Dragon - Söhne von Atlantis Heft Nr. 53
Die Rache der Versklavten
von Ernst Vlcek
Schuld daran, daß über Myra düst...
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Dragon - Söhne von Atlantis Heft Nr. 53
Die Rache der Versklavten
von Ernst Vlcek
Schuld daran, daß über Myra düstere Schatten fallen, trägt zweifellos König Dragons lange Abwesenheit, bewirkt durch den veränderten Zeitablauf, der aus sechs Monaten Aufenthalt auf Vestas Welt drei ganze irdische Jahre macht. Und drei Jahre sind zuviel! Schon vorher beginnt es in Myranien unruhig zu werden. Da Dragon längst für tot gehalten wird, bedrängen Freier Königin Amee, die sich ihrer nur mit Hilfe des magischen Umhangs erwehren kann, den Dragon vom Namenlosen erhielt und der aus dem Eisland zurückgeholt wurde. Rachmud, ein schmählich abgewiesener Freier, bedient sich sogar der Mächte der Dunkelheit und des Meisters der Dämonen, um die Königin unter Druck zu setzen und sich an Myra zu rächen. Doch Rachmud stirbt durch eben die Mächte, die er zu Hilfe gerufen hat. Und auch ein Meister der Dämonen – so zeigt es sich – ist nicht in allen Situationen unschlagbar, so daß die Myraner und ihre Königin noch einmal aufatmen können. Bald darauf gelingt Dragon die Rückkehr. Zusammen mit Ubali, dem Panther, und der schönen Thamai durchschreitet er das »Götterauge« und gelangt, weitab von Myra, in das Land, das von den Erben des alten Atlantis beherrscht wird. Je mehr Dragon, dessen Herz ohnehin den Unterdrückten gehört, vom Tun und Treiben der Blutherren, Sklavenjäger und Sklavenhalter sieht, desto mehr Abscheu erfüllt ihn. Er ist es auch, der das Signal zur Revolte gibt – zur RACHE DER VERSKLAVTEN …
Die Hauptpersonen des Romans:
Dragon - Der Atlanter gibt sich als Blutjäger aus.
Ubali, Thamai und Schlangentöter - Dragons verschworene Gefährten.
Athyron - Ein Flottenkommandant erweist sich als erbärmlicher Feigling.
Dankeun - Kapitän der Rifftänzerin.
Tatharana - Das Orakel der Vogelinsel.
Onahan - Ein Schemen des Schreckens.
1. Der Kampf war vorbei. Burg Shebar war fest in ihrer Hand. Während die letzten Freudenfeuer auf dem großen Hof in sich zusammenfielen, weil niemand mehr sie unterhielt, und der Lärm verstummte, weil die ehemals Gefangenen vom Kampf und der anschließenden Siegesfeier müde waren und sich unter freiem Himmel hinstreckten, während sich auch Dragons Gefährten zur Ruhe begaben, schlenderte der Atlanter selbst, von einer seltsamen Unrast erfüllt, durch die Burg. Melniken, Kanuks und sogar ein Quesa, die noch vor Sonnenuntergang im Irrgarten des Verlieses geschmachtet hatten und jetzt hinter den Zinnen und in den Torbögen Wache standen, grüßten ihn ehrfürchtig. Dragon hatte für jeden von ihnen einige freundliche Worte übrig. Auf seinem Weg begegnete er auch Sterndeuter, dem Kanuk aus dem Stamm der Zumotas. Dragon hatte sich diesen Krieger deshalb so gut gemerkt, weil es mit ihm vor einigen Stunden einen unliebsamen Zwischenfall gegeben hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Kampf in der Burg noch an einigen Stellen getobt. Es waren aber nur noch zwei oder drei kleinere Gruppen von Kriegssklaven Shebars, die sich verschanzt hatten und den Aufständischen erbitterten Widerstand leisteten. Sie wollten sich auch nach Dragons wiederholtem Aufruf nicht ergeben,
sondern fielen lieber im Kampf. Da die befreiten Gefangenen keine anderen Gegner mehr fanden, wandten sie sich den Haussklaven zu. Dragon kam zufällig dazu, wie ein Kanuk eine Haussklavin an den Haaren gepackt hatte und ihr den erbeuteten Opferdolch eines Blutjägers am Haaransatz ansetzte, so als wolle er sich ihre Haarpracht als Beute holen. Dragon war eingeschritten und hatte das Schlimmste verhindern können. In der Folge war es ihm gelungen, einer Reihe weiterer Haussklaven das Leben zu retten, die andernfalls den erbosten Eroberern zum Opfer gefallen wären. Selbst als Dragon ihnen noch einmal eindringlich klar machte, daß das Leben all jener zu schonen sei, die sich kampflos ergaben – und das tat die Mehrzahl der Haussklaven – wurde er von den Kanuks und den Quesas unter den Aufständischen nicht recht verstanden. Trotzdem fügten sie sich seinen Befehlen, und von da an wurde nicht mehr das Blut Unschuldiger vergossen, und man brachte die gefangenen Haussklaven in das Labyrinth des Verlieses. Als Dragon jetzt auf dem Wehrgang Sterndeuter begegnete, sagte er zu ihm: »Ich habe gemerkt, daß du meine Entscheidung, den gefangenen Haussklaven das Leben zu schenken, nicht billigtest. Warum empfindest du deshalb Groll gegen mich? Es bestand doch kein Grund mehr zum Töten, denn die Sklaven hatten sich ergeben.« »Sie hatten sich ergeben«, bestätigte der Zumota. Er machte eine Pause, und da Dragon nichts sagte, fuhr er fort: »Wenn ich mich ergebe, dann lege ich mein Leben in die Hand meines Besiegers. Und wenn er klug ist, wird er sich mein Leben nehmen. Denn läßt er mich mit der Schmach weiterleben, von ihm besiegt worden zu sein, dann hat er in mir einen Todfeind, und ich werde nicht eher ruhen, bis ich mich von dem Makel reingewaschen habe. Und das muß mit seinem Blut geschehen.« Dragon verstand. Er war nicht so anmaßend, die jahrhundertealten Gebräuche und Sitten eines Volkes mit einem
Schlag ändern zu wollen. Zu tief war in ihnen die Überzeugung verwurzelt, daß man einen Feind nicht aus der Welt schaffte, wenn man ihm das Leben schenkte. Dankbarkeit dafür, daß man von einem Gegner verschont wurde, kannte man kaum. »Ich lasse deine Worte gelten, Sterndeuter«, erwiderte Dragon. »Doch treffen sie nur zu, wenn ein Krieger dein Gegner ist. Eine schwache Frau dagegen kann für einen Krieger kein ernsthafter Gegner sein. Einer Frau, einem Kind, überhaupt allen Schwachen sollte man seine eigene Stärke zeigen, indem man sie verschont.« Sterndeuter erwiderte seinen Blick. »Ich kann den Sinn deiner Worte verstehen, mächtiger Dragon«, sagte er dann. »Ich weiß, was du mir mitteilen willst. So sprechen viele Weise aus meinem Volk, auch Häuptlinge, die glauben, daß es auch noch eine andere Macht als die der Waffe gibt. Diesen Weisen antwortet ein Krieger mit den Worten des von Talahasset erwählten Medizinmannes Zanzida: Auch ein Kind wird einmal zu einem Krieger und könnte dich dann besiegen – eine Frau kann einen Sohn gebären, ihn zu einem Krieger erziehen und von ihm verlangen, daß er sich an dir rächt. Deshalb töte auch jene, die in späteren Tagen deine Feinde werden könnten. Aber Schlangentöter hat mir verraten, daß du eine mächtigere Medizin als Zanzida besitzt, deshalb will ich dir gehorchen.« »Mir geht es nicht um blinden Gehorsam, Sterndeuter«, versuchte Dragon zu erklären. »Ich möchte vielmehr, daß der Sinn meiner Worte verstanden wird. Wenn du willst, dann nimm sie als eine Botschaft. Und wer diese Botschaft erkennt, der weiß, daß eine Feindschaft nicht ein Leben lang währen muß. Es ist möglich, daß man einem Feind die Hand hinstreckt und damit einen Freund gewonnen hat.« »Und wenn du von dieser Botschaft überzeugt bist, warum tötest du dann überhaupt und reichst nicht allen deinen Feinden die Hand zur Freundschaft?« »Mein Wort, Sterndeuter, das tue ich«, sagte Dragon ernst. »Aber viele wollen meine Hand nicht, sondern den Kampf mit mir. Die
Haussklaven von Burg Shebar aber – sie wollen alle unsere Hand.« »Du mußt es wissen, Dragon«, sagte Sterndeuter. Er sagte es ohne Spott, und Dragon war sicher, daß sein Appell nicht ungehört verhallte. Doch da ertönte plötzlich ein höhnisches Gelächter. Dragon blickte sich um. Er sah niemand, von dem das Gelächter stammen könnte. Nur Sterndeuter stand mit ernster Miene vor ihm. Wieder ertönte das Gelächter. Dragon rieb sich über die Augen. Er fühlte sich weder müde noch schwach. Seit Vitu etwas von seiner Lebenskraft auf ihn übertragen hatte, da hätte er keines Schlafes mehr bedurft, sondern hätte tagelang auf den Beinen sein und kämpfen können, ohne Schwäche oder Müdigkeit zu verspüren. Dennoch geschah nun das mit ihm: Er hörte das Lachen eines Unsichtbaren. Jemand, den er nicht sehen konnte, verspottete ihn mit seinem Gelächter. In seinem ersten Zorn griff Dragon zu seinem Schwert. Der Zumota schien zu glauben, Dragons Kampfbereitschaft gelte ihm, denn er machte eine Abwehrbewegung. Aber dann war Sterndeuter auf einmal nicht mehr da. Nur noch das höhnische Gelächter war zu hören. Es schien von weit her, eigentlich von überall zu kommen. Dragon blickte hoch. Dort oben war nicht der Himmel, sondern die Unendlichkeit. Eine seltsame Erregung überkam ihn. Er fühlte sich in die Zeit des alten Atlantis zurückversetzt. Damals hatte er oftmals die Erde hinter sich gelassen und die Unendlichkeit geschaut. So bot sich ihm der Himmel nun dar. Es war nicht dasselbe, ob man aus einer Tiefebene oder vom Gipfel des höchsten Berges zum Himmel hinaufsah. Vom Gipfel eines Berges aus schien man der Ewigkeit viel näher zu sein. Dragon aber hatte in diesem Augenblick das Gefühl, inmitten der
unendlichen Weite zu sein, in die die Erde eingebettet war. Als er jedoch hinunterblickte, sah er – und spürte er auch unter den Füßen – den festen Boden einer Welt. Aber er war in einem fremden Land. Vor ihm türmte sich ein Berg – so hoch, daß er seinen Gipfel nicht erblicken konnte. Und von irgendwo dort oben kam das höhnische Gelächter. »Zeige dich mir, wer immer du auch bist, der glaubt, mich verspotten zu können!« rief Dragon zornig. »Finde mich!« hallte die lakonische Antwort aus der Unendlichkeit. Und Dragon machte sich auf den Weg. Als er den Fuß des Berges erreichte, stellte er fest, daß das zu gigantischer Größe auftürmende Gebilde sich aus lauter Totenschädeln zusammensetzte. Es waren Totenschädel von Menschen, von Tieren und von fremdartigen Wesen. Da das höhnische Gelächter immer noch aus der Ewigkeit zu ihm hallte, begann er mit dem Aufstieg. Unter seinen haltsuchenden Händen und seinen Füßen rollten Totenschädel in die Tiefe, rissen andere mit sich, bis ganze Lawinen hinunterstürzten. Er hatte bereits eine schwindelnde Höhe erreicht, ohne jedoch den Gipfel der Pyramide sehen zu können. Da übermannte ihn die Müdigkeit. Es war, als würde all die Lebenskraft Vitus mit einem Schlag aus ihm weichen … Schwärze senkte sich vor seine Augen. Er taumelte, verlor den Halt und stürzte in die Tiefe. Der Aufprall erfolgte ziemlich schmerzlos, und als er um sich blickte, fand er sich im roten Staub vor dem Burgtor. Ein Melnike, der dort Wache stand, sah unentschlossen zu ihm herüber. Dragon erhob sich und machte sich auf den Weg zum Burgtor. Er dachte über sein seltsames Erlebnis nach, aus dem er wie aus einem Traum erwacht war.
Aber – wenn es sich um einen Traum handelte, welche Bedeutung hatte er? * Bei seinem Rundgang durch den bewohnten Teil der Blutburg war Dragon auch in ein großes Gewölbe gekommen, dessen Wände mit Mosaiken ausgelegt waren und in dessen Boden Becken und Kanäle eingelassen waren. »Hier haben die Blutjäger und der Burgherr vor ihren ausschweifenden Festen immer gebadet«, hatte Waldblume erklärt, die Dragon eine gute Führerin war und ihm auch Auskunft über alle Gepflogenheiten auf der Burg geben konnte. Daran erinnerte sich Dragon am nächsten Morgen, und er beschloß, sich im Beisein seiner engsten Vertrauten den Schmutz der beschwerlichen Reise und – mehr symbolisch – das Blut seiner Gegner in einem ausgiebigen Bad abzuwaschen. Bei dieser Gelegenheit konnten sie auch gleich ihre Lage besprechen. Außer Ubali und Schlangentöter rief Dragon auch noch den Zumota Sterndeuter und den Melniken Xabrass zu sich. Beide waren ihm von Schlangentöter empfohlen worden, der sie während seiner kurzen Gefangenschaft im Verlies der Burg kennengelernt hatte. Und Dragon hatte sich von den beiden auch selbst ein Bild machen können, denn er hatte sie kämpfen gesehen. Dragon ließ die Haussklavinnen holen, zu deren Aufgaben es gehört hatte, die Blutjäger im Bad zu betreuen. Dragons Gefährten befanden sich in ausgelassener Stimmung, als sie mit ihm, in bodenlange Tücher gehüllt, die dampfende Halle betraten. Nur Sterndeuter war schweigsamer als die anderen, was womöglich auf das ernste Gespräch zurückzuführen war, das Dragon in der vergangenen Nacht mit ihm geführt hatte. Xabrass, der die gelbliche Haut und die gedrungene Gestalt eines Dalaugiri besaß, machte zwar einen etwas unsicheren Eindruck, weil er es nur gewohnt war, im kalten Wasser reißender Flüsse zu
baden. Doch tapfer schloß er sich den anderen an. Aus den wallenden Dämpfen schälten sich die Umrisse von Haussklavinnen, die ebenfalls in Badetücher gehüllt waren und sogar ihre Gesichter dahinter versteckten, so daß nur ihre Augen und die mit grünen Streifen tätowierten Stirnen zu sehen waren. »Sollen wir nicht fragen, ob sie mit uns baden wollen?« schlug Ubali vor und ließ sich lachend aus seinem Badetuch wickeln. »Jetzt ist mir klar, warum du Thamai nicht dabei haben wolltest«, meinte Dragon. »Stimmt nicht«, erwiderte Ubali. »Du selbst warst es, der Thamai erklärte, daß wir Männer unter uns sein wollen. Und ich habe nur das ausgesprochen, was du dir denkst.« Eine der Haussklavinnen gesellte sich zu Schlangentöter, um auch ihm das Badetuch abzunehmen. Doch er hielt es sich verkrampft fest und machte eine abwehrende Bewegung. »Bist du eine Quesa?« fragte er barsch. Die Haussklavin nickte eingeschüchtert. Bevor Schlangentöter etwas darauf erwidern konnte, sagte Dragon schnell: »Was soll das, Schlangentöter? Haben wir nicht schon davon gesprochen, daß Quesas und Kanuks in Zukunft friedlich nebeneinander leben sollen? Warum willst du also nicht den Anfang machen und einer Quesa-Frau erlauben, was du einer Kanuk-Frau nicht verweigern würdest?« Schlangentöter gab seinen Widerstand auf. »Ich bekomme kaum Luft«, beschwerte sich Xabrass. »Ich habe das Gefühl, als sollte ich gesotten werden.« »Wer weiß …«, meinte Sterndeuter mit unheilschwangerer Stimme. Dragon hatte das Badetuch abgelegt. Die kleine, selbst in ihrer Vermummung zierlich wirkende Haussklavin nahm ihn an der Hand und führte ihn durch den Dampf von den Gefährten fort. »He, Dragon!« ertönte Ubalis Stimme. »Wo bist du? Laß dich nicht entführen. Wir wollen doch beisammenbleiben, um unsere Lage zu
besprechen. Ich kann dich nicht mehr sehen!« »Aber hören können wir einander«, erwiderte Dragon lachend. Die Sklavin hatte mit ihm ein Becken erreicht, aus dem Dampfschwaden emporstiegen. Sie waren so dicht, daß Dragon die Wasseroberfläche nur als einen verschwommenen Flecken sah. Die Sklavin bedeutete ihm mit einer Geste, ins Becken zu steigen. Er wäre der Aufforderung bedenkenlos gefolgt. Doch gerade als er sich anschickte, es zu tun, wurde er am Arm gepackt. »Verzeih, Geist des Großen Vogels«, hörte er eine weibliche Stimme hinter sich sagen. »Aber ich möchte dich vor einem Leichtsinn bewahren. Außerdem wolltest du dich an Shebars Badezeremoniell halten. Und der Burgherr hat das Becken nie vor einer Badesklavin aufgesucht.« Dragon drehte sich um und sah hinter sich Waldblume stehen. Sie war voll angekleidet und bewaffnet; in ihrem Gürtel steckte ein Dolch, um ihre Brust spannte sich die Sehne eines Bogens und der Lederriemen, der den Köcher mit den Pfeilen hielt. »Was hat deine Eigenmächtigkeit zu bedeuten, Waldblume«, sagte Dragon unwillig. »Wenn ich deinen Rat brauchte, hätte ich dich rufen lassen.« Die Badesklavin wollte sich zurückziehen, doch Waldblume packte sie am Arm. »Hiergeblieben!« befahl sie. »Du wirst jetzt ins Becken steigen und feststellen, ob das Wasser nicht zu heiß ist.« Die Sklavin wich einen Schritt zurück. »Nein!« entfuhr es ihr entsetzt. Da gab ihr Waldblume einen Stoß, daß sie mit einem Aufschrei ins Becken stürzte. Dragon wollte sich gerade an Waldblume wenden, um sie zurechtzuweisen – da ertönten von überall durch die heißen Wasserdämpfe Schreie. »Verrat! Sie wollten euch alle umbringen!« Das war Thamais Stimme. Ubali rief dazwischen: »Thamai, was bist du für eine Spaßverderberin …« Dragon spürte Waldblumes Körper neben sich, ihre Hände
drückten seinen Arm, und sie wies ins Becken hinunter, in dem die Badesklavin qualvoll schrie und wie eine Besessene um sich schlug. »Sieh nur, Dragon! Dieses Schicksal war dir zugedacht!« Und Dragon sah entsetzt, was mit der Sklavin geschah. Das Wasser hatte zu brodeln begonnen. Das Badetuch, das ihren Körper verhüllt hatte, war von der zersetzenden Kraft des Wassers zerfressen worden, begann sich aufzulösen … so wie die Haut ihres Körpers – und das Fleisch. An einigen Stellen ihres Gesichts schimmerten bereits blanke Knochen durch, aus ihrem weit aufgerissenen Mund fielen die Zähne heraus, ein Arm, den sie hilfesuchend zum Beckenrand ausstreckte, brach ihr am Ellenbogengelenk ab … »Achtung!« Während Dragon entsetzt in das Becken hinuntergestarrt hatte, war aus dem Dampf eine weitere Sklavin aufgetaucht. Mit einem unartikulierten Schrei wollte sie sich auf Dragon stürzen und ihn ins Becken stoßen – doch sie rannte geradewegs in Waldblumes Dolch. Waldblume übergab daraufhin ihren Dolch Dragon und holte den Bogen von ihrer Schulter. Sie legte einen Pfeil ein und – als sich der Nebel für Augenblicke etwas lichtete und sie ein Ziel fand – ließ ihn von der Sehne schnellen. »Ubali!« rief Dragon. »Ist bei euch alles in Ordnung?« »Ich verstehe überhaupt nichts mehr«, rief Ubali über den Kampflärm zurück. »Als Thamai auftauchte, benahmen sich die Badesklavinnen auf einmal wie verrückt. Jetzt müssen wir mit den bloßen Händen um unser Leben kämpfen.« »Die Sklavinnen haben das Wasser vergiftet, du Narr!« ertönte Thamais Stimme. Dragon bewegte sich in die Richtung, aus der er sie hörte. Schon nach wenigen Schritten sah er die Umrisse seiner Gefährten. Und dann tauchte noch ein anderer Schatten auf – der einer zierlichen, vermummten Gestalt. Eine unterarmlange Klinge blitzte in ihrer Hand. Sie wollte damit nach Dragon stoßen, doch mitten in der Bewegung brach sie zusammen.
Als Dragon sich kurz über sie beugte, sah er aus ihrem Nacken einen winzigen Pfeil aus Thamais Blasrohr ragen. »Hinaus mit euch!« rief Thamai mit gellender Stimme. »Waldblume und ich werden mit diesen Weibern schon alleine fertig.« Dragon und die anderen zogen sich, widerstrebend zwar, aus dem Bad zurück. Aber andererseits hätte es ihnen wenig gefallen, nackt und mit bloßen Händen gegen eine Horde entfesselter Sklavinnen raufen zu müssen – für einen Krieger gab es kaum etwas Entwürdigenderes. Sie waren schnell angekleidet. Doch als sie nach ihren Waffen griffen, tauchten auch schon Waldblume und Thamai auf. Thamai betrachtete Ubali mit einem spöttischen Lächeln. »Bereust du es immer noch, daß ich eingriff und dich um das Vergnügen mit den Sklavinnen brachte?« fragte sie ihn. Ubali zeigte ein beschämtes Grinsen. Sterndeuter hatte einige Spritzer des verseuchten Badewassers abbekommen. An seinem linken Oberarm zeigte sich eine Wunde, als hätte ihn dort jemand mit einer Fackel gebrannt. Er wandte sich Dragon zu und sagte: »Kannst du verstehen, daß ich noch immer nicht an die wundersame Wirkung deiner Waffe glaube, die Vergebung heißt, Dragon? Im Gegenteil, ich meine, wir sollten diese ganze Sklavenbrut vertilgen.« »Die Schuldigen haben ihre Strafe erhalten«, erklärte Dragon. »Ich möchte nicht, daß alle Sklaven dafür büßen müssen.« * Dragon hatte sich mit seinen Gefährten auf der obersten Plattform des Wehrturms eingefunden. Von hier hatte man einen herrlichen Ausblick. Man sah bis zu den Bergen im Süden, tief in die nördliche Hungerwüste – und bis zum westlichen Meer.
