Atlan - Minizyklus 07 Flammenstaub Nr. 05
Die Rache der Juclas von Uwe Anton
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Atlan - Minizyklus 07 Flammenstaub Nr. 05
Die Rache der Juclas von Uwe Anton
Auf den von Menschen besiedelten Welten der Milchstraße schreibt man das Jahr 12S5 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, das dem Jahr 4818 alter Zeit entspricht. Der unsterbliche Arkonide Atlan kämpft in der Galaxis Dwingeloo gegen die mysteriösen Lordrichter. Er fliegt zur geheimnisvollen Intrawelt, um dort den Flammenstaub, der eine ultimate Waffe sein soll, zu besorgen. Nach zahlreichen Abenteuern in der gigantischen Hohlwelt gelingt es ihm, diesen zu bergen. Atlan trägt nun den Flammenstaub in sich und testet die Wirkung erfolgreich gegen die Truppen der Lordrichter. Aber je intensiver er ihn benutzt, desto verheerender ist sein Einfluss auf Psyche und Körper. Auf der Vulkanwelt Ende kann er den Großteil der lebensgefährlichen Substanz loswerden. Anschließend findet das scheinbar zufällige Treffen mit den Cappins statt. Der Arkonide wird per Pedopeiler nach Schimayn befördert, einem der Galaxis Gruelfin vorgelagerten Kugelsternhaufen. Dort gerät er in eine Raumschlacht zwischen Ganjasen und Takerern, die eine überraschend auftauchende Flotte des Ercourra-Clans für sich entscheidet. Um die Gesamtheit der Jungen Clans vor den Lordrichtern zu warnen, reist Atlan mit den Ercourras zum eilig berufenen Thein. Diese zeremonielle Versammlung auf dem Mond Eptascyn endet in einem Massaker. Atlan gelingt die Flucht. Im Orbit formiert sich währenddessen die Flotte zur RACHE DER JUCLAS …
Die Rache der Juclas
3
Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide wird zum Survival-Spezialisten. Zamptasch - Der zänkische, alte Jucla führt Atlan zum Sain-Gebirge. Abenwosch-Pecayl 966. - Der Clanführer der Ercourras hat sich seinen ersten Planetengang anders vorgestellt. Carmyn Oshmosh - Die Kommandantin der AVACYN koordiniert die Rache der Juclas.
Keiner hat heute an mich gedacht, nur ich. Zamptaschs Geflügelte Worte
1. Carmyn Oshmosh »Das ist deine Meinung. Ich sehe die Sache etwas anders!« Myreilune warf Carmyn Oshmosh einen provozierenden Blick zu. Die Kommandantin der AVACYN hielt ihm stand. Myreilune war wieder auf Streit aus. Der Schock der Vernichtung des Pedopeilers MARKASCH steckte ihnen noch in den Knochen, wirkte noch nach. Sie alle hatten hilflos das Sterben ihrer Kameraden beobachten müssen. Und jetzt saßen sie hier fest und konnten nur warten, während der Kampf gegen die Takerer, der bislang meist auf einer unterschwelligen Ebene abgelaufen war, offensichtlich eine neue Dimension erreichte. »Wir haben unser Bestes gegeben. Selbst Atlan konnte nichts für die MARKASCH tun.« Die Kommandantin sprach leise, mit abweisendem Gesicht. Das Thema behagte ihr nicht. Sie war keine Ganjasin mit übertriebener Profilneurose. Mit ihren Mitteln war sie Kommandantin geworden, bescheiden und leise, aber energisch und konsequent. Die Pilotin der AVACYN stellte für Carmyn das genaue Gegenteil dar. Sie war laut und auffällig. »Er hat ja praktisch das Kommando übernommen.« Myreilune verzog das runde Gesicht zu einer Grimasse. »Ich kann mich nicht entsinnen, dass er dich um Erlaubnis gefragt hat.«
Sie sieht aus wie eine hässliche, alte Puppe. Viel zu grell bemalt. Carmyn hütete sich, diesen Gedanken auszusprechen. Die Pilotin würde sie nur zu gern aus der Reserve locken, doch diesen Versuchen war sie bisher geschickt ausgewichen. Darauf konnte, durfte und wollte sie sich nicht einlassen. »Atlan ist als ehemaliger Weggefährte Ovarons über jeden Verdacht erhaben. Ich vertraue ihm. Sein Handeln hat mich bisher bestätigt. Wenn du in Ruhe darüber nachdenkst, wirst du zur gleichen Schlussfolgerung kommen.« Carmyn senkte den Blick und sah betont auf ihre Konsole – ein deutliches Zeichen dafür, dass ihr das Gespräch zu lästig wurde. »Wer weiß denn schon, was im Kopf eines Unsterblichen vorgeht?«, fuhr Myreilune ungerührt fort. »Welche Pläne er in Wirklichkeit hat? Er sieht diese Dinge aus einem ganz anderen Blickwinkel.« Die Kommandantin setzte sich steif in ihrem Sessel auf. Die Pilotin wollte sie nur provozieren, doch ihre Worte grenzten, wenn man es genau nahm, fast an Verrat. Wie konnte sie so etwas einem Mann vorwerfen, der auf den Mond Eptascyn gegangen war, um die Juclas auf die Gefahren durch die Truppen der Lordrichter aufmerksam zu machen? Mehr noch … Atlan würde für die Einheit ihres Volkes sprechen. Nur gemeinsam konnten sie gegen den unheimlichen Feind etwas ausrichten. »Du weißt nicht, was du sagst! Atlan befindet sich ohne jede Waffe oder andere technische Hilfsmittel auf Eptascyn.« Auf dem Mond war seit jeher die Nutzung jeglicher Technik untersagt. Carmyn bedauerte erneut, dass es vom Thein, der Versammlung der JuclaOberhäupter, keine Bild- und Tonübertragungen gab. Sie wussten also nicht, was dort
4 unten wirklich vor sich ging, nur, dass dort bedeutsame Augenblicke bevorstanden. »Er hat sich in die Hände der Ercourras begeben. Die Juclas sind nicht gerade berühmt für ihr zurückhaltendes Wesen. Du hast sie kämpfen sehen.« Die Kommandantin fuhr sich mit den Händen über das Gesicht, auch wenn Myreilune ihr diese Geste als Schwäche auslegen konnte. Aber die letzten Stunden waren hart gewesen. »Das kann alles zu seinem Plan gehören. Wissen wir, welche Tricks der Arkonide auf Lager hat? Ist dir nicht aufgefallen, dass er seltsam blass ist? Und wenn er sich unbeobachtet fühlt, schließt er die Augen, als leide er unter starken Schmerzen.« »Warum ziehst du penetrant über Atlan her?« Kaystales harte Stimme hallte durch die kleine Kommandozentrale der AVACYN. Die Takererin wandte ihr entstelltes Gesicht, das teilweise mit Metallimplantaten bedeckt war, der Pilotin zu. »Als er an Bord kam, konntest du ihn gar nicht genug beschwatzen. Dein Dauergeplapper hätte sogar mich genervt. Bist du vielleicht eifersüchtig?« »Was? Ich?« Myreilune lachte laut auf. »Nein, aber ich habe gedacht …« Die Pilotin verstummte, als Kaystale auf sie zutrat. »Da haben wir das Problem. Du denkst über Dinge nach, von denen du nichts verstehst. Darf ich dich daran erinnern, dass wir dem Arkoniden Treue geschworen haben? Und ich stehe zu meinem Eid. Ich werde jeden persönlich zur Rechenschaft ziehen, der mich daran hindert, gemäß diesem Eid zu handeln.« Mit ihren drei künstlichen Fingern trommelte Kaystale auf den Pilotensessel. Das Geräusch ließ Myreilune zusammenzucken. Oder waren es doch die Worte der Takererin? Carmyn runzelte leicht die Stirn. Einerseits war sie Kaystale dankbar, dass sie die Pilotin in die Schranken wies, andererseits konnte sie nicht allem zustimmen, was sie gehört hatte. Was die Takererin da andeutete … Sie und Atlan? Unvorstellbar, absolut un-
Uwe Anton möglich. Wie kam Kaystale nur auf diesen Gedanken? Die Kommandantin trat neben die Soldatin. »Wer hat Atlan beschenkt?«, flüsterte sie in Kaystales künstliches Ohr. »Ich glaube, du hast ihm eine Haarspange gegeben.« Die Takererin sah sie überrascht an. In der unversehrten Hälfte ihres Gesichtes funkelte ein dunkles Auge. »Du hast deine Augen und Ohren überall, Carmyn. Meine Hochachtung.« Mehr sagte Kaystale nicht dazu. »Sieh dir das an! Die turteln da draußen herum, als gäbe es kein Morgen mehr.« Amendariasch, der ausnahmsweise nicht im Maschinenraum bei seiner heißverehrten Silesiante saß, zeigte auf einen Holoschirm mit einer Außensicht. Die kugelförmigen Objekte, in denen die Juclas ihren Liebesspielen nachgingen, umschwebten zu Dutzenden die AVACYN. »Soll ich dir auch eine reservieren? Im Maschinenraum ist es zu laut und überhaupt nicht romantisch.« Kaystale zeigte dem jungen Ganjasen die Zähne. Amendariaschs Ohren liefen feuerrot an. Die Takererin hatte seine empfindliche Stelle getroffen. Wortlos eilte er aus der kleinen Zentrale; für eine passende Antwort fehlte ihm wohl der Mut. Carmyn schüttelte den Kopf. »Du kannst es nicht lassen. Dass Silesiante ihn zurückgewiesen hat, macht ihn ganz fertig.« »Soll er sich wie ein Mann benehmen, dann kriegt er auch eine Partnerin.« Kaystale hatte offensichtlich ganz eigene Vorstellungen von einer Beziehung. Sie tanzen und taumeln durch das All. Es sieht so wunderschön aus. Ein Bild der Harmonie. Carmyn beneidete die Juclas um ihren lockeren Umgang. Die AVACYN schwebte an der Außenseite des riesigen Komplexes im Mondorbit, der mittlerweile laut Ortung 98.555 Schiffe aller Größen, jeden Alters und jeder Bauart umfasste. Was für ein Anblick, dachte sie überwältigt. Fast 100.000 Schiffe, kreuz und quer durch Tuilerien miteinander verbunden. Vorn waren die Raumer noch einigermaßen
Die Rache der Juclas deutlich auszumachen, doch die von ihr aus gesehen hinteren Einheiten konnte Carmyn nur noch anhand der Positionslichter oder geöffneter Schleusen erkennen. Und überall zwischen den dunklen Schiffen die langen weißen Röhren, rasch ausgeschäumte Hohlstege, manchmal nur verschwommen vor dem Hintergrund der Schiffe auszumachen, manchmal hell erleuchtet, aus sich heraus oder von Scheinwerfern angestrahlt. Sie nahmen eine erstaunlich feste Konsistenz an und blieben dennoch flexibel, um die miteinander verbundenen Schiffe bei kleineren Synchronisationsfehlern während des Fluges nicht zu gefährden. Prallfelder schützten sie vor dem Vakuum. Flogen die Besatzungen über längere Zeit im Komplex, entstanden in diesen Hohlstegen bemerkenswerte Oasen der Ruhe und Schönheit, die verschüttete Talente der Juclas zum Vorschein brachten. In den näheren Tuilerien konnte Carmyn Gestalten ausmachen, Juclas, die von einem Schiff zum anderen wanderten. Das rege Treiben zwischen den Mitgliedern der einzelnen Stämme verwunderte sie nicht. Schließlich war das eine der wenigen Möglichkeiten, sich auszutauschen. Aus der Datenbank wusste sie, dass die Stämme diese Treffen für ihr genetisches Überleben benötigten. Die Tuilerien sehen aus wie riesige DNSKetten. Wie ein Symbol verbinden sie die Schiffe. Eine gewaltige Armada der Hoffnung. Doch nicht nur, was den genetischen Pool betraf, hatte dieser Komplex eine gewaltige Bedeutung für die Juclas. Ganz allmählich änderten sich ihre traditionellen Lebensweisen. Erst seit einigen Generationen reisten die Ercourras in diesem so gewaltig und gleichzeitig so zerbrechlich anmutenden Gebilde durch das Weltall. Sie hofften, damit zumindest die starren Verhaltensmuster der einzelnen Raumschiffsbesatzungen aufbrechen und langfristig für ein Ende der Unstetigkeit des Nomadendaseins sorgen zu können. Es war ein langer Weg. Die Juclas waren
5 sich ihrer Unstetigkeit und der daraus resultierenden Probleme durchaus bewusst. Sie arbeiteten darauf hin, sie abzulegen, fielen aber immer wieder in alte Schemata zurück. Carmyn wandte sich wieder ihrem Terminal zu, um mehr über den Mond in Erfahrung zu bringen, auf dem sich Atlan befand. »Da unten ist es ortungstechnisch absolut tot. Außer ein paar winzigen Emissionsfeldern gibt es nichts. Vermutlich Generatoren oder Ähnliches.« Ypt Karmasyn hatte wohl denselben Gedanken gehabt. Sie schlürfte einen Symbiontendrink, während sie die Daten ablas. Carmyn befürchtete eine unterschwellige Abhängigkeit der Orterin von dem süßlichen Getränk. Ihr täglicher Bedarf war während ihres Einsatzes fast um das Doppelte gestiegen. »Eigentlich könnte unser seltsamer wissenschaftlicher Leiter mal einen Blick auf die Daten werfen. Wozu haben wir Evoron überhaupt an Bord? Den Kerl habe ich erst einmal gesehen.« Kaystale knirschte mit ihren künstlichen Gelenken. Carmyn hasste dieses Geräusch. Die Takererin wollte damit lediglich provozieren; natürlich konnte sie die Finger geräuschlos bewegen. »Er arbeitet lieber in seiner Kabine. Ich habe ihm schon alles überspielt, was ihn interessieren könnte.« An Carmyns Konsole blinkte ein gelbes Licht auf. Jemand verließ die AVACYN. Myreilune schaltete eine HoloVerbindung, und Carmyn sah, dass Amendariasch sich anschickte, das Schiff durch die von den Juclas gelegte Tuilerie zu verlassen. Myreilune aktivierte den Bordlautsprecher. »Warum meldest du dich nicht bei deiner Kommandantin ab, Amendariasch?« Der junge Ganjase fuhr zuerst zusammen und sah dann zu dem Aufnahmegerät hoch. »Kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?« Die feiste Pilotin lächelte schwach. Offensichtlich genoss sie die trotzige Reaktion des jungen Mannes. Carmyn schluckte eine heftige Bemer-
6 kung hinunter. »Ich habe ihm eine Freischicht gegeben. Wir haben sowieso nichts Wichtiges zu tun.« Das war gelogen, aber Carmyn würde sich den Techniker später vornehmen. Ein Gespräch unter vier Augen war ihr lieber als eine Zurechtweisung, an der Myreilune ihr Vergnügen hatte. »Beim Ewigen Ganjo, was war das?« Ypt verschluckte sich fast an ihrem Sirup und arbeitete dann hektisch an ihrer Konsole. Kaystale wirbelte zu der Orterin herum. »Was hast du entdeckt? Wo sind die Daten deiner Ortung?« Die junge, etwas rundliche Funkerin mit den pockenartigen Narben auf den Wangen überprüfte die Ergebnisse. »Das verstehe ich nicht«, murmelte sie. »Jetzt ist da gar nichts mehr. Aber ich hatte eine Störung im gesamten Erfassungsbereich.« Sie rief die Aufzeichnung ab und drehte sich zur Kommandantin um. »Siehst du? Da war etwas … wie ein flüchtiger Schatten, riesengroß.« Carmyn runzelte besorgt die Stirn. Nicht erst, seit in Gruelfin ein neuerlicher Bruderkrieg der einzelnen Cappin-Völker tobte, war den Ganjasen das Misstrauen in Fleisch und Blut übergegangen. Die Geschichte ihrer Heimat wies zu viele Kriege, zu viel Blutvergießen auf. Auch wenn die Juclas noch so sehr den friedlichen Charakter des Thein betonten, auch wenn sie in dieser Sache durchaus naiv, ja sogar infantil zu denken und zu agieren schienen, wenn für sie unvorstellbar war, dass jemand ihren Frieden stören könnte, zumal dieser Ort ja tunlichst geheim gehalten wurde – die Kommandantin war trotzdem auf der Hut, und ihre Wachsamkeit hatte keine Sekunde nachgelassen. Das friedliche Bild des Komplexes mit seinen nicht nur so zerbrechlich wirkenden Tuilerien erfüllte sie auf einer Ebene, der sie sich nur undeutlich bewusst war, sogar mit Unbehagen. Zu verletzlich, zu schutzlos kam ihr dieses Objekt vor. Sie rief die Ortungsdaten auf ihrem Terminal auf, konnte aber auch nichts weiter erkennen. Ja, da war plötzlich ein Schatten auf der Ortung, als würden die Tasterimpulse
Uwe Anton ganz kurz von irgendetwas Anderem, Fremdem überlagert. Im nächsten Augenblick war es wieder verschwunden. Aber eine optische Täuschung konnte es nicht sein; auch hatten ihre Sinne ihr keinen Streich gespielt. Der Bordrechner hatte es verzeichnet. Ein hoch überlegener Ortungsschutz, fuhr es ihr durch den Kopf, der vielleicht einen Sekundenbruchteil lang versagt hat und von unseren Instrumenten in dieser Form wahrgenommen wurde? »Abkoppeln!«, sagte Kaystale. »Sofort! Mein Instinkt sagt mir, dass hier etwas fürchterlich zum Himmel stinkt!« »Eine Falle? Aber die Juclas sind mit heillos veralteten Raumschiffen unterwegs. Woher sollten sie …« Carmyn stockte. Natürlich, wer sprach denn von den Juclas? »Takerer?«, flüsterte sie. Kaystale nickte energisch. »Weg hier!« Benommen sah Carmyn auf das Holo, auf die schaukelnden Schaumröhren. »Wir müssen sie warnen … Ypt, orte gezielt auf Verschiebungen im Frequenzbereich.« »Schiffe mit Ortungsschutz?« »Genau.« »Dafür haben wir keine Zeit!« Kaystale knackte mit ihren Fingern. »Los, Myreilune, schwing deinen Hintern in den Sessel und bring uns weg!« Carmyns Gedanken rasten. Kaystale hatte schon öfter Entscheidungen aus dem Bauch heraus getroffen, die sich fast immer als richtig erwiesen hatten. Aber … sie war eine Takererin. Stand sie tatsächlich auf ihrer Seite, oder fühlte sie eher für ihr eigenes Volk? Die Kommandantin entschloss sich, der Soldatin zu vertrauen, und nickte der Pilotin zu. »Abkopplungsmanöver einleiten. Aber auf meinen Befehl warten.« »Nein! Carmyn, es geht um Sekunden! Reiß uns von diesem Schlauch los!« Kaystales Stimme ließ keinen Widerspruch zu. »Das reicht!« Auch wenn die Söldnerin in der Sache Recht haben mochte – sie war die Kommandantin, und sie konnte nicht zulas-
Die Rache der Juclas sen, dass ihre Entscheidungen permanent in Frage gestellt wurden. »In den Tuilerien sind Juclas! Wir würden sie töten!« Die Takererin rang um ihre Beherrschung, versuchte mit aller Gewalt, sich nicht im Ton zu vergreifen. »Sie oder wir«, presste sie zwischen den Zähnen hervor. »Du hast die Wahl.« Kaystale schätzte ihre Situation offensichtlich bedeutend schlechter ein als Carmyn. Sie konnte die Takererin verstehen: Momentan war die AVACYN eine leichte Beute für jeden Angreifer. Eine gute Kommandantin muss auch imstande sein, sich von Argumenten ihrer Besatzungsmitglieder überzeugen zu lassen, statt stur auf ihrem Recht zu beharren. Das war zumindest immer ihre Philosophie gewesen. »Ypt, rufe die Besatzungsmitglieder aus den Tuilerien zurück! Generatoren hochfahren! Triebwerke klar für Vollschub! Schutzschirme zum Hochfahren vorbereiten! Waffen …« Das Gellen einer Alarmsirene unterbrach sie und bekräftigte ihre Befürchtung, dass Kaystales Einschätzung der Lage offensichtlich zutreffender war als die ihre. »Ortung!«, rief Ypt Karmasyn. »Raumschiffe fallen aus dem Überraum! Es sind Tausende! Und sie fliegen Konfrontationskurs!« Jeder ist sich selbst der Nächste. Zamptaschs Geflügelte Worte
2. Atlan Die Schreie der Sterbenden hallten durch den immergrünen Nadelwald, wurden übertönt vom Fauchen der Strahlenwaffen und dumpfen Dröhnen der Desintegratoren. Der Gestank von verbranntem Fleisch und die ätzenden Gase, die der Einsatz der Strahlenwaffen der Zaqoor freisetzte, trieben mir
7 Tränen in die Augen und nicht nur die der Erregung: Tränen, die bei unserer Flucht weg vom Thein sehr hinderlich, vielleicht sogar tödlich sein konnten. Um uns herum heulte der Sturm, angefächert von warmen Windstößen, die aus der Zone der Vernichtung nach uns griffen. Das Geschrei wollte kein Ende nehmen. Die Zaqoor machten keine Gefangenen. Sie waren darauf aus, die Köpfe der Juclas rollen zu sehen. Aus den hellgrauen Wolken mit ihren spiraligen Sturmzonen aus Eiskristallen prasselte Regen auf uns herab, der sich bald in Hagel verwandeln würde. Er durchnässte uns zwar auf unserer panischen Flucht, bot uns aber auch einen gewissen minimalen Schutz, da er die Mörderbande ebenfalls beeinträchtigte und die Ortung ihrer High-Tech-Geräte vielleicht behinderte. High-Tech-Geräte! Was hätte ich dafür gegeben, jetzt wenigstens einen Kombistrahler in der Hand zu halten. Abenwosch-Pecayl 966. hatte mich aus eigennützigen Gründen zu einem sogenannten Thein mitgezerrt – zu einer Versammlung der Juclas, bei der der Einsatz jeglicher Technik verboten war. Auf dem Mond Eptascyn hatten sich die Angehörigen von 44 der 46 Jungen Clans zusammengefunden – zu Gesprächen und zum Austausch genetischen Materials auf völlig natürliche Weise. Noch bevor ich dazu gekommen war, über die Pläne der Lordrichter zu referieren, die nicht nur die Juclas, sondern sämtliche Cappin-Völker Gruelfins gefährdeten, hatten feindliche Zaqoor-Truppen den Frieden der Versammlung gebrochen und wahllos um sich geschossen. Und nun standen – oder besser gesagt rannten – wir hier so gut wie unbewaffnet und auch sonst mit leeren Händen. »Du wirst auf deine alten Tage doch nicht sentimental, Zamptasch?«, vernahm ich dicht hinter mir die Stimme des Clanführers. Mich wunderte, woher Abenwosch noch den Atem für solch einen völlig überflüssigen Wortwechsel nahm. Wahrscheinlich hatten ihm die gehässigen Vorwürfe des alten Quenglers Zamptasch, den ich als meinen
8 Begleiter ausgewählt hatte, den letzten Nerv geraubt. Irgendwann war ein Punkt erreicht, da man seinem Quälgeist Kontra geben musste, auch wenn es einen das Leben kosten konnte. »Du Versager! Wenn du nicht die halbe Flotte der Ercourras für diesen unsinnigen Kampf gegen die Takerer verloren hättest, säßen wir nicht in diesem Schlamassel!« »Du alter Sack kommst wohl immer direkt zur Sache!« Lass sie zurück!, mahnte der Extrasinn. Sie sind wie boshafte Kinder, zügellos, nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Sie geben sich ihren momentanen Emotionen hin, kennen keine Selbstbeherrschung. Allein hast du bessere Aussichten, diese Katastrophe zu überleben. Ich konnte dem Logiksektor nicht widersprechen, dachte aber nicht daran, seinem Ansinnen nachzukommen. Mich trieben andere pragmatische Gründe. Abenwosch war der Anführer des Ercourra-Clans und konnte mir später noch sehr nützlich sein, und Zamptasch behauptete, diese Gegend hier besser als jeder andere Jucla zu kennen, was für unser unmittelbares Überleben von Vorteil sein konnte. »Schluss jetzt!« Ich sah nach hinten, stellte fest, dass ich mittlerweile ungefähr zwanzig Schritte Vorsprung vor ihnen hatte und der Abstand größer wurde. »Zum Streiten haben wir keine Zeit! Die Zaqoor verfolgen uns vielleicht schon. Spart euren Atem für das Laufen!« »Los, Grünschnabel, hör auf ihn, lauf um dein Leben.« Zamptasch lachte keckernd. Ich verstand ihn ja. Endlich konnte er seinen Unmut über die entwürdigende Behandlung der Alten wie er an jemandem abreagieren. Abenwosch war als Kommandant nicht unschuldig an dieser Situation. Aber doch nicht jetzt! Doch nicht, während wir in unmittelbarer Lebensgefahr schwebten! So verrückt konnten selbst die Juclas nicht sein! Du denkst noch immer in herkömmlichen Begriffen, die du auf die Juclas nicht anwenden kannst!, meldete sich der Extrasinn er-
Uwe Anton neut. Vor über 50.000 Jahren hat ein takerischer Taschkar die Juclas als Schutztruppe für die Außenbezirke seiner Galaxis durch genetische Manipulation erschaffen lassen. Dabei entstanden Wesen mit einer Lebensspanne von zwanzig Jahren. Heute werden sie zwar dreißig Jahre alt, aber wie fast alle Juclas fühlen sich auch Abenwosch und Zamptasch wegen der Kurzlebigkeit ihres Volkes minderwertig. Dieser Gedanke beherrscht die 46 Stämme der Juclas genau wie die Erinnerung an den Betrug, den die Takerer damals an ihnen begangen haben. »Du sagst mir nichts Neues«, flüsterte ich. Der peitschende Regen verdichtete sich, wie ich es befürchtet hatte, zu Hagel. Ich wischte mir das Haar aus der Stirn, blieb stehen und drehte mich zu den beiden Juclas um. »Alter, ich schwöre dir, wenn du nicht die Klappe hältst, bist du bald eines der vielen Opfer auf diesem Mond.« Abenwoschs Gesicht färbte sich rot. Ob es an der ungewohnten körperlichen Betätigung lag oder tatsächlich am Zorn über Zamptaschs Provokationen, konnte ich nur vermuten. Dem alten Quengler war wahrscheinlich beides genehm. »Deine Worte sind ebenso leer wie deine Taten. Du glaubst doch nicht, mir Angst machen zu können, nachdem der Thein überfallen wurde?« »Hört endlich auf!«, brüllte ich durch den Sturm. »Denkt an die Angreifer! Ihr habt eure Rettung mir zu verdanken. Ich habe die potenzielle Gefahr erkannt, als AptoschImayls den schwarzen Riesen in den Thein gerufen hat.« »Dieser Idiot!«, zischte Zamptasch. »Aber ist es nicht typisch für den SchamenhynClan, einem Fremden blind zu vertrauen? Alles Blindgänger, und wir zahlen jetzt die Zeche für diese Impertinenz …« »Halt die Klappe!«, schrie ich den Alten an. »Wenn ihr überleben wollt, tut, was ich sage!« »Ich … kann nicht mehr …!« Abenwosch legte beide Hände auf die Hüften. Er atmete
