GUSTAV PFIRRMANN
DIE NAZARETH-TAFEL
GUSTAV PFIRRMANN
DIE NAZARETH TAFEL Das letzte Rätsel der Jünger Jesu Mit 27 Ab...
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GUSTAV PFIRRMANN
DIE NAZARETH-TAFEL
GUSTAV PFIRRMANN
DIE NAZARETH TAFEL Das letzte Rätsel der Jünger Jesu Mit 27 Abbildungen
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Bildnachweis Alle Fotos: Archiv Autor. Das Umschlagfoto zeigt die im ersten nachchristlichen Jahrhundert in Palästina angefertigte und von Wilhelm Fröhner verheimlichte » Nazareth-Tafel«. Vor- und Nachsatz: Der Autor während der Filmarbeit im versunkenen Babylon. Die weltberühmte Prozessionsstraße. Frontispiz (Seite 2). Die immer noch so rätselhafte »Nazaretb-Tafel«. Für die Anfertigung dieser Fotografie wurde die Marmortafel eigens aufgestellt. Heute liegt die »Nazareth-Tafel« nach wie vor unbeachtet in einer düsteren Dachkammer der französischen Nationalbibliothek in Paris. Der Steinmetz in Palästina benutzte für seine Arbeit eine aus dem Lateinischen in die griechische Alltagssprache der Tage Jesu übersetzte, fehlerhafte und gekürzte Vorlage.
Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier © 1994 F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München Alle Rechte vorbehalten Umschlagentwurf: Wolfgang Heinzel Umschlagbild: Bibliotheque Nationale, Paris Satz: Filmsatz Schröter GmbH, München Gesetzt aus der 11/13 Punkt Sabon auf Linotronic 300 Druck und Binden: Wiener Verlag, Himberg Printed in Austria 1994 ISBN 3-7766-1859-0
»Verfügung des Kaisers Es ergeht hiermit von mir die Entscheidung, daß Grabeskammern und Grabeshügel... ... handelt aber irgend jemand gegen diese Bestimmungen, dann soll ihn – diese meine Willensentscheidung sei hiermit kundgetan –, dann soll diesen unter dem Straftitel Grabesschändung unnachsichtlich treffen das Urteil der Todesstrafe.« (Auszug des Textes der in Paris entdeckten »Nazareth-Tafel«)
»Wenn diese werden schweigen, so werden die Steine schreien.« Evangelium des Lukas (19,40)
Meinen Kindern eingedenk unserer Orientreisen zugeeignet
Inhalt Einleitung
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TEIL I Entdeckungen nach fast zweitausend Jahren
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1 Johannes und die Qumran-Siedler
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Sensationen in Jerusalems Altstadt 14 Am Jordan: Ursprung einer Weltreligion 19 So kam der Stein ins Rollen 22 Die verschollene Schriftrolle des Jerusalemer Antiquars Shapira 28 Kannte Jesus die verschollene Schriftrolle? 39 Unser zaratbustrisches Erbe 41 Die verräterische Qumran-Tempelrolle 53 Schriftrollen der Festung Masada und die Zeloten Nur für Juden: Der geheime Fingerzeig des Markus Schriftrollen wurden in urchristlicher Zeit vernichtet Brisante Rätsel der Qumran-Kupferrolle 75 Gelehrtenstreit: Die »Qumran-Essener-These« 86 Der sensationelle Fund eines Jesuitenpaters 91 Qumranforscher Joseph T. Milik und »die Kirche« Die letzten »Johannesjünger« 97
2 Der Nazoräer Jesus »von Nazareth«
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Kam Jesus aus Nazareth? 105 Priester und Götter in Nabatäa 111 Die Pilatus-Inschrift in Caesarea am Meer 122 Münzen und das Todesurteil des Pilatus 131 Straßenarbeiter entdecken das Skelett des Kaiphas 138 Die Schuld der Sadduzäer 140 Geldgier, Hochmut und Geheimnisse der Tempelpriester 143 Schicksal und Aussehen des gekreuzigen Jehohanan 147
Geheimnisvolle Kreuze 152 Auferstehungsgerüchte in der Hauptstadt Sepphoris
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3 Die Lehren des Apostels Paulus
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Auferstehungsglaube im versunkenen Ugarit 161 Der Rabbiner Saulus und die Geheimkulte 165 Was geschah in Ephesus? 169 Der Heiland und Wunderwirker aus Tyana 175 Abendmahl und Amulette 178 Der Brite William Ramsay wird fündig 180 Das Haus der Jungfrau Maria – ein frommer Betrug 182 Paulus und altorientalische Magie 185 Jüdische Sklaven im Kaiserpalast 189 Mysterien feiern im römischen Judenviertel 193 Unter der Kanzlei des Papstes entdeckt 195 Sternstunde unter der Kirche Santa Prisca 198 Eunuchen-Priester und der Papas 206 Wo heute die Peterskirche steht, war früher ein heidnischer Tempel 210 Auferstehungsrituale in Alexandria 217
TEIL II Die Tafel und die Jünger Jesu
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Die verheimlichte Inschrift 223 Das Geschenk des exzentrischen Grafen Tyskiewicz Franz Cumonts unerhörte These 230 Pilatus und das kaiserliche Antwortschreiben 235 Die jüdische Delegation und die Tafel 242 Grabräuber, Schatzsucher und Sammler 244 Die Tafel am Grabgewölbe Jesu? 247 Leopold Wenger macht erstaunliche Entdeckungen Der gelehrte Kaiser Claudius und die Tafel 254 Hat ein Zecher und Verschwender mitgemischt? 262 Das »Apostelkonzil« und das letzte Geheimnis 268 Ausblick 270
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251
Zeittafel 272 Literaturhinweise Danksagung 275
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Einleitung
Zentrales Thema dieses Buches ist eine antike Marmortafel. Dem römischen Kaiser, so wird die Inschrift dieser Tafel von namhaften Gelehrten gedeutet, wurde hinterbracht, ein gekreuzigter und begrabener jüdischer Untertan sei »auferstanden«. Der Kaiser ließ deshalb in Jerusalem verkünden: Grabschänder werden fortan hingerichtet. Den in Palästina auf eine Marmortafel gemeißelten Text der kaiserlichen Kundmachung hat ein Altertumsforscher in Paris lebenslang verheimlicht, und auch heute noch liegt die Tafel in einer düsteren Dachkammer der französischen Nationalbibliothek. Unsere Kenntnisse vom Werden der Jesus-Bewegung werden Jahr für Jahr von Archäologen in erstaunlicher Weise vermehrt. Der Nichtfachmann kann diese vielen neuen Entdeckungen kaum noch überschauen. Zum besseren Verständnis unserer »Tafelstory« werden die wichtigsten neuzeitlichen Forschungsergebnisse vorab kurz erläutert, auch die immer noch weltweit ausgetragenen wissenschaftlichen Kontroversen werden angedeutet. Sehr gerne hätte ich Fragen und Antworten einiger bedeutender Wissenschaftler ausführlicher dargelegt: der mir vorgegebene Umfang dieses Buches wäre indessen weit überschritten worden. Das Ansehen eines religiösen Genius wird von den heutigen religionswissenschaftlichen Forschungen sicherlich nicht geschmälert. Auch in diesem Zusammenhang
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gelten die schönen Worte des Johannes-Evangeliums: »... und die Wahrheit wird euch frei machen.« (8,32) Ich denke indessen auch an den heute noch gebräuchlichen Segensgruß der »Johannesjünger«, der im Nahen Osten beheimateten mandäischen Täufer: DIE WAHRHEIT ERLÖSE EUCH Weimar, Karfreitag 1994 Gustav Pfirrmann
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TEIL I
Entdeckungen nach fast zweitausend Jahren
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1 Johannes und die Qumran-Siedler Sensationen in Jerusalems Altstadt Dreißig Jahre nach der spektakulären Entdeckung wertvoller, in der Nähe der Qumransiedlung versteckter Schriftrollen haben der Pater Bargil Pixner und israelische Archäologen in Jerusalem Überreste des Essenerstadtteils sorgsam freigelegt. Sogar Steine eines Stadttores wurden gefunden. Schon der jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus hatte dieses Portal »Tor der Essener« genannt. In seinem Werk Der Jüdische Krieg findet sich die Mitteilung: »Diese Mauer nahm ihren Auszug beim Hippikosturm im Norden und zog sich hin bis zum Xystos, um dann das Rathaus zu erreichen und an der Säulenhalle im Westen des Tempels zu enden. Drüben auf der Westseite erstreckte sie sich vom nämlichen Ausgangspunkt über das sogenannte Gebiet von Betho bis zum Tor der Essener.« (V 4,2). Emil Schürer, evangelischer Theologe, der 1874 eine Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi veröffentlichte, hat vermutet, was Archäologen nunmehr beweisen konnten: »Sicher gab es Essener auch in Jerusalem, wo sie mehrfach in der Geschichte auftreten... und ein Tor nach ihnen genannt wurde...,
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vermutlich deshalb, weil in seiner Nähe sich das Ordenshaus der Essener befand.« Das »Ordenshaus der Essener« in der großen, betriebsamen Metropole Jerusalem und somit nicht, wie man neuerdings vielfach zu wissen glaubt, an den Ufern des Toten Meeres? Die Entdeckung des Essenerstadtteils hat der heute noch andauernden heftigen Diskussion einer einseitigen Abhängigkeit der urchristlichen Botschaft von Lehren und Schriften der »Qumran-Mönche« den Boden entzogen. Einer Wanderung Jesu und später des Apostels Paulus zu dem vermeintlichen Essenerkloster am Toten Meer bedurfte es nicht. Nur wenige Gehminuten vom Jerusalemer Tempel entfernt lebten und predigten Angehörige der Essenersekte, und es wäre allzu verwunderlich, wenn Jesus und auch Paulus keinen Kontakt zu den Jerusalemer Essenern gehabt hätten. Das in den sogenannten Qumran-Schriftrollen bekundete Geistesgut war darüber hinaus um die Zeitenwende und im ersten Jahrhundert in aller Munde, landauf und landab wurde es auch von Wanderpredigern verkündet und in Synagogen erläutert. Priester und Schriftgelehrte, vielleicht auch Essener und wohlhabende Bürger Jerusalems haben vielmehr, eingedenk der schon zu Beginn des römisch-jüdischen Krieges drohenden Gefahr einer Belagerung Jerusalems, Schriftrollen aus ihren Häusern, vermutlich auch aus Gemächern des Tempelschatzes zum Toten Meer geschafft und dort in Höhlen versteckt. Bewohner der nahen Qumransiedlung mögen ihnen dabei behilflich gewesen sein. Nur wenige Gehminuten von dem Essenerviertel entfernt, an den Hängen des Hinnomta15
les, haben Archäologen unter Leitung von Dr. Gabriel Barkay uralte jüdische Familiengräber freigelegt. Eine der hier gefundenen Münzen hatte man im siebten vorchristlichen Jahrhundert auf der ägäischen Insel Kos geprägt. Andere Geldstücke tragen Namen römischer Statthalter, mehrere Münzen nennen Pontius Pilatus. In einer dieser neu entdeckten Grabkammern fand man die Gebeine von fünfundsiebzig Menschen. Das Augenmerk der Forscher galt nicht nur den Skeletten, sondern auch den rund tausend Grabbeigaben. Es sind Parfümflaschen, viele Öllampen, Ohrringe, Fingerringe, Broschen und eiserne Pfeilspitzen, die man im fernen Babylonien geschmiedet hatte. Einen Teil der hier entdeckten 265 Tongefäße hatte man bereits vor der Zerstörung Jerusalems im Jahre 587 vor Christus in diese Gewölbe geschafft. Auf einem Tonsiegel des siebten vorchristlichen Jahrhunderts hatte man das Wort PALTA eingeritzt. Es ist dies eine Kurzfassung des biblischen »Gott hat errettet«. Zwei hier entdeckte Silberrollen stammen ebenfalls aus dem siebten Jahrhundert. Es waren Amulette. Chemiker haben sie vorsichtig geöffnet. Auf die eine Silberrolle hatte man den Priestersegen aus dem 4. Buch Mose (6,24-26) gehämmert: DER HERR SEGNE DICH UND BEHÜTE DICH; DER HERR LASSE SEIN ANGESICHT LEUCHTEN ÜBER DIR UND SEI DIR GNÄDIG; DER HERR
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HEBE SEIN ANGESICHT ÜBER DICH UND GEBE DIR FRIEDEN. Auf der zweiten Silberrolle steht: DER HERR SEGNE UND BEHÜTE DICH, DER HERR LASSE DIR SEIN ANTLITZ LEUCHTEN UND SEI DIR GNÄDIG UND SCHENKE DIR FRIEDEN. So und ähnlich vernehmen wir es auch heute noch am Ende des lutherischen Gottesdienstes. Was wird sich während des Untergangs der Stadt Jerusalem im Essenerviertel zugetragen haben? Mensch liche Skelette, Krüge und Schriftrollen wurden dort bislang nicht entdeckt. Es wird wohl ähnlich wie in den nahen Gassen unmittelbar neben dem Tempelkomplex gewesen sein. Ausgräber legten hier einen Küchenraum frei, in dem sie den skelettierten Arm einer wenig über zwanzig Jahre alten Frau fanden. Der Archäologe B.Ahrensburg meint, die Frau habe in der Küche gearbeitet, als sie des plötzlich über sie hereinbrechenden Infernos gewahr wurde. Wild gestikulierende und schreiende Soldaten werden auch in dieses Haus eingedrungen sein. Sie versuchte zu fliehen und ist am Hauseingang zusammengebrochen. Dieser skelettierte Arm ist bislang der einzige Überrest eines Menschen, der im Jerusalemer Tempelareal vom grauenvollen Untergang der Heiligen Stadt berichtet. Die angesehene britische Archäologin Kathleen M. Kenyon hat ebenfalls Überreste eines Wohnhauses freigelegt. Von diesem Gebäude aus konnte man zum nahen 17
Jerusalemer Tempel schauen. Die Ruinen zeugen auch heute noch von der Wohlhabenheit und Lebensqualität der Bewohner. Die Räume gruppierten sich um einen Innenhof. In Vertiefungen der Wände hatte man viele Krüge verstaut. Zwischen feinem Tafelgeschirr fanden die Ausgräber einen besonders schönen, rotglasierten Krug. Große Krüge mit lateinischen Markierungen zeigten Frau Kenyon, daß man damals sogar Weine aus Italien importiert hatte. Die britische Archäologin merkte an: »Solche Häuser müssen für Jesu Jünger, einfache Landleute aus Galiläa, sehr eindrucksvoll gewesen sein!«
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Am Jordan: Ursprung einer Weltreligion Johannes der Täufer war sehr wahrscheinlich die führende Persönlichkeit der am Nordufer des Toten Meeres und am nahen Jordanufer unweit der Qumransiedlung entstandenen Täufer-Bewegung. Der Ruf des Täufers war auch in der nördlichen Heimat Jesu, in Galiläa vernommen worden. Jesus folgte ihm, wanderte nach Jericho und zum nahen Jordanufer und ließ sich dort ebenfalls taufen. Die Begegnung und sicherlich auch Gespräche mit Johannes haben ihm einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Jesus zog sich deshalb in die Einsamkeit der Wüste zurück, wie es vor ihm so viele Propheten und Bußprediger getan hatten, um seine Gedanken nach der Taufe neu zu ordnen und wieder zu sich selbst zu finden. In der Wüste wird Jesus gelebt haben wie die Propheten der alten Zeit, indem er seine Haare nicht schor und sich wie Johannes asketisch kleidete. Meinungsverschiedenheiten entstanden erst, als Jesus sich von den Idealen des strengen Asketentums abkehrte, sich dem Alltagsleben wieder zuwandte und in seine galiläische Heimat zurückkehrte. Johannes hingegen wurde des politischen Aufruhrs bezichtigt und hingerichtet. Nachrichten über das schreckliche Ende des Bußpredigers können wir dem Werk Jüdische Altertümer des Josephus entnehmen. Dieser war zu Beginn des großen römisch-jüdischen Krieges als Feldherr am Kampf gegen die römische Besatzungsmacht beteiligt. Später schlug er sich auf die Seite der Römer und war Zeuge der fürchterlichen Belagerung und Zerstörung Jerusalems. Der Renegat 19
Josephus lebte anschließend als Günstling des Flavischen Kaiserhauses in Rom und nannte sich hinfort Flavius Josephus. In der Hauptstadt des römischen Weltreiches schuf Josephus sein literarisches Lebenswerk. Ohne seine Schriften würden wir, was die Zeitgeschichte Jesu und die Jahre nach Jesu öffentlichem Wirken angeht, vielfach im dunkeln tappen. Um das Jahr einhundert ist Josephus in Rom gestorben. Josephus schrieb in Rom für Römer und hat das grauenvolle Lebensende des Täufers nur angedeutet: »Da nun infolge der wunderbaren Anziehungskraft solcher Reden eine gewaltige Menschenmenge zu Johannes strömte«, erzählt Josephus, »fürchtete Herodes, das Ansehen des Mannes, dessen Rat allgemein befolgt zu werden schien, möchte das Volk zum Aufruhr treiben, und hielt es daher für besser, ihn rechtzeitig aus dem Wege zu räumen, als beim Eintritt einer Wendung der Dinge in Gefahr zu geraten und dann, wenn es zu spät sei, Reue empfinden zu müssen. Auf diesen Verdacht hin ließ Herodes den Johannes in Ketten legen, zu der Festung Machaerus bringen ... und dort hinrichten.« (XVIII,5,2) Die schrecklichen Geschehnisse am Jordan und im nahen Moabgebirge werden auch in den Evangelien angedeutet, obgleich die Nachricht vom Ende des Johannes wahrscheinlich in Anlehnung an eine damals weitverbreitete, altüberlieferte Erzählung ausgeschmückt wurde. So oder ähnlich wird man es sich auch in den Gassen Jerusalems und Jerichos zugeraunt haben: »Da aber Herodes seinen Geburtstag beging, da tanzte die Tochter der Herodias vor ihnen. Das gefiel Herodes wohl. Darum verhieß er ihr mit einem Eide, er wolle 20
ihr geben, was sie fordern würde. Und wie sie zuvor von ihrer Mutter angestiftet war, sprach sie: Gib mir her auf einer Schüssel das Haupt Johannes des Täufers! Und der König ward traurig: doch um des Eides willen und derer, die mit ihm zu Tisch saßen, befahl er, es ihr zu geben. Und schickte hin und ließ Johannes im Gefängnis enthaupten. Und sein Haupt ward hergetragen auf einer Schüssel und dem Mädchen gegeben: und sie brachte es ihrer Mutter. Da kamen seine Jünger und nahmen seinen Leib und begruben ihn und kamen und verkündeten das Jesus.« (Matthäus 14,6-12) Über Auseinandersetzungen zwischen Angehörigen der Johannes-Bewegung und Angehörigen der Jesus-Bewegung gibt es nur spärliche Nachrichten. Anhänger des Johannes wanderten nach Ägypten, nach Kleinasien, sehr wahrscheinlich auch nach Rom und Griechenland. Wann die Johannes-Bewegung im Westen ausgestorben ist, wissen wir nicht. Im Osten aber, vornehmlich an den großen Strömen Euphrat und Tigris und in Persien, leben heute noch Angehörige einer zahlenmäßig kleinen, aber für die Religionsgeschichte bedeutsamen Sekte: Es sind die »Johannesjünger«. Sie werden auch Mandäer genannt. Sie selbst nennen sich Nazoräer. Auch die Angehörigen der Jerusalemer Jesusgemeinde nannte man Nazoräer. Erst Jahrzehnte nach Jesu Hinrichtung wurden in Antiochia Angehörige der JesusBewegung spöttisch als »Christen« bezeichnet.
