertprozentigen Erfolg an.« »Ich …« Galur stockte. »Ja? Sie wollen mir etwas sagen, aber irgendetwas hindert Sie daran. Wir werden diesem Etwas auf die Spur kommen. Aber dazu brauche ich, mehr als alles andere, Ihre Mitarbeit. Wenn Sie nicht gewillt sind, hart an sich zu arbeiten, können Sie diesen Raum sofort wieder verlassen. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie mir auf jede meiner Fragen die Antwort geben, die Ihrer Ansicht nach der Wirklichkeit am nächsten kommt. Wenn dieses Etwas, das Sie bedrängt, sich einmischt und Ihnen den Mund verbieten will, dann sagen Sie mir auch das. Und jetzt füllen Sie bitte diesen Fragebogen aus.« Thal schob Galur eine bedruckte Folie zu. Sie enthielt genau einhundert Fragen; daneben konnte Galur ankreuzen – stimmt, stimmt nicht. Manche der Fragen erschienen Galur ziemlich merkwürdig: Nach einer Party habe ich oft Lust, mit den anderen noch Leute zu ärgern. Galur grinste und kreuzte an: stimmt. Andere Fragen schienen auf Galurs Schwierigkeiten recht gut zugeschnitten: Ich bekomme vor bestimmten Ereignissen leicht Lampenfieber und körperliche Unruhe. Auch das traf zu. Vor allem der erste Satz bereitete Galur Vergnügen. Ich habe die Anleitung gelesen und bin bereit, jeden Satz offen zu beantworten. Galur verneinte ohne Zögern. Als er alle einhundert Sätze bestätigt oder verneint hatte, gab er den Bogen zurück. Der Heiler sah auf die Uhr, aber Galur konnte nicht erkennen, welche Folgerungen Thal daraus zog. Hatte er zu flüchtig gearbeitet? Thal studierte die Folie kurz, dann sah er wieder auf. »Haben
Sie schon früher einmal ein solches Persönlichkeits-Inventar gesehen oder ausgefüllt?« Galur verneinte sofort. »Sie scheinen ziemlich ehrlich zu sein, und das ist gut so.« Er bemerkte Galurs fragenden Blick. »In jedem Test dieser Art werden sogenannte Lügen-Items eingebaut. Das sind Fragen, die jeder Patient, ja auch jeder Goltein-Heiler in einer ganz bestimmten Art und Weise beantworten muss, wenn er ehrlich ist. Der Mann, der behauptet, er habe noch nie in seinem Leben gelogen, müsste ein Heiliger sein, entspräche das der Wahrheit – und Heilige pflegen uns für gewöhnlich nicht aufzusuchen. Jeder Arkonide, ob Patient oder Heiler, hat in seinem Leben bestimmt einmal etwas getan, für das er sich geschämt hat oder sich hätte schämen müssen. Wer eine solche Frage verneint, zeigt uns damit, dass er nicht zur offenen Zusammenarbeit bereit ist, und das erschwert den Fall beträchtlich oder führt zum Abbruch der Behandlung. Ich habe Ihnen dieses Spielchen nur vorgeführt, um Ihnen klarzumachen, dass Sie mich nicht werden täuschen können. Versuchen Sie es besser gar nicht erst!« »Ich habe nichts dergleichen vor«, behauptete Galur da Paro, aber an der Miene des Heilers war nicht abzulesen, ob er an dieser Behauptung zweifelte oder nicht. »Wollen wir sofort anfangen? Oder ziehen Sie es vor, sich erst einmal einzuleben, andere Patienten kennenzulernen oder – was ich bei Ihnen eher annehme – zu versuchen, sich mit einschlägiger Fachliteratur zu versehen und sich in die Materie einzulesen?« »Woher wollen Sie das wissen?«, erkundigte sich Galur betroffen. Die Diagnose des Heilers hatte präzise gestimmt. »Sie haben Angst. Sie hassen es, wenn Sie einen Sachverhalt oder ein Problem nicht vollkommen im Griff haben. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie auch versuchen werden, Ihre Behandlung jederzeit im Griff zu haben. Es liegt nahe, dass Sie
versuchen werden, meinen Informationsund Kenntnisvorsprung auszugleichen, um sich selbst behandeln zu können – damit kämen Sie um etliche Einsichten und peinliche Eingeständnisse herum, glauben Sie jedenfalls!« »Volltreffer.« Galur da Paro versuchte ein Lächeln. Es misslang. Galur stand auf, gab dem Heiler die Hand und wollte das Zimmer verlassen. Thal hielt ihn auf der Schwelle zurück. »Übrigens«, sagte der Heiler beiläufig, »wussten Sie, dass wir eine wirkungsvolle planetare Abwehr haben?« Galur schüttelte den Kopf. »Haben Sie sich vor dieser Gefahr gefürchtet, als Sie Ihre Jacht auf Perpandron zusteuerten?« »Ich habe keinen Gedanken daran verschwendet.« »Sehen Sie. Da haben Sie Ihr Problem. Auf Wiedersehen.« Völlig verwirrt verließ Galur da Paro das Zimmer des Heilers. Wie benommen schritt er durch die Gänge und Korridore und suchte sein Zimmer.
Die Anlage der Goltein-Heiler war extrem weitläufig. Es gab Dutzende Spezialkliniken und Sonderabteilungen in den Kuppeln. Jeder Heiler, vor allem die prominenten, unterhielt zusätzlich eine Privatstation, in der er besonders interessante oder extrem schwierige Fälle einquartierte, um sie ständig unter Kontrolle zu haben. Dargai Thal hatte sich dazu entschlossen, Galur in seiner Privatstation einzuquartieren. Galur hatte einige Mühe, sein Zimmer zu finden. Er genierte sich, einen der zahlreichen Assistenten oder Roboter anzusprechen und sich nach dem Weg zu erkundigen. So benötigte Galur fast eine halbe Tonta, bis er endlich den Raum gefunden hatte, in dem er die nächste Zeit verbringen würde, von der er noch nicht wusste, wie lang sie werden würde. Hätte der junge Adlige gewusst, dass es Patienten gab,
die manchmal jahrelang behandelt wurden, hätte er auf der Stelle kehrtgemacht und wäre wieder abgeflogen. Die abschließende Bemerkung des Heilers gab Galur noch zu denken, als er die rechte Hand mit der Innenfläche auf das Wärmeschloss presste und sich Augenblicke später die Tür öffnete. Galur wurde sofort nervös, als er den jungen Mann sah. Es handelte sich ganz offenkundig um einen zweiten Bewohner des Zimmers. Galur sah das zweite Bett und darauf den hellen Haarschopf des Mannes, der ihm interessiert entgegensah. »Herzlich willkommen«, sagte der junge Mann und stand vom Bett auf. »Ich heiße Borga Kontai.« »Galur da Paro.« »Aha«, machte Borga. »Und was ist deine Macke?« »Bitte?« Innerlich rang Galur um Beherrschung. Seinen Adelsstatus verdankte er der Tatsache, dass sein Onkel Thallur im Rang eines Termoas als Oberhaupt des Khasurn Ländereien auf sieben Planeten in vier Sonnensystemen hatte; überdies war er einfacher Sonnenträger und als Has’athor Kommandant eines Schlachtschiffes. Galurs Vater wie auch die beiden Söhne – Galur und dessen jüngerer Bruder Haisoon – waren somit berechtigt, das Adelsprädikat »da« im Namen zu tragen, standen in der Erbnachfolge jedoch erst an hinterer Stelle. Drei weitere Brüder Thallurs und deren Nachkommen rangierten ebenso weiter vom wie seine eigenen Söhne. Dennoch reichten Privilegien und eigene Besitztümer, um sämtliche Mitglieder des weitverzeigten Paro-Khasurn normalen Arkoniden gegenüber auszuzeichnen. Auch das ein Aspekt, der Galur von Kindheit an Angst bescherte. »Ich sehe schon, noch völlig auf dem Egotrip. Ich will wissen, was dich hergebracht hat, Adelssöhnchen.« »Meine Jacht.« Galur stellte die Tasche auf das Bett. Das
Zimmer war groß genug für zwei Personen und ansprechend möbliert. Die Fenster lagen auf der Rückseite und wiesen auf den gepflegten Park hinter dem Gebäude. »Heilige Phobie.« Borga seufzte. »Ein Komiker. Das kannst du dir sofort abgewöhnen, da mache ich nicht mit. Wir werden vermutlich einige Perioden, vielleicht Jahre zusammenhausen. Irgendwie werden wir uns zusammenraufen müssen, und wenn wir uns dabei gegenseitig die Nasenbeine zertrümmern müssen. Also sprich vernünftig mit mir.« Borga stand auf und ging zu Galur. »Lass nur. Das schaffst du ohne Hilfe nicht. Es gibt da ein paar Tricks, wie man in diese Kleiderschränke ein Maximum an Kleidung hineinpackt. Du wirst noch Zeit brauchen, bis du so weit bist.« Galur fühlte sich überfordert. Mit wenigen Sätzen hatte Borga Kontai ihn überrollt und die Initiative völlig an sich gerissen. Setzte Galur sich nicht bald dagegen zur Wehr, würde er in kurzer Zeit völlig unter der Kontrolle seines Mitbewohners stehen. »Mach nur«, ermunterte Galur den etwa Gleichaltrigen. »Ich habe mir schon immer gewünscht, einen Psychopathen als Diener zu haben.« Borga verhielt in der Bewegung, drehte sich zu Galur um und grinste. »Gut gekontert. Scheinst doch nicht so übel zu sein, Adelssöhnchen.« An der Tür klickte es vernehmlich. Galur sprang auf. »Keine Aufregung, Bruder«, sagte Borga grinsend. »Offenbar beginnt das große Theater schon jetzt. Sie haben uns eingeschlossen.« Während Galur sich verwirrt umsah, packte Borga rasch und geschickt die Habseligkeiten in den Schrank. Galur sah ihm interessiert zu und stellte fest, dass er bei erheblich größerem Zeitaufwand mehr als doppelt so viel Platz gebraucht hätte. »Warum hat man uns eingeschlossen?« »Druck«, lautete Borgas einfache Antwort. »Sie setzen uns
unter Druck. Wir werden erst wieder befreit, wenn wir genug geleistet haben.« Galur setzte sich auf das Bett und schüttelte den Kopf. »Ich komme nicht mit. Was soll das alles?« Borga verschloss den Schrank und setzte sich auf sein Bett, sodass er Galur ansehen konnte. »Es ist alles ganz einfach. Ich werde von jetzt an genau darauf achten, was du tust oder sagst. Und bei jedem Wort und jeder Handlung werde ich herauszufinden versuchen, was dahintersteckt. Ich werde in deiner Psyche herumbohren und -wühlen – solange du nicht einen Hinweis bei mir findest, bei dem du nachhaken und mich in Verlegenheit bringen kannst. Erst wenn die Heiler, die uns fortgesetzt beobachten, genug erfahren haben, öffnen sie die Tür wieder. Wir können uns natürlich einstweilen tontalang über das Wetter unterhalten. Niemand wird uns daran hindern. Aber irgendwann werden wir wohl oder übel zu heikleren Themen übergehen müssen. Du kannst von Glück sagen, dass man dich nur mit mir eingeschlossen hat. Manchmal sitzen bis zu zehn Leute beieinander. Kannst du dir vorstellen, wie angenehm es ist, wenn die alle über dich herfallen? Sie tun es nicht aus Bösartigkeit, sondern nur, um zu verhindern, dass sie selbst derartig zerpflückt werden.« »Und wenn ich nicht will?« »Dann stehst du auf, packst deine Sachen und gehst. Man wird dir öffnen, aber damit erklärst du deine Therapie für gescheitert.« Galur zuckte mit den Schultern, stand auf und ging zum Schrank. »Eine Warnung noch«, sagte Borga sofort. »Wenn du glaubst, dass ich dir zusehe, wie du deine Sachen packst, um dann im entsprechenden Augenblick zu sagen, du solltest doch vernünftig werden und dich wieder setzen – das gibt es hier nicht. Erpressungsmanöver dieser Art verfangen nicht. Wer
diese Prozedur einige Male durchexerziert hat, kennt so ziemlich alle einschlägigen Manöver, die es gibt.« Galur sah sich zum wiederholten Male durchschaut. Das Bedrückende daran war, dass seine Verhaltensweisen so leicht zu entschlüsseln waren. Galur hatte gedacht, dass er eine einmalige und nicht zu wiederholende Persönlichkeit sei. Jetzt musste er feststellen, dass selbst Patienten offenbar in der Lage waren, seine Reaktionen und Gefühle vorherzusagen, als hätten sie selbst ihn damit programmiert. »Hock dich hin, damit wir anfangen können.«
2. Ich wurde gerufen, und ich bin gekommen. Ich soll töten, und ich werde töten. Das ist meine Aufgabe. Ich werde das Opfer vernichten, wenn es sich am sichersten fühlt. Ich töte, weil ich mächtig bin. Kein anderer hat meine Fähigkeiten. Ich habe die Kunst des Tötens zu einer nie gekannten Perfektion entwickelt. Meine Vorbereitungen sind abgeschlossen. Alles gleicht den Vorbereitungen zu einem überragenden Kunstwerk. Ich kenne das Opfer und seine Gesellschaft. Ich kenne auch die außerordentliche Situation meines Opfers. Es gab Augenblicke, in denen ich meine Opfer bewunderte. Das sind tragische Situationen im Leben eines Künstlers. Mitleid ist eine Tugend der Schwachen. Deshalb werde ich mein neues Opfer mit der Hartnäckigkeit eines Jägers zur Strecke bringen. Ich will die Todesangst in seinen Augen sehen. Ich will seine letzten Augenblicke in das Finale meines selbst geschaffenen Dramas einbeziehen. Was wisst ihr Narren schon vom Tod? Der Tod ist die Erlösung und Befreiung von allen Schmerzen. Was ihr fürchtet, ist die Ungewissheit, was nach diesem schmerzhaften Einschnitt kommen wird. In Wahrheit fürchtet ihr nicht den Tod, sondern die Vorstellung des Todes. Ich bin der Tod, ich habe die Macht über die Sterblichen. Arkon I, Kristallpalast: 24. Prago des Tedar 10.499 da Ark Seine Erhabenheit, der Höchstedle, beachtete den auf einer Antigravtrage liegenden Parentok kaum. Auch die Tatsache, dass nahezu die gesamte Besatzung der PROTALKH beim Versuch, Klinsanthor zu finden, umgekommen war, schien ihn nicht zu berühren. Orbanaschol III. stand breitbeinig da, die Daumen hinter den breiten und mit Juwelen geschmückten
Gürtel gehakt. Er sah Admiral Ta-For an, der nach der Übergabe des Speicherkristalls seinen mündlichen Bericht abgab. »Also wurde die Welt des Magnortöters gefunden? Sehr gut.« Der unangenehme Klang von Orbanaschols Stimme dröhnte in Fors Ohren. »Was ist mit dem da? Ist das dieser Parentok?« »Er ist es, Euer Erhabenheit. Außer ihm gibt es keinen lebenden Zeugen mehr, der noch zurechnungsfähig wäre. Es handelt sich wahrscheinlich um eine Zerfallserscheinung aufgrund hyperphysikalischer Einflüsse, die mit rechtsseitiger Lähmung beginnt und …« »Er hat seinen Herrscher nicht einmal begrüßt!« »Ich fürchte, er hat Euch nicht einmal erkannt, Euer Erhabenheit.« Der Admiral sprach mit unbewegter Stimme, doch es war der Augenblick, an dem er Orbanaschol abgrundtief zu hassen begann. »Er wird bald sterben, die Bauchaufschneider kennen kein Heilmittel. Ihr braucht Euch um ihn nicht zu kümmern.« »Also, bringt ihn fort. Ich will ihn nicht mehr sehen.« Als sich die Tür geschlossen hatte, fuhr er fort: »Die Welt Skärgoth wurde also gefunden. Nicht aber Klinsanthor. Es hat die Gruft bereits verlassen.« »Toschmols Bericht zeigt, dass der Wille Seiner Erhabenheit ausreicht, um Klinsanthor herbeieilen zu lassen«, murmelte Admiral For. »Niemand weiß, auf welchem Weg er kommt oder wie er aussieht. Er kann demnach bereits mitten unter uns sein …« Unvermittelt wurde Orbanaschol weiß im Gesicht, seine zusammengepressten Lippen bildeten einen Strich. Fahrig strich er sich Haare aus der Stirn; sein suchender Blick glitt über die fein gewandeten Ratgeber, bis er an For hängen blieb. »Er kann mitten unter uns …? Einer von uns vielleicht? Wie
soll das gehen?« Er streckte abwehrend die Hand aus. »Nein, das glaube ich nicht. Das ist unmöglich. Ich kenne alle schon lange. Wir wissen, wie wir aussehen und wer wir sind.« »Klinsanthor ist dem Ruf des Imperators gefolgt und nach Arkon gekommen. Das ist die Botschaft.« Admiral For spürte in sich so etwas wie Genugtuung, gleichzeitig verwundert über den eigenen Mut. »Er ist hier. Es muss hier sein. Auf welche Weise ihm das möglich ist, weiß ich nicht. Im Bericht wird von einer … hm, energetischen Existenz gesprochen; unsichtbar, vielleicht sogar körperlos. Irgendwann werden wir ihn erkennen, vielleicht auch nur an seinem gefährlichen Schatten …« Orbanaschol starrte ihn lange wortlos an. Sein Gesicht war noch immer blass. Und er war sich völlig darüber klar, dass er derzeit keine gute Figur abgab. Jeder Anwesende hatte sehen können, wie sehr ihm der Schreck in die Glieder gefahren war. Dieser negative Eindruck musste schnell revidiert werden, wollte er nicht alle hinrichten lassen, was unter den gegebenen Umständen unklug gewesen wäre. Orbanaschols Stimme klang heiser, als er sagte: »Klinsanthor ist bereits eingetroffen. Er untersteht meinem Willen, ist dem Ruf des Höchstedlen gefolgt! Sein todbringender Schatten wird fortan über alle Feinde des Imperators fallen.« Die Ratgeber blieben stumm, denn sie wussten nur zu gut, dass sich Orbanaschol selbst Mut machen wollte. Andererseits war die Drohung unverhohlen. Dieser Mann war gefährlicher denn je. »Geht jetzt! Lasst mich allein.« Admiral For verließ den Kristallpalast mit gemischten Gefühlen. Misstrauisch sah er jedem nach, der ihm begegnete. Jeder konnte Klinsanthor sein – sofern der Magnortöter tatsächlich jedermanns Gestalt anzunehmen in der Lage war. Plötzlich verspürte For Angst und Unsicherheit. Als er sich in seinem Quartier in den Sessel fallen ließ, achtete er nicht auf
das leichte Kribbeln im rechten Arm, und den feinen Schleier vor dem rechten Auge schrieb er seiner Müdigkeit zu …
Arkon I: 25. Prago des Tedar 10.499 da Ark Zur fünfzehnten Tonta staute sich der Abendverkehr auf den energiestabilisierten Hochbahnen des Vergnügungsbezirks Hocton-Mur. Der riesige Trichterbau gleichen Namens im Zentrum war das Ziel zahlreicher Raumfahrer. In farbenprächtigen Gleitern fädelten sie sich in den Verkehrsstrom ein, der am Raumhafen begann und sich netzartig über Morararg verteilte. Weil Arkon I von den Arkoniden in erster Linie als Wohnwelt betrachtet und genutzt wurde, hielt sich die Anzahl von großen Raumhäfen in sehr engen Grenzen – nicht zuletzt, um die mit den Flugbewegungen verbundenen »Belästigungen« für die Hochwohlgeborenen zu vermeiden. Dennoch gab es natürlich ausreichend Einrichtungen dieser Art – nicht zuletzt in Form vieler kleiner, privater Landefelder –, denn sie stellten das Tor zum All dar. Starts und Landungen von Großraumern wurden weitgehend vermieden, doch die der ungezählten Klein- und Verbindungsraumer wie auch der privaten Jachten waren an der Tagesordnung. Rings der größeren Raumhäfen oder in ihrer direkten Nähe hatten sich im Laufe der Zeit Städte ausgebreitet, die meist die gleichen Namen wie die Landefelder trugen. Hocton-Mur war ein Randbezirk der Fünfmillionenstadt Morararg, die – als eine der wenigen »wirklichen Städte«, die es auf der dezentralisiert bebauten, um nicht zu sagen zersiedelten Kristallwelt gab – den gleichnamigen Raumhafen sichelförmig zu zwei Dritteln umspannte, ein im Nordwesten des Äquatorialkontinents Laktranor nördlich des Arban-Sees gelegenes Landefeld von dreißig Kilometern Durchmesser. Der Hügel der Weisen mit dem
Kristallpalast des Höchstedlen war fast 6100 Kilometer entfernt. »Die zentrale Verkehrspositronik gibt bekannt, dass sämtliche Einstellmöglichkeiten für Besucher des Hocton-Mur-Kelches besetzt sind. Es wird empfohlen, die Ausweichstation Bartron zu benutzen. Für die Zeit zwischen der Trivid-Ansprache Seiner Erhabenheit, Imperator Orbanaschols des Dritten, und den Kommentaren des Flottenzentralkommandos ist eine künstliche Beregnung sämtlicher Parks angeordnet worden. Die Besucher werden gebeten, ihre Fahrzeuge nicht zu verlassen und die Trichteretagen aufzusuchen …« Cari Toblon schlug auf die Aktivierungstaste des Regionalfunks. »Wenn wir schon mal ausspannen wollen.« Seine beiden Begleiter nickten, beugten sich in den weichen Polstern des Gleiters vor. Ihre Uniformen glänzten im Licht der Energiebahnen. Ihre Gesichter wirkten hart und zeigten die Kompromisslosigkeit von Kämpfern, die sich in den Raumschlachten gegen die Wasserstoff atmenden Maahks bewährt hatten. Die Männer hatten einige Pragos Urlaub. Endlich hatten sie die engen Gänge und Hangars der VALTRICTON verlassen können. Der Schwere Kreuzer hatte ihnen seit drei Jahren die Heimat ersetzen müssen. »War eine verdammt lange Zeit, dass wir nicht mehr auf Arkon Eins waren, was?« Toblon nickte seinem Freund Urson Macton zu. »Wird sich allerhand geändert haben. Mit Neuigkeiten wurden wir ja wirklich nicht ausreichend versorgt. Ob die Mädchen im Belcantro immer noch so hübsch sind?« Chari-Ton-Bol kicherte. »Wenn ich an die blauhäutige Tänzerin von Zalak Drei denke, wird mir ganz weich in den Knien.« »Du wirst doch bei jedem Weib schwach.« Urson Macton lachte. »Bei den Methans hast du mehr Geschick gezeigt als bei
weiblichen Wesen.« Chari-Ton-Bol bekam glanzlose Augen und starrte aus dem Seitenfenster des geräumigen Gleiters. Er schien die wunderbare Parklandschaft nicht wahrzunehmen, die tief unter ihnen von bunten Strahlerbatterien ausgeleuchtet wurde. Er schien auch nicht auf den Trichterbau zu achten, der in Fahrtrichtung immer größer wurde. Ein gequältes Stöhnen entrann seiner Kehle. »Er hat schon wieder diese merkwürdigen Anwandlungen«, sagte Toblon. »Wir sollten ihm einen Behandlungsplatz bei den Goltein-Heilern verschaffen.« In Mactons Stimme schwang ein höhnischer Ton mit. Ein arkonidischer Raumsoldat durfte sich keine Blöße geben. Gleichgültig, welche mörderischen Erlebnisse er gehabt hatte. »Goltein-Heiler sind etwas für die Superreichen«, ergänzte Toblon. »Der arme Chari-Ton-Bol wird niemals die Summe für eine einzige Sitzung bei einem Seelenheiler aufbringen können. Wir müssen uns selbst helfen. Wenn ich mich betrachte, so ist mir das bisher ausgezeichnet gelungen. Die Kämpfe im Tricoron-Sektor nahe Iskolart waren entsetzlich. Aber wir haben sie gewonnen. Nicht eine einzige Schiffseinheit dieser verdammten Maahks kam bis zu den bewohnten Welten durch. Ich finde, wir können stolz auf uns sein.« Chari-Ton-Bol achtete nicht auf die Worte seiner Kameraden. Das kurz geschnittene Silberhaar hing ihm wirr in die Stirn. Salziges Augensekret lief ihm über die Wangen. Ein Zeichen, dass er stark erregt war. Vor seinem geistigen Auge erschienen die Glutbälle explodierender Raumschiffe. Die Sterne verblassten vor den grellen Plasmabällen. Längst vergessene Kommandos gellten in seinen Ohren. Druckabfall auf Deck III. Unbewusst tastete Chari-Ton-Bol nach dem Magnetverschluss seines Raumanzugs. Aber der Waffenspezialist trug keinen
Raumanzug, denn er befand sich in einem Gleiter, der das Vergnügungszentrum von Hocton-Mur auf Arkon I ansteuerte. Angriffsformation auf Maahk-Einheit im Gelbsektor. Chari-Ton-Bols Hände verkrallten sich im Stoff des Schalensessels. Er glaubte, das Zischen der Luftversorgungsanlage zu hören. Druckabfall auf Deck III. Die explosive Dekompression tötete einen Mann, niemand konnte ihm helfen. Währenddessen schleuderten die Impulsgeschütze ihre tödlichen Gluten durch das All. Treffer im Gelbsektor! Chari-Ton-Bol schrie auf … »Das reicht«, knirschte Urson Macton. »Der Kerl verdirbt uns den ganzen Abend.« Bevor Chari-Ton-Bol reagieren konnte, hatte ihm der Arkonide einen Faustschlag versetzt. Chari-Ton-Bol sackte wimmernd im Schalensessel zusammen. Die schreckliche Vision von der letzten Raumschlacht zerplatzte in das Netzwerk unzähliger Fragmente. Jedes dieser Fragmente erzählte im Unterbewusstsein des Raumsoldaten seine eigene Geschichte. Und diese Geschichten waren voll von Blutvergießen und selbstlosen Einsätzen. »Schluck das hier!« Macton schob seinem Kameraden eine Beruhigungskapsel zwischen die Zähne. Chari-Ton-Bol schluckte sie widerspruchslos hinunter und spürte, wie sich die Gelatineschicht auflöste und den Wirkstoff in seinen Kreislauf abgab. Die Erinnerungen waren nicht mehr so mächtig, wurden wieder in das Unterbewusstsein abgedrängt. Eine unnatürliche Leichtigkeit ergriff Besitz von dem Raumsoldaten. Als sei überhaupt nichts geschehen, fragte er: »Wann sind wir da?« »Du hast dich schnell wieder gefangen, alter Junge«, spöttelte Macton. »Ohne den kleinen Seelentröster hättest du uns den Abend verdorben. Wir bekommen jeden Augenblick den Parkplatz zugewiesen. Wenn wir in die Vergnügungssalons
gehen, will ich Spaß haben. Hast du verstanden?« Chari-Ton-Bol nickte gleichmütig. Die Beruhigungskapsel hatte ihn in eine Art Dämmerzustand versetzt. Er war mit sich und der Welt im Einklang. Jetzt gab es nichts mehr, was sein Dasein überschattete. »Wenn du noch mal verrückt spielst, melde ich dich dem neuen Kommandanten«, sagte Toblon. »Du weißt, was das für dich bedeutet. Du wirst degradiert und verlierst den Anspruch auf Altersversorgung. Ich rate dir dringend, in Zukunft besser auf deine Gefühle aufzupassen.« Der Gleiter verließ die energiestabilisierte Hochstraße und schwenkte zu den plattformähnlichen Ausbuchtungen des fünfhundert Meter hohen Trichterbaus. Es waren nur noch wenige Gleiter vor ihnen. Die Verkehrspositronik regelte den Andrang der Besucherfahrzeuge vorbildlich. Auf Arkon I wurde nahezu alles positronisch geregelt. Das Wetter, der Verkehr, die Versorgung. »Wir haben einen Mordsspaß verdient. Ich will endlich mal wieder so richtig über die Stränge schlagen. Beim alten Kommandanten war das anders …« Urson Macton unterbrach seinen Begleiter barsch: »Wir dürfen den Namen des alten Kommandanten nicht mehr erwähnen. Du weißt, dass wir dafür bestraft werden können.« Cari Toblon nickte. Seit die Untersuchungskommission die VALTRICTON verlassen hatte, war alles ganz anders geworden. Ihr neuer Kommandant, Nedo Teclon, hatte sämtliche Erinnerungsstücke seines Vorgängers entfernen lassen. »Ob der Alte wirklich mit den Maahks paktieren wollte?« Funkspezialist Macton schüttelte den Kopf. Vor seinem geistigen Auge tauchte das Bild des alten Kommandanten auf. Sie hatten fünf Jahre unter seinem Kommando gedient. Abagur del Monotos gehörte zu jenen Adligen, die schon unter Imperator Gonozal VIII. gegen die Maahks gekämpft hatten. Es
war ein offenes Geheimnis, dass del Monotos nicht mit den Maßnahmen des neuen Imperators einverstanden war. Del Monotos nannte Orbanaschol III. verächtlich einen Usurpator und Diktator. »Wahrscheinlich hat Teclon das Gerücht von del Monotos’ angeblicher Untreue bewusst in die Welt gesetzt, um schneller sein Kommandantenpatent zu erhalten«, vermutete Toblon. »Das solltest du für dich behalten. Abagur del Monotos lebt nicht mehr. Ich möchte jetzt nicht in der Haut seiner Angehörigen stecken. Orbanaschol hat ihr Vermögen einziehen lassen. Außerdem verloren sie sämtliche Adelsrechte.« »Ich bin froh, dass wir bei der Affäre heil über die Runden gekommen sind«, fügte Toblon hinzu. »Weil wir den alten Kommandanten verraten haben«, sagte Waffenspezialist Chari-Ton-Bol heftig. »Fängst du schon wieder an?« »Wir sollten ihn im Gleiter lassen«, stieß Urson Macton wütend hervor. »Aber vielleicht pumpen sie ihn im Vergnügungssalon voll Psychodrogen. Das bringt ihn garantiert auf andere Gedanken.« Die Männer wurden seit der Landung der VALTRICTON nicht mehr aus den Augen gelassen. Ihr Verfolger hatte einen Minispion im Gleiter platziert, kannte jedes Wort ihrer Unterhaltung, und er wusste, welches Ziel sie hatten …
Urson Macton warf einen amüsierten Blick auf die Zarltoner, die vor dem Tor des sich über etliche Ringetagen erstreckenden Belcantro standen. Die Männer trugen eng anliegende Kombinationen aus einer glitzernden Kunstfaser. In ihren
breiten Gürteln steckten leichte Nadler. Die Gesichter der beiden Posten wirkten unbeteiligt. Sie hatten ihre Arme vor der breiten Brust verschränkt. Grinsend sagte Macton: »Mit so einem will ich keinen Dagor-Kampf austragen.« »Kann ich dir nicht verdenken. Die beiden sind Könner. Wetten, dass sie täglich mindestens drei Tontas üben müssen?« »Vier Tontas«, stieß der eine Zarltoner kehlig hervor. »Die SENTENZA gibt sich nicht mit halben Sachen ab.« Macton musterte den Zarltoner. »SENTENZA …?« Der Zarltoner lächelte verständnisvoll. Hier erschienen tagtäglich die merkwürdigsten Gestalten aus allen Teilen des Großen Imperiums. Wer gegen die Maahks gekämpft hatte, wusste oft nicht mehr, was zu Hause los war. In wenigen Jahren konnte sich vieles verändert haben. »Die SENTENZA«, begann er salbungsvoll, »sorgt für den reibungslosen Ablauf sämtlicher Vergnügungen der Kristallwelt. Ihr werdet schon noch dahinterkommen, was das für euch im Einzelnen bedeutet.« »Wir können für unser Vergnügen selbst sorgen«, sagte Cari Toblon herablassend. »Das glauben wir euch gern«, entgegnete der Zarltoner, dessen Rechte beunruhigend nahe dem Handgriff seines Nadlers schwebte. »Aber, wie mein Kamerad schon erwähnte, jetzt kontrolliert die SENTENZA den Amüsierbetrieb. Gegen eine geringe Gebühr bekommt jeder die Garantie, dass die Nacht seinen Wünschen gemäß verläuft.« »Und wenn wir nicht zahlen?« Der Zarltoner grinste überlegen. »Dann könnte euch etwas zustoßen. Ein Verkehrsunfall, verdorbene Speisen, eine Überdosis an Seelentröstern, falsch programmierte Gefühls-Androiden, ein Weib mit Krallen oder …« »Hör auf«, presste Macton wütend hervor. »Wir zahlen, das ist klar. Es hat sich wirklich eine Menge hier verändert.«
»Ihr gewöhnt euch noch daran.« Der Zarltoner deutete auf den silbernen Kasten am Eingang des Belcantro. Die schmalen Schlitze zum Einschieben der Kreditkarten waren nicht zu übersehen. Dort wurden die Beträge für die »Schutzgebühr« abgebucht. Nachdem die Raumsoldaten ihre Kreditkarten aus dem Schlitz der Maschine gezogen hatten, schwang vor ihnen die breite Glassittür beiseite. Laute Musik, Stimmengewirr und Lachen schallten ihnen entgegen. Verdeckte Sprühmechanismen umnebelten sie mit Wolken irgendeines kostbaren Parfüms. Es war ein Duft, der sie jede Vorsicht vergessen ließ. Sie gaben sich dem bunten Treiben willig hin. Eine zierliche Kolonialarkonidin verbeugte sich vor den Raumsoldaten. »Darf ich den Herren eine Erfrischung anbieten?« Sie streckte ihnen ein Tablett mit mehreren Gläsern entgegen. Die Getränke waren verschiedenfarbig. Irgendeine Substanz löste sich in ihnen auf. »Auf dein Wohl, Toblon!« Die Raumsoldaten prosteten sich zu. Hätte sie jetzt einer auf ihre Erlebnisse im All angesprochen, wären sie sicherlich aus der Haut gefahren. Sie waren hergekommen, um diese Erlebnisse zu vergessen. Macton deutete auf die schlanken Tänzerinnen, die über das indirekt beleuchtete Karree huschten. Die jungen Arkonidinnen waren außergewöhnlich hübsch. Ihre Bewegungen waren grazil und perfekt einstudiert, es war nichts Gewöhnliches oder Laszives an ihnen. Sie wirkten ungemein natürlich. »Genau das Richtige für uns.« Toblon schnalzte anerkennend mit der Zunge. Im gleichen Augenblick wechselte die Beleuchtung. Lichtblitze flammten auf und pulsierten im Rhythmus der tanzenden Frauen. Ihre schlanken Körper wurden wie Schemen im Lichtgewitter sichtbar. Ihre Bewegungen erschienen ruckhaft und versetzt während der Lichtsequenzen. Der Tanz wurde dadurch wie in
Zeitlupe sichtbar. Gebannt starrten die Raumsoldaten in das Geflimmer. »Phantastisch … wirklich märchenhaft.« Sie vergaßen alles um sich. Und so kam es, dass sie Chari-Ton-Bols Verschwinden erst viel später bemerkten. Doch da war es für den Raumsoldaten schon zu spät.
Aus der angrenzenden Nische ertönte heiseres Lachen. Ein älterer Arkonide ließ sich berauschende Gewürze servieren. Die leicht bekleidete Frau kitzelte ihn fortwährend mit einer Vogelfeder. Das brachte den Alten dazu, die bereits inhalierten Gewürzschwaden wieder auszustoßen. Er verbrauchte auf diese Weise eine weitaus größere Menge an Rauchgewürzen. Das schlug sich in der Bilanz des Belcantro zu Buche. Chari-Ton-Bol ließ den Magnetverschluss seiner Uniformjacke aufschnappen. »Mir wird heiß.« »Das ist nichts Außergewöhnliches«, sagte die Rothaarige an seiner Seite. »Ein Mann darf sich ruhig eingestehen, dass ihn die Anwesenheit einer schönen Frau nervös macht.« Der Waffenspezialist wurde immer unsicherer. Das Lachen des alten Arkoniden in der benachbarten Vergnügungsnische störte ihn. »Können wir nicht woanders hingehen?« »Warum? Hier ist es gemütlich. Niemand stört uns. Ich bestelle uns etwas zu trinken.« Chari-Ton-Bol wusste, dass sie ihre Haare gefärbt hatte. Keine Arkonidin hatte derart leuchtend rote Haare. »Ich könnte einen anständigen Schluck vertragen. Aber wollen wir nicht zuerst zu den Tierschaukämpfen gehen?« Die Rothaarige lächelte verständnisvoll. »Wären Sie den Maahks genauso ausgewichen, wie Sie jetzt mir ausweichen, säßen Sie bestimmt nicht hier.« Die Augen der Frau leuchteten geheimnisvoll. Chari-Ton-Bol wurde das Gefühl nicht los, dass mit ihr etwas nicht stimmte.
Er fragte sich erneut, weshalb sie ihn angesprochen hatte. Er wirkte nicht gerade wie die Verkörperung eines siegreichen Raumsoldaten, der mit seinen Einsätzen gegen die Maahks prahlen konnte. Im Gegenteil – seine Erinnerungen an das Gemetzel im Tricoron-System ließen sich nur schwer unterdrücken. Der Waffenspezialist machte den Eindruck, als würde er ständig einen inneren Kampf ausfechten. »Wie heißen Sie?« »Namen sind Schall und Rauch. Warum nehmen Sie mich nicht so, wie ich bin?« Chari-Ton-Bol hasste die unpersönlichen Begegnungen, auf die Raumsoldaten während ihres knapp bemessenen Urlaubs angewiesen waren. Er wollte den Namen seiner Begleiterin unbedingt erfahren. »Ich würde Sie gern mit Ihrem Namen ansprechen.« Sie blickte ihn verheißungsvoll an. Mit einer koketten Bewegung warf sie eine Strähne ihres Haares in den Nacken. Das Material ihres knappen Schurzes knisterte. »Sarissa«, antwortete sie. »Nennen Sie mich einfach Sarissa.« Chari-Ton-Bol erstarrte mitten in der Bewegung. Er stellte das Glas mit dem Getränk auf die Lehnenkonsole seines Polsters. Plötzlich drehte sich ihm alles vor den Augen. »Genügt meine bloße Anwesenheit, um Sie aus der Fassung zu bringen?« »Nein … das ist es nicht, Sarissa.« Er sprach ihren Namen gedehnt aus. »Es ist wirklich ein seltener Name. Er gefällt mir.« Sarissa kniff die Augen zusammen. Irgendwie hatte der Raumsoldat plötzlich das Gefühl, sie würde ein falsches Spiel mit ihm treiben. Aber dafür gab es keinerlei Anhaltspunkte. Es gab viele Arkonidinnen, die im Dienst der SENTENZA standen. Aber es gab nur wenige, die Sarissa hießen. Chari-Ton-Bol kannte eine Sarissa, aber die konnte unmöglich mit dieser Rothaarigen identisch sein. Warum eigentlich nicht?, dachte er. Das Alter könnte stimmen. Ebenso die Größe und der
Wuchs. »Haben Sie auch einen Nachnamen, Sarissa?« »Nein!« Die Antwort klang entschieden. »Wenn ich im Belcantro bin, habe ich grundsätzlich keinen Nachnamen. Aber weshalb fragen Sie mich danach?« »Ach … Es bedeutet gar nichts. Vergessen Sie meine Frage.« Er trank sein Glas in einem Zug leer. Das prickelnde Getränk entfaltete sofort seine betäubende Wirkung. Und Betäubung war das Einzige, was der Raumsoldat im Belcantro suchte. Er sah die schimmernden Lichter des Laufgangs vor sich. Sie flackerten wie riesengroße Schemen und wurden ständig von vorübergehenden Besuchern unterbrochen. Die lachenden Arkoniden verschwanden in der Weite des Tanzsaals. Chari-Ton-Bol schloss die Augen. Er konnte es nicht verhindern, dass die Erinnerung an seinen alten Kommandanten erneut erwachte. Abagur del Monotos war tot. Und er – Chari-Ton-Bol – war schuld am Tod dieses verdienten Mannes! Die ganze Besatzung der VALTRICTON hatte ihren Kommandanten verraten und … »Trinken Sie! Ich habe ein neues Glas kommen lassen.« Chari-Ton-Bol griff gierig danach. Für Augenblicke berührte er Sarissas Handgelenk. Ihre Haut fühlte sich eiskalt an. Er setzte das Glas an die Lippen und sah die junge Arkonidin nachdenklich an. »Sie sind eine ungewöhnliche Frau. Ich würde zu gern Ihren Nachnamen erfahren – und wenn es das Letzte wäre, was ich in diesem Leben erfahren sollte.« Jetzt verzog sie den Mund zu einem falschen Lächeln. Ihre Augenbrauen stellten sich etwas auf, das rote Haar umrahmte das Oval ihres blassen Gesichts wie ein Gewebe aus Spinnfäden. Ihre Augen versprühten ein mysteriöses Leuchten. »Vielleicht ist es tatsächlich das Letzte, was Sie in Ihrem erbärmlichen Leben hören werden.« Ihre Lippen hatten sich kaum bewegt, und doch hatte er ihre
Worte ganz deutlich verstanden. »Welches Spiel treiben Sie mit mir, Sarissa?« Sie berührte sein Glas. »Trinken Sie, Chari-Ton-Bol … trinken Sie, und Sie werden von Ihren Leiden erlöst sein. Ein schlechtes Gewissen kann schlimmer als ein eiterndes Geschwür sein.« »Woher kennen Sie meinen Namen? Ich habe mich Ihnen nicht vorgestellt.« »Das tun hier die wenigsten.« Sie lachte und drängte ihn erneut, den Inhalt des Glases auszutrinken. Als er es tat, entspannte sich ihre Haltung, war nun gelöst und weniger hart als zuvor. Chari-Ton-Bol glaubte, den mädchenhaften Zug an ihr zu entdecken, den er mit einer anderen Sarissa in Verbindung gebracht hatte. »Sie haben mir noch nicht gesagt, woher Sie meinen Namen kennen.« Sarissa machte eine gelangweilte Geste, sah ihm tief in die Augen. Chari-Ton-Bol hatte erneut das unbestimmte Gefühl, die Frau sei von einem bösen Geist besessen. Das Leuchten in ihren Augen wurde stärker, brannte sich tief in sein Innerstes ein. Er hätte schwören können, dass in Sarissa etwas Fremdes, Bedrohliches existierte. Plötzlich zuckte er zusammen. Ein stechender Schmerz raste durch seine Glieder. Er presste beide Hände vor den Leib und sackte langsam in sich zusammen. »Sarissa … was haben Sie in das Getränk getan?« Er erbrach sich. Roter Schaum stand auf seinen Lippen. Die Schmerzwellen folgten immer rascher aufeinander. Er kam noch einmal hoch und machte ein paar taumelnde Schritte, dann brach er erneut zusammen. Das lärmende Treiben des Belcantro verhallte vor seinem ersterbenden Bewusstsein. Jetzt existierten nur er und die Frau. »Sarissa!« Sie stand neben ihm und drehte ihn mit dem Fuß herum. In ihrer Geste lag so viel Geringschätzung, dass der Raumsoldat unwillkürlich aufschreien musste. »Ja, Chari-Ton-Bol? Was
wollen Sie noch von mir?« »Warum … haben Sie das getan?« Sie lachte. Im Treiben des Belcantro brauchte sie nicht zu befürchten, dass jemand auf sie aufmerksam wurde. Der tote Raumsoldat würde aller Wahrscheinlichkeit nach erst in einigen Tontas gefunden werden, wenn die Säuberungsroboter durch die Nischen schwebten. »Warum haben Sie das getan?« Sie beugte sich zu ihm. Er konnte ihr Gesicht deutlich erkennen. Sie sah ihn nur an. Er wusste, weshalb er sterben musste. Das Wissen und die Tatsache, dass er seinen Tod nicht mehr verhindern konnte, machten ihn rasend. Er schrie laut auf. Doch sein Schrei verhallte ungehört. »Sarissa del Monotos … ich hätte es wissen müssen!« Das waren Chari-Ton-Bols letzte Worte. Sein Blick wurde starr, er lag mit dem Gesicht auf den weichen Polstern, als sie ihn später fanden.
Urson Macton und Cari Toblon wurden kurz nach Mitternacht von den jungen Burschen unsanft ins Freie befördert. Draußen wehte eine erfrischende Brise. Die Wetterkontrolle hatte eine kurze Regenperiode eingeleitet. Künstliche Wolken standen über den weitläufigen Kunstparks. Leichte Schauer berührten auch die Ränder des Trichtergebäudes, auf dem sie jetzt standen. »Wo steckt Chari-Ton-Bol?«, wollte Macton wissen. »Lass mich … mit dem zufrieden«, lallte Toblon. »Der verdirbt uns doch bloß die gute Laune.« »Zum Gork mit unserer guten Laune. Ich fühle mich noch gar nicht müde. Ich könnte eine ganze Maahk-Einheit auseinandernehmen. Man gebe mir einen Schlachtkreuzer, und ich zerschlage die verdammten Methans.«
Die beiden Raumsoldaten torkelten zu den Parkplätzen, übergaben dem Roboter ihre Kreditkarten und warteten ungeduldig darauf, dass er die Parkgebühr abbuchte. »Was unternehmen wir jetzt?« Macton war voller Tatendrang. Sein Gesicht war gerötet, was auf die überreichlich genossenen Getränke zurückzuführen war. »Wir fliegen zum Transmitter und buchen Arkon Drei …« Cari Toblon warf sich in die Brust. »Die Welt des Krieges ist genau das Richtige für uns. Wir hätten nach der Landung der VALTRICTON gar nicht erst zur Kristallwelt kommen sollen. Die Vergnügungszentren dort sind allemal besser als das jämmerliche Belcantro.« Macton kratzte sich am Kinn, musste seinem Kameraden zustimmen. Die Vergnügungszentren von Arkon III hatten in jüngster Zeit einen beachtlichen Aufschwung genommen. Seit auf der dritten Welt des Heimatsystems der Arkoniden das riesige Robotgehirn errichtet wurde, lebten dort viele Positronikspezialisten. Diese Männer suchten in ihrer Freizeit Abwechslung und Vergnügen. Diesem Bedürfnis wurde natürlich entsprochen. Ein kalter Hauch ließ Urson Macton zusammenschrecken. Unmittelbar vor ihm ragte die transparente Sichtkuppel ihres Gleiters auf. »Was war das, Toblon?« »Nichts … Die Abschirmung gegen den Platzregen ist defekt.« Plötzlich zuckte Macton erneut zusammen. Hinter ihm raschelte etwas. Er drehte sich auf dem Absatz um und erkannte den Körper einer schlanken Arkonidin. Die Gestalt hob sich als Silhouette vor den Leuchtreklametafeln ab. »He … sieh dir das an, Toblon. Die hat’s auf uns abgesehen.« Das kehlige Lachen der Raumsoldaten wurde von einer schneidenden Stimme unterbrochen. »Ihr sucht doch euren Freund, nicht wahr?«
»Richtig. Woher wissen Sie das? Was geht Sie das überhaupt an?« Toblon machte ein paar Schritte, um die Fremde besser erkennen zu können. Aber sie blieb im Schatten. Jetzt nestelte sie an ihrem Gürtel und holte etwas hervor. »Habt ihr euch gut amüsiert?« »Wenn Sie uns begleiten, werden wir uns bestimmt besser als im Belcantro amüsieren«, konterte Macton. »Da muss ich euch enttäuschen. Ich werde euch nicht begleiten, denn ich ziehe es vor, noch ein Weilchen zu leben.« Cari Toblon musste schlucken. Die Arkonidin schien eine merkwürdige Art von Humor zu haben. Der Raumsoldat wurde wütend, stampfte mit dem Fuß auf und ging langsam auf die Fremde zu. Seine Haltung drückte die Entschlossenheit des Draufgängers aus. Jetzt verließ die junge Arkonidin den Schatten der schmalen Überdachung. Hinter ihr vollführten die Leuchtreklametafeln einen farbenprächtigen Reigen. Ein höhnisches Lächeln umspielte ihre vollen Lippen. Der kurzläufige Blaster in ihrer Rechten drohte mit flimmerndem Mündungsfeld. »Was … was soll das?«, stammelte er entsetzt. »Stecken Sie das Ding weg. Es könnte losgehen.« »Das wird es auch. Ihr werdet jetzt euren Freund begleiten.« Toblon drehte sich zu seinem Freund um. Macton stand wie angewurzelt vor dem Gleiter. Außer ihnen befand sich niemand im Freien. Sie waren der Fremden wehrlos ausgeliefert. »Was haben wir Ihnen getan?« »Dasselbe fragte mich Chari-Ton-Bol vorhin auch. Er wusste es, nachdem er mich erkannt hatte.« »Wer sind Sie? Wir haben die Schutzgebühr an die SENTENZA entrichtet. Machen Sie uns also keinen unnötigen Ärger.« Die Rothaarige lachte. Ihre schlanke Gestalt schien sich zu straffen. Sie sah die beiden Raumsoldaten kurz an. Als sie
erkannte, dass Toblon nach einer Deckung suchte, hob sie die Mündung des Blasters etwas an. »Das hat keinen Sinn. Bevor Sie auch nur einen Schritt getan haben, sind Sie ein toter Mann. Sie wollten meinen Namen wissen? Den Gefallen tue ich Ihnen gern, denn es ist der letzte, den ich Ihnen erweisen kann. Ich bin Sarissa del Monotos.« Die Raumsoldaten sahen sich entsetzt an. Schlagartig wurde Ihnen bewusst, dass sie den Trichterbau nicht mehr lebend verlassen würden. War die Rothaarige tatsächlich die Tochter von del Monotos, mussten sie jetzt für ihren feigen Verrat büßen, der einen hervorragenden Raumfahrer das Leben gekostet hatte. Urson Macton streckte die Hand aus, wollte etwas sagen, doch die grelle Glut des Blasters erstickte jedes Wort in seiner Kehle. Sie umhüllte ihn und verbrannte ihn in Augenblicken zu Asche. Cari Toblon starb auf dieselbe Weise. Sarissa del Monotos drehte sich langsam um, senkte die Rechte. Der Blaster schien unvermittelt zentnerschwer zu sein. »Ich habe die getötet, die am Tod meines Vaters schuld waren. Bist du zufrieden mit mir?« Aber es kam keine Antwort. Sofern es eine Antwort auf ihre Frage gab, konnte sie nur in ihrem Innersten beantwortet werden. Sie hatte drei kaltblütige Morde begangen. Dennoch fühlte sie eine ungeheure Erleichterung, hatte die Befehle der geheimnisvollen Stimme in ihrem Innern befolgt. Regenschauer benetzten ihr Gesicht. Plötzlich erlosch der strahlende Glanz ihrer Augen. Liefen ihr Tränen oder Regentropfen über die Wangen? Ein kalter Hauch hüllte sie ein. Fröstelnd zog sie die Schultern hoch. Jegliches Gefühl schien in ihr erstorben zu sein. Die Kontrollen des Gleiters leuchteten auf. Das Fahrzeug ruckte an und schoss über die Kante des Trichtergebäudes hinaus. Sarissa del Monotos war allein mit sich – und dem Fremden in ihrem Innersten …
3. 1236. positronische Notierung, eingespeist im Rafferkodeschlüssel der wahren Imperatoren. Die vor dem Zugriff Unbefugter schützende Hochenergie-Explosivlöschung ist aktiviert. Fartuloon, Pflegevater und Vertrauter des rechtmäßigen Gos’athor des Tai Ark’Tussan. Notiert am 25. Prago des Tedar, im Jahre 10.499 da Ark. Bericht des Wissenden. Es wird kundgegeben: Ich muss mich geschlagen geben und habe von weiteren Versuchen abgesehen, den Jungen überzeugen zu wollen. Nicht nur der eigene Wunsch, seinem Vater helfen zu wollen, sondern auch jener seiner Mutter sowie die erschreckende Reaktion des seelenlosen Körpers machen jedes weitere Argumentieren sinnlos. Hinzu kommt ein Aspekt, den ich dem Kristallprinzen leider nicht offen sagen kann – neben dem mir suspekten Gehabe der Goltein-Heiler ist es ihre Welt, die mir Sorgen bereitet. Nur wenige andere Planeten in der Öden Insel bergen derart viele Geheimnisse aus tiefer Vergangenheit – und das betrifft nicht nur die Legende vom Liebespaar Caycon und Raimanja! Nicht einmal ich kenne alle, und das will, genau betrachtet, schon etwas heißen. Bekannt ist mir allerdings, dass Perpandron vor allem unter temporal-kausalen Aspekten zu einem fast schon brüchig zu nennenden Bereich des Standarduniversums gehört. Es gibt dort eine sonderbare, extrem ultrahochfrequente Strahlung und auch eine ganze Reihe von verborgenen Anlagen. Nein, das ist keine Welt, die ich oder der Junge betreten sollten. Aber leider kann ich es nicht verhindern. Die ISCHTAR ist auf dem Weg dorthin. Mit einem Durchmesser von dreihundert Metern ist unser Raumer ein »abgespeckter« Schlachtkreuzer. Als wir von Kraumon aufbrachen, war er generalüberholt, zum Teil mit Neueinbauten versehen und auf den neuesten Stand gebracht. Die Teilnahme an der Schlacht von Marlackskor hat leider für einige Blessuren gesorgt,
gelinde gesagt. Genau genommen ist die Manövrierfähigkeit nur noch eingeschränkt gegeben; es gab diverse Schäden an der Hülle wie auch im Inneren. Chefingenieur Hagor Quingallen und seine Leute versuchen ihr Bestes, aber eine planetare Werft können sie mit reinen Bordmitteln nicht ersetzen. Eigentlich hätten wir schnellstmöglich nach Kraumon zurückkehren müssen – aber ich wiederhole mich … Auch wenn es mir schwerfällt, ich muss die Entscheidung des Kristallprinzen akzeptieren. Glücklicherweise war er in anderer Hinsicht einsichtiger: Beim schweren Treffer des Superschiachtschiffs der Maahks fielen sechs Besatzungsmitglieder, und achtundzwanzig wurden verwundet; elf davon so schwer, dass sie inzwischen ihren Verletzungen erlagen. Beim Abschuss unseres großen Beibootes waren zuvor schon fünfzig im Nahkampf erfahrene Raumfahrer umgekommen. 67 der sechshundertköpfigen Besatzung! Als dann Karmina da Arthamin an Bord kam, wurde sie von 32 schwer bewaffneten Raumfahrern der HAGHMOR begleitet, Männern, die ihr treu ergeben sind. Allerdings hatten sich auch 45 ahnungslose Raumsoldaten an Bord des Beiboots befunden; sie wurden überwältigt und eingesperrt. Letzteres kann naturgemäß kein Dauerzustand sein. Beim sofortigen Flug nach Kraumon hätten wir die Gefangenen vermutlich mitgenommen, nun aber steht eine andere Lösung an. Die Sonnenträgerin ist sich klar darüber, dass sie fortan ebenfalls als Rebellin gilt und keine Chance zur Rückkehr in den normalen Flottendienst hat. Sie will bei uns bleiben. Etwas anderes gilt für ihre Männer. Wir haben uns entschlossen, ihnen die Möglichkeit zu geben, eigene Wege zu gehen – sie sollen an Bord des HAGHMOR-Beiboots neben den Gefangenen auch unsere siebzehn Verwundeten sowie siebzehn weitere Besatzungsmitglieder mitnehmen und bis auf Weiteres irgendwo im Großen Imperium untertauchen. An Bord der ISCHTAR verbleiben somit einschließlich Karmina da Arthamin fünfhundert Personen. Der Ultraleichtkreuzer hat das Schiff nach der zweiten Transition verlassen. Inzwischen sind wir am Rand des Teifconth-Systems materialisiert und rasen Perpandron entgegen. Der Endanflug wird noch mehr als
zwei Tontas beanspruchen. Ich hoffe, dass uns Atlans Abstecher zur Welt der Goltein-Heiler nicht in Bedrängnis bringt. Vorgesehen ist, die ISCHTAR aus Sicherheitsgründen im Orbit zu belassen und nur mit einem Beiboot zu landen.
An Bord der ISCHTAR: 25. Prago des Tedar 10.499 da Ark »Eine merkwürdige Welt«, murmelte Karmina da Arthamin. »Kennen Sie die Sage von Caycon und Raimanja?« Ich nickte, während Ra verneinte. »Caycon und Raimanja waren ein junges Paar. Die Sage berichtet, dass sie von Fremden entführt wurden, weil sie im Begriff waren, ein – so hieß es – Waches Wesen zu zeugen. Was man sich darunter vorzustellen hat, weiß ich allerdings auch nicht. Die Sage berichtet weiter, dass es den beiden gelang, ihren Entführern zu entfliehen und ihr Kind zu bekommen …« »Vermutlich auf Perpandron«, unterbrach Ra. »Richtig. Die Legende war völlig in Vergessenheit geraten, bis die Goltein-Heiler Perpandron zu ihrem Domizil erwählten. Sie gruben die Sage wieder aus und machten sie populär. Dabei ist nicht einmal sicher, ob es sich bei dieser Welt tatsächlich um das Perpandron der Sage handelt.« »Und? Ist etwas Wahres daran?« Sie zuckte mit den Schultern. »In den meisten Sagen gibt es ein Körnchen Wahrheit, sehr oft bis zur Unkenntlichkeit durch Ausschmückung und Umwandlung in Symbole verzerrt. Am Hof des Imperators nimmt man die Geschichte allerdings nicht ernst, man hält sie für einen gelungenen Versuch der Goltein-Heiler, auf sich und ihre Welt aufmerksam zu machen. Und das ist ihnen auch gelungen.« »Ein Waches Wesen?«, murmelte Ra nachdenklich. Ich wusste, dass ihn das einige Zeit beschäftigen würde. Für alles, was mythisch angehaucht war, hatte Ra ein besonderes
Empfinden. Das war nicht weiter verwunderlich, immerhin war der Barbar auf einer Welt aufgewachsen, die noch in dumpfer Unwissenheit dahindämmerte. Vor wenigen Jahren noch hatte er auf der wilden, namenlosen Welt Steinkeile gegen riesige Tiere geschleudert, die sein Volk je nach Jahreszeit als Götter verehrte oder als Nahrung verspeiste. Seine gedrungene Statur, die fliehende Stirn, die stark entwickelte Kieferpartie – das alles waren Anzeichen einer jungen, primitiven Zivilisation. Aber Ra war längst ein Wissender. Die Varganin Ischtar hatte ihn dazu gemacht. Ra hatte sie ebenso wenig wie ich vergessen; das Einzige, was uns zu entzweien vermochte, war der Gedanke, dass wir beide dieselbe Frau begehrten. Inzwischen hatte er begriffen, dass Ischtar keineswegs eine Göttin war, sondern eine varganische Frau, wenngleich mit bewundernswerten Eigenschaften und Fähigkeiten. Ra hatte gelernt, dass vieles von dem, was er früher für Zauberei gehalten hatte, technische Spielereien waren, aber irgendwo in seinem Barbarenschädel war sicher noch ein Winkel, der angefüllt war mit Ahnungen, Geheimnissen und rätselvollen Vorstellungen. Vielleicht war es das, was den stämmigen Barbaren so sympathisch machte. Die Sonnenträgerin stand neben mir in der Zentrale. Ihre kühl wirkenden Augen verfolgten scheinbar unbeteiligt, was sich in der Zentrale des Schiffes abspielte, aber ich wusste genau, dass ihr kein noch so geringer Fehler entgangen wäre. Sie würde nichts finden, was wert gewesen wäre, kritisiert zu werden. Dafür war Helos Trubato ein viel zu guter, umsichtiger Erster Offizier. Dass sich der Tonfall an Bord der ISCHTAR beträchtlich von den Umgangsformen an Bord arkonidischer Schlachtschiffe unterschied, war nicht weiter verwunderlich. Immerhin waren diese Frauen und Männer freiwillig hier und setzten für Arkon
und mich ihr Leben aufs Spiel. Unsere Lage brachte es zwangsläufig mit sich, dass zwar das Nötige rasch und präzise getan wurde, aber für die flottenüblichen Disziplinübungen, die hauptsächlich dazu dienten, das Selbstwertgefühl einiger Offiziere zu erhöhen, war an Bord der ISCHTAR kein Platz. Ich war mir nicht ganz sicher, ob unser leicht salopper Umgangston die Billigung der Sonnenträgerin finden würde. In ihrem Gesicht rührte sich nichts. Has’athor da Arthamin war 27 Arkonjahre alt. Die kalt blickenden Augen verrieten die Arroganz des uralten Adels; sie standen im krassen Gegensatz zu den zart wirkenden Zügen des schmalen Gesichts. Ihr Silberhaar war zum Nackenknoten gerafft. Bei ihr handelte es sich um eine Angehörige des Unteren Adels mit dem Titel einer Termoas – also einer »Ter-Baronin Erster Klasse«. Sie war groß und etwas zu hager, um schön zu sein. Wenn sie sprach, tat sie es wie ein Mann: beherrscht, sachlich, hart. Aus den bisherigen Erlebnissen wusste ich, dass sie schon vor langer Zeit zu dem Schluss gekommen sein musste, sich jeglicher moralischer Bewertung zu enthalten, sofern dadurch die Einigkeit der Arkoniden gefährdet wurde. Eine Politikerin war sie ganz ohne Zweifel nicht; sie dachte und handelte in den Kategorien eines Militärs. Erst durch die jüngsten Ereignisse hatte sich ihre Einstellung etwas verändert. Seit unserer Flucht von Vayklon hatte sie auch mit keinem Zeichen zu verstehen gegeben, dass sie uns verlassen wollte. Ich wusste sie noch längst nicht genau einzuschätzen. Was war sie? Kalt berechnende Sonnenträgerin, karrierebewusster Spross einer adeligen Familie oder … Frau?
Ich verließ die Zentrale, um mich auszurüsten. Als ich später den Beiboothangar erreichte, trug ich einen flugfähigen Kampfanzug mit der üblichen Ausrüstung. Karmina und Ra
waren in gleicher Weise ausstaffiert. Die Flugaggregate gestatteten es, dass wir große Strecken mit hoher Geschwindigkeit zurücklegen konnten. Im Vakuum des Weltalls schützten die Anzüge vor der lebensfeindlichen Umgebung. Die Klimaanlage sorgte für gleichbleibende Temperatur, ganz gleich, ob draußen eisige Luft oder kochendes Wasser war. Hinzu kamen die Taschen mit Werkzeugen, Lebensmittelkonzentraten, Wasser und dergleichen mehr. Ra führte meinen Vater behutsam zu einem Sitz im Leka-Beiboot vom Typ LE-20-8, Eigenname GORTAVOR. Es war diskusförmig, maß zwanzig Meter im Durchmesser, acht in der Höhe und konnte von einer Person beherrscht werden. Das Gegenstück zu der transparenten Kuppel auf dem oberen Teil des Diskus bildete die Bodenschleuse, durch die das kleine Schiff betreten oder wieder verlassen wurde. Noch ruhte es auf den vier abgespreizten Teleskopstützen. Ich nahm hinter den Kontrollen Platz und gab über Interkom der Zentralebesatzung das Klarzeichen. Kurze Zeit später waren wir bereits im freien Raum. Wir entfernten uns rasch von der ISCHTAR und steuerten Perpandron an. Langsam wuchs das Bild des Planeten auf unseren Bildschirmen. Als wir nur noch etwas mehr als 300.000 Kilometer entfernt waren, verlangsamte ich den Flug und griff zum Mikrofon. » …dron! Hier Raumüberwachung Perpandron! Melden und identifizieren Sie sich! Hier Raumüberwachung Perpandron!« Ich antwortete mit dem Tarnnamen, den ich auch während der Schlacht im Marlackskor-Sektor verwendet hatte: »Kommandant Vharsan des reduzierten Schlachtkreuzers ISCHTAR an Bord der Leka GORTAVOR. Wir haben den Patienten Minol an Bord; unsere Ankunft wurde avisiert.« »Sie können landen. Wir werden Sie einweisen. Ende.«
Wenig später wurden uns die Anflugdaten zugefunkt, die vom Bordgehirn ausgewertet und verarbeitet wurden. Wir konnten die Landung getrost den Automaten überlassen. Perpandron kam langsam näher, bald würden wir den Boden des Planeten betreten.
Ein leichter Ruck ging durch den Diskus, als das Beiboot sanft aufsetzte. Auf dem Raumhafen herrschte geschäftiges Treiben, wiederholt starteten oder landeten Schiffe, Gleiter nahmen Personen auf oder brachten sie zu den Raumern. Die erstaunlich hohe Zahl von Jachten ließ den Schluss zu, dass es sehr viele hochgestellte Persönlichkeiten gab, die Hilfe und Heilung auf Perpandron suchten. Allerdings sah ich auch größere Raumschiffe, die mehrere hundert Patienten transportieren konnten. Wiederholt entdeckte ich Leute, die keineswegs als Patienten einzuordnen waren; Kleidung, Bewaffnung und Ausrüstung wiesen sie als Personenschützer aus. Innerlich atmete ich auf – wir würden in unseren Monturen also kaum Aufsehen erregen. Es hieß, dass es keinen Fall in der Geschichte Perpandrons gegeben hatte, dass ein Patient nicht geheilt worden war. Ich hatte da meine Zweifel. Man sollte einmal ausrechnen, wie viele Patienten den Planeten aufsuchen und wie viele ihn schließlich wieder verlassen. Der Einfall des Extrasinns war zweifellos gut, aber er ließ sich einstweilen nicht in die Tat umsetzen. Die Raumüberwachung hatte die Nachricht von unserem Eintreffen selbstverständlich weitergegeben. Ich sah einen Gleiter über das Landefeld rasen, der neben unserem Diskus stoppte. Der Innenraum bot Platz für zwei Patienten und vier Begleitpersonen. Gesteuert wurde das Gefährt von einem Roboter. Wir verließen das Diskusschiff und gingen zum
Gleiter. Der Robot grüßte und gab mir dann eine schmale Karte. »Der Robot wird Sie führen.« Ich las den Text laut und suchte dann nach einer Unterschrift oder einem anderen Zeichen, das mir hätte sagen können, von wem diese Botschaft stammte. »Wer hat dich geschickt?«, fragte ich, aber die Maschine antwortete nicht. Sie nahm wieder hinter der Steuerung Platz und überließ es uns, wann wir einsteigen wollten. Ich führte meinen Vater zu der bequemen Liege, nach uns bestiegen Karmina und Ra den Gleiter. Sobald Ra an Bord war, raste der Robot mit hoher Geschwindigkeit los. Vielleicht hat der Robot einen besonderen Auftrag: Er soll so schnell fahren, dass du nur wenig von den Anlagen und Gebäuden sehen kannst. Auf diesen Gedanken wäre ich ohne den Hinweis des Extrasinns nicht gekommen. Weiß man auf Perpandron vielleicht schon, wer der Patient ist? Selbst wenn diese Möglichkeit zutraf – ich hatte keine Aussicht, die rasende Fahrt des Gleiters zu stoppen, ich hätte dabei nur einen tödlichen Unfall hervorgerufen. Also blieb uns nichts anderes übrig, als geduldig abzuwarten, wohin der Robot uns bringen würde.
Das Fahrzeug stoppte vor einem flachen, lang gestreckten Gebäude mit vielen Fenstern inmitten einer weitläufigen Parkanlage. Vor dem Eingang stand eine Gruppe von sechs Männern. An ihren tätowierten Schädeln und den wallenden, bis zu den Füßen herabfallenden Gewändern waren sie unschwer als Seelenheiler zu identifizieren. Der größte der sechs Männer trat einen Schritt vor; er trug eine blaue Robe, die anderen beigefarbene Gewänder. Es fiel mir auf, dass er ungewöhnlich große, leuchtende Augen hatte, von denen eine seltsame Faszination ausging.
»Ich bin Tai-Laktrote Klemir-Theron«, stellte sich der Heiler vor. Er hatte eine dunkle, stark rollende Stimme. Sein Titel eines Großmeisters der hiesigen Hierarchie verdeutlichte, dass es sich bei ihm nicht um den höchstrangigen Goltein-Heiler handelte, denn dieser würde zweifellos ein Thi-Laktrote sein, ein Hochmeister. Rasch ging er zum Gleiter. In seinem Gesicht rührte sich nichts. Er betrachtete meinen Vater mit ruhigem Interesse, ohne das geringste Zeichen, dass er vielleicht schon erkannt hatte, mit wem er es zu tun hatte. »Wie heißt der Patient, Vharsan?« War es Einbildung, oder betonte er meinen falschen Namen wirklich besonders? »Er ist Mitglied einer angesehenen Familie. Nennen Sie ihn Minol, wie angekündigt, das muss genügen.« »Sie haben recht. Was ist schon ein Name? Charaktere sind das Entscheidende. Dieser Mann ist sehr krank, ein ungewöhnlicher Fall, scheint mir.« »Können Sie helfen, Tai-Laktrote?« Er sah mich nachdenklich an. »Wir helfen, so gut wir können. Und wir können vieles, was anderen verborgen bleibt. Wer hat den Patienten zuletzt behandelt? Gibt es Anamnesen, braucht der Patient besondere Pflege oder bestimmte Medikamente?« Keine verfängliche Informationen, drängte der Extrasinn. »Die bisherigen Yoner-Madrulii sahen sich unfähig, etwas auszurichten. Sie haben nichts unternommen. Der Patient ist nicht ansprechbar, befolgt aber Anweisungen.« Der Heiler schloss kurz die Augen, nickte dann. Mit einer Handbewegung forderte er zwei seiner Begleiter auf, näher zu kommen. Sie fassten meinen Vater unter den Armen und führten ihn sehr behutsam weg. Nach dieser Szene zu schließen, war mein Vater in besten Händen, aber ich wollte mehr wissen – hier ging es nicht nur um die Heilung meines Vaters, hier standen hochpolitische Entscheidungen auf dem
Spiel. Ich musste vorsichtig sein. Noch bevor ich etwas sagen konnte, wandte sich Klemir-Theron zu mir. »Man wird Ihnen Unterkünfte anweisen.« Er wollte sich entfernen, aber ich fasste nach seinem blauen Gewand und hielt ihn fest. »Wohin wird« – im letzten Augenblick unterdrückte ich die Worte mein Vater – »der Patient gebracht? Ich möchte in seiner Nähe bleiben.« »Sie würden nur stören. Ich muss Ihnen den Zutritt verwehren.« »Was soll das heißen? Ich habe den Auftrag, für den Patienten die bestmögliche Betreuung und Pflege zu erreichen.« »Das Beste, was Sie tun können, war, ihn zu uns zu bringen. Ihre Aufgabe hat sich damit erledigt. Ein Besuch Außenstehender könnte verheerenden Einfluss auf den Heilungsprozess haben.« Er entfernte sich und verschwand im Innern des Gebäudes, die anderen Heiler folgten ihm rasch. Narr, schimpfte der Logiksektor. Lass dich nicht von dem Wort Heilungsprozess blenden. Vergiss nicht die große Ähnlichkeit zwischen deinem Vater und dir. Ich ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten und wollte dem Heiler nachgehen, aber in diesem Augenblick kam ein weiterer Heiler, ein noch junger Mann, bei dem der völlig kahle und tätowierte Schädel besonders befremdlich wirkte. »Folgen Sie mir bitte. Sie werden in der Nähe wohnen.« Das besänftigte mich halbwegs. Der Mann ging voran, während vier Roboter unser Gepäck trugen. Unser Gepäck war leicht, viel hatten wir nicht mitgenommen. Ra und ich trugen meist uniformähnliche Kleidungsstücke, auch Karmina da Arthamin war an Uniformen gewöhnt. Unser Gepäck enthielt folglich einfache, zweckmäßige Kleidung, einige zusätzliche Waffen und – in allerdings ziemlich unzureichenden
Verstecken – ein paar jener kleinen technischen Spielereien, die bei geringem Aufwand ein Maximum an Wirkung hervorriefen. Welche Befehle der junge Heiler bekommen hatte, wusste ich nicht, aber ich stellte erstaunt fest, dass für Karmina und mich jeweils zwei Zimmer zur Verfügung standen, während für Ra ein winziger Raum bestimmt war, kaum mehr als eine Art Verschlag, der bestenfalls für Haustiere geeignet war. Ra sah sich in dem kleinen Raum kurz um, drehte sich zu dem Heiler um und verschränkte die muskulösen Arme vor der Brust. Der Heiler trat unwillkürlich einen Schritt zurück, als er Ras Gesichtsausdruck sah. Zu mir gewandt, sagte er: »Ihr habt einen ungewöhnlich aufsässigen und anspruchsvollen Sklaven, will mir scheinen.« »Freund, nicht Sklave«, klärte ich den Heiler auf. »Ich wünsche für ihn eine angemessene Unterkunft.« »Hier ist leider nichts mehr frei. Ich kann ihn natürlich in einem anderen Gebäude unterbringen, wenn Ihr es wünscht, Erhabener.« Ich verneinte sofort. Nur wenn wir zusammenblieben, konnten wir etwas unternehmen, um den Schleier des Geheimnisses zu lüften, den die Heiler über ihre Welt und ihre Arbeit gelegt hatten. »Ich werde meine Unterkunft mit meinem Freund teilen.« Ra grinste den Heiler spöttisch an. Der junge Mann verbeugte sich kurz, wobei er einen leicht irritierten Blick auf Ra warf, dann zog er sich zurück. Die Räume, die uns zur Verfügung gestellt worden waren, waren so eingerichtet, wie man es erwarten durfte, wenn man sich als Besucher von hohem gesellschaftlichen Rang anmeldete und zu bezahlen in der Lage war. In jedem Raum gab es einen Visifon-Anschluss, der auch eine direkte Verbindung zur großen Hyperfunkanlage des Planeten
gestattete. Theoretisch hätte ich nach Belieben Gespräche mit Arkon führen können, wozu mir aber verständlicherweise die Lust fehlte. Ra betrachtete nachdenklich die Terminals und warf einen Seitenblick auf Karmina da Arthamin, die uns gefolgt war und ihre eigenen Räume später begutachten wollte. Nichts hinderte die Sonnenträgerin daran, mir die TGC oder TRC auf den Hals zu hetzen. Aber ich war mir sicher, dass diese Frau, da sie sich einmal dazu entschlossen hatte, mir zu helfen, diesen Entschluss auch durchführen würde. »Was unternehmen wir nun?« Ra setzte sich auf den Rand des Bettes. Er sprang sofort wieder hoch, weil es sich zu bewegen begann. Erst als ich den Schalter für die Vibrationsmassage in die Nullstellung zurückgedrückt hatte, nahm er wieder Platz. »Ich werde in jedem Fall herauszufinden versuchen, was mit meinem Vater geschieht. Sobald es dunkel ist, schleiche ich mich in das Gebäude, in dem man ihn untergebracht hat. Dann sehen wir weiter.« Trotz des guten Rufes der Heiler war ich nicht gewillt, ihnen meinen Vater einfach zu überlassen. Zudem machte mich die Zurückhaltung der Heiler misstrauisch. Welche Verfahren wandten sie an, und warum durfte ihnen bei diesen Praktiken niemand zusehen? Hatte Fartuloon vielleicht doch recht? Ich ging zum Fenster und sah in den Park. Das Gebäude, in das mein Vater gebracht worden war, lag unserer Unterkunft genau gegenüber; im Hintergrund erhoben sich die Kuppelbauten. Es musste also relativ leicht sein, in das Haus zu gelangen. Auf den kiesbestreuten Wegen des Parks sah ich einige Heiler, in der Mehrzahl aber Arkoniden, die ich für Patienten hielt. Sie bewegten sich langsam, einige wirkten gebrechlich. Merkwürdigerweise zeigten die meisten der Patienten ein außerordentlich zufriedenes Gesicht. Hinter keiner dieser lächelnden Mienen hätte ich eine geistige Erkrankung vermutet.
Niemand sieht so irre aus, wie er ist, kommentierte der Logiksektor trocken. Über diesem Teil des Planeten Perpandron war es gegen Mittag Ortszeit. In einigen Tontas würde ich meinen Ausflug beginnen. Ich konnte nur hoffen, dass die Heiler den Park während der Nacht nicht beleuchteten, anderenfalls hätte man mich schnell aufgespürt. Vorher konnten wir uns noch gemeinsam etwas umsehen und beim unverfänglichen Umherschlendern die Lage erkunden.
»Ich würde gern mitkommen«, flüsterte Ra, aber ich schüttelte den Kopf. Zwei Personen waren doppelt so leicht zu entdecken wie eine. Wir hatten gegessen und uns erfrischt. Das Essen war erstaunlich gut gewesen, allerdings wusste ich, dass sich die Heiler dies sehr gut bezahlen ließen. Für ihre Behandlungen pflegten sie schon horrende Honorare zu fordern, die sie auch bekamen – Besucher der Patienten wurden im Vergleich dazu förmlich geschröpft. So leise wie möglich öffnete ich das Fenster zum Park. Draußen war es nun dunkel, es gab nur eine schwache Beleuchtung entlang der Wege. »Ziemlich tief«, sagte Karmina. Ich zuckte mit den Schultern, setzte mich auf die Fensterbank und sprang hinab. Ich prallte ziemlich hart auf, rollte mich sofort ab und war rasch wieder auf den Füßen. Sofort sah ich mich um. Zu diesem Zeitpunkt war der Park verlassen, niemand konnte mich gesehen haben. Über mir schloss Karmina das Fenster mit einem kaum wahrnehmbaren Geräusch. Leise schlich ich weiter. Im Hintergrund konnte ich die vier kuppelförmigen Hauptgebäude sehen, die nachts angestrahlt wurden. Ohne dass mich jemand gesehen hatte,
erreichte ich das Haus, das unserer Unterkunft gegenüberlag. In dieses Gebäude hatte man meinen Vater gebracht. Ob er noch dort war, musste sich herausstellen. Ich suchte nach einer Möglichkeit, ungesehen in das Haus zu gelangen. Durch die Vordertür konnte ich selbstverständlich nicht eintreten, dort gab es eine Robotüberwachung. Hinzu kamen Heiler, die scheinbar gelangweilt in der Eingangshalle auf und ab liefen, aber ohne triftigen Grund hielten sie sich sicher nicht dort auf. Ich musste also versuchen, durch eins der Fenster zu schlüpfen, selbst auf die Gefahr hin, dabei auf einen Heiler zu stoßen. Ich hatte mir überlegt, dass mir eigentlich nicht viel zustoßen konnte – vermutlich würde man mich lediglich sanft, aber nachdrücklich hinauskomplimentieren. Nach kurzem Suchen hatte ich ein offenes Fenster gefunden. Ich zog mich hoch und schwang mich auf das Fensterbrett. Im Innern war es dunkel. Ich wartete und hielt die Luft an, um deutlicher hören zu können und selbst nicht durch den eigenen Atem verraten zu werden. Es war still in dem Raum, ich mühte mich vergebens, darin ein lebendes Wesen zu finden. Nach einiger Zeit hatten sich meine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt. Ich konnte ein Bett erkennen, auf dem aber niemand lag. »Also vorwärts«, murmelte ich im Selbstgespräch. Es gelang mir, auf den Boden zu kommen, ohne dabei ein Geräusch zu machen. Obwohl ich mir sicher war, allein in dem Zimmer zu sein, schlich ich mit äußerster Vorsicht zur Tür. Ich legte ein Ohr daran und lauschte. Auf dem Gang waren keine Schritte zu hören, also öffnete ich die Tür sehr leise und trat auf den Gang. Dieser Augenblick war gefährlich, denn nun mussten sich meine Augen wieder an die Helligkeit gewöhnen. Zu meinem Glück war der Gang ebenso leer wie das Zimmer, das ich gerade verlassen hatte. »Wohin nun?« Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wie dieses Gebäude
aufgeteilt war, wo wichtige Räume waren, wo ich mich vorzusehen hatte. Es war durchaus möglich, dass ich an hochinteressanten Räumen vorbeiging und stattdessen mit äußerstem Raffinement an eine Rumpelkammer schlich. Wichtige Räume werden näher am räumlichen Mittelpunkt sein, gab der Extrasinn lakonisch durch. Ich bewegte mich vorwärts, aufrecht gehend, da es ziemlich lächerlich gewesen wäre, in den hell erleuchteten Gängen zu schleichen. Zudem wollte ich nicht auf den ersten Blick durch meine Körperhaltung zu erkennen geben, dass ich eigentlich in diesem Gebäude nichts zu suchen hatte. Es war still im Haus. Ich begann mich zu fragen, ob sich außer mir überhaupt jemand hier aufhielt. Ich beschloss, mich zu vergewissern. Narr, du wirst entdeckt werden. Ich kümmerte mich nicht um die Warnung, sondern öffnete die Tür, die mir am nächsten war. Das Zimmer war erleuchtet und auch bewohnt. Der Mann auf dem Bett war unverkennbar Arkonide, ein noch junger Mann, der mit dem Rücken auf dem Bett lag und unverwandt zur Decke starrte. Er musste gehört haben, dass jemand den Raum betreten hatte, aber er rührte kein Glied. Seine Augen blickten zur Decke, in einer Weise, als könne der Blick das feste Material durchdringen und bis zu den Sternen hinaufsehen. Erst als ich näher trat, sah ich, dass der junge Mann weinte. Er starrte die Decke an und weinte lautlos. Ich zog mich zurück. Langsam begann ich zu begreifen, dass die Krankheiten, die auf Perpandron geheilt werden sollten, schlimmer und schreckenerregender waren als jene Infektionen und Verletzungen, die man normalerweise mit dem Begriff Krankheit verband. Auch der junge Mann, den ich gerade gesehen hatte, war krank und brauchte Hilfe. Ich wusste nur zu gut, dass dieser Patient in seiner angeblich normalen Umwelt wahrscheinlich als irre angesehen und gemieden wurde. Diese Arkoniden wussten nicht – oder
wollten nicht wissen –, dass sich bei genauer Prüfung auch im normalen Verhalten haufenweise neurotische Strukturen finden ließen. Ich wusste, dass es sogar Theoretiker gab, die den Begriff normal nur noch statistisch auffassten und durchaus nicht als gleichbedeutend mit dem Begriff geistig gesund ansahen. Auf einen Besuch in einem weiteren Zimmer verzichtete ich. Ich konnte mir vorstellen, wie es hinter den anderen Türen aussehen musste. Ich fragte mich, wie ein Arzt geistig beschaffen sein musste, der tagaus, tagein mit solchen Patienten zu tun hatte. Musste ein solcher Arzt nicht fast zwangsläufig ebenfalls geistig Schaden nehmen? Vielleicht war das geheimnisvolle Treiben der Goltein-Heiler nötig, um sie eine solche psychische Belastung ertragen zu lassen. Versuch, in die Tiefe zu gelangen, meldete sich der Extrasinn knapp. Den Anlass zu dieser Bemerkung bildete die Treppe, die ich gerade erreicht hatte. Ich zögerte einen Augenblick lang. Je tiefer ich in das Gebäude eindrang, desto schwieriger würde es werden, wieder unbemerkt zu verschwinden. Aber wollte ich etwas in Erfahrung bringen, musste ich das Risiko wohl oder übel eingehen. Also stieg ich zögernd die Treppe hinab. Allmählich begann ich auch Geräusche zu hören, schwach zuerst, dann immer stärker werdend. Genauer bestimmen konnte ich die Geräusche nicht. Trotz fotografischem Gedächtnis konnte mich nicht erinnern, jemals in meinem Leben etwas Ähnliches gehört zu haben. Doch – eins gab es, und das war die Aura der Furcht und des Schreckens gewesen, die der Blinde Sofgart geschaffen hatte. In diesem Bereich der Heiler-Station gab es ein verwandtes Fluidum, eine Atmosphäre, die mit Gefühlen wie Angst, Furcht, Verzweiflung und Hass aufgeladen war wie ein Hochspannungskondensator. Das muss nicht unbedingt an den Heilern liegen, mischte sich der Logiksektor ein. Eher bist du es,
der diese Gefühle projiziert. Im Kellerbereich war es entschieden dunkler als im übrigen Gebäude. Dämmerlicht nahm mich auf. Die Lampen waren nun verdeckt angebracht und verstrahlten ein diffuses, rötliches Licht. Wahrscheinlich sollte es beruhigend wirken, auf mich jedoch wirkte es eher beklemmend. In diesem Teil des Gebäudes gab es offenbar keine Türen. Die Gänge waren aus dem Felsen gemeißelt, aus dem die gesamte Plattform bestand, ein dunkles, rötliches Material. In den Wänden erkannte ich merkwürdige Zeichnungen, Reliefs, die ich aber nicht zu deuten vermochte. Arabeske Ranken, vergleichbar den Schädeltätowierungen der Goltein-Heiler. Wenn es auf Perpandron einen Ort gab, der von den äußeren Voraussetzungen her für »magische Handlungen« bestimmt war, dann musste es dieses Gewölbe sein. Die Anlage verbindet sämtliche Gebäude untereinander, die Gästehäuser ausgenommen. Woher der Logiksektor die Informationen bezogen hatte, die er in dieser knappen Meldung zusammenfasste, war mir ein Rätsel, aber sie ergab Sinn. Offenbar waren die Kuppelbauten und die anderen Gebäude eher Staffage, dienten vielleicht nur der Unterbringung und Verwaltung. Das, was für Perpandron wirklich charakteristisch war, die eigentlichen Geheimnisse der Goltein-Heiler, fand buchstäblich im Dunkel der Unterwelt statt. Ich erreichte eine große Halle, aus der ein merkwürdiges Knistern an mein Ohr schlug. Erschrocken trat ich einen Schritt zurück. Die Halle war nahezu leer. Im Zentrum des kreisrunden Gewölbes stand ein steinerner Sessel, auf dem ein Mann saß. Der kahle Schädel des Mannes schimmerte leicht im Licht, der Mann war ohne Zweifel ein Goltein-Heiler. Was mich erschreckt hatte, war nicht der Mann, der mit geschlossenen Augen auf dem Sessel saß, sondern es war die Wand der Kuppel.
Die Oberfläche wurde von merkwürdigen Gebilden vollständig bedeckt. Es waren Blasen, die sich langsam durcheinanderbewegten. Die Oberflächen der Blasen opalisierten, im Innern gab es kleinere, kompakte Gebilde, die sich ebenfalls langsam bewegten. Ich hatte einmal einen vergrößerten Schnitt durch lebendes Gewebe gesehen, die einzelnen Zellen, die Zellkerne, das Protoplasma. An diese mikroskopische Aufnahme fühlte ich mich erinnert. Aber ich hatte noch nie von Zellen in Kopfgröße gehört, mit denen Wände bedeckt wurden. Es war ein beklemmender Anblick. Völlig lautlos, aber erschreckend lebendig wogten die Zellen durcheinander. Von den Zellkernen führten dünne Kanäle zu den Hüllen, von dort aus weiter zu anderen Zellen. Wahrscheinlich standen die einzelnen Zellen so untereinander in ständiger Verbindung. Ist dieses erschreckende Wesen intelligent? Ich konnte die Frage nicht beantworten, und auch mein Extrasinn wusste keine Antwort. Er schwieg, während ich den Heiler musterte. Jetzt begriff ich auch die Ursache des geheimnisvollen Knisterns, das mich auf diesen Raum aufmerksam gemacht hatte. Vom Zenit der Kuppel hing senkrecht ein bläulicher Strahl, fächerte knapp über dem Kopf des Heilers auseinander und umhüllte den Kopf mit einer Aureole. Auch dieser armdicke Strahl schien zu leben. Er zuckte, von ihm ging das verhaltene Knistern aus. Unwillkürlich dachte ich an elektrische Hochspannung, aber das war ausgeschlossen – eine Entladung, die den Abstand zwischen der Decke und dem Kopf des Heilers überbrücken konnte, hätte den Mann zu einem unförmigen Haufen verbrannt. Biologische oder paranormale Energie? Offenbar hatte auch der Extrasinn seine Schwierigkeiten mit diesem Phänomen. Unverwandt starrte ich den Heiler an. Was machte dieser Mann, welchem Zweck diente dieser Raum? Bekam der Heiler
von der Ansammlung von Gigantzellen Befehle oder »Lebensenergie« in Form der blauen Strahlung? Bezogen die Heiler hier die geheimnisvollen Kräfte, mit denen sie angeblich ihre Patienten heilten? Während ich den rätselhaften Vorgang beobachtete, schien der Heiler zu schrumpfen. Ich traute meinen Augen nicht, blieb an meinem Platz und sah schärfer hin. Es ließ sich nicht leugnen, der Heiler schrumpfte tatsächlich zusammen. Ich schluckte nervös, meine Augen wurden feucht – ein unübersehbares Zeichen für die Erregung, die von mir Besitz ergriffen hatte. Meine Gedanken überschlugen sich förmlich. Ging die geheimnisvolle blaue Strahlung gar nicht von den Zellen aus, sondern stammte vielmehr von dem Heiler selbst? War das der sagenumwobene Vorgang, bei dem das Böse, das der Heiler einem Patienten abgenommen hatte, gesammelt, gespeichert und konserviert wurde? Dann überschlugen sich die Ereignisse. Es gab einen lauten Knall, der Heiler war von einem Augenblick zum anderen spurlos verschwunden. Der Sessel war leer – und kaum war der Knall verhallt, hörte ich hinter mir Schritte. Gegenüber, auf der anderen Seite der Kuppelhalle, gab es einen Ausgang. Ich zögerte nicht lange und setzte mich in Bewegung. Die Schritte waren hinter mir hörbar geworden, also suchte ich mein Heil in der Flucht nach vorn. Ich wollte gerade an dem steinernen Sessel vorbeieilen, als die Strahlung, die zusammen mit dem Heiler verschwunden war, nun nach mir griff: Der blaue Strahl zuckte auf mich herab. Ich stöhnte gequält auf. Laut zu schreien, durfte ich nicht wagen, obwohl die Schmerzen, die mir der Strahl bereitete, stark genug waren. Weiß glühende Nadeln schienen in meinem Gehirn zu bohren, es zerreißen zu wollen. Ich spürte, wie meine Knie nachzugeben begannen. Nur mit Mühe errichtete ich den Monoschirm. In meinen Ohren dröhnte es, den Impuls des Extrasinns hörte ich wie
durch eine meterdicke Schicht aus Watte. Vorwärts, beweg dich, sonst wirst du entdeckt! Während mir der Schmerz den Schweiß auf die Stirn trieb, bewegte ich meine Beine. Sie wollten mir kaum gehorchen, aber ich kam Schritt für Schritt vorwärts. Immer stärker wurde der Einfluss der Strahlung, immer stärker wurde auch meine Angst. Ich wollte nicht wie der Heiler einfach verschwinden, mich in nichts auflösen. Wahrscheinlich, das bewiesen mir die Schmerzen, war ich überhaupt nicht für dieses Verfahren geeignet, weder physisch noch psychisch. Ich stand kurz vor dem Zusammenbruch, als die blaue Strahlung ebenso schnell verschwand, wie sie mich überfallen hatte. Ich stürzte, aber ich war noch geistesgegenwärtig genug, mich sofort abzurollen und nach vorn zu werfen. Augenblicke bevor ein zweiter Heiler den Raum betrat, erreichte ich den rettenden Ausgang. Ein Blick über die Schulter zeigte, dass der Mann sich kurz umsah, zufrieden nickte und den Weg zurückging, den er gekommen war. Es hatte nicht den Anschein, als habe er mich gesehen. Ich atmete erleichtert auf. Hätte der Mann mich gesehen, hätte ich kaum die Kraft gehabt, einem Angriff entgegenzutreten. Mein Atem ging pfeifend, mein Puls jagte. Dem Einfluss der blauen Strahlung war ich nur einige Millitontas lang ausgesetzt gewesen, aber diese Zeit hatte ausgereicht, mich völlig zu erschöpfen. Ich brauchte fast eine halbe Tonta, bis sich das Zittern meiner Arm- und Beinmuskulatur gelegt hatte, eine noch längere Zeitspanne, bis sich meine Atmung und mein Herzschlag wieder normalisiert hatten. Du musst weiter, ermahnte mich der Extrasinn. Ich raffte mich auf, obwohl ich mich zerschlagen fühlte. Im Weggehen warf ich noch einen Blick auf den Saal der Zellen. Zum zweiten Mal an diesem Tag blieb ich vor Verblüffung stehen. In der Zeit, in der ich zu erschöpft gewesen war, um mich um mehr als mich
selbst zu kümmern, hatte sich der Raum vollständig verändert. Ich sah nur noch den nackten roten Fels, von den Riesenzellen war nichts mehr zu sehen, auch der steinerne Sessel war nun verschwunden. Stattdessen sah ich wieder den Heiler, der vor meinen Augen verschwunden war. Der Mann verließ gerade den Saal, zu meinem Glück durch den anderen Ausgang. Langsam begann ich zu begreifen, dass sich auf Perpandron Dinge abspielten, die mit meinem stark naturwissenschaftlich geprägten Verstand nicht erfasst werden konnten. Waren hier Naturgesetze verwendet und benutzt worden, die ich noch nicht kannte? Oder vollzog sich das Geschehen in dem Kuppelsaal nach Regeln und Gesetzmäßigkeiten, die das normale Weltbild überstiegen oder sprengten? Ich hatte keine Zeit, diese Frage gebührend zu bedenken. Ich musste zusehen, dass ich weiterkam. Irgendwo in diesem Labyrinth der Rätsel war mein Vater, und ich war fest entschlossen, ihn zu finden.
Die subplanetarischen Gänge in der Station der Heiler waren derart ausgeführt, dass man sich verirren musste, wenn man nicht zu den Eingeweihten gehörte. Ich allerdings konnte mich darauf verlassen, dass mein fotografisches Gedächtnis jeden meiner Schritte gespeichert hatte. Notfalls brauchte ich nur auf den Extrasinn zu hören, er würde mich auf den richtigen Weg bringen, selbst wenn ich so schnell laufen musste, dass mir keine Zeit blieb, mich bewusst um die Richtung zu kümmern. Es war ein gefährliches Unterfangen, aber mir blieb, wenn ich Informationen sammeln wollte, nichts anderes übrig – ich musste dorthin gehen, wo ich Geräusche hörte und wo es mit großer Sicherheit auch Heiler gab, die mich entdecken konnten. Ich schätzte, dass es unterhalb der vier Kuppeln mindestens fünfzig oder mehr Hallen und Säle gab, in denen die
Goltein-Heiler ihre absonderlichen Riten praktizierten. Überall waren die Wände mit Bildern und unverständlichen Symbolen bedeckt. Ich wurde weder aus den Reliefs noch aus den Inschriften schlau. Fragen über Fragen türmten sich auf. Welche Verbindungen gab es zwischen dem ausgestorbenen Volk, das diese Gänge geschaffen hatte, und den Heilern, die sie für ihre Zwecke nutzten? Hatten sie die sonderbaren Praktiken, deren Spuren ich überall fand, von diesem Volk übernommen, und wenn ja, auf welche Weise? Das Dämmerlicht, das die Gänge erhellte, war wenig geeignet, mich klarer sehen zu lassen. Die Beleuchtung war offenkundig auf Effekt angelegt. Sie sollte die Patienten beeindrucken, sie auf das vorbereiten, was ihnen bevorstand. Ich musste zugeben, dass dieser Zweck erreicht wurde, auch meine Stimmung wurde davon beeinflusst. Wieder erreichte ich einen der Behandlungssäle. Der Lärm, der mir entgegenschlug, ließ darauf schließen, dass sich eine größere Zahl von Personen darin aufhielt. Ich schlich mich mit besonderer Vorsicht an, spähte um einen Felsvorsprung … Diesmal gab es keine Kuppel aus Gigantzellen, diesmal waren die Wände mit Masken bedeckt, die von erlesener Scheußlichkeit waren; beklommen stellte ich fest, dass die Fratzen, die ich für Masken gehalten hatte, offenbar lebten. Geifer tropfte aus den zahngespickten Kiefern, die stechenden Augen rollten gierig, die Mäuler öffneten und schlossen sich mit einem nervenerschütternden Knacken. In der Mitte des Raumes stand ein Patient. Sein Oberkörper war nackt, aber nicht unbedeckt. Goldfarbene, leuchtende Gebilde schlängelten sich um den Körper, zuckten und bewegten sich. Der Patient war in Schweiß gebadet, sein Blick wanderte schreckerfüllt von einer der Fratzen zur anderen. Seine Lippen öffneten und schlossen sich, aber der Mann brachte keinen Ton heraus.
Ich sah sein Zittern, den von Panik überschwemmten Blick, die goldfarbenen Schlangen, die auf seinem Körper ein gespenstisches Ballett aufführten. Der Patient wurde umringt von mindestens zwanzig Goltein-Heilern. Auch ihre Oberkörper waren nackt. Ich konnte fast durch sie hindurchsehen, wären die Gesichter nicht gewesen, die auf den Körpern auftauchten, den Patienten höhnisch anbleckten und wieder verschwanden. Es gab keine Erklärung für diese Vorgänge, auch der Extrasinn meldete sich nicht. Ich sah: Die Gesichter der Seelenheiler, zu maskenhafter Starre verzerrt, starrten schweigend und furchterregend den wie gelähmt verharrenden Patienten an. Die Heiler tanzten, langsam und gleichmäßig, zu einer lauten Musik von Pfeifen und Trommeln, die mitten aus der Luft zu kommen schien. Die Arme und Beine lösten sich von den Körpern, bewegten sich frei durch die Luft, wuchsen an einem anderen Körper wieder an. Die Köpfe wanderten in gleicher Weise. Zwischen den stumm tanzenden Heilern und dem von Furcht und Entsetzen gelähmten Patienten standen metallene Schalen, deren Gravierungen in düsterem Rot leuchteten. Rauchschwaden stiegen aus ihnen auf, ballten sich zusammen und formten Körper von erschreckender Hässlichkeit. In wenigen Augenblicken entstanden Monstren aus Rauch, verwehten wieder und machten neuen Schreckensgestalten Platz. Dazu kam der Geruch. Es war jener merkwürdige Geruch der Jahreszeit, in der sich das Leben aus der Natur zurückzuziehen schien, der leichte Moderduft verfaulender Blätter, die feuchte Kühle eines nebelgeschwängerten Morgens, der von Blumenduft durchsetzte Geruch eines frischen Grabes, der beklemmende Geruch des aufgeworfenen Bodens, der durchsetzt war mit abgestorbenen Blättern und Insekten – dies alles tausendfach verstärkt und geschwängert mit dem betäubenden Aroma schwelenden Harzes, das den Atem nahm
und das Hirn mit fürchterlichen Sinnestäuschungen umfing. So roch der Tod in seiner reinsten, fast abstrakten Form. Ich fand keinen anderen Vergleich als diesen. Ich stand am Rand des Geschehens und verdankte es wahrscheinlich nur meinem Extrasinn, dass ich nicht völlig von dem Geschehen gefangen genommen wurde. Was aber bewegte den Patienten, über welche Abgründe der Angst und der Qual wurde sein gemarterter Geist durch diesen Spuk geschleift? Ein neues Geräusch erfüllte die Luft, ein Gelächter, dessen Bösartigkeit fast zu greifen war. Ich sah, wie der Patient zusammenzuckte, sich zu krümmen versuchte, dann begann er zu schreien. Es war ein Schrei, der alles enthielt, was ein Arkonide an Gefühlen der Angst und Verzweiflung ausdrücken konnte. Die Heiler setzten ihren Tanz ohne Pause fort, kümmerten sich nicht um das gellende Schreien des Patienten, das langsam in ein Wimmern und Schluchzen überging. Der Patient begann zu stammeln, brachte sinnlose, unverständliche Silben hervor. Übergangslos brach der Spuk zusammen. Die Masken verschwanden hinter wirbelnden Rauchschleiern, die infernalische Musik riss ab, die tanzenden Heiler verharrten. In der Zeit eines Herzschlags hatte sich das Bild völlig verändert. Der Patient wimmerte noch für Augenblicke, öffnete die Augen, starrte verwirrt in die Runde. Die Goltein-Heiler veränderten fast synchron ihre Gesichter, die maskenhafte Starre schwand, die Gesichter wurden ausdrucksvoller. Sie lächelten. Ein Heiler nach dem anderen ging auf den verwirrten Patienten zu, umarmte ihn, streichelte ihn. Ein Singsang leiser Worte ging auf den Patienten nieder wie ein lauwarmer Sommerregen. Der Tonfall der Stimmen, die Bewegungen – sie drückten eine Zärtlichkeit und ein Mitgefühl aus, das als Gegensatz zu dem schaurigen Spiel Zentitontas zuvor nicht extremer sein konnte. Ich sah, wie der Patient
lautlos zu weinen begann, dass sein Gesicht den ersten Anflug eines Lächelns zeigte. Zwei Seelenheiler nahmen ihn bei der Hand und führten ihn vorsichtig fort, ohne dabei ihren beruhigenden Zuspruch abzubrechen. In dem gleichen Maß, in dem sie zuvor versucht hatten, den Patienten psychisch zu foltern, versuchten sie nun, ihn zufrieden und glücklich zu stimmen, und ich konnte an dem Lächeln des Patienten sehen, dass sie beide Verfahren mit der gleichen Gründlichkeit und Präzision zu beherrschen wussten. Ich zog mich verwirrt zurück. Dieses Schauspiel überstieg mein Begriffsvermögen. Gern hätte ich jetzt Fartuloon an meiner Seite gehabt. Was hätte der Bauchaufschneider zu diesem Vorgang gesagt? Ich wollte gerade weitergehen, als ich hinter mir ein leises Geräusch hörte. Ich wollte mich umdrehen, aber noch in der Bewegung traf mich der Schuss aus einer Schockwaffe. Ich stürzte, vollständig gelähmt, zu Boden, schlug hart und schmerzhaft auf. Eine ruhige Bassstimme sagte hinter mir: »Es ist verboten, den Behandlungen beizuwohnen.« Ich lag so, dass meine Augen auf den Boden blickten. Der Schuss hatte mich voll getroffen, ich konnte kein Glied mehr rühren. Ich spürte, wie mich der Mann anfasste und mir eine Maske über die Augen schob. Schlagartig wurde es dunkel. In dieser undurchdringlichen Finsternis ergriffen mich mehrere Hände und hoben mich in die Höhe, schleppten mich fort. Wohin?
4. Galur da Paro wusste, dass er sterben würde, wenn er sich nicht eisern beherrschte. Sein Gegner stand dreißig Meter entfernt auf dem Sand der Arena, ein großer Mann mit breiten Schultern. Der Oberkörper war unbedeckt und zeigte die gewaltigen Muskeln. In der Hand wog der Mann ein langes Schwert, dessen Schneiden in der Sonne blitzten. Langsam kam der Mann näher, verzog das Gesicht zu einem mitleidigen Grinsen. Galur befeuchtete die Lippen und wich zögernd zurück, bis er im Rücken die Spitze eines zweiten Schwertes spürte. Er wusste, dass er jetzt hinausgehen und mit dem Schwertträger kämpfen musste. Andernfalls wäre er sofort enthauptet worden. Galur holte tief Luft, erinnerte sich einer Übung, mit der er sich selbst beruhigen konnte. Konzentration und eine gute Atemtechnik waren erforderlich, dann trat die Wirkung rasch ein. Galur ging einige Schritte vor. Er war jetzt vollkommen ruhig, gelassen und entspannt, dabei hellwach und hoch konzentriert. Er wusste, dass er die Körperkräfte seines Widersachers mit seiner Intelligenz und seiner Wendigkeit wettmachen konnte, und er wusste auch, dass ihm das gelingen würde. Wieder machte er einige Schritte auf den Gegner zu, der das Schwert hob und ebenfalls näher kam … Perpandron: 25. Prago des Tedar 10.499 da Ark Galur da Paro kam langsam wieder zu sich und rieb sich die Augen. Im Raum herrschte ein sanftes Dämmerlicht, und aus dieser Dämmerung erklang die Stimme von Dargai Thal. »Erinnern Sie sich noch?« »Ja.« »Hatten Sie Angst?« Galur verneinte.
»Sie haben in den letzten Arkonperioden Fortschritte gemacht, große Fortschritte sogar. Sie wissen jetzt, dass Sie eigentlich durchaus Mut haben. In Situationen, wo Sie wirklich Grund gehabt hätten, Angst zu empfinden, haben Sie sich als mutig und kaltblütig erwiesen. Sie wissen jetzt, dass Sie eigentlich gar keine Angst haben, jedenfalls keine begründbare.« »Hilft mir das?« »Sehr viel. Wir können jetzt allmählich darangehen, zum Kern Ihrer Krankheit vorzudringen, dem Ausgangspunkt Ihrer Angst.« »Ein Punkt?« »Ein Ereignis, das den Schlüssel liefert. Es kann sich um eine Begebenheit aus Ihrer frühesten Jugendzeit handeln, ein Ereignis, das Sie längst vergessen zu haben glauben.« »Wenn ich mich an etwas nicht erinnern kann, habe ich es wohl vergessen.« »Keineswegs. Nehmen wir an, Sie haben als kleines Kind etwas getan, was Ihren Eltern oder sonstigen Verwandten nicht gefiel. Sie wurden beschimpft, geprügelt oder, was meist noch schlimmer ist, gedemütigt, erniedrigt. Und das für eine Tat, bei der Sie sich keiner Schuld bewusst waren. Diese Tat und die damit zusammenhängende Bestrafung sitzen als Information irgendwo in Ihrem Unterbewusstsein. Denn Sie fanden keine Möglichkeit, dieses Erlebnis zu verarbeiten, wie wir es nennen, daher haben Sie es verdrängt. Ihr Unterbewusstsein hat, um Sie zu schützen, davor eine Deckerinnerung gelegt, eine Information geschaffen, die es als Tatsache gar nicht gibt. Wenn Sie sich also an dieses üble Ereignis erinnern wollten, taucht in Ihrem Bewusstsein ein völlig falsches Bild auf, eine heitere und glückliche, einfache Szene, die es in Wirklichkeit nie gegeben hat. Können Sie mir folgen?« »Einigermaßen.«
»Natürlich weiß das Unterbewusstsein, wo diese Erinnerung sitzt, und jedes Mal, wenn irgendetwas auftaucht, das eine Gedankenkette bis zu diesem Kern zurückbilden könnte, wehrt sich das Unterbewusstsein dagegen. Spielen Sie Garrabo?« »Leidlich … Aber was hat das damit zu tun?« »Ist es Ihnen noch nie passiert, dass Sie bei einem Spiel nicht mehr wussten, wie der nächste Zug aussehen sollte – und dann Ihr Partner plötzlich erklärte, er gebe auf?« »Ab und zu.« »Ihr Gegner hat in diesen Fällen Ihre Gedanken vorwegzunehmen versucht, Gedanken, die Sie überhaupt nicht hatten. Er hat kapituliert. Das Gleiche macht Ihr Charakter. Jedes Mal, wenn es möglich ist, von einem Ereignis eine Erinnerungs- oder Assoziationskette bis zu diesem Schlüsselereignis zu knüpfen, blockt das Unterbewusstsein dies mit einem Angstanfall ab. Und da sich auf diese Weise zwangsläufig die Ereignisse mehren, wird auch die Angst immer größer. Was wir tun müssen, ist, diese Abwehr zu durchbrechen, das Schlüsselereignis aufzufinden und Ihnen die Möglichkeit zu geben, es zu verarbeiten. Das wird allerdings noch ziemlich lange dauern.« Galur machte ein verdrießliches Gesicht. »Ich bin nun schon seit Perioden auf Perpandron, und allmählich bekomme ich Heimweh.« Dargai Thal lächelte kurz. »Auch das wird sich geben. Sie werden es sehen. Haben Sie einen Wunsch, den ich Ihnen erfüllen kann?« Galur überlegte kurz, während Dargai Thal die Verbindungen löste, die Galur mit dem Projektor verbunden hatten, der die Illusion geschaffen hatte, dass Galur zum Arenakämpfer geworden war. »Ich würde gerne einen Ausflug machen, mir die Landschaft ansehen. Lässt sich das machen?«
Thal überlegte kurz, dann nickte er. »Ich gebe Ihnen drei Pragos. Danach melden Sie sich wieder bei mir. Und geben Sie acht – der Wald dieser Welt ist nicht ganz ungefährlich.« »Und das sagt mir ein Mann, der mir die Angst austreiben will?« Galur grinste breit. »Ich werde mich vorsehen.«
Galur da Paro pfiff vergnügt vor sich hin. Unter ihm brummte leise der Gleiter, seine Haare wehten im Fahrtwind, der vom Ozean kam und merkwürdig roch, nach Salz und einigen anderen Dingen, die Galur nicht identifizieren konnte. Die Räche hinter dem Sitz des Fahrers war mit Ausrüstung vollgestapelt. Galur hatte ein aufblasbares Zelt mitgenommen, genügend Lebensmittel, um die Besatzung eines Kreuzers damit verpflegen zu können, dazu Tabletten, mit denen verschmutztes, salzhaltiges oder anderweitig ungenießbares Wasser so verändert werden konnte, dass es dem arkonidischen Metabolismus ohne Risiko zugeführt werden konnte. Natürlich hatte er sich auch bewaffnet. In seinem Gepäck befanden sich unter anderem zwei leichte Thermostrahler, ein Wurfseil, mehrere Schwerter und Messer sowie ein Langbogen mit Pfeilen … Der Ausrüstungsverwalter hatte nicht schlecht gestaunt, als Galur seine Anforderungsliste vorgelegt hatte. Ursprünglich hatte sich der Mann von dem »Kriegsgerät« nicht trennen wollen, aber ein größerer Chronnerbetrag hatte seine Bereitwilligkeit enorm gesteigert. Galur war mit sich selbst und seiner Umgebung zufrieden. Es war warm, die Sonne strahlte ohne hinderliche Wolken auf Perpandron herab, von der Station der Heiler war längst nichts mehr zu sehen. Perpandron hatte ein Klima, das die Entwicklung pflanzlichen und tierischen Lebens außerordentlich förderte. Das Gebiet, das Galur überflog, war allerdings nur schwach bewachsen. Der Wind hatte den
feinkörnigen roten Sand von der Küste landeinwärts getragen und auf einem mehrere Kilometer breiten Streifen das Leben fast erstickt. Galur hatte sich für diesen Landstrich entschieden, weil er über den Dünen hinweg am leichtesten fliegen und so eine möglichst große Distanz zwischen sich und die Station der Goltein-Heiler legen konnte. Aus der Ferne war das Kreischen der Seevögel zu hören, dazwischen erklangen die heiseren Rufe der Tiere, die den nahen Dschungel bevölkerten. Galur hatte einige einschlägige Werke gelesen und wusste daher, dass sich in dieser grünen, dämmerigen Welt etliche Wesen herumtrieben, denen man besser aus dem Weg ging, wenn man nicht außerordentlich gut bewaffnet war und die nötige Kaltblütigkeit hatte, diese Waffen auch sinnvoll einzusetzen. Genau das war der Beweggrund, der den jungen Adligen dazu gebracht hatte, sich für diesen Ausflug zu entscheiden. Er wollte sich selbst eine Mutprobe auferlegen, eine, in der es keine Möglichkeit gab, dass ihm Dargai Thal rechtzeitig zu Hilfe kam, sollte die Lage allzu bedrohlich werden. Galur hatte niemandem etwas von dieser Absicht erzählt, obwohl er das sichere Gefühl hatte, dass Thal ihn auch in diesem Fall durchschaut hatte. Galur hatte sich in den Votanii auf Perpandron angewöhnt, jede seiner Handlungen mit größtmöglicher Ehrlichkeit zu durchleuchten, und ihm war klar geworden, dass seine Sympathie für Thal gerade in der letzten Zeit merklich abgenommen hatte. Allmählich war er in Galurs Augen zu einer Art von lebendem Lügendetektor geworden, und ein dauernder, allzu enger Kontakt mit einem solchen Detektor war mehr, als selbst der stärkste Charakter ertragen konnte. Galur wäre vielleicht umgekehrt, hätte er gewusst, dass Thal selbstverständlich auch diese Reaktion genau vorhergesehen und sogar heraufbeschworen hatte. Für den Heiler war
selbstverständlich, dass eine Heilung nicht so aussehen konnte, dass der Patient ohne Heiler nicht mehr leben konnte, dass er von ihm abhängig wurde wie von einer gefährlichen Droge. Irgendwann musste der Patient lernen, ganz auf sich selbst gestellt zu leben; da war es besonders erfreulich, wenn dieser Trennungsvorgang langsam verlief und vom Patienten selbst ausging. Das alles wusste Galur da Paro nicht, deshalb flog er weiter, pfeifend und ab und zu leise summend. Er freute sich auf die Abenteuer, die er zu erleben wünschte, allerdings hätte er sich nicht träumen lassen, dass er enorme Schwierigkeiten haben würde, diese Abenteuer zu überleben. »Was erlegen wir als Erstes?«, murmelte er nachdenklich. »Vielleicht einen Springfrosch?« Raumfahrer, die auf neue Planeten stießen, standen immer wieder vor dem gleichen Problem. Es gab Tausende Welten, auf denen Leben existierte, aber nur vergleichsweise wenige, auf denen sich intelligentes Leben entwickelt hatte. Auf Planeten, auf denen es keine eigenständige Intelligenz gab, fanden sich folgerichtig keine Namen für die zahlreichen Tiere, die es dort gab. Also waren die Forscher gezwungen, für neue Tiere entweder vollständig neue Namen auszusinnen, was die meisten Raumfahrer allerdings überstrapazierte. Oder aber sie erhielten Namen, die an bereits bekannte Tiere erinnerten. Der perpandronsche Springfrosch war eins dieser Tiere. Seinen Namen verdankte es dem Umstand, dass es grün war, häufig im Wasser lebte und enorm weite Sprünge machen konnte. Dass Springfrösche warmblütig waren, ihre Jungen lebend zur Welt brachten, sie aber nicht säugten, war erst entdeckt worden, als sie bereits mit einem Etikett versehen worden waren. Also war der Name geblieben. Galur da Paro kannte die Spezies aus den Infokristallen. Gerne hätte er ein Exemplar in einem Zoo studiert, aber die Seelenheiler vertraten die Meinung, dass es absoluter Unsinn
sei, einen kostenintensiven Zoo zu bauen, wenn die Natur ein ungleich größeres Freigehege zur Verfügung stellte. Immerhin wusste Galur, dass perpandronsche Springfrösche eine Rumpflänge von bis zu vier Metern erreichen konnten, Mäuler mit zahngespickten Kiefern hatten und dazu einen so langen Darm, dass sie fast alles verschlingen und verdauen konnten – unvorsichtige Jäger eingeschlossen. Charakteristisch für die Frösche war das dritte Auge. Es saß dort, wo bei Galur der Hinterkopf zu finden war. Starb der Springfrosch, erstarrte dieses Auge zu einer kristallinen Masse von erstaunlich hoher Härte. Gut geschliffene und polierte Springfroschaugen standen als Schmuck hoch im Kurs, und Galur wollte sich eine solche Trophäe verschaffen. »Typisch«, murmelte er, als er daran dachte. »Wer selbst nichts ist, versucht wenigstens die Schale aufzupolieren.« Wie er es von Thal gelernt hatte, überprüfte er sich selbst und kam zu der Einsicht, dass er es nicht nötig hatte, mit einer solchen Trophäe anzugeben. Und genau das bestärkte ihn in seinem Entschluss, einen Springfrosch zu jagen und zu erlegen. Der Gleiter flog schnell, während allmählich die Sonne hinter dem Horizont versank. Galur suchte sich einen Lagerplatz am Rand des Dünenstreifens. Das Zelt unmittelbar an der Küste aufzuschlagen, wie er es ursprünglich geplant hatte, hatte er aufgegeben. Es gab immer wieder überraschende Sturmfluten; Galur hatte keine Lust, sich fortspülen zu lassen. Das Zelt war so konstruiert, dass es sich auch von einer Person ohne Mühe aufstellen ließ. Er musste nur eine Öffnung in der doppelwandigen Außenhülle mit einem Kompressor verbinden, der an den Gleiter angeschlossen wurde und von dort seine Energie erhielt. Der Kompressor füllte die Hülle innerhalb weniger Zentitontas mit Druckluft und ließ so eine fünf Meter durchmessende Halbkugelschale entstehen. Die nötige Festigkeit, um Stürme und sogar Raubtierangriffe
überstehen zu können, erhielt die Halbkugel durch eingearbeitete Verstrebungen aus einem zähen, aber hochelastischen Material. Es hatte zudem den Vorzug, sich beim Ablassen der Druckluft so zusammenzuziehen, dass die Zelthülle sich ganz von selbst wieder in ein handliches Paket verwandelte – eine technisch aufwendige, aber sehr einfache Lösung, die Zeit und Energie sparte. Galur arretierte die Steuerung des Gleiters, um zu verhindern, dass sich das Fahrzeug in der Nacht selbstständig machte. Die Energieversorgung lief mit minimaler Kraft, sie lieferte den Betriebsstrom für die Leuchtkörper im Innern des Zeltes und die Kühlbox auf der Ladefläche, in der Galur neben tiefgefrorenen Fleischstücken Getränke und vor allen Dingen hitzeempfindliche Medizinen aufbewahrte. Es gab etliche Tiere auf Perpandron, die bösartige Gifte produzierten, gegen die nur eine rasche Behandlung mit einem Gegengift half. Auch mit diesen hatte sich Galur reichlich eingedeckt. In der Nähe des Lagerplatzes fand er eine klare Quelle. Das Wasser schmeckte fremd, aber sehr angenehm. Galur kannte nur Wasser, das destilliert worden war und anschließend mit Mineralien versetzt wurde. Er wusste, dass er mit jedem Schluck einige tausend Mikroorganismen schluckte, obwohl das Wasser völlig klar war, aber er störte sich nicht daran. Holz gab es ebenfalls in ausreichender Menge. Galur verzichtete darauf, die Geräte zu benutzen, die auf der Ladefläche gestapelt waren. Er entfachte ein kleines Lagerfeuer und briet sich ein Stück Fleisch. Dazu trank er das klare Wasser der Quelle und grinste vergnügt. »Galur, Galur«, murmelte er spöttisch. »Was würden deine Freunde sagen, wenn sie dich so sähen? Galur da Paro, der Herr der Wildnis?« Er stand förmlich neben sich selbst und sah sich über die Schulter. Er trank Wasser, das von Keimen wimmeln musste, briet Fleisch, das bei dieser Art der Zubereitung mit Sicherheit
Krebs erzeugende Substanzen entwickelte, hockte neben einem unbequemen Zelt, führte einen verbissenen Kampf gegen blutdürstige Insekten – und fühlte sich wohl dabei. Galur war zu intelligent, um nicht zu wissen, dass er dieses Abenteuer hauptsächlich wegen der Unlogik suchte. Obendrein musste er sich eingestehen, dass er – wenn er ehrlich war – nur am Abenteuer schnuppern wollte. Im Grunde genommen war er nicht der Typ Mann, der das Unbekannte, das Fremde, die Gefahr brauchte, um wirklich leben zu können. Galur würde sich nur in gefährliche Situationen begeben, wenn er sicher sein konnte, mit einem Satz wieder ungefährdet zu sein – Abenteuer mit einsatzbereiten Traktorstrahlern, Prallfeldern und doppeltem Netz aus Arkonstahl sozusagen. »Auch gut«, murmelte Galur und streckte sich neben dem Feuer aus. »Es kann nicht jeder ein Held sein.« Galur dachte an die neuen Besucher Perpandrons, die er zufällig gesehen hatte, als sie durch den Park bei den vier Kuppeln schlenderten. Dieser stämmige, muskelbepackte Kolonialarkonide mit den dunklen, krausen Haaren, der häufig grinste – er hätte sich an Galurs Stelle sicherlich anders aufgeführt. Ebenso die Frau, nicht eben ein Ausbund an Schönheit, aber auf eigentümliche Weise reizvoll und attraktiv – sie machte den Eindruck einer ruhigen Selbstsicherheit, die Galurs ohnehin vorhandene Scheu vor Frauen bis zur Panik hätte steigern können. Und dann der zweite Mann, sichtlich ein reinblütiger Arkonide und von hohem Rang, aber ohne die typische Arroganz. Sein Gesicht kam Galur bekannt vor, doch er wusste es auf Anhieb nicht einzuordnen. Er war sich sicher, dass diese drei Personen die Hilfe der Goltein-Heiler ganz gewiss nicht brauchten. Schon ihre Kampfanzüge und die Bewaffnung hatten für sich gesprochen. »Vergiss es, Galur«, murmelte er und gähnte. Er löschte das Feuer und zog sich in das Zelt zurück. Nach kurzer Zeit war er
eingeschlafen und konnte in seinen Träumen befriedigt feststellen, dass er eigentlich nicht nur ein ausgesprochen gut aussehender junger Mann war, sondern obendrein ein erstaunlich erfolgreicher Draufgänger, zumindest was diese unbekannte Arkonidin betraf. Galur grinste im Schlaf, drehte sich um und träumte lächelnd weiter.