»Dort ist die Hossabucht, wo die sechs Schiffe aus Neuatlantis immer vor Anker gehen«, erklärte Waldblume. Dragon folgte ihrer ausgestreckten Hand mit den Augen, und er bildete sich sogar ein, weiße Segel zu sehen, die sich von der flimmernden Wasserfläche abhoben. Auf der Plattform standen zwei Melniken Wache. Dragon hatte angeordnet, daß sie das Land um die Blutburg nie aus den Augen ließen und ihr besonderes Augenmerk der Hungerwüste widmeten. Jetzt, da er sich mit seinen Freunden besprechen wollte, waren sie ihm aber lästig, und er befahl Xabrass, sie fortzuschicken. Er blickte wieder zu der fernen Felsenbucht hinaus, die nach den Hossas benannt worden war und die im Dunst des Horizonts fast verschwand. »Es wird Zeit, daß wir uns nun den Schiffen widmen«, sagte er dabei wie zu sich selbst. »Wenn wir noch länger warten, wird man an Bord vielleicht noch mißtrauisch und schickt Kundschafter aus. Das möchte ich vermeiden.« »Laß die Kundschafter nur kommen«, sagte Schlangentöter. »Wir werden sie in einen Hinterhalt locken. Dann versenken wir die Schiffe, und erschlagen alle, die sich schwimmend an Land zu retten versuchen.« Dragon schüttelte den Kopf. »Hast du vielleicht einen besseren Plan?« fragte Schlangentöter beleidigt. Dragon war im Umgang mit dem jungen Padoka-Krieger diplomatisch genug, um ihm nicht auf den Kopf zuzusagen, daß er seinen Vorschlag für ganz und gar undurchführbar hielt. »Nein, ich habe keinen besseren, Plan«, sagte er, »nur einen, der für unsere Zwecke besser geeignet ist. Mir geht es in erster Linie darum, daß keines der Schiffe entkommen kann. Andererseits möchte ich aber auch keines versenken. Sie könnten uns später noch gute Dienste leisten.« »Wenn sie seetüchtig genug sind, könnten wir damit bis Myra
segeln«, warf Ubali schwärmerisch ein. »So weit denken wir vorerst besser nicht«, erwiderte Dragon. »Aber später, wer weiß … Zuerst müssen wir die Macht der Blutherren brechen. Und auch dabei könnten uns die Schiffe dienlich sein.« Er wandte sich den Freunden zu, sein Blick blieb an Waldblume haften. »Du hast mir erzählt, daß der Brauch es verlangt, daß die Kapitäne und die Mannschaft am Landeplatz vom Burgherrn begrüßt werden«, sagte er zu dem Taquira-Mädchen. »So geschieht es immer«, bestätigte Waldblume. »Seit ich auf Burg Shebar bin, landete die Flotte schon zweimal. Immer ritt Shebar mit sechs von seinen besten Jagdsklaven zur Hossa-Bucht hinaus und brachte den Kapitänen Reittiere, damit sie den weiten Weg zur Burg nicht zu Fuß machen mußten.« »Und was würde in einem Fall wie diesem geschehen, wenn der Burgherr nicht anwesend ist?« wollte Dragon wissen. »Dann müßte der Schlüsselherr ihn vertreten«, antwortete Waldblume. »Da aber auch Quampas, dieser verfluchte Quesa, ins Totenreich eingegangen ist, müßte ein Blutjäger den Kapitänen seine Aufwartung machen.« »So wird es sein«, erklärte Dragon. »Da Blutjäger durchwegs Neuatlanter sind, werde ich mich als einen solchen ausgeben.« »Das ist zu gefährlich, Dragon«, gab Xabrass zu bedenken. »Wie leicht könntest du dich durch ein einziges Wort verraten! Du wärst dann unweigerlich verloren – und wir stünden ohne unseren Kriegsführer da. Glaubst du nicht, daß auch ein Melnike die Rolle eines Blutjägers übernehmen könnte? Sein Gesicht wäre ohnehin unter dem Goldhelm verborgen, ebenso wie sein Körper unter der Rüstung.« »Das wohl«, gab Dragon zu. »Aber einen Melniken würde man allein schon an seiner Aussprache erkennen. Auch wenn man dich nicht sieht, sondern nur hört, Xabrass, würde dir niemand glauben, daß du ein Neuatlanter bist. Abgesehen davon möchte ich die
Kapitäne selbst kennenlernen und mir mit eigenen Augen ein Urteil über die Kampfstärke der Mannschaft bilden. Die Gefahr, daß ich mich durch ein unbedachtes Wort verraten könnte, erachte ich auch nicht als sehr groß. Immerhin kenne ich das Verhalten der Blutjäger inzwischen recht gut – und Waldblume wird mir verraten, wie ich mich den Kapitänen gegenüber zu benehmen habe. Wenn du aber glaubst, daß ich eines besonderen Schutzes bedürfe, dann kannst du mich als Jagdsklave begleiten, Xabrass.« »Das will ich unbedingt tun, Dragon.« »Ich werde dich ebenfalls begleiten«, sagte Schlangentöter spontan. Dragon hatte nichts dagegen. Er stimmte auch zu, als sich Sterndeuter anbot, einer seiner Begleiter zu sein. Als jedoch auch Ubali darauf bestand, als »Jagdsklave« mit ihm zu gehen, da lehnte Dragon ab. »Du würdest wegen deiner ungewöhnlichen Hautfarbe zu sehr auffallen. Ubali«, begründete Dragon seine Weigerung. »Außerdem muß jemand zurückbleiben, um die Burg zu bewachen. Mit dieser Aufgabe kann ich nur jemanden betrauen, der eine Kampferfahrung wie du besitzt.« Ubali fügte sich murrend in sein Schicksal. Er mußte zwar Dragons Argument anerkennen, daß er wegen seiner dunklen Hautfarbe auffallen würde, doch glaubte er nicht, daß die Bewachung der Burg eine so wichtige Aufgabe war, wie Dragon tat. »Von wem könnten wir hier schon bedroht werden«, meinte der dunkelhäutige Hüne aus Shi-but mürrisch. Bevor Dragon noch etwas erwidern konnte, erklang ein langgezogener Ton von einem der Alarmhörner. Sie stürzten alle zu den Zinnen und blickten zu den Wehrgängen der Burgmauern hinunter. Dort liefen einige aufgeregte Gestalten durcheinander. Melniken und Kanuks griffen zu den erbeuteten Waffen und eilten auf ihre Posten. Es schien aber, daß niemand so recht wußte, was der Alarm zu bedeuten hatte.
Erst nach einer geraumen Weile erreichte die Meldung, daß sich aus der Hungerwüste eine Abordnung von Reitern der Burg nähere, Dragon und seine Gefährten auf der Plattform des Wehrturms. Zu diesem Zeitpunkt hatte aber Schlangentöter die Staubwolke am Horizont selbst schon erspäht. »Da! Reiter!« rief er aus. »Es sind nicht viele, höchsten vier oder fünf.« Kurz darauf war die Staubwolke wieder verschwunden, der Wind hatte sie verweht. Von den Reitern fehlte jede Spur. »Ich möchte, daß die Wachtposten verstärkt werden«, wandte sich Dragon an Ubali und deutete gleichzeitig in die Hungerwüste hinaus. »Das ist die Antwort darauf, warum ich auf die Bewachung von Burg Shebar besonderen Wert lege.« »Welche Gefahr sollte uns von vier oder fünf Reitern denn schon drohen«, meinte Ubali noch immer skeptisch. »Sie könnten die Vorhut einer größeren Streitmacht sein«, antwortete Dragon. »Erinnere dich nur daran, daß einer der Jagdsklaven entkam, als wir den Blutjäger aus Ossar und seine Meute überfielen. Wenn er Ossar Bericht erstattete, könnte es sein, daß dieser seine Krieger ausschickte, um Vergeltung zu üben – gegen wen auch immer. Da zwischen Burg Shebar und Ossar eine Fehde besteht, wäre es denkbar, daß Ossar seine Heerschar hierher schickt. Aber es gibt noch eine zweite Gefahr. Das sind die Suchtrupps, die auszogen, um den verschollenen Shebar zu finden. Irgendwann werden sie unverrichteter Dinge zurückkehren – und dann haben wir es mit einigen kampferprobten Blutjägern, fünfzig Jagdsklaven und vierzig Hossas zu tun.« »Daran habe ich nicht gedacht«, gestand Ubali ein. Dragon deutete wieder in Richtung der Hungerwüste. »Vielleicht stammt die Staubwolke, die wir sahen, schon von diesen Suchkommandos. Wir müssen auf jede Überraschung gefaßt sein.« »Aber wenn es sich um ein Suchkommando handelt«, warf Ubali
ein, »wieso nähert es sich dann nicht weiter der Burg? Es sieht fast so aus, als hätten sich jene in der Hungerwüste verschanzt, um nicht vorzeitig entdeckt zu werden.« »Möglicherweise haben die Blutjäger erfahren, daß die Burg überfallen wurde. Frage mich jedoch nicht, wie oder von wem sie das erfahren haben könnten. Wichtig ist nur, daß wir auf der Hut sind – und daß wir den Kontakt zu der Versorgungsflotte herstellen, bevor uns irgendwelche Gerüchte vorauseilen.« Dragon verlor keine Zeit mehr, sondern ließ von Sterndeuter und Xabrass die Vorbereitungen für den Marsch zur Hossabucht treffen, während er sich von Waldblume alles ausführlich erzählen ließ, was sie über das Empfangszeremoniell wußte.
2. Athyron berief sich ständig darauf, daß das alte, edle Blut von Atlantis durch seine Adern floß. Er vergaß bei keiner Gelegenheit zu erwähnen, daß er in direkter Verwandtschaft zu Vodor stehe – und ließ es jeden spüren, daß er am Herrscherhof von Neuatlantis großen Einfluß hatte. Doch Dankeun wußte, was für ein nichtswürdiger Feigling er war. Wie anmaßend er war, wie überheblich und herablassend auch zu jenen, die von gleich edler Abstammung waren. Dabei war er ein ganz elendiger Feigling, der bei der geringsten Bedrohung um sein Leben winselte und dabei auch seine edle Abstammung vergaß. Er, Dankeun, hatte ihn durchschaut. Er glaubte jetzt den Gerüchten vorbehaltlos, die behaupteten, daß Athyron den Posten eines Flottenkapitäns nur dem Wohlwollen Vodors, nicht aber seiner Tüchtigkeit zu verdanken habe. Es lag noch keine fünf Tage zurück, da hatte Dankeun den aufgeblasenen Befehlshaber der Versorgungsflotte vor einem abscheulichen Tier im Staub liegen gesehen und gehört, wie er um Gnade winselte. Jetzt, vor seinen Untergebenen spielte er wieder den starken Mann. Er saß hochaufgerichtet im Heck des Ruderboots, die vorspringende Hakennase landwärts gerichtet, den schmalen Mund verkniffen, während seine Augen stechenden Blicks von einem Boot zum anderen wanderten. Wehe, wenn es einer der anderen fünf Kapitäne gewagt hätte, vor ihm an Land anzulegen. Die anderen mußten eine Bootslänge hinter ihm bleiben, so verlangte es die Etikette – und Athyron war sehr darauf bedacht, sie einzuhalten. Wie Dankeun diesen Mann nur haßte. Dieser Haß loderte aber nicht erst seit fünf Tagen in ihm, nein, er hatte Athyron schon vorher nicht gemocht. Aber nun kam auch noch Verachtung hinzu. Er hatte den großen, herrischen Athyron ganz klein gesehen,
zusammengekauert wie ein Sklave, der Prügel fürchtete – und der überhebliche Zug um den Mund war verschwunden gewesen, die Lippen hatten wie bei einem gezittert, den Todesangst peinigte, die Flügel seiner Hakennase hatten gebebt, waren aufgebläht gewesen, und seine Augen hatten nichts Stechendes gehabt, sondern waren groß und feucht vor Angst gewesen … Warum nur hatten die Bewohner der Vogelinsel ihm die Augen nicht ausgehackt! Athyron wich seinem Blick bewußt aus, weil er sonst in Dankeuns Augen hätte lesen können, was dieser von ihm hielt. Dankeun wußte, daß er in Gefahr war. Athyron mußte nun ständig befürchten, daß er verraten würde, was auf der Vogelinsel tatsächlich passiert war. Dankeun hatte darüber bisher noch kein Wort verloren – er wollte warten, bis sie zurück in Neuatlantis waren. Dann erst wollte er reden, falls Athyron ihn vorher nicht meucheln ließ. Damit rechnete Dankeun ständig, aber er war auf der Hut. Er ballte die Hände zu Fäusten, als er wieder die Geschehnisse vor sich sah, die sich auf der Vogelinsel abgespielt hatten. Es war kurz nach Umrundung des Vogelkaps gewesen, als die Stern von Atlantis, Athyrons Schiff, Blinkzeichen gegeben hatte. Der Flottenkapitän gab darin den anderen Kapitänen zu verstehen, daß sie den Kurs auf die Hossabucht beibehalten sollten, während er mit der Stern von Atlantis und der Rifftänzerin, Dankeuns Schiff, in den Kapgewässern zurückbleiben wollte. Das konnten sie sich leisten, denn günstige Winde hatten ihnen einen ganzen Tag Vorsprung eingebracht. Nachdem die anderen vier Schiffe weiterfuhren, kam Athyron an Bord von Dankeuns Schiff. Ohne lange Umschweife erklärte Athyron seine Absicht, der Vogelinsel einen Besuch abstatten zu wollen. Jeder andere Kapitän hätte dies als selbstmörderisches Unternehmen abgelehnt, nicht aber so Dankeun, denn er selbst war es gewesen, der Athyron verraten hatte, daß es eine Möglichkeit
gab, die Insel ungefährdet zu betreten. Bisher war dies noch niemandem gelungen. Denn die Insel wurde von Schwärmen von Vögeln bevölkert, die jeden mit ihren Krallen und scharfen Schnäbel in Stücke rissen, die in ihr Reich eindrangen. Athyron hatte aber auf seiner letzten Fahrt einen Eingeborenen aus dem Meer gefischt, der ihm erzählte, daß es hinter den Riffen eine Grotte gebe, die unterirdisch bis in die Mitte der Insel führe – bis in das Reich der sagenumwobenen Vogelkönigin. Die Quesas, die im Hügelland hinter dem Vogelkap lebten, kannten viele Legenden über die Vogelkönigin Tatharana. Dankeun hatte davon gehört, daß es sich um eine neugeborene Quesa handelte, die von einem riesigen Vogel aus den Armen ihrer Mutter geraubt, zur Vogelinsel entführt und von den Vögeln aufgezogen und zu ihrer Königin gemacht wurde. Andere Legenden behaupteten wieder, daß es sich um einen Fisch handelte, der bei Ebbe auf einem Riff gestrandet sei. Doch anstatt den Fisch zu verschlingen, retteten die Vögel ihn und machten ihn zu ihrer Königin. Wie dem auch war – die Quesas vom Vogelkap ruderten oft zur Vogelinsel hinaus, um sich von Tatharana Rat zu holen und sich die Zukunft deuten zu lassen. Man erzählte sich Wunderdinge über die Vogelkönigin, und einige Berichte waren sogar bis nach Neuatlantis gedrungen. Aber nur einmal wurde von einem wagemutigen Kapitän der Versuch unternommen, auf der Vogelinsel zu landen. Er kam gerade noch mit dem Leben davon und berichtete, daß die meisten seiner Leute von den Vögeln förmlich zerrissen worden wären. Da man wußte, daß die Quesas aber in ihren Booten oftmals der Insel einen Besuch abstatteten, versuchte man auf verschiedene Arten, auch mittels Folter, herauszufinden, welchen Weg sie nahmen, um bis zu Tatharana vorzudringen. Aber die Quesas starben lieber, als ihr Geheimnis preiszugeben. Auch jener, den Dankeun aus dem Meer fischte, hätte freiwillig sicherlich nichts verraten. Doch er redete im Schlaf und beschrieb
jene Stelle, wo hinter den Riffen der Eingang zur Grotte verborgen war. Man konnte die Grotte nur mit einem kleinen Boot erreichen, und als Dankeun ein solches ausschickte, fand er die Grotte auch. Er war so unklug, Athyron davon zu erzählen, woraufhin dieser sofort veranlaßte, daß die Rifftänzerin seiner Flotte zugeteilt wurde. Dankeun hätte schon mißtrauisch werden sollen, als Athyron an Bord seines Schiffes kam und ihm befahl, Kurs auf die Vogelinsel zu nehmen. Aber damals kam Dankeun noch nicht der Verdacht, daß Athyron sein Schiff nur deshalb zurückließ, um es nicht der Gefahr auszusetzen, an einem der unzähligen Riffe rund um die Insel aufzulaufen. Es bestand zuerst auch noch kein Grund, Athyron für einen Feigling zu halten, weil er selbst an Bord des Ruderboots ging, mit dem sie unter Bedeckung von fünf der besten Seesklaven Dankeuns zur Grotte fuhren. Was aber später geschah, demaskierte Athyron gleichermaßen als Feigling und erbärmlichen Schuft. Dankeun mußte zugeben, daß er selbst von Grauen erfaßt wurde, als sie nach einem endlos scheinenden Marsch durch die Grotte – ständig von Vögeln bedroht, die durch enge Löcher zu ihnen herabstürzten – Tatharana gegenüberstanden. Dankeun fielen in diesem Augenblick die Legenden der Quesas ein. Und er wollte sie alle glauben. Daß die Vogelkönigin eine von ihren gefiederten Freunden großgezogene Quesa sei. Daß es sich um einen Fisch handelte. Alles war möglich, denn das Ding, das vor ihnen hockte, hatte von allem etwas an sich – von einer Qualle, einem Fisch, einem Menschen und einem Vogel. Und es ging etwas von ihm aus, das den Willen des stärksten Mannes lähmen konnte. Dankeun spürte die Gefahr als erster und warf deshalb sofort seinen Umhang über das Ding, damit niemand mehr es anzusehen brauchte. Doch Athyron war bereits so von Sinnen, daß er sich zu Boden warf und schluchzend um Gnade flehte. Keiner der gemeinen Seeleute benahm sich so entwürdigend wie er. Und Dankeun hätte
ihn am liebsten getötet. Doch dann besann er sich und kam zu der Überzeugung, daß es für Athyron eine viel größere Strafe sein würde, mit dieser Schmach weiterzuleben. Dankeun schleppte mit Hilfe der Seesklaven das in seinen Umhang eingewickelte, zuckende und schreiende Ding durch die Grotte zurück zum Boot. Athyron hatte inzwischen Zeit gehabt, zu sich selbst zurückzufinden. Und dann machte er etwas, wodurch er endgültig in Dankeuns Achtung sank. Athyron schickte die fünf Sklaven unter einem Vorwand wieder in die Grotte. Als sie zurückkehrten, befahl er, das Boot ins offene Meer hinauszurudern – und zwar mit Kurs auf die Stern von Atlantis. »Keine Wort über das Vorgefallene«, verlangte Athyron vorher von Dankeun. »Oder ich werde dich vernichten!« Das Boot legte an der Stern von Atlantis an. Das zuckende, klagende Etwas in Dankeuns Umhang wurde an Bord gehievt. Dann ließ Athyron die fünf Seesklaven von seinen Bogenschützen töten. Damit war Dankeun der letzte lebende Zeuge des Vorfalls auf der Insel. Er wußte natürlich, daß er in ständiger Lebensgefahr schwebte. Doch er war gewappnet. Und er schwor sich, Athyrons Anschlägen auf sein Leben zuvorzukommen – oder ihn mit in den Tod zu nehmen. Dankeun schreckte hoch, als der Kiel des Bootes sich knirschend in den Sand des Strandes bohrte. Sie waren in der Hossabucht gelandet. * Die sechs Boote landeten hintereinander. Athyron achtete mit Adlerblick darauf, daß keines der anderen Boote vor seinem den Strand erreichte. Ein besonders wachsames Auge hatte er auf Dankeun.
Athyron suchte ständig nach irgendeinem Grund, um gegen den Kapitän der Rifftänzerin vorgehen zu können. Aber dieser war gerissen genug, ihm keine Gelegenheit dazu zu geben. Und Athyron war andererseits so schlau, Dankeun nichts von seinen Absichten merken zu lassen. Er behandelte ihn zuvorkommender als die anderen Kapitäne, so daß diese glauben mußten, Dankeun sei sein besonderer Günstling. Vielleicht schürte das den Neid eines der anderen Kapitäne, der dann Athyron die schmutzige Arbeit abnahm und Dankeun beseitigte. Jedenfalls mußte irgend etwas geschehen, denn trauen durfte Athyron dem Kapitän der Rifftänzerin nicht. Athyron blickte sich in seinem Boot um, winkte einen Seesklaven heran, der ins Wasser watete, sich vor dem Flottenkapitän bückte, so daß dieser auf seinen Rücken klettern konnte, woraufhin er ihn zum Strand trug. Die fünf anderen Kapitäne gesellten sich zu Athyron. »Das hast du alles vortrefflich in die Wege geleitet, mein lieber Dankeun«, lobte Athyron seinen »Günstling«, während er gefällig in die Runde blickte und mit versteckter Genugtuung feststellte, wie die anderen Kapitäne die Gesichter mißmutig verzogen. »Es war keine besondere Leistung, die Waren an Land zu bringen und zu verstauen«, erwiderte Dankeun. »Ich bilde mir jedenfalls nichts darauf ein.« »Wie bescheiden«, meinte Athyron. »Wenn Dankeun von seiner Leistung spricht, hört es sich so einfach an. Aber ich bin sicher, daß ein anderer nicht in der Lage gewesen wäre, die Ladung ohne Schwierigkeiten zu löschen. Nicht wahr, Penthor?« Der bullige Kapitän der Sturmwolke zuckte nur die Achseln und machte ein saures Gesicht. Athyron hatte ihn durch das überschwengliche Lob für Dankeun soweit gebracht, daß Penthor diesen zu hassen begann. Penthor konnte auch nicht wissen, daß Athyron ihn zu Dankeuns Gegenspieler auserkoren hatte. Athyron konnte mit seinem
Ränkespiel zufrieden sein. Der Flottenkapitän schritt den Strand entlang. Die Seesklaven hatten die ganze Nacht hindurch in den kleinen Ruderbooten die Ladungen der sechs Schiffe an Land gebracht und hier verstaut. Die Seekrieger hatten sie bewacht. Es hatte aber keine Zwischenfälle gegeben. Athyron rechnete damit auch nicht, denn er wußte, daß Shebar die Eingeborenen dieses Landstrichs fest in der Hand hatte. Die Wachen dienten hauptsächlich nur dazu, wilde Tiere abzuschrecken. Außerdem wäre herrenlos scheinendes Gut eine zu große Verlockung für diebische Quesas gewesen. Jetzt waren die sechs bauchigen Transportschiffe entladen – und konnten die vierhundert Sklaven an Bord nehmen, die Shebar dem Herrscherhof abzustellen hatte. Athyron fragte sich, ob Shebar sein Halbjahressoll erfüllen konnte. Sicher konnte er das, Athyron war davon überzeugt. Ja, er war sogar sicher, daß Shebar über einen gewissen Überschuß verfügte, so daß der Flottenkapitän mit ihm ins Geschäft kommen konnte. Athyron hatte für ihn auch schon ein Geschenk bereit, das dem etwas abartig veranlagten Shebar sicherlich gefallen würde … »Bring jetzt den Käfig an Land, Manchos«, befahl Athyron seinem Steuermann. »Aye, aye, Kapitän.« Manchos war, wie alle Seekrieger, ein Neuatlanter. Allerdings war seine Abstammung nicht ganz rein. Er konnte nie ein Schiff befehligen oder eine andere höhergestellte Position erreichen. Die Seekrieger gehörten der niedersten Kaste der Neuatlanter an. Meist handelte es sich um Bastarde, die aus Verbindungen mit Sklavinnen hervorgegangen waren und die dann im Jünglingsalter die Blutprobe nicht bestanden hatten. Es gab unter den Seekriegern aber auch Sprosse von edlen Neuatlantern. Doch war auch ihnen der Aufstieg in die höheren Gesellschaftsschichten versperrt, weil man auch bei ihnen schon in ihrer Jugend einen Makel festgestellt hatte.