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So kam der Stein ins Rollen Am Weihnachtstag des Jahres 1910 erregte eine in der New York Times groß herausgebrachte Nachricht die Gemüter. Die Zeitung berichtete, ein namhafter Gelehrter, Dr. Solomon Schechter, habe in einer Synagoge Alt-Kairos Schriftrollen entdeckt, die vor der Abfassung der Evangelien angefertigt worden seien, und diese Handschriften würden Jesus, Johannes den Täufer, den Apostel Paulus und sogar einen »Neuen Bund« nennen. Manche Wissenschaftler vermuteten beim Lesen dieser Nachricht, daß der anonyme Schreiber des Artikels George Margoliouth, Kustos der Abteilung für Hebräische Handschriften im Britischen Museum sein könnte. Was war geschehen? Der aus Rumänien gebürtige Schechter hatte in AltKairo, in der Genizah der über tausend Jahre alten Ben-Ezra-Synagoge uralte Schriftrollen aufgespürt. Eine Genizah ist der Raum einer Synagoge, in dem nicht mehr benutzbare Kultgegenstände und Schriftrollen deponiert werden. Da diese Handschriften den Allmächtigen nennen, dürfen sie nicht wahllos vernichtet, sie dürfen nur vergraben werden. Die von Schechter in einem düsteren, fensterlosen Raum dieser BenEzra-Synagoge entdeckten Handschriften hatte man seit Jahrhunderten aufbewahrt. Sie alle hatte Schechter im Jahre 1897 zusammengerafft und mitgenommen, insgesamt dreißig Bündel. Später wurde in Cambridge bekannt, daß diese Bündel sage und schreibe ungefähr hundertvierzigtausend Schriftrollen und Textfragmente enthielten. 22
Am ersten Januar des Jahre 1911 erschien in der Sonntagsausgabe der New York Times ein ganzseitiger Kommentar zu einer der von Schechter in Alt-Kairo gefundenen Handschriften. Der anonyme Autor hatte seine Ausführungen mit »Jüdische Manuskripte, älter als die Evangelien« überschrieben. Dieses neuentdeckte Dokument nannte man hinfort »Damaskusschrift«. Die Schriftrolle würde, so betonte der Verfasser, unter Gelehrten unübersehbar viele Auseinandersetzungen auslösen. Wie recht sollte er doch haben! Schechter glaubte, so der Rezensent, das von ihm entdeckte Damaskus-Dokument habe einer jüdischen Sekte gehört, die sich vor der Geburt Jesu vom jüdischen Mutterleib gelöst hatte. Schechter habe sehr deutlich erkannt, daß die Sektenangehörigen den mosaischen Lehren treu ergeben waren und, darüber hinaus, sich einer weitverzweigten, dem Alten Testament nicht einverleibten, für das Werden des Christentums jedoch überaus bedeutsamen Literatur bedient hatten. Die Angehörigen dieser Sekte warteten auf das baldige Kommen eines Erlösers und seien ausgewandert. Schechter vermute, Jesus sei im Kreise seiner Anhänger in Damaskus gestorben. Manche Forscher sind überzeugt: »Damaskus« ist ein Deckname für Qumran, Jesus habe, nachdem er dem Gewahrsam der Hohenpriester Kaiphas und Annas entronnen war, unter Täufern am Jordan und in der nahen Qumramsiedlung an den Nordufern des Toten Meeres Zuflucht gefunden. Der anonyme Verfasser des in der New York Times erschienenen Artikels bekundet auch seine eigene Meinung: Das neuentdeckte Dokument, die Damaskus23
schrift, sei in der zweiten Hälfte des ersten nachchristlichen Jahrhunderts entstanden. In der Handschrift würden zwei Männer Messias genannt, der erste sei Johannes der Täufer, der zweite sei Jesus von Nazareth. Erst nach dem Untergang Jerusalems, im Jahre 70 unserer Zeitrechnung, seien diese Sektierer in die syrische Stadt Damaskus ausgewandert. Für sie war Jesus der längst erwartete Messias, der angeblich von Jesus so erbittert befehdete »Belial« (Volksverführer) hingegen sei der Apostel Paulus gewesen. Der gelehrte Rezensent hat aus der in Alt-Kairo Ende des neunzehnten Jahrhunderts entdeckten Damaskusschrift die Austragung heftiger Fehden zwischen Jesusjüngern und Paulus herausgelesen. Viele dieser Jesusjünger seien im Inferno der brennenden Heiligen Stadt Jerusalem im Jahre 70 umgekommen. Paulus hingegen habe gesiegt. Der Autor des Artikels meinte, das neuentdeckte Dokument sei älter als die Evangelien, vielleicht abgesehen vom Evangelium des Markus, und enthalte Mitteilungen über eine frühe Sekte, die damals zwar mächtig gewesen sei, im Neuen Testament jedoch nicht genannt werde. Heute, »nach Qumran«, wissen wir, daß der Rezensent der Damaskusschrift die Existenz der Essenergemeinden erahnt hatte. Sehr deutlich hat er auch erkannt, wie sehr die Zeit vor und nach der Geburt Jesu Jahre der Unrast und der literarischen Fruchtbarkeit waren: Alles drängte nach Erfüllung. Noch im Jahre 1947, schon sehr bald nach der Entdeckung der ersten Qumran-Schriftrollen, konnte der angesehene israelische Archäologe und Sprachforscher Eliezer L. Sukenik feststellen, daß Texte, die man neuerdings unweit der Qumranruinen zutage gefördert 24
hatte, mit der von Schlechter in Alt-Kairo gefundenen Damaskusschrift fast identisch sind. In Höhlen am Toten Meer hatte man sogar sieben Exemplare dieser Damaskusschrift entdeckt. Offensichtlich waren diese Texte damals besonders wichtig. Man rechnet die in der Ben-Ezra-Synagoge Alt-Kairos aufgespürten Handschriften heute seltsamerweise ebenfalls den »QumranSchriftrollen« zu. Der renommierte, leider allzu früh verstorbene britische Hebraist und Archäologe John Marco Allegro glaubte, die ersten Männer der Jesus-Bewegung seien in der Tat Essener gewesen. Sehr angesehene und einflußreiche Essener zumindest mögen sich schon sehr früh Jesu Verkündigung zugewandt haben, so könne man eine Überlieferung der Apostelgeschichte deuten: Es wurden auch viele Priester dem Glauben gehorsam.« (6,7) Wenn dem so sei, folgerte Allegro, könnten wir auch sicher sein, daß der Glaube der frühesten Jesusgemeinde mehr den Lehren der Essener und nicht so sehr der Paulinischen Religionsphilosophie gleiche. Vieles hätten Anhänger der Jesus-Bewegung mit Essenern gemeinsam, den Paulinischen Lehren hingegen seien die ursprünglichen Angehörigen der Jesus-Bewegung in der Tat nicht gewogen gewesen. Allegro begnügte sich nicht mit solchen allgemeinen Hinweisen. Er verglich vielmehr ganz konkret Lehren der Essener mit Anschauungen der Anhänger Jesu und vermeinte, erstaunliche Ähnlichkeiten entdeckt zu haben. Im Matthäus-Evangelium beispielsweise wird erzählt, wie man Streitereien vermeide: »Sündigt aber dein Bruder, so gehe hin und halte es ihm vor zwischen dir und ihm allein. Hört er dich, so hast du deinen 25
Bruder gewonnen. Hört er dich nicht, so nimm noch einen oder zwei zu dir, auf daß jegliche Sache stehe auf zweier oder dreier Zeugen Mund. Hört er die nicht, so sage es der Gemeinde. Hört er die Gemeinde nicht, so sei er dir wie ein Heide und Zöllner.« (18,15-17) Ähnlich wird auch in der Damaskusschrift aufgetragen, mit dem Bruder nicht zornig zu reden, und den Vielen solle es erst zu Ohren kommen, wenn man sich nicht einigen könne. In der Apostelgeschichte lesen wir: »Und sie warfen das Los über sie, und das Los fiel auf Matthias: und er ward zugeordnet zu den elf Aposteln.« (1,26) Um Streitigkeiten vorzubeugen, wurde unter Essenern ebenfalls das Los geworfen. Allegro hat angeblich lebenslang seinen jüdischen Vater verleugnet. In der Fachliteratur wird hier und dort behauptet, er sei Atheist gewesen. Seine publizistische Regsamkeit und seine »Schatzsuche« am Toten Meer haben sogar die Feindschaft namhafter Gelehrter heraufbeschworen. Allegro wurde ein frühes Opfer des »Qumran-Fiebers«. Die ständige Beschäftigung mit oftmals winzigen Schriftrollenfragmenten und das andauernde scharfsinnige Lauern auf Entdeckungen, die alle Jesus-Überlieferungen revolutionieren könnten, haben seine Urteilskraft getrübt. Allegro schrieb schließlich absonderliche Aufsätze und glaubte, die Entstehung der Jesus-Bewegung sei die Folge von Pilzvergiftungen. Als Beispiel für die Ähnlichkeit des Glaubensgutes der Essener und der Jesus-Bewegung mag noch ein interessantes Textgefüge einer Qumran-Schriftrolle, man hat sie mit der Signatur 4 Q 246 versehen, dienen. Es 26
wird damit das in der Höhle Nummer vier gefundene, mit der Nummer zweihundertsechsundvierzig bezeichnete Fragment benannt. Im Lukas-Evangelium heißt es: » Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten: darum wird auch das Heilige, das von dir geboren wird, Gottes Sohn genannt werden.« (1,35) Auf dem Fragment 4Q246 wird ebenfalls ein »Sohn Gottes«, der Frieden auf Erden bringen wird, genannt: Alle werden ihm dienen, im Namen Gottes wird er als »Sohn Gottes« gepriesen, man wird ihn den »Sohn des Allerhöchsten« nennen. Eine geistige Abhängigkeit früher Angehöriger der Jesus-Bewegung vom Glaubensgut der Essener wird hiermit freilich nicht bewiesen. Schon Jahrtausende vor Jesu Geburt wurden Pharaonen im Niltal »Söhne Gottes« geheißen. Im Alten Testament, im zweiten Psalm, lesen wir: »Kundtun will ich den Ratschluß des Herrn. Er hat zu mir gesagt: ›Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt.‹ Bitte mich, so will ich dir Völker zum Erbe geben und der Welt Enden zum Eigentum. Du sollst sie mit einem eisernen Zepter zerschlagen, wie Töpfe sollst du sie zerschmeißen.« – Später, nachdem die Gesänge alttestamentlicher Seher längst verklungen waren, wurden sogar römische Kaiser »Sohn Gottes« genannt.
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Die verschollene Schriftrolle des Jerusalemer Antiquars Shapira Auf die Vielseitigkeit eines Überlieferungsgutes, das den Schriften der Bibel nicht zugefügt worden war, hat schon vor über hundert Jahren der Jerusalemer Antiquar Moses Wilhelm Shapira hingewiesen, zum Gespött damaliger Fachleute. Um 1830 hatte Shapira in Kiew das Licht der Welt erblickt. Seine Frau war Angehörige der Lutherischen Gemeinde Jerusalems. Auch Shapira wurde Lutheraner. Ab 1882 war er deutscher Staatsbürger. Shapira unterhielt in der Jerusalemer Christian Street, nur wenige Schritte von der Grabeskirche entfernt, einen Antiquitätenladen. Die hinteren Gewölbe durften nur besonders geschätzte Besucher betreten. Beduinen kamen von Arabien und vom östlichen Jordanland und verkauften Shapira, was sie in Gräbern und zwischen Ruinen fast vergessener Siedlungen gefunden oder ausgegraben hatten. Shapira unternahm auch persönlich Expeditionen nach Arabien und zum Randgebiet des Toten Meeres. Seine wertvollsten Erwerbungen verkaufte er in seinem Laden an Liebhaber oder veräußerte sie an Museen Europas. Aus dem östlich des Toten Meeres gelegenen Moabiterland hatten ihm Nomaden Tonkrüge gebracht. Angeblich hatte man sie vor ungefähr dreitausend Jahren mit altmoabitischen Schriftzeichen versehen. Shapira verkaufte die Tonwaren im Jahre 1873 für zwanzigtausend Taler an die preußische Regierung. Einem angesehenen französischen Archäologen, Charles Clermont-Ganneau, blieb jedoch 28
nicht verborgen: Es waren Fälschungen! Der Zulieferer Selim al-Kari hatte Shapira betrogen. Shapira ließ sich jedoch nicht entmutigen und erzählte nunmehr, in der Nähe von Jerusalem habe er einen alten Freund, einen Beduinenscheich, getroffen. Dieser habe ihm, Shapira, von Arabern berichtet, die sich, um Verfolgungen zu entgehen, in einer östlich des Toten Meeres gelegenen Höhle des Wadi Mujib versteckt hätten. Dort hätten die Flüchtlinge in Lumpen gehüllte, geschwärzte Häute, alte Schriftrollen entdeckt. Angeekelt habe man die Überreste der Lederrollen weggeworfen, später jedoch habe einer dieser Männer die Bündel wieder an sich genommen und in seinem Zelt aufbewahrt. Shapira kannte diese in der Nähe von Qumran gelegene Gegend, er glaubte auch zu wissen, daß sich unweit des Fundortes ein alter Friedhof befand, und meinte, zwischen Friedhof und Fundort könne ein Zusammenhang bestehen. Wie dem auch sei, Shapira sagte seinem alten Freund, er möge ihm doch ein Stück einer solchen Handschrift überlassen. Der Scheich war sogar bereit, eine Zusammenkunft zwischen Shapira und Salem, dem Besitzer der Schriftrollen, herbeizuführen. Shapira traf sich in der Nähe von Bethanien mit diesem geheimnisvollen Araber. Der Nomade gab Shapira ein kleines, mit alten Schriftzeichen versehenes Stück einer ledernen Schriftrolle, dafür gab Shapira dem Araber einige Münzen. Shapira soll Salem versichert haben, er würde viel mehr Geld bekommen, falls er alle in seinem Besitz befindlichen Handschriftenbündel brächte. In den folgenden Wochen traf sich der Jerusalemer Antiquar noch viermal mit jenem Salem. Der Araber 29
überließ Shapira angeblich alle seine Lederfragmente. Bald danach starb Shapiras alter Freund, der Scheich, sehr plötzlich, und Shapira konnte Salem nicht mehr ausfindig machen. Der Antiquitätenhändler Shapira hat in den hinteren Gewölben seines Ladens seine neuerworbenen, von vielen Jahrhunderten geschwärzten Handschriften immer wieder stolz, vielleicht auch begierig betrachtet. Er war ein gelehrter Mann und konnte zu seiner großen Freude die Schrift deuten: Er hatte eine in moabitischer Sprache abgefaßte Version des Deuteronomium, des 5. Buches Mose, erworben! Diese Sprache war im sechsten vorchristlichen Jahrhundert für immer verklungen. Das Buch Deuteronomium mußte somit, Shapira mag vor Staunen sprachlos gewesen sein, viele Jahrhunderte älter sein als die auf uns gekommene ältesten alttestamentlichen Handschriften! Aber Zweifel beunruhigten manchmal den Antiquar. Er wollte sich Gewißheit verschaffen und schickte am 24. September 1878 eine Abschrift seines Deuteronomiumtextes an den deutschen Gelehrten Konstantin Schlottmann. Schlottmann war, nachdem Fachleute die von Shapira im Jahre 1873 an die preußische Regierung verkauften Keramiken bereits als Fälschung abgetan hatten, immer noch von deren Echtheit überzeugt gewesen. Das hatte Schlottmanns Renommee damals sehr geschadet. Von dem erneuten Lebenszeichen des Jerusalemer Antiquars Shapira war Schlottmann deshalb nicht erbaut. Er fühlte sich von Shapira hinters Licht geführt, glaubte, die Lederfragmente als Fälschung abtun zu können, und verbat sich von Shapira für alle Zukunft jegliche Kontaktnahme. Shapira ver30
schnürte und versiegelte seine Handschriften und übergab das Paket dem Jerusalemer Bankier Bergheim. In einem Geldschrank schlummerten die Lederfragmente bis zum Frühjahr des Jahres 1883. Schließlich entschlüpften Shapira einige Bemerkungen über den Fund, und sein Gesprächspartner, der damals in Jerusalem tätige deutsche Pastor Reinicke, traute seinen Ohren nicht: Seit fast fünf Jahren lagen uralte Schriftrollen unbeachtet in einem Goldschrank? Um die Osterzeit des Jahres 1883 trug Shapira die Lederfragmente wieder in seinen Laden. Einige Wochen danach besuchte der in Beirut tätige kaiserlich-deutsche Konsul, Dr. Schroeder, Shapira in der Christian Street. Schroeder war von der Echtheit der Handschriften überzeugt. Trotzdem war Shapira immer noch unentschlossen. Hatte man ihm nicht immer wieder beteuert, die von dem Allmächtigen inspirierten Worte Mose seien heilig, unabänderlich und einmalig! Um diese Zeit geschah etwas, das Shapiras Leben eine Wende verlieh: Er las, wie sehr sich insbesondere deutsche Theologen um eine textkritische, wissenschaftliche Würdigung des Alten und auch des Neuen Testamentes bemüht und hier und dort Ungereimtheiten entdeckt hatten. In Shapiras Gemüt schlich sich deshalb der damals allzu unfromme Gedanke, die Thora, die fünf Bücher Mose könnten nur Menschenwerk sein, und es könnten deshalb verschiedene Versionen existiert haben. Seine Deuteronomiumhandschrift, die er jetzt in Händen hielt, wäre somit doch echt. Keine Fälschung!