Die Rache der Juclas stoßweise, und auf seinem von Aknenarben entstellten Gesicht bildeten sich hektische rote Flecken. »Ich kann dich nicht tragen«, kam gnadenlos mein arkonidischer Pragmatismus durch. »Es geht ums Überleben. Sobald die Zaqoor die letzten Juclas bei den Hyrscen getötet haben, werden sie sich um die Flüchtenden kümmern.« Ich drehte mich um und lief weiter, obwohl mittlerweile auch bei mir jeder Atemzug in den Lungen brannte und ein stechender Schmerz in der Seite bohrte. Wie schlecht mochte es dann erst den Juclas ergehen, deren Körper ab fünfundzwanzig Jahren vergreisten? Zamptasch war ein Sonderfall: schon mit zwanzig ein Greis und von großem Wuchs. Abenwosch wiederum hatte kaum einmal den Fuß auf einen Planeten gesetzt. Ich konzentrierte mich auf die Dagor-Lehre. Der Körper war nichts, der Geist war alles und hatte die völlige Herrschaft über das Fleisch. Die Luft in meinen Lungen kühlte merklich ab und erzeugte kein Brennen mehr, und die Seitenstiche ließen spürbar nach und verschwanden schließlich ganz. Wie auch die Geräusche hinter mir, das schwere Keuchen der Juclas, das Knacken von Ästen auf dem Boden zwischen den Montonen, die mittlerweile dicht an dicht standen. Tu es nicht!, mahnte der Extrasinn. Wofür hast du mich denn, wenn du nie auf mich hörst? »Verzeih mir«, keuchte ich, blieb stehen und drehte mich um. Zamptasch war etwa fünfzig Meter hinter mir stehen geblieben und lehnte sich gegen einen Baumstamm, von dem Clanführer war nichts zu sehen. »Wo ist Abenwosch?« »Futter für die Zaqoor. Er liegt irgendwo hinter uns unter einer Montone.« Sei einmal vernünftig! Wie viele Gefährten, die dir wesentlich näher standen, hast du schon zurücklassen müssen? Weshalb war ich so versessen darauf, den charakterlich keineswegs einwandfreien
9 Clanführer zu retten? »Geh voran. Zeig mir den Weg.« Zamptasch rührte sich nicht. »Warum? Er hält uns nur auf! Der Jungspund wird es nicht schaffen. Du hast gut reden, Atlan, mit deinen langen Beinen und dem Zellaktivator. Meine Knochen sind vom langen Sitzen im muffigen Senioren-Segment der SIMBOYN marode geworden. Und Abenwosch hat sein Schiff niemals verlassen. Er keucht wie eine alte Ercourra bei der Kopulation. Ich gebe uns beiden keine große Chance, den Zaqoor zu entkommen. Aber ich will leben. Überleben! Und mit Abenwosch werden wir es niemals schaffen. Sollen sich doch die Zaqoor um ihn kümmern.« »Die natürliche Auslese ist ein Prozess der Evolution, nicht wahr? Warum solltest du dich um diesen Schwächling kümmern?« Ich war eindeutig anderer Meinung. »Wir haben dich damals auch gerettet, als du in der Rettungskapsel gesessen hast. Und jetzt beweg dich!« »Das war eine ganz andere Situation …« Ich packte den Quengler an den Schultern. »Zeig mir den Weg, oder ich lasse dich hier zurück!« Diese Bitte konnte Zamptasch mir nicht abschlagen. Mürrisch sortierte er seine durchnässte Oberbekleidung und stapfte dann den Weg zurück. Abenwosch saß etwa hundert Meter entfernt noch auf der Wurzel, auf der er sich zur Ruhe gebettet hatte. Ich kniete neben ihn. »Willst du sterben?«, fragte ich. Seinem Blick entnahm ich, dass er nichts dagegen hatte. »Wir müssen weiter!«, redete ich eindringlich auf ihn ein. »Die Zaqoor sind eine Gravitation von über zwei Gravos gewohnt. Hier auf Eptascyn sind sie uns im Vorteil. Außerdem werden sie bald weitere Schiffe landen und dann die Verfolgung mit Gleitern oder flugfähigen Kampfanzügen aufnehmen, wenn sie sie nicht schon längst auf den Mond geschafft haben. Also?« Einen Moment lang befürchtete ich, Abenwosch würde den Tod im kalten Regen
10 einer weiteren Flucht vorziehen, doch dann stand er auf. Ich nickte zufrieden und drehte mich zu Zamptasch um. »Du warst schon viermal auf diesem Mond … hast du zumindest behauptet. Du kennst dich hier aus. Wir brauchen ein Versteck, in dem wir uns verbergen können. In dem die Zaqoor uns auch mit technischem Gerät nicht finden werden.« »Ach, jetzt ist der Alte wieder gut genug, die anderen zu retten?« Es reichte mir. Bevor der Extrasinn mir einen Rat geben konnte, packte ich Zamptasch am Kragen und zerrte ihn zu mir heran. »Lass uns nicht zappeln. Nicht einmal ein wenig.« »Den Spaß muss ich mir gönnen. Mein Leben ist schließlich kurz genug.« »Niemand hat Zeit«, sagte ich. Manchmal hatte ein fotografisches Gedächtnis schon seine Vorteile. »Und dafür ganz bestimmt nicht.« Zamptasch machte Anstalten, das Gesicht zu einer nachdenklichen Grimasse zu verziehen, gab es jedoch sofort wieder auf. »Im Sain-Gebirge gibt es einige Höhlen. Ich war schon einmal dort. Vielleicht können die Zaqoor uns in dem Massiv nicht orten. Aber das ist ein stattlicher Fußmarsch.« »Warum sollen wir dem senilen Greis glauben?«, fuhr Abenwosch auf. »Er denkt immer nur an sich.« Der Jucla fuhr herum. Seine genetische Hektik hatte wieder von ihm Besitz ergriffen. »Eben! Er will überleben, genau wie wir. In diesem Punkt können wir uns auf ihn verlassen.« Ich machte Überraschung in Zamptaschs Gesicht aus und lächelte schwach. Ich hatte ihn durchschaut, hatte halt ein paar Jahrtausende Lebenserfahrung mehr als diese stümperhaften Juclas. »Ob unsere Schiffe im All rechtzeitig fliehen konnten? Wenn sie es geschafft haben, gibt es noch Hoffnung, diesen Mond verlassen zu können.« Der 966. Kommandant der Ercourras sah zum Himmel. Die Wolken standen noch immer sehr dicht, obwohl der Regen etwas nachgelassen hatte. Sie ließen
Uwe Anton nur bedingt freie Sicht nach oben zu. »Wenn ihr mir wenigstens das Funkgerät gelassen hättet, könnte ich jetzt einen Situationsbericht von Carmyn Oshmosh anfordern. Aber so bleibt uns nur, zu raten und zu hoffen.« Ich zuckte die Achseln. »Dieses unnötige Verbot habe ich immer schon verabscheut. Einige kleine technische Errungenschaften hätten mir das Leben bei den Theins erleichtert.« Zamptasch hieb mit seinem Stock auf den Boden. »Du hattest immer was zu meckern. Egal ob auf den Theins oder an Bord deines Schiffes.« Abenwosch stieß ihn an. Ich legte den Kopf zurück. »Da oben sind vereinzelt Blitze und Lichtreflexe zu erkennen. Das verheißt nichts Gutes.« Über uns hing der Planet, dessen riesige Scheibe von Wirbeln in verschiedenen Farben durchzogen wurde. Die Drehung Epts, in 26 Stunden einmal um die Polachse, konnte ich natürlich nicht wahrnehmen. »Zamptasch, lauf voran. Zeig uns den Weg. Wir schlagen uns zu den Sain-Bergen durch.« Dieser Strohhalm war mir lieber als nichts. »Ihr bleibt vor mir, ich bilde von jetzt an die Nachhut.« Der alte Quengler warf mir einen fast hasserfüllten Blick zu, setzte sich aber in Bewegung.
* Dagor. Der Körper ist nichts, der Geist ist alles. Der All-Kampf. Die waffenlose Kampfkunst, aber auch damit verbundene Philosophie und Lebenseinstellung. Die Zwölf Ehernen Prinzipien. Die Luft brannte nicht mehr in meinen Lungen, die Beinmuskulatur schmerzte nicht mehr. Ich hätte ewig so weiterlaufen können. Das Buch des Willens. Dolanty wäre stolz auf mich gewesen. Ich fragte mich, wie es den beiden Juclas erging. Ich trieb sie unaufhaltsam voran, und sie waren so langsam, dass ich wohl auch ohne die Philosophie keine Probleme bekommen hätte, doch sie mussten ihre letzten Kräfte freisetzen, und
Die Rache der Juclas es reichte noch immer nicht. Und sie verschwendeten weiterhin kostbaren Atem, feindeten sich unentwegt an. »Du stolperst wie mein Großvater durch die Gegend. So was nennt sich Kommandant.« Zamptasch entlud seinen Frust unentwegt an Abenwosch. Was blieb ihm auch anderes übrig? Ich reagierte schon längst nicht mehr auf seine Gehässigkeiten. Dabei waren sie gut durchdacht und immer auf den Punkt bezogen. Immer auf diesen Versager von Kommandanten, wie er sich ausdrückte. »Still!«, sagte ich. »Ich bin mir nicht sicher, aber ich fürchte, sie sind uns dicht auf den Fersen.« Ich verharrte mitten in der Bewegung. Täuschte ich mich, oder knackte es in unmittelbarer Nähe? Der Sturm hatte zum Glück nachgelassen, nachdem er uns völlig durchnässt hatte. Oder war es Pech? Nun würden sich auch die Zaqoor besser orientieren. Alles Mögliche konnte das Geräusch verursacht haben, doch die Flora und Fauna auf Eptascyn war unbedeutend. Hier wuchs oder lebte nichts Gefährliches: Spinnenartige Käfer, fette schwarze Würmer und Wanderameisen, die weiße Fäden hinter sich herzogen, waren die Tiere, die ich bemerkt hatte. Montonen gab es in riesigen Mengen, sie hatten keine natürlichen Konkurrenten und standen nun immer dichter. Ihre nadelartigen Blätter stachen unangenehm, wenn man sie berührte. Immerhin schützten sie uns bedingt vor Blicken von oben. Aber das nutzte uns nichts mehr, wenn die Zaqoor Wärme- oder Infrarotmessungen vornahmen. Das Verbot von technischem Gerät auf Eptascyn ging den Invasoren leidlich am hinteren Körperteil vorbei. Ihre zerstörerische Macht hatten sie beeindruckend demonstriert. Noch ließen sie uns in Ruhe. Vermutlich beabsichtigten sie erst, die Führer der Juclas auszuschalten, statt gezielt nach mir zu suchen. Aber es war nur eine Frage der Zeit bis zur Konfrontation mit ihnen. Wir kamen nur langsam voran. Wahrscheinlich stünden meine Chancen auf ein
11 Entkommen ohne diese Bremsklötze erheblich besser. Vielleicht stammte das Knacken und Knistern im Unterholz ja nicht von den Zaqoor, die uns auf den Fersen waren. Vielleicht suchten die Häscher der Lordrichter ja gar nicht nach uns. Vielleicht waren sie damit zufrieden, den Thein gesprengt und die Einheit der Juclas zunichte gemacht zu haben. Und vielleicht können Cavans fliegen, versetzte der Extrasinn. Der kurze Augenblick der Ruhe schien meine Sinne zu schärfen. Nachdem das ewige Geplärre der beiden Juclas verstummt war, konnte ich mich auf die Geräusche der Natur konzentrieren und vernahm nun ein leises Plätschern, das auf sämtlichen Sauerstoffwelten, die ich bislang besucht hatte, auf ein und denselben Ursprung hinwies. »Weiter«, sagte ich. »Haltet die Augen auf. Wir werden gleich auf einen Bach oder kleinen Fluss stoßen.« »Endlich«, sagte Zamptasch. »Stillstehen und abwarten … ich hasse diese Untätigkeit. Mein Körper altert auch im Wartemodus. Vertane Zeit für mich, kostbare Lebenszeit.« Es war aussichtslos. Sobald die Juclas sich wieder in Bewegung setzten, wurde auch ihr Mundwerk aktiv. Nach wenigen Schritten erhielt ich die Bestätigung. Auch wenn Zamptasch das Gelände wesentlich besser als ich kannte, konnte ich mich auf meinen Instinkt, die Unterstützung durch den Extrasinn und meine Erfahrung verlassen. Wie ich erwartet hatte, floss vor uns ein einst schmales Gewässer, das durch den Regen zu einem reißenden Bach angeschwollen war. Obwohl ich die Juclas angewiesen hatte, darauf zu achten, gingen sie weiter, in ihre unendlichen Gehässigkeiten vertieft. »Halt!«, rief ich. »Wartet!« Ich hatte mit vielem gerechnet, aber nicht mit dieser Reaktion. Sie schritten weiter aus, so schnell sie konnten, und machten sich unbeeindruckt gegenseitig Vorwürfe, wie Kinder mit einem Kurzzeitgedächtnis von drei Sekunden, einem Langzeitgedächtnis, das
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nicht der Rede wert war, und einem ausgeprägten Egoismus bis zur Unerträglichkeit. Gib es auf!, meldete sich der Extrasinn. Wie willst du mit solchen Begleitern überleben? Ich antwortete nicht. Ich hatte mir schon längst abgewöhnt, dem Extrasinn gegenüber unhaltbare Positionen zu verteidigen. Das Hemd ist mir näher als die Tunika. Zamptaschs Geflügelte Worte
3. Atlan »Halt!«, schrie ich noch einmal. Abenwosch-Pecayl 966. drehte sich fragend zu mir um, doch Zamptasch trottete immer weiter. Zwei, drei große Schritte, und ich hatte ihn eingeholt. Ich hatte nicht übel Lust, ihn zu packen und ordentlich durchzuschütteln. Wie ein störrisches, unbelehrbares Kind. Doch als ich die Hand auf seine knochige Schulter legte, empfand ich schon wieder Bedauern. Er schlurfte vornübergebeugt, mit hängenden Schultern, konnte seine dürre Gestalt auch mit Hilfe des Gehstocks kaum aufrecht halten. Unsere Flucht hatte ihn schon jetzt schwer gezeichnet. »Niemand hat Zeit«, knurrte er trotzig. »Warte!«, rief ich. »Warum? Ich bin älter und langsamer als ihr. Ich bin froh um jeden Meter, den ich mit euch mithalten kann. Ihr wollt mich ja doch nur zurücklassen.« Nun drehte er sich langsam um, und ich glaubte, seine Knochen ächzen und knirschen zu hören. Sein Gesichtsausdruck verriet mir gar nichts. Die tiefen Falten vor allem um die Augen und Mundwinkel verliehen ihm sowieso permanent ein verkniffenes, wenn nicht gar verbittertes Aussehen. Ich glaubte, ein höhnisches Funkeln in seinen Augen zu sehen, war mir aber nicht sicher. Er sah immer so mürrisch, neidisch und missgünstig aus.
»Niemand will dich zurücklassen«, sagte ich. »Aber wenn du ständig quer schießt und uns alle in Gefahr bringst, lässt du uns keine andere Wahl! Das habe ich auch Abenwosch gesagt. Und nun entscheide dich.« Er musterte mich. Ich konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete, ein zittriger, vor seiner Zeit gealterter Greis, der scheinbar nur noch von der Angst vor dem Tod auf den Beinen gehalten wurde. Ein Greis von zwanzig Jahren. »Natürlich werdet ihr mich zurücklassen! Ich kann nichts dafür, das waren die anderen … die Zaqoor. Und ich muss jetzt darunter leiden. Warum …« Er hielt inne. Ihm schien die Absurdität seiner Sätze bewusst zu werden. Die Schuld immer den anderen zu geben – das war zu einem festen Mechanismus in seinem Leben geworden. »Also?«, fragte ich. »Was soll ich tun?« Seine Stimme zitterte vor unterdrückter Wut, und ich befürchtete einen Augenblick lang, dass er mir den Gehstock an den Kopf werfen würde. »Das, was ich tue.« Ich trat an den Rand des Bachs, ging drei, vier Schritte weiter, bis ich an seinem Rand eine Vertiefung bemerkte. Hier hatte sich, wahrscheinlich durch die starken Regenfälle, ein kleiner Teich gebildet, in dem das Wasser stand. Ich trat hinein, bückte mich, hielt die Hände hinein. Das Wasser war viel kälter, als ich es erwartet hatte. Ich ignorierte den heftigen Stich in den Fingern, hob mit beiden Händen Schlamm aus dem Bachbett, grinste breit und verschmierte ihn über die Haare und das Gesicht. Ich griff erneut zu, kleisterte mit der nächsten Fuhre Arme und Schultern ein, dann die Brust, den Rücken, den Hintern, die Beine, die Füße, bis ich – fast – vollständig mit dem widerlichen Schlick bedeckt war. »Würdest du mir bitte helfen, Zamptasch, und die Stellen einschmieren, an die ich nicht herangekommen bin?« »Dieses Zeug ist ekelhaft. Soll Abenwosch das machen.«
Die Rache der Juclas Ich grinste. »Abenwosch wird deinen Rücken einschmieren. Und wenn du mich eingerieben hast, kannst du direkt bei dir selbst weitermachen.« »Darauf kann ich verzichten. Das ist doch kein Schutz vor den Individualtastern der Zaqoor! Wenn sie uns orten, orten sie uns eben. Unsere einzige Hoffnung ist, dass sie nicht alle Juclas verfolgen können!« Ich verdrehte die Augen. »Eben deshalb. Wenn wir uns mit Schlamm bedecken, senken wir die Körperwerte. Vielleicht halten die Zaqoor uns dann für Tiere.« Dann hob ich die Stimme. »Und ich habe keine Lust, jede meiner Entscheidungen mit dir zu diskutieren. Entweder du fügst dich, oder du humpelst allein weiter.« Er zögerte. »Wohin denn?«, fragte er. »Ohne mich findest du die Höhle nie.« Aber dann trat er ins Wasser, bückte sich, zuckte zurück, als er die Kälte spürte, biss die Zähne zusammen und hob Schlick aus dem Boden. Dabei bemühte er sich nicht, seinen Widerwillen zu verbergen. Der Schlamm war kalt. Ich spürte, dass ich zu zittern anfing, was aber auch an meiner Übermüdung liegen konnte, an der Erschöpfung, die durch jeden noch so minimalen Einsatz des Flammenstaubs verstärkt wurde, wie lange er auch zurückliegen mochte. Bei jeder Bewegung strahlte mein linker Unterarm Schmerzwellen aus, die Wunde war noch nicht verheilt. Einen Moment lang sah ich zu, wie Zamptasch zimperlich mit dem Schlamm herumschmierte, dann trat ich zu ihm, nahm zwei Hand voll und klatschte sie ihm auf die Schultern. Er zuckte sichtlich zusammen und fuhr wütend zu mir herum. »Wir müssen so schnell wie möglich Distanz zum Landegebiet der Zaqoor gewinnen«, erklärte ich zum wiederholten Male. »Es kommt auf jede Sekunde an!« Zamptasch zitterte ebenfalls und nicht nur vor Kälte, erwiderte aber nichts darauf. Abenwosch stellte sich geschickter an, indem er es schaffte, seinen Rücken komplett einzuschmieren.
13 Als beide genau wie ich mit Lehm bedeckt waren, sah ich mich kurz um und orientierte mich neu. Hinter uns führte der Bach durch den eh schon dichten Wald, den wir mit Müh und Not durchdrungen hatten, vor uns verdichtete sich die Vegetation zu einem noch dichteren Dschungel aus Montonen am Fuß einer Hügelkette. Das war auf keinen Fall das Sain-Gebirge, von dem Zamptasch gesprochen hatte. Ich hatte es beim Landeanflug gesehen; es war knapp hundert Kilometer vom Thein entfernt. Aber vielleicht würden wir dort tatsächlich einen besseren Schutz und Unterschlupf finden, sollten die Zaqoor kommen, womit jeden Augenblick zu rechnen war. Welche Wahl hatte ich schon? Mir blieb nichts anderes übrig, als mich auf die Ortskenntnisse des alten, griesgrämigen Juclas zu verlassen. Ich sprang in den Bach und lief weiter. Schon nach wenigen Schritten spürte ich, wie das Gefühl aus den Füßen zu weichen drohte. »Was soll das?« Zamptasch fuchtelte mit seinem Gehstock in der Luft. »Das Wasser ist eiskalt! Ob die Zaqoor uns finden oder wir erfrieren oder umknicken und uns die Knöchel verstauchen oder ein Bein brechen … das bleibt doch gleich! Warum laufen wir nicht am Bachufer entlang? Da kommen wir auch schneller voran!« »Und hinterlassen nicht nur deutliche Spuren, sondern auch eine Schlammfährte, die die Zaqoor direkt zu uns führt! Außerdem kühlt das Wasser unsere Körpertemperatur zusätzlich ab. Das erschwert es unseren Verfolgern, uns mit Individualtastern wahrzunehmen.« Alles vernünftige Maßnahmen, meldete sich mein Extrasinn zu Wort. Ich hatte seine Kommentare schon vermisst. Aber glaubst du wirklich, dass ihr es auf diese Weise schafft? Die Zaqoor sind sehr gut ausgerüstet und erfahrene Kämpfer. Ich wusste, worauf meine bessere Hälfte hinauswollte. Bei den wenigen getarnten Hilfsmitteln, die ich hatte mitnehmen kön-
14 nen – ein Messer, Zündhölzer, eine Reibfläche –, sah es wirklich nicht rosig für uns aus. Wir müssen eben auf unser Glück vertrauen!, dachte ich fast trotzig – und spielte dem Logiksektor damit genau in die Hände. Auf das Glück oder auf den Flammenstaub? Du weißt, welche Konsequenzen damit letzten Endes verbunden sein könnten. Und wenn du sowieso darauf vertrauen willst, warum hast du dann nicht das Massaker verhindert, das die Zaqoor angerichtet haben? Wenn schon ein paar manipulierte Daten in einem Bordcomputer Kopfschmerzen wert sind, dürften es zahllose gerettete Juclas wohl erst recht sein! Ich schwieg, wusste, dass ich dem Logiksektor nicht mit Ausreden kommen konnte. Er kannte mich mindestens genauso gut wie ich selbst. Weil ich mich nicht in Todesgefahr gewähnt hatte? Weil ich mich davor gescheut hatte, mich durch den Einsatz des Flammenstaubs selbst in Gefahr zu bringen, und den Tod der Juclas billigend in Kauf genommen hatte? Weil ich mich damit verausgabt hätte? Weil ich nicht dazu imstande gewesen wäre? Ein gedämpftes Brummen enthob mich der Qual einer Antwort. Es war nur ein leises, kaum wahrnehmbares Geräusch, das ich wahrscheinlich nicht einmal bemerkt hätte, wäre mir die Stille der Natur nach dem ewigen Gezeter der beiden Juclas nicht so unnatürlich vorgekommen. Sogar die Vögel hatten sie verscheucht, nur ein leises Summen von Insekten war im Hintergrund allgegenwärtig. Abenwosch-Pecayl 966. hatte das fremde Geräusch auch gehört und blieb so abrupt stehen, dass Zamptasch fast gegen ihn geprallt wäre. »Verdammt!«, fluchte er, riss sich aber sofort wieder zusammen. »Atlan, ist das …?« Ich nickte. Das Geräusch wurde von den Turbinen eines Gleiters verursacht, der sich schnell näherte, oder zumindest vom Gravopak des Kampfanzugs eines Zaqoor. Ich hatte gehofft, noch mehr Zeit zu bekommen,
Uwe Anton auf das Durcheinander nach dem Massaker gesetzt, darauf, dass die Zaqoor nicht alle Flüchtlinge verfolgen konnten. Warum sollten sie es da ausgerechnet auf uns abgesehen haben? Narr!, schimpfte der Extrasinn. Ihr seid noch nicht weit genug weg vom Ort des Massakers. Bedenke die technische Ausrüstung der Zaqoor! Aus dieser Nähe müssen sie euch auf jeden Fall orten! Und deine Lebenszeichen unterscheiden sich wahrscheinlich von denen der Cappins! Vielleicht können sie auch den Zellaktivator anmessen, oder sie haben deine Biodaten aus der Milchstraße oder aus Dwingeloo bekommen. Vergiss nicht, sie suchen dich. Du trägst den Flammenstaub in dir, und sie wollen ihn haben. Der verdammte Flammenstaub! Die verdammte Intrawelt, in der ich ihn erhalten hatte! Ich sah mich um. Je dichter der Wald, desto besser die Aussichten, uns vor den Häschern zu verbergen. Und dann?, fragte der Extrasinn. Mit deinem Messer gegen gut ausgerüstete Zaqoor? Ich ignorierte ihn. »Lauft!«, rief ich und spurtete los. »Voraus in den Wald!« Schon nach wenigen Schritten wurde mir klar, dass wir es nicht schaffen würden. Ich sah über die Schulter zurück und machte am Himmel einen dunklen Punkt aus, der sich schnell näherte, erkannte ihn dann als Zaqoor in einem Kampfanzug, getragen von einem Gravopak. Wenigstens hatten wir es nur mit einem Gegner zu tun und nicht etwa mit einem Gleiter voller schwer bewaffneter Soldaten. Der Wald wurde etwa zweihundert Meter vor uns wirklich dicht, der Zaqoor war vielleicht zwei Kilometer entfernt, doch seine Geschwindigkeit war einfach zu hoch. Noch ein paar Sekunden, und er hatte uns eingeholt. Als der Krieger dann jedoch in schrägem Winkel über uns hinwegraste, packte mich einen Moment lang wilde Hoffnung. Hatte er uns nicht bemerkt? Oder hatte er es auf
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eine andere, seiner Meinung nach lohnendere Beute abgesehen? Führte er vielleicht einen ganz anderen Auftrag aus, interessierten wir ihn gar nicht? Doch dann bremste er ab, nun ein gutes Stück vor uns, schwebte einen Augenblick lang an Ort und Stelle und beschleunigte schließlich wieder. Ich hatte nicht den geringsten Zweifel, dass er uns entdeckt hatte: Er hielt genau auf uns zu. Es gab keine andere Möglichkeit mehr. Tu es nicht, sagte der Extrasinn. Du weißt, was für Folgen es für dich hat. Ich war ehrlich zu mir selbst: Ich hatte das Massaker an den Juclas aus reinem Selbstschutz nicht verhindert. Jeder Einsatz des Flammenstaubs forderte seinen Tribut. Zwar war die Dosis, die ich in mir spürte, wesentlich geringer als jene, die ich vor dem Opfergang meines alternativen Ichs in mir gehabt hatte. Dennoch musste ich mich in Acht nehmen, dass ich nicht ein weiteres Mal ausbrannte. Ich hatte befürchtet, dass ich mein Werk nicht vollenden konnte, vor Erschöpfung das Bewusstsein verlor und dem Feind in die Hände fiel und – absichtlich oder unabsichtlich – getötet wurde. Der arkonidische Pragmatismus hatte gegenüber dem Mitgefühl für die Juclas die Oberhand behalten. Aber jetzt war der Zaqoor vielleicht noch anderthalb Kilometer entfernt, zu weit, dass ich Einzelheiten ausmachen konnte. Ob er bereits auf uns zielte? Einen Feind zu töten war nicht so anstrengend, wie Hunderte daran zu hindern, ein Massaker zu veranstalten. Hier ging es nur um ein Leben. Oder um drei. Plötzlich flimmerte schwarzer Glitzerstaub um meinen Kopf, und in meinen Schläfen pochte ein fürchterlicher Schmerz.