5. Aus: Zahlen, Zenturien, Ziele und Zeugnisse – aus der Arbeit des Historischen Korps der USO, Chamiel Senethi, Sonthrax-Bonning-Verlagsgruppe, Lepso, 1338 Galaktikum-Normzeit (NGZ) … traten um 17.000 vor Christus erstmals jene schweren, galaxisweiten, die Raumfahrt behindernden Hyperstürme in Erscheinung, die schließlich in die als Archaische Perioden bezeichnete Epoche mündeten, in denen die Kontakte zwischen den Welten abbrachen, weil nahezu die gesamte 5-D- Technik lahmgelegt war. Das Abflauen der aus dem galaktischen Zentrum hervorbrechenden Hyperstürme bedingte, dass etwa ab 3760 da Ark die arkonidische Raumfahrt fast vom Niveau »null« wieder von Neuem beginnen musste. Hauptantrieb war hierbei die Ausbreitung der Nomadenkultur der Iprasa-Arkoniden nach dem Motto: »Das All kennt keinen Horizont.« Zunächst bereisten die im Matriarchat lebenden Raumnomaden, aus denen durch eingeheiratete Mitglieder des Arkonadels die »Clans des Raumnomadenadels« entstanden, den Kugelsternhaufen Thantur-Lok mit ihren Großraumschiffen und den aus Asteroiden erbauten Handels- und Wohn-Habitaten. Später stießen sie weit Richtung »Nebelsektor« vor – so genannt, weil von der Position Thantur-Loks aus die Hauptebene der Öden Insel als nebelhaftes Sternenmeer wirkte. Von einem um 13.500 vor Christus in die Umlaufbahn des Planeten Archetz, des fünften der Sonne Rusuma, eingeschwenkten Habitat erfolgte die Besiedlung der Hauptwelt der Galaktischen Händler. Aus den Nachkommen, die wiederum als Händler lebten und ihrerseits dem nomadenhaften Drang folgten, entstanden schließlich die Mehandor, nun jedoch rein patriarchalisch organisiert. Die Aras wiederum gingen aus einer Springersippe hervor, die sich auf den Handel mit pharmakologisch wichtigen Spezialchemikalien,
Arzneimitteln, Toxinen und ursprünglich auch exotischen Tier-, Pilz- und Pflanzenarten spezialisiert hatte. Nicht zuletzt aus Furcht vor der Gefährlichkeit dieser Waren wurde diese Sippe von den anderen Springern gemieden; aufgrund des eingeschränkten Genpools entstanden recht schnell die körperlich schmächtigeren und gesundheitlich anfälligeren Aras. Unbestätigte Gerüchte besagen allerdings, dass auch noch andere Dinge hineinspielten. Fest steht, dass bei ihnen die Raumnomaden- und Händlertradition fortbestand, wenn auch unter dem besonderen Aspekt der Biomedizin, Bakteriologie, Virologie, Genetik und allen damit verbundenen Wissenschaftsgebieten. Den merkantilen Interessen entsprechend war und ist für die Aras Heilung von Krankheiten stets auch Geschäft; statt von »Patienten« sprechen sie im Regelfall nur von »Klienten«. Im Laufe der Zeit entstanden eine ganze Reihe von Forschungs- und Klinikwelten, von denen das um 3500 vor Christus eingerichtete Haupt-Klinikzentrum von Aralon, nur 38 Lichtjahre von Arkon entfernt, schließlich die größte Bedeutung erlangte, sodass viele darin fälschlicherweise die Ursprungswelt der Aras sahen und sehen. In der Zunft der elitären »Mantar-Heiler« – dem Mantar-Zada – als Betreiber der berühmten Mantar-Klinik des Kontinents Rotrom sammeln sich traditionell seit Jahrtausenden die außergewöhnlichsten und wirtschaftlich erfolgreichsten Galaktischen Mediziner ihrer Generation. Zum engeren Kreis der Zunft gehören in der Regel nicht mehr als zehn bis fünfzehn Personen. Das sind die hoch angesehenen Zada-Laktroteii, die Zunft-Meister. Die Ursprünge des Mantar-Zada reichen bis in fernste Vergangenheit zurück, zu jenem längst von Mythen umgebenen Weisen Mantar, der in der Tradition der Goltein-Heiler des Planeten Perpandron eine maßgebliche Rolle spielte. Sie verfügten über eigene Heiler-Raumschiffe, auf der Kristallwelt gab es eine Heiler-Schule. Ab etwa 10.500 da Ark verloren sich ihre Spuren und ihre Kenntnisse in der Geschichte, angeblich kam es auf Perpandron zu einer Katastrophe unbekannter Natur, der nicht nur alle Goltein-Heiler, sondern auch Abertausende Patienten zum Opfer
fielen. Von diesem Schlag erholten sich die »Ärzte der Seele« nie wieder, nur vage Berichte erinnerten später noch an sie – bis Aras in der ihnen eigenen und verfremdeten Art die Tradition aufgriffen und in der Zunft der Mantar-Heiler quasi neu belebten. Sie wie auch schon die Goltein-Heiler beriefen sich in verbrämter Weise auf den »Weisen Mantar«, was uns wiederum zur Person des Bauchaufschneiders von Imperator Barkam I. führt, zu Mantar da Monotos. Die Medospezialisten rings um ihn werden quasi als Ara-»Urahnen« angesehen – aber worin lag nun die Besonderheit dieses um 15.600 vor Christus lebenden Arkoniden, dass sich neben den Goltein-Heilern sogar die Aras auf ihn bezogen? Haupttriebfeder der Ara-Forschung war und ist das Bestreben, die letzten Rätsel des Lebens zu lösen; Langlebigkeit, besser noch Unsterblichkeit war hierbei unter anderem das Ziel, das sie zeitweise mit ihrem »Unsterblichkeitsserum« sogar erreichten. »Ewiges Leben« ist der Traum fast aller sterblichen Wesen, im Besonderen jedoch einer, der sehr intensiv in der Überlieferung der Arkoniden und der aus ihnen hervorgegangenen Völker eine Rolle spielte. Hintergrund war hierbei die von Ungezählten betriebene Suche nach einer »Welt des ewigen Lebens« – sie führte Kerlon wie Crest zur Erde und hatte, wie wir wissen, mit Blick auf die Kunstwelt Wanderer der Superintelligenz ES mehr als nur ein reales wie berechtigtes Körnchen Wahrheit. Genau wie später die Terraner waren auch die Arkoniden einmal ein von ES »bevorzugtes« Volk; für sie war der legendäre Planet Zhygor die Kontaktstelle – und es gab eine ganze Reihe von Imperatoren und ihrer Vertrauten, die in den Genuss von Zellduschen und der damit verbundenen Langlebigkeit kamen. Im Gegensatz zur Praktik eines Perry Rhodan der Frühzeit des Solaren Imperiums fiel bei den Arkoniden das Wissen um diese Dinge jedoch stets unter strikteste Geheimhaltung, ging schließlich sogar wieder ganz verloren. Der breiten Masse bekannt waren nur die ausgeschmückten und schwer überprüfbaren, zu Legenden und Mythen ausgewachsenen Gerüchte. Dass sich dennoch in gewissen Kreisen konkreteres Wissen erhielt,
wird durch die Tradition der Mantar-Heiler deutlich: Mantar da Monotos war einer dieser zellgeduscht-langlebigen Arkoniden, überdies ein genialer Mediziner, der nicht umsonst zum Leibarzt und Kristallmeister seines Imperators avancierte. Er und weitere Medospezialisten waren neben dem Paraphysiker Belzikaan und den Dryhanen beteiligt, als erstmals eine »Große Feuermutter« als Bewusstseinsverbund vieler Zhy-Famii entstand. Die Kolonialarkoniden des Planeten Gorian sprachen von sich selbst als Dryhanen, benannt nach der vierten Periode des Arkonjahres, dem Dryhan, weil am 1. Prago des Dryhan 3953 da Ark erstmals wieder ein arkonidisches Raumschiff auf Gorian landete, verbunden mit der Nachricht, dass Seine Erhabenheit Imperator Zoltral II. verstorben sei und nun sein Nachfolger Barkam I. den Kristallthron bestiegen habe. Die besondere Fähigkeit der Dryhanen reichte zwar nicht an Telepathie heran, nicht einmal an die vollwertiger Empathen, dennoch war es eine, die sie im Laufe der Zeit zu gefragten Leibdienern der Imperatoren machte, weil sie sich so sehr auf den Herrscher und seine Familie einstimmen konnten, dass umständliche Erklärungen fortfielen – zumal sich diese Begabung mit einer sprichwörtlichen Treue bis in den Tod verband. Vermutet wurde, dass die Paragabe als Folge der in den Archaischen Perioden wütenden Hyperstürme ausgebildet wurde und zunächst nichts anderes darstellte als eine erhöhte Sensibilität für hyperenergetische Vorgänge. Imperator Barkam I. den schon seine Zeitgenossen als »den Großen« bezeichneten, war der fünfte Zhdopanthi nach dem Ende der gewaltigen Hyperstürme. Er starb zusammen mit seinen beiden erstgeborenen Söhnen bei einer Raumschlacht um die Kolonialwelt Zulthem im Alter von 205 Arkonjahren 4091 da Ark. Er hatte Ranton Votanthar’Fama, die »Welt des ewigen Lebens«, gefunden. Wiedergefunden traf es besser, weil der schon früher bestehende Kontakt in den Archaischen Perioden für rund tausend Arkonjahre abgerissen war. Dort hatte es den Kontakt zu der unbegreiflichen Wesenheit gegeben, die von sich als »Fiktivwesen« oder ES sprach – und dem Imperator gestattet, sich und seinen Mitarbeitern ein durch
»Zellduschen« verlängertes, potenziell sogar »ewiges« Leben zuführen. Votanthar’Fama – ewiges Leben. Wunschtraum und Ziel vieler Wesen, ein Kernbegriff vieler galaktischer Mythen und Sagen, nicht nur bei den Arkoniden und ihren Abkömmlingen. Niemand wusste zu sagen, ob diese »Gunst« vielleicht mit den Vecorat zusammenhing – auszuschließen war es jedenfalls nicht. Klangvolle Namen verbanden sich mit Barkams Herrschaftszeit; Persönlichkeiten, die noch Jahrtausende später zu den angesehensten gehören sollten, um die sich schon zu Lebzeiten Legenden und Anekdoten rankten. Sogmanton Agh’Khaal suchte nach dem legendären Arbaraith und entdeckte die nach ihm benannte Barriere. Chariklis, Ihre Heiligkeit, die Arkanta von Hocatarr, ging in das Bewusstseinskollektiv der ersten Großen Feuermutter ein; sie floh nach Barkams Tod nach Hiaroon und begründete dort die Sage um Chariklis, die Barmherzige – beschrieben als ein unsterbliches Wesen von übernatürlicher Schönheit, das sich in den Höhlen des Gebirges versteckt hielt und nur herauskam, wenn die Armen, Kranken oder Unterdrückten ihrer Hilfe bedurften. Mascant Rhazun Ta-Zoltral war der beste Flottenbefehlshaber, den sich ein Begam wünschen konnte – ohne ihn hätten die Arkoniden bei der Abwehr der bewusstseinstauschenden Vecorat nur halb so viel Erfolg gehabt. Dann Dagor-Hochmeister Khazunarguum, der Thi-Laktrote von Iprasa, ein Gijahthrako. Am Faehrl-Institut auf der ARK SUMMIA-Prüfungswelt Goshbar schließlich führte in jener Zeit der Paraphysiker Belzikaan seine epochalen Forschungen des Paranormalen und Transpersonalen durch, von ihm »Zwiespältige Wissenschaft« genannt. Maßgeblich beeinflusst wurde er vom erneuten massiven Auftreten der sogenannten Individualverformer, kurz IV, die von den Arkoniden in Ergänzung ihrer vokallosen Sprache auch VeCoRat XaKuZeFToNaCiZ genannt wurden: Diese insektoiden Geschöpfe hatten die beängstigende Fähigkeit, rein geistig den eigenen Individualkörper zu verlassen und auf einen anderen überzuspringen – wobei es zum Austausch mit dem Bewusstsein des Opfers kam, das
im Vecorat-Körper zur Handlungsunfähigkeit verurteilt war. Es kam zur Ausbildung der allerersten Tai Zhy Fam als weibliches Gegengewicht zum Imperator, ein künstlich stabilisierter Bewusstseinsverbund aus 158 Feuerfrauen einschließlich eines aus geistiger Kraft »materialisierten« Scheinkörpers, dem es – unterstützt vom »Dryhanensinn« der Gorianer – zu verdanken war, dass der Invasionsversuch der bewusstseinstauschenden Vecorat früh genug aufgedeckt und letztlich abgewehrt wurde, sodass sie erst rund 2500 Arkonjahre später einen erneuten Vorstoß wagten, seither aber als »Erzfeinde« der Arkoniden galten … Arkon I: 26. Prago des Tedar 10.499 da Ark Die Schule der Goltein-Heiler in Gestalt eines ausladenden Kelchgebäudes mit gedrungen wirkendem Sockel lag in einer kunstvoll angelegten Parklandschaft westlich der »Nordhorn-Spitze« des Sichelbinnenmeers Sha’shuluk. Schwungvolle Täler wechselten sich mit schmalen Felserhebungen ab. Der Trichterbau hob sich deutlich vom saftigen Grün der Bäume ab. Der Bezirk erinnerte an die Landschaft des Planeten Perpandron, auf dem voll ausgebildete Goltein-Heiler ihrer geheimnisvollen Tätigkeit nachgingen. Kleine Wasserläufe schimmerten durch die Baumgruppen. Die steinernen Beckenumrandungen waren mit Skulpturen und mystischen Zeichen verziert. Auf den kiesbestreuten Wegen kamen die Goltein-Schüler langsam näher und senkten die Köpfe, als Kars Parghir kurz nach Sonnenaufgang aus dem Wald trat. Parghir war ein Arkonide mittleren Alters, trug die gelbe Robe des Mittlers und war nach Thi-Laktrote Mantar als Tai-Laktrote der ranghöchste Goltein-Heiler auf Arkon I. Sein Wort war Gesetz, es gab keinen Goltein-Schüler, der ihn nicht verehrt hätte. Parghir hatte den Kopf kahl geschoren. Von den Brauen bis zur Stirn
und seitlich von den Schläfen zogen sich Symbole über die glatt rasierte Haut. Die Hertasonen würden erst nach den rituellen Prüfungen diesem Beispiel folgen. Jetzt tragen sie die Haare noch schulterlang, wie es auf Arkon Mode war. Wenn Kars Parghir sprach, beschrieben seine Hände imaginäre Linien in der Luft. Seine Gesten wirkten würdevoll und verliehen ihm den Eindruck überlegener Reife. Parghir achtete mit großer Strenge auf die Einhaltung der rituellen Handlungen. Während der Schulungszeiten wechselten sich Meditationen und praktische Übungen ab. Die knapp bemessenen Pausen wurden mit Diskussionen ausgefüllt. Ein Goltein-Schüler lebte während seiner Ausbildung asketisch wie ein Mönch. »Folgt mir in die Halle des Weisen Mantar.« Die weißen Roben der Schüler raschelten verhalten. Kies knirschte unter ihren Schritten. Sie trugen nur einfache Ledersandalen. »Ihr dürft eintreten.« Sie verteilten sich in der großen Halle, deren Rückwand transparent war und einen Ausblick auf den Wald gestattete. Das sanfte Wiegen der Bäume bildete eine beruhigende Kulisse. »Setzt euch!« Das Rascheln der Umhänge verlor sich in der Weite des Kuppelsaals. Als ein uralter Arkonide den Raum betrat, ging ein ehrfürchtiges Raunen durch die Reihen der Schüler. Die jungen Männer verneigten sich vor dem Alten, hockten mit übergeschlagenen Beinen auf dem nackten Steinfußboden. Der Alte in violetter Robe nickte Kars Parghir bedächtig zu, dann schlug er gegen einen großen Gong. Der Hall brach sich dumpf an den gewölbten Wänden und ebbte dann langsam ab. »Ihr seid hier zusammengekommen, weil für euch ein entscheidender Lebensabschnitt zu Ende gegangen ist«, begann Kars Parghir die feierliche Ansprache. »Ihr habt die Fastenzeit ohne Murren überstanden, ihr habt die Mysterien der Goltein-Heiler willig über euch ergehen lassen. Es gibt nur
wenige Arkoniden, die dieses Stadium erreichten. Viele gaben auf halber Strecke auf. Noch mehr hielten den geistigen Strapazen der ersten Goltein-Übernahme nicht stand. Ihr könnt stolz auf das Erreichte sein …« »Ich beglückwünsche euch«, unterbrach der alte Arkonide den Mittler. »In euren strahlenden Augen erkenne ich meine eigene Jugend wieder. Es war ein erfülltes Leben. Oft war es mir vergönnt, die kranken Bewusstseinsanteile meiner Patienten auf den Planeten Perpandron zu bringen. Ich wünsche euch ebenfalls ein erfülltes und erfolgreiches Leben als Goltein-Heiler.« Die Schüler applaudierten dem alten Thi-Laktrote, ehe Parghir seine Ansprache fortsetzte. »Aber ich muss euch warnen. Manche werden das Erbe von Perpandron nachlässig behandeln. Sie werden das Mysterium der Goltein-Heiler für Unwürdige anwenden. Hütet euch davor! Vergeudet eure Kräfte nicht für Unwürdige!« Ein junger Arkonide sprang auf. Die anderen runzelten die Stirn. Solthoron war für seine eigenwillige Art bekannt, hatte eine starke Persönlichkeit. Der Thi-Laktrote, traditionell Mantar genannt, obwohl sein wahrer Name ein anderer war, hatte ihm eine große Zukunft als Goltein-Heiler vorausgesagt. Das war auch der Grund, weshalb er sich auf ein Rededuell mit dem Mittler einlassen konnte. Kein anderer hätte das gewagt. »Sind die einfachen Raumsoldaten, Beamten und Techniker etwa unwürdig, die Segnungen der Goltein-Heiler zu erfahren?« Solthoron beugte sich etwas vor. Seine Rechte war fordernd ausgestreckt, der Seidenschal war lässig darüber geschwungen. »Darüber haben wir schon oft diskutiert.« »Was nützt das Sprechen über eine Sache, wenn keine Konsequenzen gezogen werden?«
»Das ist nicht der richtige Ort für ein Streitgespräch.« Solthoron lächelte. Aber das war nur Fassade. In seinem Innersten tobte Zorn über die geheuchelte Überlegenheit des Mittlers. »Für mich ist jeder Arkonide gleich«, stieß Solthoron entschlossen hervor. »Ich würde einen Regierungsbeamten genauso behandeln wie einen einfachen Raumsoldaten. Jeder hat das Recht auf seelische Gesundheit. Denn jeder trägt seinen Teil zur Erhaltung des Imperiums bei. Es ist vollkommen gleichgültig, ob er dabei einen Regierungsposten oder einen Platz in einer Werft innehat.« Parghir verzog verächtlich die Lippen, hatte sich aber schnell wieder in der Gewalt. Er durfte vor seinen Schülern das Gesicht nicht verlieren, musste weiterhin die Exklusivität der Goltein-Schule predigen. »Imperatoren ließen sich von uns behandeln«, sagte er gedehnt. »Unsere Lehre ist nicht für die Masse. Das würde eine Verwässerung unserer uralten Grundsätze zur Folge haben. Ich habe Ihnen schon oft vor Augen gehalten, dass ein hoher Regierungsbeamter, ein Adliger oder gar ein Imperator die weitaus größte Verantwortung trägt. Ein Raumsoldat, ein Techniker oder ein Händler ist nur für seinen kleinen Bereich verantwortlich.« »Lächerlich«, sagte Solthoron verächtlich. Parghir überging den Zwischenruf. »Ich halte es für unnötig, noch weitere Worte darüber zu verlieren. Solthoron wird sehr bald die Gelegenheit erhalten, sein Können unter Beweis zu stellen. Ich bin wirklich gespannt, ob er dann immer noch so große Töne schwingen wird. Wer einmal die Bürde all jener negativen, krankhaften Geistesanteile seiner Patienten gespürt hat, wird nur noch von dem einen Gedanken getrieben werden, diese so rasch wie möglich wieder loszuwerden. Und das ist nur auf Perpandron möglich.« Solthoron wollte sich nicht so einfach abspeisen lassen. »Gestatten Sie mir noch einen Hinweis, ehrwürdiger Mittler.«
Er wartete nicht erst auf den Einwand Parghirs, sondern fuhr rasch fort: »Die Gewaltverbrechen auf Arkon Eins nehmen in beunruhigendem Maße zu. Ich möchte diesen Zustand nicht auf die politischen Verhältnisse abwälzen. Aber es ist sicher kein Zufall, dass unter der Herrschaft Seiner Erhabenheit Korruption und Denunziation an der Tagesordnung sind.« Solthorons Altersgenossen tuschelten erregt miteinander. Bisher hatte keiner von ihnen so offen Kritik am Imperator geübt. »Ich weiß nicht, worauf Sie anspielen, Solthoron. Sie werden sich jetzt darauf konzentrieren, den ersten Patienten zu heilen. Fügen Sie sich unserer Ordnung, oder suchen Sie sich einen anderen Wirkungskreis. Es steht Ihnen jederzeit frei, das Studium abzubrechen.« Kars Parghir gab Solthoron unmissverständlich zu verstehen, dass er sich unterordnen musste. Kritik am Imperator war verpönt. Ebenfalls wurde keinerlei Diskussion über die ehernen Grundsätze der Goltein-Heiler zugelassen. Durch sein Schweigen hatte der Weise Mantar Parghirs Position eindeutig unterstützt. Solthoron presste die Lippen zusammen. Er wusste genau, dass in der arkonidischen Gesellschaft vieles nicht stimmte. Seit dem plötzlichen Tod des alten Imperators hatte sich die Kluft zwischen Adligen und einfachen Bürgern extrem vertieft. Mehina-ian-Essoya. Orbanaschol hatte sogar den alten Geheimbund der SENTENZA wieder aufleben lassen. Seitdem waren Korruption und Verbrechen an der Tagesordnung. Solthoron hatte sich geschworen, seine Fähigkeiten als Goltein-Heiler in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen. Er wollte die Welt ändern. Wenn es nötig war, sogar gegen den Willen seiner Lehrer und Meister. Solthoron war der festen Überzeugung, dass ein Goltein-Heiler auch die kranken Anteile einer ganzen Bevölkerungsgruppe eliminieren konnte. »Bereiten Sie sich auf ein Gespräch mit Ihrem ersten
Patienten vor«, sagte der Mittler. »Sie werden den Mann in einer Tonta empfangen.«
Solthoron hatte den dicken Arkoniden von dem Augenblick an beobachtet, als er mit seinem protzigen Gleiter – fast schon eine raumtüchtige Jacht – auf dem Trichtergebäude gelandet war. Der Patient ging schleppend zum Personenlift. Solthoron veränderte die Bildschirmeinstellung. Augenblicke später hatte er das feiste Gesicht des Arkoniden auf dem Schirm. Dicke Tränensäcke hingen unter den kleinen Augen. Die Lippen waren wulstig, ein Speichelfaden lief ihm übers Kinn. Ein Windstoß zerzauste die fettglänzenden Haare. Solthoron verspürte sofort Widerwillen und fast körperliche Abneigung gegen diesen Mann, musste aber seine wahren Gefühle verbergen. Vom Ausgang der Behandlung hing zu viel für ihn ab. Natürlich hat Parghir diesen Kerl ganz bewusst für mich ausgesucht, schoss es dem jungen Goltein-Schüler durch den Kopf. Er will erreichen, dass ich durchdrehe. Dann kann er mich von der Schule verweisen. Solthoron ballte seine Rechte zur Faust, schlug auf den Aktivierungsknopf der Bildschirmanlage. Das Flimmern erlosch, Solthoron schwang sich auf seinem Schalensessel herum. Angespannt erwartete er seinen ersten Patienten. Normalerweise wurden die Schüler nicht unvorbereitet auf einen Patienten losgelassen. Die erste Goltein-Behandlung wurde durch einen Weisen unterstützt. Insgeheim hatte Solthoron sogar gehofft, der Weise Mantar würde ihn einweisen. Das hat mir Parghir eingebrockt, dachte er. Er hätte mir wenigstens die persönlichen Daten des Mannes geben können. Die Tür zum Behandlungsraum glitt zischend zur Seite. Der dicke Arkonide stolperte herein, warf sich in den erstbesten
Schalensessel und holte schnaufend Luft. Sein Blick wanderte unstet hin und her. »Solthoron, wenn ich mich nicht täusche?« »Zu Ihren Diensten, Erhabener.« Der Dicke riss den Magnetverschluss seiner Jacke auf und entblößte seine weiße, speckige Brust. Entsetzt erblickte Solthoron das Schlangensymbol. »Sehen Sie sich die Tätowierung genau an.« »Sie … gehören zur SENTENZA?« Der Dicke nickte befriedigt, genoss die offensichtliche Verwirrung des jungen Goltein-Adepten. »Ich bin Zarcov Ma-Anlaan. Sie haben sicher schon von mir gehört.« Solthoron war überrascht, hatte zwar damit gerechnet, eine einflussreiche Persönlichkeit behandeln zu müssen, nicht aber einen Vertreter der zwielichtigen SENTENZA. Zarcov Ma-Anlaan war Clan-Oberhaupt auf der Kristallwelt, dem große Gerissenheit nachgesagt wurde. Wenn es um gewinnträchtige Geschäfte ging, pflegte Ma-Anlaan buchstäblich über Leichen zu gehen. Als Malen gehörte er zum arkonidischen Hochadel – er war ein »Ma-Fürst Zweiter Klasse«. Solthoron spielte einen Augenblick lang mit dem Gedanken, die Behandlung erst gar nicht anzufangen. Damit wäre jedoch sein Ausschluss aus der Goltein-Schule sicher gewesen. Es blieb ihm gar nichts anderes übrig, als persönliche Befindlichkeiten zurückzustellen und Ma-Anlaan zu behandeln. »Sie konnten Ihre Probleme bisher allein lösen«, begann Solthoron das therapeutische Gespräch. »Wie kommt es, dass gerade Sie den Weg zu den Goltein-Heilern fanden, Hochedler?« Ma-Anlaan faltete seine feisten Hände vor dem Bauch, leckte sich mit der dicken Zunge über die Lippen und sagte schnaufend: »Ich bin reich, mein junger Freund. Reicher, als ihr Quacksalber euch das vorstellen könnt. Warum sollte ich meine Probleme allein lösen, wenn das andere für mich tun
können?« Solthorons Miene wurde eisig. Er biss die Zähne zusammen, durfte sich nicht anmerken lassen, dass er seinen Patienten zutiefst verabscheute. Augenblicke später hatte er sich wieder unter Kontrolle. »Nennen Sie mir Ihr vordringlichstes Problem, Hochedler.« »Meine Probleme sind finanzieller Natur …« »Dann benötigen Sie keinen Goltein-Heiler. Ein Finanzberater wäre Ihnen dienlicher. Erwarten Sie von mir keine Auskunft über den gegenwärtigen Stand der Börse von Arkon Zwei. Ich kann Ihnen auch nichts über den Handel mit Gewürzdrogen, Androiden oder Seelentröstern sagen. Das ist Ihr Fachgebiet. Ich kann nur Ihre kranke Seele behandeln. Alles andere bleibt Ihnen überlassen.« Der Ma-Fürst beugte sich schnaufend vor. Sein Gesicht nahm eine rötliche Färbung an, die Schläfenadern traten reliefartig hervor. »Ist das alles, was Sie mir zu bieten haben? Ich werde mich über Sie beschweren. Ich zahle Ihnen keinen einzigen Chronner.« Solthoron beschwichtigte den Mann sofort. »Sie haben mich leider unterbrochen. Auch finanzielle Probleme entstehen durch seelische Schwierigkeiten. Ein nervöser, stressgeplagter Händler erleidet Verluste. Ein ausgeglichener, seelisch stabiler Typ dagegen wird mit den meisten Schwierigkeiten spielend fertig.« »Da verraten Sie mir nichts Neues.« Ma-Anlaan schien wieder halbwegs beruhigt zu sein. Solthoron lenkte jetzt das Gespräch auf die Goltein-Behandlung. Ob er wollte oder nicht, er musste diesem unsympathischen Burschen helfen. »Kommen wir zur Dreipunktetherapie. Punkt eins beinhaltet das Gespräch, in dem sich Goltein-Heiler und Patient näherkommen sollen. Ich muss Ihre persönliche Lage genau kennen, um in der zweiten
Behandlungsphase die Verbindung zwischen meiner und Ihrer Seele herstellen zu können. Punkt drei – also die Endphase – betrifft die Übernahme Ihrer schlecht ten Geistesanteile.« »Und was geschieht mit meinen schlechten Eigenschaften?« »Das mag Ihnen im Moment merkwürdig vorkommen, aber ich werde Sie von jeglichem quälenden Ballast befreien, Ma-Anlaan. Ihre Sorgen, Ihre Nöte und Ihre negativen Geistesanteile gehen auf mich über. Meine Ausbildung befähigt mich zu einer problemlosen Verarbeitung dieser Übernahme.« Ma-Anlaan schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich habe schon eine Menge über euch Seelenheiler gehört. Ihr verlangt ganz schön viel für die Behandlung. Deshalb hielt ich das Ganze für einen geschäftstüchtigen Trick, um bei den Adligen kräftig abzusahnen. Aber jetzt brauche ich dringend Hilfe. Ich kenne keinen, der mir beistehen könnte. Ich muss das Risiko eingehen, mich Ihnen anzuvertrauen.« »Sie sprachen von finanziellen Problemen.« »Ja. Mir gehört der Amüsierbetrieb des Hocton-Mur. Mithilfe der SENTENZA konnte ich den Betrieb perfekt aufbauen. Aber jetzt droht mir der geschäftliche Ruin. Ich weiß keinen Rat mehr …« »Lästige Konkurrenten?«, unterbrach Solthoron den Redefluss seines Patienten. »Oder vielleicht Clan-Streitigkeiten?« »Nichts dergleichen. Ich habe genügend Killer an der Hand, um jeden Konkurrenten ausstechen zu können. Außerdem sind die Gesetze der SENTENZA verdammt hart. Kein anderes Clan-Mitglied würde es wagen, sich in die Geschäfte eines anderen SENTENZA-Mannes einzumischen.« »Was ist es dann, das Ihnen zu schaffen macht?« Solthoron konnte sich nicht vorstellen, dass dieser verschlagene, hart am Rande der Legalität arbeitende oder sie gar überschreitende
Arkonide seine geschäftlichen Angelegenheiten nicht mehr lösen konnte. »Die geheimnisvollen Morde«, stieß er hervor. »Die Morde ruinieren mir das Geschäft! Und die Liebe. Ich habe einfach den Boden unter den Füßen verloren.«
»Die Morde«, wiederholte Solthoron gedehnt, war auf einmal wie umgewandelt. Das Schicksal seines Patienten interessierte ihn plötzlich. Er hatte natürlich ebenfalls schon von den seltsamen Mordfällen gehört, die die arkonidische Öffentlichkeit beunruhigten. Heilte er Zarcov Ma-Anlaan, löste er womöglich auch die Mordserie. Das hätte seine umstrittene Theorie bestätigt, wonach seelische Probleme gleichzeitig auch gesellschaftliche Probleme waren. Solthoron hatte darüber häufig Streitgespräche geführt, die jedoch zu nichts geführt hatten, weil Kars Parghir sie schließlich verbot. »Wie können Ihnen die Mordfälle das Geschäft ruinieren?« »Kommen Sie gern in ein Vergnügungsviertel, in dem Besucher umgebracht werden?«, reagierte Ma-Anlaan mit einer Gegenfrage. »Die Frage kann ich nicht beantworten. Ich halte nichts von diesen zweifelhaften Vergnügungen.« »Ich stehe von einem Rätsel. Irgendwie verfolgt mich das Unglück. Die Morde passieren immer in meiner unmittelbaren Umgebung. Ich kann mir das nicht erklären. Meine Zarltoner haben alles untersucht. Der Imperator persönlich hat sogar mehrere Spezialisten abgestellt. Es nutzte überhaupt nichts. In der Nacht starben wieder drei Raumsoldaten …« Solthoron stützte den Kopf in die Rechte, verstand immer noch nicht, warum sich Ma-Anlaan an einen Goltein-Heiler wandte. Die Aufklärung der Mordserie war Sache der Polizei; sollten andere Dinge hineinspielen, vielleicht auch der TRC
oder TGC. »Haben Sie persönliche Feinde?« »Mehr, als Sie Finger an den Händen haben.« »Ich meine nicht die kleinen Geschäftspartner, die Sie übers Ohr gehauen haben. Ich denke vielmehr an Leute, deren Leben Sie ruiniert haben.« Der Ma-Fürst wollte aufbrausen, doch Solthoron drückte ihn beruhigend in den Schalensessel zurück, hörte sich die Schimpftirade seines Patienten geduldig an. »Was fällt Ihnen ein? Ich bin Ihnen keine Rechenschaft über meine Geschäfte schuldig. Ich verbitte mir diesen Ton. Ich verlange eine Entschuldigung.« Solthoron musste sich beherrschen. Jetzt kamen ihm die Meditationsübungen zugute. Er atmete tief durch und sah seinen Patienten ernst an. »Es tut mir leid, Hochedler. Ihre geschäftlichen Praktiken gehen mich wirklich nichts an. Aber jede noch so geringe Kleinigkeit kann für die Lösung Ihres Problems wichtig sein. Sie sehen sich außerstande, weiterhin so erfolgreich wie bisher zu sein. Sie sind nervös. Sie wirken unsicher und krank …« »Deshalb verlange ich ja auch die Goltein-Behandlung!« »Gewiss. Aber die Behandlung ist nur dann erfolgreich, wenn Sie offen sind. Fangen wir also noch einmal von vorn an. Bringen Sie die Mordserie in irgendeinen Zusammenhang mit Ihren Geschäften?« »Nein … unmöglich.« »Trauen Sie einem anderen SENTENZA-Clan die Morde zu?« »Nein. Das habe ich vorhin schon gesagt. Die SENTENZA hält zusammen. Kein Clan schadet dem anderen …« »Warum klärt die SENTENZA die Mordserie nicht selbst auf?« Für einen Augenblick schwieg Ma-Anlaan. Solthoron hatte mit seiner knapp hingeworfenen Frage einen wunden Punkt
berührt. Insgeheim fürchtete der Ma-Fürst Intrigen vonseiten seiner Clan-Partner. Das bewirkte seine Unsicherheit und zermürbte ihn seelisch. »Jeder Clan ist für seine Geschäfte selbst verantwortlich. Kein anderer Clan redet ihm da rein.« Solthoron erfasste instinktiv, dass zwischen den Clans einiges nicht in Ordnung war. Es war für einzelne Clan-Vertreter viel zu verlockend, die Macht über einen anderen Geschäftsbereich an sich zu reißen. Die SENTENZA existierte seit den Gründungsjahren des arkonidischen Imperiums. Schon damals, vor vielen tausend Jahren, hatten sich die wichtigsten Familien des Imperiums zusammengeschlossen, um gegen erfolgreiche Kolonisten einen wirtschaftlich starken Block zu bilden. Die Methoden dieser Clans waren alles andere als zimperlich gewesen. Wer nicht parierte, wurde erbarmungslos aus dem Weg geräumt. Trotzdem hatte dieser Bund eherne Gesetze. SENTENZA-Mitglieder durften Nicht-Mitglieder nach Strich und Faden betrügen. Mitglieder untereinander pflegten die Grundsätze einer durch Treu und Glauben fest miteinander verbundenen Familie. Und Familienstreitigkeiten wurden bekanntlich in den »eigenen vier Wänden« bereinigt. Während der Regierungszeit von Gonozal VIII. war die SENTENZA in die Illegalität getrieben worden. Der Imperator hatte den schwunghaften Handel mit Rauschdrogen verboten, machte durch eine Gesetzesreform die Geschäfte der SENTENZA nahezu vollkommen unmöglich. Erst sein Nachfolger Orbanaschol III. belebte die einzelnen Clans wieder. Man munkelte, der Höchstedle wolle sich zum alleinigen Herrn über die SENTENZA aufschwingen. Aber das waren Gerüchte, für die jede Bestätigung fehlte. »Sie können die Mordserie also nicht mit persönlichen Ereignissen in Verbindung bringen?« »Ist das ein Verhör?«
»Im Gegenteil! Ich will den Dingen auf die Spur kommen, die Sie seelisch belasten. Also noch einmal … Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen sich und den geheimnisvollen Morden?« »Nein … unmöglich.« »Vielleicht sollte ich meine Frage präzisieren. Können Sie mir sagen, ob der erste Mord dieser Serie mit einer Veränderung in Ihrem persönlichen Bereich zusammenfällt? Denken Sie bitte scharf nach.« »Beim besten Willen, Solthoron … mir fällt dazu nichts ein.« Solthoron dachte kurz nach. Auf seiner Stirn bildeten sich steile Falten. Er berührte konzentriert die Schläfen und rekapitulierte alles bisher Gehörte. »Als ich Sie vorhin nach Ihren vordringlichen Problemen fragte, nannten Sie mir zwei Dinge …« »Ja?«, machte Ma-Anlaan begriffsstutzig. »Sie nannten die Mordserie und die Liebe.« Ma-Anlaan schluckte, war nicht darauf vorbereitet, jetzt so direkt darauf angesprochen zu werden. Solthoron wusste sofort, dass ihm der Arkonide etwas verschweigen wollte. »Ist es so außergewöhnlich, dass sich ein Clan-Vertreter verliebt?«, bohrte der Goltein-Schüler weiter. Er konnte sich nicht vorstellen, dass dieser hässliche, ungemein feiste Mann Liebe empfand oder empfing. Liebe war etwas viel zu Zerbrechliches, um von jemandem wie ihm erlebt zu werden. Solthoron ahnte instinktiv, dass Ma-Anlaan unter seinem abstoßenden Äußeren litt. Solange er erfolgreich gewesen war, ließ sich das geschickt vertuschen. Mit Geld und Einfluss ließ sich viel erreichen. Aber jetzt wurde er damit umso stärker konfrontiert. Ma-Anlaan war hässlich und grob. Welche Frau hätte ihn als Partner akzeptiert? Solthoron wollte diese Frage unbedingt beantwortet wissen. »Erzählen Sie mir mehr über die Frau.«
»Sie … war einfach da und gestand mir ihre Sympathie«, stammelte der Dicke, fast so, als könne er es immer noch nicht glauben, dass ihm eine Frau echte Zuneigung geschenkt hatte. »Wann war das genau?« »Vor zwei Pragos. Mir ist, als sei es erst vor wenigen Tontas gewesen.« Solthoron überlegte kurz und sagte dann lakonisch: »Am Abend des vierundzwanzigsten Tedar wurde die erste Ermordete gefunden.« Der Malen sprang mit einer Schnelligkeit vom Schalensessel auf, die ihm Solthoron eigentlich nicht zugetraut hatte. Der Mann griff mit seinen dicken Fingern haltlos in die Luft, keuchte, Schweißperlen liefen ihm in den Jackenausschnitt. »Das stimmt! Bei allen Göttern … warum ist mir das vorher nicht aufgefallen? Ich erinnere mich noch ganz genau daran: Sie war dabei, als die Spurensicherung sämtliche Ausgänge abriegelte. Die Infrarot-Roboter suchten nach Hinweisen. Es wurde nichts außer Acht gelassen. Trotzdem wurde keine Spur vom Mörder gefunden.« »Das war nach dem Mord«, sagte Solthoron. »Kannten Sie die Frau schon vor der Tat?« Der Fürst brauchte nicht lange zu überlegen. »Ja, ich begegnete ihr mittags, als ich dringend zu einer wichtigen geschäftlichen Besprechung musste, in einem Restaurant. Wir kamen ins Gespräch. Sie begleitete mich zur Versammlung … und verbrachte den Abend mit mir. Es war wunderbar. Sie müssen es mir glauben. Ich war wie von Sinnen.« Solthoron nickte. Er war sicher, dass er eine Spur gefunden hatte. »Und wie heißt sie?« Ma-Anlaan runzelte erstaunt die Brauen. Sein Gesicht drückte Ratlosigkeit aus. »Ich … weiß es nicht. Sie hat sich mir nicht vorgestellt, war einfach da, und ich habe auch nicht danach gefragt. Ich war froh, dass sie da war.«
»Das glaube ich Ihnen aufs Wort. Ich bin sicher, dass Sie diese mysteriöse Frau demnächst nach ihrem Namen fragen werden, nicht wahr?«
6. Aus: Biografie Atlans – Anhang: Fragmente, Anmerkungen, Marginalien (in vielen Bereichen noch lückenhaft); Professor Dr. hist. Dr. phil. Cyr Abaelard Aescunnar; Gäa, Provcon-Faust, 3565 n.Chr. Atlan: Mein Auftritt vor den Medien, damals am 24. Prago des Messon 10.497 da Ark auf Largamenia nach der erfolgreichen Aktivierung meines Extrasinns, war in der breiten Öffentlichkeit nach mehr als einem Jahr längst in Vergessenheit geraten. Zwar mochten einige Milliarden Personen die plötzlich unterbrochene Sendung gesehen haben, aber die vorgelegten Beweise zählten wenig, weil Mascant Offantur höchstpersönlich, der Chef der ebenso gehassten wie gefürchteten Tu-Gol-Cel, meine Eröffnungen als Lüge abgestritten, mich als Schwindler hingestellt sowie die Beweise für gefälscht erklärt hatte. Die Mörder konnten schließlich nicht offiziell bestätigen, dass es sich bei mir tatsächlich um den Kristallprinzen des Reiches handelte, den rechtmäßigen Thronerben von Arkon. Dennoch hatte Orbanaschol III. dafür gesorgt, dass mein Bild verbreitet wurde. Zum Glück war das Tai Ark’Tussan zu gewaltig, die Bedrohung durch die Methans zu aktuell und die Zahl der von der Orbanaschol-Clique aus eher unwichtigen Gründen Gesuchten viel zu groß, als dass ausgerechnet ich noch besondere Aufmerksamkeit hervorgerufen hätte. Aber die Anweisung an den Blinden Sofgart und seine Kralasenen wie auch die vertrauenswürdigen Geheimdienstmitarbeiter war eindeutig gewesen: Der Kristallprinz lebt. Bringt mir seinen Kopf! Perpandron: 26. Prago des Tedar 10.499 da Ark »Sie können ruhig Ihren Gefühlen freien Lauf lassen. Ich habe nichts gegen Männer, die weinen, wenn es dafür einen
Grund gibt, und die stöhnen, wenn sie starke Schmerzen haben.« Ich konnte Ra grinsen sehen. Mir war nicht nach Lächeln zumute. Ich litt unter den Nachwirkungen des Schockerschusses. Der Mann, der auf mich geschossen hatte, wollte sichergehen – er hatte den Strahler auf höchste Intensität gestellt, dafür musste ich jetzt zahlen. Man hatte mich durch die Gänge geschleppt und mich mit verbundenen Augen in meinem Zimmer auf das Bett gelegt. Die Stimme eines der Heiler klang in mir nach: »Es ist ungeschriebenes Gesetz auf Perpandron, dass Unbefugte keinen Zutritt zu den Behandlungsräumen haben. Da in diesem Fall dagegen verstoßen wurde, werden wir Ihre Freiheit künftig in dem Maß einschränken müssen, das uns aus Heilungsgründen erforderlich erscheint.« Dann waren sie gegangen. Ra und Karmina hatten sofort gewusst, was mir zugestoßen war. Sie kannten Schockstrahler und deren Auswirkungen, und ich kannte sie auch, das war das Infame an der Sache. Tontalang hatte ich hellwach auf dem Bett gelegen und auf das Unvermeidliche gewartet. Die Schmerzen waren schlimm, aber das Warten darauf war eine Qual. Trotz Karminas Aufforderung biss ich die Zähne zusammen, um nicht laut zu schreien. Sie sah dies und schüttelte den Kopf. »Männer!« Jetzt begann Ra laut zu lachen, das Geräusch schmerzte in meinen Ohren. Die schlimmsten Anfälle hatte ich bereits hinter mir, aber es würde noch einige Zeit vergehen, bis ich meine Gliedmaßen wieder einwandfrei bewegen konnte. »Man hat dir übrigens alles gelassen«, sagte Ra. »Die Waffen und auch die versteckten Geräte. Entweder sind diese Leute grenzenlos dumm oder unerhört selbstsicher.« Ich nahm an, dass die zweite Möglichkeit zutraf. Die Heiler hatten von meinem Eindringen in ihr »Heiligtum« weiter kein Aufhebens gemacht. Sie hatten mich geschockt, fortgeschleppt
und unter Arrest gestellt, als sei dies ein Routineverfahren. Das gab mir zu denken. Hätten die Heiler gewusst, wer der Patient war, den ich ihnen übergeben hatte, wären sie wohl kaum derart ruhig geblieben. Oder war eben diese Gelassenheit ein sicheres Zeichen dafür, dass sie die wahre Identität meines Vaters erkannt hatten? Ich kam nicht mehr dazu, diesen Gedanken weiter nachzuhängen, ein neuer Schmerzanfall lenkte mich ab. Ich ließ ein schmerzliches Seufzen hören, sonst gelang es mir, mich zu beherrschen. Natürlich war mir ein Medikament verabreicht worden, das einen Teil der Schmerzen dämpfte, aber das Mittel half nur wenig. Ich versuchte mich aufzurichten, fiel aber wieder zurück. Ich musste warten, Geduld haben, bis die Schmerzen so weit nachließen, dass ich mich wenigstens mit Ra und Karmina unterhalten konnte. Ich brannte darauf, ihnen von meinen Erlebnissen in der Unterwelt von Perpandron zu berichten.
Gegen Mittag Ortszeit war die Tortur endlich vorbei. Die beiden hatten mir schweigend zugehört, aber vor allem dem impulsiven Ra war dieses Schweigen sichtlich schwergefallen. Ich sah, wie stark mein Bericht die beiden beeindruckt hatte. Allerdings konnte ich auch aus Karminas Zügen eine unübersehbare Spur von Skepsis herauslesen. Wahrscheinlich erschienen ihr die Dinge, die ich berichtet hatte, ziemlich haarsträubend. »Deinen Vater hast du nicht gesehen?« Ich musste Ras Frage verneinen. Mein Logiksektor sagte, dass ich von dem riesigen subplanetarischen Bezirk höchstens zehn Prozent gesehen hatte, vermutlich steckte mein Vater irgendwo in den anderen neunzig. »Und was sollen wir jetzt unternehmen?« Karmina deutete auf das Fenster, vor dem nun ein kaum wahrnehmbarer
Energievorhang flimmerte. Töten würde er mich nicht, wenn ich ihn durchbrechen wollte, wohl aber würde er die Heiler alarmieren. Draußen auf dem Gang stand ein Roboter. Wir waren praktisch Gefangene. »Das bedeutet nichts Gutes«, murmelte Ra. »Ob die Heiler inzwischen herausgefunden haben, dass ihr merkwürdiger Patient der alte Imperator Gonozal ist?« »Genau das ist die Kernfrage«, sagte Karmina da Arthamin. »Vor allem frage ich mich, welche Rolle die Goltein-Heiler in der arkonidischen Politik spielen, welche Stellung dieser Klemir-Theron hat. Der alte Imperator ist in jedem Fall ein hoch bedeutsamer Machtfaktor. Der Tai-Laktrote kann ihn an Orbanaschol ausliefern, dann ist er der Held des Imperiums, er kann ihn aber auch behalten und für eigene politische Ziele ausnutzen – falls er welche hat. Oder ist er weisungsgebunden? Wie entscheidet sich der über ihm stehende Thi-Laktrote? Grundsätzlich stehen die Heiler nach dem, was ich weiß, ziemlich neutral zum Imperium. Sie sind unabhängig, genießen den Schutz Arkons und revanchieren sich, indem sie die Edlen und Hochedlen des Imperiums heilen. Gegen eine saftige Gebühr natürlich.« Damit hatte Karmina das Problem, das mich beschäftigte, kurz und präzise umrissen. Ich trommelte nervös mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte. Karmina saß ruhig da, während Ra, ebenso erregt wie ich, im Zimmer umherlief. Er vertrug das Eingesperrtsein noch weniger als ich. »Ein Ausbruchsversuch?« Ras Vorschlag klang im ersten Augenblick nicht schlecht, verlor aber rasch bei näherer Betrachtung. »Ohne meinen Vater?« Ich deutete aus dem Fenster. Zwischen uns und unserem Beiboot gab es genug Arkoniden, die uns den Weg verstellen konnten. Genau betrachtet saßen wir in einer erschreckend guten Falle. »Nein. Wir sollten …«
Es klopfte an der Tür, Karmina öffnete. Im Eingang stand Klemir-Theron, zeigte das gleiche Gesicht wie bei unserer Begrüßung. Auf mein Herumschnüffeln ging er mit keinem Wort ein. »Wir haben den Patienten Minol untersucht.« »Und?« Karmina, Ra und ich sprachen gleichzeitig; keinem von uns entging die Betonung, mit der der Tai-Laktrote den Namen aussprach. Karmina starrte dem Heiler ins Gesicht, Ra unterbrach seine Wanderung im Zimmer. »Wir können nicht helfen, sosehr wir auch möchten«, sagte der Goltein-Heiler und hob bedauernd die Hände. »Der Mann hat alles verloren. Sein Geist ist hoffnungslos vernichtet, es gibt nicht den geringsten Ansatz für eine Heilung. Einen Geist, der praktisch gar nicht mehr vorhanden ist, können wir nicht heilen, das übersteigt selbst unsere Kräfte und Fähigkeiten!« Er musste wissen, welche Bedeutung diese Worte für meinen Vater und auch für uns haben mussten, aber er sprach so gelassen, als verkünde er uns, dass ein Raumschiff so wrack sei, dass es nicht mehr repariert werden könne. Ich starrte den Mann an, versuchte etwas aus seinen Zügen herauszulesen, aber es gelang mir nicht. Dieser Goltein-Heiler war nicht zu durchschauen, jedenfalls nicht von mir. Ich presste die Zähne zusammen. Sicher, ich hatte meine Zweifel gehabt, aber im Stillen hatte ich doch gehofft, dass die Heiler ein kleines Wunder vollbringen konnten. Die sonderbaren Erlebnisse der letzten Nacht hatten diesen Glauben sogar noch bestärkt. Umso schlimmer war jetzt der Absturz in die Wirklichkeit, die Enttäuschung, die sich in mir breitmachte. Auch Karmina und Ra machten betroffene Gesichter. Gelassen und fast abweisend blieb der Gesichtsausdruck von Klemir-Theron. »Es wird besser sein, wenn Sie abreisen. Die Heiler von Perpandron können Ihnen nicht helfen.« »Und mein …«
»Was wird aus dem Patienten?«, mischte sich Ra hastig ein, der sofort erkannt hatte, dass ich so niedergeschlagen war, dass ich alle Vorsicht vergaß und den Patienten fast als das bezeichnet hätte, was er war – mein Vater. »Können wir den Patienten sehen? Wir wüssten gern, ob wir irgendwelche Vorschriften beachten müssen, wenn wir ihn zurückfliegen.« »Sie können den Patienten nicht mitnehmen.« Diese Eröffnung Klemir-Therons verschlug mir die Sprache. »Bitte?« »Der Patient ist zwar nicht zu heilen, bedarf aber ständiger sachkundiger Pflege. Es gibt in der ganzen Öden Insel keine besseren Fachleute dafür als hier auf Perpandron.« Ich öffnete den Mund zu einer Entgegnung, aber der Heiler fiel mir ins Wort. »Unsere eingehenden Untersuchungen haben ergeben, dass es gefährlich wäre, einen derart Kranken ohne Aufsicht zu lassen. Der Patient könnte sogar für andere zur Gefahr werden. Es wäre unverantwortlich, ihn weiter unter lebenden Arkoniden zu belassen.« Ich horchte auf. Zur Gefahr werden … unter lebenden Arkoniden, hatte der Heiler gesagt. Lebenden! Wusste er, dass wir versucht hatten, meinem toten Vater mit dem letzten Lebenskügelchen das Leben zurückzugeben? Ahnte er, dass er einen Fast-Toten untersucht hatte? Oder war dies eine rein zufällige Formulierung gewesen? Oder steckte vielleicht noch mehr dahinter? »Das können und werden Sie nicht bestimmen«, widersprach Karmina da Arthamin mit der Härte einer Admiralin. »Wir nehmen den Patienten mit, auch wenn Ihnen das nicht genehm ist.« »Wir haben durchaus die rechtlichen Mittel, einen Patienten, der eine öffentliche Gefahr darstellt, auch gegen den Willen seiner Angehörigen zurückzuhalten. Wir haben entsprechende Vollmachten Seiner Erhabenheit.«
Information korrekt, gab der Logiksektor durch. Jetzt blieb mir nur noch ein Einwand. »Mir aber fehlen entsprechende Vollmachten vonseiten der Familie des Patienten.« Klemir-Theron reagierte mit keiner Miene. Ruhig sagte er: »Vollmachten brauchen Sie nicht, die haben wir. Der Fall dieses Patienten ist überdies so außergewöhnlich, dass die Vereinigung der Heiler für sämtliche Kosten aufkommen wird. Wir werden der Familie des Patienten in Abständen von einem Jahr Bulletins zugehen lassen, in denen wir über die Entwicklung berichten werden. Ich wünsche einen angenehmen Flug.« Er ließ mich mit einem Gefühl ohnmächtiger Wut zurück. Ich sah ein, dass ich einstweilen nichts unternehmen konnte. Erst mussten wir unsere Handlungsfreiheit zurückgewinnen, dann konnten wir weitersehen.
7. Aus: Gedanken und Notizen, Bauchaufschneider Fartuloon Manchmal, wenn mich die Schicksalsschläge und Unbilden, die die tückischen Raumgeister, wankelmütigen She’Huhan und sonstigen kosmischen Mächte und Halunken bereithalten, etwas zu sehr beuteln, überkommt mich der starke Drang, alles in die Ecke zu donnern. Mit einem heftigen, gut zu hörenden Knall! Meist vergeht ein solcher Anfall ebenso schnell, wie er kam, und das Verantwortungsgefühl obsiegt. Es gibt allerdings auch Augenblicke, die in ernste Depression zu münden drohen. Dann sehne ich mich nach der Ruhe und Beschaulichkeit meines geheimen Zeitverstecks und möchte am liebsten Skarg und Harnisch in der hintersten Ecke der Rüstkammer verschwinden lassen. Manchmal wünsche ich mir, ich hätte nie mein Zeitversteck verlassen. Aber nein, der alte Fartuloon muss seine Nase ja in Dinge hineinstecken, die ihn Kopf und Kragen kosten können. Dann denke ich an den Jungen, habe seinen ermordeten Vater vor Augen und viele andere. Das reißt mich aus dem Selbstmitleid und dem Jammern. Also weiter wie schon seit so langer Zeit. Zu Boden gehen ist keine Schande, liegen bleiben schon. Also hoch, alter Bauchaufschneider, die vielen Wunder des Kosmos warten auf dich. Und sollte an irgendeiner Ecke das dunkle Wesen mit dem letzten Ruf auf dich warten, grins es an und folg ihm bereitwillig. Nicht einmal die Steine leben ewig … Perpandron: 26. Prago des Tedar 10.499 da Ark Galur da Paro erwachte, streckte die Glieder aus und rekelte sich. Unwillkürlich stöhnte er leise auf. Er hatte auf dem blanken Boden geschlafen, wie es sich für einen abgehärteten Jäger gehörte, zumindest nach Galurs Vorstellung. Jetzt schmerzte jeder Muskel. Ächzend und stöhnend richtete sich
Galur auf und bereute, dass er den bequemen Schlaf sack auf der Ladefläche des Gleiters gelassen hatte. Es war früher Morgen, im Innern des Zeltes war es unangenehm kalt. Galur, noch halb schlafend, wollte sich, wie er es gewohnt war, unter eine Dusche stellen, bis ihm einfiel, dass er auf diese Annehmlichkeit freiwillig verzichtet hatte. »Elende Romantik«, fluchte er. Nackt tappte er aus dem Zelt und blieb am Eingang stehen. Die ersten wärmenden Strahlen der aufgehenden Sonne taten der Haut gut und wärmten die erstarrten Muskeln wieder auf. Galur nahm ein Handtuch aus seinem Gepäck, dazu ein Stück Seife. Er grinste die Dose mit dem Haarentfernungsmittel an und ließ sie liegen. Irgendetwas musste er als Andenken von diesem Ausflug zurückbringen, und wenn es nur ein struppiger, verfilzter Bart war. Hoffentlich wuchs in der kurzen Zeit des Ausflugs überhaupt genug Bart nach, dass er damit Eindruck schinden konnte. Galur ging zu der Quelle. Er bemühte sich, so selten wie möglich auf spitze oder harte Gegenstände zu treten, und bekam dabei einen Gang, der verdächtig an den eines volltrunkenen Gork erinnerte. Das Wasser war von grimmiger Kälte. Mit äußerster Willensanstrengung brachte Galur es fertig, hineinzutauchen und sich zu waschen. Nach dem Bad war seine Haut fast blau, seine Zähne klapperten, und er hatte einige Mühe, das Handtuch in den zitternden Händen zu halten. Er hatte abends, um die lästigen Insekten abzuhalten, das Zelt dicht verschlossen. Diese Maßnahme entpuppte sich als glatter Fehlschlag. Zum einen waren dennoch genügend Insekten hineingeschlüpft, um seinen Körper mit einigen Dutzend leicht angeschwollenen Einstichwunden zu versehen, von denen ein lästiger Juckreiz ausging. Zum anderen hatte sich Galurs Atemfeuchtigkeit an den Zeltwänden
niedergeschlagen und im Laufe der Nacht sämtliche Kleidungsstücke gleichmäßig durchfeuchtet. Schimpfend stieg Galur in die klamme Kleidung. Sehnsüchtig dachte er an die Station der Heiler. Dort hätte er um diese Zeit in einem behaglichen Bett gelegen und darauf gewartet, dass ihm ein Robot das Frühstück servierte, in der Menge und Qualität, die man als Patient der ersten Klasse erwarten durfte. Galur brauchte fast eine Tonta für das Frühstück, dann aber waren seine Kleider wieder trocken, das Medikament, das er eingenommen hatte, unterdrückte wirkungsvoll den Juckreiz, und auch die verspannten Muskeln schmerzten nicht mehr so stark. Eine weitere Tonta brauchte er, um das Zelt und die anderen Ausrüstungsgegenstände wieder auf der Ladefläche zu verstauen und festzuzurren. Galur schwang sich in die Schale und versuchte, die Arretierung zu lösen. Irgendein Wurm oder ein anderes Tier, das ziemlich klein war, hatte sich in jener Öffnung verkrochen, in die der Schlüssel gehörte. Was für ein Tier genau das war, interessierte Galur nicht, er stellte aber erbittert fest, dass der ungebetene Gast nicht daran dachte, seinen Unterschlupf zu räumen. Galur versuchte es mit Gewalt, aber der Schlüssel ließ sich nur zur Hälfte ins Schloss stecken. Galur fluchte laut und hemmungslos, aber auch das half nicht. Der winzige Eroberer des Gleiters blieb, wo er war. »Wenn nicht mit Kraft, dann mit Chemie.« Galur holte den Insektenspray aus dem Gepäck. Die Aufschrift auf der Dose versprach, dass selbst handtellergroße Insekten nach einem Volltreffer abstürzten und schon tot waren, bevor sie den Boden berührten. Entweder war der Verfasser des Textes ein ausgemachter Lügner, oder die Erfinder des Mittels hatten noch nie etwas von dem perpandronschen Schlosswurm gehört, wie Galur seinen unsichtbaren Gegner getauft hatte. Das Tier wich nicht von der Stelle, im Gegenteil – es schien das Gift zu mögen, verzehrte es und gab den Rest in Form eines
feinen Flüssigkeitsstrahles wieder von sich. Galur konnte gerade noch zurückzucken, sonst hätte ihn der Strahl getroffen. Die Flüssigkeit spritzte auf die Sitzschale, die Augenblicke später Blasen warf und einen widerlichen Geruch verbreitete, der Galur zur Flucht zwang. »Auch gut, dann wirst du eben geröstet.« Galur stellte den Thermostrahler auf geringste Intensität und zielte auf das Schloss. Der Strahl zuckte zu dem Schloss und erhitzte es, aber der Schlosswurm wich nicht. Noch gab Galur den Kampf nicht verloren. Er versuchte es mit Kälte, auch das schlug fehl. Er stülpte einen Becher über das Schloss, um dem Wurm die Luft zu nehmen, aber das Tier brannte mit seinen Ausscheidungen ein Loch in den Becherboden und brachte es dabei zu allem Überfluss fertig, das Funkgerät zu treffen und in ein qualmendes, stinkendes Etwas zu verwandeln, mit dem sich nichts mehr anfangen ließ. Langsam geriet Galur ins Schwitzen. Er wusste, dass er diese Episode niemandem erzählen durfte. Er, Galur da Paro, im Zweikampf einem Wurm unterlegen? Niemals, schwor sich Paro. Er würde zum Gespött der Öden Insel werden. Galur versuchte, den Wurm zu locken, indem er verschiedene Nahrungsmittel vor das kleine Loch hielt, in dem diese Bestie steckte. Der Wurm schien sich ausreichend an dem Insektengift gesättigt zu haben und reagierte nicht. Dann füllte Galur eine Spritzflasche – erst mit Wasser, dann mit diversen Chemikalien, bis er einsehen musste, dass er den Kampf verloren hatte. Vielleicht war der Wurm tot, vielleicht lebte er noch – in jedem Fall hatte Galur aus Wasser, Hydraulikflüssigkeit, Enthaarungscreme, eine höllisch scharfe Gewürzsauce und einem Gegengift gegen Schwirrflügler von Zalit, die es auf Perpandron gar nicht gab, einen neuen Kunststoff produziert, der in allen Farben des Spektrums schillerte, einen betäubenden Geruch nach gebratenem Fleisch
verströmte und dazu eine Härte aufzuweisen hatte, gegen die Galurs Werkzeugkiste kein Mittel wusste. Diese Masse verstopfte das Schlüsselloch und hatte einen Teil der Instrumente mit einem dünnen Film überzogen, der nicht mehr zu entfernen war. Galur hockte sich auf den sandigen Boden und fluchte erbittert. Das Funkgerät war hoffnungslos zerstört, die Sitzschale qualmte noch immer und zischte leise. Die Instrumente ließen sich kaum mehr ablesen, das Schloss war erstens von dem Wurm verstopft und zweitens von Galurs unfreiwilliger Erfindung blockiert. Er wusste, was das bedeutete. Zu dem Zeitpunkt, als die Instrumente noch klar erkennbar waren, hätte er den Gleiter immerhin noch in die Höhe gebracht. Er hätte dann allerdings auf dem schnellsten Wege zurückfliegen müssen, denn ein zweites Mal hätte er die Aggregate so nicht starten können. Hilfe herbeizurufen war ausgeschlossen, denn das Funkgerät war nicht mehr zu gebrauchen. Und ohne klar ablesbare Instrumente zu fliegen, kam – jedenfalls für den jungen Adligen – einem Selbstmordversuch gleich. Galur konnte annähernd abschätzen, wie weit er sich von der Station der Goltein-Heiler entfernt hatte. Für diese Strecke würde er zu Fuß mindestens zwei Tage brauchen, wahrscheinlich mehr. Zwei oder mehr Tage mit unzureichender Ausrüstung durch einen Dschungel, den er nicht kannte – Galur wusste, dass seine Lage alles andere als rosig war. Er ballte die Hände und drohte damit dem versteckten Wurm. »Verfluchtes Biest!« Zuerst nahm er die Bewegung gar nicht wahr, dann aber erkannte er, dass sich der von ihm zusammengebastelte Kunststoff zu bewegen begann. »Lebt das Zeug vielleicht?« Wenig später wusste er, dass der Kunststoff nicht lebte, wohl aber der Schlosswurm. Der Kunststoff schmeckte ihm: Galur glaubte fast, das genießerische Schmatzen seines winzigen
Feindes zu hören. Galur hielt den Atem an, als der Wurm sichtbar wurde. Das Tier war dunkelblau, zeigte auf der Haut zartrosa Punkte und war eigentlich hübsch anzusehen. Galur sah sich seinen Gegner genauer an. Am Vorderende waren zwei winzige dunkelgrüne Augen zu sehen, darunter ein winziges Maul, das mit ungeheurer Geschwindigkeit den Kunststoff verschlang. Auch seine Erfindung betrachtete Galur etwas genauer, plötzlich erschrak er so heftig, dass er fast aus dem Gleiter gefallen wäre. Als er sein Gebräu zusammengestellt hatte, waren ihm auch die Reste eines Mittels in die Hände gefallen, das er vor einigen Votanii für kurze Zeit genommen hatte, um seine leicht aus den Fugen gegangene Figur wieder zu stabilisieren. Jetzt sah Galur mit Entsetzen, dass sich der flüssige Appetitzügler nicht mit den anderen Bestandteilen vermischt hatte. Das Plastikmaterial hatte den in kleinste Tropfen zerlegten Appetithemmer lediglich eingekapselt. Galur sah schreckensbleich zu, wie sich der Wurm dem ersten dieser Tropfen näherte. Galurs Stirn bedeckte sich mit feinem Schweiß, seine Hände wurden feucht. »Heilige Chemie«, stöhnte er unterdrückt und starrte auf den verhängnisvollen Tropfen. Die folgenden Augenblicke erschienen ihm so dehnbar wie die Moral des derzeitigen Imperators. Galur hielt die Luft an. Der Wurm hatte seine Mahlzeit beendet, einige Millimeter vor dem winzigen Tropfen, der Galur wie die Verkörperung des Unheils erschien. Der Wurm bewegte sich, hob das Vorderteil seines Leibes leicht in die Höhe. Galur sah, wie der Wurm sein Maul öffnete und in dieser Stellung verharrte. Die dunkelgrünen Augen schienen direkt auf Galur gerichtet zu sein. Hass stieg in Galur hoch, Hass auf den nur einige Millimeter dicken Wurm. Es war völlig ausgeschlossen, das es der Wirklichkeit entsprach, aber Galur hatte plötzlich das Gefühl, als würde er von diesem Wurm
regelrecht ausgelacht. »Ich dreh dir die Gurgel um«, knurrte er hasserfüllt. »Friss, Vieh!« Der Wurm richtete sich noch weiter auf und begann mit dem Kopf hin und her zu pendeln. Galurs Körper zitterte vor verhaltenem Hass, seine Muskulatur verkrampfte sich. Nach einer Zeitspanne, die endlos lang erschien, nahm der Wurm seine Mahlzeit wieder auf. Ohne zu zögern, verschlang er auch den Appetitzügler. Galur wankte erschöpft zur Seite, ließ die Hand sinken. Er atmete tief und erleichtert durch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er brauchte eine halbe Zentitonta, um seine Fassung wiederzufinden, dann erst war er fähig, den Wurm wieder zu beobachten. Der perpandronsche Schlosswurm hatte den langen Plastikstrang, der von dem Schloss bis auf den Boden des Gleiters reichte, zum größten Teil bereits gefressen. Seine Farbe hatte sich allerdings beträchtlich geändert. Der Körper erstrahlte jetzt in einem satten Violett, die früher zartrosafarbenen Punkte hatten jetzt einen lindgrünen Ton. Unentwegt schlang der Wurm das Plastikmaterial in sich hinein und wurde dabei zusehends länger. Wieder hielt Galur den Atem an, als auch der letzte Rest des Stranges verzehrt war. Der Wurm pendelte eine Zeit lang unschlüssig hin und her, dann zog er sich zusammen und nahm die Instrumentenscheiben in Angriff. Während der Schlosswurm sie von dem Kunststoff befreite, verfertigte Galur aus kaum sichtbarer Angelschnur eine Schlinge, die er mit äußerster Behutsamkeit um den Wurm legte. Einstweilen zog er sie noch nicht zusammen, noch brauchte er das Tier. Erst als sämtliche Scheiben wieder klar waren, zog Galur sehr schnell an der Angelschnur. Die Schlinge zog sich zusammen und schnürte den Wurm ein. Dann begann Galur zu ziehen, sehr zart und behutsam – weniger aus Rücksicht auf die Gefühle seines bunten Widersachers, sondern mehr aus Angst, der Wurm
könne in zwei Teile zerschnitten werden, die vielleicht auch unabhängig voneinander existieren konnten. Dann hätte es Galur gleich mit zwei Schlosswürmern zu tun gehabt – er wusste, dass ihn dieser Kampf überfordert hätte. Der Wurm zerriss nicht. Aber er wurde dünner. Galur entfernte sich langsam vom Gleiter. Er zog die Angelschnur hinter sich her, daran den Wurm. Nach fünf Metern musste Galur die erste Pause einlegen. Der Wurm war jetzt zwar so dünn, dass man ihn nur noch dank seiner auffälligen Farbe sehen konnte, aber er war außerordentlich zäh. Bei zehn Metern legte Galur die zweite Pause ein, der Wurm musste inzwischen eine Gesamtlänge von mehr als zwanzig Metern erreicht haben. Galur fragte sich, wie lang die Bestie wohl noch werden mochte. Vor seinem geistigen Auge tauchte die Schreckensvision auf, dass sich der Wurm durch das Schloss hindurchgebohrt hatte und mit dem weitaus größten Teil seines Körpers im Boden steckte. Galur war gerade damit beschäftigt, sich geistig auf einen langen Marsch vorzubereiten, als der Wurm ein Ende fand. Der Zug an der Angelleine hörte abrupt auf, Galur stürzte unsanft, aber er hielt das Ende der Angelschnur fest in der Hand und damit auch den Wurm. Während sich Galur aufrappelte, schrumpfte der Wurm und wurde mit jedem Herzschlag kürzer und dicker. Als Galur wieder auf den Füßen stand, hatte er noch eine Länge von zehn Zentimetern, dafür aber einen Durchmesser von annähernd vier Zentimetern. Galur wartete noch einige Augenblicke, bis der Wurm seine bislang nicht sichtbaren Schwingen ausgebreitet hatte und schrill pfeifend davongeflattert war, dann ging er zum Gleiter zurück. Mit einem ausgesprochen befriedigten Gefühl schob er den Schlüssel ins Schloss und löste die Arretierung. Wenig später schwebte der Gleiter mit hoher Geschwindigkeit über die Landschaft Perpandrons. Galur pfiff vergnügt.
Langsam senkte sich der Gleiter auf den Boden und kam, begleitet von einem dumpfen Knirschen, zum Stillstand. Es war früher Nachmittag in diesem Bereich des Planeten. Galur hatte sich dazu entschlossen, den Ort seiner großen Jagd etwas näher an die Station der Heiler zu verlegen. Leicht konnte ihm ein ähnliches Missgeschick zustoßen wie am Morgen. Für diesen Fall wollte er wenigstens eine reelle Aussicht haben, ohne mörderische Strapazen wieder die sichere Station der Goltein-Heiler erreichen zu können. Galur war ein wenig müde. Er hatte Hunger und überall dort, wo er seinen Körper zu lange der Sonne ausgesetzt hatte, einen kräftigen Sonnenbrand. In den nächsten Tagen würde er sich häuten wie eine Schlange. Galur sprang aus dem Gleiter, griff nach dem Klebeband und hinderte so seine speziellen Freunde, die perpandronschen Schlosswürmer, daran, ihm erneut Verdruss zu bereiten. Umsichtig und mit Ausdauer machte sich Galur daran, jede Ritze, deren Inbesitznahme durch einen Schlosswurm Schwierigkeiten bereiten würde, mit der Folie zuzukleben. Dann erst machte er sich daran, das Zelt aufzustellen. Nach einer halben Tonta hatte er den Platz für das Nachtlager so vorbereitet, dass er später nicht mehr viel zu tun hatte – er würde lediglich das Feuer löschen müssen, dann konnte er in sein Bett kriechen, diesmal mit Schlafsack. »He, ihr Braten!«, schrie er übermütig in den Dschungel. »Wartet auf mich, ich komme gleich!« Er hätte sich auch von den üppigen Vorräten ernähren können, aber ihn reizte die Vorstellung, selbst erlegtes Wildbret über dem Feuer rösten und verzehren zu können. Trotz seiner romantisch angehauchten Schwärmerei war Galur vernünftig genug, sich bei seinem Pirschgang nicht nur mit Messer, Bogen und Pfeilen auszurüsten, sondern
vorsichtshalber auch einen Thermostrahler mit gefülltem Magazin mitzunehmen. Man konnte nie genau wissen, ob man in den nächsten Tontas Beute machen würde oder unversehens selbst in diese Rolle gedrängt wurde. Galur trug einen engen Anzug aus dünnem, sehr reißfestem Kunstleder. Den Bogen hatte er in der Rechten, auf dem Rücken hing der Köcher mit den Pfeilen. An der Hüfte hing das Holster mit dem Thermostrahler, auf der linken Seite das Messer aus vergütetem Arkonstahl. Die lederüberzogene Scheide war eine Spezialanfertigung, sie schliff das Messer, angetrieben durch die Gehbewegungen, solange es in der Scheide steckte. Galur prüfte den Wind. Er wehte von der Küste landeinwärts, also von Galur auf die erwartete Beute zu. Das zwang ihn dazu, einen weiten Bogen zu schlagen, damit er den Wind von vorn hatte und von dem Wild nicht gewittert werden konnte. Ziemlich rasch geriet Galur ins Schwitzen. Er hatte sich das Anpirschen erheblich leichter vorgestellt. Äste schlugen ihm ins Gesicht, dornige Sträucher hinterließen rote Spuren auf den freien Hautflächen zwischen den Handschuhen und dem Ärmel. Immer wieder sank Galur bis an die Waden in den fauligen Schlamm ein, ab und zu mit solcher Geschwindigkeit, dass der Schlamm spritzte und sein Gesicht allmählich mit einer graugrünen Masse bedeckte, die ebenso übel roch, wie sie aussah. Leben gab es in diesem Bereich des Waldes genug. Galur hörte das Kreischen der Vögel, die über seinen Köpfen umherschwirrten und lärmten. Irgendwo wimmerten andere Tiere in den Ästen, es raschelte leise im Unterholz, ab und zu hörte Galur ein heftiges Knacken, das ihn sofort erstarren ließ. »Wenn ich nur wüsste, welches Viehzeug sich hier herumtreibt«, murmelte der junge Mann. Langsam wurde ihm unheimlich zumute. Ringsum war Dschungel, in dem das Leben nach Grundsätzen verlief, die Galur nicht kannte. Diese dumpfe grüne Welt war nicht sein Lebensbereich, hier konnte
vieles, was er sah oder hörte, tödlich sein. Vor allem war es überaus anstrengend, sich einen Weg durch das Dickicht zu bahnen. Es war warm, unter dem dichten Blätterdach staute sich die Hitze. Dies, verbunden mit den körperlichen Anstrengungen des Marsches, brachte Galur ins Schwitzen. Der Schweiß lief in dicken Tropfen über seine Stirn und brannte, wenn er in die Augen geriet. Sein Rücken war nass, das dichte Kunstleder trug dazu bei, im Innern des Anzugs Verhältnisse wie in einem Dampfbad zu schaffen. »Ich muss eine Pause machen«, murmelte Galur erschöpft und suchte sich einen Baumstumpf, der aus einem freien Stück des Bodens ragte. Der Stamm lag einige Meter weiter, offenbar hatte hier ein Sturm die Verwüstungen angerichtet, die aber vom alles überwuchernden Dschungel nach kurzer Zeit verdeckt worden waren. Galur setzte sich und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Liebend gerne hätte er den feuchten, heißen Anzug ausgezogen, aber er fürchtete sich vor giftigen Insekten. Sehen konnte er von den geflügelten Plagegeistern nichts, aber das bedrohliche Summen war nicht zu überhören. Galur machte die unangenehme Feststellung, dass er offenbar nicht auf die Zeit geachtet hatte, die er im Dschungel verbracht hatte. Es wurde langsam Nacht, und es wollte Galur gar nicht schmecken, eine Nacht im Dschungel zu verbringen. Dunkel genug war es schon jetzt, aber in kurzer Zeit würde es so finster sein, dass er vermutlich seine eigenen Füße nicht mehr sehen würde. Er versuchte herauszufinden, was er jetzt noch wahrnehmen konnte. Da war der Baumstumpf, der Stamm, die freie, grasbestandene Fläche rings um den Stumpf, der braune Bodenring, der diese Fläche abgrenzte – und der plötzlich einen Kopf hatte und zu Galur sah und einen Körper bekam, der ebenfalls braun war und sich bewegte – gradlinig auf Galur zu … Der Kopf wiegte sich hin und her. Die vier blauen Augen
fixierten Galur, der verängstigt auf dem Baumstumpf saß und hoffte, dass ihn die Bestie nicht sehen würde. Zu rühren wagte er sich nicht. Vielleicht konnte das braune Wesen nur solche Objekte sehen, die sich bewegten. Es gab solche Tiere, das wusste Galur, aber die Wahrscheinlichkeit war gering, dass auch dieser Schlammwurm dazugehörte. Seit den Ereignissen am frühen Morgen hatte Galur vor Würmern jeglicher Art einen gehörigen Respekt, der mit der Größe des betreffenden Wurmes wuchs – und dieser Wurm war abscheulich groß. Er öffnete das Maul – es war so groß, dass Galur gut darin Platz finden konnte, wenn es dem Schlammwurm einfiel, sein Maul über den Mann zu stülpen. Galurs Gedächtnis suchte aus der Erinnerung eine längst vergessene Information heraus, einen Trivid-Beitrag, in dem es eine vergleichsweise magere Schlange fertigbrachte, eine Beute in einem Stück zu verschlingen, die mehr als viermal so dick war wie die Schlange. Angst überfiel Galur, Angst in ihrer hinterhältigsten und niederträchtigsten Form. Sie lähmte ihn, obwohl gerade diese Lähmung die Gefahr vergrößerte. Galur wusste, dass er etwas tun musste, dass ihm die Zeit fortlief. Wenn er nicht sehr bald etwas unternahm, wurde der kritische Punkt überschritten, dann gab es eine Katastrophe. Und die Angst, die Galur unerbittlich gepackt hatte, die Angst vor dieser verhängnisvollen Terminüberschreitung, lähmte ihn. Der braune Wurm wurde zusehends dicker. Seine Länge konnte Galur in seiner Beklommenheit und wegen der Dunkelheit nicht schätzen, aber ihm war klar, dass sie in jedem Fall ausreichen würde, ihn mehrfach zu umwickeln. Dann konnte ihn der Wurm zerquetschen. Galur spürte, dass er diesem Schicksal nicht mehr entrinnen konnte. Längst war der Zeitpunkt verpasst, an dem er durch rasches Handeln und energischen Einsatz das Blatt noch hätte wenden können.
Galur verharrte in seiner Stellung. Einen normalen Gegner hätte der junge Mann noch um Schonung anflehen können, aber er wusste, dass der Schlammwurm darauf nicht reagieren würde. Inzwischen hatte das Vieh eine Dicke erreicht, die annähernd der von Galurs Oberschenkel entsprach. In dem schwachen Licht, das durch den Filter aus Blättern drang, konnte Galur sehen, dass der Wurm lang genug war, um einen fünffachen Ring um ihn und den Baumstamm zu legen. Langsam beruhigten sich Galurs überreizte Nerven wieder. »Vielleicht gibt es doch noch eine Möglichkeit«, murmelte er so leise, dass man ihn nur einen halben Schritt weit hätte hören können. Galur bewegte sich so langsam, wie es seine angstbebenden Glieder zuließen. Nach einer angsterfüllten Zentitonta stand er aufrecht auf dem Baumstumpf. Gleichzeitig hatte der Wurm seine Kriechgeschwindigkeit erhöht. Seine mörderischen Schlingen umfassten bereits das untere Ende des Baumstumpfs. Galur brach der Schweiß aus allen Poren, als er sah, dass sich die Ringe höher und höher türmten. Mit atemberaubender Geschwindigkeit wickelte sich der Schlammwurm auf. Nach einer halben Zentitonta spürte Galur eine leise Berührung an den Waden. Ring auf Ring schob sich übereinander, erreichte die Hüften, den Magen … Galur schloss die Augen, wartete auf den Druck, auf das Geräusch brechender Knochen, die seine eigenen sein würden. Dann schlug die Falle zusammen …
Galur da Paro schrie gellend, flog durch die Luft, prallte auf einen nachgiebigen Gegenstand und wurde erneut in die Höhe geschnellt. Wieder flog er frei und schrie. Er spürte den Wind auf seinem Gesicht und das wahnwitzige Hämmern seines Herzens. Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, als er endlich wieder Herr seiner Sinne war. Er hatte das Gefühl, als sei jeder
Knochen seines Körpers in Splitter zerlegt. Dass zumindest die oberen Halswirbel intakt sein mussten, zeigte sich, als Galur mit der Hand ein Insekt wegfegte, das sich auf seinem Gesicht niedergelassen hatte. Stöhnend tastete Galur seinen Körper ab. Sehen konnte er in der undurchdringlichen Finsternis nichts, aber es schien nichts gebrochen zu sein. Und langsam begriff Galur da Paro auch, wie er an diesen Ort geraten war. Er hatte stark geschwitzt, erst vor Anstrengung, nachher aus Angst. Ein Teil der Flüssigkeit war durch die Poren des Kunstleders gedrungen; angesichts der Angst, die Galur ausgestanden hatte, war auch genügend Schweiß vorhanden gewesen, um die Oberfläche des Anzugs seifig glatt zu machen. Galur erkannte, was geschehen war. Der Wurm hatte seine Schlingen zugezogen, rasch und energisch. Ihm war das Gleiche widerfahren, was Galur schon einige Male erlebt hatte, als er in einer von Schmutz und Seifenlauge undurchsichtig gewordenen Brühe im Bad gelegen hatte und eine ausdauernde Hatz nach der verloren gegangenen Seife veranstaltet hatte. Wenn man nicht sanft zupackte, glitt die Seife wieder aus den Fingern, manchmal sprang sie senkrecht aus dem Wasser, beschrieb eine Parabel und tauchte dann platschend wieder ins Wasser, wo die Jagd weitergehen konnte. In ähnlicher Weise war Galur aus den Fängen des Schlammwurms geglitten und durch die Luft geschleudert worden. Anschließend musste er auf einer sehr biegsamen Baumkrone gelandet sein, die sich durchgebogen hatte, bis seine kinetische Energie aufgezehrt war. Diese Energie verwandelte sich in den biegsamen Fasern des Baumes, um sich nach dem Stillstand der Bewegung zurückzuverwandeln und Galur erneut in die Höhe zu schleudern. Mit wie vielen Baumwipfeln er auf diese Weise Bekanntschaft gemacht hatte, konnte Galur im Nachhinein nicht schätzen, aber den
Schmerzen nach zu schließen, musste er eine beträchtliche Strecke auf diese Weise zurückgelegt haben. »Heilige Galaxis!«, stöhnte Galur. »Wenn ich das meinen Freunden erzähle … Kein Wort darf ich berichten, sonst werde ich für immer auf Perpandron eingesperrt.« Das Skurrile an seinem Erlebnis reizte Galur zum Lachen, aber er unterdrückte die Heiterkeit. Seine Bauchmuskeln schmerzten derart, dass ein Lachen zur Qual geworden wäre. Irgendetwas kroch langsam über Galurs rechtes Bein. Galur bewegte es ruckartig, das Tier verschwand geräuschvoll im nahen Unterholz. Um Galur war es so finster, dass er nichts sehen konnte, nicht einmal sich selbst. Aber Leben gab es im Dschungel trotz der Finsternis, das konnte Galur überdeutlich hören. Überall knackte und knisterte es, bewegten sich Tiere durch die Finsternis, Flügel knatterten, Insekten summten. Zum ersten Mal in seinem Leben nahm Galur die Geräusche des Lebens in dieser Vielfalt und Konzentration wahr. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Im Dunkeln zu liegen, den vielfältigen Klängen nachzulauschen, den ruhigen, gleichmäßigen Schlag des Herzens zu spüren – Galur begann zu lächeln. Auf eine seltsame Art fühlte er sich ruhig und sicher. Der Boden unter ihm war weich und bequem – und nach kurzer Zeit war der Mann eingeschlafen …
8. Die Maahks bombardierten die arkonidischen Einheiten im Tricoron-Sektor. Nur ein viertel Lichtjahr entfernt bangten arkonidische Kolonisten um ihr Leben. Die Tricoron-Welten, die dem Sektor den Namen verliehen, waren schlecht ausgerüstet. Aus eigener Kraft konnten die Siedler den Angriff der Methans nicht abwehren. Ihre ganze Hoffnung klammerte sich an die VALTRICTON und die anderen Kampfschiffe. Glutbälle zerrissen die Schwärze des Alls. Die Schirmfelder der VALTRICTON überzogen sich mit einem Netzwerk fein verästelter Energieadern. »Höhere Schirmfeldleistung!«, schrie Abagur del Monotos in das Mikrofon. Die Anzeigeinstrumente auf dem abgeschrägten Schaltpult vollführten einen wirren Reigen. Die Skala der Schirmfeldanzeige verschob sich immer mehr in den roten Bereich. »Belastung fünfundneunzig Prozent«, plärrte eine Stimme aus dem Hintergrund. »Warum existiert der Maahk immer noch?« Auf dem Bildschirm der Schiffskommunikation erschien das schweißüberströmte Gesicht des Waffenspezialisten. »Unsere Impulsgeschütze funktionieren nicht mehr.« »Was? Wiederholen Sie das, Chari-Ton-Bol.« Der Arkonide wies auf die Instrumentenanzeige und bestätigte seine Meldung anhand der abgelesenen Daten. »Wir haben doch Raumtorpedos an Bord. Damit können wir die Maahks eine Zeit lang hinhalten.« »Wie lauten Ihre Befehle, Kommandant?« Abagur del Monotos brauchte nicht lange zu überlegen. Er sah, wie sich die Schirmfeldanzeige dem roten Warnpunkt näherte. Ihm blieben höchstens noch ein paar Zentitontas, dann hatten die Maahks sein Raumschiff vernichtet. »Sämtliche Torpedos in die Abschussschächte! Ich wiederhole – sämtliche Torpedos in die Abschussschächte! Konzentriertes Sperrfeuer auf die Maahk-Einheit im Grünsektor!«
Chari-Ton-Bol wollte etwas entgegnen. Doch der Waffenspezialist kam nicht mehr zu Wort. Ein mächtiger Ruck ging durch die Raumschiffszelle. Die Lichter flackerten. Irgendwo schrie ein Mann. Knallend lösten sich Abdeckplatten mehrerer Schaltkonsolen. »Treffer in der unteren Polschleuse!« Warnsirenen gellten durch das Schiff. Deckschleusen schlossen sich automatisch, sofern sie nicht ohnehin angesichts des Verschlusszustands verriegelt waren. »Druckabfall auf Deck Drei!« Aus dem Schacht der Luftumwälzanlage drangen beißende Dämpfe. Ein Kabelstrang schmorte. »Schirmfelder weiter verstärken!«, schrie del Monotos. »Sämtliche Energiesysteme umschalten!« Für ein paar Augenblicke verstummte das Heulen der Warnanlagen. Aus dem untersten Deck wurden die ersten Todesfälle gemeldet. »Sind die Torpedos feuerbereit?« Im Lautsprecher knackte es. Das Knistern überanspruchten Materials war unüberhörbar. Geschah jetzt kein Wunder, war die VALTRICTON verloren. Und mit ihr über vierhundert tapfere Raumsoldaten, die ihrem Kommandanten bedingungslos folgten. Jedenfalls waren sie ihm bis zu diesem Augenblick bedingungslos gefolgt. »Wir sollten den Maahks Verhandlungen anbieten«, wandte sich Urson Macton an den Kommandanten. »Verhandlungen?«, brauste Abagur del Monotos auf. »Die Methans verhandeln nicht. Sie töten uns, wenn wir unsere Schutzschirme abschalten. Die Bestien warten nur darauf, dass wir uns eine Blöße geben.« »Dann bitten Sie die SENTENZA um Hilfe«, stieß Macton hervor. Für Augenblicke schwieg der Kommandant, zog die Augenlider zu Schlitzen zusammen. Auf den Bildschirmen veränderte das maahksche Großkampfschiff die Position, drehte sich um die eigene Achse, sodass die Abstrahlmündungen der schweren Geschütze deutlich sichtbar wurden. »Angriffsformation auf Maahk-Einheit im Gelbsektor!«, schrie
Abagur del Monotos, ohne lange zu überlegen. Die Begleitschiffe der VALTRICTON änderten den Kurs. »Bevor ich die SENTENZA um Hilfe bitte, muss schon ein Wunder geschehen. Ich verbitte mir eine Einmischung dieser Art. Mit Verbrechern paktiere ich nicht.« Macton drehte sich abrupt um, verließ die Zentrale und kehrte zur Funkabteilung zurück, wo er eigentlich seinen Dienst zu versehen hatte. Für einen Augenblick hatte del Monotos einen ungeheuerlichen Verdacht. Er hatte die Wartung sämtlicher Impulsgeschütze persönlich überwacht. Beim Start war alles in Ordnung gewesen. Das Wartungskommando hatte die Justierungskristalle und sämtliche Energiezuleitungen ausgetauscht. Ein Versagen der Geschütze war somit theoretisch undenkbar. Sabotage, schoss es dem Kommandanten durch den Kopf. Man schätzte ihn im Flottenzentralkommando als untadeligen Offizier. Aber man hätte ihn lieber heute als morgen von seinem Kommando entbunden. Es war ein offenes Geheimnis, dass Abagur del Monotos nicht mit den Maßnahmen des Imperators einverstanden war. Del Monotos war ein Anhänger des toten Imperators Gonozal VIII. Er hatte es nur seinen Siegen zu verdanken, dass er noch nicht aus dem Verkehr gezogen worden war. Man wird mich für das Versagen der Impulsgeschütze verantwortlich machen, dachte er. Wenn die Maahks die Tricoron-Planeten vernichten, werde ich dafür büßen müssen. Die nicht funktionierenden Geschütze sind ein willkommener Anlass für meine Gegner, mich politisch und gesellschaftlich unmöglich zu machen. »Die Maahks nehmen uns erneut unter Beschuss«, tönte es aus dem Lautsprecher. Die Stimme des Polbeobachters war äußerst erregt. An Bord des Schweren Kreuzers herrschte eine mörderische Stimmung. Seit das Schiff nicht mehr beschleunigte, wurde sämtliche Energie in die Schutzschirme geleitet. »Wenn sie uns unter Punktbeschuss nehmen, sind wir endgültig erledigt!«, schrie Macton. Der Funkspezialist hatte sich eigenmächtig in das Bordkommunikationsnetz eingeschaltet. Das widersprach der militärischen Ordnung.
»Gehen Sie aus der Leitung, Macton«, rief del Monotos. Jeder an Bord konnte das Gespräch mitverfolgen. »Sie stehen ab sofort unter Arrest.« Heiseres Lachen war die Antwort. Del Monotos wusste, dass ihn jetzt nur noch der Sieg über die Maahks retten konnte. »Raumtorpedos – Feuer frei!« Die Waffentechniker reagierten sofort. Im gleichen Augenblick erzitterte der Zentraleboden. Auf den Bildschirmen erschienen fünfzig winzige, silbern schimmernde Objekte, die mit irrsinniger Geschwindigkeit auf die Maahk-Einheiten zurasten. Der Kommandant hielt den Atem an. Jetzt würde sich das Ringen um den Tricoron-Sektor entscheiden. Aber es geschah überhaupt nichts. Die Torpedos verglühten in den Schutzschirmen der maahkschen Großkampfschiffe. »Das … das ist Sabotage«, keuchte del Monotos. Salziges Augensekret lief ihm über die Wangen. Er schlug donnernd auf die Taste des Interkoms. »Sämtliche Deckoffiziere in die Zentrale!« Plötzlich entstand auf der Panoramagalerie eine Sonne. Die Maahks hatten wieder ein Begleitschiff der VALTRICTON vernichtet. Und dann Erschütterungen. »Treffer im Gelbsektor!« Schwer atmend stützte sich der Kommandant auf die geschwungene Schaltkonsole. Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Jemand hatte die Raumtorpedos entschärft. Aber wer war dafür verantwortlich? Ein Besatzungsmitglied kam schwerlich in Betracht. Oder doch? Aber wer konnte so selbstmörderisch handeln? Der Attentäter musste damit rechnen, dass die Maahks nach dem Start der entschärften Torpedos mit aller Gewalt zuschlugen. Der Verräter wäre genauso wie alle anderen Besatzungsmitglieder in den Impulsgluten umgekommen. Zischend öffnete sich das Zentraleschott. Abagur del Monotos drehte sich um, erstarrte mitten in der Bewegung, denn die flimmernden Abstrahlmündungen von drei Blastern richteten sich auf seinen Kopf. Die Männer trugen geschlossene Druckanzüge. »Toblon … Chari-Ton-Bol, Macton. Was soll das?« »Sie sind die längste Zeit Kommandant gewesen.«
Del Monotos musste schlucken. Die Feststellung seiner Untergebenen war so ungeheuerlich, dass er Augenblicke brauchte, um sie in ihrer ganzen Tragweite zu verkraften. »Noch habe ich das Kommando über die VALTRICTON. Waffen runter, oder ich stelle euch vor ein Kriegsgericht.« Die drei Bewaffneten lachten hämisch. »Ihr habt die Impulsgeschütze sabotiert …« »Den Kampf erledigt jemand anders für uns.« Funkspezialist Macton grinste. »Sehen Sie auf den Bildschirm, del Monotos.« In genau diesem Augenblick zerrissen Flammenspeere die Schwärze des Alls. Machtvolle Impulsstrahlen näherten sich mit annähernd Lichtgeschwindigkeit den Maahk-Raumschiffen, trafen auf die gegnerischen Schutzschirme und durchschlugen sie. Alles ging so schnell, dass del Monotos kaum zum Luftholen kam. Augenblicke später trieben die nachglühenden Trümmerfragmente der maahkschen Großkampfschiffe durchs All. »Wir haben Verstärkung bekommen«, stieß Abagur del Monotos hervor. »Irrtum, mein Lieber«, sagte Macton. »Ich habe die SENTENZA um Hilfe gebeten, weil Sie unfähig sind, ein Raumschiff zu führen. Wie ich vorhin schon sagte … Sie sind die längste Zeit Kommandant der VALTRICTON gewesen. Sie werden diesen Platz einer fähigeren Persönlichkeit überlassen. Sie haben ausgespielt, del Monotos.« Die drei Blastermündungen funkelten den Kommandanten tückisch wie Voger-Augen an. Unter den transparenten Scheiben der Druckanzüge beobachteten ihn drei Augenpaare. Während das Schiff der SENTENZA Kurs auf die VALTRICTON nahm, vollzog sich in der Zentrale des Schweren Kreuzers der letzte Akt des Dramas … Arkon I: 26. Prago des Tedar 10.499 da Ark »Nein!« Die Stimme gehörte einer jungen Frau. Die Gestalten der drei Verräter verzerrten sich. Geisterhafte Nebel verdrängten die
Vision. Es war der Schleier der Zeit, der die Zusammenhänge undeutlich werden ließ. Die Figuren wurden durchsichtig und lösten sich langsam auf. Sie bewegten sich noch, aber ihre Bewegungen wurden immer langsamer, bis sie plötzlich erstarrten. »Nein … Vater! Nein … du darfst nicht sterben!« Die junge Frau wälzte sich unruhig hin und her. Als sie gegen die Konsole stieß, wurde sie schlagartig wach. Ich habe wieder geträumt, dachte sie schwer atmend. Es ist immer wieder derselbe Traum. Wie oft werde ich das noch erleben müssen? Ihr Blick war verschleiert. Aber es waren keine Tränen, die den Blick trübten. Es war vielmehr ein Schleier, der wie ein Geheimnis über dem Geschehen lag. Über die Decke des runden Zimmers geisterten beruhigende Schemen. Die Illusionsmaschine diente normalerweise dazu, eine besonders anheimelnde Atmosphäre zu schaffen. Sie hatte tagelang nicht schlafen können, fürchtete sich vor dem Einschlafen. Sie hatte Angst, dass jene Albträume wiederkommen könnten, die sie an den Tod ihres geliebten Vaters erinnern würden – zumal sich nach seinem gewaltsamen Tod auch ihre Mutter Cleria selbst umgebracht hatte. Kurz entschlossen stand die Frau auf, tippte eine kurze Symbolkette in die Positronik. Wenig später öffnete sich neben der pneumatischen Liege eine kleine Klappe. Auf dem Kunststofftablett stand ein Glas mit einer köstlichen Erfrischung. Sie kam sich wie ausgedörrt vor. Ihr Hals war trocken und schmerzte. Gierig griff sie nach dem Glas, dessen Ränder beschlagen waren. Prickelnd zerplatzten kleine Luftbläschen an der Oberfläche. Vergiss deinen Plan nicht, Sarissa. In einer halben Tonta trifft sich der neue Kommandant der VALTRICTON mit den Bordoffizieren. Sarissa del Monotos handelte unter einem inneren Zwang, schob das leere Glas in den Abfallbehälter und öffnete die
Wandschranktür. Vor ihr lag ein kleiner Nadler. Die Spezialmunition hatte sie sich auf dem schwarzen Markt besorgt. Sie dachte: Ich werde dich nicht enttäuschen. Es kommt nicht darauf an, dass du mich zufrieden stellst, meldete sich der Fremde in ihrem Innersten. Wichtig ist einzig und allein, dass du deine persönliche Rache vollziehst. Sarissa schob das Magazin mit den kleinen Geschossen in den Griff des Nadlers. Sie enthielten ein Nervengift, das in seiner Perfektion nicht zu übertreffen war. Der Wirkstoff lähmte sein Opfer ähnlich wie ein Paralysatortreffer. Doch das war auch das Einzige, was ihn mit der Wirkungsweise einer Energiewaffe vergleichen ließ. Paralysetreffer lähmten das Opfer nur zeitlich befristet. Dieses Nervengift leitete dagegen eine organische Kettenreaktion ein. Das Opfer musste völlig handlungsunfähig und bei vollem Bewusstsein miterleben, wie es sich körperlich zersetzte. Sarissa empfand für einen Augenblick Skrupel. Das Töten war ihr zuwider. Es gab Augenblicke, in denen solche Gefühle überwogen. Dann kamen die Albträume und erinnerten sie an das Ende ihres Vaters. Die Verräter der VALTRICTON hatten ihn auf dem Gewissen. Bis jetzt hatte sie an sechs Männern die Rache vollzogen. Vier weitere waren schwer verletzt mit dem Leben davongekommen, lagen noch immer im Koma. Zehn von knapp neunzig Besatzungsmitgliedern, die sie töten wollte. Der Fremde in ihrem Innersten löschte sämtliche Bedenken aus. Der Tod ist für viele eine Erlösung! Ja, das ist die Philosophie des Fremden. Sarissa hatte sich oft gefragt, ob sie nicht unter Halluzinationen litt. Ob ihr das Unterbewusstsein Handlungen diktierte, die sie normalerweise strikt abgelehnt hätte. Aber sie fühlte sich weder krank noch verrückt. Vielleicht entschuldige ich die Morde mit diesem imaginären Fremden in meinem Bewusstsein?
Nein – du bist so normal wie jede andere Arkonidin auch. Die Impulse des unheimlichen Fremden wurden stärker und drängender. Sie wollte sich dagegen wehren, doch sie gab ihren geistigen Widerstand schnell wieder auf. Der Albtraum vom Ende ihres Vaters hatte ihre ganze Kraft verbraucht. Ich existiere wirklich. Zwar anders, als du es dir jemals vorstellen kannst – aber ich existiere. Du darfst dich glücklich schätzen, dass ich dich an meiner Erfahrung teilhaben lasse. Ich stifte dich nicht zum Töten an. Das wäre vermessen. Aber ich gebe dir so etwas wie Unterricht … »Unterricht zum Töten!«, schrie Sarissa unbeherrscht. So könnte man es nennen. Sarissa hatte erneut das Gefühl, dieser Fremde sei ein Teil ihrer selbst. Sie konnte sich gegen seine Anwesenheit genauso wenig wehren, wie man sich gegen seine eigenen Gedanken wehren konnte. Ich habe nur das aktiviert und ausgebildet, was längst in dir steckte. Du hättest auch ohne mich versucht, die Besatzung der VALTRICTON auszulöschen. Doch ohne mich wärst du nicht so schnell so erfolgreich gewesen. Warum bist du dann überhaupt in mir?, formulierte Sarissa mühsam beherrscht ihre Gedankenfrage an den Fremden. Bist du ein Gott oder ein Dämon? In ihrem Innersten war lautes Lachen. Sie presste beide Hände gegen die Schläfen. »Hör auf – ich bitte dich, hör endlich auf.« Das Lachen verstummte. Aber Sarissa wusste, dass der Fremde in ihrem Bewusstsein steckte und jede ihrer Gefühlsregungen registrierte. Nein, ich bin weder Gott noch Dämon. Man bezeichnete mich vor Äonen zwar so, aber ich bin keins von beiden. Weshalb quälst du mich dann? Warum hast du mich ausgesucht? Du bist mein Testfall.
Nedo Teclon hatte nach Abagur del Monotos’ Tod das Kommando über die VALTRICTON übernommen. Er war noch jung, die Neigung zur Fettleibigkeit unverkennbar. Es war kaum zu übersehen, dass er unter seiner Raumfahrerkombination ein Korsett trug. Teclon wollte sich zur elften Tonta mit seinen Bordoffizieren in der Bestiarium-Halle des Parliin-Turms treffen. Sarissa konnte sich vorstellen, was die Männer dort zu besprechen hatten. Die Todesfälle hatten sie natürlich aufgeschreckt. Teclon hatte den Urlaub sämtlicher Besatzungsmitglieder mit sofortiger Wirkung aufgehoben. Ob er Verdacht geschöpft hat? Sarissa hatte die Rotfärbung ihrer schulterlangen Haare wieder entfernt. Jetzt verbarg sie ihre Haarfülle unter einer silbernen Kappe. Ihre Schminke verlieh ihr ganz andere Gesichtszüge. Selbst wenn ihr jetzt ein Bekannter begegnet wäre, hätte er sie nicht wiedererkannt. Aus den Antigravschächten kamen zahlreiche Besucher. Vielstimmiges Gemurmel erfüllte den weitläufigen Kuppelsaal, über dem ein achthundert Meter hoher Turm emporragte. Die Spitze verschwand in der stählernen Bläue des Himmels über Morararg. »Identitätskontrolle«, schnarrte die Stimme eines Wachroboters. »Halten Sie Ihre ID-Karten bereit. Bitte geben Sie auf alle Fragen Antwort. Bitte halten Sie Ihre ID-Karten bereit!« Sarissa spürte, wie ihre Augendrüsen verstärkt Sekret erzeugten. Sie wurde nervös, doch die Anwesenheit des Fremden beruhigte sie rasch wieder. Teclon verschwand gerade in einem aufwärts gepolten Antigravschacht. Es war offensichtlich, dass sich der Arkonide in der hektischen Betriebsamkeit des Parliin-Turms am sichersten fühlte. Der Besucherstrom riss nicht ab. Auf den Aussichtsterrassen gab es
genügend Wachroboter, die bei Zwischenfällen sofort eingreifen würden. Sarissa war unentschlossen, die Kontrollroboter machten sie nervös. »Keine Beunruhigung. Die Kontrolle erfolgt rein routinemäßig.« Sarissa wusste, dass das nicht stimmte, kannte den Grund für die Robotkontrolle. Sie überlegte, ob sie sich jetzt nicht sofort nach draußen absetzen sollte. Die Roboter verteilten sich bereits im Raum. Ihre dunkel brünierten Körper reflektierten das Licht der Deckenstrahler. Nein, das würde auffallen, erkannte Sarissa. Mehrere Roboter hielten die Ein- und Ausgänge im Beobachtungsbereich ihrer Optiken. Ihr Gleiter befand sich in einer langen Warteschlange. Es hätte ein paar Zentitontas gedauert, bis sie die Startfreigabe erhalten hätte. Die Zeit hätte den Robotern für eine ausführliche Personenkontrolle genügt. »Ihre ID-Karte bitte.« Ein Roboter hatte ein älteres Paar erreicht. Die beiden standen unmittelbar vor Sarissa. »Was ist passiert?«, fragte der alte Arkonide, als er seine ID-Karte in die Positronik des Roboters schob. »Routinemäßige Personenkontrolle«, schnarrte der Roboter lakonisch und wandte sich Sarissa zu. Sie spürte plötzlich ein höllisches Brennen unter ihrer rechten Achsel. Dort hatte sie den schmalen Nadler unter einem Abschirmpflaster verborgen. Bei den üblichen Maßnahmen einer Routinekontrolle würde die Waffe unentdeckt bleiben. Das Abschirmpflaster simulierte ganz normale Hautpartien. Die Tasterechos des Roboters wurden von der versteckten Waffe abgelenkt. »Ihre ID-Karte bitte.« Wenn sie etwas merken, durchzuckte es Sarissa, geben sie sich mit der Personenkontrolle nicht zufrieden. Man wird ausführlichere Auskünfte über die Zentralpositronik einholen. Dort existiert die Akte meiner Familie. Für einen geübten Kriminalisten dürfte es nicht schwer sein, die Mordserie mit mir und dem Tod meines Vaters in
Verbindung zu bringen. »Ihre ID-Karte bitte«, wiederholte der Roboter die Aufforderung. Hastig zog Sarissa die dünne Kunststoffplatte, sah sich langsam um. Der Besucherstrom bewegte sich langsam auf die Antigravschächte zu. »Carmygna Calvaro?« »Ja«, antwortete Sarissa beherrscht. Sie wusste, dass die ID-Karte einer jungen Tänzerin gehört hatte. Carmygna Calvaro hatte Ärger mit der SENTENZA bekommen. In der Hoffnung, mit den Gästen des Belcantro eigene Geschäfte abschließen zu können, hatte sie einen schwunghaften Handel mit Seelentröstern organisiert. Die Quittung für ihr eigenmächtiges Vorgehen hatte sie in Form einer Sprengkapsel erhalten. Ihr Gleiter war mitten über einer abgelegenen Parklandschaft desintegriert worden. Offiziell existierte Carmygna Calvaro noch. Die ID-Karte, deren eingeprägtes Individualschwingungsmuster bis auf geringe Abweichungen mit dem von Sarissa übereinstimmte, stammte aus Zarcov Ma-Anlaans Tresor. »Ich danke Ihnen. Sie können passieren.« Der Roboter gab Sarissa die kleine ID-Karte zurück. Die junge Arkonidin atmete erleichtert auf und ging schnurstracks zu einem der aufwärts gepolten Antigravschächte hinüber.
Das Schreien der eingekerkerten Bestien war nicht zu hören. »Gefallen Ihnen die Tiere?« Der geschminkte Impresario verneigte sich vor Sarissa. Mit einer galanten Geste deutete er auf die Wand mit den Käfigen. Die einzelnen Abteile waren etwa fünfzehn Quadratmeter groß und enthielten eine vollautomatisch geregelte Ökologie, die genau der Natur des Heimatplaneten der eingesperrten Bestien entsprach. »Ich habe die Fangexpedition selbst geleitet«, prahlte der schlanke Arkonide, dessen Wangen mit Goldstaub gepudert waren. Die
langen Wimpern schimmerten metallisch. Er trug die gefleckte Kombination eines Tierfangexperten. »Das ist ein Plasma-Tornodo. Ein besonders seltenes Exemplar von Forynth. Ich verlor zwei meiner besten Männer bei der Jagd.« Sarissa lächelte interessiert, betrachtete das unförmige, quallenähnliche Tier, das hinter einer dicken Panzerplastscheibe kauerte. Der Körper war mit einer dicken Haut überzogen. An seiner Unterseite scharrten Greifklauen im Boden. Ein tückisch leuchtender Augenring umspannte die Kopfzone. »Ganz eindrucksvoll. Haben Sie diese Tiere wirklich selbst gefangen?« Der Impresario fühlte sich geschmeichelt, warf sich demonstrativ in die Brust. Mittels eines kleinen Duftzerstäubers verbreitete er exotische Wohlgerüche. »Man muss ausdauernd und mutig sein, um solche seltenen Exemplare nach Arkon zu bringen …« Sarissa ließ das Geschwätz des Mannes geduldig über sich ergehen, musterte äußerlich interessiert die bizarren Kreaturen und ließ den Blick über die angrenzenden Besucherterrassen schweifen. Dort hockten Nedo Teclon und acht Orbtonen beisammen, ließen sich von Robotern mit Erfrischungsgetränken versorgen. Von ihren Sitzplätzen aus hatten sie einen ausgezeichneten Blick auf die viele hundert Meter unter ihnen liegende Parklandschaft. Sarissa fragte sich, ob diese Männer den wunderbaren Ausblick tatsächlich genießen konnten. Sie benahmen sich äußerst merkwürdig. Teclon nestelte an seinem Blaster. Ein anderer Mann machte mit dem Daumen die Geste des Halsabschneidens. »Der Voger-Abkömmling ist besonders gefährlich.« Der Impresario deutete auf einen breiten Käfig. Im Abteil lief ein vier Meter langes Raubtier hin und her. Sein Fell war pechschwarz. Zwei grünlich funkelnde Augen starrten die Besucher gierig an. Der lange Schweif peitschte rhythmisch auf
den Boden. Sarissa kannte das Tier. Es unterschied sich von seinen zahmen Artgenossen, die fast jeden arkonidischen Haushalt bevölkerten, hauptsächlich durch seine Größe und die achtzehigen Krallen. Zwischen den Krallen lagen Giftdrüsen, die jeden Prankenschlag tödlich enden ließen. Es gab kein Medikament, das eine solche Verletzung auskurieren konnte. »Füttern Sie den Voger persönlich?« Der Impresario schüttelte den Kopf. »Das überlassen wir lieber unserer Robotik. Sehen Sie her. Im Käfig der Karz-Riesenschlange ist es gerade so weit.« Sarissa erblickte an der Decke des Käfigabteils eine Klappe, die sich beiseiteschob. Mehrere schleimige Brocken fielen heraus, dann schloss sich das Loch wieder. Im gleichen Augenblick erfüllte eine mächtige Staubwolke den Käfig. Die zehn Meter lange Schlange schnellte ihren schlanken Körper aus dem Sand hoch und packte blitzschnell einen Nahrungsbrocken. Als sich die Staubwolken wieder gelegt hatten, war die Schlange verschwunden. Sie lag unter den erwärmten Sandmassen. »Kein sehr freundliches Exemplar«, stellte Sarissa fest. »Ich möchte nicht erleben, dass es sich aus dem Käfig befreit.« »Das ist vollkommen unmöglich. Ich kann Sie wirklich beruhigen. Bisher konnte noch kein einziges Tier entkommen. Sogar der Plasma-Tornodo schaffte es nicht, die Panzerplastscheiben zu durchschmelzen.« »Zu durchschmelzen?« Sarissa stellte sich absichtlich unwissend. »Ja … der Tornodo hat ein Körpersekret, mit dem er sogar Stahlplatten zersetzen kann. Seine Körperflüssigkeiten lösen natürlich auch jeden arkonidischen Körper blitzschnell auf. Das erledigt er sozusagen im Handumdrehen.« Der Impresario wusste, dass sich die Besucher gern gruselten. Deshalb erfand
er auch immer wieder neue Geschichten über seine Tiere, die er hier oben in der Bestiarium-Halle des Parliin-Turms zur Schau stellte. »Sie kommen also selbst nicht mehr mit den Tieren in Kontakt.« »Stimmt genau.« »Und wenn ein technischer Defekt die Nahrungsmittelversorgung unterbricht?« »Dann haben wir immer noch die Notschaltung, die für einen Zeitraum von drei Pragos einsatzfähig ist. Sie sehen also, wir haben an alles gedacht.« Sarissa wurde langsam ungeduldig. Sie sah, wie Nedo Teclon aufstand, konnte aber unmöglich den Nadler ziehen und den Mann vor aller Augen töten. Sie wäre nicht weit gekommen. »Ich glaube Ihnen nicht, dass bisher alles reibungslos abgelaufen sein soll.« Der Impresario runzelte die Stirn, fühlte sich in seiner Ehre gekränkt. Wenn er seinen Besuchern den Anblick seltener Tiergattungen bot und dazu immer die passenden Geschichten parat hatte, erwartete er mehr Respekt. »Sie sind nur schwer zufriedenzustellen.« Sarissa lächelte hochmütig. »Da könnten Sie recht haben. Ich gebe mich nicht mit dem Gewöhnlichen zufrieden. Ich möchte alles über diese Anlage wissen.« Der Mann holte tief Luft, deutete auf eine schmale Tastatur neben den Sichtscheiben. Eine Lichterkette zeigte die Funktionsbereitschaft der Anlage an. »Sollte wider Erwarten einmal die Panzerplastabschirmung brüchig werden, treten Strahlungsfronten in Aktion. Kein Tier käme lebend über den Käfigrand hinaus.« »Und wenn man die Sicherungen abschaltet?« Er holte tief Luft. »Sie sind sehr hartnäckig! Fast könnte man meinen, Sie verfolgten eine ganz bestimmte Absicht. Aber
meine Aufgabe ist es, die Besucher in jeder Hinsicht zufriedenzustellen. Kommen Sie her.« Sarissa machte einen Schritt auf den Mann zu, spürte seinen parfümierten Atem. »Hier … damit schaltet man die Sicherheitsanlagen ab.« Sarissa hatte erreicht, was sie wollte, konnte die komplizierten Anlagen mit einem Daumendruck desaktivieren. Der Impresario schien ihre Heiterkeit nicht recht deuten zu können, machte ein ratloses Gesicht. »Eigentlich hätte ich Ihnen das gar nicht verraten dürfen …« »Machen Sie sich keine Gedanken darüber.« Sarissa legte ihm die Rechte auf die Schulter. Der Mann wollte ihr ausweichen, aber seine Abwehrreaktion kam viel zu spät. Sarissa packte blitzschnell zu, lähmte mit einem Dagor-Griff das Nervensystem des Arkoniden. Der Körper des Mannes fiel schwer zu Boden.
Als sich die Panzerplastscheibe in Zeitlupe nach oben bewegte, drang das heisere Brüllen des Voger-Abkömmlings nach draußen. Der Gang erbebte unter den Urlauten der hungrigen Raubkatze. »Nedo Teclon!« Augenblicke verharrte der Voger unentschlossen. Die Stimme der jungen Arkonidin irritierte das Tier. »Der Augenblick meiner Rache ist gekommen. Sieh mich an!« Sarissa del Monotos stand hinter einer schmalen Gangabschirmung, hielt den Nadler in der Rechten. Ihre Augen glühten in einem unheimlichen Feuer. Nur zwanzig Meter entfernt sprangen die Orbtonen auf, einer stieß einen Bedienungsroboter beiseite, ein anderer fingerte nach seinem Blaster. Jetzt machte der Voger einen Riesensatz, landete im Gang zwischen Sarissa und Teclon. Der Zugang zur Aussichtsterrasse stand offen. Das Tier kümmerte sich
überhaupt nicht um die junge Arkonidin, schien instinktiv erkannt zu haben, dass die Gangabschirmung undurchdringlich war. »Wer sind Sie? Was wollen Sie von uns? Drücken Sie sofort die Alarmtaste – das Vieh wird uns zerfleischen!« Statt einer Antwort öffnete Sarissa den zweiten Käfig. Vor dem Plasma-Tornodo schob sich die Panzerplastscheibe hoch. Das Tier presste sich ungeduldig in die Lücke, veränderte seinen Körper und drang elastisch durch die bereits entstandene Öffnung. Aus seinem runden Quallenkörper ruckten dünne, insektenhaft anmutende Sprungbeine. Bei jeder Bewegung hinterließ der Tornodo dampfende Schmelzflecke auf dem Bodenbelag des Ganges. »Warum lassen Sie die Tiere frei?« »Weil ich euch den Tod geschworen habe.« Der Voger sprang noch einmal und landete genau zwischen den entsetzt aufschreienden Arkoniden, riss zwei Männer zu Boden. Ihr Stöhnen ging im Knurren des Riesenvogers unter. Teclon brachte sich durch einen Sprung hinter die Polster in Sicherheit. Ein Bedienungsroboter rettete ihm vorerst das Leben. Die Hornkrallen des Vogers schrammten über den Metallkörper und hinterließen eine feucht glänzende Giftspur. »Sie kommen hier nicht mehr lebend raus!«, schrie Teclon panikerfüllt. Sarissa quittierte den Ausruf mit einem höhnischen Lachen. »Ich werde euer Ende miterleben. Daran kann mich keiner mehr hindern.« »Nein … die Wachroboter werden die Aussichtsterrasse abriegeln. Sie sterben mit uns.« Solange Sarissa hinter der Gangabschirmung stand, konnte ihr nichts passieren. Es sei denn, Teclon konnte den Blaster erreichen, der wenige Meter neben ihm auf dem Boden lag. Er hatte die Waffe durch seinen Sprung verloren. »Was haben Sie davon?«
Er wollte die Frau von sich ablenken. »Ich räche mich an euch elenden Schurken.« »Ich kenne Sie nicht.« Teclon musste blitzschnell den Standort wechseln. Der Riesenvoger wandte sich ihm erneut zu. »Das mag sein, Teclon. Sie kennen mich nicht, weil ich eine Maske trage. Aber meinen Namen kennen Sie dafür um so besser.« Er machte einen Satz nach rechts, versetzte einem Polster einen Stoß mit beiden Füßen. Das weiche Rollenpolster landete genau vor dem Voger und hinderte ihn am Sprung. Teclon fixierte den am Boden liegenden Blaster und griff zu. Ohne zu zielen, drückte er ab. Der Glutstrahl schmolz sich durch das Polster und erwischte den Voger am Rücken. Das Tier schnellte brüllend hoch und schlug mit den Tatzen nach seinem Gegner. Bevor Teclon den Voger endgültig töten konnte, war der Plasma-Tornodo heran. Ein verletzter Begleiter Teclons verlor die Nerven, sah, wie sich der Tornodo aufrichtete. Der mächtige, von lederhäutigen Wülsten umgebene Körper stand inmitten einer Dampfwolke, die von den Bodenverätzungen herrührte. »Nein … das Biest darf uns nicht zersetzen.« »Aus der Schusslinie!«, schrie Teclon unbeherrscht. Der Glutstrahl streifte den Arkoniden und traf den Tornodo, tötete ihn jedoch nicht. Durch die Verletzung zu noch größerer Wut angestachelt, schwang sich das Tier auf Teclon. »Das dürfen Sie nicht zulassen!« Sarissa blieb erbarmungslos. »Als mein Vater um Gnade bettelte, habt ihr kaltschnäuzig abgedrückt. Sie dürfen von mir nichts anderes erwarten.« Der Arkonide konnte den Tornodo noch einmal abschütteln. In seiner Panik rannte er auf die Panoramafensterfront zu, wollte sich in die Tiefe stürzen, denn er kannte die grauenhafte Wirkung der Tornodo-Sekrete.
Schreiend trommelte er mit den Fäusten gegen das glasähnliche Material. Doch die transparente Fläche bog sich unter seinen Schlägen nicht einmal durch. »Ich wusste, dass Sie als Feigling sterben würden, Teclon.« Sarissa löste mit der Linken den Druckknopf ihrer Kombination. Ein zierlicher Medaillonanhänger fiel heraus, im Licht der Deckenbeleuchtung schimmerte ein rechteckiger, kaum daumengroßer Gegenstand. Er war glatt poliert, die Kanten abgerundet, und hatte zwei magnetstabilisierte Öffnungen. Als Teclon den winzigen Gegenstand erblickte, schrie er entsetzt auf. »Sarissa del Monotos … die Tochter des alten Kommandanten der VALTRICTON.« Er wusste jetzt, wer die Mörderin war und was sie zu ihrem wahnwitzigen Treiben angestachelt hatte. Die junge Frau wollte ihren Vater rächen. An ihrer Medaillonkette hing der Universalkodeschlüssel der VALTRICTON. Nur ein Raumschiffskommandant hatte ein solches Exemplar. Damit ließen sich sämtliche Sperren einoder ausschalten. »Sarissa … Sie sind die Mörderin. Das … das ist doch Wahnsinn. Wie können Sie sich nur dazu hinreißen lassen?« Sarissa zielte auf den Tornodo, der sich gerade über einen toten Raumsoldaten hinwegwälzte. Er sollte Teclon nicht sofort erledigen. Sie wollte erst sichergehen, dass der Arkonide dieselben Todesqualen ausstand, die ihr Vater erlitten hatte. Jetzt tötete der Voger zwei andere Offiziere. Teclon verfolgte das Treiben mit tränenden Augen, stand mit dem Rücken an der Panoramascheibe. Links von ihm wütete der Plasma-Tornodo. Nur noch ein paar Augenblicke, dann würde ihn das Tier anspringen. »Sarissa! Ich beschwöre Sie …« Teclon sah noch einmal das Aufblitzen des Universalkodeschlüssels, den Sarissa um den Hals trug, dann wurde es dunkel um ihn. Er nahm den Anblick
des Schlüssels mit in die Ewigkeit. Der Plasma-Tornodo riss ihn kraftvoll zu Boden, schien seine Rückenwunde überhaupt nicht wahrzunehmen, bohrte die dornenbewehrten Sprungbeine tief in das Fleisch des Arkoniden. Dann begann die Säure zu wirken. Und mit Teclon starben auch die anderen Arkoniden, die ihn begleitet hatten. Das Treffen im Parliin-Turm hatte sich als Weg in den Tod erwiesen. Auch der Tierimpresario überstand das Inferno nicht. Als die Alarmsirenen aufheulten, sprang Sarissa in den nächstbesten Antigravschacht. Ihre raffinierte Maske erleichterte ihr die Flucht. Selbst wenn später die Daten der Überwachungskameras überprüft wurden, wäre Sarissas Identität verborgen geblieben. Lebende Zeugen des Vorfalls gab es nicht, die Toten würden für immer schweigen. Das jedenfalls nahm der Unheimliche in Sarissa an. Er war mit seiner Schülerin zufrieden.