Athyron war überzeugt, daß er nach seiner Rückkehr nach Neuatlantis auch bei Dankeun irgendeinen Makel an seiner Vergangenheit finden konnte. Doch so lange durfte er nicht warten. Er mußte ihn vorher schon mundtot machen. Während die Seekrieger, von denen jedem Schiff fünfzehn zugeteilt waren, durchwegs von Neuatlantis abstammten, handelte es sich bei den Seesklaven zumeist um Angehörige der Quesas. Viele von ihnen waren aber auch auf Neuatlantis in Gefangenschaft geboren worden. Das war auch der Hauptgrund, warum man sie nicht als Lebens- oder Blutspender nahm. Bei dem Gedanken an Blut erschauerte Athyron. Er konnte es kaum mehr erwarten, nach Burg Shebar zu kommen. »Hat sich noch kein Bote von Shebar gezeigt?« fragte Athyron, ohne sich an jemand Bestimmten zu wenden. »Nein, Kapitän«, antwortete Penthor. Erklärend fügte er hinzu: »Ich hatte letzte Nacht Landwache und müßte es wissen, wenn ein Bote von Burg Shebar gekommen wäre.« Sie stiegen über einen schmalen Pfad die Steilküste hinan. Athyron rief nach einigen Schritten zwei Sklaven zu sich und ließ sich von ihnen den beschwerlichen Weg hinauftragen. Als sie oben vor Erschöpfung zusammenbrachen, trat er sie. Sonst war er nicht so grob im Umgang mit Sklaven, aber er hatte bemerkt, daß die beiden von Dankeuns Rifftänzerin stammten. »Was für ein herrlicher Tag«, stellte Athyron fest und betrachtete wohlgefällig das öde, zerklüftete Land, das kaum bewachsen war. »Und Burg Shebar erstrahlt in der Farbe des Blutes …« Von ihrem Standort konnten sie ganz deutlich den roten Fels erkennen, der sich wie ein Monument der Macht aus dem Karstland erhob. Plötzlich runzelte Athyron die Stirn. »Shebar wird schon längst wissen, daß wir in der Bucht ankern«, sagte er. »Ich bin sicher, daß er uns noch heute die Ehre geben wird. Warum hast du es dann unterlassen, die Vorbereitungen für einen
schnellen Aufbruch zu treffen, Penthor?« »Ich war für die Landwache eingeteilt, Athyron«, rechtfertigte sich der Kapitän der Sturmwolke. »Etwas anderes hast du mir nicht aufgetragen.« »Ein anderer Kapitän wäre sicherlich von selbst daraufgekommen, was zu tun gewesen wäre«, erwiderte Athyron kühl. »Was hättest du an Penthors Stelle getan, Dankeun?« Der Kapitän der Rifftänzerin fühlte sich sichtlich unbehaglich, als er antwortete: »Ich hätte die Ladung nicht in der Bucht gelagert, sondern sie hier nach oben bringen lassen.« Athyron schenkte ihm ein anerkennendes Lächeln. »Das wäre das einzig Richtige gewesen. Da Penthor anscheinend nicht in der Lage ist, solche einfache Entscheidungen zu treffen, wirst du das übernehmen, Dankeun. Ich bin sicher, daß du die Sklaven anhalten kannst, die Ladung noch vor Mittag hier zu verstauen.« »Zu Befehl, Kapitän Athyron.« Als Dankeun sich abwandte, um den Befehl sofort auszuführen, stellte Athyron zufrieden fest, wie Penthor ihm giftige Blicke nachsandte. »Schickt zwei Kundschafter aus«, befahl Athyron. »Sie sollen mich auf Shebars Ankunft vorbereiten, damit wir ihm nicht unvorbereitet entgegentreten.« Einer der Kapitäne erwählte zwei Seekrieger und schickte sie mit Ahtyrons Auftrag fort. Athyron kehrte dem Land den Rücken zu und blickte zur Bucht hinunter. Er sah, wie ein Ruderboot von der Stern von Atlantis abstieß und dem Strand zusteuerte. Es hatte ein mannsgroßes, würfelförmiges Gebilde geladen, das mit angefeuchtetem Segeltuch überdeckt war. »Ah, man bringt bereits das Geschenk für den Burgherrn von Shebar«, rief Athyron zufrieden aus. »Machen wir uns an den Abstieg.« Athyron konnte sich denken, daß seine Kapitäne fast vor Neugier
vergingen. Aber sie wagten nicht mehr zu fragen, was in dem »Käfig«, steckte, seit er ihnen erklärt hatte, daß sie es noch früh genug erfahren würden. Freilich ließ es sich nicht verheimlichen, daß er zusammen mit Dankeun der Vogelinsel einen Besuch abgestattet hatte. Aber was er dort erbeutet hatte, wußte niemand von der Besatzung. Phantasievoll und abergläubisch, wie Seeleute nun einmal waren, hatten sie die unwahrscheinlichsten Geschichten erfunden. Manche davon kamen der Wahrheit sogar sehr nahe. Athyron und seine Kapitäne erreichten den Strand gerade, als die Rudersklaven den verdeckten Käfig aus dem Boot hoben. »Bringt ihn in den Schatten«, befahl Athyron. »Am besten in eine feuchte Höhle. Aber schnell. Sonnenlicht schadet dem Ding.« So wissend Athyron tat, er wußte selbst nicht, was dem »Ding«, nützlich war. Aber ganz sicher hatte ihm die Entführung von der Vogelinsel nicht gut getan. Es jammerte kläglich unter dem feuchten Segeltuch, und es tat dies mit den Stimmen von Vögeln und anderen Tieren. Bald war der Strand von dem qualvollen Geschrei erfüllt, und die Sklaven und selbst die Seekrieger wurden ganz scheu und verängstigt. Während der Fahrt von der Vogelinsel hierher hatte Ahtyron festgestellt, daß sich der Zustand seiner Beute zusehends verschlechterte. Er hatte Tatharana in einem eigenen Laderaum untergebracht und ihr des öfteren Besuche abgestattet – ohne sie sich jedoch noch einmal anzusehen. Es hatte ihm genügt, ihren Anblick in der Grotte der Vogelinsel ertragen zu müssen. Deshalb hatte er sie mit Segeltuch abdecken lassen. Der Sklave, der das getan hatte, stürzte sich daraufhin schreiend über Bord. Auch die beiden anderen Sklaven, die den Käfig aus Rohrholz gebaut und die Vogelkönigin darin verstaut hatten, waren danach völlig von Sinnen gewesen. Da sie für keine Arbeit mehr zu gebrauchen waren, hatten Athyron sie solange zur Ader gelassen, bis sie ausgeblutet waren …
Athyron hatte bei seinen Besuchen herauszufinden versucht, was Tatharana zum Leben benötigte. Aber wenn sie überhaupt mit menschlicher Stimme zu ihm sprach, so hatte sie verlangt, zur Vogelinsel zurückgebracht zu werden. Diesen Wunsch wollte ihr Athyron jedoch nicht gewähren. Er hatte anfangs sogar die Absicht gehegt, sie nach Neuatlantis zu bringen und sie Vodor zum Geschenk zu machen. Doch als er dann an ihren Klagelauten zu erkennen glaubte, daß es mit ihr immer mehr dem Ende zuging, da entschloß er sich, sie Shebar zu überlassen. Jetzt hoffte er nur, daß sie noch lange genug lebte, damit der Burgherr wenigstens für einige Stunden etwas von ihr hatte. Athyron war froh, wenn er seine Beute endlich los wurde. Das Ding, das weder Mensch noch Tier und auch kein Fisch und keine Pflanze zu sein schien, war ihm unheimlich. Am zweiten Tag nach ihrer Flucht von der Vogelinsel hatte ihm Tatharana eine Prophezeiung gemacht. Er war wieder einmal zu ihr in den Laderaum gestiegen, während vor der Tür fünf bis an die Zähne bewaffnete Krieger zum Schutz Wache standen. Wieder verlangte sie, zur Vogelinsel zurückgebracht zu werden. Als er ihr dies abschlug, da hatte sie mit ihrer schrillen, zirpenden Stimme gesagt: »Hüte dich, Athyron.« Er wußte nicht, woher sie seinen Namen kannte. »Es wird mit dem Sturm eine Wolke aus vielen Klauen und Schnäbeln zu deinem Schiff geweht werden und Tod über dich und deine Leute bringen. Solltet ihr dieser Gefahr entgehen, dann lauert eine weitere auf euch, wenn ihr an Land kommt. Wende dein Schiff und nimm Kurs auf die Vogelinsel, sonst wird ein Freund zu einem Feind, der die Sonne im Griff hat und dich mit seinem stählernen Strahl tötet.« Tatsächlich war bald danach ein Sturm aufgekommen. Und plötzlich senkte sich auf die Stern von Atlantis eine Wolke aus lauter Vögeln herunter. Die gefiederten Räuber stürzten sich in mörderischer Wut auf die Seeleute und traktierten sie mit ihren
Schnäbeln und Klauen. Die Stern von Atlantis wäre mit Mann und Maus verloren gewesen, wäre der Sturm nicht noch heftiger geworden und hätte er nicht die Vögel abgetrieben. Nach diesem Zwischenfall blieb Athyron der Vogelkönigin lange fern. Erst als ihre gellenden Klagelaute unerträglich wurden, suchte er sie wieder auf. Sie verlangte nach Nahrung, ohne jedoch zu sagen, welcherart diese sein sollte. Anthyron ließ ihr daraufhin Fische und gedörrtes Fleisch bringen und verging sich sogar an den Vorräten, die für Burg Shebar bestimmt waren. Tatharana aber siechte weiter dahin. Ein Sklave, den ihr Athyron als Blutspender in den Käfig steckte, wurde von dem unheimlichen Ding nicht zur Ader gelassen – sondern lediglich um den Verstand gebracht. Athyron mußte ihn dem Meer übergeben. »Heiß! Heiß!« gellte Tatharanas Geschrei über den Strand. Sie beruhigte sich erst, als man sie zu einem schattigen Felsüberhang gebracht hatte. Athyron ließ die Sklaven eimerweise Meerwasser heranschleppen und über das den Käfig verdeckende Segeltuch schütten. Danach verstummte das Geschrei der Vogelkönigin. Athyron kannte aber nicht den Grund dafür. Verstummte Tatharana, weil ihr das Meerwasser Linderung bereitete, oder weil sie es als Bestrafung ansah und nicht noch länger gequält werden wollte? Der Flottenkapitän hieß seine Leute in sicherer Entfernung zu bleiben und begab sich zu dem verdeckten Käfig. »Du mußt noch etwas durchhalten, Tatharana«, redete er ihr zu. »Nicht mehr lange und du wirst an einen Ort gebracht, wo es dir gefallen wird.« »Siehst du den Mann mit dem Goldhelm«, kam die unmenschliche Stimme unter dem feuchten Segeltuch hervor. Es war keine Frage, obwohl die Worte wie eine solche formuliert waren.
»Ja, ja«, sagte Athyron schnell. »Der Ort, zu dem wir dich bringen, beherbergt auch viele Männer mit Goldhelmen. Gefallen sie dir, Tatharana?« »Der Goldhelm hat Gefährten ohne Goldhelme bei sich«, fuhr die Stimme fort, die ständig ihren Tonfall änderte. »Er ist schon ganz nahe. Er verbirgt unter seinem Goldhelm ein dunkles Muster aus Tod und gerechter Strafe … und Onahan ist sein Begleiter …« »Wer ist Onahan?« wollte Athyron ohne großes Interesse wissen. Vielleicht war Onahan nur der Name eines Blutjägers. »Onahan … und … Dragon … Schwert und … Gerechtigkeit … Schwert und … Unrecht …« Danach gab die Vogelkönigin nur noch unverständliche Laute von sich. Manchmal hörte es sich an, als zwitschere unter dem Segeltuch eine ganze Vogelbrut, dann ertönte nur ein unergründliches Gurgeln und Wispern, um in das Röhren von Rotwild oder das Fauchen von Raubkatzen überzugehen. Athyron zog sich zurück. Noch bevor er seine Kapitäne erreichte, erscholl von oberhalb der Steilküste ein Ruf. »Ein Blutjäger mit sechs Jagdsklaven nähert sich der Hossabucht!« Athyron wunderte sich noch darüber, was ein Blutjäger hier zu suchen hatte. Aber – war ihm der Besuch eines solchen nicht von Tatharana angekündigt worden? Warum hatten ihn aber die beiden Kundschafter, die von ihm ausgeschickt worden waren, nicht von seinem Eintreffen verständigt? Athyron zog sich mit seinen Kapitänen auf die Stern von Atlantis zurück.
3. »Bevor wir uns der Hossabucht weiter nähern, müssen wir uns tarnen«, erklärte Dragon. Seine sechs Begleiter, unter ihnen Schlangentöter, der Zumota Sterndeuter und der Melnike Xabrass, stiegen von ihren Pferden, die nicht gesattelt waren. Sechs weitere Pferde, mit Prunksätteln, führten sie an Zügeln mit. Das waren die Reittiere für die Kapitäne der Versorgungsflotte. Dragon hob den golden schimmernden Helm des Blutjägers hoch und stülpte ihn sich über den Kopf. Es war heiß unter dem Helm, deshalb hatte er bis zuletzt damit gewartet, ihn sich aufzusetzen. Er klappte das Gesichtsvisier herunter und schloß die Kinnklappe. Um kein Risiko einzugehen, mußte er das Schloß des Helmes zuschnappen lassen. Ein Blutjäger durfte höhergestellten Persönlichkeiten – wie es Schiffskapitäne in der Regel waren – nur mit geschlossenem Helm gegenübertreten. Dragon trug aber den Schlüssel bei sich, um sich jederzeit von dem Goldhelm befreien zu können. Seine sechs Begleiter waren als Jagdsklaven getarnt. Waldblume hatte ihnen mit schwarzen Hautfarben die entsprechenden Streifen auf die Stirn gemalt. Jeder von ihnen wußte, wie er sich zu verhalten hatte. Da es Sklaven nicht gestattet war, die Reittiere edler Neuatlanter mit ihrem Schweiß zu besudeln, indem sie sie ritten, hatte Dragon zusätzlich ein halbes Dutzend Pferde mitgenommen. Diese sollten in dieser Senke, weit genug von der Hossabucht entfernt und außer Sichtweite, zurückgelassen werden. Bei ihrer Rückkehr zur Burg würden Dragons Freunde sie sich wieder von hier holen. Schlangentöter kam zu Dragon und tat, als wolle er seinen Sattel richten, dabei raunte er ihm zu: »Verhalte dich so, als sei überhaupt nichts Außergewöhnliches vorgefallen.«
Bevor Dragon noch eine Frage stellen konnte, wandte sich der Padoka-Krieger von ihm ab und war gleich darauf zwischen den Felsen verschwunden. Dragon konnte nicht wissen, daß sie die ganze Zeit über bei ihrem ungewöhnlichen Treiben von zwei Seekriegern beobachtet worden waren. Diese merkten jedoch nicht, daß sich Schlangentöter von den anderen absonderte. Gerade als sie sich lautlos zurückziehen wollten, um Kapitän Athyron von ihren Beobachtungen zu berichten, erscholl hinter ihnen der Kriegsruf des Padokas. Die beiden Seeleute wirbelten herum, sahen die halbnackte Gestalt auf einer Felserhebung. Der eine griff nach seinem Dolch, um ihn nach dem Wilden zu schleudern. Doch da bohrte sich ihm ein Pfeil in die Brust. Der andere flüchtete. Schlangentöter spannte flink einen zweiten Pfeil in den Bogen, verließ jedoch seinen Standort nicht. Er wartete geduldig, bis der Flüchtende wieder hinter einem Felsen auftauchte, nahm kurz Ziel und schoß. Der Pfeil holte den Flüchtenden ein und traf ihn im Genick. Schlangentöter kehrte zu Dragon zurück. Ohne ein Wort zu verlieren, führte er ihn und die anderen zu den zwei Toten. »Sie haben uns beobachtet«, erklärte der Padoka kurz, während er nacheinander die Pfeile aus seinen Opfern zog. »Der Kleidung nach zu schließen, sind es Seeleute von der Versorgungsflotte«, stellte Dragon fest, und der Schweiß brach ihm unter seinem Blutjägerhelm aus. Um ein Haar – und ihr Doppelspiel wäre durchschaut worden, noch ehe es begonnen hatte. »Was soll mit ihnen geschehen?« erkundigte sich Xabrass und stieß den einen Toten mit dem Fuß an. »Nichts, laßt sie liegen«, entschied Dragon. »Wenn man sie findet, wird man annehmen, daß sie Quesas auf dem Kriegspfad zum Opfer gefallen sind.« Dragon ritt unbeirrt weiter.
Nach einer Weile, nachdem er ringsum Ausschau gehalten hatte, ohne jedoch etwas Verräterisches bemerkt zu haben, sagte er: »Es kann sein, daß der Flottenkapitän weitere Kundschafter ausgeschickt hat. Sie könnten uns beobachten. Deshalb müßt ihr euch von nun an ganz so wie Jagdsklaven benehmen.« Dragon zwang sein Pferd zu langsamer Gangart, damit ihm seine sechs Begleiter mühelos folgen konnten, die jeder ein Reittier am Zügel führten. Er schwitzte unter dem Helm, obwohl dieser innen mit weichem Stoff ausgelegt war. Doch diese Stoffeinlage konnte die durch die Sonnenbestrahlung entstandene Hitze nicht so mindern, daß es unter dem Helm erträglich geworden wäre. Den Zwischenfall mit den beiden Spähern nahm Dragon nicht besonders tragisch, und als er die Steilküste erreichte, hatte er ihn schon längst vergessen. Er konzentrierte sich voll und ganz auf die vor ihm liegende Aufgabe. Von der ersten Begegnung mit den Kapitänen der Versorgungsflotte hing alles ab. Er hatte sich in groben Zügen bereits einen Plan zurechtgelegt. Da er von Waldblume über die Gepflogenheiten des Warenaustausches – Versorgungsgüter gegen Blutspender – informiert worden war, wußte er, daß die Seeleute verpflichtet waren, das Ladegut zur Burg zu bringen und dort die Blutsklaven in Empfang zu nehmen. Das hieß, daß mehr als die Hälfte der Schiffsbesatzung zur Burg aufbrechen würde und die Schiffe nur schwach bewacht zurückblieben. Nachdem Dragon seinen Höflichkeitsbesuch bei der Versorgungsflotte beendet hatte, wollte er so schnell wie möglich zur Burg zurückkehren, um die Führung der dreihundert bereitstehenden Melniken zu übernehmen. Mit ihnen wollte er dann dem voraussichtlich aus zweihundertundfünfzig Mann starken Zug der Seeleute in den Rücken fallen, sie aufreiben, ihnen den Rückweg zu den Schiffen versperren und sie zur Burg treiben, wo die
Entscheidung fallen würde. War dies gelungen, sollte die Eroberung der sechs Schiffe in Angriff genommen werden. Dragon wischte diese Überlegungen hinweg. Er sah, wie schwitzende Quesas Warenballen über einen schmalen Pfad vom Strand zur Anhöhe schleppten, größere Güter auf Schlitten und an Seilen heraufzogen oder sie mit vereinten Kräften den Steilweg hinauf rollten. Überall standen Neuatlanter mit Peitschen und trieben die Arbeitssklaven an. Diese Neuatlanter, das war an ihrer verlotterten Kleidung zu erkennen, waren jedoch allesamt niederer Herkunft. Sie hatten an Bord ihrer Schiffe nicht einmal jenen Status, den Blutjäger auf den Burgen genossen. Wahrscheinlich waren es nicht einmal Bluttrinker. Dragon hielt vergeblich nach einem der Kapitäne Ausschau. Er rief einen der Sklavenaufseher zu sich, der ihn mit tiefen Verbeugungen begrüßte. »Wo ist der Kapitän der Versorgungsflotte?« sprach Dragon ihn an. »Kapitän Athyron befindet sich zusammen mit den anderen Kapitänen auf seinem Flaggschiff, der Stern von Atlantis«, antwortete der Seemann. »Hat man mich denn nicht kommen gesehen und ihm nicht meine Ankunft gemeldet?« erkundigte sich Dragon. Die Sache mißfiel ihm. Sollte man Verdacht geschöpft haben und ihm eine Falle stellen wollen?« »Doch, dein Eintreffen wurde dem Flottenkapitän gemeldet«, sagte der Seemann. »Und er hat seinen Steuermann Manchos aufgetragen, sich deiner anzunehmen.« Dragon fühlte sich erleichtert. Er glaubte nun zu wissen, warum der Flottenkapitän sich nicht persönlich zu seinem Empfang bemühte. Sicherlich hielt er es für unter seiner Würde, sich mit einem Blutjäger abzugeben. Und doch – ihm würde nichts anderes übrigbleiben.
»Wo ist dieser Manchos?« wollte Dragon wissen. »Er wartet am Strand auf dich, Blutjäger.« Dragon stieg nicht vom Pferd, sondern ritt den schmalen Pfad zum Strand hinunter, scheinbar ohne auf die Sklaven Rücksicht zu nehmen, die ihm mit ihren Lasten entgegenkamen. Seine »Jagdsklaven« folgten ihm, die sechs Pferde für die Kapitäne mit sich führend. Unten angekommen, baute sich ein grobschlächtiger Kerl vor ihm auf, der ein zernarbtes Gesicht hatte und die Beine auch beim Gehen leicht grätschte, so als hätte er schwankende Planken unter ihnen. »Ich bin Steuermann Manchos«, stellte er sich vor. »Sitz ab, Blutjäger. Ich nehme an, du willst die Ware in Augenschein nehmen, die für deinen Herrn bestimmt ist. Mein Kapitän ist auf seinen Besuch vorbereitet.« Dragon stieg aus dem Sattel, trat vor den Steuermann hin. »Melde Kapitän Athyron, daß ich an Stelle von Shebar gekommen bin«, erklärte Dragon würdevoll und mit so lauter Stimme, daß er auch durch den Goldhelm gut zu verstehen war. »Ich bitte Kapitän Athyron, mich als Vertreter des Burgherrn von Shebar und dessen Schlüsselherrn zu empfangen. Die näheren Umstände für dieses ungewöhnliche Ansinnen werde ich ihm persönlich mitteilen.« »Burgherr Shebar kommt also nicht?« fragte Manchos ungläubig. Dragon spannte sich an, seine Hand legte sich wie zufällig auf den Knauf seines Schwertes, und er sagte mit leiser Drohung: »Richte Kapitän Athyron mein Begehren aus. Mehr habe ich nicht dazu zu sagen. Inzwischen werde ich die Versorgungsgüter in Augenschein nehmen, bis ich Antwort bekommen habe.« Der Steuermann der Stern von Atlantis verneigte sich wortlos vor Dragon und lief zu einem der Boote, wo er einen der Seekrieger informierte, der sofort in einem Boot zu den in der Bucht ankernden Schiffen hinausruderte. Dragon betrachtete versonnen die sechs Schiffe. Es waren dickbäuchige Zweimaster, die eine Menge Ladegut fassen konnten, aber nicht für große Geschwindigkeiten gebaut waren.