* Ich hörte das Aufjaulen, mit dem sich die Fehlschaltung des Schutzanzugs des ZaqoorKriegers ankündigte, oder die seines Gravopaks, und dann den Schrei, den der Soldat
ausstieß, als er die Kontrolle über seinen Anzug verlor und, sich überschlagend, steil in den Himmel emporraste. Dann fiel die Anzugtechnik vollständig aus, und der Zaqoor schrie erneut, noch lauter und gellender, während er wie ein Stein in die Tiefe stürzte, genau auf den Wald zu. Mir wurde schwarz vor Augen, und ich spürte, dass ich taumelte. Ich ließ los. Im letzten Moment schien der Soldat die Kontrolle über sein Gravopak zurückzuerlangen, und er flachte den senkrechten Sturz zehn, zwölf Meter über den Baumwipfeln zu einer sanft ansteigenden Kurve ab. Doch die Technik war durch schnellen senkrechten Aufstieg übermäßig beansprucht worden und setzte nun mit einem lauten Aufheulen endgültig aus. Der Zaqoor konnte das Gravopak nicht mehr steuern, sackte tiefer und jagte genau auf den dichtesten Teil des Waldes zu. Ich hörte den dumpfen Schlag, mit dem sein Körper gegen einen Baumstamm prallte, und das satte, widerwärtige Geräusch, mit dem ihm die Knochen gebrochen und zerschmettert wurden. Der Rucksacktornister des Zaqoor ging mit einer Explosion in Flammen auf. Einzelne Bruchstücke flogen Dutzende Meter durch die Luft, ohne jedoch in unsere Nähe zu kommen. »Lauf!« Ich stieß Abenwosch an, der aus weit aufgerissenen Augen auf die Überreste des Soldaten starrte. »Wir wissen nicht, ob der Zaqoor noch Meldung machen konnte, und die Explosion wird seine Kameraden anlocken. Bald wird es hier von Feinden nur so wimmeln!« Ich wartete weder seine noch Zamptaschs Reaktion ab, sondern lief los. Dagor hin, Dagor her, die Luft brannte in meinen Lungen, und meine Beinmuskeln schienen mit jedem Schritt härter zu werden. Unter normaler Schwerkraft – der Mond Eptascyn brachte es bei einem Äquator-Durchmesser von 4950 Kilometern gerade mal auf 0,77 Gravos – wäre ich bei weitem nicht so schnell vorangekommen. Wie schlecht es mir nach dem Einsatz des
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Flammenstaubs wirklich ging, erkannte ich daran, dass die beiden Juclas mich leichtfüßig einholten. »Durch den Wald und dann die Hügel hinauf!«, keuchte Zamptasch. »Ich kenne mich hier aus! Da oben ist die Höhle, in der wir uns verstecken können!« Welche Hügel? Diese kleinen Erhebungen? Mein Sichtfeld schien noch zehn, zwanzig Meter zu umfassen, mehr nicht. Ich habe dich gewarnt. Der Flammenstaub … »Verstanden«, ächzte ich und folgte Zamptasch. Ich hatte Mühe, mit dem fast greisenhaften Zwanzigjährigen mitzuhalten. Immer wieder schlugen mir Zweige ins Gesicht, und ich stolperte mehr über Wurzeln, die tückisch aus dem weichen Boden ragten, als dass ich ging. Dann wurde der Boden härter, und ich kam etwas besser voran. Als Zamptasch stehen blieb, um sich kurz zu orientieren, und ich ebenfalls innehielt, hörte ich es. Wieder ein Geräusch, wieder ein Brummen wie das, das der Zaqoor-Krieger mit seinem Gravopak verursacht hatte. Aber dieses hier war tiefer, und es kam mir lauter vor. Ich suchte den Himmel mit meinen Blicken ab, konnte aber nichts ausmachen. »Sie kommen«, sagte Abenwosch neben mir. »Und diesmal ist es nicht nur einer.« Das Leben ist zu kurz, um es mit Ganjasen zu verschwenden. Zamptaschs Geflügelte Worte
4. Carmyn Oshmosh »Ablegen und die Schutzschirme hoch!«, rief Carmyn Oshmosh. Jetzt hatte sie keine andere Wahl mehr. Die AVACYN saß hier wie auf dem Präsentierteller, durch die Tuilerien gekoppelt an mittlerweile drei andere Raumschiffe, mit heruntergefahrenen Generatoren und nicht einsatzfähigen Waffen. Zudem verschaffte die Enge des Raums, auf dem der Komplex zusammengeballt war,
den Angreifern einen riesigen Vorteil. »Weitere Schiffe stürzen in den Normalraum und fliegen Konfrontationskurs!«, meldete Ypt. »Eiförmige Einheiten unterschiedlicher Bauart und -größe. Die Signaturen weisen sie als Takerer aus. Siebeneinhalbtausend … achttausend!« Immer neue Alarmmeldungen kamen herein. Silesiante meldete sich aus dem Maschinenraum. »Ich kann noch nicht genug Energie für die Bewaffnung abzweigen! Die Pedotunnelfelder brauchen noch etwa drei Minuten.« »Die Energie der Speicherbänke?« »Brauche ich für die Versorgung der Triebwerke.« »Fusionsreaktoren?« »Notversorgung angefahren.« Die Kommandantin nickte knapp. Bis die gezielte Hyperraumzapfung auf der Basis der Pedotunnelfelder angelaufen war, würde die AVACYN jedes Fitzelchen Energie benötigen, das sie kriegen konnte. »Habe ich es nicht gesagt?« Kaystale funkelte Carmyn an, zumindest mit dem rechten, schwarzen Auge. Das linke in der verbrannten Gesichtshälfte war künstlich und leuchtete in grellem Rot. Warum hast du nicht auf mich gehört?, sollte das eigentlich heißen. Die Kommandantin sah es der Takererin nach. Die Söldnerseele sprach aus ihr. Eines war ihr dadurch allerdings klar geworden: Kaystale war Takererin, und hatte die Kommandantin bislang noch den geringsten Zweifel an ihrer Loyalität gehabt, so war er nun verflogen. Sie konnte nun davon ausgehen, dass die Söldnerin bedingungslos auf der Seite Atlans beziehungsweise seiner Gefährten stand. Ein Ruck ging durch die AVACYN. Carmyn wurde klar, dass das Schiff der NAMEIRE-Klasse soeben Schub gegeben hatte. Die Ganjasin zuckte merklich zusammen und schalt sich im nächsten Augenblick selbst eine Närrin – bevor Myreilune es tun konnte. Sie hatte tatsächlich erwartet, etwas davon
Die Rache der Juclas mitzubekommen, wie die Schleusen geschlossen und die Tuilerien abgetrennt wurden. Die Tuilerien! »Bei Ovaron«, murmelte sie und rief ein Holo auf. Hatte Amendariasch es geschafft? War die Warnung noch rechtzeitig für ihn gekommen? Das Bild flackerte. Es zeigte das Innere eines der ausgeschäumten Hohlstege, das soeben noch durch ein Prallfeld vor dem Vakuum geschützt gewesen war. Wenn ein oder mehrere Ercourra-Schiffe auf Raubzug gingen, mussten die Komplex-Formen natürlich abgebrochen werden. Dann gingen die Juclas mitunter auch rücksichtslos vor und zerstörten, was sie über Jahre hinweg aufgebaut hatten. Natürlich nach der Evakuierung der Tuilerien, einer Evakuierung, die jetzt nicht mehr möglich gewesen war. Noch wurde die Röhre durch ein Prallfeld des Jucla-Schiffs gesichert, mit dem sie verbunden war, doch im nächsten Augenblick brach es zusammen. Carmyn sah für wenige Sekunden noch Amendariasch, nackt neben einer JuclaFrau. Er hatte sich in Bewegung befunden, war zu dem Schott gelaufen, das ihm Sicherheit verhieß, und einen Augenblick lang fing das Aufnahmegerät sein verzweifeltes Gesicht in einer Großaufnahme ein, die Haut noch gerötet vom Liebesspiel, die Augen weit aufgerissen, den Mund vielleicht zu einem Schrei geöffnet. Carmyn zwang sich, den Blick nicht abzuwenden, als die ausgeschäumte Röhre zerriss, in Dutzende größere und kleinere Teile zerbrach, die dann auseinander stoben wie Splitter einer bei einem Aufprall zerbrochenen Glaskugel. Amendariasch, ihr Besatzungsmitglied, für das sie die Verantwortung trug, wurde vom Vakuum herausgerissen, und Carmyn empfand es fast als Glück, dass das Aufnahmegerät ausfiel, bevor sie beobachten musste, wie sein Körper vom luftleeren Raum und dem plötzlichen Druckabfall zerrissen wurde. Bevor sie etwas sagen konnte, gellte ein
17 weiterer Alarm durch die AVACYN. »Noch mehr fremde Einheiten! Aber keine CappinSchiffe!« Carmyn verbannte den Gedanken an den Tod des jungen Ganjasen. Sie musste jetzt ihr Schiff und die Besatzung retten. Ypt rief ein Ortungsholo auf. Es zeigte einen weißlich beigen Kugelraumer mit einem Durchmesser von 1350 Metern, dessen Oberfläche von runden Kuhlen übersät war. Ein Superschlachtschiff der Garbyor! Es fiel Carmyn wie Schuppen von den Augen. Die verhassten Takerer arbeiteten nicht allein; wie so oft in letzter Zeit erwiesen sie sich als Verbündete oder besser Handlanger der Lordrichter, vor denen Atlan die Juclas auf Eptascyn warnen wollte. »Wo bleiben die Waffen?«, fragte die Kommandantin. »Noch zweieinhalb Minuten!« »So viel Zeit haben wir nicht! Prallschirme?« »Hochgefahren!« »Hochenergie-Hybridschirme?« »Ebenfalls.« Carmyn bezweifelte, dass die zweifach gestaffelten Halbraumfelder mit pedogepolter Kapazität den überlegenen Waffen der wesentlich größeren Schlachtschiffe der Garbyor lange standhalten würden. Zweieinhalb Minuten konnten eine Ewigkeit sein. Sie musste eine Entscheidung treffen, und zwar bald. Was hatten die Angreifer vor? Denn es bestand kein Zweifel daran, dass es sich um einen Angriff handelte. Ihr Konfrontationskurs und ihre schiere Zahl sprachen eine beredte Sprache. Wie würden sie vorgehen? Eine eiskalte Ruhe überkam die Kommandantin. Mit einem Mal wusste sie, weshalb die Angreifer hier waren. Sie waren nicht auf Gefangene aus, wollten größtmöglichen Schaden anrichten. Einzelne Schiffe würden sie weniger interessieren. Carmyn wurde für einen Sekundenbruchteil schwarz vor Augen, als ihr klar wurde, was nun geschehen würde. Dann traf sie die Entscheidung. Wenn sie
18 falsch vermutet hatte, würde sie es wahrscheinlich mit dem Leben bezahlen. Mit ihrem und dem der Besatzung. »Volle Beschleunigung! Triebwerke bevorzugt versorgen!«, befahl sie. »Nur überschüssige Energie in die Schirme. Erst wenn sie stehen, Waffen aktivieren. Initialstrahler, Initial-Dopplergeschütze, Initial-Punktator, Thermo- und Impulsstrahler, Desintegratoren …« Sie verstummte. Die Waffen würden wahrscheinlich nicht mehr zum Einsatz kommen. Bei einer maximalen Sublichtbeschleunigung der Impulstriebwerke von 600 Kilometern pro Sekundenquadrat würde es 200 Sekunden dauern, also über drei Minuten, bis die AVACYN die Mindestgeschwindigkeit von 40 Prozent Licht erreicht hatte. Bis dahin würde ihnen kaum genug Energie für den Einsatz der Waffen zur Verfügung stehen. Wahrscheinlich würde sich der Überlichtflug noch um ein paar Sekunden verzögern, bis die Pedotunnelfelder endlich Energie aus dem Hyperraum zapften. Verdammt, hätte sie doch auf Kaystale gehört! »Die ersten Takerer sind auf Kernschussweite heran!«, meldete Ypt. »Sie eröffnen das Feuer!« »Takerer!« Kaystale spuckte das Wort förmlich aus, obwohl sie auch zu diesem Volk der Cappins gehörte. Hilflos musste Carmyn mit ansehen, wie die Schiffe der Takerer und die fremden Einheiten innerhalb weniger Sekunden das All in eine Feuerhölle verwandelten. Nur etwa 8500 Schiffe, nicht einmal ein Zehntel der Einheiten, aus denen sich der Komplex zusammensetzte, aber sie hatten das Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Sollte sie Erleichterung darüber empfinden, dass sich ihre Vermutung als richtig erwies? Die Angreifer feuerten mit allem, was sie hatten, in den schutzlosen Komplex der Juclas. Die AVACYN war keine Sekunde zu früh aus dem Kontingent herausgebrochen. Ein Raumer der Schamenhyn, mit dem sie gerade noch durch eine Tuilerie verbunden gewesen waren, brach in diesem Augenblick
Uwe Anton unter konzentriertem Beschuss auseinander. »Initial-Dopplergeschütz einsatzbereit!«, meldete Kaystale am Feuerleitstand. Sie hatte Carmyn die mechanische Hälfte ihres Gesichtes zugewandt. »Silesiante hat irgendwoher Energie gezaubert!« Oder eigenmächtig meinen Befehl interpretiert und sie irgendwo abgezweigt, wo wir sie vielleicht dringender benötigen, dachte die Kommandantin. Aber wenn sie Glück hatten, viel Glück, kam es vielleicht nicht mehr darauf an. »Sofort auf Überlicht gehen, sobald wir die nötige Geschwindigkeit haben. Kaystale, du hast die Feuerfreigabe nach eigenem Ermessen.« »Es sind in der Tat Zaqoor und Takerer!«, bestätigte Ypt. »Ich habe ihre Kennung überprüft. Sie haben die Ortung mit einem Störsignal lahm gelegt. Der Schatten, den ich zufällig angemessen habe!« Ypt rief neue Daten auf und fegte vor lauter Aufregung das Glas mit ihrem grünen Saft von der Konsole. »Es ist eine Falle! Aber warum gerade jetzt? Ist es Zufall, dass Atlan auf dem Mond ist, oder haben sie es auf ihn abgesehen?« Myreilune konnte es nicht lassen. Während sie konzentriert die AVACYN durch das feindliche Feuer steuerte, machte sie gegen den Unsterblichen Front. Die angreifende Flotte schoss zwar weiterhin auf alles, was ihr vor die Waffenmündungen kam, setzte nun aber ihre grundlegende Taktik um und handelte damit endgültig so, wie Carmyn es vermutet und befürchtet hatte. Die Takerer und Zaqoor nahmen vermehrt Ziele im Inneren des Komplexes unter Beschuss. Die Schiffe dort konnten nicht wie die AVACYN mit Höchstwerten starten, behinderten sich gegenseitig, versperrten sich den Weg. Und dort war das Netz der Tuilerien am dichtesten. Jeder Start forderte Dutzende von Opfern. Alles nebensächlich, dachte die Kommandantin. Die Ortungsholos zeigten schon gar keine Daten mehr an. Im Inneren herrschte ein Chaos aus neu entstehenden und wieder
Die Rache der Juclas vergehenden Sonnen, das kein Cappin mehr geistig verarbeiten konnte, wenigstens nicht in diesem Augenblick. Es würde länger dauern, bis die Juclas das wahre Ausmaß der Katastrophe begriffen hatten. Wahrscheinlich würden nur einige Einheiten an der Peripherie des Komplexes der Vernichtung entgehen. Carmyn versuchte gar nicht erst, das allgemeine Bild aufzunehmen. Sie zwang sich, nicht an die Millionen von Cappins zu denken, die in der Gluthölle explodierender Schiffe oder in der Kälte des Vakuums starben. Feuer und absoluter Nullpunkt nur wenige Meter voneinander entfernt … »Wozu sind wir Cappins imstande?«, flüsterte sie. Am liebsten hätte sie die Augen geschlossen und das Schicksal angefleht, dass Myreilune sie endlich auf Überlicht brachte, doch das konnte sie nicht. Sie war für die AVACYN und ihre Besatzung verantwortlich. Sie sah wieder auf die Holos. Eins zeigte losgerissene Teile einer weißen Röhre, die anscheinend unbeschädigt durchs All trudelte. Ein Fragment aus einer anderen Zeit, wurde Carmyn klar. Sie machte Überreste einer Bepflanzung aus, zu Glas gefrorene Blumen und Gräser. Erneut zwang sie sich, nicht an die vielen wehrlosen Opfer in ihren Liebesnestern zu denken. Sie hatten keine Chance gehabt, genau wie die meisten Juclas an Bord ihrer mit Teppichen ausgelegten Schiffe. Wie lange noch? Wie lang konnten zweieinhalb Minuten sein? Während Myreilune ihre hervorragende Qualität als Pilotin bewies und mit gewagten Manövern Wrackteilen auswich, die in ihre Richtung geschleudert wurden, einem Meer aus Schrott, den Resten ehemaliger Raumer der Juclas, Heimstatt von Tausenden von Individuen, erkannte Carmyn voller Entsetzen, dass einige Jucla-Raumer nicht ihr Heil in der Flucht suchten, sondern eine Gefechtsformation annahmen. »Das ist doch Irrsinn!«, flüsterte sie. »Sie haben höchstens ein paar Sekunden, dann
19 rollt die nächste Angriffswelle heran und beendet, was die erste begonnen hat!« »Sie sollten verschwinden, abhauen, solange sie noch können«, gab ausgerechnet Kaystale ihr Recht. »Diese verdammten Hitzköpfe!« Aber das angeborene cholerische Verhalten der Juclas war legendär. Ohne großes Nachdenken stürzten sie sich in eine aussichtslose Schlacht. Es ging ihnen nur um Rache für die Toten. »Ypt, ich brauche eine Verbindung mit einem Jucla, der etwas zu sagen hat!« »Ich schalte einen Rundruf! Aber glaubst du wirklich, dass einer antworten wird? Die haben im Augenblick anderes zu tun! Und die Clanchefs sind doch alle auf Eptascyn!« Carmyn war klar, was die Funkerin damit sagen wollte. Genau wie wir! Wir sollten zusehen, dass wir so schnell wie möglich von hier verschwinden! Spar dir die Worte. Die Besatzung der AVACYN gehört keinem Jungen Clan an, und die lassen sich ungern von Außenstehenden etwas befehlen! Eptascyn … Die Kommandantin fragte sich, was sich wohl gerade auf dem Mond abspielte. »Verbindung steht!«, riss die Ganjasin vom Planeten Systasch sie aus ihren Gedanken. »Besser kriege ich sie nicht hin!« Sie überspielte die Bildsequenz in ein Holo über Carmyns Konsole. Zwischen statischem Rauschen und weißen Blitzen erkannte die Kommandantin das Gesicht eines vielleicht vierzehnjährigen Juclas. Sie musste sich zwingen, ihn nicht anzuschreien. »Was willst du von mir?«, brüllte der Jucla, bevor sie etwas sagen konnte. »Schieß aus allen Rohren und störe mich nicht!« Das war eindeutig. Carmyn atmete tief durch. »Ich empfehle euch die Flucht. Gegen diesen Feind habt ihr keine Chance. Die Angreifer haben es darauf abgesehen, so viele wie möglich von euch zu töten. Fliehende Schiffe verfolgen sie momentan noch nicht!« Der Jucla starrte sie an. Sein schwarzes
20 Haar hing ihm ins Gesicht. »Solange ich lebe, werde ich diese Brut abschießen! Niemand soll von Gandusch sagen, er habe feige eine Schlacht verlassen. Wir sind Murras, und dieser Name steht für Größe und Ehre!« Ausgerechnet einer der Murras, dachte Carmyn. Sie waren der zahlenmäßig stärkste und beherrschende Clan. Dementsprechend größenwahnsinnig waren auch ihre Anwandlungen in aussichtslosen Situationen. »Was nutzen euch ein paar Treffer, wenn ihr alle sterbt? Eure Raumschiffe sind mangelhaft bewaffnet und altersschwach, und die Besatzungen haben gerade noch gefeiert oder kopuliert und ganz anderes im Kopf.« »Dann wird das eben mein Schicksal sein! Ich fliehe nicht. Wir müssen diese feigen Aggressoren in die Schranken weisen!« Gandusch sah zur Seite, und ein Jucla flüsterte ihm etwas ins Ohr. Carmyn kniff die Augen zusammen; das statische Rauschen wurde stärker. Wahrscheinlich hatte das Schiff des Murras einen Treffer abbekommen. »Du sollst deine Rache auch bekommen! Aber nicht hier und jetzt. Ihr stürzt euch in selbstmörderischer Raserei in den Tod. Die Takerer schießen euch einfach ab, ihr steht für sie auf dem Präsentierteller.« »Deine Worte leuchten mir ein«, erwiderte Gandusch zu Carmyns grenzenloser Überraschung. »Unsere Schirme sind auf zwanzig Prozent gefallen, der nächste Treffer wird unser Tod sein. Aber die anderen werden nicht unbedingt auf mich hören. Ich kann nur für die Murras sprechen. Wir ziehen uns zurück. Ich sende euch Koordinaten für einen Treffpunkt.« Das Holo erlosch. »Sinnlos!«, sagte Ypt. »Sein heißblütiges Volk hört nicht auf ihn. Trotz seiner Warnung nahm knapp ein Viertel der JuclaSchiffe den Kampf auf.« Der Verband brach endgültig auseinander. Was die Takerer nicht zerstört hatten, vernichteten die Juclas nun selbst. Carmyn fragte sich, wie viele Juclas in diesem Augenblick in den berstenden Tuilerien starben oder im takerischen Feuer umkamen.
Uwe Anton »Noch einen Rundruf, Ypt! Egal, wer mich hört … Mehr kann ich nicht tun. Wir haben keine Zeit für Einzelgespräche. Myreilune, wann erreichen wir die Eintrittsgeschwindigkeit?« »In zwanzig Sekunden.« »Warte, bis ich fertig bin.« Carmyn war klar, dass sie ein verzweifeltes Rennen gegen die Zeit lief – und ihr Schiff gefährdete. Mit jeder Minute stieg die Zahl der zerstörten Jucla-Raumer. Und mit jedem zerschossenen Schiff stieg die Wut der Juclas, brachte ihr Blut nur noch stärker zum Kochen. »Wir senden auf allen Frequenzen. Du kannst sprechen!« Carmyn versuchte, all ihre Überzeugungskraft in ihre Worte zu legen. »Hier spricht Carmyn Oshmosh, Kommandantin der AVACYN. Wir werden uns zurückziehen. Es geht für uns alle nur noch um das nackte Überleben. Niemand muss sich schämen, wenn er jetzt sein Leben in Sicherheit bringt. Die Gelegenheit zur Rache wird kommen, aber jetzt müssen wir unser Heil in der Flucht suchen. Mein Schiff und meine Besatzung sind mir anvertraut, und ich muss mich dieser Verantwortung als würdig erweisen. Als Kommandantin ist es meine oberste Pflicht, Schiff und Crew zu retten. Mit jedem Schiff, das wir heil aus dieser Feuerzone bringen, steigen unsere Chancen für einen effizienten Rückschlag. Mehr als diesen Rat kann ich euch nicht geben!« Sie unterbrach die Verbindung, konnte nur hoffen, dass ihre Worte bei den Kommandanten der Juclas Wirkung zeigten. »Flucht liegt nicht gerade in der Natur dieser Burschen.« Myreilunes Stimme klang seltsam leise. Das tausendfache Sterben ging an der sonst eher spöttischen Frau nicht spurlos vorbei. Die Kommandantin nahm es zur Kenntnis und nickte. »Du kennst den Kurs. Bring uns raus aus dieser Hölle!« Jeder ist seines Vorteils Programmierer. Zamptaschs Geflügelte Worte
Die Rache der Juclas
5. Atlan Zamptasch humpelte fluchend wieder los, eine steile Ebene hinauf, die mit Geröllbrocken übersät war. Ich folgte ihm und sah kurz zu Boden; zum Glück hinterließen wir kaum Spuren. Aber das würde vermutlich keine Rolle spielen. Mit Infrarot-Sichtgeräten oder Individualtastern konnte man uns deutlich wahrnehmen und auch noch Stunden später feststellen, wohin wir uns gewandt hatten. Es war aberwitzig. Wie wollten wir uns ohne Waffen und Ausrüstung gegen Zaqoor durchsetzen? Nicht einmal die ureigene Fähigkeit der Cappins half uns weiter. Die Ercourras waren durch die Bank keine Pedotransferer. Diese Eigenschaft fehlte ihnen zur Gänze. Ich stöhnte auf und blieb kurz stehen. Die rasenden Schmerzen in meinen Schläfen zwangen mich, kurz die Augen zu schließen. Die Auswirkungen dieses Einsatzes des Flammenstaubs schienen wesentlich schlimmer zu sein als die des letzten, mit dem ich die Datenbänke des Cappin-Schiffs manipuliert hatte. Ein kurzer, brennender Schmerz auf der Haut veranlasste mich, die Augen wieder zu öffnen. Aus den dunklen Wolken am Himmel hagelte es auf uns herab; eisige Splitter hämmerten auf uns ein und drohten den mittlerweile getrockneten Schlamm abzusprengen. Zamptasch kniete an einem Hang vor einem dichten Gebüsch, bemühte sich, die dornigen, spärlich bewachsenen Äste zur Seite zu biegen. »Worauf wartet ihr?«, zeterte er gegen den Sturm an. »Steht nicht da rum und haltet Maulaffen feil! Helft mir lieber!« Abenwosch-Pecayl 966. lief zu ihm und bog gemeinsam mit dem Alten die dicken Äste zurück. Ich taumelte zu ihnen, versuchte, nicht auf den Schweißausbruch zu achten, der meinen Körper trotz des eisigen Ha-
21 gels übermäßig erhitzte. Der alte Querulant warf mir einen misstrauischen Blick zu, als ich neben ihm niederkniete. Ich konnte mir denken, was ihm durch den Kopf ging: Was hatte meine plötzliche Schwäche zu bedeuten, welche Folgen hatte sie für ihn, und wie konnte er sie eventuell ausnutzen? Doch damit konnte ich mich befassen, sobald es so weit war. Jetzt ging es darum, die nächsten Minuten zu überstehen. Ich glaubte, durch das Toben des Sturms wieder jenes Brummen hören zu können, das Zamptasch zu der überstürzten Flucht den Hügel hinauf veranlasst hatte. Abenwosch hat Recht, konstatierte der Extrasinn. Wenn du es durch den Sturm hören kannst, wird es kein einzelner Zaqoor-Krieger in einem Kampfanzug sein. Rechne damit, dass ihr von einem Gleiter oder gar einem kleinen Beiboot verfolgt werdet. Ich stimmte seiner Einschätzung zu. Umso mehr interessierte mich, warum Zamptasch diese Hektik und ungewohnte Aktivität an den Tag legte. Ich beugte mich vor und machte hinter dem Buschwerk eine Öffnung in der Hügelflanke aus, durch das Gestrüpp gut, wenn nicht sogar perfekt vor den Blicken verborgen, wenn man nicht wusste, wo man zu suchen hatte. Die Dornen rissen mir die Haut auf, als ich mich durch das Gebüsch zwängte und hinter dem mürrischen Alten bäuchlings in das Loch kroch. Hinter uns schnappten die Äste wieder zurück, als Abenwosch mir folgte. Schon nach zwei, drei Metern war es so dunkel, dass ich kaum noch die Hand vor den Augen sehen konnte. Aber ich merkte, dass der niedrige Gang vor uns deutlich höher wurde, so hoch, dass ich sogar aufrecht stehen konnte. Ich hörte ein Kratzen, ein Scharren, dann schloss ich überrascht die Augen, als vor mir ein punktförmiges Aufleuchten im Dunkeln zu einem flackernden Licht wurde. Ungläubig starrte ich Zamptasch an, der eine brennende Fackel in der Hand hielt.