9. Aus: Klinsanthor, der Magnortöter – Klinsanthor-Epos von Klerakones (hier: Kurzfassung); Gos’Ranton/Arkon I, Kristallpalast, Archiv der Hallen der Geschichte, Katalognummer A:224.225/236 – Entstehungszeit um 2100 da Ark auf Hiaroon … und das Volk von Arkon erhob sich gegen die, die es in seiner Freiheit unterdrückten. So, wie das wilde Xarph sich nach der Entwöhnung selbst gegen die Mutter stellt und kämpft, bäumte Arkon sich gegen Bevormundung und Unfreiheit auf. Aber der Krieg dauerte lange, und die Opfer waren schwer. Das junge Arkon bemühte sich, die Fesseln seiner Kindheit abzustreifen, aber die Ketten wurden immer schwerer. Als die Kraft der Arkoniden fast erloschen war, richtete das Volk sich ein letztes Mal auf und schrie nach Hilfe. Der Ruf fand Gehör. Ein gewaltiger Sturm erhob sich zwischen den Welten und zerbrach die Bande. Klinsanthor in seiner unfassbaren, unschaubaren Gestalt warf seinen Schatten über die, die im Unrecht waren, und sie wichen angstvoll zurück. Die Vernichtung folgte ihnen und trieb sie vor sich her, und Klinsanthors Schlachtruf klang schauerlich zwischen den Sonnen und brachte die Kristallobelisken von Arbaraith zum Klingen. Als die Feinde, geschlagen und von Furcht erfüllt, in ein Versteck zurückwichen, aus dem es für sie kein Entkommen mehr geben würde, jubelte das Volk von Arkon laut. Von Freude und Dankbarkeit erfüllt, eilte es dem Magnortöter entgegen. Aber Klinsanthor wandte sein Gesicht von ihnen und eilte zurück in die Skärgoth, seine Unweit, und ein Teil seines Schattens überzog die, die ihm danken wollten. Wen der Schatten berührt hatte, der welkte dahin wie eine Blume. Unzählige starben, und das Volk der Arkoniden erstarrte in Furcht und Trauer, bis der mächtige Klinsanthor in die Ruhe der Grüfte zurückgekehrt war. Dann erst
verlor auch der Schatten seine Macht … Arkon I: 26. Prago des Tedar 10.499 da Ark Die Goltein-Schüler verneigten sich ehrerbietig vor dem Mittler. Der Raum war schmucklos und nüchtern. Auf der einen Seite befand sich eine dreidimensionale Projektion des Planeten Perpandron, auf der anderen Seite ragte ein Schaltpult aus der Wand, über dem sich ein breiter Bildschirm wölbte. Kars Parghir diskutierte mit seinen Schülern die ersten praktischen Erfahrungen mit ihren Patienten, machte sich ständig Notizen. Einige der Patienten würde er selbst zu Ende behandeln, weil die Schüler überfordert waren. »Und wie sind Sie mit Ihrer Behandlung vorangekommen, Solthoron?« Der Mittler blickte den Schüler erwartungsvoll an. Die Symbole auf seinem haarlosen Schädel schimmerten im Licht. Parghir raffte den weiten Ärmel seiner gelben Robe etwas zusammen. »Ich konnte die erste Behandlungsphase abschließen«, begann Solthoron seinen Bericht. »Mein Patient leidet unter geschäftlichen Einbußen, hat nicht mehr genügend psychische Widerstandskraft, um das Problem selbst zu lösen. Er ist hinterhältig, egoistisch und brutal. Bisher hat er alle Probleme von seinen Untergebenen lösen lassen. Jetzt ist er durch äußere Einflüsse in die Lage gekommen, seine Schwierigkeiten entweder selbst zu meistern oder unterzugehen. Der Patient wurde durch die rätselhafte Mordserie unmittelbar betroffen …« »Das gehört nicht zur Sache. Wie oft soll ich Ihnen noch erklären, dass der gesellschaftliche Hintergrund für die Goltein-Behandlung überhaupt keine Rolle spielt. Anscheinend haben die strengen Exerzitien und Meditationsübungen nicht den gewünschten Erfolg gehabt. Sie
sind neugierig.« »Das stimmt nicht.« Im Raum herrschte unvermittelt eisiges Schweigen. Die Schüler wagten kaum zu atmen. Solthoron hatte gegen die grundlegende Regel verstoßen: Er hatte dem Mittler widersprochen. »Ich streite mich nicht mit Ihnen herum, Solthoron. Wenn Sie Ihre Eigenarten nicht bald ablegen, ist Ihre Karriere als Goltein-Heiler beendet, bevor sie überhaupt erst beginnen konnte. Ich brauche Ihnen wohl nicht noch einmal zu erklären, dass die Einmischung in die privaten Belange unserer Patienten unnötig ist. Das Ritual der Alten und die strengen Meditationsübungen verliehen uns die Gabe, direkt Kontakt mit den Seelen unserer Anvertrauten aufzunehmen. Wir versenken uns in die krankhaften Bereiche der Patienten und übernehmen die quälenden Bewusstseinsanteile. Wir müssen stark genug sein, um diese Belastung aushalten zu können. Die negativen Bewusstseinsanteile werden euch bis an den Rand eurer Belastbarkeit bringen. Ihr werdet unbeschreibliche innere Kämpfe austragen. Wer sich dem nicht gewachsen fühlt, soll so ehrlich sein und seine Schwäche zugeben. Später ist es dafür zu spät …« Das Summen des Visifons unterbrach Parghirs Redefluss. Der Mittler drehte sich um und ging zum Schaltpult, drückte ungehalten die Sprechtaste. Parghir fühlte sich gestört, gab seinen Ärger deutlich zu erkennen. »Ja, bitte?« »Dringende Hyperfunkmeldung aus dem Teifconth-System …« Parghir schwang den Schalensessel aus der Wandmulde und setzte sich vor den Bildschirm. Er hatte schon länger auf ein Gespräch mit den Kollegen von Perpandron gewartet. Bald würden Goltein-Schüler ins Teifconth-System starten; es war unerlässlich, vorher einige wichtige Dinge zu klären.
»Verbindung wird hergestellt, Verschlüsselung ist aktiv.« Auf dem Bildschirm erschienen verwirrende Farbenspiele. Der Lautsprecher übertrug klirrende Geräusche. Schließlich stabilisierte sich das Bild. Ein Goltein-Heiler erschien in Lebensgröße auf dem Bildschirm. Seine Robe war blau, die Symbole auf seinem Schädel waren deutlich zu erkennen. »Ich grüße den Ehrwürdigen Scoopar«, sagte Kars Parghir. »Ich grüße den Ehrwürdigen Mittler Kars Parghir und seine Schüler. Unsere Seelen sind viele tausend Lichtjahre voneinander getrennt, doch das eherne Gesetz von Perpandron hat uns zu einer festen Einheit zusammengeschmiedet. Zeit und Raum können uns nicht trennen. Das Erbe der Weisen besteht in uns fort. Ich verneige mich vor euch.« Scoopar verneigte sich. Damit war seine Höflichkeitsübung beendet. Das Ritual der Goltein-Heiler verlangte es. »Scoopar?« »Uns wurde durch Vermittlung der Totenpriesterinnen von Hocatarr ein Patient zugeführt …« »Das dürfte nicht das eigentliche Problem sein«, drängte Parghir zum Kern des Hyperfunk-Anrufs. »Ist es auch nicht. Der Patient spricht auf unsere Behandlungsmethode nicht an.« »Was? Das gibt es nicht. Jeder Arkonide kann von uns behandelt werden.« Jetzt veränderte sich die Bildschirmeinstellung, brachte einen hageren Arkoniden ins Bild. Der Fremde stand etwas abseits. Zwei Goltein-Heiler waren bei ihm. Alle Zuschauer erkannten, dass der Mann eine gewisse Würde ausstrahlte. »Das ist der Patient.« Scoopar deutete auf den Mann. »Er kann nicht sprechen. Er muss von uns geführt werden. Zwar scheint er alles ringsum wahrnehmen zu können, unsere Behandlung mit wachen Sinnen zu verfolgen, aber …« »Weshalb versagt unsere Methode?«
»Die seelische Vereinigung gelingt nicht.« »Dann hat der Patient Fähigkeiten wie wir. Er kann einen Willensblock bilden und das Eindringen in sein Bewusstsein verhindern. Es ist nichts Besonderes, dass insbesondere Inhaber eines aktivierten Extrasinns zu den problematischen Patienten gehören.« Das Hyperfunkgespräch, das über viele tausend Lichtjahre hinweg geführt wurde, näherte sich dem Kernpunkt des Problems. Scoopar zog den Patienten zu sich heran. Interessiert verfolgte Parghir das Geschehen auf dem Bildschirm. »Nein, er kann keinen Willensblock aufbauen, es ist kein Monoschirm oder Vergleichbares. Es sieht nicht so aus, als würde er überhaupt noch einen Willen haben. Dieser Mann hat alles verloren, was ihn zu einem vollwertigen Mitglied der arkonidischen Gesellschaft macht. Er wirkt hilflos wie eine Puppe. Es sind nicht einmal Individualschwingungen nachweisbar! Lasst euch von seiner Würde und den edlen Gesichtszügen nicht täuschen, dieser Mann kann mit unseren Mitteln nicht behandelt werden, weil es nichts gibt, was sich behandeln ließe. Und gerade das …« »Ich will ihn genau sehen«, verlangte Parghir und ging näher an den Bildschirm heran. Auf Perpandron führte Scoopar den Mann dicht vor die Aufnahmeoptik. Der Patient bewegte sich wie ein Schlafwandler. Seine Beine hoben und senkten sich ruckhaft. Er wäre weitergegangen und gegen die Wand geprallt, hätte ihn Scoopar nicht festgehalten. Langsam hob der Patient den Kopf. Seine Augen starrten ins Leere, sein Mund öffnete sich bei jedem Atemzug wie ein Fisch auf dem Trockenen. »Unheimlich. So was ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen. Ich möchte wissen, was diesem Mann zugestoßen ist.« »Deshalb rufe ich Sie an. Er lebt, und genau das kann
eigentlich nicht sein. Wir haben einen bestimmten Verdacht, der bis zu einem gewissen Grad durch vorhandene Unterlagen bestätigt wird. Leider sind rein biometrische Daten, obwohl sie vorliegen und abgeglichen wurden, wenig hilfreich – sie lassen sich ebenso fälschen wie ganze Androidenkörper klonen. Sie sollen deshalb Nachforschungen anstellen. Immerhin gibt es seit einiger Zeit gewisse Gerüchte …« Plötzlich kniff Parghir die Augen zusammen. Hatte er sich eben getäuscht, oder hatte der Patient auf Perpandron tatsächlich eine Reaktion gezeigt? Unterdessen fuhr Scoopar fort: »Einer der Männer, die diesen Mann ablieferten, sah ihm sehr ähnlich, war lediglich viel jünger. Spontan halte ich ihn für den Sohn dieses Patienten. Auch das würde zu den Gerüchten passen.« Parghir schwieg, biss sich auf die Lippen. Eine seltsame Unruhe erfasste ihn. Die Ereignisse auf Perpandron waren brisanter, als Scoopar offen aussprach. Trotz der Hyperfunkverschlüsselung wurde das Maßgebliche nur zwischen den Zeilen angedeutet, nicht aber offen ausgesprochen. Nicht nur Parghir kannte natürlich das Gesicht des alten Patienten. Die meisten im Großen Imperium hatten es oft genug im Trivid gesehen. Dieser Mann hatte sogar schon einmal vor langer Zeit die Hilfe der Goltein-Heiler beansprucht. Das war zu einer Zeit gewesen, als sich Parghir als Schüler um die Unterweisung durch den Weisen Mantar beworben hatte. Parghirs Verdacht verdichtete sich schlagartig zur Überzeugung: Rein äußerlich kann es niemand anders als Gonozal VIII. sein! Doch Gonozal VIII. war erwiesenermaßen tot! Umgekommen bei einem Jagdunfall auf dem Planeten Erskomier, bestattet in der KARSEHRA der Totenwelt Hocatarr. So jedenfalls lautete die offizielle Version. Es gab durchaus andere Versionen. Manche behaupteten hinter vorgehaltener Hand, Orbanaschol III. hätte seinen
Vorgänger durch ein Attentat aus dem Weg räumen lassen. Andere wiederum glaubten, Gonozal VIII. sei in Wirklichkeit aus dem Imperium geflohen, um irgendwo in der Galaxis eine schlagkräftige Kampftruppe heranzubilden, mit der er eines Tages den Kristallthron zurückerobern wollte. Neueste Gerüchte – verbunden mit dem angeblichen Auftreten Gonozals – besagten, Orbanaschol habe seinen Bruder zwar nicht ermordet, wohl aber »verschwinden lassen«, um selbst an die Macht zu kommen. Keine dieser Aussagen konnte das merkwürdige Verhalten des Patienten erklären. Ein biologisch lebender Körper ohne Bewusstsein? Vorausgesetzt, dieser Mann war tatsächlich Gonozal VIII. musste ihn ein furchtbares Schicksal getroffen haben. Was war geschehen? Wie passte die Vermittlung der Totenpriesterinnen ins Bild? Wie waren die Gerüchte einzuordnen, laut denen Gonozal in letzter Zeit wiederholt aktiv aufgetreten sein sollte? Vor Kurzem habe er, so das aktuellste Gerücht, sogar maßgeblich bei der Schlacht gegen die Methans im Marlackskor-Sektor eingegriffen … »Was denken Sie?«, fragte Scoopar. War es Gonozal VIII.? War es ein seelenloser Klon? Ein Androiden-Doppelgänger? Sollte es tatsächlich der alte Imperator sein – was war mit ihm geschehen? Hatte er den »Jagdunfall« überlebt? Und wenn nicht? Konnte es sein, dass der tote Körper nach so langer Zeit »reanimiert« worden war? Das hätte zumindest das Fehlen des Bewusstseins erklärt. Andererseits war selbst für die fortgeschrittene Technik der Arkoniden der Tod eine endgültige Barriere, an der sämtliche wissenschaftlichen Versuche scheiterten. Nicht einmal den medizinisch besonders bewunderten Aras war bislang eine derartige Reanimation gelungen, obwohl sie hinsichtlich der – ethisch mitunter sehr bedenklichen – Methoden zur Lebensverlängerung bemerkenswerte Erfolge aufzuweisen
hatten. Wer einmal tot war, konnte nicht wiederbelebt werden. Kein noch so raffiniertes Mittel hätte Gonozal VIII. wieder Leben einhauchen können. Und wenn doch? Unvermittelt wurde Parghir bewusst, welch brisante Konsequenzen das Auftauchen des Patienten haben konnte. Wer immer er auch wirklich war, Imperator Orbanaschol III. würde alle seine Macht in die Waagschale werfen, um ihn in seine Gewalt zu bekommen. Schon der kleinste Hauch eines Zweifels, sein Vorgänger sei nicht, wie offiziell verkündet, beim Jagdunfall ums Leben gekommen, brachte den Höchstedlen in Bedrängnis, um nicht zu sagen Erklärungsnöte. Bereits die derzeit kursierenden Gerüchte waren von großer Brisanz. Ein »leibhaftiger Beweis« wie der Patient auf Perpandron konnte da der entscheidende Funke sein. Sollte es hart auf hart kommen, war sogar die gesamte Organisation der Goltein-Heiler bedroht. Ein Mann wie Orbanaschol kannte nicht die geringsten Skrupel. »Der Anblick des Patienten deprimiert mich«, sagte Parghir vieldeutig. »Es ist erschütternd, in welchem Zustand er sich befindet. Noch furchtbarer finde ich die Tatsache, dass wir ihm nicht helfen können.« »Es ist grausam«, bestätigte Scoopar. »Wir werden alles unternehmen, um die Vergangenheit dieses Patienten zu durchleuchten. Sobald ich greifbare Hinweise erhalten habe, melde ich mich über Hyperfunk. Sollten diese Untersuchungen etwas Zeit in Anspruch nehmen, bitte ich den Ehrwürdigen Scoopar um Nachsicht. Wir müssen vorsichtig vorgehen!« Die beiden Goltein-Heiler verneigten sich vor den Bildschirm-Optiken, dann wurde die Hyperfunkverbindung zwischen Perpandron und Arkon I unterbrochen. Kars Parghir drehte sich kurz entschlossen um. Seine Schüler blickten ihn erwartungsvoll an. Es kam selten vor, dass ihre
Unterweisungen durch aktuelle Ereignisse unterbrochen wurden. »Solthoron.« »Ja, ehrwürdiger Mittler?« »Sie unterbrechen die Behandlung Ihres Patienten. Da ich weiß, wie sehr Sie an aktuellen Ereignissen interessiert sind, beauftrage ich Sie mit den erwähnten Nachforschungen.« Solthoron lächelte wissend, hatte die Absicht des Mittlers sofort durchschaut. Parghir konnte sich darauf verlassen, dass er mit allen Kräften seine Nachforschungen betreiben würde. Solthoron war der einzige von allen Schülern, der sich für eine Einbeziehung aktueller Ereignisse in die Goltein-Behandlung stark machte. Jetzt drückte Parghir einige Tasten auf dem geschwungenen Schaltpult. Ein Bild des Patienten wurde ausgedruckt, ebenso die auf Perpandron gespeicherten und parallel zur Bildsprechverbindung übertragenen Basisdaten. »Da Sie das Hyperfunkgespräch mitverfolgt haben, brauche ich Ihnen keine besonderen Instruktionen zu geben. Sollten Sie auf einen wichtigen Hinweis stoßen, erwarte ich Ihre persönliche Nachricht. Seien Sie vorsichtig! Sie werden mit keinem anderen Arkoniden darüber sprechen!« Letzteres hatte wie ein Befehl geklungen. »Ich halte mich an Ihre Weisungen, ehrwürdiger Mittler.« Solthoron verneigte sich vor Parghir und steckte den Ausdruck in die Brusttasche. Dann wandte er sich kurz seinen Mitschülern zu. Sie beneideten ihn offensichtlich um den Spezialauftrag. Die meisten von ihnen hatten das Gelände der Goltein-Schule seit drei Jahren nicht mehr verlassen. Solthoron verließ schweigend den Raum.
10. Aus: Tradition oder arkonidische Starrköpfigkeit?, Essay-Sammlungen Band XIX, Hemmar Ta-Khalloup; Arkon I, Kristallpalast, Archiv der Hallen der Geschichte, 19.025 da Ark Eine liebe Freundin fragte mich einmal, wie es möglich sei, dass im Tai Ark’Tussan über einen Zeitraum von Jahrzehntausenden – sei es nach terranischer oder arkonidischer Rechnung – die Traditionen nahezu unverändert Bestand hatten. Und damit meinte sie sowohl die des Kristallprotokolls als auch die der Kriegführung, der Besiedelung, der Industrialisierung. Dies alles mache einen sehr ritualisierten, um nicht zu sagen starrköpfigen Eindruck. Nun, soweit wir wissen, entwickelte sich die arkonidische Zivilisation über einen Zeitraum von etwa zehntausend Jahren weitgehend unbehelligt – von der Zäsur der Archaischen Perioden einmal abgesehen. Wir erforschten, wir expandierten, wir eroberten, und wir achteten sehr darauf, dass unsere innere Einheit gewahrt blieb. Unsere Aufzeichnungen waren stets präzise, der Nachrichtenaustausch von Planet zu Planet, von Schiff zu Schiff war umfassend, angesichts der Datenmengen jedoch auch bürokratisch formalisiert. Auf allen von uns besiedelten Planeten etablierten wir rasch die Datensphären großer Positronik-Netze; alles, was man auf der Mutterwelt und den älteren Kolonialplaneten wusste, wurde eingespeichert und war den anderen zugänglich. Zunächst selektiv, später umfassend dehnten wir diesen Prozess auf die vom Imperium vereinnahmten Fremdvölker aus. Selbst als sich die Mehandor und andere weitgehend selbstständige Völker ausbreiteten, bewahrten sie dieses Erbe. Das Gewicht der abgefragten Informationen verlagerte sich, aber der wachsende Inhalt blieb allen zugänglich. Rein äußerlich mag es Veränderungen gegeben haben, sicher, dennoch empfinden sich sogar Zaliter, Preboner, Ekhoniden und wie sie alle heißen als Arkoniden! Alle waren und sind Arkon! Wir bestimmten unsere Größe, unsere Grenzen – die natürlich
ständig erweitert werden mussten –, unsere Macht, unser zivilisatorisches Streben. Arkon definierte sich uns nur über sich selbst, bestes Beispiel ist die Selbstglorifizierung durch die drei Synchronwelten! Arkon und das Tai Ark’Tussan brachten anderen Völkern zwar die arkonidische Lebensweise, übernahmen im Gegenzug aber nichts. Oh, es gab durchaus Informationen über die Xenointelligenzen, einschließlich solcher, die sie selbst beigesteuert hatten. Selbstverständlich sind therborische Kompositionen auch bei Arkoniden beliebt, und viele Erkenntnisse anderer flossen beispielsweise in die Dagor-Lehren ein. Mit dieser Adaption jedoch wurde das alles arkonidisch! Die Originale dagegen waren in den Positronik-Netzen ausdrücklich als aus nicht arkonoider Quelle stammend gekennzeichnet. Die Geschichtsschreibung des Tai Ark’Tussan verzichtete bewusst auf fast alle Daten, die mit Arkon nichts zu tun hatten, manches wurde sogar gezielt verfälscht, wie es mit den Informationen über die »Stammväter« oder Tiga Ranton geschah. Deshalb ist es für mich als Archivar mitunter so schwer, an fremde Originalinformationen heranzukommen. Wenn sich nun unsere jungen Studenten mit der Geschichte des Reiches befassten, erhielten sie genau diese arkonidischen Informationen – und keine anderen. Die Originalinformationen sind zwar in den Datenbanken vorhanden, aber vorsortiert, sodass nicht nach artfremden Aspekten geforscht werden kann. Oder nur unter gewissen Schwierigkeiten. Zudem waren – und sind – viele dieser Dateien beim Aufruf mit automatischen Benachrichtigungskodes ausgestattet, die bei den entsprechenden Behörden je nach Art und Umfang der Abfrage verschiedene Grade ungebührlichen Interesses bezeugen. Keine Zensur, jedenfalls keine direkte, aber eine subtile Form der Überwachung! Xenologische Forschung wurde eher entmutigt, damit die Pioniere nicht – wie sagte der terranische Kipling? – über die Mauer gingen. Und dieses System hat sich über die Jahrtausende erhalten!
Die von Arkon abstammenden Völker fragten im Laufe der Zeit für sie wichtige Daten ab, brachten auch neue ein, aber das war vorhersehbar und bewilligt. Der Gesamtprozess hat sich natürlich auch im Laufe der Zeit gewandelt, spätestens mit Epetrans Mammutpositronik auf Arkon III, erst recht seit deren Aktivierung als »Großer Koordinator«. Unter dem Strich jedoch fühlten sich alle durch die permanente kulturelle Einverleibung als Arkoniden, wenngleich sie unterschiedliche Privilegien und Funktionen besaßen – allerdings wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass nur auf Tiga Ranton selbst die wahren Arkoniden leben. Somit wurde einerseits ein hohes Maß an Loyalität geschaffen, und andererseits wurde die Hierarchie der Arkon-Völker eingerichtet … Perpandron: 26. Prago des Tedar 10.499 da Ark Uns blieb nichts anderes übrig, wir mussten unsere Quartiere räumen. Als wir das Gästehaus verließen, wurden wir von frostigen Blicken begleitet. Tai-Laktrote Klemir-Theron hatte uns bereits verabschiedet, er erschien nicht noch einmal. War unser Empfang nach der Landung schon kühl ausgefallen, mussten wir jetzt feststellen, dass man uns mit der Freundlichkeit behandelte, die gegenüber Korratzkranken an den Tag gelegt wurde, um eine Ansteckung zu vermeiden. Nur der Blick, den mir Tai-Laktrote Scoopar zuwarf, schien freundlicher gesinnt, ja fast bedauernd. Immerhin erwartete uns am Ausgang ein Gleiter, wieder gesteuert von einem Roboter, und diese Maschine schien es noch eiliger zu haben als ihr Vorgänger. Wir erreichten den Raumhafen in Rekordzeit. Der Roboter ließ uns aussteigen, räumte das Gepäck mit einer fast schon beleidigenden Eile aus dem Laderaum und ließ uns stehen. »Ausräuchern sollte man die Brut«, schimpfte Ra. »Diese
Pfuscher haben ein Benehmen, wie man es sonst nur bei …« » … Barbaren findet«, half ich aus. Karmina lachte halblaut, Ra grinste verwegen. Wir kletterten in das Leka-Beiboot und ließen die Maschinen anlaufen. Zentitontas später hob der Diskus ab. Ich sah, dass eine Jacht zur gleichen Zeit zur Landung ansetzte, sofort stand mein Plan fest. Ich tat so, als hätte ich die Sicherheitsüberwachung nicht gesehen, und brachte unser Boot auf Kollisionskurs. Erst im letzten Augenblick zog ich die Leka zur Seite und verhinderte den unausweichlich erscheinenden Rammstoß. Es war ein riskantes Manöver, aber es glückte. Unser unfreiwilliger Helfer war ein miserabler Pilot, der vor Schreck die Steuerung verriss und in gefährlicher Weise auf das Landefeld hinabtrudelte. Ich imitierte seine Flugweise und brachte so den Diskus in der Form in Sicherheit, die mir vorgeschwebt hatte. Statt in steilem Flug aufzusteigen, drückte ich das Boot zur Seite, auf einen nahen Bergkamm zu. Währenddessen stürzte die fremde Jacht in abenteuerlichen Spiralen dem Landefeld entgegen. »Verdammt, dieser Pilot ist entschieden schlechter, als ich dachte.« Zu mehr als dieser Verwünschung hatte ich keine Zeit, ich musste mich auf das riskante Manöver konzentrieren, das mir jetzt bevorstand. Es galt, eine enge Felsspalte zum Durchschlüpfen zu benutzen. Das Manöver glückte. Auf der anderen Seite zog ich den Diskus nach rechts und raste im Tiefstflug mit höchster Geschwindigkeit in der Deckung der Berge aus dem Erfassungsbereich der Raumhafenortung. »Glück gehabt«, murmelte Ra. »Ich habe übrigens beobachtet, dass der andere Pilot einigermaßen glatt landen konnte.« Ich atmete erleichtert auf, hatte darauf gehofft, dass der fremde Pilot für kurze Zeit die Nerven verlieren würde. Es war naheliegend, dass sich alle Welt dann ausschließlich mit dem vermeintlichen Havaristen beschäftigte und unser Manöver nicht beachtete. Allerdings hatte ich nicht vorhersehen können,
dass der andere ein derart erbärmlich schlechter Pilot war, dass er seine Jacht fast hätte zerschellen lassen. In einem weiten Bogen flogen wir langsam zu zum Tafelberg zurück, auf dem die Heiler ihre Station errichtet hatten. Angesichts des Durcheinanders, das mein Manöver hervorgerufen hatte, war nicht anzunehmen, dass man uns besondere Aufmerksamkeit widmete. Vor allem, wenn wir scheinbar gelangweilt die Landschaft überflogen, würde man uns nicht beachten. Die Jacht gehört einem Mann, der zur Führungsspitze des Imperiums zählt. Diese knappe Nachricht des Extrasinns gab mir letzte Gewissheit. Ein Mann in so hoher Stellung würde in seiner – zugegebenermaßen berechtigten – Wut auf mich einen derartigen Wirbel entfachen, dass man auf Perpandron tagelang damit zu tun haben würde. Auf unserem Rückflug durften wir natürlich der Station der Goltein-Heiler nicht zu nahe kommen. Ich setzte das Beiboot in einem Waldgebiet ab, in einiger Entfernung von der Station – weit genug, um nicht von jedem Ausflügler entdeckt zu werden, aber nahe genug, um mit den Transportmitteln der Kampfanzüge die Station erreichen zu können. Ich grinste zufrieden, als die Leka zum Stillstand kam.
Ich sah auf die Uhr, es wurde Zeit. Nach meiner Schätzung lagen jetzt die normalen Bewohner Perpandrons in ihren Betten, während die Heiler in den Gewölben ihren Praktiken folgten. Ich hatte selbstverständlich keine Lust, meinen Vater hier einfach zurückzulassen. Die Bedeutung seiner Person machte ihn zur politischen Zeitbombe. Ich war fest entschlossen, ihn zurückzuholen, nötigenfalls mit Gewalt. Ra sah nachdenklich zu, als ich meine Ausrüstung überprüfte. »Allein dürftest du kaum eine Chance haben. Ich werde dich begleiten!«
»Und wer passt auf das Boot auf? Wir können es nicht einfach hier stehen lassen.« Ich wusste nur zu gut, dass es nicht nur tierisches Leben gab, das durch die kleinsten Ritzen kriechen und den Tod bringen konnte, sondern auch Pflanzen, die einen mörderischen Appetit auf Blut hatten. Und was Pflanzen zuwege bringen konnten, wusste ich ebenfalls. Ich hatte Keimlinge gesehen, die es geschafft hatten, eine halbmeterdicke Platte aus Plastbeton zu sprengen. Dieses Material galt als nahezu unverwüstlich und wurde beim Bau kleinerer Raumhäfen verwendet. »Ich passe auf«, versprach Karmina da Arthamin und lächelte mir beruhigend zu. »Ich nehme an, Sie vertrauen meinen Fähigkeiten genug, um mir das Schiff anvertrauen zu können?« Ich musste grinsen. Natürlich konnte Karmina das Beiboot bewachen, von einer Sonnenträgerin wurde üblicherweise mehr verlangt, als selbst abgebrühte und kampferfahrene Raumlandesoldaten zuwege brachten. Ra hatte ihren Vorschlag gar nicht erst abgewartet, sondern vervollständigte ebenfalls seine Ausrüstung. Dass er es mit jedem normalen Anzugträger aufnehmen konnte, hatte ich schon früher feststellen können. Ging er gegen andere Gegner mit der gleichen Zähigkeit, Schläue und Kraft vor, mit der er mich schon bekämpft hatte, brauchte ich keine Sorgen zu haben. Mit der ihm eigenen Schnelligkeit und Gründlichkeit prüfte Ra seinen Anzug durch. Alle Geräte arbeiteten einwandfrei. Dann erst konnten wir daran denken, das Diskusbeiboot zu verlassen. »Wie lange soll ich warten?«, erkundigte sich die Sonnenträgerin. »Zwanzig Tontas«, sagte ich. »Sind wir bis zu diesem Zeitpunkt nicht zurückgekehrt, informieren Sie Fartuloon. Er wird wissen, was zu tun ist.« Sie nickte kurz, hatte verstanden.
Im gedämpften Licht sah ich Ras breites Grinsen. »Woran denkst du?« »An meine Heimat. An die vielen Nächte, die ich im Urwald verbracht habe. Eine schöne Zeit, wenn auch ziemlich gefährlich.« »Sehnsucht?« »Kaum. Gefahren gibt es überall genug, Leute auch. Aber …« Ich konnte ihn gut verstehen. Überall in der Galaxis gab es schöne, aufregende, abenteuerliche Plätze, und wer suchen konnte, fand auch überall Freunde, aber wie in den meisten Fällen ging nichts über alte Freunde und alte Plätze, die man kannte und liebte. »Bevor wir zu träumen anfangen, vorwärts.« Ra und ich verließen die GORTAVOR, hinter uns verschloss Karmina da Arthamin die Schleuse. Ich schaltete den Antigrav des Anzugs ein und stieß mich ab. Ra folgte sofort meinem Beispiel. Das nächtliche Dunkel des Dschungels nahm uns auf. Wenig später schwebten wir mit hoher Geschwindigkeit dicht über den Baumwipfeln. Unser Ziel war nicht zu verfehlen. Deutlich zeichneten sich die beleuchteten Kuppeln der Heiler-Station gegen den nachtdunklen Himmel ab. Wir brauchten eine Tonta, um den Rand des Gebiets zu erreichen, das von den Goltein-Heilern genutzt wurde – und schlugen einen Bogen um diesen Bereich. Solange wir im dunklen Teil des Gebiets bleiben konnten, wollten wir uns verstecken. Die Gebäude waren unverändert. Ich stellte zufrieden fest, dass die Sicherheitsmaßnahmen, die nach meinem Eindringen getroffen wurden, inzwischen wieder rückgängig gemacht worden waren. Ich sah keine Wächter, keine Energiesperren, nichts, was darauf hindeutete, dass die Seelenheiler sich gewarnt fühlten und auf unseren Besuch vorbereitet hatten. Langsam ließen wir uns auf den Boden sinken und schalteten die Flugaggregate aus. So leise wie möglich bewegten wir uns durch die Dunkelheit. Wenig später fanden wir eine
Möglichkeit, in das Gebäude zu kommen. Diesmal versuchte ich nicht, in die subplanetarischen Räume einzudringen. Ich suchte vielmehr nach einem Büro mit Terminalanschluss an das positronische Netzwerk. Die Goltein-Heiler waren nicht anders geartet als die meisten Bewohner des Imperiums, und zu deren Angewohnheit gehörte es, über jeden nur halbwegs wichtigen Vorgang eine Aktennotiz anzufertigen. Ich war sicher, dass es bei den Seelenheilern nicht nur eine Kartei gab, in der die Krankengeschichte meines Vaters gespeichert war, sondern auch die Tatsache, dass ich versucht hatte, die Geheimnisse der Heiler zu lüften. Gelang es mir, diese Daten zu finden, würde ich auch wissen, wo ich meinen Vater zu suchen hatte.
11. Aus: Biografie Atlans – Anhang: Fragmente, Anmerkungen, Marginalien (in vielen Bereichen noch lückenhaft); Professor Dr. hist. Dr. phil. Cyr Abaelard Aescunnar; Gäa, Provcon-Faust, 3565 n.Chr. Geheim- und Nachrichtendienste im Großen Imperium: Die arkonidische Sicht, das »Celis« von »Augen« als Synonym für Geheimdienst zu verwenden – sei es bei Tussan Goldan Celis, abgekürzt TGC, den »Goldan-Augen des Imperiums«, oder beim Tussan Ranton Celis, abgekürzt TRC, den »Augen der Imperiums-Welten« –, traf den Kern der Angelegenheit mit bemerkenswerter Genauigkeit. Vergleichbares betraf andere Umschreibungen wie Cel’Zarakh als »Augen in der Dunkelheit« oder »Augen auf das Geheime« im Sinne von »Aufklärung« sowie unter dem Aspekt von Nachrichtendiensten beim Ksol’Zarakh im Sinne von »Nachricht/Information in der Dunkelheit«, wobei das ursprüngliche Zarakh – wörtlich »Dunkelheit, Finsternis, fehlendes Tageslicht«, aber auch »Nachtseite (eines Planeten)« – in der arkonidischen Frühzeit als Umschreibung für »Auflösung, Begräbnis, Sarg« oder als poetische Umschreibung für »Tod« verwendet wurde, im weiteren Sinne allerdings ebenso für »geheim, Geheimnis« oder »rätselhaft« stand. Passend dazu war das TRC-Emblem ein meergrüner Yilld, ein häufig verwendetes arkonidisches Heraldik-Symbol nach einem ausgestorbenem Riesenreptil; halb Schlange, halb Drache, windet sich es sich in einer goldenen Blitzaureole und reckt den dreieckigen Kopf dem stilisierten Auge entgegen. Schwarze Konturen begrenzen das weiße Feld rings um das ebenfalls schwarze Zentrum von Iris und Pupille. Geheimdienstplaketten als Ausweise bestehen aus Zalos-Metall; die Marken mit den eingravierten Arkonwelten sind von einem außen gezackten Kreisring umgeben und verfügen über
integrierte Chips mit den Individualschwingungen des jeweiligen Trägers. Wer überdies tiefer in den Wust der unterschiedlichen Organisationen und Kompetenzen einstieg, erkannte schnell, dass im Großen Imperium von dem Geheimdienst gar nicht gesprochen werden konnte, obwohl natürlich die TRC-Celistas des Innen- und Sicherheitsministeriums eine wichtige Rolle spielten. Es gab darüber hinaus weitere machtvolle »Dienste«, die ebenso bekannt wie gefürchtet waren – wie beispielsweise die TGC von Ka’Mascantis Offantur Ta-Metzat, die Kralasenen des Blinden Sofgart oder jene des Gos’Laktrote des Berlen Than, der schon von Amts wegen in die vielfältigen Sicherheits- und Abwehrmaßnahmen eingebunden war, zum Schutz des Imperators durch die Kristallgarde, im weiteren Umfeld durch die damit verbundene militärische Komponente einschließlich der der Thek-Laktran-Admiräle des Flottenzentralkommandos von Arkon III sowie seiner diversen Geheimdienste und ihrer Aktivitäten. Die Tu-Gol-Cel als »Politische Geheimpolizei des Imperators« wurde 2476 da Ark (17.504 vor Christus) durch Imperator Zakhagrim V. gegründet; erster Geheimdienstchef war Sonnenträger Jakonak. Im Laufe der Jahrtausende gab es viele Änderungen, Umbenennungen, Umgruppierungen und Kompetenzverschiebungen. Stets verfügte die TGC über eine eigene Raumflotte von Kriegs- und getarnten Einsatzschiffen. Hauptsitz der TGC war Arkon III. Die jeweils höchsten TGC-Vertreter eines Planeten wurden auch Erster Goltan (Goltan-moas) genannt. Insgesamt ließen sich grob die Bereiche Außenaufklärung (Cidag-Cel’Zarakh, abgekürzt CCZ), Innenaufklärung (Addag-Cel’Zarakh, abgekürzt ACZ), Militärische Abschirmung oder Abwehr (Gor-Cel’Zarakh, abgekürzt GCZ bzw. Urunlad-Cel’Zarakh, abgekürzt UCZ) und Geheimpolizei (Cel’Zarakh-Addag’gos, abgekürzt CZAG) unterscheiden, und als fünftes Element kamen die besonderen Einsatzgruppen der
Gokanii für Sabotage, Zersetzung, Infiltration, Terror und dergleichen hinzu. Ein vorangestelltes Tussan bezog sich auf die imperiale Ebene, ein vorangestellter Sektor-, System- oder Planetenname jeweils auf das bezeichnete Gebiet – Tussan Addag-Cel’Zarakh also auf die Innenaufklärung des Großen Imperiums, Ark Cel’Zarakh-Addag’gos auf die Geheimpolizei des Arkonsystems. Auf Arkon I wie im übrigen Arkonsystem und auch im Tai Ark’Tussan insgesamt wetteiferten die diversen Dienste und Organisationen erbittert miteinander, dachten aber im Konkurrenzkampf um die Gunst des Imperators selten oder gar nicht daran, zusammenzuarbeiten. Hinzu kam, dass sämtliche mächtigen Khasurn des Adels eigene Dienste unterhielten, sodass unter dem Strich ein wahrhaft byzantinisches Geflecht von Zuständigkeiten, Kompetenzen, Seilschaften, Loyalitäten und wie auch immer zu bezeichnenden Beziehungen entstand – und es ständig dazu kam, dass die eine Seite nicht wusste, was die andere tat … Arkon I: 26. Prago des Tedar 10.499 da Ark Solthoron fiel nicht weiter auf. Phantastische Kleidung und bizarre Gestalten bevölkerten die Wartehalle, in die mehrere Rohrbahnen mündeten, aber auch öffentliche Personentransmitter für Ferntransporte zur Verfügung standen. Neben Arkoniden waren Angehörige zahlreicher Kolonialvölker vertreten. Zarltoner betrachteten sich eine Leuchtanzeige der Rohrbahnfahrpläne. Zierliche Hermaphroditen aus dem Corodoc-Sektor des Großen Imperiums spielten mit einem kleinen Voger, dessen Pelz zartrosa eingefärbt worden war. Solthoron atmete tief durch. Obwohl die Luft hier unten mehrfach gereinigt und mit Duftstoffen versehen war, schien sie ihm köstlich und frisch zu sein. In ihm war das Gefühl der Freiheit, das ein Gefangener
nach jahrelanger Einkerkerung empfand. Die halb transparenten Abdeckhauben der Visifon-Kabinen befanden sich etwas abseits der rollenden Gehsteige. Solthoron fragte sich, ob er Kontakt mit Zarcov Ma-Anlaan aufnehmen sollte. Der plötzliche Abstecher in die Außenwelt hatte ihn schlagartig in die Lage versetzt, mehr als jemals zuvor über die persönlichen Verhältnisse seines Patienten in Erfahrung bringen zu können. Kurz entschlossen steuerte der Goltein-Schüler eine Visifon-Kabine an, tippte die Kodenummer des Ma-Fürsten in die Tastatur, und wenig später erschien das Gesicht einer hübschen Arkonidin auf dem Bildschirm. »Anschluss Zarcov Ma-Anlaan«, ertönte die melodische Stimme aus dem Lautsprecher. »Mein Gebieter ist zurzeit nicht erreichbar. Ihr Anruf soll dennoch nicht umsonst gewesen sein. Sie haben die Möglichkeit, eine kurze Nachricht zu hinterlassen, die aufgezeichnet und später abgehört wird. Bitte nennen Sie zuerst Ihren Namen und dann den Grund für Ihren Anruf …« An der Bezeichnung »Gebieter« sowie den metallisch schimmernden Kunstaugen der Schönen erkannte Solthoron, dass es sich um einen Roboter handelte. Solthoron unterbrach den Redefluss. »Ich bin der Goltein-Schüler Solthoron. Ich muss dringend mit Zarcov Ma-Anlaan sprechen.« »Einen Augenblick bitte. Ich überprüfe Ihre Angaben.« Der Roboter senkte den Kopf. Solthoron erkannte, dass er die gespeicherten Anweisungen Ma-Anlaans durchging. Augenblicke später darauf meldete er sich erneut. Sein Lächeln war genauso einprogrammiert wie die Daten über Solthoron. »Ihre Angaben stimmen. Vor einer Tonta versuchte mein Gebieter Kontakt mit Ihnen aufzunehmen. Sein Anruf wurde von der Goltein-Schule zurückgewiesen. Falls Sie sich wider Erwarten melden sollten, bat er mich um Verbindung. Bitte
bleiben Sie am Apparat.« Das Gesicht der Roboters verschwand, bunte Farbenspiele geisterten über die Bildfläche. Solthoron trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Was konnte Zarcov Ma-Anlaan beunruhigt haben? »Solthoron.« »Ja?« Auf dem Bildschirm des Visifons war das schwitzende, rötlich verfärbte Gesicht Zarcov Ma-Anlaans erschienen. »Was ist passiert?« »Der Mörder hat wieder zugeschlagen. Ich weiß mir keinen Rat mehr. Der Wahnsinnige hat diesmal unter anderem einen wichtigen Geschäftspartner der SENTENZA erwischt. Ein furchtbares Gemetzel im Parliin-Turm! Unbeschreiblich, was der Wahnsinnige dort angerichtet hat.« »Was kann ich in dieser Angelegenheit für Sie tun?«, fragte Solthoron bewusst desinteressiert. »Wo befinden Sie sich?« »Verteiler Sha’shuluk-Nord-Eins.« »Ich lasse eine Transmitterverbindung programmieren. Kommen Sie zu mir in die Tasca von Morararg. Ich bitte Sie inständig darum. Ich ertrage den Anblick der Toten nicht. Sie müssen mir helfen, Solthoron. Bitte kommen Sie sofort! Ich erwarte Sie.« Solthoron nickte kurz und unterbrach die Verbindung. Die Goltein-Schule war rund 4400 Kilometer von Morararg entfernt.
Der Zarltoner trug einen schweren Blaster im Holster. Die durchtrainierten Muskeln seiner Brust zeichneten sich deutlich auf der eng anliegenden Weste ab. »Ma-Anlaan erwartet Sie bereits.« Vor Solthoron glitt eine schwere Stahltür auf. Dahinter erstreckte sich ein weitläufiger Gang, dessen Mitte
von einem gegenläufigen Personenbeförderungsband bestimmt wurde. »Sie können passieren.« Hinter Solthoron schloss sich die Tür. Das Beförderungsband trug ihn rasch durch den Gang. Solthoron wusste, dass die hiesige Tasca von der SENTENZA kontrolliert wurde. In enger Zusammenarbeit mit den Sicherheitsorganen wurden hier tief unter der Oberfläche logistische und kriminologische Forschungen betrieben. Das Beförderungsband hielt an. Solthoron durchschritt eine energetische Schleuse, deren Paralysatorfeld für einen kurzen Augenblick erlosch. Hinter Solthoron schloss sich das Energiefeld wieder. »Solthoron.« Ma-Anlaan trat freudestrahlend dem Goltein-Schüler entgegen. Mehrere Uniformierte blieben im Hintergrund des großzügig angelegten Laboratoriums. Ein Ara-Wissenschaftler beugte sich gerade über ein positronisches Vergrößerungsgerät. »Ich bin gespannt, welchen Sinn meine Anwesenheit in diesem Laboratorium haben soll.« »Wie ich schon mehrmals andeutete, brauche ich Ihren Rat. Sie haben mir bestätigt, dass meine Probleme durch die Aufklärung der Mordserie gelöst werden können.« Solthoron nickte. Er ging langsam an den breiten Kunststofftischen vorbei. Technische Apparaturen beherrschten die Szene. An den Wänden leuchteten Bildschirme. Weiter hinten wölbte sich die Kuppel einer leistungsfähigen Positronik. Als Solthoron die Überreste der Mordopfer erblickte, konnte er ein Gefühl des Ekels und des Abscheus nicht unterdrücken. »Grauenhaft, nicht wahr?« Solthoron zwang sich dazu, die sterblichen Überreste der Raumfahrer anzusehen. Sämtliche Kombinationsreste waren entfernt, einige Körper waren größtenteils aufgelöst. Sie waren so auf die Tische platziert, dass eine Rekonstruktion ihres
früheren Aussehens möglich war. Von einem Mann war nur der Kopf übrig geblieben. »Wer … hat das angerichtet?«, brachte Solthoron würgend hervor. »Wenn wir das wüssten, könnten wir den Mörder zur Rechenschaft ziehen. Aber vermutlich wissen Sie bereits, dass der Mörder in diesem Fall nicht persönlich zuschlug. Er ließ lediglich die Schautiere frei. Die Biester erledigten dann den Rest. Ein Plasma-Tornodo hat die meisten Körper aufgelöst. Ein Wunder, dass überhaupt etwas von den Männern übrig geblieben ist.« »In welcher Beziehung standen Sie zu den Opfern?« Solthoron stellte sich so hin, dass er nicht ständig den Anblick der Körperreste vor Augen hatte. »Sie gehörten zur Besatzung der VALTRICTON.« »Und die früheren Opfer?« »Ebenfalls Besatzungsmitglieder der VALTRICTON. Aber das ist mir nichts Neues. Das hat die Untersuchungskommission bereits herausgefunden. Sämtliche Besatzungsmitglieder der VALTRICTON wurden inzwischen nach Arkon Drei zurückbeordert. Das Schiff steht unter strengster Bewachung.« »Haben Sie eine Vermutung, weshalb sich der Mörder nur für Männer von der VALTRICTON interessiert?« »Diese Frage haben wir uns ebenfalls gestellt. Aber wir kamen dabei zu keinem greifbaren Ergebnis.« Solthoron führte ein Schnupftuch an seinen Mund. Der stechende Geruch konservierender Chemikalien reizte seine Schleimhäute. »Sie erwähnten bei unserem Gespräch, dass der Mörder einen wichtigen Geschäftspartner von Ihnen tötete.« Der dicke Arkonide nickte. Sein rechtes Augenlid zitterte vor Erregung. Solthoron sah, dass sich Ma-Anlaan nur schwer unter Kontrolle halten konnte. »Die Geschäfte der SENTENZA
sind oft kompliziert und reichen weit über die Grenzen des Arkonsystems hinaus. Vor einiger Zeit bat mich der Vertreter eines anderen Clans, seinem Sohn Nedo zum Kommando über einen Schweren Kreuzer zu verhelfen. Ich habe ausgezeichnete Verbindungen zum Flottenzentralkommando – immerhin gehöre ich zu den wichtigsten Verbindungsleuten der Rüstungsindustrie. Ich kontrolliere viele Waffenlieferungen. Meine Wissenschaftler waren unter anderem an der Entwicklung neuer Impulskanonen beteiligt …« »Dann konnten Sie diesem Mann also den Posten verschaffen?« Der Ma-Fürst nickte erneut, deutete auf den präparierten Kopf, der auf dem Labortisch lag. »Das ist alles, was von Teclon übrig blieb. Meine Anstrengungen waren umsonst. Ich stehe tief in der Schuld des anderen Clans.« »Teclon erhielt also das Kommando über die VALTRICTON?« »Ja, ich ließ den alten Kommandanten … beseitigen. Die Besatzung ließ sich willig einspannen. Es war gar nicht schwer, zum Ziel zu kommen. Der alte Kommandant gehörte zur Reihe missliebiger Personen, soll sogar Anhänger des toten Imperators Gonozal gewesen sein. Ihn zu beseitigen war wirklich ein Kinderspiel. So etwas erledigt die SENTENZA im Handumdrehen.« Solthoron wunderte sich über die Offenheit Ma-Anlaans. Anscheinend war das Vertrauen des Arkoniden zu ihm größer, als er zunächst angenommen hatte. Dieser Tatbestand erleichterte die Behandlung enorm. »Welche Vorteile brachte Ihnen diese Intrige ein?« Solthoron gab sich Mühe, seinen Abscheu vor Ma-Anlaans »Geschäften« zu verbergen. »Nun …«, begann der Malen zögernd. »Durch Teclons Vermittlung erhielt ich den Zuschlag für die fälligen
Waffenlieferungen. Ich habe ziemlich gut daran verdient.« Solthoron erkannte immer noch keine Querverbindung zwischen Ma-Anlaans Geschäften, der Vermittlung Teclons und der mysteriösen Mordserie. Die Hintergründe dafür waren anscheinend genauso verworren wie Ma-Anlaans Geschäftspraktiken. Der Hochadlige hatte mehrmals verneint, dass ein anderer Clan für die Morde verantwortlich sein könnte. Die Gesetze der SENTENZA ließen das angeblich nicht zu. Da die Clan-Gesetze aber auch nur von Arkoniden gemacht worden waren und die SENTENZA tagtäglich Gesetze brach, wollte Solthoron diese Deutung nicht ganz aus den Augen verlieren. Aber hätte der andere Clan-Meister tatsächlich seinen eigenen Sohn getötet? Der Ara-Wissenschaftler unterbrach Solthorons Gedankengänge. Der nach oben spitz zulaufende Schädel des hageren Mannes schimmerte bleich. Die kleinen rötlichen Augen gingen flink hin und her. »Ich möchte Ihnen jetzt ein interessantes Experiment vorführen. Vielleicht bringt uns das in dieser unappetitlichen Sache voran. Ich bitte um Ihre geschätzte Aufmerksamkeit.« Der Ara löste vorsichtig ein Auge aus Teclons Kopf und ging damit zu den Versuchsapparaturen hinüber.
Das Auge wurde samt den anhängenden Nervenbündeln in wenigen Augenblicken schockgefroren. Die automatische Sezieranlage löste die für das Experiment wichtigen Teile vorsichtig ab. »Ich habe bahnbrechende Entdeckungen auf dem Gebiet der Rekonstruktions-Analyse gemacht«, dozierte der Ara. »Wie Sie wissen, sind durch Infrarotmessung Aufnahmen längst vergangener Ereignisse möglich. Wir nehmen die Wärmespuren auf und rekonstruieren diese Fragmente zu
einem sinnvollen Ganzen. Dennoch hat diese Methode ihre Grenzen. Wir wenden sie hauptsächlich zur Personenkontrolle und bei Razzien an. Bei meiner Rekonstruktions-Analyse wird von anderen Voraussetzungen ausgegangen. Voraussetzung ist, dass sich alle Ereignisse bei einem Lebewesen körperlich niederschlagen …« Solthoron folgte den Ausführungen des Aras mit großem Interesse. »Jedes Ereignis wird im Gehirn gespeichert. Das nennen wir Erinnerung. Ein Vorgang, der sich durch elektrochemische Prozesse bis ins Detail nachahmen lässt. Erinnerungen sind chemische Veränderungen im Gehirn. Sie können jederzeit wieder abgerufen werden. Wie verhält es sich aber bei einem Wesen, dessen Gehirn bis auf die für die motorischen Funktionen notwendigen Bereiche entfernt wurde?« »Es kann sich nicht mehr erinnern«, platzte Ma-Anlaan heraus. »Nicht ganz. Wir haben unseren Versuchsobjekten das Gehirn entnommen. Dann konfrontierten wir sie mit Gegenständen, die ihnen einmal gehörten. Was, glauben Sie, taten die quasi gehirnlosen Körper damit?« »Sie ließen sie unbeachtet.« »Nein!« Die Feststellung des Aras klang ungeheuerlich. »Nein, sie nahmen sie an sich. Andere Gegenstände, mit denen sie niemals etwas zu tun gehabt hatten, ließen sie dagegen unbeachtet. Ich glaube, dass dieser Beweis schlagend genug ist. Im Körper eines jeden Wesens gibt es so etwas wie eine Resterinnerung an Vergangenes. Diese Resterinnerung muss in den Körperzellen gespeichert sein. Anders lassen sich die Verhaltensweisen von Hirngeschädigten, Personen mit totaler Amnesie oder unseren Versuchsobjekten nicht erklären.« »Und was hat das Auge mit Ihrer Theorie zu tun?«, wollte Solthoron wissen. Er war sich aufgrund seiner Goltein-Ausbildung sicher, dass der Ara nur einen Teilaspekt
der Zusammenhänge erfasste. Neben der materiellen Kodierung, die es ohne Zweifel gab, waren die übergeordneten und hyperphysikalischen Aspekte des Bewusstseins keineswegs zu vernachlässigen. Ohne sie hätten die Seelenheiler keinem ihrer Patienten helfen können. »Sehr viel. Das Auge und seine Nerven gehören sozusagen zum Gehirn. Die Augen stellen die Verbindung zur Außenwelt her. Der Niederschlag von Erinnerungen vollzieht sich zu einem großen Teil über die Augen. Dementsprechend sind Augen Träger von Erinnerungsfragmenten.« »Erinnerungsfragmente woran?« »Nun, das dürfte wirklich nicht schwer zu erraten sein.« Der Ara ließ seine Zuhörer einfach stehen und wandte sich wieder seinen Apparaten zu. Mit flinken Fingern justierte er über Rändelräder die positronische Vergrößerungsapparatur. »Ich will versuchen, das Porträt des Mörders für Sie sichtbar zu machen.« »Das ist unmöglich«, presste Ma-Anlaan erregt hervor. »Nicht so unmöglich, wie Sie vielleicht annehmen, Ma-Anlaan. Der Mörder war vermutlich das Letzte, was Nedo Teclon in seinem Leben erblickte. Also muss sich dieser Anblick tief in das Innere des Sterbenden eingeprägt haben. Ich will versuchen, diesen Anblick zu rekonstruieren.« Solthoron sah Ma-Anlaan kurz an. Der Arkonide war von dieser Möglichkeit ebenso fasziniert wie er selbst. »Warum wurde diese Methode nicht früher angewandt?« »Sie wurde, aber meistens war der Abstand zwischen Tod und Einlieferung der Körper in die Laboratorien zu groß. Mit jedem Augenblick, der seit dem Tod des Opfers verstreicht, sinken die Chancen, ein einigermaßen vernünftiges Rekonstruktionsbild zu erhalten.« Der Ara ließ einen großen Wandbildschirm aufflammen; er zeigte ein undefinierbares Graumuster. »Der Sezierautomat hat den präparierten
Augenhintergrund, also einen Teil der Netzhaut, herausgelöst. Das Objekt ist nur wenig größer als ein tausendstel Millimeter. Ein Laserstrahl tastet die Oberfläche ab und überträgt das Rasterbild in die Positronik. Dort werden die einzelnen Informationen nach einem vorher festgelegten Schema analysiert und erscheinen nach einem komplizierten Berechnungsverfahren auf dem Bildschirm.« Der Ara veränderte wieder einige Einstellungen. Das Bild veränderte sich langsam. Doch die merkwürdigen Schemen waren immer noch nicht zu identifizieren. Solthoron spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Seine Spannung hatte den Höhepunkt erreicht, als der Ara einen Hebel umlegte. Irgendwo summte ein Generator. Rötliches Licht geisterte über den Bildschirm. »Das sind Reflexe der Laser-Abtastung.« Plötzlich klärten sich die Schemen. Aus dem rötlichen Lichtgeflimmer schälten sich die Konturen eines winzigen Objekts. Das Ding war kaum zu erkennen, hatte längliche Abmessungen. In seiner Oberfläche klafften zwei kleiner Löcher. »Was ist das?«, fragten Solthoron und Ma-Anlaan fast gleichzeitig. »Das hat Teclon gesehen, bevor er starb. Ich lasse eine Objektvergrößerung berechnen. Vielleicht können wir den Gegenstand dann besser erkennen.« Die Vergrößerung erschien ruckhaft auf dem Bildschirm. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Teclon diesen Gegenstand gesehen haben soll, bevor er starb«, sagte Solthoron ungläubig. »Ich habe so etwas noch nie zuvor gesehen.« »Aber ich«, meldete sich ein Zarltoner. Alle drehten sich um. Die Apparate summten leise, als der hochgewachsene Arkonidenabkömmling mit schweren Schritten näher kam. »Ich habe viele Jahre in der Flotte gedient. Deshalb sind mir
alle Dinge vertraut, die damit in Verbindung stehen. Der Gegenstand auf dem Bildschirm ist ein Universalkodeschlüssel. Der Kommandant eines Schiffes hat einen solchen, um Teilbereiche zu verschließen. Damit kann er die Besatzung am Betreten einzelner Räume hindern. Er kann damit ganz nach Belieben verfahren, sogar das ganze Schiff sperren.« Solthoron dachte scharf nach, bevor er sich dazu äußerte. Stimmengewirr kam auf. Die wildesten Vermutungen wurden geäußert, doch niemand kam der Wirklichkeit auch nur einen Schritt näher. »Teclon war Kommandant der VÄLTRICTON«, wandte sich Solthoron an Ma-Anlaan. »Vielleicht ist das sein Schlüssel. Er hat ihn gesehen, als er sterbend zu Boden stürzte. Diese Erklärung erscheint mir die plausibelste.« »Aber Teclon hatte seinen Schlüssel nicht bei sich«, warf einer der Männer ein. »Der Bericht der Spurensicherung liegt vor. Darin war keine Rede von einem Universalkodeschlüssel des Kommandanten. Teclon kann ihn also nicht gesehen haben.« »Hat er aber doch«, sagte der Ara-Wissenschaftler hartnäckig. »Ich werde die optischen Daten an das Flottenzentralkommando durchgeben. Dort sind sämtliche Universalkodeschlüssel registriert. Ich glaube, dass wir dort mehr darüber erfahren können.« Während der Ara die Verbindung zum Flottenzentralkommando herstellte und sich legitimierte, ließ Solthoron seinen Blick über die Versuchsanordnung schweifen. Erinnerungen ließen sich bis zu einem gewissen Grad bildlich darstellen. Vergleichbares war bisher nur den Goltein-Heilern vorbehalten gewesen. Solthoron war gespannt, wie Parghir darauf reagieren würde. Doch vorerst durfte der Mittler nichts von seinen eigenmächtigen Ermittlungen erfahren. »Die Antwort vom Flottenzentralkommando ist da.« Solthoron ruckte herum. »Halten Sie sich fest, meine Herren.
Der Universalkodeschlüssel konnte tatsächlich identifiziert werden. Aber er gehört nicht Teclon, sondern Abagur del Monotos, dem alten Kommandanten der VALTRICTON.« Einen Augenblick lang herrschte verblüfftes Schweigen im Laboratorium. Es lag auf der Hand, dass ein neuer Raumschiffskommandant bei Übernahme des Schiffes sämtliche Schlösser, Geheimkodes und Überwachungseinheiten auf sich programmieren ließ. Teclon hatte dementsprechend auch einen neuen Universalkodeschlüssel erhalten. Ma-Anlaan unterbrach die Stille zuerst. »Abagur del Monotos ist tot. Ich selbst habe seine Leiche gesehen. Er wurde von seinen Männern erschossen. Dadurch wurde die VALTRICTON vor der Vernichtung durch die Maahks bewahrt.« Das war natürlich die offizielle Version des Geschehens; er verschwieg in diesem Augenblick, dass del Monotos im Grunde durch seine Intrige umgekommen war. »Wie ist es möglich, dass Teclon im Sterben den Universalkodeschlüssel des alten Kommandanten sehen konnte?«, fragte der Ara-Wissenschaftler. »Kann mir einer von Ihnen eine plausible Antwort darauf geben? Ein Toter kann doch nicht plötzlich ins Leben zurückkehren und die Männer von der VALTRICTON ermorden. Das ist doch völlig ausgeschlossen.« Solthoron nickte. »Das dürfte in der Tat ausgeschlossen sein. Ich halte die Mordserie für einen Rachefeldzug. Für jeden Mord gibt es ein Motiv. Wenn wir es mit einer schizophrenen Persönlichkeit zu tun haben sollten, dürfte es zunächst den Anschein haben, der Mörder hätte gar kein Motiv. Doch selbst ein Verrückter kann irgendeinen Grund für sein Handeln anführen. Selbst wenn dieser Grund in den Abgründen seines kranken Bewusstseins verborgen liegt.« »Wie kommen Sie auf Rachefeldzug?«
»Ganz einfach – del Monotos wurde gewaltsam aus dem Weg geräumt. Die Opfer der Mordserie waren an diesem Komplott direkt oder indirekt beteiligt.« »Und was schließen Sie daraus?« »Jemand von der Besatzung will den alten Kommandanten rächen.« Solthoron machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen. »Der große Unbekannte muss del Monotos sehr eng verbunden gewesen sein. Wie hätte er sonst an den Universalkodeschlüssel kommen können? Vermutlich stand der Mörder sogar in einer verwandtschaftlichen Beziehung.« Zarcov Ma-Anlaan stand der Schweiß auf der Stirn, er kaute auf einem Beruhigungsriegel und ging unruhig auf und ab. »Wir können die Besatzung der VALTRICTON einem Psychoverhör unterziehen«, schlug der Ara-Wissenschaftler vor. »Gehört der Mörder zur Mannschaft, wird er sich verraten. Es gibt genügend Tricks, um auch den raffiniertesten Verbrecher zu durchschauen.« »Und wie soll ich mich inzwischen verhalten?« Ma-Anlaan schnaufte. »Weiß der Mörder, dass ich die Intrige gegen del Monotos eingefädelt habe? Wenn ja, bin ich das nächste Opfer auf der Liste.« »Durchaus möglich«, musste Solthoron dem Arkoniden zugestehen. »Die Besatzung der VALTRICTON befindet sich auf Arkon Drei. Die Männer können keinen unbeobachteten Schritt tun. Wenn es Sie beruhigt, begleite ich Sie zu Ihrer Wohnung, Hochedler. Wir können über die nächsten Phasen unserer Therapie sprechen. Ich glaube, dass Sie das auf andere Gedanken bringen wird.« Ma-Anlaan stimmte hocherfreut zu. Es beruhigte ihn, Solthoron an seiner Seite zu wissen. Denn tief in seinem Innersten wusste der Arkonide, dass ihn der unheimliche Mörder als Nächsten ins Visier nehmen würde.
Im Riesenkelch von Hocton-Mur herrschte zur siebzehnten Tonta Hochbetrieb. Unzählige Unterhaltungsuchende bevölkerten die farbenprächtig ausstaffierten Etagen des riesigen Trichtergebäudes. Niemand schien an die Mordserie zu denken; alle wollten ihre Alltagssorgen im Trubel der Vergnügungssalons vergessen. Aus keinem anderen Grund waren die Arkoniden hierher gekommen. Ma-Anlaan nickte einer jungen Tänzerin gönnerhaft zu. Die Kleine verbeugte sich tief. »Hier kann mir nichts passieren.« Ma-Anlaan schien die Fassung zurückgewonnen zu haben. »Meine Zarltoner bewachen alle Eingänge. Die Überwachungspositronik wurde mit denen der Wachroboter synchron geschaltet. Jeder Gast im Hocton-Mur wird automatisch überprüft.« »Ich also auch.« In Solthorons Stimme schwang leiser Spott mit. »Natürlich. Sie werden von der Positronik genauso registriert wie jeder andere Gast auch.« Ma-Anlaan legte die Rechte auf das Wärmeschloss seines persönlichen Liftes. Eine optische Anzeige leuchtete auf, dann öffneten sich die Schiebetüren. Die Liftkabine war mit wertvollen Stickereien ausgestattet worden. Duftbeutel hingen in den Ecken. Während der Lift mit hoher Geschwindigkeit zur obersten Etage des Trichtergebäudes raste, überkam den Goltein-Schüler plötzlich ein unheimliches Gefühl. Er konnte sich den Grund dafür nicht erklären. Es musste irgendetwas mit der ungewohnten Umgebung zu tun haben. Ein Goltein-Eingeweihter war so sensibel und überaus empfindlich, dass er sogar die psychische Aura von erregten Personen spüren konnte, die er überhaupt nicht sah. »Was haben Sie, Solthoron?« »Ich fühle mich nicht besonders. Vielleicht liegt es an den psychischen Ausstrahlungen in Hocton-Mur …«
»Unsinn«, entgegnete der dicke Arkonide. »Bei mir gibt es nur positive Ausstrahlungen. Hier wird das Leben in vollen Zügen genossen.« Solthoron verzichtete auf eine Antwort. Er hätte den Malen doch bloß beleidigt. Die zweifelhaften Vergnügungen entsprachen nicht den Idealvorstellungen eines Goltein-Schülers. Die Türhälften glitten zischend in die Wandnischen zurück. Eine Vorhalle, in der ein Zarltoner hinter seinem Überwachungspult aufsprang und Haltung annahm, wurde passiert. Die Tür zur eigentlichen Wohnung öffnete sich, auch hier gab es ein nur auf Ma-Anlaan ansprechendes Wärmeschloss. »Herrlich«, rief Solthoron aus. »Das ist einfach phantastisch.« Der Goltein-Schüler betrat den großen, kuppelüberdachten Raum. Ein kleines, bepelztes Tier huschte an ihm vorbei. Der Duft exotischer Gewächse wehte an ihm hoch. Die Blütenkelche riesiger Ziergewächse schienen sich extra für sie zu öffnen. »Das ist mein Reich«, sagte Ma-Anlaan stolz. »Das gehört mir. Hier haben nur meine engsten Freunde Zutritt.« Der Zierpark wurde von einer eleganten Sitzgruppe abgelöst. Ein Wasserbecken mit kleinen Fischen begrenzte die leicht erhöhte Rundung. Neben den Sesseln waren versenkbare Bildschirme angebracht. Auch in seinem privaten Bereich wollte Ma-Anlaan nicht auf die Verbindung zu seinen Geschäftspartnern verzichten. »Was darf ich Ihnen anbieten?« Der Goltein-Schüler wehrte ab. »Jetzt nicht. Gestatten Sie mir einen Rundgang durch Ihren Garten?« »Gewiss. Fühlen Sie sich hier wie zu Hause. Ich erkundige mich inzwischen bei meinen Zarltonern nach dem Gang der Geschäfte.« Solthoron ließ die unwirkliche Umgebung voll auf seine sensible Psyche wirken. Der junge Arkonide wusste, dass er sich in fünfhundert Metern Höhe befand. Nur die
Panzerplasthaube trennte ihn von den Wolken. Draußen schien ein besonders starker Wind aufgekommen zu sein. Die Wolkenfelder verschoben sich rasch vor dem Gewimmel der dicht stehenden Sterne des Thantur-Lok-Zentrums. Das lautlose Gleiten faszinierte den Goltein-Schüler ungemein. Er entdeckte immer neue Formen und Gestalten. Gigantische Wolkentäler verschlangen die ursprünglichen Formen, leuchtender Himmel strahlte für wenige Augenblicke hindurch, dann bedeckten mächtige Streifen das Firmament. Plötzlich waren die fremdartigen Empfindungen wieder da. Solthoron stöhnte unterdrückt auf. Die psychische Aura, die er in seinem Innersten spürte, war zutiefst brutal und gewalttätig. Der Goltein-Schüler schauderte unter dem Ansturm der entfesselten Empfindungen. »Ma-Anlaan, wo sind Sie?« »Hier«, kam die Antwort. »Ich stehe vor Ihnen! Sehen Sie mich denn nicht?« Der dicke Arkonide steuerte geradewegs auf die Sitzgruppe zu. Neben ihm plätscherte das Wasser des kleinen Springbrunnens. Die Zierfische sprangen über die Wasserfläche. Solthoron riss gewaltsam die Augen auf. Das Bedrohliche und Fremde beeinflusste ihn immer mehr. »Halt! Nicht weitergehen!« »Lassen Sie den Unsinn, spielen Sie nicht verrückt.« Er hat recht. Meine Nerven sind überreizt. Ich bin die vielfältigen Eindrücke der Außenwelt einfach nicht mehr gewohnt. Aber trotzdem nahmen die unheimlichen Empfindungen überhand. Solthoron konnte sich nicht dagegen wehren. Er war dazu ausgebildet worden, krankhafte Gefühlsregungen zu orten. Er war wie eine biologische Antenne, die alles Negative und Abnorme anzog. »Nicht weitergehen, Hochedler. Ich beschwöre Sie!« Solthoron sah, wie der Arkonide unsicher wurde. Schließlich blieb er dicht am Beckenrand stehen. Die Sitzreihe mit den
verdeckt angebrachten Bildschirmen war zum Greifen nahe. Links wucherten die exotischen Pflanzen. »Sagen Sie mir, was Ihr merkwürdiges Verhalten zu bedeuten hat. Ich finde es beschämend, wie Sie sich mir gegenüber gehen lassen. Sie sollen mich heilen. Aber was tun Sie? Sie beunruhigen mich nur noch mehr.« »Sie wollen mich nicht verstehen«, presste Solthoron mühsam hervor. »Ich spüre eine furchtbare Bedrohung, die über diesem Raum schwebt. Es hat etwas mit der Sitzgruppe zu tun. Mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen. Rufen Sie sofort Ihre Zarltoner. Sie müssen den Raum überprüfen lassen.« »Das ist doch Unsinn. Hier ist alles genauso unversehrt wie sonst auch. Ich allein habe den Schlüssel für diese Etage: Das Wärmeschloss ist auf meine Individualschwingungsfrequenzen abgestimmt.« Als Ma-Anlaan sich hinsetzen wollte, hinderte Solthoron ihn daran. Der dicke Arkonide machte eine Abwehrbewegung und rutschte dabei aus. Das rettete ihm das Leben. Denn im gleichen Augenblick schnellte ein klebriger Pflanzenarm haarscharf über ihn hinweg. Die Pflanzen veränderten sich rasend schnell. Aus dem kunstvoll angelegten Zierpark war unvermittelt ein tödlicher Dschungel aus fleischfressenden Pflanzen geworden. »Helfen Sie mir!«
Der Hochedle kam torkelnd wieder auf die Beine. Sein Gesicht war schreckensbleich. Er schien das Ganze überhaupt nicht fassen zu können. Hatte sich auf einmal alles gegen ihn verschworen? »Kriechen Sie über den Boden«, stieß Solthoron hervor. Die psychische Hassaura hielt unvermindert an. Der Goltein-Schüler glaubte sogar, einen gewissen Triumph in den unheimlichen Empfindungen wahrnehmen zu können. Die
fleischfressende Pflanze unterschied sich rein äußerlich nur durch ihre klebrigen Tentakel von den übrigen Pflanzen. An den schlangenförmigen Enden entsprossen mächtige Scheiben, die an den Unterseiten mit Dornen besetzt waren. »Aufpassen, dass Sie die Pflanzenscheiben nicht berühren!« Ma-Anlaan reagierte auf Solthorons Warnung überhaupt nicht, kauerte sich wie ein Kind zusammen und zitterte am ganzen Körper. Die Pflanzenarme vollführten einen gespenstischen Reigen, tasteten wild in der Luft umher. Doch wie durch ein Wunder blieb Ma-Anlaan verschont. »Tiefer auf den Boden!«, schrie Solthoron erregt. Zwischen ihm und der Sitzgruppe gab es nur noch eine schmale Lücke. Solthoron konzentrierte sich auf den Arkoniden, warf sich ebenfalls auf den Boden, kroch geschickt vorwärts und erreichte den Rand der Sitzgruppe. Dicht über ihm peitschten die Pflanzenarme blindwütig durch die Luft. »Strecken Sie mir die Hand entgegen, Ma-Anlaan.« Der dicke Arkonide rührte sich nicht, schluchzte wie ein hilfloses Kind. Sein Gesicht war fleckig, Tränen liefen ihm über die feisten Wangen. Plötzlich ertönte eine durchdringende Stimme: »Jetzt wirst du sterben, Zarcov Ma-Anlaan …« Die Stimme kam von der Sitzgruppe. Aber dort saß niemand. Solthoron erkannte, dass die Stimme aus einem Lautsprecher kam, vermutlich von einem Speicherkristall stammte. »Der Tod wird langsam kommen. Du wirst leiden. Dein Tod ist die gerechte Strafe für deine brutalen Intrigen …« Solthoron war entsetzt über den schneidenden Klang der Stimme.» … die Pflanzen werden dich nicht töten, Zarcov Ma-Anlaan. Sie werden dich schwächen. Du sollst dich nicht mehr wehren können, wenn du verbrennst. Du sollst genauso sterben wie dein Opfer …« Ma-Anlaan war halb verrückt vor Angst, biss sich in den Handrücken, um nicht laut zu schreien. Solange er am Boden
kauerte, konnten ihn die Mordpflanzen nicht erreichen. Die Tentakel peitschten über ihn hinweg. »Du solltest eigentlich später sterben.« Die Stimme erfüllte den Raum. »Du solltest das letzte Opfer sein. Leider zwingen mich die Umstände, dich vorzuziehen …« Solthoron ahnte, dass der Anschlag auf den Ma-Fürsten unmittelbar mit den Ergebnissen der Untersuchungskommission zusammenhing. Der geheimnisvolle Mörder hatte sämtliche Besatzungsmitglieder der VALTRICTON aufs Korn genommen. Da das Schiff zurzeit isoliert war und jedes Besatzungsmitglied unter Bewachung stand, musste Ma-Anlaan dran glauben. Der Mörder gehört also nicht zur Besatzung der VALTRICTON, schoss es Solthoron durch den Kopf. Im gleichen Augenblick breitete sich beißender Qualm aus. Die Pflanzententakel rollten sich verschmort zusammen. Der Malen stieß einen gellenden Schmerzensschrei aus. »Ich verbrenne!« Solthoron überwand seine Furcht vor den Pflanzen und rannte gebückt vorwärts, schaffte die wenigen Meter bis zur Sitzgruppe in einem Atemzug. Blitzschnell ergriff er den willenlosen Arkoniden am Arm. Erst jetzt sah er, dass sich die Sessel infolge einer chemischen Reaktion in dunkelrot glühende Folterinstrumente verwandelt hatten. »Der Wahnsinnige wollte mich bei lebendigem Leib rösten«, stieß Ma-Anlaan gequält hervor. Jetzt zuckte eine Stichflamme aus den Polstern. Rußende Ascheteilchen trieben durch die Luft. Der Qualm erschwerte den Männern das Atmen. Ma-Anlaan hustete unterdrückt. »Wir müssen hier raus!« Solthoron zerrte den dicken Mann hastig mit sich. Das Gewicht erschwerte sein Vorhaben. Ma-Anlaan knickte immer wieder in den Knien ein. In diesem Augenblick setzte die Stimme des Mörders zu einem
triumphierenden Lachen an. Doch bevor sie ihre letzten Erklärungen abgeben konnte, irrlichterte eine Glutentladung durch den Kunstpark. Solthoron kniff erschrocken die Lider zusammen. »Wir sind nicht allein. Vielleicht Ihre Zarltoner …« Ma-Anlaan sackte kraftlos in sich zusammen, schien jetzt nichts wahrzunehmen. Der Glutstrahl zuckte noch einmal auf, dann herrschte wieder Halbdunkel. Die Sesselgruppe war mitsamt des Abspielapparats verschwunden. Ein nachglühendes Loch gähnte in der Decke. Tödliches Schweigen breitete sich aus. »Zarcov«, ertönte eine weibliche Stimme. »Bist du verletzt?« Solthoron und sein schwergewichtiger Schützling taumelten aus den Qualmwolken und blieben dicht vor der Lifttür erstaunt stehen. Die junge Arkonidin war außergewöhnlich hübsch. Ihre glatten, silberweißen Haare umrahmten die hohe Stirn. Ihr Gesicht wurde von großen, strahlenden Augen beherrscht. Sie hielt einen Blaster schussbereit in der Rechten. »Du … hast mir das Leben gerettet«, keuchte Ma-Anlaan. »Du bist im letzten Augenblick gekommen.« Dann verlor er das Bewusstsein.
»Wer sind Sie?«, fragte Solthoron die junge Arkonidin. Sie drehte sich langsam um. Ihr Mund verzog sich zu einem spöttischen Lächeln. »Ist es so wichtig, immer den Namen eines anderen zu kennen? Man begegnet sich, und man verliert sich auch wieder aus den Augen. Ich bin Zarcovs Begleiterin. Das muss Ihnen genügen.« »Sie sind sehr schön. Sie passen nicht zu ihm.« Solthoron warf einen bedeutungsvollen Blick auf den dicken Arkoniden. Zwei Bauchaufschneider kümmerten sich um ihn. Der Atem des Mannes ging schwer. Tiefe Ringe zeichneten sich unter
seinen Augen ab. »Wenn Sie meinen, ich würde besser zu einem jüngeren Mann passen, muss ich Sie enttäuschen. Die Beziehung zu einem reifen Mann ist weitaus befriedigender …« »Und lukrativer.« Sie überging seine ironische Bemerkung. Solthoron sah sie ernst an. Sie wich seinem Blick nicht aus. Ihre Augen schienen von einem geheimnisvollen Feuer erfüllt zu sein. Irgendeine elementare Kraft ging von ihnen aus. »Sie wollen Ma-Anlaan von seinen Problemen befreien, nicht wahr?« Solthoron nickte. Anscheinend hatte er seiner Begleiterin alles über ihn und die Goltein-Schule erzählt. Das war durchaus nichts Außergewöhnliches. Die Goltein-Lehre stand ziemlich hoch im Kurs. Wer sich eine Goltein-Therapie leisten konnte, gehörte zu den oberen Zehntausend. »Beinahe wären Sie mit Ihrem Patienten umgekommen.« »Sie haben uns das Leben gerettet. Ich muss mich bei Ihnen bedanken. Sie sind doch nicht zufällig hier vorbeigekommen, oder?« »Ich habe jederzeit Zutritt zu seinen Privaträumen.« »Der Mörder ebenfalls.« Solthoron konnte sich diese Bemerkung nicht verkneifen, wollte die hübsche Arkonidin aus der Reserve locken. »Das stimmt. Aber es ist wirklich nicht schwer, die Programmierung zu manipulieren. Das hätte jeder Zarltoner erledigen können.« »Man wird Ihnen unbequeme Fragen stellen.« »Wirklich?« »Zum Beispiel, wie die fleischfressenden Pflanzen in den Kunstpark gekommen sind …« Sie unterbrach ihn lachend. »Sie scheinen eine ausgeprägte Phantasie zu haben. Aber das gehört wohl zu Ihrem Beruf.« Solthoron ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Die junge
Arkonidin interessierte ihn immer mehr. Ihre psychische Ausstrahlung war ungemein stark. Er konnte sich noch nicht erklären, wodurch diese Aura hervorgerufen wurde. »Sie sind eine außergewöhnliche Frau …« »Danke.« »Aber das wird Sie nicht davor bewahren, Ihre Identität lüften zu müssen. Man wird sich für Ihre Vergangenheit interessieren, und man wird Sie nach Ihrem Namen fragen.« »Davor habe ich keine Angst.« Inzwischen hatten die Mediziner ihre Arbeit beendet. Zarcov Ma-Anlaan lag auf der flachen Polsterliege. Sein Atem ging wieder gleichmäßig. »Sie behandeln ihn doch, nicht wahr?« Der Mediziner wandte sich Solthoron kollegial zu. Sein Blick war sehr ernst und drückte so etwas wie Besorgnis aus. »Ja, ich stehe kurz vor der dritten, entscheidenden Goltein-Phase, wenn Ihnen das etwas sagt.« Der Yoner-Madrul nickte. »Dann empfehle ich Ihnen, sofort damit zu beginnen. Ma-Anlaans physische Kräfte sind ebenso erschöpft wie seine geistigen Reserven. Die geringste Aufregung kann ihn töten. Da hilft ihm auch unsere medizinische Kunst nicht weiter. Es gibt nur noch eine Chance für ihn …« »Ich soll seine Probleme übernehmen?« »Ganz recht. Wenn er von allem seelischen Ballast befreit ist, kann sich sein Körper regenerieren. Unsere Mittel reichen dazu nicht aus. Ich muss zugeben, dass ihr Goltein-Heiler uns haushoch überlegen seid. Eure Methoden lassen sich zwar nicht exakt durch die empirischen Wissenschaften belegen, dennoch sprechen eure Heilungserfolge für sich.« Solthoron legte nachdenklich die Robe ab. Dabei löste sich der Magnetverschluss seiner Brusttasche; der Ausdruck, den ihm Kars Parghir mitgegeben hatte, fiel auf den Boden. Die
junge Arkonidin bückte sich und betrachtete erstaunt das Bild. »Ich werde Ma-Anlaan behandeln«, sagte Solthoron und begleitete die Mediziner zum Ausgang. Nachdem sie gegangen waren, wandte er sich an die hübsche Arkonidin. Sie warf einen letzten Blick auf das Bild und gab es ihm wortlos zurück. Solthoron hatte das unbestimmte Gefühl, die junge Frau würde ihn jetzt mit ganz anderen Augen betrachten. Ihre Neugier war unverhohlen. Ohne Zweifel hatte sie die Person auf dem Bild als Gonozal VIII. erkannt und fragte sich wohl nun, was ihn als Goltein-Heiler mit dem früheren Imperator verband.
Solthoron und Ma-Anlaan waren allein. Die geschwächten Abwehrkräfte des Ma-Fürsten erleichterten Solthoron die Therapie. Der Arkonide war ausgelaugt. Seine letzten Widerstandskräfte schwanden dahin. »Sie fühlen sich jetzt ganz leicht, Zarcov Ma-Anlaan. Sie schweben auf weichen Wolken. Sie haben keine Probleme mehr. Sie wissen nicht mehr, wo Sie sind. Sie brauchen keine Angst mehr zu haben. Sie sind vollkommen sicher …« »Ja … ich fühle mich ganz leicht. Ich schwebe.« Die Augen des fetten Mannes bekamen einen feuchten Glanz. Solthoron wusste nicht, ob das von den Beruhigungsinjektionen herrührte oder ob Ma-Anlaan bereits die Schwelle zur Goltein-Übernahme erreicht hatte. »Öffnen Sie sich«, verlangte Solthoron unvermittelt. Die psychische Aura des Arkoniden wurde spürbar. Solthoron legte dem Mann die Hände an die Schläfen, nahm den Schlag des fremden Herzens in sich auf. Er ließ die fremden Impulse ganz auf sich wirken. Die Aura des Mannes verdichtete sich immer mehr. Rein äußerlich war keine Veränderung zu erkennen, doch innerlich vollzog sich jetzt eine grundlegende Wandlung.
Die Goltein-Therapie ließ sich weder mit dem technischen Begriff »Hypnose« noch mit dem Zauberwort »Telepathie« umschreiben. Es war etwas ganz anderes. Die langwierige Ausbildung befähigte jeden Goltein-Heiler, eine seelische Vereinigung mit dem Patienten einzugehen. Während dieser engen Verknüpfung von zwei Identitäten verschmolzen die Bewusstseinsebenen völlig miteinander. Solthoron sah nun nichts mehr. Er musste die kreatürliche Angst in sich gewaltsam unterdrücken. Er hatte plötzlich das Gefühl, von einem mächtigen Sog verschlungen zu werden, sah nur noch Wirbel vor den Augen. Das Zimmer drehte sich immer schneller, bis nur noch grelle Lichtreflexe übrig blieben. In seinen Ohren war ein übernatürliches Brausen. »Wir sind eins geworden, Zarcov Ma-Anlaan … unsere Seelen sind fest miteinander verschmolzen.« Solthoron wusste, dass er jetzt seine ganze Willenskraft aufbringen musste. Wenn er dem zähen Sog nachgab, würde er zusammen mit seinem Patienten scheitern. Ihre Bewusstseinsinhalte würden im ewigen Dunkel einer mystischen Leere verschwinden. »Die reinigende Flamme Golteins befreit uns von allem Übel. So war es zur Zeit unserer Väter, und so wird es auch in Zukunft sein. Das Erbe der Vergangenheit ist im Goltein wach und lebendig.« Der Sog hüllte ihre Bewusstseine total ein, umgab sie wie ein schützender Kokon. Ab und zu blitzten geheimnisvolle Lichter auf, kamen und verschwanden wieder. Sie wirkten auf die Seelen der beiden Männer wie ferne Sterne. Größere Lichter blendeten sie. Lang gezogene Feuerschweife unterbrachen die Dunkelheit. »Meine Seele ist stark, Zarcov Ma-Anlaan. Ich kann dich ertragen. Ich erkenne deine Ängste und Sorgen. Ich werde sie bei mir behalten.« Das Lichtergeflimmer wurde plötzlich von tierischen Instinkten und abscheulichen Gefühlen hinweggefegt. Das sind Zarcov Ma-Anlaans negative Komponenten, erkannte Solthoron entsetzt. Sie sind drängend und bestialisch. Sie
gehören einer verdorbenen Persönlichkeit, die jede Ethik über Bord geworfen hat. Solthoron wurde in wenigen Augenblicken bewusst, wie Ma-Anlaan seine Geschäfte abgewickelt hatte. Immer nur auf den eigenen Vorteil bedacht, hatte er skrupellos jeden Geschäftspartner aus dem Weg geräumt. Er war für unzählige Arkoniden zum Schicksal geworden. Der Weg, den er zurückgelegt hatte, war von Leichen gesäumt. Viele Arkoniden hatten sterben müssen, bevor er Clanchef der SENTENZA werden konnte. Auch der Tod des Kommandanten Abagur del Monotos gehörte dazu. Wer Ma-Anlaan im Weg stand, wurde mitleidlos beseitigt. Sein Geschäftsprinzip ließ keine Ausnahme zu. Dabei war es egal, ob es nur um ein paar Prozent Gewinnbeteiligung ging oder um die Übernahme eines ganzen Industriezweigs. Solthoron empfand unbeschreiblichen Ekel. Sein einziger Trost bestand darin, dass Ma-Anlaan nach der erfolgreichen Behandlung womöglich friedfertiger und weniger skrupellos handeln würde. Als sich die bösartigen Impulse zu einem pechschwarzen, zähflüssigen Brei verdichteten, war der Zeitpunkt zur Ablösung gekommen. »Unsere Körper werden wieder schwer. Wir spüren die Kraft der Anziehung, und wir ordnen uns allem willig unter. Wir erkennen unsere Umgebung. Wir werden wieder Solthoron und Zarcov Ma-Anlaan.« Der Körper des dicken Arkoniden schauderte wie unter einem starken Fieberanfall. Salziges Augensekret tropfte auf die Polsterbezüge. Die Finger verkrampften sich. »Es ist vorbei«, flüsterte Solthoron erschöpft. »Sie sind von Ihren Problemen befreit, Zarcov Ma-Anlaan.« Als Solthoron aufstand, spürte er ein starkes Schwindelgefühl. Die Bürde jener animalischen Empfindungen, die er von Ma-Anlaan übernommen hatte, wog doppelt schwer. Er zwang sich nachhaltig dazu, sie in ihrer Abscheulichkeit tief
in sein Unterbewusstsein abzudrängen. Diesen inneren Kampf würde er so lange austragen müssen, bis er wohlbehalten auf Perpandron gelandet war. Die Goltein-Heiler würden ihn davon befreien. Das Boshafte und Schlechte würde vom Planeten aufgenommen werden. »Sie haben mich gerettet«, sagte Ma-Anlaan erleichtert. »Ich fühle mich wie neugeboren. Sie sind ein Meister. Wie kann ich Ihnen nur danken?« Solthoron zog die Brauen zusammen, wollte nicht, dass der Ma-Fürst seine Erschöpfung erkannte. »Es war meine Aufgabe, Ihnen zu helfen. Sie waren sehr tapfer. Ich hoffe, Sie werden die seelische Wiedergeburt nutzen. Jetzt liegt es in Ihrer Hand. Sie können ganz von vorn anfangen,« »Ich werde daran denken. Und ich werde den Goltein-Heilern die Hälfte meines Vermögens übereignen.« Zarcov Ma-Anlaans Augen leuchteten. In seinem Gesicht war keine Spur mehr von seiner ursprünglichen Bosheit zu erkennen. Solthoron hatte die Feuerprobe als Goltein-Heiler bestanden. Doch es war fraglich, ob er mit den anderen Problemen des Mannes fertig werden würde. Der mysteriöse Rächer hatte seinen Plan noch längst nicht aufgegeben. Und jetzt gehörte auch Solthoron zu den Opfern eines unglaublichen Komplotts.
Ma-Anlaan zeigte seine Dankbarkeit, indem er dem Goltein-Heiler für den Rest der Nacht kurzerhand eine Suite im Hocton-Mur-Kelch zur Verfügung stellte. Solthoron fühlte sich schwächer, als er sich hatte eingestehen wollen. Dankbar nahm er das Angebot an. Tief in seinem Unterbewusstsein regten sich die animalischen Bewusstseinsinhalte. Solthoron musste immer wieder an die junge Arkonidin denken. Ihr hübsches Gesicht tauchte vor seinem geistigen Auge auf. Das
Leuchten ihrer eindrucksvollen Augen beherrschte die Vision. Statt sich endlich um seinen eigentlichen Auftrag zu kümmern, nutzte er den Terminalzugang für eigene Recherchen. Problemlos erhielt er Zugang zum Personenarchiv von Arkon I, nachdem er sich als Goltein-Schüler legitimiert hatte. »Ich bitte um die persönlichen Daten einer jungen Arkonidin.« »Bitte sprechen Sie.« Solthoron gab eine genaue Personenbeschreibung von Ma-Anlaans charmanter Begleiterin. Er war sich jedoch nicht sicher, ob das ausreichte. »Ihre Angaben sind ungenügend.« Der Goltein-Schüler überlegte kurz, ob er sich damit zufriedengeben sollte. Doch er ließ nicht locker, wollte die Identität der jungen Arkonidin klären. »Soll Ihre Anfrage gelöscht werden?« »Nein. Sind die Daten sämtlicher Besatzungsmitglieder des Schweren Kreuzers VALTRICTON gespeichert?« »Für welchen Zeitraum wünschen Sie die Besatzungsliste?« Solthoron konkretisierte seine Anfrage und formulierte sie neu. »Befand sich vor und nach dem Kommandowechsel, bei dem Abagur del Monotos durch Nedo Teclon abgelöst wurde, eine Frau an Bord?« »Nein.« Solthoron sah seine Chancen schwinden, doch noch Licht in die mysteriöse Angelegenheit zu bringen. Plötzlich kam ihm ein verwegener Gedanke. »Ich bitte um die Unterlagen über die Familie del Monotos.« In wenigen Augenblicken übermittelte die Positronik die Daten der alten Adelsfamilie, deren Ursprünge bis zu Mantar da Monotos und sogar weiter in die Vergangenheit reichten. Abagur del Monotos war ein altgedienter Kämpfer gewesen. Unter Gonozal VIII. war ihm die Kometenspange verliehen worden. Sein Tod war nur kurz vermerkt worden, wurde mit Versagen bei entscheidenden
Kampfhandlungen im Tricoron-Sektor begründet. »Gibt es noch lebende Angehörige von Abagur del Monotos?« »Nach dem gewaltsamen Tod beging seine Gattin Cleria Selbstmord. Abagur del Monotos wurde aus dem Adelsregister gelöscht. Über den gegenwärtigen Aufenthaltsort seiner Tochter Sarissa, nun ebenfalls keine ›da‹ mehr, kann nichts gesagt werden.« Solthoron war sich ganz sicher, dass er auf der richtigen Fährte war. Er spürte, dass ihn der Jagdeifer gepackt hatte. »Bild von Sarissa Monotos einblenden.« Einen Atemzug später erschien das Porträt einer hübschen Arkonidin auf dem Bildschirm. Die Aufnahme stellte sie im Alter von fünfzehn Arkonjahren dar. Solthoron pfiff überrascht durch die Zähne. Die Ähnlichkeit mit Ma-Anlaans Begleiterin war nicht zu übersehen! Solthoron schalt sich einen Narren, dass er nicht früher darauf gekommen war. Nur für einen Angehörigen von del Monotos’ Familie war ein Rachefeldzug gegen die Intriganten und Mörder der SENTENZA sinnvoll. Und Sarissa Monotos war die letzte noch lebende del Monotos. Solthoron unterbrach den Kontakt. Mit fliegenden Fingern tippte er Ma-Anlaans Kodenummer in die Visifon-Tastatur. Doch es geschah nichts. Auf dem Bildschirm leuchtete das Besetztzeichen auf. Solthoron biss sich aufgeregt auf die Unterlippe. Er wusste, dass Sarissa Monotos genau in diesem Moment zuschlagen konnte. Der Ma-Fürst schwebte in höchster Lebensgefahr.
»Aufmachen, Ma-Anlaan!« Hinter der Tür rührte sich nichts. »Wann hat Ma-Anlaan seine Privaträume verlassen? Wohin ist er gegangen?« Der Zarltoner zuckte mit den Schultern, machte mit dem Daumen eine leichte Bewegung zur verschlossenen Tür. »Er
hat uns strikten Befehl gegeben, ihn nicht zu stören. Er hat seine Privaträume seit zwei Tontas nicht mehr verlassen.« »Hat Ma-Anlaan noch Besuch einer jungen Frau?« Solthoron spürte, wie ihm das Herz bis zum Hals schlug; starke Erregung hatte sich seiner bemächtigt. Seine Augen tränten leicht. »Ja. Sie ist bei ihm. Ein Grund mehr, ihn nicht zu stören.« Jetzt explodierte Solthoron. Es kam so gut wie nicht vor, dass ein Goltein-Gelehrter die Beherrschung verlor. Aber die Sturheit des wachhabenden Zarltoners reizte ihn bis zur Weißglut. »Ma-Anlaan schwebt in Lebensgefahr. Seine Begleiterin ist für die Mordserie verantwortlich! Sie ist die Tochter von Abagur del Monotos …« »Dieser Name sagt mir überhaupt nichts.« Solthoron schlug so lange gegen die Tür, bis ihm die Fäuste wehtaten. Dann drehte er sich suchend um. Der Zarltoner folgte ihm mit einem gelangweilten Blick. Anscheinend hielt er ihn für überdreht. Allein die Tatsache, dass er die Goltein-Robe trug, hinderte ihn an einem barschen Verweis. »Solthoron!« Unbemerkt war die Tür beiseitegeglitten. »Sie?«, entfuhr es dem überraschten Goltein-Schüler. »Ja. Ich habe hier auf Sie gewartet. Ich wusste, dass Sie zurückkommen würden. Treten Sie doch näher.« Sarissa Monotos hatte ein verführerisches Lächeln aufgesetzt. Ihre Augen blitzten in einem unnatürlichen Feuer. Sie machte eine einladende Handbewegung und wiederholte ihre Aufforderung. »Kommen Sie herein. Oder wollen Sie mich noch länger warten lassen?« Der Zarltoner machte einen Schritt auf die Tür zu, blickte in den angrenzenden Kunstpark, der bereits wieder aufgeräumt und neu bepflanzt worden war, nachdem ein Räumtrupp die Reste der fleischfressenden Pflanzen beseitigt hatte. »Dieser Mann machte Andeutungen, Ma-Anlaan könne etwas
zugestoßen sein …« Sarissa lachte glockenhell. »Zarcov!«, rief sie erheitert. »Wie fühlst du dich?« »Prächtig«, kam die Antwort aus dem Hintergrund. Wenig später tauchte der dicke Mann wohlbehalten auf, hielt ein großes Glas in der Hand und nippte daran. Der Zarltoner entschuldigte sich für die Störung. »Kommen Sie endlich herein, Solthoron!« Solthoron wusste sofort, dass die Stimmung, die Zarcov Ma-Anlaan zur Schau trug, aufgesetzt war. Die Heiterkeit war gespielt, sein Lachen klang gequält. Aber vielleicht war das Ganze eine Täuschung, die ihm die überreizten Nerven spielten. Ma-Anlaan lebte, das war die Hauptsache. Dennoch stieß Solthoron anklagend hervor: »Sie sind Sarissa Monotos.« Sarissa schien nichts aus der Ruhe bringen zu können. »Ich wusste, dass Sie das herausfinden würden. Von einem Goltein-Heiler kann man mehr als von diesen hirnrissigen Untersuchungsbeamten erwarten.« »Dann geben Sie also alles zu?« Sie zog ein zierliches Medaillonkettchen aus dem Halsausschnitt ihrer eng anliegenden Weste. Solthoron erkannte den kleinen Anhänger sofort wieder. »Der Universalkodeschlüssel meines Vaters. Der erbärmliche Rest, der mir von ihm geblieben ist. Aus dem Adelsregister gelöscht, das Vermögen vom Imperium eingezogen …« Sie sagte das ohne echtes Mitgefühl. Solthoron hatte ohnehin das Empfinden, etwas unsagbar Fremdes würde aus der jungen Arkonidin sprechen. Ein Blick in ihre Augen genügte, um diesen Verdacht zu verstärken. Das Leuchten ihrer Augen wirkte jetzt unstet und flackernd. Sie ist von einem bösen Geist besessen, schoss es Solthoron durch den Kopf. Er deutete auf den dicken Mann, der sich zwischen die Polster gelegt hatte und sein berauschendes Getränk genoss.
Er schien sich für die Unterhaltung zwischen dem Goltein-Schüler und Sarissa überhaupt nicht mehr zu interessieren. »Weiß er über alles Bescheid?« »Er hört, was wir sagen«, sagte Sarissa gedehnt. »Aber er wird sich später an nichts mehr erinnern können.« »Dann haben Sie Ihre Rachepläne aufgegeben?« »Vielleicht … vielleicht auch nicht. Das Ganze war für mich nur ein Testfall. Ich musste meine Kräfte erproben, um das Finale glanzvoll bestehen zu können. Außerdem brauchte ich gewisse Informationen für meinen eigentlichen Auftrag. Die habe ich bekommen. Unter anderem durch Sie, Solthoron!« Ein schmerzhafter Impuls durchzuckte Solthorons Innerstes. Doch der Schmerz ebbte rasch ab und verschwand wieder. »Testfall? Finale … Auftrag? Wovon sprechen Sie eigentlich, Sarissa? Und was habe ich damit zu tun?« »Das werden Sie noch erfahren.« Sarissa kam langsam auf ihn zu. Ihre Augen hefteten sich starr auf ihn. Er wollte ihnen ausweichen, doch sie folgte seinem Blick. Ihr Leuchten brannte sich tief in sein Innerstes. Es war, als versuche ein Fremder, ihn zu hypnotisieren. Solthoron hatte genügend geistige Reserven, um diesen Angriff abwehren zu können. Panik stieg in ihm auf. Er war mit einer fanatischen Mörderin allein, hatte keine Waffe. Seine einzige Waffe war die Goltein-Fähigkeit. Doch er zweifelte, dass sie ihm im Kampf gegen Sarissa etwas nützen würde. »Warum haben Sie Ma-Anlaan verschont?« »Weil es wichtigere Dinge gibt. Ich verschwende keine Zeit mehr mit diesem Narren, habe ihm einem Hypnoblock verpasst. Sobald wir verschwunden sind, wird er sich an nichts mehr erinnern.« Solthoron fühlte sich wie ein gefangenes Tier. Die Falle hatte zugeschnappt. Er drehte sich um und rannte zur Tür, presste die Handflächen gegen das Wärmeschloss, doch es rührte sich nichts. Er war gefangen. »Meine Vorbereitungen
waren gründlich. Ich habe einen perfekten Plan entwickelt. Ich liebe das Perfekte. Aber das werden Sie noch erkennen. Wir werden uns ausgezeichnet verstehen.« Solthoron atmete keuchend. Sarissa schien genau zu wissen, was sie tat. Woher nahm sie die Gewissheit, dass alles nach ihren Wünschen verlaufen würde? Sie war von irgendeiner geheimnisvollen Kraft besessen. Jetzt lächelte sie ihn spöttisch an. »Lassen Sie das. Das ist reine Kraftverschwendung. Sparen Sie sich das für unsere gemeinsame Reise auf. Sie sollten sich in Ihr Schicksal fügen.« »Warum töten Sie mich nicht? Auf einen Mord mehr oder weniger kommt es Ihnen doch auch nicht mehr an, oder?« »Lebend sind Sie mir nützlicher.« »Was wollen Sie von mir?« Sie antwortete nicht, legte ihm nur sachte ihre Hand auf die Schulter. Von der Berührung ging etwas Elektrisierendes aus. Solthoron fröstelte. Die junge Arkonidin kam ihm immer unheimlicher vor. »Sie … Sie sind besessen.« Sarissa lachte erheitert. Zarcov Ma-Anlaan nahm von ihr keine Notiz, lag auf dem Polster und gab sich den bunten Träumen irgendeines Rauschmittels hin. »Besessen? Vielleicht haben Sie recht. Aber es ist ganz anders, als Sie es sich jemals vorstellen können. Warum sollte ich Ihnen alles erklären? Während unserer Reise werden Sie auch das letzte Rätsel lösen. Aber merken Sie sich eins: Sie sind wehrlos und können mir keinerlei Widerstand leisten. Denken Sie immer daran, und Sie ersparen sich unnötige Schmerzen.« Erneut stach es heftig durch Solthorons Bewusstsein. »Wie … wie machen Sie das?«, stammelte er. Eine weitere Schmerz-Welle peitschte durch seinen Körper. Sein Kopf brannte förmlich. Es war, als würde er mit glühenden Nadeln gefoltert. Er schrie gellend auf, umfasste seinen Kopf mit den Händen und stürzte zu Boden.
»Das ist nur eine kleine Demonstration. Sie wissen nun, was Sie beim geringsten Widerstand erwartet. Fügen Sie sich in Ihr Schicksal, lassen Sie mich gewähren. Das ist das Beste für Sie.« Solthoron kam schwer atmend wieder hoch, taumelte bis zum Panoramafenster und stieß mit dem Gesicht gegen die Scheibe. Es gab einen heftigen Schlag, doch er reagierte überhaupt nicht auf diesen Schmerz. Die stechenden Wellen in seinem Innersten waren weitaus stärker. Tränen liefen ihm übers Gesicht. Verzweifelt stemmte er sich gegen die Scheibe. Draußen trieben Wolken vorbei. Zahlreiche Trichterbauten erhoben sich aus dem ewig satten Grün der Parks. Solthoron wusste nicht, ob er diese zauberhafte Landschaft jemals Wiedersehen würde. Tränen verschleierten seinen Blick. Es waren Tränen der Trauer, Tränen des Schmerzes und Tränen der Hilflosigkeit. »Wir werden jetzt eins sein, Solthoron.« Er vernahm Sarissas Worte nicht mehr. Die grauenvolle Schmerzwelle raubte ihm das Bewusstsein. Neben ihm sackte Sarissa schreiend zusammen. Sie wurde augenblicklich wahnsinnig. Das Fremde in ihrem Innersten hatte sie zu rasch verlassen. Ihre Bewusstseine waren zu lange aufs Engste vereinigt gewesen, um diese abrupte Trennung noch verkraften zu können. Sarissa Monotos büßte für ihre Taten. Kein Gericht des Großen Imperiums würde sie noch zur Rechenschaft ziehen können. Sie war eine lebende Tote, war im Grunde schon in dem Augenblick gestorben, als die fremde, unheilvolle Kraft von ihr Besitz ergriffen hatte …
12. Galur da Paro erwachte vom durchdringenden Kreischen etlicher Tiere, die mit dem infernalischen Lärm den heraufdämmernden Morgen begrüßten. Galur streckte und reckte sich, dann stand er vorsichtig auf. Erstaunlicherweise hatte er keine Schmerzen, nur einen bösartigen Hunger, der sich mit lautem Magenknurren bemerkbar machte. Galur fühlte sich erfrischt und ausgeruht. Jetzt erst, da es wieder hell wurde, hatte er Gelegenheit, sich selbst anzusehen und das, was von seiner Ausrüstung geblieben war. Er hatte noch das Messer. Auch der Thermostrahler steckte im Holster, das Magazin war noch voll. Der Bogen war verschwunden, der Köcher, der noch immer über seiner Schulter hing, war leer. Besorgt blickte Galur auf seine Uhr, die ihm auch als Kompass dienen konnte. Auch sie hatte die Ereignisse ohne Schaden überstanden. »Wenigstens etwas!« Galur begann seine nähere Umgebung systematisch abzukämmen. Innerhalb einer Tonta hatte er genügend essbare Pflanzen, Nüsse und Beeren gefunden, um sich davon sättigen zu können. Dass eine der Beerensorten länglich geformt war und peinlich an Würmer erinnerte, nahm er mit einem Grinsen hin. In jedem Fall schmeckten sie vorzüglich und stillten den Durst. Völlig satt war Galur nach dieser Mahlzeit immer noch nicht, also suchte er weiter. Der Wald war hier weniger dicht, Galur musste größere Strecken zurücklegen, als er gedacht hatte. Plötzlich blieb er überrascht stehen. Was dort hell schimmerte, war unverkennbar Metall, und zwar eine Sorte Metall, die üblicherweise nur für einen Zweck verwendet wurde – für die korrosionsbeständige Außenhülle eines raumtüchtigen Fahrzeugs. Galurs Interesse erwachte schlagartig. Was hatte ein Raumschiff hier zu suchen, zu welchem Zweck wurde es versteckt? Vorsichtig schlich Galur näher. Als er die Gestalt sah, die sich von der Schleuse entfernte, wusste er, mit wem er es zu tun hatte. Die schlanke Frau war unverkennbar jene
Arkonidin, die Galur so fasziniert hatte. Zweierlei hielt Galur davon ab, sie sofort anzusprechen. Zum einen eine gewisse Befangenheit, zum anderen die Neugierde. Galur wollte wissen, welchen Grund die Frau und ihre beiden Begleiter hatten, sich hier im Wald zu verstecken. Die Frau entfernte sich weiter von dem Diskusbeiboot. Galur hatte schnell erkannt, dass sich damit keine größeren Strecken zurücklegen ließen. Also musste es ein Mutterschiff geben, das vermutlich im Orbit Perpandron umkreiste. Galurs Interesse wuchs von Zentitonta zu Zentitonta. Vor allem staunte er über den unbegreiflichen Leichtsinn der Frau. Die Schleuse stand weit offen, eine Herausforderung an alle Lebewesen des Dschungels, sich im Innern des Schiffes einzunisten – beispielsweise für Schlosswürmer, die durchaus fähig waren, das Schiff für alle Zeiten lahmzulegen. Was die Frau im Wald wollte, war Galur einstweilen unklar. Erst als er sah, dass sie zu einem Dauerlauf um das Schiff ansetzte, verstand er mehr. Offenbar war die Frau bemüht, ihre Kondition zu halten oder zu verbessern. Für diesen Zweck gab es an Bord eines so kleinen Schiffes naturgemäß wenig Möglichkeiten. Galur grinste und schlich sich an das Schiff heran. Unterwegs fand er noch einige verlockend aussehende Früchte, die er sammelte und in der Tasche verstaute. Galur entdeckte einen erhöhten Platz und machte es sich bequem. Während er genussvoll die Früchte verzehrte, lief ihm der rötliche Saft übers Gesicht und färbte es intensiv rot, auch die Hände wechselten die Farbe. Die Frau schien Galur überhaupt nicht wahrzunehmen, sie rannte unentwegt um den Diskus. Galur staunte, denn zu einer solchen sportlichen Leistung wäre er nicht fähig gewesen. Galur sah den Springfrosch erst im letzten Augenblick. Das Tier hatte sich bei seinem gewaltigen Sprung knapp verschätzt. Galur hörte den massigen Körper neben sich aufprallen, dann stieß ihn etwas hart gegen die Brust. Galur verlor das Gleichgewicht, rutschte ab. Instinktiv drehte er sich im Fallen so, dass er mit den Füßen zuerst aufkam, überschlug sich und rollte ab. Der Springfrosch war ein selten großes Exemplar seiner Art; ganz offenkundig war er sehr
hungrig und sehr angriffslustig. Das Tier brauchte einige Augenblicke länger als Galur, um den Sturz und seine Folgen zu überwinden. Als der Springfrosch Galur wiedersah und angriff, war der Mann bereits auf den Beinen und brachte sich mit einem Sprung in Sicherheit, den er sich normalerweise niemals zugetraut hätte. Der Springfrosch prallte gegen das harte Metall einer Teleskopstütze, verletzte sich leicht. Blut floss von einer Wunde über dem Auge hinab und blendete das Tier. Den winzigen Zeitraum der Unsicherheit nutzte Galur rücksichtslos aus, stieß einen gellenden Schrei aus, stürzte auf das Tier los und rammte das Messer in den Rumpf. Das Tier schrie vor Schmerz auf Galur sprang sofort zurück, holte noch einmal aus und stieß ein zweites Mal zu. Wieder erschütterte der Schrei des Springfroschs den Wald. Aus den Augenwinkeln heraus sah Galur, dass die Frau hinter einem Baum Deckung suchte und ihre Waffe zog. Allerdings konnte ihm das nicht viel helfen, der Körper des Springfroschs war zu nahe, als dass die Frau eine Gelegenheit für einen Schuss gehabt hätte. Der Springfrosch kippte vornüber, offenbar hatte Galur das Tier entscheidend getroffen. Noch einmal brüllte das Tier auf, Galur sah, wie sich die anderen Tiere des Dschungels fluchtartig in Sicherheit brachten, dann ging ein letztes Zucken durch den gewaltigen Körper. Galur war nass vom Blut des getöteten Tieres, aber erfühlte sich außerordentlich wohl dabei. Langsam kam die Frau näher. Galur zögerte nicht lange, wälzte den Springfrosch auf den Rücken, und mit einigen energischen Schnitten entfernte er das dritte Auge, das inzwischen kristallin geworden war – das sicherste Zeichen dafür, dass das Tier tot war. Galur schwenkte triumphierend seine Trophäe in der Luft, bot dabei einen furchterregenden Anblick. Gesicht und Hände waren vom Fruchtsaft gerötet, der Lederanzug vom Blut des Springfroschs bedeckt. Galur grinste und deutete eine Kusshand an, dann sprang er auf und verschwand rasch im Dschungel. Perpandron: 27. Prago des Tedar 10.499 da Ark
»Ziehen wir uns zurück.« Ich nickte nur zu Ras Vorschlag. Es wurde langsam hell, ohnehin Zeit also für uns, das Weite zu suchen. Niemand hatte uns gestört, wir hatten das Gebäude fast nach Belieben durchsuchen können. Gefunden hatten wir nichts. Lange Tontas, in denen Ra gelangweilt Wache hielt, hatte ich an einem Positronikterminal verbracht und alle meine Kenntnisse eingesetzt, um Zugang zu den Daten zu erhalten. Zum Glück beherrschte ich eine Reihe von Tricks, um Sicherungen zu umgehen und Barrieren zu überwinden. Leicht war es nicht gewesen, dennoch schaffte ich es. Das einzige greifbare Ergebnis war eine Eintragung in einer Datei gewesen, die nur mit einer Kodenummer versehen war, während alle anderen Bild und Namen des Patienten enthielten. Unter der Kodenummer stand ein kurzer Eintrag: Verlegt zur Südstation. Ich war sicher, dass es sich bei diesem Patienten um meinen Vater handeln musste, der Extrasinn hatte diesen Verdacht mit einem kurzen Impuls bekräftigt. Es war sinnlos geworden, weiter nach meinem Vater zu suchen – wenigstens im Bereich dieser Anlage der Goltein-Heiler. Südstation? Das konnte alles Mögliche bedeuten. Vielleicht hilf uns die automatische Ortungsaufzeichnung des Beiboots weiter? Wir stießen auf keinen Widerstand, als wir den Weg zurückflogen, den wir gekommen waren. Ra machte ein ebenso niedergeschlagenes Gesicht wie ich. Müde und erschöpft erreichten wir die Leka. Nicht weit entfernt lag ein großer Tierkadaver, der wegen der brütenden Hitze schon fast in Verwesung übergegangen war. Ich sah Tausende großer Insekten, die sich lebhaft um das Aas kümmerten – in wenigen Tontas würde es vollständig verschwunden sein. Karmina da Arthamin empfing uns. Ich deutete mit einer Kopfbewegung auf den Kadaver. »Ein kleiner Zwischenfall«, sagte sie lächelnd. »Ist der
Imperator noch in der Station?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, er wurde … verlegt.« Karmina half uns aus den Anzügen. »Sollen wir die ISCHTAR um Hilfe bitten?« »Wir würden nur die Heiler aufmerksam machen«, antwortete ich. »Das könnte bedeuten, dass sie entweder meinen Vater sofort töten, oder aber sie unterrichten Arkon. Was das heißt, brauche ich wohl nicht zu sagen. Nein, wir müssen uns selbst darum kümmern.« Ich nahm unter der Polkuppel Platz und rief die Daten der Passivortung ab. Die Suchparameter waren vage, dennoch lieferte die Auswertung ein Ergebnis, das mir neue Hoffnung gab. Auf jeder anderen, dichter besiedelten Welt hätte mein Vorgehen vermutlich keinen Erfolg gehabt – hier auf Perpandron sah es anders aus. Rings um die Siedlung der Goltein-Heiler wimmelte es erwartungsgemäß förmlich von Ortungspeaks, doch der Rest des Planeten war wilde, nahezu unberührte Natur. Wir waren nur deshalb nicht entdeckt worden, weil wir uns nicht sonderlich weit entfernt hatten. Es gab nur einen einzigen Peak mit den hyperenergetischen Charakteristiken eines Gleiters, der gestern bis fast zur Südspitze des Kontinents geflogen und nicht zurückgekehrt war. Genauer: Es handelte sich um insgesamt zehn Gleiter. »Das muss es sein«, behauptete ich und wies auf die Ortungsergebnisse. Karmina sah mich skeptisch an. »Man wird uns orten.« »Der Vorteil von Rebellen ist«, antwortete ich mit einem schiefen Lächeln, »dass sie stets auf Tarnung bedacht sein müssen. Alle unsere Schiffe verfügen über hervorragende Antiortungseinrichtungen, die bei Bedarf eingesetzt werden können. Ein Allheilmittel sind sie natürlich nicht, doch in unserem Fall müsste es ausreichen.« »Tiefflug, keine zu große Geschwindigkeit plus Antiortung«,
zählte Ra auf und gähnte hinter vorgehaltener Hand. »Die Umsetzung dürfte Ihnen, Verehrteste, als Sonnenträgerin zweifellos keine Probleme bereiten. Das gäbe unserem Kristallprinzen und mir Gelegenheit, etwas Schlaf nachzuholen.« Sie deutete eine spöttische Verbeugung an. »Es ist mir eine Ehre.« Ich wies auf den Bildschirm. »Sieben Tontas Flug, plus/minus einige Dezitontas. Dann sehen wir weiter.«
Nach wie vor flogen wir Richtung Süden. Unter uns erstreckten sich endlose Wälder ohne jegliches Anzeichen von Zivilisation. Längst waren Ra und ich wieder wach, jeder hing seinen Gedanken nach. Perpandron spielte in der altarkonidischen Mythologie eine wichtige Rolle. In grauer Vorzeit waren zwei junge Verliebte unseres Volkes, Caycon und Raimanja, von Fremden in den Weltraum entführt worden. Was dort mit ihnen geschah, »liegt auf ewig im Dunkel der Geschichte verborgen«. Es hieß, dass die Fremden es nicht zulassen wollten, dass Raimanja ihren Sohn zur Welt brachte, der als Waches Wesen umschrieben wurde. Caycon und Raimanja aber gelang es, aus der Gefangenschaft der Fremden zu entfliehen und auf eine unbesiedelte, paradiesische Welt zu entkommen. Dort schenkte Raimanja dem Wachen Wesen das Leben. Diese Welt, berichtete die Sage, war Perpandron. Ich erinnerte mich, dass Caycon und Raimanja der Titel einer melancholischen Liebesballade meines Onkels Upoc war, angeblich schon 10.443 da Ark als Vierzehnjähriger geschrieben. Ich hatte seit unserer Landung oft über die alte Legende nachgedacht. Sie endete merkwürdig, berichtete nichts darüber, was aus Caycon, Raimanja und dem Wachen Wesen geworden war. Hatten sie ihr Leben auf Perpandron beendet? Oder waren sie in die Heimat zurückgekehrt? Alte Sagen hatten
immer einen gewissen Wahrheitsgehalt und eine Beziehung zur Geschichte. Diese Beziehung fehlte jedoch in der Caycon-und-Raimanja-Sage. Wussten die Goltein-Heiler mehr? Hatten sie Perpandron wirklich nur deswegen als ihren Sitz erwählt, weil das Aushängeschild »Caycon und Raimanja« ihrem ohnehin mysteriösen Gewerbe einen noch geheimnisvolleren Anstrich gab? Zweifellos nicht, wie die Anlagen unter dem Tafelberg bewiesen. Es war nicht einmal auszuschließen, dass es sich genau umgekehrt verhielt – dass erst die hier vorgefundenen Möglichkeiten dazu führten, diesen Planeten nach der alten Legende Perpandron zu nennen. Laut Fartuloon wurde der Ursprung der Sage mit dem Tempel der Wahrheit verbunden. Diesen Tempel auf Arkon III gab es schon seit Jahrtausenden nicht mehr, seine Existenz war allerdings geschichtlich nachgewiesen. Angeblich waren aus den Priesterinnen – deren Kennzeichen stilisierte Augen gewesen waren, wie sie bis heute auch die Celistas der Nachrichten- und Geheimdienste verwendeten – die Totenpriesterinnen von Hocatarr hervorgegangen. Durchaus möglich also, dass die Verbindungen zwischen ihnen und den Goltein-Heilern enger waren, als ich bislang gedacht hatte. Ob und welche Konsequenzen das unter Umständen hatte, musste sich noch erweisen. Ich wurde abgelenkt. Das Gelände unter uns begann, seinen Charakter zu ändern. Wir näherten uns der Südspitze des Kontinents. Der Wald zeigte Lücken, die immer größer und breiter wurden. Aufgelockertes Buschwerk mischte sich mit den hochstämmigen Gewächsen des Dschungels. Gras bedeckte die Lichtungen. In der Ferne erschien die gebirgige Küste. Sie wirkte gezackt und zerrissen, fiel steil ins Meer ab, als sei der Kontinent früher größer gewesen und sein südlicher Teil irgendwann in den Ozean abgesackt. Der angemessene
letzte Ortungspunkt war nicht mehr weit entfernt, der Gleiter überflog einen gratigen Kamm. Das Trogtal dahinter erreichte einen Durchmesser von rund zwei Kilometern und war ringsum von steilen Felswänden umgeben. Ras scharfe Augen entdeckten die »Zeichnungen« zuerst – sie befanden sich auf einer riesigen Lichtung im Norden des Tals. Zunächst waren es nur Linien, die wirr durcheinanderzulaufen schienen. Aus der Höhe ließ sich nicht erkennen, auf welche Weise die Markierungen entstanden waren. Es mochten Verfärbungen des Grases sein oder schmale Gräben, in denen nichts wuchs. Aber es war zu erkennen, dass sich die Linien zu Figuren ordneten. Es gab geometrische Figuren – Dreiecke, Kreise, Rhomben und Quadrate. Es gab allerdings auch Zeichnungen von riesigen, unbekannten Tieren. Die Tierzeichnungen waren primitiver Natur, nur die Umrisse zu erkennen. Dennoch gab es keinen Zweifel, dass hier eine Intelligenz am Werk gewesen war – vor wie langer Zeit, das vermochten wir in diesem Augenblick noch nicht einmal zu erahnen. Wir schwebten über der riesigen Lichtung. Karmina hatte sich den Messinstrumenten zugewandt. »Von den Gleitern der Heiler ist nichts anzumessen. Verfolger ebenfalls nicht. Auch keine Station oder dergleichen. Genaueres könnte erst eine Aktivtastung ermitteln, aber die …« »Das unbekannte alte Volk«, stieß Ra plötzlich hervor. »Dasselbe, das die Steinplatte der Goltein-Heiler gebaut hat.« Er sprach impulsiv, als treibe eine innere Kraft ihm die Worte stoßweise über die Lippen. Ich musste zugeben, dass mir derselbe Gedanke ebenfalls gekommen war. Perpandron war die Heimat einer versunkenen, sehr alten Zivilisation. Der rote Tafelberg und die Zeichnungen im Tal waren Spuren, die sie hinterlassen hatten. Verbunden damit waren die lebhaften Erinnerungen an das Tarkihl und die Spinnenwüste von
Gortavor, aber auch das Wissen um andere Ruinen und Artefakte, die im Laufe der Jahrtausende auf vielen Welten gefunden wurden. Unwillkürlich reproduzierte mein fotografisches Gedächtnis eine Passage aus Fartuloons mit »Gedanken und Notizen« überschriebenen Aufzeichnungen, die mir mein Ziehvater einmal gezeigt hatte: Vieles ging in der Zeit der Hyperstürme der Archaischen Perioden verloren, Welten der ersten Besiedlungswelle wurden vergessen. Hinzu kommt, dass es viele arkonidenähnliche Völker in der Öden Insel gibt, deren Ursprung nicht auf das Große Imperium zurückgeht. Die Erklärung dafür muss in der Vergangenheit zu suchen sein. Ich vertrete die Theorie, dass das Tai Ark’Tussan Erbe eines weit mächtigeren Sternenreichs ist. Demzufolge müssen wir immer damit rechnen, Vertreter jenes rätselhaften Großen Alten Volks zu finden, von dem immer wieder Artefakte entdeckt wurden. Und wenn ich an Ra denke! Er stammt garantiert nicht von Arkoniden ab … und doch ähnelt er uns sehr. Sein Heimatplanet befindet sich zwar auf einer vortechnischen Entwicklungsstufe, aber seine Bewohner sind zweifellos äußerst intelligent. Wenige Hypnokurse haben ausgereicht, um dem Barbaren die Fähigkeit zu verleihen, ein Raumschiff zu steuern! In ihrer sachlichen Art meldete die Sonnenträgerin: »Außer den Zeichnungen gibt es eine ziemlich harte radioaktive Strahlung dort unten.« Und als sie meinen fragenden Blick sah, fügte sie hinzu: »Nicht besonders gefährlich. Hart zwar, aber nicht sonderlich intensiv.« Beruhigt wollte ich mich abwenden, als sie weitersprach: »Dafür gibt mir etwas anderes zu denken. Neben der Radioaktivität gibt es noch eine Strahlung …« Ein wenig ratlos blickte sie auf die Anzeigen der Instrumente. »Was für eine Art von Strahlung?«, wollte ich wissen. »Wenn ich das erkennen könnte, hätte ich es gesagt. Irgendetwas, worauf der hypermagnetische Polarimeter
anspricht, aber nicht der elektromagnetische Sensor. In jedem Fall hyperenergetisch und extrem hochfrequent; die Maximumintensität scheint außerhalb der Messgeräteempfindlichkeit zu liegen.« »Lässt sich die Quelle erkennen?« »Nicht sonderlich genau. Die Strahlung kommt von einer recht ausgedehnten Räche am Südrand der Lichtung, fast exakt im Mittelpunkt des Tals.« Es war eine Art von Strahlung, über die wir nichts wussten. Wir konnten nur feststellen, dass einige unserer Messinstrumente recht heftig darauf reagierten, andere dagegen gar nicht. Ra musterte uns mit besorgten Blicken, während wir die Anzeigen ablasen und uns ein Bild über die Natur des fremdartigen Phänomens zu machen suchten. Er war zwar ein Wissender, aber die atavistische Furcht vor dem Unbekannten, Unerforschlichen schlummerte nur in seiner Seele und war jederzeit bereit, zu erwachen. Ich befahl ihm zu landen. »Sie halten die Strahlung nicht für gefährlich?«, fragte Karmina. Ich wies auf den üppigen Pflanzenwuchs am Rand der Lichtung, der sich in nichts von den Wäldern unterschied, die wir bisher Hunderte Kilometer weit überflogen hatten. »Ich glaube nicht, dass sie in biologischem Sinne gefährlich ist … wie etwa die Radioaktivität. Sonst müsste sich an den Gewächsen dort unten etwas erkennen lassen.« »Sie setzen voraus, dass diese Strahlung schon seit langer Zeit existiert. Was aber, wenn sie erst vor Kurzem entstanden ist und eben erst zu wirken begonnen hat?« Damit brachte sie mich in Verlegenheit. Ich hatte in der Tat nicht den geringsten Anhaltspunkt. Es war mehr eine Ahnung, die mir sagte, dass alles, was es auf dieser Welt gab, extrem alt und schon lange vorhanden sein müsse – wie die rote
Steinplatte, auf der die Goltein-Heiler ihre Kuppelbauten errichtet hatten. Ich versuchte, ihr zu erklären, was ich empfand. Da verloren ihre Augen zum ersten Mal, seit ich sie kannte, den kalten Glanz und leuchteten mich freundlich an. Sie sagte halblaut: »Ich glaube, Sie haben recht, Kristallprinz.« Kurz darauf setzte das Beiboot auf.