Trotzdem, für seine Zwecke würden sie genügen. Manchos kam zurück, und Dragon ließ seine sechs Begleiter stehen und folgte dem Steuermann, der ihm die einzelnen Waren beschrieb und ihm Proben zeigte. Dragon hörte ihm nur mit halbem Ohr zu und bekam gerade noch mit, daß es sich meistens um Grundnahrungsmittel handelte, die in dem unfruchtbaren Land rund um Burg Shebar nicht zu beschaffen waren. Aber es waren auch Stoffballen darunter, und Waffen und Luxusgüter, die das Leben der Blutherren von Shebar auch fern der Heimat so angenehm wie möglich gestalten sollten. »Was war das?« erkundigte sich Dragon, als er plötzlich ein schrilles, durch Mark und Bein gehendes Zirpen vernahm. Es wiederholte sich einige Male, war einmal lauter, dann wieder leiser. »Kümmere dich nicht darum, Blutjäger«, sagte Manchos nur. Dragons Interesse war jedoch geweckt. Er fand heraus, woher dieses Geräusch, das sich anhörte wie der Klagelaut einer gequälten Kreatur, kommen mußte. Unter einem schattigen Felsüberhang stand ein würfelähnliches Gebilde, das mit Segeltuch verdeckt war. Dragon steuerte wie zufällig in seine Richtung. Als er jedoch bis auf wenige Schritte herangekommen war, verstellte ihm der Steuermann der Stern von Atlantis den Weg. »Hier geht es nicht weiter, Blutjäger«, erklärte er. »Und was verbirgt sich unter dem Segeltuch?« wollte Dragon nun wissen. »Ich würde viel darum geben, es zu erfahren«, erwiderte Manchos grinsend. »Nur Kapitän Athyron kennt das Geheimnis dieses Dinges – und vielleicht bald auch dein Blutherr Shebar. Sollte er dich darin einweihen, dann denke an mich, Blutjäger.« Das Ding unter dem Segeltuch verstummte wieder, und Dragon ließ sich von Manchos das restliche Ladegut zeigen. Dragon gab keinen Kommentar dazu ab. Sie hatten den Rundgang kaum beendet, als das Ruderboot zum
Strand zurückkam. Der Bote kam keuchend herangelaufen und meldete, daß Kapitän Athyron bereit sei, den Blutjäger zu empfangen. * Nachdem Dragon in die Kapitänskajüte getreten war und seinen Namen genannt hatte, gab sich auch Kapitän Athyron zu erkennen und stellte seine Kapitäne vor. Athyron tat es so herablassend, daß Dragon ihn sofort unsympathisch fand. Der Flottenkapitän machte auch von seiner Erscheinung her keinen sehr einnehmenden Eindruck. »Ich will nicht verhehlen, Blutjäger Dragon, daß ich es sehr befremdlich finde, daß mich Shebar nicht selbst empfängt«, sagte Athyron mit offen zur Schau getragenem Ärger. »Ich bin es nicht gewohnt, mich mit Leuten deines Standes unterhalten zu müssen. Und, offen gestanden, ich habe dir nur erlaubt, an Bord zu kommen, um zu hören, mit welcher Begründung Shebar sich entschuldigen läßt. Es muß schon ein sehr schwerwiegender Grund vorliegen, daß er einen solchen Bruch mit der Etikette begeht und nicht einmal den Schlüsselherrn als seinen Vertreter schickt.« »Ich hoffe, Ihr anerkennt den Tod als schwerwiegenden Grund, Kapitän Athyron«, sagte Dragon höflich, obwohl er dem hochnäsigen Neuatlanter am liebsten mit der Faust das Maul gestopft hätte. Athyron überwand seine Überraschung schnell. Er machte mit den Händen schlenkernde Bewegungen, die seine Ungeduld ausdrücken sollten und meinte: »Was redest du wie ein vornehmer Herr in Rätseln, Blutjäger. Drücke dich deutlich aus. Was hat es mit der Anspielung auf den Tod auf sich?« »Er hat innerhalb weniger Tage auf Burg Shebar reiche Ernte gehalten«, erklärte Dragon. »Shebar ist schon seit fast dreißig Tagen im Land der kriegerischen Kanuks verschollen – und auch von den
Suchtrupps, die wir ausgeschickt haben, ist noch kein einziger Mann zurückgekehrt –, so daß wir annehmen müssen, daß Shebar umgekommen ist. Wir sind unserer nur noch fünf Blutjäger auf Burg Shebar, und kein einziger Hossa steht zu unserer Verfügung.« »Shebar hatte die besten Hossas«, murmelte Athyron. Er wurde sich gar nicht darüber bewußt, daß er für Shebars Schicksal weniger Trauer übrig hatte als für seine Hossas. »Ja, er hatte die besten Hossas«, wiederholte Athyron. »Er hat sie zum Fliegen gebracht. Es war sein Geheimnis, wie er es ihnen beibrachte – und nun hat er es mit sich genommen.« Da Waldblume Dragon über alle Einzelheiten – auch die nebensächlich scheinenden – aufgeklärt hatte, wußte er auch über diesen Punkt genau Bescheid. Natürlich konnten alle Hossas über kurze Strecken fliegen, die meisten taten dies jedoch nur während des Hochzeitsflugs. Shebar war der einzige Blutjäger gewesen, der seine Hossas so abrichten konnte, daß sie sich auf seine Pfeifbefehle hin in die Lüfte erhoben. »Shebars Hossas feierten immer Hochzeit, so wie er es seinen Blutjägern erlauben konnte, sich in wahren Strömen des roten Lebenssaftes zu laben«, sagte Dragon mit der nötigen Wehmut. »Stimmt«, pflichtete Athyron bei, »Shebar hat viele Gefangene gemacht – und er hatte auch immer welche überschüssig … Aber sage mir, wie kommst du dazu, dich über deinen Schlüsselherrn Quampas hinwegzusetzen?« »Auch Quampas ist nicht mehr«, antwortete Dragon. »Er hatte erst vor zwei Tagen einen tödlichen Unfall – mit einer Haussklavin.« Die Kapitäne lachten. Sie wußten, daß Quampas wohl ein Blutverächter war, aber weiblichen Reizen um so mehr zugetan. Sie alle hatten des öfteren im Scherz gemeint, daß er sich eines Tages überfordern würde. Und jetzt war es tatsächlich eingetroffen. Nur Dankeun lachte nicht, weil er diese Reise zum erstenmal mitmachte und die Verhältnisse auf Burg Shebar nicht so genau kannte. Und auch Athyron fand die scherzhafte Bemerkung des Blutjägers eher ungeziemend denn lustig – abgesehen davon, daß
ihn der Verlust Quampas' persönlich schwer traf. Mit wem sollte er nun seine Geschäfte zweifelhafter Art tätigen? »Wie kannst du es wagen, Blutjäger, dich so aufzuspielen und über deinen Schlüsselherrn Späße zu machen«, erregte sich Athyron. »Da ich im Range hinter Quampas stand, habe ich nach seinem Tode seinen Posten übernommen, und da Shebar verschollen ist, muß ich vorerst auch die Geschäfte eines Burgherrn übernehmen«, erklärte Dragon, der von Waldblume erfahren hatte, daß dies ein durchaus den Gesetzen entsprechendes Vorgehen war. »Deshalb komme ich als vorläufiger Burgherr zu Euch, Kapitän Athyron, um Euch meine Aufwartung zu machen. Aber es kann durchaus sein, daß ich schon bald ordentlicher Blutherr von Burg Dragon bin, denn ich werde beim Herrscherhaus um meine Bestellung für dieses hohe Amt ansuchen.« Athyron schwieg eine Weile, während der er fieberhaft überlegte. Was auch immer später aus diesem Dragon wurde, im Augenblick mußte er die Geschäfte mit ihm abwickeln. Vielleicht war er sogar ein recht vernünftiger Bursche und ähnlich wie Quampas für Nebengeschäfte zu gewinnen. Athyron wollte sofort in diese Richtung vorfühlen – und wenn Dragon seine Erwartungen erfüllte, dann konnte er bei Vodor sogar für ihn sprechen. »Ich enthebe dich der Pflicht der förmlichen Anrede, Dragon«, sagte Athyron daher. »Du hast dir ein großes Ziel gesetzt, aber wenn du es erreichen willst, dann wirst du einflußreiche Freunde brauchen, die dir den Leumund ausstellen, den ein Burgherr braucht.« »Ich weiß«, pflichtete Dragon bei. »Doch bin ich nicht bange, Freunde zu finden, denn auch wenn ich Burgherr bin, wird bei mir mit Blutspendern nicht gegeizt. Im Augenblick befinden sich innerhalb der Burgmauern sechshundert Gefangene. Und selbst wenn ich sie alle abgebe – obwohl ich nur zur Ablieferung von vierhundert verpflichtet bin –, werden meine Verliese nicht lange leer sein.«
»Sechshundert Blutspender«, entfuhr es Athyron unwillkürlich. »Das ist ein Überschuß von zweihundert!« Athyron konnte seine Erregung kaum unterdrücken. Bei der augenblicklichen Knappheit an Blutspendern waren solche auf dem freien Markt kaum mit Gold aufzuwiegen. Und dieser Dragon hatte einen Überschuß von zweihundert! Seinen Andeutungen nach zu schließen, war er ein Mann, der mit sich reden ließ. Und die Aussicht, Burgherr zu werden, würde er sich schon etliche Blutspender kosten lassen. Wenn Athyron von den zur Verfügung stehenden zweihundert Gefangenen auch etliche abziehen mußte, um all jene zu bestechen, die Dragons Bestellungsurkunde ausstellen sollten und auch die anderen Kapitäne zu befriedigen, so blieb für ihn doch noch ein erklecklicher Anteil übrig. Das konnte das Geschäft seines Lebens werden! Er rechnete damit, daß an die hundert Blutspender für ihn abfallen würden. Und jeder sein Lebendgewicht in Gold wert! »Wenn du als Verhandlungspartner so klug bist wie als Jäger, dann kannst du dich schon als Burgherrn betrachten, Dragon«, sagte Athyron schmeichlerisch. »Ich habe Shebar ein Geschenk mitgebracht, doch könnte ich mir vorstellen, daß auch du es zu schätzen wüßtest.« »Du hast mich jedenfalls neugierig gemacht, Athyron«, erwiderte Dragon. »Was ist es?« »Lasse dich überraschen, Dragon. Aber damit du nicht enttäuscht bist, sei dir soviel verraten: Es handelt sich um ein lebendes Orakel.« »Mein Interesse ist geweckt«, sagte Dragon wahrheitsgetreu. »Vermute ich richtig, wenn ich annehme, daß dieses geheimnisvolle Orakel unter Segeltuch versteckt ist und Vogellaute von sich gibt?« Athyron nickte lächelnd. »Aber es spricht auch mit menschlicher Stimme. Es hat mir noch vor deiner Ankunft deinen Namen verraten – Dragon. Doch weil es eben ein Orakel ist, hat es seine Prophezeiung rätselhaft umschrieben, daß ich nicht die richtigen Zusammenhänge erkennen
konnte. Doch jetzt weiß ich, daß Tatharana mir mitteilen wollte, daß du der zukünftige Herr von Burg Shebar sein wirst.« »Tatsächlich?« Dragons Staunen war nicht einmal gespielt. Er fragte sich nur, ob dieses Orakel wirklich etwas Wahres über ihn verraten hatte – und wieviel. Plötzlich hatte er es eilig, seinen Besuch an Bord der Stern von Atlantis abzubrechen. »Ich würde mich freuen, dieses Orakel geschenkt zu bekommen, Athyron. Sei gewiß, daß ich mich erkenntlich zeigen werde – auch in anderen Belangen. Aber meine Zeit hier ist um. Viele zeitraubende Geschäfte harren meiner. Doch wir werden uns bald auf Burg Shebar wiedersehen. Die Reittiere für dich und deine Kapitäne stehen bereit.« »Wir werden gleich morgen bei Sonnenaufgang aufbrechen und um die Mittagsstunde auf Burg Dragon eintreffen.« Athyron war mit dem Verlauf des Gespräches vollauf zufrieden. Als sich Dragon jedoch verabschieden wollte, fiel dem Flottenkapitän noch etwas ein. »Ist dir der Name Onahan ein Begriff, Dragon?« fragte er. »Onahan?« wiederholte Dragon, um Zeit zu gewinnen. Sollte er diesen Namen als Blutjäger von Burg Shebar kennen? Hatte etwa ein anderer Blutjäger so geheißen? Nein, das war unmöglich, denn Waldblume hatte ihm alle Namen von Shebars Blutjägern genannt, auch die der Verschollenen. »Onahan … Sollte ich eine Gedächtnislücke haben? Verzeih, Athyron, aber ich kann mit diesem Namen nichts anfangen. Woher hast du ihn?« »Das Orakel hat ihn in Zusammenhang mit dir genannt. Seltsam, daß du ihn nicht kennst … Aber wer weiß bei einem Orakel schon, was es meint.« »Wir können morgen das Orakel nochmals deshalb befragen«, schlug Dragon vor, der es auf einmal noch eiliger hatte. »Wenn ihr zu Gast auf der Burg seid – während des Blutfestes, das ich euch zu Ehren zu geben gedenke.«
Ja, es würde Blut fließen – aber das der Neuatlanter! Dragon wurde mit einem Boot zum Ufer gerudert. Seine Begleiter erwarteten ihn bereits voller Ungeduld. Sie hatten die sechs Pferde in die Obhut von Seekriegern gegeben. Als Dragon an dem mit einem Segeltuch verhängten Gebilde vorbeikam, von dem nun eine unnatürliche Stille ausging, sprach er laut und deutlich den Namen »Onahan« aus. Erst als er einige Schritte davon entfernt war, wurde ihm mit schaurig schriller Stimme Antwort gegeben. Doch – war es überhaupt eine Antwort? Das Orakel sprach: »Schwert … und … Unrecht … Blut … Gier … Gewalt … alles liegt in Dunkelheit …« »Was war das?« rief Schlangentöter entsetzt und griff nach seiner Kampfaxt. Dragon beschwichtigte ihn mit einer Handbewegung. Nur gut, daß sein Gesicht unter dem Helm verborgen war, so daß der Padoka-Krieger es nicht sehen konnte. Dragon hätte von Athyron verlangen sollen, daß man ihm das Orakel sofort überließ. Aber das hätte wohl gegen die neuatlantischen Sitte verstoßen. Dragon schwang sich auf sein Pferd. »Kommt«, befahl er seinen Begleitern und trieb sein Reittier zu solcher Eile an, daß sie ihm, die sie zu Fuß unterwegs waren, kaum folgen konnten. Onahan! Ein neues Geheimnis? Oder ein Name ohne Bedeutung für ihn? Tatharana – das Orakel. Wirklich ein Orakel? Oder nur ein falscher Zauber?
4. Dragon wurde von einer Lawine aus Totenschädeln in die Tiefe gerissen. Er rollte sich zusammen, schützte seinen Kopf mit den Händen, während er unter den Massen von knochigen Gebilden der verschiedensten Formen begraben wurde. Aber er befreite sich von dieser Last und begann neuerlich mit dem Aufstieg. Seine Hand faßte nach dem Schädel eines Kindes, der so klein war, daß er in seine hohle Hand paßte. Der Schädel trug das Zeichen des Kindesmörders. Dragon rutschte in schwindelnder Höhe mit dem Fuß von einem Totenschädel ab, der von einem Mann, den ein Dieb erschlagen hatte, stammte. Er kletterte höher, immer höher. Aber der Gipfel war fern, unsichtbar für ihn, wie am Anfang, als er am Fuß des Totenkopfgebirges gestanden hatte. Köpfe, nichts als Köpfe vor ihm – hinter ihm die Ewigkeit. Köpfe, von denen nur noch die blanken Knochen übriggeblieben waren. Köpfe von Schlangen, rinderähnliche Schädel, Totenschädel mit Raubtiergebissen. Der Totenschädel eines Kriegers, der von einem Feind getötet worden war, den er verschont hatte. Die untreue Frau, die von ihrem Geliebten in rasender Eifersucht erschlagen worden war. Der, der wegen eines Bissen Brot sein Leben lassen mußte – und der gefallene Krieger. Jeder Totenschädel erzählte Dragon seine eigene blutige, tragische Geschichte. Und Dragon kletterte höher, immer höher. Der Gipfel war nicht zu sehen. Würde er ihn überhaupt reichen? Die Unendlichkeit um ihn. Auf einmal rückte sie von ihm fort.
Und auch das Totenkopfgebirge entrückte ihm, die von ihren Schicksalen gezeichneten Schädel verblaßten – verschwanden von der Innenseite des Goldhelmes, der Dragon heiß aufs Gesicht drückte. * Sie erreichten die Senke, wo sie die Pferde zurückgelassen hatten. Dragon konnte endlich den Helm abnehmen. Er war wie benommen. Schon wieder die Pyramide aus Totenschädeln, dachte er. Diesmal hatte sich aber kein Spötter hören lassen. Was mochte das zu bedeuten haben? Wollte ihn jemand verwirren, seine Gedanken durcheinanderbringen, damit er sich nicht auf den Kampf konzentrieren konnte? Oder sollte es sich um ein sinnvolles Gleichnis handeln? Vergiß es, sagte er sich. »Dragon!« das war Schlangentöter. »Hier sind Spuren.« Der Padoka schwang sich vom Rücken des Pferdes, ging auf dem Boden in die Knie, suchte mit Augen und Fingerspitzen den Boden ab. »Spuren von zwei Männern, die nur leichten Fußschutz trugen«, stellte er fest. »Die Sonne ist noch keinen Fingerbreit gewandert, seit sie hier gewesen sind.« »Quesas?« fragte Dragon. »Nein«, behauptete Schlangentöter entschieden. Mehr sagte er aber nicht dazu, sondern folgte den Spuren, die sich bei den Felsen verloren. »Was hast du herausgefunden?« fragte Dragon ungeduldig. Statt einer Antwort, wandte sich Schlangentöter an den Zumota. »Soll Sterndeuter ebenfalls die Spuren untersuchen«, verlangte Schlangentöter. »Er ist ein erfahrener Krieger.« Sterndeuter nickte. Sein Respekt vor dem jungen Padoka war inzwischen so gewachsen, daß er sich unter seinen Befehl stellte.
Der Zumota begnügte sich mit einer oberflächlicheren Untersuchung der Spuren und stellte dann fest: »Bauern haben festeren Fußschutz.« Schlangentöter nickte bestätigend, dann erklärte er Dragon, dessen Geduld durch das zeitraubende Zeremoniell der Spurenleser einer harten Prüfung ausgesetzt wurde: »Die Spuren stammen von Waldläufern. Es kann sich nur um Kanuks handeln. Da es nur zwei waren, müssen es Späher sein.« »Du meinst aber wohl, daß noch mehr Kanuks in der Nähe sind?« fragte Dragon hoffnungsvoll. Und als Schlangentöter und Sterndeuter fast gleichzeitig nickten, fügte er hinzu: »Das würde bedeuten, daß die Kanuks deinem Aufruf zum Sturm auf die Blutburgen tatsächlich gefolgt sind.« »Sie sind dem Wort des Geists des Großen Vogels gefolgt«, berichtigte Schlangentöter. »Das sollte dich nicht verwundern. Dragon.« »Ich wundere mich eigentlich mehr darüber, daß die Kanuks bereits eingetroffen sind. Ich habe sie vor dem nächsten Mond nicht erwartet.« »Es wird sich auch nur um Kanuks der südlicheren Stämme handeln«, sagte Schlangentöter, und Sterndeuter nickte dazu. »Um Nazukas, Aitranks und Mampoas.« »Die beiden Späher sind bestimmt keine Zumotas«, ergänzte Sterndeuter. »Wieviel Krieger könnten die drei aufgezählten Stämme zusammen auf die Beine stellen?« wollte Dragon wissen. »Sage es Dragon«, forderte Schlangentöter den Zumota auf. Sterndeuter sank wieder auf die Knie, und Dragon seufzte. Aber er trieb den Krieger nicht zu größerer Eile an, weil er wußte, daß er damit ohnehin nichts erreichen würde. In gewissen Angelegenheiten legten die Kanuks großen Wert auf den Ablauf eines gewissen Rituals. Davon ließen sie sich nur selten abbringen. Der Zumota strich an einer sandigen Stelle den Boden glatt und drückte die zehn Finger seiner Hände darin ab. Dazu sagte er:
»Krieger der Nazukas.« Die nächsten sechs Handabdrücke zählte er auch noch den Nazukas zu. Dann kamen die Aitranks an die Reihe. Sie waren ein mächtigerer Stamm, denn ihnen gestand er dreißig Handabdrücke zu – also einhundertundfünfzig Krieger. Das machte zusammen schon einhundertundneunzig Krieger. Die Mapoas war offensichtlich wieder ein kleinerer Stamm, denn für sie machte Sterndeuter nur zweiundzwanzig Handabdrücke. Es juckte ihn offensichtlich in der Hand, noch einen dreiundzwanzigsten zu machen, doch dann unterließ er es lieber. »Das würde insgesamt rund dreihundert Krieger ergeben«, stellte Dragon begeistert fest. »Nicht runde«, sagte Sterndeuter beleidigt. »Nazukas und Aitranks und Mampoas sind alles starke, kampferfahrene Krieger. Einer von ihnen jagt zehn Quesas in Tahomes Reich.« »Das will ich dir gerne glauben, Sterndeuter«, sagte Dragon schmunzelnd. »Es war auch anders gemeint. Dreihundert Krieger! Damit könnte man Athyron und seinen Leuten ordentlich die Hölle heiß machen. Was glaubst du, Sterndeuter, würden die Krieger dieser drei Stämme einem Padoka gehorchen?« »Wenn ihm der Ruf des Schlangentöters noch nicht vorausgeeilt ist, dann werde ich an ihrem Lagerfeuer einen Kriegsgesang auf ihn anstimmen«, erklärte der Zumota salbungsvoll. »Und ich werde kaum meinen Gesang abgebrochen haben, und die Nazukas und die Aitranks und die Mampoas werden sich mit der Waffe in der Hand hinter Schlangentöter stellen. Und Schlangentöter wird ihnen vom Geist des Großen Vogels verkünden …« »Schon gut«, unterbrach Dragon den Redeschwall Sterndeuters. »Ich bin sicher, daß die Krieger der drei Stämme Schlangentöter folgen werden. So hört, was ich euch aufzutragen habe. Du, Schlangentöter und du, Sterndeuter, sucht die Krieger der Kanuks und führt sie auf den Kriegspfad. Sie sollen genau jene Aufgabe erfüllen, die ich zuvor den Melniken zugedacht hatte – nämlich Athyron einen Hinterhalt legen, ihm den Rückweg zu den Schiffen
abschneiden und seine Leute in Richtung Burg Shebar abdrängen. Die Einzelheiten brauche ich nicht zu wiederholen, denn sie sind euch bekannt.« »Ich werde die Krieger der Kanuks in den Kampf führen, wie du es geplant hast, Dragon«, versprach Schlangentöter. »Nur noch eines«, schärfte Dragon den beiden Kriegern ein. »Ich möchte, daß das Leben all jener verschont wird, die sich ergeben. Vergiß auch du das nicht, Sterndeuter, der du noch immer nicht an die Macht der Vergebung glaubst. Glaube mir, sie ist stärker als Vergeltung.« Sie trennten sich. Während Dragon und die vier Melniken in Richtung Burg Shebar ritten, wandten sich die beiden Kanuks nach Norden. * Schlangentöter und Sterndeuter ritten mit der untergehenden Sonne im Rücken. Ihre länger werdenden Schatten eilten ihnen voraus. Dann, als der rote Ball der Sonne ins Meer sank, wandten sie sich wieder in gerader Richtung nach Norden. Sterndeuter stieg oftmals vom Pferd, wenn sich die Fußspuren der Kanuk-Späher auf dem Fels verloren. Er legte sich auf den Boden, beschnupperte das Gestein und spürte den Geruch des von Kanukfüßen durchschwitzten Leders auf. Einmal stieg ihm der beißende Gestank eines Wildhundes in die Nase, und er verzog angeekelt das Gesicht. Die Sonne verabschiedete den Tag mit ihren letzten Strahlen, als sie auf weitere Spuren stießen: die Hufe von Pferden. Sie konnten sogar vom Rücken ihrer Pferde deutlich erkennen, daß es sich um sieben Reittiere mit der Last von erwachsenen Männern handelte. Hier waren die beiden Späher zu ihren Gefährten gestoßen. Die Spuren waren ganz frisch. Beide, Schlangentöter und Sterndeuter, erkannten unabhängig voneinander, daß die
Hufabdrücke noch sehr scharf umrissen waren und nur ganz wenige Atemzüge alt sein konnten. Die sieben Reiter mußten noch hier gewesen sein, als die Sonne mit ihrem Rand das Meer berührte. Schlangentöter und Sterndeuter brauchten kein Wort zu wechseln. Sie verstanden sich auch so, wußten, was zu tun war. Sie ritten langsam weiter nach Norden. Der Wind wehte ihnen den Geruch von Feuer zu. Den Schein der Flammen konnten sie trotz der Dunkelheit nicht sehen, weil Kanuks auf dem Kriegspfad die Flammen ihrer Lagerfeuer klein hielten. Aber den Rauchgeruch konnten sie wahrnehmen. Schlangentöter und Sterndeuter ritten langsamer. Die steigende Erregung war ihnen nicht anzumerken. Plötzlich erhob sich vor ihnen ein Schatten. Es war ein in buntbemalte Tierfelle gekleideter Schamane, dessen Kopf von Rinderhörner geziert wurde. Sein Gesicht wies die weiße Bemalung der Geister aus dem Totenreich auf. Er stand würdevoll da, den Speer mit den vielen Haarlocken seiner Feinde in den Boden gerammt. Ringsum auf den Felsen erschienen weitere Kanuks. Die Krieger. Stumm starrten sie auf die beiden Reiter hinunter. Schlangentöter und Sterndeuter rührten sich nicht. Hochaufgerichtet blieben sie auf ihren Pferden sitzen. Endlich rührte sich Schlangentöter. Er streckte die Rechte in Richtung des Medizinmanns aus und wies dann damit auf sich: »Ich bin Schlangentöter, Sohn des Weißen Elchs von den Padokas.« Er machte mit der Rechten eine weitausholende Bewegung, deutete damit auf den Zumota an seiner Seite. »Und das ist Sterndeuter, ein Krieger der Zumotas.« Schlangentöter machte wieder eine Pause, die er dazu nutzte, um beide Arme auszustrecken, als wolle er das ganze Land umfassen. Dann deutete er, mit den Handflächen nach oben, auf den sandigen Boden unter sich und auf den Fels. »Wir sind den Spuren eurer Späher gefolgt, weil wir wußten, daß
sie uns zu unserem Volk führen würden. Und jetzt haben wir unser Ziel erreicht.« Während die übrigen Krieger reglos stehenblieben, packte der Schamane seinen Speer mit beiden Händen und hielt ihn waagrecht vor sich. »Hier sind keine Padokas und Zumotas – junger Krieger, der du dich Schlangentöter nennst.« »Sind denn nun nicht wieder alle Kanuks ein Volk? Haben die Nazukas, Aitranks und die Mampoas nicht meine Botschaft gehört, mit der ich zwölf Kanuks zu allen Stämmen schickte?« »Doch«, erwiderte der Schamane. »Kleiner Vogel hat den Aitranks von Schlangentöter erzählt, der eine mächtige Medizin gefunden hat, mit der er die Hellhäute aus dem Land jagen kann. Und Schneller Fuß erreichte die Zelte der Nazukas und berichtete in großen Worten ebenfalls von Schlangentöter, der die Hellhäute mit der Kraft vom Geist des Großen Vogels bezwingen will. Bist du dieser Schlangentöter?« »Ich bin Schlangentöter«, erklärte der Sohn des Weißen Elchs. »Und gibt es einen anderen, der meinen Namen mißbraucht, dann hole ich mir seine Hauptlocke.« »Es gibt einen solchen nicht. Steig ab, Schlangentöter, und auch du, Sterndeuter, und folgt uns zu unseren Feuern.« Schlangentöter und Sterndeuter sprangen von ihren Pferden und führten sie an den Zügeln mit, während sie dem Medizinmann folgten. Sie kamen auf eine große Lichtung, die von Felsen und krummen Bäumen eingesäumt war und verlassen schien. Dieser Ort ließ sich leicht gegen Angreifer verteidigen. Von vier Plätzen stieg schwacher Rauch auf, die Glut war kaum zu sehen. Als der Schamane mit den beiden die Mitte der Lichtung erreicht hatte, rief er plötzlich mit lauter, kräftiger Stimme, daß ihn sogar die Krieger, die in Talahassets Reich eingegangen waren, hören mußten: »Hört, tapfere Kanuks – Schlangentöter hat zu uns gefunden!« Da begannen sich die Schatten zu bewegen, sprangen von den
Bäumen, hinter den Felsen hervor, und ein wildes Freudengeheul brach los. Es waren Hunderte von Nazukas, Mampoas und Aitranks, die aus ihren Verstecken brachen. Sie trugen alle Kriegsbemalung, hielten ihre Waffen – Lanzen, Kampfäxte und Pfeil und Bogen und Dolche – fest in ihren Händen. Nachdem sich ihre erste Begeisterung gelegt hatte, wurden ihre Bewegungen wieder ruhiger. Und der Schamane verlangte, daß sie die Glut schürten und zu Freudenfeuern werden ließen für Schlangentöter, den jungen Padoka, der das Erbe von Großer Vogel übernommen hatte. Wenig später saßen Schlangentöter und Sterndeuter mit den Häuptlingen der drei Stämme und deren Schamanen um ein Lagerfeuer. »Schneller Fuß kam in unser Lager und berichtete von dir, Schlangentöter«, erzählte Häuptling Federvier von den Nazukas. »Er brachte die Kunde, daß mit dem nächsten Mond der Tag gekommen sei, da alle Kanuks zu einem Volk geworden sind und das vollenden, was Großer Vogel mit der Vernichtung der Blutburg Mendos begonnen. Und ich, Federvier, ging mit meinen Kriegern zu Häuptling Schneller Blitz von den Aitranks.« »Die Aitranks hatten Schlangentöters Kriegsruf schon von Kleiner Vogel gehört«, fügte der Aitrank-Häuptling Schneller Blitz hinzu. »Wir waren bereit für den Krieg gegen die Hellhäute. Und unsere Boten waren unterwegs zu den Nachbarstämmen, daß auch sie von dem großen Tag erfuhren, den uns der nächste Mond bringen sollte. Aber der Kriegsruf von Schlangentöter war unseren schnellfüßigen Boten längst vorausgeeilt. Und die Krieger aller Stämme waren auf ihren Pferden unterwegs zum Stamm der Padokas, wohin Weißer Elch sie rief. Und wir trafen Häuptling Lange Hand von den Mampoas in vollem Kriegsschmuck an.« Schlangentöter hatte den Erzählungen der Häuptlinge voll Spannung zugehört. Am liebsten wäre er ihnen ins Wort gefallen, um seiner Freude darüber, daß sein Aufruf die Stämme der Kanuks