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Uwe Anton
»Ich war schon mal hier«, sagte der Alte. »Die Höhle führt tief in die Hügelkette. Sind wir hier sicher?« Ich zuckte die Achseln, kroch weiter, bis ich stehen konnte, und richtete mich auf. Abenwosch tat es mir gleich. »Wenn wir Glück haben, schirmt das Gestein uns vor den Ortungsgeräten der Zaqoor ab. Und der Sturm draußen tut vielleicht sein Übriges dazu. Aber ich kann es nicht sagen. Wir sollten lieber davon ausgehen, dass die Garbyor über hervorragende Instrumente verfügen.« »Je tiefer wir in die Höhle eindringen, desto schwerer fällt die Ortung, nicht wahr?« »Davon können wir ausgehen«, bestätigte ich. »Worauf warten wir dann noch?«, fragte der Anführer des Ercourra-Clans. Zamptasch räusperte sich. »Wie gesagt, ich war schon einmal hier. Ich habe die Höhle zufällig bei einem Thein entdeckt und später dann die Fackel mitgebracht, um sie zu erkunden. Wer weiß, wozu man solch ein Versteck noch einmal brauchen kann …« »Deine Voraussicht hat sich als nützlich erwiesen«, sagte ich. Er lachte gackernd. »Ja, der alte, nutzlose Zamptasch, der von den meisten Angehörigen seines Clans bis aufs Blut gehasst wird …« »Weil du sie in der Vergangenheit schmählich im Stich gelassen hast!«, rief Abenwosch und machte drohend einen Schritt auf den Alten zu. Ich trat dazwischen. »Das tut jetzt nichts zur Sache. Was willst du uns sagen, Zamptasch?« »Die Sache hat nur einen Haken. Die Höhle führt kilometertief in die Hügel … aber ich habe bei all meinen Exkursionen hier nie einen zweiten Ausgang gefunden.«
* Ich dachte kurz nach. »Das spielt im Augenblick keine Rolle«, sagte ich. »Jetzt geht es nur um unser nacktes Leben. Abenwosch hat Recht, je tiefer wir in die Höhle eindrin-
gen, desto unwahrscheinlicher ist es, dass die Zaqoor uns finden werden. Zamptasch kennt sich hier aus, er kann uns notfalls wieder zum Ausgang zurückführen. Warten wir hier eine Weile ab. Hier sind wir auch vor dem Sturm geschützt …« »Wie lange willst du dich hier verkriechen?« Abenwosch-Pecayl 966. wischte sich blauschwarzes Haar aus der Stirn, seine grauen Augen funkelten. »Bis Hunger und Durst uns wieder hinaustreiben?« Fast hätte ich über diesen zwölfjährigen, aufbrausenden und jähzornigen Knirps gelacht. Aber er war der neue Chef seines Clans, und wenn wir Eptascyn lebend verlassen wollten, mussten wir zusammenarbeiten. »Nein.« Ich lächelte schwach. »Nur so lange, bis wir uns etwas erholt und über unsere Lage nachgedacht haben. Eine planlose Flucht ist zum Scheitern verursacht. Oder seht ihr das anders?« Abenwosch schüttelte zögernd den Kopf. Zamptasch drehte sich um und stapfte, die Fackel in der einen und den Gehstock in der anderen Hand, tiefer ins Innere der Hügelkette.
* Um niedrige Passagen zu überwinden, ließen wir uns auf Hände und Füße hinab. Meistens konnten wir jedoch aufrecht gehen und mussten nur darauf achten, nicht auf nassem Gestein auszurutschen. Immer wieder stießen wir auf einen unterirdischen Bach, der unseren Weg kreuzte. Verdursten würden wir also nicht. Schon nach wenigen hundert Metern gelangten wir an eine Abzweigung. Von da an tat sich ein regelrechtes Höhlensystem vor uns auf. Potenziellen Häschern würde eine Verfolgung nun schwerer fallen. Zamptasch ging zielstrebig voran, dem tiefsten Ende des Höhlensystems entgegen, und wir folgten ihm, wobei ich Mühe hatte, mit den beiden Juclas mitzuhalten, obwohl sie nicht die sportlichsten Vertreter ihres Stammes waren
Die Rache der Juclas und über keine nennenswerte Kondition verfügten. Der Flammenstaub macht dir zu schaffen, stellte der Extrasinn lapidar fest. Wesentlich stärker als beim letzten Mal. Ignoriere die Symptome nicht, sie haben etwas zu bedeuten. Du wärest wirklich ein Narr, würdest du dein Vorhaben in die Tat umsetzen. Mein Vorhaben?, wiederholte ich unschuldig. Lenke nicht ab! Du weißt, dass die Zaqoor eure Spuren finden werden. Der Höhleneingang kann noch so gut getarnt sein, sie werden ihn entdecken. Sie werden euch in die Höhle folgen und früher oder später stellen. Du hoffst, mit Hilfe des Flammenstaubs aus dieser Sackgasse zu entkommen. Ich lachte leise auf. Mit Hilfe des Flammenstaubs? Mir ist durchaus klar, wie schlecht es mir geht, wenn ich ihn einsetze. Offensichtlich aber nicht, dass es dir von Mal zu Mal schlechter geht. Ich zögerte kurz. Die Parameter sind klar, erwiderte ich dann. Je unwahrscheinlicher oder bedeutungsvoller das Ereignis ist, das ich mir herbeiwünschen will, desto größer ist meine Abnutzung. Deshalb kann ich keine Hilfsflotten herbeirufen, deswegen kann ich die Zaqoor nicht einfach zum Teufel schicken. Noch nie hatte ich die Erregung des Logiksektors so deutlich gespürt wie jetzt. So einfach ist die Sache nicht. Was ist unwahrscheinlicher, was bedeutungsvoller? Ist es unwahrscheinlicher, dass ein Zaqoor-Krieger, der dich bedroht, an einem Ausfall seines Gravopaks zugrunde geht oder dass ein Lordrichter an einem Gehirnschlag stirbt? Dass ein Raumschiff explodiert, weil die Energiekupplung einer Speicherbank versagt, oder dass eine Flotte untergeht, weil eine Sonne, die ihr Ortungsschutz bietet, zehntausend Jahre vor der prognostizierten Zeit zur Nova wird? Ich war erleichtert, dass Zamptasch mich einer Antwort enthob. »Weiter geht es nicht«, sagte er und hielt die Fackel in einen
23 Raum mit einer halbkugelförmigen Decke. Zwanzig Mann hätten auf dem harten Steinboden Platz finden können, mehr nicht. »Wie ich schon sagte, es gibt keinen Ausgang. Aber weiter können wir uns in diesen Höhlen nicht von den Zaqoor entfernen.« Ich schleppte mich die letzten Schritte weiter, lehnte mich mit dem Rücken gegen eine Felswand und rutschte langsam hinab. Mein Körper fühlte sich geschunden an wie nach einer fast gescheiterten ARK SUMMIA-Prüfung, in meinen Schläfen tobte der Schmerz. Ich brauchte dringend ein paar Augenblicke der Ruhe. »Dann werden wir uns jetzt etwas Erholung gönnen«, sagte ich, »in Ruhe über unsere Lage nachdenken und nach Auswegen suchen.« Zamptasch sah mich mit einer Mischung aus Zorn und entsetztem Unverständnis an, doch es war mir gleichgültig. Ich wollte mich nur eine Stunde ausruhen und wieder zu Kräften kommen. Ich schloss die Augen.
* Als ich sie wieder öffnete, starrte ich in ein Gesicht voller Aknenarben. »Wir haben uns Sorgen um dich gemacht«, sagte Abenwosch. »Bist du krank?« Ich würde den Teufel tun und ihnen etwas vom Flammenstaub erzählen. »Nur erschöpft. Macht euch um mich keine Sorgen.« Der Clanführer schwieg. Er wusste, dass ich unsterblich war, Ovaron gekannt hatte, über eine Erfahrung verfügte, die die seine weit in den Schatten stellte. Vom Augenblick unserer Flucht an hatte er sich mir unterstellt und war bislang gut damit gefahren. Er lebte noch. Ich hatte ihn gerettet. Jetzt hatte er keine Alternative, außer, die Flucht allein fortzusetzen, die Flucht über einen Mond, der mittlerweile fest in der Hand der Zaqoor war, die ihn umbringen wollten. Ihm wie mir war klar, dass das nur der
24 Anfang war. Wir wussten, was auf Eptascyn passiert war. Aber wie sah die Situation im Orbit aus? Was war mit den heimatlichen Schiffen geschehen? »Wir müssen uns Sorgen machen«, erwiderte er. »Unsere Lage ist ziemlich aussichtslos. Wir haben die Zaqoor nicht abschütteln können. Sie werden den Höhleneingang finden, haben ihn vielleicht schon gefunden. Vielleicht sind sie nur noch hundert Meter von uns entfernt.« Ich nickte. Genauso schätzte ich die Lage auch ein. »Wie lange habe ich geschlafen?« Er warf mir wieder einen besorgten Blick zu. »Drei Stunden.« Drei Stunden. Normalerweise hätte ich dank des Zellaktivator erfrischt und ausgeruht aufwachen müssen, doch ich fühlte mich wie durch die Mangel gedreht. »Du hast Recht«, sagte ich. »Wir müssen etwas unternehmen. Ich werde jetzt etwas unternehmen.« Abenwosch sah mich fragend an. Ich rate dringend davon ab, es jetzt schon zu versuchen, warnte der Extrasinn. Warte, bis dein Leben in akuter Gefahr ist, bevor du den Flammenstaub wieder einsetzt. Die Zaqoor sind in der Höhle, argumentierte ich, oder werden zumindest jeden Augenblick in sie eindringen, und wir stecken hier fest. Wie lange soll ich warten? Bis ein Krieger vor mir steht und seine Waffe auf mich richtet? Dann ist es zu spät! Du erfährst noch immer am eigenen Leib, welche Folgen der letzte Einsatz des Flammenstaubs gezeigt hat. Willst du dich endgültig zugrunde richten? Ich antwortete nicht, sondern konzentrierte mich auf das Flimmern in meinem Kopf, das nun hinaustreten und über mir sichtbar werden würde. Doch dann glitten meine Gedanken fort von der ultimativen Macht in mir, wanderten zurück in meine Vergangenheit. Ich schrie auf. »Du Mistkerl!«, fauchte ich, als mir klar wurde, was geschah. Um mich in meiner Konzentration abzulenken, griff der Logiksektor zu einer List: Er be-
Uwe Anton schwor Bilder aus meinem fotografischen Gedächtnis herauf, und ich konnte mich nicht dagegen wehren. Ich sah den alten Bekannten so deutlich vor mir, als wäre es gestern gewesen, dass wir Abschied voneinander genommen hatten; ach was, als würde er vor mir stehen, wie er leibte und lebte. Ich wollte lachen, doch das Geräusch geriet zu einem heiseren Gackern. Seit Jahrtausenden hatte ich nicht mehr an den Mann gedacht, und dass es in diesem Augenblick geschah, war im Nachhinein mehr als nur ein Zufall; es schien ein Wink mit dem Zaunpfahl zu sein. Der Extrasinn wusste genau, was er tat. Ich hatte den Mann während meines Jahrtausende währenden Exils auf der primitiven Erde kennen gelernt. Sein Name lautete ausgerechnet Frohstein, und er bestritt seinen Lebensunterhalt mit der Teilnahme an Lotterien, Tombolas und Preisausschreiben, während er darauf wartete, endlich seinen alten Onkel beerben zu können, einen unermesslich reichen Fabrikanten. In der kurzen Zeit, die das Schicksal uns zusammengeführt hatte, hatte Gustav – so sein Vorname – jeden einzelnen dieser Wettbewerbe gewonnen, an dem er teilgenommen hatte. Er musste nur ein Los kaufen, und der Hauptgewinn war ihm sicher. Es widerstrebte ihm, seine Hängematte zu verlassen, und körperliche Arbeit war ihm zuwider, auch wenn er sie nur vom Hörensagen kannte. Wozu auch? Bei seinem Glück? Damals, vor über dreitausend Jahren, hatte ich noch nichts vom Flammenstaub gewusst. Andernfalls hätte ich annehmen müssen, dass ein winziger Teil davon aus der Intrawelt entwichen und irgendwie in ihn geglitten war. Mein Freund Frohstern hatte es sogar zu einer Fußnote in den Geschichtsbüchern geschafft, zwar nur zu einer winzigen, aber immerhin. Nachdem er als Einwanderer im Land der unbegrenzten Möglichkeiten seinen Namen amerikanisiert hatte, war er zum Namensgeber einer vierrädrigen Kutsche mit zwei Innensitzen sowie Fahrer- und Rück-
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sitz geworden. Eigentlich hatte ich dieses Gefährt konstruiert und ihn nur als Erfinder vorgeschoben. Er hatte keinen Handschlag tun müssen und lediglich von dem neuen Modell finanziell profitiert, was ich damals als weiteren Ausdruck seines Glücks abgetan hatte. Aber ich hatte keine Wahl gehabt, ich musste damals … Aber das war eine andere Geschichte. »Bitte hör auf«, flüsterte ich. »Willst du mich umbringen, bevor der Flammenstaub es tut oder die Zaqoor?« Tatsächlich schien der Logiksektor einzusehen, dass er es übertrieben hatte, denn die zwanghaften Erinnerungen an den Glückspilz wurden schwächer und schwanden schließlich ganz. Du willst es wirklich wagen? »Siehst du eine andere Möglichkeit?« Der Extrasinn schwieg. Und gab mich frei. Ich überlegte kurz, doch noch bis zum letzten Moment zu warten und dann eine große Lösung zu wagen, doch hier hatte meine bessere Hälfte zweifellos Recht: Das würde ich nicht überleben. Für meinen Plan war nur eine verhältnismäßig kleine Kraftanstrengung nötig, die ich wohl überstehen würde. Dennoch pochten die Schmerzen in meinen Schläfen, als wollten sie mir den Schädel sprengen. Ich kämpfte gegen die Pein an und konzentrierte mich erneut, und scheinbar aus dem Nichts bildete sich wieder schwarzer Glitzerstaub, der meinen Kopf und den Körper umflirrte und winzigste Lichtreflexe zurückwarf. Im nächsten Moment erklang das dumpfe Grollen, und von den Höhlenwänden und der Decke lösten sich erste Steine und stürzten herab. Doch keiner davon traf uns. Das wäre auch äußerst kontraproduktiv gewesen.
* Zamptasch stieß einen leisen Schrei aus
und wirbelte zu mir herum. Die Falten in seinem Gesicht, vor allem um die Augen und Mundwinkel, die ihm sowieso schon ein verkniffenes, wenn nicht sogar verbittertes Aussehen gaben, schienen sich noch tiefer gegraben zu haben. Die Haut schien ihm schlaff vom Fleisch zu hängen. In seinem Blick stand nackte Panik. Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder, öffnete ihn erneut. »Das war … ein Erdbeben!« Ich nickte und blieb äußerlich gelassen sitzen. In meinem Kopf tobten die Schmerzen und verhinderten, dass ich einen klaren Gedanken fassen konnte. Ich war im Augenblick einer Diskussion mit den Juclas nicht gewachsen. Abenwosch-Pecayl 966. packte mich an meiner noch immer durchnässten Brustbekleidung. Er war nicht minder erregt als der mürrische Alte. »Wir werden verschüttet!« Wie zur Bestätigung seiner Worte grollte es tief im Inneren des Hügels erneut. Knirschend bewegten sich Gesteinsmassen, erneut lösten sich einzelne Brocken und stürzten zu Boden. Zamptasch schrie leise auf, als ein plötzlicher Luftzug die Fackel löschte und uns buchstäblich in Dunkelheit hüllte. Ein weiterer Erdstoß folgte, diesmal ein so heftiger, dass ich Flüche und ängstliches Geschrei hörte. Zamptasch oder Abenwosch – oder beide – hatten den Boden unter den Füßen verloren. Ich konnte mir bildlich vorstellen, wie sie verzweifelt durch die Finsternis krochen, von der Panik ergriffen, jeden Augenblick von weiteren Gesteinsbrocken erschlagen zu werden. Ein Erdbeben in einer Höhle, die nur einen Ausgang hatte, der wahrscheinlich verschüttet werden würde … war es da besser, schnell durch Steinschlag zu sterben oder langsam zu ersticken? Oder irgendwann von den Zaqoor aufgegriffen zu werden, die sich zweifellos in der Nähe aufhielten? Ich konnte mir die beiden Juclas vorstellen, und dann sah ich sie. Nicht deutlich, nur verschwommene Umrisse, graue Schatten vor schwarzem Hintergrund. Sie tasteten tatsächlich mit den Armen über den Boden, be-
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griffen noch nicht, was das spärliche Licht zu bedeuten hatte. Die Schmerzen in meinem Kopf waren so stark, dass ich kaum sprechen konnte. »Hört auf!«, krächzte ich. »Wartet! Seid nicht so hektisch! Das Beben hat aufgehört! Schmeckt ihr nicht die frische Luft? Und seht ihr nicht das Licht?« Abenwosch zerrte mich scheinbar mühelos hoch. Diese Kraft hätte ich seinem kleingewachsenen, wenn auch muskulösen Körper nicht zugetraut. »Was ist gerade passiert?«, keuchte er. »Das warst du, nicht wahr?« Ich wollte den beiden Juclas nichts vom Flammenstaub verraten, aber es konnte auch nicht schaden, wenn ihr Respekt vor mir wuchs. Der Extrasinn hatte Recht behalten: Die Anstrengung hatte mich schwer mitgenommen. Nicht einmal mit Dagor-Techniken, die ich seit 13.000 Jahren beherrschte, hätte ich mich von Abenwoschs Griff befreien können, so schwach war ich. Ich war jetzt auf die beiden Ercourras angewiesen. Und es konnte nicht schaden, dass sie mich für einen Gott hielten, für einen Allmächtigen. Vielleicht verhinderte das, dass sie mich einfach zurücklassen würden. »Ja«, sagte ich. »Ich habe einen Ausgang geschaffen, der kilometerweit vom Eingang in das Tunnelsystem entfernt ist. Und ich habe dafür gesorgt, dass die Zaqoor, die uns in die Höhlen gefolgt sind, allesamt verschüttet worden sind.« Was du nicht willst, das dir man tu, das füge nur den andern zu. Zamptaschs Geflügelte Worte
6. Atlan Der Schmerz brannte nicht nur in meinen Muskeln, sondern hauptsächlich in meinem Kopf, während ich bäuchlings durch den schmalen, röhrenförmigen Schacht kroch,
den der Flammenstaub erzielt hatte. Ein Schacht, der wie für mich geschaffen war. Effizient, aber sparsam. Keine spitzen Felszacken, keine scharfkantigen Ausprägungen am Boden, an denen ich mich verletzen konnte, mit gerade genug Platz, dass ich einigermaßen bequem vorankam. Allmählich wurde die Luft etwas stickig, doch das Licht am Ende des Tunnels war nicht mehr fern. Nur noch ein paar Meter, fünf oder zehn, und wir hatten die Oberfläche erreicht. Auf den Flammenstaub war eben Verlass. Flammen schienen auch in meinen Armen zu lodern, als ich den Kopf endlich ins Freie schob, mich an den Rändern der Öffnung abstützte und mich aus dem Erdloch arbeitete. Ich schloss kurz die Augen, geblendet von Sonnenlicht, das graue Wolken durchdrang, die sich wohl bald in einem Sturm austoben würden. Ich richtete mich auf, stand schwankend da und beobachtete, wie zuerst Abenwosch und dann Zamptasch an die Oberfläche kletterten. Ein plötzlicher Schwindelanfall zwang mich, die Augen zu schließen. Ich fluchte leise. Wieso half der Zellaktivator nicht gegen die Auswirkungen des Flammenstaubs? Die Kosmokraten hatten beides geschaffen. Wieso war der Chip unter meinem Schlüsselbein machtlos dagegen, während die Rhoarxi nicht oder nur kaum unter nennenswerten Nebenwirkungen litten? Müßige Gedanken. Es war, wie es war. Ich sah mich um. Der Bach, dem wir bis zu den Hügeln gefolgt waren, floss wenige Meter entfernt durch karges, gemächlich ansteigendes Gelände, das am Horizont wieder von einem Montonenwald abgelöst wurde. Zamptasch orientierte sich kurz und zeigte dann in die Richtung, in die ich sah. Ich kämpfte gegen den Schwindel an und nickte. Energisch, wie ich mir einbildete. Wir setzten uns in Bewegung. Den beiden Ercourras ging es kaum besser als mir, doch im Augenblick kam es nur darauf an, ausreichend Meter zu machen und etwaige Verfolger abzuschütteln.
Die Rache der Juclas Nach zwei, drei Kilometern hatte ich einen Laufrhythmus gefunden, der es mir ermöglichte, wieder ein paar Worte mit meinen Begleitern zu wechseln. »Höhlen gibt es auch hier. Warum hast du den Sain als Ziel unserer Flucht vorgeschlagen, Zamptasch?« »Ein Ziel ist so gut wie das andere«, gab der Querulant kurz angebunden zurück. Ich gab mich damit nicht zufrieden. Solch einen beschwerlichen Marsch würde der Alte nicht vorschlagen, würde er sich nicht etwas davon versprechen. »Du weißt mehr über Eptascyn als die meisten anderen lebenden Juclas …« Lauernd sah er mich an. »Dreimal warst du bereits hier …« »Viermal!«, korrigierte er mich. »Und viermal in den Diensten eines anderen Clans«, warf Abenwosch höhnisch ein. »Rück raus mit der Sprache, alter Mann! Es gibt viele Gerüchte über den Sain …« Zamptasch blieb stehen. Ich stieß ihn an, und er stapfte weiter. »Na schön, ich habe diese Wälder mehrmals durchstreift. Dieses Gebirge ist in der Tat etwas Besonderes. Ich habe auf … Ausflügen dorthin etwas gefunden …« »Auf heimlichen!«, sagte der Clanführer. »Die er bestimmt unerlaubterweise mit technischer Ausrüstung getätigt hat, die auf Eptascyn verboten ist!« Zornig fuhr der ältere zu dem jüngeren Ercourra herum. »Dieser Jungspund hat mir nichts zu sagen und jetzt, da die meisten Anführer von den Zaqoor umgebracht worden sind, erst recht nicht!« Ich trat zwischen die beiden. Ich ging davon aus, dass Abenwosch Recht hatte; auch die heftige Reaktion des Alten sprach dafür. Zamptasch war ein skrupelloses Schlitzohr. Alles war für ihn erlaubt, solange er nicht erwischt wurde, auch ein Verstoß gegen die ehernen Regeln seines Volkes. Aber das interessierte mich nicht. Ich sah ihn auffordernd an. »Was hast du gefunden?« Er zögerte, schien zu überlegen, wie er sich vor einer Antwort drücken könnte. An-
27 dererseits musste er uns schon ein paar Brocken hinwerfen, wollte er, dass wir ihn zum Sain begleiteten. »Technische Relikte«, sagte er schließlich. »Uralte Funkgeräte, Waffen, Schaltelemente, tief in den Wäldern verborgen, möglicherweise noch funktionsfähig.« Ich horchte auf. Das war wirklich ein guter Grund. »Es gibt Geschichten, Mythen und Sagen über die Bedeutung des Sain, die vielleicht älter als die Juclas selbst sind«, bestätigte Abenwosch nachdenklich. »Ich habe auch so etwas gehört. Und wenn er tatsächlich schon dort …« Ein lautes Fauchen unterbrach ihn und ließ mich ahnen, dass der neunte Oktober 1225 NGZ wirklich nicht mein Tag war. Oder schrieben wir schon den zehnten? Nein, seit dem Massaker waren noch keine 24 Stunden vergangen. Ich legte den Kopf zurück und machte einen dunklen Punkt am wolkenverhangenen Himmel aus, der schnell größer wurde. Schon das Geräusch hatte mich befürchten lassen, dass Abenwosch mit seiner Bemerkung Recht behalten sollte, die er gemacht hatte, als wir uns in der Höhle versteckt hatten. Falls die Zaqoor nach uns – oder beliebigen Überlebenden des Massakers – suchten, würde mehr als einer kommen. Es waren tatsächlich mehrere. Und sie kamen in einem Gleiter.
* Sie hatten uns entdeckt, daran bestand nicht der geringste Zweifel. Wie hätten sie uns hier auch übersehen können? Meine Gedanken rasten. Ich suchte nach Optionen. Es gab keine. Sie mussten uns schon in der Zielerfassung haben. Jeden Augenblick würden sie das Feuer eröffnen. Ich konnte nur hoffen, dass sie Paralysewaffen einsetzten, um uns gefangen zu nehmen und zu verhören … Die Zaqoor haben bei den Hyrscen der
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Uwe Anton
Juclas keine Gefangenen gemacht. Sie haben getötet, wen sie vor die Waffen bekamen. Mir war sofort klar, worauf der Extrasinn hinauswollte. In der Höhle bestand keine unmittelbare Lebensgefahr, bestätigte er, und du hast den Flammenstaub eingesetzt. Und jetzt besteht sie, und du bist zu schwach, um … Ich hörte nicht mehr zu. Der Schmerz tobte noch in meinem Körper, und ich musste meine ganze Willenskraft aufbringen, um etwas zu tun, was ihn ins Unermessliche verstärken würde. Das Fauchen wurde immer lauter, steigerte sich zu einem Crescendo, und mit dem letzten Rest meines Verstands fragte ich mich, wie ein Gleiter, selbst ein Kampfgleiter der Zaqoor, solch einen Lärm verursachen konnte. Scheinbar aus dem Nichts bildete sich schwarzer Glitzerstaub, der meinen Kopf und den Körper umflirrte und winzigste Lichtreflexe zurückwarf, und es wurde dunkel um mich.