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Um sich aller Zweifel zu entledigen, reiste Shapira im Sommer des Jahres 1883 nach Leipzig und bat den deutschen Hebraisten und Archäologen Hermann Guthe und den berühmten Althistoriker Eduard Meyer um ein wissenschaftliches Gutachten. Die beiden Gelehrten glaubten, es müsse sich um eine Fälschung handeln. Sie ließen Shapira jedoch im unklaren, wollten trotzdem seine Lederfragmente käuflich erwerben, wenn auch nicht zu dem von Shapira geforderten Preis. Man wollte die Schriftrollen behalten, denn damit könne man, so hatten es die Forscher unter sich abgesprochen, in aller Zukunft beweisen, was betrügerischer Scharfsinn in düsteren Kammern der Fälscher bewerkstelligen könne. Shapira fuhr, im guten Glauben an die Echtheit seiner Schriftrollen und vielleicht vom Preisangebot der deutschen Gelehrten noch ermutigt, nach London. An der Themse wurde Shapiras Dokument geradezu als Sensation empfunden. Shapira erhoffte sich deshalb die Zahlung von einer Million Pfund Sterling! Doch dann wurden Zweifel laut. Was manche geargwöhnt hatten, der britische Hebraist Christian David Ginsburg sprach es aus: Die Schriftrolle mußte eine Fälschung sein! Die französische Regierung entsandte daraufhin Charles Clermont-Ganneau nach London. Dieser Professor für Biblische Archäologie hatte sich auch als Diplomat einen guten Namen gemacht. Schon raunte man in der britischen Hauptstadt, das Britische Museum würde für die Lederfragmente mehrere hunderttausend Pfund Sterling zahlen! Die Wogen der Begeisterung schlugen hoch und höher! Aber immer noch neigte sich Clermont-Ganneau kritisch 32
über Teile der Lederfragmente. Wieder wurden in der Öffentlichkeit Zweifel laut. In der Zeitschrift Punch erschien am 8. September 1883 sogar eine satirische Karikatur: Der Antiquar Shapira wird Shar-eye-Ra genannt! Shapira, weise und hellsichtig wie ein altägyptischer Gottkönig! Shapira hatte Clermont-Ganneau nur Teile seiner Lederfragmente zur Prüfung anvertraut. Die für Clermont-Ganneau bestimmten Schriftrollen lagen zudem noch in einem Glaskasten. Diese Zurückhaltung Shapiras mag die Anfertigung eines wissenschaftlichen Gutachtens erschwert und Clermont-Ganneau verärgert haben. Und dann kam denn auch der große Knall: Auch Clermont-Ganneau nannte Shapiras Schriftrolle eine Fälschung. Clermont-Ganneau soll noch angefügt haben, die Handschrift sei »von gestern«. Man gab Shapira seine Lederfragmente indigniert zurück. Guthe hingegen ließ aus Leipzig verlauten, die Lederstreifen könnten einer Mumie mitgegeben worden sein. Vielleicht würde eine chemische Untersuchung das Problem der Echtheit lösen. Guthe stellte auch die Frage, wie diese Lederstreifen in das Moabgebirge gekommen sein könnten. Man erwarte nicht, so folgerte er, aus diesem Gebiet »ein der israelitischen Literatur angehöriges Manuskript auftauchen zu sehen. Oder sollen wir annehmen, daß es von israelitischen Familien, die sich noch auf längere Zeit unter den Moabitern zu erhalten wußten, herrührt oder daß die Handschrift durch Flüchtlinge aus dem Westjordanlande hinübergebracht wurde und nun zufällig wieder der Vergangenheit entrissen worden ist? Die Möglichkeit kann nicht ausgeschlossen werden.« 33
Am Ende seines Gutachtens hat Guthe die Ergebnisse seiner Bemühungen präzisiert: Der »Fälscher« habe, so Guthe, über eine sichere »Handhabe des hebräischen Ausdrucks« verfügt, habe Sprachverständnis, epigraphische Kenntnisse bekundet und sei auch mit »mehreren Ergebnissen der Pentateuch-Kritik vertraut, vermag auch Doubletten in unserem Bibeltext geschickt zu erkennen, verrät aber in seinen kritischen Operationen den völligen Mangel einer festen Methode. Was er uns bietet, ist mehr als ein Auszug aus unserem Deuteronomium. Es ist eine kritische Bearbeitung der Texte, die man teilweise mit Interesse lesen wird, trotzdem er es nicht über ein fehlerhaftes Exercitium hinausgebracht hat.« Die feine Herablassung des immer noch verunsicherten Dr. Guthe spiegelt sich in den letzten Worten seines Gutachtens: »Es beruhigt, daß man den Fälscher nicht in so hohen Regionen der Wissenschaft zu suchen hat, wie der trügerische Nimbus, mit dem die Handschrift nach mehr als einer Seite hin umgeben ist, anfangs glauben läßt. Jedoch hat man Grund zu zweifeln, ob die Handschrift im Koffer des Herrn Shapira im Sommer 1883 zum ersten Mal die Reise über das Mittelmeer gemacht hat.« Ermutigt von den freudigen und begeisterten Nachrichten aus Berlin und London und bereits von sicheren zukünftigen Reichtümern ausgehend, hatten Frau Shapira und ihre Tochter die ärmliche Behausung in der Jerusalemer Christian Street inzwischen verlassen und eine teure Wohnung außerhalb der Stadtmauer Jerusalems bezogen. Bald war Frau Shapira, da die angekündigten Geldüberweisungen ausblieben, völlig 34
verschuldet. Schlimme Nachrichten mehrten sich, die früheren Freunde und Schmeichler mieden Frau und Tochter. Die Zeit drängte! Am 22. August des Jahres 1883 wurde in der britischen Zeitung Daily News der Brief eines anonymen Schreibers abgedruckt. War der Verfasser der von seiner Idee besessene Antiquar Shapira? Das Deuteronomium-Dokument, so wurde der Redaktion der Daily News mitgeteilt, müsse Juden, die sich in das Moabgebirge zurückgezogen hatten, gehört haben. Könnten nicht Essener, könnten nicht auch Angehörige der Jesus-Bewegung in jenen turbulenten Tagen vor Ausbruch des großen römisch-jüdischen Krieges die wertvolle Deuteronomiumschriftrolle in die Bergwelt von Moab geschafft und dort in einer Höhle versteckt haben? Am 23. August 1883, einen Tag nach Erscheinen dieses Leserbriefes, schrieb Shapira in einem Londoner Hotel folgenden Brief: »Lieber Dr. Ginsburg! Sie haben mich zum Tölpel gemacht, indem Sie Dinge veröffentlicht und dargelegt haben, deren Unwahrheit Ihnen bewußt ist. Ich glaube nicht, daß ich diese Schande überleben werde, und bin immer noch überzeugt, daß es sich nicht um eine Fälschung handelt ... Ich werde London in ein oder zwei Tagen verlassen und nach Berlin fahren. Ihr ergebener M. W. Shapira« Von Berlin aus fuhr Shapira weiter, immer weiter ... Er entledigte sich, ratlos, verwirrt und verzweifelt, eines 35
Gepäckstücks nach dem anderen und schied schließlich, am 9. März des Jahres 1884, in einem unscheinbaren Rotterdamer Hotel freiwillig aus dem Leben. In Jerusalem konnte der Verkaufserlös des Antiquitätenladens die Gläubiger nicht voll befriedigen. Frau Shapira und ihre jüngste Tochter liehen sich Geld und suchten fluchtartig eine Bleibe in Deutschland. Am 16. Juli 1885 hat das Auktionshaus Sotheby, Wilkinson and Hodge in London die Shapira-Handschrift angeboten. Das Dokument erhielt die Nummer 302 und wurde »The Shapira Manuscript« genannt. Gekauft hat es der Buchhändler Bernard Quaritch. Er zahlte dafür zehn Pfund Sterling und zehn Shilling. Zwei Jahre danach rief Quaritch den Neuerwerb seinerseits in der Royal Albert Hall, London, zum Verkauf auf. In seinem Katalog wird Shapiras Handschrift folgendermaßen angeboten: »BIBEL. Das originellste Manuskript des Deuteronomium von der Hand des Moses (? ben Amram), entdeckt vom verstorbenen Mister Shapira und mit einer Million Pfund Sterling bewertet; 15 separate Fragmente (7 numeriert und 8 unnumeriert), uralte hebräische Schriftzeichen auf Streifen geschwärzten Leders, 25 Pfund Sterling, 1500 vor bis 1800 nach Christi Geburt.« Angefügt wurde noch, diese berühmten Fragmente habe Dr. Ginsburg sorgsam entziffert, in der Times habe er den Text veröffentlicht, woraufhin die religiöse Welt Englands ein »Hallelujah« gesungen, während sich die spöttischen Atheisten Deutschlands und Frankreichs geweigert hätten, die Fragmente als echt anzuerkennen.
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Wer mag Shapiras Handschrift damals von dem Buchhändler Quaritch gekauft haben? Wohin wurde Shapiras Deuteronomium-Dokument verbracht? Wurde die vielleicht unermeßlich wertvolle Schriftrolle fast völlig vergessen und letztlich achtlos weggeworfen ? Schon beim anfänglichen Lesen von Qumran-Schriftrollen wurde offenkundig: Die literarischen Quellen flossen um die Zeitenwende in Palästina viel reichhaltiger, als bislang angenommen! Auch deshalb sind manche Forscher heute geneigt, der Shapira-Handschrift die mögliche Echtheit nicht mehr von vornherein abzusprechen. Könnte es nicht sein, daß sogar schon lange vor Jesu Geburt mehrere Handschriften des Deuteronomium mit mehr oder weniger voneinander abweichenden Textpassagen im Umlauf waren? Einige Forscher hatten noch zu Lebzeiten Shapiras betont, die Texte seien auf Lederstücke, die man von älteren Schriftrollen abgetrennt hatte, geschrieben worden. Das ist kein wissenschaftliches Argument gegen die Echtheit! Manche Schreiber uralter Schriftrollen waren arm, und vielleicht wurde das Shapira-Deuteronomium auch unter Zeitdruck angefertigt. Hatte man deshalb von einer älteren Handschrift ein nicht beschriebenes Lederstück abgetrennt und für die Anfertigung des Shapira-Deuteronomium genutzt? Einige Forscher meinen auch heute noch, die archaische Ausdrucksweise der Shapira-Handschrift bezeuge eine Fälschung. Könnte es nicht sein, daß sich der Schreiber absichtlich einer antiquierten Feder bediente? Damit wollte er seinem Dokument vielleicht die Patina erhöhter Heiligkeit verleihen. Das ist nicht unüblich, ein Phänomen, das immer wieder konstatiert werden kann 37
und auch in Qumran-Schriftrollen und in der Heiligen Schrift festzustellen ist! Um das Shapira-Dokument heute, nachdem wir aus den Qumran-Schriften soviel gelernt haben, einwandfrei als Fälschung abtun zu können, müßten überzeugende Kriterien entdeckt, auch moderne technische Methoden der Altersbestimmung angewandt werden. Solange die Shapira-Handschrift irgendwo modert, ist jedenfalls das letzte Wort noch nicht gesprochen.
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Kannte Jesus die verschollene Schriftrolle? Vergleicht man Ausführungen des Alten Testaments mit der entsprechenden, von Guthe angefertigten Übersetzung des Shapira-Deuteronomium, fällt ins Auge: Während sich der Schreiber des uns geläufigen biblischen mosaischen Textes knapp ausdrückt, ist in Shapiras Deuteronomium an entscheidenden Stellen vom »Bruder« und »Nächsten« die Rede! Nachfolgend eine Gegenüberstellung der beiden Versionen: Du sollst nicht töten Du sollst nicht das Leben deines Bruders töten. Und du sollst nicht ehebrechen Du sollst nicht mit dem Weibe deines Nächsten die Ehe brechen. Und du sollst nicht stehlen Du sollst nicht das Vermögen deines Nächsten stehlen. In Shapiras Dokument bezieht sich das Verbot des Tötens, des Ehebruchs und des Stehlens ausdrücklich auf den »Bruder« und »Nächsten«. Darf man deshalb vermuten, daß Jesus die Shapira-Handschrift oder einen ähnlichen Text der mosaischen Gebote gekannt und für seine Predigten benutzt hatte? Denn so lesen wir im Neuen Testament: »Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muß ich tun, daß ich das ewige Leben ererbe? Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Wie liesest du? Er antwortete und sprach: Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von gan39
zem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzen Gemüte und deinen Nächsten wie dich selbst. Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet: Tue das, so wirst du leben. Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster?« (Lukas 10,25-29) Wir können heute nur noch erahnen, was sich zugetragen haben muß, als Männer in Jerusalem und wahrscheinlich auch anderswo beim Näherkommen römischer Legionäre ihr wertvollstes Gut, die heiligen Schriften, zusammenrafften und eiligst fortschafften. Manche mögen indessen an die Ermahnungen des Propheten Jeremias gedacht haben: »O ihr Bewohner von Moab, verlaßt die Städte und wohnt in den Felsen und tut wie die Tauben, die da nisten in den Löchern!« (48,28) – Vielleicht modern in Höhlen des Moabgebirges und freilich auch unweit der Qumanruinen immer noch Schriftrollen, Lederfragmente, die man von Jerusalem dorthin geschafft und im Angesicht des nahenden Todes versteckt hatte. In unseren Tagen sind namhafte israelische Forscher sogar überzeugt: Bislang unbekannte Erinnerungen an Jesu Erdentage wurden im ersten Jahrhundert niedergeschrieben und versteckt, und diese Lederrollen harren auch heute noch der Entdeckung.
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Unser zaratbustrisches Erbe Im Jahre 31 vor Christi Geburt hat ein Erdbeben Judäa heimgesucht. Auch die in der Nähe des Toten Meeres gelegene Qumransiedlung wurde zerstört. Später kehrten Bewohner zurück. Jahrzehnte danach entbrannte der große römisch-jüdische Krieg. »Während des Aufstandes«, so erzählt der Archäologe Frank Moore Cross Junior »wurden die Gemeinschaftsgebäude von Qumran mit Waffengewalt zerstört ... die Ruinen der Gebäude versanken nach einem Großfeuer unter Schichten von Asche; und in den verkohlten Trümmern des befestigten Haupttraktes fanden sich die eisernen Pfeilspitzen der römischen Legionäre, die nur allzu deutlich ins Licht rücken, was sich hier abgespielt haben muß.« Ab dem zweiten Jahrhundert blieben die Gebäude unbewohnt und verfielen. In dem großen Schreibraum trocknete die Tinte aus. Erst im neunzehnten Jahrhundert besuchten westliche Forschungsreisende die Überreste von Qumran und bemühten sich um eine wissenschaftliche Deutung der sonderbaren Ruinen. Jahrzehnte danach, im Jahre 1946, hatte ein Beduinenjunge in einer Höhle am Toten Meer zufällig Krüge mit Schriftrollen entdeckt. Sein Onkel verkaufte sie später dem Bethlehemer Flickschuster und angehenden Antiquitätenhändler Kando. Kando verkaufte die Lederfragmente in Jerusalem. Beduinen und Forscher suchten und scharrten fortan fieberhaft an den nördlichen Küsten des Toten Meeres. Die gesamte Kulturwelt schien zeitweilig zu den Gestaden des Toten Meeres zu blicken. Es war eine ech41
te Sensation! Hatte man nicht bereits während der Regierungszeit des römischen Kaisers Caracalla, im dritten Jahrhundert, in der Nähe von Jericho Schriftrollen entdeckt? Im achten Jahrhundert schickte der nestorianische Patriarch von Seleukia, Timotheus I. (728-823), einen Brief an Sergius, den Metropoliten von Elam. Der Patriarch berichtete, in der Nähe von Jericho sei ein Hund entlaufen; während der Suche nach dem entschwundenen Tier habe man eine Höhle gefunden, in der alte hebräische Handschriften verwahrt worden waren. Juden hätten sich sofort in Jerusalem um diese Schriftrollen bemüht. »Sie fanden«, so fährt Timotheus I. fort, »Schriften des Alten Testaments und darüber hinaus apokryphe Werke in hebräischer Sprache« Thimotheus I. fügte noch an, man habe auch mehr als zweihundert Psalmentexte in diesen Höhlen gefunden. »Allgemein anerkannte und liebgewordene Ansichten«, so schrieb der angesehene israelische Archäologe Yadin nach der Entdeckung von Qumran-Schriftrollen, »über die Entstehung des Christentums und das Wissen über die Geschichte des Alten Testaments, des Talmud und des traditionellen Judentums wurden wesentlich erweitert.« Schon im Jahre 1950 veröffentlichte der Heidelberger Theologie-Professor Karl Georg Kuhn einen erstaunlichen vorläufigen Kommentar zu einer neuentdeckten Schriftrolle der Sektenregel. (Kuhn nannte sie »Sektenschrift«.) Der Gelehrte glaubte, aus dem ihm vorliegenden Text entnehmen zu können: Die Autoren dieser Handschrift hatten gelehrt, jeder Mensch müsse entscheiden, ob er den Weg der Wahrheit und des Rechtes oder die Pfade der Finsternis, der Lüge und 42
des Truges beschreiten wolle. Solche Gedanken waren den Juden vor den Jahren der Babylonischen Gefangenschaft jedoch fremd, sie konnten auch nicht der geistigen Tradition Judäas entwachsen sein, sie stimmten vielmehr, so Kuhn, »überraschend zusammen mit der ursprünglichen Predigt Zarathustras.« Zwei Jahre nach Erscheinen dieses vorläufigen Textkommentars war die gesamte Sektenregel übersetzt. Sie brachte eine Bestätigung des von Kuhn Angekündigten. Stolz konnte der Heidelberger Forscher vermerken: »Diese wichtige Schrift, die die amerikanischen Herausgeber inzwischen so sorgfältig und rasch veröffentlicht haben, bestätigt das damals von mir Gesagte in einer überraschenden Weise mit viel markanteren Parallelen, als sie die bis dahin bekannten Texte boten. Die Verfasser der Sektenschrift waren sich wahrscheinlich«, so meinte Kuhn, ihrer »Abhängigkeit von iranischem oder überhaupt von außerjüdischem Gedankengut gar nicht bewußt. Es läßt sich gut denken, daß sie nicht einmal den Namen von Zarathustra je gehört hatten.« Gedankengut des altiranischen Propheten Zarathustra wurden in Schreibstuben der jüdischen Metropole Jerusalem gepflegt? Welche Wege der Überlieferung und Vermittlung führten vom alten Iran bis hin nach Jerusalem und zu den Küsten des Toten Meeres? Hier einige kurze Bemerkungen zur Lehre des großen iranischen Sehers: Zarathustra lebte wahrscheinlich im sechsten vorchristlichen Jahrhundert. Die Griechen nannten ihn Zoroaster. Der Ort seiner Geburt ist unbekannt. Manche Forscher glauben, das uralte Kulturland Medien, im heutigen Nordwesten des Iran, sei die Heimat Zara43
thustras gewesen. Während Zarathustras Geburt sollen sich Wunder ereignet haben. Zauberer wollten den Neugeborenen töten, aber alle Versuche scheiterten. Als ungefähr Zwanzigjähriger zog sich Zarathustra von der Betriebsamkeit dieser Welt zurück und ergab sich der Meditation und der Wahrheitssuche. Ein Erzengel offenbarte ihm die Wahrheit: Ahura Mazda, der Gott des Guten und des Lichtes, ringt unentwegt mit dem Bösen. Am Ende aller Zeiten wird das Gute triumphieren, Ahriman, der Gott des Bösen, wird vernichtet. Der Mensch ist in dieses gewaltige kosmische Ringen ununterbrochen verstrickt. Auf Erden manifestiert es sich als Kampf des guten seßhaften Viehzüchters wider die räuberischen Nomaden. Zarathustra fordert seine Mitmenschen auf, den guten Kampf als Viehzüchter und als Bewahrer des Lebens auf der Seite des gütigen Gottes zu kämpfen. Die Streiter für das Gute und Lichtvolle werden der Seligkeit teilhaftig werden, sie werden auferstehen, die Belohnung im Paradiese ist ihnen sicher. Enttäuschungen blieben Zarathustra nicht erspart. Rastlos war er, ohne Anhänger zu gewinnen, unterwegs. Erst nach zehn Jahren trug sein Bemühen Früchte, seine erste Bekehrung gelang. Ermutigt von einer Aufforderung des guten Gottes Ahura Mazda, begab er sich zum Hofe des Kleinkönigs Vistapa und bekehrte den Herrscher zum Glauben an den Gott des Lichtes. Nach diesem Erfolg verbreitete sich Zarathustras Lehre sehr rasch. Zarathustra soll damals auch dem späteren König Darius seine Lehre erläutert haben. Zarathustras Verheißung triumphierte! Es war der Glau-