Ich kletterte als Erster hinaus. Wir alle trugen Kampfanzüge und waren bewaffnet. Ich ließ mich aus der Bodenschleuse der Leka hinab. Schon durch das offene Luk hatte ich einen unbeschreiblichen Geruch wahrgenommen, der über der Lichtung lag. Er war nicht unangenehm, nur unsagbar fremd. Der Boden war überraschend weich. Ich versank fast bis zur Hüfte im Gras und kam federnd wieder hoch. Der rechte Fuß ruhte auf irgendeinem Hindernis. Ich fand den Körper eines Vogels, der hier den Tod gefunden hatte. Ich nahm ihn vorsichtig auf. In diesem Augenblick sprang Karmina aus der Schleuse und stieß einen hellen Laut der Überraschung aus, als sie die ungewöhnliche Weichheit des Untergrunds bemerkte. Dann aber interessierte sie sich sogleich für meinen Fund, nahm mir den toten Vogel aus der Hand, untersuchte ihn am Schnabel und an den Beinen und entschied: »Ein sehr altes Tier. Wahrscheinlich ist es an Altersschwäche gestorben.« Über uns baumelte Ra aus der Öffnung des Schleusenluks. »Komm«, rief ich. Er ließ sich fallen. Ich kannte ihn als einen Mann von verblüffender körperlicher Geschicklichkeit, stark wie ein Büffel, gelenkig wie eine Katze. Darum war ich erstaunt, als ich seinen knurrenden Schmerzensschrei hörte und sah, wie er beim Aufprall zur Seite sank und zur Hälfte im tiefen Gras verschwand. Ich half ihm auf. Das Gehen auf dieser weichen Unterlage war keine leichte Sache. Ich kam mir vor,
als tanze ich über ein schlaff gespanntes Tuch. Ras Gesicht war schmerzverzerrt. Mühsam kam er in die Höhe. Vorsichtig probierte er den geschundenen Knöchel, und als er feststellte, dass er einigermaßen darauf stehen konnte, bückte er sich mit der ihm eigenen Schnelligkeit und fuhr mit beiden Händen in den grasigen Untergrund. Er brachte den Körper eines Tieres zum Vorschein. Es handelte sich um ein braunpelziges Geschöpf, das in seiner Form, jedoch nicht in seiner Größe den Hirschen ähnelte, die die Wälder der Kristallwelt bevölkerten. Das Tier war ebenso tot wie der Vogel, den ich gefunden hatte. Aber der Körper war vollständig erhalten und zeigte nicht die geringste Spur von Verfall oder Verwesung. Beim Absprung war Ra anscheinend mit einem Fuß auf den Schädel des Tieres geraten und abgerutscht. »Das ist merkwürdig«, sagte Karmina. »Seht die grauen Haarspitzen des Felles – es handelt sich wiederum um ein altes Tier. Es ist hier gestorben. Sein Tod kann erst vor kurzer Zeit eingetreten sein, sonst gäbe es Anzeichen von …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Angst lag in ihrem Blick. Ich verstand sie. Hatten wir uns in der Einschätzung der fremdartigen Strahlung geirrt? War sie vielleicht doch erst vor Kurzem entstanden und hatte sogleich begonnen, die Tiere dieser Gegend zu töten? Plötzlich hatte ich eine Idee, kniete nieder und begann, den Untergrund zu untersuchen. Ich riss büschelweise die hohen, festen Halme des Grases aus und warf sie beiseite. Auf diese Weise entstand rasch ein Loch, aber den eigentlichen Boden bekam ich noch immer nicht zu sehen. Stattdessen wurde das Gras, das ich zutage förderte, immer heller und brüchiger. »Stopp!«, rief Karmina. »Ich glaube, ich weiß die Erklärung. Das ist altes Gras. Es hat sein Leben vollendet, seine Wurzeln verloren. Neues Gras ist auf ihm gewachsen und hat den Rest seiner Lebenskraft ausgesaugt. Darum ist es so hell. Aber die
Substanz als solche ist unverändert.« Leuchtend blickten ihre Augen mich an. »Es gibt hier keinen Zerfall! Die Tiere und Pflanzen … sie sterben, aber sie verwesen nicht.«
Ein grotesker Gedanke schoss mir durch den Kopf. Perpandron, die Welt des Wachen Wesens! Ist das ein Anzeichen der »Wachheit«, dass tote Geschöpfe ihre Gestalt behalten und nicht zerfallen? Ich streifte die krause Idee ab. Spekulieren bringt nichts. Wir waren in einer geheimnisvollen Gegend gelandet, und ich war fest entschlossen, das Geheimnis zu ergründen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil ich vermutete – und hoffte –, auf diese Weise meinen Vater wiederzufinden. Es könnte eine Falle sein, warnte der Extrasinn. Auch damit rechnete ich. Längst ging ich davon aus, dass die Seelenheiler meine Identität erkannt hatten. Ob sie herausgefunden hatten, dass es sich bei ihrem Patienten tatsächlich um den wiederbelebten, aber seelenlosen Körper meines Vaters handelte, war in dieser Hinsicht nicht von Belang. Schon meine Ähnlichkeit war ein starkes Indiz. Die maßgebliche Frage war, welches Motiv überwog: das ihrer Heiler-Ehre oder der Gehorsam gegenüber Orbanaschol III. Letzteres liefe auf Auslieferung hinaus. Zumindest würden sie dergleichen versuchen – und da bot sich die Verlegung meines Vaters in eine Station weitab des normalen Publikums fast zwangsläufig an. Die Goltein-Heiler konnten sich ausrechnen, dass ich ihnen meinen Vater nicht so ohne Weiteres überlassen würde. Kam dann noch eine geheimnisvolle Umgebung wie diese hier hinzu, lag der Gedanke an eine perfekt vorbereitete Falle auf der Hand. Ich blickte zum Rand des Waldes hinüber. Von dort kam die rätselhafte Strahlung, die, wenn Karmina recht hatte, dafür verantwortlich war, dass hier nichts moderte und verweste.
Hoch und düster war die geschlossene Dschungelwand, nur von den steilen Felsen in der Ferne überragt, insgesamt ein abweisender Eindruck, als wolle die Natur ihr Geheimnis verteidigen. »Wir sehen uns dort drüben um«, entschied ich. »Das Gehen ist in diesem Gelände schwierig. Am besten setzen wir das Boot unmittelbar am Waldrand ab.« Ra hatte die Zeit genutzt, sein Fußgelenk zu massieren. Die Wirkung der Prellung war überstanden. Er ging in die Knie, stieß sich mit voller Kraft vom federnden Boden ab und erreichte mit mühelosem Sprung die Kante des Schleusenluks. Er turnte hoch und ließ die Leiter herab. Zähnefletschend grinste er uns entgegen. »Den Opfern der Zivilisation muss man es bequem machen.« Diesmal übernahm ich selbst das Steuer. Karmina versuchte mit den Messgeräten, den Ausgangsort der fremden Strahlung so genau wie möglich zu bestimmen, dirigierte mich schließlich in eine Schneise, die wie eine schmale Bucht von der Lichtung aus in den Wald vordrang. Sie krümmte sich leicht nach links. Bei einem Flug unterhalb der Wipfelhöhe verschwand die freie Fläche bald aus der Sicht. Das war ein Vorteil für uns. Ich rechnete damit, dass eher über kurz als lang Goltein-Heiler auftauchen würden. In der Schneise war unser Fahrzeug weniger leicht zu finden als draußen auf der offenen Fläche der Lichtung. Diesmal ließen wir die Leiter gleich hinab, noch bevor wir ausstiegen. Der Wald war eine geschlossene Masse, die keinen Durchlass bot. Es war still, fast beängstigend still. Noch war die Sonne Teifconth nicht untergegangen, sondern brannte auf dem schmalen Streifen Grasland, auf dem wir gelandet waren, und trieb mir den Schweiß auf die Stirn. Ich wies Ra die Richtung. Er verstand den Wink, war der Spezialist für die Bezwingung unwegsamen Geländes. Er packte einen der Äste, die aus der Wand des Dschungels über das Gras herausragten, schwang sich daran empor. Im Nu war
er im grünen Dickicht verschwunden. Kurze Zeit später hörten wir seine Rufe. Er dirigierte uns. »Rechts an dem dicken grauen Stamm vorbei«, schrie er aus dem Wald. »Dort ist das Unterholz am dünnsten. Hütet euch vor dem Graben …« Ich ging voran. Aus der Höhe erteilte Ra uns seine Weisungen. So wie uns hatte er vor Jahren als Späher die Jäger seines Volkes dirigiert, wenn sie in den unwirtlichen Urwäldern ihrer Welt nach Beute jagten. Dank seiner Umsicht kamen wir ziemlich mühelos voran. Manchmal, während wir auf Ras nächste Weisung warteten, blieben wir stehen und sahen uns um. Der Wald war ein unbeschreiblich verfilztes Gewirr aus lebenden und toten Baumriesen, aus rankendem und längst gestorbenem Unterholz, aus Lianen, die aus den Körpern anderer Lianen wuchsen – und der Boden unter unseren Sohlen hatte die gleiche federnde Beschaffenheit wie das Grasland auf der Lichtung. Er bestand aus Schicht auf Schicht gestorbener Pflanzenteile, die unter dem Einfluss der unheimlichen Strahlung ihre Gestalt behielten und nicht verwesten. Es war ein rätselhafter Wald, Vergleichbares hatten weder Karmina noch ich jemals gesehen. Wir schritten unter einem schräg liegenden Baumriesen hindurch, den vor langer Zeit ein Sturm gefällt haben mochte. Er war entwurzelt, aber dennoch trugen seine Äste und Zweige eine Fülle saftig grüner Blätter, als lebe er noch. Das Dickicht hatte ihn daran gehindert, seinen Sturz zu vollenden. Er lag schräg zwischen aufrechten Stämmen wie eine Schranke, die sich über uns senken wollte. Ras schallende Stimme kam nun von weit voraus. Er warnte uns vor einem Gewirr von Schlingpflanzen und riet uns, die Lianen rechts zu umgehen. Plötzlich stieß er einen schrillen Schrei aus und verstummte. Ich machte den Kombistrahler schussbereit, während wir durch das Unterholz drangen. Ich schrie den Namen des Barbaren, aber er antwortete nicht.
Manchmal hielt ich einen Atemzug lang an und horchte, ob von irgendwoher das Geräusch eines Kampfes zu hören sei. Denn meine erste Vermutung war, dass Ra von einem Tier angefallen worden war. Aber vor uns war es still. Wir umgingen das Lianengeranke, wie Ra es uns geheißen hatte. Unvermittelt wich das Unterholz zurück. Der Wald wurde licht, das Gelände stieg an. Wir bewegten uns auf einer weichen, federnden Schicht herabgefallener Blätter, die noch immer das kräftige Grün lebender Pflanzen zeigten. Dann wurden die Umrisse fremder Gebilde sichtbar: Mauerreste, Gewölbe, die Überreste eines mächtigen, viereckigen Turmes, die aus einem Berg von Trümmern emporragten. Dann sahen wir Ra. Er kauerte auf dem Boden, vor einem Torbogen, dessen Mauerwerk mit fremdartigen Symbolen verziert war. Besonders eins der Symbole war wiederholt zu sehen – zwei einander T-förmig kreuzende Balken, von denen der längere, senkrechte am oberen Ende in eine Art Schlaufe mündete. Ich trat zu Ra. Er kniete, hatte die Knie so weit wie möglich unter den Leib gezogen und die Stirn zu Boden gepresst. Ich hörte ihn halblaut fremde Worte murmeln. Als ich ihn an der Schulter berührte, fuhr er blitzschnell auf. In seinen Augen blitzte es zornig und verwirrt. Ich glaubte, er brauchte ein paar Augenblicke, um mich zu erkennen, und während dieser Zeit machte er den Eindruck, als wolle er sich wütend auf mich stürzen. Dann fiel es von ihm ab wie ein Bann. Erkennen leuchtete aus den braunen Augen. Die Schultern sanken herab, die geballten Hände entkrampften sich. Er drehte sich halb zur Seite und wies auf die Symbole, die das Mauerwerk des Torbogens bedeckten. »Das Zeichen der Gottheit!«
Wenn einer, der noch vor wenigen Jahren der willenlose
Spielball selbst erschaffener Götzen und Dämonen war, vom Zeichen der Gottheit redete, war man vielleicht geneigt, sich darüber zu amüsieren. So ähnlich erging es mir, wenigstens im ersten Augenblick. Dann besah ich mir die Symbole genauer. Sie waren einfach und einprägsam. Zwei gekreuzte Balken – oben eine Schlaufe. Ra behauptete, sie zu kennen. Bei der Einfachheit des Zeichens konnte ich mir kaum vorstellen, dass er sich täuschte, dass er sich an etwas Falsches erinnerte. »Woher kennst du es?« »Von dort, woher ich komme.« Er warf einen scheuen Blick auf die Ruinen. »Was bedeuten sie in deiner Heimat?« »Das Höchste … Manchmal auch Leben; göttliches Leben.« Die Antwort kam impulsiv, ohne Überlegung. Ich versuchte, mir Ras Heimatwelt vorzustellen – so, wie er sie mir geschildert hatte: kalt, von Gletschern bedroht, die sich von den Polen herabschoben, mit düsteren Wäldern, in denen riesige Tiere lebten. Die Macht über die Lagergemeinschaft der Jäger hatten Schamanen, die vorgaben, um die Geheimnisse der Natur und der Götter zu wissen. Wo hätte auf einer solchen Welt dieses Zeichen erscheinen können? Ich fragte Ra. »Manchmal«, berichtete er, »stieß ich in den Wäldern auf hohe, steinerne Säulen. Sie trugen dieses Zeichen. Ich sprach davon zu unserem Schamanen. Er tat sehr geheimnisvoll und erklärte mir, dass dies das Zeichen der obersten Gottheit sei, die so weit von den Normalsterblichen entfernt ist, dass sie niemals selbst mit diesen in Verbindung tritt, sondern stattdessen ihre Boten schickt … die Geister und Dämonen, von denen unsere Welt voll war.« »Du erinnerst dich richtig? Dies ist dasselbe Zeichen?« »Dasselbe.« »Wie sahen die Steinsäulen aus? Waren sie alt?« »Alt. Aber nicht so alt wie dieses Gemäuer hier.«
Das gab mir Stoff zum Nachdenken. Primitive Völker hielten oft die Besatzungen von Raumschiffen, die auf ihrer Welt landeten, für Götter. Hier auf Perpandron hatte es vor langer Zeit eine offenbar vorarkonidische Zivilisation gegeben. Die rote Felsplatte, auf der die Kuppeln der Goltein-Heiler standen, zeugte davon. Wahrscheinlich waren auch die Trümmer, vor denen wir standen, Überreste jener uralten Kultur. Die Legende von Caycon und Raimanja ging mir nicht aus dem Sinn. Berichtete sie, in verschleierter Form, vom Sieg der Urarkoniden über ein fremdes Sternenvolk? Hatte sich das alte Volk sodann aus diesem Raumsektor zurückgezogen und seine Aktivitäten anderswohin verlagert – zum Beispiel in die Gegend von Ras Heimatwelt, von wir nicht genau wussten, wo sie sich eigentlich befand? Ich war mir sicher, dass meine Hypothese einiges für sich hatte. Zum Beispiel erklärte sie, warum die Steinsäulen auf Ras Heimatplanet jüngeren Datums waren als dieses Mauerwerk. Dies hier musste eine Stadt des unbekannten Volkes gewesen sein. Die Überreste boten den üblichen Anblick uralter, zerfallener Ruinenstätten. Anders als an ähnlichen Orten dieser Art war nur die geheimnisvolle Strahlung, die organische Materie daran hinderte, zu zerfallen. Der Extrasinn wisperte: Dovreen der Weise sagte: Das Universum ist für den Unkundigen voller Rätsel, für den Kundigen ist es ein einziges Rätsel. Karmina hatte zuerst unserer Unterhaltung zugehört. Dann war sie durch den Torbogen getreten und hatte sich dahinter zu schaffen gemacht. Ich hörte sie rufen: »Hier ist ein Eingang.« Mir war nicht ganz klar, was sie meinte. Ich eilte zu ihr, Ra folgte zögernd. Die Sonnenträgerin hatte einen zweiten Torbogen gefunden. Dieser war niedriger als der erste, wölbte sich kaum mehr als mannshoch. Aber dahinter war der Boden offen und bildete die Mündung eines finsteren Stollens, der schräg in die Tiefe führte. Ich trat hinein. Der Lichtkegel der
Lampe, die im Brustteil meiner Montur eingebaut war, drang scharf gezeichnet durch kühle, feuchte Luft. Der Stollen war gemauert, also nicht etwa das Werk eines Tieres, das sich hier eingegraben hatte. Ich ging ein paar Schritte. Der Tunnel verlief geradlinig, so weit der Schein meiner Lampe reichte. Er war leicht geneigt und führte wohl zu einem Ort in der Tiefe, der im Leben der alten Stadt eine wichtige Rolle gespielt hatte. Ich kehrte zurück. »Wir sollten diesen Gang untersuchen.« Ra antwortete: »So viel Zeit haben wir wahrscheinlich nicht.« Karmina lächelte ihn spöttisch an. Ra senkte den Blick. Er wusste, dass es uns nicht entgangen war, dass er sich vor diesem Ruinenfeld fürchtete. »Also schön … untersuchen wir den Gang.« Ich wollte ihn beschwichtigen. Aber bevor ich noch dazu kam, das erste Wort zu sagen, drang aus der Richtung der freien Räche, von der wir gekommen waren, der dumpfe, dröhnende Laut einer Explosion. Wir fuhren herum. Und plötzlich, als hätte uns jemand in diesem Augenblick die Ohren geöffnet, hörten wir das charakteristische Geräusch von Gleitertriebwerken. »Die Heiler!«, stieß Karmina hervor. »Sie haben unsere Leka angegriffen.«
Es entsprach dem Willen der Natur, dass im Augenblick der Gefahr Kraft und Findigkeit in einem Maße entwickelt werden konnten, wie sie im Normalfall nicht zur Verfügung standen. Karmina und ich fanden den Weg zurück, ohne dass uns Ra mit seinen Rufen leitete. Wir waren sogar noch schneller als der Barbar. Binnen kurzer Zeit erreichten wir den Waldrand. Schon vorher hatten wir den beißenden Geruch wahrgenommen, der von einem beachtlichen Qualmpilz ausging, der sich draußen über dem freien Gelände ausbreitete. Der Qualm hüllte die
Stätte ein, an der wir gelandet waren. Wir brauchten nicht viel Phantasie, um uns auszumalen, was aus dem Diskus geworden war. Wir blieben vorläufig in der Deckung des Waldrands. Draußen schwirrten etliche Gleiter in scheinbar unkontrolliertem Durcheinander. Die Goltein-Heiler hatten unsere Spur gefunden. Nicht, dass wir damit nicht gerechnet hätten. Es sah so aus, als hätten sie uns tatsächlich erwartet. Blieb die Frage, wo sich mein Vater befand. Wir waren zwar gestrandet, konnten aus eigener Kraft nicht mehr zur ISCHTAR zurückkehren – es sei denn, wir erbeuteten einen der feindlichen Gleiter. Aber wir hatten noch immer unsere Funkgeräte, und wenn wir die ISCHTAR riefen, würde es mit dem Spuk schnell vorüber sein. Ich beobachtete. Aus den Flugmanövern der Gleiter ging hervor, dass die Verfolger nicht wussten, wo wir uns verborgen hielten. Das war gut so. Der Dschungel bot uns prächtige Deckung, sofern wir nur geschickt genug waren, uns ständig im Dickicht zu halten und Lichtungen zu vermeiden. Der Gedanke war kaum zu Ende gedacht, da landete einer der Gleiter kaum mehr als dreißig Meter von unserem Versteck entfernt. Das Weitere entwickelte sich fast zwangsläufig, vor allen Dingen so schnell, dass ich nicht mehr dazu kam, etwas dagegen zu unternehmen. Mit einem knurrenden Laut raste Ra aus dem Dickicht hervor. Karmina schrie ihm zu, er solle in Deckung bleiben, doch der Barbar ignorierte die Anweisung. Etwa zehn Schritte entfernt ging er in die Knie, legte den Kombistrahler über den linken Unterarm und zielte sorgfältig. Gerade in dem Augenblick, in dem sich die Luke des Gleiters öffnete, feuerte Ra. Der Schuss war ein Volltreffer. Der Mann, der sich gerade auszusteigen angeschickt hatte, verschwand in einer Wolke lodernder Glut. Schrille Schreie drangen aus dem Innern des Fahrzeugs, aber
nur ein paar Augenblicke. Dann gab es eine krachende Explosion – und auf der Lichtung stieg eine zweite Qualmwolke empor, ähnlich der, in der unser Fahrzeug verschwunden war. Mit leuchtenden Augen kehrte Ra in die Deckung unseres Verstecks zurück. »Du Narr!«, zischte ich ihn wütend an. Die Streitmacht der Verfolger hatte die Änderung der Lage sofort erkannt. Die Gleiter schossen jetzt nicht mehr ziellos durch den abdunkelnden Himmel, sondern konzentrierten ihre Suche auf den Rand der Bucht, die die große Lichtung hier in den Wald trieb. Noch immer zornig über Ras Eigenmächtigkeit, entschied ich: »Wir verschwinden.« Ich wollte mich in Bewegung setzen, da ließ mich eine laute Stimme stoppen, die aus der Höhe erscholl: »Ergebt euch! Wir können euch jederzeit vernichten. Euer Spiel ist durchschaut. Wir wissen, dass unter euch der Kristallprinz ist. Tretet auf die Lichtung hinaus und leistet meinen Leuten keinen Widerstand mehr.« Die Stimme kannte ich – sie gehörte Klemir-Theron. Er befand sich in einem der Gleiter, die über uns schwebten, und bediente sich der Lautsprecheranlage, um uns seine Weisungen zukommen zu lassen. Karmina warf mir einen fragenden Blick zu. Ich verstand sie auch ohne Worte. »Auf sein Angebot einzugehen heißt, den Tod zu wählen«, sagte ich. »Noch ist nicht alles verloren.«
Wir hasteten davon. Von Anfang an gab es nur eine Richtung, in die wir uns sinnvollerweise halten konnten. Das war der alte Stollen, den wir entdeckt hatten. Vielleicht bot er uns Schutz. Mein Plan war, die ISCHTAR auf dem schnellsten Wege herbeizurufen. Zwar war Fartuloon mir gram ob meines Entschlusses, Perpandron anzufliegen und hier zu landen.
Aber wenn ich in Not war, würde er uns natürlich zu Hilfe eilen. Ich brauchte nur kurze Zeit, um mein Sprechgerät zu aktivieren und Verbindung mit dem Bauchaufschneider aufzunehmen. Im Schutz des Stollens, hoffte ich, würde ich genügend Zeit finden. Aber ich hatte mich getäuscht. Unangenehm rasch entwickelte Klemir-Theron seine Fähigkeiten als eiskalter, scharf berechnender Taktiker. Er hatte wohl von vornherein damit gerechnet, dass ich nicht auf seine Forderung eingehen würde. Die Gleiter sanken tiefer. Obwohl wir sie durch das Dickicht nicht mehr sehen konnten, hörten wir es am Geräusch ihrer Triebwerke. Und dann fauchte, nur wenige Schritte entfernt, die erste Salve eines Energiegeschützes mitten in den Dschungel und verwandelte das grüne Dickicht in ein Inferno aus Qualm, Glut und Flammen. Über uns wurde der Himmel sichtbar, ich erkannte, dass die Gleiter begonnen hatten, Kampftruppen abzusetzen – vermutlich Söldner im Dienst der Goltein-Heiler. Sie trugen Anzüge wie wir – flugtaugliche, gegen Hitze und Qualm schützende Monturen. Und sie waren schwer bewaffnet. »Schneller!«, keuchte ich. Ra und Karmina eilten vor mir her. Ich bildete die Nachhut. Trotz der Nähe der Verfolger blieb ich von Zeit zu Zeit stehen, um mich zu orientieren. Die Soldaten der Seelenheiler riegelten das Gelände in einem weiten Halbkreis ab, der uns die Flucht in den Dschungel unmöglich machen sollte. Die Weite des Halbkreises führte dazu, dass sie die Truppen nicht mit geballter Kraft einsetzen konnten. Die meisten landeten so weit entfernt, dass sie nicht mit uns in Berührung kommen würden – falls wir rechtzeitig den Stollen erreichten. Es waren höchstens eine Handvoll Leute, die uns gefährlich werden konnten. Zwanzig Meter vor mir erreichte Ra die Stelle, an der das Unterholz aufhörte und die Trümmer begannen. Auf Ras Instinkt war Verlass, wenn ihn nicht gerade
die Wut in den Krallen hatte – er blieb stehen und sicherte. Ringsum rasten Thermoschüsse in den Wald. Die Luft war von beißendem Qualm erfüllt. Von allen Seiten hüllte uns das Knistern und Prasseln brennenden Dickichts ein. Ra stieß einen gellenden Kriegsschrei aus. Ich hörte seinen Strahler fauchen. Hinter einem der Mauerreste brach ein Soldat der Seelenheiler inmitten einer Flammenwand zusammen. Sie sind hier! Ein Teil der Truppe ist uns zuvorgekommen. Wir hatten keinen Augenblick mehr zu verlieren. »Durch …« Wir eilten auf den hohen Torbogen zu. Entweder hatte ich die Zahl der Gegner überschätzt, oder die Goltein-Heiler hatten mit so viel Entschlossenheit auf unserer Seite nicht gerechnet – auf jeden Fall erreichten wir ungeschoren, wenn auch zerzaust und versengt, den Eingang des alten Stollens.
Ra blieb stehen und behielt die Stollenmündung im Auge, während ich ein paar Schritte weitereilte und weiter im Hintergrund das Funkgerät einzuschalten versuchte. Ich hatte es gerade geschafft, dass das kleine Kontrolllicht aufleuchtete – da fauchte eine Thermosalve durch den Stollen. Ra stieß einen wütenden Schrei aus und erwiderte das Feuer. Ich sah schattenhafte Gestalten unter der Mündung des Stollens. »Ra … zurück!« Sie sind uns zu dicht auf den Fersen! Wir mussten uns weiter zurückziehen. Meine einzige Hoffnung lag in diesem Augenblick darin, dass die Goltein-Heiler sich womöglich nicht trauen würden, uns in die Finsternis des Untergrunds zu folgen. Aber sicher war ich meiner Sache nicht. Wir hasteten davon, um eine Gangkrümmung. Karmina schaltete ihren Scheinwerfer ein. Hell und mit scharfen Rändern zeichnete sich der Lichtkegel in der feuchten Luft ab. Wir stürmten vorwärts, so rasch uns die Füße trugen – immer in der Hoffnung, dass die
Verfolger zögern würden, uns zu folgen. Dann gabelte sich der Stollen. Ein Zweig führte nach rechts, der andere nach links. Der rechte Zweig schien der gangbarere zu sein. Ich wandte mich dorthin – aber plötzlich fühlte ich Ras Hand auf der Schulter. Er hielt mich gepackt, der Druck seiner Finger war so stark, dass ich Schmerz empfand. »Nicht dorthin, Kristallprinz.« Unwillkürlich hielt ich an. Es hatte mehr als eine Gelegenheit gegeben, bei der Ra bewies, dass seine Sinne schärfer und unverfälschter waren als die eines zivilisierten Arkoniden. Der Barbar hatte sich die Fähigkeit bewahrt, auf eine tödliche Gefahr instinktiv und mit unfehlbarer Sicherheit zu reagieren. Immerhin kam mir der Zeitverlust äußerst ungelegen. »Was ist los?«, fragte ich ungehalten. »Was gibt es dort?« »Ich weiß nicht. Gefahr!« Ich schaltete meine Lampe ein. Der Lichtkegel drang weit in den Stollen hinein. Ich hörte ein rasselndes, schabendes Geräusch. Etwas kam aus dem Gang auf uns zu. Ich wartete gebannt, hatte die Gefahr der Verfolger für den Augenblick vergessen. Da erschien im Schein der Lampe ein unförmiges, flaches Ding, das sich auf sechs spindeldürren Beinen bewegte. Es maß wenigstens drei Meter in der Länge und zwei in der Breite. Unter einem tellerförmigen Rückenschild lugte ein mit Fühlern bewehrter Schädel hervor. Karmina presste sich unwillkürlich an mich. Ich fühlte ihr Zittern. Das sechsbeinige Rieseninsekt kam mit langsamen Schritten auf uns zu. Panzer und Schädel waren von schwarzer, matt glänzender Farbe. Auf Largamenia war mir beigebracht worden, wie man auch im Augenblick des Schocks den Verstand unter Kontrolle behält. Es schoss mir durch den Sinn, dass der Käfer trotz seiner Größe unseren Energiewaffen wohl nicht gewachsen war. Sofort brachte ich die Waffe in Anschlag und drückte ab. Eine fingerdicke Thermoflut schlug dem Insekt entgegen.
Da ich meines Zieles sicher war, hatte ich die Augen geschlossen, um nicht geblendet zu werden. Als ich sie wieder öffnete, rannen von den Seiten des Stollens dünne Fäden geschmolzenen Gesteins – aber der Käfer kroch noch immer auf uns zu. Der Schuss hatte ihm nichts anhaben können. Im Gegenteil. Er bewegte sich jetzt rascher. Zehn Meter vor uns hielt er an und streckte die dünnen Beine, wodurch er mit einem Ruck um wenigstens einen Fuß höher wurde. Ich hörte ein dünnes, scharfes Zischen. Im nächsten Augenblick hüllte uns grünlicher, beißender Qualm ein. »Ein Gift!«, schrie Karmina. »Wir müssen …« Der Rest ihrer Worte erstickte in einem Hustenanfall. Wankend wandte sich die Sonneträgerin ab und stolperte in den linken Teil der Stollengabelung. Ich hielt es für besser, ihr zu folgen. Die Götter mochten wissen, welche Kreaturen in diesem Labyrinth auf uns warteten und welcher Waffen wir bedurften, um mit ihnen fertig zu werden. Vorerst hatten wir keine Zeit, uns mit ihnen abzugeben. Die Verfolger waren uns dicht auf den Fersen, ich konnte ihre Schritte bereits hören. Hustend und keuchend eilten wir tiefer in den Stollen.
Unsere Verfolger mussten sofort erkannt haben, wohin wir uns gewandt hatten. Sie wichen uns nicht von den Fersen. Jedes Mal, wenn ich einen halben Atemzug lang stehen blieb, um zu horchen, hörte ich die Geräusche hinter uns. Meine Hoffnung, dass sie die subplanetarischen Räume nicht kannten und Furcht vor den unbekannten Gefahren empfanden, die hier unten lauerten, brach endgültig zusammen. Nach einigen hundert Metern erreichten wir abermals eine Gabelung. Ra hielt an. »Wir müssen uns trennen, müssen die Kerle irreführen.« Er wies in die rechte Abzweigung. »Ich nehme diesen Weg. Ihr eilt geradeaus weiter.«
»Wir werden uns verlieren«, sagte Karmina. Ra fletschte die Zähne. »Ihr euch vielleicht – aber ich werde euch finden.« Mehr sagte er nicht, dann verschwand er in der Dunkelheit des Seitenstollens. Ich rechnete halb damit, dass auch dort ein Riesenkäfer auftauchen werde, um ihm den Weg zu versperren. Aber nichts dergleichen geschah. Der Barbar hielt es nicht einmal für nötig, die Lampe anzuschalten. Ich hörte das Geräusch seiner Schritte in die Finsternis entschwinden. Karmina und ich eilten weiter. Hunderte Schritte, immer weiter in die Tiefe, den scharf gezeichneten Lichtkegeln unserer Lampen hinterher. Wiederholt beschrieb der Stollen eine scharfe Krümmung, dann folgten Abschnitte wiederholt gegenläufiger Rampen. Und es ging tiefer und tiefer. Das Geräusch der Verfolger war ein wenig zurückgefallen. Anscheinend hatten sie an der Gabelung eine Zeit lang gezögert. Ras Taktik war also erfolgreich. Als wir wiederum eine Kreuzung erreichten, blieb ich stehen. Karmina schien zu ahnen, was ich vorhatte. »Ras Trick hat uns einmal geholfen, er wird es auch ein zweites Mal tun«, sagte ich. »Wir trennen uns.« Mit großen Augen starrte sie in die Finsternis des Seitengangs. In diesem Augenblick brach der Stolz der Sonnenträgerin zusammen. Mit stockender Stimme brachte sie mühsam hervor: »Wir … werden uns verirren …« »Wir haben die Funkgeräte, können uns miteinander verständigen.« Mehr konnte ich nicht sagen. Die Geräusche der Verfolger wurden lauter. Karmina verschwand in der Finsternis. Ich selbst eilte den geraden Stollen entlang. Die Lampe hatte ich ausgeschaltet. Ihr Schein sollte nicht als Ziel dienen. Nur ab und zu ließ ich den Lichtkegel kurz aufblenden, um nicht gegen ein Hindernis zu laufen. Rasch erkannte ich, dass unsere
Taktik beim zweiten Mal nicht annähernd so erfolgreich gewesen war wie beim ersten. Der Abstand zu den Verfolgern vergrößerte sich nicht. Irgendein übernatürlicher Spürsinn schien ihnen zu sagen, wohin ich mich gewandt hatte. Und dann, plötzlich, war der Stollen nach einer erneuten Biegung zu Ende.
Hinter mir hörte ich die Verfolger. Sie kamen schnell heran. Ich stand am Rand eines Loches. Es hatte einen kreisförmigen Querschnitt, aus der Tiefe schimmerte es geheimnisvoll herauf, als gebe es unten irgendwo eine Lichtquelle, deren Strahlung sich tausendfach in den glatten Wänden brach. Das Schimmern machte es unmöglich, den Verlauf oder die Tiefe des Loches zu erkennen. Wollte ich diesen Weg nehmen, musste ich mich auf Gedeih und Verderb den lebenserhaltenden Möglichkeiten meines Kampfanzugs anvertrauen. Ich zog die Helmkapuze über den Kopf und schloss sie am Hals. Summende Geräte erfüllten das Innere der Montur mit Leben. Ich hatte den Kombistrahler noch immer schussbereit in der Hand, drehte mich um, sah sie durch den breiten Gang herankommen – mindestens zwanzig von ihnen, Söldner und Goltein-Heiler, die überall sonst gewohnt waren, würdevoll einherzuschreiten und die Wichtigkeit ihres Berufs durch gravitätische Haltung zu unterstreichen. Hier, in diesem Stollen, waren sie weder würdevoll noch gravitätisch. Sie schrien einander zu, dass sie mich entdeckt hatten. »Dort …« Es waren ihrer zu viele. Sie schienen nun entschlossen, mich zu töten. Mir dagegen lag nichts daran, ihnen Leid zuzufügen – es sei denn, es böte sich mir eine Aussicht, mich erfolgreich zu verteidigen. Also blieb nur das Loch als letzter Ausweg. Noch einmal musterte ich die jenseitige Stollenwand. Sie erschien mir undurchdringlich. Wäre ich einfach über das Loch
gesprungen in der Hoffnung, doch irgendeine verborgene Öffnung zu entdecken, hätte der Fels mich wahrscheinlich zurückgeschleudert, und ich wäre dennoch in die Tiefe gestürzt. Also wählte ich das Loch, sprang wie einer, der seinem Mut nicht richtig traute – mit den Füßen voran. Der erste Aufprall, der unmittelbar nach dem Absprang kam, war ein Schock. War das Loch wirklich nur mannstief? Dann bemerkte ich, dass mein Fall nur verlangsamt worden war. Irgendeine Masse, die im ersten Augenblick klebrig wirkte, schloss sich um meinen Körper, schob sich an der Sichtscheibe des Helmes empor. Es wurde finster. Dann verlor ich die Orientierung. Ich glaubte zu sinken, aber ich war mir nicht sicher. Ringsum war ein stetiges Knistern, aber ich wusste nicht, ob das Geräusch von meiner Bewegung herrührte. Falls ich wirklich noch sank, war es kein freier Fall. Treibsand, meldete sich mein Extrasinn, der außergewöhnliche Beobachtungen leichter zu kombinieren wusste als das Wachbewusstsein. Plötzlich hatte ich Angst. Wie tief war dieses Loch? Wie weit reichte der Sand? Das Flugaggregat meiner Montur war für die Fortbewegung in vielerlei Medien geeignet, aber Treibsand gehörte eher nicht dazu. Je tiefer ich sank, desto größer wurde der Druck, der auf mir lastete. Würde ich mich aus diesem Sandloch befreien können? Ich hatte nur noch einen Wunsch – raus aus dieser Dunkelheit! Die Finger tasteten nach der kleinen Schaltleiste, mit der das Flugaggregat bedient wurde. Sie warten noch oben. Meine Finger zuckten zurück. Welche Wahl hatte ich? Dort oben zu sterben oder hier unten. Die Angst wich. Gleichgültigkeit hüllte mich ein.
13. Die Bewegungen des Goltein-Heilers wirken eckig und gezwungen. Solthoron bewegt den Mund, ohne jedoch einen Ton hervorzubringen. Er will sprechen, doch das ist nicht nötig. Der Fremde in seinem Innersten versteht ihn auch ohne Worte. Verzweifelt denkt Solthoron: Warum zwingst du mich? In seinem Innersten erklingt ein amüsiertes Lachen. Weil man mich gerufen hat. Willst du mich etwa auch zu schrecklichen Mordtaten anstiften?, durchzuckt es Solthorons Gedanken. Nein. Du bist für mich kein Testfall und kein Opfer. Wenn wir am Ziel sind, werde ich dich einfach verlassen. Du musst wissen, dass ich mein Ziel niemals auf geradem Weg ansteuere. Ich nähere mich auf verschlungenen Wegen. Ich könnte meine Opfer einfach vernichten. Machtmittel dazu habe ich ausreichend. Doch das würde mir keinen Spaß machen. Jeder Impuls des Fremden dröhnt wie ein Gongschlag durch sein Bewusstsein. Solthoron weiß von dem Augenblick an, als der Fremde von Sarissa auf ihn überwechselte, dass er gegen ihn wehrlos ist. Perpandron: 27. Prago des Tedar 10.499 da Ark Ringsum verstärkte sich der Druck, den die Masse auf meinen weiterhin sinkenden Körper ausübte. Sank ich wirklich noch immer? Ich wusste es nicht. Schließlich erkannte ich, dass ich doch die ganze Zeit über gesunken sein musste – denn es gab einen kurzen, sanften Ruck, als ich zum Stillstand kam. Soweit ich erkennen konnte, war ich mit den Füßen auf ein Hindernis gestoßen, wahrscheinlich die Sohle des mit Treibsand gefüllten Schachtes. Ich versuchte, mich zu bewegen, aber der Sand hüllte mich
ein und presste mir die Arme gegen den Leib. Ich war gefangen. Lediglich im Innern der Montur hatte ich noch ein wenig Bewegungsfreiheit. Ich ging mit mir zurate, ob ich das Flugaggregat aktivieren solle. Wie würde der Sand auf die kleinen, heißen Flammen der Miniaturtriebwerke reagieren? Welche Wirkung würde das gravomechanische Kraftfeld des Antigravs haben? Da auch mein Extrasinn schwieg, nahm ich an, dass über derart komplizierte Dinge keine eindeutigen Vorhersagen gemacht werden konnten. Ich musste es einfach ausprobieren – das war alles, was mir in meiner Lage blieb. Mit äußerster Anstrengung bewegte ich die rechte Hand dorthin, wo die Kontrollschalter des Flugaggregats montiert waren. Diesmal erhob der Extrasinn keinen Einwand. Es war genug Zeit verstrichen, seit ich in den Schacht gesprungen war. Die Verfolger hatten sich inzwischen vermutlich längst zurückgezogen. Gelang es mir, der mörderischen Umarmung des Sandes zu entkommen, würde ich als Erstes Fartuloon zu Hilfe rufen, damit er diesem Spuk ein Ende bereitete. Entschlossen betätigte ich den Schalter. Die Wirkung war entsetzlich. Schneller, als ich denken konnte, bildete sich ein Feuerball. Es gab eine dröhnende, krachende Explosion. Für kurze Zeit verlor ich das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir kam, war es finster. Ich fühlte mich am ganzen Körper zerschlagen, im Schädel dröhnte es wie von tausend Prallfeldhämmern. Ich konnte nur ahnen, was geschehen war. Das künstliche Schwerefeld hatte den Druck gemindert, mit dem der Sand auf mir lastete, ihm einen Teil seiner natürlichen Beweglichkeit zurückgegeben. Im Einflussbereich des Feldes bildete sich eine Wolke mikroskopisch feiner Sandkörnchen, ein hochexplosives Gemisch, das die Flammen der kleinen Lenkdüsen sofort entzündeten. Staubexplosion! So, wie die Dinge lagen, musste ich glücklich sein, dass ich
nicht zerrissen worden war. Ich horchte. Plötzlich spürte ich, wie etwas an meinem Bein hinabrann und den Stiefel zu füllen begann. Zuerst dachte ich an Blut. Die Explosion hat mich verletzt, ich habe eine Wunde am Bein. Dann aber erkannte ich die Wahrheit. Was ich spürte, war Sand. Der Anzug muss einen Riss bekommen haben! Der Treibsand schickte sich an, mich endgültig zu verschlingen …
Ich glaubte fest daran, dass sich jeder Arkonide – nicht nur der erfolgreiche Absolvent der ARK SUMMIA – angesichts des herannahenden Todes in eine Geisteshaltung zu versetzen vermochte, in der er nach außen hin aufrecht und gefasst wirkte. In Wirklichkeit bildete das Bewusstsein vermutlich einen Block, mit dem es sich selbst daran hinderte, das Entsetzliche des nahenden Endes zu erkennen. Dadurch schützte es sich, denn sonst müsste es in Wahnsinn versinken. Ich war völlig ruhig und gleichgültig, während der Sand aufstieg. Ich hielt die Augen abwechselnd offen und geschlossen. Bunte Lichterscheinungen gaukelten in der Finsternis. Halb interessiert sah ich ihnen nach, wie sie kamen und vergingen, als hätte ich keine andere Sorge auf der Welt. In Gedanken rezitierte ich aus den ARK SUMMIA-Grundregeln: Vergiss nie, Verstand und Scharfsinn zu befragen! Extremsituationen in kommenden Einsätzen aller Art sind nur dann hoffnungslos, wenn ausschließlich Muskelkraft und erlernte Primitivtricks eingesetzt werden. Der Sand, obwohl mehlig wie feinster Staub, schmerzte, weil er unter ungeheurem Druck stand. Außerdem war er merkwürdig warm und trug dazu bei, die Hitze im Innern des Kampfanzugs noch unerträglicher zu machen, obwohl die Innenklimatisierung mit Volllast lief. Ich nahm dies alles hin
als etwas, an dem ich nichts ändern konnte. Ob ich verbrannte oder erstickte – was für einen Unterschied machte das schon? Als ich plötzlich Bewegung verspürte, schob ich es auf die Verwirrung, die die Erwartung des Todes in meinem Bewusstsein hervorrief. Ich bilde mir die Bewegung nur ein, sagte ich zu mir. Aber damit kam ich nicht weit. Das ist Bewegung, signalisierte der Extrasinn. Augenblicklich war ich hellwach. Tatsächlich war der Treibsand unruhig geworden und schien zu quirlen. Ich wurde einmal um die eigene Achse gedreht, dann packte mich etwas an den Beinen und zog mich seitwärts. Für kurze Zeit war ich in waagrechter Lage und bekam den mörderischen Druck der Sandmassen in seiner vollen Kraft zu spüren. Ebenso plötzlich verschwand der Albdruck. Es war noch immer finster, aber ich hatte nicht mehr das Gefühl, unter Tonnen Sand begraben zu liegen. Ich versuchte, die Arme zu bewegen – und siehe da, es gelang! Wohl war ich noch immer von Sand und Staub umgeben, aber die Masse hatte plötzlich eine Oberfläche, aus der ich mich hervorarbeiten konnte. Ich wirbelte die Arme und schleuderte beiseite, was mich hemmte … Und plötzlich stand ich in milchiger Helligkeit. Ich hielt erstaunt inne. Einen Atemzug glaubte ich, es sei hell geworden, weil ich mich endlich aus dem Sand hervorgearbeitet hatte. Jetzt aber sah ich, dass mir der Sand kaum bis an die Hüfte reichte. Ich hätte die Helligkeit also schon früher wahrnehmen müssen – wäre sie früher da gewesen. Folglich waren Leuchtkörper angeschaltet worden. Die Milchigkeit des Lichtes rührte zweifellos daher, dass die Luft infolge meiner schaufelnden Tätigkeit von feinem Staub erfüllt war. Ich erkannte, dass ich mich in einer kleinen Kammer befand. Sie war würfelförmig, ihre Kanten maßen etwa anderthalb Mannslängen. Noch etwas Merkwürdiges empfand ich. Als ich mich zu
orientieren begann, hatte ich den Eindruck, ich hätte die ganze Zeit auf dem Kopf gestanden oder auf der Seite gelegen. Jedenfalls war »oben« in einer ganz anderen Richtung, als ich es vermutet hätte. Das musste damit zu tun haben, dass ich in der Zeit im Treibsand die Orientierung und zum Teil auch den Gleichgewichtssinn verloren hatte. Ich stand also da, inmitten des Sandes, der einen Teil des würfelförmigen Raumes bis zur Höhe meiner Hüften füllte. Was geschieht jetzt?, fuhr es mir durch den Kopf. Denn in mir war das Empfinden wach geworden, dass ich längst nicht mehr aus eigenem Antrieb handelte. Ich hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, da hörte ich ein tiefes, bedrohlich klingendes Summen. Ich griff sofort nach der Waffe, die ich vor dem Sprung in den Schacht mit dem Rest meiner Geistesgegenwart noch ins Holster gesteckt hatte. Dann aber sah ich, wie der Sand in wirbelnde Bewegung geriet und weniger wurde. Es war nicht schwer zu erraten – der kleine Raum wurde leer gesaugt. Während ich noch staunend auf den quirlenden Staub blickte, verschwand er durch eine verborgene Öffnung. Nach wenigen Augenblicken war die Kammer so rein, als hätte es hier niemals auch nur ein einziges Sandkorn gegeben. Ich spürte instinktiv, dass damit die Reihe der erstaunlichen Ereignisse noch nicht beendet war. Ich richtete den Blick auf die Wand der Kammer, von der ich mit meinem etwas getrübten Orientierungssinn annahm, dass sie derjenigen gegenüberlag, durch die ich hereingekommen war. Ich war fest überzeugt, dass sich dort etwas tun würde. Und tatsächlich – die Wand geriet in Bewegung. Ein breiter Spalt entstand, jenseits dessen die Finsternis wie eine Mauer stand. Ich zögerte. Die Öffnung der Wand stellte ohne Zweifel eine Aufforderung dar, die kleine Kammer zu verlassen. Aber was erwartete mich »draußen«? Ein Blick in die Runde zeigte,
dass es keinen zweiten Ausgang gab. Ich griff die Waffe fester. Hinter mir wusste ich den nun verschlossenen Schacht mit Treibsand. Mit ihm wollte ich nichts mehr zu tun haben. Was immer es war, das in der Dunkelheit auf mich wartete, damit musste leichter fertig zu werden sein, als mit Tonnen von Staub, die die Arme in den Leib pressten und die Luft aus den Lungen quetschten. Ich trat durch die Öffnung.
Ein paar Augenblicke lang hatte ich noch den Lichtkeil, der durch die Wandöffnung kam. Dann hörte ich ein Surren, der Keil wurde schmaler, und als ich mich umdrehte, war die Öffnung verschwunden. Die Wand hatte sich wieder geschlossen. Ich wollte die Lampe auf meiner Brust anschalten. Aber der Sand hatte den Leuchtkörper eingedrückt. Ich griff danach und fühlte die verbogenen, zersplitterten Ränder. Es war noch immer unbequem warm im Innern meiner Montur. Ich überlegte, ob ich es wagen könnte, den Helm zurückzuschieben. Während ich nachdachte, tat ich einen Schritt, doch als ich das mehlige, reibende Gefühl am Fuß und unter der Sohle spürte, erkannte ich, dass meine Überlegungen nicht sonderlich sinnvoll waren. Der Kampfanzug hatte einen Riss. Wäre die Luft hier unten nicht atembar, hätte ich diesen Augenblick nicht mehr erlebt. Ich streifte mir den Helm vom Kopf, schlaff fiel er auf die Schulter. Inzwischen war geraume Zeit vergangen, seit ich die kleine Kammer verlassen hatte. Plötzlich machte ich eine wichtige Entdeckung – die Finsternis war nicht vollkommen. Je mehr Zeit verstrich, desto deutlicher nahmen meine Augen wahr, dass es hier, außerhalb der Kammer, nicht völlig dunkel war. Es gab hier eine Art milchige, silbrig schimmernde Halbdunkel. Ich erinnerte mich, dieselbe Beobachtung schon einmal gemacht zu haben – oben, als ich am Rand des mit
Treibsand gefüllten Schachtes stand und überlegte, ob ich springen oder mich verteidigen sollte. Ich hatte mich da schon darüber gewundert, aber es war mir keine Zeit geblieben, länger darüber nachzudenken. Auf dem Boden hockend, gönnte ich den Augen Zeit. Umrisse begannen, sich aus der Dunkelheit zu schälen: Kanten, Vorsprünge, Nischen, Erker. Eine Ahnung sagte mir, dass ich mich in einem riesigen Raum befand. Welchem Zweck diese Kaverne diente, welcher Architekt sie erschaffen hatte, das war mir unbekannt. Das Sitzen tat mir gut. Es stellte einen Teil der im Ringen mit dem Treibsand verbrauchten Körperkraft wieder her. Ich erinnerte mich an mein eigentliches Anliegen. Wir waren vor den Goltein-Heilern geflohen, damit wir Zeit bekamen, die ISCHTAR um Hilfe zu rufen. Im Schimmer des unwirklichen, silbrigen Lichtes musterte ich die Anzeigen des Anzugfunkgeräts am linken Handgelenk und aktivierte es. Das Kontrolllicht leuchtete auf. Ich begann zu sprechen: »Der junge Adler ruft den Adlervater.« Das waren die Worte, die ich mit Fartuloon vereinbart hatte. Sie gaben keinen Namen preis und waren in ihrer Bedeutung geeignet, Fartuloons Eitelkeit zu schmeicheln. Aber der Adlervater antwortete nicht. Ich wiederholte den Versuch mehrere Male, stets mit dem gleichen Misserfolg. Entweder war mein Sprechgerät trotz leuchtendem Kontrolllicht defekt, oder es gab in den Tiefen dieser alten Stadt einen energetischen oder hyperenergetischen Einfluss, der den Minikom hinderte, seine volle Wirksamkeit zu entfalten. Die ISCHTAR konnte uns also vorläufig nicht helfen. Ich stand auf. Die Pause hatte mich gestärkt. Es gab eine Menge zu erforschen. Ich war darauf angewiesen, meine Lage aus eigener Kraft zu verbessern. Also machte ich mich an die Arbeit …
Ich bezeichnete den Raum, in dem ich mich befand, als Halle – ohne zu wissen, ob er meiner Vorstellung entsprach. Ich dachte ihn mir als eine Kaverne von beachtlichen Ausmaßen, weil meine Schritte nicht das geringste Geräusch verursachten. Kein Echo kam zurück, anhand dessen ich die Maße hätte abschätzen können. Meine Kräfte waren zurückgekehrt. Ich fühlte mich stark und schritt an der Reihe der Erker, Nischen und Vorsprünge entlang und besah mir alles – in dem milchigen, silbrigen Dämmerlicht, das von irgendwoher kam. Und doch fühlte ich mich wie im Traum. Ich war in eine fremde Welt geraten. In den Erkern und Nischen standen Gestalten und Dinge, deren Sinn ich nicht erkannte und deren Zweck ich nicht erriet. Auf den Altanen und Vorsprüngen erhoben sich Gebilde, die mir nicht minder fremd waren. Eine uralte Kultur, vermutete ich, hat hier gewirkt und ihre Spuren hinterlassen. Es mochte sein, dass die Dinge, die ich für Statuen hielt, in Wirklichkeit Maschinen waren. Ich konnte den Unterschied nicht erkennen. Nur mit Mühe erinnerte ich mich daran, dass ich nicht hierher gekommen war, um zu staunen. Meine Aufgabe war es, einen Ausgang zu finden, irgendeine Passage, die mich wieder an die Oberfläche brachte. Ich dachte an Ra und Karmina, die verschollen waren und womöglich den Goltein-Heilern nicht hatten entgehen können. Und was aus meinem Vater geworden war, wusste ich ebenfalls nicht. Ich muss einen Ausweg finden. Ich muss ihnen helfen. Meine erste nennenswerte Entdeckung war, dass es im Boden der riesigen Halle Löcher gab. Gewöhnlich befanden sie sich in der Nähe der Wände, meist in einer Nische; aber es gab auch ein paar, die mitten in der ebenen Fläche des Hallenbodens klafften. Ich musterte die ersten fünf, dem Rest ging ich aus dem Weg. Aus den Löchern leuchtete es schimmernd und undeutlich wie aus dem mit Treibsand gefüllten Schacht, dessen Opfer ich geworden war. Ich
verspürte keine Lust nach einer Wiederholung des staubigen Abenteuers. Das unwirkliche Halbdunkel, das die Halle erfüllte, hinderte mich daran festzustellen, welche Form der gewaltige Raum hatte. Die Wände mit ihren unzähligen Unebenheiten lieferten keinerlei Hinweis. Die Hallenhöhe ließ sich nicht bestimmen. Ich hatte das Gefühl, mich auf einer leicht gekrümmten Linie zu bewegen, als ich an der Wand entlangschritt. Aber sicher war ich meiner Sache nicht. Einmal allerdings merkte ich, dass sich die Wand deutlich krümmte und mir den Weg versperrte. Ich überlegte, ob ich der Krümmung folgen sollte. Dann entschloss ich mich impulsiv, die Halle stattdessen zu durchqueren und an der gegenüberliegenden Wand weiterzusuchen. Die Lichtverhältnisse waren nicht danach, dass ich die Entfernung der Wand auf der anderen Seite des Raumes, also die Breite der Halle, leicht hätte abschätzen können. Von dort, wo ich stand, gewahrte ich undeutlich etwas Dunkles, hoch Aufragendes, das von aberwitzig vielen Unebenheiten, Vorsprüngen und Rissen durchsetzt war. Aber wie weit ich bis dorthin zu gehen hatte, darüber begann ich mir erst ein Bild zu machen, als ich einige hundert Schritte gegangen war, ohne dass ich mich meinem Ziel merklich genähert hatte. Sehr grob geschätzt musste die Halle zwei oder gar mehr Kilometer durchmessen und mehr als hundert Meter Höhe aufweisen. Ich blieb stehen, um meinen Entschluss noch einmal zu überdenken. In was für eine Welt war ich da hineingeraten? Wer hatte diesen riesigen Hohlraum erschaffen, der ohne Mühe eine Stadt hätte aufnehmen können? Welchem Zweck hatte die riesige Halle einst gedient? Die Skulpturen in den Nischen und auf den Altanen ließen vermuten, dass der Raum als Kultstätte benutzt worden war – aber nur dann, wenn meine Deutung der seltsamen Gebilde als Skulpturen richtig war und es sich nicht um seltsam geformte Maschinen
handelte. Plötzlich erschien vor mir aus dem silbrigen Halbdunkel eine eigenartige Gestalt. Es handelte sich nicht etwa um eine schreckliche, monströse Erscheinung – ganz im Gegenteil, das fremde Geschöpf hatte etwas Elegantes und Graziles an sich. Aber zu erkennen, dass es in dieser uralten, für tot geglaubten Stadt noch Leben gab – diese Erkenntnis war doch überraschend. Der riesige Käfer, der geheimnisvolle Mechanismus, der mich aus dem Sandschacht befreit hatte – sie hatten mich nicht auf diese Begegnung vorbereitet. Das fremde Wesen musterte mich aus glitzernden Augen. Es stand auf vier Beinen und erreichte eine Höhe von etwa eineinhalb Metern. Der Schädel war kantig, beinahe wie ein Würfel geformt. Die Oberfläche glich einem kurzhaarigen Fell. Aber vom Nacken bis zur Hälfte des Rückens zog sich ein netzartiges Gebilde, fast wie ein Flügelpaar, das das Geschöpf entfalten konnte, um sich durch die Luft fortzubewegen. Ich hatte dergleichen noch nie gesehen. Der Kombistrahler glitt mir wie von selbst in die Hand. Das Geschöpf nahm davon keine Notiz. Seine Augen funkelten, aber es bewegte sich nicht. Ich erinnerte mich an den Riesenkäfer. Er hatte einen Volltreffer einfach ignoriert. Würde ich hier dieselbe Erfahrung machen? Bestanden die Geschöpfe dieser Unterwelt aus einer Substanz, die der Thermoenergie unserer Waffen mühelos widerstand? Versuchsweise tat ich einen Schritt weiter in der Richtung, in der ich mich bisher bewegt hatte. Das fremde Geschöpf reagierte sofort, kam mir ebenfalls einen Schritt entgegen. Die Bewegung geschah völlig geräuschlos. Geschmeidig bewegte sich der schlanke Körper, die Tatzen, wiewohl kräftig, schienen den Boden kaum zu berühren. Da fasste ich einen Entschluss, den ich als einen Entschluss der Klugheit klassifizierte. Mir lag nichts an einer Auseinandersetzung mit dem fremden Wesen. Versperrte es mir den Weg, wollte ich mir lieber einen anderen
suchen. Ich drehte mich um und schritt davon – dorthin, woher ich gekommen war. Von Zeit zu Zeit allerdings blieb ich stehen und sah zurück. Das fremde Geschöpf folgte mir nicht, schien zufrieden, mich von meinem ursprünglichen Weg abgebracht zu haben. Als ich mich das vierte Mal umsah, war es verschwunden.
Ich kehrte zurück zu der Stelle, an der die Wand eine Biegung beschrieb. Ich schritt die Biegung entlang und fand ein weiteres halbes Dutzend jener verräterisch leuchtenden Löcher, mit denen ich nichts mehr zu tun haben wollte. Ich fragte mich, welche Funktion sie versahen. Waren sie wirklich alle mit Sand gefüllt? Einmal, als ich stehen blieb, um mich umzusehen, glaubte ich zu bemerken, dass ich der gegenüberliegenden Wand der Halle näher gekommen war. Ich hielt es zunächst für eine optische Täuschung, aber je weiter ich ging, desto stärker wurde der Eindruck. Es war tatsächlich so, dass die Halle in der Richtung, in der ich mich bewegte, schmaler wurde. Die Halle verengte sich in der Form eines Trichters, die Wände wurden allmählich glatt, die Vorsprünge und Nischen verschwanden, aber nicht abrupt, sondern nach und nach. Die Kultur, die diese subplanetarische Anlage geschaffen hatte, musste eine Abneigung gegen krasse Übergänge gehabt haben. Die arkonidische Architektur dagegen hätte den trichterförmigen Auslauf, der schließlich in einen breiten Stollen mündete, als Raum verschwendend empfunden. Der Gang erschien mir dunkler als die Halle. Woher auch immer das geheimnisvolle, silbrige Licht kam – in den Stollen drang es offenbar mit geringerer Intensität. Ich blieb eine Zeit lang stehen und sicherte. Der Riesenkäfer und das Flügeltier hatten mich davon überzeugt, dass es in dieser
subplanetarischen Stadt nicht ganz so leblos und ungefährlich zuging, wie ich zuerst hatte glauben wollen. Ich horchte in das Dunkel hinein, aber da war kein Geräusch. Schließlich setzte ich mich in Bewegung. Ich merkte ziemlich bald, dass der Gang nicht gerade verlief, sondern eine stetige Krümmung nach links beschrieb. Meine Augen brauchten ziemlich lange, sich an die fast vollkommene Dunkelheit zu gewöhnen. Ich empfand das zunächst kaum als Nachteil, denn sowohl Wände als auch Boden des Ganges waren glatt und frei von Unebenheiten. Dann allerdings kam der Augenblick, in dem ich mir wünschte, ich könne mehr sehen. Gänzlich unerwartet stieß ich gegen ein Hindernis. Es war weich und elastisch. Das Fatale war, dass das Hindernis im Augenblick des Zusammenstoßes zu wildem Leben erwachte. Ich hörte einen spitzen Schrei. Irgendetwas fuhr mir ins Gesicht und riss mir eine Schramme in die Wange. Ich wollte zurückweichen, aber da war kein Weg, den wild um sich schlagenden Extremitäten des Unbekannten zu entgehen. Ich steckte ein paar derbe Schläge ein, bis es mir schließlich zu viel wurde, ich selber derb zupackte und zornig rief: »Jetzt ist Schluss!« Im selben Augenblick erstarb der Widerstand des Unbekannten. Eine weibliche Stimme, die mir wohlbekannt war, sagte mit unterdrücktem Schluchzen: »Atlan … oh … ich wusste nicht …« Im nächsten Augenblick fiel mir Karmina um den Hals und barg den Kopf an meiner Schulter. Ich wurde Zeuge des denkwürdigen Ereignisses, dass eine adelige Sonnenträgerin herzzerbrechend weinte.
Wir kauerten nebeneinander auf dem Boden. »Atlan … diese Stadt lebt«, sagte Karmina. »Sie lebt auf eine unheimliche,
geheimnisvolle Art und Weise. Als hätten die Erbauer ihr ihren Geist eingehaucht und hinterlassen.« Karminas Erlebnisse waren nicht annähernd so dramatisch gewesen wie die meinen. Als ich sie verließ, war sie ein paar Schritte weit in den Seitenstollen gegangen. Plötzlich hatte es vor ihr ein Geräusch gegeben. Ehe sie noch dazu kam, die Lampe einzuschalten, hörte sie ein halblautes Zischen. Beißender Gestank drang ihr in die Nase. Sie hatte zu fliehen versucht, aber das lähmende Gas war rascher gewesen als sie. Sie brach bewusstlos zusammen. Zu sich gekommen war sie in diesem Gang, nicht weit von der Stelle entfernt, an der ich auf sie gestoßen war. Sie hatte sich zunächst ruhig verhalten und, wie sie sagte, darauf gewartet, dass irgendetwas geschähe. Erst nach einer Tonta hatte sie sich aufgemacht, die Umgebung zu durchsuchen. Ihr war nicht das Unglück widerfahren, das mich bei meinen Nachforschungen so sehr behindert hatte – die Lampe ihres Kampfanzugs funktionierte noch. Sie hatte sie aber jeweils nur kurz aufleuchten lassen, um sich nicht den Monstren zu verraten, die nach ihrer Vorstellung die Tiefe der alten Stadt bevölkerten. Als sie meine Schritte hörte, hatte sie sich gegen die Wand des Stollens gepresst und war fest entschlossen gewesen, sich nicht zu rühren. Wäre ich nicht durch Zufall gegen sie gestoßen, hätten wir nicht zueinander gefunden. Im Gegensatz zu mir hatte sie keinen Versuch mit dem Anzugfunkgerät gewagt. Über Ras Verbleib wusste Karmina nichts. Sie hatte auch, seit sie in diesem Gang wieder zu sich gekommen war, keine Begegnung mit den unheimlichen Bewohnern der Stadt gehabt. Ich glaubte, Karmina trotz der Kürze unserer Bekanntschaft aufgrund der turbulenten Ereignisse, die wir seit der Schlacht um Marlackskor gemeinsam erlebt hatten, einigermaßen gut zu kennen. Ihr jetziges Verhalten, ihre Furcht, ihre fast hysterische Bereitschaft, in jedem finsteren Winkel ein
feindliches Monstrum zu sehen, waren absolut untypisch. Zumindest waren es nicht die Eigenschaften, die ihr die Beförderung zur Kommandantin und den Rang einer Sonnenträgerin eingebracht hatten. Ich konnte sie dennoch nicht tadeln. Auch ich fühlte mich beklommen. Ich hatte Gefahren überstanden, gegen die die Begegnung mit dem Käfer und der Sturz in den Treibsandschacht nicht mehr als ein Kinderspiel waren. Und dennoch hatte ich mich noch nie zuvor in meinem Leben so bedroht gefühlt! Was dieses Gefühl verursachte, vermochte ich nicht zu sagen. War es die unsagbare Fremdheit dieser Anlage, die keinem verwandten Geist entstammte? Waren es die Riesenkäfer und Flügeltiere, die hier unten stumm und fast geräuschlos ihr Unwesen trieben und von denen zumindest die Käfer für unsere Waffen unverwundbar zu sein schienen? War es das eigenartige, silbrig matte Licht, das die Luft erfüllte und von nirgendwoher zu kommen schien? War es die Erinnerung an das Unbekannte, das mich aus dem Treibsand befreit hatte – ohne dass ich wusste, warum und wozu? Oder hing vielleicht sogar die sonderbare Strahlung damit zusammen, die oben an der Oberfläche die Verwesung verhinderte? Es mochte eine Kombination all dieser Dinge sein. Auf jeden Fall fühlte ich mich unbehaglich. Karmina in ihrer Furcht und ich mit meiner Beklommenheit – wir gaben ein Gespann ab, das für die Erforschung der subplanetarischen Stadt denkbar ungeeignet war. Die primitivsten Regeln der Kriegskunst besagten, dass einem ängstlichen Krieger, sollte er überhaupt etwas taugen, ein furchtloser beigesellt werden musste. Aber wir hatten keine Wahl. Angst und Unbehagen ließen sich nicht zerstreuen. Und wollten wir jemals wieder Tageslicht sehen, blieb uns nichts anderes übrig, als Seite an Seite den Gefahren der Tiefe zu trotzen.
In die Halle zurückzukehren, aus der ich kam, wäre sinnlos gewesen. Wir drangen also in der Richtung, die ich ursprünglich eingeschlagen hatte, weiter vor und passierten dabei den Ort, an dem Karmina wieder zu sich gekommen war. Sie hatte ihn markiert, indem sie mit dem Strahler ein Loch in die Wand des Stollens schmolz. Wir hielten uns an dieser Stelle eine Zeit lang auf. Im Schein von Karminas Lampe untersuchte ich die Umgebung, konnte aber keinen Hinweis finden, warum die Sonnenträgerin ausgerechnet hier abgesetzt worden war. Es mochte freilich sein, dass es in den Wänden des Stollens irgendwo einen verborgenen Zugang gab – geben musste! –, der sich aber meinem Spürsinn entzog. Wir gingen weiter. Wie bisher ließ Karmina ihre Lampe auch jetzt nur dann und wann aufblitzen. Der Stollen weitete sich nach einigen hundert Metern. Die ersten Unebenheiten an den Wänden traten auf. Ich erkannte, dass wir uns einer Halle näherten, die wahrscheinlich ähnlich gestaltet war wie die, in der ich mich nach der Rettung aus dem Treibsandschacht wiedergefunden hatte. Meine Erwartung erwies sich als richtig. Der Stollen nahm schließlich die bereits beobachtete Form eines Trichters an und mündete in einen Raum, der mindestens ebenso groß war wie die Halle, die ich bereits kannte. Karminas Lampe, so kräftig sie auch war, vermochte nicht, das gegenüberliegende Ende oder die Decke zu erreichen. Mich befiel eine gewisse Mutlosigkeit bei dem Gedanken, dass wir nun beginnen müssten, die Hunderte, womöglich Tausende von Nischen und Ecken, Vorsprüngen und Felsleisten abzusuchen, um den Weg zu finden, der uns wieder hinauf ans Tageslicht brachte. Ich fühlte mich zerschlagen – geistig mehr noch als im körperlichen Sinne. Und wenn ich an die Erfolglosigkeit meines Suchens in der vorigen
Halle dachte, verließ mich der Mut. Dennoch gab es keinen Zweifel daran, dass wir suchen mussten. Karmina ließ sich nur mit Mühe dazu überreden, die rechte Wand der Halle zu übernehmen, während ich die linke absuchte. Irgendwo weiter vorne, vermutete ich, würden sich die Hallenwände einander wieder nähern und in einen weiteren Gang münden. Dort würden wir uns treffen. Bevor wir uns trennten, vergewisserten wir uns, dass zumindest innerhalb der Halle unsere Funkgeräte funktionierten. Wir konnten uns verständigen. Das war wichtig für den Fall, dass einer eine Entdeckung machte. Grimmig entschlossen, das zu tun, was getan werden musste, machte ich mich an die Arbeit. Ich kroch in Nischen hinein und kletterte an Vorsprüngen empor, soweit sie sich erklettern ließen. Ich fand Schächte, aus denen geheimnisvolles Leuchten drang, deren Tiefe ich nicht abzuschätzen vermochte und die ich aufgrund früherer Erfahrungen intuitiv mied. Trotzdem trennte ich mich von einigen Gebrauchsgegenständen, die ich in die Schächte fallen ließ, um deren Beschaffenheit zu erkunden. Die Gegenstände verschwanden alle spurlos und ohne irgendein Geräusch zu erzeugen – was mein Misstrauen gegenüber den Schächten nur noch verstärkte. Schließlich fand ich eine Nische, die fast schon ein Gang war, der tief in die Seitenwand der Halle führte. Ich bedauerte, dass Karmina nicht bei mir war. Ihre Lampe wäre hier von Nutzen gewesen. Aber sie schritt an der gegenüberliegenden Wand der Halle entlang, Hunderte Meter entfernt, und um einer Belanglosigkeit willen wollte ich sie nicht herbeirufen. Ich sah ihre Lampe in fast regelmäßigen Abständen kurz aufblitzen. Sie kam, das bemerkte ich, langsamer voran als ich, was vermutlich mit ihrer Furcht vor den unheimlichen Bewohnern dieser subplanetarischen Welt zusammenhing. Vorsichtig drang ich zwischen die eng stehenden Wände.
Der milchige, silbrige Dämmer, der die Weite der Halle erfüllte, verlor sich hier. Es wurde dunkel. Ich begann mich zu fragen, ob es überhaupt sinnvoll war, hier zu suchen. Da hörte ich über mir ein Geräusch. Was dann kam, geschah so schnell, dass ich einen Augenblick lang nicht wusste, woran ich war – einen gefährlichen Augenblick lang, denn diese kurze Zeit der Unentschlossenheit nutzte der Gegner, um sich einen entscheidenden Vorteil zu verschaffen. Etwas Schweres fiel auf mich herab. Ich ging in die Knie, warf mich zu Boden und versuchte, das Schwere abzuschütteln. Im Nu aber hatten sich mir harte Pranken um den Hals gelegt und gaben sich Mühe, mir die Luft abzuschnüren. Ich drehte und wälzte mich, aber das, was mir im Nacken saß, bekam ich nicht los. Der Druck um meine Kehle verstärkte sich. Ich geriet in Atemnot, bäumte mich auf, trat mit voller Wucht nach hinten. Ich hörte einen unterdrückten, knurrenden Schrei, der Druck auf meine Kehle ließ nach. Eine weitere Körperwendung, ich war frei. Vor mir, in der Dunkelheit, polterte etwas zu Boden. Die Waffe lag in meiner Hand. Ich drückte den Auslöser und sah mit grimmiger Erleichterung, wie der fauchende Thermostrahl durch die Finsternis stach. Ein Schrei gellte auf, dann war Ruhe. Ich stand unbeweglich. Der grelle Schuss hatte mich geblendet. Ich sah nichts. Nach einer Weile hörte ich hastige Schritte. »Atlan …« Das war Karminas Stimme. »Hier!« Ich entdeckte den hellen Schein ihrer Lampe, als sie in den Nischengang eindrang. Vor mir auf dem Boden sah ich eine zusammengekrümmte, dunkelhäutige Gestalt. Vor Schreck stockte mir das Blut in den Adern, als ich den Kampfanzug erkannte. Karmina kam heran, sah zuerst mich, dann die Gestalt auf dem Boden. Entsetzt blieb sie stehen. »Das ist … das ist Ra«, stieß sie hervor. Sie sagte mir nichts Neues. Ich hatte meinen entsetzlichen
Irrtum bereits erkannt. Durch meine Gedanken zuckte einer von Fartuloons gesammelten Sprüchen: Blindes Reagieren ist Art des gehetzten Tieres. Jemand, der Kraft, Gerissenheit und Entschlussfreudigkeit mit Können und kalkulatorischer Fantasie verbindet, hat ungleich mehr Chancen als jeder andere.
Die Zentitontas des ungewissen Wartens gehörten zu den schrecklichsten, die ich in meinem Leben durchgemacht hatte. Ich hatte mich vergewissert, dass Ra noch lebte. Sein Puls schlug noch, er atmete. Mein Schuss hatte ihn an der rechten Schulter erwischt. Es gab keinen physischen Grund, warum er an der Folge meines Irrtums hätte sterben sollen, der Notverband half ebenso wie die verabreichten Medikamente. Aber wir alle, Ra wahrscheinlich eingeschlossen, befanden uns in einem derart merkwürdigen seelischen Zustand, dass die Möglichkeit des Todes infolge Schocks nicht ausgeschlossen werden konnte. Endlich öffnete Ra die Augen. Von unten herauf sah er mich – und erkannte mich. »Oh … Atlan …«, stöhnte er, » … du verdammter … Narr!« Es geschah nicht oft, dass ich so beschimpft wurde. Höchstens von Fartuloon, aber niemals von einem Barbaren, der von einer unbekannten, namenlosen Welt stammte. Hier jedoch war es anders. Wilde Freude stieg in mir empor. »Ra … ich wollte es nicht.« Er verzog das dunkelhäutige Gesicht und brachte ein mattes Grinsen zustande. »Ich … ich weiß … Es war … zum Teil … meine Schuld.« Es gab nicht viel, was ich für ihn tun konnte. Wir mussten uns auf Ras natürliche Widerstandskraft verlassen, die bei ihm weitaus stärker ausgeprägt war als bei uns, den Opfern der Zivilisation, wie er uns nannte. Und da verließen wir uns auf nichts Geringes, wie sich bald herausstellte. Ra kam innerhalb kurzer Zeit auf die Beine. Falls er noch Schmerzen hatte,
wusste er sie so zu verbergen, dass Karmina und ich nichts davon bemerkten. »Ein Stück Fleisch«, murmelte er, als er schwankend, aber unbewegten Gesichts vor uns stand, »und ein Schluck klares Wasser. Das würde mir helfen.« »Letzteres liefert dein Anzug, auf Ersteres musst du vorläufig verzichten.« »Ja, ich weiß. Aber es schadet nichts, davon zu träumen.« Dann blickte er mich scharf an. »Du weißt von den Bewohnern dieser Stadt? Auch von den Flügelkatzen?« Mit Katzen hatte ich die geflügelten Tiere bislang noch nicht in Verbindung gebracht. Aber ich wusste, was er meinte. »Bist du ihnen begegnet?« »Dutzenden! Dort oben sind sie … überall.« Er wies in die Höhe. Verblüfft starrte ich die finstere Wand hinauf. »Eine verrückte Stadt. Man weiß nicht, wo oben und unten ist. Als ich zu mir kam, lag ich auf einer schmalen Felsleiste, unmittelbar am Rand eines Abgrunds. Wie leicht, dachte ich, hätte ich in der Bewusstlosigkeit eine falsche Bewegung machen und abstürzen können. Aber als ich den Abgrund untersuchen wollte, war er plötzlich verschwunden. Die Kante der Leiste war weiter nichts als eine Stufe. Hinter der Stufe ging es eben weiter …« Ich verstand nicht, was er meinte. Vermutlich war er noch ein wenig durcheinander. Ich ließ ihn schildern, wie er hierher gekommen war. Er war wie ich in einen Schacht gesprungen. In seinem Fall jedoch war der Schacht leer gewesen. Unten war er mit beträchtlicher Wucht aufgeprallt und hatte das Bewusstsein verloren; er war nur deswegen noch am Leben, weil das Flugaggregat – zunächst wohl ausgefallen oder gestört – im letzten Augenblick angesprungen war und den Aufprall gedämpft hatte. »Als ich wieder zu mir kam«, berichtete er, »lag ich auf der Felsleiste, und von dem Schacht, durch den ich gestürzt war,
konnte ich nirgendwo mehr eine Spur finden.« Seitdem war er in den Wänden dieser Halle herumgeklettert und hatte nach einem Ausgang gesucht. Es war ihm ergangen wie mir; der Sturz hatte seine Lampe beschädigt. So war er allein auf die Fähigkeit seiner Augen angewiesen gewesen, um sich in dem diffusen, silbrigen Halbdunkel zurechtzufinden. »Die Flügeltiere waren ständig da. Ich ging ihnen aus dem Weg, denn sie waren in der Übermacht. Es kam mir vor, als wollten sie mir den Weg verlegen. Bewegte ich mich in gewisse Richtungen, bauten sie sich vor mir auf und wichen nicht von der Stelle.« Ich dachte an das geflügelte Wesen, das sich mir entgegengestellt hatte, als ich die Halle durchqueren wollte. Man konnte das Verhalten der Flügeltiere auch so deuten, dass sie uns den Weg weisen wollten, indem sie uns daran hinderten, in die falsche Richtung zu gehen. Karmina hatte ähnliche Gedanken. »Wir sollten die Wand hinaufsteigen.« Grundsätzlich gab es dabei wenig Gefahr. Unsere Flugaggregate waren intakt. Auch ich gab meine Zustimmung, nachdem Ra versichert hatte, dass ihn die Wunde nicht am Klettern hindere. »Außerdem gibt es da oben nicht so viel zu klettern, wie man von hier aus meint«, fügte er ominös hinzu; aber ich verstand ihn nicht. Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass wir inzwischen seit fünf Tontas hier unten waren.
Der Aufstieg war nicht schwierig. Es gab genug Vorsprünge, Ecken und Kanten, an denen Hände und Füße Halt fanden. Außerdem neigte sich die Wand nach außen. Das war ein ganz überraschender Effekt, da der Boden unter unseren Sohlen immer ebener wurde. Karmina blieb stehen und ließ den Strahl ihrer Lampe in die Richtung streifen, aus der wir kamen. Es
war verwirrend zu sehen, dass wir uns auf einem nur sanft geneigten Hang befanden, während wir vor Kurzem noch geglaubt hatten, eine fast senkrechte Wand emporzuklimmen. Den Boden der Halle allerdings erreichte der Lichtkegel nicht mehr, sodass wir uns an ihm nicht orientieren konnten. Während wir weiterschritten, ging der Eindruck, dass wir uns auf einer irgendwie geneigten Fläche befanden, vollends verloren. Die Vorsprünge und Erker, die zuvor waagrecht aus der Wand hervorgetreten waren, hatten nun das Aussehen von Türmen und Mauern, die senkrecht aus dem Boden wuchsen. Wir befanden uns in einem Irrgarten voll fremder Formen und Gestalten; wäre es uns darauf angekommen, den Weg wieder zurückzufinden, hätten wir erhebliche Mühe darauf verwenden müssen, unseren Kurs zu markieren. Plötzlich hörte ich seitwärts in der milchigen Halbfinsternis ein scharrendes Geräusch. Ich sah auf und entdeckte den matt schimmernden Leib eines Flügeltieres. Es war hinter einem der Mauerstücke hervorgekommen und hatte dabei das Scharren verursacht. »Wir werden beobachtet«, sagte ich. Das Flügeltier bewegte sich parallel zu unserem Kurs, hielt ständig den gleichen Abstand und schritt mit der gleichen Geschwindigkeit wie wir. Weiter im Hintergrund sah ich von Zeit zu Zeit leuchtende Punkte – die Augen weiterer Tiere, die uns beobachteten. Anscheinend befanden wir uns nach ihrer Ansicht auf dem richtigen Weg. Ich war nahezu sicher, dass sie sich uns entgegenstellen würden, sobald wir versuchten, zur Seite auszuweichen. Wir hielten die Waffen schussbereit. Ich befürchtete zwar, dass unsere Strahler die Flügeltiere ebenso wenig beeindrucken würden wie den Riesenkäfer, aber falls sie uns angriffen, wollte ich es wenigstens auf einen Versuch ankommen lassen. Ich war so mit den fremdartigen
Geschöpfen beschäftigt, dass ich erst spät bemerkte, wie das Gelände enger zu werden begann. Eine nahezu ununterbrochene Wand aus kaum bearbeitetem Felsgestein näherte sich uns von der rechten Seite her, und zur Linken sah es ähnlich aus. Als Karmina ihre Lampe aufblitzen ließ, glaubte ich, weit vorab einen Punkt zu erkennen, an dem die beiden Wände aufeinandertrafen und uns den Weg versperrten. Wir blieben stehen. »Das hat keinen Sinn«, sagte die Sonnenträgerin. »Dort vorn ist der Weg zu Ende.« »Willst du etwa umkehren?«, fragte Ra. »Die Flügeltiere werden dir den Weg versperren.« »Das muss ausprobiert werden.« Ich drehte mich um, ging langsam und vorsichtig ein paar Schritte den Weg zurück, den wir gekommen waren. Sofort geriet die Welt ringsum in Bewegung. Leises Rascheln und Scharren verriet, dass ganze Horden von Hügelwesen aus der Finsternis auf mich zukamen. Das Blitzen ihrer Augen wurden größer und heller, matt schimmernde, schlanke Leiber tauchten aus dem silbrigen Halbdunkel. Die Flügeltiere formierten sich zu einem vielfach gestaffelten Wall, der uns den Weg abschnitt. »Genau, wie ich sagte«, knurrte Ra. Ich blieb stehen. War meine Vermutung richtig, dass die Flügeltiere die Aufgabe hatten, uns einen bestimmten Weg zu weisen, musste es dort hinten, wo die beiden Felswände zusammentrafen, irgendwie weitergehen. Erwies sich meine Vermutung jedoch als falsch, war es dann immer noch an der Zeit, die Entschlossenheit der fremdartigen Wesen zu prüfen und herauszufinden, ob unsere Kombistrahler sie wirklich nicht beeindruckten. Ich kehrte zu Ra und Karmina zurück. »Wir gehen in der ursprünglichen Richtung weiter.«
Aus der Nähe entpuppte sich das Aufeinandertreffen der beiden Felswände in der Tat als optische Täuschung. Die beiden Wände kamen, eine von rechts, eine von links, einander bis auf knapp zwei Meter nahe. Von da an verliefen sie parallel und bildeten eine Art nach oben offenen Gang, in dem es allerdings völlig finster war. Unsicher blieben wir zunächst stehen. Die Geflügelten waren ein Stück weit hinter uns zurückgeblieben, aber sie versperrten uns nach wie vor den Rückweg. »Worauf warten wir?«, fragte Ra ungeduldig. Mir war der finstere Gang irgendwie nicht geheuer. Der Extrasinn meldete sich nicht, also gab es keinen logischen Grund, warum ich mich vor der Finsternis fürchten solle. Es war mehr eine Ahnung drohender Gefahr, die mich erfüllte. Seit ich auf Largamenia für das Bestehen aller Prüfungen mit der Aktivierung des Logiksektors belohnt worden war, achtete ich nicht mehr auf undeutliche, diffuse Ahnungen. Wozu auch? Dank des Extrasinns überstieg die Wahrnehmungsfähigkeit meines Bewusstseins bei weitem die jedes normalen Arkoniden. Es gab keinen Grund mehr, weshalb ich mich an Ahnungen halten sollte. Also schritt ich weiter. Im selben Augenblick aber überstürzten sich die Ereignisse. Das Erste, was ich wahrnahm, war ein gefährliches, zischendes Geräusch aus der Dunkelheit vor mir. Karminas Lampe flammte auf. Ich sah eine Wolke giftgrünen Gases, die mir aus dem finsteren Gang entgegenquoll, und hinter der Gaswolke sah ich undeutlich die Umrisse eines Riesenkäfers. Blitzschnell riss ich den Helm über den Kopf und schloss ihn, noch bevor mich der grüne Brodem erreichte. Ein Thermostrahl fauchte seitlich vorbei und traf das käferähnliche Geschöpf. Ra hatte geschossen – impulsiv, wie er manchmal war. Der Riesenkäfer kam auf uns zu. Auch Ra und Karmina hatten mittlerweile ihre Helme geschlossen. Die
grüne Wolke hüllte uns ein, konnte uns aber nichts mehr anhaben. Der Käfer begann unter dem ständigen Beschuss von innen heraus zu glühen. Er ist verwundbar, wenn er nur lange genug unter Feuer steht, signalisierte mein Extrasinn. Ich reagierte rasch. Ich schoss ebenfalls. Verbissen hielt ich den Auslöser niedergedrückt, der grelle Strahl huschte über die Rückenpanzerung des Käferartigen. Das Tier hielt schließlich inne, war jetzt fast weiß glühend. Ich verstand nicht, warum es nicht schon längst verbrannt oder zerflossen war. Immerhin schien es das energetische Bombardement auf die Dauer nicht aushalten zu können. Ich sah, wie es sich zusammenkrümmte – und dann, ehe ich mich’s versah, sprang es in die Höhe. Ich wich instinktiv zurück, weil ich einen Angriff befürchtete. Der Käfer aber schoss weit in die Höhe, über die Begrenzung der beiden Felswände hinaus, von innen heraus leuchtend wie eine gigantische Lampe. Konnte er fliegen? Ich sah, wie er seitwärts abtrieb und dass unter den Flügeltieren, die hinter uns lauerten, Unruhe entstand. Dort, wo ihnen der glühende Käfer nahe kam, wichen sie hastig zurück, als fürchteten sie sich vor ihm. Ich sah, dass einige das flügelähnliche Netzwerk entfalteten und flatternde Bewegungen machten, als wollten sie sich in die Luft erheben und vor dem leuchtenden Gegner fliehen. Diese Beobachtung faszinierte mich. Sie bewies, dass es unter den fremdartigen Bewohnern dieser subplanetarischen Stadt zwei Gruppen gab, die einander feindselig gegenüberstanden – die Riesenkäfer und die Flügeltiere. Die Letzteren schienen in der Überzahl, aber die Käfer waren offensichtlich die Mächtigeren. Der glühende Käfer verschwand schließlich aus meinem Gesichtskreis. Unterdessen hatte sich die Gaswolke verzogen. Als ich den Helm öffnete, bemerkte ich nur noch einen schwachen, üblen Geruch. Karminas Lampe leuchtete in
das Dunkel vor uns. Ich fragte mich, warum der Riesenkäfer uns hier aufgelauert hatte. Es ist zu fragen, wer dir wohlgesinnt ist, meldete sich der Extrasinn. Die Flügeltiere oder die Riesenkäfer? Ich konnte die Berechtigung einer solchen Frage zunächst nicht erkennen. Bei beiden Begegnungen hatten uns die Riesenkäfer feindlich gegenübergestanden. Die Flügeltiere dagegen hatten sich bislang darauf beschränkt, uns aus der Entfernung zu beobachten und den Weg zu weisen. Das mag an der Natur der Begegnung liegen. Es kann sein, dass dich die Riesenkäfer davon abhalten wollten, in eine gefährliche Richtung zu gehen. Beim Gedankenaustausch zwischen meinem Wachbewusstsein und dem Extrasinn erhob sich niemals wirklich die Frage, wer von beiden recht hatte. Es war immer der Extrasinn. Zu fragen war lediglich, ob das Wachbewusstsein der Logik der inneren Stimme zu folgen vermochte. Ich nahm mir vor, äußerst vorsichtig zu sein. Ra hatte sich inzwischen schon einige Schritte weit in den finsteren Gang hineingeschoben. Ich riet ihm, behutsam zu sein. Zu beiden Seiten wuchsen die Felswände immer weiter in die Höhe. Karminas Lampe reichte nicht mehr bis dorthin, wo sie endeten; wir konnten nicht erkennen, ob es inzwischen eine Gangdecke gab. Wir gingen etwa zweihundert Schritte, dann wichen die Wände wieder auseinander. Ich sah mich um. Die Flügeltiere waren uns nicht weiter gefolgt. Ich sah nur noch weit hinten ihre glitzernden Augen, jenseits der Stelle, an der die Felswände den Gang zu formen begannen. Sie erweckten den Eindruck von Geschöpfen, die ihre Aufgabe erfüllt hatten – sie hatten uns auf den richtigen Weg gebracht. Die Wände umschlossen nun ein Rund von etwa achtzig Metern Durchmesser. Karminas Lampe erhellte den Kreis. Auf der anderen Seite führte der Gang weiter. Der Boden war eben und
ohne Hindernisse, die Decke nicht zu sehen. Ra schickte sich an, den Kreis zu durchqueren – da bemerkte ich das leise Flimmern. Es lag über dem Boden in der Mitte des Runds wie eine dünne Schicht heißer Luft. Man musste schon genau hinsehen, um es überhaupt wahrzunehmen. Fast hatte Ra es schon erreicht. »Zurück!«, schrie ich. »Halt an, Ra!« Er gehorchte sofort. Es musste etwas im Klang meiner Stimme gewesen sein, was ihn bewog, ohne Frage zu gehorchen. »Tritt zurück!« Vorsichtig bewegte er sich rückwärts. Ich schraubte die Überreste der zerbrochenen Lampe vom Brustteil meines Anzugs. Weit ausholend schleuderte ich die Reste von mir, sie erreichten in hohem Bogen die Mitte des Raums. Wie hypnotisiert folgte ihnen mein Bück. Was dann geschah, hatte ich weit im Hintergrund meines Bewusstseins fast schon erwartet, aber in seiner Wucht und Intensität nicht annähernd richtig eingeschätzt. Der Boden flammte plötzlich auf. Eine wabernde Feuerwand schoss in die Höhe. Ein trockener, harter Knall betäubte mein Gehör. Eine brühheiße Druckwelle packte mich und schleuderte mich zurück. Ich prallte gegen einen Felsvorsprung, verlor wohl für einen Augenblick das Bewusstsein und kam schließlich taumelnd wieder auf die Beine. Jemand schrie. Ra! Die Druckwelle hatte ihn ebenfalls gegen den Felsen geschleudert, mit der verwundeten Schulter voran. Karmina hatte die Explosion aufrecht überstanden. Mit schreckgeweiteten Augen starrte sie in die Mitte des Runds. Ich drehte mich um. Da, wo vor wenigen Augenblicken noch fester Boden zu sein schien, gähnte jetzt ein finsterer Krater. Das Flimmern war verschwunden. Das Kraftfeld, dessen Aufgabe es gewesen war, sich im Augenblick des Kontakts aufzulösen und seinen Energiegehalt zu einer Explosion zu ballen, die uns verschlang, existierte nicht mehr. Wir waren um ein Haar dem
Tod entgangen. Und wir wussten nun, welche Gruppe der Bewohner dieser unheimlichen, subplanetarischen Stadt auf unserer Seite stand. Wir halfen Ra auf die Beine. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, die Haut fast grau. Aber er gab keinen Wehlaut von sich. »Sie haben uns in die Falle locken wollen, nicht wahr?«, knurrte er zwischen aufeinandergebissenen Zähnen hindurch und blickte dorthin, wo die schillernden Augen der Flügeltiere zu sehen waren. Plötzlich riss er sich los. Einen donnernden Kampfschrei ausstoßend, rannte er den Gang entlang, durch den wir gekommen waren. Ich sah seinen Strahler aufleuchten, den Thermostrahl mitten unter die Horde der Flügeltiere fauchen. Der Erfolg war verblüffend. Es gab eine Serie knallender Explosionen. Die Flügelgeschöpfe erwiesen sich als weitaus weniger widerstandsfähig als die Riesenkäfer: Sobald der Strahl sie erfasste, lösten sie sich auf und detonierten. Karmina und ich liefen hinter dem Barbaren her. Wir fürchteten um seine Sicherheit; aber es stellte sich heraus, dass er wohl in der Lage war, für sich zu sorgen. Mit großer Kampfeswut trieb er die Flügeltiere zu Dutzenden vor sich her. Immer und immer wieder fand der fauchende Strahl seiner Waffe ein neues Opfer und vernichtete es. Das ging so lange, bis die flüchtenden Geschöpfe endlich die Flügel entfalteten und davonschwebten – schneller, als Ra ihnen zu Fuß folgen konnte. Keuchend, aber mit leuchtenden Augen blieb er stehen. Als wir ihn einholten, drehte er sich zu uns um und stieß hervor: »So schnell wird uns kein Flügellöwe mehr in die Quere kommen.« Ich teilte seinen Optimismus nicht, aber ich schwieg vorerst. »Wohin nun?«, fragte Karmina. »Dorthin zurück, woher wir kamen«, entschied ich. Sie musterte mich erstaunt. »Wo es uns um ein Haar das
Leben gekostet hätte?« »Ja. Ich denke, dass die Falle deswegen gerade dort gestellt wurde, weil wir uns einem kritischen Teil der subplanetarischen Anlage näherten.« Sie lächelte. »Das ist pure Ahnung, nicht wahr?« »Kaum mehr«, gab ich zu. Wir kehrten zurück. In der Mitte des Runds gähnte der Krater. Am Rand gab es genug natürlich gewachsenes Gestein, sodass es uns nicht schwerfiel, das Loch zu umgehen. Auf der anderen Seite – dort, wo die beiden Felswände wieder einen schmalen Korridor frei ließen – hielten wir an. Die vergangenen Tontas waren anstrengend gewesen. Wir hatten die Ruhe verdient. Nebeneinander hockten wir uns auf den Boden. »Wir wissen jetzt annähernd, woran wir sind. Es gibt zwei Sorten Bewohner dieser Stadt – die Riesenkäfer und die Flügeltiere. Letztere haben offenbar die Aufgabe, uns in eine Richtung zu lenken, in der wir ins Verderben gehen.« Ra grinste – trotz der Schmerzen, die ihm die verletzte Schulter ohne Zweifel noch bereitete. »Sie werden nichts dergleichen mehr versuchen.« »O doch. Wir sind vor den Flügeltieren noch lange nicht sicher.« Er bekam große Augen und starrte mich fragend an. »Sie können über ihr Geschick nicht frei entscheiden. Sie sind Roboter.« Auch Karmina war erstaunt. »Nehmt als Beispiel die Riesenkäfer. Welches organische Material lebt selbst in weiß glühendem Zustand noch? Also müssen die Riesenkäfer Roboter sein, die aus extrem widerstandsfähigem Material bestehen.« »Aber die Flügeltiere …?«, fragte Karmina zweifelnd. »Was geschieht, wenn du mit einem Thermostrahler auf ein Tier schießt?« Noch bevor sie reagieren konnte, gab ich die Antwort selbst. »Es verbrennt, verwandelt sich in eine lodernde Flamme. Übrig bleiben nur Rauch und Asche. Die Flügeltiere aber explodieren!« Ra und Karmina schwiegen und
überdachten meine Worte. Ich wollte sie dabei nicht stören, aber schließlich dauerte mir die Stille zu lange. »Für uns ergibt sich damit die Frage, von wo aus die Maschinenwesen gesteuert werden.« »Wenn überhaupt«, wandte Karmina ein. »Ebenso könnte es sein, dass sie programmiert sind und eine eigene Intelligenz haben.« »Die Möglichkeit besteht. Eigene Intelligenz traue ich den Riesenkäfern allerdings eher zu als den Flügeltieren. Ihr Verhalten macht auf mich mehr den Eindruck, als würden sie dirigiert.« Sie dachte nach. »Gesetzt den Fall, es gäbe wirklich eine Steuerzentrale. Wie könnten wir sie finden? Einfach, indem wir unsere Suche fortsetzen?« »Ich dachte an zwei Methoden. Vorausgesetzt, die Steuerung funktioniert auf Funkbasis, könnten wir unsere Anzuggeräte so modifizieren, um die Steuersignale damit anzupeilen.« Karmina hatte Falten auf der Stirn. »Ra und ich verstehen davon nichts. Du etwa?« »Ein wenig. Gerade genug, um die Geräte zu modifizieren.« Nach einer Weile des Schweigens meldete sich Ra wieder zu Wort. »Du sprachst von zwei Methoden. Welches ist die zweite?« »Wir waren bislang zu einseitig bei unserer Suche.« »Zu einseitig …?« »Wir haben – mit Ausnahme des Aufstiegs über die Wand – immer nur in einer Ebene gesucht. Ich bin fast überzeugt, dass diese Stadt aus vielen Ebenen besteht. Wir müssen also aufhören, uns nur in der Waagerechten zu bewegen. Wir müssen die Schächte untersuchen, die es hier überall gibt.« »Und im Treibsand versinken?« »Ich habe bislang angenommen, dass alle Schächte mit Treibsand gefüllt sind. Aber inzwischen erscheint mir diese
Vermutung nicht mehr sonderlich sinnvoll. Ich meine, dass wir uns hier im inneren Kern der alten Stadt befinden. Der Stollen, durch den wir eindrangen, ist der oder ein Zugang von außen. Die Erbauer der Stadt wollten nicht, dass jedermann, der zufällig den Stollen entdeckt, auch in die inneren Bezirke gelangt. Deswegen füllten sie die Schächte, die von den Außenbezirken herabführen, mit Sand. Denn wenn ich mir die Sache genau überlege, kann der Sand unmöglich auf natürlichem Weg in den Schacht gekommen sein.« Karmina sah mich mit aufmerksamen Augen an. »Das klingt plausibel – aber es ist nur eine Vermutung.« Ra gab einen Laut der Ungeduld von sich. »Ihr redet und redet … Lasst uns lieber etwas tun. Mein Anzug ist flugtauglich. Ich übernehme es, den nächsten Schacht zu untersuchen.« »Falls er nicht doch mit Sand gefüllt ist«, warnte ich ihn. Immerhin war ich ihm dankbar für seine Bereitwilligkeit. Als wir die subplanetarische Anlage betraten, hatte er sich vor den unbekannten Gefahren der Unterwelt gefürchtet. Kreatürliche Furcht hatte von ihm Besitz ergriffen. Jetzt jedoch war er wieder der alte, impulsive Draufgänger. Er hatte die Angst überwunden – an seiner Statt empfanden nun wir »Zivilisierten« Beklommenheit. Ich hätte nicht zugelassen, dass Karmina dieses Wagnis unternahm, und ich selbst, meinte ich, müsse zurückbleiben, um die Expedition in die unbekannten Tiefen eines der Schächte zu koordinieren. Ich hatte eine Idee über die topologische Beschaffenheit dieser Stadt entwickelt. Ra sollte feststellen, ob die Idee richtig war oder nicht.
Wir drangen weiter in den Gang vor. Ich wollte mich nicht allzu weit von diesem Teil der Stadt entfernen, denn ich war noch immer nahezu sicher, dass die Falle eben dort gestellt
worden war, weil wir uns einem kritischen Teil der Anlage näherten. Daher war ich einigermaßen erleichtert, als sich der Gang schon nach wenigen Dutzend Schritten abermals zu weiten begann und in eine Halle von jener Art mündete, wie wir sie nun schon mehrfach kennengelernt hatten. Wir schritten die linke Seitenwand ab, stöberten in Nischen und Buchten und fanden schließlich, Seite an Seite, insgesamt drei kreisrunde Schächte, aus denen mattes, diffuses Licht drang. Am Rand eines der Schächte knieten wir nieder und versuchten, zunächst nur mithilfe der Augen zu erkunden, was Ra erwartete, wagte er dort hinabzuschweben. Der Anblick des Schachtes glich für meine Begriffe bis in die letzte Einzelheit dem der mit Treibsand gefüllten Röhre, in der ich um ein Haar zerquetscht worden wäre. Aber das hing mit dem silbrigen Licht zusammen, das durch den Schacht drang. Es ließ keinerlei Konturen erkennen, keinerlei Entfernungen abschätzen. Wir suchten nach abgebrochenen Felsstücken, die wir in den Schacht hinabwerfen konnten. Aber auch dies war eines der Rätsel der Stadt: Nirgendwo gab es die geringste Spur von Zerfall. Der Boden der Halle war staubfrei, als seien hier tagaus, tagein Hunderte von Reinigungsmaschinen tätig, kein herabgefallenes Stück Stein war zu finden. »Ich hab was …«, knurrte Ra. Aus einer der Taschen brachte er einen klobigen Gegenstand zum Vorschein. Ich erkannte ihn wieder – ein seltsam geformtes Stück aus leichtem, vulkanischem Gestein, das er irgendwann auf einem Planeten aufgeklaubt hatte, weil es einer der Götzengestalten seiner Heimat ähnelte. Seitdem hatte er den Stein als Talisman mit sich herumgetragen. Ich wusste, dass er ihm einige Bedeutung beimaß, und empfand Dankbarkeit angesichts des Opfers, das er in diesem Augenblick brachte. Gespannter hatten wohl kaum drei Augenpaare den Fall eines einfachen Steines verfolgt. Wir lagen flach auf dem Boden und reckten die Hälse
so weit wie möglich über den Rand des Loches. Karmina hatte ihre Lampe eingeschaltet, aber das milchige Licht im Schacht schien den Lichtkegel schon nach kurzer Entfernung einfach zu verschlingen. Der Stein fiel – merkwürdig langsam, wie mir schien. Vielleicht täuschte ich mich, aber vielleicht gab es im Schacht einen Aufwind. Immerhin handelte es sich um ein Stück Gestein von geringer Dichte. Der Stein sank … und sank … und wurde kleiner. Wir verfolgten seinen Sturz etwa zwanzig oder dreißig Meter weit, obwohl sich Entfernungen nur mit Mühe schätzen ließen. Dann verloren wir unser Testobjekt aus den Augen, horchten noch eine ganze Zeit lang, aber es drang kein Geräusch aus der Tiefe. Ra stand auf, wirkte entschlossen. »Treibsand gibt es hier nicht. Ich gehe!« »Es ist wichtig, dass du keinen Augenblick lang die Sprechverbindung unterbrichst«, warnte ich ihn. »Das weiß ich.« Er überprüfte das Flugaggregat. Es funktionierte einwandfrei. Vom Antigrav getragen, erhob er sich ein paar Fuß in die Höhe und schaltete die Korrekturdüsen ein, um den Kurs kontrollieren zu können. Dann steuerte er mitten über die Schachtöffnung. Als er die Intensität des Antigravfeldes verringerte, begann er zu sinken. Mit angehaltenem Atem folgten ihm unsere Blicke. Er sank noch langsamer als der Stein. Ich sah, wie er den Arm hob. Im selben Augenblick drang es aus meinem Empfänger: »Es ist ganz gemütlich hier. Keine Spur von Treibsand.«
Der Barbar meldete sich in regelmäßigen Abständen. Der Schacht, durch den er sank, passierte mehrere Etagen der subplanetarischen Stadt. Eine Halle wie die, in der wir auf seine Rückkehr warteten, bekam er allerdings nicht zu sehen.
Die Schichten, die er durchdrang, waren nur wenige Meter hoch – zumeist Gänge wie der, aus dem wir kamen, mit einem Loch in der Decke und einem weiteren im Boden. Ra versuchte, die Entfernungen zu schätzen, und teilte mit, dass die einzelnen Schichten oder Etagen rund zehn Meter voneinander entfernt waren. Der Barbar legte bei seinem Flug in die Tiefe bislang eine Strecke von etwa zweihundert Metern zurück. Er fühlte sich noch immer wohl und war bislang auf keine einzige Gefahr gestoßen. Das beruhigte uns. Karmina wurde das Sitzen am Rand des Schachtes zu unbequem, sie stand auf und ging ein paar Schritte. Dabei hatte sie die Lampe eingeschaltet. Der Lichtkegel wandte sich hier- und dorthin und brach sich manchmal schwach in der weit entfernten gegenüberliegenden Wand der Halle. Meine phantastischen Ideen über den topologischen Aufbau der subplanetarischen Stadt rührten in der Hauptsache von zwei Beobachtungen her. Da war erstens das merkwürdige Empfinden, dass »oben« und »unten« vertauscht worden seien, als ich aus dem Treibsand befreit wurde und mich in der Schleusenkammer aus den Sandresten hervorarbeitete. Und zweitens unsere eigenartige Kletterpartie über die Wand der Halle, in der Ra um ein Haar ein Opfer eines Irrtums geworden wäre – eine Kletterpartie, die in Wirklichkeit keine war, da sich die Wand, kaum dass wir sie in Angriff genommen hatten, in eine waagrechte Fläche verwandelte. Ich war bereit zu glauben, dass die Erbauer dieser uralten Stadt ebenso viel von künstlichen Schwerefeldern verstanden hatten wie die arkonidische Technologie unserer Tage. Ich kannte überdies siedlungstheoretische Ideen, wie auf Welten, auf denen es an Raum mangelte, Städte mithilfe künstlicher Schwerefelder so angelegt werden konnten, dass sie ein Maximum an Wohn- und Lebensfläche boten, ohne mehr als ein Minimum an Volumen zu beanspruchen. Ich fragte mich,
ob diese alte Stadt nach denselben oder ähnlichen Vorstellungen erbaut worden war. Meine Nachdenklichkeit wurde gestört. Ra meldete sich. »Jetzt sieht es plötzlich anders aus. Ich glaube, ich nähere mich dem Mittelpunkt dieser Stadt … der Schacht weitet sich … milchiges Licht … sehr verwirrend … ich sehe die Wände nicht mehr … die Orientierung …« Seine Stimme wurde plötzlich undeutlich. Angst packte mich. »Ra, kehr um!«, rief ich. »Ra, hörst du mich?« Karmina war herbeigekommen, als sie den erregten Wortwechsel hörte. Ihre Lampe brannte noch immer. »Ra, hörst du mich?« Als ich auch diesmal keine Antwort erhielt, war ich sicher, dass er sich in ernsthafter Gefahr befand. Ich stand auf und überprüfte die Kontrollen meines Flugaggregats. »Was hast du vor?«, fragte Karmina aufgeregt. »Ich muss ihm nach. Ich kann ihn nicht …« Da kam es plötzlich aus meinem Empfänger: »Ich höre dich ganz deutlich. Warum schreist du so?« Es war unverkennbar Ras Stimme. Das Gefühl der Erleichterung war so massiv, dass ich zu zittern begann. »Du Narr!«, schrie ich ihn an. »Warum meldest du dich nicht, wenn man nach dir ruft?« »Ich war ein wenig durcheinander. Dieser weite Raum, das merkwürdige Licht. Aber jetzt ist alles wieder in Ordnung. Unterhalb des Raumes setzt sich der Schacht fort. Ich sinke weiter.« Dann kamen eine Zeit lang wieder die üblichen Meldungen: Schicht auf Schicht, Etage auf Etage, immer nur schmale, verhältnismäßig niedrige Gänge. Ich rechnete aus, dass Ra jetzt schon mehr als dreihundert Meter entfernt sein musste. »Wie ist die Temperatur?«, fragte ich. »Spürst du, dass es wärmer wird?« »Nein. Die Temperatur bleibt gleich. Wenigstens spüre ich
keine Erwärmung. He …« Er musste etwas Überraschendes wahrgenommen haben. »Was … he?« »Ich bin in einer Halle. Ein riesiger Raum! Genau wie bei euch. Und da ist ein Licht …« »Was für ein Licht?« »Ein greller Lichtpunkt, ziemlich weit entfernt. Eine Art Lampe, denke ich.« »Ra, halt an!«, befahl ich ihm. »Was …?« »Du sollst anhalten!« »Gut. Ich schwebe drei Schritte über dem Hallenboden. Was soll ich tun?« »Bewege dich vorsichtig in Richtung des Lichtpunkts.« »Ich tue es. Ich habe die Waffe schussbereit.« »Sei vorsichtig mit der Waffe. Irrtümer können tödlich sein.« »Du sagst es, Kristallprinz. Die Schulter schmerzt noch immer.« Ich wandte mich an Karmina. »Bleib so stehen, wie du stehst. Beweg dich nicht.« Sie sah mich erstaunt an. »Was gibt es? Was hast du vor?« »Du wirst dich wundern.« Ich war meiner Sache mittlerweile völlig sicher. Und dass ich recht hatte, bewies mir ein leise summendes Geräusch, das allmählich lauter wurde, während es auf uns zukam. »Da kommt etwas«, sagte Karmina. »Ich weiß.« Winzige Lichtpunkte wurden sichtbar, die Flammen der Steuerdüsen eines Flugaggregats. Karmina verlor für einen Augenblick die Beherrschung und schwenkte herum. Der Lichtkegel ihrer Lampe erfasste ein dunkelhäutiges, in einen arkonidischen Kampfanzug gekleidetes Geschöpf, das sich in einer Höhe von etwa drei Metern auf uns zubewegte und einen schussbereiten Strahler in der Hand hielt. »Nicht
schießen, Ra!« Der Barbar war so überrascht, dass er den Antigrav zu rasch abschaltete und wie ein Stein zu Boden plumpste.
14. Der Arkonide sah das vielfach gezackte Trümmerstück auf sich zukommen. Panisches Entsetzen erfasste ihn. Er ließ die Strebe fahren, an die er sich bis jetzt geklammert hatte, weil er nur so dem tödlichen Geschoss ausweichen konnte. Damit aber hatte er auch den letzten Halt aufgegeben. Der Mann im blauen Raumanzug trieb vom Raumschiff weg. In den zahlreichen Augen des Spinnenwesens leuchtete es triumphierend auf. Der Fremde lauerte in den Stahlverstrebungen, die bei einem Energietreffer freigelegt worden waren. Er trug einen flammend roten Raumanzug, der ihn noch größer und bedrohlicher erscheinen ließ, als er tatsächlich war. Mit sechs seiner Beine klammerte er sich am Raumschiff fest. In den übrigen beiden hielt er eine Stahlstange, die an der Spitze lange Dornen aufwies. Aus dem Kugelkörper ragte eine turmartige Erhebung, die von einem durchsichtigen Material umgeben wurde. Darunter waren die tückisch blickenden Augen erkennbar. Das Wesen versperrte dem Mann endgültig den Weg zu der einzigen noch funktionierenden Schleuse. Das Gesicht des Arkoniden verzerrte sich. Mit behutsamen Schüben aus den Düsen seines Raumanzugs brachte er sich wieder näher an das Schiff heran. Aber das nutzte nicht viel. Es gelang ihm, eine der Stahlstreben zu packen und sich daran festzuhalten, doch damit war er vom rettenden Innern noch genauso weit entfernt wie zuvor. Der Raumer hatte bereits die obersten Schichten der Atmosphäre von Gaphteal erreicht. Der Arkonide spähte an der Rundung des Schiffes vorbei. Eine wilde Dschungellandschaft lag unter ihm, in der keinerlei Zeichen einer Zivilisation zu entdecken waren. Er überprüfte die Instrumentenanzeigen des Raumanzugs; die Daten wurden am unteren Rand der Sichtscheibe eingeblendet. Danach hatte er noch Sauerstoff für etwa fünfzehn Zentitontas. Doch das war nur ein geringer Trost, denn war er innerhalb dieser kurzen Zeit nicht bis ins
Schiffsinnere vorgedrungen, würde er in der Atmosphäre des Planeten verglühen. Er zog sich an den Stahlstreben entlang. Ihm blieb keine andere Wahl, er musste sich erneut auf das Spinnenwesen stürzen und ein letztes Mal versuchen, den Kampf für sich zu entscheiden. Er sah, dass sich der Fremde mit der Stange an dem äußeren Schleusenschott zu schaffen machte. Mit wilden Bewegungen versuchte er, es aufzubrechen. Der Fremde schien ihn in diesen Augenblicken nicht zu sehen. Der Mann stürzte sich auf das Spinnenwesen. Kurz bevor er es erreichte, warf es sich herum. In den Helmlautsprechern des Arkoniden gellte ein Schrei. Er packte die Stahlstange, riss sie zur Seite. Sie geriet mit dem stumpfen Ende gegen einen winzigen Vorsprung unterhalb des Schleusenschotts und wurde damit zum Hebel. Der Arkonide schleuderte das Spinnenwesen herum. Acht Gliedmaßen, die mit scharfen Greifwerkzeugen versehen waren, versuchten, seinen Raumanzug zu zerfetzen. Er konnte ihnen ausweichen und den Feind gleichzeitig vom Schleusenschott wegdrängen. Nun trieb das Spinnenwesen einige Meter weit in den Raum hinaus. Die Düsen seines Fluggeräts flammten auf, während der Arkonide in fliegender Eile an dem deformierten Schleusensteuergerät hantierte. Als das Spinnenwesen einige Meter entfernt gegen das Raumschiff schlug, glitt das Schleusentor auf. Mit beachtlicher Geschwindigkeit raste der Rote heran. Die Augen unter dem Transparentturm schienen in allen Farben des Universums zu leuchten. Der Arkonide warf sich in die Schleusenkammer und schlug seine Faust auf eine Taste am Innenschott. Das äußere Schott schloss sich langsam. Das Spinnenwesen kreischte und brüllte. Mit allen acht Beinen stemmte es sich gegen das Schott und versuchte, sich in die Kammer zu schwingen. Der Arkonide löste den Tornister von seinem Rücken, riss zwei Schläuche heraus, legte ihre Öffnungen parallel zueinander, richtete sie gegen den Spinnenkörper, der mit seiner gewaltigen Masse über
ihm hing, und betätigte einen Hebel. Sofort schoss eine sonnenhelle Stichflamme aus den Schläuchen, bohrte sich durch den Raumanzug des Roten. Grässlich aufschreiend fuhr das Spinnenwesen zurück. Seine Beine lösten sich vom Schleusenschott. Dieses schob sich endgültig zu, im nächsten Augenblick öffnete sich das Innenschott. Imperator Gonozal VIII. stürmte ins Schiff. Hier herrschte normale Schwerkraft, er konnte laufen, als befände er sich auf der Oberfläche eines Planeten. Er riss sich den Helm vom Kopf. Das silberne Haar flatterte wie eine Fahne hinter ihm her, als er in die Zentrale des Raumschiffs eilte, zum Sessel des Piloten. Er setzte sich hinein, seine Hände fuhren geschickt und schnell über die Hebel und Tasten. Dann richteten sich seine Blicke auf die Panoramagalerie. Eine bizarre Gestalt, deren ursprüngliche Form schon nicht mehr erkennbar war, trieb vom Raumschiff weg. Der rote Raumanzug hob sich deutlich gegen den schwarzen Weltraum ab. Die urweltliche Oberfläche des Planeten wich zurück. Das Raumschiff beschleunigte und löste sich aus dem Sog der Schwerkraft dieser Welt. Gonozal VIII. lehnte sich im Pilotensessel zurück. Sein hartes Gesicht entspannte sich, auf den männlich herben Lippen erschien ein zaghaftes Lächeln … … und während Musik aufklang, erschienen Schriftzeichen über dem Gesicht des Imperators. Arkon I: 27. Prago des Tedar 10.499 da Ark Sorgfältig las Lebo Axton den Trivid-Titel und merkte sich jeden Namen, der aufgeführt wurde. Das Gesicht Gonozals verwischte allmählich, dafür wurde das Symbol des Großen Imperiums eingeblendet. Unmittelbar darauf erschien das lächelnde Gesicht einer jungen Arkonidin im Trivid-Projektionsfeld. »Sie sahen den zweiten Teil unserer abenteuerlichen Gonozal-Trilogie. In drei Pragos, am Airishon des Tedar, können Sie die letzte Folge sehen. Sie trägt den Titel
Der Tod eines großen Arkoniden. Mit dieser Folge, meine Damen und Herren, werden wir …« Lebo Axton griff nach dem Glas, das neben ihm stand, und schaltete das Gerät aus. Das Rufzeichen des Visifons flammte auf. »Kelly! Sieh nach, wer uns sprechen will.« Der Roboter bewegte sich nicht von der Stelle. Mit einem Funkimpuls stellte er die Verbindung her. Das scharf geschnittene Gesicht von Nert-moas Avrael Arrkonta erschien im Projektionsfeld. »Was sagen Sie dazu, Lebo?« Für ihn schien nicht der geringste Zweifel daran zu bestehen, dass auch der Verwachsene den Trivid-Beitrag gesehen hatte. »Beachtlich. Einige Leute werden jetzt toben. Ich habe nicht damit gerechnet, ein Heldenepos zu sehen.« »Gonozal der Siebte wird in einer Art und Weise geschildert, die ich nicht für möglich gehalten habe.« Nert Arrkonta wusste, dass er offen sprechen konnte. Das Gespräch konnte nicht abgehört werden, dafür hatte Lebo Axton gesorgt. »Bei einigen Intellektuellen und sogar in Kreisen gewisser Politiker galt es schon seit einiger Zeit als schick, pro Gonozal zu sein. Ich habe diese Tatsache schon seit einer Weile beobachtet. Aus offizieller Sicht erscheint diese Tendenz jedoch unwichtig. Niemand hat sich darüber aufgeregt. Man sah diese Gonozal-Schwärmer als Schwätzer an, die man nicht ernst nehmen muss.« »Immerhin ist es diesen Schwätzern gelungen, die Gonozal-Trilogie unterzubringen.« »Allerdings. Zumal inzwischen die Nachrichten über die Ereignisse auf den Planeten Xoaixo und Falgrohst sowie im Marlackskor-Sektor durchgesickert sind. Gerüchte aller Art sind im Umlauf.« »Was ist denn nun wirklich passiert?«, fragte der »Nert-Baron Erster Klasse«.