* Ich konnte nicht tot sein, denn ich dachte, und wer denkt, lebt. Auch wenn meine Gedanken nur um ein und dasselbe Thema kreisten. Warum beendete ich es nicht? Wenn ich ehrlich zu mir selbst war, konnte ich die Situation nur noch als aussichtslos bezeichnen, und die Schmerzen brachten mich allmählich um. Die Schmerzen, die sich jedes Mal einstellten, wenn ich bewusst oder unbewusst den Flammenstaub einsetzte. Warum verwendete ich dieses Machtmittel nicht in größerem Maßstab? Wie oft hatte ich mich, zumindest innerlich, bereit erklärt, mein Leben für eine Sache zu opfern, an die ich glaubte? Wie oft war ich drauf und dran gewesen, freiwillig in den Tod zu gehen? Bislang war es noch nie dazu gekommen.
Aber jetzt … Jetzt musste ich mich nur erholen, wieder zu Kräften kommen, und der Flammenstaub würde mir endlich die Möglichkeit bieten, meiner Existenz einen kosmischen Sinn zu geben, der allem entsprach, wofür ich gelebt hatte. Ich hatte oft darüber nachgedacht, in den Stunden, in denen ich trotz meiner Erschöpfung keinen Schlaf fand, weil die Schmerzen mich quälten oder ich einfach zu ungeduldig war, weitermachen wollte. Der Flammenstaub war größer als alles, worauf ich jemals gestoßen war. Er gab mir Möglichkeiten, die mich um den Verstand brachten, wenn ich bis zur letzten Konsequenz darüber nachdachte – was ich in letzter Zeit immer öfter tat. Absolute Konzentration, absoluter Schmerz, vielleicht sogar der Tod, den ich dafür gern in Kauf nehmen würde, und … ja, so abwegig der Gedanke auch war, die Kosmokraten könnten hier erscheinen oder einer ihrer Boten. Vielleicht Lae, jenes ätherische Wesen, das gottgleich zwischen die Rhoarxi getreten war und ihnen den Flammenstaub gebracht hatte. Und ich konnte dann weiterhin die Wahrscheinlichkeiten beeinflussen und eventuell sogar einen guten Handel mit den Hohen Mächten abschließen. Kommt, Jungs, setzen wir uns auf ein Riept zusammen. Ein hervorragendes, untergäriges, schäumendes Bier, aber das wisst ihr ja sicher. Ihr wisst ja alles. Ach ja, seht mal in euren Datenspeichern nach oder was auch immer ihr an deren Stelle habt, und ihr werdet feststellen, dass es unbedingt nötig ist, mich wieder hinter die Materiequellen zu holen und dort ungestört wirken zu lassen, wenn ihr das Chaos in die Schranken weisen wollt. Zuerst werden wir die Lordrichter in Küchenschaben verwandeln, dann haben wir dieses unwichtige Gesocks aus dem Kopf und können uns wichtigeren Dingen widmen. Zum Beispiel der Freiheit für die Lokale Galaxiengruppe, für die Mächtigkeitsbal-
Die Rache der Juclas lung eures Kumpels ES. Selbstverständlich schützt ihr uns weiterhin vor allen Übergriffen der Chaotarchen. Sie müssen uns natürlich in Ruhe lassen und unsere Übergriffe auf ihre Gefilde ohne Repressionen hinnehmen. Und wenn ihr mir noch plausibel erklären könnt, was eine Superintelligenz eigentlich ausmacht, können wir ja mal überlegen, die Menschheit zu einer zu machen. Und nebenbei nehmen wir uns dann noch die Arkoniden vor, die in letzter Zeit einen Kurs fahren, der mir so gar nicht behagt, und machen sie zu besseren Menschen. Was haltet ihr davon, Jungs? Absolute Konzentration … Wahrscheinlich würde ich sterben, wenn ich die Wahrscheinlichkeiten auf diese Weise manipulieren wollte, oder ich war dazu gar nicht imstande, aber ich konnte es doch immerhin versuchen. Sollte ich überleben, hatte ich endlich Ruhe für die nächsten zehntausend Jahre. Keine Abenteuer mehr, an denen ich mich aufreiben musste. Keine schreckliche Hatz über einen Mond mit öden Nadelwäldern, verfolgt von Zaqoor. Und wenn nicht … nun gut. Das Universum würde auch ohne mich auskommen. Ich spürte, wie ich innerlich verbrannte, und mir wurde klar, dass ich mich in eine Ohnmacht zurückgezogen hatte, um den Schmerz überhaupt ertragen zu können. Aber das genügte nicht, meine selbstquälerischen Gedanken verstärkten die Pein nur. Tiefer … ich musste mich noch tiefer in mich zurückziehen, in einen Traum, der mich alles vergessen lassen würde. Ich beherrschte die dafür notwendigen Techniken, und auch wenn ich nur halb bei Bewusstsein war oder nur halb bei Verstand, ich wusste noch, wie ich sie anwenden konnte. Ich wandte sie an. Plötzlich sah ich mich, wie ich über einen Planeten schritt. Vielleicht Arkon, meine eigentliche Heimat, vielleicht auch Terra, die Welt, die in den letzten 10.000 Jahren wohl zu meinem Zuhause geworden war. Falls ich überhaupt noch eins hatte. Aber es spielte keine Rolle,
29 welche Welt es war. Ich schritt über eine weite Ebene aus, umgeben von einer Aura aus schwarzem Glitzerstaub, der meinen Kopf, aber auch den Körper umflirrte und winzigste Lichtreflexe zurückwarf. Ich war nicht allein. Hinter mir hörte ich das Dröhnen schwerer Hufe. Ich drehte mich um und sah vier Cavans, Huftiere mit langen schlanken Läufen, die in Spaltklauen endeten. Ihre Schweife waren zwei Meter lang, auf langen Hälsen saßen Köpfe, deren Vorderschädel von großen Hornplatten bedeckt waren. Nur die beiden großen Facettenaugen und Luftöffnungen, deren Ränder von Hornwülsten geschützt waren, unterbrachen die Panzerungen. Über die Stirnen zogen sich Knochenkämme, die sich über den Hals hinab als aus Borsten bestehende starre Mähnen fortsetzten. Die Zähne der Tiere waren lang und spitz, die Ohren kurz, das Fell weiß, soweit ich es sehen konnte, denn auch ihre mannshohen Körper wurden von ledernen Panzern geschützt. Ich kniff die Augen zusammen. Auf den Cavans ritten vier humanoide Gestalten, wahre Giganten, die die Reittiere kaum tragen konnten. Aus ihnen schlugen meterhohe Flammen, deren Spitzen dann zu glühendem Staub zerfielen. Flammenstaub. Nebel zog auf und wurde mit jedem meiner Schritte dichter. Schließlich konnte ich die vier Reiter hinter mir nur noch als verschwommene, gelb leuchtende Schemen ausmachen. Ich hörte auf, über die Welt zu schreiten, als vor mir im fast undurchdringlichen Nebel abrupt zwei Gestalten auftauchten, ein Mann und eine Frau, die hier lebten. Ich konnte nicht sagen, ob ich sie vielleicht kannte; mein fotografisches Gedächtnis ließ mich im Stich. Was vielleicht auch daran lag, dass ihre Gesichtszüge seltsam unfertig wirkten, als wären sie gar keine eigenständigen Individuen. Einer der vier Reiter preschte mit seinem Cavan vor. Die Haut des Tieres war bleicher
30 als der Nebel. Das dröhnende Stampfen der Hufe wurde zu einem Donnern, das seinen Widerhall im düsteren, mit schwarzen Wolken verhangenen Himmel fand. Der gesichtslose Mann trat vor und schaute mich an, aber nur einen Augenblick lang. Ich sah, dass die Haare auf seinem Kopf und dem Körper sich aufrichteten, dann wandte er den Blick voller Entsetzen wieder ab. Wieso brachte er mir solch ein Entsetzen entgegen? »Du bist der, der über die Erde wandelt«, sagte er so leise, dass ich ihn kaum verstand. »Du bist der, der sieht und hört und über jeden das Urteil fällt.« Sein Gesicht veränderte sich in einem wahnwitzig schnellen Stroboskop der Wahrnehmung, wurde in Sekundenbruchteilen zum Gesicht jedes Mannes, der je auf der Erde gelebt hatte. »Der bin ich«, bestätigte ich. »Ich allein sehe und höre, sehe alle Menschen und entscheide, wer frei ist und wer Schuld auf sich geladen hat.« Ich behandelte sie alle gleich, und der Flammenstaub floss zusammen und bildete eine goldene Leiter, die nach oben und unten führte. Trompeten und Flöten erschallten zu schrecklicher Musik, doch dann sangen Millionen Engel. Ich wandelte weiter und hielt Gericht, und der Flammenstaub pulsierte heiß in mir und half, die letzten Entscheidungen zu treffen, für jeden Mann, für jede Frau der Erde. Wind kam auf, wurde zu Sturm, zu Wirbelsturm, der Dornenbüsche über die Ebene wehte. Doch der Sturm entstand in mir, und nur der Flammenstaub konnte ihn beenden. Ich hörte schreckliches Geschrei, und durch den schwarzen Glitzerstaub um mich herum vereinigten sich Alpha und Omega in mir. Ich sah die Ehrbaren und die Unehrenhaften, und der Flammenstaub sonderte sie voneinander ab. Ich rief die Meinen zu mir, und die Weisen knieten vor meinem Thron, während die Anderen der Flammenstaub verzehrte. Das war in letzter Konsequenz der Flammenstaub. Alpha und Omega. Das hatte er aus mir gemacht – oder würde er aus mir
Uwe Anton machen, falls ich es zuließ. Ich erkannte, dass es nur eine Möglichkeit gab, mit dem Flammenstaub umzugehen. Ich würde mich ihr stellen müssen. Die drei zurückgebliebenen bleichen Cavans preschten zu mir vor. Ihre Hufe ließen die Ebene erzittern, die ganze Welt. Und mich. Mir wurde klar, dass der linke Reiter Leben hieß, der rechte Tod und der in der Mitte Flammenstaub. Und der vierte war ich selbst. Selbstbeherrschung ist der erste Schritt zur Beherrschung anderer. Zamptaschs Geflügelte Worte
7. Carmyn Oshmosh »Sechs Tage.« Die Schatten um Carmyn Oshmoshs Augen waren dunkler geworden. »Jetzt werden wohl keine mehr kommen.« Ypt Karmasyn nickte verkniffen. »Die Verluste liegen bei fast 56.000 Einheiten.« Seit Stunden saß sie an der Ortung und zählte die ankommenden Einheiten. Mehr als 45.000 Schiffe parkten nunmehr im Ortungsschatten einer namenlosen Sonne, nicht sehr weit von der Sonne Tyss entfernt, aber auch nicht so nah, dass die Zaqoor oder Takerer zufällig darüber stolpern würden. Nur noch 45.000 Einheiten einer einst stolzen Flotte von fast 100.000 … »Du kannst es drehen und wenden, wie du willst, viel mehr werden wohl nicht mehr eintreffen. Ich bin ehrlich gesagt überrascht, dass es überhaupt so viele sind.« Kaystale trat neben Carmyn und sah ihr über die Schulter. An der Kommandantin nagte Erschöpfung. Sie hatte in den vergangenen sechs Tagen eine logistische Großleistung vollbracht, viele der in alle Richtungen geflohenen Schiffe der Juclas abgefangen und in den Ortungsschatten dieser namenlosen Sonne gelotst. Anderen hatte sie die Koordinaten
Die Rache der Juclas des Treffpunkts genannt, die sie von Gandusch bekommen hatte, und sie dann aufgefordert, nach dem Schneeballprinzip weitere Einheiten ausfindig zu machen und zu informieren. Und jetzt warteten sie ab und hielten weiter Ausschau. Doch seit mehreren Stunden war kein weiteres Schiff mehr zu ihnen gestoßen. »Es ist eine Flotte ohne Köpfe.« Carmyn fuhr sich durch das tiefschwarze Haar. »Die Zaqoor haben auf Eptascyn alle bedeutenden und erfahrenen Kommandanten und Anführer getötet. Ich gehe jedenfalls davon aus, dass es auf dem Mond keine Überlebenden gibt.« »Sie haben alle abgeschlachtet, wehrlose Frauen und Männer. Sie saßen da unten fest, ohne Waffen oder eine Möglichkeit zur Flucht. Das war der Fluch ihres Rituals. Keiner hat überlebt. Keiner, Carmyn.« Die Takererin sprach es nicht aus, aber Carmyn wusste auch ohne weitere Worte, dass Atlans Schicksal ungewiss war – oder schon längst entschieden. »Wir müssen Ordnung in diesen Haufen von Hitzköpfen bekommen. Sie werden ungeduldig.« Kaystale spielte auf die Anfragen an, die ununterbrochen in der AVACYN eintrafen. Fast jeder Clan hatte einen neuen Anführer gewählt, und die hatten nichts Eiligeres zu tun, als sich wieder in die Schlacht zu werfen. Sie ignorierten die Tatsache, dass ihre Schiffe teilweise kampfuntauglich geschossen worden oder schlichtweg zu schlecht ausgerüstet waren, um es mit Einheiten der Takerer oder Zaqoor aufnehmen zu können. Geduldig ließ Carmyn die Tiraden der Hitzköpfe über sich ergehen; sie brauchten ein Ventil, um ihrem Zorn Luft zu verschaffen. Kaum ein überlebender Jucla, der nicht einen Angehörigen oder Freund bei dem feigen Angriff verloren hatte. Und alle schrien nach Rache! Carmyn konnte die Sprüche mittlerweile auswendig herunterbeten. »Die Ehre verlangt Genugtuung! Und wenn es unsere letz-
31 te Handlung ist, die Takerer und ihre Verbündeten müssen unsere Wut zu spüren bekommen.«
* Sie nickte Ypt zu und ließ sich mit einem weiteren Jucla-Führer verbinden. Geduldig hörte sie sich seine Worte an, Worte von Blutrache, heiligem Zorn und Vergeltung. »Ich habe Verständnis für eure Gefühle«, antwortete sie schließlich. »Aber wir müssen die Fakten berücksichtigen. Keiner von uns weiß, wie es im Orbit um den Mond aussieht. Jede weitere Handlung muss wohl bedacht sein. Wir haben Späher nach Eptascyn geschickt. Sobald ihre Informationen vorliegen, können wir weitere Schritte überlegen. Dann werde ich über einen offenen Kanal mit allen Anführern sprechen …« Mit den Kapitänen, Kommandanten, Admirälen oder welchen Rang auch immer sie hatten. Gandusch war noch nicht eingetroffen; sie befürchtete, dass sein Schiff zu den Verlusten des Angriffs gehörte. Neben den Ercourras hatten sich Clanangehörige der Sebestyns, Schamenhyns und Murras hier versammelt, dazu die kleinerer Clans wie der Odogryns, Schybenhyrts, Gryncins und vieler andere. »So lange können wir nicht warten. Das Wunsch nach Rache brennt immer heißer in uns!« »Rache ist ein Gericht, das am besten kalt gegessen wird. Wir haben auch Opfer zu beklagen«, fuhr sie etwas versöhnlicher fort. »Atlan ist verschollen, unser Techniker ist tot, und es ist noch nicht vorbei.« Carmyn sah ihr Gegenüber ruhig an. Nur wenn sie die Juclas zu einem besonnenen, einheitlichen Vorgehen überreden konnte, hatten sie mit einem Gegenangriff eine minimale Aussicht auf Erfolg. Aber sie bezweifelte, dass es ihr gelingen würde. Die Stimmung war gereizt genug, selbst auf der AVACYN knisterte die Atmosphäre. »Wir warten noch«, sagte der Jucla. »Aber nicht mehr lange!« Ohne ein weiteres
32 Wort unterbrach er die Verbindung. Die Kommandantin glaubte zu wissen, worauf er wartete: auf Gandusch, den neuen Führer der Murras, des größten Clans. Aber er war noch nicht eingetroffen, und sie befürchtete allmählich, dass er auch nicht mehr kommen würde. »Kaystale, überprüf die Waffensysteme. Wir wissen nicht, wie viel Zeit uns bleibt, wenn die Späher zurück sind.« Carmyn schaltete auf Bordfunk um. »Silesiante, ich erwarte deinen Statusbericht.« Die Ganjasin hatte sich noch nicht gemeldet, ihre Meldung war seit einer Stunde überfällig. Das sah der ansonsten höchst korrekten Maschinistin gar nicht ähnlich. Deshalb hatte die Kommandantin bislang auch darauf verzichtet, die Verzögerung im Protokoll festzuhalten. Das wäre einer Rüge gleichgekommen. »Nur Routinenachrichten von den Spähern. Wir können die ersten in etwa fünf Stunden zurückerwarten.« Ypt nippte an ihrem unverzichtbaren Symbiontengetränk und sah auf die Holos der Ortung, während Myreilune betont lässig in ihrem Sessel lümmelte und einen Riegel Trockenobst kaute. »Wie soll es weitergehen?« Die Pilotin wischte ein paar Krümel von ihrer Jacke. »Atlan kann uns keine Befehle mehr erteilen, und du bist klug genug, um zu wissen, dass unsere Chancen gegen die Takerer und ihre Verbündeten gleich null sind.« Sprach sie vielleicht aus, was einige dachten? Nur weg hier! Das ist nicht unser Kampf. Carmyn konnte nur vermuten. »Solange ich nicht seine Leiche gesehen habe, lebt er und bekommt meine Unterstützung. Jeder, der an Flucht denkt, ist ein Verräter!« Kaystale richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. Der unversehrte Teil ihres Gesichts war angespannt. »Deine Treue in Ehren, aber sieh dich um. Diese Streitmacht besteht aus altersschwachen Raumern und hitzköpfigen Juclas, die nicht schnell genug in den Tod rennen können.« Die Kommandantin stellte fest, dass sich Myreilune diesmal nicht so schnell ein-
Uwe Anton schüchtern ließ. Das rote, künstliche Auge der Takererin schien plötzlich zu glühen. »Wir kehren zurück und werden Atlan suchen. Er kann nicht tot sein!« »Weil du es nicht willst? Manchmal muss man sich den Gegebenheiten stellen und der Realität ins Gesicht sehen.« Langsam beugte Kaystale sich zur Pilotin hinab und hielt das künstliche Ohr, einen drei Zentimeter hervorspringenden Metalltrichter, der camouflage gefärbt war, an Myreilunes Lippen. »Sag das noch einmal. Ich habe dich nicht verstanden.« Die Soldatin knackte mit ihren Fingern. »Schluss jetzt! Warten wir den Bericht der Späher ab. Spart eure Kräfte, ruht euch aus! Es kommt früh genug zum Kampf.« Carmyn legte eine Hand auf Kaystales Arm. Sie konnte die Wut der Takererin verstehen. Myreilune verstand es meisterhaft, einen bis zur Weißglut zu reizen. Das war bei der takerischen Söldnerin jedoch nicht besonders ratsam. Carmyn vermochte nicht zu sagen, ob sie Kaystale im Fall einer Herausforderung zurückhalten konnte. Oder ob sie es überhaupt wollte … »Das letzte Wort in dieser Angelegenheit ist noch nicht gesprochen.« Myreilune hielt inne und drehte sich um. Silesiante taumelte durch das geöffnete Schott herein. Mit bleichem Gesicht sah sie zur Kommandantin, dann zur Ortung. »Wo ist Amendariasch?« Carmyn verstand die Worte kaum, die über die zitternden Lippen der Maschinistin kamen. »Er wollte mir etwas besorgen, eine Überraschung. Ich warte schon so lange auf ihn …« Bedeutsam sahen sich Carmyn und Kaystale an. »Silesiante«, sagte die Kommandantin leise, »Amendariasch ist tot. Er ist tot, und du weißt es schon seit sechs Tagen …« »Tot …?« »Wir mussten einen Notstart durchführen«, sagte Myreilune. »Es blieb keine Zeit mehr, die Tuilerien zu räumen. Amendariasch befand sich noch in der Röhre. Er hat-
Die Rache der Juclas te keine Chance, die AVACYN zu erreichen …« Silesiante richtete die dunklen Augen auf die Pilotin, stolperte zwei, drei Schritte auf sie zu. »Ihr habt ihn im Stich gelassen, um euer Leben zu retten!«, sagte sie tonlos. Carmyn sah gar nicht, wie sie den Strahler zog. Plötzlich hielt sie ihn in der Hand, schwenkte ihn durch die Zentrale. Schneller, als Carmyn mit den Blicken folgen konnte, trat Kaystale gegen die Beine der Ganjasin und schlug ihr gleichzeitig die Hand mit der Waffe hoch. Silesiante schrie auf, stürzte zurück und prallte mit dem Ellbogen auf eine Konsole. Noch während des Sturzes hatte die Takererin Silesiante entwaffnet. Sie stieß sie vollends zu Boden und baute sich über ihr auf. »Dummes Ding!« Die Söldnerin richtete die erbeutete Waffe auf den Kopf der Maschinistin. »Auf einem Raumer der Takerer würde der Kommandant dich persönlich dafür töten, dass du ihn und seine Besatzung bedroht hast.« Erwartungsvoll sah sie die Kommandantin an. Carmyn schüttelte den Kopf. »Bringt sie in eine Arrestzelle. Sie ist krank, verwirrt, wusste nicht, was sie tat. Wir werden uns später um sie kümmern. Abreime Shastich soll ihren Posten besetzen.« Müde winkte sie einer anderen Ganjasin zu. Sie war auf keinen Fall bereit, das erwünschte Todesurteil zu sprechen. »Sie hat den Tod verdient, Carmyn! Du weißt genau, dass ich Recht …« »Was geht hier vor?«, unterbrach sie eine wütende Stimme. »Ich arbeite gerade an einer wichtigen Versuchsreihe. Dieses … dilettantische Flugmanöver hat meinen Aufbau zusammenbrechen lassen!« Evoron Salto stand im Zentraleschott. Sein hageres Gesicht war gerötet, und die einst schwarzen, nun aber gelichteten und grauen Haare standen ihm wirr vom Kopf ab. Carmyn seufzte leise. Er war angeblich eine Koryphäe auf seinem Gebiet, Halbraumfelder und Sextadim-Forschung, aber …
33 »Ein unvorhergesehener Zwischenfall. An Bord eines Raumschiffs muss man immer damit rechnen. Wenn du dich nicht entsprechend verhältst, ist das nicht unser Problem.« Kaystale war auf den 142 Standardjahre alten Forscher nicht gut zu sprechen. »Ein Zwischenfall? Was für ein Zwischenfall? Ich dachte, es wäre ein Manövrierproblem. Und weshalb fuchtelst du mit einer Waffe herum?« »Denken ist manchmal Glücksache.« »Ich muss mir so etwas nicht anhören!« Evoron drehte sich um und stapfte davon. »Und grüß mir Hyptosch! Lebt der Pediaklast überhaupt noch? Wann hast du ihn zum letzten Mal gesehen?« Carmyn schüttelte tadelnd den Kopf. Saltos anscheinend angeborenes Misstrauen Frauen gegenüber machte ihm den Umgang mit der Besatzung der AVACYN nicht gerade einfacher. Kaystale knackte wieder mit den Fingern. »Ist auch besser, wenn er uns nicht im Weg steht.« Die Kommandantin überlegte noch, ob und wie sie die Takererin zurechtweisen sollte, als Ypt Meldung machte. »Ortung! Ein Raumschiff nähert sich unserem Standort! Ich bekomme keine Kennung … es kann alles und jeder sein.« Kaystale stand bereits am Feuerleitpult. Carmyn beneidete die Takererin um ihre eiskalte Art. »Halte dich feuerbereit. Ypt, versuche es weiter. Es könnte einer von uns sein.« Bei zahlreichen entkommenen Schiffen war die Funkanlage ausgefallen, und Carmyn wollte erst schießen, wenn jeder Zweifel ausgeschlossen war. Sie wollte weitere Opfer vermeiden. Es hatte schon zu viele gegeben. Die Metallfinger der Takererin schwebten über den roten Knöpfen der Thermo- und Impulsstrahler. »Es ist die VRIGOLL, ein Schiff der Murras! Sie sind schwer angeschlagen.« Ypt klang erleichtert, und die Kommandantin konnte sie verstehen. Ein Schiff der Takerer, das sich zufällig hier umsah, war das Letzte, was sie jetzt brauchen konnten. Carmyn
34 hoffte, ihr Versteck im Ortungsschatten der Sonne würde ihnen lange genug Schutz bieten. Eine Atempause war dringend nötig. Die Ruhe vor dem Sturm – der Rache der Juclas. »Nur Tonverbindung, noch kein Holo!«, sagte Ypt. »Die Takerer scheinen es ausgerechnet auf uns abgesehen zu haben.« Die Stimme des Kommandanten der VRIGOLL klang erschöpft. »Wir mussten alle Tricks anwenden, um sie endlich abzuschütteln.« Die letzten Worte klangen grimmig. Carmyn runzelte die Stirn. Sie kannte die Stimme, doch das dazugehörige Gesicht fehlte ihr. »Und wenn es Takerer in einem gekaperten Jucla-Raumer sind?« Myreilune verbreitete ihren typischen Optimismus. Die Kommandantin sah die Pilotin an. »Der Kommandant ist ein Jucla. Ypt, wann bekommen wir endlich ein Bild?« Die Funkerin trank seelenruhig einen Schluck ihres süßlich riechenden Symbiontengetränks sämiger Konsistenz und hob dann eine Hand. »Jetzt.« Das Holo baute sich auf, und Carmyn sah in ein bekanntes Gesicht. »Gandusch! Wir hatten befürchtet, euer Schiff wäre zerstört worden. Endlich meint das Schicksal es besser mit uns.« Der junge Kommandant erwiderte ihren Blick aus müden Augen. Sie beneidete ihn keineswegs um die Verantwortung für den größten Clan. »Das kommt auf den Betrachtungswinkel an. Ich habe von 5800 Schiffen über die Hälfte verloren. Die Murras sind von den Takerern zur Bedeutungslosigkeit dezimiert worden. Jeder kleinere Clan hat weniger Opfer.« Seine Hoffnungslosigkeit schmerzte Carmyn. Da waren ihr die aufbrausenden Reden der anderen fast lieber als diese Worte eines desillusionierten Jungen mit den Augen eines alten Mannes. »Der Zeitpunkt des Angriffes war gut ge-
Uwe Anton wählt. Die Takerer müssen unter den Juclas einen Verbündeten haben. Woher konnten sie sonst von dem Treffen gewusst haben?« Carmyn hatte mehrmals Simulationen des Angriffes durchspielen lassen und war immer zum gleichen Ergebnis gekommen. »Was wissen wir schon, welche Möglichkeiten die Takerer haben … und ihre verdammten Bundesgenossen! Aber das spielt keine Rolle mehr. Sie haben ihr Ziel erreicht und unseren Clan zerschlagen. Fast alle jungen Murras sind gefallen … gestorben, während sie schutzlos im All trieben. Meine Brüder werden nicht mehr zurückkehren. Wir hatten noch so viele Pläne … Mein Vater und mein Onkel sind auf Eptascyn verschollen, wahrscheinlich umgebracht von feigen Mördern.« Einerseits gab es viele kleine Clans, die sofort nach Eptascyn zurückkehren und kämpfen wollten. Doch jetzt wurde Carmyn klar, dass sie auch gegen andere Emotionen vorgehen musste. Sie versuchte, Ganduschs Ehrgeiz als junger Anführer anzustacheln. »Auf deinen Schultern lastet nun große Verantwortung. Ich bin sicher, du wirst dich ihrer würdig erweisen. Die Zukunft der Clans liegt in deinen Händen. Handle besonnen und bedacht.« Sie atmete tief durch. Wie konnte sie Hoffnung geben, wenn sie selber keine empfand? »Besonnen und bedacht!« Gandusch lachte höhnisch. »Die Juclas sind von großem Zorn erfüllt. Ich werde sie nicht aufhalten können. Niemand kann das. Und wenn es das Letzte ist, was sie in ihrem Leben tun … Die Takerer werden ihre Wut zu spüren bekommen und auch die Fremden in ihren runden, eingedellten Schiffen!« »Ihr könnt keinen Gegenangriff wagen. Eure Schiffe sind schlecht ausgerüstet, viele verfügen nur über bescheidene Offensivwaffen, und auch die Passivschirme sind oft nur bessere Attrappen!« »Wir können lediglich vermuten, was auf dem Mond vor sich gegangen ist. Aber wenn wir die Brutalität in Betracht ziehen, mit der