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be friedliebender Bauern, die ihr Vieh hochschätzten, seßhaft und beständig waren. Predigend zog Zarathustra von Ort zu Ort: Ein sittenstrenges Leben ist Gott wohlgefällig. Wer Gott liebt und verehrt ist glückselig. Zarathustra wurde immer wieder über das Leben nach dem Tode befragt. Der große iranische Prophet erläuterte seine Geschichte: Dem Menschen ist ein Leib und eine Seele zu eigen, das Materielle und das Geistige. Die Seele existiert bereits vor der Geburt. Nach dem körperlichen Tod verbleibt die Seele noch drei Tage und drei Nächte in der Nähe des Leichnams. Der gute Mensch erlebt die Vorfreuden des Paradieses. Der Böse ist in die Qualen der Hölle verstrickt. Ernten wird der Mensch, was er gesät. Nach drei Tagen muß sich die Seele einer Prüfung unterziehen. Der Gute geht ein in das Paradies. Im Paradies herrschen Licht und Gesang. Hier ist die Seele des Verstorbenen den Engeln und den Guten und Frommen nahe. Dem Bösen, dem Lügner und Betrüger, dem Gottesverächter und Schimpflichen aber weht an der Brücke der Prüfungen am vierten Tag ein fauliger, kalter Nordwind entgegen. Er erkennt seine üblen Taten, und seine Seele stürzt hinab in die Welt der Bösen, in die leidvolle Dunkelheit, in das Reich des Ahriman. Als wieder einmal plündernde Nomaden in Zarathustras Heimat einfielen, wurde der große Prophet, so glaubt man einer kargen Überlieferung entnehmen zu können, ermordet. Schriftlich wurde die Lehre Zarathustras nicht überliefert. Merksprüche wurden jedoch, zum Einprägen der wichtigsten Lehrmeinungen, verfaßt. Manche glauben, 45
diese könnten tatsächlich auf den Religionsgründer Zarathustra zurückgehen und somit seine reine Lehre widerspiegeln. Zu Beginn des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts wurde Jerusalem auf Befehl des babylonischen Königs Nabukadnezar zerstört. Viele Einwohner der Heiligen Stadt wurden nach Babylonien, in das Land der zwei Ströme Euphrat und Tigris, deportiert. Die Vertriebenen sehnten sich in ihre Heimat zurück. Ein jüdischer Seher und Dichter hat diesem Fühlen und Hoffen seiner Landsleute damals in Babylonien beredten Ausdruck verliehen. Wir nennen ihn den Zweiten Jesaja, »Deuterojesaja«. Er soll die Verse vierzig bis fünfundfünfzig des alttestamentlichen Buches Jesaja erdacht und niedergeschrieben haben. Man vermeint, auch in diesen hoheitsvollen Versen den Kampfesmut des iranischen Propheten Zarathustra verspüren zu können. Als der persische König Kyros im Jahre 539 in Babylon einzog, begrüßten ihn Priester, deren Lehren mit dem Glaubensgut Zarathustras vieles gemeinsam hatten. Kyros erlaubte den vertriebenen Juden die Rückkehr nach Jerusalem und den Wiederaufbau ihres Tempels. Heimgekehrte Juden verbreiteten in den Gassen Jerusalems zarathustrische Lehren. Aus dem fünfzehnten Psalm des Alten Testamentes möchte man geradezu einen Widerhall der Lehre Zarathustras heraushören: »Wer untadelig lebt und tut, was recht ist, und die Wahrheit redet von Herzen, wer mit seiner Zunge nicht verleumdet, wer seinen Nächsten nichts Arges tut und seinen Nachbarn nicht schmäht; wer die Verworfenen für nichts achtet, aber ehrt die Gottesfürchtigen; wer seinen Eid hält, auch wenn es ihm schadet; wer sein 46
Geld nicht auf Zinsen gibt und nimmt nicht Geschenke wider den Unschuldigen. Wer das tut, wird nimmermehr wanken.« Liest man den neunzehnten Psalm, fühlt man sich ebenfalls an heilige Verse Zarathustras erinnert: »Bewahre auch deinen Knecht vor den Stolzen, daß sie nicht über mich herrschen; so werde ich ohne Tadel sein und rein bleiben von großer Missetat. Laß dir Wohlgefallen die Rede meines Mundes und das Gespräch meines Herzens, Herr, mein Fels und mein Erlöser.« Zarathustra könnte seinen Gott Ahura Mazda so angefleht, ihm, dem Gott des Lichtes und des Guten, so gedankt haben, neben dem heiligen Feuer, inmitten der grandiosen Bergwelt des Iran. In der freien Natur, in der stillen Einsamkeit ihres Hochlandes beteten damals die Iraner. Tempel kannten die frühen Anhänger Zarathustras nicht. Der Gottabgewandte wurde fortan in Jerusalem gehaßt und verachtet. Gottergebene wurden hingegen geehrt und gepriesen. Auch Priester waren hochgeachtet. Sie brachten die Opfer dar und handhabten die Reinigungszeremonien. Auch für Juden war das Feuer fortan heilig; es mußte im Tempel unentwegt brennen. Es verbürgte kultische Reinheit und wurde Symbol des jüdischen Glaubens. Die großen Ereignisse des Lebens wurden nunmehr auch in Jerusalem festlich begangen. Man glaubte hinfort auch in Jerusalem an das Kommen eines Erlösers, so wie es bereits Zarathustra verheißen hatte. Nach seinem Erscheinen wird die Welt in apokalyptischen Schauern erzittern. Licht wird mit der Dunkelheit, das Gute wird mit dem Bösen streiten. An 47
aller Tage Ende wird der Menschensohn triumphieren. Er wird die Welt erneuern. Gott wird die Auferstehung der Toten bewirken. Alle werden gerichtet. Der jüdische Gott Jahwe wird ein gerechter Richter sein. Damals haben sich manche von Babylon zurückgekehrte Juden in Jerusalem von dem Glauben, Jahwe mit blutigen Opfern freundlich stimmen zu können, abgewandt, denn im nahen Tempel triefte damals das Blut geopferter Tiere von den Altären. »Meinst du, daß ich Fleisch von Stieren essen wolle oder Blut von Böcken trinken?« rief der zweite Jesaja, der Verfasser des fünfzigsten Psalms. »Opfere Gott Dank und erfülle dem Höchsten deine Gelübde und rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten, und du sollst mich preisen.« Jüdische Anhänger der vergeistigten Lehren Zarathustras, sie mögen den Namen des großen iranischen Sehers niemals vernommen haben, sollen sich damals von Jerusalem abgewandt und zu dem ungefähr sechs Wegstunden entfernten Nordufer des Toten Meeres gezogen sein, um fernab von den rauchgeschwärzten Altären das Röcheln der Opfertiere nicht mehr vernehmen zu müssen. Konnten Wissenschaftler den Weg vom Zweistromland bis zu den Ufern des Toten Meeres nachzeichnen? Der Sprachforscher und Archäologe William F. Albright war von dieser »Babylon-Hypothese« sehr angetan. Albright argumentierte: Für die Essener waren die Jesajaschriften sehr bedeutsam. Die Überzeugung fast aller Fachwissenschaftler, der Zweite Jesaja habe während der Babylonischen Gefangenschaft in Babylon gelebt, wurde nunmehr von Albright bestätigt, denn Albright konnte aus dem Buch des Deuterojesaja ge48
nuin-babylonische Eigenheiten herauslesen. Auch diese wissenschaftliche Leistung Albrights ließ die gelehrte Welt aufhorchen. Darüber hinaus, meinte Albright, das Interesse, das die Essener Pflanzen und Steinen entgegenbrachten, ihre Lustrationen, ihr Anrufen Gottes vor Tagesgrauen, ihr betontes Hinwenden gen Osten während des Betens zeigten, daß das Glaubensgut der Essener im Osten, im Zweistromland, entstanden sei. Allerdings hat Albright vermutet, die Essener seien nicht im sechsten, sondern im zweiten vorchristlichen Jahrhundert nach Palästina gewandert; es sei »wahrscheinlich eine zweite jüdische Gruppe«, die Babylonien verlassen hätte, gewesen. Auch Albright glaubte, die von Essenern an Küsten des Toten Meeres vollführten Taufrituale auf babylonische Ursprünge zurückführen zu können. Albright berief sich auf eine Mitteilung des Kirchenschriftstellers Hippolytus (gest. um 235). Hippolytus erwähnt Sektenleute, die ihr Taufritual im fließenden (!) Wasser des Euphrat vollzogen. Und Albright vergleicht die Ausführungen des Hippolytus mit den Worten des Johannes-Evangeliums: »Wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt, von des Leibe werden Ströme lebendigen Wassers fließen.« (7,38) Auch Jesus hatte sich von Johannes im fließenden Wasser des Jordan taufen lassen. In der Nähe der heutigen Stadt Nablus sprach Jesus mit einer Samaritanerin. Er zeigte auf den zweiunddreißig Meter tiefen sogenannten Jakobsbrunnen und sagte zu der Samaritanerin: »... und er gäbe dir lebendiges Wasser.« (Johannes 4.10) Ganz deutlich hat Jesus den Glauben an die uralte Wassersymbolik kurz danach ausgesprochen: 49
»... das Wasser, das ich ihm geben werde, das wird in ihm ein Brunnen des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt.« (4,14) Offensichtlich spiegeln sich auch in diesen Worten Urerinnerungen an die angeblich so heilsame Wirkung der großen Ströme des Ostens. Albright entdeckte in diesem Zusammenhang: Das Taufen im fließenden Wasser war an den Ufern des Euphrat, im Zweistromland, seit etwa achtundzwanzig Jahrhunderten vor bis zum dritten Jahrhundert nach Christus üblich. Urahnen der Essener mögen sehr wohl, wie die Verfechter der »Babylon-These« glauben, von den Ufern der zwei großen Ströme Euphrat und Tigris nach Jerusalem und weiter bis zum Jordanufer und in die Nähe der Nordküste des Toten Meeres gewandert sein. Großen jüdischen Sehern waren Lehren Zarathustras durchaus noch gegenwärtig. Die Glaubenswelt Zarathustras wird in acht alttestamentlichen Büchern rühmend genannt. Keiner anderen Religion ist eine auch nur annähernd so große Wertschätzung zuteil geworden. Im Buch des Deuterojesaja wird König Kyros »mein Hirte« (44,28) und sogar »Messias« (45,1) geheißen. Im Neuen Testament lesen wir: »Wir haben den Messias gefunden, das ist verdolmetscht: der Gesalbte.« (Johannes 1,41) Die Religionsphilosophie des altiranischen Propheten Zarathustra hat drei Weltreligionen – Judentum, Christentum und Islam – maßgeblich beeinflußt. Ungefähr hunderttausend Parsen, Perser und Inder bekennen sich auch heute noch zu der »reinen Lehre« des großen Zarathustra. Waren auch Jesus »von Nazareth« Lehren Zarathustras vertraut? Wahrscheinlich hat Jesus in 50
seiner galiläischen Heimat manchmal mit Zarathustriern gesprochen, denn Galiläa war ein Durchgangsland; Glaubensboten aus allen Bereichen der damaligen Kulturwelt kamen nach Galiläa. Jesus hat das Jesajabuch ebenfalls sehr geschätzt. In Höhlen am Toten Meer wurden mehrere Jesajaschriftrollen entdeckt. Man darf deshalb vermuten, daß diesem Buch in Jesu Tagen große Bedeutung beigemessen wurde. Am Rande der Kolumnen einer solchen Jesajaschriftrolle hat ein Unbekannter rätselhafte Kreuzeszeichen gemalt. Nachfolgend einige Passagen dieses Jesajabuches, an dessen Rand wir uns das Kreuzeszeichen zu denken haben: »Siehe, es wird ein König regieren, Gerechtigkeit aufzurichten.« (32,1) »Siehe, das ist mein Knecht – ich halte ihn – und mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat.« (42,1) »Siehe, ich habe ihn den Völkern zum Zeugen bestellt, zum Fürsten für sie und zum Gebieter.« (55,4) Hat ein Essener, als er die Kreuze malte, an Jesu Leben und Sterben gedacht? Vielleicht gab uns der Bischof Epiphanius (um 315 bis 403) einen Fingerzeig: Epiphanius überliefert, die Essener hätten sich des Kreuzeszeichens bedient. Waren die zwei Mitgekreuzigten Jesu auf Golgatha Essener? Hatten alle drei den essenischen Treue- und Schweigeeid feierlich abgelegt? Jünger Jesu und einige Umstehende, neugierige Juden und römische Auxiliarsoldaten, werden es gewußt haben; auch deshalb mag dem Verfasser des Johannes-Evangeliums eine entsprechende Mitteilung als überflüssig erschienen sein! Vielleicht wollte Johannes Jesu Mitgliedschaft zum 51
inneren Kern der essenischen Bruderschaft für die Kundigen mit den Worten andeuten: »Niemand hat größere Liebe denn die, daß er sein Leben läßt für seine Freunde.« (15,13) Auf Golgatha soll Jesus einem der neben ihm Gekreuzigten zugerufen haben: »Wahrlich, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein!« (Lukas 23,43) Das griechische Wort paradeisos, das Lukas verwendet, entstammt dem Awestischen, der Muttersprache Zarathustras. Im Awestischen heißt es pairidaeza. Von dort hat es wahrscheinlich auf dem Weg über Babylonien auch Eingang in das Hebräische gefunden. Die im sechsten vorchristlichen Jahrhundert von Babylon nach Jerusalem zurückgekehrten Juden verbreiteten in der Heiligen Stadt also nicht nur Lehren Zarathustras, sie brachten in die wiedergewonnene Heimat auch awestisch-iranische, seiner Muttersprache zugehörige Wörter mit.
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Die verräterische Qumran-Tempelrolle Das im großen Tempel Jerusalems vollzogene kultische Schlachten war den Essenern nur allzugut bekannt. Wegen der immerfort in Jerusalem dargebrachten Tieropfer hatten sich frühe Angehörige der Täufersekte ja von Jerusalem abgewandt und waren in die Wüste, zu den Küsten des Toten Meeres und zu den Ufern des Jordan gezogen. Die Essener ekelte es vor den bluttriefenden Opfern der Jerusalemer Priester. Man darf sich deshalb fragen, ob in Höhlen am Toten Meer nicht auch Schriftrollen gefunden wurden, die dem Abscheu wider das rituelle Töten beredten Ausdruck verleihen. Im Jahre 1960 hatte ein Geistlicher des US-Staates Virginia brieflich dem Archäologen Yigael Yadin eine Qumran-Schriftrolle angeboten. Es sei ein »Millionengeschäft«! Schließlich kam es an den Tag: Kando verwahrte im damals jordanischen Bethlehem immer noch eine sehr wertvolle Schriftrolle. Kaum hatten israelische Soldaten während des Sechstagekrieges Bethlehem eingenommen, bat Yadin, damals hoher Offizier des israelischen Heeres, nachmaliger stellvertretender Ministerpräsident, einen Oberstleutnant des israelischen Sicherheitsdienstes namens Goren, den Verbleib der wertvollen Handschrift in Bethlehem ausfindig zu machen. Schon am folgenden Tag übergab Goren seinem Auftraggeber Yadin die Schriftrolle, so wie er sie entdeckt hatte, in einem Schuhkarton. Fragmente hatte Goran zusätzlich in einem Zigarrenkistchen vorgefunden. Bei 53
näheren Hinschauen zeigte sich, daß die Schriftrollen wahrscheinlich in einem Kellerraum versteckt worden waren, denn Feuchtigkeit hatte den wertvollen Handschriften arg zugesetzt. Angeblich wurde Kando eine Entschädigung in Höhe von hundertfünfzigtausend Dollar ausgezahlt. Ich habe in Bethlehem sowohl den Sohn wie auch den Enkel Kandos gefragt, ob es mit diesem Betrag seine Richtigkeit habe. Beide lachten irritiert, beantworteten meine Frage jedoch nicht. Yadin hatte damals, nach der Entdeckung dieser QumranSchriftrolle, mit berechtigtem Stolz vermerkt: »Wahrscheinlich handelt es sich um die bedeutsamste der Schriftrollen vom Toten Meer, die bislang zutage gekommen sind ...« Fachleute und interessierte Laien warteten hoffnungsvoll auf die Entzifferung und Veröffentlichung des Handschriftenfundes. Ende des Jahres 1977 wurde die Weltöffentlichkeit informiert; der schlechte Erhaltungszustand der Schriftenrollen hatte diese Verzögerung verursacht. In der von Yadin erworbenen Schriftrolle finden sich die teilweise verstümmelten Bemerkungen: »... und die Köpfe der Stiere binden an die Ringe ...« »... Dann sollen sie sie töten und ihr Blut in den Becken auffangen ...« »... und es gegen die Altarbasis werfen ...« »... die Räder und die Häute der Stiere vom Fleische lösen und sie aufschneiden ...« »... in Stücke, die Stücke mit Salz salzen und die Eingeweide und die Beine waschen, sie mit Salz salzen und verbrennen ...« 54
»... im Feuer, das auf dem Altar ist, jeden Stier und seine Stücke für sich; und das Getreideopfer aus feinem Mehl darauf ...« »... und den Wein vom Trinkopfer dabei, wovon darauf gegossen wird. Und die Priester, die Söhne des Aaron, sollen alles darbringen ...« »... auf dem Altar, ein Brandopfer, ein gefälliger Duft vor dem Herrn ...« »... Und du sollst Ketten machen, die von der Decke der zwölf Säulen herabhängen ...« Was hat das alles zu bedeuten? Yadin nannte das Dokument »Tempelrolle«. Er erläutert: »Da gibt es eine Decke, die von zwölf Säulen getragen wird; Ketten, die von dieser Decke herabhängen; Ringe, an die die Tiere gebunden sind; Räder, die das Fesseln und Loslassen der Tiere regulieren sollen; ferner einen Gegenstand, der irgendwie mit ›zwischen den Säulen‹ und dem Bronze-Untersatz zu tun hat. Jedes dieser Elemente hatte in den Vorschriften für das rituelle Schlachten seinen Platz: Die Fleischstücke sollten getrennt vom Getreide und dem Trinkopfer aufgestapelt werden. Diese detaillierten Angaben in der Schriftrolle sind allein schon von sensationeller Bedeutung.« Oftmals hatte man sich über das rituell richtige Schlachten gestritten. Wahrscheinlich hat sich deshalb der Autor der sogenannten Tempelrolle so ausführlich mit den Opferritualen beschäftigt: Er beschreibt das Haus des Reinigungsbeckens, das Schlachthaus, das Haus des Altargerätes und die überdachte, dem Sortieren der Opfertiere zugedachte Säulenhalle des Jerusalemer Tempels. 55
Weshalb aber dieses fortwährende kultische Schlachten und Opfern und all die vielen, nach Meinung der Priester dazugehörigen Vorkehrungen? Fleisch und Häute von auswärts getöteten Tieren durften beispielsweise nicht in die Tempelstadt gebracht werden! Warum? »Es ist sicherlich möglich«, so meint Yadin, »daß sich hinter dieser oft wiederholten strikten Anweisung ein materielles Interesse der Priester verbarg, weil die Bevölkerung dann solcherart reine Tierhäute kaufen mußte. Dies trifft im übrigen für viele Opferanweisungen zu, wie sie im Pentateuch niedergelegt sind.« (Pentateuch ist griechisch und bedeutet das fünfteilige Buch. Es ist die Alexandrinische Bezeichnung der Thora, des jüdischen Gesetzes, der ersten fünf alttestamentlichen Bücher, der sogenannten Bücher Mose.) Jesus hatte bereits als Zwölfjähriger die blutige Geschäftigkeit im Jerusalemer Tempel miterlebt. Jahre danach mag er sich mehrmals auf den Höhen des Ölberges und in der Nähe von Bethanien im Schatten knorriger Olivenbäume niedergelassen, auf den jenseits des Kedrontales gelegenen Tempel gezeigt und das ununterbrochene Töten in Gegenwart seiner Jünger und Neugieriger zornig verurteilt haben. Dem Glauben, den Gott der Juden mit Tieropfern gütig stimmen oder beschwichtigen zu können, hielt Jesus das Gebot der Verinnerlichung entgegen. In diesem Sinne mögen wir auch seine Worte über das Beten verstehen: »Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht sein wie die Heuchler, die da gerne stehen und beten in den Synagogen und an den Ecken auf den Gassen, auf daß sie von den Leuten gesehen werden. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn dahin. Wenn du aber be56
test, so gehe in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten.« (Matthäus 6,5) Oftmals werden Zuhörer solche Lehren den einflußreichen und auf materiellen Gewinn bedachten Kultpriestern zugetragen haben! In unmittelbarer Nähe des Jerusalemer Tempels war Jesu Predigen damals sicherlich ein unerhörtes und lebensgefährliches Unterfangen. Jesus verbrachte die letzten Tage vor der Kreuzigung in Jerusalem. Sehr viele Pilger waren damals in der Heiligen Stadt; aus vielen Bereichen des römischen Weltreiches waren sie nach Jerusalem gewallfahrt. Manche wollten das ihrem Gott zugedachte rituelle, »heilige Schauer« auslösende qualvolle Sterben vieler Tiere miterleben. Archäologen haben neuerdings festgestellt: Die Entfernung zwischen dem Allerheiligsten des Jerusalemer Tempels und dem Altar betrug nur ungefähr elf Meter. Dieser steinerne Brandopferaltar war die zentrale Kultstätte des großen jüdischen Heiligtums. Die Opfertiere wurden wahrscheinlich nördlich des Altars getötet und aufgehängt, so wie es in der Tempelrolle angedeutet wird. Für das Verbrennen benutzte man Holz von Pinien, Feigenbäumen und Nußbäumen, jedoch nicht von Olivenbäumen. »So fanden sich denn die Juden«, schrieb der Archäologe Andre Parrot, »welche die Reinheit nach dem Gesetze besaßen, in den Stunden gottesdienstlicher Handlungen in Scharen ein, um zu beten oder um der Darbietung des Opfers beizuwohnen.« An Tagen des Laubhüttenfestes, erzählt Parrot, durften die 57