wieder einte, Ausdruck zu geben. Aber er wußte, wie ungehörig das gewesen wäre und daß nun noch Häuptling Lange Hand das Wort hatte. »Der Wald war erfüllt vom Dröhnen der Kriegstrommeln«, berichtete der Mampoa-Häuptling. »Und am Tage stiegen überall Rauchsignale aus den Wäldern, daß der Himmel wie schwarz vor Wolken war. Und die Trommeln und die Rauchsignale sagten: Vereint euch, Kanuks, gegen die Hellhäute. Schlangentöter will es. Und die Trommeln sagten zu uns Mampoas und unseren Brüdern, den Aitrunks und den Nazukas, die wir am Rande der Hungerwüste leben: Reitet vor und bringt Schlangentöter die Botschaft, daß die Kanuks wieder ein Volk sind und daß Schlangentöter uns zum Sieg gegen die Hellhäute führen soll.« Der junge Padoka war wie berauscht. Noch vor Tagen war er ein namenloser Jüngling gewesen – er hatte die Tat vollbracht und war zum Manne gereift – und nun hatte er das Erbe des Großen Vogels angetreten. Er war der Häuptling der Häuptlinge! Und er wußte sich diese Würde zu schätzen. Er hatte bisher am Lagerfeuer noch kein Wort gesagt. Und er sprach auch jetzt noch nicht, als die besten Krieger der drei Kanukstämme ihm die Kriegsfarben brachten. Er kniete vor dem Feuer, ließ die Beschwörungen der Schamanen auf sich einwirken, aß die Asche, die sie ihm auf die Lippen strichen, sog den Rauch der Pfeife tief ein, die mit den Haaren der Hellhäute gestopft war. Unberührte Mädchen kamen, brachten ihm Gefäße mit reinem Wasser dar. Und Schlangentöter wusch sich. Und Schlangentöter griff in die Töpfe mit den Kriegsfarben. Und Schlangentöter malte sich eine Schlange auf die Stirn, und er fügte dieser Schlange mit der Spitze eines reinen Pfeiles eine Wunde zu. Und er malte sich die Zeichen des Krieges ins Gesicht und auf den Körper. Als dieses Zeremoniell beendet war, sprach er feierlich die Worte:
»Für euch, tapfere Kanuks, hat der Krieg in diesem Augenblick begonnen. Während sich eure Brüder im Lager der Padokas sammeln und sich auf den Weg durch die Hungerwüste in dieses Land machen, brecht ihr mit mir den ersten Pfeil.« Und Schlangentöter brach den Pfeil. »Morgen werden wir auf eine Karawane der Hellhäute treffen«, fuhr Schlangentöter fort. »Aber bedenkt während des Kampfes, daß wir nur Krieg gegen die Hellhäutigen führen.« Das gab den drei Stammeshäuptlingen Rätsel auf. Doch die Schamanen erhoben Einspruch. »Unsere Feinde sind nicht nur die mit heller Haut«, sagten sie, »sondern auch jene, die von unserer Hautfarbe sind, aber in den Diensten der Hellhäute stehen. Und so sollten wir auch die räudigen Quesas töten, die mit unseren Feinden leben.« »Der Geist des Großen Vogels hat mir gezeigt, wie wir zu kämpfen haben«, erklärte Schlangentöter ungerührt und mit der Würde eines Häuptlings der Häuptlinge. »Der Geist des Großen Vogels hat mir auch gesagt, daß wir nur jene Quesas als unsere Feinde betrachten dürfen, die die Waffe gegen uns erheben. Die anderen, die die Waffen strecken, sollen unsere Freunde werden.« »Die Wege des Geistes von Großer Vogel sind unergründlich«, sagten die Häuptlinge verständnislos. »Aber wenn Schlangentöter sie deuten kann, dann soll sein Wort uns Gebot sein.« »Und wie deutet Schlangentöter die seltsamen Zeichen des Geistes von Großer Vogel?« wollte der Medizinmann der Aitranks wissen. »Wir werden die Hellhäute besiegen, und damit soll der Krieg zu Ende sein«, erklärte Schlangentöter. »Danach wollen wir in Frieden leben. Oder glauben die Medizinmänner, es sei ratsam, den Krieg bis in alle Ewigkeit auch gegen die Quesas weiterzuführen, Väter und Mütter zu töten, auf daß deren Söhne in Rache in unser Land eindringen? Nein, dieser Krieg soll uns den Frieden bringen. Und wir wollen den Krieg nur gegen jene führen, die den Krieg wollen. Die Friedliebenden aber sollen unsere Brüder werden.« Das waren Worte, wie man sie von so einem jungen Krieger noch
nie gehört hatte. Die Häuptlinge waren tief beeindruckt. Selbst die Medizinmänner mußten Schlangentöters Weisheit anerkennen. Sie stimmten einen Kriegsgesang an, der von Boten nach Norden gebracht werden sollte, zu den Sammelpätzen der Krieger aller Stämme, daß auch sie die Weisheit und die Stärke von Schlangentöter besingen konnten, wenn sie südwärts in den Kampf gegen die Hellhäute zogen. In dieser Nacht brannten die Lagerfeuer der Mampoas, Nazukas und Aitranks noch lange. Und die Häuptlinge und Krieger umstanden Schlangentöter, der ihnen sagte, wie sie am nächsten Tag gegen die Karawane der Hellhäute zu kämpfen hatten. * Als alle Krieger längst zur Ruhe gegangen waren, saßen Schlangentöter und der Nazuka-Häuptling Federvier noch beisammen. Schlangentöter, hatte zuvor den staunenden Kriegern erzählt, wie es Dragon, dem Geist des Großen Vogels, gelungen war, mit nur drei Helfern, ihm selbst, Ubali und Thamai, die Blutburg Shebar in einem Handstreich einzunehmen. Dabei hatte er seine eigene Leistung hintenangestellt, doch alle wußten, daß dies aus der Bescheidenheit des wahrhaft großen Kriegers geschah. Jetzt war Schlangentöter mit Federvier allein. Jeder Häuptling besprach sich am Vorabend eines großen Kampfes mit einem seiner Vertrauten, um diesem seine Wünsche für die Zukunft anzuvertrauen, denn es konnte sein, daß Talahasset ihn zu sich holen wollte. Zuerst wurden jedoch nur wenige persönliche Dinge besprochen. »Noch, nicht alle Bewohner der Burg haben ihre verdiente Strafe erhalten«, sagte Schlangentöter. »Es sind noch fünf Hellhäute mit den Goldhelmen in der Hungerwüste unterwegs, um ihren Burgherrn zu suchen. Es schien so, daß wir einige von ihnen auf der
Burg in die Falle locken könnten. Wir sahen eine Staubwolke in der Ferne, dort, wo die Hungerwüste mit dem Himmel zusammentreffen zu scheint. Es waren fünf Reiter. Doch nun bin ich sicher, daß es keine Blutjäger waren, sondern Krieger der Kanuks.« »Wir haben die Blutburg aus der Ferne beobachtet«, gab Federvier zu. »Wir wollten nicht angreifen, bevor du uns das Zeichen dazu gabst. Wir haben überall deine Spuren gesucht, Schlangentöter. Doch wie konnten wir wissen, daß du längst schon als Eroberer auf der Burg warst? Die fünf Reiter, die du gesehen hast, das waren Kanuks.« »Das ist schade. Ich hätte mir die fällige Entscheidung mit den noch lebenden Blutjägern von Shebar bald gewünscht. Es sind fünf. Und sie haben zehnmal so viele Jagdsklaven und fast ebensoviele geflügelte Schlangen bei sich.« »Talahasset wird dich nicht mehr erhören können, Schlangentöter«, meinte Federvier bedauernd. »Denn die Blutjäger, von denen du sprichst, wurden mitsamt ihren Dienern und den geflügelten Schlangen von uns ins Totenreich geschickt.« Obwohl Federvier anzunehmen schien, daß Schlangentöter die Blutjäger und deren Begleiter lieber persönlich besiegt hätte, war Schlangentöter nicht traurig darüber, daß seine Brüder das bereits erledigt hatten. Nun war die Ungewißheit vorbei. Von dieser Seite drohte keine Gefahr mehr – wie Dragon es ausgedrückt hatte. In der Folge erfuhr Schlangentöter von Federvier, wie es zu der Begegnung mit den Blutjägern gekommen war. Sie waren in drei Gruppen aufgesplittert. Da es ursprünglich fünf Gruppen gewesen waren, konnte es nur bedeuten, daß sich zwei mit anderen zusammengeschlossen hatten. Die fünf Blutjäger lebten alle noch, aber die Jagdsklaven waren während der beschwerlichen Reise arg dezimiert worden. Sie fanden kaum Wild, weil die Nazukas und Aitranks es vor ihrer Nase vertrieben. Bevor die Jagdsklaven jedoch verhungerten, wurden sie von den Blutjägern zur Ader gelassen und dann von den Hossas gerissen.
Aber auch einige der geflügelten Schlangen blieben auf der Strecke. Die Kanuks schossen etliche mit ihren Pfeilen ab, andere Hossas rissen vor Hunger ihre schwächeren Artgenossen. Danach war es nicht mehr besonders schwierig für die Kanuks, eine Gruppe nach der anderen aufzureiben. Federvier gab das ehrlich zu – und er bauschte den Sieg der Kanuks über die Blutjäger nicht zu einer Heldentat auf. Am Beginn von Federviers Erzählung war Schlangentöter nicht sicher gewesen, daß es sich bei den besiegten Blutjägern tatsächlich um jene von Burg Shebar handelte. Doch als der Nazuka-Häuptling davon sprach, daß die geflügelten Schlangen tatsächlich durch die Luft geflogen und nicht nur über den Boden geglitten waren, gab es für Schlangentöter keinen Zweifel mehr. Denn Waldblume hatte ihm gesagt, daß es nur Shebar gelungen war, seine Hossas so abzurichten, daß sie sich zu allen Zeiten in die Lüfte erhoben. Waldblume … Damit hatten sich Schlangentöters Gedanken dem Mädchen zugewandt, über das er mit Federvier sprechen wollte. »Kennst du die Tipis der Taquiras, Federvier?« fragte Schlangentöter. »Ich habe sie von Ferne gesehen, doch ist es schon viele Sommer her, daß ein Nazuka Gast bei den Taquiras war«, antwortete der Häuptling. »Das wird bald anders werden«, behauptete Schlangentöter. »Wenn wir erst die Blutburgen dem Erdboden gleichgemacht haben, dann haben wir die Bruderschaft aller Kanuk-Stämme besiegelt. Und ich werde in ein Taquira-Tipi gehen und die schönste Blume des Waldes mit mir nehmen – wenn der morgige Kampf nicht seinen Schatten dazwischen wirft.« »Talahassets schützende Hand wird über dir sein.« »Vielleicht nimmt er sie von mir, und der tödliche Schlag einer verhaßten Hellhaut trifft mich. Dann wird Waldblume vom Stamm der Taquiras sehr einsam sein.«
»Du wirst für sie in den Kriegsgesängen weiterleben.« »Und doch wird sie einsam sein, wenn sich nicht ein großer Häuptling ihrer annimmt. Sie wäre es würdig, an der Seite eines großen Häuptlings Schutz zu finden, wie du einer bist, Federvier.« »Wenn Talahasset dich zu sich holt, dann werde ich hier zurückbleiben und mich Waldblumes annehmen.« Die beiden Kanuks reichten sich die überkreuzten Hände. Der Schwur war besiegelt. * Dragon kletterte die ganze Nacht hindurch die Schädelpyramide hoch. Er legte keine einzige Rast ein. Aber er erreichte nicht den Gipfel – er bekam ihn überhaupt nicht zu sehen. Und er wurde die ganze Zeit über von dem unsichtbaren Spötter verlacht. Aber er schwor sich in grimmiger Wut: Wenn die Pyramide einen Gipfel hat, dann werde ich ihn erreichen! Er war noch immer ans Ziel gekommen. Und er würde auch den Gipfel dieses Berges aus Totenköpfen erklimmen. Egal wie beschwerlich der Aufstieg war. Ungeachtet dessen, was ihn dort oben erwartete. Und er kletterte weiter, immer höher. Wurde von Schädellawinen in die Tiefe gerissen. Blieb ermattet liegen. Raffte sich wieder auf und begann von neuem den Aufstieg. Die Verhöhnung des Unsichtbaren gab ihm nur Kraft, spornte ihn an. Er mußte die Totenkopfpyramide bezwingen!
5. Athyron saß hochaufgerichtet im Sattel. Es war ein ungewohntes Gefühl, ein Reittier unter sich zu haben. Aber immer noch besser, als den Weg nach Burg Shebar zu Fuß zurückzulegen. Links und rechts flankierten ihn die fünf Kapitäne, die auf ihren Reittieren auch keine glücklichere Figur machten als er. Athyron drehte sich um. Hinter ihm zog sich wie eine Schlange der Troß aus 180 Seesklaven und 60 Seekriegern und den Versorgungsgütern für Burg Shebar bis zur Steilküste dahin. Die Sonne brannte bereits heiß vom wolkenlosen Himmel, obwohl sie gerade erst aufgegangen war. Gleich hinter den sechs Kapitänen kamen die acht Träger mit dem unter dem Segeltuch verborgenen Käfig, in dem Tatharana untergebracht war. Athyron hob den Arm und stieß ihn dann nach vorne. »Vorwärts!« rief einer der vordersten Seekrieger. Der Ruf pflanzte sich fort, von einem zum anderen, bis er auch den letzten Sklaven in der langen Reihe erreicht hatte. Die acht Träger hoben den verdeckten Käfig mit der Vogelkönigin auf, setzten sich im Gleichschritt in Bewegung. Sofort erscholl unter der Plane hervor ein klägliches Gezwitscher, das von da an nicht mehr verstummte, sondern nur die Tonart wechselte. Die Sklaven hoben Warenballen hoch, schulterten sie, setzten sich in Marsch. Sie halfen sich gegenseitig, die schweren Traggestelle in die Höhe zu bringen, waren sich beim Umschnallen der Riemen behilflich. Die Sklaven an den schwerbeladenen Sandschlitten stimmten ein dreimaliges »Ho!« an, dann legten sie sich mit vereinten Kräften in die Riemen. Die Schlitten setzten sich ächzend in Bewegung, langsam zuerst, wurden immer schneller. Die Kufen zogen knirschend ihre Spur durch den Sand, und es gab ein durchdringendes Quietschen, wenn sie über nackten Fels
scheuerten. »Vorwärts! Rascher, ihr faulen Hunde!« riefen die Seekrieger, und die Sklavenaufseher unter ihnen ließen die Peitschen knallen. »Schneller, schneller! Ihr müßt euch der Geschwindigkeit der Kapitäne anpassen. Sie haben es eilig.« Ein stämmiger Quesa, den Rücken voller Narben, die Handgelenke von den Opferdolchen der Bluttrinker zerschnitten, fluchte. Sein Kopf verschwand fast unter dem großen Stoffballen, den er dort balancierte und mit Hilfe von Stricken, die er mit den Händen hielt, im Gleichgewicht hielt. Er schimpfte: »Verdammte Hunde, Tahome soll eure Eingeweide verfaulen lassen. Glaubt ihr, wir können so schnell wie Reiter laufen?« Er sagte es leise genug, um von den Aufsehern nicht gehört zu werden. Doch einer war lautlos hinter ihn gekommen. Der Quesa merkte seine Anwesenheit erst, als er den Riemen über seinen Rücken streichen spürte. Der Quesa stolperte, fiel hin, blieb wimmernd liegen. Die Krieger stellten ihn auf die Beine, luden ihm den Stoffballen auf den Schädel und trieben ihn wieder an. Er mußte laufen, bis er seinen Platz in der Kolonne wieder erreicht hatte. »Faule Bande!« ärgerte sich Athyron an der Spitze der Karawane. »Bei dieser Geschwindigkeit werden wir Shebar erst erreichen, wenn sich die Sonne gegen Westen neigt.« In seinem Rücken war das Klagen der Vogelkönigin. »Dabei ist die Blutburg zum Greifen nahe«, meinte Penthor. »Ich habe gehört, daß du lange Finger haben sollst«, erwiderte Athyron. »Aber daß du auch einen so langen Arm hast, ist mir neu. Na, na, Penthor, laß nur nicht gleich dein Blut in den Adern überlaufen. Du verträgst doch einen kleinen Scherz, oder?« Penthor nickte mit verkniffenen Lippen. Vor ihnen erhob sich ein felsiger Hügel, und der rote Fels mit Burg Shebar entschwand dahinter ihren Blicken. Athyron rief: »Wer zuerst den Hügelkamm erreicht hat, wird das heutige
Blutfest eröffnen!« Und er trieb sein Pferd an. Penthor überholte ihn auf halbem Wege. Zwei Kapitäne wurden von ihren Pferden abgeworfen. Athyron, der sich das beste Pferd ausgesucht hatte, überholte Penthor noch zu guter Letzt. Dankeun wurde vierter. »Ein guter Kapitän muß nicht auch ein guter Reiter sein«, tröstete Athyron ihn. Dankeun schwieg dazu. Von hier oben hatten sie einen guten Überblick über das Land, das vor ihnen eine kurze Strecke steil abfiel, dann aber in eine Sandebene überging, aus der nur vereinzelte Felsen herausragten. Links von ihnen, im Norden, zog sich eine Schlucht dahin. »Wir hätten den Weg durch die Schlucht nehmen sollen«, meinte Penthor. »Dort hätte es wenigstens Schatten gegeben. Dem Ding unter der Plane hätte der Schatten sicher besser getan.« »Damit magst du recht haben, aber wir wären in der Schlucht viel langsamer vorwärts gekommen«, erwiderte einer der anderen Kapitäne. Athyron, der Penthors Absicht, sein Wohlwollen zurückzugewinnen, durchschaute, fügte hinzu: »Sorge dich nicht um das Orakel. Es genügt, daß wir es dem neuen Burgherrn lebend übergeben. Was danach geschieht, kann uns egal sein.« Die Kolonne erreichte den Fuß des Hügels. Die Käfigträger kamen keuchend heraufgestiegen. Das Orakel unter dem Segeltuch wurde einige Male durchgeschüttelt und schrie jedesmal schrill auf. Dieses Geschrei lockte einige Vögel an. Athyron befahl den Bogenschützen, die Vögel abzuschießen. Und nachdem ein halbes Dutzend von ihnen durch Pfeile aus der Luft geholt worden war, zogen sich die anderen zurück. Sie ließen sich auf den knorrigen Ästen der Kriechbäume nieder und schienen die Kolonne interessiert zu beobachten. Die Sklaven stiegen schwitzend und stöhnend den Hügel hinauf. »Durst!« »Wasser!«
Aber statt des Verlangten bekamen sie die Peitsche zu spüren. Das Wasser, das für sie gedacht war, wurde über das Segeltuch geschüttet, das den Käfig der Vogelkönigin bedeckte. Danach wurde das quälende Gekreische etwas verhaltener. Die Sklaven, die den Schlitten zogen, kamen damit bis auf halbe Höhe des Hügels. Aber dann saßen die Kufen zwischen Felsritzen fest. Sie brachten den schwerbeladenen Schlitten keine Handbreit weiter, obwohl die Aufseher sie mit Peitschengeknalle anfeuerten. Schließlich blieb den Kriegern nichts anderes übrig, als selbst Hand anzulegen. Da erst ruckte das Gefährt an und erreichte doch noch den Hügelkamm. Aber damit waren die Schwierigkeiten nicht zu Ende. Auf der anderen Seite war das Gefälle so stark, daß die Sklaven die Fahrt des Schlittens kaum bremsen konnten und einen Zickzack-Kurs einschlagen mußten. Dabei rutschte ein Sklave aus und kam unter eine Kufe. Ein Schrei – und seine entsetzten Leidensgenossen und die nicht minder entsetzten Neuatlaner sahen, wie ihm ein Arm und ein Bein abgetrennt wurden. Der Schmerzensschrei hatte auch die Kapitäne in ihren Sätteln herumgerissen. Sie sahen das Blut des Verwundeten – und die Gier danach wurde in ihnen übermächtig. Athyron mußte sich gewaltsam von dem Anblick losreißen. »Nicht mehr lange, und wir sind auf Burg Shebar«, sagte er, um sich und seine Kapitäne zu beruhigen. »Dragon hat eine unerschöpfliche Blutquelle. Zweihundert Blutspender stehen zu unserer Verfügung. Wir sind bald bei ihnen.« Aber sie kamen nur langsam weiter, und Burg Shebar schien noch immer so weit entfernt wie bei ihrem Aufbruch. Erst als auch die letzten der Kolonne den Hügel überwunden hatten und ebeneres Gelände erreichten, kamen sie rascher weiter. »Sieh nur die vielen Vögel, Athyron«, sagte einer der Kapitäne. »Ihr Anblick ist mir unheimlich.« »Alles Aasfresser«, erklärte Athyron. »Sie warten darauf, daß
etwas für sie abfällt. Das ist bei jedem Transport so.« »Ich habe schon einige Versorgungstransporte mit dir zusammen gemacht, Athyron«, entgegnete der Kapitän. »Aber so viele Vögel waren es noch nie. Könnte nicht …« »Was?« »Nichts.« Der Kapitän verschwieg seine Befürchtungen. Aber die Klagelaute des Dinges unter dem Segeltuch erschienen ihm von nun an nur noch unheimlicher. Entlang ihres Weges tauchten nun immer mehr Vögel auf. Sie hockten in sicherer Entfernung auf den knorrigen Bäumen, in Sträuchern und auf Felsen, putzten ihre Federn – oder starrten nur zu ihnen herüber. Wenn die Kolonne an ihnen vorbei war, erhoben sie sich träge, flogen ein Stück, immer dicht am Boden, und ließen sich wieder dort nieder, wo die Karawane vorbei mußte. »Welch unheimliche Wegbegleiter«, sagte Dankeun. »Vielleicht hat Konthor recht mit dem, was er nicht auszusprechen wagte. Mir scheint es auch so zu sein, daß das Klagen des Orakels die Vögel anlockt.« »Unsinn«, widersprach Athyron. »Ich möchte nichts mehr davon hören.« Dabei war er fast sicher, daß Dankeun recht hatte. Er erinnerte sich noch zu gut des Zwischenfalls auf hoher See, als sein Schiff von einem Vogelschwarm überfallen worden war. Damals hatte ihm Tatharana dies aber prophezeit. Wenn die Vögel auch diesmal von ihr angelockt wurden, ließ sie vielleicht mit sich handeln und sich dazu bewegen, ihre gefiederten Freunde fortzuschicken. »Dankeun, übernimm du die Spitze«, sagte Athyron und ließ sich mit seinem Pferd etwas zurückfallen, bis er auf Höhe des abgedeckten Käfigs war, den sich die acht Träger geschultert hatten. Athyron ritt eine Weile schweigend daneben einher. Unter dem Segeltuch kamen zirpende Laute hervor. Die Plane war schon wieder fast trocken, und Athyron befahl, ein Wasserfaß zu öffnen
und den Inhalt über den Käfig zu gießen. Nachdem dies geschehen war, fragte er: »Hast du noch Durst, Tatharana? oder bist du hungrig? Sage mir, was du begehrst – und du bekommst es. Ich will dich am Leben erhalten, das mußt du mir glauben.« Er bekam keine Antwort. Nur das klägliche Zirpen und Zwitschern ging weiter. »Hast du die Vögel gerufen, Tatharana?« sprach Athyron wieder. »Wenn du sie hergelockt hast, damit sie dich befreien, dann war das ein schwerer Fehler. Denn wenn sich auch nur ein Vogel auf meine Leute stürzt, decke ich deinen Käfig ab und setze dich den Strahlen der Sonne aus. Und ich bin sicher, daß das dein Tod wäre.« Athyron machte wieder eine Pause. Er sah, daß zwei der Träger, die ja seine Worte hören konnten, zu zittern begannen. Es waren Quesas – und wahrscheinlich war ihnen die Legende über die Vogelkönigin, das Orakel von der Vogelinsel, nicht unbekannt. »Ich will nur das Beste für dich, Tatharana«, fuhr Athyron fort. »Bald wird dein Leiden ein Ende haben, denn ich bringe dich an einen Ort, der dir Ruhe und Geborgenheit gewährt. Doch wenn du diesen Ort lebend erreichen willst, dann verjage deine gefiederten Freunde.« Athyron lauschte. Ihm war gewesen, als hätte die Vogelstimme unter dem Segeltuch Worte in seiner Sprache gesprochen. Nach einer Reihe unverständlicher Laute, drangen wieder Worte zu ihm, die er aber nicht alle verstehen konnte. »… schützen mich und dich … in dunklen Schlünden … hinter … ringsum … überall lauert der Tod. Meine Freunde, deine Freunde … unsere Beschützer …« Diesmal erschienen ihm Tatharanas Worte nicht so rätselhaft wie sonst. »Du meinst, die Vögel wollen uns nichts tun?« sagte er. »Aber wozu sind sie überhaupt hier? Sie machen mich unruhig. Ich kann ihre Gegenwart nicht ertragen. Schicke sie weg.« »In schwarzen Schlünden lauert der Tod«, kam es schrill unter
dem Segeltuch hervor. Plötzlich ließen die beiden Sklaven, die schon beim ersten Klang von Tatharanas Stimme Anzeichen von panischer Angst gezeigt hatten, die Trage los – und rannten schreiend davon. Ein Sklavenaufseher mit der Peitsche und zwei der nächststehenden Krieger wollten die Verfolgung aufnehmen. »Laßt sie laufen!« befahl Athyron ihnen. »Ich möchte sehen, wie sich die Vögel verhalten.« Die beiden flüchtenden Sklaven, die vor Angst und Entsetzen darüber, daß Athyron mit dem Ding unter der Plane gesprochen und Antwort bekommen hatte, wie blind waren, liefen geradewegs in Richtung der Schlucht, entlang der die Mehrzahl der Vögel hockte. Als die Sklaven die Vögel erreichten, erhoben sich diese kreischend in die Höhe und kreisten über ihnen. Die Sklaven blieben am Rande der Schlucht abrupt stehen, starrten in die Tiefe – es schien, daß sie erst jetzt merkten, wohin sie sich gewandt hatten. Die Vögel kreisten immer noch mit lautem Gekreische über den beiden, deren Körper plötzlich ein Zucken durchlief. Ohne daß Athyron Anzeichen dafür festgestellt hätte, daß sie von den Vögeln attackiert wurden, brachen die beiden Sklaven zusammen und stürzten schreiend in die Tiefe. Daraufhin ereignete sich etwas noch viel Seltsameres. Die Vögel erhoben sich wie auf Kommando von ihren Plätzen und stürzten sich in die Schlucht hinunter. Ein Lärm brach los, als hätten die Vögel alle Dämonen der Unterwelt aufgescheucht. Gleichzeitig begann auch Tatharana zu toben, daß sich das Segeltuch an allen Seiten zu bauschen begann, und sie gab ein schrilles, abgehacktes Pfeifen von sich. Athyron verstand im ersten Augenblick überhaupt nicht, was das zu bedeuten hatte. Aber dann sah er im Süden plötzlich aus einer Senke Reiter auftauchen, die mit wildem Geheul heranpreschten. Und aus der
Schlucht kamen rothäutige, halbnackte Gestalten geklettert, deren Körper bemalt waren. In ihren schwarzen, meist zu Zöpfen geflochtenen Haaren hatten sich die Vögel verkrallt und hieben mit ihren Schnäbeln auf sie ein. Das waren Wilde, Eingeborene, die ihnen einen Hinterhalt gelegt hatten! Und Athyron verstand nun vollends die orakelhaften Worte Tatharanas, die ihn vor diesem Hinterhalt hatte warnen wollen und ihm auf ihre Art mitgeteilt hatte, daß die Vögel zu ihrem und auch zum Schutze seiner Leute gekommen waren. »Überfall!« Athyron wirbelte wieder auf die andere Seite herum, von wo die Reiterschar heranpreschte. Die Wilden kamen in einem Bogen heran, der sich gegen Westen bis zur Schlucht schloß. Sie wollen uns den Rückweg abschneiden, dachte Athyron verzweifelt. Dann sah er jedoch, daß der Weg nach Burg Shebar frei war. * Die rund vierzig Krieger der Nazukas unter ihrem Häuptling Federvier ließen ihre Pferde in einem Versteck zurück und folgten der Karawane der Neuatlanter durch die Schlucht. Schlangentöter hatte richtig erkannt, daß die Neuatlanter nicht die Schlucht benützen würden, weil der Grund viel zu uneben war und es für den Troß kaum ein Vorwärtskommen gegeben hätte. Selbst für Krieger zu Fuß war der Gang durch die Schlucht beschwerlich genug. Zudem kam noch, daß in den Spalten der Felswände unzählige Vögel nisteten, die, in Sorge um ihre Brut, Federviers Krieger oft genug attackierten. Genug von ihnen wurden auch aufgescheucht und säumten nun den Weg der Karawane. Schlangentöters Kriegslist sah vor, daß die Nazukas erst dann angriffen, nachdem die Reiter der anderen beiden Stämme den Hellhäuten den Weg zurück zur Hossabucht abgeschnitten hatten.