Die Rache der Juclas die Takerer und Zaqoor im Angriff auf unseren Komplex vorgegangen sind, können wir uns das Schicksal der Clanführer gut vorstellen. Wir müssen sie befreien … oder rächen!« »Funksprüche«, warf Ypt ein. »Der Äther brodelt geradezu. Als hätten die Juclas nur darauf gewartet, dass der Führer ihres größten Clans zurückkehrt, erkundigen sie sich bei uns und bei ihm nach Angriffsplänen!« »Unser Gegner ist gut organisiert«, sagte Gandusch. »Ich werde mich deinem Befehl unterstellen. Du verfügst über Erfahrung und hast offensichtlich bislang die Juclas unter Kontrolle.« »Ich habe Späheinheiten ausgesandt«, erwiderte Carmyn zögernd. »Ihren Berichten zufolge ziehen sich die feindlichen Truppen um Eptascyn zusammen.« Was sie in ihrer Verzweiflung als gutes Zeichen gedeutet hatte. Was sonst gäbe es auf dem Mond zu suchen, wenn nicht Atlan? Sie konnte also hoffen, dass er noch lebte. Der Jucla wirkte plötzlich ganz ruhig. Die Unruhe und Nervosität, die sein Volk auszeichnete, war von ihm abgefallen. »Die letzten Murras kämpfen unter deinem Kommando, Carmyn Oshmosh.« Damit unterbrach Gandusch die Verbindung; es war alles gesagt. Sie schüttelte den Kopf. Erstmals in der langen Geschichte der Clans war einer Außenstehenden das Kommando angedient worden. Einer Ganjasin! »Ein geschickter Schachzug«, sagte Kaystale fast bewundernd. »Gandusch weiß, dass die Juclas kaum eine Chance haben … und dass er sie nicht zurückhalten kann. Wenn der Gegenangriff zur neuerlichen Katastrophe führt, kann er seine Schiffe zurückziehen und seine Hände in Unschuld waschen.« »Ich kann die Überlebenden doch nicht mit einer Lüge auf den Lippen in eine Schlacht gegen einen überlegenen Gegner schicken!« Kaystale lachte leise. »Die Juclas werden sich auf jeden Fall in die Schlacht werfen. Ob du es willst oder nicht, du hast den Ober-
35 befehl.« »Die Anführer sind tot, es leben die neuen Kommandanten.« Ypt trank in hastigen Zügen ihr Glas leer. Carmyn ballte die Hände zu Fäusten. Der Zweckoptimismus, den die Funkerin verbreitete, kam ihr wie der reinste Hohn vor. Man konnte jeden belügen und betrügen, nur nicht sich selbst. »Immerhin gibt dir der Angriff Gelegenheit, nach Atlan zu suchen.« Kaystale lachte hart auf. »Lass die Juclas kämpfen und verfolge deine eigenen Ziele … wie Gandusch auch. Wenn die Takerer wirklich nach Atlan suchen …« »Das ist eine reine Vermutung. Das Verhalten der Takerer kann alle möglichen Gründe haben. Sie bauen ihren Sieg aus und besetzen den Mond … Ein logisches Vorgehen.« Myreilune klang mürrisch, konnte Kaystales Begeisterung offensichtlich nicht teilen. »Nein, der Mond ist strategisch absolut unbedeutend. Es wäre nur Verschwendung von Material und Zeit, ihn zu befestigen.« Carmyn ertappte sich, dass der Gedanke an den Unsterblichen ihr Hoffnung gab. »Wenn es nur den kleinsten Schimmer einer Hoffnung gibt, ihn von dem Mond zu holen, sind wir dazu verpflichtet, es zu versuchen.« »So spricht eine wahre Kommandantin. Wir werden Atlan retten!« Kaystale war kaum zu bremsen. »Aber arbeite deinen Schlachtplan schnell aus. Sie werden nicht mehr lange warten wollen.« »Mehrere Einheiten nehmen Fahrt auf … einhundert, fünfhundert, tausend. Es werden immer mehr!« Ypt Karmasyns Stimme überschlug sich fast. Carmyn nickte. »Die Juclas gehen eigenmächtig vor, zumindest einige Clans. Ypt, Rundruf an die gesamte Flotte.« Die Kommandantin überlegte kurz. »Ich erteile hiermit den Angriffsbefehl«, fuhr sie dann fort. »Volle Energie auf die Schutzschirme. Eröffnet sofort das Feuer auf alles, was sich bewegt. Bleibt immer in Bewegung, bietet dem Gegner kein Ziel …« Sie hielt inne. Sie hatte ihnen noch einige
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Anweisungen erteilen wollen, doch es war sinnlos. Die ersten Schiffe gingen schon auf Überlicht. In wenigen Stunden würden sie erneut den Takerern gegenüberstehen. Diesmal war das Überraschungsmoment auf ihrer Seite, aber das war dann auch schon alles, was sie hatten. »Myreilune, wir folgen ihnen. Kurs Eptascyn.« Es würde keine Schlacht werden, sondern ein weiteres Gemetzel. Zorn war ein schlechter Ratgeber, und die Juclas verspürten nichts als Zorn. Wie hatte sie sich nur auf solch einen Wahnsinn einlassen können? Getrieben von der schwachen Aussicht, Atlan finden zu können … Aber die Juclas hätten sich auch ohne sie sehenden Auges ins Verderben gestürzt. Die Schmach des Überfalls lastete schwer auf ihren Gemütern. Nur ein Gegenschlag konnte die Ehre der Krieger wiederherstellen. Ohne die geringste Überraschung registrierte Carmyn, welche Einheit als letzte, fast zeitgleich mit der AVACYN, auf Überlichtgeschwindigkeit ging. Die VRIGOLL, Ganduschs Flaggschiff. Jedem das seine, doch mir das eure. Zamptaschs Geflügelte Worte
8. Atlan Es wurde wieder hell um mich, und ich erwachte schreiend, wusste im ersten Augenblick nicht, wo ich war. Einen Moment lang glaubte ich, den Cavan neben mir wiehern zu hören, während sein feuriger Reiter das dunkle Höhleninnere erhellte. Cavans kommen auf dem Planeten Glynth und vielen anderen Welten des Tai Ark'Tussan vor, aber bestimmt nicht hier, meldete sich der Extrasinn, als wolle er mir mitteilen, dass er ebenfalls wieder zu sich gekommen war.
Alpha und Omega, dachte ich, der Anfang und das Ende. Langsam klärte sich mein Blick. Von einer Höhle war nichts zu sehen. Ich lag auf einem harten, kratzigen Bett aus Gräsern und Ästen unter einem Baldachin, der von mehreren übereinander gestürzten Montonen gebildet wurde. Waren die rasenden Kopfschmerzen die Folge des bewussten oder unbewussten Einsatzes des Flammenstaubs oder eher Ausdruck meines allgemeinen Zustands? Ging es mir wirklich so schlecht? Der Flammenstaub bringt dich um, stellte der Extrasinn fest. Langsam, aber sicher. Du musst deine Prioritäten neu ordnen, ihn so schnell wie möglich loswerden. »Noch brauche ich ihn«, flüsterte ich. »Ohne den Flammenstaub wären wir schon längst tot. Ohne ihn werden wir Eptascyn niemals verlassen können.« Das ist ein Dilemma, gestand der Logiksektor ein. Ich lachte leise auf, schüttelte mich und stellte fest, dass ich nicht allein war. Die Geräusche, die ich erzeugt, oder die Sätze, die ich gesprochen hatte, hatten jemanden angelockt. Ich hörte ein leises Knacken neben mir, wie von Stiefeln auf Zweigen, und mir gelang es tatsächlich, den Kopf zu drehen. Ich sah in ein Gesicht mit braunen Augen, kräftigen, dunklen Brauen und schmutzig gelber Haut, das von tiefen Falten geprägt wurde. Zamptasch. Mir fiel alles wieder ein. Zamptasch und Abenwosch, unsere Flucht, der Gleiter, der rasend schnell auf uns zuhielt, das fürchterliche Fauchen in der Luft … »Was ist passiert?«, fragte ich. »Das warst du, nicht wahr?« Nicht Zamptaschs Stimme, sondern die Abenwoschs. Der Jucla-Führer trat in mein Blickfeld. »So, wie du den Zaqoor-Krieger getötet und das Erdbeben erzeugt hast, hast du auch das vollbracht.« »Was?« Ich versuchte, mich auf die Ellbogen aufzurichten, und stellte zu meiner
Die Rache der Juclas Überraschung fest, dass es mir tatsächlich gelang. Auch der rasende Schmerz in meinen Schläfen schien etwas nachzulassen. »Ihnen den Himmel auf den Kopf stürzen zu lassen.« Abenwosch betrachtete mich mit einem seltsam lauernden Blick, in dem eine Vielzahl tiefer Emotionen mitschwang: Ehrfurcht, Hoffnung, Unglaube, aber auch Angst. »Was meinst du?« »Ein Wunder.« Der Clanchef drehte sich um und zeigte auf etwas, das ich nicht sehen konnte. Fragend sah ich ihn an. »Ein herabstürzendes Wrackteil eines Jucla-Schiffes hat den Gleiter getroffen, der uns dicht auf den Fersen war. Er wurde zerstört, und sämtliche Zaqoor an Bord sind gestorben, bevor sie auf uns schießen und uns töten konnten. Wir selbst wurden nicht verletzt, aber du bist ohnmächtig zusammengebrochen.« Ich schloss die Augen wieder und versuchte nachzudenken, doch es fiel mir schwer. Kein Wunder, dachte ich, nur die Manipulation von Wahrscheinlichkeiten. Ein deus ex machina, ja, aber er hat einen Namen. Flammenstaub. Ach was, du Narr, höhnte der Extrasinn. Sieh es ein, das ist ein Wunder. Statt Kristallprinz sollte ich jetzt Wunderbringer zu dir sagen. Ich würde den beiden Juclas einiges erklären müssen. Oder auch nicht. Und auf keinen Fall jetzt. »Wie lange war ich ohne Bewusstsein?«, fragte ich. »Zwei Tage. Wir haben sie genutzt, um uns zu erholen.« »Zwei Tage?«, wiederholte ich. Der Einsatz des Flammenstaubs brachte mir also nicht nur körperliche Schmerzen ein, sondern setzte mich mittlerweile auch über einen längeren Zeitraum schachmatt. »Zwei Tage? Ein Gleiter der Zaqoor ist ein paar hundert Meter von uns entfernt abgestürzt, und zwei Tage lang ist kein weiteres Zaqoor-Kommando gekommen, um nach der Ursache zu forschen?« »Offensichtlich nicht. Sonst wären wir
37 jetzt nicht mehr am Leben. Wir haben selbstverständlich abwechselnd gewacht.« Fast arkonidischer Pragmatismus, dachte ich. Vielleicht hatte ich mit dem Einsatz des Flammenstaubs nicht nur die unmittelbare Lebensgefahr beseitigt, sondern uns auch noch eine gewisse Ruhepause verschafft. Und solange unser Glück weiterhin anhielt … Zamptasch schob den Clanführer beiseite und musterte mich mit einem nicht minder lauernden Blick. »Und was soll nun werden?«, fragte er. »Wenn du Gravopaks versagen lassen, Erdbeben erzeugen und Trümmerteile auf Gleiter stürzen lassen kannst, kannst du uns auch direkt zum Sain-Gebirge zaubern. Dann würden wir uns den langen Marsch ersparen.« Das vermochte ich eben nicht, weil ich den Flammenstaub nicht einsetzen konnte, ohne schwerwiegende und sich steigernde körperliche Folgen davonzutragen, aber wie sollte ich ihnen das erklären? »Und es ist noch ein Wunder geschehen«, meldete sich Abenwosch wieder zu Wort. »Der Gleiter der Zaqoor wurde nicht vollständig zerstört. Das hier wurde herausgeschleudert, und es ist unbeschädigt und verfügt über eine autarke Energieversorgung. Es ist uns schon sehr … nützlich gewesen.« Abenwoschs Stimme klang plötzlich unerträglich verbittert, und er hielt einen kopfgroßen, metallisch schimmernden Gegenstand hoch, der nur an einem Ende etwas angesengt war. Ich erkannte ihn sofort. Ein Funkgerät der Zaqoor. Der Flammenstaub hatte ganze Arbeit geleistet.
* »Ich vermute, du hast den Funkverkehr der Zaqoor abgehört?« Abenwosch nickte düster. »Setzt du mich ins Bild?« Er senkte den Kopf, schaute zu Boden. »Es ist eine Katastrophe.«
38 Davon war ich bereits ausgegangen, als beim Thein der erste Schuss gefallen war. »Weißt du vielleicht Genaueres?« Das Sprechen fiel Abenwosch sichtlich schwer. »Momentan ist alles ruhig. Die Zaqoor analysieren hauptsächlich die … Aktion der vergangenen Tage.« »Und?« »Man ist nicht ganz zufrieden!« Ich hörte den Schmerz, die Verzweiflung in seiner Stimme. »Nicht ganz zufrieden! Atlan, die Takerer und Zaqoor haben mit achteinhalbtausend Schiffen den Komplex im Orbit von Eptascyn angegriffen! Aber unerwartet viele unserer Schiffe sind entkommen … und zwar annähernd 55.000! Sie haben eigentlich damit gerechnet, im Chaos des Angriffs mehr als zwei Drittel unserer Flotte vernichten zu können und damit den Widerstand der Überlebenden für alle Zeiten zu brechen!« Ich unterbrach den Versuch, mich endgültig aufzurichten, weil ich damit rechnete, dass meine Beine den Dienst versagen würden. Über 40.000 Schiffe vernichtet … Berechne ja nicht, wie viele Juclas dabei umgekommen sind!, warnte ich den Extrasinn. »Wieso wurden ihre Erwartungen nicht erfüllt?« »Der Kommandant einer einzelnen gegnerischen Einheit hat offensichtlich den Verstand behalten und mit einem simplen Funkspruch das Werk der Zaqoor und Takerer beeinträchtigt. Viele Juclas, die eigentlich kämpfen wollten, sind stattdessen geflohen. Und mit einer relativ kleinen Flotte von 8500 Einheiten, die den Trodar-Kriegern und deren Verbündeten zur Verfügung standen, war an eine konzertierte Verfolgungsaktion nicht zu denken, zumal die JuclaSchiffe in alle Richtungen geflüchtet sind.« Ein Kommandant oder eine Kommandantin? Erkannte ich da Carmyn Oshmoshs Handschrift? Aber das Vorgehen der Zaqoor kündete von einfacher grausamer Logik. Sie waren davon ausgegangen, die gesamte Elite der Juclas auf Eptascyn mit Haut und Haaren ausrotten zu können und auf den zurückge-
Uwe Anton lassenen Schiffen eine führerlose Meute vorzufinden. »Ein gewisser Erzherzog Gulago, der den Bodeneinsatz höchstpersönlich geleitet hat, konnte immerhin einen Teilerfolg erzielen. Vom Führungspersonal sind vielleicht noch ein oder zwei Dutzend in den Montonenwäldern flüchtig, der Rest wurde getötet. Damit sind die Jungen Clans zumindest ihrer Führungsschicht beraubt. Und die Zaqoor gehen nicht davon aus, dass sich die vertriebenen Jucla-Schiffe so schnell unter einer Flagge einen werden …« Abenwosch hielt überwältigt inne. Ich fragte mich, woher er überhaupt die Kraft aufbrachte, so nüchtern über den Untergang seines Volkes und aller anderen Jungen Clans zu berichten. Denn genau das war hier auf und um Eptascyn geschehen. Er riss sich zusammen. »Vielleicht interessiert es dich, Atlan, dass man dich kennt. Es war die Rede von einem weißhaarigen Arkoniden, der im Beisein eines anderen Clanführers gesichtet wurde. Von jenem Mann, der den Zaqoor in der Galaxis Dwingeloo so viele Schwierigkeiten bereitet hat. Gulago weiß nicht, was sich genau in dieser weit entfernten Galaxis abgespielt hat. Sagt dir das etwas, Atlan?« O ja, es sagte mir etwas. »Man ist mit Bodentruppen auf der Suche nach dir. Deine Häscher haben die Direktive, dich lebend aufzugreifen. Gerüchteweise ist sogar ein Lordrichter, möglicherweise der Oberste Lordrichter persönlich, auf dem Weg hierher. Sagt dir das auch etwas?« Ich wunderte mich, dass ich noch lebte. Zamptasch musste mich als Bedrohung erkannt haben, als Ursache allen Übels, als Verantwortlicher seines Schicksals. Und Abenwosch vielleicht als Verursacher des Untergangs der Juclas. Andererseits konnte ich Wunder bewirken, was auch ganz nützlich war. Sieh es positiv, sagte der Extrasinn. Trotz dieses Fiaskos für dich und die Juclas wird der Glaube an Trodar, an die immerwähren-
Die Rache der Juclas de Unbesiegbarkeit, die man über den Tod hinaus mitnimmt, einen leichten Dämpfer bekommen haben. Das ist doch ein Anfang. Ich wollte nicht darüber nachdenken, ob der Logiksektor diese Bemerkung ernst oder zynisch meinte. Abenwosch sah mir in die Augen. »Darüber hinaus erwarten die Zaqoor für die nächsten Wochen die endgültige Zerstörung der ganjasischen Strukturen und damit de facto eine Übernahme der politischen Knotenpunkte Gruelfins. So sieht es aus, Atlan. So und nicht anders. Und was willst du nun tun?« Wenn ich der Held von Arkon war, war ich auf meiner Heldenreise durch Gruelfin ganz unten angelangt. Jetzt half nur eine Politik der kleinen Schritte. »Für unser Überleben sorgen«, sagte ich. Bei achttausendfünfhundert Schiffen, die sich um Eptascyn zusammengezogen haben?, warf der Extrasinn ein. Nicht höhnisch, sondern zutiefst besorgt. Wie viele Besatzungsmitglieder könnten da nach uns suchen? Nach uns und vielleicht zwei Dutzend anderen Intelligenzwesen auf diesem Mond? Mit dem High-Tech-Gerät, das ihnen zur Verfügung steht? Unsere Flucht ist nicht nur aussichtslos, sie ist lächerlich! Wer weiß, was ich in höchster Lebensgefahr mit dem Flammenstaub bewirkt habe?, erwiderte ich. Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Immerhin war ich zwei Tage lang bewusstlos, ohne dass die Zaqoor uns gefunden haben. Meine bessere Hälfte schwieg. »Und versuchen, das Sain-Gebirge zu erreichen«, fuhr ich fort. »Wenn Zamptasch dort technische Relikte gefunden hat, könnte ich bei meinem Glück dort doch alles Mögliche finden, nicht wahr?« Mein Grinsen hätte Eis zum Schmelzen gebracht. »Und was heißt das konkret?«, fragte Zamptasch mürrisch. »Der Bach liefert uns Wasser, aber mittlerweile habe ich gewaltigen Hunger. Wenn ich nicht bald etwas zu essen bekomme, breche ich vor Schwäche zusammen. Dann kann ich euch nicht mehr
39 zum Sain führen. Ohne meine Kenntnisse über diese Welt wären wir sowieso schon längst verhungert.« »Da lässt sich Abhilfe schaffen«, erwiderte ich. »Und deine Kenntnisse interessieren mich ungemein.«
* Zamptasch blieb vor dem Montonenstamm stehen und streckte die Hand aus. »Ich brauche dein Messer.« »Was hast du vor?« »Es dir in den Hals stoßen, weil du uns gezwungen hast, uns mit Schlamm zu beschmieren und durch das kalte Wasser zu waten, und die Zaqoor uns trotzdem gefunden haben.« Ich lächelte und reichte ihm die Waffe mit dem Griff voran. Einen Moment lang betrachtete er sie nachdenklich, als spiele er wirklich mit dem Gedanken, sie mir in den Leib zu rammen, dann drehte er sich um und machte sich, etwas Unverständliches brummelnd, an dem Nadelbaum zu schaffen. Er stieß die Klinge ein paar Zentimeter tief hinein und zog sie unter beträchtlichem Kraftaufwand nach unten. »Willst du etwa Rinde essen?«, fragte Abenwosch. »Mach dich lieber nützlich!«, fauchte der greisenhafte Zwanzigjährige. »Sammle Essbares im Unterholz!« Entgeistert sah der Clanführer ihn an. »Und was? Auf Eptascyn gibt es außer den Montonen keine größeren Pflanzen.« »Alles, was du findest«, warf ich ein, bevor Zamptasch wieder aus der Haut fahren konnte. »Schnecken, Raupen, Engerlinge, Insekten. Sieh nach, ob es im Bach Fische gibt, die du fangen kannst. Aber bringe keine mit, die schon tot herumliegen. In ihnen könnten sich Gifte angesammelt haben, die man auch durch Garen nicht beseitigen kann.« »Garen?« Abenwosch-Pecayl 966. war Raumfahrer mit Leib und Seele, hatte fast sein gesamtes Leben an Bord von Raum-
40 schiffen verbracht. Wahrscheinlich fühlte er sich auf einem Planeten – oder Mond wie Eptascyn – sowieso schon unwohl. Und die Vorstellung, lebende Nahrung zu sammeln, die man dann zubereiten musste, schien geeignet zu sein, ihm den spärlichen Mageninhalt in die Kehle hochsteigen zu lassen. »Aber wie soll ich denn …« »Nun troll dich schon!« Zamptasch zog das Messer aus dem Stamm und warf dem anderen Jucla einen finsteren Blick zu. Ich nickte Abenwosch aufmunternd zu. »Sammle einfach das, was du findest. Suche auf der Unterseite von Blättern, unter Steinen, am Ufer des Bachs. Und … falls du Aas findest, bring es mit.« »Aas?«, echote er. »Ein guter Lieferant für Köder. Besonders Fliegen und andere Insekten schätzen es als Eierablage. Nach wenigen Stunden schlüpfen die Maden. Man wäscht, brät und verzehrt sie. Oder benutzt sie roh als weiteren Köder.« Der muskulöse Jucla sah mich zweifelnd, wenn nicht sogar grimmig an, als überlege er, ob ich ihn verulken wollte. Was natürlich nicht der Fall war. Mich überraschte ein wenig, dass er sich schließlich tatsächlich wortlos umdrehte und ging. Er war der neue Anführer des Ercourra-Clans; angesichts des aufbrausenden Temperaments hatte ich damit gerechnet, dass er es lieber auf eine sinnlose Konfrontation ankommen lassen würde, statt sich von einem schlimmen Renitenzler, den kein Clan mehr bei sich aufnehmen wollte, etwas sagen zu lassen. Aber ihn hatte vielleicht beeindruckt, wie ich bislang mit den potenziell tödlichen Krisen umgegangen war. Er wusste nichts vom Flammenstaub, würde sich aber sein Teil denken können. Kein Jucla legte sich mit einem an, der Zaqoor schier durch die Kraft seiner Gedanken töten, durch ein Erdbeben Ausgänge in Höhlen schaffen, die vorher nicht vorhanden gewesen waren, und Trümmer von Raumschiffen auf Gleiter stürzen lassen konnte. Auch wenn er die Zusammenhänge nicht sehen konnte, gebot es doch
Uwe Anton selbst rudimentäre Intelligenz, sich mit so einem nicht anzulegen. Wobei Abenwosch natürlich nicht wissen konnte, wie schlecht es mir ging. Der vermehrte Einsatz des Flammenstaubs forderte seinen Tribut. Die Schmerzen hatten sich ausgebreitet, saßen nicht mehr nur in den Schläfen, sondern mittlerweile im gesamten Kopf, wie dunkle Gewitterwolken, aus denen immer wieder Blitze von schier unerträglicher Intensität zuckten. »Wir müssten versuchen, den Einsatz des Flammenstaubs irgendwie zu katalogisieren«, flüsterte ich. »Wie viel Aufwand – und damit Schmerzen – kostet es mich, das Gravopak eines Zaqoor ausfallen zu lassen? Oder einen Höhleneingang zu schaffen? Oder …« Den Teufel werde ich tun, konterte der Extrasinn. »… sämtliche Lordrichter auszulöschen? Oder ein Treffen mit den Kosmokraten zu arrangieren?«, fuhr ich unbeeindruckt fort. Erinnerst du dich, was Tuxit gesagt hat? »Tuxit hat zuerst sehr wenig und dann sehr viel gesagt.« Er hat nicht nur gesagt, dass du über kurz oder lang an dem Flammenstaub zugrunde gehen wirst, fuhr der Logiksektor unbeeindruckt fort, sondern auch, dass du mit dem Flammenstaub den Bestand des Multiversums gefährden könntest. Nicht nur unseres Universums, sondern den des Multiversums. Mit Verlaub, ehrwürdiger Kristallprinz, solch eine Aussage ist schon verhältnismäßig starker Tobak. Ich finde, du solltest gelegentlich darüber nachdenken. Wie ich überhaupt finde, dass du in letzter Zeit zu wenig reflektierst. Seit du auf der Welt, die du Ende getauft hast, einigermaßen mit dir ins Reine gekommen bist, hast du eigentlich nicht mehr großartig über Tuxits Worte nachgedacht. Entwickelst du dich zum Prinzen des Verdrängens, oder reduziert der Flammenstaub die Intelligenz seiner Gastkörper? Ich schwieg. In meinem derzeitigen Zustand war ich den Argumenten des Logik-
Die Rache der Juclas sektors nicht gewachsen. Ich werde die Sache berechnen, fuhr der Extrasinn überraschend mild gesinnt fort, als spürte er, dass ich jetzt keine Kritik verkraften konnte, und mochte sie noch so berechtigt sein. Ich werde alle Daten auswerten, die mir vorliegen. Ich werde den Zustand deines Körpers analysieren, Extrapolationen betreiben, alles nur Arkonidenerdenkliche berücksichtigen. Lass mir nur etwas Zeit. »Ich bin nicht imstande, dich zur Eile zu drängen.« Ich wandte mich wieder Zamptasch zu. Der alte Jucla hatte mittlerweile beträchtliche Flächen der Rinde des immergrünen Nadelbaums vom Stamm gelöst und auf dem Boden ausgebreitet. Nun schickte er sich an, das hellgelbe Innere des birkenähnlichen Baums von der dunklen äußeren Rinde abzuschaben. Das Ergebnis erinnerte mich an die wohl größte Errungenschaft des larsafschen Nationalstaats Italien nach dem Untergang des Römischen Weltreichs: an den Import der Nudel durch einen gewissen Marco Polo aus dem riesigen Reich der Mitte in den kleinen Stiefel Europas. Genauer gesagt: Zamptasch schuf faserige Streifen, die genauso aussahen wie ziemlich lange Spaghetti. »Das sind ziemlich harte Pflanzenfasern«, sagte ich, »und eigentlich unverdaulich für Humanoide, wenn man nicht über vier Mägen verfügt, etwa über Pansen, Netzmagen, Blättermagen und Labmagen.« »Aber sicher«, knurrte der alte Zamptasch, während er mein Messer erneut in den Nadelbaum rammte. »Vielen Dank für das Lob, dass ich mich nützlich mache. Deine Anmerkung ist natürlich berechtigt. Du kennst die Wälder rund um das Thein-Gelände besser als alle anderen Juclas. Und viel besser als ich.« Ich schluckte. Und schwieg. Jetzt hatte ich einmal die Gelegenheit, meine Erfahrungen auszuspielen, mit primitivsten Mitteln zurechtzukommen, die mich besonders während meines Exils auf dem rückständigen Planeten Larsaf III während der Herrschaft der Cromagnonmenschen bis zum drohen-
41 den Atomkrieg ausgezeichnet hatten. Und dann litt ich ausgerechnet unter den Nachwirkungen des Einsatzes des Flammenstaubs, die mich aufgrund der Kopfschmerzen zu einem genauso mürrischen Ekel wie Zamptasch machten. Vielleicht kannst du die Schmerzen mit einem minimalen Einsatz des Flammenstaubs lindern, höhnte der Logiksektor. »Hör auf«, flüsterte ich. »Hilf mir. Lass es nicht zu einer Farce geraten.« Geraten?, erwiderte der Extrasinn. Aber du Narr hast Recht. Die Irrationalität der Gegebenheiten überfordert mich. Ich bin dir im Augenblick kein guter Ratgeber. Spiele deine Stärken aus, und ich schweige und rechne. »… kochen«, drang Zamptaschs Stimme an mein Ohr. Ich zuckte zusammen; offensichtlich war ich nicht mehr imstande, zwei Gespräche gleichzeitig zu verfolgen. »Was hast du gesagt?« »Dass ich keine Rinde fressen will!« Er deutete auf die in Streifen geschnittene Substanz. »Das hier ist Kambium. Äußerst nahrhaft, falls es gekocht wird. Lange gekocht wird. Wasser liefert uns der Bach. Aber ich brauche ein Gefäß. Vielleicht könntest du dir eins herbeiwünschen?« Ich kämpfte gegen die Kopfschmerzen an. Auf keinen Fall durfte ich Zamptasch unterschätzen. Er hatte verstanden, dass viel von meinem Zustand abhing. Noch sah er in mir jemanden, der ihm nützlich sein konnte. Ich wollte nicht wissen, was er tat, wenn er diesen Glauben verlor. »Ich kümmere mich darum«, sagte ich.