Gläubigen,sogar in den Hof der Priester gehen, »um siebenmal um den Altar herumzuziehen, den der Hohepriester mit Wasser besprengte«. Jesus erwähnte einen Zacharias, »welchen ihr getötet habt zwischen Tempel und Altar.« (Matthäus 23,35)
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Schriftrollen der Festung Masada und die Zeloten Waren die Essener friedvolle Mönche oder todesmutige Freiheitskämpfer? Der israelische Archäologe Yadin glaubte, das bedeutsame Problem endgültig gelöst zu haben: Zwischen dem verbliebenen Gemäuer der Qumransiedlung fanden Ausgräber Pfeilspitzen. Lebten in diesen Gebäuden Zeloten, Männer, die das römische Joch als Gotteslästerung empfanden und deshalb keine Gefahren im Kampf gegen das Römertum scheuten? Als der römische Statthalter Syriens, Sulpicius Quirinius, im Jahre 6 unserer Zeitrechnung nach Judäa kam, eine Volkszählung anberaumte und sich anschickte, das Land der Juden im Namen des römischen Kaisers zu besetzen, entfachte ein »Judas von Galiläa« einen Aufstand; denn eine Volkszählung bedeute, so meinte er, eine Verletzung des jüdischen Glaubens. Nur dem Ewigen Gott seien die Juden Untertan. Judas von Galiläa und ein Pharisäer namens Zado sollen die Begründer dieser Freiheitsbewegung gewesen sein. In der Stadt Sepphoris, nur eine Wegstunde von dem Flecken Nazareth entfernt, eroberte Judas von Galiläa mit Gefolgsleuten das Waffenlager des Herodianischen Palastes. Die Zeloten in Sepphoris wurden schließlich besiegt. Judas von Galiläa gelang die Flucht. Der jüdische Geschichtschreiber Josephus erwähnt nicht, wie Judas von Galiläa endete. In der Apostelgeschichte wird jedoch überliefert: »Danach stand auf Judas aus Galiläa in den Tagen der Schätzung und machte viel Volks abfällig ihm nach; und der ist auch umgekommen, und alle, die ihm zufielen, sind zerstreut.« (5,37) 59
Jesus wird die fanatische Regsamkeit der Aufständischen in seiner galiläischen Heimat nicht entgangen sein. Die Söhne des Judas von Galiläa waren ebenfalls Zeloten. Sie wurden während der Statthalterschaft des Römers Tiberius Alexander – ihm oblag die Verwaltung Judäas vom Jahre 46 bis zum Jahre 48 – ans Kreuz geschlagen. Der dritte Sohn des Judas, Menahem, war während des römisch-jüdischen Krieges ein Anführer der Freiheitskämpfer. Archäologen haben in der galiläischen Heimat Jesu viele Zeugen zelotischer Aktivität entdeckt. Die Archäologen M. Har-El und M. Avi-Yonah untersuchten in Galiläa, am Berge Tabor, in Sepphoris, an Küsten des Sees Genezareth an anderen Orten Überreste zelotischer Festungen. Betrachtet man die Lage der vielen nördlich von Jerusalem gebauten zelotischen Bastionen auf einer Landkarte, gewinnt man den Eindruck: Die Aufständischen mieden die Nähe der Meeresküste. Die Küstenbewohner waren den Juden zwar nicht zugetan, die Gefahr drohte jedoch aus dem von römischen Soldaten und römischen Hilfstruppen besetzten Norden; deshalb war die Befestigungslinie der Zeloten diesem Gebiet zugewandt. Die seit den Jahren der Babylonischen Gefangenschaft existierende Verbindung zwischen Palästina und der jüdischen Gemeinde Babylons findet in der Anordnung der zelotischen Befestigungen eine interessante Bestätigung: Die Bastionen wurden in der Nähe der Verkehrswege, die nach Babylon führten, angelegt. Notfalls versprachen sich die Aufständischen Hilfe von ihren Brüdern und Schwestern, die jenseits der Wüste, im Zweistromland, lebten. Während des großen römisch-jüdischen Krieges wurde in sieben der insgesamt 60
neunzehn Zelotenfestungen gegen römisches Militär gekämpft. Nach der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 stürmten römische Legionäre über die Qumransiedlung hinweg und belagerten die hochaufragende, südlich von Qumran gelegene Wüstenfeste Masada. Hierher hatten sich zelotische Kämpfer zurückgezogen. Sie hatten sich verschanzt. Als sie Masada nicht mehr verteidigen konnten, zerstörten sie ihre Gebäude und töteten ihre Frauen, Greise und Kinder. Danach bestimmte das Los, welche Zeloten ihren Kameraden den letzten Dienst erweisen sollten. Ungefähr neunhundertsechzig Verteidiger starben, und nur zwei alte Frauen, sie hatten sich mit Kindern versteckt, sollen überlebt haben. Yigael Yadin, ein Sohn des israelischen Archäologen E. L. Sukenik, fand auf dem Masadafelskoloß Schriftrollen. Dieser Fund hat viele gelehrte Auseinandersetzungen entfesselt. »Die Einzelheiten dieser Entdeckung«, erzählt Yadin, »sind mir lebhaft im Gedächtnis geblieben. In den frühen Nachmittagsstunden, als ich gerade in den nördlichen Vorratsgebäuden zu tun hatte, kam Shmaryahu Guttmann mit einigen ihm zugeteilten freiwilligen Helfern herbeigelaufen und schwenkte triumphierend ein Pergament. Es war schwarz und so zerknittert, daß darauf kaum etwas zu erkennen war. Aber eine rasche Untersuchung an Ort und Stelle ergab, daß es sich um eine Passage aus dem Psalter handelte. Es gelang sogar, die Psalmen 81 und 85 zu identifizieren.« Die Fragmente wurden von einem Experten, Professor Bieberkraut, behandelt und mit einem Infrarotfilm abgelichtet. Jetzt konnte man die Psalmen einwandfrei lesen. Nachfolgend eine Übersetzung des 61
Textes: »Höre, mein Volk, ich will dich ermahnen. Israel, du sollst mich hören! Kein andrer Gott sei unter dir, und einen fremden Gott sollst du nicht anbeten! Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägyptenland geführt hat.« (Psalm 81) Und hier der von Yadin entzifferte Ausschnitt aus dem Psalm 85: »... Hilf uns, Gott, unser Heiland, und laß ab von deiner Ungnade über uns! Willst du denn ewiglich über uns zürnen und deinen Zorn walten lassen für und für? Willst du uns denn nicht wieder erquicken, daß dein Volk sich über dich freuen kann? Herr, erweise uns deine Gnade und gib uns dein Heil!« Wer hatte diese Schriftrolle nach Masada gebracht? Nach langen Erörterungen kam Yadin zu dem Schluß: »Mir scheint, daß die Schriftrolle die Beteiligung der Essener am Aufstand gegen die Römer bezeugt.« Eine ebenso überraschende wie auch erstaunliche These. Und Yadin bemüht sich auch gleich um einen Nachweis: »Aus irgendeinem Grund wird von den Essenern ein entstelltes Bild überliefert, das zum größten Teil durch den Bericht des Philo entstanden ist; denn man hat aus dieser Beschreibung ableiten wollen, daß die Essener im modernen Sinne Pazifisten gewesen seien. Diese These scheint aber nicht haltbar. Sie beteiligten sich nicht an Kriegen, die ihren Anschauungen zuwiderliefen, das heißt die nicht von Gott gewollt waren. Setzen wir aber voraus, sie seien zu der Überzeugung gelangt, daß der große Aufstand den befohlenen Krieg gegen die Römer bedeutete, so konnte es auch für sie keinen Grund geben, sich fernzuhalten.« In diesem Zusammenhang verweist Yadin auf die Schriften des Josephus; dieser erwähnt unmißver62
ständlich die Teilnahme der Essener am jüdisch-römischen Krieg. Er kannte Anführer der Revolte sogar namentlich und nennt auch einen ›Johannes der Essener‹. Dieser war wahrscheinlich nicht der einzige Essener unter den Aufständischen, vielmehr, so folgert Yadin, nahmen wohl eine ganze Anzahl Essener am Aufstand teil und zogen sich mit ihren Kampfgefährten auf den einzig noch verbliebenen Stützpunkt, d. h. Masada, zurück. Man darf nun als selbstverständlich voraussetzen, daß die verschiedenen religiösen Gruppen ihre heiligen Schriften mitnahmen, so auch die Essener. Hier liegt meiner Ansicht nach die Erklärung für den Fund der Qumran-Rolle in Masada.« Somit hätten sich nicht nur Zeloten, sondern auch Essener an dem Kampf gegen die römische Besatzungsmacht beteiligt! Viele Jahre vor Ausbruch des römisch-jüdischen Krieges, zu Lebzeiten Jesu, gärte es bereits in Galiläa und in Judäa. Stand Jesus in der Tat militanten Essenern nahe? Reichten sich während des großen jüdisch-römischen Krieges Essener und Zeloten die Bruderhand?
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Nur für Juden: Der geheime Fingerzeig des Markus Für den römischen Kaiser, für Beamte und Einwohner Roms und freilich auch für römische Besatzungstruppen Palästinas waren die Zeloten die Urheber des jüdischen Aufstandes. Jesus war ein Galiläer, und »Galiläer« war für viele NichtJuden gleichbedeutend mit Zelot! Man darf deshalb vermuten, daß der Evangelist Markus mögliche Kontakte Jesu zu Zeloten verheimlichte. Einen merkwürdigen und bedeutsamen Fingerzeig hat er jedoch versteckt gegeben. Das Markus-Evangelium entstand, bevor die Evangelisten Matthäus, Lukas und Johannes zur Feder griffen. Der Evangelist Markus nennt den Apostel Simon »Kananäus« (3,18). Dies konnte bedeuten »Ein Mann aus Kana«. Kana war ein ländlicher Flecken Galiläas. In Kana, in der Nähe von Nazareth, soll sich ja auch während einer Hochzeitsfeier in Gegenwart Jesu das Weinwunder zugetragen haben. »Kananäus« war für die Juden des ersten Jahrhunderts aber auch gleichbedeutend mit Eiferer, Aufständischer, mit »Zelot«! Welcher NichtJude konnte wissen, was mit »Kananäus« gemeint war? Die Juden jedoch wußten wahrscheinlich genau, was Markus andeuten wollte: So konnte der Evangelist Markus seinen heidnischen, nichtjüdischen Lesern das damals Verdächtige – Jesu Gemeinschaft mit einem Zeloten – vorenthalten. Auch der Evangelist Matthäus schrieb: »Die Namen aber der zwölf Apostel sind diese: der erste Simon, genannt Petrus ..., Simon Kananäus und Judas Ischarioth, welcher ihn verriet.« (10,2.4) 64
Da Jesus unter seinen zwölf Aposteln zumindest einen Zeloten duldete, wird, so darf man folgern, sein Glaube mit den Zielen der Aufständischen nicht völlig unvereinbar gewesen sein. Mit anderen Worten: Wir haben im Markus-Evangelium das »missing link« zwischen Aufständischen und einem Jünger Jesu entdeckt! Als der Evangelist Lukas hingegen einige Jahre nach dem Untergang Jerusalems seine Version von Jesu Leben und Wirken niederschrieb, war die unmittelbare Gefahr für Angehörige der Jesus-Bewegung vorüber, und Lukas konnte die bislang so anstößige Bezeichnung tatsächlich verwenden. Lukas berichtete, Jesus habe nächtens auf einem Berg gebetet, und er fährt fort: »Und da es Tag war, rief er seine Jünger und erwählte aus ihnen zwölf, welche er auch Apostel nannte: Simon, welchen er auch Petrus nannte, und Andreas, seinen Bruder, ... und Simon, genannt der Zelot.« (6,1314.16) Lukas überlieferte auch: »Und als sie hineinkamen, stiegen sie hinauf in das Obergemach des Hauses, wo sie sich aufzuhalten pflegten: Petrus ... und Simon der Zelot und Judas, des Jakobus Sohn.« (Apostelgeschichte 1,13) Dieses Zusammensein fand in Jerusalem im Essenerstadtteil oder in dessen unmittelbarer Nähe kurz nach Jesu »Himmelfahrt« statt.
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Schriftrollen wurden in urchristlicher Zeit vernichtet Im September 1952 fand man in Höhlen am Toten Meer nicht weniger als acht aramäische Originaltexte des so lange verloren geglaubten Henochbuches. Angeblich waren Essener maßgeblich an der Entstehung der Hanochschriften beteiligt. In Zeiten der Not suchten die Autoren dieser apokalyptischen Schriften Hilfe und Trost in ihren Visionen. In ihren Schriften wird das Kommen eines Erlösers, der Untergang dieser unheilvollen Welt, ein Weltgericht, Auferstehung der Toten und der Anbeginn eines messianischen Königreiches vorausgesagt. Für Jesus könnte das Buch Henoch eine Art Vademekum gewesen sein. Eine solche Schrift hatte man ständig zur Hand. In ihr fand man Trost und Erbauung. Nach Qumran wurde erst recht verständlich, weshalb man apokalyptische Schriften schon im vierten Jahrhundert als »apokryph«, geheim und verborgen, abgetan und nicht dem Corpus der biblischen Schriften einverleibt, ja sie sogar vernichtet hatte. Was man sich nämlich der Verkündigung Jesu ausschließlich zugehörig wünschte, fand sich schon in Schriften, die vor der Geburt Jesu entstanden waren. Man wollte das Verwobensein der Lehren Jesu mit Predigten und Verheißungen früherer Propheten nicht wahrhaben. Was immer an die landauf und landab so regsamen essenischen Glaubenskünder erinnerte, wurde deshalb ausgeschieden. Nur noch das geschulte Auge kann heute zwischen den Zeilen des Neuen Testaments auch Gedankengut der Essener herauslesen. 66
Schon im neunzehnten Jahrhundert suchten Wissenschaftler verschollene, für das Werden der Jesus-Bewegung jedoch bedeutsame Schriften. Sie wurden fündig. In diesem Zusammenhang ist auf die Entdeckung und wissenschaftliche Auswertung des in der altäthiopischen Geez-Sprache erhalten gebliebenen Henochbuches hinzuweisen. Henoch war ein Eingeweihter, er wußte um das Verborgene. Ein Äthiopier, der den Glauben der Essener kennenlernen wollte, wanderte zu den Küsten des Toten Meeres. Hier hat er angeblich ein in der aramäischen Ursprache, der Muttersprache Jesu, verfaßtes Buch Henoch erworben und in seine Heimat mitgenommen. Viele Jahrhunderte später, im achtzehnten Jahrhundert, stellte der schottische Orientalist James Bruce fest, daß man das Buch Henoch dem biblischen Kanon nicht einverleibt hatte. Bruce vermutete: Äthiopier hatten schon in sehr frühen Tagen eine Henochhandschrift erworben und übersetzt. Während einer kühnen und abenteuerlichen Expedition (1768-1773) entdeckte der wagemutige Schotte in Äthiopien tatsächlich drei, in die altäthiopische GeezSprache übersetzte Exemplare des Buches Henoch. Er nahm sie mit nach England. Ein Exemplar kam in die Königlich-Französische Bibliothek, das zweite erhielt die Oxforder Bodleian-Bibliothek, das dritte Exemplar hat Bruce in seiner privaten Bibliothek verwahrt. Wer konnte aber damals in England ein so anspruchsvolles Buch in der Geez-Sprache lesen? Erst im Jahre 1821 schuf Richard Laurence, Professor für Hebräisch, eine englische Ausgabe. 1853 erschien eine Übersetzung des Henochbuches aus der Feder des deutschen 67
Orientalisten Karl Friedrich Dillmann, und im Jahre 1890 erklärte der evangelische Neutestamentier Heinrich Holtzmann, seiner Meinung nach sei das Henochbuch zumindest teilweise essenischen Ursprungs. Religionswissenschaftler beschäftigten sich mehr und mehr mit diesem apokryphen Werk. Man ahnte bereits, daß hier, obgleich man das Buch im vierten Jahrhundert ausgeschieden und sogar die letzten hebräischen Handschriften vernichtet hatte, sehr enge Zusammenhänge mit neutestamentlichen Schriften bestanden. Schon ein Jahr nach Holtzmanns Entdeckung erschien in Edinburgh das Werk Pseudepigrapha. Der Verfasser, Reverend William J. Deane, hat hier aus seinen Unmut keinen Hehl gemacht und vermerkt indigniert, man verlange zu glauben, »... unser Herr und seine Apostel hätten bewußt oder unbewußt in ihren Reden und Schriften Ideen und Ausdrücke, die unzweifelhaft auf das Buch Henoch zurückzuführen seien, gebraucht«. Reverend Deane beruhigte gleichzeitig seine Leser, indem er mit einem Seitenblick auf einen namentlich nicht genannten Autor anfügte: »Wenige voreingenommene Leser werden der Meinung dieses Autors, der bestrebt zu sein scheint, den Ursprung des Christentums zu leugnen und ihn auf lediglich menschliches Bemühen zurückzuführen, zustimmen. Behauptet doch dieser Autor, das Buch Henoch sei die menschliche Quelle gewesen, aus der die Evangelisten und Apostel ihre Ideen der Auferstehung, des Letzten Gerichtes, der Unsterblichkeit und des Menschensohnes entnommen hätten.« Wahrscheinlich hatte Deane den Franzosen Ernest Renan im Auge. Der Theologe, Geschichtsforscher und Philosoph Renan (1823-1892) hatte mit sei68
nem im Jahre 1863 erschienenen und später in vielen Kultursprachen immer wieder aufgelegten Werk La Vie de Jesus Weltruf erlangt. Im Jahre 1893 veröffentlichte Robert Henry Charles, Professor für biblisches Griechisch in Dublin, sein monumentales Werk Das Buch Henoch und kam zu dem Schluß: »Diese in Jesu Muttersprache, dem Aramäischen, verfaßte Schrift, obgleich vor ungefähr eintausendfünfhundert Jahren nicht mehr wert befunden, dem Kanon der Kirche zugeordnet zu werden, hatte einen überaus nachhaltigen Einfluß auf das Werden der neutestamentlichen Lehren und sogar auf die von den Evangelisten gebrauchte Ausdrucksweise ausgeübt.« Die Entdeckung von acht in der Muttersprache Jesu verfaßten Henochschriftrollen in Höhlen am Toten Meer hat Vermutungen namhafter Religionsforscher und Theologen des neunzehnten Jahrhunderts bestätigt: In Jesu Tagen schrieb man dem Buch Henoch große Bedeutung zu. Das sogenannte Zweite Buch Henoch, auch Das Buch der Geheimnisse des Henoch genannt, wurde ursprünglich in griechischer Sprache von einem in Ägypten wohnhaften Juden in der kritischen Zeit der werdenden Jesus-Bewegung, ungefähr im Jahre 50, also vor der Niederschrift der Evangelien, verfaßt. Der Autor dieser Schrift war der Volksreligion verpflichtet. Dieses Zweite Buch Henoch ist nur in altslawischer Übersetzung überliefert. Man hat dieses Buch den Background des Neuen Testaments genannt. Einige vor der Entdeckung dieses Henochbuches sehr dunkle Lehren des Neuen Testaments werden erst beim Lesen dieses Buches ganz verständ69
lich. Sogar Ähnlichkeiten des Sprachgebrauchs dieses Henochbuches und des Neuen Testaments springen in die Augen, ganz abgesehen von den überraschenden gedanklichen Übereinstimmungen sehr vieler Aphorismen. Beim Lesen eines Abschnittes des Zweiten Henochbuches fühlt man sich geradezu an die Bergpredigt Jesu erinnert: »Selig ist«, verkündete Henoch, »wer fürchtet den Namen des Herrn und vor seinem Angesicht immer dient und ordnet Gaben mit Furcht, Opfer des Lebens, und das ganze Leben gerecht lebt und stirbt ...« Weiter lesen wir: »Der Waise und der Witwe und dem Fremdling reichet dar eure Hände entsprechend eurer Kraft. Verberget nicht euer Silber in der Erde. Helft dem Elenden in der Trübsal, und nicht wird euch finden Trübsal in euren Schatzkammern und zu der Zeit eurer Arbeit. Ein jedes drückende und schwere Joch, wenn es auf euch kommt, um des Herrn willen traget es alles und löset es, und so werdet ihr euren Lohn finden am Tag des Gerichts ... Selig, wer aber beneidet alle Werke des Herrn; verflucht, wer schmäht alle Kreaturen des Herrn. Selig, wer anschaut aufzurichten die Arbeiten seiner Hände; verflucht, wer ausschaut zu vertilgen fremde. Selig, wer bewahrt die Fundamente seiner Väter von Anbeginn: verflucht, wer verdirbt die Festsetzungen seiner Vorfahren und Väter. Selig, wer pflanzt Frieden und Liebe; verflucht, wer verstört die durch Liebe Friedfertigen. Selig, wer, wenn er auch nicht mit der Zunge spricht Frieden, und in seinem Herzen ist Friede gegen alle. Verflucht, wer mit seiner Zunge Friede sagt, aber in seinem Herzen ist kein Friede.« 70
Der Autor des Zweiten Henochbuches hat im ersten nachchristlichen Jahrhundert gesammeltes Gedankengut zusammengefaßt. Lesen wir noch einige Lehrsprüche: »Gesegnet ist, wer mit demütiger Zunge und Herz spricht.« »Gesegnet ist, wer Frieden und Liebe sät.« »Lasse sie schwören mit ›Ja‹ oder ›Nein‹.« »Wird dir Schaden zugefügt, vergelte es weder dem Nachbarn noch dem Feind.« »Gesegnet ist, wer das Joch auf sich nimmt.« »Verstecke dein Silber nicht in der Erde.« »Sei wohlgemut. Fürchte dich nicht.« Henoch, der »Eingeweihte«, stirbt nicht, sondern wird von Engeln in den Himmel getragen, wo er den Herrn von Angesicht zu Angesicht schaut. Erstmals wird im Zweiten Buch Henoch das »Tausendjährige Reich« genannt: In diesen tausend Jahren wird Gott auf Erden herrschen ...!