Doch dieser Plan wurde durch ein unvorhergesehenes Ereignis vereitelt. Die Nazukas hatten alle Veränderungen innerhalb der Karawane beobachtet, und so war es ihnen auch nicht entgangen, daß die Hellhaut, die immer an der Spitze ritt, auf einmal zurückfiel und dann an der Seite der verdeckten Sänfte ritt, die von acht Sklaven getragen wurde. Durch das Tuch, das ständig angefeuchtet wurde, kam ein unheimliches Gezwitscher wie von einer Vogelschar. Die Nazukas waren abergläubisch genug, um unter dem Segeltuch eine geheimnisvolle Medizin der Hellhäutigen zu vermuten. Sosehr die Nazukas durch das Gekreische verunsichert waren, das von dem verdeckten »Vogelkäfig« kam, hätten sie dennoch die Fassung nicht verloren. Doch dann kam es zu dem Zwischenfall. Zwei der Trägersklaven rissen aus. Sie rannten geradewegs zur Schlucht, wo die Nazukas sich verborgen hatten. Und dann standen die beiden Quesas am Rande der Schlucht und entdeckten die Nazukas. Häuptling Federvier hatte keine andere Wahl, als den einen mit der Lanze herunterzuholen. Der andere wurde von dem Pfeil eines anderen Kriegers getroffen, bevor er Alarm geben konnte. Trotzdem glaubte Häuptling Federvier, daß sie nicht länger unentdeckt bleiben würden, und gab das Zeichen zum Angriff. Während seine tapferen Krieger jedoch aus der Schlucht kletterten, stürzten sich die Vögel auf sie, verkrallten sich in ihren Haaren, hackten mit den Schnäbeln auf sie ein und rissen zwei von ihnen in die Tiefe. Da zweifelte nicht einmal Häuptling Federvier daran, daß die Hellhäute in dem Käfig eine mächtige Medizin mitführten, von der ein Zauber ausging, der die Vögel behexte – und er befahl, den Zauber zu vernichten. *
»Häuptling Federvier hat seine Krieger in den Kampf geschickt!« meldete der Späher. Die Karawane war weit genug vom Meer entfernt, daß die bei den Schiffen zurückgebliebenen Hellhäute nichts von dem Kampfgeschehen bemerken konnten. Deshalb schickte Schlangentöter auch die Reiter in den Kampf. Häuptling Schneller Blitz ritt mit seinen 150 Aitranks in großem Bogen nach Westen, um den Neuatlantern in den Rücken zu fallen und ihnen den Weg zur Hossabucht abzuschneiden. Schlangentöter und Häuptling Lange Hand fielen mit den über hundert Mampoas von der Flanke über die Karawane her. Der junge Padoka erkannte bald, daß die Nazukas in die Enge getrieben worden waren. Ursprünglich war gedacht, daß sie die zur Schlucht zurückweichenden Neuatlanter aufsplitterten. Doch durch ihr vorzeitiges Eingreifen konnten sich die Neuatlanter formieren und sich ihnen geschlossen entgegenwerfen. Dazu kam noch, daß Häuptling Federviers Leute von einem Vogelschwarm bedrängt wurden. Schlangentöter trieb sein Pferd zu größerer Eile an – diese war geboten, wollte er den Nazukas noch rechtzeitig zu Hilfe kommen. Zwei Neuatlanter stellten sich ihm entgegen. Schlangentöter ritt sie nieder, ließ sein Pferd aus dem vollen Lauf über einen mannsgroßen Warenballen springen. Sklaven, die versuchten, die Waren zu einer Art Schutzwall aneinanderzureihen, stoben erschrocken auseinander, als der schauerlich bemalte Padoka mit seinem Reittier über sie sprang. Pfeile umschwirrten Schlangentöter, aber er duckte sich tief über den Hals seines Pferdes und fällte im Vorbeireiten einen hellhäutigen Krieger mit der Kampfaxt. »Federvier!« Schlangentöter sah, daß der Nazuka-Häuptling von zwei Kriegern und drei Sklaven aus dem Volk der Quesas bedrängt wurde. Verbittert dachte er daran, daß Dragon verlangt hatte, die Sklaven
zu verschonen. Nun, wenn alle ihren Herren so treu waren wie diese, dann brauchte sich Schlangentöter nicht an Dragons Befehle zu halten. Mit einem Schrei preschte er in die Reihe von Federviers Gegnern hinein, spaltete einem den Schädel, beförderte einen anderen mit einem Fußtritt beiseite. Nun hatte Häuptling Federvier wieder etwas Luft, tötete den zweiten Neuatlanter. Die zwei überlebenden Sklaven flüchteten. Schlangentöter holte sie jedoch ein und tötete sie. »Alle Sklaven, die die Freiheit wünschen, sollen sich ergeben!« verkündete er dann. Er wiederholte seinen Aufruf immer wieder, wenn er nicht gerade in einen Zweikampf verstrickt war. Die meisten Sklaven hatten sich jedoch irgendwo verkrochen und wagten sich nicht hervor. Die Neuatlanter forderten sie auf, gegen den gemeinsamen Feind vorzugehen – und töteten jene, die sich ihnen offen widersetzten. Inzwischen hatte Schneller Blitz, Häuptling der Aitranks, mit seinen Kriegern die Karawane von Westen her erreicht. Die meisten Neuatlanter hatten sich hinter dem Wall aus Versorgungsgütern verschanzt. Doch lange würden sie sich dort nicht halten können, das zeichnete sich bereits deutlich ab. Die Aitranks schlugen immer wieder Breschen in ihren Verteidigungsring und übersprangen mit ihren Pferden alle Hürden. Schlangentöter, vom Blut der getöteten Feinde besudelt, blickte sich nach weiteren Gegnern um. Er suchte nach einem der sechs Kapitäne, doch von diesen fehlte jede Spur. Wahrscheinlich hatten sie die erste Gelegenheit zur Flucht genutzt. Sollten sie ziehen. Zur Hossabucht zurück konnten sie nicht. Dafür würden die Aitranks schon sorgen. Außerdem war Burg Shebar näher. Es gab nur noch zwei Kampfschauplätze. Den Verteidigungswall, bei dem die Gegenwehr der Neuatlanter aber sichtlich erlahmt war. Und dann wurde auch noch bei dem verdeckten Käfig gekämpft,
der Schlangentöter schon am Strand in der Hossabucht aufgefallen war und von dem er wußte, daß er ein Geschenk für den Herrn von Burg Shebar war. Ein halbes Dutzend Neuatlanter wehrte sich erbittert gegen doppelt soviele Nazukas. Diese hätten den Kampf längst schon für sich entschieden, wenn über ihnen nicht ein Schwarm von Vögeln gekreist wäre, der sie attackierte. Schlangentöter ritt hin, um den Nazukas zu Hilfe zu kommen. Doch sie bedurften seiner Unterstützung nicht. Sie durchbrachen den Ring der Neuatlanter an einer Stelle – und da erkannte Schlangentöter erst, was sie wirklich beabsichtigten. Sie schlüpften unter das Segeltuch – zweifellos in der Absicht, das Orakel zu vernichten. »Haltet ein!« rief ihnen der Padoka zu. Doch es war bereits zu spät. Schlangentöter sah, wie das Segeltuch angehoben wurde. Das Ding, das darunter war, begann unheimlich zu schreien. Die Nazukas taumelten davon, als würden sie von einem Wirbelwind erfaßt. Selbst Schlangentöter, der noch etliche Mannslängen von dem Käfig entfernt war, wurde von einem namenlosen Grauen erfaßt, als er einen verschwommenen Eindruck von dem flimmernden, pulsierenden Ding bekam. Er verdeckte sich mit einem Aufschrei das Gesicht. Ließ dabei die Zügel los, verlor den Halt und wurde vom Rücken seines Pferdes geschleudert. Als er wieder auf die Beine kam, sah er die Nazukas ebenso wie die Neuatlanter, die um den Käfig gewesen waren, wie von Sinnen herumirren. »Seht nur, was aus ihnen geworden ist, als sie an dem Orakel einen Frevel begingen«, sagte Schlangentöter zu den ratlosen Kriegern, die in sicherer Entfernung um den Käfig standen. »Das soll eine Warnung für alle sein, die das Geschenk für den Geist des Großen Vogels entehren wollen.«
Der Kampf war entschieden. Von den Neuatlantern lebte keiner mehr – außer jenen, die zur Blutburg entkommen waren. Die restlichen Sklaven, die sich ergeben hatten, waren innerhalb des Verteidigungswalls zusammengetrieben worden. Ein Nazuka trat an Schlangentöter heran und sagte mit ernster Miene, daß ihn Häuptling Federvier zu sehen wünsche. Der Häuptling der Nazukas lag im Sterben. »Es war ausgemacht, daß Talahasset nur einen von uns zu sich holen darf«, sagte er mit schwacher Stimme. »Waldblume wird nun nicht die Einsamkeit kennenlernen müssen. Aber über Silbermund, meine Tochter, wird Trauer kommen, denn sie hat nach ihren Brüdern nun auch ihren Vater verloren. Versprich mir, Schlangentöter … Wenn du eines Tages eine zweite Frau nehmen willst, dann möge es Silbermund sein. Sie wäre würdig, an der Seite eines Häuptlings der Häuptlinge Schutz zu finden …« Federvier lebte nur noch einige Atemzüge lang. Das Klagelied für ihn wurde von der Vogelkönigin Tatharana angestimmt.
6. »Woher kommen diese Wilden?« rief Kapitän Konthor entsetzt. »Sie sind bemalt, als würden sie in den Krieg ziehen. Shebar versicherte am Herrscherhof, daß die Eingeborenen dieses Landes friedlich seien.« »Wie friedlich sie sind, sehen wir ja«, meinte Dankeun. Er faßte sich von allen zuerst und befahl den Seekriegern, daß sie alle Waren zu einem Ringwall formieren und die Sklaven bewaffnen sollten. »Gegen diese Übermacht sind wir machtlos«, rief Athyron. »Wir müssen uns in Sicherheit bringen.« Dankeun versperrte ihm mit dem Pferd den Weg. »Wohin sollen wir uns wenden?« herrschte er den Flottenkapitän an. »Die Eingeborenen haben uns den Rückweg abgeschnitten.« »Aber der Weg zur Burg ist frei«, sagte Athyron und versuchte, an Dankeuns Pferd vorbeizukommen. »Sollen wir etwa mit leeren Händen zu Shebar kommen?« herrschte der Kapitän der Rifftänzerin ihn an. »Wenn schon«, meinte Penthor. »Aber wenigstens mit heiler Haut.« »Sehr richtig«, stimmte Athyron zu. »Kapitäne – folgt mir!« »Nicht so eilig, Flottenkapitän«, sagte Dankeun sarkastisch. »He, Dankeun, was soll das!« ertönte Penthors Stimme hinter ihm. »Willst du gegen den Flottenkapitän meutern?« »Ich möchte die Ehre von Neuatlantis retten«, erwiderte Dankeun. »Dieser Feigling …« »Macht ihn nieder!« kreischte Athyron, außer sich vor Wut. »Zeigt es diesem Meuterer.« Penthor hatte Dankeun mit dem Pferd so weit abgedrängt, daß sich Athyron befreien konnte. Er trieb sein Pferd sofort an und preschte in Richtung Burg Shebar davon. Drei der Kapitäne folgten sofort seinem Beispiel.
»Wenn du den Helden spielen willst, Dankeun, dann bleib bei den Sklaven und Kriegern zurück«, meinte Penthor spöttisch. »Wir werden bestimmt nicht um dich trauern.« »Athyron wäre es sicherlich recht, wenn ich zum Schweigen gebracht würde«, sagte Dankeun. Er riß sein Pferd herum und wandte sich ebenfalls in Richtung Burg Shebar. »Aber diesen Gefallen tue ich ihm nicht. Er ist dafür verantwortlich, wenn wir die Krieger und die Versorgungsgüter verlieren.« Penthor überlegte, ob er den Widersacher hier und jetzt töten sollte. Er konnte die Tat den Wilden zuschreiben, und niemand würde erfahren, wie es wirklich gewesen war. Keiner der anderen Kapitäne kümmerte sich mehr um sie. Aber Penthor überlegte zu lange. Bevor er zum Schwert griff, war Dankun bereits an ihm vorbei und folgte der Spur der anderen. Da trieb auch Penthor sein Pferd an. Die berittenen Eingeborenen waren schon gefährlich nahe gekommen. Athyron ritt an der Spitze der kleinen Gruppe. Keiner der anderen Kapitäne wagte es, ihn zu überholen. Burg Shebar war schon sehr nahe. Athyron drehte sich nach den Verfolgern um. Dichtauf folgten ihnen zwei Reiter. Dankeun und Penthor. Athyron fluchte leise vor sich hin. Er hatte gehofft, daß die beiden aneinandergeraten würden und daß Penthor den gefährlichen Mitwisser tötete. Nun, es sollte nicht sein. Aber Athyron hatte jetzt wenigstens eine Handhabe gegen Dankeun. Meuterei! Er würde die Angelegenheit aufbauschen und Dankeun bestrafen – wenn sie erst auf Burg Shebar waren. Sie konnten es schaffen. Hinter den beiden Kapitänen tauchten jetzt weitere Reiter auf. Es waren an die zehn, die die Verfolgung aufnahmen. Wenn sie sich in den Sätteln auch sicherer fühlten als die Kapitäne, so würden sie deren Vorsprung kaum mehr aufholen können. Das Gelände wurde wieder hügeliger und stieg steil an. Der Fels
nahm eine rote Färbung an. Unweit vor ihnen thronte Burg Shebar auf der Spitze des roten Felsens. Und da war der Pfad, der zum Tor in der Burgmauer hinaufführte. Als sich Athyron umdrehte, sah er, daß die Verfolger noch immer weit zurück waren. Sie konnten sie nicht mehr einholen. Athyron lachte befreit auf. Er preschte den Pfad hoch. Da tauchte das Burgtor auf. »Öffnet! Aufmachen!« schrie Athyron mit sich überschlagender Stimme. Die Torwachen mußten ihn hören. Oder sie mußten zumindest sehen, daß sie in Bedrängnis waren. Vom Wehrturm aus mußte man sogar das Geschehen auf dem Schlachtfeld beobachten können. Warum hatte Blutjäger Dragon nicht seine Krieger zur Verstärkung geschickt? Athyron würde ihn zur Rede stellen. Endlich gingen die beiden Flügel des Burgtors auf. Athyron und seine fünf Kapitäne preschten hindurch. »Schließt die Tore wieder. Wir werden verfolgt!« schrie Athyron, während er sein Pferd so abrupt zügelte, daß es sich aufbäumte. Es tänzelte auf der Hinterhand im Kreise. »Habt ihr nicht gehört, ihr sollt das Burgtor schließen!« wiederholte Penthor den Befehl. Doch das Burgtor blieb offen, obwohl auf dem Pfad bereits die Verfolger auftauchten. Aber diese hatten es auf einmal nicht mehr eilig. Sie kamen in gemächlichem Trab näher. »Was hat das zu bedeuten?« schrie Athyron. Er blickte sich jetzt erst genauer im Burghof um – und seine Augen weiteten sich vor Staunen und steigendem Entsetzen. Überall standen Eingeborene, die bewaffnet waren. Sie standen auf den Wehrgängen, in den Lauben der Gebäude und auf den steinernen Treppen. Sie starrten schweigend auf die fünf Kapitäne hinunter. Athyron stellte fest, daß keiner von ihnen das schwarze Stirnmal
eines Jagdsklaven besaß. Ja, diese Wilden waren nicht einmal als Haussklaven gekennzeichnet. Nicht einmal grüne Stirnstreifen besaßen sie! Aber sie waren bewaffnet. Unter ihnen, auf einem der Wehrgänge, tauchte jetzt ein Neuatlanter auf. Athyron sah erwartungsvoll zu ihm hinauf. Für einen Neuatlanter war er recht seltsam gekleidet, ganz abgesehen von seinem Verhalten. Er trug einen achteckigen Schild, auf dem auf blauem Grund ein hossaähnliches Tier dargestellt war. Auf der Brust leuchtete ein strahlendes Sonnenamulett – wie es nur die höchstgestellten Persönlichkeiten von Neu-Atlantis trugen. Und er hatte einen blauen Umhang, der ihm von den Schultern wallte. Athyron hatte das Gefühl, daß er diesen Mann kennen sollte, obwohl er sich nicht erinnerte, wo er ihn gesehen hatte. Seinen Kapitänen schien es ähnlich zu gehen. »Was hat das zu bedeuten?« fragte Athyron endlich in die angespannte Stille. »Wer bist du? Und warum schließt du das Tor nicht vor unseren Verfolgern? Wenn du uns nicht Aufklärung gibst, dann verlangen wir diese von dem neuen Burgherrn Dragon.« »Ich bin Dragon!« sagte der Mann mit dem achteckigen Schild und dem blauen Umhang. * Dragon sah zufrieden, welche Überraschung sich in den Gesichtern der Kapitäne bei seinen Worten zeigte. Man merkte ihnen auch ihre Unsicherheit an. Aber sie schienen die Lage noch immer nicht richtig begriffen zu haben. »Ich bin Dragon«, wiederholte er deshalb. »Aber nicht der Blutjäger, für den ich mich ausgegeben habe. Burg Shebar ist fest in meinen Händen.« Jetzt erkannten die Kapitäne endgültig, daß sie es hier mit keinem Verbündeten zu tun hatten. Wer immer dieser Fremde war, er konnte nur ihr Feind sein.
»Wer bist du, Dragon?« fragte Athyron mit unsicherer Stimme. Aus den Augenwinkeln sah er, daß die zehn Reiter ihre Pferde angehalten hatten, ohne abzusteigen. Sie versperrten den Fluchtweg durch das Burgtor. »Ich bin ein Sohn des alten Atlantis«, erklärte Dragon mit weithin hörbarer Stimme. »Und ich habe mit Bedauern und Schrecken festgestellt, daß meine Brüder zu grausamen Barbaren geworden sind. Deshalb betrachte ich mich nicht mehr als einer von euch, sondern als Freund der Eingeborenen, die unter eurer Willkür zu leiden hatten. Doch ihre Knechtschaft ist vorbei. Ich bin es dem Vermächtnis von Atlantis schuldig, die Blutjägerei und Versklavung abzuschaffen. Für das Gebiet von Shebar und seine Bewohner hat die Stunde der Freiheit bereits geschlagen. Und bald werden auch die Blutburgen Ossar und Vodor fallen.« »Verräter!« schrie Dankeun und riß sein Schwert aus der Scheide. »Durch meine Waffe sollst du verbluten!« Er trieb sein Pferd in Richtung der Wehrmauer, wo Dragon stand. Das war das Zeichen für die anderen Kapitäne, ebenfalls ihre Waffen zu ziehen. Die Kanuks und Melniken, die sich bisher schweigend verhalten hatten, brachen in ein wildes Kriegsgeheul aus. Doch sie stürzten sich nicht in blindem Haß auf das verloren wirkende Häufchen der sechs Kapitäne, sondern hielten sich an Dragons Befehl, der lautete, daß den Neuatlantern Gelegenheit zur Kapitulation oder für einen ehrenhaften Zweikampf gegeben werden sollte. »Ergebt euch, dann rettet ihr euer Leben!« rief Dragon den Neuatlantern zu. »Spar dir deinen Großmut«, rief Dankeun zu ihm hinauf. »Komm herunter und kämpfe.« Er streckte Dragon wütend das Schwert entgegen. Doch dieser schüttelte nur den Kopf. »Ich will euer Blut nicht!« Da zog Dankeun seinen Dolch und schleuderte ihn nach Dragon. Doch dieser duckte sich ab – und die Waffe bohrte sich bis zum
Schaft in die Brust eines Melniken. Jetzt waren die anderen nicht mehr zu halten. Sie sprangen von den Wehrgängen, stürmten mit drohend schwingenden Waffen auf den Burghof. Dankeun wurde von zwei Melniken angesprungen und von ihrem Gewicht aus dem Sattel gerissen. Einem konnte er das Schwert in den Körper rammen, der andere traf ihn jedoch mit einem von den Blutjägern erbeuteten Opferdolch. Athyron sah entsetzt, wie alle seine Kapitäne von den Massen der entfesselten Wilden mitgerissen wurden. Sie verschwanden in Knäueln aus Menschenleibern, in denen die Waffen blitzten. »Gnade!« winselte er da und warf das Schwert fort. »Ich ergebe mich. Schont mein Leben.« Und er streckte Dragon hilfesuchend die Arme entgegen, während die Wilden an ihm zerrten und ihn aus dem Sattel holen wollten. »Athyron soll kein Haar gekrümmt werden!« rief Dragon den Kanuks und Melniken zu. »Hört ihr nicht, was euer Herr befiehlt?« rief Athyron verzweifelt. Dankeun hatte es gehört. Und er hatte vor allem gehört, wie sich der Flottenkapitän entwürdigte, indem er vor den Sklaven um sein erbärmliches Leben winselte. Dankeun hatte eine tödliche Wunde empfangen. Aber er nahm noch einmal all seine Kraft zusammen, befreite sich aus dem Griff seiner Widersacher und stürzte sich mit dem Schwert auf Athyron. »Feigling!« rief er, und Blut sprudelte aus seinem Mund. »Nimm die verdiente Strafe!« Athyron sah noch, wie einer seiner eigenen Kapitäne die Waffe gegen ihn erhob – und wie sich die scharfe Klinge auf ihn niedersenkte. Keiner der Melniken und Kanuks schritt dagegen ein, als Dankeun den Feigling tötete. Dragon wandte sich ab. *
»Viele Vögel«, sagte Schlangentöter. »Hast du sie gerufen, Geist des Großen Vogels, weil du uns mit diesen dir artverwandten Geschöpfen deinen Zauber zeigen möchtest?« Dragon schüttelte den Kopf. »Ich habe die Vögel nicht gerufen.« Sie saßen überall. Auf den Zinnen, den Dächern, drangen sogar in die Gänge und Gewölbe der Burg ein. Die Luft war von ihrem verschiedenartigen Singen erfüllt. Aber bisher hatten sie noch keinerlei Feindseligkeiten gezeigt. Sie waren nur da. Aber den meisten abergläubischen Kanuks war selbst das schon zuviel. Schlangentöter hatte sie nur beruhigen können, weil er ihr Kommen dem Geist des Großen Vogels zuschrieb. »Aber warum haben sie uns dann bei der Schlucht überfallen und sich nicht gegen unsere Feinde gestellt?« wollten die überlebenden Nazukas wissen, die um ihren Häuptling Federvier trauerten. Darauf wußte auch Schlangentöter keine Antwort. Der Padoka, der von allen anwesenden Kanuks als Häuptling der Häuptlinge anerkannt wurde, suchte auch nicht nach Erklärungen. Er verstand viel von dem nicht, das Dragon tat, oder das allein durch seine Anwesenheit Folgen zeitigte. So forschte er auch nicht nach den Zusammenhängen zwischen ihm, dem geheimnisvollen Orakel und dem Verhalten der Vögel. Es genügte, daß der Geist des Großen Vogels alles wußte. Doch Dragon war nicht viel besser dran als Schlangentöter. Er ahnte nur, daß das Orakel viele der Fragen beantworten könnte. Seit Schlangentöter den verdeckten Käfig zur Burg gebracht hatte, wo er nun in Shebars Gemach stand, war die Luft von den tierischen Klagelauten erfüllt – und von überall her kamen die seltensten Vögel geflogen, nisteten sich in der Burg ein. Dragon hatte sich erzählen lassen, welche Rolle die gefiederten Luftbewohner bei dem Überfall auf die Karawane der Neuatlanter gespielt und daß sie für diese Partei ergriffen hatten.