* Ich hatte so etwas schon oft genug getan. Vor zehntausend Jahren etwa, und ich hatte nicht vergessen, wie es ging. Ich lief mit offenen Augen durch die Wildnis, Zamptaschs Auftrag immer im Gedächtnis. Aber ich musste auch an mich denken. Ich musste notfalls zwei Juclas klar machen, wo es langging.
42 Je weiter ich mich von unserem Unterschlupf entfernte, je tiefer ich in die Natur des Mondes Eptascyn vordrang, desto schwächer wurden meine Kopfschmerzen. Ob ich nun starb oder das Multiversum niederging – was interessierte mich das jetzt? Ich bemerkte an einer Montone einen Tförmigen Ast mit rechten Winkeln und brach ihn ab. Den senkrechte Teil verkürzte ich dermaßen, dass er etwa zwei Zentimeter über meine geschlossene Faust hinausragte, und spitzte ihn an. Kaum fünfzig Meter weiter entdeckte ich vor einem Gebüsch einen Stock aus Hartholz, der die Form einer Eins hatte. Ein idealer Grabstock, der das Ausheben tiefer Löcher und das Scharren nach Wurzeln ungemein erleichterte. Ich würde lediglich das kürzere Ende anspitzen müssen. Sobald ich mein Messer zurückbekam und Zamptasch keine Spaghetti mehr kochen wollte. Die nächste Montone präsentierte mir eine dicke senkrechte Astgabel. Ich musste nur noch die Schnittflächen umwickeln und hatte einen Hammer. Und so ganz nebenbei auch eine Behelfswaffe. Dann fand ich endlich, was ich suchte. Ein Wurzelstück, das ich lediglich ausgraben musste, um ein Holzgefäß zu erhalten. Ich musste es nicht mehr von vornherein schnitzen oder ausbrennen, sondern lediglich den Kallus von überflüssigem Holz befreien, wozu später noch Gelegenheit sein würde. Und ich sammelte alle Waffen ein, die ich fand. Ein spitzes Hartholzstück als Messer, einen Stein zum Schlagen, die Steinklinge als weiteres Messer … Doch als ich zum Lager zurückging, dachte ich nicht mehr an mein neues Waffenpotenzial. Ich dachte an das, was Tuxit gesagt hatte. Dass ich mit dem Flammenstaub über kurz oder lang den Bestand des Multiversums gefährden konnte. Natürlich. Ich veränderte Wahrscheinlichkeiten im Raum-Zeit-Gefüge, die die Kos-
Uwe Anton monukleotide nicht reparieren konnten, weil sie darauf einfach nicht reagieren konnten … oder zumindest nicht in angemessener Zeit. Ich erzeugte in der Helix des Moralischen Kodes eine dunkle Stelle, auf die weder Kosmokraten noch Chaotarchen Einfluss nehmen konnten, weil dieses Zufallswürfeln sich ihrer Planung entzog. Die Kosmokraten hatten mit dem Flammenstaub wieder einmal etwas geschaffen, was anschließend außer Kontrolle geraten war. Geschichte wiederholte sich eben immer wieder. Ich war irgendwie eine dritte Kraft geworden. Auf die sich die beiden anderen Kräfte bald stürzen würden. Mir blieb nicht mehr viel Zeit. Leistete ich der Entstehung einer Negasphäre Vorschub? Schuf ich damit gar eine Materiesenke? Und wenn der nächste Gleiter der Zaqoor angeflogen kommt, erliegt der Pilot einem Gehirnschlag, dachte ich. Das alles war sinnlos, nur ein Zwischenspiel. Und wenn es jetzt erst anfängt?, meinte der Extrasinn.
* Als ich zu unserem behelfsmäßigen Lager zurückkehrte, erwartete mich eine positive Überraschung. Zamptasch wusste, wie man aus den knallroten Früchten des Baums ein Getränk gewann, das nicht nur gut schmeckte, sondern auch leicht alkoholisch war. Kein Nettoruna zwar, aber immerhin. Ich ließ ihn den zukünftigen Holztopf ausschaben und brachte auf zwei Meter Länge ein Feuer zum Glosen und überdeckte die niedergebrannte Holzkohle mit Sand. Damit konnten wir nicht nur Zamptaschs Spaghetti kochen – Wasser bot der Bach, und ein Gestell aus Ästen hatte ich schnell gefertigt, wir hatten auch eine recht gute Fußbodenheizung für die Nacht. Irgendwann kehrte Abenwosch mit einer Auswahl der reichhaltigen Tafel zurück, die
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die Natur von Eptascyn uns bot. Ich sortierte unbrauchbare Teile aus und bereitete einen Eintopf aus Schnecken, weiteren Kleintieren, Engerlingen, Pflanzenstängeln und Baumfrüchten zu. Nach dem Essen legten wir uns schlafen, um am nächsten »Morgen« aufzubrechen. Die umgestürzten Montonen und das Astwerk, das die beiden Juclas darüber ausgebreitet hatten, boten uns einigermaßen Schutz vor dem Sturm, der wie erwartet aufzog und Unmengen von Regen brachte. Ich lag noch lange wach und betrachtete den jupitergroßen Planeten Ept, um den sein Mond Eptascyn alle 39,55 Cappin-Tage – oder 29 Erdtage – kreiste. Dabei wandte er ihm stets die gleiche Seite zu, die sogenannte Hinseite. Die starke Albedo des Planeten, das Rückstrahlvermögen von nicht spiegelnden und nicht selbst leuchtenden Oberflächen, sorgte für ständige Helligkeit auf der Hinseite. Eine Nacht, wie ich sie von Arkon und der Erde her kannte, gab es also nicht. Ept beherrschte permanent den Blick nach oben. Der Planet war zwanzigmal so groß wie der irdische Mond. Da er sich selbst in 26 irdischen Stunden einmal um die eigene Achse drehte, zogen stetig sich ändernde Bilder von Sturm- und Eiswirbeln auf seiner Oberfläche an mir vorbei. Normalerweise hätte solch ein Naturschauspiel mich mit innerer Ruhe erfüllt, doch jetzt wühlte es mich nur auf. Die Kopfschmerzen waren zurückgekehrt und wollten nicht nachlassen, und mein Körper fühlte sich an, als hätte ich dreißigmal hintereinander in der Arena der Gerechtigkeit auf Celkar die infinite Todesstrafe durchlebt. Ich war völlig erschöpft und fand keinen Schlaf. Mit einem Auge beobachtete ich Zamptasch und Abenwosch, die allerdings vor ungewohnter Anstrengung den Schlaf der Gerechten schliefen, und mit einem Ohr lauschte ich dem Extrasinn, der so bereitwillig wie selten mit mir diskutierte.
*
»Vielleicht«, flüsterte ich, »sollten wir beide gemeinsam alles daransetzen, den Flammenstaub zu beherrschen lernen. Was könnten wir damit bewirken! Und was für eine Verschwendung wäre es, ihn aufzugeben!« Du weißt, dass das nicht funktionieren wird, erwiderte er. Der Einsatz des Staubs bringt dich jetzt schon fast um. Die Kopfschmerzen, die Schwäche … er macht dich handlungsunfähig. Und früher oder später wird er dich unweigerlich töten, auch wenn du ihn nicht einsetzt. Ich lachte leise auf. »Wenn es uns gelingt, ihn gezielt einzusetzen … Denk mal darüber nach!« Ich denke ständig. Zu etwas anderem bin ich nicht fähig. Und du wiederholst dich nur noch. Ich habe den Eindruck, seit geraumer Zeit gelingt es mir nicht mehr, meine hochwertigen und überlegenen Gedanken adäquat zu übermitteln. Also denke ich so vor mich hin und ergebe mich der Verzweiflung, einen brauchbaren Gesprächspartner verloren zu haben. Ich konnte nicht darüber lachen. »Dann übermittle deine qualitativ herausragenden Gedanken jetzt. Ich stelle Fragen, und du antwortest.« Einverstanden. Das vermisse ich schon seit geraumer Zeit. »Es geht los. Warum tue ich mir das an? Warum hechle ich wie ein junger Spund über einen beschissenen Mond, während ich die ultimative Macht in mir habe?« Weil du diese ultimative Kraft nur eingeschränkt einsetzen kannst, ganz abgesehen davon, dass sie dich langsam, aber sicher umbringt. »Ein schwer bewaffneter Zaqoor hat uns drei waffenlose Waldläufer entdeckt und ist gegen den nächsten Baum gerast. Ein noch schwerer bewaffneter Gleiter voller Zaqoor hat uns arme Flüchtlinge entdeckt und in eine Höhle mit nur einem Ausgang getrieben, und ein Erdbeben schuf einen bequemen zweiten. Derselbe Gleiter hat uns noch einmal aufgespürt und wurde vom herabstür-
44 zenden Wrackteil eines Jucla-Schiffes getroffen. Und ich lebe noch immer.« So gerade eben, auch wenn du es nicht wahrhaben willst. »Warum habe ich mich nicht nach dem Opfertod meines alternativen Ichs – auch wenn ich noch immer nicht verstehe, wer genau da gestorben ist – in die Milchstraße zurückgewünscht? Bei Toten funktioniert der Flammenstaub nicht, aber warum habe ich mich nicht in eine Raum-Zeit-Anomalie gewünscht, die mich rechtzeitig genug in die Vergangenheit brachte, um Kythara zu retten?« Der Extrasinn spürte meine Trauer, begriff, wie ernst es mir damit war, und schwieg. »Warum habe ich nicht das Massaker an den Juclas verhindert? Warum sitze ich die ganze Sache nicht einfach aus? Warum habe ich nicht von Anfang an unsere Flucht überflüssig gemacht? Warum bette ich mich nicht wie mein alter Bekannter Frohstein, an den du mich unbedingt erinnern musstest, in eine Hängematte, verscheuche die lästigen Feinde, die sich zufällig nähern, warte ab, was geschieht, und konzentriere mich auf eine große Lösung? Ich habe die ARK SUMMIA-Reifeprüfung bestanden, bin nicht der Dümmsten einer. Warum hetze ich über diesen Mond, anstatt in Ruhe nachzudenken, wie ich konsequent vorgehen musste? Verstehst du denn nicht …« Doch, ich verstehe sehr gut, unterbrach mich der Extrasinn. Der Flammenstaub macht dich allmächtig. Wenn du lernen würdest, ihn gezielt einzusetzen, ohne körperlichen Schaden zu nehmen, wärest du den Hohen Mächten gleichwertig. Du könntest dich wirklich und nicht nur im Traum mit den Kosmokraten auf ein Riept zusammensetzen und sie überzeugen, die Menschheit im Schnellverfahren zu einer Superintelligenz und dann zu einer Materiequelle zu machen. Falls die Menschheit das überhaupt will, was ich bezweifle. »Du erinnerst dich an meinen Traum?« War es ein Traum oder eine Selbster-
Uwe Anton kenntnis? Aber du wärest dann nicht mehr du selbst. Wir wären nicht mehr wir, Kristallprinz. Wir sind jetzt schon mehr als der mächtigste Mutant, der jemals existiert hat. Verändere die Wahrscheinlichkeiten, lass es zu einer spontanen Weiterentwicklung deines Gehirns kommen. Gucky wäre ein armer Wicht dir gegenüber. Perry Rhodan würde jede Stunde bei dir vorbeischauen und dich fragen, wie nass das Wasser ist. Verstehst du nicht, Kristallprinz? Der Flammenstaub ist ganz einfach zu groß für dich. Mit dem Flammenstaub bist du nicht mehr der Atlan, wie man ihn kennt. Du kannst dir aussuchen, was du bist. Gott, ein Kosmokrat, ein Weisungsbefugter gegenüber den Kosmokraten … Da ich schon Gucky erwähnt habe, er wäre neidisch auf dich. Du wärest der wahre Retter des Universums. Ein Retter, der es nicht nötig hat, mit zwei infantilen Juclas über den Mond eines Gasriesen zu hecheln. Aber weißt du, was das ist; du verhinderte Materiequelle? »Macht«, gestand ich ein. »Vielleicht sogar Allmacht.« Eben. Allmacht. Hybris. Dieses Konzept ist zu groß, Kristallprinz. Es entspricht dir nicht. Du wärest nicht mehr du, Atlan. Du bist nicht mehr du. Du bist nicht mehr der Atlan, den die anderen kennen. »Aber bedenke doch nur die Möglichkeiten …« Ich habe die Möglichkeiten bedacht. Du könntest zwei Jahre etwas Gutes tun und alles in Ordnung bringen. Und dann? »Dann hätte ich endlich Ruhe und Frieden.« Und ein Leben voller Langeweile. Ein so uninteressantes Leben, dass du den Tod vorziehen würdest. Na los, nimm die Kopfschmerzen in Kauf und erzeuge eine temporäre Anomalie. Ein Phänomen, das dir verrät, was du am 28. Mai 1333 NGZ tun wirst. Oder am 5. September 1956 NGZ. Dir stehen alle Möglichkeiten offen, Kristallprinz. Du hast sie nur noch nicht durchdacht. Durchdenke sie, und alles wird in zwei, drei Tagen zu Ende sein. Aber du auch. Denn der
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Flammenstaub bringt dich um. Doch verspürst du nicht diesen Reiz, deine Allmacht in Allwissenheit umsetzen? O ja, ich verspürte ihn. Und fragte mich, wie ich es bislang geschafft hatte, ihm zu widerstehen. »Hast du mittlerweile herausgefunden, ob der Flammenstaub mich tatsächlich umbringt? Trotz Zellaktivator? Beides stammt aus kosmokratischer Fertigung.« Noch nicht, aber bald. Und mit dem Flammenstaub ist alles möglich. Und alles entsetzlich öde, langweilig und auch widersprüchlich. Das Ziel deines Lebens ist es, eine Utopie zu schaffen, nicht mehr und nicht weniger. Aber sobald du sie geschaffen hast, bist du überflüssig. Es gibt nur eine Möglichkeit, Kristallprinz: Du musst ihn so schnell wie möglich loswerden. Diesmal antwortete ich nicht. Ich fragte mich nicht, ob der Logiksektor Recht hatte. Er hatte immer Recht. Ich fragte mich vielmehr, was ich tun, ob ich seinem Rat folgen würde. Und ob ich endlich bereit war, das Potenzial des Flammenstaubs nur ein einziges Mal konsequent zu durchdenken. Nicht im Traum, dachte ich. Nicht im Traum.
* Als ich aufwachte, fühlte ich mich tatsächlich seit langer Zeit zum ersten Mal ein wenig erfrischt und ausgeruht. Die Kopfschmerzen waren noch da, und eine Müdigkeit, die ich nicht erklären konnte, schien ins Innerste meines Körpers zu greifen, doch ich konnte wenigstens wieder klar denken und mich uneingeschränkt bewegen. Aber ich musste mir sehr genau überlegen, ob und wann ich wieder auf den Flammenstaub zurückgreifen würde. Wenn ich nach seinem Einsatz nun immer mehrere Tage lang bewusstlos sein würde, konnte das überaus unangenehme Folgen für mich haben. Abenwosch war schon wach, schien vor Ungeduld zu bersten. Wie könnte es auch
anders sein? Wenn er retten wollte, was zu retten war, musste er so schnell wie möglich zu seinem Volk zurück. »Brechen wir jetzt endlich zum Sain auf?«, fragte er. »Noch nicht«, erwiderte ich. »Bevor wir losmarschieren, haben wir noch einiges zu tun.« Er sah mich fragend an. »Ich erkläre es dir«, sagte ich lächelnd.
* Wir sammelten das Holzkohlepulver, das unseren Schlaf gewärmt hatte, in Säcke, die wir aus unserer Kleidung herstellten. Mit Wasser angemischt war es ein wirksames Abwehrmittel gegen Insekten und überdies geeignet zur Gesichtstarnung. Wir kühlten große Blätter mit Wasser aus dem Bach und wickelten die übrig gebliebenen Spaghetti und das Ragout darin ein. Die stetige Verdunstung entzog der Umgebung Wärme und ließ es dort immer etwas kühler sein. Je nasser und windiger, desto kühler war es. Und was den Wind betraf, spielte Eptascyn uns in die Karten. Wir stellten weitere Holzgefäße her, um Wasser mitnehmen zu können. Irgendwann würden wir den Bach rechts oder links liegen lassen müssen. Wir schlugen Pflöcke, die halten sollten, rundeten sie oben ab und spitzten sie unten an. Gegen das Abrutschen von Seilen wählten wir solche mit einer Astgabel oder schnitten eine Kerbe ein. Wir taten noch einiges mehr, und dann machten wir uns wieder auf den Weg, weiter hinein ins Unbekannte, und versuchten, am Leben zu bleiben. Jeder Cappin hat seinen Preis. Zamptaschs Geflügelte Worte
9. Atlan Sechs Tage. Die Schatten um meine Au-
46 gen waren dunkler geworden, wie ich sah, wann immer ich auf eine spiegelnde Wasserfläche schaute. Mein Gesicht war eingefallen, und jede Bewegung bereitete mir Schmerzen. Sechs Tage. Ich sah über die Hochebene hinaus, über die dicht von Bäumen bewachsene Landschaft, in der eisige Temperaturen herrschten, verspürte tiefe Erschöpfung, aber auch Zufriedenheit. Neben mir keuchten Abenwosch und Zamptasch heftig, versuchten, sich an die ungewohnt dünne Luft zu gewöhnen. Sechs Tage seit dem Gemetzel und drei Tage seit dem Beginn unseres eigentlichen Marsches, eines langen, ermüdenden Weges. Aber die fünfundsiebzig Kilometer nach Nordosten bis zum Anstieg des Sain waren nicht so schrecklich, wie ich befürchtet hatte. Zamptasch war schon einmal hier gewesen und konnte mehr als nur die Grobrichtung zu jenem Ort vorgeben, an dem er damals die Relikte gefunden hatte. Und wenn seine Erinnerung einmal versagte, hatten wir ja immer noch unser deklariertes Ziel vor Augen, den Sain, jenen bis zu zweitausend Meter hohen, von Montonen dicht bewachsenen Gebirgsrücken. Den ganzen langen Marsch lang begegneten wir niemandem: nicht den Zaqoor, keinen Garbyor-Raumern, keinem einzigen anderen Suchtrupp. Das mochte Zufall sein; vielleicht aber auch Glück. Ich musste mir eingestehen, wir waren gut vorangekommen. Natürlich war der Marsch kein Honigschlecken gewesen. Mittlerweile ging es auch den beiden Juclas nicht viel besser als mir. Bei ihnen zeigten sich Mangelerscheinungen, die durch das eingeschränkte Nahrungsangebot hervorgerufen wurden. Der Eptascyn-Eintopf war wohl eher schwer verdaulich. Und wir hatten mit einigen Unbilden der Natur kämpfen müssen. Mit überraschenden und heftigen Stürmen, die uns zwangen, Unterschlupf zu suchen. Einmal mit einer Feuersbrunst, vielleicht durch ein Gewitter ausgelöst, vielleicht auch durch Gewaltakte der Zaqoor in der Nähe. Und immer wieder lästige Behin-
Uwe Anton derungen durch Spinnen, Schlangen, Kreuzungen davon … Wichtig war nur, das wir die Zaqoor abgeschüttelt hatten, aus welchen Gründen auch immer. Hinzu kam die psychische Beanspruchung, unter der wir alle litten. Abenwosch fragte sich ununterbrochen, was aus seinem Clan geworden war, wie viele Schiffe entkommen waren, wie viele Überlebende es gab. Zamptasch sprach nur noch davon, dass er jetzt allein in der Wildnis sterben würde, wenn die Zaqoor ihn nicht vorher erwischten. Und ich hoffte, dass die AVACYN fliehen konnte und die Juclas stark genug waren, einen Gegenangriff zu lancieren, um die Überlebenden des Massakers zu retten. Diese Hoffnung war freilich gering, und es tat uns gut, nicht nur abzuwarten, wie die Lage sich weiter entwickelte, und uns körperlich zu betätigen, sonst wären wir uns früher oder später gegenseitig an die Gurgel gegangen und hätten unseren Häschern die Arbeit abgenommen. Ein wenig Linderung unserer psychischen Anspannung verschaffte das Funkgerät, das die beiden Juclas aus dem zerstörten Gleiter der Zaqoor gerettet hatten. Wenigstens waren wir einigermaßen über die Aktivitäten unserer Gegner informiert. Stündlich trafen weitere Einheiten der Takerer und Zaqoor über Eptascyn ein; auch Schiffe der Torghan und Ur'ogh mischten sich darunter. Es bestand kein Zweifel daran, dass die lordrichterlichen Truppen einem möglichen Revanche-Schlag der geflüchteten Jucla-Einheiten mit aller Vehemenz entgegentreten wollten. Und sie waren hinter mir her, wollten mich endlich in die Finger bekommen – lebend, wie immer wieder ausdrücklich betont wurde. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass dieser eigentlich so unscheinbare Mond zum unerwarteten Brennpunkt der Ereignisse werden konnte. Am 15. Oktober 1225 NGZ hatten wir dann, schon ziemlich erschöpft, einen der drei Gipfel des Sain erreicht. Danach folgte ein steiler Anstieg über mehrere Kilometer. Wir mussten steile Wän-
Die Rache der Juclas
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de überwinden, nur mit Hilfe der Taue, die wir unterwegs gedreht hatten … Aber wir hatten auch das geschafft. Eigentlich kannst du sehr zufrieden sein, meldete sich der Extrasinn. Mit diesen Begleitern fünfundsiebzig Kilometer in drei Tagen … das ist schon eine Leistung. Wolltest du nicht etwas überprüfen? Ich warte noch immer auf das Ergebnis. Färbt die Ungeduld der Juclas auf dich ab? Bald, Kristallprinz, bald. »Alter Balg«, sagte Abenwosch, der das Funkgerät trug, »du solltest dich beeilen. Gerade wurde über Funk durchgegeben, dass ein Suchtrupp der Zaqoor in der Nähe des Sain-Gebirges etwas Verdächtiges entdeckt hat. Bald wird es hier von Feinden nur so wimmeln.« Ich fluchte leise. »Nun?«, fragte ich den Alten bibbernd. Zamptasch sah mich hilflos an. »Es ist schon so lange her … Aber dieser Hügel dort … dort habe ich etwas gefunden.« Er nickte bekräftigend gegen meinen zweifelnden Blick an. »Was haben wir zu verlieren?« Ich lief los. Die beiden Juclas folgten mir. Nach wenigen Minuten der Suche war mir nicht mehr kalt. Ich wischte Nadeln vom mit Moos überwachsenen Boden, kratzte Moos weg, schob Zweige beiseite. Doch nicht ich fand es schließlich, sondern Abenwosch.