Lebo Axton zögerte. »Ich lade Sie zum Essen ein. Sagen wir, in einer halben Tonta? Oben im Schwingenden Hain?« »Gern. Ich komme zu Ihnen.« Damit brach Avrael Arrkonta die Verbindung ab. Eine halbe Tonta später – die siebzehnte Tonta neigte sich dem Ende zu – saßen die Männer in einem kleinen Restaurant, das sich in dem Gwalon-Kelch des feinen Squedon-Kont-Viertels befand, in dem Axton seine Wohnung hatte. In dieser Etage, die vier Stockwerke über der Wohnung des Terraners lag, gab es weitere Restaurants, Einkaufsgelegenheiten für die gehobenen Einkommensklassen, Kommunikationszentren und Agenturen für verschiedene Dienstleistungen wie Reisen, Versicherungen, Immobilienhandel und Jagdrechte. Zwar wurden viele Geschäfte via Visifon und Positroniknetzwerk abgeschlossen, aber zahlreiche Arkoniden legten Wert auf den persönlichen Kontakt, sodass in diesem Bereich des Gebäudes lebhafter Personenverkehr herrschte. »Was ist wirklich passiert?«, wiederholte Arrkonta seine Frage. Auf der linken Brustseite des schlichten weißen Anzugs trug er die gelbe Sonnenscheibe mit zwölfzackigem statt nur glattem Rand, überdeckt vom Symbol eines Vulkanträgers. Arrkonta war nicht nur ein »Nert-Vulkanträger Erster Klasse« – ein Nert-Zhymthek’ianta-moas –, sondern ein hochdekorierter Orbton im Rang eines Has’athor und somit als Admiral Vierter Klasse zu Recht ein Einsonnenträger. Er konnte überdies, wie Axton erst vor Kurzem bei Routinerecherchen herausgefunden hatte, seinen Stammbaum über Jahrtausende bis in die Zeit des Großen Befreiungskriegs zurückverfolgen. Genauer: Er war ein ferner Nachkomme jener Akonda-Familie, die damals eine führende Rolle gespielt hatte und aus deren Reihen als jüngster Sohn angeblich der Caycon der berühmten Legende stammte – quasi die arkonidische Version von Romeo und Julia. Als Imperator Gwalon I. die
Herrschaft an sich riss, wurden die Akondas entmachtet. Ein Teil ging in den Untergrund, ein anderer passte sich an. Etliche Mitglieder traten fortan unter neuem Namen auf, zählten später zu den maßgeblichen Khasurn – aus Akonda, bei dem zu sehr das verhasste »Akon« der Stammväter mitschwang, wurde Arrkonta … Avrael Arrkonta galt als Stratege von überragender Bedeutung. Ihm waren Siege in mehreren Schlachten mit den Methans zu verdanken. Ihm gehörte unter anderem ein Unternehmen, das Positroniken und positronische Module herstellte. Auftraggeber war ausschließlich das Imperium, da er wesentliche Teile für das Projekt der Taion-KSOL auf Arkon III lieferte. Als sie sich kennengelernt hatten, hatte Arrkonta Axton als Feind eingestuft und sogar versucht, ihn ermorden zu lassen. Erst danach waren die Masken gefallen, und beide hatten sich als Feinde Orbanaschols und Freunde Atlans zu erkennen gegeben. »Das weiß ich auch nicht genau«, erwiderte Axton, nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass sie niemand in ihrer unmittelbaren Nähe belauschen konnte. »Noch nicht. Es heißt, dass Gonozal der Siebte wieder aufgetaucht ist. Das aber kann nicht sein, denn jeder weiß, dass Gonozal tot ist. Allerdings …« »Allerdings …?« Axton zögerte. Er überlegte, ob er es wagen konnte, dem Arkoniden die Wahrheit zu verraten. Immerhin hatte er von Atlan persönlich erfahren, dass Gonozal VIII. in dieser Zeit tatsächlich nochmals leibhaftig aufgetreten war. Es war stets ein Thema gewesen, welches der Arkonide mit größter Zurückhaltung erwähnt hatte, im Verlauf der Jahrhunderte ihrer Zusammenarbeit hatten sich jedoch die Andeutungen und Mosaiksteinchen zusammengefügt und ein Gesamtbild ergeben. Axtons Kenntnisse stammten nicht aus diesen Tagen, sondern aus der fernen Zukunft, aus der es ihn via
Traummaschine in diese Epoche verschlagen hatte. Er wusste, dass Atlans Vater Gonozal VIII. auf dem Planeten Erskomier bei einem Jagdunfall getötet worden war. Es war ein Mordanschlag gewesen. »Allerdings«, sagte Axton bedächtig, »war es kein Jagdunfall, wie die offizielle Version lautet, sondern ein Mordanschlag. Und Orbanaschol ist für diesen Mordanschlag verantwortlich! Nur so gelangte er an die Macht.« Avrael Arrkonta erschrak. So offen hatte Lebo Axton bisher noch nicht mit ihm geredet. »Sie stellen eine kühne Behauptung auf.« »Ich habe klare Beweise. Doch darum geht es nicht. Noch ist niemand in der Lage, Orbanaschol zu stürzen. Auch die aufflackernden Gerüchte um Gonozal werden nichts erreichen.« Der Terraner wusste von Atlan, dass der Einsatz des Lebenskügelchens aus dem Mikrokosmos den Leichnam Gonozals zwar zu biologischem Leben reanimiert, das entschwundene Bewusstsein aber den Körper nicht wieder beseelt hatte. Nach den ersten Einsätzen mit Gonozal, denen noch das Überraschungsmoment zur Seite stand, waren keine weiteren mehr gefolgt. Axton vermutete, dass nicht zuletzt auch moralische Bedenken eine wichtige Rolle gespielt hatten. »Davon bin ich noch nicht überzeugt. Glauben Sie, dass der dritte Teil der Gonozal-Trilogie gesendet werden wird?« »Warum nicht?« »Schon jetzt wächst die Zahl der Gonozal-Anhänger deutlich an. Vor allem die Jugend schwimmt auf dieser Nostalgiewelle.« »Es wäre ein schwerer Fehler, den dritten Teil zu verbieten. Damit würde das Feuer erst recht geschürt werden. Ein Verbot würde den Gerüchten des Wiedererstandenen neue Nahrung geben, quasi indirekt bestätigen. Sosehr ich mir wünsche, dass das geschieht, so wenig glaube ich daran, dass Orbanaschol
einen derart schweren psychologischen Fehler begehen wird.« »Warten Sie es ab, Lebo.« Nert Arrkonta trank sein Glas leer. Aus der Mittelkonsole des Tisches stieg das Essen für ihn und Axton auf. »Wussten Sie eigentlich, dass es eine Untergrundorganisation auf der Kristallwelt gibt, die für Gonozal den Siebten kämpft?« Axton lachte. »Dieser Altherrenklub ist wohl nicht ernst zu nehmen.« »Sagen Sie das nicht«, mahnte Arrkonta ungewöhnlich ernst. »Sie sollten dem Klub vielleicht einmal einen Besuch abstatten. Wenn Sie wollen, bin ich Ihnen dabei behilflich. Ich kenne einen Studenten, der Sie einführen kann.« Wieder überlegte der Terraner. Noch hatte er von seiner Dienststelle beim Geheimdienst – Axton war als Cel’Orbton nach wie vor der Ark Addag-Cel’Zarakh zugeteilt, der Innenaufklärung des Arkonsystems – keinen Auftrag erhalten, sich Gedanken über die Sympathiewelle zu machen, die Gonozal VIII. zurzeit erfuhr. Er rechnete jedoch damit, dass irgendetwas in dieser Richtung geschehen würde. Ein Mann, der wie der alte Imperator des Großen Imperiums von Arkon aussah, war auf den Planeten Xoaixo und Falgrohst aufgetreten, das stand fest. Er hatte großes Aufsehen namentlich unter den älteren Arkoniden ausgelöst. Schließlich hatte dieser Mann auch in die Kämpfe im Marlackskor-Sektor eingegriffen und allein durch seine Anwesenheit ein Aufbäumen der bereits geschlagenen Arkoniden im Kampf gegen die Maahks erreicht. Die Unruhe in der obersten Führungsschicht des Großen Imperiums war erheblich. Daher musste eine Reaktion erfolgen. Früher oder später würde daher auch an ihn, Lebo Axton, der Befehl ergehen, sich umzuhorchen. »Ich nehme Ihr Angebot an«, erwiderte der Verwachsene. »Ich will mir diese Untergrundorganisation einmal ansehen.« Er betonte seine Worte so eigenartig, dass der Nert-moas
voller Bedenken den Kopf wiegte. »Vielleicht sind Sie morgen schon anderer Meinung.« »Untergrundorganisationen pflegen nicht so einfach aufzuspüren zu sein. Untergrundorganisationen verstecken sich, aber sie halten keine öffentlichen Sitzungen ab.« Schweigend begannen die beiden Männer zu essen. Kelly stand hinter Axton und wachte über ihn. Als Arrkonta seine Teller geleert hatte, stellte er per Armbandfunkgerät den gewünschten Kontakt her. »Der junge Mann heißt Dastruk. Er wird sich später bei Ihnen melden.«
Lebo Axton war kaum in seine Wohnung zurückgekehrt, als das Ruflicht erneut blinkte. Da er unmittelbar neben dem Gerät stand, schaltete er es ein. Quertan Merantors Bild erschien. Ohne ein Wort der Begrüßung fragte er: »Haben Sie die zweite Folge der Trilogie gesehen?« »Allerdings.« Merantor war seit dem 1. Prago der Prikur 10.498 da Ark als Ka’Celis-moas Mitglied des Berlen Than im Ministerrang und Chef des Gon’thek Breheb’cooi-Faehgo, des berüchtigten »Amts für Fremdvölkerbelehrung«, das traditionell engstens mit den Celista-Geheimdiensten zusammenarbeitete. Zuvor war er der Polizeipräsident von Arkon I und als Katorthan’athor-moas oder »Komiteepräsident« einer der »Hüter der Ordnung, der Moral und guten Sitten« eingesetzt gewesen. Da der Erste Hohe Inspekteur ohnehin oft gleichzeitig Chef eines Geheim- oder Nachrichtendienstes war, brauchte es nicht zu verwundern, dass Merantor diese mächtige Position innehatte. Schon zuvor war er ein mächtiger Mann gewesen – wenngleich nicht von Adel –, als Cel’Mascant aber hatte der Geheimdienstchef der Tu-Ra-Cel-Sektion Innenaufklärung den Rang eines Reichsadmirals und unter Nutzung seiner Vollmachten sogar
das Recht, Urteile zu fällen und vollstrecken zu lassen. »Die dritte Folge wird nicht gesendet! Ich habe es untersagt.« Axton presste die Lippen zusammen. Fast hätte er Merantor erklärt, dass er diese Maßnahme für falsch hielt. Dabei kam sie ihm tatsächlich gelegen, denn jeder Fehler, den Merantor beging, kam Atlan und seinen Plänen zugute. Er verspürte ein leichtes Ziehen im Hinterkopf. Merantor verengte die Augen. »Sie scheinen damit nicht einverstanden zu sein.« Axton entschloss sich zur Offenheit. »Allerdings nicht. Damit machen wir eine breite Öffentlichkeit auf die Gonozal-Welle aufmerksam. Kursierende Gerüchte erhalten neue Nahrung, man wird glauben, dass doch mehr an ihnen dran ist, als man bisher angenommen hat.« »Das wird sich zeigen«, entgegnete Merantor schroff. »Das ist nicht Ihr Problem. Tatsache ist, dass es heißt, Gonozal der Siebte halte sich in einem Versteck auf Arkon Eins auf. Deshalb müssen wir eingreifen.« »Ich ahne bereits, welchen Auftrag Sie für mich haben.« »Das überrascht mich nicht. Sie werden Gonozal finden und vernichten. Endgültig. Sorgith Artho wird Ihnen zur Seite stehen.« »Muss das sein?« Die Wangen Merantors strafften sich. Kühl wies er den Protest Axtons zurück. »Es muss.« Der Cel’Mascant schaltete aus. Lebo Axton ließ sich in einen Sessel sinken, blickte zu Kelly auf. »Was stehst du da und blickst dumm in die Gegend? Was ist los mit dir?« »Wenn ich deinen klugen Analysen Glauben schenken darf, Schätzchen: nichts.« Axton schnaufte. Dass Merantor ihm den Auftrag gegeben hatte, ein Phantom zu jagen, störte ihn nicht. Dass er ihm jedoch Artho an die Seite gestellt hatte, erzürnte ihn. Dieser blasierte Arkonide hatte ihn bislang stets mehr behindert als
unterstützt. Merantor gefiel Axton von Mal zu Mal weniger. Der Arkonide behandelte ihn in letzter Zeit allzu herablassend. Der Cel’Mascant war schon immer schonungslos offen gewesen, aber selten wirklich beleidigend. Axton fragte sich, ob ihm der Erste Hohe Inspekteur die Erfolge neidete, die er erzielt hatte. Er schwor sich, aufmerksam zu sein. In den letzten Votanii hatte der Kosmokriminalist in erster Linie Routineaufgaben erhalten, diese aber mit Beharrlichkeit erledigt und jedes Mal mit einem positiven Ergebnis abgeschlossen. Behutsam hatte er Kontakte geknüpft, Informationen gesammelt und seine Stellung gefestigt. Axton war bekannt, dass Orbanaschol den Magnortöter Klinsanthor gerufen und offenbar auch erreicht hatte. Von Atlan wusste er, dass es dieses Legendengeschöpf tatsächlich gegeben hatte. Ob die Mordserie im Hocton-Mur-Kelch von Morararg etwas damit zu tun hatte, konnte er noch nicht einschätzen. Nach einer ersten Analyse der Berichte stand nur fest, dass die Attentäterin Sarissa Monotos mit bemerkenswerter Kaltblütigkeit vorgegangen war und dabei ein Wissen offenbart hatte, das eigentlich weder ihrer Ausbildung noch ihrem Charakter entsprach. Leider war sie dem Wahnsinn verfallen und zu keiner Auskunft mehr in der Lage. Zarcov Ma-Anlaan wiederum konnte sich an nichts erinnern, während der ihn behandelnde Goltein-Heiler im Koma lag und sich – genau wie die junge Frau – inzwischen in der Obhut der Seelenheiler befand. Beide sollten nach Perpandron gebracht werden. Axton seufzte. In Vorbereitung auf den Einsatz in der Traummaschine hatte er alle wichtigen Informationen per Hypnoschulung erhalten; er wusste, dass sich der jugendliche Atlan in diesen Tagen auf der Heilerwelt aufhielt und in neue Abenteuer verwickelt werden würde. Doch das waren Dinge, die für die Ereignisse hier auf der Kristallwelt keine Rolle
spielten, vorerst jedenfalls …
Das Rufzeichen an der Tür ertönte. Axton gab Kelly einen Wink, der Roboter öffnete. Ein junger Arkonide trat ein. »Mein Name ist Dastruk. Kann ich Lebo Axton sprechen?« »Sie können«, rief der Terraner, rutschte aus dem Sessel und ging dem Studenten einige Schritte entgegen. Betroffen blieb Dastruk stehen, als er den Kriminalisten sah. »Hat Arrkonta Ihnen nicht gesagt, dass ich ein Krüppel bin?« Der Arkonide blickte verlegen an dem Verwachsenen vorbei, schüttelte den Kopf. »Nein, Erhabener, ich bin … ich habe …« Er war sich dessen bewusst, dass er die Situation nicht meisterte. Arkoniden hatten eine eigenartige Einstellung zu missgestalteten Personen. Sie empfanden eine gewisse Scheu ihnen gegenüber und brachten kein Verständnis dafür auf, dass sie nicht alles versuchten, ihren Körper auf chirurgischem Wege zu korrigieren. »Ich nehme es Ihnen nicht übel«, sagte Axton freundlich. »Beruhigen Sie sich. Avrael hätte Sie informieren müssen. Setzen Sie sich.« »Wir haben wenig Zeit. Wir sollten sofort gehen. Es ist schon spät.« Der Blick auf die Uhr bewies, dass es kurz nach Mitternacht war. »Ein wenig müssen wir noch warten. Ich muss etwas über Sie wissen. Reden wir miteinander.« Zögernd nahm der Arkonide Platz. Er war Axton auf Anhieb sympathisch, hatte ein ehrliches, offenes Gesicht und schien einen geradlinigen Charakter zu haben. Der Terraner schätzte, dass er etwa achtzehn Arkonjahre alt war. Geschickt befragte Axton ihn über sein Studium, seine Interessen und über seine Vorstellungen und Ansichten über Gonozal VIII. Damit gelang
es ihm, die Befangenheit Dastruks zu durchbrechen und sein Vertrauen zu gewinnen. Als Axton schließlich auf den Rücken seines Roboters kletterte und sich in die Halterungen stellte, schien Dastruk nicht mehr überrascht zu sein. Im Gleiter flogen sie zu einem Trichtergebäude, das etwa hundert Kilometer von den vierundzwanzig Groß-Kelchen des Thek-Squedon-Kont entfernt war. Während des Fluges hatte der Kriminalist Gelegenheit, Dastruk noch etwas besser kennenzulernen. Kelly landete unterhalb des Dachringes in einer Parknische. Von hier aus führte Dastruk Axton zu einem Hotel, das eine volle Etage in mittlerer Höhe in Anspruch nahm. »Hier kommen und gehen ständig irgendwelche Leute«, sagte der Student. »Man fällt nicht auf.« Axton war etwas anderer Meinung, aber er schwieg. Er folgte dem jungen Arkoniden bis in einen Hoteltrakt an der Peripherie. Als sie einen Konferenzraum betreten wollten, trat ihnen ein untersetzter Mann entgegen. »Sie können nicht hineingehen. Geschlossene Gesellschaft. Alle Plätze sind besetzt.« »Wir haben eine Einladung, ein Plätzchen werden wir auch noch finden.« Der Widerstand des Untersetzten löste sich in nichts auf. »Wenn Sie meinen …«, entgegnete er und gab den Weg frei. Axton ließ sich von Kelly hineintragen. Dastruk ging vor ihm her. Sie betraten einen lang gestreckten Raum, dessen eine Seite von wandhohen Fenstern eingenommen wurde, die den Blick in den Innenhofpark des Trichters gestatteten. An zahlreichen Tischen saßen Frauen und Männer plaudernd beisammen. Die Aufmerksamkeit wandte sich sofort Axton zu. Die Gespräche verstummten. Ungläubig wurde der Fremde auf dem Rücken des Roboters gemustert. Niemand hatte mit einer so ungewöhnlichen Erscheinung gerechnet. Auffallend war hierbei nicht nur Axtons verwachsener
Körper, sondern auch der Roboter. Die Maschine war etwa zwei Meter groß und wirkte im Vergleich zu Axton wie ein Koloss. Auf den ersten Blick war zu erkennen, dass er aus zahlreichen Einzelteilen unterschiedlichen Alters zusammengesetzt war. Einige Teile passten überhaupt nicht zu diesem Robotertyp. Gentleman Kelly stammte vom Schrottplatz, und das war ihm auch anzusehen. Auf dem Ovalkörper aus Arkonstahl von einem Meter Länge und rund vierzig Zentimetern Durchmesser saß ein dreißig Zentimeter langer Spiralhals. Der Kopf war kugelförmig und hatte in der Mitte ein umlaufendes Organband mit Quarzlinsen, Sprechmembran, Antennen und Geruchssensoren. Aus dem Ovalkörper entsprangen zwei Arme und zwei krumme Beine. Bügelförmige Fußstützen in Höhe der Beinansatzgelenke und Griffe auf den Schultern gestatteten es, dass Axton hinter Kellys Rücken bequem stehen, sich festhalten und über den Kopf des Roboters hinwegsehen konnte. Thi-Laktrote Gun Eppriks »Bastelstube« entstammte das Antigravflugaggregat, und auch in anderer Hinsicht hatte Axton den Roboter beträchtlich aufgerüstet. Dastruk strebte auf einen Tisch an der Fensterfront zu. Axton, der hinter ihm blieb, tat, als bemerke er nicht, wie er angestarrt wurde. Seine Blicke richteten sich auf einen fülligen Arkoniden, der sich erhob und Dastruk jovial lächelnd entgegenkam. »Junger Freund, Sie bringen mir Lebo Axton. Seien Sie mir willkommen.« Kelly bückte sich auf ein Zeichen des Verwachsenen, sodass dieser von seinem Rücken steigen konnte. »Ich bin On-tharg Perko da Larkyont«, fuhr der Arkonide fort, der sie begrüßt hatte. »Im Namen Gonozals des Siebten, ich freue mich, dass Sie den Weg zu unserer Gemeinschaft gefunden haben.« Larkyont streckte Axton die Hand entgegen. Der Kriminalist ergriff sie. »Nehmen Sie doch Platz.« Der
Arkonide hielt Axtons Hand weiterhin fest und hob ihn kurzerhand in einen Sessel. Dann lachte er laut auf. »Ich hoffe, Sie nehmen mir meinen kleinen Scherz nicht übel. Ich protze gern ein wenig mit meiner Kraft, weil sie niemand in einem solchen Fettkloß, wie ich es bin, vermutet.« Axton blickte sich kurz um. Es war, wie er vermutet hatte. Das war keine ernst zu nehmende Untergrundorganisation, sondern lediglich so etwas wie ein Langeweilevernichtungsklub. Perko da Larkyont war ein harmloser Typ, der keine Ahnung vom harten Kampf hatte, den eine Untergrundorganisation führen musste. Als Präsident der Organisation wirkte er denkbar ungeeignet, als On-tharg stand er in der Adelsrangfolge der Kator-Khasurn an letzter Stelle der »Edlen Dritter Klasse«, wie die Mitglieder der Unteren oder Kleinen Kelche umschrieben wurden. »Ich darf Ihnen Lebo Axton empfehlen«, sagte Dastruk. »Er möchte für die Organisation Gonozal der Siebte arbeiten.« Der Präsident setzte sich, lächelte breit. Sein rötliches Gesicht glänzte. »Wir freuen uns über jeden Mann, der zu uns kommt. Sie sind uns wirklich willkommen, Lebo Axton.« Sinclair Marout Kennon, der mit der Traummaschine nach Arkon transferiert worden war, wusste als Experte der Geschichte der altgalaktischen Völker, dass es im Großen Imperium eine starke und außerordentlich gefährliche Untergrundorganisation gegen Orbanaschol III. gegeben hatte. Sie war maßgeblich am Kampf gegen den Diktator beteiligt gewesen und hatte Kristallprinz Atlan erhebliche Schützenhilfe geleistet. Dies hier aber konnte noch nicht die Organisation sein, von der die Geschichte Arkons in einigen Jahrtausenden berichten würde. Oder doch? Hatte sich die Organisation nur das harmlos wirkende Gesicht eines Perko da Larkyont als Maske aufgesetzt, um so alle Gegenkräfte wirksam zu täuschen? Lebo
Axton war ein hervorragender Menschenkenner. Er versuchte, etwas in dem Gesicht des Präsidenten zu finden, was ihm einen Hinweis über dessen wirklichen Charakter geben konnte, aber es gelang ihm nicht. Die Persönlichkeit Larkyonts war so, wie sie sich präsentierte. War diese Organisation somit wirklich harmlos? Es musste so sein.
15. Solthoron fröstelt, als er die unbeugsame Härte seines Peinigers erkennt. Der Fremde, vermutet er spontan, hat ihn planvoll übernommen, weil er durch den Goltein-Heiler nach Perpandron gelangen würde. Irrtum – ein Teil von mir ist bereits dort! Dann hast du dich nicht erst entschlossen, als du durch Sarissa das Bild Gonozals bei mir entdeckt hast? Nein. Ist Gonozal der Siebte dein Opfer?, formuliert Solthoron in Gedanken eine weitere Frage, während er sich fragt, was wirklich mit ihm passiert. Wie kann ein Toter mein Opfer sein? Unvermittelt wechselt für Solthoron die Umgebung. Ziehende Wellen breiten sich von seinem Nacken aus, vergleichbar den Entzerrungsschmerzen bei einer Transition oder einem Transmitterdurchgang. Der Seelenheiler erblickt mitten im Dschungel die Überreste einer uralten Stadt. Er scheint genau darauf zuzuhalten, glaubt sogar, dass er fliegt. Irgendwo ertönt das Generatorengeräusch eines schweren Gleiters. Längst weiß der Mann nicht mehr, was Vision und was Wirklichkeit ist. Mühsam formuliert er einen klaren Gedanken: Eine versunkene Stadt. Was willst du hier? Hier befindet sich mein Opfer, antwortet der Fremde lakonisch. Dann rührt sich er sich in Solthorons Innersten zum letzten Mal. Du hast deinen Part in diesem Spiel gespielt. Ich verlasse dich jetzt. Solthoron spürt ganz deutlich, wie ihn das Fremde verlässt – genauer: jener Teil, der noch in dem Goltein-Heiler ist, während ein anderer längst vorausgeeilt sein muss. Es gleicht einem Zerren und Reißen. Dann löst sich die unheimliche Kraft völlig, um endgültig auf einen anderen Körper überzugehen. Solthoron schreit laut auf und
verliert die Besinnung. Nur die Tatsache, dass er durch die harte Schule der Goltein-Heiler gegangen ist, verschont ihn vor einem ähnlichen Schicksal, wie es Sarissa erlitten hat. Solthoron versteht überhaupt nichts mehr. Trotzdem hat er noch einen ungefähren Eindruck von dem Vergangenen. Er weiß, dass die Raumfahrer – darunter der von Imperator Orbanaschol III. gesuchte Kristallprinz Atlan! – von einer schrecklichen Gefahr bedroht werden. Er will sie warnen, doch er weiß nicht, wie er die Gefahr bezeichnen soll. Tief in seinem Innersten glaubt Solthoron das Gelächter des Unheimlichen zu vernehmen. Doch das ist eine Sinnestäuschung. Dann versinkt für den Seelenheiler die Welt in absoluter Dunkelheit. Perpandron: 27. Prago des Tedar 10.499 da Ark »Wir wissen jetzt etwas über den Aufbau dieser Stadt.« Wir saßen am Rand des Schachts, in dem Ra vor geraumer Zeit unseren Blicken entschwunden war. Ra saß zwischen Karmina und mir – immer noch überzeugt, dass er die ganze Zeit über nur gesunken war und dass es keinen vernünftigen Grund gab, weshalb er plötzlich wieder bei uns sein sollte. Seit unserem Eindringen waren sieben Tontas verstrichen. »Die Anlage benutzt künstliche Schwerefelder«, fuhr ich fort. »Die Etagen, die Ra durchquert hat, haben in Wirklichkeit die Form von Kugelschalen … oder wenigstens annähernd diese Form. Das künstliche Schwerefeld hat einen Vektor, der stets senkrecht zur Oberfläche der Kugelschalen wirkt. Dadurch wird überall normale Schwerkraft vorgetäuscht. Jemand, der einen vermeintlich geradlinigen Gang entlangmarschiert, kehrt nach gewisser Zeit zwangsläufig an seinen Ausgangspunkt zurück.« Ra und Karmina dachten darüber nach. Ra, das sah ich deutlich, hatte Verständnisschwierigkeiten. »Aber wozu ist so etwas gut?« »Man kommt mit wenig Volumen aus. Auf der Oberfläche
von Kugelschalen erzielt man mehr Wohnfläche pro Volumeneinheit als auf Ebenen, die waagrecht übereinander liegen. Die Erbauer dieser Stadt hatten entweder von Natur aus das Bedürfnis, mit möglichst wenig innerplanetarischem Volumen auszukommen, oder sie wollten sich die Mühe ersparen, mehr Gestein als unbedingt notwendig zu bewegen.« »Und was ist mit mir geschehen?« Ra durchschaute das Rätsel noch immer nicht. »Der Schacht durchschneidet die Kugelschalen. Von hier aus gelangst du auf dem geradesten Weg zum Mittelpunkt der großen Kugel, die diese Stadt bildet. In der Nähe des Mittelpunkts muss es eine Art Verteiler geben – den weiten Raum mit dem merkwürdigen Licht, in dem du die Orientierung verloren hast. Du bist aufs Geratewohl weitergetrieben und durch Zufall in einen anderen Schacht eingedrungen, der ebenfalls in dieser Halle endet. Du bist mit den Füßen voran hier angekommen, nicht wahr?« Er versuchte, sich zu erinnern. »Ja, das stimmt. Zuerst schien es unerheblich. Ich dachte, ich sei in der Decke einer Halle ausgetreten und es müsse im Boden eine Fortsetzung des Schachtes geben. Das Licht klebte ebenfalls unter der Decke. Als ich näher kam, sah ich zwei Gestalten – euch. Da merkte ich, dass ich die falsche Orientierung hatte, und drehte mich.« »Das erklärt den Fall«, sagte Karmina. »Warum aber gibt es in der Decke über uns keine Schachtöffnungen?« »Weil wir uns auf der äußersten Kugelschale befinden«, antwortete ich. »Von hier aus führen die Wege nur nach unten.« »Und der Schacht mit dem Treibsand?« »Gehört nicht eigentlich zur Anlage der Stadt. Er ist ein Zugang von außen und endet etwa in der Höhe der äußersten Schale.« Damit war meine Theorie komplett. Ob sie richtig war,
würde die Zeit weisen. Mir war klar, was wir als Nächstes zu tun hatten. Wir wollten nach oben – in die Höhe, ins Freie. Unser Weg jedoch führte paradoxerweise zuerst in die Tiefe. Ich war sicher, dass es im Zentrum der Stadt eine Art Kontrollzentrum geben musste. Wenn überhaupt irgendwo, dann würden wir dort erfahren können, wo der Weg in die Freiheit entlangführte.
Vorerst war unser Vorstoß alles andere als abenteuerlich. Wir sanken langsam im Schacht nach unten, dessen Wände glatt und ohne Unebenheiten waren. Hier herrschte dieselbe Art silbriger Halbhelligkeit wie oben in der Halle. Der Schacht erschien nur deswegen von oben her lichterfüllt, weil die glatte Wand das Licht vielfach reflektierte und schließlich in die Höhe warf. Früher musste es hier ein Antigravfeld gegeben haben, genau wie in den von uns verwendeten Antigravschächten. Hier wie dort gehörten sie zum Verkehrssystem. Ein paar Zentitontas vergingen, bis wir die Ausweitung des Schachtes erreichten, von der Ra gesprochen hatte. Ich konnte ihm keinen Vorwurf machen – die Lichtverhältnisse hier unten waren in der Tat so verwirrend, dass der Verstand im Nu die Orientierung verlor. Ich allerdings hatte nicht die Absicht, mich auf dieselbe Weise durcheinanderbringen zu lassen wie der Barbar. Ich justierte das Antigravfeld des Flugaggregats so niedrig dass ich nicht ganz, aber fast in freiem Fall der natürlichen Schwerkraft unterlag. »Bleibt in meiner Nähe«, rief ich. Ein Stück hellgrauer, glatter Wand kam mir entgegen. Ich streckte die Beine aus und fing den Aufprall mit federnden Knien ab. Die Wand bot mir jedoch keinen Halt. Sie war ziemlich steil und hatte nichts, woran ich mich hätte klammern können. Ich rutschte in die Tiefe, meine
beiden Begleiter rutschten mit mir. Es dauerte nicht lange. Die Wand war deutlich gewölbt. Ihre Neigung wurde immer geringer; irgendwo in der Nähe der tiefsten Stelle kamen wir schließlich zur Ruhe. Ich sah mich um. Es gab in der Nähe vier Schachtmündungen. Arkons Götter mochten wissen, wohin sie führten. Ich fühlte mich merkwürdig leicht. Ein Effekt der künstlichen Schwerkraft oder vielmehr ihrer Abwesenheit, denn wir befanden uns nach meiner Schätzung in unmittelbarer Nähe des Stadtzentrums, wo völlige Schwerelosigkeit herrschen musste – genau wie im Mittelpunkt eines Planeten. »Was nun?«, fragte Karmina. Als hätte sie damit ein geheimnisvolles Stichwort gegeben, veränderte sich plötzlich die glatte Fläche, auf der wir hockten; sie wurde durchsichtig, verhielt sich wie eine Fläche aus Glas, unter der bisher dichte Nebelschwaden gewallt hatten, bis sie dünner wurden und sich verzogen. Atemlos blickte ich in ein sinnverwirrendes Durcheinander von Räumen, Schächten und Stollen. Ich konnte dem Verlauf eines der Schächte, die unmittelbar neben uns mündeten, viele Meter weit folgen. Ich blickte in einen kugelförmigen Raum, dessen Innenwölbung mit fremdartigen Geräten bedeckt war. Voller Erregung entdeckte ich inmitten der fremden Technik ein arkonoides Wesen – oder wenigstens erschien es mir arkonoid. Es bewegte sich, schwebte schwerelos von einer Maschine zur anderen und schien sie zu bedienen. Die Entfernung war zu groß, als dass ich hätte deutlich sehen können, was genau das Wesen tat. Aber ich hatte deutlich den Eindruck, dass ich tatsächlich, jetzt, in diesem Augenblick, in die Tiefen der uralten Stadt blickte und sah, was sich dort abspielte. Was vor meinen Augen ablief, war keine Aufzeichnung, sondern die Wirklichkeit, dessen war ich mir sicher. Unwillkürlich hielt ich nach meinem Vater Ausschau,
konnte ihn aber nicht entdecken. Plötzlich veränderte sich das Bild. Ich kam nicht dazu, darüber nachzudenken, wie eine solche Projektion überhaupt möglich und wer es war, der mir solchen Einblick gewährte. Der Nebel schob sich von der Seite her über das Bild. Dafür erschien an anderer Stelle das einer hell erleuchteten, quaderoder würfelförmigen Halle mit mindestens fünfzig Metern Kantenlänge. In ihrer Mitte erhob sich ein leuchtendes, halb durchsichtiges Gebilde – eine Art gläserner Zylinder oder Turm, in dessen Innerem etwas zu schweben schien. Mit aller Kraft versuchte ich zu erkennen, was das war, das sich dort befand. Ich glaubte, undeutlich die Umrisse einer arkonoiden Gestalt zu erkennen – einer reglosen Gestalt. Aber sicher war ich meiner Sache nicht. Es mochte sein, dass mir die überanstrengten Augen einen Streich spielten – abermals verbunden mit der Frage, ob es sich um meinen Vater handelte. Plötzlich schob sich der Nebel wieder über die Szene. Der Boden gewann seine ursprüngliche, hellgraue Erscheinung zurück. Der Blick war versperrt. Sprachlos starrten wir einander an. »Was war das?«, drang es Ra tonlos über die Lippen. Ich stand auf und musterte die Schachtmündung, die uns am nächsten, war. »Ich glaube, es hat uns jemand einen Wink gegeben …«
Ich befand mich in einem Zustand eigenartiger Erregung, war fest überzeugt, dass sich unser Irrweg durch die Tiefen der uralten Stadt nach acht endlos lang erscheinenden Tontas dem Ende näherte. Diese Stadt beherbergte Roboter – Riesenkäfer und Flügeltiere. Entweder von Natur aus oder aufgrund einer Entwicklung, die nach der Erbauung der Stadt begonnen hatte, verfolgten die beiden Robotergruppen verschiedene Ziele. Die
Riesenkäfer waren bemüht, uns zu helfen, die Flügeltiere dagegen handelten mit dem Ziel, uns ins Verderben zu lenken. Über das fremde Wesen, das ich an den Maschinen hatte hantieren sehen, war ich mir nicht klar. War es der Fremde, der uns den Durchblick durch die Wände ermöglicht hatte? Denn dass irgendein technischer Mechanismus in Gang gesetzt worden war, um uns sehen zu lassen, wohin wir uns wenden sollten, stand für mich außer Frage. Irgendwie glaubte ich aber nicht, dass der Fremde, den ich gesehen hatte, unser Wohltäter war. Hätte er sich dann nicht ruhig verhalten, sich hingestellt und mit unmissverständlicher Geste auf sich gewiesen, um uns klarzumachen: Seht her, ich bin derjenige, der euch diesen Vorteil verschafft! Nein, ich glaubte nicht, dass er derjenige war, dem wir den Ausblick verdankten. In seiner fast besessenen Aktivität machte er mir mehr den Eindruck eines Feindes – eines Wesens, das alle Hände voll zu tun hatte, um sich der unbequemen Eindringlinge zu erwehren, der Eindringlinge, die eine Horde der Flügeltiere zum Teil vernichtet, zum Teil in die Flucht geschlagen hatten. Ich war als Erster in den Schacht gestiegen, von dem wir wussten, dass er in unmittelbarer Nähe sowohl des kugelförmigen Zentralraumes als auch der Halle mit dem »gläsernen Turm« führte. Von nun an bewegten wir uns wieder auf unbekanntem Gelände. Alle paar Augenblicke griff ich nach dem Gürtel, um mich zu vergewissern, dass die Waffe griffbereit war. Auf unseren künstlichen Schwerefeldern sanken wir langsam in die Tiefe. Knapp hundert Meter ging alles gut – dann aber, ohne dass ich eine Krümmung des Schachtes hätte wahrnehmen können, kamen wir plötzlich zum Stillstand – und wenige Augenblicke später bewegten wir uns in der entgegengesetzten Richtung, trieben dorthin zurück, woher wir gekommen waren. »Steuert selbst!« Ich konnte nicht erkennen, ob wir in eine Zone geraten waren,
in der das künstliche Schwerefeld der Stadt aufhörte, oder ob unser unbekannter Gegner die Schwereverhältnisse manipuliert hatte, damit wir nicht weiter zu seinem Versteck vordringen konnten. Die Abwesenheit der Schwerkraft oder ein umgepoltes Schwerefeld stellten für uns kein ernst zu nehmendes Hindernis dar. Unsere Kampfanzüge hatten ihre eigenen Antriebsmechanismen, mit deren Hilfe wir unseren Flug fortsetzen konnten. Ich steuerte weiter in den Schacht. Meine Geschwindigkeit nahm zu, aber ich hatte jetzt das Gefühl, dass ich waagrecht durch einen Stollen und nicht mehr senkrecht durch einen Schacht flog. Dieser Stollen mündete schließlich auf einem freien Platz. Es war hier merklich heller als in den Hallen, die wir bisher durchsucht hatten. Vor irgendwoher kam dieses merkwürdige Licht, das keiner erkennbaren Lichtquelle entstammte, sondern einfach da war, mitten in der Luft und offenbar sogar im Material der Wände. Ich sah mich um. Vor mir öffneten sich zwei Gänge, zweigten von der gegenüberliegenden Seite des Platzes ab und verliefen in spitzem Winkel zueinander. Ich rief mir das Bild ins Gedächtnis, das ich gesehen hatte. Der kugelförmige Raum musste rechts liegen, wenn das, was ich gesehen hatte, die Verhältnisse richtig widerspiegelte – und die Würfelhalle mit dem »gläsernen Turm« links. Ra und Karmina waren dicht hinter mir. Wir waren bis aufs Äußerste gespannt. Instinktiv schienen wir zu wissen, dass die Entwicklung zu einer Entscheidung drängte. Ich war mir unschlüssig, in welche Richtung wir uns wenden sollten. Der geheimnisvolle Fremde in seiner kugelförmigen Kammer voller technischer Geräte erregte mein Interesse – besonders da ich annahm, er sei uns nicht freundlich gesinnt. Aber fast noch mehr reizte mich der Anblick des »gläsernen Turms« mit seinem rätselhaften Inhalt, bei dem es sich – vielleicht – sogar um meinen Vater handelte.
Ich war in diesem Augenblick alles andere als der kühl überlegende Stratege, den jeder in mir zu sehen erwartete – ohne Zweifel auch Ra und Karmina. Die Entwicklung war einfach zu überraschend, die Geheimnisse der uralten Stadt waren zu fremdartig, zu verwirrend. Ich besann mich. War meine Vermutung richtig, dass es sich bei dem Wesen, das in dem kugelförmigen Raum an fremden Maschinen hantierte, um einen Gegner handelte, wäre es leichtsinnig gewesen, diese Gefahrenquelle zu ignorieren. Wir mussten nach rechts. Erst wenn wir die Gefahr, die uns von dem Unbekannten drohte, ausgeschaltet hatten – oder, falls meine Vermutung falsch war, wenn wir sicher waren, dass uns von dort keine Gefahr drohte –, durften wir daran denken, unsere Neugierde zu befriedigen. »Nach rechts.« Ich trat als Erster auf den Stollen zu. Meine Absicht war, mich zuerst zu vergewissern, ob wir den Gang ohne Risiko betreten konnten. Die Erbauer dieser Stadt schienen eine Technik gehabt zu haben, die hinter der Arkons nicht zurückstand. Es konnte sein, dass der Fremde den Zugang zu seinem Allerheiligsten gesichert hatte. Aber mir wurde der Weg verlegt. Ich kam kaum zwei Schritte weit, da tauchte aus der Tiefe des Stollens ein unförmiges Geschöpf auf. Lautlos bewegte es sich auf mich zu. Ich war zweien seiner Art bereits begegnet. Aber bei dieser Begegnung sah ich zum ersten Mal, dass die Riesenkäfer Augen hatten – faustgroße, glitzernde Facettenaugen.
Ich stand reglos, auch der Käfer bewegte sich nicht mehr. Wir starrten einander an. Es war mir klar, dass er etwas von uns wollte. Aber was? Bei den bisherigen Begegnungen waren die Rieseninsekten immer dann aufgetaucht, wenn sie uns daran hindern wollten, eine gefährliche Richtung einzuschlagen. War das auch hier der Fall? Der Käfer bewegte sich einen weiteren
Schritt auf mich zu. Ich vergaß fast, dass er ein seelenloses Geschöpf war, und glaubte, so etwas wie Ungeduld in seinem Benehmen zu erkennen. »Er will uns warnen«, sagte Ra hinter mir. »Dieser Gang ist nicht geheuer.« Ich war gern bereit, das zu glauben. »Wahrscheinlich ist es besser, wir wenden uns zuerst nach links.« Ich trat aus dem Gang zurück. Der Riesenkäfer bewegte sich nicht, aber seine großen Augen schienen mir zu folgen. Plötzlich sagte Ra: »Ein Geräusch …« Im selben Augenblick hörte auch ich es. Es klang zuerst wie fernes Gemurmel, wie verhaltenes Dröhnen und dann … Eine Flut silbrig schimmernder Leiber ergoss sich durch den Stollen, der zur Rundkammer führte. Ich sah noch, wie der Riesenkäfer die Beine einzog und sich flach wie eine niedrige, umgestülpte Schale gegen den Boden presste. Im nächsten Augenblick spülte der Strom der silbernen Körper über ihn hinweg und ließ ihn verschwinden. Von einem Atemzug zum anderen füllte sich der enge Raum mit weiteren Flügeltieren. Sie rannten gegen uns an, sprangen auf uns zu, ihre Mäuler öffneten sich und schlossen sich mit einem harten, knallenden Laut, als sie nach unseren Kehlen schnappten. Der Angriff kam so überraschend, dass wir im Handumdrehen gegen die Wand gedrängt wurden. Unsere erste Reaktion war, die Roboter mit den Armen abzuwehren – eine instinktive Reaktion, wenn man von einem Tier angesprungen wurde. Ra war der Erste, der sich genügend Raum verschaffte, um die Waffe ziehen zu können. Gebiss und Sprungvermögen schienen die einzigen Angriffswaffen der Flügeltiere zu sein. Wir waren im ersten Augenblick in Bedrängnis geraten. Aber als die ersten Schüsse fauchten, wendete sich das Blatt. In der vordersten Reihe der Angreifer explodierten ein paar geflügelte Geschöpfe mit
donnerndem Knall. Die Druckwellen rissen zusätzliche Lücken in die Front. Aber auch wir gerieten in Gefahr, denn die Bestandteile der zersplitternden Körper verwandelten sich in Geschosse, die ringsum mit hässlichem Klatschen aufschlugen und jaulend als Querschläger davonschossen. Und wieder war Ra derjenige, der die Notwendigkeit des Augenblicks als Erster erkannte. Ich sah, wie er sich blitzschnell duckte, die Arme über den Kopf riss und wie ein Rammbock unter die anspringenden Roboter fuhr. Die Leiber wurden tatsächlich zur Seite geschleudert. Ra hatte die Hälfte des Raumes bereits durchquert, als die Angreifer sein Manöver durchschauten und ihre Aufmerksamkeit auf ihn konzentrierten. Infolgedessen konnten Karmina und ich die Gelegenheit nutzen, die letzten Flügeltiere, die noch gegen uns anrannten, mit ein paar sorgfältig gezielten Schüssen zu erledigen. Der Kampf hatte sich nun ganz in die Mitte des Raumes verlagert. Von dort gellte Ras wütendes Kampfgeschrei, der Schrei der Wildnis, unter dessen Klang er aufgewachsen war und den er jetzt, im Augenblick der höchsten Gefahr, unbewusst wieder ausstieß. Ich hörte seine Waffe fauchen, sah den dunkelhäutigen, schwarzhaarigen Schädel aus der Menge der Flügeltiere emporragen. Unablässig donnerten Explosionen. Die Zahl der Angreifer wurde von Augenblick zu Augenblick geringer. Aber irgendwann würde der Barbar einen Schuss aus ungünstiger Richtung anbringen und, von Splittern durchlöchert, zusammenbrechen. Wir kamen ihm zu Hilfe, rollten den Kreis der Angreifer von hinten auf. Irgendwie, schoss es mir durch den Kopf, sind die fremden Roboter nicht für den Kampf entworfen. Sie sind in taktischer Sicht völlig hilflos. Außerdem verfügen sie über keine einzige Waffe, mit der sie einem halbwegs vernünftig Bewaffneten beikommen könnten. In den ersten Augenblicken der Bedrängnis hatten sie uns in Gefahr gebracht, aber jetzt war der Ausgang des
Kampfes schon abzusehen. Wir würden Sieger bleiben, daran gab es keinen Zweifel. Fragt sich nur, ob wir Ra rechtzeitig entlasten können. Wir warfen uns zu Boden und richteten unser Feuer von unten gegen die blitzenden Leiber. Einer nach dem anderen verschwand in knisternder Flammenlohe und explodierte. Am Boden waren wir weniger exponiert. Die Splitter pfiffen über uns hinweg und trafen die Wände. Dafür drohte eine andere Gefahr. Als Folge der Schüsse und der Explosionen wurde es ungemütlich heiß. Beim Atmen brannte die Luft in den Lungen, salziger Schweiß rann mir in die Augen, der Sauerstoff wurde knapp. Ich dachte daran, den Helm zu schließen. Aber das Ende des Kampfes kam schneller, als ich gedacht hatte. Mit wütenden Schüssen kämpfte sich Ra einen Weg durch die Meute, die ihn umringt hatte. Zu beiden Seiten barsten Flügeltiere mit trockenem Knall. Welch ein Wunder, dass der Barbar nicht schon längst durchlöchert war wie ein Sieb. Er kam frei. Ich sah, wie er einen Atemzug lang die beiden Stollenmündungen musterte. Ohne sich zu uns umzudrehen, schrie er: »Ich fasse den Kerl.« Dann verschwand er im rechten der beiden Gänge. Die Flügeltiere waren einen Augenblick lang verwirrt. Wenigstens wirkten sie so. Karmina und ich nutzten die kurze Zeitspanne, um weiter unter ihnen aufzuräumen. Es blieben nur noch drei, die schließlich zur Verfolgung des Barbaren ansetzten. Von ihnen beschädigte ich noch eins, bevor es im Stollen verschwand. Blieben noch zwei, die Ra auf den Fersen waren. So, wie ich den Barbaren eben erlebt hatte, würde er sich von ihnen nicht lange aufhalten lassen. Atemlos und ein wenig zerschunden erhoben wir uns vom Boden.
»Er ist verschwunden«, sagte Karmina. An der Richtung ihres Blickes sah ich, was sie meinte. Der Käfer, der sich gegen den Boden des Stollens gepresst hatte, als die silberne Flut der Flügeltiere über ihn hinwegspülte, war nicht mehr da. Ein wenig besorgt, da wir die Riesenkäfer für freundlich hielten, forschte ich nach Überresten. Aber es gab nichts, keine Spur, dass er jemals hier gewesen war. Hätten ihn die geflügelten Roboter zerstört, müssten Reste zu finden sein. Aber nichts … Dafür war der Platz, auf dem der Kampf stattgefunden hatte, ein rußgeschwärztes Trümmerfeld. Wir wateten knöcheltief in halb zerschmolzenen Metallteilen; nur der Wärmeundurchlässigkeit unserer Anzüge verdankten wir es, dass wir uns nicht verbrannten. Ohne zu zögern, folgten wir dem Weg, den Ra uns gewiesen hatte. Es verstand sich von selbst, dass wir uns mit einiger Vorsicht bewegten. Arkons Götter alleine mochten wissen, welche Kampfreserven der unbekannte Gegner noch hatte. Andererseits trieb uns die Sorge um den Barbaren voran. In seinem wilden Kampfeseifer würde er nicht in jedem Augenblick die Übersicht bewahren – und ein einziger solcher Augenblick genügte, um ihn ins Verderben zu reißen. Der Stollen war leer bis auf die Trümmerstücke eines Flügeltieres. Vermutlich war es jenes, das ich mit meinem letzten Schuss erwischt hatte. Wir beschleunigten die Schritte. Vor uns war es still, ich wusste nicht, wie ich die Stille auslegen sollte. »Ra?«, fragte ich ins Mikrofon, bekam aber keine Antwort. Eine weitläufige Krümmung des Stollens nach links – ich spürte, wie mein Gewicht immer geringer wurde. Wir näherten uns dem Zentrum dieser unheimlichen Stadt. Und wie ich vermutet hatte, gab es im Mittelpunkt überhaupt keine Schwerkraft mehr. Ich stieß mich kräftig ab und schoss waagerecht durch den Stollen. Und dann sah ich plötzlich das Rund, von dem jeder Quadratmeter der Begrenzungsfläche mit
fremdem Gerät bedeckt zu sein schien. Unversehens war ich, mit dem Kopf voran, durch die Mündung des Stollens in jenen Kugelraum geschossen, den ich bereits aus der Ferne hatte sehen können – durch die Gunst eines Unbekannten, der die Wände dieser subplanetarischen Stadt für meine Augen durchsichtig gemacht hatte. Und jetzt war ich hier! Freilich war meine Ankunft keine sehr erhebende. Ich war so überrascht, dass ich die bremsende Wirkung meines Flugaggregats nicht mehr rechtzeitig einsetzen konnte, raste quer durch den rund zwanzig Meter durchmessenden Raum und krachte auf der gegenüberliegenden Seite unangenehm hart auf eine fremdartige Maschine. Ich wurde, um genau zu sein, ziemlich zusammengestaucht, und ein paar Augenblicke bestand die Welt ringsum aus Funken und bunten Lichtkreisen. Aber ich kam rasch wieder zu mir, klammerte mich an den Maschinenklotz und versuchte mich zu orientieren. Karmina war vorsichtiger gewesen als ich. Ich sah ihre Gestalt in einer Richtung, die ich vorläufig als »über mir« definiert hatte. Das Wirrwarr der fremden Maschinen war dort durchbrochen und bot der Mündung des Stollens Raum. Als ich mich weiter umsah, bemerkte ich mehrere solcher Stellen – insgesamt zählte ich acht. Karmina schwebte zu mir. Anders als ich hatte sie rechtzeitig daran gedacht, das Flugaggregat zu aktivieren. Sie ließ sich neben mir nieder, das künstliche Schwerefeld des Mikrogravitators, in das sie sich gehüllt hatte, gab ihr eine Sicherheit, die mir vorerst noch fehlte. »Niemand ist hier.« Es war wirklich nicht so, dass ich das noch nicht bemerkt hätte – es war mir nur nicht tief genug ins Bewusstsein gedrungen. Der Unbekannte, den wir vor kurzer Zeit aus der Ferne gesehen hatten, war verschwunden. Und auch von Ra gab es keine Spur.
Ich wollte nach ihm rufen. Und dann sagte ich nichts. Mir war klar geworden, dass ich Ra in Gefahr bringen würde. Ich zweifelte nicht daran, dass er sich dem Unbekannten an die Fersen geheftet hatte, der bis vor Kurzem noch die Einsätze der Roboter von hier aus gesteuert hatte. Vielleicht aber wusste der Unbekannte nichts davon, dass er verfolgt wurde. In diesem Fall würde ich ihn nur unnötig aufmerksam machen, indem ich nach Ra rief. Denn ich musste damit rechnen, dass der Feind über ähnliche Geräte verfügte wie wir und unsere Funkgespräche abhören konnte. Karmina sah mich verwundert an. »Er wird alleine zurechtkommen.« Ich war nicht sicher, ob sie mich verstand. Bedurfte Ra unserer Hilfe, würde er nach uns rufen. Dass er nicht rief, bedeutete entweder, dass er keine Hilfe brauchte oder dass er nicht in der Lage war zu rufen. Acht Stollen verliefen von diesem Rundraum aus in alle Richtungen. Es hätte wenig Sinn gehabt, uns aufs Geratewohl einen oder zwei davon vorzunehmen. Wir hatten anderes zu tun. Irgendwo in der Nähe befand sich der Saal mit dem »gläsernen Turm«. Es zog mich dorthin. Ich war mir sicher, dass es sich bei ihm um das Kernstück dieser uralten Stadt handelte – ohne auch nur eine Ahnung zu haben, woher ich diese Gewissheit nahm. Es war, als hätte eine fremde, unsichtbare Macht von meinem Bewusstsein Besitz ergriffen und lenke mich nach ihren Wünschen. Längst war ich Karminas Beispiel gefolgt und hatte mein Flugaggregat eingeschaltet. Ich verließ den Maschinenblock, mit dem ich so unliebsame Bekanntschaft gemacht hatte, trieb langsam quer durch den Raum. Aufmerksam musterte ich die Vielfalt der Geräte. Nichts davon kannte ich, in keinem einzigen Fall konnte ich die Funktion einer Maschine erraten. Wie unsagbar fremdartig muss das Volk gewesen sein, das diese
Anlage erschaffen hat. Nirgendwo gab es Spuren von Zerfall, Zerstörung oder auch nur Abnutzung. Die Geräte sahen so aus, als seien sie vor Kurzem installiert worden. Nur der geheimnisvolle Unbekannte wusste von den Zwecken, denen die Maschinen dienten. Weiß er auch über das Schicksal des Volkes Bescheid, das diese Stadt erbaut hat? Wir müssen ihn fassen. »Wenn deine Vermutung richtig ist«, sagte die Sonnenträgerin, »werden die Flügeltiere von diesem Raum aus gesteuert. Es wäre sinnvoll, die Maschinen zu zerstören.« Ich erschrak. Was für eine entsetzliche Idee, dieses Wunder an Vollkommenheit zu zerstören. Das war mein erster Gedanke. Aber ich konnte nicht erkennen, woher der Gedanke kam. Bei ruhiger Überlegung erschien Karminas Vorschlag durchaus sinnvoll. Allerdings … »Wir wissen nicht, was alles durch diese Maschinen kontrolliert wird«, hielt ich ihr entgegen. »Womöglich brechen die künstlichen Schwerefelder zusammen, und die ganze Stadt stürzt ein.« Sie gab sich damit zufrieden. Wenigstens widersprach sie nicht. Ich wandte mich nicht nach ihr um, aber ich fühlte förmlich den merkwürdigen Blick, mit dem sie mich bedachte. Ich steuerte in Richtung des Stollens, aus dem wir gekommen waren. Das fremde Drängen in mir meldete sich von Neuem. Wir sollten in diesem Raum keinen weiteren Augenblick vergeuden. Der Saal mit dem »gläsernen Turm« wartete auf uns … Mit Entsetzen spürte ich, dass sich die fremde Macht immer mehr zum Herrn meines Bewusstseins aufschwang. Ich fragte mich, ob es mir in diesem Augenblick noch gelingen würde, einen anderen Entschluss zu fassen – wie zum Beispiel den, einen der anderen Schächte nach Ras Spuren zu durchsuchen. Den entsprechenden Versuch unternahm ich nicht. Ich fürchtete mich davor – oder hatte die unbekannte Macht die Steuerung meines Denkens übernommen und mich rasch
wieder von der Idee abgebracht? Ich war verwirrt und spürte undeutlich die Drohung einer tödlichen Gefahr, als ich in den Stollen hineinglitt.
Die Trümmer der Flügeltiere lagen noch immer auf dem Platz. Beißender Gestank von verbranntem Metall erfüllte die Luft. Wortlos wandte ich mich dem Gang zu, der nach meiner Schätzung in Richtung des Würfelsaales führte. Ich vergewisserte mich kurz, dass Karmina mir folgte. Mit Schrecken erkannte ich, dass ich auch dann weitergeschritten wäre, hätte sich die Sonnenträgerin geweigert mitzukommen. Ich bin nicht mehr Herr meiner selbst! Die Schwerkraft wirkte wieder, als wir den Rundraum verließen. Ich wog zwar nur einen Bruchteil meines normalen Gewichts, aber wenigstens hatte ich eine deutliche Vorstellung davon, wo oben und unten war. Um vorwärts zu kommen, schnellte ich mich in regelmäßigen Abständen leicht vom Boden ab und ließ mich davontragen. Jeder Sprung überbrückte eine Entfernung von rund zwanzig Schritten. Als wir an eine Stelle kamen, an der links ein schmaler Gang vom Stollen abzweigte, blieben wir stehen. Das heißt, ich blieb stehen, und Karmina, die mitten im Schwung war, prallte von hinten auf mich. »Warum zögerst du?« Ich wies wortlos in den schmalen Seitengang. »Das kann nicht unser Weg sein. Die Halle liegt geradeaus vor uns.« Ich dagegen wusste genau, dass sie unrecht hatte. »Manchmal ist der gerade Weg nicht der beste.« »Heißt das, dass du hier abbiegen willst?« »Ja.« Ihr Blick war fast unerträglich. Sie hatte bemerkt, dass mit mir etwas Ungewöhnliches vorging. »Atlan?« »Es gibt nichts zu besprechen!«, fuhr ich sie barsch an.
»Und doch …« »Nichts«, fiel ich ihr ins Wort, wandte mich nach links und schritt den schmalen Gang entlang. Vorn sah ich Helligkeit. Der Gang schien in ein Lichtmeer zu münden. Meine Schritte wurden schneller. Es war mir, als läge dort vorn die Erfüllung all meiner Sehnsüchte und Wünsche. Ich konnte es kaum erwarten, den Ort zu erreichen, von dem die Helligkeit ausging. Was dann kam, geschah viel zu rasch, als dass ich noch darauf hätte reagieren können. Ich kam nicht mehr dazu, darüber nachzudenken, dass ich fürchterlich getäuscht worden war, dass die fremde Macht keine freundliche Macht war … Ein Blitz zuckte auf und traf mich mit voller Wucht. Von einem Atemzug zum anderen erlosch mein Bewusstsein.
Ich schwamm in tiefer Schwärze, Schmerz wühlte irgendwo in mir. Jemand machte sich mit glühenden Nadeln und Zangen an meinem Gehirn zu schaffen. Ich wollte schreien, aber mir fehlte der Mund. Bohrend, zerrend, schneidend nahmen die Zangen und Nadeln mein Bewusstsein auseinander und zerlegten es in seine Einzelteile. Dies alles spürte ich, obwohl ich nicht bei Bewusstsein war. Nadeln und Zangen verwandelten sich in prüfende Fragen, die mein Gehirn peinigten. Bist du …? Wirst du …? Hast du …? Eine halbe Ewigkeit lang! Dann aber hörte das Bohren und Zerren auf. Der Schmerz verebbte, verschwand. Aus den Tiefen der Ohnmacht tauchte ich zur Wirklichkeit empor, öffnete die Augen. Helligkeit blendete mich, aber ich widerstand der Versuchung, mich sofort wieder in die Dunkelheit zurückzuziehen. Ich hielt die
Augen offen, bis sie tränten. Ein Gesicht erschien. Karmina … »Wie geht es dir?«, fragte sie hilflos. Ich versuchte ein Lächeln. »Scheußlich. Aber es wird langsam besser.« Das war die Wahrheit. Ich fühlte mich zerschlagen. Aber je länger ich dort lag, desto geringer wurde der Schmerz, desto kräftiger fühlte ich mich. Ich prüfte mein Bewusstsein und erkannte, dass sich die fremde Macht zurückgezogen hatte. Die Kontrolle war mir zurückgegeben worden. Das erleichterte mich. »Was ist geschehen?« »Ich weiß es nicht genau. Es ging alles viel zu schnell. Die Luft fing plötzlich an zu flimmern. Du warfst die Arme in die Höhe und brachst zusammen. Lautlos. Zuerst glaubte ich, du seist tot. Aber du atmetest noch, wenn auch unruhig, manchmal für lange Zeit überhaupt nicht.« Sie schwieg. Aber dann fügte sie hinzu: »Ich habe Angst …« Ich antwortete nicht, schritt voran. Die Helligkeit, die mich geblendet hatte, erfüllte den Saal, den wir bereits kannten. Aber die Reihe der geheimnisvollen Ereignisse war noch nicht zu Ende. Ich hörte plötzlich, laut und deutlich, eine fremde Stimme: »Der Kristallprinz und seine Begleiterin haben Zutritt!« Ich blieb stehen und sah mich um. Karmina war dicht hinter mir. »Hast du etwas gehört?« »Nein.« Da wusste ich, dass die fremde Macht die Kontrolle über mein Bewusstsein noch nicht völlig aus der Hand gegeben hatte. Alles wird manipuliert, zitierte der Extrasinn aus Fartuloons gesammelten Sprüchen. Der Blütenstaub der Blumen, der Flug des Vogels und sogar das Universum als Ganzes. Wir alle irren durch ein Labyrinth, in das wir hineingestellt wurden, ohne den Ausgangspunkt und das Ziel zu kennen. Das letzte Ziel erreichen wir wahrscheinlich niemals, bestenfalls eine Zwischenstation.
Am Rand des Würfelraums hielten wir an. Der Anblick war überwältigend. Goldene Helligkeit erfüllte den Saal. Auch dieses Licht hatte keine Quelle – es war einfach da, schillerte in der Luft. Die Wände verliefen gerade, es gab nur wenige Unebenheiten. Hier und da, in fast regelmäßigen Abständen, traten rechteckige, scharfkantige, fast kristallin wirkende Vorsprünge hervor. Auf ihnen erhoben sich Statuen, Abbilder von Tieren oder arkonoiden Geschöpfen. Die Fremdartigkeit war unübersichtlich – Fremdartigkeit nicht in unserem Sinne, sondern im Vergleich mit den anderen Räumen der subplanetarischen Stadt. Hier gab es nichts Geschwungenes, Verspieltes, keine Nischen und Erker, Vertiefungen und Vorsprünge, auf denen sich fremdartige Gestalten und Formen erhoben. Hier war alles klar und geradlinig, die Skulpturen stellten konkrete Dinge dar. Hier waren andere Architekten am Werk gewesen als diejenigen, die den Rest der Stadt erbaut hatten. Hier war nach einem Plan gearbeitet worden, der fast arkonidischem Denken entsprach, denn diese Halle hätte sich ebenso gut in einem der altarkonidischen Paläste befinden können. Die Analogie fiel mir auf. Es gab in dieser Welt zwei Arten von Robotern, die einander feindlich gesinnt waren – soweit man bei einem Roboter von Gesinnung sprechen konnte –, die Riesenkäfer und die Flügeltiere. Entsprach dieser Dualismus der Roboter einer Dualität der Erbauer der Stadt? Hatten sich zwei verschiedene Kulturen beteiligt? Fast schien es so. Mehr denn je erschien es mir notwendig, des Fremden habhaft zu werden, den wir in dem kugelförmigen Raum hatten hantieren sehen. Wenn überhaupt einer über die sonderbare Geschichte dieser Stadt Bescheid wusste, war er es. In der Mitte der hangargroßen Halle erhob sich der »gläserne Turm«. Er hatte einen Durchmesser von dreißig Metern, wuchs
nahtlos aus dem glatten, schimmernden Boden und reichte bis zur Decke. Dort ragte aus dem Zentrum ein von goldener Helligkeit umgebener Kristall meterweit in die Tiefe. Ist das ein … Omirgos? In der Dagorphilosophie wurde mit »Omirgos« ein aus dem Zhy Bewussten Seins materialisierter Kristall mit 1024 Facetten umschrieben. Fartuloon hatte solche Gebilde auf diversen Welten des Tai Ark’Tussan stationiert, die unter anderem einen transmitterähnlichen Transport gestatteten. Auf unserer Exilwelt Gortavor hatte der von einem Sockel aufragende Riesenkristall beispielsweise etwa acht Meter Durchmesser erreicht, ein von innen heraus golden glühendes und rhythmisch pulsierendes Objekt, dessen Oberfläche, als wir damals in das goldene Glühen traten, keineswegs fest gewesen war, sondern wie das entstofflichende Strukturfeld eines Materietransmitters gewirkt hatte. Aus den eher vagen Andeutungen meines Lehrmeisters wusste ich, dass mit den Omirgos noch viele andere Wirkungen und Möglichkeiten verbunden waren. Durchaus möglich, dass auch andere Völker sie kennen und nutzen. Mein Blick kehrte zur Horizontalen zurück. Was wir aus der Ferne nicht hatten wahrnehmen können, wurde jetzt offenbar. Im Innern des »Turmes« erhob sich ein etwa hüfthoher Sockel aus einer merkwürdigen Art tiefschwarzem Material, das das Licht aus weitem Umkreis anzuziehen und zu verschlucken schien. Es erschien uns tatsächlich, als sei es in unmittelbarer Nähe des »gläsernen Turms« dunkler als sonst wo in der Halle. Auf dem Sockel aber, flach ausgebreitet, lag eine arkonoide Gestalt – zu meiner Enttäuschung war es nicht die meines Vaters. Aus der Ferne wirkte sie starr und reglos wie eine Statue. Ich fragte mich, ob der »gläserne Turm« ein Mausoleum war. Das Grabmal eines der jener Wesen, die diese Stadt erbaut haben?
Gleichzeitig aber glaubte ich nicht, dass das sorgfältig gehütete Geheimnis der subplanetarischen Stadt, das Kleinod im Allerheiligsten, zu dem wir uns mit so viel Mühe hatten vorkämpfen müssen, weiter nichts als ein Toter war. Ich wollte den Sockel und die Gestalt aus der Nähe sehen.
Zweierlei wurde mir klar, während wir uns dem Sockel näherten. Erstens, dass ich Ehrfurcht vor dem riesigen, schimmernden Gebilde empfand – aber auch vor der Gestalt, die dort auf dem schwarzen Sockel ruhte. Und zweitens, dass der »Turm« nicht wirklich gläsern war. Die glänzende, schimmernde Hülle war ein durchsichtiges Energiefeld. Wahrscheinlich war es gefährlich, der energetischen Hülle zu nahe zu kommen. Karmina und ich blieben in einigen Schritten Sicherheitsabstand stehen. Das Wesen, das auf dem schwarzen Sockel ruhte, war jung. Es war völlig nackt und von heller Hautfarbe. Ein langer, sorgfältig geordneter Schopf silbrigen Haars umgab den Schädel und reichte bis auf die Schultern. »Wer mag er wohl sein?«, fragte Karmina mit halblauter Stimme. Sie erwartete keine Antwort, hatte die Frage überhaupt nur ausgesprochen, weil ihr das Schweigen unerträglich schien. Ich sah mich um. Woher war der unwiderstehliche Drang gekommen, der mich gezwungen hatte, diese Halle zu suchen? Und welchen Zweck hatte er verfolgt? Ich hatte, wenn auch nicht ein Wunder, so doch irgendeine Art dramatische Entwicklung für den Augenblick erwartet, in dem ich vor dem »gläsernen Turm« stand. Jetzt aber …? Wir befanden uns im Mittelpunkt der alten Stadt. Meine Vermutung war gewesen, dass hier der Schleier von allen Geheimnissen fallen und sich uns der Weg zurück an die Oberfläche von Perpandron offenbaren würde. Wo aber blieben meine Hoffnungen, meine
Ahnungen, meine Vermutungen? Die Decke der Halle befand sich etwa fünfzig Meter über uns. Sie war glatt und hell erleuchtet und verbarg unseren Augen nichts. Ebenso offen lagen die Wände vor unseren Blicken. Wenn es von hier aus einen Weg zur Oberwelt gab – wo war er? Ich war enttäuscht und niedergeschlagen. Der Kristallprinz hat versagt! Er hatte sich auf Ahnungen verlassen und Schiffbruch erlitten. Hätte es sich nur um mich allein gedreht, wäre meine Niedergeschlagenheit geringer gewesen. Aber ich hatte Ra und Karmina an mich gekettet. Sie waren mir willig gefolgt. Und jetzt war Ra verschwunden, Karmina stand neben mir, und ich konnte ihr den versprochenen Weg nicht zeigen, der zurück in die Freiheit führte. Es blieb mir nichts anderes übrig, als Schritt um Schritt den Weg zurückzugehen, den wir gekommen waren. Von den oberen Etagen dieser unheimlichen Stadt aus würden wir von Neuem versuchen müssen, einen Ausgang nach oben zu finden. Das schimmernde Energiefeld mit dem schwarzen Sockel und der blassen Gestalt war mir plötzlich zuwider. Ich empfand keinerlei Ehrfurcht mehr. Zornig wandte ich mich ab – aber es war nicht der Taten vollbringende Zorn der Stärke, sondern der nutzlose Zorn der Hilflosigkeit, der mich erfüllte. Gerade in diesem Augenblick aber meldete sich abermals die fremde Stimme. »Bleib, Kristallprinz«, forderte sie mich auf. »Geh nicht, ohne die Tat vollbracht zu haben.« Überrascht gehorchte ich dem Befehl. Ich sah Karmina an und erkannte an ihrem Blick, dass sie sich über mein Verhalten wunderte. Sie hatte die Stimme nicht gehört. Plötzlich flackerte der Energieschirm, der den schwarzen Sockel umgab. Vor unseren Augen sank der »gläserne Turm« in sich zusammen. In meinem Bewusstsein hallte die fremde Stimme: »Nimm ihn mit, Kristallprinz!« »Er ist schön«, hauchte Karmina. Wir standen vor dem
Fremden. Karminas Feststellung irritierte mich ein wenig – oder war es mehr der Klang ihrer Stimme? Nach den geltenden Regeln der Ästhetik hatte sie recht. Der junge Mann – denn jung war er ohne Zweifel – entsprach dem arkonidischen Schönheitsideal. Er war etwa 180 Zentimeter groß, sein Gesicht hatte den edlen Schnitt adliger Familien. Erschreckend war, dass die Augen geöffnet waren – ungewöhnlich groß und von leuchtendem Rot. Es gab überhaupt nichts Unvollkommenes an ihm – höchstens ein paar Unregelmäßigkeiten des Pigments an der Brust. Dann aber machte Karmina eine neue Entdeckung. »Schau auf seine Hände«, forderte sie mich auf, mit derselben hauchenden, von Ehrfurcht und Anbetung erfüllten Stimme, die mich zuvor schon irritiert hatte. Widerwillig folgte ich ihrem Hinweis. Ich musste mich vorbeugen, um überhaupt wahrzunehmen, was sie mir zeigen wollte. Die Handfläche des Jünglings zeigte eine sternförmige Markierung. Sie schillerte, je nachdem, aus welchem Winkel ich sie betrachtete. Sie war nicht aufgemalt, sondern schien in die Haut eingegraben zu sein wie eine Tätowierung. Wahrscheinlich hatte sie kultische Bedeutung. Karmina hatte den Sockel umrundet, um auch die andere Hand des Unbekannten in Augenschein zu nehmen. »Hier auch …« Ich kümmerte mich nicht darum. In meinem Bewusstsein hallte noch immer der Befehl, den mir die fremde Stimme gegeben hatte: Nimm ihn mit! Warum sollte ich eine Leiche herumtragen? Denn dass der Fremde tot war, daran zweifelte ich kaum noch. Die Brust hatte sich unter keinem einzigen Atemzug bewegt. Ich wollte mir Gewissheit verschaffen und griff nach der so seltsam markierten Hand. Die Berührung war wie ein Schock – denn die Haut des Fremden war nicht kalt und starr, wie ich erwartet hatte, sondern weich und warm. Über den reglosen Körper hinweg sah ich Karmina an und
sagte: »Wir nehmen ihn mit.« Ich hatte damit gerechnet, dass sie mit Begeisterung auf diesen Vorschlag reagieren würde. Aber sie hörte mich nicht einmal, sondern hatte den Kopf in den Nacken gelegt und starrte zur Decke. »Sieh doch, dort …« Ich folgte ihrem Blick. In der Decke hatte sich eine weite, finstere Öffnung gebildet, der vermeintliche OMIRGOS-Kristall war verschwunden. Ich wusste nicht, wohin sie führte, doch ich war überzeugt, dass sie den Weg zur Freiheit wies. Meine Ahnungen hatten mich also nicht getrogen. Von hier aus, dem Mittelpunkt der subplanetarischen Stadt, führte der Weg dorthin zurück, woher wir gekommen waren. Nicht wir selbst hatten diesen Weg gefunden, sondern eine fremde Macht. War es die geheimnisvolle Seele dieser Stadt, die Robottiere kontrollierte und steinerne Wände durchsichtig machte? Oder … etwas anderes? Es war klar, dass sich die Benutzung dieses Weges mit einer Bedingung verknüpfte – wir mussten den Fremden mitnehmen.
Ich nahm ihn auf und legte ihn mir über die Schulter. Er war nicht sonderlich schwer, aber auf die Dauer wäre er eine Last gewesen, hätte ich nicht das Fluggerät gehabt. Es wunderte mich nicht mehr, dass der Körper des Unbekannten keinerlei Anzeichen von Leichenstarre aufwies. Er war gelenkig und flexibel wie der eines Arkoniden, der eben erst das Bewusstsein verloren hatte. Karmina machte die Vorhut, schwebte zu der finsteren Öffnung empor und wartete dort. Ich kam mit meiner Last hinterher. Die Öffnung war der Beginn eines Schachtes, der senkrecht nach oben führte. Aber was senkrecht war und was nicht, bestimmte das künstliche Schwerefeld in dieser Stadt, und allein das Gefühl, dass ein Weg nach oben führe,
besagte noch nichts über seinen tatsächlichen Verlauf. Der Schacht war nicht wirklich finster, sondern erfüllt von jener seidigen, schimmernden Halbhelligkeit, die wir schon in anderen Räumen wahrgenommen hatten. Aber unsere Augen waren noch geblendet vom Goldglanz der Würfelhalle. Karmina schaltete ihre Lampe ein. Langsam schwebten wir im Schacht empor. So weit Karminas Lampe reichte, war der Weg über uns gerade und frei von Hindernissen. Es gab keine Abzweigungen, keine Querstollen – nur diesen Schacht, von dem ich hoffte, dass er zur Oberfläche führte. Ich hatte Zeit zum Nachdenken. Wirre Gedanken bewegten sich in meinem Bewusstsein. Ich dachte an Caycon und Raimanja, das Paar der Sage, und an das Wache Wesen, das sie angeblich zeugten. War der, den ich auf der Schulter trug, der Spross, dessen Geburt das fremde Sternenvolk, das Caycon und Raimanja entführte, zu verhindern versucht hatte? War der leblose Fremde das Wache Wesen? In diesem Fall musste er jahrtausendealt sein. Denn die überlieferte und geschriebene Geschichte des arkonidischen Volkes umfasste einen beachtlichen Zeitraum, die Sage von Caycon und Raimanja aber stammte aus unserer Frühzeit. War es möglich, dass ein Arkonide Jahrtausende überdauerte, ohne zu sterben? Selbst den von uns genutzten Tiefschlafanlagen waren Grenzen gesetzt, mehr als einige Jahrhunderte nicht ohne gesundheitliche Schäden zu überbrücken. Ich erinnerte mich an die Lichtung, auf wir gelandet waren, und an die unverwesten Körper der toten Tiere, die wir gefunden hatten, und an die fremdartige Strahlung, die von unseren Messgeräten ausgewiesen worden war. Wer tote Körper zu erhalten vermochte, sollte der nicht auch die Fähigkeit haben, Leben zu bewahren? Hatte ich nicht die wunderbaren Kräfte der Stadt an mehr als einem Beispiel kennengelernt? Wie konnte ich noch daran zweifeln, dass es in
der Macht der Unbekannten lag, den leblosen Körper über lange Zeiträume hinweg zu erhalten? Es war mir unklar, was die fremde Macht, die zeitweise mein Bewusstsein kontrolliert und danach mehrmals zu mir gesprochen hatte, von mir erwartete. Wie sie mir aufgetragen hatte, nahm ich den leblosen Körper mit zur Oberfläche. Und dann? Ich würde Perpandron hoffentlich bald verlassen. Damit verschwand der geheimnisvolle, lebenserhaltende Einfluss, der die Stadt und ihre Umgebung erfüllte. Was wird dann mit dem Fremden geschehen? Stirbt er? Erwacht er? Ich machte eine Bewegung, um mir die Last, die ich trug, bequemer zurechtzulegen. Dabei pendelte der schlaffe Arm des Leblosen vor meinen Augen. Ein merkwürdiges Leuchten erregte meine Aufmerksamkeit. Karmina schwebte über mir. Obwohl ihre Lampe beständig leuchtete, gab es ringsum ein vages Halbdunkel, da der Lichtkegel in die Höhe gerichtet war. In diesem Dämmer sah ich die sternförmige Markierung auf der Handfläche des Fremden rötlich glühen. Abermals fragte ich mich, wer er sein mochte. Und eine seltsame Vorstellung tauchte gleichzeitig in meinen Gedanken auf: Ich sehe mich, mit dem Leblosen auf der Schulter, an die Oberfläche treten, ich sehe Fartuloon, der mich dort erwartet. Ich hörte ihn grimmig fragen: Warum schleppst du dich damit ab? Und ich sah mich, unfähig zu antworten, denn ich wusste nicht wirklich, warum ich den Leblosen schleppte. Und überhaupt: Wie soll ich einem, der nicht mit uns die Tiefen dieser geheimnisvollen Stadt durchstreift hat, klarmachen, welche merkwürdigen Dinge uns hier zugestoßen sind und wie mein Denken und Handeln manipuliert wurden? In diesem Augenblick hörte ich Karmina über mir sagen: »Hier ist der Schacht zu Ende.« Ich sah, dass die Schachtwand zur Seite wich und einen kreisförmigen Raum bildete, in den mehrere Gänge mündeten. Über uns dagegen war nur noch natürlich gewachsener Fels.
Der Schacht, von dem ich geglaubt hatte, dass er uns auf dem geradesten Weg an die Oberwelt führte, endete hier. Ich steuerte vorsichtig über den Rand hinweg und landete auf der ebenen Fläche. Als Nächstes nahm ich die Last von der Schulter, der blasse Leblose glitt zu Boden. Der Vorgang hatte symbolische Bedeutung: Ich war nicht mehr gewillt, mich mit dem leblosen Körper abzuschleppen. Ich hatte nur noch das Ziel, an die Oberfläche zu gelangen. Dabei hinderte mich die Last. Die fremde Macht, die mein Bewusstsein beherrscht und mich gezwungen hatte, mir den unbekannten Jüngling aufzuladen, war nur noch eine matte Erinnerung. Ich war ihr längst entronnen – glaubte ich wenigstens … Karmina wusste nichts von meinen Gedanken, sonst hätte sie wahrscheinlich protestiert. Sie nahm überhaupt nicht wahr, was ich tat, sondern richtete ihre Aufmerksamkeit wie gebannt auf einen der Gänge, die in den Raum mündeten. Ich sah einen Augenblick später, was sie so fesselte: Eine hochgewachsene Gestalt trat aus dem Gang. In der Armbeuge trug sie einen schweren Strahler, dessen Mündung auf mich gerichtet war – auf mich oder Karmina, das machte nicht viel Unterschied. Als die Wände plötzlich durchsichtig geworden waren und wir ins tiefste Innere der subplanetarischen Stadt blickten, hatte ich den Mann, der sich in dem kugelförmigen Raum zu schaffen machte, nicht erkennen können. Aber in diesem Augenblick wusste ich, dass es derjenige gewesen war, der jetzt vor mir stand. Höhnisch blickte er mich an. Klemir-Theron …
»So läufst du mir freiwillig in die Hände, Kristallprinz«, spottete er. Ich schüttelte die Überraschung ab. Vor mir stand der Einzige, der um die Geheimnisse der subplanetarischen Stadt wusste. Dieser Gedanke fraß sich in meinem Gehirn fest. Ich musste zu erfahren suchen, was er wusste – vor allem
wollte ich wissen, wo sich mein Vater befand. »Und das Kleinod hast du auch mitgebracht«, fuhr der Goltein-Heiler fort. »Deine Mühe war umsonst. Ich sorge dafür, dass der Wache wieder an seinen Ort zurückgelangt.« »Du bist ein Narr. Wenn du uns tötest, bist du im nächsten Augenblick selbst ein toter Mann. Meine Leute sind hierher unterwegs.« Er lachte ungläubig. »Niemand außer mir kennt die verschlungenen Wege dieser Stadt. Du allerdings bist ziemlich tief in mein Geheimnis eingedrungen. Deswegen muss ich dich beseitigen. Deswegen, und weil der Imperator befohlen hat: Bringt mir Atlans Kopf! Die Goltein-Heiler werden noch mehr Ansehen erlangen, weil ich Orbanaschols Befehl Folge geleistet habe.« Es war ihm ernst, das erkannte ich an seinem Blick. »Wer hat diese Stadt gebaut?« »Niemand weiß es. Wir haben auf dieser Welt Überreste zahlreicher Kulturen verschiedener Lebewesen entdeckt. Keineswegs eingeborene Intelligenzen, sondern – soweit es sich ermitteln ließ – Flüchtlinge unterschiedlicher Völker, die zu unterschiedlichen Zeiten nach Perpandron gelangten. Fast scheint es, als liege diese Welt genau auf einer geheimnisvollen Fluchtroute. Doch für kein Wesen war es eine Rettung auf Dauer. Alle sind verschwunden – erneut ins All gestartet oder ausgestorben. Ich fand die Stadt vor ein paar Jahren durch Zufall und begann, sie insgeheim zu durchsuchen. Eines Tages werde ich alles wissen, was es über sie zu wissen gibt. Aber du wirst nicht mehr da sein, um es zu hören.« Der Lauf der Waffe ruckte nach oben. Ich zuckte zusammen. Aber in diesem Augenblick drang ein lang gezogener, gellender Schrei aus dem Gang, vor dessen Mündung der Goltein-Heiler stand. Klemir-Theron wollte herumwirbeln. Da hörte ich das charakteristische Fauchen eines Thermostrahlers.
Sprachloses Entsetzen überzog des Gesicht des Heilers. Er tat einen wankenden Schritt nach vorn. Ich sah, wie auf seinem Gewand ein hässlicher Brandfleck entstand. Einen Atemzug später war Klemir-Theron in ein knisterndes Flammenmeer gehüllt. Unbarmherzig fraß der gleißende, fauchende Thermostrahl an der Substanz seines Körpers – bis von dem Goltein-Heiler nichts mehr übrig war als ein Häuflein Asche. Im Gang erschien Ra, schwenkte die Waffe. »Ich war ihm die ganze Zeit über auf den Fersen. Er verschwand aus dem Kugelraum, als er jemand kommen hörte. Zwei Flügeltiere waren noch bei ihm. Ich nahm an, er wolle uns einen Hinterhalt legen, und folgte ihm. Die beiden Flügeltiere habe ich getötet – und ihn nun auch.« Er warf Klemir-Therons Überresten einen verächtlichen Blick zu und schob die Waffe ins Gürtelholster. »Wo geht es nach oben?«, fragte ich. Er sah mich verblüfft an. Er hatte Dank erwartet, der ihm sicherlich auch gebührte. Mich aber hatte die Ungeduld gepackt. Nicht einen Augenblick länger als unbedingt nötig wollte ich in dieser verwunschenen Stadt bleiben. »Ich weiß es nicht. Ich habe mich nur um den Heiler gekümmert. Ich dachte, ihr hättet inzwischen erfahren, wo es hinausgeht.« »Also auch keine Spur von meinem Vater …« Ratlos sahen Karmina und ich einander an. Ich sah uns in Gedanken einen dieser Stollen nach dem anderen ausprobieren und Tontas über Tontas damit verlieren. Da meldete sich abermals die fremde, geheimnisvolle Macht und sprach zu mir: »Nimm ihn auf, und ich weise dir den Weg.« Mein Blick wanderte zu dem leblosen Fremden, den ich am Rand des Schachtes abgelegt hatte. Ra und Karmina beobachteten mich mit Verwunderung, als ich zu ihm ging und ihn behutsam in die Arme nahm. Ich drehte mich um und sah,
dass einer der Stollenausgänge in einem merkwürdig fahlem Licht zu leuchten begann. Die fremde Macht, über deren Wesen ich nun nach Klemir-Therons Tod vermutlich niemals etwas erfahren würde, hielt Wort. Ich legte mir den Leblosen vorsichtig über die Schulter und sagte: »Dort geht es hinaus.«
Der Stollen mündete abermals in einen Schacht, der uns weiter in die Höhe führte. Nach geraumer Zeit sahen wir hoch über uns die erste Spur des Tageslichts. Während uns die Flugaggregate weiter nach oben trugen, nahmen wir aber auch ein Geräusch wahr, das von oben zu uns drang – ein Brummen und Rumoren, das immer lauter wurde, je höher wir stiegen. »Da oben wird gekämpft«, rief Ra, der die Vorhut machte. »Ich höre schwere Geschütze …« Die Mündung des Schachtes lag unmittelbar neben der Kuppe eines Hügels, der sich, eben noch innerhalb des Waldes, am Rand der großen Lichtung befand, auf der wir gelandet waren. Erstes Licht des Sonnenaufgangs blitzte über die Felsen des Trogtals. Brandgeruch lag in der Luft. Von verschiedenen Punkten der Lichtung stiegen Qualmwolken auf. Der Lärm hatte sich im Lauf der vergangenen Zentitontas gelegt. Anscheinend war die Schlacht vorüber. Ra, der als Erster aus dem Schacht geschwebt war, stand auf der Kuppe des Hügels und wies durch das Laub der Bäume zum Himmel. Er schrie etwas, das ich zuerst nicht verstand. Ich folgte seinem Wink und sah die Kugel eines arkonidischen Raumschiffs. »Die ISCHTAR!«, schrie der Barbar. Da begann ich zu verstehen. Ob Fartuloon bereits unseren Flug nach Süden von der Orbitbahn aus beobachtet hatte, wusste ich nicht. Die Explosion des Leka-Beiboots dürfte an Bord der ISCHTAR dagegen angemessen worden sein. Dass es keine sofortige Reaktion gegeben hatte, ließ mich vermuten,
dass ihnen die Zuordnung nicht gelungen war. Spätestens mit Beginn der Kämpfe in der Untergrundstadt dürfte Fartuloon aber klar geworden sein, dass es sich um uns drehte. Daraufhin hatte das Raumschiff zur Landung auf Perpandron angesetzt, um uns zu Hilfe zu kommen. Die Schlacht, deren Lärm wir gehört hatten, war der Kampf zwischen der ISCHTAR und den Gleitern der Goltein-Heiler gewesen, die hier noch auf uns gelauert hatten. Ich nahm an, dass der Gegner zum größten Teil ausgeschaltet worden war – die Qualmwolken, die von der Lichtung aufstiegen, waren eindeutig. Ich hatte den Leblosen zu Boden gelegt. Mit zitternder Hand schaltete ich das Funkgerät ein. »Fartuloon, deine Nähe war mir noch niemals zuvor so willkommen …« Einen Augenblick lang herrschte Stille. Dann meldete sich aus dem Empfänger die polternde Stimme des Bauchaufschneiders. »Alle Götter! Ich bin froh, dass dir deine Narretei nicht den Hals gekostet hat.« Ich sah, wie sich ein Gleiter aus der ISCHTAR löste, die in geringer Höhe über der Lichtung schwebte, und auf uns zukam. Im selben Augenblick stieß Karmina einen entsetzten Schrei aus. Ich fuhr herum. Aus geweiteten Augen sah die Sonnenträgerin auf eine Gestalt, die unterhalb des Hügels aus dem Wald getreten war. Mir stockte das Blut. Langsam, mit mechanischen Schritten näherte ich mich der Gestalt, die nach wenigen Schritten stehen geblieben war. Leeren Blicks starrte sie vor sich hin und nahm offenbar nichts von ihrer Umgebung wahr. Zwei Schritte vor der Gestalt ging ich in die Knie. Das Einzige, was ich noch hervorbrachte, war: »Vater …« Der weitaus größte Teil der Geheimnisse, mit denen wir auf der Welt der Goltein-Heiler konfrontiert worden waren, blieb ungelöst zurück. Zwei davon allerdings hatten wir kurz darauf an Bord der ISCHTAR: Meinen Vater und den leblosen Fremden, den Wachen, wie Klemir-Theron ihn genannt hatte.
Das Schiff startete ungehindert ins All und beschleunigte zur ersten Transition, ohne dass es Verfolger gegeben hätte. »Eines Tages«, murmelte ich, »werden wir zurückkehren und das Geheimnis dieser Stadt enthüllen. Sie stammt aus grauer Vorzeit, und sie kann uns helfen, manche Zusammenhänge der arkonidischen Vorgeschichte besser zu verstehen.«
16. Sinclair Marout Kennon wusste, dass er alles eigentlich nur träumte. Er wusste auch, dass sein Gehirn in der Vollprothese auf Meggion war. Dennoch hatte er vorausgesehen und erhofft, dass ihm das Experiment mit der Traummaschine seinen alten Körper wiedergeben würde. Er entsann sich genau der Zeit, da er noch in diesem alten Körper gelebt hatte. Wie oft hatte er das verkrüppelte, monströse Gefängnis seines Intellekts damals verwünscht! Nicht nur, dass er niemals die Liebe einer Mutter kennengelernt hatte, denn er war als Baby ausgesetzt und staatlich erzogen worden, sondern es war ihm auch wegen seines abschreckend wirkenden Körpers niemals die echte Liebe einer Frau vergönnt gewesen. Von ihm selbst existierte nur noch das Gehirn – und seltsamerweise auch jene Regungen, die eigentlich mit den entsprechenden Drüsen seines verbrannten Körpers hätten verschwinden müssen. Er war ein Neutrum, konnte die Liebe, die er empfand, nicht in die Tat umsetzen, obwohl es Versuche gegeben hatte, den Roboter »entsprechend auszustatten«. Die Folge war eine psychische Instabilität gewesen, die zeitweise in einen regelrechten Roboterhass ausartete. Niemals hatte Kennon den neuen Körper Robotkörper genannt. Er hatte es auch nicht zugelassen, dass andere diesen Körper so bezeichneten. Stattdessen hatte er beschönigend Vollprothese gesagt. Und oft hatte er sich danach gesehnt, seinen alten Körper zurückzuerhalten. So hässlich er auch gewesen war, es war ein Körper aus Fleisch und Blut gewesen, mit allen Schwächen, aber auch mit allen Vorteilen eines solchen Körpers. Die Traummaschine Zharadins, vom Ischtar-Memory programmiert und verändert, hatte ihm diesen alten Körper wiedergeschenkt. Seit dem 10. Prago des Ansoor 10.498 da Ark arkonidischer Zeitrechnung lebte er nun hier, nannte sich Lebo Axton – nicht mehr lange, dann würde es ein Arkonjahr sein. In den Augen der Arkoniden war er ein Zayna. Diese abwertende Bezeichnung für
Behinderte und Krüppel war von Zay – »Patient« bei den Arkoniden oder »Klient« bei den Aras – und Essoya abgeleitet, der nach der grünen Blätterfrucht benannten und durchaus auch als Schimpfwort verwendeten Umschreibung nicht adliger Arkoniden des einfachen Volkes. Sein Abenteuer hatte auf Arkon III begonnen, der Kriegswelt des Großen Imperiums. Längst hatte er die Kristallwelt erreicht und Zug um Zug seine Position verbessert. Er erinnerte sich daran, wie wild und unbeherrscht er reagiert hatte, als er von seinem ersten »Zeit-Ausflug« in das arkonidische Reich zurückgekehrt war. Er hatte reagiert wie ein Süchtiger, der meinte, nicht mehr ohne das Gift leben zu können. Er hatte in fast hysterischer Haltung darum gekämpft, in diesen schwachen, verkrüppelten, aber lebendigen Körper zurückkehren zu können, der eben keine pure Ansammlung von Metall und Plastik war. Allerdings war er sich auch längst bewusst, dass er nicht glücklicher war. Das lange Leben als Gehirn in der Vollprothese hatte ihn vergessen lassen, wie ohnmächtig er in einem Körper war, der so schwach war, dass er sich aus eigener Kraft kaum bewegen konnte. Mit aller Energie kämpfte er dagegen an, dass die alten, vernarbten Wunden wieder aufrissen, die Erinnerungen an Kindheit und Jugend und die Zeit bis zum Abschuss über Lepso. Er hatte dieses Leben gewollt – nun musste er sehen, wie er damit fertig wurde … Er wusste um seine Hässlichkeit, aber er liebte diesen verwachsenen Körper, denn es war in gewisser Weise sein eigener, zumindest entsprach er exakt dem, in dem er geboren und aufgewachsen war. Er hatte nichts gemein mit der vollendeten Vollprothese, in der er als Gehirn mehrere Jahrhunderte lang existiert hatte. Nach wie vor fragte sich Axton, welcher Natur sein Körper tatsächlich war, und ebenso, wie es der Traummaschine möglich war, ihn zu erzeugen und aufrechtzuerhalten. Oder war er doch körperlich hier? Auf eine Weise in die Vergangenheit geschleudert und materialisiert, die über seinen Verstand ging? Atlans Vermutung, er müsse eine naturgetreue Materieprojektion sein, hatte einiges für sich.
Arkon I: 28. Prago des Tedar 10.499 da Ark Lebo Axton trat Kelly gegen das Bein. Dabei war er allerdings so vorsichtig, dass er sich selbst nicht verletzte. »Ich gehe zu Fuß. Mir wird schlecht, wenn ich nur daran denke, dass ich auf einen wandelnden Schrotthaufen wie dich klettern soll.« »Du irrst. Und wenn dir schlecht wird, so ist das einfach nur auf deinen fehlenden künstlerischen Geschmack zurückzuführen. Ich bin zu der Erkenntnis gekommen, dass ich keine Robotmissgestalt bin. Der Grund für meine von den allgemeinen Modellen abweichende Erscheinung ist vielmehr in einer künstlerischen Gestaltung zu sehen. Mit anderen Worten: Ich bin ein Kunstwerk, das nicht im Museum ein trauriges Dasein fristet, sondern sich die Ehre gibt, sich überall in der Öffentlichkeit zu zeigen.« Lebo Axton blieb vor Staunen der Mund offen. »Wer hat dir diesen Unsinn eingetrichtert?« »Niemand«, behauptete Kelly stolz. »Ich bin vielmehr durch sorgfältige Überlegungen selbst darauf gekommen.« »Grässlich.« Axton stöhnte. »Warum habe ich dich bloß nicht im Weltraum gelassen, als ich die Chance dazu hatte? Dieses Versäumnis werde ich mir nie verzeihen.« Axton verließ die Wohnung und eilte keuchend auf die Parknische zu, in der sein Gleiter stand. Kelly folgte ihm mit weit ausgreifenden Schritten und hatte ihn eingeholt, als der Kriminalist die Tür öffnete. Sie glitt zur Seite und gab den Blick auf den Gleiter frei. Axton blickte bestürzt auf die Gestalt, die neben dem Gleiter auf dem Boden lag. Erschüttert sagte er: »Dastruk.« Er beugte sich über den Arkoniden, der auf dem Rücken lag. Die Augen des Toten waren weit geöffnet. Seine Hände krallten sich auf der Brust in die Bluse, als wollten sie die
klaffende Wunde schließen, die ihm jemand beigebracht hatte. »Damit scheinen Sie nicht gerechnet zu haben, Axton«, sagte jemand mit näselnder Stimme. Der Kriminalist fuhr herum. In der Tür stand Sorgith Artho und blickte geringschätzig auf den Verwachsenen herab. »Er wurde erstochen«, fuhr der Arkonide in belehrendem Ton fort. »Die Waffe war ein Messer mit ungewöhnlich breiter Klinge. Damit hat der Mörder wenigstens zehnmal zugestoßen.« »Woher wissen Sie das?« »Ich habe die Leiche bereits vor Ihnen untersucht. Ich habe meinen Gleiter hier vor der Nische verlassen. Das Türschott konnte ich nicht öffnen, da es auf Ihre Individualdaten eingestellt ist. Deshalb musste ich den Umweg über den unteren Eingang in Kauf nehmen.« »Sie hätten sich melden können.« Axton zeigte auf eine Taste neben der Tür. Sorgith Artho nickte spöttisch. »Ich hätte. Aber ich habe nicht. Ich wollte mir nicht entgehen lassen, wie Sie sich verhalten, wenn Sie die Leiche finden.« Er war fast zwei Meter groß und überragte Axton damit um gut fünfzig Zentimeter. Sein Gesicht war schmal und verlieh ihm ein asketisches Aussehen. Das weiße Haar fiel ihm bis auf die Schultern. Er war ein ungewöhnlich schmal gewachsener Mann, dessen äußere Erscheinung Axton an einen Ara erinnerte. Auffallend waren die großen blauen Augen. Artho brannte vor Ehrgeiz. Er war innerlich unsicher und versuchte dies durch eine gewisse Unverfrorenheit zu überspielen. Nicht zuletzt auch, um den Makel seiner nicht der Norm entsprechenden Augenfarbe zu kaschieren. »Glücklicherweise schienen Sie nicht vorzuhaben, mir den Mord in die Schuhe zu schieben.« Axton wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Er musste daran denken, wie der Besuch bei Perko da Larkyont verlaufen war. Der Präsident
hatte sich fast clownhaft gegeben. Vergeblich hatte Axton versucht, Blößen bei ihm zu entdecken. Es schien keine zu geben. Auf dem Rückweg zur Wohnung hatte Dastruk behauptet, On-tharg Larkyont sei nicht so harmlos. Er hatte angeboten, Informationen aus dem Büro des Präsidenten zu beschaffen, und Axton geschworen, dass ein derartiges Unternehmen völlig ungefährlich sei. Er sei oft dort gewesen und habe sich schon mehrmals dort umgesehen, ohne dass er von jemand bemerkt worden sei. Widerstrebend hatte Axton nachgegeben und damit gegen eines seiner Hauptprinzipien verstoßen. Jetzt machte er sich schwerste Vorwürfe. Dastruk war durch seine Schuld getötet worden. Er hatte zugelassen, dass ein Laie eine Arbeit übernommen hatte, die nur von einem Fachmann erledigt werden durfte. Das hatte den jungen Arkoniden das Leben gekostet. »Ich glaube nicht, dass Sie den Mord begangen haben«, sagte Artho. »Sie wären gar nicht in der Lage, eine solche Waffe in dieser Weise zu handhaben. Und Ihr Roboter hätte Ihnen eine solche Arbeit auch nicht abnehmen können. Bleibt Perko da Larkyont.« Der Arkonide schien zu erwarten, dass Axton überrascht war. Doch er täuschte sich. Der Kriminalist wäre vielmehr überrascht gewesen, wenn Artho nichts von Larkyont gewusst hätte. »Es sieht in der Tat so aus, als sei Larkyont für die Tat verantwortlich. Wahrscheinlich hat er es faustdick hinter den Ohren. Ich nehme ihm seine Harmlosigkeit nicht ab.« »Larkyont hat ein einwandfreies Alibi«, eröffnete der Arkonide dem Verwachsenen triumphierend. »Er hat den Versammlungssaal zusammen mit einem Offizier verlassen und ist mit ihm nach Gabaysh im Süden geflogen. Dort ist er während der letzten zehn Tontas geblieben.« »Sie wissen wohl schon alles, wie?« »Ich hatte Gelegenheit, die Kommunikationsmöglichkeiten
meines Gleiters zu nutzen. Das ist alles.« Artho verbarg den Stolz über seine Leistung nur mühsam. »Perko da Larkyont ist also ein Mann, den man nicht weiter zu beachten braucht. Er ist eine unwichtige Figur in diesem Spiel, dessen Regeln wir noch nicht kennen.« Lebo Axton kniete neben dem Toten und durchsuchte seine Kleidung, fand aber nichts von Bedeutung. Sorgith Artho redete weiter, obwohl der Verwachsene ihm keine Antwort mehr gab. Axton glaubte nicht daran, dass der Präsident der Organisation Gonozal VIII. mit dem Mord nichts zu tun hatte. Er konnte sich auch nicht vorstellen, dass Dastruk sonst Feinde gehabt hatte, die so weit gehen würden wie der Mörder. Larkyont war ein gefährlicher Mann. Es konnte nicht anders sein. Axton richtete sich wieder auf. »Übernehmen Sie Dastruk. Ich habe einen dringenden Besuch zu machen, der keinen Aufschub duldet.« »Sie haben mir keine Befehle zu erteilen, Axton.« »Meinen Sie?« Der Verwachsene lächelte ironisch und kletterte in den Gleiter. »Bleiben Sie hier«, forderte Artho wütend. Kelly setzte sich hinter die Steuerelemente der Maschine und startete. Der Arkonide blieb bei dem Toten stehen. Er hatte nun keine andere Möglichkeit mehr, als der Anordnung des Terraners zu folgen. Lebo Axton ließ sich zum vierzig Kilometer entfernten Hügel der Weisen fliegen, dem Regierungszentrum des Großen Imperiums. Hier residierte nicht nur Orbanaschol III. Hier arbeiteten die wichtigsten Organisationen, auf die sich der Imperator stützte, hier befanden sich die Kelchbauten der Ministerien. Und hier befanden sich auch die verschiedenen Archive. Als Cel’Orbton hatte Lebo Axton freien Zutritt zu den Hauptarchiven. Daneben gab es noch einige Archive, die für ihn nach wie vor gesperrt waren, weil sie Informationen enthielten, die ihm als
Geheimnisträger Dritter Klasse nicht zugänglich waren. Wie nicht anders erwartet, war eine Akte über Perko da Larkyont angelegt worden. Axton ließ sich die Unterlagen ausdrucken und blickte einigermaßen enttäuscht auf das dürftige Material, das er erhielt. Es war absolut nichtssagend und enthielt keinen einzigen wirklich wichtigen Hinweis. On-tharg Larkyont war als Präsident der Organisation Gonozal VIII. registriert und als bedeutungslos eingestuft worden. Darüber hinaus waren nur noch einige der Mitarbeiter und Vertrauten Larkyonts angeführt. Axton ließ sich deren Akten ebenfalls ausdrucken. Verblüfft stellte er fest, dass zwei der Mitarbeiter des Präsidenten einer Nebenorganisation des arkonidischen Geheimdienstes angehörten, die hauptsächlich mit Beobachtungsaufgaben betraut war. Der dritte Vertraute Larkyonts war ein Mann namens Ukosthan, ein adliger Sonnenträger. Über diesen Arkoniden war nichts weiter als Name und Rang in der Datei enthalten. Lebo Axton beschloss, Artho auf die beiden Geheimdienstmitarbeiter anzusetzen. »Soll er sich an ihnen den Schädel einrennen«, sagte er. Er selbst wollte sich auf Ukosthan konzentrieren und hoffte, über diesen Mann weiterzukommen. Aber seine Versuche, über Ukosthan in anderen Archiven mehr Material auszugraben, scheiterten. Es war nichts vorhanden, niemand schien diesen Ukosthan wirklich zu kennen. Nachdenklich verließ Axton das Kelchgebäude. Er war keineswegs enttäuscht, hatte noch andere Informationsquellen, denn in den vergangenen Arkonperioden hatte er eine Reihe von Freunden gewonnen, von denen er nun Hilfe erwartete.
Zunächst suchte er Nert Arrkonta auf, doch dieser behauptete, Ukosthan nicht zu kennen. Axton merkte, dass Arrkonta nicht die Wahrheit sagte. Deshalb sagte er eindringlich: »Der Tod
des Jungen ist unverzeihlich.« Arrkonta antwortete heftig: »Das hätte nicht passieren dürfen.« »Natürlich nicht. Ich habe die Organisation Gonozal unterschätzt, und ich habe nicht mit einer solchen Reaktion gerechnet. Ich habe vermutet, dass Larkyont nicht so harmlos ist, wie er aussieht, aber ich habe einen Mordanschlag für unmöglich gehalten.« »Was werden Sie tun, Lebo? Werden Sie Larkyont verhaften?« »Das wäre zu früh. Zweifellos steckt erheblich mehr hinter dieser sogenannten Untergrundorganisation. Was wirklich los ist, werden wir jedoch nicht erfahren, wenn wir den Präsidenten jetzt schon verhaften. Wer ist Ukosthan?« Arrkonta stand an der Fensterfront seines Wohnsalons und blickte auf den parkähnlichen Innenraum des Trichters. Die Wohnung gehörte zu einem 500-Meter-Trichtergebäude, das mit elf weiteren die aufgelockerte Franc-Kelchsiedlung bildete, rund dreißig Kilometer südöstlich des Hügels der Weisen. »Ich kenne nur den Namen Ukosthan«, erwiderte der Has’athor zögernd. »Er hat früher einmal eine wichtige Rolle gespielt. Welche das war, das weiß ich nicht, aber ich werde mich erkundigen.« »Bei wem?« Arrkonta schüttelte den Kopf. »Dieses Mal nicht, Lebo. Mein Informant bleibt geheim. Ich will ihn nicht gefährden. Sie müssen das verstehen.« Axton griff sich an den Kopf. Bohrende Schmerzen lähmten ihn, vor seinen Augen begann es zu flimmern. Nur mit Mühe unterdrückte er ein Stöhnen. Der Anfall dauerte nur Augenblicke, dann war alles wieder vorbei. Arrkonta hatte nichts gemerkt. Beunruhigt fragte sich der Terraner, ob die Schmerzen tatsächlich mit seinem Sonderhirn
zusammenhingen. Schon vor Jahrhunderten nach terranischer Zeitrechnung hatten die Ärzte des Solaren Imperiums unbekannte Hormondrüsen innerhalb seines Gehirns entdeckt, aber nicht klar identifizieren können. Erwuchsen ihm nun daraus neue Fähigkeiten? Oder hatte sich dort ein Krankheitsherd gebildet, der ihn von innen heraus allmählich zerstörte? Axton war sich darüber klar, dass er praktisch keine Möglichkeit hatte, sich von arkonidischen Ärzten in dieser Hinsicht behandeln zu lassen. »Also gut«, sagte er mit gepresster Stimme. »Ich bin einverstanden. Doch die Zeit drängt, Avrael. Wann werden Sie mir Bescheid geben?« »Sie können darauf warten. Bleiben Sie hier. Ich werde bald zurück sein. Einverstanden?« »Einverstanden.« Arrkonta verließ den Raum. Axton sah ihn wenig später wieder, als er mit seinem Gleiter an der Fensterfront des Salons entlangflog, schnell aufstieg und sich in südlicher Richtung entfernte. Bewusst verzichtete er darauf, ihm allzu lange nachzusehen. Er wollte dem Freund nicht nachspionieren. Wenn Arrkonta wünschte, dass die Informationsquelle unbekannt blieb, wollte er diesen Wunsch auch respektieren. Er setzte sich in einen Sessel und schaltete Arkon-Vision ein, um sich einen Trivid-Beitrag über eine Expedition zu einem exotischen Planeten anzusehen. Etwa eine Tonta später kehrte der Nert zurück. Gespannt blickte Axton ihn an. »Ich habe leider nicht viel erfahren können«, eröffnete der Arkonide das Gespräch. »Erzählen Sie nur. Ich bin auch schon mit Kleinigkeiten zufrieden.« Arrkonta setzte sich ihm gegenüber. Eine seiner beiden Frauen brachte eine Antigravplatte mit Erfrischungsgetränken und Gebäck. Er wartete, bis sie wieder allein waren.
»Ukosthan ist ein Adliger. Der Sonnenträger stammt von Arkon Drei. Unter Gonozal war er ein einflussreicher und mächtiger Mann. Er genoss das Vertrauen des Imperators und wurde häufig mit Spezialaufgaben betraut. Er gilt als ausgezeichneter Psychologe und war teilweise als Verbindungsmann oder Sonderbeauftragter eingesetzt. Einmal trug Ukosthan sogar das Imperatorensiegel. Das ist alles, was ich erfahren habe.« Axton pfiff anerkennend. Imperatorensiegel waren als fälschungssicher geltende Sonderausweise in Form handgroßer Amulette; eine Seite war völlig glatt, die andere mit einem Reliefprofil eines Imperatorenkopfes versehen. Die Träger – und ausschließlich sie! – konnten ihr Amulett zum Leuchten bringen, indem sie die Daumen fest auf die glatte Seite pressten. Mit dem Aufleuchten wies sich der Träger als legitimiert aus, denn das Siegel war auf seine Individualmuster abgestimmt, die von denen des jeweils herrschenden Imperators persönlich gegengezeichnet sein mussten. Axton wusste, dass die Technik, neue Siegel herzustellen, im Lauf des Methankriegs leider verloren ging. Lediglich die Imperatorenreliefs wurden später noch ausgetauscht und die Individualdaten geändert; von den ursprünglich existierenden zwanzig gab es in Axton-Kennons Realzeit nur noch zwölf der Imperatorensiegel. Avrael Arrkonta lächelte. »Man wundert sich allgemein, dass er in der Nähe von Larkyont aufgetaucht ist, glaubt aber nicht daran, dass er tatsächlich in der Untergrundorganisation mitarbeitet. Wenn er dabei ist, dann nur, weil er in der Organisation Freunde von früher trifft und sich in Gesprächen mit ihnen die Zeit vertreibt.« »Orbanaschol legt also keinen Wert auf diesen Offizier?« »Natürlich nicht. Ukosthan galt als Günstling Gonozals, im
positivsten Sinne. Einen solchen Mann duldet Orbanaschol nicht in seiner Nähe. Er hat Ukosthan kaltgestellt.« »Können Sie mir einige der Orbtonen nennen, die Ukosthan von früher kennt, mit denen er früher zusammengearbeitet hat?« »Nein. Es tut mir leid. Aber es sind bestimmt Hunderte.« »Danke, Avrael. Sie haben mir wirklich geholfen.« Axton verabschiedete sich. Die Angelegenheit Organisation Gonozal VIII. war für ihn nun noch undurchsichtiger als zuvor. Er wusste nicht, in welcher Richtung er weiterforschen sollte, ausgenommen bei Ukosthan. »Kelly«, fragte er, als er zusammen mit seinem Roboter zu seiner Wohnung flog, »was ist los mit dieser angeblichen Untergrundorganisation? Sie ist so leicht zu finden und gibt sich so harmlos wie ein Kaffeekränzchen. Ihre Tagesparolen sind so kindisch durchsichtig, dass sie für niemanden ein Problem darstellen. Ihr Präsident passt genau in dieses Bild. Und doch ist ein Mord geschehen.« Axton legte die Hände an den Kopf. Er hatte wieder Schmerzen und konnte dadurch nicht klar genug denken. »Zum Archiv«, bestimmte er dann jedoch. »Ich muss noch einmal zum Archiv.« Der Roboter brachte den Gleiter kommentarlos auf den neuen Kurs.
Wenig später saß der Verwachsene wieder an der Positronik. Er war fest davon überzeugt, dass es noch mehr Informationen über Ukosthan geben musste. Ein Mann, der ehemals so wichtig und einflussreich gewesen war, konnte nicht einfach zu einem informatorischen Nichts werden. So etwas passte nicht zu den Gepflogenheiten des arkonidischen Geheimdiensts. Wiederum rief Axton das Stichwort Ukosthan ab. Es gab keine Informationen. Dann kam dem Kriminalisten
ein Gedanke. Er gab das Stichwort Sonnenträger ein. Die Positronik zeigte viele Seiten, auf denen die Sonnenträger in Gruppen zusammengefasst waren, geordnet nach Funktion, Sondereinsätzen, Kampfeinheiten und ähnlichen Richtlinien. Ukosthan stand an der Spitze einer Tabelle, die vierundsiebzig Namen enthielt. Zusätze und Zeichen wiesen auf andere Informationen und Querverbindungen. Axton ging insbesondere Letztere sorgfältig durch, bis endlich eine Folie mit Sonderinformationen über Perko da Larkyont vor ihm lag. Dort stand, dass der On-tharg Präsident der Organisation Gonozal VIII. war und über ein nur geringes Vermögen verfügte. Daneben waren fünfzehn Namen von arkonidischen Orbtonen, zwanzig Namen von wirtschaftlich wichtigen Persönlichkeiten und zweiundzwanzig weitere von Arkonidinnen und Arkoniden aus der Politik aufgeführt. Axton rief die Informationen über jeden Einzelnen ab, ohne dabei auf etwas zu stoßen, was seinen kriminalistischen Instinkt weckte. Ihm fiel jedoch auf, dass fünf der genannten Offiziere tot waren, keiner von ihnen älter als fünfzig Arkonjahre, keiner im Kampf gefallen. Alle waren verunglückt. Alle waren hier auf Arkon I, der Kristallwelt, gestorben. Axton stutzte. Jetzt glaubte er, einen Faden in der Hand zu haben. Er versuchte, mehr über die toten Offiziere zu erfahren, hatte jedoch kein Glück. Es schien, als sei er bereits wieder in einer Sackgasse gelandet. Noch gab es nicht den geringsten Beweis dafür, dass Perko da Larkyont nicht der harmlose Mann war, der er zu sein schien. »Warum erkundigst du dich nicht nach den Schiffen?«, fragte Kelly. Axton fuhr ärgerlich herum, hatte vollkommen vergessen, dass sein Roboter auch noch da war. »Was willst du? Warum störst du mich? Was soll das überhaupt?«
»Ich hatte nicht die Absicht, dich zu stören, Liebling. Ich wollte dir nur einen Tipp geben.« »Ich verzichte. Tipps, die du mir gegeben hast, waren noch nie etwas wert.« »Das ist eine unqualifizierte Feststellung, die nicht mit der Wahrheit in Übereinstimmung zu bringen ist.« »Still«, sagte der Verwachsene heftig. Die tief verwurzelte Abneigung gegen Roboter drohte überhandzunehmen. »Ja«, erwiderte Kelly leise. »Na endlich.« Er wandte dem Roboter den Rücken zu. Dann krauste er die Stirn. »He, was war das für ein Tipp?« »Darauf kann ich leider nicht antworten.« »Warum nicht, zum Teufel?« »Weil du mir befohlen hast, still zu sein, Schätzchen.« »Dann befehle ich dir jetzt, zu reden. Und zwar sofort, du wandelndes Wrack.« »Ich gehorche, Schätzchen.« »Na, los doch, ich höre«, sagte Axton ungeduldig, als Kelly nicht sofort erklärte, was er gemeint hatte. »Ich wollte dich darauf hinweisen, dass es nützlich sein könnte, nachzuforschen, auf welchen Raumschiffen die Offiziere, die getötet worden sind, geflogen sind, besonders zu dem Zeitpunkt, als sie verunglückt sind. Daraus lässt sich …« »Halt!«, brüllte Axton. »Sei still! Ich kann diese geschraubte Redeweise nicht mehr hören.« »Ich bin still, oh Gebieter.« Lebo Axton zuckte bei diesen Worten sichtlich zusammen, packte einige Folien und schleuderte sie Kelly gegen den Kopf. Der Roboter reagierte nicht, blieb stehen und bewegte sich nicht. Axton legte den Kopf schief und wartete darauf, dass Kelly noch etwas sagen würde. Doch der Roboter schwieg. Axton atmete auf, wandte sich wieder der Positronik zu, raffte einige Folien zusammen, schloss die Augen und dachte nach.
»Es ist gar nicht einmal so dumm, was du von dir gegeben hast, du Blechungeheuer. Warum sollte man sich nicht auch einmal um die Raumschiffe kümmern?« Er tippte die entsprechenden Daten in die Tastatur der Positronik. Augenblicke später lagen die Informationen vor ihm. Axton gab sich jedoch nicht damit zufrieden, sich nach den Schiffen zu erkundigen, auf denen die Verunglückten gedient hatten, sondern konzentrierte sich noch mehr auf die Raumer, auf denen die noch lebenden Offiziere flogen. Als er die Namen hatte, fragte er die augenblicklichen Positionen der Schiffe ab. Wie erwartet erhielt er nicht alle Daten, da einige Schiffe unter streng geheimer Order flogen. Vier Raumer aber wurden klar mit ihrem augenblicklichen Standort oder Zielort und geplanter Ankunftszeit ausgewiesen. Einer davon war die OZMAN. Zwei der genannten Orbtonen befanden sich auf diesem Raumschiff. Das aber war es noch nicht, was Axton förmlich elektrisierte. Viel wichtiger erschien ihm, dass die OZMAN in dieser Tonta auf Arkon I erwartet wurde – inzwischen war der 29. Tedar angebrochen. »Sammle alle Folien auf und nimm sie mit!«, befahl Axton dem Roboter. »Los, beeil dich!« Kelly gehorchte ausnahmsweise kommentarlos. Zentitontas später trug er den Terraner zum Gleiter. Der Roboter setzte sich an die Steuerung und startete, beschleunigte die Maschine mit Höchstwerten. Lebo Axton wusste, dass sie selbst mit Maximalgeschwindigkeit wenigstens eine Tonta bis zu dem Raumhafen unterwegs sein würden, auf dem die OZMAN landen würde oder vielleicht schon gelandet war. Er nahm die Folien an sich und ging sie erneut durch, nachdem er sie sorgfältig sortiert hatte. Jetzt war er fest davon überzeugt, dass er die Spur gefunden hatte, nach der er so fieberhaft gesucht hatte. Je näher sie dem Raumhafen kamen, desto nervöser wurde Axton. Sein kriminalistischer Instinkt sagte ihm, dass es
auf jeden Augenblick ankam.
17. 1238. positronische Notierung, eingespeist im Rafferkodeschlüssel der wahren Imperatoren. Die vor dem Zugriff Unbefugter schützende Hochenergie-Explosivlöschung ist aktiviert. Fartuloon, Pflegevater und Vertrauter des rechtmäßigen Gos’athor des Tai Ark’Tussan. Notiert am 28. Prago des Tedar, im Jahre 10.499 da Ark. Bericht des Wissenden. Es wird kundgegeben: Den zwei mal zwölf She’Huhan und allen ihren Boten, Helfern, Heroen und mystischen Mitstreitern sei Dank! Von keinem Schiff verfolgt, wurde die erste Transition, die uns bis zur Hauptebene der Öden Insel brachte, zum frühestmöglichen Zeitpunkt eingeleitet. Bis nach Kraumon sind noch mehr als 19.000 Lichtjahre zurückzulegen; geplant sind fünf Transitionen. Nach einem Erfrischungsbad und einer ausgiebigen Mahlzeit haben Atlan und die anderen anschließend die Zeit genutzt, um von ihren Erlebnissen zu berichten. Ich sah dem Jungen an, dass er mich durchschaute und genau wusste, dass ich mir während der vergangenen Tage schwere Vorwürfe gemacht hatte, weil ich ihn nicht nach Perpandron hatte begleiten wollen. Nachdem der Bericht beendet war, hatte ich darüber nachgedacht, ihn in Form mathematischer Daten zu erfassen und diese dem Rechner zur Auswertung vorzulegen. Atlan hinderte mich nicht daran, doch seine Skepsis wurde kurze Zeit später bestätigt – der Rechner wusste mit den Daten nichts anzufangen. Die geheimnisvolle Strahlung, die die Leichen von Tieren und Pflanzen daran zu zerfallen hinderte, das merkwürdige Kugelschalengebilde der subplanetarischen Stadt, das silbrige Licht, die Riesenkäfer- und Flügeltierroboter, die goldene Würfelhalle mit dem schwarzen Sockel und dem vermeintlichen Omirgos … das alles war auch für den Rechner zu viel. Anschließend kümmerte ich mich intensiv um den Wachen, der sich
noch immer weigerte, seinem Namen Ehre zu machen und in einem Zustand lebloser Bewusstlosigkeit verharrte. Als Erstes stellte ich fest, dass er ohne Zweifel noch lebte und keinerlei gesundheitlichen Schaden zeigte. Zweitens erklärte ich nach einer eingehenden Untersuchung, dass der Fremde ganz und gar arkonoid war. »Heißt das, dass er ein Arkonide ist?«, fragte Atlan verwundert. Ich wiegte den Kopf. »Nicht unbedingt. Es gibt einige arkonoide Völker zwischen den Sternen – allerdings kenne ich keins, das uns so ähnlich ist wie dieser junge Mann.« Karmina da Arthamin war bei unserer Unterhaltung zugegen. Jedes Mal, wenn die Rede auf den Fremden kam, trat ein eigenartiger Glanz in ihre Augen. Auch Atlan fiel es auf; er hatte sich inzwischen wohl an den Gedanken gewöhnt, dass er bei der Sonnenträgerin als Mann nicht mehr die geringsten Chancen haben würde, kam der silberhaarige Junge zu sich. »Ihr braucht euch die Köpfe nicht heißzureden«, sagte sie mit träumerischer Stimme. »Er selbst wird uns sagen, wer er ist und woher er kommt.« »Falls er uns nicht einfach unter den Händen wegstirbt«, sagte ich brummend und, angesichts Karminas unübersehbarer Schwärmerei, mit einem bemerkenswerten Mangel an Takt. Aber Karmina war so weit in die Welt ihrer Träume entrückt, dass sie die groben Worte nicht übel nahm. »Eines Tages wird er erwachen und sich in unbeschreiblichem Glanz erheben …« »Echodim«, knurrte ich die alte arkonidische Gebetsschlussformel mit unüberhörbarem Spott. Unterdessen raste die ISCHTAR dem zweiten Transitionspunkt entgegen. An Bord der ISCHTAR: 28. Prago des Tedar 10.499 da Ark Der eisige Schrecken kam völlig unerwartet über das Schiff. Aber er kam nicht lautlos. Plötzlich gab es ein Geräusch, das es hier und auf diese Art nicht geben durfte. Ein hohles Zischen, ähnlich dem Rauschen der Statik. Es schien aus Tausenden Lautsprechern zu fauchen und zu heulen. Der schwarzhaarige
Barbar zuckte zusammen. Seine Arme flogen hoch, er presste beide Handflächen auf die Ohren und umfasste seinen Kopf mit den Fingern. Dann stieß er einen schrillen Schrei aus. Sein Körper krümmte sich unter unfassbaren Schmerzen zusammen. Schließlich heulte Ra ein letztes Mal auf, fiel nach vorn und schlug vor Fartuloon aufs Gesicht. Kämpf um dein Leben, Atlan!, schrillte der Logiksektor. Der Schmerz packte mich. Ein anderer Schmerz raste wie eine riesige, weißglühende Nadel heran und schien meinen Kopf zu durchbohren. Ich sah mich wild um, bereits jetzt halb besinnungslos. Dann machte ich marionettenhaft drei Schritte und fiel in den nächsten, halb ausgeklappten Kontursessel. Ringsum verwandelte sich die Zentrale der ISCHTAR in ein Chaos. Das Ziel des Schiffes war Kraumon. Ich war mir plötzlich sicher, dass wir es nicht mehr erreichen würden …
Genau in dem Augenblick, als wir uns nach der zweiten Transition wieder im normalen Weltraum befanden, schlug der unsichtbare Gegner ohne jede Warnung zu. Jenes gespenstische Rauschen und Zischen schwoll an, wurde leiser und verstärkte sich wieder. Die Zentrale hallte wider von den Schreien der Frauen und Männer. Es waren Schreie des wahnsinnigen Schmerzes und solche der nackten Angst. Pilot Malthor wurde von einer unsichtbaren Kraft aus dem Spezialsessel gerissen, schräg von den Kontrollen weggeschleudert und zu Boden geworfen. Dort lagen bereits einige Ohnmächtige. Ihre Körper waren unglaublich verrenkt. Andere Männer kämpften gegen diesen Effekt an, der uns alle im Griff hielt und schüttelte. Es muss eine Emotiostrahlung sein!, schrie der Extrasinn. Dank der ARK SUMMIA schien ich eine Winzigkeit weniger betroffen zu sein als alle anderen. Mein Körper wurde von den
Schmerzwellen herumgeschleudert. Jede einzelne Nervenendung schien von Stromstößen getroffen zu werden. In den gemarterten Trommelfellen hatte ich dieses widerliche Zischen und Rauschen. Es war so laut, dass ich nicht merkte, dass ich ununterbrochen schrie. Vor meinen Augen verwandelten sich die Bilder auf der Panoramagalerie in phantastische Farbenspiele. Ich merkte, dass ich langsam wahnsinnig wurde. Ab und zu rissen die Schleier auf, und ich erkannte, was vor mir und neben mir geschah. Wie lang die Intervalle zwischen den einzelnen Momenten der Klarsichtigkeit waren, wusste ich nicht. Uns alle hatte das Zeitgefühl verlassen. Halt dich ruhig. Nichts sonst hilft, meldete sich der Extrasinn. Wir hatten die mythenschwangere Welt Perpandron verlassen, aber die lautlosen Schrecken dieses Planeten verfolgten uns bis hierher. Was war vorgefallen? Wer oder was erzeugte diesen furchtbaren Effekt? War es der Junge, der in der Medostation lag und aussah wie eine Statue? Nein! Ein brenzliger Geruch schien durch die Zentrale zu ziehen. Aber auch das konnte eine Täuschung der gemarterten Sinne sein; ich sah keinen Rauch. Fartuloon geriet in mein Gesichtsfeld. Der massige Mann schwankte hin und her und kämpfte mit der Wildheit eines Tieres gegen die Einflüsse, die uns jede Kraft nahmen und unsere Körper unkontrollierbar zittern, sich aufbäumen und herumschleudern ließen. Endlich kippte auch mein Ziehvater zur Seite, streckte sich, krümmte sich wieder zusammen und wurde bewusstlos. Er wandte mir im letzten Augenblick sein Gesicht zu und schien mir etwas zuschreien zu wollen, aber seine Warnung oder Erklärung erreichte mich nicht mehr. Ich lag regungslos und völlig unfähig, mich zu bewegen, in dem Sessel. Noch einmal hörte ich einen gellenden Schrei, dann schlug die Bewusstlosigkeit zu.