War es möglich, daß das Orakel sie zu Hilfe gerufen hatte und sich von ihnen beschützen lassen wollte, weil es glaubte, ihm drohe Gefahr von den Kanuks? Die Mehrzahl der Seesklaven, durchwegs Quesas, hatten sich den Kanuks ergeben und waren zu den Dienern der Blutjäger ins Verlies gebracht worden. Von diesen Seesklaven erfuhr Dragon, daß die Stern von Atlantis auf hoher See schon einmal von einem Vogelschwarm angegriffen worden war. Und er erfuhr noch weitere Zusammenhänge: Daß Kapitän Athyron mit Dankeun zur Vogelinsel gerudert war, auf der die Vogelkönigin Tatharana lebte und von den Gefiederten der Lüfte gepflegt und umhegt wurde – und daß schon so mancher Quesa zur Vogelinsel gekommen sei und dort Rat gefunden und Wunder erlebt hatte … Es schien alles darauf hinzuweisen, daß das Orakel die Vogelkönigin Tatharana war. Dragon wollte sich mit dem Orakel näher befassen, doch alle seine Freunde hatten ihm davon abgeraten. »Ich habe gesehen, wie Nazukas den Verstand verloren, weil sie das Orakel zu sehen bekamen«, erzählte Schlangentöter. »Und die Quesas, die Sklaven auf den Schiffen mit den zwei Masten waren, haben erzählt, daß das Orakel einige von ihnen aufgefressen und andere ins Meer gestürzt hat.« »Du darfst das Wagnis nicht eingehen, Dragon«, sagte auch Ubali, der zwar seine abergläubische Furcht vor dem Übernatürlichen auf Danilas Welt weitgehend verloren, doch der sich seinen Instinkt für die unbekannte Gefahr bewahrt hatte. Sein, des Panthers, Instinkt hatte sich sogar noch verfeinert. Und Ubali sagte entschlossen: »Ich werde nicht zulassen, daß du in die unheimliche Gewalt des Orakels gerätst.« Dragon widersprach nicht. Er wußte, daß es die Freunde nur gut mit ihm meinten. Aber er war dennoch nicht gewillt, sich von ihnen abhalten zu lassen, das Orakel aufzusuchen.
Er wollte warten, bis sie schliefen. Er verabschiedete sich von Schlangentöter und durchstreifte die Burg. Außerhalb der Mauern lagerten die Kanuks. Späher hatten berichtet, daß ein weiteres Heer – tausend Krieger von einem Dutzend Stämmen – die Hungerwüste bereits durchquert hatte und unweit der Blutburg lagerte. Boten waren bereits unterwegs, um über Schlangentöters Heldentaten und die Eroberung von Burg Shebar zu berichten. Dragon hatte ihnen aufgetragen, die tausend Mann zum Schlachtfeld zu führen, wo die Karawane der Neuatlanter besiegt worden war, und sich mit den dort zurückgebliebenen Waren zu versorgen. In Burg Shebar gab es viele Speicher, die mit Nahrungsmitteln gefüllt waren. Wenn erst das Gros des Heeres der vereinigten Kanuk-Stämme eintraf, wollte Dragon diese Vorratskammern leeren lassen. Dragon wanderte durch die Gänge, drang tiefer in die unterirdischen Gewölbe vor, die verlassen waren … … und er kletterte wieder die Pyramide aus Totenköpfen hoch, die kein Ende zu haben schien. Knochige Schädel grinsten ihn an, leere, schwarze Augenhöhlen starrten. Was war in den leeren Augenhöhlen der Toten zu lesen? Was wollten ihm die Münder sagen? Daß sie den Tod in seiner brutalsten Form kennengelernt hatten? Und dann erblickte Dragon den Gipfel. Eigentlich sah er ihn nicht, sondern er erahnte ihn nur. Ein untrügliches Gefühl sagte ihm, daß er nun bald am Ziel war. Und der Spötter lachte. Aber diesmal klang das Lachen fremdartiger, weniger spöttisch als schaurig – und es wurde immer fremdartiger, bis es klang wie das Geschrei unzähliger Vögel … Und die Pyramide aus Totenschädeln zerrann und wurde zum Gemach des Blutherrn Shebar. Und da stand der verdeckte Käfig mit dem Orakel. Dragon wußte nicht mehr, wie er hierhergekommen war. Hatte
ihn der Weg über die Totenkopf-Pyramide hierher geführt? * Er kniete nieder, starrte auf das Segeltuch, das staubig und trocken und von der Sonne gebleicht war. »Ich werde …« Die Vogelstimme brach ab. Dragon lauschte. Er hätte gerne etwas gesagt, doch fand er nicht die richtigen Worte. Er merkte nur, daß sein Amulett Wärme verströmte und unregelmäßig zu leuchten begann. Deshalb war er sicher, daß unter der Plane ein Wesen mit übernatürlichen Fähigkeiten war. »Dragon … und … Gerechtigkeit … Dragon und Unrecht …«, kam es unter dem Segeltuch hervor. Dragon hielt den Atem an. Er brauchte nicht lange zu warten, bis die zwitschernde Stimme fortfuhr: »Dragon ist seinem Ziel noch fern … weit fort von meinem Ort bin auch ich … Ich klage nicht, obwohl ich sterben werde. Meine Freunde klagen, aber sie können mir nicht helfen. Das Orakel Verstummte. Auf den Fenstern tauchten Vögel auf, die ihre Schnäbel weit aufrissen. Machten sie sich für den Angriff bereit? »Kann ich dir helfen?« fragte Dragon. »Wenn du leidest, möchte ich dir Linderung bringen. Wenn du zur Vogelinsel zurück willst, dann sage es mir. Ich bringe dich hin.« »Ich muß sterben … Meine Freunde werden meine Saat mit sich nehmen und über die ganze Erde verstreuen … Ich bin nichts … Was ich bin, das wurde ich, weil ich von Onahan flüchtete. Ich wollte frei sein von ihm … Aber es gibt nur einen Weg, ihm zu entkommen … Alle, die nicht Onahans Knechte sein wollen, müssen den gleichen Weg wie ich gehen … Aber es gibt kein Entrinnen auf die Dauer … Auch ich wurde wieder sein Opfer, und ich säe Gewalt und Tod, bis dieser auch über mich kommt. Sieh! Sieh! Schauet, was aus mir geworden!«
Und Tatharana stieß ein aufgeregtes Zwitschern aus. Dragon verspürte das heftige Verlangen, das Segeltuch anzuheben und einen Blick auf das Orakel zu tun. »Wer ist Onahan?« fragte er, während er sich dem verdeckten Käfig näherte. Er rutschte auf den Knien vorwärts. »Sieh! Sieh! Schauet, was aus mir geworden!« verlangte die Vogelstimme. Dragon konnte der Aufforderung nicht widerstehen. »Ich habe einen seltsamen Traum, der immer wiederkehrt«, erzählte er, während er auf den Knien langsam näherrutschte. »Eigentlich ist es nicht nur ein Traum, sondern mehr. Ich klettere eine Pyramide hinauf, die aus den Schädeln von Toten besteht. Schädel von Menschen und anderen Wesen. Es ist eine riesige Pyramide, die nach oben kein Ende zu haben scheint – als sei sie aus den Schädeln all jener gebaut, die jemals gestorben …« »Gewaltsam gestorben … die Pyramide Onahans!« kam es zwitschernd unter dem Segeltuch hervor. Dragon hatte den Käfig erreicht. Er hob das Segeltuch an – und riß es mit einer ruckartigen Bewegung fort. Darunter kam ein Käfig aus Holzrohr zum Vorschein. Hohlstäbe führten auch kreuz und quer durch sein Inneres. Über diese Sprossen verteilt hing ein unförmiges Ding, das sich ständig ausdehnte und wieder zusammenzog. Er plusterte sich auf und schrumpfte wieder in sich zusammen. Es lebte. Und es hatte ein Gesicht. Etwas wie ein Schnabel war darin zu sehen. Und ein starres Auge wie von einem Fisch. Und ein großer breiter Mund – wie von einem Menschen. An manchen Stellen des formlosen Körpers, der keine Knochen zu haben schien, sprossen Haarbüschel, an anderen Stellen wieder waren Federn zu sehen und auch Schuppen wie bei einem Fisch oder einer Schlange. Doch Federn und Schuppen hatten allen Glanz verloren, die Haarbüschel waren nicht glatt und geschmeidig, sondern standen wie zerknittert, gebrochen, ab. »Bist du Tatharana, die Vogelkönigin?« fragte Dragon, ohne das
Ding aus den Augen zu lassen. Er fand den Anblick keineswegs abstoßend, und er konnte sich nicht vorstellen, daß man davon den Verstand verlieren konnte. Aber es war möglich, daß die tödlichen Kräfte, die in diesem Wesen geschlummert hatten, entwichen waren. Und er, Dragon, trug sein Sonnenamulett, das ihn vor überirdischen Mächten schützte. »Ich bin weder Fisch noch Vogel, weder Mensch noch Schlange. Und ich bin alles das zusammen – und noch mehr. Ich muß so sein, da ich Onahan entfliehen wollte … Dein Traum …« »Ja?« fragte Dragon schnell. Aber Tatharana sprach nicht weiter. Der Mund spitzte sich, und ein Trällern ertönte. Die Vögel auf den Fenstern wurden unruhig. »Ich sterbe«, sagte das Ding schließlich keuchend. In der nässelnden Haut bildete sich eine Öffnung, und eine grünliche Flüssigkeit sprudelte hervor. »Mein Traum!« erinnerte Dragon. »Deute mir meinen Traum!« Die Vogelkönigin spitzte wieder die Lippen, doch diesmal kam statt eines Trällerns nur ein unartikulierter Laut hervor. Das Ding bäumte sich noch einmal auf. »Werde … so wie ich … nur dann kannst du Onahan entfliehen …« Das Wesen fiel in sich zusammen wie eine Qualle auf dem Trockenen und glitt langsam, wie ein Klumpen Schlamm, von einer Sprosse zur anderen herunter, bis er auf dem Boden des Käfigs einen unansehnlichen Fladen bildete. Ein furchtbarer Gestank ging davon aus. Dragon wich bis an die Tür zurück, als die Vögel auf den Fenstern plötzlich ein Geschrei anhoben und ins Zimmer geflogen kamen und sich auf die Überreste der Vogelkönigin stürzten. Immer mehr Vögel tauchten vor den Fenstern auf, kamen ins Gemach geflogen, um noch einen Happen von den Überresten Tatharanas zu erkämpfen. Der Vögel wurden bald so viele, daß sich Dragon aus Shebars Gemach zurückziehen mußte.
Als er auf einen Laubengang hinauskam, beobachtete er von dort aus den letzten Akt des Dramas um die Vogelkönigin. Schwärme von Vögeln kreisten in der Luft und warteten darauf, daß sie Einlaß in das Gemach fanden. Andere wieder stürzten sich mit ausgebreiteten Schwingen aus den Fenstern, in ihren Schnäbeln Teile der verstorbenen Vogelkönigin mit sich nehmend. Somit erfüllte sich die Prophezeiung Tatharanas, daß ihre gefiederten Freunde ihre Saat über die ganze Welt tragen würden. Was aber hatte das Orakel ihm gesagt? Er grübelte lange über das Gehörte nach, ohne sich jedoch einen Reim darauf machen zu können. Er glaubte, nur so viel zu wissen, daß er Schwierigkeiten zu erwarten hatte, denen er entgehen könnte, wenn er ein Dasein wie die Vogelkönigin führen würde. Aber das hieße, auf vieles zu verzichten, was das Leben lebenswert machte – und dazu gehörte die Gefahr ebenso wie das Leid und die Enttäuschung. Abgesehen davon – wie erlangte man eine solche Existenz wie Tatharana? Und was hatte ihr die Flucht aus dem Leben eingebracht? Ihre Daseinsform, die sie außerhalb der Gesetze dieser Welt stellte, sie zu einer Unberührbaren machte, was ihr nur nützlich gewesen war, solange sie sich auf der Vogelinsel versteckt hielt. Aber als sie geraubt wurde, war auch sie schutzlos den Gefahren dieser Welt ausgesetzt – und das hatte sie nicht überlebt. Was für ein Wesen war aber Tatharana wirklich gewesen? Das würde er nie erfahren. Er wußte nur, daß sie in die Abhängigkeit eines Onahan geraten war. Onahan – in dessen Schatten auch er, Dragon, zu stehen schien. … Und Dragon erklomm den Gipfel der Pyramide aus Totenköpfen, sah auch undeutlich das zuckende Etwas Tatharana. Er schaute und wartete auf die Dinge, die nun kommen mochten …
7. Dragon und Schlangentöter, Ubali und Thamai, der Melnike Xabrass und der Zumota Sterndeuter, die Häuptlinge Schneller Blitz und Lange Hand – sie standen auf der obersten Plattform des Wehrturms von Burg Shebar und sahen dem neuen Tag entgegen. Die Sonne tauchte im Osten auf, kletterte über den Rand der Welt und schickte ihre ersten Strahlen auf das Land vor der Hungerwüste. Und die Sonne enthüllte, was die Nacht verborgen und was die Dämmerung auch nicht preisgegeben hatte: ein gewaltiges Heer von Kanuks. Selbst der Betrachter, der auf dem hochaufragenden Wehrturm von Burg Shebar stand, konnte nicht bis zum Ende dieses gewaltigen Heeres sehen. 6000 Kanuks in voller Kriegsausrüstung! Sie waren dem Kriegsruf Schlangentöters gefolgt. »Gehen wir«, sagte Dragon. »Die Tage auf Burg Shebar sind vorbei.« Er stieg voran die gewundene Treppe des Turms hinunter, schritt durch die Gänge, trat im Burghof ins Freie. Die anderen folgten ihm schweigend. Waldblume stieß zu ihnen, und Schlangentöter reichte ihr die Hand, und sie ergriff sie und ging mit ihm. Dragon schritt über den Burghof zum offenen Tor. Er sah die dunklen Flecken auf dem roten Gestein zu seinen Füßen, wo die Kapitäne der Versorgungsflotte ihr Leben gelassen hatten. Das erinnerte ihn daran, daß in der Hossabucht noch die sechs Schiffe warteten. Sie sollten erobert werden. Aber das mußte warten. Die Schiffe würden ihnen nicht davonfahren, denn die dort zurückgebliebenen Wachen wußten nichts von den Ereignissen auf dem Festland. Die Kanuks sorgten dafür, daß kein Kundschafter, der ins Innere des Landes vorstieß, zur Hossabucht zurückkam. Sie kamen durch das Burgtor und über den gewundenen, steil
abwärts führenden Pfad zur Runde der Häuptlinge. Mehr als vierzig Häuptlinge von ebensovielen Kanuk-Stämmen hatten sich hier mitsamt ihren Schamanen eingefunden. An ihrer Spitze stand Weißer Elch, Häuptling der Padokas und Schlangentöters Vater. Die Blicke der beiden kreuzten sich nur kurz. Kein Zeichen von Wiedersehensfreude war in ihren Augen zu sehen, ihre Mienen blieben steinern. Und da war auch Gehender Falke, der Kriegshäuptling, dem bange geworden war, weil der Kriegsruf, der alle Kanuks vereint und in den Kampf geführt hatte, von einem Jüngling stammte – dem Sohn des Weißen Elchs. Aber als er Schlangentöter jetzt sah, da erkannte er, daß seine Sorge unbegründet gewesen war. Der Sohn des Weißen Elchs war längst kein Jüngling mehr. Seine Erscheinung wurde dem Ruf gerecht, der ihm zu den Lagerfeuern der Kanuks vorausgeeilt war. Als Dragon und Schlangentöter den Häuptlingen im Kriegsschmuck gegenüberstanden, begannen die Trommeln zu dröhnen. Die Medizinmänner begannen mit ihren Beschwörungen, um Talahasset für seine Söhne zu gewinnen und sie in diesen Krieg zu geleiten. Das Begrüßungszeremoniell zog sich scheinbar endlos dahin, aber Dragon wurde nicht ungeduldig, denn er wußte, wie wichtig die Einhaltung der Riten für die Kampfmoral der Kanuks war. Endlich ließen sich die Häuptlinge im Kreis nieder. Schlangentöter saß zu Dragons Rechten, Weißer Elch ließ sich links von Dragon nieder. Die beiden Häuptlinge der Mampoas und der Aitranks gliederten sich in den Kreis ein, in dessen Mitte die Schamanen weiterhin ihre Medizin machten. Dragons Gefährten, Ubali und Thamai und auch Xabrass und Sterndeuter, blieben außerhalb des Kreises. Und dann begann das Palaver. »Der Große Vogel hat die Blutburg Mendos dem Erdboden gleichgemacht«, sagte Weißer Elch. »Und nun ist er zurückgekehrt
als Geist und hat die Söhne Talahassets wieder vereint, um sie gegen die Burgen der anderen Hellhäute zu führen. Rede, Dragon, aus dem der Geist des Großen Vogels spricht.« Dragon hatte sich auf diesen Augenblick gut vorbereitet. Es war seine Absicht, die Kanuks von dem Aberglauben abzubringen, daß er die Fleischwerdung ihres größten Häuptlings sei, ohne sie jedoch vor den Kopf stoßen zu wollen. Gleichzeitig wollte er erreichen, daß sie Schlangentöter als Nachfolger des Großen Vogels anerkannten. Um sein Anliegen vorzubereiten, begann er von dem Zwischenfall mit den Schwarzen Reitern zu erzählen, die die Sprache der Kanuks beherrscht hatten. Auf diese waren Dragon und seine Gefährten gestoßen, nachdem sie den Blutjäger Ossars besiegt und dessen zwölf Gefangene befreit hatten, die danach zu den Stämmen der Kanuks aufbrachen, um Schlangentöters Kriegsruf zu überbringen. Als Dragon sah, wie die Häuptlinge nickten, wußte er, daß sie sich alle an die Legenden über die geheimnisvollen Nomaden erinnerten, die sich zum Schutz vor der Sonne in Tücher hüllten. Im Zeltlager dieser Nomaden hatten Dragon und seine Gefährten eine Mumie entdeckt, bei deren Anblick Schlangentöter aus der Fassung geraten war. Später war es auch der junge Padoka gewesen, der das Zelt mit der Mumie durch einen Brandpfeil in Flammen aufgehen ließ. Dragon hatte schon damals die Beweggründe für Schlangentöters scheinbar unsinnige Tat erkannt: Bei der Mumie hatte es sich um die sterblichen Überreste des legendären Großen Vogels gehandelt. Dragon brachte nun seine Erzählung so vor, als sei der Geist des Großen Vogels solange ruhelos gewesen, als seine mumifizierte Leiche existierte. Und er pries Schlangentöter als den, der den Geist des Großen Vogels erlöste, indem er seine Hülle den Flammen übergeben hatte. Die Häuptlinge hatten seiner Erzählung beeindruckt gelauscht, die Medizinmänner überboten sich gegenseitig in ihren Beschwörungen, woraus Dragon schloß, daß auch sie beeindruckt
waren. »Der Geist des Großen Vogels ist nun nicht mehr in mir«, sprach Dragon weiter. »Er ist in Schlangentöter übergegangen, der ihm die ewige Ruhe durch die Flamme gewährte.« Die Häuptlinge murmelten zustimmend. »Deshalb«, fuhr Dragon fort, »kann es auch nicht ich sein, der die Kanuks zum Sieg über die fremden Eroberer führt. Diese Ehre gebührt einzig und allein Schlangentöter, der wie kein anderer dazu befähigt ist, Häuptling der Häuptlinge zu sein.« Diese Forderung brachte Unruhe in die Runde der Häuptlinge. Vor allem Krähenschrei, Kriegshäuptling der Mainocks, schien damit nicht einverstanden, hatte er sich doch Chancen ausgerechnet, die Kanuks in den Krieg gegen die Blutburgen zu führen. »Geister können keine Kampfaxt führen und keinen Pfeil von der Sehne schnellen lassen«, rief er. »Deshalb sollten wir uns lieber auf einen Krieger verlassen, der seine Kampfkraft nicht durch einen Traum erhalten hat, sondern der in vielen Sommern der Bewährung zum Krieger geworden ist.« »Schlangentöter hat sich in wenigen Tagen in einem Maße bewährt, wie es andere Krieger in ihrem ganzen Leben nicht können«, entgegnete Weißer Elch. »Wenn du Schlangentöter mit einem verdienten Krieger vergleichst«, sagte Krähenschrei mit einer Stimme, die tatsächlich der einer Krähe glich, »dann verlange auch, daß er sich mit einem solchen mißt.« Schlangentöter sprang auf. »Ich bin für den Zweikampf bereit, Krähenschrei. Wer als Sieger daraus hervorgeht, soll der Häuptling der Häuptlinge sein. Oder glaubt noch jemand, sich mit mir messen zu müssen?« Krähenschrei war ebenfalls aufgesprungen. Doch bevor eine Entscheidung zugunsten dieses Zweikampfes fallen konnte, stellte sich Dragon dazwischen. »Ich wende mich an den Rat der Häuptlinge«, sagte er und drückte Schlangentöter zu Boden. »Wollen es die weisesten der
Kanuks zulassen, daß Krieger ihre Kampfkraft zeigen, indem sie das Blut ihrer eigenen Brüder fließen lassen? Sollten nicht besser die bisher gezeigten Taten für jeden der beiden sprechen?« »Krähenschrei war immer ein weiser Häuptling und noch mehr ein tapferer Krieger«, sagte Gehender Falke. »Und Schlangentöter hat sich im Kampf gegen die Hellhäute so verdient gemacht, daß seit Tagen an allen Lagerfeuern Kriegsgesänge auf ihn gesungen werden. Der Rat der Häuptlinge wird darüber beraten, wem von beiden der Vorzug gegeben werden soll – der Tatkraft der Jugend oder der Erfahrung des Lebens.« »Und bedenkt dabei den Willen des Großen Vogels«, erinnerte Dragon. »Spricht sein Wille noch aus dir, dann sage, wie er entscheiden will, Dragon«, verlangte Weißer Elch. Dragon bemerkte Krähenschreis lauernden Blick. Er wußte, daß sich der Mainock-Häuptling nicht damit abfinden würde, wenn er jetzt gegen ihn entschied. Deshalb sagte er: »Der Geist des Großen Vogels hat mir einen Zauber hinterlassen, der aber nur im Dienste der gerechten Sache wirksam wird. Und so verlange ich, daß so entschieden wird: Versagt der Zauber, dann soll Krähenschrei oder ein anderer Häuptling der Häuptlinge werden. Gelingt es mir aber, die Blutburg Shebar im Sand dieses Landes verschwinden zu lassen, so daß kein einziger Stein mehr sichtbar ist, soll das die Befähigung Schlangentöters bestätigen.« Lange Zeit herrschte Schweigen. »Und wann willst du uns diesen Zauber zeigen?« fragte Krähenschrei schließlich spöttisch. »Bald schon – morgen, bei Sonnenaufgang«, erklärte Dragon. »Das hängt nur davon ab, wie lange es dauert, bis die Burg geräumt ist. In den Vorratskammern sind noch viele Schätze an Nahrung und an Gold, die sollen nicht der Vernichtung anheimfallen. Und in den Verliesen sind die Sklaven der Blutjäger, die es nicht verdient haben, in den Tod geschickt zu werden. Ihnen möchte ich die Freiheit geben. Aber sobald die Burg geräumt ist, soll der Zauber wirksam
werden, den roten Fels und die Mauern zuschütten und Schlangentöter zum Häuptling der Häuptlinge machen.« »So sei es«, bestätigte Weißer Elch. Und alle Häuptlinge nickten. * Dragon ließ im Morgengrauen des nächsten Tages, nachdem die Kanuks die Schatzkammern und die Nahrungsspeicher der Burg ausgeräumt hatten, alle Gefangenen aus den Verliesen holen und versammelte sie im Burghof. Unter ihnen waren die fast einhundertundachtzig Seesklaven der Versorgungsflotte und die annähernd hundert Haussklaven von Burg Shebar. In der Mehrzahl Quesas, unter ihnen nur wenige Mischlinge, die aus Verbindungen mit verbannten Neuatlantern und Eingeborenen hervorgegangen waren. Zu ihnen sprach Dragon: »Ihr sollt nicht länger mehr Gefangene sein. Ihr wart lange genug Knechte der Blutjäger, auch wenn manche von euch sich dessen gar nicht bewußt geworden sind. Und wenn einige unter euch sein sollten, die ihren früheren Herrn nachtrauern, so werden sie bald erkennen, daß ein Leben in Freiheit mit nichts aufzuwiegen ist.« Dragon machte eine kurze Pause, um seine Worte einwirken zu lassen. Dann fuhr er fort: »Geht hin zu euren Brüdern, kehrt heim zu den Stämmen der Quesas und verkündet, daß die Blutherrschaft in eurem Land vorbei ist. Und berichtet, daß die Kanuks den Frieden mit allen wollen, die guten Willens sind. Der Krieg gegen die Blutherren soll der letzte in diesem Land gewesen sein. Jene Unbelehrbaren aber, die glauben, weiterhin die Diener der Neuatlanter sein zu müssen, seien gewarnt. Wer versucht, sich zur Blutburg Ossar durchzuschlagen, um die Neuatlanter vor den anrückenden Kanuks zu warnen, auf den wartet der Tod. Die Krieger der Kanuks werden dafür zu sorgen wissen, daß kein Verräter die Große Bucht lebend erreicht. Dasselbe Schicksal
erwartet die, die sich zu nahe an die Hossabucht heranwagen. Geht nun eures Weges. Ihr seid frei.« Die Quesas blickten scheu zu den kriegsgeschmückten Kanuks, die die Wege säumten, die von der Burg fortführten. Die ersten setzten sich scheu in Bewegung, waren immer noch voll Mißtrauen gegen ihre ehemaligen Feinde, glaubten offensichtlich nicht, daß diese sie ziehen lassen würden. Dragon verließ die Burg und begab sich zu den Melniken, die sich am Fuß des roten Felsens niedergelassen hatten. Sie hatten sich aus den Ställen der Burg etliche Pferde als Zugund Reittiere geholt und sie vor die Transportschlitten gespannt, die mit Nahrungsvorräten und Gebrauchsgegenständen reichlich beladen waren. Kein Melnike hatte etwas einzuwenden gehabt, als Dragon Xabrass zu ihrem Anführer bestimmt hatte. Als Dragon sich dem kleinen Völkchen aus Danilas Welt näherte, kam ihm Xabrass schon auf halbem Wege entgegen. »Wie sollen wir es dir danken, daß du uns dazu verholfen hast, den Weg zurück in unsere Heimat zu finden, Dragon«, sagte Xabrass bewegt. »Mir ist es Dank genug, die glücklichen Gesichter eurer Frauen und Kinder zu sehen«, erwiderte Dragon. »Bringe sie gut durch das Götterauge, Xabrass. Die Kanuks werden euch unbehelligt durch ihr Land ziehen lassen. Und wenn ihr zurück in eurer Heimat seid, werdet ihr sehen, daß sie zu einem Paradies geworden ist. Von den Dalaugiri wird euch keine Gefahr mehr drohen.« Dragon begleitete Xabrass noch zu den Seinen, drückte unzählige Hände und wartete geduldig den Augenblick ab, da sich der Zug des Volkes aus Danilas Welt in Bewegung setzte. Dann kehrte er zu den versammelten Häuptlingen der Kanuks zurück. Sie alle warteten auf das versprochene Wunder. Doch Dragon wollte zuvor wichtigere Dinge klären. »In der Hossabucht liegen sechs Schiffe vor Anker, die ich in
meinen Besitz bringen will«, erklärte Dragon ihnen. »Dafür benötige ich aber die Hilfe der Kanuks.« »Verfüge über uns«, sagte Weißer Elch. »Für jeden Krieger wird es eine besondere Ehre sein, mit dir in den Kampf zu ziehen. Jeder, ohne Ausnahme, würde sein Leben für dich opfern.« »Ich danke dir, Weißer Elch«, erwiderte Dragon. »Aber es wird nicht dazu kommen, daß viele deiner Krieger ihr Leben für mich opfern. Die Schiffe sind nur schwach besetzt, und die wenigen Wachen können wir im Dunkel der Nacht überwältigen. Wenn alles nach Plan geht, dann wird es zu keinem Blutvergießen kommen. Aber dazu benötige ich gute Schwimmer, die zu den Schiffen schwimmen und dann noch genügend Kraft haben müssen, um die Wachen niederzuringen. Auch würde ich Krieger bevorzugen, die Erfahrung im Umgang mit Booten haben.« »Es gibt viele solcher Krieger unter den Stämmen der Kanuks, wie du sie wünscht, Dragon«, sagte Weißer Elch. »Ich wäre mit sechshundert der besten von ihnen zufrieden.« »So sollst du sie bekommen«, beschloß Häuptling Weißer Elch. »Hat der Rat der Häuptlinge einen Entschluß gefaßt, wer das große Heer der Kanuks gegen die Blutburg Ossar anführen soll?« fragte nun Dragon. Weißer Elch schüttelte den Kopf. »Wir haben beschlossen, die Entscheidung deinem Zauber zu überlassen. Auch Krähenschrei wird sich diesem Urteil beugen, das der Geist des Großen Vogels fällt.« * Die Burg lag verlassen da. Alle hatten sich daraus zurückgezogen und sich auf Dragons Geheiß in sichere Entfernung begeben. Nicht einmal mehr ein Vogel kreiste über den Zinnen. Nur noch in den unerforschten Labyrinthen, tief unter dem Fels, mochten namenlose Ungeheuer hausen. Doch außer ihnen gab es kein Leben mehr in der Burg.