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1 1 In diesem Haus (Bildmitte) hat Fröhmer die Tafel insgeheim aufbewahrt 2 In seinen »drei kleinen Zimmerchen« schrieb Fröhner viele, auch heute noch überaus wertvolle Werke
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3 Die denkwürdige »Nazareth-Tafel« auf dem Dachboden der Französischen Nationalbibliothek in Paris
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4 4 Ephesus. So war es auch, als Paulus im nahen Hörsaal predigte: ungezählte Passanten auf der Kuretenstraße der prächtigen antiken Metropole Kleinasiens.
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Brisante Rätsel der Qumran-Kupferrolle Die Essener Jerusalems haben ihre Toten in den nur wenige Gehminuten von ihren Häusern und Gassen entfernten mittleren Bereichen des Jerusalemer Friedhofs begraben. Zu diesem Gebiet der Kedrontal-Nekropole gehörte auch der damalige »Garten Gethsemane« und das heute immer noch »Jakobusgrab« genannte stattliche Hypogaeum. Die am 20. März des Jahres 1952 in einer Höhle des Toten Meeres entdeckte, von der Weltöffentlichkeit immer noch fast unbeachtete Kupferrolle lenkt unsere Aufmerksamkeit nachhaltig auf diese Nekropole. Auf dem nahen Berg Zion, im Essenerstadtteil Jerusalems oder nahebei gingen Jesus und seine Jünger nächtens durch die engen Gassen. Ein Jünger, Judas, schlich sich indessen davon, um im Hause des Hohenpriesters Kaiphas den Aufenthalt seines Meisters zu verraten. In dem gemieteten Oberraum eines Hauses am Hang des Zion saßen Jesus und seine elf Getreuen beisammen. Hier sammelten sich später, nach der Kreuzigung, geflohene und erschreckte Jünger, um das ungeheuerliche Geschehen zu erörtern. Hier entstand die erste Jesusgemeinde. Nur wenige hundert Schritte von dem Bergeshang des Zion entfernt, unterhalb der Südostmauer der Tempelumwallung, im »Garten des Gerechten« fände sich, so entnehmen wir dieser merkwürdigen Kupferrolle, eine Olivenpresse. Im Bottich dieser Ölpresse seien Opfergaben versteckt worden. Ich suchte nach Überresten dieser Olivenpresse und fand über dem sogenannten 75
Jakobusgrab einige von Menschenhand geschaffene Mulden. Offensichtlich war hier eine Ölkelter. Man denkt indessen auch an das Wort »Gethsemane«, das wir mit »Ölkelter« oder »Kelter der Zeichen« übersetzen. War hier, vor oder über dem Jakobusgrab, somit der Ort des nächtlichen Betens Jesu? Wurde er hier verhaftet? Das in der Kupferrolle genannte Grab des Zadok ist angeblich das »Grab des Gerechten«, das Jakobusgrab. »... unter der südlichen Ecke des Portiko«, wird auf der Kupferrolle überliefert, »am Grab des Gerechten und unterhalb der Säule im Vorraum, ein Krug mit Weihrauch aus Kiefernholz und ein Krug, angefüllt mit Weihrauch des Kassia-Holzes ...« Es muß sehr wertvoller Weihrauch gewesen sein, geheiligt und heilig für den feierlichen Gebrauch im Zentralheiligtum des Judentums. Im Alten Testament wird dieser für kultische Zwecke benutzte Weihrauch so beschrieben: »Aber solches Räucherwerk sollt ihr für euch nicht machen, sondern es soll dir als dem Herrn geheiligt gelten. Wer es macht, damit er sich an dem Geruch erfreue, der soll ausgerottet werden aus dem Volk.« (2. Buch Mose, 30,37-38) Die bescheidenen Qumran-Leute werden wertvolles und teures Räucherwerk kaum ihr eigen genannt und viele Wegstunden entfernt, hoch oben bei Jerusalem vergraben haben. Es ist auch dies ein Argument gegen die Annahme, die auf der Kupferrolle genannten Schätze seien das Eigentum der »Mönche vom Toten Meer« gewesen. »Die christliche Überlieferung«, vermerkt der Archäologe Andre Parrot über das sogenannte Jakobusgrab, »schrieb es Jakobus dem Jüngeren, dem 76
Bruder Jesu, zu. Er war nicht weit von dort hingerichtet worden, denn nach Hegesipp stürzte man ihn von der ›Zinne des Tempels‹ in die Schlucht des Kedron hinab.« In die Schlucht des Kedron hinab? Wenige Schritte von der »Zinne des Tempels«, der Herodianischen Stadtmauer, entfernt ist der steile Hang des Kedrontales. Vom Bachbett des Kedron-Rinnsals aus bin ich unlängst bis in die unmittelbare Nachbarschaft dieser gewaltigen Mauer hinaufgestiegen. Ohne Seil ist dies ein nicht ungefährliches Unterfangen. »Es steht fest«, so fährt Parrot fort, »daß das ehrwürdige Grab der Zufluchtsort eines Eremiten, eines gewissen Epiphanes, wurde. Gestützt auf dessen Angaben, unternahm der ›eifrige Anastasius‹ Grabungen und entdeckte die Leichname von Jakobus, Simeon und Zacharias ...« Aber warum wird dieses Gebiet auf der 1952 entdeckten Kupferrolle »Garten des Gerechten« genannt? Jesus wird in der Apostelgeschichte mehrmals der »Gerechte« geheißen: »Ihr aber verleugnet den Heiligen und Gerechten.« (3,14) – »Und sie haben getötet, die da zuvor verkündigten das Kommen des Gerechten.« (7,52) – »... und sehen den Gerechten und hören die Stimme aus seinem Munde.« (22,14) Erinnerte man sich nicht nur an den Tod des Bruders Jesu, des Jakobus, sondern auch (an die Verurteilung Jesu? Im Frühling des Jahres 37 eilte der römische Statthalter der Provinz Syrien, der Legat Vitellius, zur Wahrnehmung der Amtsgeschäfte des damals bereits nach Rom 77
abgereisten Pontius Pilatus nach Jerusalem. Vitellius hatte den sadduzäischen Hohenpriester Kaiphas seines Amtes enthoben, vielleicht im Zusammenhang mit der von Pilatus verfügten Hinrichtung Jesu. Josephus überliefert: »Da die Juden ihm einen glänzenden Empfang bereiteten, ließ er den Jerusalemern die Abgabe von den Marktfrüchten für alle Zeit nach und gestattete den Priestern, das Gewand des Hohenpriesters nebst dessen Ornat wie früher im Tempel aufzubewahren.« (Jüdische Altertümer XVIII, 4,3) Die Verurteilung Jesu mag den Legaten Vitellius bewogen haben, schon so bald nach Pilatus’ Amtsenthebung Jerusalem zu besuchen, um mit Gunsterweisungen manche Gemüter zu beschwichtigen. Wie dem auch sei, in schmerzlicher Erinnerung an das Jesus zugefügte Unrecht mag man die Stätte seiner Gefangennahme auch schon damals »Garten des Gerechten« genannt haben. Wie kamen die erstaunlichen Enthüllungen der Kupferrolle zustande? Bis zu jenem denkwürdigen 20. März des Jahres 1952 hatte man in Höhlen des Toten Meeres lediglich Lederrollen und Papyri entdeckt. Kupferrollen? Ein ganz besonders schwerwiegender Anlaß mußte Menschen bewogen haben, ihre geheimen Nachrichten dem damals so teuren Kupferblech anzuvertrauen. Im Jahre 1953 fuhr der Heidelberger Universitätsprofessor Karl Georg Kuhn nach Jerusalem und sah die geheimnisvollen »Kupferrollen dort im Museum, gut verschlossen und streng bewacht in einem Glaskasten«. Auch für Kuhn durfte der Glaskasten nicht geöffnet werden. »Die Schrift ist so in die Kupferplatten eingehämmert«, berichtet Kuhn, »daß sie sich teilweise auf 78
der Rückseite als Erhöhung ausgeprägt hat. Und nur die Rückseite war ja damals, in dem unaufgerollten Zustand, sichtbar. Und auch von dieser Rückseite nur ein kleiner Teil, nämlich die äußerste Rollenwindung. So konnte man auf diesem Stück der Rückseite einiges von den Buchstaben an den Durchprägungen erkennen, gewissermaßen in Spiegelschrift. Das war allerdings schwierig, da die Buchstaben verschieden tief eingehämmert und von sehr verschiedener Größe waren; auch war es oft nicht einfach, Buchstabenspuren von zufälligen Unebenheiten der Rolle zu unterscheiden. Das Kupfer war im Laufe der Jahrtausende vollständig oxydiert und daher sehr brüchig, so daß es unmöglich war, die Rollen einfach so, wie sie waren, wieder auseinanderzurollen. Sie wären dabei in winzige Brocken zerfallen. Was mich damals im Jahre 1953 in Jerusalem natürlich am brennendsten interessierte, das war zu versuchen, aus den Spuren von Buchstaben auf der Rückseite einiges zu entziffern und so etwas über den Inhalt dieser Rollen in Erfahrung zu bringen ...« Trotz enormer Schwierigkeiten konnte Kuhn schon bald erkennen, daß die Buchstaben der Kupferrollen »sehr ähnlich denjenigen sind, die sich auf der Grabtafel des Königs Uzzia von Juda finden, die in der Zeit um 66 n. Chr. angefertigt worden ist. Der Schluß lag nahe, daß auch der Text auf den Kupferrollen ungefähr zur gleichen Zeit eingehämmert worden sein muß.« Der Schreiber der Kupferrolle überlieferte mehrmals, man solle graben und fände an genau bezeichnetem Platz Gold und Silber. Nach vielfachen Überlegungen war Kuhn überzeugt: Die schon vor Jahrhunderten in 79
zwei Teile auseinandergebrochene Rolle nennt vergrabene Schätze! Aber wie konnte man die in zwei Teile auseinandergebrochene Rolle auseinanderbiegen, um den gesamten Text entziffern zu können? »Von verschiedenen Wissenschaftlern wurde«, so erläuterte Kuhn, »an der Lösung dieses Problems gearbeitet. Professor Albright in Baltimore, USA, stellte mit seinem chemischen Kollegen an der Universität Untersuchungen an, ob eine chemische Reduktion des oxydierten Kupfers möglich sei, um es wieder biegsam zu machen und so die Rollen aufrollen zu können.« Damals fragte Allegro den britischen Physiker Professor H. Wright Baker während einer zufälligen Unterhaltung in einem Lokalzug der Stadt Manchester, ob er beide Kupferrollen ohne Beschädigung der Buchstaben zersägen könne. Im Winter 1955/56 war Baker das Experiment gelungen; mit äußerster Sorgfalt hatte er beide Schriftrollen mittels einer eigens konstruierten kleinen Maschine in Streifen zerlegt. »Sicherlich wurde nahezu nichts vernichtet«, konnte Baker stolz vermerken. Unverzüglich entzifferte und kommentierte der verdienstvolle Qumranforscher Allegro den gesamten Text. Kuhns Mutmaßungen wurden von Allegro bestätigt: Auf beiden Teilen der Kupferrolle wurden vergrabene Schätze genannt. Man hatte sie hauptsächlich unweit der damaligen Qumransiedlung, in der Nähe von Jerusalem und in der Heiligen Stadt selbst versteckt. Allegro und einige wissenschaftlich geschulte Gefährten suchten unweit des Toten Meeres mit großer Umsicht, leider jedoch vergeblich, nach vergrabenen Schätzen.