Ich wusste nicht, ob es wenige Augenblicke, Zentitontas oder Tontas waren. Aber ich kam wieder zu mir. Mein Extrasinn schrie unaufhörlich auf mich ein. Blick nach rechts. Nur zwei Personen sind nicht von der Strahlung befallen. Mit unendlichen Schwierigkeiten und unter Aufbietung aller meiner noch verbliebenen Kräfte bewegte ich die Augäpfel. Was ich sah, war unfassbar, unmöglich, unerklärlich. Denn plötzlich schritt mein Vater zum Pilotensitz. Er ging federnd und zielbewusst, als sei ein Robotskelett in seinem Körper eingebaut – oder als sei er gesund und ein Mann von fünfzig Arkonjahren. Er, der nicht einmal in der Lage gewesen war, Ja oder Nein zu sagen, der nicht einmal bis zwölf hatte zählen können. Jetzt bewegte er sich völlig normal und zweifellos gezielt! Er blieb kurz stehen, blickte einige Herzschläge lang aufmerksam umher und ging dann weiter. Der leere Pilotensessel schwang herum, als er ihn anfasste. Er setzte sich und streckte die Arme aus. Ich war sicher, dass ich träumte. Oder dass mir mein verwirrter Verstand eine schreckliche Illusion vorgaukelte. Jedenfalls begann Gonozal mit der präzisen Schnelligkeit eines geübten Piloten Tasten zu drücken, Daten einzuspeisen, eine Kursänderung herbeizuführen. Vereinzelt brüllten Impulstriebwerke auf, Aggregate erwachten zu dröhnendem Leben und verstummten wieder. So viel konnte ich gerade noch erkennen, erfassen und klar verstehen. Er hat fremdes Leben in sich, sagte der Logiksektor. Es war somit keine Illusion. Plötzlich standen mir nicht nur die Bilder von Gonozals Erscheinen bei den Ruinen vor Augen, sondern auch das Pragos zurückliegende Ereignis, als er sich unvermittelt aufgerichtet hatte, den Blick auf den Bildschirm gerichtet, der den Planeten Perpandron zeigte. Seine Lippen
öffneten sich, er begann zu stammeln, unverständliche Silben, die keinen Sinn ergaben. Und dann war er sogar langsam zum Bildschirm getappt. Eigenständig! Aus eigener Kraft! Wirklich aus eigener? Angesichts der neuen Entwicklung waren Zweifel angebracht. Hatte das »fremde Leben« ihn damals schon erfüllt? Mein Vater jedenfalls hatte den Kopf gedreht, sein Blick blieb leer, schien durch mich hindurchzugehen. Doch er hatte auf den Bildschirm gedeutet, wo das Teifconth-System mit Perpandron dargestellt war. Sein Lallen war unverständlich, dennoch schien klar, dass es zwischen meinem Vater und dieser Welt eine geheimnisvolle, fast gespenstisch anmutende Beziehung gab. Es gab etwas in diesem nicht mehr beseelten Körper, etwas lebte noch oder nun darin – und es schien mehr denn je, dass es etwas Fremdes war. Welches Ziel das Fremde auch anstrebte, es war nicht Kraumon. Als wolle es verhindern, dass wir dorthin flogen. Totenstille herrschte jetzt in der Zentrale. Nur die Geräusche der Maschinen, jenes ununterbrochene Wispern und Flüstern, war zu hören. Gonozal wollte ganz allein das Schiff steuern. Ich wollte es nicht wahrhaben, aber Gonozal schien eine gefährliche, sehr weitführende Transition zu programmieren. Sie würde die ISCHTAR in größte Gefahr bringen. Alle anderen sind bewusstlos. Nur du bist noch übrig, gellte es in meinen Gedanken. Ich versuchte zu atmen, bewusst zu atmen. Ich fühlte, wie sich meine Lungen füllten und leerten. Dann spannte ich probeweise meine Beinmuskeln an. Jene unsichtbare und rätselhafte Energie, die uns bewusstlos gemacht hatte, schien im Augenblick nicht so sehr auf mich zu wirken. Ich wusste, dass ich diesen spärlichen Rest von Lebensenergie der ARK SUMMIA und dem aktivierten Extrasinn zu verdanken hatte. Es gelang mir beim ersten Versuch, den Oberkörper von der Lehne des Sessels nach vorn zu stemmen. Meine Arme
begannen zu zittern, augenblicklich war ich von kaltem Schweiß überströmt. Ich musste verhindern, dass Gonozal diese Transition durchführte. Sie konnte uns alle, selbst als Bewusstlose, umbringen. Ich winkelte meine Beine an; auch das gelang beim zweiten Versuch. Dann konzentrierte ich mich auf mein Vorhaben, auf den Versuch, diese Transition zu verhindern. An allen Gliedern zitternd, stemmte ich mich aus dem Sessel hoch und konnte gerade noch meinen Sturz nach vorn abfangen, indem ich meine Hände in die gepolsterten Armlehnen krallte. Dann bewegte ich mich wie ein Betrunkener schwankend vorwärts. Ich taumelte hin und her und versuchte, die wenigen Schritte bis zum Pult zurückzulegen. Auf den Bildschirmen und der Panoramagalerie wirbelten fremde Sterne wie ein Mahlstrom vorbei. Das Schiff war nicht stabilisiert und wirkte wie ein Spielzeugkreisel oder ein Stück Holz, das von einem Bach mitgerissen wurde. Abermals brüllten die Impulstriebwerke. Die Eigenrotation verlangsamte sich. Wann war der Transitionspunkt erreicht? Ich wusste: Um von Nullfahrt aus neunzig Prozent der Lichtgeschwindigkeit zu erreichen, war ein Beschleunigungsflug von rund zehneinhalb Zentitontas Bordzeit nötig. Aufgrund der Zeitdilatation bei dieser Geschwindigkeit verging für einen ruhenden Beobachter mehr als die doppelte Zeit. Nach weiteren mühsamen Schritten, die meine letzten Kraftreserven verzehrten, knickte ich in den Knien zusammen. Aber es waren nicht Muskeln, die mir nicht mehr gehorchten, sondern der Wille fehlte. Die geheimnisvolle Kraft lähmte die Nerven. Ich konnte gerade noch die leblos herunterhängenden Arme nach vorn reißen und meinen Fall abfangen, schlug mit Kopf und Hals hart gegen die Stiefel eines regungslos daliegenden Besatzungsmitglieds. Der Boden der Zentrale war
mit den zusammengekrümmten Gestalten der Frauen und Männer bedeckt, wie nach einem tödlichen Gefecht. Eine ungeheure Müdigkeit fasste abermals nach mir. Wieder begann mein lautloser Kampf gegen die elementare Schwäche. Auf! Du musst! Nur du allein kannst die ISCHTAR und fünfhundert Frauen und Männer retten!, zischte der Extrasinn eindringlich. Mein rechtes Ohr lag auf dem federnden Bodenbelag. Ich konnte die Geräusche hören, die das Schiff verursachte – das Brummen der Maschinen, das Ächzen der Verbände, die überstrapaziert wurden. Dazwischen immer wieder die positronischen Rückmeldungen nach den Schaltungen, die der lebende Leichnam – mein Vater! – durchführte. Versuch es! Wieder einmal war ich völlig allein mit mir und meinen Anstrengungen. Es gab niemanden, nicht einmal den Magnetier, der mir helfen konnte. Ich zwang mich, tief durchzuatmen, und bekämpfte so die aufziehende Ohnmacht. Wieder stand ich zentimeterweise auf, stemmte mich vom Boden weg, sackte noch einmal zusammen. Ich versuchte es ein drittes Mal. Es gelang mir, mich auf Knie und Ellbogen aufzustützen, und ich zog mich schließlich an einer Sessellehne hoch. Ich zitterte am ganzen Körper und war schweißnass. Gonozal saß noch immer vor dem Kontrollpult und tastete Daten ein. Ich war mir absolut sicher, dass ihn die unbekannte Kraft manipulierte – unwillkürlich dachte ich an die Macht, die mich in der subplanetarischen Stadt dazu gezwungen hatte, den leblosen Jungen mitzunehmen. Bestand ein Zusammenhang? Warum wollte sie verhindern, dass wir Kraumon erreichten? Ich befand mich jetzt vier Schritte von Gonozals Rücken entfernt. Reiß ihn von den Kontrollen weg!, gellte die Stimme des Extrasinns in meinen Gedanken. Ich hob mit einer mühevollen, langsamen Bewegung meine Arme und versuchte, mit den
kraftlosen Fingern die Schultern Gonozals zu erreichen. Noch ein Schritt! Und endlich gelang es mir – ich packte die lebende, von einem fremden Verstand erfüllte Marionette an beiden Schultern und riss sie mit aller Kraft nach hinten. Mit unbewegtem Gesicht drehte sich Gonozal halb herum. Seine geisterhaften Augen sahen mich, blickten durch mich hindurch und registrierten lediglich eine Störung. Gonozal hob den Arm, stieß ihn vor meine Brust und schleuderte mich mühelos vier Meter weit durch die Zentrale. Ich stolperte rückwärts, die Wucht trieb mich zurück zu meinem Sessel. Hart fiel ich in die Polsterung und fühlte erst Augenblicke später den Schmerz. Versuch es trotzdem wieder! Ich lag wie eine Gliederpuppe im Kontursitz und konnte mich nicht mehr bewegen, sosehr ich mich auch anstrengte. Gonozal drehte sich mit der unerschütterlichen Ruhe einer wohl programmierten Maschine wieder um und widmete sich schweigend den Schaltungen. Es war eine gespenstische Situation. Drei Hirne funktionierten noch in diesem todgeweihten Schiff. Eins davon war meins; mühsam unterstützt vom Logiksektor. Das andere war das Hirn des Imperators, kontrolliert von etwas Fremdem, Unbegreiflichem. Das dritte war der Bordrechner, der jetzt die nächste Transition berechnete. Ich stöhnte auf. Weiterhin schoss die ISCHTAR durch das All, war das Spielzeug einer fremden Macht. Ich lag in dem Sessel und konnte nun nicht einmal mehr meine Augen bewegen. Ich musste regungslos und gelähmt, aber mit funktionierenden Sinnen Gonozals Schaltungen ansehen. Ich war kraftlos. Aber keineswegs ohne Bewusstsein. Ich nahm alle Vorgänge wie durch einen leichten Nebel wahr, der auch die Geräusche dämpfte. Die ISCHTAR raste, annähernd in der Geschwindigkeit des Lichtes, auf den Punkt der Transition zu. Nur Gonozal wusste, in welchen Raumsektor des Weltraums uns dieser Hypersprung führen
würde. Nein! Auch er weiß es nicht, korrigierte mich der Extrasinn. Richtig! Nur die seltsame Kraft, die fünfhundert Besatzungsmitglieder betäubt hatte und von der Gonozal dirigiert wurde, kannte das Ziel. Die Zeit verging voller unheimlicher Spannung. Ich wusste nicht, was ich tun sollte und was ich tun konnte. Ich war vollständig handlungsunfähig. Der schweigende Kampf hatte zu nichts geführt. Ich war nur noch der gelähmte Zuschauer, sah einen Teil der Instrumente und erkannte irgendwann, dass der Hypersprung unmittelbar bevorstand. Farbige Anzeigen glühten auf. Die Ziffern in ihren leuchtenden Feldern veränderten sich mit unerbittlicher Langsamkeit. Er bringt das Schiff aus unersichtlichen Gründen an ein anderes Ziel, verkündete der Logiksektor. Noch immer konnte ich mich nicht rühren. Ich sah nur Gonozal, der jetzt seine Hand ausstreckte, um nach dem Schalter für den Startvorlauf zu greifen. Aus den Augenwinkeln konnte ich auf dem Bildschirm den Jungen von Perpandron in der Medostation undeutlich erkennen. Von ihm ging diese fremde Kraft keineswegs aus, denn er lag nach wie vor regungslos da. Ein Sirenenton und Drehlichter signalisierten die Transitionsbereitschaft. Die ISCHTAR transitierte. Für mich war es, als wehre sich der Metallkoloss mit einem Aufschrei. Das Schiff gab einen schrillen Ton von sich, eine Mischung aller Geräusche, die ich mir vorstellen konnte. Träger schienen zu brechen, Verbindungen zu reißen, die Maschinen heulten auf, sämtliche Schaltungen knisterten. Auf den Bildschirmen befanden sich plötzlich irre Lichterscheinungen. Die Lautsprecher prasselten und knisterten. Achtung! Transitionsschock! Während mich der scharfe, würgende Entzerrungsschmerz überflutete, saß Gonozal noch immer regungslos und ungerührt da. Seine Finger schwebten wartend über den
Schaltern und Kontrollen. Die Transition riss das Schiff aus dem normalen Umfeld des Weltraums und schleuderte es durch den Abgrund aus Raum, Zeit und Entfernungen. Ich wurde ohnmächtig. Der letzte Eindruck, den ich hatte, war der jener regungslosen Figur schräg vor mir. Die Störungslinien auf den vielen Bildschirmen umloderten Gonozal wie eine mythische Figur.
Ich erwachte wieder in einem Feuer aus Schmerzen. Ich war blind, meine Ohren gellten, in meiner Nase lag ein stechender Geruch. Jeder einzelne Nerv schien mit glühenden Nadeln gepeinigt zu werden. Ich zwang mich, die Lider nicht zu heben, denn durch die Haut drang eine schon jetzt schmerzende Helligkeit. Aufwachen! Zwing dich! Was wird Gonozal als Nächstes tun?, schrie der Extrasinn. Ich öffnete die Augen. Die Stille in diesem Geisterschiff wurde, wie schon vor Augenblicken oder vor einer kleinen Ewigkeit, nur vom flüsternden Arbeitsgeräusch der Aggregate durchbrochen. Ich war erstaunt darüber, dass ich noch etwas wahrzunehmen vermochte. In meinem kurzen Leben hatte ich schon oft Schmerzen verspürt, die bis an die Grenze des Erträglichen gingen und kurzzeitig, stellenweise, auch darüber hinaus. Aber das, was mich jetzt marterte und quälte, war ein neuer, makabrer Rekord. Ich merkte, dass ich wahnsinnig zu werden drohte. Der Schmerz war überall, umfasste jeden Kubikmillimeter meines Körpers. Ich fürchtete auseinanderzubrechen. Es waren die Schmerzen eines doppelten Transitionsschocks. Entmaterialisation – Rematerialisation. Wir mussten eine beachtliche Distanz überbrückt haben, Tausende Lichtjahre! Ich wollte sterben. Unter dem Ansturm des rasenden Schmerzes versagte selbst mein Extrasinn, der mich – außer
Gonozal – zum einzigen nicht ohnmächtigen Insassen der ISCHTAR machte. »Nein … aufhören … keine Tran …sition …«, gurgelte ich hilflos. Ich wünschte, ebenso bewusstlos zu werden wie die anderen. Sie spürten diese wilden Schmerzen nicht. Die zweite Transition wurde vorbereitet. Schon die erste hatte das ohnehin nicht voll einsatzbereite Schiff vermutlich fast in ein Wrack verwandelt. Ich sah undeutlich, wie ein psychedelisches Muster aus roten Vierecken, dass alle nur vorstellbaren Systemanzeigen flackerten, erloschen, wieder aufleuchteten und wirre Zusammensetzungen auf den Kontrollen bildeten. Irgendwo außerhalb der Zentrale quäkte durchdringend ein Warnsignal. Ich verstand den Sinn nicht mehr. Auch die Bedeutung der akustischen und optischen Warnungen erfasste ich in meinem Zustand keineswegs. Ich sah nur mit steigendem Schrecken, der sich dem rasenden Schmerz hinzugesellte, dass Gonozal von alldem nicht betroffen war. Jedenfalls deutete nichts darauf hin, dass er die Transitionsschocks spürte. Ich war verzweifelt und wünschte meinen Tod herbei, nur damit dieser Schmerz endlich aufhörte. Tief in mir ahnte ich, dass es nicht nur die Entzerrungsschmerzen sein konnten, die mich und die übrige Besatzung heimsuchten, sondern dass auch die rätselhafte Strahlung hineinspielte, deren Wirkung entfernt der eines Schockers glich. Und noch viel schmerzhafter war … Nächste Transition! In dem Augenblick, als die Ansammlung blauer und goldener Sterne von den Bildschirmen gewischt wurde, verlor ich das Bewusstsein. Endlich spürte ich den Schmerz nicht mehr. Aber irgendwann erwachte ich wieder. Ich befand mich erneut in einem Ozean aus kochendem Öl oder Säure, die mich aufzulösen begann. Ich schrie, ohne selbst die wirren Schreie hören zu können. Meine Augen gaukelten mir spukhafte Bilder vor. Noch immer lag ich zitternd und vor
Schmerzen heulend im Kontursitz. Noch immer befand sich Gonozal an den Kontrollen. Hört denn diese Marter niemals auf? Ich war nicht mehr in der Lage, klar zu denken. Ich hatte keinerlei Zeitbegriff mehr. Ich war nichts anderes mehr als ein Bündel rohes Fleisch mit kreischenden Nerven, das hoffnungslos dem Schmerz, dem Todeswunsch und der Pein ausgeliefert war. Ich war nicht mehr länger Atlan, der Kristallprinz von Arkon, sondern eine Kreatur, die sich an der messerfeinen Grenze des Wahnsinnes entlangtastete. Die nächste Transition! Auch sie gelang, das hallende Schwingen der Kugelzelle klang aus. Als ich wieder klar sehen konnte, wurden die hyperschnellen Ortungsergebnisse in die Panoramagalerie eingeblendet. Abermals waren Tausende Lichtjahre überbrückt worden. Abermals sah ich wild quirlende Warnsignale. Es war ein Wunder, dass die Aggregate den Belastungen standhielten. Mangelhaft synchronisierte und in den maßgeblichen Parametern nicht exakt abgestimmte Strukturfelder hatten schon mehr als ein Raumschiff im wahrsten Sinne des Wortes zerfetzt. Im Normalfall bedurfte es der vielköpfigen die Besatzung und der positronischen Unterstützung, um eine Ferntransition schadlos zu überstehen. Hier arbeitete nur ein einziges Wesen, kontrolliert von einer unbekannten Macht. Insgesamt führte die ISCHTAR unter dem Diktat der Gonozal-Marionette vier Hyperraumsprünge durch. Nachdem das Schiff erneut im Standarduniversum rematerialisiert war, schlug etwas wie ein Hammer gegen meinen Hinterkopf. Ich verlor abermals das Bewusstsein – und freute mich darüber, denn nichts, was uns alle erwartete, konnte schlimmer sein als dieses weitgefächerte Spektrum der Schmerzen, das mich in ein Bündel aus Schreien und Stöhnen verwandelte. Augenblicke, Tontas oder Pragos vergingen. Dann erwachte ich wieder und …
Befand ich mich im Zentrum eines rasenden, flackernden Feuers? Der Raum, in dem ich mich jetzt befand, war von zuckendem rotem Licht durchdrungen. Von den Kanten der Pulte, der Instrumente und aller Metallteile schienen lange, dunkelrote Funkenbündel auszugehen. Der erste Eindruck war, dass die irrsinnigen Schmerzen nachgelassen hatten. Ein Versuch? Ich konnte mich noch immer nicht bewegen; die Lähmung bestand also noch. Ich riss die Augen auf und versuchte, mich zu konzentrieren. Der Logiksektor kam mir zu Hilfe: Es scheint die letzte Transition gewesen zu sein. Ich schloss und öffnete die Augen, konnte ansonsten noch immer keine einzige Bewegung durchführen. Mein gesamter Körper war starr wie Eis. Nur das salzige Augensekret sickerte über meine Wangen. Es schien tatsächlich im Augenblick Ruhe einzutreten. Der Schmerz war nicht mehr so wild und ausschließlich. Ich lag da und blieb der stumme Beobachter. Rotes Feuer riesiger Sonnen schlug in die Zentrale. Impulstriebwerke brüllten auf. Wurde die rasende Geschwindigkeit abgebremst? Sie sind noch alle ohne Besinnung, wisperte der Extrasinn. In meinem fast gefühllosen Körper, in dem nur noch das Gehirn arbeitete, machte sich eine dumpfe Erstarrung bemerkbar. Mein Herzschlag klang, als schlüge jemand mit einem Hammer an eine Stahlplatte. Plötzlich durchschnitten andere, noch rätselvollere Laute die Totenruhe in der Zentrale. Der große, zentrale Kommunikationsbildschirm war eingeschaltet. Aber er zeigte nur ein Rechteck aus stählernem Grau, das von Zeit zu Zeit von feuerroten Störungsblitzen durchzuckt wurde. Gonozal stand vor dem Mikrofon und redete. Eine fremde Sprache. Ich kannte nicht einmal Bruchteile dieser bellenden, rauen
Worte. Es schien nicht einmal ein völlig verfremdeter Dialekt irgendeines arkonidischen Hinterwäldlerplaneten zu sein. Gonozal beendete einen langen Satz und schwieg abwartend. Das Rauschen in den Lautsprechern riss ab. Die Antwort kam. Irgendjemand dort draußen zwischen den Sternen antwortete in der gleichen Sprache. Die Geräte waren viel zu laut. Die Zentrale dröhnte unter den bellenden Worten. Wieder antwortete Gonozal dem Unsichtbaren. Der Bildschirm blieb leer, aber die beweglichen Linsen darüber waren eingeschaltet. Wir befanden uns in einem völlig fremden Sektor des Weltraums. Mehrere Zentitontas sprachen Gonozal und der Unsichtbare, dann knackten die Lautsprecher, das Mikrofon wurde ausgeschaltet. Die ISCHTAR trieb auf annähernd geradem Kurs in einem Sternencluster extrem eng stehender Sonnen. Die Situation wurde noch rätselhafter – gefährlich war sie bisher schon gewesen. Die Transitionen hatten uns weiter geführt, als ich vor einer kleinen Ewigkeit noch geahnt oder besser gefürchtet hatte. Je genauer die Feinabstimmung der Strukturfelder war, desto besser ließen sich auch bei Fernsprüngen die Entzerrungsschmerzen ertragen, weil es bis zu einem gewissen Grad zu einer Schockdämpfung kam. Als Folge der Einmannbedienung durch Gonozal konnte davon leider keine Rede sein, zumal viele Aggregate knapp vor der Überlastung arbeiteten. Wieder legte sich Totenstille über den Raum. Weder einer der Besatzungsangehörigen noch ich oder Gonozal regten sich jetzt. Der fremde Bann hatte uns noch immer in der Hand. Bis auf zwei allerdings verhielten wir uns wie desaktivierte Maschinen. Ich hatte aufgegeben, mich zu wehren. Es führte zu nichts, waren nur sinnlose Anstrengungen. Die Ereignisse folgten jetzt langsamer aufeinander. Die Uhr war nicht in meinem Sichtbereich. Ich konnte nur schätzen, wie viel Zeit
vergangen war; vermutlich mehr, als ich mir eingestehen wollte. Ich sah das Bild der Panoramagalerie. Die ISCHTAR trieb in einer Gruppe von riesigen Sonnen. Sie flog unterlichtschnell, es gab keine Festpunkte, an denen ich die Geschwindigkeit abschätzen konnte. Das Leuchten der mindestens neun von hier aus sichtbaren Sonnen überstrahlte den übrigen Sternenhintergrund. In welchem Teil des Weltalls der Öden Insel befanden wir uns hier? Seit Beginn dieser rätselhaften Irrfahrt hatte mich das Entsetzen gepackt und ließ mich nicht mehr los. Ich befand mich in einer eisigen Hülle der Panik gefangen. Zuerst hatte der Schmerz meinen Schrecken zurückgedrängt, ihn unwichtig werden lassen und mich beschäftigt, jetzt kamen Todesfurcht und Angst um die Mannschaft und das Schiff zurück. Und ich kann nichts tun! Absolut nichts! Die Sternriesen hatten, wie nicht anders zu erwarten, verschiedene Farben. Aber das furchtbare Rot, das durch die Bildschirme gefiltert ins Schiff drang, überflutete alles. Die ISCHTAR näherte sich einem Punkt zwischen den Sonnen, in deren Mittelpunkt furchtbare Gewalten herrschen mussten. Gewaltige Energiemengen tobten sich dort aus. Der von vielfarbigem Licht durchflutete Korridor zwischen den Sonnen war jene Zone, in der sich weiche und harte Strahlungen, mehrdimensionale und konventionelle Wellenfronten und alle nur denkbaren Schwerkraftlinien trafen. Langsam kroch die Zeit dahin. Der technische Bereich des Schiffes arbeitete noch immer; es kam nicht zum von mir befürchteten Kollaps. Es gab also für die fünfhundert bewusstlosen Raumfahrer noch immer eine Chance. Aber dieses Glück würde nicht mehr lange anhalten. Die Hypersturmwarnung war eindeutig. Gerieten wir überdies in den Anziehungsbereich einer der Sonnen – und das war so gut wie sicher –, stürzte die ISCHTAR in das hypernukleare Herz
des Sterns. Einziger Trost: Es würde für uns alle ein schneller Tod werden. Langsam und qualvoll summierten sich die Zeiteinheiten. Nichts geschah, alles blieb so erstarrt, wie es war. Wir taumelten dem Schreckenspunkt zwischen den drohenden Riesensonnen entgegen.
18. Die GOLTEIN VII war ein sechzig Meter großer Ultraleichtkreuzer. Kommandant Hegete Normoron gehörte zum technischen Personal der Goltein-Heiler. Er hatte lange Zeit bei der arkonidischen Flotte gedient und sich dann für den Dienst bei den Seelenheilern freistellen lassen. Auf der Panoramagalerie stand die gelbe Sonne; die äußeren Planeten des Teifconth-Systems lagen nach der Rematerialisation bereits weit zurück. »Erbitte Landeerlaubnis für die GOLTEIN SIEBEN.« Im Empfänger knisterte es. Im gleichen Augenblick verschwand die Bildschirmeinblendung. Der Oberkörper eines Goltein-Heilers schälte sich aus den Farbwirbeln. Kommandant Normoron verneigte sich. »Ich grüße Sie, Ehrwürdiger Scoopar.« »Ihr Kommen wurde bereits angekündigt, Normoron. Ich kann es kaum erwarten, den Schüler Solthoron kennenzulernen; seine erste Behandlung soll erfolgreich gewesen sein …« »Er behandelte Zarcov Ma-Anlaan und befreite ihn von den schlechten Geistesanteilen. Doch Solthoron scheint sich nicht an die Regeln der Goltein-Therapie gehalten zu haben, oder er war überfordert. Er kann sich, wie es aussieht, an nichts erinnern. Eine vergleichbare Amnesie wurde auch bei Ma-Anlaan festgestellt. Solthoron muss schnellstens in Ihre Obhut, Tai-Laktrote. Vielleicht können Sie auch einer weiteren Patientin helfen, die wir an Bord haben – sie wurde in Ma-Anlaans Wohnung gefunden, ist aus unbekannten Gründen dem Wahnsinn verfallen. Niemand weiß genau, was dort passiert ist …« Der Goltein-Heiler nickte schwermütig, seine Kopftätowierungen waren deutlich zu erkennen. Kurz darauf sank die GOLTEIN VII dem Landefeld entgegen – an Bord ein Goltein-Schüler, der von sich hätte behaupten können, die Begegnung mit dem Magnortöter Klinsanthor überlebt zu haben. Doch genau das war aus seinem Gedächtnis gelöscht …
Arkon I: 29. Prago des Tedar 10.499 da Ark Endlich konnte Axton die oberen Rundungen einiger Raumschiffe sehen, die hinter einer Bergkette – einem nordöstlichen Ausläufer des Shuluk-Ahaut-Gebirges – auf dem Landefeld des Raumhafens standen. Der Gleiter stieg auf und überwand den Höhenrücken. Axton schaltete das Visifon auf Fernoptik, bis er die Aufschriften an den Schiffen erkennen konnte. Die OZMAN war bereits gelandet, konnte aber noch nicht lange dort sein, denn erst wenige Versorgungs- und Entladegleiter standen am Ende der Bodenrampe. Weitere näherten sich. Beim Raumhafenhauptgebäude stieg ein golden schimmernder Gleiter auf. Axton beachtete ihn nicht, tippte die Rufdaten der Raumhafenkommandantur in das Visifon und wartete ungeduldig darauf, dass diese sich meldete. Einige Augenblicke verstrichen. Kelly landete den Gleiter auf dem Parkdach des Kontrollgebäudes. Dann endlich erschien das Bild eines Offiziers auf der Projektionsfläche. Lebo Axton zeigte seine TRC-Plakette aus Zalos-Metall. »Es geht um zwei Offiziere der OZMAN«, sagte er hastig. »Sie dürfen das Raumschiff auf gar keinen Fall verlassen, bevor ich mit ihnen gesprochen habe.« »Da müssen Sie sich aber beeilen. Einige Orbtonen sind bereits nach Nordwesten unterwegs.« Axton sah es in der Nähe aufblitzen. Erschreckt fuhr er herum. Der golden schimmernde Fluggleiter stürzte brennend ab. Weiße Stichflammen schossen aus seinem Heck. Ein Körper wurde aus dem Wrack geschleudert. Axton verfolgte in ohnmächtigem Zorn, wie die Reste des Gleiters auf dem felsigen Vorgelände aufschlugen und durch eine weitere Explosion vollends zerrissen wurden. »Es geht um die
Orbtonen Staghoug und Praokun.« »Sie waren in dem Gleiter, der … Sie haben es ja gesehen«, antwortete der Kommandant mit gepresster Stimme. Lebo Axton nickte, hatte es bereits geahnt. Gleiter waren das sicherste Verkehrsmittel im arkonidischen Imperium. Unfälle durch Versager waren extrem selten. Wenn ausgerechnet der Gleiter mit den beiden Offizieren abstürzte, die Axton daran hatte hindern wollen, das Raumschiff zu verlassen, konnte kein Unglücksfall vorliegen. Kelly startete und lenkte die Maschine zu dem Wrack. Schon von Weitem sah Axton, dass nichts mehr zu retten war. Die beiden Offiziere waren tot. Daran konnte es keinen Zweifel geben. Deshalb blieb er auch im Gleiter sitzen, als Kelly auf den Felsen gelandet war. Der Roboter stieg aus, umkreiste das brennende Wrack und untersuchte die Leichen der Offiziere flüchtig. »Sie sind beide tot«, teilte er mit, als er zu Axton zurückkehrte.
Der Kommandant der OZMAN war ein kleiner, feingliedriger Mann, dessen Gesicht zahllose Falten aufwies. Er trug das Haar kurz. Als er Axton in seiner luxuriös und mit viel Phantasie eingerichteten Kabine empfing, blickte er ihn nur kurz an. Danach blieben seine Augen stets auf die verschiedenen Kunstgegenstände gerichtet, die an den Wänden hingen oder auf Regalen befestigt waren. Auf seiner weißen Kombination stand der Name Orrostak. Höflich beantwortete er Axton eine Reihe von Fragen, ließ bei seinen Antworten jedoch durchblicken, dass er vom Sinn dieses Verhörs nicht überzeugt war. »Die beiden Männer haben keine Feinde gehabt«, sagte er schließlich. Seine Augen wandten sich dem Verwachsenen für einen kurzen Moment zu. »Niemand hatte ein Motiv, sie zu töten.«
»Wirklich nicht?« »Nach so langer Zeit?« Axton war überrascht, hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt noch keine Gedanken darüber gemacht, wie lange die OZMAN unterwegs gewesen war. »Vielleicht ist das ein wichtiger Punkt. Wie lange war die OZMAN schon nicht mehr auf den Arkonwelten?« Die Lippen des Kommandanten verzogen sich. »Als wir das letzte Mal auf der Kristallwelt waren, hieß der Imperator des Großen Imperiums noch Gonozal.« Axton glaubte, sich verhört zu haben. Er konnte sich zunächst nicht vorstellen, dass es wirklich so war, wie der Kommandant behauptete. Doch dann sagte er sich, dass es Tausende Außenwelten gab, auf denen Arkoniden lebten oder dort geboren wurden, die noch nie im Arkonsystem gewesen waren. Selbstverständlich waren dort auch Raumflotten stationiert, deren Besatzungen durchaus ein Leben lang dort blieben. »Dann waren auch die beiden Getöteten seit dieser Zeit nicht mehr hier?« »Habe ich Ihnen das nicht schon erklärt?« Der Kommandant stand auf. Lebo Axton glitt aus dem Sessel und kletterte auf den Rücken Kellys, stützte sich mit den Ellenbogen auf den Rumpfkörper des Roboters. »Das hatten Sie noch nicht. Ich denke, Sie haben mir dennoch alle Fragen beantwortet.« Der Arkonide griff nach einer zierlichen Vase und drehte sie nachdenklich in den Händen. »Es erbittert mich zutiefst, dass die Kristallwelt zu einer Todesfalle für zwei meiner besten Orbtonen geworden ist, die zudem meine Freunde waren. Dennoch glaube ich nicht, dass sie einem Mordanschlag zum Opfer gefallen sind. Das ist einfach unmöglich. Es muss ein verdammter Zufall gewesen sein.« Damit stellte er die Vase weg, ging zu seiner Multifonanlage und schaltete sie ein.
Schwermütige Musik erfüllte den Raum. Axton verabschiedete sich. Vor der Tür wurde er von zwei Mondträgern erwartet, die ihn wortlos von Bord brachten. Bald würde die Sonne aufgehen. Axton verschränkte die Arme vor der Tonnenbrust und stützte sich auf den Kopf Kellys. Er war ratlos. Bis zum Absturz des Gleiters war er fest davon überzeugt gewesen, dass er einem Mordkomplott auf der Spur war. Der Tod der beiden Offiziere hatte seine Theorie auch noch gestützt, wie es den Anschein gehabt hatte. Doch jetzt sah alles anders aus. Wer konnte schon ein Interesse daran haben, zwei Männer nach so vielen Jahren zu töten? Nein, es konnte keine Gemeinsamkeit unter den Offizieren geben, die mit Perko da Larkyont in Verbindung gestanden hatten. Vor dem Gleiter stieg Axton vom Rücken des Roboters und setzte sich auf einen der hinteren Sitze, während Kelly die Steuerung übernahm. »Wohin, Schätzchen?« »Nach Hause. Ich muss nachdenken. Irgendwo habe ich einen Fehler gemacht. Ich muss herausfinden, welchen.« Die Maschine startete. Unwillkürlich blickte der Terraner zu den Trümmern hinunter, die von einem Robotkommando geborgen wurden. Einige Arkoniden standen dabei und überwachten die Arbeiten. Es waren Kriminalisten, die sich mit dem Fall befassen würden. Axton glaubte, unter ihnen auch Sorgith Artho zu erkennen, den Mann, der eigentlich mit ihm zusammenarbeiten sollte. Der Gleiter erreichte eine Höhe von etwa fünfhundert Metern und bog in den Funkkorridor ein. In diesem Moment schlug etwas gegen das Heck der Maschine. Axton fuhr herum, konnte jedoch nichts erkennen. »Die Antigrav- und Prallfelder fallen aus«, teilte Robot Kelly mit monotoner Stimme mit. »Wir steigen aus.« »Das ist sinnlos, Liebling.«
»Wieso?«, fragte der Verwachsene verblüfft. »Du kannst fliegen.« Der Gleiter taumelte stark. Der Bug neigte sich nach unten, dann schien die Maschine auseinanderzubrechen. »Mein Antigrav ist ebenfalls ausgefallen«, sagte Kelly in einem so freundlichen Tonfall, als ginge es für Axton nicht um Leben oder Tod. Der Terraner warf sich zur Seite und öffnete das Seitenfenster. Der Fahrtwind schlug ihm hart ins Gesicht. Er beugte sich hinaus und blickte nach hinten. Ein Stab von etwa einem Meter Länge hatte sich ins Heck gebohrt. Axton erriet sofort, was geschehen war. In dem Stab befand sich eine komplizierte Maschinerie, die alle Antigravaggregate im Umkreis von etlichen Metern ausschaltete und durch eine spezielle Strahlung so nachhaltig störte, dass sie nicht wieder aktiviert werden konnten. Er riss seinen Thermostrahler unter der Jacke hervor und feuerte auf den Stab. Ein ungeheurer Ruck ging durch den Gleiter. Axton wurde zurückgeschleudert. Mit voller Wucht prallte er gegen das Dach des Gleiters, kämpfte gegen die Benommenheit an. »So tu doch etwas!«, schrie er Kelly zu, doch der Roboter saß völlig ruhig auf seinem Platz und bewegte sich nicht. Erst jetzt bemerkte der Terraner, dass sich etwas entscheidend verändert hatte. Der Gleiter befand sich nicht mehr etwa vierhundert Meter über einer Felslandschaft, sondern in einem scheinbar völlig schwarzen, unwirklichen Raum. In einer unbestimmbaren Entfernung war dieser Raum begrenzt. Axton konnte deutlich eine helle, gezackte Linie sehen, die einen Großteil der Landschaften von Arkon I in sich zu bergen schien. Sie begann irgendwo weit vor dem Bug des Gleiters, zog sich hoch über ihn hinweg und senkte sich hinter ihm irgendwo ins Nichts. Axton fühlte sich schwerelos. Er wusste nicht, wo er war. Die Dimensionen schienen sich
ineinander zu verschieben. Hatte er mit dem Schuss aus dem Strahler auf den »Antigravparalysator« seine eigene Traum-Realitäts-Existenzebene zerstört? Fiel er jetzt zurück in die Traummaschine? Hatte er diese überhaupt je verlassen? War sein Weg bereits zu Ende? War das alles, was er für Atlan hatte tun können? »Nein!«, schrie er voller Verzweiflung. Mit aller Kraft stemmte er sich dagegen, in die Vollprothese zurückzukehren, die sich von der Zeit dieses Arkons aus gesehen in einer fernen Zukunft befand. Er hasste den Robotkörper mit der ganzen Energie, die in seinem missgestalteten Körper steckte. Und er liebte seinen jetzigen Körper, obwohl er mit allen nur denkbaren Nachteilen behaftet war. Aber es war ein lebender und fühlender Körper. Es war der Körper eines Menschen und keine leblose Maschine, die vom letzten Rest seines Ichs, vom Gehirn, gesteuert wurde. Der schwarze Raum schien in sich zusammenstürzen zu wollen. Lebo Axton wusste, dass der Gleiter auf einer stabilen Fläche stand, obwohl niemand und nichts ihm dieses Wissen vermittelt haben konnte. »Kelly«, rief er ächzend. Der Roboter antwortete nicht. Axton stieß ihn mit der Faust an. Kelly rührte sich nicht, war wie erstarrt. Axton spürte, dass er etwas tun musste, rutschte in den Nebensessel und öffnete die Tür. Dann trat er in das schwarze Nichts hinaus, spürte festen Boden unter den Füßen. Verwirrt streckte er die Arme aus. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wo er war. Vorsichtig ging er einige Schritte weit vom Gleiter weg. Als er sich umblickte, erschrak er. Die Maschine war nur noch handgroß und schien Kilometer von ihm entfernt zu sein. Hastig kehrte er zu ihr zurück – sie wuchs unglaublich schnell wieder an. Er vernahm ein eigenartiges Trappeln hinter sich. Nervös fuhr er herum, tastete nach seiner Hüfte, doch die Waffe, die er dort suchte, war nicht da. In aller Eile riss er die
Tür des Gleiters auf, fand den Strahler, nahm ihn und drehte sich erneut um. Ein bizarres, blau schimmerndes Gebilde kroch auf ihn zu. Es erinnerte irgendwie an ein Insekt, obwohl es bestimmt keins war. Unwillkürlich schätzte er es auf eine Größe von mindestens fünfzig Metern. Es verfügte über wenigstens tausend Gliedmaßen, die aus unzähligen, blau leuchtenden Kristallen zusammengesetzt zu sein schienen. Körper und Kopf glichen einem Albtraum. Millionen von Vorsprüngen, Armen, Tastern, Antennen oder Auswüchsen bedeckten es. Das Wesen bewegte sich rasch auf Axton zu. Dabei streckte es ihm einige der armähnlichen Gliedmaßen entgegen. In seiner Panik schoss der Terraner. Das Wesen wurde für Augenblicke in dem grellen Thermostrahl gebadet. Dann schien es in Millionen Einzelteile zu zerplatzen. Ein Wesen, das entfernt an einen Menschen erinnerte, stürzte aus der Höhe herab, hielt etwas in den Armen, was Axton für eine Waffe hielt. Der Terraner schoss abermals. Der Thermostrahl fegte den Fremden aus dem schwarzen Raum. Nur sein blau leuchtender Gürtel fiel Axton taumelnd vor die Füße. Unwillkürlich bückte er sich und nahm ihn auf. Sofort verschwand das rätselhafte schwarze Nichts. Axton befand sich wieder über der Felsenlandschaft am Rand des Raumhafens. Und er stürzte mit ungeheurer Geschwindigkeit in die Tiefe. Der Gleiter befand sich weit über ihm. Axton schrie. Und dann sah er, dass sich die Maschine nach vorn neigte. Durch die Frontscheibe konnte er den Kopf Kellys sehen. Der Roboter lenkte den Gleiter nach unten und beschleunigte voll. Über die Schulter blickte der Verwachsene nach unten. Der Boden näherte sich unfassbar schnell. Schneller aber noch war Kelly bei ihm. Etwa zwanzig Meter über den Felsen schob sich der Bug des Gleiters unter Axton und fing ihn ab. Dann raste die Maschine beängstigend niedrig
über die Felsen dahin. Axton klammerte sich an die Antenne. Seine Blicke waren auf Kelly gerichtet, der mit stoischer Ruhe auf seinem Platz hockte. In seinem Robotergesicht war ohnehin kein Gefühl zu erkennen. Es wäre auch nicht der Fall gewesen, hätte Kelly Gefühle empfinden können. Für Axton dauerte es eine Ewigkeit, bis der Gleiter endlich ruhig über dem Boden schwebte, sich dann langsam senkte und landete. Kelly streckte den Kopf zum Seitenfenster heraus. »Komische Manieren hast du, Schätzchen«, sagte er vorwurfsvoll. »Wenn ich dich nicht zufällig entdeckt hätte, wärst du jetzt ziemlich deformiert. Wie konntest du auch nur auf den Gedanken kommen, da oben einfach auszusteigen?« Axton schnappte nach Luft. Unwillkürlich schlug er mit der Rechten nach Kelly. In dieser Hand hielt er ein dünnes, blau leuchtendes Band. Es klatschte dem Roboter über den Kopf. Blaue Funken schossen krachend aus dem Material. Bestürzt blickte Axton auf das Band in seiner Hand. Es war leicht und geschmeidig – der einzige Beweis dafür, dass in den letzten Zentitontas tatsächlich etwas Unbegreifliches geschehen war. »Wenn du mich damit noch einmal schlägst, Liebster, wirst du mir einen neuen Kopf kaufen müssen«, sagte Kelly. Axton sah, dass der Arkonstahl eine Kerbe aufwies, wo er Kelly getroffen hatte. Staunend ließ er das Band durch seine Finger gleiten. Vergeblich versuchte er, eine Erklärung zu finden. Schließlich steckte er das Band in seine Hosentasche und befahl Kelly, ihn von der Fronthaube des Gleiters herunterzuheben und in die Polster zu setzen. Kelly gehorchte schweigend. »Zur Wohnung. Nein, ich will, dass du den Gleiter erst überprüfst. Ich muss wissen, ob auch wirklich alles in Ordnung ist.« Kelly brauchte eine Dezitonta für eine eingehende Inspektion. Dann stand fest, dass mit der Zerstörung des Stabes alle möglichen Fehlerquellen beseitigt waren.
»Verzeih.« Lebo Axtons linkes Augenlid zuckte. Das war ein deutliches Zeichen dafür, dass er innerlich aufgewühlt war. »Ich hatte nicht die Absicht, dich zu verletzen, Kelly.« Der Roboter fuhr sich in einer absolut menschlich wirkenden Geste mit der Hand über den Kopf. »Ich war bisher noch nicht darüber informiert, dass Arkonstahl mit einem so einfachen Material beschädigt werden kann.« »Gibt es Auswirkungen auf deine Positronik?« Axton beugte sich vor. »Ich meine, einen kleinen Dachschaden hast du schon immer gehabt. Aber wie ist das jetzt? Sind bei dir nun vielleicht schon ein paar Schrauben locker geworden?« »In meinem Gehirn gibt es keine einzige Schraube«, antwortete Kelly mit indigniert klingender Stimme. Axton staunte immer wieder, zu welchen Modulationen Kelly fähig war. »Das war nicht wörtlich, sondern bildlich gemeint.« »Eine sorgfältige Überprüfung aller prüffähigen Einrichtungen hatte ein befriedigendes Ergebnis. Alles ist in einem hervorragenden Zustand. Besonders zu loben ist der Intelligenzsektor, der bei mir außergewöhnlich gut entwickelt ist und allergrößte Hoffnungen …« »Ruhe!«, brüllte Axton. »Du lügst!« »Ja.« Axton blickte Kelly verblüfft an. »Du gibst es zu?« »Ja.« »Warum?« »Ich tue alles, um dir Freude zu machen, Liebling.« Ächzend ließ sich der Terraner in die Polster seines Sessels zurücksinken, schüttelte den Kopf und gab es auf, weitere Fragen zu stellen. Nachdenklich ließ er das blaue Band durch seine Finger gleiten. Es war etwas mehr als einen Meter lang
und ließ sich wie ein Gürtel zusammenstecken. Eine magische Kraft schien von ihm auszugehen, die sich Axton nicht erklären konnte. Welche Kraft wohnte in diesem Gurt, der so aussah, als sei er aus Millionen winziger, blau leuchtender Kristalle zusammengesetzt? Der Terraner hielt ihn sich dicht vor die Augen. Das Band war etwa einen Millimeter dick, etwa zwei Finger breit und wog fast nichts, schien aber von einem geheimnisvollen Leben erfüllt zu sein. Einem spontanen Einfall folgend, schlang Axton sich das Band um die Hüften und steckte es zusammen. Der Gurt war zu weit für ihn, ließ sich aber seltsamerweise zusammenschieben, bis er passte, wobei das zunächst lose Ende sich wie von selbst anschmiegte und dann fest saß. Axton horchte in sich hinein, halb neugierig, halb furchtsam. Veränderte sich etwas in ihm? Zunächst hatte er den Eindruck, aber dann merkte er, dass er sich getäuscht hatte. »Nun, wie findest du mich?« »Ich verstehe nicht. Wieso soll ich dich finden? Ich weiß doch, dass du hier direkt vor mir bist, also brauche ich dich auch nicht zu suchen.« »Wie ich aussehe, will ich wissen!«, brüllte Axton. »Nicht wie ein Arkonide.« »Kelly!« Der Verwachsene zwang sich zur Ruhe. »Siehst du den Gurt? Natürlich siehst du ihn. Ich möchte jetzt von dir wissen, was du …« Das Visifon blinkte. Axton schaltete es selbst ein. Quertan Merantor war der Anrufer und blickte Axton prüfend an. »Ich habe von dem Anschlag auf Sie gehört. Haben Sie eine Spur?« »Noch nicht. Lediglich eine Vermutung.« »Die Organisation Gonozal?« »Da ich mich bemühe, den wahren Charakter dieser Organisation zu erkennen, könnte immerhin etwas aus dieser Richtung gekommen sein. Ich werde Sie unterrichten, sobald
ich etwas mehr in der Hand habe.« »Sie haben noch knapp zwei Tage Zeit. Mehr nicht. Dann muss der Gonozal-Trubel vorbei sein, der von dieser Organisation veranstaltet wird. Ich hoffe, Sie haben mich richtig verstanden, Axton. Der Imperator will nicht mehr länger belästigt werden.« »Das ist zu knapp.« Die Hände Merantors waren ständig in Bewegung, er war hochgradig nervös. Axton zweifelte nicht daran, dass ihm Orbanaschol III. mächtig eingeheizt hatte. »Wenn Sie sich dem Fall nicht gewachsen fühlen, sagen Sie es ruhig. Dann übertrage ich die Aufgabe einem Mann, der sich wenigstens wie ein normaler Arkonide bewegen kann.« »Wenn Sie mir damit wieder einmal zu verstehen geben wollen, dass ich ein Zayna bin, möchte ich Ihnen sagen, dass mir das nichts ausmacht. Meine Fähigkeiten sitzen nicht in den Beinen, sondern im Kopf. Das allein ist wichtig.« In den Augen des Arkoniden blitzte es auf. Merantors Lippen zuckten. »Sollten Sie die Arbeit nicht in der genannten Frist abgeschlossen haben, mache ich Sie fertig. Dann zählen Ihre bisherigen Erfolge überhaupt nichts mehr.« Er schaltete ab. Lebo Axton lächelte, war zufrieden. Die beleidigenden Äußerungen Merantors hatten ihn tatsächlich nicht berührt. Er wusste jetzt, dass die Gonozal-Welle die oberste Führungsschicht Arkons nervös gemacht hatte. Orbanaschol schäumte vor Wut. Und daher reagierte er falsch. Für Atlan konnte die Situation nur gut sein. In den ersten beiden Teilen der ausgestrahlten Gonozal-Trilogie war der Sohn des Imperators in kurzen Szenen zu sehen gewesen. Er hatte eine unbedeutende Rolle gespielt, aber das war unwichtig. Entscheidend war allein, dass die breite Öffentlichkeit Arkons darauf aufmerksam gemacht worden war, dass es diesen Sohn Gonozals gab.
Orbanaschol III. hatte den Tod Atlans mehrfach gefordert. In den maßgeblichen Kreisen war sein Befehl bekannt: »Bringt mir seinen Kopf.« Durch ihn war der Masse nicht bewusst geworden, dass der Kristallprinz einen legalen Anspruch auf die Macht hatte. Nun aber begann man sich zu fragen, wo denn dieser Sohn Gonozals eigentlich war, warum er sich nicht auf Arkon I aufhielt, warum er nicht auf dem Hügel der Weisen lebte. Orbanaschol III. machte die typischen Fehler eines Mannes, der sich schuldig wusste, und der sich in der Defensive befand. Das Türsignal ertönte. »Öffne!«, befahl Axton. Gleichzeitig schob er seine Hand unter die Bluse und umschloss den Griff seines Thermostrahlers. Nach dem letzten Anschlag war er auf alles gefasst. Perko da Larkyont, der Präsident der Organisation Gonozal VIII. trat ein. Mit einem breiten Lachen kam er auf Axton zu. Seine Augen funkelten, als freue er sich wirklich. »Mein Freund Lebo Axton«, rief er und ergriff den Verwachsenen an den Oberarmen, wobei er sich nach vorn beugen musste. »Sie glauben ja gar nicht, wie glücklich ich bin, dass ich Sie hier heil und gesund sehe.« Axton befreite sich mit sanfter Gewalt aus dem Griff. »Schön haben Sie es hier.« Larkyont drehte sich zweimal um sich selbst. »Wirklich schön. Ich beneide Sie, mein Bester, dass Sie in einer solch entzückenden Wohnung leben können.« Er lachte laut und breitete die Arme aus, als sei er dicht davor, vor Freude zu platzen. Seine feisten Wangen glänzten. Er trug eine flammend rote Jacke, die auf der Brust und auf dem Rucken mit dem Namen Gonozal VIII. versehen war und sich stramm über seinem Bauch spannte. Seine Beine steckten in hautengen, leuchtend gelben Hosen. »Was führt Sie zu mir?«, fragte Axton kühl. Der Mann stutzte. Für einen Moment wurde er ernst, dann
aber lachte er schon wieder. »Aber, ich bitte Sie, Axton. Was für eine Frage! Ich komme nur, um mich davon zu überzeugen, dass Sie gesund und unverletzt sind. Ich wäre untröstlich, wäre Ihnen bei dem Attentat etwas passiert.« »Sie wissen also davon?« On-tharg Larkyont nickte, senkte den Kopf und faltete die Hände vor dem Bauch. »Ein Freund befand sich in der Nähe des Raumhafens. Er hat Sie gesehen und erkannt.« Er tat, als sei er zutiefst betrübt über das Geschehene. »Ich werde meine ganze Macht dafür einsetzen, dass die Täter bald gefunden werden.« Er entdeckte zwei Vasen. Sie standen auf einem Schrank vor dem Fenster, kostbare Stücke, die Axton von Avrael Arrkonta geschenkt bekommen hatte. Larkyont streckte die Arme aus, warf den Kopf in den Nacken und rief: »Wie wunderschön! So etwas gibt es heute gar nicht mehr zu kaufen. Woher haben Sie sie?« Er nahm die Vasen auf und warf sie in die Luft, fing sie wieder auf und schleuderte sie erneut bis dicht unter die Decke. Dabei blickte er Lebo Axton an, der erschrocken aus seinem Sessel rutschte. Geschickt fing er die kleinen Kunstwerke wieder auf und wirbelte sie durch die Luft. Er lachte schallend, beendete sein Spiel und stellte die Vasen wieder ab. »Ihr Gesicht war köstlich, Axton«, sagte er mit glucksender Stimme. »Für einen Moment habe ich befürchtet, Sie würden mich erschießen. Aber dann wären die Vasen selbstverständlich kaputt gewesen.« »Selbstverständlich«, erwiderte der Verwachsene abweisend. »Ich habe nicht viel Zeit. Wollen Sie mir nicht endlich erklären, was Sie von mir wollen?« Der Präsident der angeblichen Untergrundorganisation ließ sich in seinen Sessel sinken. »Nichts, was wichtig wäre. Ich möchte Ihnen eigentlich nur sagen, dass die Organisation Gonozal nichts mit dem Anschlag auf Sie zu tun hat.«
»Wie kommen Sie auf einen solchen Gedanken?« »Für Sie liegt es doch nahe, nicht wahr? Sie waren bei uns und haben ein paar Fragen gestellt. Jetzt könnten Sie meinen, uns wäre das unangenehm gewesen. Wer sind Sie, Axton? Für wen arbeiten Sie? Behörde für Inneres? Geheimdienst? Oder …?« Er legte den Kopf schief, als erwarte er, dass der Verwachsene darauf antworten würde. Dann lachte er jovial, erhob sich und klopfte Axton auf die Schulter. »Na ja, Sie dürfen natürlich nichts sagen. Das ist ja klar.« Er ging zur Tür und winkte Axton breit lachend zu. »Ich würde mich freuen, Sie bald wiederzusehen.« Er verließ die Wohnung. Axton blickte nachdenklich auf die Tür. War Larkyont wirklich nur gekommen, um diese überflüssigen Fragen zu stellen? Hatte er sich nur wichtig machen wollen? Axton versuchte, die Begegnung mit Larkyont zu rekonstruieren. Hatte der Präsident irgendwo einen Fehler gemacht? War irgendwann die Maske durchsichtig geworden, die er sich angelegt hatte? Oder war Larkyont tatsächlich der harmlose Mann, der er vorgab zu sein?
Als Lebo Axton gegen Abend seine Wohnung verließ, trat ihm Sorgith Artho entgegen. Der Mann, der ihm als Mitarbeiter zugeteilt worden war, blickte den Verwachsenen hochmütig an. Ohne ein Wort der Begrüßung fragte der Arkonide: »Wohin wollen Sie?« Axton, der neben Kelly stand, gab sich unbeeindruckt. »Ist das wichtig für Sie?« Er machte sich auf den Weg zu den öffentlichen Nischen des Gebäudes, in denen Taxigleiter parkten. Seinen eigenen Gleiter hatte er einem Reparaturdienst zur genauen Prüfung übergeben. »Allerdings. Ich habe Anspruch darauf, von Ihnen informiert zu werden. Was haben Sie über die Organisation Gonozal
herausgefunden?« »Fragen Sie Merantor. Er wird es Ihnen sagen. Was haben Sie mir mitzuteilen?« »Nichts«, entgegnete der Arkonide abweisend. Kelly öffnete eine Tür, die zu einer Parknische führte. Ohne Artho noch länger zu beachten, stieg Axton in den Gleiter. Der Arkonide blickte ihn mit flammenden Augen an. Aus ihnen schlug dem Kriminalisten abgrundtiefer Hass entgegen. Axton erkannte, dass Artho ihn vernichten würde, sobald er die Gelegenheit dazu hatte. Sollte er direkt auf eine gefährliche Auseinandersetzung hinspielen? Damit wäre nichts erreicht gewesen. Er musste den Arkoniden auf jeden Fall abschütteln, da er sonst nicht frei und für Atlan arbeiten konnte, doch es war besser, wenn er selbst den Zeitpunkt der Entscheidung bestimmen konnte. Artho ging um den Gleiter und setzte sich auf den Nebensitz. »Ich werde Sie begleiten.« »Wenn Sie unbedingt wollen, werde ich Sie nicht daran hindern«, erwiderte Axton gelassen. Er gab Kelly ein Zeichen, der Roboter startete. »Was haben Sie vor?« »Wir fliegen zur Wohnung von Larkyont. Wir müssen mehr über diesen Mann wissen. Deshalb habe ich mich entschlossen, einige Geräte in seiner Wohnung unterzubringen, die uns Informationen liefern sollen.« Artho nickte. Seine Wangenmuskeln zuckten. »Sie glauben also, dass er ein Mann ist, den wir unbedingt beachten müssen.« »So ist es.« Artho lachte lautlos. »Haben Sie schon einmal seinen Mitarbeiter, Sonnenträger Ukosthan, genauer in Augenschein genommen?« »Am Rande habe ich mich mit ihm beschäftigt.«
»Ich behaupte, dass er der tatsächliche Kopf der Organisation ist. Er ist ein mehrfacher Mörder.« »Warum?« »Weil er ein Gonozal-Fanatiker ist. Er hat sich entschieden geweigert, für Imperator Orbanaschol zu arbeiten. Er hat den Verlust seiner gesellschaftlichen Privilegien, seines Ansehens und den eines beträchtlichen Vermögens in Kauf genommen, nur, um nicht Orbanaschol dienen zu müssen.« »Hat er das?« Axton fragte gleichmütig, so als interessiere ihn Ukosthan nicht im Mindesten. Tatsächlich nötigte ihm die Haltung des Sonnenträgers höchsten Respekt ab. Ukosthan hatte mehr gewagt, als Artho aufgezählt hatte. Er hatte auch sein Leben und das seiner Familie riskiert, da Orbanaschol III. wenig zimperlich mit seinen Gegnern umging. Das Trichtergebäude, in dem Perko da Larkyont seine Wohnung hatte, kam näher. Es war ein Bauwerk mit einer Höhe von etwa fünfhundert Metern und einem oberen Durchmesser von etwa zweihundertsiebzig Metern. Damit war es groß genug, eine Kleinstadt terranischer Art aufzunehmen. Kelly landete auf einer Parkfläche inmitten einer üppig blühenden Kunstlandschaft auf dem Ringdach des Trichters. Hier befanden sich zahlreiche Freiluftrestaurants und Vergnügungsstätten. Gleiter landeten und starteten in pausenlosem Wechsel. »Der Präsident der Organisation Gonozal hat eine Wohnung im zwölften Segment«, sagte Axton. »Ich habe bereits Messungen vornehmen lassen. Die Wohnung wurde mit ungewöhnlichem Aufwand gegen Einbruch und Observation abgesichert.« »Wissen Sie schon, wie Sie eindringen können?« »Ich habe gewisse Vorstellungen.« »Welche?« Der Verwachsene zögerte. Es behagte ihm nicht, dass Artho
bei ihm war. Er hätte lieber allein gearbeitet, da er sich noch nicht klar darüber war, wie er den Arkoniden in seinen Plan einbauen sollte, ohne damit gleichzeitig ein Risiko für sich zu schaffen. Jetzt bereute er, dass er Artho mitgenommen hatte. »Welche, Axton? Oder wollen Sie es mir nicht sagen?« »Also schön. Es gibt eine schwache Stelle in dem Absicherungssystem. Das ist der Abfallschacht mit seinen Desintegratoren.« Der Arkonide blickte ihn fassungslos an. »Wollen Sie damit ausdrücken, dass Sie planen, durch den Abfallschacht in die Wohnung Larkyonts zu kommen? Das wäre Selbstmord.« »Normalerweise ist das richtig.« »Das ist immer richtig. Die Desintegratoren sind so geschaltet, dass sie automatisch ansprechen, sobald etwas in den Abfallschacht geworfen wird und dabei die Sensoren passiert. Sie sind zentral gesteuert und können nicht einzeln ausgeschaltet werden. Wie also wollen Sie das schaffen?« Das war es wieder. Jetzt blieb Axton nichts anderes übrig, als dem Arkoniden zu erklären, dass er über einige Mikrogeräte verfüge, mit denen er die Sensoren irritieren konnte. Im Großen Imperium dieser Zeit waren derartige Einrichtungen völlig unbekannt. Als USO-Spezialist war er jedoch so gut mit ihnen vertraut, dass es ihm gelungen war, einige Mikrogeräte nachzubauen. Er hatte sie im Desintegratorschacht seiner Wohnung getestet. Sie arbeiteten einwandfrei. »Nun, es gibt gewisse Möglichkeiten«, erwiderte der Verwachsene zögernd. »Wir werden uns später eingehend darüber unterhalten.« Axton verließ den Gleiter, kletterte auf den Rücken des Roboters und ließ sich zu einem der nach unten führenden Antigravschächte bringen. Artho folgte ihm. Der Arkonide war nicht nur eifersüchtig, sondern auch argwöhnisch. Er neidete Axton die Erfolge und vermutete nun, dass gewisse Dinge im
Spiel waren, über die selbst Merantor nicht informiert war. Lebo Axton spürte die Gefahr. In seinem Hinterkopf schien sich etwas zu verkrampfen. Im Antigravschacht schwebten sie nach unten, bis sie die Etage, die über der Wohnung von Perko da Larkyont lag, erreicht hatten. Axton setzte ein positronisches Spezialgerät an die Verriegelung einer Tür. Lautlos glitt diese zur Seite. Der Verwachsene betrat einen Raum, in dem fast klinische Ordnung und Sauberkeit herrschten. »Unter uns befindet sich die Wohnung Larkyonts. Diese Wohnung hier wird zurzeit nicht benutzt.« Axton löste einen flachen Kasten vom Rücken des Roboters und legte ihn auf den Boden. Als er ihn aufklappte, konnte Artho verschiedene Messinstrumente sehen. Axton nahm eine Sonde heraus und schritt damit hin und her. Die Zeiger der Messinstrumente schlugen aus. Immer wieder. »Sehen Sie? Ein Netz von Sicherheits- und Alarmeinrichtungen durchzieht die Decke. Niemand könnte durch sie hindurchstoßen und so nach unten gelangen, ohne einen Alarm auszulösen.« Dann öffnete er den Abfallschacht, der in regelmäßigen Abständen mit Desintegratoren versehen war. Die Einwurfklappen waren so klein, dass Axton nicht hindurchkriechen konnte. Deshalb vergrößerte er sie kurzerhand mit seinem Desintegrator. Artho beobachtete ihn schweigend. Aus dem Ovalkörper Kellys holte Axton schließlich ein Stahlseil hervor, das am Ende mit einer Schlaufe versehen war. Der Roboter hängte es in den Schacht, nachdem Axton einen Teil seiner Gerätschaften an einem Faden an den Sensoren vorbeigelenkt hatte. Nun kletterte der Verwachsene mit der Hilfe Kellys in den Schacht, stellte einen Fuß in die Schlaufe und ließ sich von dem Roboter abseilen. Lautlos trat Artho zurück, als Axton verschwunden war. Kelly beachtete ihn nicht, fuhr erst herum, als der Arkonide die Wohnung verließ. Doch da war es schon zu spät. Er konnte das
Seil nicht loslassen, ohne Axton zu gefährden. Er beugte sich vor, streckte den Kopf in den Schacht und rief mit gedämpfter Stimme: »Liebling?« »Sei still, du Satan«, antwortete Axton wütend. »Verschwinde da oben.« »Schätzchen, ich muss dir etwas sagen.« »Verschwinde, Kelly. Das ist ein Befehl.« Der Roboter gehorchte. Er stellte fest, dass das Seil in seinen Händen bebte, und zog daraus den richtigen Schluss, dass Lebo Axton vor Wut am ganzen Leibe zitterte. Tatsächlich war der Terraner außer sich vor Zorn. Nur eine dünne Metallklappe trennte ihn von der Wohnung Perko da Larkyonts. Dazu stand diese Klappe noch etwas offen. Der Präsident der Organisation Gonozal VIII. aber betrat gerade in diesem Moment seine Wohnung. Damit hatte Axton nicht gerechnet, denn nach den Informationen, die er hatte, sollte Larkyont zu dieser Tonta weit von hier entfernt an einer Konferenz teilnehmen. Irgendetwas Unerwartetes musste eingetreten sein und ihn dazu veranlasst haben, zurückzukommen. Jeder Laut konnte ihn darauf aufmerksam machen, dass etwas nicht in Ordnung war. Und Axton war sich darüber klar, dass es sein sofortiger Tod sein konnte, sollte Larkyont ihn im Schacht entdecken. Seine Hand krallte sich um die Pistole, die er unter der Jacke versteckt hielt. In ihr steckten die winzigen Pfeile, die mit Mikrofonen ausgestattet waren. Sein Plan war gewesen, sie aus dem Schacht heraus zu verschießen. Das war unter den gegebenen Umständen nicht mehr möglich, da sie nicht ohne Geräusch abgefeuert werden konnten. Er wagte es auch nicht, die Klappe weiter zu öffnen, da Larkyont dann auf ihn aufmerksam werden musste. Und er fürchtete sich davor, dass der Arkonide irgendetwas wegwerfen wollte. Dennoch entschloss er sich nicht dazu, sich
wieder nach oben ziehen zu lassen. Er hoffte, dass sich doch noch eine Chance ergeben würde, den Plan zu vollenden. Er schloss die Augen und konzentrierte sich voll auf die Geräusche. Überrascht stellte er fest, dass der Türsummer anschlug. Larkyont ging zur Tür und öffnete, nachdem er eine Videokontrolle durchgeführt hatte. Vorsichtig schob Axton die Klappe weiter auf, sodass er sehen konnte, was an der Tür vorging. Der Atem stockte ihm, als er sah, wer bei Larkyont eintrat. Es war niemand anders als Sorgith Artho! Lebo Axton spürte stechende Schmerzen im Hinterkopf. Sie wurden für einige Augenblicke so heftig, dass er aufstöhnte. Dann verschwanden sie wieder. Axton aber vergaß sie nicht. Für ihn war die Gefahr, in der er schwebte, körperlich fühlbar geworden. Perko da Larkyont schien nicht weniger überrascht zu sein als Axton. »Was führt Sie zu mir?« Artho antwortete nicht. »Wer sind Sie denn überhaupt?« Artho zeigte ihm seine TRC-Plakette. »Und was wollen Sie?« Artho antwortete noch immer nicht, ging zu einem Sessel und setzte sich. Er saß so, dass sein Gesicht der Klappe zum Abfallschacht zugewandt war. Axton hatte diese so weit geschlossen, dass er beide Männer durch einen winzigen Spalt sehen konnte. Larkyont ließ sich ebenfalls in einen Sessel sinken, wandte Axton aber den Rücken zu. »Sie sind Präsident der Organisation Gonozal und haben sich dadurch eindeutig zu einer Politik bekannt, die auf den Sturz Orbanaschols hinarbeitet«, sagte Artho. »Sie sind verrückt. Alle Welt weiß, dass diese Organisation nicht ernst zu nehmen ist. Sie ist eine Einrichtung, die ein paar Schwärmer und ewig Gestrige zusammenfasst. Mehr nicht.« »Wenigstens drei Männer sind gestorben, die in irgendeiner Weise Verbindung mit Ihrer Organisation hatten, Larkyont –
der Student Dastruk sowie die Orbtonen Staghoug und Praokun. Wir haben herausgefunden, dass die beiden Offiziere der OZMAN unmittelbar nach der Ankunft im Arkonsystem über Visifon mit Ihnen gesprochen haben.« »Das ist richtig. Aber die beiden sind Opfer eines Verkehrsunfalls geworden. Damit habe ich nichts zu tun.« »Ich bin zu einem anderen Schluss gekommen. Es war kaltblütiger Mord!« Larkyont wollte aufspringen, doch Artho hielt plötzlich einen flachen Energiestrahler in der Rechten, den er unter seiner Kombination verborgen gehabt hatte. »Bleiben Sie sitzen.« Axton fragte sich, was Artho wirklich wollte. Er glaubte nicht daran, dass Artho den Präsidenten erschießen wollte. Das wäre völlig widersinnig gewesen, denn damit hätte er sich und der TGC alle weiteren Schritte verbaut. Das hat er schon jetzt, sagte sich Axton. Im gleichen Moment begriff er, was Artho tatsächlich plante, ließ die Sicherung seiner Spezialwaffe umspringen, stieß die Klappe auf und hatte nun freie Sicht auf Artho. Wie erwartet zielte dieser nicht auf Perko Larkyont, sondern auf ihn. Lebo Axton schrie auf. »Kelly!« Gleichzeitig schoss er. Doch zu seiner maßlosen Überraschung funktionierte die Waffe nicht. Larkyont sprang auf, schlug Arthos Waffe zur Seite und rannte auf die Tür zu. Artho kümmerte sich nicht um ihn, sondern richtete seinen Strahler wieder auf Axton. Dieser befand sich noch immer an der gleichen Stelle. Seine rechte Hand und die Spezialwaffe wurden von einem blauen Leuchten umwabert, das seine Finger weitgehend lähmte. Er wollte Artho töten, aber er konnte nicht. Der Arkonide war so überrascht, dass er nicht feuerte. Kelly erkannte, dass sich der Kriminalist in höchster Gefahr befand, und riss ihn mit fast brutaler Gewalt nach oben. Als
Artho den Thermostrahler endlich auslöste, war Axton bereits aus dem Schacht heraus. Kelly packte ihn und floh mit ihm. Er war noch keine zwei Meter weit gekommen, als es sonnenhell hinter ihnen aufleuchtete und eine schier unerträgliche Hitzewelle aus dem Abfallschacht schlug. Da der Roboter den Verwachsenen mit seinem Körper abdeckte, spürte dieser kaum etwas davon. »Zurück zum Gleiter!«, befahl Axton. Kelly stürmte aus der Wohnung, rannte zwei Arkoniden um, die vor der Tür standen. Mit weit ausgreifenden Schritten lief er zum Antigravschacht. Bevor sie nach oben schwebten, sah Axton Artho aus einem anderen Schacht steigen. Der Arkonide eilte auf die Wohnung zu, die sie vor Augenblicken erst verlassen hatten. Er schien die Blicke Axtons zu spüren, denn er wandte ihm das Gesicht zu. Der Terraner sah nur noch, dass der Arkonide stehen blieb, dann entschwand er aus seinem Sichtbereich. »Schneller, Kelly«, rief der Kosmokriminalist. Der Roboter hob ihn über die Schulter hinweg, sodass Axton sich mit einiger Mühe in die Halterungen stellen konnte. Zugleich schaltete er das eigene Flugaggregat an, sodass sie mit dreifacher Geschwindigkeit in dem Schacht nach oben jagten. Als sie die Dachterrasse erreichten, blickte Axton nach unten, beobachtete, dass nun auch Artho den Weg nach oben angetreten hatte. »Zum Gleiter.« Sie verließen den gläsernen Vorbau des Antigravschachtes. Hier herrschte lebhafter Verkehr. Die Restaurants waren bis auf den letzten Platz gefüllt. Auf den Wegen flanierten junge Arkoniden mit ihren Frauen oder Freundinnen. »Nicht zu schnell, Kelly. Wir wollen nicht mehr auffallen als unbedingt notwendig.« Viele Arkoniden blieben stehen, als sie den Roboter mit dem Verwachsenen auf dem Rücken bemerkten. Einige gefielen sich in abfälligen Witzen, andere drehten sich scheu weg. Arkoniden hatten eine seltsame Einstellung zu körperlich
Behinderten, die nicht in die von ihnen errichtete Welt der galaxisweiten Macht, der Schönheit, der Illusionen und der vermeintlichen Vollkommenheit passen wollten. Axton beachtete sie nicht, beobachtete vielmehr den Ausgang des Antigravschachts. Jeden Moment musste dort Artho auftauchen. Kurz bevor Kelly den Taxigleiter erreichte, erschien der Erwartete tatsächlich, rannte geduckt aus dem Glasbau. In der rechten Hand hielt er den Strahler. »Er hat den Verstand verloren«, sagte Axton. »Er weiß nicht mehr, was er tut.« Seltsamerweise erregte Artho kaum Aufsehen, obwohl er quer über die Beete und Parkanlagen stürmte. Als Kelly die Tür des Gleiters öffnete, hob Axton den Arm. »Achtung! Wir schaffen es nicht mehr.« Kelly sprang zur Seite. Ein sonnenheller Strahl zuckte über ihn hinweg. Die Männer und Frauen auf dem Dach schrien in panischer Angst auf. Jetzt erst merkten sie, was gespielt wurde. Axton hob die Spezialwaffe, mit der er die Mikropfeile verschießen konnte, zielte und wollte abdrücken. Doch wiederum hüllte ein blaues Leuchten die Waffe ein. Bestürzt blickte er auf seine Hand. Dabei fiel ihm auf, dass das seltsame Licht von seinem Gürtel ausgestrahlt wurde. Kelly duckte sich so plötzlich, dass Axton fast von seinem Rücken gefallen wäre. Wiederum fuhr ein Thermostrahl fauchend über ihn hinweg. Jetzt aber war Artho schon wesentlich näher. »Spring runter!« Axton klammerte sich mit ganzer Kraft an den Roboter. Dieser fuhr herum und schnellte sich mit mächtigen Sätzen bis an den Rand der Dachterrasse. Als er sie erreicht hatte, warf er sich kopfüber darüber hinweg. Wiederum feuerte Artho, aber auch dieses Mal hatte er nicht genau gezielt. Axton stürzte auf dem Rücken Kellys in die Tiefe, hörte die entsetzten Schreie der Männer und Frauen auf dem Dach. Vorsichtig drehte er sich so weit um, dass er nach oben
sehen konnte. Ein Gleiter startete. Axton wusste, dass ihm Artho auf den Fersen war. Dem Arkoniden blieb nun keine andere Möglichkeit mehr, als die Jagd bis zu ihrem tödlichen Ende fortzuführen. Axton richtete die Spezialwaffe nach vorn und drückte ab. Er vernahm einen dumpfen Knall, als der erste Pfeil aus der Mündung schoss. Nichts behinderte ihn. Als Kelly nur noch hundert Meter über dem Boden war, schaltete er das Flugaggregat ein und fing sich sanft ab, schwebte zusammen mit Axton hinab und landete erschütterungsfrei. Der Terraner schloss die Augen und konzentrierte sich einige Augenblicke lang. Als er die Augen wieder öffnete, war die Dämmerung wie weggeflogen – zumal es im Zentrum von Thantur-Lok angesichts der Sternenfülle ohnehin keine echte Nacht auf den Arkonwelten gab. Axton konnte den Trichterbau und die Gleiter, die sich davon in alle Richtungen entfernten, deutlich erkennen. Wieder staunte er über die in ihm erwachte Fähigkeit der Nachsichtigkeit, die über Jahrhunderte in seinem Sonderhirn geschlummert hatte. Ein Gleiter flog steil in die Tiefe, näherte sich ihm jedoch nicht, sondern flog einen weiter entfernten Punkt an. Axton zweifelte keinen Augenblick daran, dass Artho am Steuer saß. Axton lächelte. Der Arkonide hatte nur minimale Chancen, ihn zu finden. Axton legte Kelly die Hand auf den Kopf. »Los, Alter, wir verschwinden von hier, bevor Artho uns vielleicht doch noch aufspürt. Aber vorsichtig, damit wir nicht auffallen.« Artho flog jetzt in einer Höhe von etwa fünfzig Metern, suchte einen Bezirk ab, der von dem Zylindersockel des Trichterbaus bis in eine Entfernung von etwa hundert Metern reichte. Dabei hatte er die Scheinwerfer auf den Boden gerichtet, sodass helle Lichtkreise über den Boden wanderten. Plötzlich schien er etwas bemerkt zu haben. Axton näherte sich
einem Wäldchen. Der Gleiter schwenkte herum und jagte direkt auf den Verwachsenen zu. Kelly reagierte prompt. Mit wenigen schnellen Sätzen erreichte er den Wald und versteckte sich hinter einem dicken Baumstamm. Augenblicke später schwebte der Gleiter über sie hinweg, doch das Licht reichte nur durch das Blätterdach hindurch bis auf den Boden. Axton blieb im Schatten, schloss die Augen, um nicht geblendet zu werden. Artho kehrte wenig später noch einmal zurück, drückte die Maschine tiefer herab und leuchtete in den Wald hinein, ohne Axton dabei allerdings zu entdecken. Dann stieg der Gleiter wieder auf und flog mit starker Beschleunigung davon. Axton blickte ihm nachdenklich nach, griff nach seiner Spezialwaffe und feuerte sie mehrfach ab. Nichts behinderte ihn dabei. »Das verstehe, wer will«, sagte er verwirrt. »Wieso konnte ich den Arkoniden nicht töten?« »Ich habe keine Antwort darauf.« »Du musst aber eine haben, verdammt. Du hast eine angeblich absolut logisch denkende Positronik. Darin muss eine Information enthalten sein. Kannst du mir nicht wenigstens einen Tipp geben?« »Nein, Gebieter, das blaue Leuchten kann ich nicht erklären. Es kam von deinem Gürtel. Dieser stammt, wie du behauptet hast, nicht aus dieser Dimension. Du hast ihn in einem Raum gefunden, der zu einem anderen Kontinuum gehört. So hast du jedenfalls gesagt. Meine Logik aber bezieht sich auf dieses Kontinuum. Daher lassen sich nur Fragen beantworten, die mit diesem Kontinuum zu tun haben.« »Wieso sagtest du Gebieter zu mir? Hast du vielleicht doch einen Dachschaden?« »Es war ein Versuch, Liebling. Ich wollte wissen, ob man dir schmeicheln kann.« »Sei still, du Blechbestie. Kein Wort mehr.« Kelly gehorchte.
Schweigend setzte er seinen Weg fort, marschierte mit Axton auf dem Rücken durch den Wald. »Das dauert mir zu lange«, sagte der Terraner endlich. »Nimm den Antigrav und bring mich zur Wohnung.« Der Roboter stieg auf. In niedriger Höhe flog er über das Land. Als er sich dem Trichterbau mit Axtons Wohnung näherte, konzentrierte sich dieser wieder und schaltete auf Nachtsichtigkeit um. Sorgfältig suchte er die Umgebung des Wohntrichters ab. Erst als er sicher war, dass sich Artho nicht in der Nähe versteckt hielt, ließ er den Roboter bis zu der Nische aufsteigen, in der sonst sein Gleiter parkte. Sie war leer. Bevor Axton die Wohnung betrat, befahl er Kelly, alle Sicherheitstests durchzuführen. Er hatte eine Reihe von Ortungsgeräten in den Ovalkörper des Roboters eingebaut, sodass er nun feststellen konnte, dass sich niemand in seiner Wohnung aufhielt und dass sich auch niemand an den Türen zu schaffen gemacht hatte. Axton fühlte sich jedoch erst wirklich sicher, als er die Wohnung betreten hatte. Aufatmend legte er die Jacke zur Seite. Dann wollte er den blau schimmernden Kristallgürtel von den Hüften lösen, doch der Verschluss öffnete sich nicht. Der Terraner erschrak. Nervös versuchte er es mit Gewalt, doch auch damit hatte er keinen Erfolg. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Er machte sich heftige Vorwürfe, weil er sich den Gurt überhaupt angelegt hatte. Er zwang sich zur Ruhe, untersuchte das schimmernde Band und glaubte endlich, herausgefunden zu haben, wie es sich abstreifen ließ. Aber er irrte sich. Jetzt zerrte er sich das Hemd vom Körper, streifte Stiefel und Hose ab und versuchte, den Gürtel über die Hüften hinabzuschieben. Umsonst. Das blaue Leuchten schmiegte sich weich und kaum fühlbar an seine Haut. Wie ein lebendes Wesen presste es sich an ihn und ließ sich nicht mehr entfernen. Aufstöhnend sank Axton in einen Sessel.
Das Ruflicht am Visifon blinkte. »Einschalten!«, befahl Axton. Kelly gehorchte. Die Projektionsfläche erhellte sich, das Gesicht von Artho erschien. »Axton«, sagte der Arkonide atemlos. »Was, um alles in der Welt, ist passiert?« »Das frage ich Sie. Was ist in Sie gefahren? Haben Sie den Verstand verloren?« Der Arkonide schüttelte den Kopf und blickte Axton an, als habe dieser eine völlig abwegige Frage gestellt. »Ich fürchte, hier liegt ein Missverständnis vor.« Der erfahrene Kosmokriminologe durchschaute ihn. Arthos Mordplan war fehlgeschlagen. Nun konnte er nicht mehr behaupten, alles sei nur ein Versehen gewesen. Jetzt stand der Arkonide mit dem Rücken an der Wand. Er musste kämpfen, um seinen Kopf zu retten. Und er versuchte es mit einem Bluff. Der Terraner seinerseits war geschickt genug, darauf einzugehen. Er gab jedoch vor, Artho nicht von vornherein zu glauben, um dessen Argwohn nicht zu steigern, sondern allmählich einzuschläfern. »Ein Missverständnis? Ich denke, die Situation war eindeutig. Warum sind Sie nicht bei meinem Roboter geblieben?« »Jemand hat sich an der Tür zu schaffen gemacht. Ich bin zur Tür gegangen, um nachzusehen. Als ich sie öffnete, sah ich einen Mann flüchten. Ich bin ihm gefolgt. Er lief in die Wohnung von Larkyont.« Lebo Axton war keineswegs überrascht. Dies und nichts anderes hatte er erwartet. »Das ist allerdings verständlich.« »Ich drang in die Wohnung Larkyonts ein und bemerkte ein eigenartiges bläuliches Leuchten, das aus dem Abfallschacht kam. Für mich stand fest, dass Ihr Vorhaben fehlgeschlagen war. Und dann entdeckte ich ein grauenvolles blaues Gesicht
einer nicht arkonidischen Kreatur. Zunächst war ich wie gelähmt vor Entsetzen. Danach schoss ich, aber dieses Wesen entkam. Ich verfolgte es bis aufs Dach und konnte gerade noch sehen, dass es sich in die Tiefe stürzte. Das ist alles.« »Aha«, machte Axton. Artho biss sich auf die Lippen. Sein ohnehin schmales Gesicht wurde noch kantiger. »Um ehrlich zu sein, Axton. Ich habe nicht damit gerechnet, dass Sie noch leben. Ich war überzeugt davon, dass Sie von dieser fremdartigen blauen Bestie getötet wurden.« »Eine seltsame Geschichte. Ich werde darüber nachdenken.« »Ich habe nicht nur angerufen, um mir sozusagen letzte Gewissheit zu verschaffen.« »Sondern?« »Ich habe soeben erfahren, dass ein Geheimtreffen mehrerer hochgestellter Persönlichkeiten mit wichtigen Vertretern der Organisation Gonozal bevorsteht. Es kann uns Aufschlüsse über einige noch offene Fragen geben.« Axton hatte Mühe, absolut ernst zu bleiben. Auch diese Behauptung Arthos hatte er erwartet. Er fragte sich, für wie unbedarft der Arkonide ihn hielt. Artho wollte ihn aus der Wohnung und in eine Falle locken. »Wo?« Der Arkonide nannte ihm die Adresse. Das Treffen sollte angeblich auf der Dachterrasse eines Trichterbaues in der Nähe stattfinden. »Wann?« »Zur zweiten Tonta.« »Ich werde da sein. Wo treffen wir uns?« »Am besten direkt auf der Dachterrasse. Es gibt dort einen auffälligen Obelisken, der als Treffpunkt gut geeignet ist.« »Gut. Ich danke Ihnen.« Axton schaltete ab, blickte auf seine Uhr. Es war fast Mitternacht. Die Zeit war denkbar ungünstig, doch da er das Spiel einmal begonnen hatte, blieb ihm keine andere Wahl mehr, als es auch zu Ende zu führen. Er stand auf
und kleidete sich wieder an. Dann steckte er den Thermostrahler in die Jacke und stieg auf den Rücken Kellys. Wenig später saß er in einem Taxigleiter.
19. Die Stille ist tödlich. Die Gedanken verwirren sich. Aus dem gasartig leuchtenden Raum zwischen den vielfarbigen Sonnen schiebt sich eine neue Vision. Der Verstand wird so lange gefoltert, dass sich die Gedanken in Halluzinationen flüchten. Das kann keine Wirklichkeit sein. Das ist der Versuch des Verstandes, angestiftet vom Extrasinn, sich zu beschäftigen, um nicht geschädigt zu werden. Die Vision wird deutlicher, ergibt ein in neun verschiedenen Farben funkelndes und leuchtendes Bild. Eine technische Vision. Der Gedanke nimmt mehr und mehr Gestalt an. Es ist nur ein kleiner Punkt. Er kommt näher, schiebt sich auf das Schiff zu, kommt aus dem gefährlichen Loch zwischen den Sonnen. Der Punkt wird größer. Die Vision wird immer deutlicher und zeigt dem winzigen Rest des normalen Verstandes, wie gefährlich nahe der Moment ist, in dem der Wahnsinn ausbrechen würde. Die Schirme zeigen es deutlich. Der verwirrte Verstand beginnt, aus dem Nukleus der Vision ein diffizil wirkendes Objekt zu gestalten. Eine riesige Scheibe. Auf der Unterseite dieser Scheibe – Unten und oben werden durch die relative Lage der ISCHTAR bestimmt – wachsen gitterähnliche und chromfunkelnde Konstruktionen in den Raum. Sie wirken wie Antennen. Sendeantennen oder solche, die in der Lage sind, gewaltige Energiemengen anzuzapfen. Oder sich dagegen zu schützen. Die Scheibe kommt näher und wird deutlicher. Immer mehr Einzelheiten enthüllen sich. Die Vision bleibt erstaunlich lange stabil. Oder ist es vielleicht gar keine Reaktion des zitternden, hochgespannten Verstandes? Über der Oberseite dieser gewaltigen Scheibe – sie mag zehnmal so groß sein wie das Schiff! – spannt sich ein annähernd halbkugeliger Schirm. Eine Energiekuppel, auf der sich die stechenden Leuchterscheinungen der Sonnen spiegeln. Die ISCHTAR und die überkuppelte Scheibe driften ohne jeden sichtbaren Energieausstoß direkt aufeinander zu. Sie befinden sich
eindeutig auf Kollisionskurs. In diesem Augenblick beginne ich zu begreifen, dass es keine Vision ist. Nein. Es ist real. Etwas geschieht mit uns, sagte der Extrasinn eindringlich. Ich versuchte, meinen verschwimmenden Blick auf das seltsame, unbekannte Objekt zu richten. Es wurde unablässig größer und deutlicher, behielt ebenso wie das Schiff seinen Kurs bei. Eine winzige Bewegung lenkte mich vom Vergrößerungsausschnitt der Panoramagalerie ab. Gonozal hatte sich gerührt. Er war bisher regungslos wie eine Statue vor die Kontrollen gefesselt gewesen. Nicht einer seiner Muskeln hatte sich bewegt, nachdem er seine seltsame Funkunterhaltung beendet hatte. Aber jetzt ging er langsam und steif rückwärts durch die Zentrale. Dabei trat er nicht ein einziges Mal auf einen der daliegenden Raumfahrer. Aber er drehte sich auch nicht um. Er wurde dirigiert. Gonozal blieb stehen, befand sich gerade noch innerhalb meines Blickwinkels. Jetzt krümmte Gonozal seine Schultern nach vorn und erschlaffte, nahm genau die Haltung ein, die wir alle kannten – vom Lebenskügelchen wiedererweckt, willenlos und erschlafft. Nichts anderes als eine Ansammlung – scheinbar? – lebenden Zellgewebes ohne Bewusstsein, Geist oder Seele. Als hätte ihn die unsichtbare Kraft verlassen, sagte der Extrasinn. Schlagartig machte mein Vater wieder den Eindruck der völligen Apathie, an den wir uns bereits gewöhnt hatten. Ein Gedanke zuckte durch meine Überlegungen. Hatte Gonozal ein fremdes, intelligentes Bewusstsein transportiert? Hatte ihn ein fremder Verstand, ein wanderndes Ego übernommen und dirigiert? Dann lag die Vermutung nahe, dass dieses Fremde eben jetzt den Körper wieder verlassen und ihn als leere Hülle zurückgelassen hatte. So abwegig schien dieser Gedanke bei näherer Betrachtung nicht zu sein. Denn ich glaubte zu
erkennen, dass die Plattform ihre Geschwindigkeit verlangsamt hatte. Die Schlussfolgerung aus diesem wilden Reigen unsicherer Überlegungen war: Etwas Fremdes hat Gonozal nur als Zwischenträger benutzt. Und der oder das Fremde war nun in einen anderen Organismus übergewechselt, der dort in oder auf der Plattform existierte. Unwillkürlich fühlte ich mich an unsere Erzfeinde erinnert, das Vecorat genannte Fremdvolk. Ihre beängstigende Fähigkeit als »Individualverformer« erlaubte es, rein geistig den eigenen Individualkörper zu verlassen und auf einen anderen überzuspringen, verbunden mit dem Bewusstseinsaustausch des Opfers, das im Vecorat-Körper zur Handlungsunfähigkeit verurteilt war. Eine Überlegung mit großer Wahrscheinlichkeit! Wieder krochen die Augenblicke dahin. Ich wartete, voll von Schrecken und regungslos. Die Plattform mit den merkwürdigen Gitterkonstruktionen und der vielfarbig spiegelnden Energiekuppel schien plötzlich stillzustehen. Dann begann sie sich zu entfernen – dorthin, woher sie gekommen war. Ich konnte nicht ein einziges der exakt anzeigenden Instrumente erkennen, aber ich sah es daran, dass sie sich wieder schnell verkleinerte. Da überdies das Schiff ihr sozusagen langsam folgte, musste sie, um diesen Eindruck zu erwecken, noch schneller zurückrasen. Für mich stand fest, allerdings ohne jeden Beweis zu haben, dass die Station etwas abgeholt hatte. Da wir in Kürze sterben würden, gab es keine Chance, zu erfahren, was es wirklich gewesen war. Wir alle waren von dieser fremden Wesenheit missbraucht worden. Die ISCHTAR und Gonozal bildeten dabei lediglich die Trägerelemente. Wir waren als bessere Laufburschen für ein überlegenes Wesen benutzt worden. Zu meiner Reglosigkeit, meiner Angst und Todesahnung kam jetzt auch noch die kalte Wut. Aber ich konnte nicht einmal fluchen. Nur
denken konnte ich. Meine Phantasie schlug wirre Kreise. Ich begann mir vorzustellen, was geschehen würde, wenn wir in eine bestimmte kritische Entfernung zu der Sonnenballung kamen. Alle einzelnen Vorgänge lösten in meiner Vorstellung neue Schrecken aus, die nur eine Steigerung kannten. Es ist der Tod, sagte der Extrasinn.
Ganz plötzlich merkte ich, dass ich mich bewegen konnte. Die Lähmung wich und machte einer grenzenlosen Müdigkeit Platz. Meine Glieder begannen zu zittern, ich merkte, dass sämtliche Muskeln und Nerven von der langen, unnatürlichen Verkrampfung von einem heißen, stechenden Schmerz durchtobt wurden. Mit unendlicher Erleichterung begann ich tief zu atmen. Langsam ließ ein Teil der Schmerzen nach. Im gleichen Moment ertönte als erstes deutliches Geräusch seit einer kleinen Ewigkeit der Summer des Funkgeräts. Jemand versuchte, mit uns in Kontakt zu treten. Ist es die geheimnisvolle Plattform mit den Gittermasten und der Energiekuppel? Du musst ans Pult. Die Botschaft kann wichtig sein, beschwor mich der Extrasinn. Ich stand mit wackelnden Knien auf. Meine zitternden Finger krallten sich um die Polsterung der Armlehnen. Jedenfalls gehorchte mein Körper wieder mir und nicht einer fremden Macht. Ich drehte unschlüssig den Kopf, als ich aufgestanden war. Die Zentrale hatte ihr Aussehen nicht verändert, aber überall begannen sich die Raumfahrer zuckend zu bewegen. Vorry, der Magnetier, schien die Lähmung am besten überstanden zu haben, denn die Bewegungen seiner gedrungenen Gestalt waren gut koordiniert. In kurzer Zeit würde sich die ISCHTAR in ein Lazarett verwandelt haben. Ich schob mich an Gonozal vorbei und sank erschöpft aufs Pult. Noch immer dröhnte der Summer in meinen Ohren. Ich konzentrierte mich abermals und drückte die Schalter des
Bildfunkgeräts. Der große Bildschirm wurde hell, dann grau, endlich zeichneten sich undeutlich Konturen eines Wesens ab, das arkonidisch sein konnte oder auch nicht; es schien jedenfalls vier Extremitäten zu haben. Wieder hörte ich die knarrende und polternde Stimme. Aber dieses Mal war verständlich, was sie sagte. Vorläufig nur für mich, denn alle anderen kämpften sich noch durch die Schleier der Bewusstlosigkeit in die Wirklichkeit. Ich drückte einen Schalter, der die kombinierten Aufzeichnungsgeräte einschaltete. »Hier Schiff ISCHTAR«, sagte ich ins Mikrofon und erkannte meine eigene Stimme nicht mehr. Es war ein heiseres Krächzen, nicht mehr. Ich hätte euch vernichten können. Aber ich will erst die Entwicklung auf Arkon abwarten. Klinsanthor sagt dies. »Wer immer du …«, begann ich, aber der Sender wurde abgeschaltet. Das Bild verschwand vom Schirm. Eine unheimliche Botschaft. Ich hatte nichts verstanden, aber vielleicht war sie Teil einer Erklärung. Noch während ich am Pult hantierte, erwachten hinter mir immer mehr Besatzungsmitglieder. Ich sah, wie Fartuloon und Vorry vorsichtig auf mich zukamen. In meiner Schwäche lehnte ich mich an das umlaufende Pult. Es war wie in einem phantastischen Schauspiel. Überall standen stöhnend und fluchend die Besatzungsmitglieder auf. Einige halfen sich gegenseitig, andere drehten sich auf den Rücken und blieben liegen, um Kräfte zu schöpfen. Fartuloon warf einen langen Blick auf die Bildschirme. Auch er erkannte die Drohung der fremden Riesensonnen. »Wie lange bist du schon handlungsunfähig?«, knurrte er und legte, als er das Pult erreichte, die Hand auf meine Schulter. »Lange genug, um mich zu fürchten. Ich habe diesen
Wahnsinnsflug gelähmt, aber bei mehr oder weniger vollem Bewusstsein miterlebt.« Gleichzeitig sahen wir beide auf die Uhren. »Das kann ich nicht glauben. Als wir aufbrachen, war es …«, sagte Fartuloon und rechnete schnell. Rund dreißig Tontas lang hatte dieser Irrsinn gedauert. Ich fühlte mich mehr als nur erschöpft. Mein Körper war ausgedörrt, sehnte sich nach Flüssigkeit und Schlaf. »Gonozal?« Der Bauchaufschneider deutete auf die lebende Mumie, die ungerührt inmitten des Chaos stand. »Er hat uns hierher und in diese Lage gebracht.« Die ersten Leute wankten aus der Zentrale. Sie würden trinken, hastig ein Essen hinunterschlingen, sich vielleicht duschen und zehn Tontas schlafen. Ich gönnte es ihnen, denn mir war es nicht anders zumute. Aber wir mussten schnell und entschlossen handeln. »Wir müssen versuchen, aus dieser Sonnenballung zu verschwinden. Die Zeit ist knapp.« Zwei Medoroboter schwebten durch die Zentrale, Vorry gab ihnen den Befehl, sich um den Piloten zu kümmern. Ich schilderte, was ich mit angesehen hatte, berichtete, wie die Marionette plötzlich zu organisiertem Leben erwacht war und in die Steuerung eingegriffen hatte. Schließlich murmelte ich schläfrig: »Und vor wenigen Zentitontas kam dieser Funkruf durch. Ich konnte den Fremden nicht in einen Dialog verwickeln.« »Schalt ein.« Wir hörten die Botschaft und verstanden deutlich den Namen, mit dem sie abgeschlossen wurde. Fartuloon erbleichte. »Ich kann es nicht glauben – der Magnortöter Klinsanthor!« Ich kannte selbstverständlich die Sagen und Legenden. Aber Fartuloons Reaktion befremdete doch. Er wirkte plötzlich alt und müde. Es sah aus, als habe ihm die Erwähnung dieses Namens den Rest gegeben. Aber meine bohrende Frage erhielt
ich nur eine Antwort: »Später. Versuchen wir zuerst, das Schiff wieder in eine normale Umgebung zu bringen.« Die Besatzung war gewohnt, selbstständig zu handeln. Etwa fünf Sechstel der Frauen und Männer zogen sich zurück, aßen und tranken und ließen sich auf die Liegen fallen. Die wichtigsten Posten wurden wieder besetzt. Die Raumfahrer hatten sich mit Medikamenten und entsprechenden Flüssigkeiten aufgeputscht und würden für einige Tontas durchhalten können. Dann würden wir sie durch halbwegs ausgeschlafene Leute ersetzen müssen. Gerlo Malthor stand zwischen den Pulten und sah mich zwinkernd an. »Geht schon wieder, Allan. Hoffentlich haben meine Reflexe nicht zu sehr gelitten.« Alles andere, alle Überlegungen, Mutmaßungen und Thesen hatten für später Zeit. Das Schiff flog noch immer auf einen riesigen roten Stern zu, dessen Schwerkraft am Schiffskörper zerrte. »Navigationsabteilung?«, verlangte ich und sah, wie sich der Pilot bereit machte. Die Maschinen erwachten wieder. »Hier. Wir versuchen eine Positionsbestimmung. Es wird schwer sein.« »Begreiflich«, sagte Fartuloon. »Wir hingegen versuchen, dass das Schiff aus dem tödlichen Wirrwarr verschiedener Kräfte herausgebracht wird.« Die Roboter brachten Gonozal hinaus. Dann war die Zentrale einigermaßen leer, aber voll von den Spuren, die die zusammengebrochenen Leute hinterlassen hatten. Die Reinigungsmaschinen kamen aus ihren integrierten Verstecken und begannen summend und klickend mit ihrer Arbeit. Fartuloon und ich ließen uns in Sessel fallen und verlangten von einem Automaten eine Kanne stärkender Getränke. »Gonozal war also von einer fremden Kraft besessen?«, erkundigte sich der Bauchaufschneider, während das Schiff
schneller wurde und seine Schutzschirme verstärkte. »Ja. Und natürlich können wir ihm keinen Kommentar darüber entlocken, was mit ihm passiert ist.« »Wohl kaum. Aber jedes Geheimnis ist irgendwann keines mehr.« Ein Wall aus Problemen, teilweise leichterer und meistens schwerer Art, türmte sich vor uns auf. Wir waren hier kein Machtfaktor mehr, sondern nur ein verlorenes, winziges Schiff, das sich den vielfältigen Gewalten der fremden Sonnen ausgeliefert sah. Die Mannschaft war weitestgehend ausgeschaltet; der arbeitende Rest war der Erschöpfung näher als je zuvor. Schwere Fehler konnten geschehen. Fremde Kräfte hatten uns hierher gezerrt. Die Sonnen bedrohten uns; ihre hyperphysikalischen Emissionen verdichteten sich zu einem ausgewachsenen Hypersturm. Gonozal hatte sich in eine Marionette verwandelt, die jetzt wieder willenlos war. Der Magnortöter schickte uns eine Botschaft. Eine seltsame Plattform hatte sich genähert und war wieder zwischen den Sonnen verschwunden. Es würde schwer werden, unseren Standort nach diesen vier wahnwitzigen Transitionen zu ermitteln. »Wenn noch mehr Ärger auf uns lauert«, knurrte Pilot Malthor und versuchte, die ISCHTAR aus der Anziehungskraft der Sonne herauszusteuern, »wird er wohl nicht mehr lange auf sich warten lassen.« Wir saßen schweigend da und sahen zu. Der Kampf des Schiffes begann. Zwei Männer kamen herein und nahmen ihre alten Plätze wieder ein. Sie waren total erschöpft, aber um ihre Lippen lag ein trotziges Lächeln. Kurz darauf erschien auch der Erste Offizier Helos Trubato. Etwa zehn Zentitontas später hatte das Schiff eine Geschwindigkeit erreicht, die uns eine Flucht gestattete. »Eine Transition ist unmöglich, solange wir keine präzisen
Daten haben. Im Wust dieser Hyperemissionen könnte eine Nottransition ins Verderben führen. Sollte der Hypersturm mit dieser Intensität weitertoben, müssen wir mit ernsthaften Schäden oder Ausfällen rechnen.« »Gonozal hat die Speicher abgeschaltet. Es gibt keine Informationen über die zurückliegenden Sprünge«, rief der Mann links. »Das habe ich geahnt. Der Fremde ist gründlich gewesen und hat nichts dem Zufall überlassen«, knirschte der Bauchaufschneider. Ruh dich aus. Du kannst nichts anderes tun, sagte der Extrasinn lustlos. Wir brauchten ungefähr eine Tonta, bis im Schiff normale Zustände herrschten. Rund vierhundert Frauen und Männer schliefen. Die Versorgungseinrichtungen arbeiteten mit gewohnter Zuverlässigkeit. Hundert Raumfahrer befanden sich auf den wichtigsten Posten. Aber wir waren weit entfernt, sicher zu sein. Das Schiff kämpfte sich über eine Hyperenergiefront, die einer aufgewühlten Meeresfläche glich. Die Bewegungen der nun mit neun Zehnteln Lichtgeschwindigkeit dahinschießenden ISCHTAR wurden unregelmäßig und hart. »Ich bleibe hier. Schlaf dich aus«, sagte Fartuloon, ohne die Augen von den Bildschirmen und den Kontrollen zu lassen. Ich stand auf, hatte entsetzliche Rückenschmerzen. Der rote Stern leuchtete jetzt rechts, aus der Geraden unserer Flugrichtung gesehen. Die Zentrale glich noch immer einem gewaltigen kalten Feuer. Alles war dunkelrot und schien zu glühen. Ich schleppte mich aus der Zentrale und warf im Vorbeigehen noch einen kurzen Blick auf den Bildschirm mit dem Jungen von Perpandron. Er lag nach wie vor da wie die in Stein gemeißelte Gestalt auf einem Grabmal.
Ich duschte, ließ mich massieren und Essen kommen. Für eine Weile gesellte sich Fartuloon hinzu; nun hatten wir Gelegenheit, über den Magnortöter zu sprechen. »Viel mehr als die auch dir bekannten Märchen und Sagen über den Magnortöter Klinsanthor«, begann Fartuloon, »kenne ich auch nicht. Somit ist der Wahrheitsgehalt ziemlich fragwürdig.« »Spar dir die Einleitung.« Der Bauchaufschneider seufzte. »Der Kosmos wird an vielen Stellen von psionischen Energiebahnen durchlaufen. Sie sind unsichtbar und mit normalen Geräten nicht zu orten. An einigen Stellen treffen und überkreuzen sie sich, es entstehen Schnittpunkte, die von höherem Energiegehalt sind.« »Das klingt nicht nach einem Märchen.« »Es ist auch keins.« Er lächelte schwach. »Aber es ist wie gesagt sehr schwierig, die Existenz dieser Bahnen überhaupt nachzuweisen. Schon Individualschwingungstaster, Psychostrahler, die Geräte zur Hypnoschulung wie auch die Anlagen zur Extrasinn-Aktivierung oder Fiktivprojektoren zeigen ebenso wie die paranormalen Kräfte von Lebewesen, dass hierbei vor allem extrem hochfrequente Hyperstrahlung beteiligt ist. Wirkung und Gesetzmäßigkeiten lassen sich mit den gängigen hyperphysikalischen Theorien nicht eindeutig erklären, aber es gibt Algorithmen der altarkonidischen Hyperthorik, die als vielversprechend gelten. Fest steht, dass ein großer Bereich dieser Hyperemissionen mit unseren Mitteln gar nicht erfasst werden kann – genauso wenig wie unsere Augen geeignet sind, UV-Licht, Röntgen- oder Gammastrahlung wahrzunehmen. Dennoch wird die Existenz nicht bestritten. Ich erinnere nur an das Konzept von Zhy, den zentralen Begriff der Dagor-Philosophie, meist übersetzt als transzendentales Licht oder übersinnliches Feuer.« Ich nickte und zitierte: »Schon der Paraphysiker Belzikaan
bezeichnete vor einigen Jahrtausenden die Paraforschung offiziell als zwiespältige Wissenschaft, um den Unterschied und die Trennung von den übrigen konventionellen und hyperphysikalischen Fakultäten zu markieren. Diese Erkenntnisse gehörten allerdings stets zur höchsten militärischen Sicherheits- und Geheimhaltungsstufe oder waren und sind auf bestimmte Kreise beschränkt …« »Richtig. Aus den Überlieferungen verschiedener uralter Völker geht klar hervor, dass es irgendwann Wesen gab, die diese Bahnen kannten und sogar benutzten. Und nun zu dem, was der Geschichte den unwirklichen Aspekt gibt.« »Was du nicht sagst …« »Es war einmal in fernster Vergangenheit ein Raumfahrer. Er gehörte einem unbekannten Volk an, und er hieß Klinsanthor. Er geriet zufällig in einen solchen Schnittpunkt, blieb dort hängen und wurde durch irgendwelche Umstände mit übernatürlichen Kräften ausgestattet. Klinsanthor wurde völlig verändert. Seine Fähigkeiten hätten ihm zu großer Macht verhelfen können, aber er konnte sich ihrer anscheinend nicht frei bedienen. Er geriet in ein Abhängigkeitsverhältnis zu anderen Wesen, die ihn rufen und sich seiner bedienen konnten …« »Und wie riefen sie ihn?« »Gute Frage. Fest steht nur, dass der jeweilige Imperator des Großen Imperiums zu einem solchen Ruf berechtigt ist.« »Also auch … Orbanaschol!« »Genau. Ob der Fette ins Geheimnis eingeweiht ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Die genaue Art der Kontaktaufnahme wird nirgends beschrieben. Ich habe deinen Vater mal darauf angesprochen, aber er hat nicht geantwortet.« »Vielleicht läuft ja eine dieser rätselhaften Energiebahnen durch das Arkonsystem?« »Möglich. Es gilt jedenfalls als gesichert, dass in der
Vergangenheit immer wieder Wesen an das Geheimnis gelangten, und sie riefen Klinsanthor. Dem Fremden scheint nichts anderes übrig zu bleiben, als derart erteilte Aufgaben zu erfüllen. Bezeichnenderweise wendeten sich hauptsächlich Leute an ihn, deren Ziele nicht unbedingt positiv waren. Mit anderen Worten: Der verschollene Raumfahrer wurde gründlich missbraucht. Es gab große Katastrophen, darunter auch einige geheimnisvolle Vorgänge nach den Unabhängigkeitskriegen zwischen Akon und den abtrünnigen Arkoniden, die letztlich deine Vorfahren sind. So kam Klinsanthor zu dem Beinamen Magnortöter. Und das ist dann so ziemlich alles, was ich in Erfahrung bringen konnte.« »Es sieht so aus, als sei Klinsanthor alles andere als eine Sagengestalt oder Märchenfigur. Und wenn Orbanaschol ihn nun wirklich gerufen hat …« Fröstelnd ließ ich den Satz offen. Kurz darauf zog ich die Decke bis zum Hals und war augenblicklich eingeschlafen. Das Schicksal schenkte der ISCHTAR fast sieben Tontas Ruhe. Dann traf der nächste Schlag das verirrte Schiff.
20. Die unwiederholbare Mischung aus dem Klirren der Gläser, der vielen Gespräche und der Musik des Orchesters erfüllte einen der Prunksäle des Kristallpalastes. Nur scheinbar achtete niemand auf Orbanaschol, der zu diesem Fest eingeladen hatte. Die zuckenden Linien und Punkte, Streifen und Helligkeitswechsel der Farbenspiele rasten über die kuppelartig gerundete Decke. Es war ein gigantisches Fest – die »Halle des Lichtes« fasste rund eineinhalbtausend Gäste. Das Orchester bestand aus zwanzig Instrumenten und war an zwanzig verschiedenen Plätzen aufgestellt. Die Musiker, von denen die Instrumente bedient wurden, waren schwache Telepathen und brauchten keinerlei optische Kommunikation; überdies befanden sich vier Ssarga-Harfen darunter, die weder einen Dirigenten noch die Hilfe eines Musikers brauchten. Sie selbst waren spezialisierte Viertelmutanten. Die flirrenden und summenden Töne der Harfen zitterten im Rhythmus der Lichtwechsel. In der Nähe eines Portals erschien zwischen einer Schar ankommender Gäste ein schmalgesichtiger Mann mit kurzem, eng am Kopf anliegendem Haar. Er trug den Gesichtsausdruck eines Mannes, der wusste, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Die uniformierte und schwer bewaffnete Dreierwache erkannte ihn. »Weilt der Imperator in der Schar seiner gut gelaunten Gäste?«, erkundigte sich der Mann. Auch seine Stimme war bemerkenswert. Sie passte zu seinem Gesicht. Es war die leise, eisige Stimme eines Arkoniden, der keinerlei Lebensfreude, Machtstreben oder persönliche Leidenschaften mehr kannte. Er war nichts anderes als ein Instrument. Viele Jahre an der Seite des Imperators hatten ihn so werden lassen. »Jawohl, Sekretär«, sagte der Posten. »Er ist noch in der Halle.« »Ich muss zu ihm!« »Nichts dagegen. Wir haben keine anderslautenden Befehle erhalten.« Der Sekretär – einer von rund einem Dutzend spezieller
Begabungen – nickte knapp und ging ruhig weiter. Auch seine Kleidung war in tristem Grau gehalten. Ohne genau zu wissen, wer er war, wichen ihm die Gäste aus. Viele kannten seinen Namen, die meisten erfasste ein merkwürdiges Gefühl, und sie traten zur Seite. Die schnellen Augen suchten nach der überaus prächtig gekleideten Gestalt Orbanaschols. Nach etwa zweihundert Schritten und einem Zickzackweg durch die Menge blieb der Mann vor einer Ssarga-Harfe stehen und heftete den Blick zunächst auf das kreisrunde, etwa einen Meter hohe Podium, das mit dem gleichen kostbaren Teppich bedeckt war wie der Boden der riesigen Halle. Dann glitten seine Augen langsam an dem halb intelligenten Lebewesen hinauf. Niemand beachtete den schmalen Mann, auch er kümmerte sich nicht um das, was um ihn vorging. Seine zu einem langen Strich zusammengepressten Lippen verzogen sich zu einem kaum wahrnehmbaren Lächeln. Die Ssarga sah aus wie eine Anzahl verschieden großer Spinnennetze zwischen den Ranken einer blütenübersäten Orchidee. Der ganze graugrüne Körper befand sich in unaufhörlicher Bewegung. Die feinen Saiten, in Wirklichkeit offen liegende Nervenscheiden, wimmerten und summten – dieses Geräusch wurde durch die Hohlkonstruktion der Halbpflanze verstärkt. Der Sekretär erinnerte sich an den Bericht von einem Kolonialplaneten, dessen Namen er vergessen hatte. Dort gab es riesige Waldzonen voller wild wachsender Ssarga. Sie summten und spielten jede Nacht, nur an kalten Wintervotanii nicht. Diese halb intelligente, nicht ortsgebundene Pflanze erahnte die Harmonien und Kadenzen, die von den anderen Musikern gespielt und vorher gedacht wurden. Dann schickte sie ihre eigenen Töne in die Luft. Es waren platzende Kristallblasen voller Wohlklang. Der Sekretär sah die Schalen voller schillernder Nährlösung, in denen sich die weißen Wurzelfäden der Ssarga zusammenringelten. Eine letzte Kadenz voller süßer Töne zerrte einen Augenblick lang die Erinnerung an andere und bessere Jahre aus seinem Gedächtnis, dann wandte er sich mit einem übertrieben entschlossenen Ruck ab und
fuhr fort, den Imperator zu suchen. Überall gab es kleine Gruppen von Arkoniden der obersten Klassen. Sie hielten Gläser in den Händen, unterhielten sich angeregt und lachten. Die Frauen trugen ihre schönsten und auffallendsten Kleider, die meisten Männer waren in den Paradeuniformen der Raumflotte zu sehen. Der Imperator hatte zu einem »zwanglosen Fest« geladen, um einen winzigen Sieg über die Methans zu feiern. Es sollte Fröhlichkeit herrschen, hatte es auf der Einladung gelautet. Also herrschte Fröhlichkeit. Hin und wieder war sie sogar echt. Besonders unter den jungen Raumoffizieren. Dort wurde viel gelacht. Sie alle waren zu siegessicher, obwohl sie die Schwere der Aufgaben kannten, die vor ihnen lagen. Weit hinten sah der Mann in der grauen, uniformähnlichen Kleidung einen größeren Kreis Arkoniden. Vermutlich befand sich der Imperator dort, denn soweit erkennbar war, benahmen sich die Personen dort hinten nicht ungezwungen, sondern steif und unnatürlich. Der Sekretär bahnte sich einen Weg dorthin. Auch er musste sich hüten, durch eine Ungeschicklichkeit den Zorn des despotischen Herrschers auf sich zu ziehen. Er erreichte den Kreis, sah zwischen sich bewegenden Köpfen hindurch und erkannte Orbanaschol. Er diskutierte mit einigen bereits angetrunkenen Flottenoffizieren der obersten Ränge. Der Disput war bereits zum Monolog ausgeartet. Orbanaschol stand da, gestikulierte mit einem überschwappenden Becher voll schäumendem Wein in der Hand und verkündete sein tödliches Konzept in der Auseinandersetzung des Methankrieges. Die Anwesenden gaben vor, mit gespannter Aufmerksamkeit zuzuhören. Sie schienen förmlich gebannt zu sein. Der alte Sekretär, der keinerlei Illusionen mehr hatte und nahezu alle Geheimnisse Orbanaschols kannte, zuckte in einem vergeblichen Reflex die Schultern und begann seinen Versuch, sich durch den dicht gedrängt stehenden Kreis der Menge zu schieben. Zuerst ging es leicht. Diejenigen, die von den stechenden und misstrauischen Blicken des Imperators nicht getroffen wurden, versuchten mit Erfolg, den
Kreis zu verlassen. Aber der innere Ring war wie gebannt. Die Anwesenden fürchteten sich. In diesem Augenblick begann sich auch der Sekretär zu fürchten. Er hatte eine wichtige und sehr mysteriöse Botschaft zu überbringen. Sie war – unter Ausschaltung und Umgehung diverser Sicherheitseinrichtungen und Barrieren! – vor Kurzem über die Bildschirme im innersten Bereich des Kristallpalasts geflimmert. Mit einer gemurmelten Entschuldigung schob er eine goldhaarige Frau und einen uniformierten Mann auseinander, blieb vor ihnen stehen und versuchte, unauffällig die Aufmerksamkeit Orbanaschols auf sich zu ziehen. In der Brusttasche seiner Uniform knisterte die Botschaft im versiegelten Umschlag. » … auf keinen Fall mit einer einzigen, gewaltigen Anstrengung. Wir müssen den verdammten Methans ein System nach dem anderen abjagen und sichere, feste Grenzen schaffen!«, schrie Orbanaschol und sah sich Beifall heischend um. In diesem Augenblick hasste der Sekretär den Imperator. Sonst hatte er nicht viel mehr als Mitleid für ihn übrig, bestenfalls kühle Verachtung. Aber heute war es zu spät, die Fronten und die Abhängigkeiten zu wechseln. Es war reiner Zufall, dass Orbanaschols flackernder Blick auf ihn, den Sekretär, fiel. Der Mann hob leicht die Hand und zog dann den Umschlag in der charakteristischen Farbgebung einer dringenden Botschaft hervor. »Augenblick! Ich erkläre gleich weiter, was ich vorhabe«, rief der Imperator und streckte die Hand aus. Die Geste war voller Gleichgültigkeit, übertrieben hoheitsvoll und gleichzeitig blitzschnell. Niemand, der diesen Mann unterschätzt hat, ist noch am Leben, dachte der Sekretär, übergab den Umschlag und konzentrierte sein kaltes, leidenschaftsloses Interesse auf Orbanaschol. Der Imperator riss den Umschlag auf und zog die Folie heraus, auf der die Botschaft ausgedruckt war. Orbanaschol las schweigend. Das erste Mal überflog er die wenigen Zeilen, dann, als ihm die Bedeutung des Textes klar wurde, las er ein zweites Mal langsamer und, trotz seiner leichten Betrunkenheit, scharf konzentriert. »Deine Gegner, Orbanaschol, sind nach deinem Wunsch behandelt worden. Sie sind handlungsunfähig. Die Belohnung
werde ich persönlich erhalten.« Alle sahen sie deutlich, wie Orbanaschol zusammenzuckte. Lautlos bildeten seine Lippen ein Wort, das ihn mit Schrecken erfüllte. Klinsanthor! Der Imperator starrte den Sekretär an. Der Graugekleidete hielt dem Blick ruhig stand. Langsam faltete Orbanaschol die Botschaft zusammen und schob sie in eine Tasche. Den Umschlag ließ er zu Boden fallen. Augenblicklich bückten sich drei hohe Flottenoffiziere und versuchten, den Umschlag aufzuheben. Orbanaschol wusste, dass diese Botschaft nur vom Magnortöter stammen konnte. Sie besagte – für ihn, den Auftraggeber –, dass Klinsanthor augenscheinlich gegen Atlan und seine rebellische Gruppe mit Erfolg vorgegangen war. Erfolg, das konnte in diesem Zusammenhang nur heißen, dass die Rebellen erledigt waren. Tot, vom Magnortöter vernichtet. Den Henkerslohn würde Klinsanthor bestimmen. Orbanaschol blieb starr stehen. Seine Augen gingen ins Nichts; er nahm die Menge und die Farbenspiele nicht bewusst wahr. Unruhe griff mitten während des Festes nach ihm und schüttelte ihn. Die Nachricht des Magnortöters konnte für ihn unabsehbare, gefährliche Folgen heraufbeschwören. Es sah aus, als habe er eine Macht aufgeweckt, die er nicht mehr kontrollieren konnte. Klinsanthor entzog sich seinem Zugriff. Der Imperator machte zwei, drei zögernde Schritte vorwärts. Der Lärm des Festes und die Musik schlugen wieder an seine Ohren. Er kam aus der dunklen Welt seiner Gedanken wieder in die Gegenwart zurück. Der Sekretär, der jede Gemütsbewegung des Herrschers genau kannte, wusste jetzt, dass Orbanaschol Furcht zu spüren begann … Der Graugekleidete wurde nicht mehr gebraucht. Er drehte sich um und verließ langsam die »Halle des Lichtes«. Arkon I: 30. Prago des Tedar 10.499 da Ark Kurz nach Mitternacht legte Lebo Axton seine Hand auf die Kontaktscheibe an der Tür einer Luxuswohnung im obersten
Geschoss eines Trichterbaus. Als sich der kleine Bildschirm neben der Tür erhellte und das Gesicht einer jungen Arkonidin erschien, hielt Axton seine TRC-Marke vor die Linse. Das Mädchen erschrak. »Wen … wen wollen Sie sprechen?« »Öffnen Sie«, forderte der Kriminalist kalt. Die Tür glitt zur Seite. Axton ließ sich von Kelly in die Wohnung tragen. Aus dem mit tropischen Pflanzen reich verzierten Salon trat ihm ein hochgewachsener Arkonide entgegen. »Was wünschen Sie?«, fragte er kühl und beherrscht, die edlen Gesichtszüge blieben unbewegt. »Ich möchte mit Ihnen sprechen, Ukosthan.« »Zu dieser Tonta?« »Zu dieser Tonta.« Der Sonnenträger zögerte, trat dann aber zur Seite und gab Axton zu verstehen, dass er den Salon betreten möge. Kelly trug den Terraner in den Raum, in dem einer der beiden Mitarbeiter Larkyonts saß, der einer Sonderabteilung des Geheimdienstes angehörte. Axton tat, als sei er darüber nicht informiert, sondern fragte mit unüberhörbarer Ironie: »Ich störe hoffentlich nicht gerade bei der Geheimbesprechung zu einer Verschwörung?« »Durchaus nicht«, antwortete Ukosthan mit einem gequälten Lächeln. Der Agent stand auf. »Ich muss jetzt gehen. Bitte, entschuldigen Sie mich.« Der Sonnenträger verabschiedete ihn und brachte ihn zur Tür. Als er in den Salon zurückkehrte, hatte Axton es sich in einem Sessel bequem gemacht und blickte Ukosthan durchdringend an. Der Arkonide war unruhig. »Was führt Sie zu mir? Die Zeit ist ungewöhnlich.« »Ich will offen zu Ihnen sein«, entgegnete der Verwachsene. »In den letzten Pragos kam es zu einigen Zwischenfällen, die
aufgeklärt werden müssen. Ein Student ist ermordet worden. Zwei Offiziere sind tödlich verunglückt. Damit sind jetzt schon sieben Offiziere unter nicht geklärten Umständen gestorben. Ich meine, sieben Orbtonen, die zu Ihrem engeren Bekanntenkreis gehörten, Ukosthan.« Die Augen des Arkoniden wurden feucht vor Erregung. »Was wollen Sie damit sagen?« Lebo Axton antwortete nicht, blickte ihn nur an. »Stehe ich unter Mordverdacht?« »Wäre das berechtigt?« »Natürlich nicht.« Der Sonnenträger sprang auf, eilte zur Fensterfront und blickte hinaus. Tief unter ihm lagen beleuchtete Parkanlagen. »Larkyont ist nur ganz knapp einem Anschlag entkommen. Er wäre fast ermordet worden.« »Was habe ich damit zu tun?« »Nichts«, antwortete der Verwachsene gelassen. »Was wollen Sie denn eigentlich von mir?«, schrie Ukosthan. »Ich möchte Ihnen einen Tipp geben. Zufällig habe ich erfahren, dass einige der wichtigsten Mitglieder der Organisation Gonozal in höchster Gefahr sind. Sie werden sich bald auf der Dachterrasse eines Gebäudes in der Nähe treffen.« Axton beschrieb den Platz, den Sorgith Artho ihm angegeben hatte. »Dort werden einige Männer auf Sie warten.« »Sie meinen, diese Männer könnten meine Freunde ermorden wollen?« »Ich meine überhaupt nichts.« »Warum erzählen Sie mir das alles?« »Um Ihnen eine Chance zu geben, Ukosthan.« Der Arkonide war völlig verwirrt. Axton lächelte unmerklich, blickte auf sein Armbandgerät. »Sie sollten sich ein wenig erfrischen. Ich werde hier auf Sie warten. Sobald Sie dann zu mir zurückkommen, werden wir zum Essen fliegen.« »Ich habe keinen Hunger«, entgegnete der Arkonide schroff.