Weit unten im Süden hatten sich die Quesas auf der Kuppe eines Hügels versammelt – wie Dragon es ihnen angeraten. Der Zug der Melniken war noch nicht weit gekommen; die Menschen aus Danilas Welt zogen mit ihren Sandschlitten noch durch die Straße, die die Kanuk-Krieger für sie freihielten. Jetzt hielt die Karawane der Melniken an. Die gespannte Stille, die über dem Land lag, mußte ihnen gesagt haben, daß der große Augenblick bevorstand, von dem eigentlich niemand recht wußte, was er ihnen bringen würde. Nur soviel: Burg Shebar sollte von der Oberfläche dieser Welt verschwinden. Dragon langte nach dem Beutel an seinem Gürtel, in dem sich die Geschenke der Elementargeister befanden. Eine dieser Gaben hatte er schon erfolgreich eingesetzt: Erthus Lawinenstein – und damit das Weltentor verschüttet und Shebars Hossas ein steinernes Grab errichtet. Nun holte er das zweite Präsent des Erdgeists hervor. Den Wandernden Sand. Aller Blicke waren neugierig auf seine Hand gerichtet, die in den Beutel gegriffen hatte. Doch sie konnten nichts Außergewöhnliches erkennen. Geduldig wie die Kanuks waren, zeigten sie nicht ihre Enttäuschung, denn so mancher Schamane hatte schon mit einer unscheinbar wirkenden Medizin großen Zauber bewirkt. Und in Dragons Hand war der Geist des Großen Vogels. Als Dragon diese Hand öffnete, konnten die Umstehenden jedoch nichts anderes als ein paar Sandkörner darin sehen – ein kleines Häufchen Sand nur, gerade ausreichend, um eine Ameise darunter zu begraben. Nun machte Dragon einige Schritte nach vorne, auf die Blutburg zu, um sich von den Häuptlingen abzusondern. Einige Atemzüge lang hielt er den Wandernden Sand in der hohlen Hand von sich gestreckt, sich seiner Wirkung auf die Kanuks vollauf bewußt. Dann warf er den Sand in Richtung Burg.
Die Kanuks folgten den fliegenden Sandkörnern mit ihren Blicken, sahen, wie die Sandkörner auf den Boden auftrafen und konnten feststellen, daß es sich bei den Einschlagstellen regte, als sei die Erde dort zum Leben erwacht. »Kleiner Zauber«, ließ sich Krähenschrei mit spöttischer Stimme hören. Aber niemand pflichtete ihm bei, denn die anderen Häuptlinge hatten mit scharfem Blick erkannt, daß der Zauber immer größer wurde, je länger er dauerte. Die Handvoll Sandkörner hatten weitere aus dem Boden gerissen, sogen sie mit unsichtbarer Kraft förmlich an, bis sich eine mannslange Düne gebildet hatte, vorerst nur drei Fingerbreit hoch. Doch diese Düne wanderte auf die Burg zu. Und mit jedem Stück, das sie zurücklegte, verdoppelte sie sich in der Länge und in der Höhe. Und die Düne wanderte weiter und wurde größer. Wie eine Meereswoge in der Brandung. Plötzlich war sie mannshoch und wanderte weiter und wuchs an. Aus dieser einen Düne wuchsen weitere, pflanzten sich fort, wie die Wellen des Wassers – nur daß keine Welle je so hoch werden konnte wie die vorderste Düne. Sie war baumhoch! Von allen Seiten strömte Sand heran, der sich zu weiteren Dünen bildete, die sich alle auf Burg Shebar zuwälzten. Das Tor wurde von dem Wandernden Sand erreicht, davon überschwemmt. Das Gewicht des Sandes drückte die Mauer nieder, hob das Tor aus den Angeln, begrub Holz und Stein und Eisen unter sich, überflutete den Burghof, brandete gegen die Felsen und das Gemäuer der Gebäude, drang in alle Öffnungen ein, rieselte Treppen hinunter, füllte Gewölbe auf. Eine Sanddüne, selbst so hoch wie das höchste Bauwerk der Burg, der Wehrturm, brandete gegen diesen und riß ihn mit sich fort. Sand türmte sich über Sand, begrub alles unter sich, was von Neuatlantern erschaffen. Lücken schlossen sich, durch die es eben
noch rot geschimmert hatte, bis kein Stein mehr zu sehen war. Burg Shebar existierte nicht mehr. Wo das Monument der Macht noch vor wenigen Atemzügen gestanden hatte, war nur noch ein gewaltiger Sandhügel zu sehen, in dem der Wind spielte und in den er Muster wob. Die Quesas im Süden hatten dieses gewaltige Schauspiel bange verfolgt, und viele hatten gedacht, daß der Wandernde Sand auch sie verschlingen könnte. Jetzt erst wagten sie aufzuatmen, und sie dankten Tahome, daß sie von diesem Zauber verschont geblieben waren. Und sie wandten sich ab, wanderten weiter nach Süden, in der festen Überzeugung, daß das Ende der Blutherrschaft in ihrem Land tatsächlich angebrochen war. Die Melniken setzten ihre Wanderung ebenfalls fort. Das grandiose Schauspiel hatte sie an die Macht Erthus erinnert. Aber sie hatten keine Angst, in ihre Welt zurückzukehren, denn Dragon hatte gesagt, daß von den Dalaugiri keine Gefahr mehr drohte und die Elementargeister alle wieder unter dem Herrn der Elemente vereint waren. Dragon wandte sich den Häuptlingen zu. »Großer Zauber«, sagte Weißer Elch. Die Häuptlinge nickten dazu, ebenso wie die Medizinmänner. »Eine mächtige Medizin«, bestätigte selbst Häuptling Krähenschrei. »Nun habt ihr gesehen, was Großer Vogels Wille ist«, sagte Dragon. »Schlangentöter soll der Häuptling der Häuptlinge sein und das Volk der Kanuks zum Sieg über die Blutjäger führen. Ist es so?« »So soll es sein«, bestätigte Weißer Elch. »Wer diese Entscheidung, die von höheren Mächten getroffen wurde, nicht anerkennt, möge seinen Einspruch jetzt vorbringen oder für immer schweigen.« Krähenschrei trat vor, doch nicht um Einspruch zu erheben. Er ging zu Schlangentöter und überreichte ihm seine Kampfaxt. Ein gültigeres Zeichen dafür, daß er ihn als seinen Häuptling
anerkannte, gab es für die Kanuks nicht. Dragon war zufrieden. Er wußte, daß Schlangentöter seiner großen Verantwortung gewachsen sein würde. Mit den verbliebenen 5.400 Kanuks müßte es ihm gelingen, Burg Ossar einzunehmen, ebenso wie es für Dragon keine Schwierigkeit sein sollte, mit den sechshundert Kanuks die Schiffe in der Hossabucht zu erobern. Er blickte zu dem mächtigen Sandhügel hinüber. Wieviele Sandkörner mochte er enthalten? Bestimmt nicht mehr als die Pyramide Totenköpfe enthielt, deren Gipfel er erklommen hatte.
8. »Dragon!« Ubali und Thamai kamen an seine Seite geritten. Jeder von ihnen hatte ein schneeweißes Pferd, und Dragon lächelte, denn er konnte sich keinen schöneren Kontrast zu ihrer dunklen Haut vorstellen. »Die sechshundert Krieger warten, Dragon«, sagte Thamai. »Sie brennen darauf, die Schiffe in der Hossabucht zu erobern.« Dragon betrachtete ihren wunderschönen Körper wohlgefällig. »Es wäre schade, wenn du in ein kaltes Land kämst, Thamai«, sagte Dragon in Fortführung seiner Gedanken. »Du redest wirr, Dragon«, stellte Ubali fest. »Sag selbst, Ubali, wäre es nicht schade, wenn Thamai ihre Reize unter Fellen verbergen müßte?« »Oho!« machte Ubali. »Mir scheint, ich muß besser auf mein Weib achten.« Thamai machte eine wegwerfende Handbewegung. »Höre nicht, was Dragon sagt. Er redet nur so daher.« »Na, Thamai«, meinte Ubali schalkhaft. »Das klingt ja gerade so, als würdest du es bedauern, daß Dragon es nicht ernst nimmt.« Thamai stieß abfällig die Luft aus und ritt davon. Dragon und Ubali folgten ihr. Sie erreichten das Kanuk-Heer, und dort erwartete sie eine Überraschung. Die Seesklaven – waren aufgetaucht, die Dragon zurück zu ihren Quesa-Stämmen geschickt hatte. Sie waren von Kanuks umringt, die recht mißtrauisch wirkten. »Was hat euch noch hier zurückgehalten?« wollte Dragon wissen. Ein Mischling trat vor. »Erlaube, daß ich für alle meine Freunde spreche«, sagte er. »Du hast uns erlaubt, in unsere Heimat zurückzugehen, doch unsere Heimat ist das Meer. Viele von uns wurden auf Neuatlantis geboren, in den Herrschaftshäusern der Hellhäute, oder in den Verliesen der Blutherrn oder auf den Sklavenmärkten. Wir sind
Ausgestoßene. Die Quesas werden uns nicht als Brüder anerkennen. Deshalb wollen wir dich bitten, daß du uns mitnimmst. Du wirst es nicht bereuen. Oder brauchst du keine tüchtigen Seeleute?« Dragon überlegte nicht lange. »O doch. Aber ich müßte mir eurer Treue sicher sein.« »Die geloben wir dir.« »Dann kommt mit«, beschloß Dragon. »Sitzt bei den Kanuks auf, dann kommen wir schneller weiter.« Nicht alle Kanuks waren darüber glücklich, ihre Reittiere, die einige der Kanuks zum großen Heer treiben würden, sobald sie nicht mehr benötigt wurden, mit ihren ehemaligen Feinden teilen zu müssen. Aber Dragons Wort war ihnen Gebot. »Glaubst du, daß das gut geht?« fragte Ubali zweifelnd. »Sie werden sich schon zusammenraufen.« »Das habe ich gar nicht gemeint … Ich habe nur daran gedacht, daß die Seesklaven im entscheidenden Augenblick die Treue zu ihren früheren Herren wiederentdecken könnten.« »Daß gerade du diese Bedenken hast«, meinte Dragon kopfschüttelnd. »Du warst selbst einmal Sklave. Sage mir also – möchtest du deine Freiheit gegen dein früheres Leben eintauschen?« Ubali schüttelte lachend den Kopf. »Wenn du nur einmal um eine Antwort verlegen wärst!« »Reitet schon voraus«, bat Dragon die Gefährten. Er sah den beiden schwarzen Reitern auf den weißen Pferden nach, wie sie sich an die Spitze des Kanukheeres setzten. Wandte sich aber schnell um und starrte auf den Sandhügel, unter dem Burg Shebar begraben war. Und dann sah er an dieser Stelle die Stadtmauern von Myra. Er hätte gerne auch ein Bild Amees gesehen und Parthos und das der anderen Freunde. Aber er wußte, daß alles nicht mehr so war, wie es ihm seine Erinnerung vorgaukeln würde. Zuviel Zeit war verstrichen. Es würde alles ganz anders sein, als er es sich vorstellen konnte. Aber vielleicht würden ihn die Schiffe bald nach Myra zurückbringen, dann konnte er mit eigenen Augen
schauen … Und dann sah er Atlantis vor sich. Aber auch dieses Bild konnte mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmen, denn es war ein Abbild seiner zweitausend Jahre alten Erinnerung … und dieses Atlantis war nicht mehr. Die Neuatlanter hatten das große Erbe ihrer Vorfahren beschmutzt, waren in grausamste Barbarei zurückgefallen. Er mußte dem ein Ende bereiten. Das war er dem Andenken an Atlantis schuldig. Er war es aber auch den Kanuks schuldig, die an ihn glaubten. Atlantis, Myra … alles zerrann und wurde zu Sand, und der Sand formte sich zu knöchernen Gebilden, die sich zu einer Pyramide aufbauten. Die Totenkopf-Pyramide! Sie entrückte in unerreichbare Ferne, oder eigentlich: die grinsenden Schädeln behielten ihre Größe, nur die mächtige Pyramide schrumpfte immer mehr zusammen. Und der Spötter lachte! Ein riesiger Schatten fiel auf Dragon. Sein Pferd scheute, bäumte sich wiehernd auf, warf ihn ab und rannte davon. Dragon fiel in den Staub. Und als er sich daraus erhob, da erblickte er den Riesen. * Dragon blickte zu ihm auf, und er wußte schlagartig: das war der Spötter. Er war eine eindrucksvolle Erscheinung, nicht nur wegen seiner Größe und seiner Muskelpakete. Er war nur mit einem Fellschurz bekleidet, und um den Hals trug er eine Kette aus Tierzähnen. Sein Gesicht verschwand halb unter einem dichten Bart und zur anderen Hälfte unter einem Helm, wie Dragon ihn vorher noch nie gesehen hatte. Es war ein Eisenhelm, den drei gewundene Hörner zierten und
der dem Hünen vorne bis in Nasenhöhe herunterreichte und die obere Gesichtshälfte verdeckte. Von diesem Fremden ging eine unheimliche Drohung aus. Nicht nur weil er breitbeinig dastand und seine Muskeln spielen ließ. Er war bewaffnet wie einer, der keinem Waffentyp den Vorzug geben wollte und deshalb ein ganzes Arsenal mit sich führte. Und er machte den Eindruck, als könnte er mit jeder Waffe gleichermaßen gut umgehen. Während er in der Linken einen Bogen mit einem Bündel Pfeile hielt, wog er in der Rechten einen Speer, von dem Schrumpfköpfe baumelten. Und von der Speerspitze tropfte frisches Blut. Dieser Hüne hatte gerade getötet – und er würde wieder töten. Aber er tötete nicht nur mit dem Speer, davon war Dragon überzeugt, sondern auch mit dem Krummschwert, das er im Gürtel stecken hatte. Wären ihm mehr Arme gegeben, er hätte sicherlich auch den Bogen gespannt und das Krummschwert gezückt. Und diese furchterregende Gestalt hatte einen Begleiter. Es war ein Tier, von dem die gleiche Bedrohung ausging, wie von seinem Herrn: ein Tiger mit krummsäbelartigen Zähnen, neben dem Ubali, der mächtige Panther, wie ein Schoßkätzchen gewirkt hätte. Dragon glaubte nicht daran, daß er gegen diese beiden furchtbaren Gestalten eine Chance hatte. Dennoch wollte er sich nicht kampflos ergeben. Er griff nach seinem Schwert und riß es aus der Scheide. Und als er Almunir hob, da leuchtete es in einem kalten Feuer auf. »Wer immer du bist, ich bin zum Kampf bereit«, sagte Dragon fest. Es tat ihm wohl, in dieser unheimlichen Stille wenigstens seine eigene Stimme zu hören. Und im Hintergrund war durch Schleier aus Nebel die Pyramide aus Totenköpfen zu sehen. Da lachte der hünenhafte Barbar, wie es Dragon schon oftmals während seines Aufstiegs zum Gipfel der Pyramide gehört hatte. »Ha, Sterblicher, was soll's?« rief der Riese dann mit donnerartiger Stimme. »Mich kannst du nicht töten, denn ich bin älter als das
Menschengeschlecht selbst. Ich war schon da, als in der Unendlichkeit Licht und Dunkel miteinander rangen und das Chaos der Schöpfung begann. Was suchst du mit mir Streit?« »Und ich fürchte dich doch nicht!« schrie Dragon dem Riesen entgegen. »Sage mir nur noch, wer du bist, daß ich den Meinen erzählen kann, wer es war, der durch meine Hand sein Leben ließ.« »Ho, Ho«, machte der hünenhafte Barbar. »Wer ich bin, willst du wissen? So nenne mich hier und heute Onahan, wenn du willst, und sieh in mir die Verkörperung all dessen, was du verabscheust und haßt …« Ich verabscheue, dachte Dragon, die Gewalt und die Willkür, die Versklavung der Schwachen durch die grausamen Starken – und ich verabscheue die Niedertracht, die Lüge, die Scheinheiligkeit und den Neid, die Nichtswürdigkeit und die Ungerechtigkeit schlechthin … ich verabscheue vieles, das keinen bestimmten Namen hat, das sich aber überall dort in den Menschen äußert, wo die vorgenannten Erscheinungen zum Ausbruch kommen. »Das alles bin ich – Onahan«, sagte der Fremde, als hätte er Dragons Gedanken erraten können. Er fuhr fort: »Nun denke aber daran, daß diese Dinge, so sehr du sie verabscheust, auch dir nicht fremd sind. Und auch du wirst nie frei sein von mir – niemand wird es jemals sein. Und du wirst mir an anderem Ort wieder begegnen und mich wieder erkennen, auch wenn ich in anderer Gestalt erscheine. Vergiß es nicht, daß auch du einen Teil dessen in dir trägst, was ich verkörpere.« Dragon schwindelte von dem, was er zu hören bekam. Sollte er den Gipfel der Pyramide nur erklommen haben, um sich erneut verspotten zu lassen? Und er wußte, daß es eine Verhöhnung der guten Sache war, für die er kämpfte – eine Verhöhnung durch das Böse. »Kämpfe!« schrie Dragon in unbändigem Zorn. Er hob die Waffe und drang damit auf den übermächtig scheinenden Fremden ein. Sein Almunir leuchtete immer stärker auf, je näher es dem Hünen kam. Als würde das Schwert auf einmal
ein Eigenleben führen. Doch in diesem Augenblick machte sich Dragon keine Gedanken darüber. Später – und auch noch sehr viel später – dachte er immer wieder über diese Szene nach, die so abrupt endete, wie sie begonnen hatte. Dragon traf den Riesen mit voller Wucht mit dem in blendender Grelle erstrahlenden Almunir. Doch schon bei der ersten Berührung löste sich Onahan mitsamt seinem Säbelzahntiger und der Pyramide aus Totenköpfen und der ganzen fremdartigen Umgebung in Nichts auf. Dragons Schwert bohrte sich in den toten Sand. In dieser Stellung kauerte er eine Weile da. Unzufriedener und nachdenklicher als zuvor. Das Orakel hatte ihm die Begegnung mit Onahan prophezeit, und jetzt war es dazu gekommen und er war nicht viel klüger als zuvor. Nur nachdenklicher. Er wußte nicht mehr, wieviel Zeit verstrichen war, bis er sich endlich aufraffte. Er blickte sich um, erblickte sein Reittier ganz in der Nähe. Fing es ein. Schwang sich auf seinen Rücken. Ritt in wildem Galopp Ubali und Thamai und dem Heer der Kanuks nach. Und war entschlossener als zuvor, die Schiffe zu erobern, die Blutherrn zu stürzen und die Zukunft nach seinem Willen zu gestalten. Denn er stand auf der Seite des Guten, und wenn Onahan auch in ihm sein mochte – ganz würde er ihn nie beherrschen. ENDE Nach Austilgung Shebars, des Schandflecks an der Grenze des Landes der Kanuks, sticht Dragon mit seinen Getreuen in See. Mit der kleinen Flotte, die sie erobern konnten, wollen sie das Vogelkap umrunden und die Blutburg Ossar angreifen. Doch sie werden aufgehalten durch Matzumo, den SCHRECKEN DES MEERES … SCHRECKEN DES MEERES
Kommentar
das ist auch der Titel des nächsten Dragon-Bandes. Als Autor des Romans zeichnet Clark Darlton.