* »Hierher!«, rief er und hielt ein matt schimmerndes Rohr hoch, verdreckt und voller Erde, aber zweifellos ein technisches Relikt, auf dessen Sinn und Zweck ich mir jedoch nicht den geringsten Reim machen konnte. Im nächsten Augenblick stieß auch Zamptasch einen triumphierenden Ruf aus und schwenkte eine Platte aus Metall, auf der ebenfalls verklumpte Erde festgefroren war. Ich sah sie mir an, doch es war und blieb einfach nur eine Platte, die uns nicht weiter-
half. »Hier ist vielleicht vor Jahrhunderten oder Jahrtausenden ein Cappin-Schiff notgelandet«, sagte ich. »Oder jemand hat hier einmal eine Siedlung errichtet. Suchen wir weiter! Vielleicht finden wir etwas, das wir wirklich brauchen können.« Die beiden Juclas sahen mich zweifelnd an. »Nach all dieser Zeit?«, murmelte Abenwosch. »Was genau suchen wir?« Ich lachte heiser auf. Eine Waffe mit einem funktionierenden Energie-Pack – das wäre doch etwas, das ich mir wünschen könnte … Wie sollte ich sonst gegen Zaqoor-Krieger antreten, die von Schutzschirmen eingehüllt und mit starken Energiewaffen ausgerüstet die Gegend durchsuchten? Ich machte zwei, drei Schritte, stutzte, blieb stehen. Spielten mir meine Sinne einen Streich? Ich stampfte mit dem Fuß auf. Nein, ich hatte mich nicht getäuscht. Der Boden unter meinen Füßen klang … hohl. War hier vielleicht tatsächlich ein Raumschiff abgestürzt, und befand sich unter mir ein Einstieg? Oder hatte ich einen Schutzbunker entdeckt, der seit Jahrtausenden nicht mehr benutzt worden war, in dem sich aber noch funktionsfähige Waffen befanden? »Na los, helft mir!«, rief ich und fing an zu graben, wie ein Besessener auf den harten Boden einzuschlagen. Während des langen Marsches hatten wir alle die primitiven Werkzeuge verflucht, die wir vor unserem Aufbruch geschaffen und dann mit uns herumgeschleppt hatten, doch nun war ich froh, dass ich darauf bestanden hatte, sie nicht zurückzulassen. Ein wenig Glück fehlt jetzt, dachte ich, eine klitzekleine Dosis … Nein!, meldete sich nachdrücklich der Extrasinn. Davon muss ich dringend abraten. Ich habe lange in uns hineingehorcht und bin mir nun sicher. Du musst all das Gerede darüber, der Flammenstaub würde dich töten, wörtlich nehmen. Er lässt deine Zellen zerfallen, und der Zellaktivator kann diesen Vorgang nur beschränkt aufhalten. Ohne ihn
48 würdest du schon längst nicht mehr unter den Lebenden weilen. »Sehr witzig!«, knurrte ich und hielt mit der Arbeit inne. »Was heißt das genau?« Genau kann ich es nicht sagen. Aufgrund fundierter Schätzungen lasse ich mich aber zu der Aussage hinreißen, dass du den Flammenstaub noch zwei-, drei-, höchstens viermal einsetzen kannst. Das fünfte Mal wirst du definitiv nicht überleben, das vierte wahrscheinlich auch schon nicht. Mir stockte der Atem, wurde kurz dunkel vor Augen. Wie grausam war mein Schicksal doch. Ich hatte die Möglichkeit, Gutes zu tun, und würde daran zugrunde gehen. Aber ich konnte nicht dem Gedanken nachhängen, ob ich es trotzdem tun würde, denn Zamptasch und Abenwosch hatten etwas freigelegt, was seinen Umrissen zufolge einmal ein Schott gewesen war. Aus einer kreisrunden, vielleicht einen Meter durchmessenden und leicht nach oben gewölbten Fläche ragte eine Art Hebel. Ich zerrte vergeblich daran. Abenwosch sprang zu mir und half mir, doch erst als auch Zamptasch uns unterstützte, gab er nach. Mit leisem Knirschen klappte die gewölbte Fläche hoch. Ich spähte in die Öffnung und starrte in undurchdringliche Dunkelheit. Das hinderte mich nicht daran, die Wandung des Schachts abzutasten, der sich wohl vor uns befand. Meine Finger schlossen sich um eine Sprosse, entdeckten dann eine zweite. Ich schwang mich mit den Beinen voran ins Dunkel und zog die Klappe so weit herab, dass die beiden Juclas gerade noch hindurchschlüpfen konnten. »Tarnt den Eingang!«, rief ich hinauf und wartete, bis Abenwosch die Beine in den Schacht schob. Ich half ihm, die Sprossen zu finden, und kletterte dann hinab, immer tiefer, mehrere Meter. Plötzlich flackerte Licht auf. Ich kniff die Augen zusammen und konnte schließlich erkennen, dass ich in einer kleinen Halle
Uwe Anton stand. Nein … in einem Hangar oder Parkdeck für Kleinstschiffe! In stroboskopischen Bildern machte ich mehrere Einmannjäger aus, die mein fotografisches Gedächtnis sofort als ganjasischen Ursprungs identifizierte. Aber sie alle waren mehr oder weniger schwer beschädigt, würden nie wieder fliegen, geschweige denn ins All vorstoßen. Am Ende der Halle machte ich ein geöffnetes Schott aus. Ich lief los, suchte dabei verzweifelt nach Indizien, die mir verrieten, wie groß die Einheit sein mochte, in die wir eingedrungen waren, oder auch nur, wo hinten und vorn war. Der Raumer musste sich jedenfalls sehr tief in den Berg gebohrt haben. Offensichtlich hatten wir bislang nur an der Oberfläche gekratzt. »Atlan!«, rief Abenwosch. »Funksprüche! Die Zaqoor haben gerade metallische Relikte an der Oberfläche des Sain entdeckt!« Ich verbiss einen Fluch. Das bedeutete nicht nur, dass sie ganz in der Nähe sein mussten, sondern auch, wenn sie nicht mit Blindheit geschlagen waren, in Kürze ebenfalls die Schleuse entdecken würden. »Aber das ist nicht alles! Der Äther schwirrt plötzlich von Funksprüchen!« Abenwoschs Stimme zitterte vor Erregung. »Die Juclas haben tatsächlich einen Gegenangriff gewagt!« Ich verstand seine Aufgewühltheit. Nun würde sich das Schicksal seines Volks entscheiden. Und wahrscheinlich nicht zum Positiven. Erzherzog Gulago hatte mittlerweile 30.000 Schiffe um Eptascyn zusammengezogen, kampfstarke Einheiten mit äußerst disziplinierten Besatzungen. Trotz der zahlenmäßigen Unterlegenheit würden die Garbyor leichtes Spiel mit den Angreifern haben. Und das Gemetzel würde in kurzer Zeit beginnen und uns der letzten Chance berauben, doch noch von diesem Mond evakuiert zu werden. Ich hetzte weiter, einen Gang entlang, einen zweiten, einen dritten. Mir wurde klar, dass wir uns nicht in einem für Lebewesen konzipierten Raumschiff befanden. Alles
Die Rache der Juclas war kreuz und quer angeordnet, musste nicht ästhetischen Ansprüchen genügen – wie in den Fragmentraumern der Posbis. Ich öffnete in aller Eile wahllos quietschende Türen und Tore. In manchen Gängen brannte Licht, Nebenaggregate sprangen zögernd an. Wo befand sich die Zentrale? »Die Zaqoor melden über Funk die ersten Feuergefechte«, rief Abenwosch, »und ein Bodentrupp mit Erzherzog Gulago an der Spitze hat soeben das versteckte Schott gefunden!« Ich blieb stehen, hob die Hand. »Habt ihr das auch bemerkt?« Etwas hatte sich verändert, zuerst kaum merklich, nun aber immer deutlicher. Ein leises Vibrieren pflanzte sich durch den Boden fort, schwang in meinen Körper. Die langjährige Erfahrung verriet mir, dass … »Irgendwo laufen Maschinen!« Ja, Abenwosch hatte es auch erkannt. Also lebte hier doch noch jemand. Keine vorschnellen Schlüsse! Wie oft hast du dich schon mit verrückten Positroniken oder ähnlichen Bordrechnern herumschlagen müssen? Natürlich hatte der Extrasinn Recht. In einem Paneel vor mir an der Wand leuchteten farbige Felder auf. Immer mehr Aggregate und Gerätschaften mussten wieder über Energie verfügen, denn diese metallene Welt schien allmählich von einem wahren Erdbeben erschüttert zu werden, das mir den Boden unter den Füßen wegzuziehen drohte. Und innerhalb dieses Crescendos vernahm ich noch ein weiteres Geräusch, das ich als mindestens genauso bedrohlich auffasste. Schritte. Donnernde, stampfende Schritte, wie von einem Riesen. Sie waren deutlich zu vernehmen, und sie wurden immer lauter. Sie näherten sich uns. Abenwosch sah mich an. Verzweiflung lag in seinem Blick. Wir hatten es bis hierher geschafft, wir hatten tatsächlich etwas gefunden, das zu finden wir gar nicht gehofft hatten, und nun … war nun alles vorbei? »Der Herr dieser … dieser Anlage ist er-
49 wacht«, flüsterte er. Er war blass geworden und nicht nur aufgrund der Erschöpfung. »Er wird uns zur Rechenschaft ziehen, weil wir in sein Heiligtum eingedrungen sind.« »Warte ab«, knurrte ich. »Wir wissen doch noch gar nicht, wer oder was da kommt.« Das Stampfen näherte sich aus einem der schräg verlaufenden Gänge vor uns, der in einem schier sinnlosen Winkel auf den unseren stieß. Ein verzerrter Schatten fiel auf die Kreuzung, unförmig und … groß. Details konnte ich nicht ausmachen, aber was da heranwalzte, war wirklich gewaltig. Ein weiterer donnernder Schritt, und noch einer und ein dritter … und eine monströse Gestalt schob sich in unseren Gang: rund, nackt, der Körper von breiten Speckfalten überlagert. Tennisballgroße Augen schauten am Ende von Tentakeln neugierig zu uns herüber, stummelförmige Arme vollzogen schnelle, unkontrolliert anmutende Bewegungen. Zamptasch schrie auf. Mit einer Schnelligkeit, die ich seinem alten, verbrauchten Körper gar nicht zugetraut hatte, sprang er vor und zerrte mit der gleichen Bewegung an seinem Gehstock. Den unteren Teil ließ er achtlos zu Boden fallen, den oberen – den Degen, der in dem hohlen Stock verborgen war – schwang er mit einem lauten Schrei gegen den Koloss. »Nicht, Zamptasch!«, rief ich, doch es war schon zu spät. Mit einem lauten Klirren prallte die Schneide gegen einen der Tentakel – und zerbrach. Mit einem wüsten Fluch auf den Lippen torkelte der alte Jucla zurück und riss schützend die Arme hoch. Doch wenn er gedacht hatte, das Kugelmonster würde ihm den fehlgeschlagenen Angriff heimzahlen, sah er sich getäuscht. »Freundschaft!«, kreischte der Riese. »Ich bin völlig harmlos! Ihr dürft mich nicht töten! Ich habe niemandem etwas getan! Ich arbeite als Ärztin auf einem Sumpfplaneten.« Ich wusste nicht, ob ich lachen oder wei-
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Uwe Anton
nen sollte. Während die Erschütterungen und Spannungserscheinungen in dem Schiff immer weiter zunahmen, meldete sich der Extrasinn. Das ist … »Schon gut«, flüsterte ich. Ich kannte diese Gestalt – oder zumindest eine ihr sehr ähnliche. Und ich bedurfte nicht der Hilfe des Logiksektors, um mich daran zu erinnern. So jemanden wie Florymonth vergaß man nicht. Ich war ihr bereits einmal begegnet, an Bord der MARCO POLO, damals, Ende März 3438 alter Zeitrechnung. Florymonth war ein Homunkulus gewesen. Vielleicht wendete sich am heutigen Tag, dem 16. Oktober 1225 NGZ, meine Heldenreise durch Gruelfin endlich zum Guten. Denn wenn ich dieses Sammelsurium an Aggregaten, diese mit scheinbar robotischer Logik angeordneten Räumlichkeiten richtig einschätzte, befand ich mich an Bord eines … eines … Würde jeder an sich denken, wäre an alle gedacht. Zamptaschs Geflügelte Worte
10. Carmyn Oshmosh In schneller, unregelmäßiger Folge erhellten weißglühende Strahlen und dunklere, flammende Explosionen die Holoschirme der AVACYN. Der Angriff hatte einen ersten Höhepunkt erreicht. Und vielleicht auch schon den letzten. Die Schlacht um Eptascyn verlief genau so, wie Carmyn Oshmosh es befürchtet hatte. Die Juclas agierten äußerst undiszipliniert. Genauso gut hätte Carmyn versuchen können, ein schweres Unwetter, eine Naturgewalt, mit eindringlichen Worten und Appellen zu beeinflussen. Immerhin hatten sie sofort das Feuer auf die ahnungslosen Takerer und Zaqoor eröffnet, was allerdings nicht
einem ausgeklügelten Schlachtplan zu verdanken war, sondern der Ungeduld der Angreifer und einem gesunden Cappinverstand. Das Überraschungsmoment war in der Tat praktisch alles, was sie hatten. Die Kommandantin verfolgte auf den Holos, wie fünfzig, siebzig, hundert JuclaSchiffe eine keilförmige Formation bildeten, sich gegenseitig Feuerschutz gaben und zehn, fünfzehn Einheiten des äußeren Verteidigungsrings der Takerer unter konzentriertes Kreuzfeuer nahmen. Carmyn stöhnte leise auf. Es gelang den Angreifern zwar, durch diese wagemutigen Einzelaktionen eine Lücke in die Reihen der Verteidiger zu reißen, doch das war lediglich ein Tropfen auf den heißen Stein. Ein bedeutungsloser Sieg, erkauft mit dem eigenen Leben. Von den hundert Angreifern entgingen vielleicht zehn der Vernichtung. »Sobald sie sich von der Überraschung erholt haben, werden sie sich auf uns stürzen«, sagte Ypt. »Sie haben mittlerweile noch mehr Einheiten im Tyss-System zusammengezogen. 30.000 Schiffseinheiten stehen dort. Zahlenmäßig sind sie uns zwar noch unterlegen, aber das heißt nichts.« Carmyn nahm die Worte der Orterin kaum wahr. »Nein, das glaube ich nicht«, erwiderte sie schließlich, unfähig, den Blick von den furchtbaren Ereignissen zu lösen, die die Holos zeigten. »Sie stehen perfekt gestaffelt in zwei Verteidigungsringen und veranstalten ein Tontaubenschießen, und ihre Schiffe sind den unseren technisch und in allen anderen Belangen weit überlegen. Sie werden abwarten, bis wir uns aufgerieben haben, und wenn es dann so weit ist, werden sie ausschwärmen und den Juclas endgültig ein Ende bereiten.« Im Feuer der takerischen Einheiten und der Golfballraumer verging ein Jucla-Schiff nach dem anderen. »Es ist unverantwortlich. Ich muss den Rückzug befehlen!« Kaystale lachte heiser auf. »Sie sind im Kampfesrausch. Sie werden deinen Funkspruch gar nicht wahrnehmen, und wenn doch, werden sie ihn nicht beachten.«
Die Rache der Juclas Natürlich hatte die Söldnerin Recht. »Wir halten uns weiterhin von den Gefechten fern!«, befahl sie. »Volle Energie in die Schutzschirme! Myreilune, wenn du eine Möglichkeit siehst, uns ungefährdet näher an Eptascyn heranzubringen, nutzt du sie.« »Ungefährdet«, echote die Pilotin zynisch. Ist es das?, dachte Carmyn. Sehe ich die Schlacht lediglich als Ablenkungsmanöver? Erste Priorität galt Atlans Auffindung und Rettung. Die AVACYN würde sich jedenfalls an keinem Angriff beteiligen. »Die Juclas stürzen sich weiterhin in Selbstmord-Manier auf die Gegner. Respekt vor so viel Mut.« Kaystale schien es in den Fingern zu jucken, doch der Befehl war eindeutig. »Oder Dummheit! Die Takerer werden ihnen bald den Todesstoß versetzen. Sie haben leichtes Spiel mit den altersschwachen Schiffen der Juclas.« Carmyn hielt es nicht länger in ihrem Kombisessel. Die Oberfläche des Mondes kam auf den Ortungsholos nicht näher. Fassungslos verfolgte die Kommandantin immer wieder neue gewagte Einzelaktionen, die die Juclas mit ihrem Leben bezahlten. Als die Angreifer unbemannte Beiboote mit Bomben bestückten und in die Reihen der Verteidiger schickten, schien sich das Blatt kurz zu wenden, doch viel zu wenige davon kamen durch und richteten tatsächlich Schäden an Takerer-Raumern an. »Die Verteidigungsringe um Eptascyn stehen weiterhin sicher. Wir müssen warten, bis die Juclas eine Lücke hineinschlagen, sonst kommen wir nicht durch!«, meldete Myreilune. Sie war zwar gut, sogar sehr gut, aber zaubern konnte sie auch nicht. In diesem Augenblick trat ein, was Carmyn die ganze Zeit über befürchtet hatte. Die Takerer gaben den äußeren Verteidigungsring auf und flogen Angriffe auf die Juclas. »Ortung! Drei takerische Einheiten nehmen Kurs auf uns! Sie haben uns im Visier.« »Abdrehen! Marschflugkörper vorbereiten! Kaystale, geh sparsam mit ihnen um!«
51 Die AVACYN hatte vier davon an Bord, mit Mini-Lineartriebwerken ausgestattet. Carmyn schluckte ihre Enttäuschung hinunter. Sie hatten versagt und waren vom Jäger zum Gejagten geworden. Aber was hatte sie erwartet? Der erste Anflug war gescheitert, einen zweiten würden ihnen die Takerer und Zaqoor nicht ermöglichen. Jeder auch nur mittelmäßige Kommandant würde spätestens jetzt ahnen, was sie vorhatten. »Zwei Marschflugkörper abgeschickt! Sie verfügen über zweifach gestaffelte Hochenergie-Hybridschirme, da geht mit einem gar nichts.« Die Flugkörper verpufften wirkungslos an den Schutzschirmen des takerischen Raumers, und im nächsten Augenblick wurde die AVACYN von einem harten Schlag erschüttert. Carmyn wurde klar, wie groß die technische Überlegenheit des Feindes wirklich war. Und wenn erst die Garbyor-Einheiten in das Gefecht eingriffen … Ypt rief Meldungen, Kaystale jagte den Verfolgern die beiden letzten Flugkörper entgegen, und die AVACYN ächzte unter den Kapriolen, die Myreilune flog, um die Takerer abzuschütteln. Der Schutzschirm eines der drei Raumer brach zusammen, sein Bug wurde von einer Explosion zerrissen. Kein Totalverlust, aber das Schiff drehte ab. Verdammt, wir haben immer noch zwei am Hals. Das grelle Jaulen von Alarmsirenen in der Zentrale wies auf weitere Treffer hin. Ypt betete die Zahl der Einschläge und ihre Folgen mit monotoner Stimme herunter. »Schirme bei fünfzehn Prozent, wir verlieren Energie durch Strukturlücken. Eine weitere Zuleitung ist nicht möglich, ansonsten haben wir keinen Schub mehr für den Antrieb.« Abreime Shastich war offensichtlich hoffnungslos überfordert. Auf ihrem blassen Gesicht zeichneten sich rote Flecken ab. Die Stimme, mit der die Stellvertreterin der Maschinistin ihre Meldungen rief, klang immer hysterischer. »Evoron soll sich darum kümmern! Er muss die Schirme modifizieren, vielleicht zusätzliche Energie aus den Speicherbänken
52 abzapfen.« Carmyn wollte nicht aufgeben. »Volle Beschleunigung!«, rief sie. »Holt aus den Triebwerken raus, was nur geht! Überlichtflug vorbereiten!« Die Verfolger kamen immer näher. Noch wenige Sekunden, und sie befanden sich in Kernschussweite. Dann war jeder Treffer tödlich. Sie konnten Atlan nicht mehr helfen; jetzt mussten sie ihr nacktes Leben retten. »Dringlichkeitsfunkspruch über deine private Sequenz!«, rief Ypt. Irgendwie gelang es ihr, ein Holo aufzurufen. Es zeigte Gandusch in der Zentrale der VRIGOLL. »Irgendetwas passiert da unten auf Eptascyn! Der innere Verteidigungsgürtel der Feinde bricht zusammen! Der Gegner scheint in Panik zu geraten! Erste Einheiten flüchten, während andere von Feuerstößen aus unerwarteter Richtung überrascht und vernichtet werden!« »Ich habe jetzt keine Zeit, mich darum zu kümmern. Zwei Takerer haben es auf uns abgesehen!« Carmyn begriff nicht einmal vollständig, was die Worte des Murras bedeuteten. Die Schutzschirme der AVACYN drohten zu kollabieren. Evoron meldete sich aus dem Maschinenraum und teilte mit, dass er eine Kalibrierung des Halbraumfelds versuchte. »Wir schießen euch den Rücken frei!«, rief Gandusch. »Gebt alle Energie in die Schutzschirme, sie haben euch gleich in Reichweite!« »So viel weiß ich auch!«, presste Carmyn hervor. Sie ignorierte den Murra, starrte wie gebannt auf ein Ortungsholo. Die Takerer waren dicht hinter ihr, so dicht, kamen schnell näher, so schnell … Dann wurde ihr klar, was Gandusch vorhatte. Die VRIGOLL raste auf Kollisionskurs auf die beiden eiförmigen TakererEinheiten zu. Der Jucla will sich für uns opfern!, dachte sie ungläubig. Offensichtlich hatte sie Gandusch und seine Motive völlig falsch eingeschätzt. »Schutzschirme wieder bei siebzig Prozent!«, rief Evoron. »Ich habe eine Notver-
Uwe Anton sorgung durch die Fusionsreaktoren initiiert. Uns bleiben genau zwei Minuten. Sieh zu, dass du bis dahin auf Überlicht bist!« Ypt arbeitete hochkonzentriert an ihrer Konsole. »Weitere Takerer-Einheiten im Anflug!« »Gandusch, nein!« Aber Carmyn wusste, dass sie den Murra nicht aufhalten konnte. Die VRIGOLL raste auf die Takerer zu, die in diesem Augenblick das Feuer auf die AVACYN eröffneten. Blaue Blitze zuckten aus den überlasteten Schirmen, sprangen ins All und verloschen. Beide eiförmigen Einheiten erkannten nun die Absicht der VRIGOLL und leiteten Ausweichmanöver ein, aber es war zu spät. Carmyn konnte nicht erkennen, ob die Explosion eine neue Sonne erzeugte, bevor die Schutzschirme der Schiffe sich berührten oder erst später. Dann verzeichneten die Ortungsgeräte nur noch Megatonnen von Energie, die gerade eben noch nicht existiert hatte. Eine Schockwelle erfasste die AVACYN, schüttelte sie wie mit einer unsichtbaren Faust. Wrack- und Trümmerteile rasten an ihr vorbei; einige trafen sie wohl auch, wurden aber von den Schirmen abgeleitet. Myreilune hielt die AVACYN nur mit Mühe auf Kurs. Die Schutzschirme drohten endgültig zusammenzubrechen. Das ist das Ende, dachte Carmyn. Gandusch ist umsonst gestorben. Wir werden Atlan nicht mehr helfen können. »Nein!«, rief Kaystale, und die Kommandantin merkte, dass sie nicht gedacht, sondern laut gesprochen hatte. »Wir werden uns als würdig erweisen und bis zum letzten Atemzug kämpfen!« Das Gesicht der kahlköpfigen Soldatin glühte vor Stolz. Wünscht sich jeder Takerer solch einen Tod? Glorreich im Kampf mit dem Feind unterzugehen? Dann war es vorbei. Torkelnd taumelte die AVACYN aus dem Inferno. Myreilune musste es irgendwie gelungen sein, seitlich aus der Schockwellenfront auszubrechen. Carmyn empfand unglaubliche Erleichterung und Freude.
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Die jedoch sofort wieder wich, als sie neue Ortungsholos aufrief. Es war in der Tat vorbei. Die takerischen Einheiten des äußeren Verteidigungsrings wüteten unter denen der Juclas, fügten ihnen tausendfache Verluste zu und erlitten selbst kaum welche. Wir haben versagt. Carmyn sah auf den Mond, dem sie nicht näher gekommen waren und der mattrot das Licht des Planeten Ept und dessen Sonne spiegelte. Aber … Ihr stockte der Atem. Der innere Verteidigungsring … »Was ist das?«, hauchte sie. Aus dem Mond hatte sich ein unförmiges Objekt erhoben, so groß, so breit, wie sie es nie zuvor gesehen hatte, nur aus einigen Mythen ihres Volkes kannte. Deutlich erkannte sie den Krater, den es hinterlassen hatte, dort, wo sich einst die Sain-Berge befunden hatten. »Ypt«, krächzte sie. »Daten! Ich brauche Ortungsdaten …« »Das ist … ein Raumschiff! Ein Schiff von unglaublichen Ausmaßen! Mindestens sechzig Kilometer lang und mehr als dreißig breit. Verschachtelt und keinem erkennbaren Baumuster folgend … Und es hat das Feuer auf die Einheiten der Takerer und Zaqoor eröffnet! Deshalb die Panik, von der Gandusch sprach, bevor er …« Bevor er sich für uns geopfert hat, vollen-
dete Carmyn den Satz. »Eine Bildfunkverbindung!«, rief die Orterin. Vor Carmyns Augen entstand ein Holo. Irgendwie ahnte sie, was es zeigen würde, auch wenn sie es nicht glauben konnte. Sie dachte gar nichts mehr, als sie Atlan erkannte. Müde, zerkratzt, scheinbar völlig erschöpft, aber am Leben. »Ich bin in Sicherheit«, sagte der Arkonide. »Meine beiden Begleiter und ich befinden uns an Bord eines Sammlers. Seine Feuerkraft ist enorm, und wir gedenken, sie mit letzter Konsequenz gegen die Takerer und Zaqoor einzusetzen.« Spiegelte sich auf seiner Miene nur Entschlossenheit oder auch eine Spur von Hass? Carmyn wusste es nicht. Es interessierte sie auch nicht. Die Feuerkraft des Gigantraumers, dachte sie, und das Überraschungsmoment, das vielleicht sogar noch mehr zählt. In diesem Augenblick, so ahnte sie, kippte die Schlacht zu ihren Gunsten. Doch wirklich freuen konnte sie sich darüber nicht. ENDE
ENDE
Ein Zentralgehirn in Not von Luc Bahl Atlan hat mit dem sogenannten Sammler, einem gigantischen Robotschiff, gewaltige Unterstützung gefunden. Doch kann die Schlacht im Orbit wirklich mit dem uralten Giganten entschieden werden? Hat die Positronik die Jahrtausende währende Wartezeit schadlos überstanden? Und wie steht es um die Hilfsbereitschaft des Homunkulus, der unseren Arkoniden fatal an Florymonth erinnert, den »Dieb von Gruelfin«?