»Sie haben mich missverstanden. Ich habe Ihnen soeben den Befehl erteilt, mich in ein Restaurant zu begleiten.« Ukosthan biss sich auf die Lippen, fuhr herum und stürmte aus dem Salon. »Hast du keine Angst, dass er flieht?«, fragte Kelly. »Unsinn. Warum sollte er das tun? Nein, er wird nur ein paar Visifongespräche führen. Mit Larkyont etwa, vielleicht auch mit dem Besucher, der vor uns hier war und es so eilig hatte, als wir eintrafen.« Ukosthan kehrte nach einer Dezitonta in den Salon zurück. Jetzt war er beherrscht und ruhig, trug eine blaue Kombination und einen knöchellangen Mantel, der vorn offen war. Das silberne Haar reichte ihm bis auf die Schultern. »Wir können gehen.« Axton kletterte auf den Rücken Kellys und ließ sich zu seinem Gleiter tragen. Der Arkonide folgte wortlos. Er sprach erst wieder, als sie in einem gut besuchten Restaurant auf der Dachterrasse eines Gebäudes saßen. Er deutete zum benachbarten Gebäude. Es war niedriger, sie konnten von ihrem Platz aus auf die dortige Dachterrasse sehen. »Dort drüben steht der Obelisk. Von hier aus können wir beobachten, was dort geschieht. Ist es das, was Sie beabsichtigt haben?« Lebo Axton schnippte mit den Fingern. »Durchaus nicht. Ich wollte nur, dass man uns hier sieht. Weiter nichts. Sie sind ein gut aussehender Mann. Man wird sich an Sie erinnern. Meine Erscheinung ist etwas – hm – ungewöhnlich. Sie prägt sich leicht ein.« Die beiden Männer blickten sich in die Augen. Keiner wich dem anderen aus. Ukosthan fuhr erst auf, als es drüben auf der Dachterrasse aufblitzte. Axton wandte sich langsam zur Seite. Auf dem benachbarten Gebäude schossen mehrere Kontrahenten mit Strahlern aufeinander. Der Terraner zählte insgesamt sieben Blitze. Dann wurde es ruhig. Ein
unbeleuchteter Gleiter löste sich aus den Büschen der Terrasse, stieg rasch auf und raste mit hoher Geschwindigkeit davon. Axton wandte sich wieder dem Sonnenträger zu. »Wollen Sie nicht bestellen?« »Muss ich Sie daran erinnern, dass Sie mich eingeladen haben – und nicht ich Sie?« »Stellen Sie sich nicht so an. Sie haben viel mehr Geld als ich. Also, geben Sie schon das Essen aus.« Ukosthan presste die Lippen zusammen, seine Augen blitzten förmlich vor Zorn, während sich das Lächeln auf den Lippen des Kriminalisten vertiefte. Dann entspannte sich die Miene des Arkoniden jedoch. Er nickte, ein paar Fältchen bildeten sich in den Augenwinkeln. »Ich glaube, jetzt habe ich verstanden, Axton.« Er drückte die Tasten der Servoautomatik. »Was möchten Sie essen?«
Als Lebo Axton am Morgen sein Büro im Regierungsviertel betrat, flammte sofort der Bildschirm auf. Das Gesicht Merantors erschien. »Kommen Sie sofort in mein Büro.« Axton blieb gleichmütig, kletterte auf den Rücken Kellys und ließ sich zu Merantor tragen. Der Mann saß hinter einem ausladenden Arbeitstisch. Nervös durchsuchte er die Papiere und Akten, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Seine Hände fanden erst Ruhe, als Axton vom Roboter stieg. Er blickte auf, seine massige Gestalt beugte sich vor. »Ist das der Mann?« Zwei Arkoniden traten ein. Es waren die beiden Agenten, die sich bei der Organisation Gonozal VIII. eingeschlichen hatten. Jener, den Axton in der Wohnung des Sonnenträgers Ukosthan angetroffen hatte, antwortete: »Das ist der Mann.« Merantor sprang auf. Sein Gesicht rötete sich. »Ihr verdammten Narren! Das ist einer unserer fähigsten Männer. Macht, dass ihr rauskommt!«
Die beiden blickten Axton bestürzt an, waren fassungslos und begriffen noch immer nicht, wie ihnen geschah. Merantor war blitzschnell auf den Beinen, packte einen an der Schulter, wirbelte ihn herum und gab ihm einen Stoß, dass er bis zur Tür taumelte. Die beiden Agenten flüchteten förmlich aus dem Arbeitsraum. Merantor kehrte zu seinem Sessel zurück. Mit zornbebender Stimme sagte er: »Diese beiden Genies haben Sorgith Artho erschossen.« »Ach?« Axton gab sich überrascht und setzte sich in einen Sessel, wobei er so tief in die Polster sank, dass er sich an die Seitenstützen klammern musste. Kelly stützte rasch seinen Rücken mit der Hand. Axton rutschte ächzend bis zur vorderen Kante der Sitzfläche, wo er besseren Halt fand. »Sie waren in der Wohnung des Sonnenträgers Ukosthan. Sie haben ihn wissen lassen, dass Sie über ein Treffen wichtiger Mitglieder der Organisation Gonozal informiert sind, und haben ihm damit die Chance gegeben, diese Männer zu warnen. Auch Artho wusste von diesem Treffen. Während die Gonozal-Anhänger jedoch fernblieben, erschien er am Obelisken und prallte hier mit unseren Leuten zusammen. Ihren Aussagen zufolge hat er den ersten Schuss abgegeben.« Axton wusste es besser, aber er schwieg. Kelly verfügte über ein hervorragendes optisches System. Somit war er fähig gewesen, die Ereignisse am Obelisken genau zu verfolgen. Daher wusste Axton, dass nicht nur Artho und die beiden Agenten am Obelisken gewesen waren, sondern auch Perko da Larkyont, der selbstverständlich als Präsident der Organisation auch von Ukosthan gewarnt worden war. Larkyont aber hatte als Einziger mit Sicherheit gewusst, dass gar kein Treffen wichtiger Persönlichkeiten vorgesehen war. Er hatte die Falle von vornherein als Falle erkannt und entsprechend gehandelt. Er war noch vor Artho am Tatort gewesen, und er hatte den ersten Schuss abgegeben.
»Jetzt will ich von Ihnen wissen, Axton, warum Sie Ukosthan gewarnt haben.« »Weil ich wissen wollte, ob diese angeblich wichtigen Männer der Organisation wirklich von Bedeutung waren. Hatten sie etwas vor uns zu befürchten, würden sie selbstverständlich fernbleiben.« »Sie sind nicht gekommen. Darin ist in der Tat ein Beweis ihrer Schuld zu sehen.« »Sie sind pünktlich erschienen, haben sich jedoch nicht am Obelisken getroffen, sondern in einem Restaurant, etwa hundert Schritte davon entfernt.« Axton machte diese Aussage ruhigen Gewissens. Kelly hatte einige Arkoniden in einem Lokal beobachtet und Axton dadurch ermöglicht, sie zu identifizieren. Merantor war so verblüfft, dass er sogar darauf verzichtete, die Namen zu erfragen. Axton hätte sie ihm jedoch sofort genannt, da er diese Männer nicht beschuldigte, sondern von einem Verdacht entlastete. »Sie sind ein verdammter Krüppel, Axton. Mir wird schlecht, wenn ich Sie sehe. Aber Sie sind ein raffinierter Gork, auf den ich nicht verzichten kann.« Ein Rufzeichen ertönte. Merantor schaltete das Visifon ein, wechselte dann jedoch sofort zur Hauptprojektion an der Wand über, die ein mannshohes Bild lieferte. Er erhob sich hastig, zischte Axton zu: »Stehen Sie auf, Sie Missgeburt.« Der Terraner ließ sich aus dem Sessel gleiten und wandte sich dem Bildschirm zu. Das massige Gesicht Orbanaschols war übergroß zu sehen. Der Imperator des Großen Imperiums war ein untersetzter Mann, der für einen Arkoniden ungewöhnlich fett war. Seine Augen waren klein und lagen tief unter Wülsten verborgen, sodass ihre Farbe nicht zu erkennen war. Das Haar war licht, obwohl Orbanaschol erst sechzig Arkonjahre alt war. Die ganze Person wirkte unangenehm und verschlagen. Dieser Eindruck verstärkte sich noch, sobald er
den Mund öffnete. Seine Stimme klang dünn und fistelnd und schlug über, sobald er in Erregung geriet, aber niemand in seiner Nähe wagte es, auch nur eine Miene zu verziehen. »Quertan Merantor«, sagte der Imperator mit keifender Stimme. »Sind Sie darüber informiert, dass eine spontane Demonstration der Gonozal-Anhänger auf dem Hügel der Blauen Pfeile stattfindet? Nur wenige Kilometer vom Hügel der Weisen entfernt?« »Ich habe soeben eine Nachricht erhalten.« »Tausende wollen Gonozal sehen. Larkyont, der Präsident einer verbrecherischen Organisation spricht vor der Menge. Er hat behauptet, Gonozal persönlich in der Nacht auf dem Thek der Blauen Pfeile getroffen zu haben.« »Das ist eine Lüge«, warf Lebo Axton ruhig ein. »Er kann ihn nicht getroffen haben, weil Gonozal der Siebte nicht mehr lebt.« Die Augen des Imperators weiteten sich ein wenig. Die Fettpolster zogen sich leicht auseinander. Aufmerksam musterte Orbanaschol den Kriminalisten. Schneidend scharf befahl er: »Stehen Sie auf, wenn Sie mit mir reden!« Axton schluckte. »Ich stehe bereits, Höchstedler.« »Es ist der Zayna«, sagte Merantor. »Er ist nicht größer, mein Imperator.« »Mich interessiert nicht, ob Gonozal lebt oder nicht. Verhaften Sie diesen lügnerischen Larkyont.« »Das wäre zu früh, Euer Erhabenheit«, behauptete Axton. »Sie wagen es, mir zu widersprechen?« Das Gesicht des Imperators straffte sich, strahlte nun eine derartige Kälte aus, dass Axton schauderte. »Perko da Larkyont hat, wie ich vermute, einige hochgestellte, einflussreiche und vermögende Arkoniden in der Hinterhand, die ihm helfen. Diese sind bis jetzt im Verborgenen geblieben. Wenn ich Larkyont zu früh verhafte,
ziehen sie sich zurück – und ihre verräterische Rolle wird vielleicht niemals aufgedeckt. Deshalb empfehle ich, Larkyont erst dann zu packen, wenn wir sicher sein können, damit auch die gesamte Organisation aufzurollen.« Die Blicke des Imperators wandten sich Merantor zu. Orbanaschol kannte Axton durchaus, hatte ihm das Leben zu verdanken und war über seine Erfolge informiert. Wenn er dennoch hin und wieder so tat, als habe er ihn nie zuvor gesehen, dann nur, um zu demonstrieren, dass es zwischen ihnen keinerlei Gemeinsamkeiten geben konnte. »Axton ist ein fähiger Mann«, sagte Merantor zögernd. »Meine Geduld ist zu Ende! Sorgen Sie dafür, dass diese Demonstration aufgelöst wird. Dies muss die letzte Möglichkeit Larkyonts zu einer derartigen Aktion gewesen sein. Hat er eine weitere Gelegenheit zu einer solchen Versammlung von Politnarren, sind für einige Männer hier auf dem Hügel der Weisen die letzten Tontas angebrochen.« Merantor wurde bleich. Er wusste, dass Orbanaschol III. seine Drohung tödlich ernst gemeint hatte. Orbanaschol beendete die Verbindung. Der Ka’Celis-moas setzte sich. »Axton«, sagte er mit gepresster Stimme. »Sie haben es gehört. Hoffentlich haben Sie begriffen, dass kein Kopf mehr gefährdet ist als gerade Ihrer.« Der Kosmokriminalist strich sich mit der flachen Hand über das schüttere Haar und antwortete ironisch: »Und dabei ist gerade er das Einzige, was an mir wirklich schön ist.« Merantor erwiderte nichts, blickte Axton nur an. Dieser stieg auf den Rücken Kellys und verließ den Raum.
Als Larkyont zu seiner Wohnung zurückkehrte und die Tür öffnete, trat Lebo Axton auf ihn zu. Kelly folgte dem Kriminalisten wie ein Schatten. »Sie haben hoffentlich nichts
dagegen einzuwenden, wenn ich mit Ihnen eintrete?« Der Präsident der Organisation Gonozal VIII. lachte erheitert auf, legte Axton die Hand auf die Schulter und machte mit der anderen eine großzügig einladende Geste. »Aber nicht doch, Axton. Wie könnte ich?« Er ließ den Verwachsenen vorgehen, trat jedoch vor dem Roboter ein. Der Schaden an der Wand, der durch den Thermostrahlbeschuss entstanden war, war bereits behoben worden. »Was führt Sie zu mir?« Larkyont eilte zu einem Servomaten und zapfte alkoholische Getränke. Er setzte sie vor Axton ab, dann reckte er sich, dass die Gelenke krachten. »Sie ahnen ja nicht, welche Erfolge wir heute erzielt haben, Axton. Arkon spricht nur noch von Gonozal dem Siebten! Der Imperator tobt, die Arkoniden lachen ihn aus. Jetzt wird unsere Organisation erst wirklich Aufwind bekommen. Sie werden sehen. Aber trinken Sie doch!« Er ergriff sein Glas, prostete Axton zu und trank es auf einen Zug aus. Der Kriminalist nahm nur einen bescheidenen Schluck. Während Larkyont sein Glas nachfüllte, blickte Axton sich im Wohnraum um. Hier gab es nichts, was aus dem Rahmen fiel, sah man einmal von dem wandhohen Gonozal-Porträt ab. Es war ein billiger Druck, der durch eine dünne Scheibe geschützt wurde. Sonst gab es nur die phantasielos gestalteten Möbel, wie sie in vielen Wohnungen von Arkoniden geringer Einkommensklasse standen. Die Wände waren allerdings mit einer schimmernden, plastisch wirkenden Masse überzogen, die, wie Axton wusste, sündhaft teuer war. Der Boden war mit geräuschdämpfenden Fasern bedeckt, die in ihrer Art an einen Teppich erinnerten. Sie stammten nicht aus dem Arkonsystem, sondern waren über viele Lichtjahre hinweg hierher importiert worden. »Sie haben noch nicht auf meine Frage geantwortet«, sagte
Larkyont, als er mit einem gefüllten Glas zurückkehrte und sich setzte. »Was führt Sie zu mir?« »Nun …« Axton sprach bewusst langsam. »Ich habe inzwischen einiges über Sie erfahren. Manches ist dabei, was mir nicht gefällt.« Der freundlich-fröhliche Gesichtsausdruck des fülligen Arkoniden änderte sich nicht. Larkyont schien sich wirklich zu amüsieren. Axton fragte sich, ob er sich tatsächlich so sicher fühlte, wie er sich gab. »Unter anderem ist es mir gelungen, etwas Licht in Ihr Verhältnis zu Sonnenträger Ukosthan zu bringen.« Die Augen des Arkoniden verloren ein wenig von ihrem Glanz und verengten sich kaum merklich. »Darüber hinaus habe ich Sie beobachtet, als Sie sich mit einem Gleiter von einer Dachterrasse entfernten, unmittelbar nachdem dort einige Schüsse gefallen sind.« Jetzt verlor sich das Lächeln auf dem Gesicht Larkyonts vollends. »Axton, was soll das? Ich verstehe nicht.« Axton reichte sein noch fast volles Glas Kelly. »Sei so nett – schütte es aus und gib mir etwas Erfrischendes, ohne Alkohol.« »Gern«, erwiderte der Roboter, nahm das Glas und schritt zum Servomaten. Kurz bevor er diesen erreichte, verfing sich sein rechter Fuß in den Fasern des Bodenbelags. Er kippte vornüber. Bei dem Versuch, sich abzufangen, prallte er zuerst mit den metallenen Händen und dann mit dem Kopf gegen die Fensterscheibe. Die Wucht dieses dreifachen Schlages war so groß, dass sich mehrere Risse in der Scheibe bildeten, ohne dass diese allerdings zerbrach. »Du Trottel, du erbärmlicher Nichtsnutz!«, schrie Lebo Axton mit schriller Stimme. »Du wahnsinniges Stück Schrott!« Der Roboter erhob sich, bückte sich und nahm das Glas auf, das ihm entfallen war. Dann schritt er zum Servomaten, als sei überhaupt nichts geschehen. »Larkyont, ich bin untröstlich. Meine Güte, die Scheibe kostet sicherlich ein kleines Vermögen. Ich werde das jedoch regeln. Noch heute wird man alles
reparieren.« Larkyont, der den Zwischenfall verwirrt und staunend beobachtet hatte, fing sich wieder und strahlte die alte Ruhe und Heiterkeit aus. Großzügig winkte er ab. »Lassen Sie nur. Ich mache das schon.« »Nein«, protestierte Axton. »Ich bestehe darauf, den Schaden auf meine Kosten beheben zu lassen.« »Wenn Sie unbedingt wollen.« »Ich will.« Axton rutschte aus seinem Sessel und kletterte auf den Rücken des Roboters, ohne von dem Erfrischungsgetränk zu trinken, das dieser inzwischen eingefüllt hatte. »Sie werden von mir hören.« Der Arkonide begleitete Axton zur Tür und öffnete. Als der Verwachsene die Wohnung verlassen hatte, fragte Larkyont: »Haben Sie mir eigentlich schon gesagt, weshalb Sie zu mir gekommen sind?« »Ja, ich denke schon.« Axton schlug Kelly auf den Kopf und befahl: »Nun los, du Narr. Ich habe wenig Zeit.« Kelly eilte mit Axton auf dem Rücken davon. Larkyont blickte ihm mit verkniffenen Augen nach. Erst nach geraumer Weile kehrte er in seine Wohnung zurück. »Gut gemacht«, lobte Axton den Roboter, als er mit ihm im Gleiter saß. »Es hat hervorragend geklappt.« Kelly lenkte die Maschine aus der Parknische und flog einige hundert Meter weit vom Trichterbau weg. Inzwischen hatte Axton bereits eine kompliziert aussehende Apparatur aufgebaut, die mit einem kegelförmigen Projektor verbunden war. Er spähte durch eine Spezialoptik, die er langsam drehte, bis er die aufgeplatzte Fensterscheibe der Wohnung von Larkyont entdeckt hatte. Nun richtete er den Projektor aus, bis er das wandhohe Porträt Gonozals VII. sehen konnte. Larkyont saß vor dem Visifon und führte ein Gespräch. Axton justierte die Gerätschaften und drückte endlich eine rote Taste. Im
gleichen Augenblick bildete sich eine unsichtbare Lichtbrücke vom Projektor bis zur Glasscheibe, die das Bildnis des ehemaligen Imperators schützte. Der Plan Axtons war geglückt. Im Lautsprecher erklang die Stimme Larkyonts. »Was ist das für eine Apparatur?«, fragte Kelly. »Musst du alles wissen?« »Nein.« »Das ist gut. Ich will es dir dennoch sagen. Wenn eine Person spricht, erzeugt sie Druckwellen. Diese bringen normalerweise die Fensterscheiben der Wohnung ins Schwingen. Mit einem gleichgerichteten Lichtstrahl kann man diese Vibrationen auffangen und in akustische Signale zurückverwandeln. Das wissen natürlich auch die Arkoniden. Deshalb haben sie die Außenscheiben so abgesichert, dass ihre Schwingungen gedämpft werden und dass ein gleichgerichteter Lichtstrahl nicht passieren oder reflektiert werden kann.« »Das verstehe ich, Schätzchen. Wieso wissen das aber auch die Arkoniden? Wer weiß das sonst noch?« »Das geht dich nichts an. Weiter im Text: Du hast die Fensterscheibe beschädigt und damit den Licht- und Schallschutz beseitigt. Jetzt kann ich also den Lichtstrahl bis zu der Scheibe durchdringen lassen, die das Bild Gonozals schützt. Sie vibriert bei jedem Wort Larkyonts, der noch nicht begriffen hat, dass du mit Absicht und nicht aus Ungeschicklichkeit gestolpert bist. Damit ist er mir in die Falle gegangen.« »Uns.« »Uns? Wieso uns?« »Auch ich war maßgeblich an dem Plan beteiligt.« »Du bist eitel, Kelly«, erwiderte der Verwachsene tadelnd. »Leider bist du nicht kreativ. Deshalb bin ich gezwungen, alle Ideen selbst zu entwickeln. Und jetzt sei still. Du störst.« »Ich hatte ohnehin vor, still zu sein.« »Ach – und warum?«
»Weil ich beleidigt bin.« »Wenn das die beste Methode ist, dich am Sprechen zu hindern, werde ich dich öfter beleidigen, um so zu meiner verdienten Ruhe zu kommen.« Axton hob abwehrend die Hand, als Kelly zu einer Entgegnung ansetzte. Der Roboter schwieg. Axton drehte den Lautstärkeregler der Apparatur weiter auf. Die Stimme Larkyonts drang leicht verzerrt aus dem Lautsprecher. Der Name Ukosthan fiel. Larkyont schien jedoch schon von sich gegeben zu haben, was er dem Sonnenträger hatte sagen wollen. » … sollten Sie nicht vergessen, dass ich es ernst meine.« »Schon gut«, erwiderte Ukosthan. Das war alles, was Axton von diesem Gespräch belauschen konnte. Larkyont wandte sich jedoch noch an eine Reihe weiterer Mitglieder der Organisation Gonozal VIII. Dabei sprach er ernst, teils drohend, teils eindringlich. Er erwähnte gewisse Schwierigkeiten, die für die Organisation entstanden waren, ohne Einzelheiten zu nennen. Vielfach nannte er nur Stichworte, so, wie sie bei Verschlüsselungen üblich waren. Lebo Axton zeichnete alle Gespräche auf. Er wollte sie später noch einmal abhören, um dann vielleicht doch noch wichtige Schlüsse daraus ziehen zu können. Vorläufig gewann er nicht den Eindruck, dass Larkyont der Präsident einer überaus gefährlichen Organisation war und wirklich unter Druck stand. Er schien sich mehr vor Organisationsverboten und Demonstrationsdekreten zu fürchten als vor einer echten Verfolgung. Er sprach zu den anderen Mitgliedern der Organisation wie ein Mann, der einer durchaus legalen Vereinigung vorstand und mit Unbequemlichkeiten und Behinderungen zu rechnen hatte. Die einzige Ausnahme bildeten die wenigen Worte, die er mit Ukosthan gewechselt hatte. Daraus konnte Axton nur den einen Schluss ziehen, dass die
beiden einzigen wirklich wichtigen Männer der Organisation Larkyont und der Sonnenträger waren. Ukosthan aber war ein Mann, der ihm gefiel. Axton hatte genügend Erfahrungen gemacht, um bei einer Untersuchung erkennen zu können, in welche Richtung er weiter vorstoßen musste. So spürte er bei Ukosthan, dass bei ihm Unklarheiten bestanden, obwohl er sich nur schwer vorstellen konnte, dass der Sonnenträger mit der gleichen Skrupellosigkeit morden konnte wie etwa Larkyont. Ukosthan war ein ganz anderer Mann. Er beschloss, den Sonnenträger erneut aufzusuchen.
Ukosthan schien nicht überrascht zu sein, als Axton bei ihm auftauchte, aber er war unruhig. Er bat den Verwachsenen in den Salon. Noch eingehender als zuvor blickte sich der Kriminalist um. Der Raum ließ mit seiner Einrichtung nicht nur Geschmack, sondern auch einen gewissen Reichtum erkennen. Wohltuend unterschied er sich in seiner Anlage von der Wohnung Larkyonts. Während diese farblos und fast anonym wirkte, herrschte hier eine angenehme Atmosphäre. Viele Kleinigkeiten zeigten, dass Ukosthan auf einem ganz anderen Bildungsniveau stand als Larkyont. Eine junge Arkonidin betrat den Raum. Sie musterte Axton neugierig, nickte ihm scheu zu und zog sich sogleich wieder zurück. Der Terraner setzte sich in einen Sessel. Die Frau passte in diesen Rahmen. Zweifellos war sie intelligent und viel selbstsicherer, als sie sich gab. Der Sonnenträger ließ sich ebenfalls in einen Sessel sinken. »Was führt Sie zu mir?« »Seltsam. Diese Frage höre ich in diesen Tagen immer wieder. Es scheint, als müsse ein Besuch immer begründet sein.« Ukosthan verschränkte die Arme vor der Brust, senkte den Kopf ein wenig. Seine Miene verriet, dass er sich ganz auf das
Gespräch konzentrierte. Er ließ sich nicht durch beiläufige Bemerkungen ablenken, schien genau zu wissen, wie wichtig jedes Wort für ihn sein konnte. Er blickte nur kurz zu dem Roboter auf, der hinter dem Verwachsenen stand. »Wenn Sie zu mir kommen, Axton, muss ich voraussetzen, dass Sie einen Grund dafür haben.« »Mit diesen Worten fordern Sie mich zur Offenheit auf.« Axton schmunzelte. »Ich habe nichts vor Ihnen zu verbergen.« Der Sonnenträger ließ sich nicht verwirren, blieb ernst und diszipliniert. »Larkyont hat mit Ihnen gesprochen«, stellte Axton fest, als Ukosthan beharrlich schwieg. »Das geschieht öfter.« »Heute war das Gespräch ganz besonders wichtig.« »Wenn Sie dieser Ansicht sind, wird das wohl richtig sein.« »Es ist richtig.« Lebo Axton sprach jetzt scharf. »Das wissen Sie so gut wie ich.« Die beiden Männer blickten sich an. Keiner wich dem anderen aus. »Ukosthan, Sie haben keine Wahl mehr«, fuhr der Kriminalist in der gleichen Schärfe fort. »Es sind zu viele Männer gestorben.« »Damit habe ich nichts zu tun«, erwiderte der Sonnenträger mit fester Stimme. »Davon bin ich keineswegs überzeugt. Die Verbindung ist da. Die Ermordeten haben alle Kontakte mit Ihnen gehabt. Die Offiziere haben mit Ihnen zusammengearbeitet.« »Das war zu einer Zeit, als Gonozal der Siebte noch Imperator war.« »Eben.« Der Sonnenträger blinzelte. Für Augenblicke flackerten seine Blicke. Er fragte mit einer Stimme, die nicht mehr ganz so sicher klang wie zuvor: »Was wollen Sie damit sagen?« »Das ist doch einfach. Ihre Zeit als Offizier und angehender Politiker endete mit dem Tod Gonozals. Unter Orbanaschol
haben Sie nichts mehr zu bestellen. Das liegt natürlich daran, dass Sie mit Ihrer ganzen Überzeugung zu Gonozal gestanden haben. Sie waren so eindeutig für den verunglückten Imperator, dass Orbanaschol Sie aus dem Kreis der Einflussreichen eliminieren musste. Aus Sicherheitsgründen.« »Das ist richtig«, gab Ukosthan zu. Seine Augen wurden feucht. Das war ein deutliches Zeichen dafür, dass er sich nicht mehr ganz so souverän beherrschen konnte wie zuvor. Die Erregung drohte ihn zu überwältigen. Axton gab ihm Zeit, sich zu fangen. »Aber dennoch gehören Sie zu den führenden Mitgliedern der Organisation Gonozal.« »Was wollen Sie denn? Das passt doch haargenau zu dem, was Sie vorher festgestellt haben. Ich war für Gonozal, und ich bin es auch heute noch.« Axton lächelte ironisch. »Und das bringen Sie ausgerechnet in einer Organisation wie dieser zum Ausdruck?« »Was haben Sie gegen die Organisation?« »Nichts. Nur – ein Mann wie Sie hat dort nichts zu suchen. Diese Organisation ist so ziemlich das Dümmlichste, was mir je begegnet ist. Sie ist politisch absolut unbedeutend, in ihr sind eigentlich nur zwei Männer tätig, die man ernst nehmen muss. Das sind Sie, Ukosthan, und das ist Larkyont.« »Ich verstehe Sie nicht. Was soll das alles?« »Das wissen Sie recht gut. Larkyont benutzt die Gonozal-Nostalgie-Vereinigung für seine privaten Zwecke. Er versteckt sich hinter dieser Langeweilevernichtungsorganisation und einem albernen Verhalten, mit dem er alle täuschen will.« »Das kann ich nicht beurteilen.« Der Arkonide wich aus. Sein Ton verriet Axton jedoch, dass er recht hatte. »Und jetzt möchte ich wissen, was Sie in der Organisation zu tun haben. Und ich werde diese Wohnung
nicht eher verlassen, bis Sie es mir eröffnet haben.« »Was soll das alles? Das bringt doch nichts ein. Ich kann nicht …« »Weichen Sie mir nicht aus. Wir werden jetzt und hier alle noch offenen Fragen klären – oder überhaupt nicht mehr. Dann aber gehen Sie zusammen mit Larkyont unter.« »Wollen Sie mir drohen?« »Ich habe ihnen lediglich erklärt, dass es um Ihren Kopf geht.« Ukosthan erschrak über die Kälte, die ihm entgegenschlug. Plötzlich sah er diesen verwachsenen Mann in einem ganz anderen Licht. Axton hatte einen viel zu großen Kopf. Seine wasserblauen Augen quollen aus den Höhlen. Das dünne, strohgelbe Haar bedeckte nur noch einen geringen Teil des Schädels. Die abstehenden, übergroßen Ohren ragten wie Segel vor. Und das spitze Kinn schien eher zu einem Knaben denn zu einem Mann zu gehören. Doch die Persönlichkeit, die sich hinter diesem Äußeren verbarg, trat plötzlich scharf hervor, ließ alles andere vergessen. Ukosthans Stirn wurde feucht, das Blut wich aus seinen Wangen, seine Augen tränten. Mit fester Stimme behauptete er: »Ich habe Ihnen nichts zu sagen, Axton.« Ein unmerkliches Lächeln entspannte die Lippen des Terraners. »Doch, Ukosthan. Sie wollen mir sagen, dass Sie von Larkyont erpresst werden. Dieser Mann hat Sie in der Hand. Er benutzt Sie, um sich selbst durch Sie abzusichern. Womit kann er Sie erpressen?« Der Arkonide schüttelte den Kopf. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Er schwieg. »Nun, die Antwort kann nicht so schwer sein«, fuhr Axton unerbittlich fort. »Sie waren Orbton in Gonozals Diensten. Als der Imperator tot war, haben Sie gegen den Nachfolger gekämpft, weil Sie wie viele Arkoniden der Ansicht waren,
dass Orbanaschol an Gonozals Tod nicht unschuldig war oder ihn gar ermordet hat. Sie haben sich nicht mit der Machtübernahme abgefunden, weil Sie diese als nicht rechtmäßig erkannt haben. Sie haben eine Revolte versucht. Diese ist fehlgeschlagen wie so viele andere in den ersten Tagen des neuen Imperators auch. Sie sind einer der wenigen Orbtonen, die von den Geheimagenten Orbanaschols nicht entlarvt wurden. Perko da Larkyont aber weiß, was Sie getan haben. Und er droht Ihnen ständig damit, sein Wissen preiszugeben.« »Das ist doch alles Unsinn«, sagte Ukosthan mit leiser Stimme. Lebo Axton wusste, dass er einen Volltreffer erzielt hatte, schwieg und wartete ab. Mehrere Zentitontas verstrichen, in denen der Sonnenträger auf seine Hände blickte. Als er den Kopf endlich wieder hob, hatten sich tiefe Kerben um Mund und Augen gebildet. Er sah plötzlich viel älter aus als vorher. Er stand auf. »Also gut. Es ist ungefähr so, wie Sie gesagt haben. Larkyont hat seine Stellung als Präsident missbraucht. Das habe ich in den letzten Tagen herausgefunden. Er hat gemordet. Und unter diesen Umständen kann ich ihn nicht mehr decken.« »Was haben Sie zu verbergen?« »Ich war in der Tat für eine Revolte verantwortlich. Außerdem habe ich Orbanaschol bei mehreren wirtschaftlichen Transaktionen übervorteilt. Ach was, ich habe den Imperator nach Strich und Faden betrogen. Das alles weiß Larkyont.« Ukosthan stand mit hängenden Schultern vor Axton. Als dieser nicht ebenfalls aufstand, streckte sich die Gestalt des Arkoniden plötzlich. »Genügt Ihnen das immer noch nicht? Warum verhaften Sie mich nicht?« Axton legte den Kopf in den Nacken und lachte. »Warum sollte ich? Ich werde doch keinen Freund ins Unglück stürzen.« Der Arkonide ließ sich fassungslos in den Sessel sinken.
»Freund? Sagten Sie wirklich Freund?« »Allerdings. Ich bin ein ebenso entschiedener Gegner des Imperators wie Sie. Ich kämpfe für Kristallprinz Atlan.« Der Sonnenträger fuhr sich mit der Hand über die Augen, atmete tief durch. Er hatte das Gefühl, im letzten Augenblick dem Tode entkommen zu sein. »Atlan! Sie sprechen von ihm, als sei er wirklich Ihr Freund.« »Ich kenne ihn gut«, antwortete Axton ausweichend. Die ganze Spannung, die zwischen den Männern bestanden hatte, wich schlagartig. Ukosthan wirkte wie verwandelt. »Axton, Sie sind ein Mann, vor dem man sich fürchten muss. Das habe ich von Anfang an gewusst.« »Nur für die Feinde Atlans bin ich gefährlich.« Er spürte, dass Ukosthan ihm vollkommen vertraute, und er war froh darüber. »Erzählen Sie mir jetzt, was Larkyont von Ihnen erpresst hat?« Der Sonnenträger ging zum Servomaten und holte Getränke. »Larkyont hat zu der Zeit, als Gonozal Imperator war, eine Reihe von Verbrechen begangen. Es waren wirtschaftliche Vergehen größten Ausmaßes, Betrügereien, in einigen Fällen bestand sogar Mordverdacht. Hinzu kamen auch noch politische Dinge. Ich selbst hatte nur am Rande damit zu tun. Larkyont war bereits verhaftet worden. Dann starb Gonozal bei einem Jagdunfall, wie es hieß. Das rettete Larkyont das Leben, denn Orbanaschol ließ erst einmal alle Verhafteten frei, sofern auch nur ein bisschen Politik mit im Spiel war. Und das war auch bei Larkyont der Fall. Auf mir unbekannte Weise gelang es Larkyont, seine Akte verschwinden zu lassen. Damit fehlten wichtige Beweise gegen ihn.« Ukosthan trank. Auch Axton bediente sich. Das Getränk schmeckte ihm gut. »Larkyont hätte sich nun liebend gern auf die Seite Orbanaschols geschlagen und sich als erklärter Gonozal-Feind ausgegeben. Er hätte durchaus die Möglichkeit zu einer großen
Karriere gehabt, aber er musste ständig befürchten, entlarvt zu werden. Deshalb verschwand er lange von der Bildfläche.« »Ist er denn nicht ein besonders hohes Risiko eingegangen, dass er ausgerechnet als Präsident der Organisation Gonozal wieder aus der Versenkung auftauchte?« Ukosthan schüttelte den Kopf. »Durchaus nicht – im Gegenteil. Da es unter anderem auch um politische Dinge ging, waren an der Aufklärung Offiziere und Agenten beteiligt, die alle eindeutig zu Gonozal standen. Als Orbanaschol an die Macht kam, sorgte er zunächst einmal für eine Säuberung. Er ließ alle Gegner von Arkon verbannen. Offiziere, Adlige, Beamte und andere Persönlichkeiten, die unter Gonozal Einfluss und Macht hatten, wurden auf andere Planeten des Großen Imperiums geschickt, sodass sie sich auf Arkon Eins nicht vereinigen und an seiner Macht rütteln konnten.« »Jetzt verstehe ich. Damit verließen auch alle Orbtonen die Kristallwelt, die Larkyont gefährlich werden konnten.« »Richtig. Aber er wusste, dass sie früher oder später zurückkehren würden und dass ihn das gerechte Schicksal dann immer noch ereilen konnte. Da er von der völlig richtigen Voraussetzung ausging, dass diese Männer in der Zwischenzeit gewiss nicht Orbanaschol-Anhänger geworden waren, rief er die Organisation Gonozal ins Leben. Dabei hatte er von Anfang an nicht im Sinn, sie zu einer echten Gegenströmung werden zu lassen. Nein, sie sollte eine Art Club für jene werden, die gern der alten, guten Zeit anhängen, von früher schwatzen und sich in fruchtlosen Vorstellungen ergehen, was wäre, wenn …« »Dabei ging er von der Überlegung aus, dass zurückkehrende Gonozal-Anhänger bei dieser leicht auszumachenden Organisation auftauchen würden. Sie würden kommen, vielleicht nur, um sich zu informieren oder ein paar Freunde von früher zu finden.«
»Genau«, sagte Ukosthan erbittert. »Und erst vor wenigen Pragos habe ich gemerkt, dass Larkyont wie eine Spinne in diesem Netz sitzt und darauf wartet, dass die Opfer kommen. Erscheinen sie, werden sie getötet, bevor sie ihn verraten können.« »Genial ausgedacht. Was aber hat Larkyont von Ihnen erpresst?« »Die Namen der Offiziere, die infrage kommen. Die ersten Namen habe ich ihm völlig arglos gegeben. Erst später wurde mir klar, welch ungeheuren Fehler ich damit beging.« Lebo Axton nickte dem Sonnenträger zu, trank sein Glas aus. »Sie haben Larkyont unter Druck gesetzt«, stellte Ukosthan fest. »Ist das richtig?« »Das ist richtig.« »Was haben Sie vor?« »Ich will Larkyont erledigen.« »Das wird schwer sein, wenn Sie mich dabei nicht gleichzeitig auch vernichten wollen. Man kann ihm praktisch nichts beweisen.« Ukosthan stockte, wurde bleich und richtete sich ruckartig auf. »Was haben Sie?« »Ich bin ein Narr. Heute trifft ein hoher Offizier ein, der maßgeblich an den Untersuchungen beteiligt war. Larkyont hat es durch einen Zufall erfahren und mir gegenüber eine entsprechende Bemerkung gemacht. Axton, er wird diesen Mann umbringen! Wir müssen das verhindern. Wenn wir diesen Mann vor ihm abfangen können, haben wir einen Zeugen, dann hat die Vergangenheit Larkyont endlich eingeholt.« Er sprang auf. Lebo Axton blieb sitzen. Mahnend hob er eine Hand. »Überstürzen Sie nichts. Dieser Zeuge ist nur eine Teillösung, nicht aber das Ideal.« »Warum?«
»Weil Larkyont, wenn er vor Gericht kommt, Sie auf alle Fälle mitreißen wird. Das will ich verhindern.« »Wollen Sie ihn … töten?«, fragte Ukosthan unsicher. Axton schüttelte den Kopf. »Ich habe einen besseren Plan.« Er rutschte aus dem Sessel und kletterte auf den Rücken Kellys. »Aber das erkläre ich Ihnen später. Jetzt wollen wir versuchen, den Offizier abzufangen. Wo, sagten Sie, kommt er an?« »Ahaut-Nord-Eins.« Der Verwachsene nickte. Es handelte sich um ein kleines Landefeld nördlich des Hügels der Weisen, knapp dreihundert Kilometer entfernt.
Der Kommandant schüttelte den Kopf. »Dien Temper hat die SELKO mit einem Spezialtransporter verlassen.« »Spezialtransporter? Und wohin ist er geflogen?«, fragte Lebo Axton. »Schnell, beeilen Sie sich. Er ist in höchster Gefahr.« »Er bringt bakterielle Ara-Kulturen zu einer weiter nördlich gelegenen pharmazeutischen Fabrik. Es handelt sich um hochgiftige Stoffe, die auf gar keinen Fall in die Atmosphäre Arkons gelangen dürfen.« »Könnten die Bakterienkulturen frei werden, wenn der Transporter abstürzt?« »Das wäre theoretisch möglich.« Axton atmete scharf durch, dankte dem Kommandanten. Wieder war er zu spät gekommen. Der Offizier war schon außerhalb des Raumers, draußen lauerte Larkyont, um ihn zu töten. »Kommen Sie, Ukosthan«, rief er seinem Begleiter zu. »Wir müssen uns beeilen.« »Geben Sie uns die genauen Kursdaten per Funk durch«, bat der Sonnenträger den Kommandanten und lief hinter Axton
her, der vom Roboter getragen wurde. Kurz darauf startete der Gleiter, der in einem Hangar des Schiffes gelandet war. Die TRC-Plakette Lebo Axtons hatte ihnen alle Türen geöffnet. Keine Wolke stand am sternenfunkelnden Himmel, als Ukosthan den Gleiter nach Norden flog. Er beschleunigte mit allem, was die Maschine hergab. Die beiden Männer schwiegen, blickten nach vorn und versuchten, den Transport auszumachen. Vor ihnen lag grünes, hügeliges Land, aus dem in großen Abständen weiße Trichterbauten aufragten. Ukosthan flog am östlichen Ufer eines lang gestreckten Sees entlang, der weit nach Norden reichte. »Kannst du etwas sehen?«, fragte Axton den Roboter, während er sich bemühte, Funkkontakt mit Dien Temper zu bekommen. Kelly nutzte die volle Brennweite der Linsen. »Leider nicht.« Endlich erhellte sich der Bildschirm. Das ausgezehrte Gesicht eines alten Arkoniden erschien. Forschende Augen blickten Axton an. »Ich habe schon von Ihnen gehört«, eröffnete der Arkonide das Gespräch. »Sie sind Lebo Axton, der Mann neben Ihnen ist Ukosthan. Ich erinnere mich an Sie, Sonnenträger.« »Dien Temper, wo sind Sie?« »Wir sind dicht vor unserem Ziel. Wir fliegen in einer Höhe von nur zehn Metern und haben die Geschwindigkeit stark gedrosselt. Selbst wenn man uns abschießen würde, kann nicht viel passieren.« »Wir müssen Sie dringend sprechen, Temper«, sagte Axton. »Seien Sie vorsichtig.« »Wer bedroht mich denn überhaupt in so schrecklicher Weise?« »Perko da Larkyont«, antwortete Ukosthan. »Larkyont? Ich habe nie von dem Mann gehört.« »Doch, das haben Sie«, erwiderte der Sonnenträger. »Er ist mit dem Gesetz in Konflikt geraten, und Sie haben einige seiner
Verbrechen aufgeklärt. Das war allerdings noch zu Gonozals Zeiten.« Das alte Gesicht erhellte sich. Temper nickte. »Jetzt weiß ich es wieder. Gut, ich habe verstanden, Sonnenträger. Wir setzen zur Landung an.« Er schaltete ab. »Larkyont kann es sich nicht leisten, stillzuhalten«, sagte Axton. »Er muss etwas tun. Er muss.« Die pharmazeutische Fabrik kam in Sicht. Es war ein quaderförmiges Gebäude von erheblichen Ausmaßen, das sich dennoch harmonisch in die Landschaft einfügte. Bald darauf konnte Axton auch den Gleiter sehen, der vor der Fabrik stand. Mehrere Männer eilten zwischen ihm und einer offenen Tür hin und her. Dichter Wald umschloss das Gebäude auf der östlichen Seite. Im Westen lag der See, der hier etwa fünf Kilometer breit war. An seinem Ufer ragten Felsen empor, die teilweise deutlich höher als die Fabrik waren. In ihnen konnte sich ein Mordschütze leicht verbergen. Ukosthan landete den Gleiter direkt neben der Transportmaschine. Temper kam völlig ungedeckt auf den Sonnenträger und Axton zu. Der Terraner stieg eilig aus der Kabine, eilte mit schleifenden Füßen auf Temper zu und rief er mit schriller Stimme: »Seien Sie vorsichtig!« Der Arkonide war ein kleiner, zierlich gebauter alter Mann, der sicherlich von seiner letzten, großen Fahrt nach Arkon zurückgekehrt war. Die Schultern waren nach vorn geneigt und ließen erkennen, dass dieser Mann über keine großen Kräfte mehr verfügte. »Übertreiben Sie nicht. Hier ist alles friedlich.« Kelly raste mit weit ausgreifenden Schritten um den Gleiter und warf sich vor Temper und Axton. Im gleichen Moment schlug etwas krachend gegen den Ovalkörper und wirbelte jaulend davon. Jetzt endlich begriff Temper, dass es ernst war, fuhr herum und blickte zu den Felsen. Dort blitzte es erneut
auf. Kelly rempelte Temper an, stieß ihn damit gegen Axton und schleuderte beide zu Boden. Ein Geschoss bohrte sich mit einem lauten Knall in die Karosserie des Gleiters. »Los, hoch!«, schrie der Verwachsene. »Kelly, bring Temper in die Fabrik!« Der Roboter handelte maschinenhaft schnell. Bevor Temper überhaupt wusste, wie ihm geschah, wirbelte Kelly ihn hoch, warf ihn sich über die Schulter und rannte auf die Fabrik zu. Abermals ertönte zwischen den Felsen ein Schuss, wiederum verfehlte ein Projektil den Arkoniden nur ganz knapp. Dann war es zu spät für den Heckenschützen. Kelly hatte das Gebäude erreicht und den Arkoniden damit in Sicherheit gebracht. Axton lag in guter Deckung hinter dem Transportgleiter, wo sich die Arkoniden befanden, die Temper begleitet hatten. Sonnenträger Ukosthan sprang in den Gleiter und startete. »Nein!«, schrie Axton. »Tun Sie das nicht!« Der Gleiter jagte auf die Felsen zu. Ukosthan neigte sich aus dem Seitenfenster, hielt einen Impulsstrahler in der Hand und schoss. Sonnenhelle Glut zuckte zu den Felsen hinüber und schlug dort ein. Weißglühendes Material spritzte wie Gischt über das Gestein. Axton erwartete, dass der Sonnenträger noch einmal feuern würde, aber dieser riss die Maschine herum und flog nach Norden. Mehrere Schüsse fielen. Die Geschosse bohrten sich in den Gleiter Ukosthans. Dann aber wurde es still. Der Sonnenträger kehrte in weitem Bogen zurück. Er war offenbar unversehrt, die Maschine hatte keinen nennenswerten Schaden erlitten. Er landete neben dem Transportgleiter. Völlig ungedeckt stieg er aus und ging zu Axton, der sich zögernd erhob. »Er ist geflohen. Ich habe es deutlich gesehen.« »Er muss entkommen.« Axton strich sich das dünne Haar aus der Stirn und schritt dann mühsam zu der offenen Tür hinüber, durch die Kelly Temper in Sicherheit gebracht hatte. Der Arkonide kam ihm entgegen und fragte heftig: »Sie
lassen den Verbrecher entkommen? Warum tun Sie nichts?« »Wir wissen, wer er ist. Das genügt. Nun hat er keine Chance mehr. Für ihn ist alles vorbei.« »Wer war es?« »Perko da Larkyont, wer sonst?« »Larkyont? Warum sollte er mich töten wollen? Aus Rache? Soweit ich mich erinnere, ist er für seine Taten nicht zur Verantwortung gezogen worden, weil wir einen Regierungswechsel hatten.« Seine Lippen verzogen sich voller Bitterkeit bei diesen Worten. »Warum sollte er diese Regierung plötzlich fürchten?« Ukosthan erklärte es ihm, Temper begriff. »Wir brauchen Sie als Zeugen. Deshalb werden wir Sie zur SELKO bringen. Im Raumschiff sind Sie in Sicherheit. Sie sollten es nicht verlassen, bevor Larkyont ausgeschaltet ist.« »Ich bin einverstanden!«, antwortete der alte Arkonide schlicht. Unschlüssig blickte er von einem zum anderen, dann fasste er sich ein Herz und fuhr fort: »Ich habe gewisse Gerüchte gehört.« »Tatsächlich?« Axton stellte sich arglos. »Welche denn?« »Es heißt, dass – hm – Gonozal auf Arkon aufgetaucht sein soll.« Temper sprach zögernd, seine Blicke hingen förmlich an den Lippen Axtons. Die Muskeln seiner Wangen zuckten. Erschüttert erkannte der Terraner, wie sehr sich dieser alte Mann an die Hoffnung klammerte, dass der vorherige Imperator doch noch lebte. Er brachte es nicht fertig, ihn in Ungewissheit leben zu lassen. Gleichzeitig aber verstand er, dass die Gonozal-Treuen zur Organisation Gonozal VIII. geeilt waren, weil sie von ihr allein eine schlüssige Antwort auf die Fragen zu bekommen erhofften, die sie am meisten beschäftigten. »Ich muss Sie enttäuschen«, sagte der Kriminalist ernst. »Gonozal ist nicht hier. Er ist tot. Ich habe absolut einwandfreie Beweise dafür.«
»Was aber war auf Xoaixo oder bei der Raumschlacht mit den Methans?« »Eine Täuschung. Wahrscheinlich ist dort ein Doppelgänger aufgetreten. Hier auf Arkon Eins jedenfalls nutzt die Organisation unter Larkyont die Gerüchte nur für eigene Zwecke aus. Fallen Sie nicht darauf herein.« Ukosthan griff nach dem Arm Tempers und führte den alten Arkoniden zum Gleiter. »Wir fliegen jetzt zum Schiff. Kommen Sie.«
Als der Gleiter mit Kelly am Steuer knapp eine Tonta später die SELKO verließ, flammte der Bildschirm des Bordvisifons auf. Das Gesicht Merantors erschien. »Axton!«, brüllte er. »Im Bereich des Elfblatt-Parks findet eine Demonstration der Gonozal-Anhänger statt. Wussten Sie das?« »Ich habe vor einigen Zentitontas davon erfahren.« »Wenn es Ihnen jetzt nicht gelingt, diese Frechheiten zu unterbinden, kenne ich keine Rücksicht mehr.« »Die mir gesetzte Frist ist noch nicht ganz abgelaufen«, antwortete der Kriminalist kühl. »Wer ist der Mann neben Ihnen?« »Sie sollten ihn eigentlich kennen. Ich versuche mit seiner Hilfe, den Gonozal-Trubel im Elfblatt-Park zu beenden.« Merantor kochte vor Wut. Axton konnte sich vorstellen, dass er vor wenigen Zentitontas von Orbanaschol III. einige unangenehme Worte zu hören bekommen hatte. Es musste so sein, denn sonst hätte Merantor sich nicht so aufgeführt. Er brüllte: »Ich habe Sie gefragt, wer dieser Mann ist!« »Es ist Sonnenträger Ukosthan. Wer sonst?« Die Augen des Ka’Celis-moas wurden schmal. Er musterte Ukosthan scharf, fluchte dann leise und brach die Verbindung ab.
»Sie haben keine Angst vor ihm«, sagte der Sonnenträger. »Das ist nicht ganz richtig. Ich kenne Merantor jedoch ganz gut. Er ist ein Choleriker, der sich hin und wieder austoben muss. Danach ist er meistens wieder recht friedlich.« Der Gleiter raste über ausgedehnte Parklandschaften nach Süden. Nur hundert Kilometer entfernt befand sich der Elfblatt-Park, der wegen der dort wachsenden Bäume so genannt wurde. Die Elfblattbäume stammten nicht von Arkon, sondern von einem Planeten außerhalb des Kugelsternhaufens Thantur-Lok. »Glauben Sie, dass Larkyont zu der Versammlung geflohen ist?« »Bestimmt.« »Das verstehe ich nicht. Er weiß doch, dass wir ihn dort verhaften werden.« »Wirklich?« Er blickte den Verwachsenen fragend an. »Wollen Sie ihn nicht verhaften?« »Ich befürchte, dass ich mir das gar nicht leisten kann«, erwiderte der Kosmokriminalist.
21. Aus: Klinsanthor, der Magnortöter – Hymne an den Unschaubaren, Kerndor-Kloster, Iprasa, entstanden in den Zarakhgoth-Votanii um 3120 da Ark, wenige Jahre nach Absturz des Sphärenschiffs der Gijahthrakos Im singenden Dom ruht und träumt der Magnortöter in seiner Allgegenwart, umgeben vom Funkeln des Regenbogens. Ausladend der Blütenkelch im Zentrum gleich einem kristallinen Khasurn. Hoch die Wölbung der Gruft, schimmernd im Glanz von Sternen und Juwelen. Im Schnittpunkt der kosmischen Kräfte gebiert die Unweit des Magnortöters gewaltige Macht – nur von der der Sternengötter übertroffen. Wird er gerufen, erfüllt er den Auftrag. Doch jeder hüte sich vor dem Schatten des Unschaubaren, und wehe dem, der von ihm berührt und getroffen wird. An Bord der ISCHTAR: 30. Prago des Tedar 10.499 da Ark (Bordzeit) Krachend flog das Schott auf. Das laute Geräusch riss mich vom Lager hoch. Ich sah im Rahmen den gedrungenen Körper meines Lehrmeisters und Ziehvaters. Einen Augenblick später hatten seine suchenden Finger den Schalter erreicht. Licht strömte von der Decke und erhellte meine große Kabine. Fartuloon stieß mit Unheil verkündender Stimme hervor: »Steh auf, zieh dich an und komm mit!« Ich schwang meine Beine aus den Decken und griff nach Hemd und Hose. »Was ist passiert?« Ich merkte, dass das Schiff lang schwingende, unregelmäßige Bewegungen ausführte. Also befanden wir uns noch immer im drohenden Einfluss der Sonnen dieser unbekannten Ballung und dem zwischen ihnen tobenden Hypersturm.
»Der Junge von Perpandron – er erwacht.« »Warum? Hat jemand …?« Wir taumelten, als ein neuer, schwerer Stoß das Schiff traf. Die große Kugelzelle geriet in stärkere Schwingungen, stabilisierte sich aber wieder sehr schnell. »Ich weiß nicht, was der Grund war.« Fartuloon war ungeduldig und nervös. Ich sah auf die Uhr; wir hatten genau sechseinhalb Tontas Ruhe gehabt. Nur eine relative Ruhe, aber jetzt war der größere Teil der Schiffsbesatzung vermutlich wieder einsatzfähig. »Haben wir schon eine brauchbare Positionsbestimmung?« »Nein. Die Zentrale versucht es immer wieder. Fast alle Plätze vor den Kontrollen und Schaltungen sind besetzt. Das Schiff ist, was die Mannschaft betrifft, voll einsatzfähig. Aber das Einzige, was wir erreicht haben, ist ein neuer Kurs. Wir befinden uns nicht mehr im Bann der roten Riesensonne.« Wieder lief ein Ruck durch das Schiff, trotz aller technischer Einrichtungen waren die Hypereinflüsse zu merken. »Dafür befindet sich die ISCHTAR nun im Einfluss einer der anderen Sonnen – und natürlich zwischen den Hypersturmausläufern.« Ein Blick auf den aktivierten Interkom zeigte Bilder der Panoramagalerie der Zentrale. Wir hatten die riesige rote Sonne passiert und einige Lichttontas zurückgelegt. Unsere Flugbahn war fast absolut gerade verlaufen. Aber noch immer befanden wir uns im Zentrum der vielen Sonnen. Quasi aus jeder Richtung strahlte eine andere, durchdringende Farbe. Ich rannte hinter dem Bauchaufschneider aus der Kabine. Eine böse Ahnung hatte mich ergriffen. »Vielleicht haben ihn die Strahlungen der Sonnen aufgeweckt? Oder sogar die rätselhafte Plattform, die jetzt irgendwo lauert und uns zusieht, wie wir um unser Leben kämpfen?« »Möglich.« Wir legten die letzten Meter bis zur nahen Medostation in
großen Sprüngen zurück. Stimmengewirr schlug uns entgegen. Ich schob zwei Männer auseinander, die direkt vor dem weiß gepolsterten Bett standen, auf der der Junge vom Planeten der Goltein-Heiler bisher unbeweglich gelegen hatte. Jetzt bewegt er sich. »Ich frage«, polterte Fartuloon los. Sein Gesicht war vor Aufregung gerötet. »Ich frage euch alle: Hat jemand irgendetwas unternommen, woraus wir schließen können, dass es diesen Jungen aufgeweckt hat?« Es war ein Chor von nahezu gleichlautenden Antworten: »Nein. Niemand. Wir alle sind ebenso überrascht.« »Gut. Vielmehr nicht gut. Wir werden offensichtlich von weiteren unangenehmen Überraschungen heimgesucht.« Fartuloon hatte mit unseren medizinischen Methoden versucht, den schlafenden Jungen aufzuwecken. Der Versuch war gescheitert. Jetzt wurden wir davon überrascht, dass sich die Brust des Jungen hob und senkte. Zuerst nur schwach, dann stärker und kräftiger. Die ungewöhnlich großen Augen waren weit offen und schimmerten rötlich. Der Verdacht, dass der namenlose Schlafende ein Arkonide oder ein Arkonidenabkömmling war, verstärkte sich erneut. Das silberne Haar, das bis zu den Schultern reichte, bewegte sich ebenfalls schwach. »Hoffentlich entpuppt er sich nicht als ein zweiter geistig übernommener Gonozal«, brummte Fartuloon. Niemand antwortete. Unsere Augen hingen gebannt an dem schmalen, aber keineswegs ausgemergelt wirkenden Körper. Das Gesicht war trotz seiner Leblosigkeit von jugendlich-männlicher Schönheit; der edle Kopf eines adligen Arkoniden. »Diese Sterntätowierungen in den Handflächen …«, murmelte ich. Unser fast erwachsenes Findelkind war in beinahe jeder Hinsicht bemerkenswert und einzigartig. Ich hoffte, dass wir
keine Zeitbombe an Bord geholt hatten. Er war bestimmt nicht älter als sechzehn Arkonjahre. Auf der Brust und auf dem Rücken hatte der Namenlose stark fleckige Hautpigmentierungen. Sie wirkten merkwürdigerweise keineswegs abstoßend, aber irgendwie störend. Die Hände lagen an den Seiten des ausgestreckten Körpers an. Die Handflächen waren in unnatürlichem Winkel nach oben gedreht, so dass wir die Sternsymbole erkennen konnten. Im Licht der Medostation wirkten die Symbole, als flimmerten sie leicht. »Ich habe kein gutes Gefühl«, sagte Fartuloon nach einiger Zeit leise. Der Junge bewegte sich. Seine Muskeln beugten und streckten sich langsam. Der schmale Mund war geöffnet, in der Stille konnten wir hin und wieder einen Atemzug hören. »Die Mehrzahl hier hat mit Sicherheit ein sehr schlechtes Gefühl. Aber wir werden auch diesen Zwischenfall überstehen.« »Sicher, nur wie?« Das Schiff suchte sich verzweifelt einen Durchbruch zwischen den Sonnen. Aber da die Abstände überall etwa gleich groß waren, würde jeder Versuch mit dem gleichen hohen Risiko behaftet sein. Das wusste inzwischen jedermann an Bord. Der Logiksektor wisperte warnend: Ich sage dir, dass dieser Flug lange dauern wird. Mach dich auf alles gefasst. Ich hätte diesen unhörbaren Zwischenruf nicht gebraucht. Ich war auf alles gefasst – so dachte ich wenigstens in diesem Moment. Der Junge zog die Knie an, drehte die Hände, stützte die Arme auf und erhob sich in sitzende Stellung. »Endlich habe ich den Zeitpunkt meiner Berufung erreicht!« Ich brauchte viel zu lange, um zu begreifen, was hier geschah. Die Frauen und Männer ringsum hatten nichts verstanden. Aber Fartuloon warf mir einen durchdringenden Blick zu. Altarkonidisch, sagte der Extrasinn. Genauer: Altakona.
Ich hatte den Satz, der eigentlich eine selbstzufriedene Feststellung sein sollte, augenblicklich verstanden. Nur Adlige auf Arkon mussten diese Sprache lernen, verwendet wurde sie kaum. Auch Gonozal kannte sie und hatte sie einst gesprochen. An Bord verstanden nur wenige dieses alte Idiom. Ich hatte es in Fartuloons Ausbildung und während der Schulung zur ARK SUMMIA lernen müssen. Unser Satron – von Same Arkon trona, »hört Arkon sprechen« – war aus dem Altakona der »Stammväter« hervorgegangen, welches wiederum der auf Artefakten gefundenen alten und toten Sprache Lemu glich. Ob und welche Zusammenhänge bestanden, wusste niemand mehr, sie verloren sich in den zurückliegenden Jahrtausenden. »Ob du den Zeitpunkt der Berufung erreicht hast, ist unklar. Jedenfalls bist du unser Gast«, sagte Fartuloon, sobald er seine Verwirrung überwunden hatte. Der Junge sah ihn prüfend an und machte einen überlegenen Eindruck. Es war mehr als erstaunlich – niemand an Bord wusste, wie lange er in dieser Todesstarre überdauert hatte. Aber sein erster Satz war vollkommen klar und deutlich gewesen. Viel mehr noch: Jeder andere hätte gefragt, wo er sich befand, warum er hier sei, was denn geschehen sei … oder hätte eine ähnliche Frage gestellt. Nicht so dieser Junge. Der Namenlose war in keiner Weise überrascht. Er zog die Knie an, legte die Arme darum und betrachtete aufmerksam die Gesichter der Umstehenden. »Ich brauche Nahrung, denke ich.« Ich sah, wie an der Stirn meines Lehrmeisters die Zornadern zu schwellen begannen. Er warf einen durchbohrenden Blick auf den Jungen und knurrte: »Geht es vielleicht etwas höflicher, junger Mann?« Ich kannte diesen Tonfall. Mein Ziehvater wurde immer dann so ruhig und schneidend, wenn er kurz vor der Explosion stand. Es konnte nur noch einige Herzschläge lang dauern, bis etwas Dramatisches geschah. Ich hob die Hand. »Wer bist du,
Fremder?« Das Sprechen in der uralten Sprache fiel mir nicht ganz leicht. »Wie ist denn dein Name?« Er beachtete mich nicht einmal. Sein Interesse richtete sich eindeutig auf Fartuloon, der mit verschränkten Armen auf der anderen Seite des Betts stand und auf den Namenlosen starrte. Seine buschigen Brauen bildeten eine waagrechte Linie. »Ich denke, ich brauche Essen und Kleidung. Hole er mir beides, Dicker. Und nur vom Besten, verstehst du? Sofort!« »Jawohl«, sagte Fartuloon mit eine Schnelligkeit, die mich ebenso verblüffte wie seine Verbeugung, und dann ging er schnell hinaus. Ich erstarrte, als ich begriff, was passiert war. Das ist keine Illusion, stellte der Logiksektor fest. Erschrecken, Verwunderung, Atemlosigkeit … schlagartig beherrschten uns höchst widersprüchliche Empfindungen. Vor Verblüffung waren wir vollkommen still geworden. Nur ich hatte den Dialog verstanden. Aber Tonfall und darauffolgende Handlung waren für alle anderen zu verstehen gewesen. Der Junge hatte Fartuloon wie einen Sklaven behandelt. Und der Bauchaufschneider hatte gehorcht, schnell und wortlos! »Seht euch vor«, sagte ich leise. »Der Junge hat Macht über uns.« »Kannst du verstehen, was er sagt?« »Ja. Es ist Altakona. Er hat Fartuloon um Essen und Kleidung geschickt.« »Und … der Bauchaufschneider ist … gegangen?« »Ihr habt es selbst gesehen.« »O verdammt!« Ein längerer Fluch folgte. Wir waren abermals wie gelähmt. Die Ahnung, erneut einen schlafenden Geist oder eine ähnliche kaum erfassbare Gefahr geweckt zu haben, wurde fast schmerzlich. Der Junge hatte in seinem Gesicht, das plötzlich bestürzend lebendig geworden war, einen unnachahmlich arroganten Ausdruck. Mit seinen großen Augen blickte er einen nach dem anderen an, musterte
uns in einer Art, wie ein Schlachtviehzüchter eine Herde mustern würde. Er prüfte uns sozusagen auf unsere Brauchbarkeit. Als unsere Augen sich trafen, sagte ich entschlossen: »Hör zu, Fremder. Wir sind nicht deine Diener. Vielmehr bist du unser Gast. Verhalte dich danach!« Er registrierte ohne sichtbares Erstaunen, dass auch ich Altakona sprach, betrachtete mich schweigend und lange vom Kopf bis zu den Füßen. Fartuloon kam, zwei andere Männer hinter sich, zurück. Mit einem langen Finger deutete der Junge auf einen Tisch und sagte kurz: »Bereitet dort das Mahl. Helft mir in die Gewänder.« Es ließ sich nicht vermeiden – das alte Arkonidisch klang immer etwas gestelzt und übertrieben. Der Fremde hatte nicht einmal eine Antwort für mich übrig gehabt. Von den drei angesprochenen Männern wurde auch dieser Befehl anstandslos befolgt. Sie standen im Bann dieses mächtigen Willens. Ich merkte noch nichts, drehte mich halb um und streckte den Arm aus. »Einen Schockstrahler«, murmelte ich. Jemand drückte mir den Griff der kurzläufigen Waffe in die Hand. Ich sah empört zu, wie Fartuloon mit schnellen und sicheren Bewegungen ein Tuch über den Tisch breitete und dort die Teller, Becher und Bestecke auslegte, wie die anderen Männer die Speisen hinstellten, mit der Kleidung hantierten, wie alles ablief, als sei es ein Teil der Morgenvorbereitungen am Hof des Imperators. Sie unterliegen völlig dem Bann des Jungen, flüsterte der Extrasinn. Brich diesen Bann! Der Junge stand auf und ließ sich ankleiden. Ich trat einige Schritte zurück und richtete die Waffe auf die Brust des Fremdlings. »Meine Geduld hat Grenzen«, sagte ich laut und scharf. »Du bist nicht unser Herrscher. Aufhören, ihr alle!« Die Gruppe erstarrte vorübergehend. Mein Finger legte sich um den Abzug. Der Junge warf mir einen Blick von mäßigem
Interesse zu und sagte kurz: »Wirf die Waffe weg. Füge dich! Dein Benehmen steht einem Sklaven nicht zu.« Die Wirklichkeit war vielfach schlimmer als die präziseste Vorstellung. Ich war wie hypnotisiert, wurde von dem Willen des namenlosen Jungen gezwungen, genau das zu tun, was er verlangt hatte. Ich fühlte mich keineswegs wie ein Sklave, aber ich musste erkennen, dass der Fremde deutlichen Zwang auf mich ausübte. Er zwang mich, ihm zu gehorchen wie ein willenloser Roboter. Ich ließ die Waffe fallen, erkannte seine Befehlsgewalt an. Innerlich schämte ich mich, dass ich versucht hatte, etwas zu tun, was er nicht wollte oder nicht forderte. Langsam drehte ich mich um. Jetzt starrten die Umstehenden mich an, wurden Zeuge meiner Niederlage. Verzweifelt suchte ich nach einem Ausweg. Dabei machte ich schlagartig eine andere Erfahrung. Ich bin wieder frei. Der Druck des absoluten, sklavischen Gehorsams wurde augenblicklich aufgehoben. Nicht einmal mein Extrasinn und der Monoschirm haben geholfen. »Wir müssen gehorchen, wenn er es will«, sagte Fartuloon leise und blieb neben dem Tisch stehen. »Selektive Hypnosuggestion, stärker als jeder mir bekannte Psychostrahler! Ich kann mich nicht wehren.« »Bediene mich, Kerl«, sagte der Junge. »Selbstverständlich.« Fartuloon machte sich sofort an die Arbeit. Der Namenlose trug jetzt die wertvollsten Kleidungsstücke aus unseren Magazinen. »Es ist merkwürdig«, sagte ich. »Sobald er mich aus den Augen gelassen hat, wich der Zwang.« »Und kommt augenblicklich wieder«, schränkte Fartuloon ein, »sobald er dich wieder anspricht und sich auf dich konzentriert. Wie soeben bei mir. Wir müssen ihn ausschalten.« »Unbedingt!« Der Junge war an Bord eines Raumschiffs aufgewacht, nach
einer unbekannten Zahl von Jahren des Tiefschlafes oder der energetischen Konservierung. Jeder, der einen einigermaßen funktionierenden Verstand hatte, musste merken, dass dies eine Medostation war. An Bord eines Raumschiffs, das noch immer darum kämpfte, einen Fluchtweg zwischen den Riesensternen zu finden. Aber der Namenlose war nicht im Geringsten überrascht gewesen. Er erwachte und begann zu herrschen. Augenblicklich! Ich wandte mich an die staunende Gruppe der Raumfahrer. »Verschwindet. Lauert auf eine Gelegenheit, ihn zu lähmen oder irgendwie zu isolieren. Fartuloon und ich fechten diesen Kampf hier aus. Ja, auch du, Vorry.« »Verstanden. Wir lassen uns etwas einfallen.« Während sich der Junge auf das Essen konzentrierte, verließ einer der Männer nach dem anderen schnell und schweigend die Medostation. Wir blieben allein zurück. Ich blieb regungslos stehen und überlegte. Drei Schritte neben mir lag der entsicherte Schocker. Der Bann hatte verhindert, dass einer der Männer ihn aufhob. Was können wir tun? Eine wilde Serie teilweise undurchführbarer Gedanken raste durch mein Hirn. Ich betrachtete den Rücken des essenden Unbekannten und versuchte, Ordnung in meine Gedanken zu bringen. Wir haben ihm bedingungslos zu gehorchen, wenn er einen Befehl ausspricht. Bisher waren es keine Bitten oder Anordnungen oder gar Vorschläge gewesen, sondern Befehle in einem arroganten, kalten Tonfall. Wir gehorchten. Nach einiger Zeit ließ der Bann nach, wenn er nicht wieder aufgefrischt wurde. Der Umstand, dass sich der Namenlose jetzt umgedreht hatte und mit gewaltigem Appetit die Leckerbissen in sich hineinschlang, machte mich innerhalb eines gewissen Spielraumes frei – für den Augenblick. Das bedeutete, dass der Fremde mit uns hantieren konnte wie mit Spielzeug. Der kalte Schweiß brach mir aus, als ich es erkannte. Ruhig. Es gibt immer eine Möglichkeit,
einer Falle zu entkommen. Blitzschnell bückte ich mich, hob den Schocker auf und zielte, noch auf dem Boden kauernd, auf den Hinterkopf des Namenlosen. Gerade als sich mein Zeigefinger krümmte und ich spürte, wie sich der Auslöseknopf hineinschob, ertönte links von mir ein gellender Schrei. »Nein! Atlan! Nicht!« Ich hatte verloren. Betäubt vor Ärger und mit dem Bewusstsein, vermutlich niemals wieder eine solche Chance zu bekommen, stand ich auf. Karmina da Arthamin näherte sich schnell; ich warf ihr nur einen ärgerlichen Blick zu und konzentrierte mich wieder auf den Jungen von Perpandron. Er sah mich hoheitsvoll über die Schulter hinweg an und sagte leise, aber mit schneidender Schärfe: »Du wirst mich niemals wieder mit der Waffe angreifen, Dienerseele.« »Nein!«, würgte ich widerstrebend hervor. Die Waffe polterte ein zweites Mal zu Boden. Ich drehte mich um und sah die Arkonidin an. »Das war außerordentlich unklug, Sonnenträgerin Arthamin«, sagte Fartuloon nur. Die Szene hätte Ausdruck einer irrsinnigen Komik sein können, aber in Wirklichkeit war sie ein Teil der steigenden Gefahren, in denen sich die ISCHTAR befand. »Wie apart«, sagte der Junge plötzlich und musterte die Arkonidin wie ein zappelndes Insekt. »Komm her, Mädchen.« Die Sonnenträgerin gehorchte. Ihre kühl blickenden Augen waren jetzt voller Verwirrung. Die gnadenlosen Ängste ihres Unterbewusstseins hatten noch nicht voll zu wirken begonnen. »Hierher«, sagte der Junge und deutete auf den leeren Sessel, neben dem Fartuloon stand. Der Bauchaufschneider war – wie wir alle – verwirrt und unsicher. Er würde alles riskieren, um diese neuen Gefahren von uns abwenden zu können – aber er musste sich sagen, dass jede Aktion sinnlos war. Aber auch er suchte nach einem Ausweg. Ich verfluchte in Gedanken die
Männer, die die Medoabteilung verlassen hatten. Es wäre für sie leicht gewesen, einen Roboter entsprechend zu programmieren oder den Raum mit Betäubungsgas zu fluten. Zwar wären auch wir zusammengebrochen, nicht nur der Junge, aber im Vergleich zu den zurückliegenden Tontas würde es uns allen kaum etwas bedeuten. Und jetzt verfluchte ich auch die Sonnenträgerin. »Setz dich«, sagte der Junge mit seiner eigentümlichen Stimme, deutete mit der Messerspitze auf den freien Sitz und lächelte kurz. »Ich setze mich«, wiederholte sie. »Ich habe Kleidung, wie sie mir zusteht. Ich denke, ich werde von diesen Brosamen auch satt. Jetzt brauche ich Unterhaltung.« Die Frau war verlegen. Im Augenblick war keineswegs zu erkennen, dass ihre Familie einst den Imperator Arthamin I. gestellt hatte. Weil er keinen Kristallprinzen-Nachfolger hatte, folgte ihm 10.386 da Ark Gonozal VI. auf den Kristallthron. Mir war bewusst, dass es um Ablenkung bemühte Gedanken waren. Mein Urgroßvater Mascar da Gonozal. Karmina wirkte wie ein junges Mädchen mit zartem Gesicht und großen Augen, das in einer Situation gefangen war, die nicht einmal seine Erfahrung entschlüsseln konnte. Uns allen ging es so. Stockend wandte auch sie das uralte und völlig ungebräuchliche Idiom an und fragte: »Wie soll ich Euch unterhalten?« »Lasse dir etwas einfallen!« Im Raumschiff warteten fünfhundert Besatzungsmitglieder darauf, unter ihnen Ra und Vorry, dass etwas geschah. Ich drehte den Kopf. Die Linsen der internen Kommunikationsanlage waren eingeschaltet, schon allein deswegen, weil wir uns noch immer zwischen den verderblichen Riesensonnen befanden. Plötzlich, noch
während alles offen und die Situation keineswegs klar war, meldete sich Pilot Malthor. »Atlan?« Ich war mit einigen schnellen Schritten beim Interkom. »Was gibt es?« »Wir haben hier eine Ortung – unsichtbare Massenkonzentration von höchster Gefährlichkeit.« »Was können wir tun?« Das Schiff wurde von den Anziehungskräften und den verschiedenen hyperenergetischen Wellenfronten der Sonnen hin und her gezerrt. Und jetzt tauchte auch noch ein zusammengebrochener Stern auf, winzig klein und mit der Masse einer Riesensonne, wie die Messungen bewiesen. »Nicht viel. Das Einzige, was ich im Augenblick riskieren kann, ist ein winziger Hypersprung. Vielleicht ein halbes Lichtjahr.« »Ich denke, wir sollten es tun.« Noch während die Zentralecrew leise die einzelnen Anzeigen kommentierte, sich mit den Teams in der Ortungszentrale unterhielt und den Kurs programmierte, erklang die ungewöhnlich kalte Stimme: »Was geht dort vor?« Die Stimme war die eines geborenen Herrschers. Dieser Junge war offensichtlich schon vor seiner Geburt zum Herrscher bestimmt worden – jedenfalls war dies mein Eindruck. Jede der wenigen Bewegungen, die wir bisher gesehen hatten, deutete ebenfalls unzweifelhaft darauf hin. Er herrschte, ohne es gelernt zu haben. Nein. Es ist keine Telepathie, versicherte ungefragt der Logiksektor. Ich versuchte, so ruhig wie möglich zu bleiben. »Wir versuchen, unser aller Leben zu retten.« »Es wird nicht viel wert sein. Was plant ihr dort an dieser Schaltstation, Diener?« Der Pilot fluchte. Ich sagte: »Wir geraten in die
Anziehungskraft unbekannter Sonnen. Das Schiff ist in Gefahr.« »Hört auf. Ich begreife das nicht. Ich weiß, dass ich nicht in Gefahr bin. Ich brauche unterhaltende Dinge, nicht eure merkwürdigen Riten. Ich will Kampf, Spiele, Aufregung!« Wir starrten ihn entsetzt an. Er hatte vollkommen ruhig gesprochen. Für ihn waren es alles absolut selbstverständliche Dinge. Gerade diese Selbstverständlichkeit, die aus der Unkenntnis der Situation kam, erschütterte uns. »Ich will nicht, dass ihr euch weiterhin um die Schaltungen kümmert. Das können andere Diener besser.« Der Junge fasste Karmina fest ins Auge, beugte sich vor, tätschelte ihr Gesicht und ihre Schultern. Sie ließ die Berührungen widerstandslos über sich ergehen. »Du wirst neben mir sitzen, wenn wir zusehen.« »Ich werde neben dir sitzen. Wo sehen wir zu?« Er machte eine großartig umfassende Geste. »Wir genießen es, wenn diese Männer im größten Raum dieses Gebäudes gegeneinander kämpfen werden.« »Kämpfen? Gebäude?«, rief ich. »Bist du wahnsinnig geworden?« Fartuloon schien im Augenblick seine Chancen abzuschätzen, verhielt sich ruhig und abwartend und stand an der Seite der Sonnenträgerin. Der Junge schüttelte missbilligend den Kopf. »Du bist ungezogen, außerdem höre ich derlei nicht gern. Du wirst als einer der Letzten kämpfen.« »Jawohl«, entgegnete ich fügsam. Es zerriss mich fast vor Wut. Aber es gelang mir nicht, gegen den Befehl zu handeln.
22. Aus: Gedanken und Notizen, Bauchaufschneider Fartuloon Atlans Vater, Mascudar da Gonozal, regierte als Imperator Gonozal VIII. in der Zeit von 10.446 bis 10.483 da Ark. Seine Frau und Imperatrix Yagthara, eine geborene Agh’Hay-Boor, zehn Arkonjahre jünger als ihr Gemahl, kam am 35. Prago des Dryhan 10.479 da Ark nieder; der Junge – von ihr nach einem der Zwölf Heroen »Atlan« genannt – war als Gos’athor Mascaren Gonozal designierter Nachfolger des über das Große Imperium der Arkoniden herrschenden Zhdopanthi. Ashlea da Orbanaschol starb 10.480 da Ark; wie es hieß, aus Gram, weil ihrem über alles geliebten Veloz-Orbanaschol keine Möglichkeit zur Nachfolge als Imperator mehr gegeben war. Und Atlans Vater starb, als der Junge vier Arkonjahre alt war, am 17. Prago des Tarman 10.483 da Ark auf dem Jagdplaneten Erskomier. Für lange Zeit blieb die »offizielle Version« eines Jagdunfalls verbreitet … Arkon I: 30. Prago des Tedar 10.499 da Ark Eine unübersehbare Menge hatte sich im Elfblatt-Park versammelt. Die meisten Arkoniden waren mit ihrem Gleiter gekommen und einfach auf den Wegen und Rasenflächen gelandet. Jetzt standen die Maschinen dicht an dicht, viele Frauen und Männer saßen auf den Dächern. Auf einem Hügel hatte die Organisation Gonozal VIII. in aller Eile eine provisorische Tribüne aufgebaut. Dort hatten die führenden Persönlichkeiten der Organisation Platz genommen. Als Axton und Ukosthan den Park zu Beginn der dreizehnten Tonta erreichten, hallte ihnen die Stimme von Larkyont entgegen. Sie dröhnte aus zahlreichen Lautsprechern,
die zwischen den Bäumen schwebten. Kelly reduzierte die Fluggeschwindigkeit und wartete darauf, dass Axton ihm ein Ziel nennen würde. »Vor einer Tonta habe ich mit Gonozal gesprochen«, schrie Perko da Larkyont gerade. Ein ungeheuerer Jubel brach aus. Die Arkoniden warfen die Arme in die Höhe. »Dabei würde kein Einziger von ihnen wirklich für Gonozal kämpfen, käme es darauf an«, sagte Ukosthan verächtlich. »Es macht ihnen Spaß, gegen Orbanaschol aufzubegehren, aber natürlich nur so lange, wie es nicht ernst wird.« Das Ruflicht flackerte. Axton schaltete das Gerät ein. Wiederum war Merantor am Apparat. »Was ist los, Axton?« Ruhig schilderte der Verwachsene die Situation. »Fliegen Sie direkt zur Tribüne und verhaften Sie Larkyont.« »Das wäre ein schwerer Fehler«, wandte der Kriminalist ein. »Larkyont vor den Augen dieser Menge zu verhaften, das hieße, ihn aufzuwerten.« »Dann erschießen Sie ihn.« Axton schüttelte den Kopf. Merantor schien den Verstand verloren zu haben. Dieser sonst so kluge und umsichtige Mann schien unter stärkstem Druck zu stehen. Das konnte nur bedeuten, dass Orbanaschol vor Zorn halbwegs von Sinnen und zu jeder politischen Dummheit bereit war, nur um sich Ruhe zu verschaffen. Axton hatte jedoch kein Interesse daran, eine Rebellion auf Arkon I zu entfachen. Dazu war es einfach zu früh. Atlan war nicht in der Nähe. Axton hatte noch nicht einmal Kontakt mit ihm gehabt, daher wusste er auch nicht, wie weit die Pläne des Kristallprinzen gediehen waren. Jetzt zum Kampf gegen den Imperator aufzurufen konnte daher alles zerstören. Axton kannte sich in der altgalaktischen Geschichte und in der Geschichte des Großen Imperiums bestens aus; er wusste, dass es zu dieser Zeit keine Rebellion gegen Orbanaschol gegeben hatte.
»Auch das werde ich nicht tun, Merantor, wenigstens jetzt noch nicht. Ihn vor den Augen der aufgeputschten Menge zu töten hieße, einen Märtyrer zu schaffen. Gleichzeitig würden wir alle noch bestehenden Zweifel an der Existenz Gonozals beseitigen, versuchten wir, die Situation mit Gewalt zu lösen.« Merantor war bleich bis in die Lippen. Er war sich dessen bewusst geworden, dass er einen Fehler gemacht hatte. »Also gut«, lenkte er ein. »Dann sprechen Sie wenigstens mit Larkyont. Sorgen Sie dafür, dass er dieses Theater nicht abziehen kann.« »Ich werde es versuchen.« Der Kosmokriminalist schaltete kurz entschlossen ab, verspürte wenig Neigung, die Diskussion mit Merantor fortzusetzen. Der Gleiter trieb über die Menge auf die Tribüne zu. Axton konnte jedes Wort hören. Larkyont stand breitbeinig vor dem Rednerpult. Er trug eine violette Uniform, die mit Phantasieauszeichnungen geschmückt war. Auf dem Kopf saß ein Hut mit zwei feuerroten Federn. Der Mann bot einen fast lächerlichen Anblick, aber die Menge akzeptierte ihn so. Vermutlich gerade, weil sie diese Gonozal-Veranstaltung, wie alle anderen zuvor auch, mehr als Unterhaltung ansah denn als Vorbereitung zu echtem Widerstand. Plötzlich bemerkte Larkyont den Gleiter, verstummte, breitete die Arme theatralisch aus und wartete einige Augenblicke. Es wurde still. Die Menge merkte, dass sich etwas anbahnte, was nicht eingeplant war. Als der Gleiter noch etwa fünfzig Meter vom Präsidenten der Organisation Gonozal VIII. entfernt war, zeigte Larkyont mit beiden Händen auf die Maschine. »Da, meine Freunde, seht!«, brüllte er in die winzigen Mikrofone, die an seiner Uniform befestigt waren. »Seht ihr sie? Es sind die Häscher Orbanaschols! Sie wollen mich holen. Sie wollen mich vernichten, weil ich euch die Wahrheit verkündet habe, die
Wahrheit, dass Gonozal lebt und dass er, den wir alle lieben, sich hier auf der Kristallwelt aufhält.« Er stöhnte laut, als sei er von einem Schuss getroffen worden. Mit übertriebener Geste schlug er sich die Hände vor die Brust. »Sollen sie mich töten, meine Freunde«, fuhr er mit gehobener Stimme fort. »Gonozal, den rechtmäßigen Imperator des Großen Imperiums, werden sie damit nicht mehr aufhalten. Er hat seine Hand bereits ausgestreckt, um die Macht wieder an sich zu nehmen.« Die Menge tobte. Einige Arkoniden schleuderten Gegenstände auf den Gleiter. Ukosfhan schürzte verächtlich die Lippen. »Er bleibt seiner Rolle treu.« Auf Weisung Axtons lenkte Kelly den Gleiter hinter die Tribüne. Hier war noch etwas Platz, sodass er landen konnte. Sofort wurde die Maschine von Gonozal-Anhängern umringt. Die meisten schrien wütend auf die Männer in der Kabine ein. Axton und Ukosthan verhielten sich ruhig. Die Türen waren von innen verriegelt. Solange nicht auf sie geschossen wurde, konnte ihnen kaum etwas passieren. Plötzlich wurde es still. »Na endlich«, sagte Axton. »Meine Freunde«, rief Larkyont mahnend. Die Stimme des Präsidenten hallte donnernd aus den Lautsprechern. »Wir wollen uns nicht auf die gleiche Stufe mit den Feinden des verehrten Gonozal stellen. Wir können uns beherrschen, wir beachten die Gesetze!« Die Arkoniden wichen zurück. »Sie haben wieder einmal recht gehabt«, sagte Ukosthan. »Larkyont lässt nicht zu, dass sie uns etwas tun.« »Er kann es sich nicht leisten.« Der Präsident der Organisation Gonozal VIII. schritt tänzelnd auf den Gleiter zu, zog den Hut und verneigte sich spöttisch. Dann schleuderte er den Hut mit theatralischer Geste von sich. Ukosthan öffnete die Tür des Gleiters, Larkyont stieg ein. Er warf dem Sonnenträger einen prüfenden Blick zu und
beachtete ihn danach nicht weiter. »Ich gebe Ihnen eine Bitterlänge«, sagte er von oben herab. »Also, was wollen Sie von mir?« »Dies wird ihr letzter großer Auftritt sein«, sagte Lebo Axton. »Es tut mir fast leid für Sie, Tai-Laktrote.« »Spotten Sie nicht. Sie ahnen nicht, welche Macht ich in den Händen halte. Verhaften Sie mich nur. Schleppen Sie mich nur von hier weg – und aus der harmlosen Gonozal-Sympathie-Welle wird eine Rebellion gegen Orbanaschol werden! Sie spielen mit dem Feuer, Axton.« Der Kosmokriminalist setzte sich quer auf seinen Sitz und lehnte sich mit dem Rücken an die Tür. So konnte er bequem nach hinten zu den beiden Arkoniden sehen. »Larkyont«, sagte er ernst. »Mir kommt es vorläufig nur darauf an, dass diese Demonstration so schnell wie möglich beendet wird. Der Imperator ist außer sich vor Zorn. Er sieht in ihr tatsächlich den Beginn eines Aufstands gegen sich. Da er jedoch weiß, dass ein militärischer Einsatz ein schwerer psychologischer Fehler wäre, greift er noch nicht ein.« Larkyont lachte breit. »Ich weiß, dass Sie gar nicht an Gonozal interessiert sind, Larkyont. Nicht ich spiele mit dem Feuer, sondern Sie. Sie befinden sich jetzt haargenau an der Grenze dessen, was sich der Höchstedle gefallen lässt. Vielleicht gibt es tatsächlich Aufruhr, wenn die Polizei die Demonstration auflöst, aber das hätte nichts zu bedeuten. Orbanaschol hätte nach kurzer Zeit gesiegt. Sie aber hätten dann alles verloren.« Die Augen des Präsidenten waren schmal geworden. Er saß voller Anspannung da und beobachtete jede Geste Axtons. Selbstverständlich wusste Larkyont, dass ihm der Verwachsene auf die Spur gekommen war und dass er einen wichtigen Zeugen hatte. »Sie täuschen sich. Die Macht des Volkes kann auch einen Mann wie Orbanaschol hinwegfegen.« »Sicherlich kann sie das. Bei geeigneter Führung hätte ein
Aufstand vielleicht sogar eine Chance. Aber Sie, Larkyont, haben nichts von einer Revolte. Wenn Sie diese Demonstration jetzt nicht auf der Stelle auflösen, sind Sie ein toter Mann. Das Volk hat dann seinen Märtyrer, aber was haben Sie davon, wenn Sie tot sind?« »Sie drohen mir mit Mord?« Axton lächelte undurchsichtig und schwieg. Nervös blickte der Präsident zu Ukosthan hinüber, aber dieser tat, als habe er nichts behört. »Was schlagen Sie vor? Ich habe Macht in den Händen, die mich schützt. Das wissen Sie. Sie können mich nicht so ohne Weiteres töten. Also, was ist Ihr Angebot?« »Wir sprechen uns später in der Wohnung von Ukosthan. Und jetzt steigen Sie aus«, erwiderte Axton schneidend scharf. Der Präsident der Organisation Gonozal VIII. presste die Lippen zusammen. Er zögerte, bis ihm klar wurde, dass ihm nur noch ein Weg blieb. Er stieg aus. Mit gesenktem Haupt und schleppenden Schritten kehrte er zur Rednertribüne zurück. Wenig später klang seine Stimme auf. »Meine Freunde«, sagte er in die atemlose Stille hinein. »Wir müssen unsere Versammlung auflösen. Es haben sich gewisse Veränderungen ergeben, die uns dazu zwingen, wollen wir das Leben Gonozals nicht gefährden. Je schneller Sie nach Hause zurückkehren, desto besser ist es für unseren geliebten Gonozal den Siebten.« Vereinzelte Rufe klangen auf, doch Larkyont beachtete sie nicht, wandte sich von der Menge ab und setzte sich in seinen Gleiter, der hinter der Tribüne stand. Kelly startete und ließ die Maschine bis in eine Höhe von fast fünfhundert Metern steigen. Von hier aus beobachteten Axton und Ukosthan, dass sich die Menge tatsächlich rasch auflöste. »Ich habe fast den Eindruck, dass Sie diesen Mörder ungeschoren davonkommen lassen wollen«, sagte der Sonnenträger.
»Ich befasse mich mit diesem Gedanken«, gestand Axton.
Drei Arkonidinnen übernahmen es, Axton und Ukosthan das Essen zu reichen. Eine von ihnen war die Frau des Sonnenträgers, die anderen beiden seine Töchter. Sie sahen kaum jünger aus als ihre Mutter, die so jugendlich und elastisch wirkte, als seien die Jahre spurlos an ihr vorübergegangen. Ukosthan wartete, bis er mit dem Kriminalisten allein war. »Warum wollen Sie einen Mörder wie Larkyont verschonen?« Axton zerteilte eine saftige Frucht mit dem Messer und schabte das Innere mit einem Löffel heraus. »Orbanaschol weiß, dass die Organisation Gonozal kein wirklich ernst zu nehmender Gegner ist. Die Organisation und der ganze Trubel, den sie veranstaltet, sind ihm nur lästig. Weiter nichts. So sehen fast alle Arkoniden diese Organisation auch. Sie engagieren sich nicht wirklich, sie lassen sich nur unterhalten. Dennoch könnte die Organisation zu einer Arkonbombe werden, dann nämlich, wenn wir Larkyont so zur Verantwortung ziehen, wie er es verdient hätte. Ich will aber, dass dieser Clown verschwindet, damit eine echte Untergrundorganisation entstehen kann! Ich will, dass eine Bewegung entsteht, die Orbanaschol stürzen und Atlan an die Macht bringen kann. Das Potenzial ist da. Zuverlässige Frauen und Männer gehören der Organisation Gonozal an. Es gilt, ihre Fähigkeiten zu nutzen und gleichzeitig alle unzuverlässigen Kräfte zu eliminieren.« »Das wäre phantastisch. Während der Imperator und alle anderen Abwehrkräfte weiterhin glauben, dass die Organisation und ihre Führung nicht ernst zu nehmen sind, entsteht eine Kraft, die Orbanaschol eines Tages das Genick brechen kann.« »Richtig. Deshalb soll Orbanaschol auch nicht erfahren, dass
Larkyont tatsächlich ein mehrfacher Mörder ist. Larkyont muss ohne großes Aufsehen verschwinden.« »Das schaffen Sie nicht« Seine Frau trat ein. »Larkyont ist da.« Ukosthan und Axton verließen ihre Plätze. Kelly kniete nieder, um den Terraner auf den Rücken steigen zu lassen, doch Axton verzichtete darauf, getragen zu werden. Larkyont hatte es sich in einem Sessel am Fenster bequem gemacht. Er blieb sitzen und winkte den beiden Eintretenden lässig zu. Auf seinen Knien lag ein Thermostrahler. Er fragte mit nur mühsam verborgenem Triumph: »Haben Sie Arkon-Vision gesehen?« »Nein«, erwiderte Axton gleichgültig. »Das hätten Sie aber tun sollen. Von Gonozal und Atlan war die Rede. Es ist mir gelungen, ein Interview unterzubringen. Die Öffentlichkeit weiß, dass ich bei Ihnen hier in dieser Wohnung bin.« »Das alles interessiert mich nicht.« Der Verwachsene setzte sich dem Präsidenten gegenüber in einen Sessel. »Zusammen mit Ukosthan habe ich Ihre Vergangenheit aufgedeckt. Ich weiß, dass Sie die Organisation Gonozal nur ins Leben gerufen haben, um damit eine zweite Karriere aufzubauen.« Schonungslos deckte der Terraner nun auf, was er herausgefunden hatte. Je länger Axton sprach, desto mehr verwandelte sich die anfängliche Selbstsicherheit Larkyonts in Entsetzen und Bestürzung. Da der Kriminalist selbstverständlich nicht verriet, welche Pläne er mit der Untergrundorganisation verfolgte, musste der Arkonide zu der Erkenntnis kommen, dass ihn nun nichts mehr retten konnte. Doch dann raffte er sich noch einmal auf. Er lachte laut, als Axton geendet hatte. »Bei aller Bewunderung für Sie«, sagte er mit mühsam beherrschter Stimme. »Sie glauben doch nicht, dass man Ihnen diese Märchen in der Öffentlichkeit abnehmen
wird? Vielleicht haben Sie sogar recht. Vielleicht habe ich diese Morde begangen, die Sie mir vorwerfen. Meinen Sie aber wirklich, meine Anhänger würden einer clownhaften Figur wie mir solche Verbrechen zutrauen? Man würde in der Öffentlichkeit zu dem Schluss kommen, dass Orbanaschols Schergen ein übles Lügengebilde errichtet haben, nur um mich loszuwerden. Damit aber würden Sie wiederum das Risiko eingehen, eine ernst zu nehmende Entwicklung gegen Orbanaschol auszulösen.« Axton wartete gelassen ab, bis Larkyont ausgesprochen hatte. »Wir haben einen Zeugen. Wir haben absolut eindeutige und unwiderlegbare Beweise für die Morde, die Sie begangen haben.« Er zählte die Offiziere auf, die der Präsident beseitigt hatte, nannte dabei auch diejenigen, über deren Ende keine klaren Auskünfte vorlagen. »Gegen diese Beweise lässt sich nichts machen. Sie sind erledigt.« Der Präsident schüttelte den Kopf. »Man würde von einem Schauprozess und von übler Propaganda reden. Was auch immer geschieht – die Gonozal-Welle würde neue Impulse erhalten.« »Vielleicht. Im Notfall würde Orbanaschol das jedoch akzeptieren.« »Notfall? Dann bieten Sie mir einen Ausweg?« »Allerdings.« »Welchen?« »Ich will, dass Sie Ihren guten Ruf verspielen. Ist das geschehen, können Sie untertauchen und verschwinden. Ich werde Sie in Ruhe lassen.« »Das ist ein Trick.« »Sie können sich auf mich verlassen. Ukosthan ist mein Zeuge.« Larkyont überlegte kurz. »Wie stellen Sie sich das vor?«
»Zunächst eine Vorbemerkung. Es wird auf gar keinen Fall zu einem Prozess kommen.« »Warum nicht?« »Weil ich Sie vorher beseitigen lassen würde. Verkehrsunfall oder so etwas.« Larkyont blickte Axton durchdringend an, wurde blass, glaubte dem Verwachsenen. »Was schlagen Sie vor?« »Ich will, dass Sie die Gonozal-Anhänger zu einer Spendenaktion aufrufen. Geben Sie bekannt, dass Sie schnell viel Geld benötigen. Erklären Sie meinetwegen, dass es um die Rettung Gonozals geht. Werden Ihre Anhänger bezahlen? Was meinen Sie?« »Unbedingt«, antwortete Larkyont überzeugt. »Also gut. Sobald sich genügend Geld angesammelt hat, nehmen Sie es und tauchen damit unter. Einen Teil der Summe stellen Sie vorher Ukosthan zur Verfügung.« Das Gesicht Larkyonts verzerrte sich vor Wut. »Sie wollen sich an der Gonozal-Welle bereichern!« Axton dachte nicht daran zu gestehen, dass er das Geld für die aufzubauende Untergrundorganisation gegen Orbanaschol benötigte. »Ich verstehe«, sagte Larkyont nach einigen Zentitontas. »Verschwinde ich mit dem gespendeten Geld, werden alle Gonozal-Verehrer glauben, dass ich die Organisation nur aufgebaut habe, um in ganz großem Stil abkassieren zu können.« »Sie haben es erkannt!«, erwiderte Axton spöttisch. »Die Ernüchterung wird groß sein, das Interesse an der Organisation Gonozal auf den Nullpunkt sinken.« Larkyont schob den Thermostrahler unter die Jacke. Seine Wangen waren eingefallen, die Augen lagen tief in den Höhlen. Er sah um Jahre gealtert aus. »Ist das die einzige Möglichkeit, mein Leben zu retten?«
»Die einzige«, bekräftigte Axton. »Wann soll ich anfangen?« »Sofort, wenn Sie diese Wohnung verlassen haben.« »Welche Garantien habe ich?« »Mein Wort. Ich werde dafür sorgen, dass hin und wieder Nachrichten von Ihnen gebracht werden. Man wird melden, dass Sie auf diesem oder jenem Planeten gesehen wurden. Unser Plan kann nur aufgehen, wenn Sie leben. Verstehen Sie? Ein toter Larkyont wäre für uns nutzlos.« »Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als Ihnen zu glauben.« Larkyont stand auf, streckte Axton die Hand hin, doch dieser übersah sie. Larkyont hüstelte verlegen und verließ den Salon. »Haben Sie wirklich die Absicht, ihn entkommen zu lassen?«, fragte Ukosthan, als er sicher war, dass ihn Larkyont nicht mehr hören konnte. »Selbstverständlich. Es ist so, wie ich gesagt habe. Ein toter Larkyont hilft uns überhaupt nichts.«
In der nun anbrechenden Nacht begann Larkyont den Kampf um sein Leben. Er berief sofort eine Versammlung der Organisation ein, in der er zum ersten Mal seit Bestehen der Vereinigung in schlichter und unauffälliger Kleidung auftrat. Vor Beginn seiner psychologisch sorgfältig ausgewogenen Rede unterrichtete er Axton davon, dass die Anhänger Gonozals zusammengekommen waren. Der Terraner verließ seine Wohnung, in die er inzwischen zurückgekehrt war, und ließ sich von Kelly in den Trichterbau bringen, den er bereits von seinem ersten Besuch mit dem ermordeten Studenten Dastruk kannte. Ein Vertrauter Larkyonts führte ihn in einen Nebenraum, von dem aus er gut verfolgen konnte, was geschah.
Im eingeschalteten Trivid lief unterdessen der dritte Teil der Gonozal-Trilogie – Merantor hatte das Verbot der Ausstrahlung zurückgenommen. Letztlich war er von Axtons Argument überzeugt worden, dass der dramatische Höhepunkt Gonozals Tod bei der Jagd sein würde. Also genau das, was die offizielle Geschichtsschreibung aussagte. Diese imperiumsweit ausgestrahlte Botschaft stand fortan sämtlichen Gerüchten gegenüber, die Gonozals leibhaftiges Auftreten zum Inhalt hatten. Dessen ungeachtet eröffnete Larkyont den Mitgliedern der Organisation gerade, dass Gonozal VIII. in unerwartete Schwierigkeiten geraten sei. »Wir haben den rechtmäßigen Imperator des Großen Imperiums versteckt gehalten«, rief er mit dröhnender Stimme in den Saal. »Wir waren unserer Sache absolut sicher. Doch jetzt sind Komplikationen eingetreten, die unsere gesamten Pläne zu vernichten drohen.« Er machte eine wirkungsvolle Pause, in der die Spannung und die Erregung der versammelten Arkoniden und Arkonidinnen spürbar stiegen. »Was ist passiert?«, brüllte ein greisenhafter Mann mit Fistelstimme. »Sagen Sie es schon.« »Die SENTENZA hat sich eingeschaltet«, sagte Larkyont mit gebrochen klingender Stimme. »Die SENTENZA?« Diese Frage kam aus vielen Richtungen gleichzeitig. Axton ließ sich von Kelly bis an die fast geschlossene Tür zum Saal tragen. Durch den Türspalt spähte er zu Larkyont. Er musste zugeben, dass der Präsident der Organisation ein überzeugender Schauspieler war. Bei der SENTENZA handelte es sich um eine illegale Organisation, die Axton an die Cosa Nostra oder die Mafia erinnerte, wie sie auf der Erde des 20. Jahrhunderts bestanden hatte. Dieses Krebsgeschwür der arkonidischen Gesellschaft war in viele Wirtschaftsbereiche
vorgedrungen und hatte erheblichen Einfluss. Und die SENTENZA wurde nicht ernsthaft bekämpft, da sie sich eines gewissen Wohlwollens Orbanaschols III. erfreute. »Was hat die SENTENZA mit Gonozal zu tun?«, fragte eine junge Arkonidin, die dicht vor Larkyont saß. »Sie ist in der Lage, Gonozal sterben zu lassen und so der Behauptung einiger Kreise Nachdruck zu verleihen, es sei nur ein Gerücht, dass Gonozal lebt und hier auf Arkon Eins ist.« »Wo ist er?« »Das kann und darf ich nicht verraten.« Heftige Diskussionen begannen im Saal. Es wurde immer lauter, bis Larkyont über den Lautsprecher um Ruhe bat. »Dies ist die Tonta der Entscheidung. Jetzt müssen wir alle beweisen, dass wir wirklich zu Gonozal stehen!« »Was können wir denn tun?«, fragte ein Offizier. »Mit der SENTENZA gibt es nur eine Sprache. Das wissen wir alle. Diese Sprache ist Geld. Wir können Gonozal nur dann retten, wenn wir der SENTENZA geben, was sie will. Wir benötigen Geld, meine Freunde, sehr viel Geld. Und wir müssen es schnell haben. Jede Tonta ist kostbar.« »Hat die SENTENZA Gonozal in ihrer Gewalt?«, fragte der Offizier, dem Larkyont geantwortet hatte. Der Präsident der Organisation legte eine Pause ein und wartete, bis es absolut still im Raum war. Dabei verhielt er sich psychologisch so geschickt, dass die Spannung für die Zuhörer bis ins Unerträgliche stieg. »Gonozal ist krank. Er benötigt ein bestimmtes Medikament, das wir nur aus einer einzigen Quelle beziehen können. Und die SENTENZA kontrolliert den Verkauf dieses Medikaments. Sie kennt die Schwäche Gonozals, deshalb stellt sie ihre Forderung. Sie weiß, dass Gonozal sterben wird, wenn das Geld nicht innerhalb von zehn Tontas da ist. Deshalb, meine Freunde, müssen wir schnell handeln.« Nach einer weiteren Pause fügte er hinzu: »Sie alle
kennen die Konten unserer Vereinigung. Ich fordere Sie auf, spenden Sie für Gonozal. Geben Sie, was Sie entbehren können. Denken Sie daran, dass es jetzt um alles geht. Das Schicksal des wahren Imperators liegt in unserer Hand.« Er zog ein Papier aus der Tasche und hielt es hoch. »Dies ist der Betrag, den ich spende.« Er nannte die Summe. Lebo Axton staunte darüber, wie raffiniert dieser Mann vorging. Seine Spende, die natürlich wertlos war, da Larkyont nicht daran dachte, sein eigenes Konto zu belasten, entsprach einem Jahreseinkommen der höchsten Beamten des Hofes. Larkyont hatte vollen Erfolg. Sein Spendenaufruf wurde mit geradezu fanatischem Eifer befolgt. Die Zahlungsanweisungen häuften sich bald vor ihm. Wer sie ausgeschrieben hatte, eilte aus dem Saal. In dieser Nacht verbreitete sich das Gerücht, dass sich Gonozal VIII. in höchster Gefahr befand, über den ganzen Planeten. Und überall hatte es den gleichen Erfolg. Ein Strom von Geld sammelte sich auf den Konten der Organisation Gonozal VIII. Dabei waren, wie Axton später feststellen konnte, außerordentlich viele anonyme Anweisungen. Sie waren der Beweis dafür, dass die Gegner Orbanaschols III. zahlreicher waren als bisher angenommen.
Am späten Vormittag des 31. Tedar erschien Lebo Axton in seinem Büro. Doch er hatte keine Zeit, sich zu setzen. Durch einen Boten ließ Merantor mitteilen, dass er ihn sofort sprechen wollte. Der Erste Hohe Inspekteur saß hinter seinem Arbeitstisch, stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte und drehte nervös einen Schreibstift zwischen den Fingern. »Ich hoffe, Sie wissen, was passiert ist?« »Allerdings. Ich habe Larkyont die ganze Zeit überwachen lassen. Er ist jetzt ein steinreicher Mann.«
Merantor wartete, blickte Axton schweigend an. Erst als dieser mit seinem Bericht begann und das Motiv für seine Entscheidung erklärte, lehnte er sich in seinem Sessel zurück. Das Misstrauen, das ihn beherrscht hatte, legte sich allmählich. Anerkennend hörte er zu, warum sich Axton dafür entschieden hatte, Larkyont und die Organisation Gonozal VIII. auf diese Weise unschädlich zu machen. Axton legte ihm abschließend eine Liste mit den Namen von vierundzwanzig Frauen und Männern vor. Es handelte sich bei ihnen, genau wie Axton es Ukosthan gegenüber angesprochen hatte, selbstverständlich um jene »unzuverlässigen Kräfte«, die es zu eliminieren galt. »Sie werde ich im Lauf des Tages verhaften lassen. Es sind Personen, die ernsthaft an Widerstandsmodellen arbeiten«, log Axton. »Alle anderen Mitglieder der Organisation sind harmlose Träumer. Wenn wir sie nicht weiter beachten, wird bald niemand mehr von ihnen reden.« Merantor war damit noch nicht zufrieden, ließ sich noch einmal Schritt für Schritt erklären, wie Axton vorgegangen war und wie es ihm gelungen war, die Vergangenheit Larkyonts aufzudecken. Dabei verstand es der Kriminalist, Ukosthan völlig aus dem Spiel zu lassen. Er erwähnte ihn überhaupt nur einmal beiläufig. Zum Schluss hatte Merantor begriffen. Er wusste alles, nur nicht, dass aus den Resten der Organisation Gonozal VIII. eine echte Untergrundorganisation entstehen würde. »Es gefällt mir nicht, dass Larkyont davonkommen soll«, sagte der Arkonide schließlich. »Er ist ein mehrfacher Mörder, er hat darüber hinaus während der Zeit des vorherigen Imperators Verbrechen begangen, die ungesühnt bleiben werden.« »Uns bleibt immer noch die Möglichkeit, Larkyont in ein oder zwei Jahren, wann immer wir wollen, zufällig zu entdecken, ihn dann zu verhaften und abzuurteilen. Dann wird
niemand mehr einen Märtyrer und damit einen Volkshelden aus ihm machen.« »Sie haben recht.« Merantor griff nach einigen Akten und schlug sie auf. »Ich danke Ihnen, Axton. Sie haben gute Arbeit geleistet.« Der Verwachsene verabschiedete sich und kehrte in sein Büro zurück. Hier lag bereits das Material für einen neuen Fall vor, den er zu bearbeiten hatte.
Axton hatte etwa eine Tonta Ruhe, dann meldete sich Ukosthan über Visifon. »Was gibt’s?«, fragte der Terraner überrascht. »Ich bin auf dem Raumhafen Süd-Ferdeau, weil ich ein interessantes geschäftliches Angebot erhalten habe. Leider wird nichts daraus werden, denn ich glaube, dass mein Geschäftspartner in Schwierigkeiten gekommen ist.« Lebo Axton verstand sofort. »Ich komme.« Er kletterte auf den Rücken Kellys und ließ sich zum Gleiter tragen. Die Nachricht konnte nur eins bedeuten: Larkyont wollte vom Raumhafen Süd-Ferdeau aus Arkon I verlassen. Ukosthan hatte aber die Befürchtung, dass er es nicht schaffen würde, weil eine Verhaftung drohte. »Tempo!«, befahl Axton, als er im Gleiter saß. »Los, Kelly. Signal setzen!« Kelly drückte zwei Tasten am Armaturenbrett. Damit schaltete er einen Impulsgeber ein, der dem Gleiter automatisch freie Bahn verschaffte und ihm maximale Geschwindigkeit gestattete. Alle anderen Flugmaschinen wurden gezwungen, einen Umgehungskurs einzuschlagen, damit es nicht zu einer Kollision kam. Axton fluchte verhalten. Jetzt wusste er, was ihn am Verhalten Merantors gestört hatte. Der Choleriker hatte anders reagiert als sonst, hatte alle Meldungen und Erklärungen hingenommen, ohne sich
emotionell zu engagieren. Nun wusste Axton, dass Merantor von Anfang an nicht vorgehabt hatte, Larkyont entkommen zu lassen. Er wollte den Kopf dieses Mannes, der den Gonozal-Rummel entfesselt hatte. Merantor, ein zwar oft aufbrausender und unbeherrscht erscheinender Mann mit tatsächlich genialen Fähigkeiten, handelte dieses Mal wider alle politische Vernunft. Fieberhaft überlegte Axton, wie er verhindern konnte, dass die Gonozal-Welle doch noch überschwappte. Er zweifelte nicht daran, dass es in diesem Fall unmöglich sein würde, eine echte und schlagkräftige Untergrundorganisation aus dem bestehenden Kern aufzubauen. Er fand keine Lösung. Es dauerte nicht lange, bis der Raumhafen am Horizont auftauchte. Sieben Kugelschiffe standen auf dem Landefeld, das von weit gespannten Energiefeldern umsäumt wurde. Das Kontrollgebäude war nur durch einen Tunnel zu betreten. Axton musste den Gleiter wohl oder übel auf einem Parkplatz am Eingang des Tunnels abstellen. Hier war alles ruhig. Nur etwa fünfzig andere Maschinen waren geparkt. Axton zögerte. Sollte er auf Merantor und Larkyont warten? Sollte er versuchen, sie hier abzufangen? Er entschloss sich, bis zum Raumschiff vorzudringen, in dem sich der Präsident der Organisation Gonozal VIII. befand. Kelly trug ihn auf eine Rollstraße, vor der er über zwei weitere Schnellbahnen auf eine Höchstgeschwindigkeitslinie überwechseln konnte, die mit Haltestangen und Sitzen versehen war. Voller Unruhe stellte Axton fest, dass sich die Gegenrichtung in einem anderen Tunnel befand und nicht eingesehen werden konnte. Somit musste er stets bis zum Kontrollgebäude fahren, ehe er auf den Parkplatz zurückkehren konnte. Als er die Halle des Kontrollgebäudes endlich erreichte, kam ihm Ukosthan entgegen. Der Sonnenträger war bleich vor Erregung. In der Halle drängten sich Arkoniden. Axton sah
Kameras und Mikrofone. »Larkyont ist bereits verhaftet worden«, berichtete der Sonnenträger, der mit einem langen grünen Mantel bekleidet war. »Sehen Sie dort, Merantor selbst bringt ihn gerade.« Axton krallte seine Hände um die Haltegriffe auf dem Rücken Kellys. Über die Köpfe der Arkoniden hinweg konnte er Merantor erkennen, dem vier Helfer folgten. Sie hatten Larkyont in die Mitte genommen. Merantor blieb vor den Kameras stehen. »Perko da Larkyont hat mir soeben gestanden, dass er die Organisation Gonozal nur aus Gründen der persönlichen Bereicherung gegründet hat. Wir konnten verhindern, dass er mit der gesamten Kasse dieses zweifelhaften Unternehmens verschwindet.« Die Agenten führten Larkyont weiter. Axton versuchte, zu Merantor durchzudringen, aber die Mauer stand so dicht, dass er nicht vorankam. Larkyont selbst kam nicht zu Wort. Die Celistas schleppten ihn förmlich zu der Rollstraße. Zusammen mit Merantor verschwanden sie im Tunnel. Die Reporter hetzten hinter ihnen her, versuchten, noch mehr zu erfahren. »Zu spät«, sagte Ukosthan enttäuscht. »Es ist aussichtslos. Damit sind wohl alle Pläne dahin.« Er sah so niedergeschlagen aus, dass Axton ihm tröstend die Hand auf die Schulter legte. »Erst einmal abwarten. Noch ist nicht aller Tage Abend.« Ukosthan hob den Kopf. »Was glauben Sie denn? Larkyont wird mich verraten und versuchen, sich an mir zu rächen. Sie sind unverwundbar. Aber ich?« Axton setzte zu einer Antwort an, schwieg dann jedoch. Er war durchaus nicht unverwundbar. Er lenkte Kelly auf die Rollstraße zu. Ukosthan folgte ihm. Der Lärm, den die Reporter veranstalteten, versiegte allmählich. Axton vermutete, dass sie auf ihre vielen Fragen keine Antwort bekamen und deshalb allmählich aufgaben. Als Ukosthan und er das Ende
der Rollstraße erreichten, stiegen Merantor, seine Männer und Larkyont in einen Gleiter. »Ukosthan«, sagte der Terraner. »Wir müssen uns trennen. In einigen Tagen sehen wir uns wieder. Verlassen Sie sich auf mich. Ihnen wird nichts passieren. Falls Larkyont reden sollte, bringe ich Sie in Sicherheit. Schweigt er, bauen wir auf, was wir uns vorgenommen haben.« »Ich bin Ihr Mann, Lebo«, entgegnete der Sonnenträger mit fester Stimme. Die Männer blickten sich stumm in die Augen und gingen in verschiedenen Richtungen davon.
»Ich will Merantor auf den Fersen bleiben«, sagte Axton, als er zusammen mit Kelly im Gleiter saß. »Beeil dich.« Der Gleiter mit dem Verhafteten hatte bereits eine Höhe von fast hundert Metern erreicht. Nur fünf Maschinen mit Reportern flogen hinterher. Der Roboter startete. »Schneller!« Kelly beschleunigte mit höheren Werten. »Darf ich etwas sagen?« »Nein, später«, erwiderte Axton heftig. »Achte auf den Gleiter mit Larkyont. Ich will genau wissen, wie es dort aussieht.« »Dann kann ich diese Maschine nicht lenken.« »Zur Seite, ich übernehme das Steuer.« Der Roboter rutschte zur Seite und veränderte die Brennweiten seiner Linsen, um den Gleiter Merantors besser beobachten zu können. Axton lenkte die Maschine schnell näher an die andere. Mühelos überholte er die Gleiter der Presse, bis er auf etwa fünfzig Meter an Merantor herangekommen war. Er sah, dass Merantor Larkyont anbrüllte. Der ehemalige Präsident der Organisation Gonozal VIII. schien nicht sehr beeindruckt zu sein, lachte sogar.
Merantor stieß ihm die flache Hand so kräftig ins Gesicht, dass der Kopf Larkyonts nach hinten flog und gegen die Scheibe der Tür prallte. Plötzlich öffnete sich die Tür. Die Faust Merantors schoss vor. Larkyont kippte aus dem Gleiter, warf sich herum. Sein Mund öffnete sich weit, die Arme wirbelten Halt suchend um seinen Körper. Dann entdeckte er Lebo Axton. Abscheu und Verachtung zeichneten sich in seinem Gesicht ab. Er stürzte in die Tiefe. Der Terraner sah deutlich, dass Merantor lachte. Axton schloss die Augen, begann, am ganzen Körper zu zittern. Eine namenlose Wut überkam ihn. Mit einem Schlag hatte Merantor alles zerstört, was er mühsam aufgebaut hatte. Gleichzeitig war die Gefahr für die neu entstehende echte Untergrundorganisation wieder akut geworden. Der Verwachsene öffnete die Augen. Für Augenblicke spielte er mit dem Gedanken, Kelly hinter Larkyont herzuschicken und diesen zu retten. Doch dann presste er die Lippen zusammen und schwieg. Er durfte nicht eingreifen, denn damit hätte er alles aufs Spiel gesetzt und seine eigene Existenz infrage gestellt. Er hatte das Gefühl, dass der blaue Gürtel zu pulsieren begann, riss das Hemd auf und krallte seine Finger um das blaue Band, doch auch jetzt konnte er es nicht ablösen. Keuchend neigte er sich zur Seite. In diesem Moment endete der Sturz Larkyonts vierhundert Meter tiefer auf den Felsen, die einen See begrenzten. »Weiter, Kelly!«, befahl Axton keuchend. »Weg von hier!« Der Roboter lenkte den Gleiter nach Norden, während die Reporter und Merantor in der Nähe des Toten landeten.
Eine Tonta später befand sich Axton noch immer in der Luft. Seine Erregung hatte sich etwas gelegt. Er erinnerte sich an den Studenten Dastruk, der den Kontakt zu Larkyont hergestellt
hatte. Inzwischen zweifelte Axton nicht mehr daran, dass der Student auf eigene Faust Ermittlungen angestellt hatte, die ihm zum Verhängnis geworden waren. Axton bedauerte nur, dass er Larkyont nicht mehr zu einem Geständnis zwingen konnte. »Vielleicht war es doch ganz gut, dass alles so endete«, sagte er mit gepresster Stimme und blickte auf den Visifonschirm. Das Gerät war die ganze Zeit über eingeschaltet gewesen, zeigte das Programm von Arkon-Vision. Jetzt erschien das Gesicht Merantors. Axton beugte sich vor und drehte den Ton auf. » … können wir nur vermuten, dass Larkyont Selbstmord begangen hat«, führte Merantor gerade aus. »Wahrscheinlich geschah es aus Scham über den maßlosen Betrug, den er an seinen vielen Anhängern begangen hat.« Axton schaltete aus, konnte die Stimme nicht mehr hören. Er fühlte sich hintergangen. Jetzt blieb ihm nur noch abzuwarten, wie die Arkoniden reagierten. Akzeptierten sie, dass Larkyont den Betrug in ganz großem Stil versucht hatte, war alles gut. Taten sie es nicht, konnte der Mord Merantors an Larkyont zum zündenden Funken an einem Pulverfass werden. Doch daran glaubte Axton nicht. Ihm war aus der altarkonidischen Geschichte nichts von einem Aufstand gegen Orbanaschol zu dieser Zeit bekannt. Gewissheit würden jedoch erst die nächsten Tage geben. »Merantor«, sagte er leise. »Du wirst noch für das bezahlen, was du getan hast.« Und Kelly zitierte spontan auf seine unnachahmlich Art aus den Sinnsprüchen zur ARK SUMMIA: »Trefflich, majestätisch und groß: ein Adler zu sein. Was aber, wenn das Schicksal dich zum Aasgeier bestimmt hat oder zur feigen Hyäne?« Axton starrte den Roboter sprachlos an.
23. Galur da Paro erreichte Arkon I nach einem Flug, der ihn eine dicke Stange Geldes wegen Überschreitung sämtlicher Flugregeln kosten würde – insbesondere die Tatsache, dass er viel zu weit im Inneren des Arkonsystems die letzte Transition beendet hatte, würden die Behörden unnachgiebig ahnden. Dergleichen kümmerte einen da Paro wenig, für solche Familien hielten die Banken ohnedies besonders breite Kontoauszüge bereit, um die langen Zahlenkolonnen unterbringen zu können. Galur war mit sich selbst außerordentlich zufrieden. In seinem Gepäck befand sich der große Kristall des dritten Auges des Springfroschs. Galur hatte einige Zeit gebraucht, bis er den Gleiter wiedergefunden hatte, dann aber hatte er rasch sein Zelt verpackt und den Heimweg angetreten. Er hatte den gemieteten Gleiter abgegeben und grinsend den Schaden bezahlt, den der Schlosswurm angerichtet hatte. Später war es zur abschließenden Begegnung mit Dargai Thal gekommen. Bei dieser Behandlungsphase wurde die Verbindung zwischen ihren Seelen hergestellt, gefolgt von der Endphase, die die »Übernahme der schlechten Geistesanteile« betraf, wie es bei den Goltein-Heilern hieß. Noch am gleichen Prago packte Galur mit einem außerordentlich befriedigten Gefühl seine Sachen, stellte einen großzügigen Überweisungsauftrag aus und verließ die Unterkunft. Ein Gleiter brachte ihn zum Landefeld, wo die Diskusjacht auf ihn wartete. Galur verlor auch hier keine Zeit, brachte die Formalitäten schnell hinter sich, wobei er einmal mehr die Nützlichkeit hoher Geldgeschenke feststellen konnte, dann startete er. Er freute sich auf das Wiedersehen mit seiner Familie. Galur begrüßte fröhlich die Versammelten, die bei seinem Eintreffen verdächtig betroffene Gesichter zeigten, vor allem der jüngere Bruder. Einige Pragos sonnte er sich in seinem Ruhm als Bewältiger eines ausgewachsenen Springfroschs, obwohl er genau spürte, dass man ihm kein Wort glaubte und eher bereit war anzunehmen, dass er den
ungeschliffenen Kristall einem Raumtramp abgekauft hatte. Am dritten Tag nach seiner Ankunft suchte Galur seinen Hausarzt auf, denselben Mann, der ihn zu der Kur auf Perpandron überredet hatte. Die Untersuchung war sehr lang und sehr gründlich, und das Gesicht, das der Mediziner bei seiner Rückkehr aus dem Labor machte, war sehr ernst. »Eigentlich sind Sie kerngesund, auch psychisch.« »Das wusste ich bereits.« »Aber … Sagen Sie, haben Sie auf Perpandron vielleicht Nahrung zu sich genommen, die, sagen wir …« – das Gesicht des Mannes zeigte einen Anflug von Ekel – » … nicht ganz einwandfrei war?« Galur schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste.« Der Arzt zuckte bedauernd die Schultern. »Dennoch muss ich Ihnen leider mitteilen, dass Sie nicht vollständig gesund sind. Es handelt sich um eine Erkrankung, die allerdings harmlos ist, wenn sie sofort und gründlich bekämpft wird.« Galur sah den Arzt an und schauerte. Eine fürchterliche Ahnung befiel ihn. »Hat diese Krankheit vielleicht etwas mit meinem … äh … Verdauungssystem zu tun?« Der Bauchaufschneider nickte feierlich. Galur wurde blass. »Doch nicht etwa …?« Wieder nickte der Yoner-Madrul. Galur stieß einen Schrei aus, der die Scheibe erzittern ließ: »WÜRMER!« An Bord der ISCHTAR: 33. Prago des Tedar 10.499 da Ark (Bordzeit) Die automatischen Aufnahmegeräte drehten ihre Linsen hin und her. Das gleißende Licht der Tiefstrahler erhellte einen großen, freien Kreis auf dem Boden des größten, zurzeit leeren Beiboothangars. Auf Stahlrohrkonstruktionen, die von der Besatzung aus den Lagervorräten errichtet worden waren, befanden sich die Sitze des Auditoriums – es glich einer antiken Arena. Breite, farbige Stoffstreifen hingen von den kreisförmigen Tribünen herunter. Eine mannshohe Barriere
aus Kunststoffteilen, die einem anderen Zweck hätten dienen sollen, bildeten eine Art Mauer. In der improvisierten Arena war es still. Aber in den breiten Korridoren rund um den zweckentfremdeten Hangar herrschten Lärm und Musik. Der Fremde von Perpandron hatte mit einer Reihe von Befehlen das gesamte Schiff unter seine Gewalt bekommen. Es waren alles Befehle und Anordnungen, die uns seit nun drei Pragos keinen Spielraum ließen. Jeder Bildschirm in der ISCHTAR war eingeschaltet. Der Befehl hatte gelautet, dass diejenigen, die nicht kämpften und zusahen, die »Unterhaltung« in ihren Kabinen mitverfolgen mussten. Welch ein Irrsinn! Aber es war ein wohlorganisierter Irrsinn, ausgedacht von einem Gehirn, das noch immer nicht begriffen hatte, dass wir uns in einem gefährdeten Raumschiff befanden und zwischen den Riesensternen umhertaumelten. Andererseits war die Szenerie durchaus vertraut. Neben dem staatlichen Gewaltmonopol hatte es in der arkonidischen Gesellschaft von jeher die Möglichkeit der individuellen Auseinandersetzung gegeben – in Arenen ebenso wie beim Duell oder Tjost –, deren Einzelheiten im Verlauf der Jahrtausende ritualisiert wurden. Formen der Duell-Forderung, Wahl der Waffen, Teilnahme von Sekundanten und Schiedsrichtern, genau festgelegte Verhaltensweisen, von Ablehnung oder der Bestimmung von Stellvertretern – alles das umfassten die Kodexformeln gemäß Spentsch und Mannax. Kein Ehrenmann arkonidischer Abstammung zog es in Zweifel, sogar Essoya akzeptierten es als Ausdruck einer Auseinandersetzung, in die sich der Staat nicht einzumischen hatte, weder auf imperialer noch auf lokaler Ebene, Gewaltmonopol hin oder her. Manche Kämpfe gewannen vor diesem Hintergrund mitunter die Qualität eines Gottesurteils, und auch das war von allen ohne Wenn und Aber akzeptiert.