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Der verdienstvolle polnische Qumranforscher Joseph T. Milik hat den Text der Kupferrolle nach Allegros Edition ebenfalls übersetzt und veröffentlicht. Milik glaubte, insgesamt würden auf den Rollen ungefähr zweihundert Tonnen Gold und Silber genannt. Versteckt? Das könne doch wohl nicht wahr sein, meinte Milik, es sei sicherlich eine Fabel, der Phantasie eines Miesmachers und Querkopfs entsprungen. Allegros und Miliks Übersetzungen stimmen nicht überein. Das kam freilich nicht von ungefähr. Der Hebraist und Qumran-Forscher Yohanan Thorion schrieb nach sehr gründlichem Studium des Textes der Kupferrolle: »... ist es möglich, daß wir so wenig Hebräisch können?! Es gibt nicht viele Zeilen, die wir mit unseren Hebräischkenntnissen problemlos verstehen können. Überall unbekannte, unheimliche Wörter, die uns nirgends in der uns bekannten Literatur begegnet sind.« Thorion klagt schließlich: »Auch einige der Qumranrollen gelangen zu uns in schlechtem Zustand, aber so unverständlich wie KR ist bisher keine von ihnen.« Der Schreiber der Kupferrolle bediente sich der damaligen Jerusalemer Umgangssprache. Das allein ist schon eine großartige Entdeckung, denn bislang waren selbst Spezialisten mit der Jerusalemer Alltagssprache der Tage Jesu kaum vertraut. Warum bediente er sich nicht der Sprache der Schriftgelehrten? Wüßten wir es, wahrscheinlich kämen wir wiederum einem der vielen Rätsel urchristlichen Geschehens näher. Wer immer die Schriftzeichen in das Kupfer gehämmert haben mag, konnte er überhaupt lesen und schreiben? Es wurde die Vermutung laut, man habe absichtlich einen Analphabeten ausgesucht, damit er diese 81
Verstecke im nachhinein nicht verraten oder gar ausrauben könne. Lange Jahre hatte die Autorität Miliks kaum Zweifel an seiner These aufkommen lassen. Doch blieb die Frage: Warum hatte man denn eine angebliche Schatzgräbergeschichte auf das im Altertum so wertvolle Kupferblech gehämmert? Weshalb bediente man sich der völlig ungeschminkten Sprache der für die Jerusalemer Tempelschätze zuständigen Steuereinnehmer? Angehörige der Familie Hakkuz beaufsichtigten zeitweise die Tempelschätze, und auf deren Grund und Boden hatte man ebenfalls Schätze vergraben. Schließlich meinten angesehene Forscher, man könne mit Hilfe der Kupferrolle vielleicht sogar noch Teile des Jerusalemer Tempelschatzes finden. Wie wird es sich tatsächlich zugetragen haben? Während des römisch-jüdischen Krieges haben Priester und Tempeldiener, angesehene Bürger und Essener Jerusalems ihre wertvollsten Güter in die Wildnis am Toten Meer geschafft. Bewohner der Qumransiedlung mögen beim Verbergen behilflich gewesen sein. Nur das Wertvollste hatte man in Krüge getan und in Höhlen versteckt. Profane Urkunden, Quittungen, Briefe, wahrscheinlich auch von dem Statthalter Pontius Pilatus unterzeichnete Gerichtspapyri und so weiter blieben freilich zurück und verbrannten während des Untergangs der Heiligen Stadt. Man darf vermuten, daß auch viele Schriftrollen, die Schicksale früher Angehöriger der Jesus-Bewegung nannten, während der Belagerung und Einnahme der Heiligen Stadt vernichtet wurden. Die genaue Lage der angeblich vierundsechzig Verstecke wurde der Kupferrolle anvertraut. Diese Rolle 82
wurde vor der sich anbahnenden Belagerung Jerusalems, wahrscheinlich im Jahre 68, am Toten Meer in dem seitlichen Erdspalt einer Höhle verborgen. Herabgestürzte Fels- und Erdmassen haben die Kupferrolle nicht beschädigt; auch die vielen Ratten, die nahebei wertvollste lederne Schriftrollen zernagten, konnten der Metallrolle nichts anhaben. Die auf der Kupferrolle genannten Mauern, Gräber, Gänge und Brunnen können heute freilich nicht mehr zweifelsfrei identifiziert werden, zu sehr hat sich die Kultur- und Naturlandschaft seit den Tagen Jesu auch im Heiligen Land verändert. Die Kupferrolle überliefert, auf der im letzten, dem vierundsechzigsten Versteck aufbewahrten Schriftrolle fänden sich noch zusätzliche topographische Angaben. Man vermutet deshalb, daß diese Handschrift eine Lederrolle gewesen ist. Man hatte sie wahrscheinlich noch im ersten Jahrhundert ausgegraben und die dort genannten, damals noch mühelos auffindbaren Verstecke entleert. Forscher erhofften sich von der Entzifferung der Kupferrolle zumindest die Andeutung von Örtlichkeiten, die im Neuen Testament genannt werden. Die Beschreibung des mit der Nummer 57 versehenen Verstecks beispielsweise nennt in der Tat den Teich Bethesda. In den Hallen am Ufer des Teiches lagerten in Jesu Tagen viele Kranke, denn von dem Wasser des Teiches Bethesda versprach man sich baldige Genesung. »Es war aber daselbst ein Mensch, der lag schon achtunddreißig Jahre krank«, lesen wir im Johannes-Evangelium. »Da Jesus den sah liegen und vernahm, daß er schon lange gelegen hatte, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden? Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe 83
keinen Menschen, der mich in den Teich bringt ... Jesus spricht zu ihm: Stehe auf, nimm dein Bett und gehe hin! Und alsbald war der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging.« Nach der Zerstörung Jerusalems baute man neben dem Teich ein prunkvolles heidnisches Heiligtum. Hinfort wurde hier der Heilgott Äskulap verehrt. Jetzt erflehten hier nicht Juden, sondern Heiden Linderung von ihren Leiden. Der Kupferrolle wurden auch geheime Andeutungen anvertraut. Solche Andeutungen sind für uns heute unverständlich und werden vielleicht für alle Zukunft unverständlich bleiben. Was sollte mit den eingehämmerten griechischen Buchstaben der Nachwelt mitgeteilt werden? Das Ganze wird noch rätselhafter, denn die mit griechischen Schriftzeichen gekennzeichneten Verstecke befinden sich ausnahmslos auf dem Berg Zion, dort also, wo die Jerusalemer Essener lebten und wo nach Jesu Kreuzigung die erste Jesusgemeinde entstand. Sollen diese Buchstaben auch an das nächtliche Zusammensein Jesu und seiner Jünger erinnern, deuten sie an, was nach Jesu Hinrichtung im Essenerstadtviertel und in den nahen Gassen und Häusern der großen, betriebsamen Stadt noch in aller Munde war? Diese griechischen Schriftzeichen sind sicherlich eine große Herausforderung an den Scharfsinn zukünftiger kompetenter Forscher. Wird man diese harte Nuß jemals knacken? Es ist in der Tat vielfach vermutet worden, Angehörige der frühesten Jerusalemer Jesusgemeinde könnten die Anfertigung der Kupferrolle veranlaßt haben, deshalb habe man ja auch fast ausnahmslos wertvollstes Gut in 84
und in der Nähe von Jerusalem und unweit der Qumransiedlung versteckt. Kein Ort des Heiligen Landes wurde so eifrig gesucht wie Golgatha, die Schädelstätte, der Ort der Hinrichtung Jesu. Die Entdeckung der Kupferrolle hat erneut die Frage nach diesem Ort der Kreuzigung heraufbeschworen. Die Nekropole an beiden Hängen des Kedrontales und somit östlich der großen Herodianischen Stadtmauer und nur wenige Gehminuten vom Gerichtssaal der römischen Statthalter entfernt, war schon viele Jahre vor der Geburt Jesu ein düsterer Bereich. Östlich dieser Mauer war wohl Golgatha. Von hier aus ist es in der Tat nicht weit zum Garten Gethsemane und zum Jakobsgrab. »Es war aber«, so wird völlig unzweideutig von dem Verfasser des JohannesEvangeliums überliefert, »an der Stätte, da er gekreuzigt ward, ein Garten und im Garten ein neues Grab, in welches niemals je gelegt war. Dahin legten sie Jesus um des Rüsttages willen der Juden, weil das Grab nahe war.« (19,41-42) Dieses Hypogaeum hatte man vor der Geburt Jesu geschaffen. Es sind in den östlichen Felshang des Kedrontales gehauene Kammern mit vielen seitlichen Grabnischen. Eine oder auch mehrere Nischen könnten an Jesu Todestag noch »neu« gewesen sein.
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Gelehrtenstreit: Die »Qumran-Essener-These« Schon bald nach der Entdeckung der ersten QumranSchriftrollen glaubten namhafte Sprachforscher und Archäologen, die von Philo von Alexandrien und Josephus genannten Essener hätten in den inzwischen verfallenen Qumran-Gebäuden gelebt, Schriftrollen angefertigt und sie während des großen römisch-jüdischen Krieges in nahen Höhlen versteckt. Man nennt diese Theorie die »Qumran-Essener-These.« Fast unverzüglich nach den ersten neuzeitlichen Schriftrollenfunden begannen Archäologen mit der gründlichen Erforschung der Qumranruinen. Haben Ergebnisse dieser Ausgrabungen die These bestätigt? Wurde das Rätsel dieser Siedlung, der bereits Reisende des neunzehnten Jahrhunderts ihre Aufmerksamkeit zugewendet hatten, gelöst? Ausgräber entdeckten zwischen Qumranruinen das Mauerwerk eines 22 mal 4,5 Meter großen sogenannten Speisesaales. Im Erdreich dieses großen Raumes wurden abgenagte Tierknochen ausgegraben: es sind Knochen von Ziegen, Schafen, Lämmern, Kälbern, Kühen und Ochsen. Auf dem Qumranfriedhof hatte man ungefähr eintausend Menschen, Männer, Frauen und auch Kinder, begraben. Die Siedlung war über zwei Jahrhunderte lang bewohnt. Lebten hier in all den vielen Jahren nur Asketen, friedfertige Mönche, die sich dem Bestellen ihrer Felder, dem Beten und der Gelehrsamkeit widmeten? Zwar hatte schon Josephus gemeint, nicht alle Essener hätten streng zölibatär gelebt. Aber auch die Ansicht mancher Forscher, nur we86
nige Essener hätten mit Frauen zusammengelebt, während die Mehrzahl des Geschlechtliche und auch den Wein- und Fleischgenuß gemieden hätten, vermag die Qumran-Essener-These nicht zu stützen. Konnten vermeintliche Einsiedler am Toten Meer tatsächlich all die auf der Kupferrolle genannten Verstecke und sogar minutiöse und weitverstreute topographische Einzelheiten kennen? Man hatte ja nicht nur in der Nähe der Qumransiedlung Wertvolles versteckt. Kein Schreiber hat den am Toten Meer entdeckten Schriftrollen Bemerkungen über ein Klosterleben eingefügt oder das Vorhandensein einer Namensliste der Mönche auch nur angedeutet. Nirgends wird erwähnt, Mönche hätten die Schriftrollen am Toten Meer angefertigt oder man beabsichtige, sie vom »Kloster« aus in die nahen Höhlen zu schaffen. Um die Qumran-Essener-These zu stützen, nahm man an, die »Mönche« hätten auch in Zelten und in den nahen Höhlen als Einsiedler gelebt. Die Ausgräber können dies ebenfalls nicht beweisen. Weder Schriftrollen noch auch nur Reste von Handschriften wurden zwischen dem Qumran-Mauerwerk, etwa im Schreibsaal, entdeckt. Zweifel an der Qumran-Essener-These wurden daher laut. Um ihre Richtigkeit beweisen zu können, haben sich einzelne Forscher Spezialproblemen zugewandt. So überprüfte man beispielsweise die Theorie im Zusammenhang mit den unweit der Siedlung ausgegrabenen Tierknochen. In nahen Höhlen entdeckte Schriftrollen nennen ein heiliges Mahl, und man glaubte zu wissen, solche Kulthandlungen hätten fromme Essener in 87
der nahen Qumransiedlung nächtens vollzogen. Man verglich diese Rituale sogar mit dem Abendmahl, das Jesus wenige Stunden vor seiner Hinrichtung gemeinsam mit den Zwölfen an den Hängen des Berges Zion gefeiert haben soll. Haben fromme Klosterbrüder in Qumran tatsächlich während heiligen Schweigens andachtsvoll und in Erwartung eines baldigen Weltendes Opfertiere verzehrt? Wir wissen auch nicht, ob die zwischen Qumranruinen entdeckten Wasserbecken Taufbecken oder, inmitten einer unerbittlichen heißen Wüste und 392 Meter unter dem Meeresspiegel, einfache Wasserreservoire gewesen sind. Forscher, die an der Qumran-Essener-These festhalten, legen ihren Lesern den Gedanken nahe: In der Wüste habe man zwar Trinkwasser in Becken gespeichert, zur Taufe im fließenden Wasser seien die «Mönche« jedoch täglich durch die Wüste zu dem zwei Wegstunden entfernten Jordanufer gewandert. In vielen Fachartikeln und Büchern werden zur Stützung der Essener-Theorie sogar Ähnlichkeiten von Lehren der angeblich in einem Schreibraum des »Klosters« angefertigten Schriftrollen einerseits und Lehrmeinungen der Evangelisten und des Apostels Paulus andererseits hervorgehoben. Einer solchen Abhängigkeit bedarf es nicht, denn Kultmahle waren schon sehr lange vor Jesu Geburt in der heidnischen Welt wie unter Pharisäern beliebt. Der Verzicht auf persönliches Eigentum war geradezu ein hervorstechendes Merkmal antiker Kultvereine. Treu- und Schweigeeide wurden allerorts nächtens abgelegt. Initiationen und die strenge Einhaltung der Rangordnung waren Merkmale jüdischer und heidnischer Sekten. Die Verehrung von 88
Sektengründern, denken wir an den »Lehrer der Gerechtigkeit« einer Qumranschriftrolle oder an Johannes und Jesus, war auch unter Heiden gebräuchlich. Das im Neuen Testament und in Qumran-Schriftrollen bezeugte Würfeln war im Altertum weit verbreitet. Die Sorge um die Alten und Gebrechlichen war nicht nur Essenern eigen. Die in Schriftrollen und im Neuen Testament bekundete Mahnung, man solle Außenstehende nicht über Auseinandersetzungen der Glaubensgemeinschaft informieren oder gar entscheiden lassen, war und ist noch immer ein religiöses Gebot. Die Praktizierung einer Probezeit ist sowohl für Essener wie auch für viele antike Kultvereine bezeugt. Archäologen können somit die Existenz einer im ersten nachchristlichen Jahrhundert am Toten Meer blühenden stillen und friedvollen Klostersiedlung nicht eindeutig beweisen. Trotzdem wird in ungezählten Dissertationen, Fachartikeln, Büchern, während weltweit anberaumter Qumran-Ausstellungen und in Handbüchern und Enzyklopädien die Gültigkeit dieser Qumran-Essener-These stillschweigend vorausgesetzt. Die Umgebung der Qumransiedlung war zu Lebzeiten Jesu und bis zum Ende des großen römisch-jüdischen Krieges heftig umstritten. Es war ein hochpolitisches Spannungsfeld. Spione, Wegelagerer, jüdische und nabatäische Soldaten zogen in dieser Gegend umher. Während der Radikalisierung des politischen Lebens, wahrscheinlich schon zu Lebzeiten Johannes des Täufers und Jesu, wurde die Siedlung mehr und mehr zum Unterschlupf für romfeindliche Gruppen. Qumran wurde eine Soldatensiedlung. Der Schreibraum mit 89
den Tintenfässern war der Befehlsstand der Lagerleitung. Schlachtvieh wurde hergetrieben. Frauen kamen im Gefolge der Soldaten.
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Der sensationelle Fund eines Jesuitenpaters Eine brillante Widerlegung der Qumran-Essener-These ist einem spanischen Papyrologen, dem Jesuitenpater Jose O’Callaghan, gelungen. Dieser Gelehrte studierte winzige beschriftete Papyrusfragmente, die man im Jahre 1955 in einer Qumranhöhle gefunden hatte. Der Schreiber hatte sich der Koine, der damaligen griechischen Umgangssprache, bedient. Das allein war schon mehr als sonderbar, denn bisher hatte man in den Höhlen am Toten Meer nur Rollen entdeckt, denen man alttestamentliche oder apokryphe Texte in hebräischer oder aramäischer Sprache anvertraut hatte. Die von O’Callaghan untersuchten Papyrusfragmente waren hingegen keinem alttestamentlichen oder apokryphen Buch zuzuordnen. O’Callaghan war nahezu ratlos. Mehr einer inneren Eingebung folgend, verglich der Jesuitenpater Textteile seiner winzigen Papyrusstückchen mit ähnlich lautenden Silben des Neuen Testaments und entdeckte Übereinstimmungen mit den Versen 6,52-53 des Markus-Evangeliums: »... denn sie waren um nichts verständiger geworden über den Broten«, hatte Markus geschrieben, »sondern ihr Herz war verhärtet. Und da sie hinübergefahren waren, kamen sie ans Land nach Genezareth und legten an.« Auch diese Papyrushandschrift hatte man vor der Belagerung und Zerstörung der Heiligen Stadt versteckt. Der Schreiber mag der Jerusalemer Jesusgemeinde angehört haben. Vielleicht konnte er sich noch an Jesus erinnern. Vielleicht hatte er mit Jesus in den Gassen und Häusern des Essenerstadtteils gesprochen. 91
Der merkwürdige Papyrus war in einem Krug verwahrt worden, in dessen tönernen Hals man zweimal die hebräischen Buchstaben »rwm« eingeritzt hatte. Diese Buchstaben werden Ruma oder Roma ausgesprochen. Es könnte ein nabatäischer Personenname sein. War ein Nabatäer der Eigentümer des Kruges und Schreiber des Markustextes? Forscher dachten auch an einen Hinweis des Josephus. In seinem Werk Der jüdische Krieg erwähnt dieser rühmend einen Juden namens Eleazar. Dieser tapfere Galiläer wurde von fünf feindlichen Pfeilen durchbohrt. »Nach ihm«, so überliefert Josephus, »waren es die zwei Brüder, Netiras und Philippus aus dem Ort Ruma, die sich durch besondere Tapferkeit hervortaten; auch sie stammten aus Galiläa.« (III,7,21) War der Eigentümer des Kruges und der Papyrus-Handschrift somit ein Zelot, der von dem galiläischen Flecken Ruma nach Jerusalem gekommen war? Hatte er den Papyrus beschrieben? Mit jeder neuen Entdeckung mehren sich auch die uns aufgegebenen Rätsel. Andere Qumranforscher sind überzeugt, mit »rwm« habe man die Hauptstadt des Römerreiches bezeichnet. Wurde der Papyrus von Angehörigen der Jesusgemeinde Roms angefertigt und in dem Krug einem Kapitän oder Steuermann übergeben, der das Gefäß mit dem wertvollen Inhalt vom Tiberhafen Trans Tiberim nach Caesarea mitnehmen und für dessen Weiterbeförderung in die Heilige Stadt Jerusalem sorgen sollte? In Trans Tiberim, jenseits des Tiber und fast im Schatten der Kaiserpaläste, hatten sich die ersten Angehörigen der Jesus-Bewegung dort bereits seit Generationen heimischen jüdischen Gemeinde zugesellt. Vielleicht 92
werden zukünftige Entdeckungen auch das Rätsel der zweimal am Hals des Kruges eingeritzten Buchstaben »rwm« lösen. O’Callaghan wurde nach seiner Entzifferung des Markustextes 6,52-53 in Rom Dekan des Pontificio Istituto Biblico.
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Qumranforscher Joseph T. Milik und »die Kirche« Abbe Milik war kein Stubengelehrter. Der gebürtige Pole hatte in Rom studiert und war dort zum Priester geweiht worden. Bereits als junger Mann hatte er sich einen Namen als Forscher gemacht. Ab 1952 befaßte Milik sich in Jerusalem mit der Entzifferung von Qumran-Schriftrollen. Er war maßgeblich an der archäologischen Freilegung der Qumransiedlung beteiligt. Milik übersetzte und kommentierte mit hervorragender Sachkenntnis den Text der berühmten Kupferrolle. Ungefähr zehn Jahre arbeitete er in der Gluthitze am Toten Meer, nahezu vierhundert Meter unter dem Niveau der Weltmeere, in der tiefsten Depression der Erde. Milik durfte uneingeschränkt alle im Archäologischen Museum Jerusalems lagernden Schriftrollen und Textfragmente einsehen. Man hat Milik vielfach vorgeworfen, er verheimliche der Weltöffentlichkeit Qumran-Textfragmente, die dazu angetan sein könnten, die Einmaligkeit der neutestamentlichen Botschaft zu schmälern. Sogar in Fachzeitschriften wird immer wieder behauptet, Milik ließe sich deshalb von der Außenwelt völlig abschirmen, er verweigere die Annahme von Briefen und Paketen, und niemals würde er einen Besucher empfangen. Ich sprach in Paris fernmündlich mit dem namhaften Qumranforscher. Wir vereinbarten einen Besuchstermin für den 31. Januar 1994. Joseph T. Milik erfreut sich eines stillen und sehr gepflegten Heims. Der weißhaarige, freundliche Gelehrte hat offensichtlich viel mit dem Entdecker der Nazareth94
Tafel, Wilhelm Fröhner, gemeinsam. Milik spricht sehr bedächtig, so, als würde er jedes Wort vorab prüfen. Seine Diktion ist geradezu druckreif. Ich bewunderte seine enormen religionsgeschichtlichen, archäologischen und sprachwissenschaftlichen Kenntnisse. Während wir über seine Entzifferung von Qumran-Schriftrollen sprachen, vernahm ich auch nicht ein polemisches Wort. Im Gegenteil, für viele namhafte Forscher findet er Worte der Bewunderung. Milik verehrt Fröhner und auch den großen französischen Epigraphiker Louis Robert, den er noch persönlich gekannt hat. Unvermittelt fragte ich Milik, ob nach seinem Dafürhalten Jesus und Paulus in der Qumransiedlung gewesen seien. Milik wollte sich nicht festlegen, mochte jedoch diese Möglichkeit auch nicht völlig von der Hand weisen. Und nun zu der oft gehörten Meinung, Milik enthalte seit vielen Jahren Qumran-Schriftrollen und QumranText-fragmente der Weltöffentlichkeit vor und lebe auch deshalb so völlig zurückgezogen inmitten der Weltstadt Paris. Milik hat bereits in der 1959 erschienenen englischen Fassung seines großen Qumran-Forschungsberichtes betont, zwischen den Lehren der Essener und der neutestamentlichen Verkündigung Jesu bestünden sowohl literarische wie auch glaubensmäßige Ähnlichkeiten (similarities). Darüber hinaus, so schrieb Milik schon in den fünfziger Jahren, bezeugten die Apostelgeschichte und die Paulusbriefe, wie sehr die Organisation der frühen Jesus-Bewegung dem Gemeinschaftsleben der Essener ähnlich gewesen sei; diese Ähnlichkeit erstrecke sich sogar auf den Brauch des gemeinsamen Eigentums, des 95
Betens und des Lehrens. Von einer auf Veranlassung Roms betriebenen und gezielten Vorenthaltung dieser oder jener Qumran-Texte kann überhaupt keine Rede sein.