Es gehörte zu Arkon und das Große Imperium wie die KAYMUURTES, die Drei Welten oder Thantur-Lok. Ich seufzte. Die Musik stammte aus den Tonkonserven des Schiffes, wurde von Speicherkristallen in der Zentrale abgespielt und über die Schiffskommunikation ausgestrahlt. Donnernd brachen sich die Echos der Bässe in den Korridoren und den Rampen. Die Fanfaren dieser kriegerischen Musik schrien und kreischten wie entfesselte Sirenen durch die Gänge und Kammern. Das Schiff hatte sich in ein Irrenhaus verwandelt. Und wir sind die gehorsamen Narren. Bis jetzt hatte sich der mächtige Fremde noch nicht auf mich konzentriert. Er wusste nicht, wo er sich befand, hielt es offensichtlich für den Ort, an dem wir ihn schlafend gefunden hatten. So entging ihm, dass die ISCHTAR ein lebender Organismus war. Der Junge wusste nicht, dass es in fast allen Teilen der großen Kugel für uns Verstecke gab, in die sich Frauen und Männer zurückziehen konnten. So schafften wir es, dass das Schiff weiterhin gegen die Anziehungskräfte der Sonnen und die Wellenfronten des Hypersturms kämpfen konnte, obwohl sich vierhundert Raumfahrer der Laune des Unbekannten fügten. Ein gewaltiges Spektakel begann. Die Magazine waren auf Geheiß dieses unheimlichen jungen Mannes geplündert worden. Wir alle hatten uns mit Teilen der Ausrüstung kostümiert, sollten augenscheinlich einen Stamm höchst fremdartiger Krieger darstellen. Teile von Raumanzügen, farbiges Tuch, alle nur denkbaren Dinge, die Ähnlichkeit mit antiken Waffen hatten, bildeten die Verkleidung. Schwere Stiefel polterten durch die Korridore. Ein Orchester begleitete die anfeuernden Rhythmen aus den Lautsprechern. Es waren Männer, die Trommeln trugen – in Wirklichkeit leere Behälter von Speisen oder Speziallacken – und mit improvisierten Schlegeln darauf droschen. Das dumpfe, harte Dröhnen der
Trommelschläge untermalte das schauerliche Summen, das aus den Röhren verschiedener Durchmesser drang, die ihrerseits von einer Gruppe als Posaunen oder ähnliche Blasinstrumente benutzt wurden. Dazwischen bewegten sich kleine Gruppen von abenteuerlich ausgestatteten Frauen. Sie schrien von Zeit zu Zeit grell auf und bildeten einen wilden, akustischen Hintergrund zu dem Krachen und Heulen der falschen Instrumente. »Yayaya!«, brüllten sie in höchsten Tönen, zehnmal, zwanzigmal hintereinander. »Yayaya!« Der Zug wurde angeführt von der hämmernden, blasenden und kreischenden Meute. Niemand konnte ausbrechen. Die präzisen Befehle dieses seltsamen Herrschers über unseren freien Willen wurden ausnahmslos befolgt. Aber während wir alle gehorchten, erkannten wir, dass wir uns zum Narren machten. Was immer wir versucht hatten, um der geistigen Fessel zu entkommen, es wirkte nicht. Wir planten Widerstand, Gegenwehr und Revolution, aber schon der nächste Befehl verwandelte uns wieder in willenlose Sklaven, die diesem ungereiften und unerwachsenen Herrscher gehorchten, als hätten sie Angst vor den sausenden Hieben der Peitschen. Langsam und in feierlichem Schrittmaß bewegte sich die Spitze des Zuges einen der breiten Hauptkorridore entlang. Aus der Richtung der Mannschaftsquartiere und einiger Magazine kamen kleine Gruppen phantastisch aussehender Gestalten dazu und verbreiterten den trägen, dahinstampfenden Strom. Merkwürdige Helme waren zu sehen, Stangen und Rohre, Werkzeuge und improvisierte Stücke aus Konstruktionsstahl vermittelten den kriegerisch blitzenden Eindruck von Waffen. Ich bewegte mich mit in dem ziehenden und schiebenden Gewimmel von abenteuerlich ausgerüsteten Frauen und Männern. Irrsinn lag wie ein farbiger, rauchiger Dunst in der Luft. Ich drehte den Kopf und
starrte in die schwitzenden Gesichter neben und hinter mir. Eine Frau ging neben mir; ich kannte sie so gut wie alle Besatzungsmitglieder. Sie war noch jung, aber jetzt wirkte sie verbissen und um Jahre gealtert. Sie trug ihr Haar im Stil einer alten arkonidischen Frisur. Sie stellte so etwas wie eine unordentlich gekleidete Amazone dar. »Ich bringe diesen Kretin um«, zischte sie. »Warum habt ihr ihn eigentlich aufgeweckt?« Ihr Gesicht war verdrossen. Sie sträubte sich mit allen Fasern gegen die Befehle – aber es war umsonst. Widerstand fand nur in Gedanken und Worten statt. »Wir haben ihn nicht geweckt. Aber du hast recht. Ich hätte ihn in seinem Mausoleum liegen lassen sollen.« In Gedanken fügte ich hinzu: Wenn ich gekonnt hätte. Aber auch dort gab es einen machtvollen Zwang … »Jetzt ist es zu spät. Er wird uns alle in eine Sonne stürzen lassen.« »Noch haben wir Chancen. Ich soll als einer der Letzten kämpfen, was immer das zu bedeuten hat.« »Du wirst ihn besiegen wollen?« »Nein. Ich werde versuchen, ihn zu überzeugen.« Sie torkelte weiter. Ich folgte ihr und den anderen. Ringsum sah ich aufgerissene Augen unter Raumhelmen oder Blenden aus Stahlblech. Die nackten Gesichter und die bloßen Oberkörper waren schweißnass. Einige der Männer hatten sich auf Geheiß des Fremden mit breiten Farbstreifen bemalt. Grüne Zickzacklinien liefen quer über Rücken und Brust. Auch weiße Linien waren zu erkennen, die im Halbdunkel des Korridors leuchteten. Sie zogen sich vom Haaransatz bis zur Gürtelschnalle herunter. Kreise, Farbpunkte oder wirre grobe Muster. »Dieser Wahnsinnige …« »Und keiner kann etwas gegen ihn tun. Wir gehorchen
nur …« »Kann denn niemand etwas tun?« So oder ähnlich murmelten die Raumfahrer. Wieder dröhnten die Trommeln, wieder schrien die Frauen ihr »Yayaya!«, und das summende Blöken der falschen Flöten und Hörner hallte. Inzwischen hatte sich die erste Gruppe vergrößert; ununterbrochen sickerte Nachschub aus allen Richtungen heran. Behalt einen kühlen Kopf. Das ist erst der Anfang, warnte der Logiksektor. Kreischend, dröhnend und mit dem Scheppern der gegeneinandergeschlagenen Waffenimitationen wälzten sich Hunderte folgsamer Raumfahrer der nächstliegenden Kreuzung der breiten Korridore entgegen. Dort tauchte jetzt ein mehr als seltsames Gefährt auf. Karmina da Arthamin, der Bauchaufschneider und der Junge von Perpandron saßen in den Sitzen des halb automatischen Ladegeräts, das über den Boden schwebte und furchterregend mit den hydraulischen Armen und Greifern herumfuchtelte. Der nüchtern technische Mechanismus hatte sich in ein archaisch buntes Ding verwandelt; mit Sprühfarben und verschiedenen Stoffstreifen hatten Männer daraus eine Mischung zwischen Thronsessel und Sänfte gemacht. Ein Lichtstrahl wanderte über uns, dann sagte der Junge etwas zu Fartuloon. Der Bauchaufschneider machte ein grimmiges Gesicht, presste einige Augenblicke die Lippen zusammen und übersetzte den Befehl aus dem Altarkonidischen in die gebräuchliche Sprache. »Kommt alle hierher! Versammelt euch zur Feier vor den Kämpfen!« Allein schon der bloße Gedanke war von einem faszinierenden Irrsinn. Ein echter Kampf im Raumschiff, zwischen Raumfahrern, die sich als alte Krieger verkleiden mussten. Aber die Wirklichkeit, gegen die wir ankämpften, war noch schlimmer. Wieder gehorchten wir. Die Stimme des
Bauchaufschneiders durchdrang dank der Lautsprecher den rhythmischen Lärm der Instrumente und die Schreie der Frauen. Der bunte und glitzernde Zug schob sich aus dem Korridor und gabelte sich auf. Ein Teil der Prozession blieb links, der andere umrundete rechts das schwebende, sich langsam drehende Ladegerät. Der Junge stand auf und breitete die Arme aus. Er sah unbeschreiblich aus. Ich kämpfte einen flüchtigen Augenblick mit dem Lachen, aber dann kam mir der gefährliche Widersinn zum Bewusstsein. Das Grinsen erstarb auf meinen Lippen. »Hierher! Bildet einen Kreis!« Wieder übersetzte, wie schon während aller Vorbereitungen, Fartuloon. Wir versuchten uns zu sträuben, aber der Zwang war in uns, also versammelten wir uns in der Helligkeit des runden Raumes. Der Junge trug eine Art Tunika aus unzähligen Metallplättchen. Ich erkannte das Material; es war eine Spezialfolie, mit der bestimmte Reflektoren ausgekleidet wurden. Seine hohen Stiefel mochten Erinnerungsstücke eines Raumfahrers gewesen sein. Auch sie waren mit breiten, golden funkelnden Metallstreifen verziert. Ein ebensolches Band lag wie eine seltsame Krone um die Stirn des Jungen. Sein Gesicht glühte fanatisch, die großen Augen schienen uns alle gleichzeitig zu mustern. »Diener! Sklaven! Ihr werdet, ehe das Spektakel beginnt, den feierlichen Tanz des vergossenen Blutes tanzen!« Fartuloons Gesicht war eine Studie von Hass und Widerwillen, aber er übersetzte auch diese Anordnung. »Spielt! Laut und hart!« Die Musikanten gehorchten einem inneren Rhythmus. Nach einigen langen Augenblicken des verblüfften Schweigens begann abermals diese donnernde und schrille Musik. Eine andere, anfeuernde Melodie war durch das gesamte Schiff zu hören. Wir begannen zu tanzen … Zweihundert, vielleicht dreihundert Frauen und Männer hoben und senkten ihre Rücken. Ein schneller Tanz, der eine
Art organisiertes Laufen auf der Stelle war, fing an. Das Metallzeug klirrte, rasselte und dröhnte. Langsam kam ein klarer Takt in diese Geräuschorgie. Wir tanzten langsam um das Ladegerät. Die Leute des innersten Kreises sehr langsam, wir im äußersten Kreis waren schneller. Der Junge, der schon vor seiner Geburt als Herrscher eingesetzt worden war, dirigierte mit schnellen Bewegungen. Es war unmöglich, dem Zwang zu entkommen. Ich warf, während ich gedankenlos gehorchte und Abscheu vor uns allen zu empfinden begann, einen langen Blick auf die kühle, herrische Arkonidin aus der Familie der Arthamin. Sie hatte sich auf wunderbare, aber schreckliche Weise verändert. Ihre Augen waren geschlossen wie in Trance. Sie trug eine ähnliche Tracht wie der Junge. Auch sie bewegte ihren schlanken, aber wohlproportionierten Körper im Schlag der Trommeln. Ihr Gesicht war schweißüberströmt, ihr Haar klebte am Schädel. Sie sah wie eine fremde Stammesfürstin aus, die sich einem rituellen Tanz hingab, der den Stamm ins Verderben führen sollte. Dann schrie auch sie auf, gellend und schrill. »Yayayayaya!« Etwa eine halbe Tonta lang tanzten wir. Stechender Geruch nach Schweiß begann sich auszubreiten. Immer mehr seltsam kostümierte Besatzungsmitglieder kamen aus allen Richtungen und stießen zu uns. Auch der Bauchaufschneider, der hinter unserem Herrscher stand und das Mikrofon hielt, zuckte mit seinem massigen Körper. Der Junge winkte mit einer kleinen, kaum wahrnehmbaren Geste nach hinten. Fartuloon beugte sich über ihn, und ich hörte undeutlich ein paar altarkonidische Worte. Dann wieder die Stimme meines alten Freundes. »Wir alle versammeln uns in der Halle des Kampfes. Die dreißig Paare der Kämpfer bleiben im Nebenraum. Sie werden aufgefordert. Kommt in die Arena. Die Kämpfe beginnen!«
In geordneten Gruppen strebten wir in die bekannte Richtung. Die gesamte Besatzung diente dem irrsinnigen Wunsch des Herrn. Wir wussten, was zu tun war. Die Frauen und Männer kletterten auf die Gerüste und setzten sich. Endlich schwiegen auch die wilden Instrumente. Ein aufgeregtes Murmeln erfüllte nach kurzer Zeit den Saal. Schließlich schwebte das Ladegerät herein, hob sich langsam in die Höhe, bis die Personenkabine auf gleicher Höhe mit einem Balkon in der Mitte der Ränge anhielt. Sechzig Raumfahrer, unter ihnen auch ich, standen in dem Nebenraum und sahen fassungslos zu. Ein Teil unserer Überlegungen widmete sich dem möglichen Widerstand, der andere beschäftigte sich mit den bevorstehenden Kämpfen, und dabei hatten wir alle Angst, dass die ISCHTAR in die tödliche Gewalt eines der Riesensterne geraten konnte. Was plant dieser unbesiegbare Gork, der weder Schlaf noch Unaufmerksamkeit zu kennen scheint? »Hat denn niemand eine Idee, wie wir ihn besiegen können?«, flüsterte ein hünenhafter Arkonide neben mir; ich erkannte ihn erst auf den zweiten Blick. Halgarn Vil. »Ideen haben wir alle. Aber wir können nicht gegen die ausgesprochenen Befehle handeln«, murmelte ich, schon fast resignierend. Ich war von allen noch am besten dran, denn ich rechnete mir ehrliche Chancen aus. »Wie soll das enden? Werden wir uns gegenseitig töten müssen?« Ich hatte diese Überlegung bereits durchdacht. Es konnte durchaus sein, dass uns der junge Herrscher dazu zwang. Andererseits würde – vielleicht! – der Umstand, dass wir einander kannten, das Schlimmste verhüten helfen. »Ich weiß es nicht. Ich werde mich zwingen, niemanden zu verletzen.« »Und wir?« »Ihr solltet alle eure Fähigkeiten zusammennehmen und kämpfen, mit großem Aufwand an Gestik und Dramatik, aber
ohne ernsthafte Gedanken an Sieg. Wir müssen die unausweichlichen Befehle irgendwie zu umgehen versuchen.« Die Gesichter der Männer wandten sich mir zu. Sie waren vor Aufregung, Sorge und dem nutzlosen Versuch, sich gegen das geheimnisvolle Diktat zu stemmen, verzerrt. Schweiß lief über die Haut, die Farbstreifen glänzten unnatürlich. Ich deutete über die Barriere hinweg durch die Öffnung und schwieg. Wir sahen, wie sich Karmina und der Junge setzten. Hinter ihnen stand Fartuloon. Ich bemerkte, dass er zwar seinen Brustharnisch, nicht aber das Skarg trug. »Es geht los«, sagte ich. Weder die Männer noch ich selbst wussten, mit welchen Waffen und nach welchen Regeln wir würden kämpfen müssen. Ich fühlte mich plötzlich von dem Zwang befreit und fasste einen tollkühnen Plan. »Und niemand kann ihm beibringen, dass er nicht unser Herrscher ist«, schrie aufgeregt ein Mann. Ein wilder Fluch folgte. »Tatsächlich ist er aber unser Herrscher«, sagte ich scharf und bewegte mich, ohne das seltsame Paar aus den Augen zu lassen, seitlich auf ein schmales Schott zu. Zwei Kontursessel waren auf dem Gestell aus Rohren, Schellen und Stahlteilen befestigt worden. Weißer Stoff lag darüber ausgebreitet. Hinter diesen »Prunksesseln« stand Fartuloon. Sein Gesichtsausdruck sagte mir, dass er ebenso angestrengt nachdachte wie ich. Auf dem rechten Sessel nahm der Junge Platz. »Neue Musik«, sagte Fartuloon laut in die Richtung eines schwebenden Bildschirmes. Der übersetzte Befehl bewirkte, dass ein neuer Speicherkristall eingespeist wurde. Die Zeremonie wurde von rasender, aufpeitschender Musik begleitet. Dann machte der Fremde eine Bewegung, und links von ihm setzte sich Karmina. Sie war vollkommen verstört; was sie tun musste, bei welchen Dingen sie sich selbst beobachten musste – dies alles entsprach schon gar nicht ihrem
freien Willen und war so fremd für sie wie nur irgendetwas. Der Junge senkte und hob den Arm. »Die ersten vier Kämpfer treten auf.« Ich nickte den nächststehenden Männern zu und entfernte mich schnell, aber in völliger Deckung. Der Junge von Perpandron konnte mich nicht sehen. Mit fünfzehn Sprüngen war ich an dem Schott und riss es auf. Eindringlich flüsterte der Logiksektor: Schnell! Vermeide, jemanden einzuweihen. Sie sind alle von den Befehlen gebannt. Ich holte Luft, spannte meine Muskeln und rannte davon, lief durch den ersten Korridor, der noch immer nach Schweiß roch. Teile der improvisierten Waffen lagen herum, ich spürte knirschende Reste unbekannter Substanzen unter den Sohlen, und überall lagen Fetzen der verschiedenfarbigen Stoffe auf dem Boden.
Ich erreichte die Zentrale, mein erster Blick galt der Panoramagalerie. Keine Änderung! Die ISCHTAR raste noch immer im Unterlichtflug zwischen den riesigen Sternen dieses untypischen Haufens hindurch. Noch immer lag keine Positionsbestimmung vor; der Fremde hätte die Funktion des eingeschalteten Bordrechners nicht beeinflussen können. Gefährdet, verschollen in unbekannten Bezirken des Weltraums, von einem kindischen, machterfüllten Fremden beherrscht. Ich rannte auf den Piloten zu. »Keine Transition? Wie steht es?« Er drehte den Kopf und warf mir einen Blick von abgrundtiefer Resignation zu. »Ich bin blockiert. Vor Tontas tauchten Fartuloon und dieser Wahnsinnige auf. Sie befahlen mir, nichts an der Situation zu ändern. Stell dir vor, er sagte: ›Die Stadt darf nicht bedroht werden!‹ Keine Transition. Ich kann nichts anderes tun als das Schiff so gut wie möglich an
den Sonnen vorbeisteuern und die Ausläufer des Hypersturms abreiten.« »Und Fartuloon? Übersetzte er nur, oder gab er auch eigene Anordnungen?« In der betreffenden Zeit war ich, wie die meisten anderen, mit der Auswahl der Kostümierung und der Herstellung dieser Arena beschäftigt gewesen. Wenigstens befand sich das kostbare Schiff nicht mitten in der tödlichen Strahlung einer Sonne. Auch die schützenden Energieschirme standen noch außerhalb der Kugelzelle und hielten die harte Strahlung vom Schiffskörper fern. Ich atmete auf. »Konnte Fartuloon den Bann abschütteln, während er übersetzte?« Gerlo Malthor zögerte und murmelte dann: »Ich weiß nicht. Er gehorchte natürlich diesem Verbrecher. Aber er schien einige Passagen anders interpretiert zu haben. Jedenfalls bin ich froh, dass es nicht schlimmer kam.« »Ich auch. Sehen wir zu, was wir tun können. Wir müssen seine Macht brechen. Und zwar schnell, denn im Hangar kämpfen inzwischen die Männer gegeneinander.« »Die künstliche Schwerkraft ausschalten?« Wir waren die beiden einzigen Personen in der Zentrale. Wo sich Ra, Vorry oder Helos befanden, wusste ich nicht. Ich hatte seit Tontas keinen von ihnen gesehen. »Selbst wenn er in der Luft schwebt, kann er noch Befehle brüllen und uns mit seinen geistigen Kräften beherrschen. Etwas anderes. Lähmungsgas, die Roboter, Schockstrahler … Ich glaube, eine Flasche voll Lähmgas würde die beste Wirkung erzielen.« »Aber …« Ich nickte. »Ich weiß. Aber der Umstand, dass Hunderte mit ihm zusammen einschlafen, ist das kleinere Übel. Wo lagert das Zeug, weißt du das?« »Im Magazin Neun. Gleich dort hinten.« »Ich hole es.« Ich wirbelte herum. Es würde nur Zentitontas dauern, die richtigen Teile des Schiffes gesteuert abzuschütten
und das Gas in die Luftumwälzanlage zu leiten. Ich erreichte das Magazin, suchte zuerst eine versiegelte Kiste voller Masken mit den entsprechenden Filtern heraus, packte eine der armlangen, schenkeldicken Flaschen und warf sie am Haltegurt über meine Schulter. Dann lief ich zurück in die Zentrale. »Wird er dich nicht vermissen?«, fragte Gerlo. Ich riss die Kiste auf und warf ihm eine der Einwegmasken zu. »Hoffentlich nicht. Ich kämpfe als Letzter.« Ich ließ die an den Ecken der Deckplatte angebrachten Verschlüsse aufschnappen und widmete mich dem Schema der einzelnen Rohrleitungen, die wie ein Adersystem sämtliche Räume der ISCHTAR durchzogen. Dann befestigte ich die Flasche mit dem klickenden Bajonettverschluss an der Ventilanlage. Schon beim Bau des Schiffes wurden solche Zwischenfälle einkalkuliert. Ein Kommandant konnte, wenn er schnell genug war, aus der verschlossenen Zentrale eine meuternde Mannschaft außer Gefecht setzen. »Und jetzt die Schottanlage. Rund um den Laderaum sämtliche Sicherheitsplatten schließen und verriegeln!« Eine wilde Freude durchzog mich. In wenigen Augenblicken würde selbst ein zielgerichteter Befehl zu spät kommen, denn das Gas ließ sich nicht aufhalten. Ich sah, wie Gerlo aus dem Sitz schnellte, mit zwei Sprüngen an einem anderen Schaltpult war und dort Schalter drückte und Knöpfe hineinpresste. Offensichtlich ließen ihm die letzten Befehle diesen engen Spielraum, ebenso wie mir jetzt in diesem Augenblick. Ich streckte die Hand aus und umklammerte das gezahnte Rad des Hochleistungsventils. »Fertig«, kam es aus der anderen Richtung. Als ich zupackte und das Rad zu drehen begann, mit der anderen Hand nach der Maske griff, die ich vielleicht nicht brauchen würde, knackte es in den Lautsprechern. Ein deutlicher Befehl hatte
allen kurz nach dem Erwachen dieses jugendlichen Tyrannen die Möglichkeit genommen, einen Interkom auszuschalten. Alle Geräte im ganzen Schiff waren und blieben eingeschaltet. »Atlan! Hier spricht Fartuloon!«, erklang die bekannte Stimme. Ich zögerte; in diesem Augenblick hätte ich das Gas noch einströmen lassen können. Fartuloon war aufgeregt, sprach Altakona. »Atlan! Der Junge hat …«, begann er, aber durch das Dröhnen der Musik dort im überfüllten und lichtdurchfluteten Hangar, durch die undeutlichen Geräusche eines Kampfes und das Aufstöhnen und Murmeln der Menschenmassen hindurch schnitt die befehlsgewohnte Stimme des Herrschers der Panik. »Atlan. Ich weiß nicht, was du planst, aber ich verbiete dir zum letzten Mal, auch nur etwas zu denken, was mir schaden könnte. Komm zurück an deinen Platz und bereite dich auf den Kampf vor.« »Ich gehorche«, sagte ich stumpf. Die Niederlage war vollkommen. Meine Hand löste sich von dem Rad. Ich kämpfte mit aller Gewalt darum, die Finger am Ventil lassen zu können und das Rad in die bestimmte Richtung zu drehen. Meine Finger begannen zu zittern. Ich zwang mich dazu, nicht an den Befehl zu denken, aber ein ungleich stärkerer Zwang diktierte meine Nerven und Muskeln. Ich gehorchte, innerlich fluchend, ohnmächtig vor Hass und Wut, angefüllt mit einem Chaos von widersprüchlichen Gefühlen, niedergeschlagen und hoffnungslos. »Wir haben buchstäblich keine Chance, ihm zu entkommen«, sagte Gerlo mit müder Stimme. Er betätigte wieder die Schaltungen, diesmal mit umgekehrter Wirkung. Dort unten öffneten sich jetzt die kleinen Spezialtüren, rollten die Portale wieder zurück in die Ausschnitte der Wände, hoben sich die Notschotten zur Decke. »Nein. Wir haben keine wirkliche Chance. Er scheint einen sechsten Sinn zu haben«, bestätigte ich, ebenso
niedergeschlagen. Eine unsinnige, kalte Wut, die eindeutig selbstzerstörerische Impulse trug, erfasste mich. Ich konnte und würde diese Niederlage nicht akzeptieren. Nicht diese Art von Kampf, die dem Gegner keine Chance ließ. Dann wirst du dich anstrengen müssen, sagte der Extrasinn. »Was jetzt?« Ich hob die Schultern und versuchte, wieder einmal meine Lage genau zu analysieren. Alles schien hoffnungslos zu sein. Selbst Fartuloon, der alte Fuchs, der bisher jeder Gefahr getrotzt hatte, unterlag dem Bann des Jungen. Trotz des Extrasinns und meines Monoschirms hatte ich keine wirkliche Chance. Aber irgendwann würde ich ihn besiegen können. »Du bleibst hier und versuchst, was du tun kannst. Das Schiff muss gesteuert werden. Es geht um unser Leben. Um das Leben von Hunderten und um das Schiff. Ich gehe zurück in die Arena.« »Viel Glück, Atlan.« »Ich werde es brauchen. Nicht nur ich – wir alle«, murmelte ich und schlich wie ein geprügelter Voger in den Nebenraum des verwandelten Hangars. Je mehr ich mich dem Schauplatz der Kämpfe näherte, desto lauter wurden die verschiedenen Geräusche. Der Wahnsinn hielt das Schiff in seinem Griff. Schon viel zu lange.
Ich blieb stehen, als ich am breiten Eingang der Arena vorbeikam. Jetzt war in den verschiedenen Korridoren und anderen Räumen keine Lautsprechermusik mehr zu hören. Aber hier, in der runden Arena, klirrten und dröhnten die Lautsprecher. Ein aufgeregtes Stimmengewirr und ein unverkennbarer Geruch nach vielen aufgeregten und angefeuerten Arkoniden schlugen mir entgegen. Die Tiefstrahler und Punktlichter konzentrierten ihre Helligkeit auf
den untersten Kreis. Ich sah zwischen den Körpern und Gliedmaßen der zusammengeballten, durch Befehle an ihre Plätze gefesselten Zuschauer flüchtig Fartuloon, den Fremden und Karmina. Sie befanden sich noch immer auf der vorspringenden Empore, blickten konzentriert schräg nach unten, ihre Augäpfel bewegten sich. Aber in jedem der drei Gesichter herrschte ein anderer Ausdruck. Offensichtlich hatte Karmina den höchsten Punkt ihrer Verwirrtheit erreicht. Sie war blass, ihre Lippen formten unhörbare Worte, sie schien zu zittern. Trotzdem war sie in den Sessel neben den Fremden gebannt und starrte aufgeregt nach unten, wo Männer gegeneinander kämpften. Während ich versuchte, mir einen Weg zwischen den Zuschauern zu bahnen, hörte ich Schreie, Stöhnen und die Geräusche von Waffen. Fartuloons Gesicht schien eine Maske aus Stein zu sein. Es war unbewegt und beherrscht. Konnte ihn, obwohl auch er zu gehorchen hatte, denn nichts mehr erschüttern? Er hatte seine mächtigen Arme vor dem Brustharnisch verschränkt und blickte aus blitzenden Augen auf die Kämpfer. Das für mich unsichtbare Orchester untermalte die Lautsprechermusik mit den Trommeln, den Röhren und den anderen selbst gebastelten Instrumenten. Endlich erreichte ich einen Platz, von dem aus ich mehr erkennen konnte. Die Raumfahrer bewegten sich nicht. Sie bildeten Mauern, die nach Schweiß stanken, sich in einem unbegreiflichen Takt hin und her wiegten und immer wieder in laute Schreie ausbrachen. Immer wieder dieses gellende, kreischend vorgetragene Yayaya! Dann bohrte sich mein Blick in das schmale, hochmütige Gesicht dieses wahnsinnigen Herrschers. Er betrachtete die Kämpfer und den Kampf mit kaltem Interesse. Kein Muskel bewegte sich in diesem arroganten Gesicht. Trotzdem wusste und dachte ich, dass dies alles ein furchtbarer, aber noch
unaufklärbarer Irrtum war. Er war Herrscher und fand ein Volk vor, für das er nicht geschaffen, gezeugt und geboren worden war. Und wir verstanden nicht, warum er herrschte. Wir wussten nur, dass wir unter keinen Umständen dieses »ausgesuchte Volk« waren, über das er zu herrschen hatte. Trotzdem gehorchten wir, trotzdem boten wir ihm die Gelegenheit, uns als seine willenlosen Sklaven zu betrachten. Ich wurde von einem Stoß in den Rücken getroffen und taumelte gegen die Barriere, die Zuschauer und Kämpfende voneinander trennte. Augenblicklich zuckte ich zurück. Direkt in der Höhe meiner Brust fuhr mit einem knirschenden Geräusch ein zerfetztes, speerähnliches Stück Metall in die Schutzbrüstung. Ich sah undeutlich einen Schatten, der schräg von dieser Stelle weggesprungen war. Dann rollte sich der Raumfahrer zusammen und kam wieder, drei, vier Meter entfernt, auf die Beine. Er ruderte mit dem rechten Arm in der Luft, in den Fingern eine große Stahlkugel. Im Zentrum der Arena stand ein anderer Raumfahrer. Er war an der Schulter verwundet und hielt einen riesigen Schild am linken Unterarm. In seinem weit zurückgebogenen Arm glänzte ein weiterer jener Metallsplitter. Seine Augen unter dem silbernen Metall suchten den Gegner. Die Brust war schweißüberströmt, die Farbe fing an zu zerfließen. Beide Kämpfenden keuchten und stöhnten, sie waren am Ende ihrer Kräfte. »Aufhören!«, stöhnte ich laut. Niemand beachtete mich, niemand schien mich gehört zu haben. Sie waren alle halb verrückt. Im jenseitigen Raum sah ich schwebende Tragen und die metallenen Körper der Medoroboter. Der Kämpfer mit den weißen Zickzackstreifen kam auf den anderen Mann zu. Er drehte noch immer seinen Arm hoch über dem Kopf. Jetzt erst bemerkte ich, dass von der Kugel lange, schlingenförmig geraffte Seilstücke herunterhingen und über den blutigen, von
Stofffetzen bedeckten Boden schleiften. Dann schnellte der Arm nach vorn und nach unten. Die schwere Kugel raste durch die Luft und traf mit einem ungeheuren Krach den oberen Rand des improvisierten Schildes. Von dort sprang sie weiter und traf den Metallring um die Stirn. Gleichzeitig mit dem begeisterten Schrei aus vierhundert heiseren Kehlen schrie auch der andere Raumfahrer auf und begann, taumelnd rückwärts zu stolpern. Beende den Wahnsinn, schrie plötzlich der Logiksektor. Die Kämpfer setzten sich, getreu dem Befehl, hundertprozentig ein. Aber sie wussten nicht, weswegen sie kämpften. Meine Kenntnis der anderen war groß genug, um diese Feststellung mit unumstößlicher Sicherheit treffen zu können. Ich versuchte nicht erst, die Überlegungen zu treffen – ich handelte. Meine Finger klammerten sich um den oberen Rand der Brüstung. Dann eine kurze und schnelle Anstrengung, und ich schnellte mich hinter der Rampe in die Höhe und sprang in die Arena. Im gleichen Augenblick geschahen drei verschiedene Dinge. Der Mann, der von der Schleuder getroffen worden war, ging zu Boden und blieb mit ausgebreiteten Gliedern liegen. Hunderte Kehlen schrien sich heiser, während die Trommeln aufdröhnten, die Röhren schauerliche Laute von sich gaben und die Blechteller schmetterten. »Yayayayaya!« Und der Fremde sprang auf, deutete auf mich und schrie undeutliche Worte in meine Richtung. Endlich klärte Fartuloon das Chaos, indem er das Mikrofon ergriff und auf höchste Lautstärke drehte. »Der Herrscher befiehlt allen, ruhig zu sein. Schafft den blutenden Bewusstlosen aus der Arena.« Langsam beruhigten sich die Zuschauer. Maschinen kümmerten sich um den Bewusstlosen, dem das Blut aus den Ohren und der Nase lief. Ich blieb im Zentrum der Arena stehen und richtete meine Augen schräg nach oben. Welch ein
Bild! Hatten arkonidische Augen schon mal solche Szenen an Bord gesehen? Der heiße Atem von vielen Hunderten bildete förmlich Dampfwolken, die in die Richtung der Umwälzöffnungen drifteten und wie Nebel vor den stechenden Lichtern der Scheinwerfer wirkten. Staub stieg auf und senkte sich auf die Arena, mischte sich mit dem Dampf und bildete wirre Muster. Scheinbar blickten Tausende Gesichter und Millionen Augen auf mich. Überall bewegten sich die Stoffstreifen. Überall war Bewegung in den dicht gedrängten Zuschauern zu sehen. Und der Fremde war aufgesprungen und schrie in der alten Sprache: »Du störst die Kämpfe, du Kreatur, die ich vernichten kann.« Das ist wahr! Wenn er dir befiehlt, dich umzubringen, musst du gehorchen, wisperte der Logiksektor. »Ich störe sie, weil du wahnsinnig bist, du Namenloser!«, schrie ich, so laut ich konnte. Vielleicht überzeugte ihn dies. Und im gleichen Augenblick wusste ich, dass er mir mit dem Befehl »Schweig!« auch diese Möglichkeit nehmen konnte. Hoffentlich spricht er gerade dieses Wort nicht aus! Auch ich hatte in Altakona geantwortet. »Du wagst es, mich wahnsinnig zu nennen, du Clasterwurm?« »Ich wage es! Du bist nicht in deiner Stadt, nicht in deinem Glasturm. Du bist in einem Raumschiff aufgewacht, Namenloser.« Nur wenige Personen verstanden die Unterhaltung, aber mit einiger Sicherheit verstanden alle anderen, worum es letzten Endes ging. Ich sah mich, halb außer Kontrolle vor Wut und Entschlossenheit, nach einer Waffe um. Ich entdeckte nur die drei Metallfetzen, mannslang und eigentlich tödliche Waffen, die furchtbare Wunden schlagen konnten. »Ich bin in der Umgebung erwacht, in der ich geweckt werden sollte!«, kreischte der Junge.
»Da irrst du. Wir fanden dich in einer verlassenen Stadt und retteten dich vor Kriegern, die dich töten wollten.« Er hatte mir noch nicht befohlen, die uneingeschränkte Wahrheit zu sprechen. »Das glaube ich nicht!« Meine Arme beschrieben Kreise. Ich deutete auf die schweigenden und tief atmenden Zuschauer dieser Kämpfe. »Glaube es, glaube es nicht – frage diese hier. Sie werden die Wahrheit sagen. Du bist in einem Raumschiff aufgewacht, das du durch deine kindischen Spiele aufs Äußerste gefährdest!« Träumte ich, oder war seine kalte Arroganz einer leichten Unsicherheit gewichen? »Ich bin nicht gefährdet. Du bist ein Schwätzer!« Er vergaß seine Würde. Sein geringes Alter und seine schlagartige Begeisterungsfähigkeit kamen durch. Ich versuchte, diese Chance zu nutzen, erwiderte mit rauer Kehle: »Ich mag ein Schwätzer sein, aber wir alle sind in Gefahr.« »Wie das? Erkläre dich.« »Weißt du überhaupt, was Sterne sind? Was der Weltraum bedeutet? Oder die Kräfte eines Hypersturms?«, brüllte ich, um ihn von kühlen Überlegungen und befehlenden Reaktionen abzulenken. Ich ging zwei Schritte zurück und bückte mich blitzschnell. In meiner Hand lag einer der Metallspeere. »Ich weiß, was ein Raumschiff ist«, ertönte es aus der Loge des Herrschers. Fartuloon und Karmina schienen noch mehr verwirrt zu sein, blickten mich an wie meinen eigenen Leichnam und schwiegen, erstarrt und fassungslos. Ich brüllte weiter: »Dann weißt du auch, dass ein Raumschiff etwas anderes ist als ein Planet. Wir befinden uns im Bann von riesigen Sternen und einem Hypersturm. Du nimmst uns mit deinen Aktionen die Chance, den Gefahren zu entkommen. Du bist jung, dumm und blind! Und dazu noch von
verbrecherischer Arroganz. Wir sind nicht diejenigen, über die du herrschen sollst.« Trotzig kreischte er zurück: »Aber ich herrsche über euch alle!« »Das ist absolut richtig. Aber dadurch, dass du uns zwingst, deinen kindischen Befehlen zu gehorchen, treibt das Schiff in das Todesfeuer der Sonnen! Eins ist ganz sicher für uns alle!« »Was meinst du?« Ich holte tief Atem und schleuderte ihm die Worte entgegen wie Geschosse. Ich befand mich in der schlechtesten Situation, denn er blickte auf mich herunter. Aber es gelang mir, ihn zu provozieren. »Mit uns allen stirbst auch du, Fremder!« »Das verstehe ich nicht.« Ich versuchte bewusst, ihn zu reizen. Solange er nicht daran dachte, neue Befehle auszusprechen, war er harmlos und konnte – vielleicht! – überzeugt werden. Also erwiderte ich: »Du bist zu jung und zu dumm dazu, zu verstehen. Jedenfalls sterben wir mit dem Schiff, und wenn wir alle sterben, stirbst auch du. Das ist die absolute Wahrheit!« Ich schwieg erschöpft, wir starrten uns an. Dann veränderte sich langsam und, wie ich hoffte, unmerklich meine Haltung. Mein rechter Arm bewegte sich nach hinten. In der Hand balancierte ich den Speer. Immer weiter, immer mehr schräg über die rechte Schulter. Ich fasste das Ziel ins Auge. Ich wollte nicht töten, aber ich würde nicht betroffen darüber sein, wenn er starb. Ich spannte meine Muskeln und blieb, als die richtige Haltung erreicht war, bewegungslos. »Es ist die Wahrheit, wie du sie sehen willst. Ich glaube dir nicht.« »Der Wahrheit ist es gleichgültig, ob du glaubst oder nicht.« Er blieb ruhig. Eine Pause voller dramatischer Spannung entstand. Es war nicht bloße Dramatik, sondern für uns alle ging es ums Überleben. Schon rund drei Tage lebte das
gesamte Schiff unter dem Diktat dieses jungen Halbirren, der nicht begriff, was wirklich war. Es wurde Zeit, dass etwas geschah, was den herrschenden Zustand veränderte. Möglichst in meinem Sinn.
Ganz ohne Zweifel, dachte ich, als ich in der Arena stand und versuchte, die Situation entscheidend zu ändern, ist auch dieses Verhalten des Jungen vorprogrammiert worden. Seine Befehle, die Art seiner seltsamen »Herrschaft«, jene merkwürdige Riten und Kämpfe, sein Verhalten und seine Jugend deuteten darauf hin, dass er mehr zum Fürsten einer kleineren Gruppe von Personen berufen war als zum Herrscher über einen Planeten. Schon gar nicht zum Herrscher über die ISCHTAR und über uns alle. Ich wog die Waffe in meiner Hand und rief nach der Pause, in der sich die betroffene Stille ausgebreitet hatte: »Du bist so sicher wie wir alle. Und wir sind aufs Höchste gefährdet, Knabe vom Planeten Perpandron.« Die großen Augen schienen uns alle gleichzeitig anzusehen. Der Junge überlegte, das war deutlich zu erkennen. Ich spannte meine Muskeln an und schnellte meinen Arm und den Oberkörper nach vorn. Aber im letzten Augenblick, als der improvisierte Speer gerade noch in meiner Hand lag, erfassten mich wieder die Motivierungen des zuletzt gegebenen Befehls. Ich änderte, ohne es zu wollen, die Flugrichtung der Waffe. Wie ein gezackter Blitz zischte das gestreckte Metallstück schräg aufwärts, durchquerte die Zone des Lichtes und schlug mit einem entsetzlich lauten Geräusch vor den Füßen des Eindringlings gegen die stählerne Verkleidung des Gerüsts. Ein Ton wie ein Glockenschlag hallte auf. Die Zuschauer, die bisher gespannt geschwiegen hatten, brüllten fast gleichzeitig. Hochmütig und eiskalt blickte der Junge den Speer an, der
abprallte und, immer wieder drehend und sich überschlagend, in die Arena klapperte. »Du bist nicht nur ein Schwätzer, sondern auch noch ein Revolutionär«, sagte er deutlich. »Vielleicht kann dich dieser Angriff aus dem Nebel deiner Unkenntnis reißen.« »Was sollte ich tun, deiner Meinung nach?« Ich glaubte, mich verhört zu haben. Noch immer mischte sich niemand ein. Nur der Fremde und ich sprachen oder besser brüllten. Konnte ich es schaffen? Ich durfte mich von meiner Wut nicht hinreißen lassen. Der Logiksektor mahnte: Antworte ihm! Schnell! »Komm mit in die Zentrale. Dort zeige ich dir die Sterne, von denen unser Leben bedroht wird.« »Sterne? Ich bin auf dieser Welt vollkommen sicher«, sagte er halsstarrig, aber nicht überzeugt. Jetzt schaltete sich Fartuloon ein und rief: »Glaub ihm, Herrscher. Du bist auf keinem sicheren Planeten. Du befindest dich in einem Raumschiff!« »In einem Raumschiff?« Endlich schien dieser Begriff durch den Nebel seiner Selbstgefälligkeit gedrungen zu sein. Obwohl ihn rund drei Pragos lang keiner auch nur einen Moment lang unaufmerksam oder gar schlafend gesehen hatte, befand er sich wohl in der Lage eines Barbaren, der seine Umwelt nicht ganz begriff. »Richtig«, sagten Fartuloon und ich beinahe gleichzeitig. »In einem winzigen Schiff, das durch den Weltraum rast und in Gefahr ist.« Der Junge biss sich auf die Lippen und sah ein wenig hilflos von Fartuloon zu Karmina, dann herunter zu mir. »Wir sind nicht auf einem Planeten?« »Das versuchen wir dir schon seit drei Tagen beizubringen, du arroganter Ignorant!«, schrie ich. Wieder ging ein Stöhnen
durch die Zuschauer. Ich sah aus den Augenwinkeln, wie sich einige Männer vorsichtig wegschlichen. Sie schienen über ihren Status und Zustand außerordentlich betroffen zu sein. Mit Sicherheit hatte sich für sie der Bann der Befehle einigermaßen gelockert. Wieder entstand eine Pause voller offensichtlicher Spannung. Schließlich befahl der Junge: »Wenn ich schon nicht auf einem Planeten bin, dann bringt mich dorthin, Sklaven!« Ich begann zu lachen. »Du verstehst wirklich nichts, Fremder! Seit drei Tagen tischen wir dir mit gewaltigem Aufwand die feinsten Leckerbissen aus unseren Küchen und Speichern auf. Seit derselben Zeit versuchen wir mit allen Tricks, das Schiff aus den Gefahren hinauszubringen. Du hinderst uns ununterbrochen daran – unser Trost ist nur, dass du mit uns zusammen in der Sonne verschmoren wirst.« Ich hatte gesehen, wie die Medoroboter verletzte und blutende Raumfahrer, die in den ersten Runden dieses wahnsinnigen Spiels miteinander gekämpft hatten, versorgten. Jetzt warteten noch etwa dreißig Männer im Nebenraum. Sie wirkten wie ein barbarischer Kriegerstamm. Der Extrasinn flüsterte: Er hat nur eng programmiertes Wissen. Konnten wir ihm denn wirklich erklären, worum es ging? Verstand er die Begriffe? Konnte er sie richtig deuten und in Relation bringen? Würde er uns glauben? »Komm mit mir in die Zentrale. Dort erkläre ich dir alles.« Er winkte ab und sagte schroff, endlich entschlossen, wenn auch in der falschen Richtung: »Zuerst will ich dich kämpfen sehen. Wenn du mit den Waffen ebenso gut bist wie mit dem Mund, glaube ich dir vielleicht.« Der Junge von Perpandron gab eine Serie von präzisen Befehlen, die unserem freien Willen keinerlei Spielraum mehr ließen. Schließlich war binnen kurzer Zeit der ursprüngliche Zustand der Arena wiederhergestellt. Die Musik aus den
Lautsprechern brüllte und klirrte, untermalt von den primitiven Instrumenten der desorganisierten Raumfahrer. Die Frauen brüllten ihre beschwörenden, gellenden Silben. Der Zuschauer war wieder verpflichtet, gebannt zuzusehen und jeden Hieb zu kommentieren. Die Scheinwerfer schienen stärker zu leuchten, drei Männer traten gegen mich an. Auch ich musste wieder gehorchen. Ich hatte keine andere Wahl. Ich suchte meine Waffen zusammen und machte mich widerwillig mit dem Gedanken vertraut, gegen meine Kameraden kämpfen zu müssen.
Sie kreischten auf, als ich durch den schmalen Eingang und die Gasse aus Stahlblech die Arena betrat. An drei verschiedenen Punkten warteten meine Gegner, bis zur Unkenntlichkeit vermummt, ausgerüstet und bemalt. Sie trugen phantastische Helme, runde und eckige Schilde, Schleuderkugeln, Speere und andere Hiebwaffen. Ich hatte einen Schild, einen giftgelb angemalten Raumhelm ohne Visier, eine Art Streitaxt und einen wuchtigen, langstieligen Hammer im Gürtel. In der rechten Hand hielt ich drei der improvisierten Speere. Von oben schrie der Junge: »Kämpft! Ich will etwas sehen! Blut, Bewegung, Verletzung und Tod!« Es war das Signal. Einer der Raumfahrer schleuderte die Wurfkugel nach mir. Ich duckte mich und warf mich nach links. Mein Arm streckte sich nach rechts, ich drehte den Unterarm. Mit einem schauerlichen Krachen traf die pfundschwere Kugel den Rand des Schildes, schlug die Schildkante gegen meine Brust und prallte ab. Ich kippte den Schild herum, griff nach dem dünnen Seil, das die Kugel mit dem Werfenden verband, und fühlte, wie es sich in Schlingen um mein Handgelenk wickelte. Dann, indem ich mich nach hinten abrollen ließ, riss ich so heftig an dem Seil, wie ich konnte. Ich sah, als ich mich
aufraffte und wieder den Schild hochriss, dass zwei andere Männer angriffen. Der erste Gegner lag ausgestreckt am schmutzigen Boden und versuchte, auf die Beine zu kommen. Ich riss, als ich mich bis zur Barriere zurückzog, ein zweites Mal und noch viel heftiger an dem Seil. Der weiß bemalte Krieger mit dem konischen Metallhelm und der golden lackierten Taucherbrille wurde zum zweiten Mal zu Boden geschleudert. Ich wickelte das Seil von meinem Handgelenk und ließ die beiden Gegner nicht aus den Augen. Einer von ihnen zielte mit einem riesigen Schraubenschlüssel nach mir, der andere schleuderte eben einen Speer, der aus einem Rohr und einer gewaltigen Kunststoffspitze bestand. Der Speer zischte durch die stauberfüllte Luft. Die Zuschauer kreischten auf, als sie sahen, dass sich die Spitze meiner ungeschützten Brust näherte. Ich sprang schräg in die Höhe und schmetterte mit dem Schild den Speer zur Seite. Dann, in derselben Bewegung, schleuderte ich die Kugel auf den Angreifer, der den Speer geworfen hatte und noch immer nicht in die Verteidigungshaltung zurückgefallen war; sein Körper bewegte sich noch mit demselben Schwung, mit dem er den Speer geschleudert hatte. Die Kugel mit dem lockeren Seil, das wie eine Peitschenschnur durch die Luft zischte und knallte, traf die Brust des Mannes genau am empfindlichen Punkt. Er wurde von den Beinen gerissen. Ein ungläubiger Ausdruck trat in sein Gesicht. Dann taumelte er schnell drei Schritte zurück, ehe die Lähmung seine Knie ergriff und ihn zusammenbrechen ließ. Schild, Helm und Speer bildeten klappernd und klirrend einen wirren Haufen. Du wirst es überstehen, prophezeite der Extrasinn. Dies war auch mein Ziel. Ich wechselte blitzschnell meinen Standort und rannte auf den Kämpfer zu, der jetzt wieder hochgekommen war und seine Keule gegen mich schwang. Ich bemühte mich,
den Kampf zu beenden, ehe er gefährlich oder gar tödlich werden konnte. Ein Gegner war bewusstlos, der andere würde es bei einigem Glück und Geschick auch bald sein. Ich hob den Arm mit den drei Speeren, als ich auf den Gegner losstürmte. Er konzentrierte seinen Blick auf die drei leuchtenden Spitzen. Im gleichen Schwung ließ ich die Waffen fallen, riss den Hammer aus dem Gürtel und holte aus. Gewann ich diesen Kampf, konnte ich den Fremden vielleicht überzeugen und das Schiff, unser Leben und unser großes Ziel retten. Der Hammerkopf beschrieb einen Halbkreis und traf mit genügend großer Kraft die Schulter des Mannes. Er schrie auf. Der Schlag ins Zentrum des Muskels lähmte seinen Arm. Ich fintete, tauchte unter seinem Hieb mit dem Schild hinweg und parierte ihn mit dem Zentrum meines Schildes. Dann schlug ich zum zweiten Mal mit dem Hammer zu. Wieder schrie das Auditorium. Ich sprang zurück, hob den Fuß, zielte und holte aus, dann trat ich zu. Ich traf das Nervenzentrum des Raumfahrers dicht unterhalb der Knochenplatte. Pfeifend entwich, verbunden mit einem würgenden Schrei, die Luft aus seinen Lungen. Hinter dir, warnte der Extrasinn. Ich begriff und wirbelte herum, gleichzeitig duckte ich mich. Der geschleuderte Speer fauchte dicht über meinem Scheitel und keine Handbreit neben dem Kopf des zusammenbrechenden Angreifers vorbei und blieb in der Barriere stecken. Ich vergaß das Schreien der zuschauenden Raumfahrer, hörte weder die Lautsprechermusik noch das Geschrei und Krachen der anderen Instrumente, vergaß auch den Fremden und wusste, dass ich für mich kämpfte. Widerwillig, gezwungen, aber auch dem Selbsterhaltungstrieb gehorchend. Der nächste Speer fuhr auf mich zu. Mein Arm zuckte hoch. Mit dem Stiel des Hammers wehrte ich das Geschoss ab. Es wirbelte in die Höhe und polterte unschädlich zwischen den Sitzen und den
Stahlrohren. Jetzt griff ich an, warf mich nach vorn und ließ dem dritten und letzten Gegner keine Zeit mehr, einen neuen Angriff zu starten. Der Arm mit dem großen runden Schild war vorgestreckt, ich schwang in der Deckung den langstieligen Hammer nach vorn. Krachend stießen wir zusammen. Die Stahlblechschilde prallten aufeinander. Ich hatte den größeren Schwung und drängte den Angreifer einige Meter zurück, ließ den Hammer nach unten fallen und schlug kräftig auf seinen Fuß. Sein Aufheulen mischte sich in die schmetternden Rhythmen von Fanfaren aus den Lautsprechern. Der Mann sprang in die Höhe und ließ den Schild sinken. Ich warf den Hammer hoch, wirbelte ihn herum und ergriff ihn dicht hinter dem stählernen Kopf. Der Stiel und das Ende wurden mit aller Kraft nach vorn gestoßen und trafen den Nervenstrang seitlich des Halses. Mit einem gurgelnden Schrei brach der dritte Mann zusammen. »Holt die Roboter. Helft ihnen«, rief ich nach hinten. Dann wandte ich mich wieder an den Fremden, der aufgestanden war und mich neugierig, aber mit kritischer Distanz musterte. »Ich habe gewonnen!« Meine Stimme übertönte nur schwer den Lärm der Musik. Fartuloon übersetzte. »Das habe ich gesehen, ich halte mein Wort«, rief der Fremde. »Dann komm sofort in die Zentrale des Schiffes.« »Ich komme, wenn ich es will, nicht wenn du mich bittest.« »Ich bitte dich nicht«, rief ich und ging zurück in den Nebenraum, wo sich die Roboter und einige Frauen – darunter Bauchaufschneiderin Karelia – um die Bewusstlosen kümmerten. Ich warf die Waffen zu Boden, entledigte mich des Helmes und des Schildes und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Dann machte ich mich auf den Weg zur Zentrale.
Erschöpft lehnte ich mich gegen eine Verkleidung in der Zentrale. Nur der Pilot arbeitete hier, die anderen Abteilungen waren weitestgehend verwaist. Der Fremde war eine Gefahr, das ließ sich nicht mehr verleugnen. Das Schiff befand sich noch immer in derselben Lage. Wir alle befanden uns in Lebensgefahr – es war grotesk, unglaublich, aber die nackte Wahrheit. Er wollte und sollte über Perpandron herrschen, aber er herrschte über uns. Im Augenblick schien sich eine Phase der Ruhe anzubahnen. Jedenfalls zerstreuten sich die Zuschauer aus der Arena und wuschen sich vielleicht auch die Farben von den Körpern. Ich versuchte, mich zu erholen und einen klaren Gedanken zu fassen, blickte auf die umlaufende Panoramagalerie. Der furchtbare Glanz der roten Riesensonne war vergangen. Auch das grelle Leuchten eines gelben Sterngiganten blieb zurück. Aber jetzt strahlte im Frontbereich ein Blauer Riese. Auch dieser Stern zerrte an uns, warf uns alle seine mehrdimensionalen Emissionen entgegen und versuchte, die ISCHTAR zu sich zu zerren. Und noch immer tobte der Hypersturm. Der Logiksektor zitierte aus dem um 5700 da Ark entstandenen Kampftechnikenbuch der Dagoristas mit den Ratschlägen der Dagor-Ausbildung von Shandor da Lerathim: In der Zeit, in der du nicht zu kämpfen brauchst, musst du deinen Verstand benutzen; bedenke still Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges. Dann wirst du im nächsten Kampf gewinnen. Von einer Möglichkeit, eine zuverlässige Positionsbestimmung zu erlangen, war keine Spur. Es gab, solange wir uns zwischen den Sonnen der Ballung befanden, keine Chance. Noch immer wussten wir nicht einmal, in welcher Gegend der Öden Insel sich das Schiff befand. Ich drehte mich um und ging langsam zu Gerlo Malthor. Für mich war er jetzt mittlerweile ein Symbol für Beständigkeit. Ich wusste nicht, wie lange er schon hier saß und versuchte, das
Schiff in Unterlichtfahrt zu steuern. »Unser Herrscher kommt vermutlich gleich und nimmt die Situation zur Kenntnis.« Er stand auf und rieb sich gähnend die Augen. »Ich kann es kaum erwarten. Vermutlich wird er uns befehlen, die Lage blitzschnell zu klären.« »Kann sein. Wie steht es wirklich?« Schlecht. Du siehst es selbst, sagte der Logiksektor. Die Zentrale war von fahlblauem Licht erfüllt. Ich blickte auf die Instrumente. Seit siebenundsiebzig Tontas rast ihr mit neunzig Prozent der Lichtgeschwindigkeit dahin – für einen ruhenden Beobachter sind das allerdings knapp neun Pragos! Von zwei Seiten wirkten extreme Schwerkraftfelder überstarker Ausprägung auf die ISCHTAR ein. »Sind wir in Gefahr? Ich sehe, dass wir knapp an der Schnittgrenze entlangfliegen.« »Eine einzige Transition geradeaus, nur drei Lichtjahre weit, würde uns endgültig aus der Gefahr bringen«, murmelte er mit müder Stimme, stand auf, ging zu einem Automaten und wählte einen Becher eiskaltes Erfrischungsgetränk, das mit einer starken aufpeitschenden Substanz versetzt war. Er stürzte den Inhalt des Bechers mit drei Schlucken hinunter. Er war schon älter, mittelgroß und von ziemlicher Körperfülle; normalerweise war seine Schweigsamkeit sprichwörtlich. »Wir fliegen ständig am Rand der Gefahr. Haarscharf!« »Ich verstehe. Horch, die Musik hat aufgehört.« Gerlo streckte seine Muskeln, bückte sich und atmete tief ein und aus. Tatsächlich hatte jemand diesen ständig dröhnenden Verband von Lautsprechern ausgeschaltet. Schritte näherten sich. Der Junge von Perpandron kam mit seiner unvermeidlichen Eskorte. Hinter ihm betraten Fartuloon und Karmina die Zentrale. Ich bereitete mich auf die nächste Runde der Auseinandersetzung vor. »Wo bin ich hier?«, fragte der Junge und sah sich in dem
blauen Licht um. »In dem Raum, von dem aus dieses Schiff gesteuert wird«, sagte Fartuloon. »Das dort ist eine Sonne?« Er deutete auf die hellste Stelle links von uns. »Das ist die Sonne, die versucht, das Schiff an sich zu ziehen. Wenn das geschieht, sind wir alle verloren.« »Ich begreife es nicht …«, begann er leise, sah sich verwirrt um. Mit dem sicheren Instinkt des Misstrauens hatte er Vorry und Ra in ihre Kabinen geschickt und ihnen ausdrücklich verboten, diese Räume zu verlassen. Seine Augen wanderten über die vielen Armaturen und Anzeigen. »Du begreifst nicht, was das alles bedeutet, nicht wahr?«, fragte Karmina. »Nein. Wo ist in diesen Bildern Perpandron, mein Planet? Wo ist die Welt, über die ich herrschen soll?« Wir sahen ihn mit einiger Verblüffung an. War er tatsächlich nichts anderes als ein Barbar mit Spezialkenntnissen, der in eine Kultur oder Zivilisation geschleudert worden war, die er nicht begreifen konnte? »Niemand von uns weiß, wo Perpandron ist. Wir haben den Planeten mit dir verlassen, als du geschlafen hast. Wir kennen den Weg zurück nicht mehr. Und wir sind wie ein Wanderer, der keine Karte hat und in einer wildfremden, gefährlichen Landschaft überleben muss.« Der Junge sah mich an. Erstaunt und verwirrt. Seine Sicherheit schmolz dahin wie Wachs. »Wenn ihr Perpandron nicht findet, dann bringt mich auf einen anderen sicheren Planeten.« Ich grinste ihn kalt an. Endlich hatten seine Befehle keinen Sinn mehr. Sie waren so gut wie unerfüllbar. »Um einen Planeten zu finden, müssen wir eine geeignete Sonne finden. Vorher müssen wir wissen, wo wir sind.«
Er schleuderte mir einen weiteren Befehl entgegen: »Findet also eine Sonne!« »Du brauchst nur zu sagen, wo wir die Sonne finden. Und vorher musst du uns erklären, wo wir eigentlich sind«, sagte Fartuloon. Wieder herrschte ein Schweigen, das uns alle bedrückte. Die Lage war und blieb aussichtslos. »Ihr wisst es wirklich nicht? Ihr habt mich also wirklich nicht betrügen wollen?« »Nein. Und von dir wollen wir nichts anderes als unsere Freiheit. Hör mit deinen dummen Befehlen auf.« »Ich bin der Herrscher!« Er stampfte mit dem Fuß auf. »Ihr habt meinen Befehlen zu gehorchen!« »Normalerweise gehorchen wir gern«, sagte ich sarkastisch. »Aber deine blödsinnigen Befehle bringen uns näher an den Tod als an alles andere. Und nach Perpandron bringen sie uns schon gar nicht.« Fartuloon sagte hart: »Vielleicht begreifst du endlich, dass wir dich aufgeweckt und durchgefüttert haben. Begreif, dass du uns immer tiefer in Gefahr bringst. Du weißt nichts! Gar nichts weißt du von Sternen, Planeten und Weltall. Überlass dieses Geschäft uns. Du nennst uns ›Raumfahrer‹ – du bist keiner! Du bist der zu junge Herrscher eines primitiven Barbarenstamms.« »Also gut«, sagte der Junge, ohne auf Fartuloons Vorwürfe einzugehen. »Findet eine Sonne. Findet einen Planeten.« »Das bedeutet, dass die bemalten Krieger an alle diese Schaltpulte zurückkehren müssen.« »Meinetwegen. Aber ich kontrolliere alles. Jeden Handgriff. Jede Bewegung. Sogar jeden Gedanken.« »Meinetwegen.« Ich ging zum nächsten Mikrofon, nannte die Namen der betreffenden Frauen und Männer und rief sie zusammen. Ständig wechselten die Bilder auf dem Schirm. Sie versprachen, sofort zu kommen. Sie meldeten sich aus allen
Teilen des Schiffes. Das bedeutete, dass wir wenigstens eine Transition durchführen konnten. »Ich bleibe hier und kontrolliere alles. Ich befehle euch, einen Planeten zu finden. So schnell wie möglich.« »Diesmal gehorchen wir nicht einmal ungern«, schloss Karmina. Sie schien ganz langsam wieder zu sich zurückzufinden. Eine Dezitonta später hatten wir die Kurztransition programmiert. Alles geschah unter den misstrauischen Blicken und den ständigen, bohrenden Fragen des Jungen. Vielleicht schafften wir es diesmal.
Das Innere der ISCHTAR war noch immer ein System chaotischer Verhaltensweisen. Verschiedene Befehle und Anordnungen hielten Frauen und Männer im Griff. Einige Befehle waren aufgehoben worden, andere nicht. Die Macht dieses Jungen ist gigantisch! Immerhin arbeitete die Versorgung, das Schiff konnte gesteuert werden, wir näherten uns dem Augenblick des Transitionsschocks. »Warum schweigt ihr? Redet! Unterhaltet euch!« Der Junge saß zwischen uns und schien sich zu fürchten. »Das Schiff erfordert unsere gesamte Aufmerksamkeit. Jetzt ist nicht die Zeit für Unterhaltungen«, knurrte Fartuloon. Die ISCHTAR raste durch das blaue Leuchten. Ziffern ruckten dem Zeitpunkt der Transition entgegen. »Ihr seid verkrampft. Ihr erwartet ein bestimmtes Ereignis. Ihr wollt mich übertölpeln!« Eine neue Hoffnung zuckte durch meine Überlegungen. Vielleicht setzte ihm der Entzerrungsschmerz so zu, dass er ohnmächtig wurde und von uns überwältigt werden konnte. Vielleicht auch nicht. Ich wusste nicht, was ich glauben sollte. Ich zog es vor, keine Antwort zu geben.
Dann folgte der Schmerz. Die ISCHTAR verließ den Weltraum des Standarduniversums, umwabert von den hyperphysikalischen Kräften des Hypersturms. Schlagartig verschwand das blaue Leuchten. Noch einige Augenblicke hielten sich die Farbeindrücke auf den Netzhäuten. Ich versuchte, den Jungen zu erkennen. Er wand sich stöhnend auf seinem Sitz, mehr oder weniger vom Entzerrungsschmerz geschüttelt. Ein Summer ertönte. Die Transition war durchgeführt. »Zweieinviertel Lichtjahre«, brachte Gerlo hervor. »Aber wir sind noch immer nicht aus allem raus.« In seine letzten Worte mischte sich Ortungsalarm. Das Schiff hatte eine gefährliche Distanz unterschritten. Der Pilot handelte augenblicklich. Fartuloon und ich sprangen auf und rannten zu den Bildschirmen. »Hier Ortung. Hindernis auf Kollisionskurs!« Auf den Bildschirmen flackerten undeutliche Bilder. Der Umstand, dass zu wenige Raumfahrer an den Pulten saßen, machte sich gefährlich bemerkbar. »Was ist es?« »Ein Weißer Zwergstern. Planetengroß. Gewaltige Anziehungskräfte. Sofortige Kursänderung!«, schrie es aus den Lautsprechern. Erst jetzt merkten wir, an welcher Stelle des Weltraums wir herausgekommen waren. Unser Sprung war einfach geradeaus gewesen, ohne genaues Ziel. Wir hätten ebenso in einer Sonne wie auf einem Planeten rematerialisieren können. Aber noch bewegten wir uns im freien Weltraum. Die blaue Sonne, während des letzten Tages unser ständiger Begleiter und Nachbar, war verschwunden. Vor uns hing, noch unsichtbar, die uralte, hochverdichtete Sonne. Eine Handvoll Materie wog Millionen Tonnen. Sie zerrte an der Masse des Schiffes und wollte sie an sich ziehen. Und wir befanden uns noch immer in der Sonnenballung. Zweifellos an der Peripherie dieser
kompakten Kleingalaxis – oder wie immer ich diese Ansammlung eng beieinanderstehender Sterne nennen mochte. Aber wieder umgab uns eine Kugelschale von verschiedenfarbigen Sonnen. Es waren keine solchen Giganten, sondern kleinere Sterne, dennoch jung, heiß und mit gewaltigen Protuberanzen, die entlang von Kraftlinien ins All hinausrasten, die die einzelnen Sonnen miteinander verbanden. »Kursänderung!« rief ich. Auf sämtlichen Instrumenten begannen die Anzeigen zu zittern. Zeiger schnellten an die Enden der Skalen. Auf einzelnen Abschnitten erschienen stechend rote Warnlichter. Ein Summer quäkte unablässig. Dieses Geräusch riss an den Nerven. Wir litten seit Tagen unter diesem Stress, schon winzige Einzelheiten erhielten dadurch eine viel größere Bedeutung. »Maximale Beschleunigung!«, rief Gerlo Malthor. Die Maschinen heulten. In den Pulten knisterte und knackte es. Partikelströme und Hyperemissionen, durch die wir hindurchrasten, zauberten auf der Oberfläche des Schutzschirms wahre Feuerwerke aus intensiven Farben hervor. Noch immer jaulten die akustischen Warneinrichtungen. Das Schiff kämpfte mit aller Kraft gegen die Anziehungskraft des Weißen Zwergs und die ihn umgebenden Hypersturmausläufer an. »Nottransition! Hinter die gelbe Sonne dort!« Ich federte einen schweren Stoß, der das Schiff erschütterte, mit den Knien ab. Mein Blick traf zufällig Karmina. Die Sonnenträgerin saß kerzengerade in ihrem Sessel und krampfte ihre Finger um die Lehnen, zitterte am ganzen Körper. »Es wird hart werden!«, gab Gerlo zurück. »Schnell!« Das ist die beste Lösung, aber nicht frei von hohem Risiko!, schrie der Logiksektor.
Der Pilot programmierte die Transition. Ich erinnerte mich an den Jungen, drehte mich um und deutete mit der Hand auf ihn. »Du bist an allem schuld, du Narr. Jetzt kämpfen wir um unser Leben. Du hast uns in diese Lage gebracht.« Er schien sich doch besser in der Gewalt zu haben, als ich gedacht hatte. Der Tyrann des Schiffes saß ruhig da und schwieg. Seine großen Augen starrten mich an. Nur der zusammengekniffene Mund bewies, dass er sich zu fürchten begann. »Es ist eure Aufgabe, einen Weg aus der Gefahr zu finden«, sagte er fast feierlich. »Findet ihn also.« »Wir sind dabei.« Fartuloon saß schweigend und konzentriert da, war bereit, bei jeder sich bietenden Gelegenheit einzuspringen. Noch brauchten wir ihn nicht. Wellen unsichtbarer Kraftlinien, die nur auf Spezialschirmen sichtbar gemacht werden konnten, prasselten auf uns ein. Die ISCHTAR raste auf die gelbe Sonne zu und versuchte, der gewaltigen Anziehung des Weißen Zwergs zu entkommen. Wir sahen den Kampf auf unzähligen Instrumenten und Skalen dargestellt. Ich murmelte am Ohr Gerlos: »Kommen wir durch?« »Wir werden es bald wissen.« Es wies mit dem Zeigefinger auf die Ziffern. Dann zuckte seine Hand zum großen roten Schalter. »Transition!« Wieder wurden wir von Schmerzen gepackt. Der Schock war nicht besonders stark, aber wir spürten ihn. Das Schiff rematerialisierte und schoss hinaus in den normalen Weltraum. Und jetzt befanden wir uns wirklich außerhalb der Ballung der drohenden Sonnen. Auf der Panoramagalerie breitete sich der Weltraum aus. Tiefschwarz, von den Diamantsplittern unzähliger Sterne übersät, ein Meer von Lichtern. Wir hatten den Anblick schon zu lange vermisst. Noch immer war die Sternendichte sehr hoch, aber nicht mehr akut gefährlich. Ich spürte plötzlich eine wohltuende Schwäche, die eindeutig ein
Zeichen meiner Erleichterung war. Der Junge von Perpandron sprang auf. »Was ist das? Wo sind wir plötzlich? Alles ist so …« Er vermisste das durchdringende Leuchten, das tagelang von sämtlichen Bildschirmen gestrahlt hatte. Der normale, wenngleich immer noch extrem Sternenreiche Weltraum erschreckte ihn zutiefst. »Das ist der Anblick des Weltraums. Für dich ist es neu und erschreckend. Für uns ist es ein gutes Zeichen.« Fartuloon stand ruhig auf und kam näher. »Um zu wissen, wo wir sind, brauchen wir eine voll besetzte Ortungsabteilung. Wenn du auf einen sicheren Planeten gebracht werden willst, musst du wieder einige Befehle geben, Tyrann.« Der Junge fuhr herum. So schnell, wie er die Angst gespürt hatte, so schnell gewann er seine Arroganz wieder. Er veränderte als deutliches Zeichen für uns alle plötzlich sogar seine Körperhaltung. »Wie nennst du mich?« In der altarkonidischen Sprache klang es noch drohender und direkter. »Tyrann! Du hast ein Schiff voller freier Raumfahrer zu lächerlichen Sklaven gemacht. Und jetzt musst du deinen Sklaven befehlen, nach einer Karte zu suchen, die uns einen Weg zeigt.« »Du willst mir befehlen, Sklave?« »Ja«, sagte Fartuloon düster. Er vergaß nie etwas, würde sich für die zurückliegenden Demütigungen rächen – wenn es an der Zeit war. Noch beherrschte er sich. »Wenn du deinen Planeten oder einen anderen finden willst, brauchen wir eine voll besetzte Ortungsstation und einige Zeit. Genau das musst du befehlen.« Im Hintergrund murmelte jemand die Litanei zu Ehren der Sternengötter: »Gegen den Willen der She’Huhan ist auch der Wille des Höchstedlen nur ein Nebelstreif im Orkan. Wir
gehorchen dem Imperator, aber dem Wirken der Sternengötter entzieht sich niemand. Der Wille der Sternengötter geschehe …« Echodim, fügte ich in Gedanken hinzu. »Sterne? Eine Karte? Ortungsstation?« Karmina hielt es nicht mehr aus. Die Sonnenträgerin hatte einen Punkt erreicht, an dem Selbstdisziplin und Beherrschung nicht mehr funktionierten. Die zurückliegenden Tage hatten sie ununterbrochen belastet. Versuchter Widerstand und Abscheu auf der einen und der Zwang zum Gehorchen auf der anderen Seite, dazu auch noch ausgesprochen von einem Wesen, das ihr an Jahren, Herkunft und Klugheit namenlos unterlegen war, das alles summierte sich bis zu diesem Augenblick. Sie sprang aus dem Sessel und war mit zwei Schritten bei dem Jungen. Sie holte aus und schlug ihm, ehe jemand eingreifen konnte, mit der flachen Hand rechts und links ins Gesicht. Zwei schallende Geräusche waren zu hören, dann ein spitzer Schrei, ein kurzer Fluch in Altakona. Der Junge taumelte zurück und hob die Hände an seine Wangen. »Aufhören!«, grollte Fartuloon. Der Junge sah uns mit weit aufgerissenen Augen an. Wir kannten seine Lebensgeschichte nicht, aber er war jetzt demoralisiert. Dieser Zustand musste ausgenutzt werden. Karmina fuhr ihn an: »Du elender Barbar! Du Abschaum! Du verdienst nicht, die Luft in diesem Schiff zu atmen. Gib sofort die Befehle. Wir haben es satt, vor dir herumzukriechen. Ich kann dich nicht einmal mehr verachten!« Sie schwieg, dann schluchzte sie auf, warf mir einen verständnislosen Blick zu und rannte in panischer Eile stolpernd aus der Zentrale hinaus. »Sie hat recht«, sagte ich leise. »Wir müssen einen Planeten finden. Los!« Der Junge schwieg, bot einen traurigen, fast komischen
Anblick. Er war noch in die improvisierten Prunkgewänder gekleidet, die er während der Kämpfe getragen hatte. Aber er war alles andere als lächerlich – noch immer stellte er eine Bedrohung dar. Er durfte nur nicht wieder daran denken, unsinnige Befehle zu geben. Fartuloon bezwang sich und legte ihm in einer väterlichen und beruhigenden Geste die Hand auf die Schulter. »Wir warten auf dich«, sagte er leise und mit beschwörender Stimme. »Du wirst schon das Richtige tun.« »Ich will … werde … Wen soll ich rufen …?« Auf seinen Wangen zeichneten sich die Spuren der Finger Karminas ab. »Ich werde die Besatzung zusammenrufen«, sagte ich scharf. »Kümmere dich nicht darum.« Eine Dezitonta später konnten sich die Spezialisten mithilfe aller ihrer Geräte und Maschinen daranmachen, den Standort des Schiffes herauszufinden. Die Arbeit würde einige Tontas dauern. Und dann erst konnten wir darangehen, einen Planeten zu finden. Die anderen Fragen waren für den Augenblick unwichtig geworden, aber niemand hatte die Rätsel wirklich vergessen. Warum hatte uns die fremde Macht, die sich Gonozals bediente, auf dem Weg von Perpandron nach Kraumon entführt? Was bedeutete die merkwürdige Station, die sich dem Schiff genähert hatte? Wo versteckte sich diese Konstruktion jetzt? Ich war müde und hungrig. Als ich sah, dass uns der Junge diesmal nicht sabotieren würde, weil er mit seinen eigenen Problemen zu sehr beschäftigt war, verließ ich die Zentrale und ging in meine Kabine. Ein paar Tontas Ruhe waren für mich lebensnotwendig.
24. Aus: Gedanken und Notizen, Bauchaufschneider Fartuloon Ich ziehe das Skarg, betrachte die breite Klinge des Stahls unbekannter Herkunft und lasse die ebenso fremdartige wie winzige Energiezelle aus der Parierstange schnappen. Ladekapazität: 100 Prozent. Mikroprojektoren erzeugen auf Knopf druck das Hüllfeld der Klinge, das wahlweise im Hochenergie- oder Paralysatormodus aufgeladen werden kann. Die Konturen der Silberfigur des Knaufs verschwimmen, je länger und intensiver sich sie mustere. In vielem entspricht das Skarg der Waffe eines Dagoristas, die zahlreiche auf den ersten Blick absonderlich erscheinende Spezialkonstruktionen entwickelt haben. Doch diese traditionelle Ausstattung ist erwiesenermaßen nicht zu unterschätzen: Reit-Kampfroboter mit perfekter Bioschichttarnung gehören ebenso wie die legendären Ornithopter-Libellen dazu; Grundausstattung sind stets das Dagorschwert und die Armmanschette zur Prallschild-Projektion, um zum Beispiel IV-Schirme partiell zu verstärken. Weil sie grundsätzlich Einzelkämpfer waren, blieben die Arkonritter stets Individualisten, deren Traditionen vor allem auf die Zeit der Archaischen Perioden zurückgehen – genau wie die Umschreibung Yoner-Madrul für die seit damals »Bauchaufschneider« genannten Mediker. Ah, das Arkon-Rittertum auf der Basis von Dagor, dessen Mitglieder auch Tron’athorii Huhany-Zhy genannt werden – »Hohe Sprecher des Göttlich-Übersinnlichen Feuers«. Der Hauptkodex, die Zwölf Ehernen Prinzipien, entstand ebenso wie das Buch des Willens von Dolanty um 3100 da Ark. Zwei Hauptströmungen werden unterschieden: Die auf Meditation und Zurückgezogenheit bezogene geistige Ausrichtung steht der weltlichen Orientierung des Arkon-Rittertums gegenüber, jedoch nicht als Gegensatz, sondern als harmonische Ergänzung, die im Ideal zur Einheit verschmilzt. Eine mindestens fünfjährige Ausbildung gilt
als normal; der Ritterschlag entspricht einem Meisterbrief, sodass sich folgende Rangfolge ergibt: Adepten, Meister, Großmeister, Hochmeister … Ich erinnere mich noch genau daran, wie das Skarg in meinen Besitz gekommen ist. Dunkle, blutige und hässliche Geschehnisse haben sich vorher abgespielt, und auch mein alter, verbeulter Harnisch gehört in diese phantastische Vergangenheit. Mit Geschichten dieser Art kann ich selbst hartgesottene Schurken erschrecken, und ich danke dem Universum, dass ich nicht unmittelbar Teilnehmer an diesen Gräueltaten gewesen bin. Es ist eine Geschichte auf der Bühne der Sterne, in der ich nur in den letzten Zeilen erscheine. Aber ich kenne sie. Derjenige, der das Schwert schuf, ist längst kosmischer Staub. Diejenigen, die es führten, zählen zu den größten Schlächtern zwischen den Galaxien. Und selbst ich, der es fand, kenne viele, aber längst nicht alle Geschichten, die damit verbunden sind. An Bord der ISCHTAR: 34. Prago des Tedar 10.499 da Ark (Bordzeit) – 3. Prago des Ansoor 10.499 da Ark (Dilatationskorrektur gemäß Arkon-Standard) Nach dem Frühstück suchte ich Ra auf. Ein Blick auf den Bildschirm und ein kurzes Gespräch hatten mir gezeigt, dass die Raumfahrer noch immer mit der Bestimmung unserer Position beschäftigt waren; fest stand nur, dass uns die wahnsinnigen Transitionen Tausende Lichtjahre vom eigentlichen Kurs nach Kraumon weggerissen hatten. Ra lag in seiner Kabine und starrte mich mit nackter Mordlust in den Augen an. »Solange er seinen Befehl nicht aufhebt, kann ich hier nicht heraus. Aber wenn ich frei bin, bringe ich ihn um!« »Das wirst du nicht tun, denn eigentlich ist er nichts anderes als ein unwissendes Kind.« »Kind?« Ra zuckte die breiten Schultern. »Ich weiß doch, was
ich auf dem Bildschirm gesehen habe. Er tyrannisiert das ganze Schiff.« »Nicht im Augenblick.« »Wenn er wieder sicher ist, fängt alles von vorn an. Keiner von uns kann ihm etwas tun, weil er es uns allen verboten hat. Ich kann nicht einmal aus diesem Loch hinaus.« »Ganz gut für dich. Auf diese Weise entgehst du seinen Schikanen.« Er nickte und brütete neue Rachepläne aus. »Ich versuche, Karmina zu finden. Sie ist knapp einem Nervenzusammenbruch entgangen. Vielleicht gelingt es uns, die Lage zu klären.« »Ich bewundere deinen Optimismus. Ich glaube, ein Schädelbruch würde dem Kerl mehr nützen. Uns ganz bestimmt.« »Warten wir’s ab.« Ich schlug das Sicherheitsschott hinter mir zu und blieb stehen. Wenn es uns gelang, wieder auf unseren Kurs nach Kraumon zurückzufinden, würden die Probleme mit dem Jungen nicht mehr so sehr ins Gewicht fallen. Das dachte ich einige Zentitontas lang, während ich in der beginnenden Ruhe im Schiff langsam zur Zentrale zurückging. Kurz bevor ich sie erreichte, hörte ich, wie sich das Kommunikationssystem wieder einschaltete. »Atlan! Ich rufe Atlan. Komm sofort zu mir. Ich bin in Karminas Kabine!« Meine Schultern sackten nach vorn. Er hatte es wieder einmal geschafft. Ich hatte einen Befehl bekommen und musste gehorchen. Der Logiksektor sagte: Bereite dich auf Ärger vor.
Ich zögerte fast zu lange, ehe ich den Griff packte. Ich war wirklich auf Ärger vorbereitet. Der Junge war mit vernünftigen Argumenten nicht zu überzeugen. Er war unsicher, deshalb sah ich eine lange Zeit vor uns, in der wir seinem Willen und
seinen unberechenbaren Launen ausgeliefert sein würden. Mein Selbstvertrauen war nicht gerade gering, aber ich glaubte nicht, dass ich ihn überzeugen konnte. Ich streckte die Hand aus und stieß das Schott auf. Starker Geruch nach einem teuren Duftwasser schlug mir entgegen. Vier große Bildschirme arbeiteten und produzierten vier verschiedene Bilder. Als ich die dreidimensionalen Abläufe erkannte, wusste ich, dass mir eine unschöne Zeit bevorstand. Zwei Sessel befanden sich vor dem reich gedeckten Tisch. Fartuloon stand hinter dem Tisch, Karmina und der Junge saßen da und blickten mich an. Ich brauchte gar nicht erst in die Gesichter des Bauchaufschneiders oder der Sonnenträgerin zu sehen, um ihre Gefühle zu erkennen. »Was willst du?« Ich lehnte mich an das geschlossene Schott. Einer der Bildschirme zeigte die Zentrale. Dort arbeitete, augenscheinlich ungehindert, die Besatzung. Das Schiff raste mit Unterlichtgeschwindigkeit auf die Mitte der Sternenkulisse zu. »Mit dir reden. Du scheinst vernünftig zu sein. Der Dickwanst hier«, er deutete mit dem geraden ausgestreckten Finger auf Fartuloon, der diese Bemerkung mit unbewegter Miene schluckte, »ist einigermaßen unergiebig. Aber er serviert recht artig.« »Worüber willst du reden?« Sein Befehl hatte die Sonnenträgerin in eine Lage gebracht, die selbst mich nach allem verblüffte. In einem außerordentlich gewagten »Anzug« saß sie dem Jungen gegenüber. Ihr Gesicht drückte ohnmächtigen Hass aus. »Über alles! Alles ist anders. Ich wachte mit bestimmten Gedanken auf. Keiner davon traf auf die Realität zu.« Ich blieb, wo ich war, musterte die Szene. Auf dem zweiten, oberen Bildschirm flimmerte die Aufzeichnung eines der Kämpfe. Die Lichter und die blitzschnellen Bewegungen der
Kämpfenden warfen Reflexe in den Raum. »Die Realität war anders. Es war unsere Wirklichkeit. Du solltest nicht in ihr aufwachen.« Er beugte sich über den Tisch und strich mit seinen Fingerspitzen prüfend über den Körper der Sonnenträgerin. Karmina bewegte sich nicht, aber ihr Gesicht drückte Abscheu aus. »Wer hat mich aufgeweckt?« »Es stellt sich eine andere Frage – nämlich was hat dich aufgeweckt? Ich weiß es nicht, denn wir waren nicht in der Lage, etwas zu tun oder zu unternehmen.« »Ich will alles wissen. Erzähl!« Ich berichtete also, was kurz nach dem Start von Perpandron vorgefallen war, und hörte auf, als es uns gelungen war, der Sonnenhölle zu entkommen. Schweigend hörte der Junge zu. Auch der Bauchaufschneider und die Sonnenträgerin sagten nichts. Das Gefühl von mehr Ärger und dem unweigerlich erfolgenden Hineinschlittern in noch mehr Gefahren verstärkte sich. »Das ist also die Geschichte. Und was jetzt?« Ich deutete auf den Bildschirm. »Sie suchen eine Sonne, die Planeten hat. Aber wir sollten nach Perpandron zurückfliegen.« Vielleicht ahnte er noch immer nichts von Kraumon. Dieser mächtige Junge auf Kraumon – wir hätten uns alle gleich umbringen können, was denselben Effekt gehabt hätte. »Ich will aus diesem unsicheren Schiff heraus. Ich will endlich richtigen Boden unter den Füßen haben. Planetenboden.« Je länger er bei uns war, desto mehr Befehle sprach er aus. Da er kaum einen Befehl widerrief oder durch eine Gegenorder aufhob, gab es immer mehr Befehle, die von Einzelnen oder der gesamten Mannschaft befolgt werden mussten. Je mehr Befehle es gab, desto eingeschränkter wurden wir
alle in unseren Versuchen, uns zu retten und unsere Pläne weiterzuverfolgen. Jetzt drohte seine Angst – das Schiff sollte auf einem fremden Planeten landen. »Ich habe das schon oft zu erklären versucht. Es dauert Tontas oder Tage, bis wir eine Sonne finden, die Planeten hat.« »Wie viele Tage?«, schnappte er und trank einen Schluck Wein. Ich musterte den Weinbehälter. Der Jahrgang gehörte zu den teuersten und ältesten Weinen, die sich in unseren Magazinen befanden. »Das weiß niemand. Ich hoffe, dass du mir glaubst.« »Ich bin geneigt«, sagte er mit seiner üblichen Arroganz, »dir bis zu dem Punkt zu glauben, an dem sich unsere Interessen in verschiedene Richtungen bewegen.« Auf dem dritten Bildschirm erkannte ich das Bild, das in diesem Raum von den Linsen aufgenommen wurde. Vermutlich war es dieses Bild, das im Augenblick auf allen Schirmen des Schiffes zu sehen war. Hoffentlich fanden wir im Schiff noch ein paar Arkoniden, die ihre gesamte Freiheit behalten hatten und sich aus Klugheit bisher versteckt hielten. Ich war verzweifelt. Aber ich versuchte, mich ebenso zu beherrschen wie mein Vorbild Fartuloon. Er hatte so gut wie keine Befehle herausgefordert, die sich auf ihn allein bezogen. Er war, obwohl er den Diener spielte, der Freieste von uns allen. »Wir versuchen es. Von hier aus können wir Perpandron nicht finden. Vielleicht finden wir in der nächsten Zeit einen Planeten, auf dem du überleben kannst.« »Ich?«, fragte er voller Verwunderung. »Ja. Wer sonst?« »Wir alle. Ihr, meine Sklaven, alle diese starken Männer und die schönen Mädchen, mit denen ich viele Kinder haben werde. Ihr seid mein Volk. Ich habe euch ausgewählt, indem ich in eurer Mitte das Bewusstsein wiedererlangt habe.« »Das kann nicht dein Ernst sein?« Jetzt packte mich – und
nicht nur mich! – das nackte Entsetzen. »Mein völliger Ernst. Ich scherze niemals! Wir alle werden auf diesem Planeten landen und dort die Keimzelle eines neuen Volkes sein. Ein Volk von fähigen Sklaven. Ich als absoluter Herrscher.« Ich stöhnte auf. Mein Logiksektor schwieg offensichtlich erschrocken. »Dir scheint die Vorstellung nicht zu behagen?« »Keineswegs! Unsere Pläne sind andere.« Er lächelte mich kurz an. Es war ein kleines, grausames Lächeln. Er wirkte jetzt wie ein Kind, das damit beschäftigt war, einem Käfer die Beine auszureißen. Schweiß brach mir aus. »Ihr werdet die Pläne gern ändern. Dafür sorge ich.« »Ja, das ist zu befürchten.« Wie sollten wir ein Wesen besiegen können, das jeden anderen zwingen konnte, das niemals schlief und keinen Augenblick lang unaufmerksam war? Ich wusste es nicht. Mir fiel nichts mehr ein. Ich hob die Schultern und fror innerlich vor Angst. Kraumon, der Fluchtplan, verschwand vor meinem geistigen Auge irgendwo in den Tiefen des Raumes und in den Nebeln der Zeit. Wir waren alle verdammt. Es muss einen Weg geben. Schlaf aus und denk nach, solange nach einer Sonne gesucht wird, wisperte der Extrasinn. »Kann ich jetzt gehen?« »Wohin?« »Zu meinen Leuten.« »Was willst du tun?« »Ihnen helfen, einen Planeten zu finden«, log ich. Glücklicherweise hatte er mir nicht befohlen, immer nur die Wahrheit zu sagen. »Dann geh. Und benachrichtige mich, wenn ein Planet gefunden worden ist. Das ist ein Befehl!« »Ich gehorche«, sagte ich und ging hinaus. Karmina begann mir leidzutun. An ihr schien der Junge seine Art von Rache
vornehmen zu wollen. Niemand konnte etwas dagegen tun.
Nach zwanzig Schritten hörte ich links ein scharfes Fingerschnippen. Achtung!, zischte der Extrasinn. Ich fuhr herum und erkannte in dem Halbdunkel eines abzweigenden Ganges eine Frau. Wir waren uns auf eine mehr als freundschaftliche Weise sympathisch. Die Astronomin trug das Haar kurz, hatte ein herbes Gesicht und einen trockenen Humor. »Algonia«, sagte ich und lief in ihre Richtung. »Was ist los?« »Ich soll dich zu den Technikern rufen. Es erschien uns zu riskant, dich per Interkom zu rufen. Los, komm mit, Kristallprinz.« Sie packte meine Hand und zog mich in die Richtung des nächsten Antigravschachtes. »Techniker? Was ist los? Was haben sie vor?« Schnell liefen wir auf den hell leuchtenden Einstieg des Abwärtsschachts zu. Ich wurde ununterbrochen von verschiedenen Stimmungen gepeinigt. Diesmal war es zur Abwechslung wieder einmal eine schwache Hoffnung. Ich kannte die junge Frau als zuverlässig und vertrauenswürdig. »Drei Leute, die kaum einem Befehl zu gehorchen haben. Nordol, Kestin Bulovo und Jörn Asmorth.« Also doch, sagte der Logiksektor. »Du auch?« »Ich bin nicht sehr eingeschränkt. Sie versuchen, einen Roboter zu programmieren.« Ich schwang mich neben ihr in den Schacht. Wir hatten uns flüsternd unterhalten. Das war die Lösung. Zumindest war dies eine echte Chance. Eine Maschine mit einem positronischen »Gehirn« konnte nicht wie ein lebendes Wesen beeinflusst und gezwungen werden. »Ausgezeichnet. Sie brauchen mich, nicht wahr?«
Algonia Helgh nickte eifrig. »Ja. Ein Medorobot, ausgerüstet mit einem Paralysator. Und wenn er den Fremden niedergeschossen hat, können wir ihn in Tiefschlaf legen.« »Er will mit der Besatzung der ISCHTAR ein neues Reich gründen.« Den Weg kannten wir beide. Die Männer mussten sich im Unterschiff, nur wenige Ebenen oberhalb der Polschleuse, versteckt gehalten haben. Aus der Hoffnung wurde eine wilde Freude. »Nicht, wenn wir uns überhaupt noch irgendwie wehren können. Hier, diese Richtung.« Dieser Teil des Schiffes wurde so selten benutzt, dass keine der Beleuchtungen eingeschaltet war. Nicht einmal die roten Leuchtkörper der Notlichter. Aber die junge Frau tastete sich mit erstaunlicher Sicherheit vorwärts, bog ein paarmal rechtwinklig ab und drückte schließlich einen Summerknopf. Langsam schwang ein Druckschott auf. Ein Luftstrom, gemischt aus Rauch, dem stechenden Geruch schmorender Verbindungen und heißen Fetten oder Ölen, kam uns entgegen. Vor uns lag eine der hervorragend ausgerüsteten Werkstätten des Schiffes für Reparaturen an mittelgroßen Maschinen. Kestin Bulovo stand da und zielte mit einem dickläufigen Schockstrahler auf uns. Er ließ ihn sinken und grinste verzerrt. »Atlan«, rief er leise. »Endlich! Wie frei sind Sie, Kristallprinz?« Ich zuckte mit den Schultern. »Es geht. Ich bin vielfach blockiert, aber vermutlich habe ich eine etwas größere Widerstandskraft.« »Wie können wir das verstehen?« Ich ging näher und sah, dass sie einen der Spezialroboter teilweise umkonstruiert hatten. Aber er sah noch immer wie ein Medorobot aus. Machte es für den Fremden einen Unterschied? »Die länger zurückliegenden Befehle verlieren ihren Ausschließlichkeitscharakter. Ich muss ihnen nicht gehorchen. Und ich bin eben in die Zentrale geschickt worden
und konnte trotzdem hierher kommen.« »Ausgezeichnet. Wir haben Schwierigkeiten, die Positronik umzuprogrammieren. Das Potenzial ist zu schwach ausgebaut.« Ein solcher Robot musste Arkoniden betäuben können, denn in vielen Situationen würde die Maschine sonst Verletzungen nicht schmerzlos behandeln können. Aber die Definition hieß, einen Verletzten zu betäuben, nicht einen offenkundig unverletzten Mann niederzuschießen, der keinerlei erkennbare Spuren von Verletzungen oder ähnliche Merkmale aufwies. »In Ordnung. Ich helfe euch. Sind hier eingeschaltete Bildschirme?« »Ja. Einer!« »Schaltet ihn ins Netz. Kappt die Tonleitung in beide Richtungen. Er kann uns auch über Bildschirm Befehle erteilen.« »Sofort!« Die drei jungen Techniker hatten es bisher ganz geschickt angestellt. Die Maschine war mit einem Spezialmagazin versehen worden. Die Sicherung war entfernt, die Ladung war hoch, der Streuungskegel des Schusses war sehr eng gebündelt. Wenn wir es schafften, die Maschine richtig zu programmieren, würde sie den Kranken passend behandeln … Jetzt stand sie ausgeschaltet und bewegungsunfähig da. »Wo ist das Programmierpult?« »Hier.« Sie hatten neun Zehntel aller notwendigen Arbeiten mit hervorragendem Ergebnis ausgeführt. Aber keiner war in der Lage gewesen, die Maschine nur auf den Fremden abzustimmen. Bis zu einem bestimmten Punkt ließ sich das Positronengehirn eines Roboters überlisten – ich versuchte langsam und methodisch, die einzelnen Programmschritte richtig zu setzen. Zwischendurch erkundigte ich mich: »Was
meldet die Ortungszentrale?« »Sie glauben herausgefunden zu haben, dass wir uns in der Nähe des galaktischen Zentrums befinden. Und zwar im Randbezirk einer Sternenballung, in deren Mitte sich die Riesensonnen befinden.« Langsam und methodisch drückte ich die Tasten und kontrollierte immer wieder alle Teilschritte. »Keine weiteren Erkenntnisse?« »Nein. Wir wissen nicht, wo wir uns genau befinden. Wir können noch keinen Kurs programmieren.« »Das hört sich bitter an.« Der Extrasinn warf ein: Wenn ihr den Fremden besiegt habt, wird der Kurs keine Schwierigkeiten mehr machen. Dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis ihr nach Kraumon kommt. Kurze Zeit später machten wir mit der Maschine den ersten Versuch. Ein Zusatzgerät hinter den komplizierten Sichtlinsen der Maschine begann zu arbeiten und setzte die Bilder um, die der Robot aufnahm. Sie erschienen auf einem kleinen Bildschirm. Ich befahl: »Geh in den Nebenraum, such das Zentrum der improvisierten Zielscheibe und schieß mit dem Lähmstrahler!« Wir hatten alles entsprechend präpariert und so viele Hindernisse aufgestellt, dass die Maschine einen gewaltigen Umweg machen musste. Außerdem gehörte zum Basiswissen eines jeden solchen Roboters die perfekte Kenntnis eines jeden Raumes der ISCHTAR. Das war unumgänglich. Der Robot summte bestätigend auf und eilte davon. Immer wieder gingen unsere Augen von der Maschine zum Bildschirm. Wir sahen, dass die Maschine in einem wilden, aber rationellen Kurs in den Nebenraum schwebte, dort die Zielscheibe suchte und einen Augenblick später klar definierte. Der getarnte Lähmstrahler peitschte auf und aktivierte mit seiner Energie eine winzige Zelle. Das Signal war klar und deutlich. Die Bilder
waren gestochen scharf. Wir sahen uns an und wagten ein kurzes Grinsen. Ich setzte mich auf eine Werkbank und murmelte: »Ihr bleibt am besten hier. Ich bringe die Maschine nach oben und weise sie ein. Solange ihr versteckt und abgeschnitten seid, kann euch kein Befehl erreichen.« Jörn deutete auf den Schirm, der uns zeigte, denn die Vorauslinsen der Maschine waren auf unsere Gruppe gerichtet. »Und Sie, Erhabener?« »Ihr seht auf dem Schirm, was vorfällt. Ich komme sofort zurück und sehe mir den Mitschnitt an. Einverstanden?« »Natürlich.« Ich winkte der Maschine. »Du wirst jetzt mit mir kommen. Auf Hauptdeck Sieben in den Kabinen Acht und Neun befindet sich dieser junge Mann. Er ist tödlich erkrankt. Er weiß nichts davon und wird sich dagegen sträuben, untersucht zu werden. Es ist notwendig, ihn zu betäuben, ehe die Diagnose gestellt werden kann. Betrachte die Bilder.« Wir hatten stehende Aufnahmen angefertigt. Ich deutete auf den Jungen. Er saß jetzt neben Karmina da Arthamin und versuchte auf seine noch fast kindliche Art, sie zu verführen. Wenn ich ihr Gesicht anblickte, liefen mir eiskalte Schauer über den Rücken. »Du hast die fragliche Person klar definiert? Antwort?« Der Medorobot summte auf. »Folge mir. Ich begleite dich bis Deck Sieben.« Ich sprang auf den Boden und ging auf das Schott zu. Im Augenblick traute ich es mir sogar selbst zu, wieder einen Schockstrahler in die Hand zu nehmen und den Jungen niederzuschießen. Die Wirkung des Befehls hatte nachgelassen. Ich hörte das vierfach geflüsterte »Viel Glück« Algonias und der Techniker, dann schloss sich das Schott hinter uns. Die Maschine summte an mir vorbei, ich sprang in den
Aufwärtsschacht. Nach Augenblicken, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen, schwangen wir uns auf den Bodenbelag von Hauptdeck Sieben. Niemand war uns begegnet. »Kabine Sieben und Acht. Warte nicht auf die Aufforderung. Öffne das Schott und dring ein. Höchste Wichtigkeit! Ein Arkonide muss sterben, wenn du nicht richtig schaltest!« Ein zustimmendes Summen, dann glitt der Roboter davon. Ich sah ihm nach, bis er etwa in der Höhe des Eingangs war. Ich fühlte, wie ich vor Anspannung zitterte. Dann zwang ich mich dazu, wieder hinunter zu den letzten »Freien« der ISCHTAR zu gehen. Wieder einmal hing das Schicksal des Schiffes mit fünfhundert Besatzungsmitgliedern an einem dünnen Faden. Genauer gesagt, am richtigen Funktionieren einer Maschine … Ich schwitzte und war aufgeregt.
Plötzlich, mitten im Antigravschacht, sehnte ich mich wieder danach, eine möglichst primitive Waffe in der Hand zu halten und damit zu kämpfen. Alle aufgestaute Spannung der letzten Tage, die Qual der Hoffnungen und die immer wieder wie schlagartig auftretende Resignation – sie hinterließen Spuren. Ich wollte losschlagen. Jeder, der mich kannte, bescheinigte mir viel Geduld und die Fähigkeit zur Planung über lange Zeiträume hinweg, aber bisher hatte sich die Ausgangssituation nicht verändert. Also würde sich auch die Lage nicht verändern. Ich stieß das Schott auf und trat in die große Werkstatt. »Wie ist es ausgegangen?«, brachte ich hervor. Schon der zweite Blick in die Gesichter der Schweigenden sagte mir, dass es eine Panne gegeben hatte. »Hier. Aufzeichnung ab«, sagte Algonia. Das Bild war eine vorzügliche dreidimensionale Wiedergabe.
Wir sahen das Schott, das zu dem Doppelapartment führte, durch die Linsen der Maschine. Das Schott schwang auf. Die Maschine bewegte sich nach vorn. Karmina saß auf dem Rand der Liege und blickte den Jungen mit Mordgier in den großen Augen an. Sie schien zu gehorchen, aber ihre innere Sperre war gewaltig. Er hatte seine arrogante Art nicht abgelegt, schien aber verwirrt über den deutlichen Widerstand, der sich vor ihm aufbaute. Beide zuckten zusammen, der Junge sah genau in die Optiken der Maschine. »Bis hierher klappte es«, flüsterte Algonia. Der Robot summte quer durch den Raum und betätigte die Zoom-Linsen. Der Kopf des Fremden schien ins Bild hineinzuschießen, bis er den flimmernden Grenzbereich der Wiedergabe berührte. »Was soll das?«, fragte er aufgebracht und streckte die Hand aus, als könne er die Maschine abwehren. Auch Karmina war erschrocken, sprang auf und bewegte sich unschlüssig auf den Medorobot zu. Der Robot umrundete Sessel und Tisch und blieb dicht vor der Liege stehen. Die Gliedmaßen mit den vielen verschiedenen Elementen bewegten sich nach vorn, ergriffen den Jungen von Perpandron und wollten ihn auf die Liege drücken. »Eine Maschine. Sie wollen mich umbringen. Ich verbiete euch allen, mir etwas anzutun. Ich bin der Herrscher des Schiffes. Ich bin unantastbar!« Die Sonnenträgerin war bis an die Wand zurückgewichen, schwieg und wusste nicht, was geschah. Die Maschine war sanft, aber beharrlich. Ich wartete zitternd auf das erlösende Geräusch des Lähmschusses. Nichts. Der verdammte Apparat begann, mit sanfter Gewalt die Diagnoseeinheiten anzusetzen und die einlaufenden Informationen rasend schnell zu verarbeiten. »Helft mir! Sie bringen mich um! Ich habe euch allen
befohlen …«, kreischte der Tyrann. »Warum schießt dieser verfluchte Roboter nicht …?«, stöhnte ich in ohnmächtigem Zorn auf. »Werden wir gleich sehen …« Jetzt lag der hundertachtzig Zentimeter lange Körper flach auf der Liege. Der Junge wehrte sich verzweifelt und schrie, als glaube er, die Maschine würde ihm die Haut abziehen. Wieder einmal ahnte ich, dass er für dieses Abenteuer keineswegs programmiert war. Aber in der Aufregung vergaß ich den Gedankengang wieder und sah zu, wie die Maschine endlich den Paralysator vorklappte. Im gleichen Augenblick hörten wir harte, schnelle Schritte. Das Rückwärts-Auge des Roboters erfasste die gedrungene Gestalt Fartuloons. Er war mit eindeutigen Befehlen konditioniert worden. In seiner Hand blitzte das Skarg auf. Ein Kampfroboter hätte schneller reagiert, aber diese Maschine war nicht dafür geschaffen. Ein knatternder, lauter Schlag ertönte, ein blendender Lichtstrahl fuhr vom Schwert aus durch die gesamte Breite der Kabine und verwandelte den Arm der Maschine in ein weißglühendes und Funken sprühendes Stück Metall. Aufjaulend befreite sich der Junge vom Griff des Robotarms. Ich fühlte abermals den Schmerz der tiefen Enttäuschung. Wieder war der Versuch, die tyrannische Sklaverei abzuschütteln, völlig fehlgeschlagen. »Der Bauchaufschneider ist verdammt schnell.« Ich nickte. »Er gehorchte nur genauen Befehlen. Habt ihr das Zögern in seinem Gesicht gesehen? Aber er konnte seinen Reflex nicht mehr ausschalten.« Die Maschine drehte sich, wich zurück und wurde von Fartuloon aus dem Raum geschickt. Als sich das Schott hinter dem Roboter schloss, der zu allem Überfluss noch den zerstörten Handstumpf mitnahm, atmete ich seufzend aus. »Ich gehe in die Zentrale. Hoffentlich fragt er mich nichts über
die Maschine. Ich denke, dass ihr hier unten in einer hervorragenden Lage seid.« Algonia schüttelte den Kopf. »Wir können sicher sein, dass in wenigen Augenblicken niemand mehr im Schiff gegen den Fremden handeln kann. Mit jeder Panne wachsen seine Kenntnisse. Er wird jetzt damit rechnen können, dass es Verstecke gibt.« Ich fluchte laut und verließ dieses Versteck. Kurze Zeit später war ich in der Zentrale und erfuhr dort, dass man in einer Entfernung von einigen Lichtjahren eine stabile blaue Sonne entdeckt hatte. Sie wies, laut der ersten groben Analyse, mindestens fünfzehn Planeten auf. Gerade als die Mannschaft Kursberechnungen vornahm und versuchte, das System genauer zu analysieren, kam der Junge in die Zentrale. »Habt ihr etwas gefunden?« »Es scheint so. Wirst du eigentlich niemals müde?« Er schüttelte den Kopf und erklärte mit kalter Arroganz: »Nein. Meine Wachsamkeit lässt niemals nach.« »Wer bist du? Wir wissen nichts von dir, nichts über dich. Nicht einmal deinen Namen.« Er hob den Kopf, bis er wie eine Statue des Stolzes wirkte. Langsam sah er sich in der Zentrale um. Die Frauen und Männer blickten ihn an wie ein Gespenst, wussten, dass seine Gegenwart mit neuem Ärger und größeren Schwierigkeiten verbunden war, und bereiteten sich auf den nächsten Schock vor. Vielleicht hatte der eine oder andere mitbekommen, wie der Überfall durch den Medorobot fehlgeschlagen war. »Du kennst mich nicht? Ist es möglich, dass du mich nicht kennst?« »Niemand kennt dich«, bestätigte ich wahrheitsgemäß. »Ich bin Akon-Akon!«, sagte er, als würde das alles erklären. Aber es steigerte nur noch unsere Unsicherheit und Verwirrung – und ich verstand jetzt zum ersten Mal, wie ein
zurückhaltender Mann zum Affektmörder werden konnte. Ich war in der Stimmung, ihn mit bloßen Händen zu erdrosseln – aber nicht in der Lage, es auch zu tun. Er sah mich kühl, ungerührt und mit fast wissenschaftlichem Interesse an. Dann zuckte er die Achseln und wandte sich ab. Ich war ihm vollkommen gleichgültig geworden. Unwillkürlich fragte ich mich, wann dieser Albtraum endete. Die zeitkorrigierte Anzeige eines ruhenden Beobachters gemäß Arkon-Standard zeigte die neunte Tonta am 3. Prago des Ansoor 10.499 da Ark.
Epilog Aus: Zahlen, Zenturien, Ziele und Zeugnisse – aus der Arbeit des Historischen Korps der USO, Chamiel Senethi, Sonthrax-Bonning-Verlagsgruppe, Lepso, 1338 Galaktikum-Normzeit (NGZ) Seit Atlans erstem Bericht über Atlantis an Bord der DRUSUS wurde insbesondere vom Historischen Korps eine große Zahl weiterer solcher spontanen Erzählungen aufgezeichnet. Angepasst an den jeweiligen Zuhörerkreis und die Situation, die den Erinnerungsschub hervorrief, unterscheiden sich jedoch selbst Berichte zum gleichen Thema mitunter deutlich voneinander – sei es, weil Atlan auf die Erwähnung durchaus vorhandener Querverweise verzichtete, sei es, weil die schon an anderer Stelle angesprochenen »Blockierungen« wirksam wurden. Zwangsläufig mussten diese Dokumentationen deshalb unvollständig und zeitlich schwer einzuordnen bleiben, sodass sie bestenfalls nur Mosaiksteinchen eines sehr viel größeren, komplexeren Bildes waren. Neben diesen Einzelberichten existieren mehrere Sammlungen, die zum Teil als zusammenhängende Berichtfolge entstanden. Bei einer handelt es sich beispielsweise um die Speicherkopie des 2048 von Atlans Lehrmeister Fartuloon erstellten OMIRGOS-Kristalls. Er befreite Atlan vom Druck der Erinnerungen, genau wie er es kurz vor seinem rätselhaften Verschwinden in Atlans Jugend tat, um ihn »Dinge vergessen oder in einem anderen Licht sehen zu lassen«. Eine zweite Sammlung, die in erster Linie auf die Jugendzeit des Arkoniden einging, entstand ab März 2844 und floss 2845 in Auszügen in die »Zahlen, Zenturien, Ziele und Zeugnisse« von Sean Neil Feyk ein; die dritte schließlich auf Gäa in der Provcon-Faust, veröffentlicht im Rahmen der ANNALEN DER MENSCHHEIT in den Jahren ab 3562 sowie in der von Professor Dr. Dr. Cyr Abaelard Aescunnar erstellten und 3565 herausgegebenen, in vielen Bereichen dennoch
lückenhaften »Biografie Atlans« … Fest steht, dass der alte Arkonide über ein immenses Wissen verfügt und es viele Abschnitte seines Lebens gibt, auf die er mit deutlich größerer Zurückhaltung einging als auf andere. Neben den von ihm selbst genannten Gründen muss davon ausgegangen werden, dass er zu manchen seiner Erlebnisse schlicht und einfach nichts berichten wollte und sich teilweise sogar per »Notlüge« herausredete. Gesichert ist, dass ihn beispielsweise die Langeweile beim Rückflug von der Großen Leere der Jahre 1221 und 1222 NGZ veranlasste, mehr oder weniger intensiv an seinen »Memoiren« zu arbeiten. Leider verhinderten die Ereignisse nach der Rückkehr der BASIS zur Milchstraße, dass diese wunderbar erzählten Berichte einem breiten Publikum zugänglich wurden, denn nur wenige Kopien kamen in den Umlauf. Inzwischen gibt es allerdings einige »Updates«, die in bewährter Weise in die »Zahlen, Zenturien, Ziele und Zeugnisse« eingeflossen sind: Beim langen Flug der SOL war es nicht ausgeblieben, dass Atlan in den eher unspektakulären Flugphasen mehr als eine Frage zu seinem durchaus bewegten Leben beantwortet und sich zwischendurch mal wieder etwas mit den »klaffenden Lücken« seiner Memoiren beschäftigt hatte, während sich andere Mitglieder der Crew mit allen möglichen Formen der Aus-, Fort- und Weiterbildung, Training und diversen Hobbys beschäftigt hatten. Zeit genug gab es – immerhin endete der am 31. August 1290 NGZ begonnene Flug nach Chearth im Anschluss an sein Traversan-Abenteuer (das »etwas länger« als ursprünglich geplant beansprucht hatte …), letztlich ja erst mit der Rückkehr der SOL zur Erde am 24. Juni 1325 NGZ. In vielerlei Hinsicht handelte es sich ebenfalls um eine Katharsis, vergleichbar jener nach Atlans Unfall auf Karthago II im Jahr 3561, als er, mit dem Tod ringend, tief in seinen Erinnerungen versunken war und durch die Berichte den Heilungsprozess unterstützt hatte. Neben vielen anderen Dingen hatten bei diesem bislang letzten großen Erinnerungsschub Atlans vor allem die am 14. März 1225 NGZ auf ihn übertragenen Lebenserinnerungen von Tamaron Nevus
Mercova-Ban eine Rolle gespielt – immerhin 92 Lebensjahre, deren wirkliche Verarbeitung lange Zeit nicht stattgefunden hatte, weil die Gegenwart stets Atlans Aufmerksamkeit mehr beanspruchte. Somit blieben nur Verdrängung und Unterdrückung. Erst die langen Jahre der SOL-Rückreise vom Ersten Thoregon zur Erde hatten ihm Gelegenheit zur »Aufbereitung« gegeben, nicht nur was Nevus Mercova-Bans Erinnerungen, sondern auch viele, viele andere Erlebnisse betraf … … findet sich eine Passage, die mit Ereignissen seiner Jugendzeit korrespondiert und Dinge erklärt und vervollständigt, zu denen seinerzeit Atlans Ziehvater Fartuloon keine Auskunft geben konnte oder wollte … Auszug Traversan-Bericht Atlan Arkon I: 34. Prago des Ansoor 12.402 da Ark Cooligar räusperte sich. »Mein Name ist Cooligar da Gonozal«, sagte er. »Wir sind eine Art Halbbrüder …« Später begann Cooligar da Gonozal, Siegelträger Seiner Erhabenheit Reomir IX. zu erzählen. Seine Geschichte begann im Jahr 10.477 da Ark, zwei Jahre vor meiner Geburt. Imperator Gonozal VIII. mein Vater, durchlebte zu jener Zeit angeblich eine tiefe Krise, weil nicht nur die Gefahr der Methans sich ausbreitete, sondern zugleich innenpolitische Schwierigkeiten mit Aufständischen für Zündstoff sorgten. Trotz gegenseitiger tiefer Liebe drohte zudem ein Zerwürfnis zwischen Gonozal und seiner Gemahlin Yagthara. Aus Frust und um Ablenkung bemüht, hatte der Imperator eine kurzfristige Affäre mit einer Hofzofe – mit dem fatalen Ergebnis einer Schwangerschaft. Eine offizielle Anerkennung des Kindes als Kristallprinz und damit Nachfolger des Imperators kam natürlich unter keinen Umständen in Betracht, eine solche Zurücksetzung hätte sich Yagthara nie bieten lassen,
und mit einem Skandal wäre niemandem gedient gewesen. Also wurde die hochschwangere Zofe mit einer üppig dotierten Pension zum Schweigen verpflichtet und in die Provinz geschickt – verbunden mit der Auflage, nie ins arkonidische Kernland Thantur-Lok und ins Arkonsystem zurückzukehren. Ihrer Forderung, dass wenigstens das Kind sowie dessen Nachfahren den Namen da Gonozal tragen sollten, hatte Gonozal VIII. zugestimmt. Trotz aller Staatsräson und ihren Zwängen war der Imperator immer ein Ehrenmann gewesen. Cooligar da Gonozal redete davon, dass entsprechende Urkunden und Positronikverzeichnisse auf Gonozals Befehl hin erstellt, anschließend aber von allen Beteiligten totgeschwiegen worden waren. Der unangenehme Vorfall sollte in Vergessenheit geraten. Er behauptete, heute noch mit Nachweisen aus seinem Familienerbe die Richtigkeit aller Behauptungen beweisen zu können. Ich glaubte ihm. Mit meiner Geburt schien endlich die Stammhalterschaft und Thronfolge gesichert zu sein. Aber Gonozals VII. Ermordung veränderte vieles. Nach dem Tod des Imperators hätte der Sohn der Exzofe zwar durchaus die Berechtigung besessen, den Kristallthron zu besteigen, er wäre damit aber zur direkten Zielscheibe für Orbanaschol III. geworden. Also hatte die Zofe auch weiterhin gewichtige Gründe für ihr Schweigen. Nach außen hin waren ihre Nachkommen fortan also ein weiterer Gonozal-Familienzweig, einer von vielen. Die wahre Abstammung als Spross des Imperators wurde als Familiengeheimnis nur von Oberhaupt zu Oberhaupt weitergegeben. Im Laufe der Jahrtausende erlebten diese direkten Nachfahren Gonozals VII. die üblichen Höhen und Tiefen; es gab Sonnenträger und Admiräle in der Familie, Versager ebenso wie Verbrecher. Der Niedergang kam in den letzten Jahrhunderten, als ein Maahkangriff die Stammwelt
vernichtete und viele Familienmitglieder umkamen. Die Überlebenden stürzten in die Armut ab, es gab immer weniger Nachwuchs … » … ich, Cooligar, Siegelträger in der Tu-Ra-Cel, bin der letzte Gonozal. Das heißt, ich war es bis zur Identifikation Ihrer IV-Impulse, Gos’athor Atlan. Nur wir beide können unsere Abstammung auf den 207. Imperator zurückführen …«
ENDE
Nachwort Im Rahmen der insgesamt 850 Romane umfassenden ATLAN-Heftserie erschienen zwischen 1973 und 1977 unter dem Titel ATLAN-exklusiv – Der Held von Arkon zunächst im vierwöchentlichen (Bände 88 bis 126), dann im zweiwöchentlichen Wechsel mit den Abenteuern Im Auftrag der Menschheit (Bände 128 bis 176), danach im normalen wöchentlichen Rhythmus (Bände 177 bis 299) insgesamt 160 Romane, die nun in bearbeiteter Form als »Blaubücher« veröffentlicht werden. In Band 35 flossen, ungeachtet der notwendigen und möglichst sanften Eingriffe, Korrekturen, Kürzungen, Umstellungen und Ergänzungen, um aus fünf Einzelheften einen geschlossenen Roman zu machen, der dennoch dem ursprünglichen Flair möglichst nahe kommen soll, folgende Hefte ein: Band 228 Die Seelenheiler von Peter Terrid, Band 229 Das Geheimnis von Perpandron von Kurt Mahr, Band 230 Das Psycho-Komplott von Dirk Hess, Band 231 Organisation Gonozal von H.G. Francis und Band 232 Die Waffe des Gehorsams von Hans Kneifel. Hinzu kommt im Epilog eine kurze Passage aus Der letzte Gonozal, dem achten Heft des Traversan-Minizyklus von Hubert Haensel. Der von Imperator Orbanaschol III. gerufene Magnortöter Klinsanthor wird im vorliegenden 35. Band aktiv, um den ihn erteilten Auftrag auszuführen – einmal auf der Kristallwelt im Sinne eines »Testfalls«, wie er es selbst umschreibt, zum Zweiten aber auch an einem anderen Ort, nämlich auf Perpandron. Mit der Welt der Goltein-Heiler wird ein faszinierender Schauplatz eingeführt, von und über den wir später noch mehr erfahren werden – unter anderem in
Blauband 37 Brennpunkt Vergangenheit. Auf dieser Welt finden sich uralte Hinterlassenschaften, deren Erbauer wie auch Zweck vorläufig im Dunkel bleiben. Und auch die Seelenheiler selbst, von denen Atlans Ziehvater Fartuloon nun gar nichts hält, obwohl sie unbestreitbare Erfolge mit ihrer »Methode« erzielen, bewahren ihre Geheimnisse. Der Kristallprinz wiederum kommt nach Perpandron, weil er – nicht zuletzt auf besonderen Wunsch seiner Mutter – hier eine letzte Chance für seinen Vater sieht, dessen reanimierter Körper nach wie vor ohne Bewusstsein ist. Auf diese Weise wird Atlans Handeln nicht nur aktiv geplant, sondern auch seine Motive werden stimmig – im Gegensatz zur Aussage im Heft, dass die Ankunft im Teifconth-System im Zuge der Flucht auf purem Zufall beruht … Yagthara ihrerseits verlässt schon zuvor Sohn und Gatten, um sich »zur Buße« auf die Totenwelt Hocatarr zurückzuziehen – eine Entwicklung, die ebenfalls der Überund Bearbeitung der Heftromane geschuldet ist. Seinerzeit hatte Atlans Mutter zwar die Rebellenwelt Kraumon unbeschadet erreicht, wurde danach aber nie wieder erwähnt. Eine vor allem mit Blick auf die Erweckung der Gonozal-Mumie mithilfe des letzten Lebenskügelchens, in meinen Augen ziemlich unwahrscheinliche Entwicklung, die ich durch behutsame Ergänzungen korrigiert habe. Eben weil Yagthara damals aber keine weitere Erwähnung fand, kann sie auch in den noch kommenden bearbeiteten Blaubänden keine tragende Rolle spielen und musste mit passender Begründung an einen Ort gebracht werden, der sich stimmig ins Gesamtbild einfügt. Ein solcher Ort konnte meines Erachtens letztlich nur die Totenwelt selbst sein: Hier ist sie einerseits sicher vor Orbanaschols Verfolgung und behindert auch nicht Atlans weiteren Weg, andererseits ist sie durch ihren Bußaufenthalt stimmig gebunden, sodass es ausreicht, sie
später nur mit der einen oder anderen Randbemerkung zu erwähnen. Atlan selbst wird – wie könnte es anders sein – gleich in neue Abenteuer verwickelt, die sich allerdings stimmig aus den vorhergehenden Ereignissen und dem Eingriff Klinsanthors ergeben, der kurzfristig Gonozals Körper »beseelt« und übernommen hat und die ISCHTAR an einen ihm genehmen Schauplatz bringt, um dann bei Orbanaschol seine Belohnung einzufordern. Der Kristallprinz kommt durch den erwachten rätselhaften Jungen von Perpandron, der sich am Schluss des Buches als Akon-Akon vorstellt und – nach derzeitigem Informationsstand – wohl tatsächlich mit dem in der Legende um Caycon und Raimanja erwähnten Wachen Wesen identisch ist, in neue Bedrängnis. Atlan wird, so viel sei an dieser Stelle schon verraten, in den kommenden Büchern des »Akonen-Zyklus« mehr über die Ursprünge der arkonidischen Gesellschaft und ihre akonischen »Stammväter« erfahren. Mit Lebo Axton schließlich wird auf der Kristallwelt eine weitere Entwicklung beleuchtet, die zu den im Großen Imperium kursierenden Gerüchten des wiederaufgetauchten Gonozal VIII. passt wie die berüchtigte Faust aufs Auge: Eine ziemlich dubiose Organisation Gonozal VIII. macht von sich reden und wird, auch darauf sei bereits an dieser Stelle hingewiesen, von dem in die arkonidische Vergangenheit versetzten Kosmokriminalisten später Zug um Zug zu einer echten Widerstandsorganisation ausgebaut. Da einige der in dieses Buch eingeflossenen Romane über weite Strecken zeitlich parallel angesiedelt sind, war es diesmal mehr als sonst nötig, die Texte zu verschränken und chronologisch zu ordnen, statt nur die bloße Erscheinungsreihenfolge der Hefte abzuarbeiten. Obligatorischer Bestandteil der Bearbeitung ist natürlich das
Ausmerzen jener Wiederholungen, die beim Erscheinungsrhythmus der Hefte zur Rekapitulation sinnvoll sind, nicht jedoch in einem Buch, wo diese Passagen unter Umständen nur wenige Seiten voneinander entfernt erscheinen. Ebenfalls dem Buchformat geschuldet sind deutlich längere Absätze, welche beim zweispaltigen Satz im Heft in der Regel sehr kurz ausfallen. Neben solchen rein formalen Dingen fließen in die Be- und Überarbeitung selbstverständlich auch viele inhaltliche ein beziehungsweise wollen berücksichtigt sein – so gibt es beispielsweise in Band 275 Kundschafter im Kosmos von H. G. Ewers wichtige Aussagen zu Perpandron, von denen einige bereits jetzt ins Buch eingeflossen sind. In anderen Fällen sind Logikbrücke zu beheben oder passende Ergänzungen einzubauen, um dem Ganzen mehr Stimmigkeit zu verleihen – Dinge also, die seinerzeit bei der Hefterscheinungsweise mitunter gar nicht auffielen oder, im Gegensatz zur jetzt möglichen Gesamtschau, in dieser Weise überhaupt noch nicht berücksichtigt werden konnten. Auch diesmal hoffe ich, dass das Ergebnis gefällt. Mir jedenfalls hat die Zusammenstellung und Bearbeitung wie immer sehr viel Spaß gemacht. Wie stets gilt der Dank allen Helfern im Hintergrund – sowie Sabine Kropp und Klaus N. Frick. Rainer Castor