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Die letzten »Johannesjünger« Angehörige einer im Irak und im Iran beheimateten Sekte verehren Johannes den Täufer, zelebrieren ihr Taufritual in fließendem Wasser und nennen alle Gewässer »Jordan«. Sie werden Täufer oder Mandäer genannt. Sie selbst nennen sich Nazoräer, so wurden ja auch die frühen Angehörigen der christlichen Urgemeinde geheißen. Niemals wird ein mandäischer Priester seinen Bart scheren. Das Berühren eines Toten ist diesen Priestern streng untersagt. Die wichtigsten Sakramente der Mandäer sind das Taufritual, das heilige Mahl, die Totenmesse, die Gedächtnisfeier für einen Gestorbenen und, während die Seele den toten Körper verläßt, das feierliche Gedenken. »... daß der Ursprung der Mandäer nichts anderes ist als die Taufsekte, die durch die Wirksamkeit Johannes des Täufers am Jordan entstand«, so bemerkte der Marburger Theologieprofessor Rudolf Bultmann, »ist mir allerdings außerordentlich wahrscheinlich.« Von Juden und Judenchristen gleichermaßen gehaßt, verließen die Urahnen der heutigen Mandäer ihre Heimat, das Jordanland und Galiläa, zogen in den Nordwesten des Zweistromlandes und später, oftmals bedrängt, immer weiter, bis in die Bereiche des alten Babylonien und bis zu den Gestaden des Persischen Golfes. Vereinzelt wurden Johannesjünger im ersten Jahrhundert auch nach Syrien und wahrscheinlich sogar nach Griechenland und Rom versprengt. In Ägypten haben Angehörige der Sekte der Johannesjünger das 97
altägyptische Wort für die materielle Welt, »Ptah«, ihrem Sprachgebrauch einverleibt. Und in Kleinasien, in Ephesus, machte ein alexandrinischer Jude namens Apollos, ein Anhänger des Johannes, von sich reden. »Es kam aber nach Ephesus«, lesen wir in der Apostelgeschichte, »ein Jude mit Namen Apollos, von Geburt aus Alexandrien, ein beredter Mann und mächtig in der Schrift. Dieser war unterwiesen in der Lehre des Herrn und redete brennend im Geist und lehrte richtig von Jesus, wußte aber nur von der Taufe des Johannes. Dieser fing an, frei öffentlich zu predigen in der Synagoge.« (18,24–26) – Die im Westen verstreuten Anhänger Johannes des Täufers sind wahrscheinlich schon im zweiten Jahrhundert ausgestorben. Weshalb und wann haben die Urahnen der heute im Irak und in Persien wohnhaften Mandäer ihre alte palästinensische Heimat verlassen? Dieses Problem hat immer wieder Theologen und Religionsforscher beschäftigt. Bedeutsame Geschehnisse müssen den Exodus der Täufer verursacht haben; ein weltgeschichtlicher Exodus erfolgt niemals aus nichtigen Anlässen. Niemals haben Völkergruppen leichthin mit Weib und Kind ihre Heimat verlassen, um in der unbekannten Ferne das Schicksal herauszufordern. Jesu Absonderung von dem sprachgewaltigen Täufer Johannes, die Hinrichtung dieses Täufers und die dramatischen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern des Johannes und Anhängern Jesu werden den großen Exodus der Urmandäer mitverursacht haben. Die Engländerin Ethel Stefans Drower (1879-1972) hat sich als Mandäistin weltweit einen Namen gemacht. Die Tochter des englischen Pfarrers S.W. Stevens wurde 98
eine erfolgreiche Schriftstellerin. Im Jahre 1910 heiratete sie den hohen britischen Beamten Edwin Drower. Von 1921 bis 1946 war Sir Edwin im Irak als »Judicial Adviser« der britischen Botschaft tätig. Frau Drower konnte sich somit in Bagdad ihren Neigungen widmen und bemühte sich mit großer Hingabe um die Erforschung der Sprache, der Sitten und Bräuche der Mandäer. In Anerkennung ihrer Verdienste wurde Frau Drower geadelt. Lady Drower war es gelungen, in einer von ihr entdeckten mandäischen Handschrift einen Fingerzeig für den Exodus der Mandäer zu finden. In der vatikanischen Druckerei wurde diese Handschrift abgedruckt und so der Wissenschaft zugänglich gemacht. Mandäer nennen diese heilige Schrift »Diwan Harran Gawaitha«, den Inneren Harran. Nachfolgend, ich bediene mich der Übersetzung des Berliner Mandäisten Rudolf Macuch, ein Auszug aus dieser Schriftrolle: »Der innere Harran hat ihn angenommen, jene Stadt, in welcher die Nasoräer sind, weil dort kein Weg für die jüdischen Herrscher war. Über ihnen war Artabanus König. Also 60 000 Nasoräer haben sich von den Zeichen der Sieben (Planeten) getrennt und sind in das Medische Gebirge hineingekommen, eine Stätte, wo keine Stämme über sie herrschten. Sie bauten dann die Tempel und wohnten in dem Ruf des Lebens und in der Kraft des hohen Lichtkönigs, bis sie zu Ende kamen.« Die Sprache der Harraner war das Aramäische, die Muttersprache Jesu.
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Harran, im nordwestlichen Zwei Stromland, war schon vor dreitausendfünfhundert Jahren ein wichtiger Handelsplatz des Mitannireiches der Hurri. Sehr anschaulich und ausführlich hat Daniel Chwolsohn (1819-1911), »Professor der hebräischen Sprachen und der biblischen Archäologie der Russischen Geistlichen Akademie zu Sankt Petersburg«, erläutert: »Die Fruchtbarkeit des Bodens in der Umgebung von Harran bezeugen auch einige Münzen dieser Stadt, auf denen eine Frau, der Genius der Gegend, mit Ähren oder einem Füllhorn in der Hand oder bloß einige Ähren abgebildet sind.« Und: »Wir sehen, daß schon um die Zeit die reichen Triften Harrans Hirtenstämme anlockten und daß diese Stadt damals die Passage in den Westen bildete. Diese Straße führte wahrscheinlich schon damals über Thapsacus, das nordwestlich von Harran lag und wo die berühmte Euphratbrücke sich befand, über welche Xenophon und Alexander von Macedonien zogen. Die Mündung einer Straße setzt einen bedeutenden Verkehr voraus, und die biblische Erzählung weiß in der Tat von Sklaven, die Abraham und Jakob in Harran erworben haben, was zu der Annahme berechtigt, daß damals dort Sklavenmärkte stattgefunden haben. Dieses setzt wiederum einen bedeutenden Verkehr mit dem Auslande und Ausländern und einen uralten Cultus voraus: denn im Altertum gaben die Stätten solcher alten Culte Veranlassung zum Zusammenfluß vieler Menschen, infolgedessen gewöhnlich große Jahrmärkte und ein bedeutender Handel entstanden ..., und da der Sklave im Altertum größtenteils ein im Kriege gefangener oder sonst geraubter Fremdling war, so müssen auch viele Ausländer nach Harran gekommen sein.« 100
Geschichtsforscher kennen fünf parthische Könige namens Artabanus. Die Parther, ein nordiranisches Volk, gründeten um 247 vor Christi Geburt ein Reich und eroberten nach und nach das gesamte Zweistromland. Für die Römer wurde dieses Volk zu einer beständigen Gefahr. Welchen parthischen König mögen die Verfasser der heiligen Schrift »Diwan Haran Gawaitha« im Auge gehabt haben? Lady Drower vermutete, König Artabanus III. habe die Auswanderung der Urmandäer herbeigeführt. Artabanus starb wahrscheinlich im Jahre 40 nach der Zeitenwende. Auch Macuch hat sich zu dieser Auffassung durchgerungen. Täufer hätten somit noch zu Lebzeiten Jesu oder schon bald nach seiner Kreuzigung auf der Suche nach einer neuen Heimat das Jordanufer und die Nordküste des Toten Meeres verlassen. Die heiligen Schriften der Mandäer bezeugen ein enges Verflochtensein mit palästinensischen Geschehnissen des ersten nachchristlichen Jahrhunderts. In Handschriften der Mandäer wird sogar Pontius Pilatus genannt. Sogar die Nachricht vom Stern, der bei Jesu Geburt erschienen sein soll, findet eine Entsprechung im »Schatz«, der maßgeblichen heiligen Schrift der Mandäer. Schon ein kurzer Blick in dieses religionsgeschichtlich so wertvolle Dokument zeigt, wie sehr neutestamentliche und mandäische Lehren zumindest ursprünglich verschwistert gewesen sind. Das kann kein Zufall sein. In der Bergpredigt beispielsweise lesen wir: »Wenn du aber Almosen gibst, so laß deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut.« (Matthäus 6,3) Im »Schatz« der Mandäer steht: »Wenn ihr Almosen gebet: Gebt ihr mit eurer Rechten, so sagt es nicht eurer Linken.« 101
Auch die Ursprünge mandäischen Glaubens reichen weit in das Dunkel vorgeschichtlichen Denkens zurück. In der Neuzeit entdeckte und entzifferte sumerische Tontafeln bezeugen: Schon Jahrtausende ehe sich die Nacht der Vorgeschichte über dem Zweistromland lichtete, glaubte der Mensch an den Ufern des Euphrat und Tigris, auf die Fragen nach dem Woher, Warum und Wohin des Menschen Antworten geben zu können. Mandäische Priester bewahren diese Antworten auch heute noch. Es ist ihr geheimes Wissen. Nur sehr selten lassen sie einen Laien oder gar einen Nichtmandäer an ihrer Glaubenswelt teilhaben. Manda bedeutete geheimes, verborgenes, nur dem Eingeweihten zugängliches Wissen um die letzten Dinge unseres Lebens. Die Seele ist, so glauben die Mandäerpriester, auf dieser Erde in einer Scheinwelt befangen. Sie ist der Herausforderung des beständigen Widerstreites von Gut und Böse verhaftet. Obsiegt das Gute, wird der Seele die höchste Erkenntnis zuteil. Von einem Erlöser geleitet, kehrt sie zur Urseele zurück. Diesem Ziele dienen, dem Uneingeweihten freilich verborgen, die Lebensweise und die Sakramente der mandäischen Priester. Der Urmensch, Adam, so glauben sie, habe diesen Widerstreit von Gut und Böse verursacht. Adam, der Urmensch, sei eine Benennung des Sündenfalls, das heißt der Loslösung der Seele von der Urseele, von Gott. Der Apostel Paulus hat den uralten Adamsmythos auf die Person Jesu übertragen. Auf welch verborgenen und verschlungenen Wegen mag er dieses Wissen erlangt haben? Sehr wahrscheinlich hat er in seinen Briefen seine Lehren nur angedeutet. Sein Predigen wird noch 102
vielfältiger und tiefer und für seine einfachen Zuhörer nicht immer voll verständlich gewesen sein. In seinem ersten Brief an die Korinther lesen wir: »Denn gleichwie sie in Adam alle sterben, so werden sie in Christus alle lebendig gemacht werden.« (15,22) In einer heiligen Schrift der Mandäer heißt es: »Denn so in Adam alle sterben, so wird der Geheime Adam sie alle zum Leben erwecken.« Früher trugen die mandäischen Priester ausschließlich weiße Gewänder, so wie sich die Täufer am Jordan und auch die Essener in Palästina gekleidet hatten. Während des Vollzugs der Sakramente tragen die mandäischen Priester auch heute noch ein Leinengewand. Die Kleidung und auch die natürliche Hoheit der heutigen mandäischen Priester wird sehr viel mit dem Äußeren der Seher und Propheten des alten Zweistromlandes und des Alten Testaments, mit dem Auftreten des »Lehrers der Gerechtigkeit«, des mutmaßlichen Reformators der Essenersekte, mit dem Äußeren der Jordan-Täufer und des Jesus »von Nazareth« gemeinsam haben. Die mandäische Polemik wider den Jerusalemer Tempelkult und wider die Jerusalemer Tempelhierarchie zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Glaubenswelt der Mandäer. Diese Abneigung gegen die Frömmelei der Jerusalemer Kultpriester zeigten auch die Essener und Jesus. Und trotzdem wird Jesus in mandäischen Schriften zwar »Messiah« genannt, aber dieser für uns so hoheitsvolle Titel ist für Mandäer gleichbedeutend mit Falschheit und Lügenhaftigkeit. Jesus wird von den Mandäern geradezu »Lügenprophet« geheißen. Die Polemik der Mandäer klingt wie ein fernes Echo des Streites, der Angehörige der Johannes- und der 103
Jesus-Bewegung vor nahezu zweitausend Jahren ent zweite.
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2 Der Nazoräer Jesus »von Nazareth« Kam Jesus aus Nazareth? Ein Einwohner des heutigen Städtchens Nazareth wollte ungefähr dreißig Meter südlich der Verkündigungskirche eine Zisterne bauen. Kaum hatte er einen Meter tief gegraben, stieß er schon auf Mauerwerk. Er schaufelte weiter und fand zwei tönerne Öllämpchen. Der herbeigerufene Superior des Franziskanerklosters nahm sich der Sache an und entdeckte einen Stein, den man vor den Eingang eines Grabgemaches gerollt hatte. Der Gedanke an die Grablegung Jesu hat sich dem Superior sofort aufgedrängt. Der Stein konnte nicht bewegt werden und wurde deshalb zertrümmert. Die Ausgräber betraten einen großen Vorraum und erreichten von dort aus einen Gang: Rechts und links hatte man je sechs Grabnischen in den Fels gehauen; geradeaus sahen sie eine größere Nische. Man fand Skelette. Schädel zerfielen, als man sie berührte, zu Staub. Man entdeckte Tonlampen, ferner einen Krug und zwei Kästchen. Im Neuen Testament wird Jesus mehrfach »Jesus von Nazareth« genannt. Hier nur einige Textstellen: »Was willst du von uns, Jesus von Nazareth?« (Markus 1,24)
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»Und als er hörte, daß es Jesus von Nazareth war ...« (Markus 10,47). »Und du warst auch mit Jesus von Nazareth.« (Markus 14,67) »Das von Jesus von Nazareth, welcher war ein Prophet.« (Lukas 24,19) Wir lesen aber auch: »Er soll Nazoräer heißen.« (Matthäus 2,23) Die Benennung Nazoräer oder Nazarener kann nach Ansicht namhafter Sprachforscher etymologisch nicht von dem Ortsnamen Nazareth abgeleitet werden. Eine wahre Flut scharfsinniger Untersuchungen rankt sich um diese sprachwissenschaftliche Kontroverse über »Nazareth« und »Nazoräer«. Um diesen Streit kritisch beurteilen zu können, müßte man die altgriechische, die aramäische, die altsyrische und die hebräische Sprache beherrschen. Der Semitist und Mandäer-Spezialist Mark Lidzbarski hat seine und auch die Meinung namhafter Fachleute in der Einleitung seines Werkes Mandäische Liturgien so formuliert: »Schon die Fassung der Worte bei Matthäus macht es unwahrscheinlich, daß Jesus Nazoraios genannt wurde, weil seine Eltern in Nazareth wohnten. Es sieht eher danach aus, daß man Jesu Eltern in Nazareth wohnen ließ, um damit den Namen Nazoraios zu erklären ...« Nazoräer waren Männer, die sich zeitlebens oder auch nur für Jahre von dem oberflächlichen Treiben dieser Welt abgewandt hatten, um in der Stille und Einsamkeit der Wüste den Allmächtigen zu verehren. Heinrich Zimmern, Professor für Assyriologie, konnte nachweisen: 106
Schon im alten Babylonien hatten sich Gottsucher in die Wüsteneinsamkeit zurückgezogen. Seine religionsund sprachwissenschaftlichen Forschungen lassen Zimmern zu dem Schluß kommen: »Aus dem Vorstehenden dürfte sich jedenfalls so viel ergeben, daß nasaru, nasiru im Babylonischen der technische Ausdruck für das Hüten göttlichen Geheimwissens durch die dafür Berufenen ist. Der Gedanke liegt darum nahe, daß, wie so zahlreiche technische Bezeichnungen, auch diese aus dem Babylonischen nach dem Westen gedrungen ist und dort zur Benennung religiöser Gemeinschaften Verwendung gefunden hat, für die das Hüten gewisser religiöser Geheimlehren als charakteristisch galt.« In der Apostelgeschichte lesen wir denn auch: »Wir haben diesen Mann«, gemeint ist der Apostel Paulus, »erfunden als eine Pest und als einen, der Aufruhr erregt unter allen Juden auf dem ganzen Erdboden, und als einen Anführer der Sekte der Nazarener.« (24,5) Schon im Alten Testament werden Nazoräer (Nasiräer) – Geweihte Gottes – genannt, beispielsweise im Buch der Richter: »Es ist nie ein Schermesser auf mein Haupt gekommen; denn ich bin ein Geweihter Gottes von Mutterleib an. Wenn ich geschoren würde, so wiche meine Kraft von mir« (16,17). Und im 4. Buch Mose lesen wir: »Solange sein Gelübde währt, soll er nichts essen, was man vom Weinstock nimmt, von den unreifen bis zu den überreifen Trauben. Solange die Zeit seines Gelübdes währt, soll kein Schermesser über sein Haupt fahren. Bis die Zeit um ist, für die er sich dem HERRN geweiht hat, ist er heilig und soll das Haar auf seinem Haupt frei wachsen lassen. Während
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der ganzen Zeit, für die er sich dem HERRN geweiht hat, soll er zu keinem Toten gehen.« (6,4-6) Bischof Eusebius von Caesarea (um 263 bis 339) erwähnt in seiner Kirchengeschichte eine Überlieferung des Hegesippus. Über die Lebensumstände dieses Hegesippus wissen wir nichts. Er lebte ungefähr fünfzig Jahre nach dem Märtyrertod des Jakobus, des Bruders Jesu. Hegesippus konnte somit wahrscheinlich noch authentisches Erinnerungsgut überliefern. Eusebius zitiert Hegesippus: »Die Kirche wurde übernommen von den Aposteln und Jakobus, dem Bruder des Herrn, der von den Zeiten des Herrn an bis auf unsere Tage allgemein der Gerechte genannt wurde; denn es gab noch viele, die den Namen Jakobus führten. Schon vom Mutterleib an war er heilig. Wein und geistige Getränke nahm er nicht zu sich, auch aß er kein Fleisch. Eine Schere berührte nie sein Haupt, noch salbte er sich mit Öl oder nahm er ein Bad. Jakobus allein war es gestattet, das Heiligtum zu betreten; denn er trug kein wollenes, sondern ein leinenes Gewand ...« Jakobus, ein Bruder Jesu, war somit ein Nazoräer. Wir wissen nicht, wie Jesus ausgesehen hat, wir wissen auch nicht, ob sich Jesus als Nazoräer gefühlt hat. Manche Forscher glauben aus Hegesippus’ Beschreibung entnehmen zu können, Jesus habe, nachdem er Jünger Johannes des Täufers geworden war, zumindest zeitweise als Nazoräer und wie die Propheten und Asketen des Alten Testamentes in der Wüste gelebt. Wenn dem so ist, wird auch der Ausspruch Jesu: »Niemand hat größere Liebe denn die, daß er sein Leben läßt für seine Freunde« (Johannes 15,13) erst recht
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verständlich; denn für Nazoräer waren Eintracht und Brüderlichkeit höchste Verpflichtung. Epiphanius (um 315 bis 403), in Palästina als Sohn jüdischer Eltern geboren, wurde im Jahre 367 Bischof von Konstantia (Salamis) auf der Insel Zypern. Epiphanius berichtet, die frühesten Anhänger Jesu habe man Nazoräer genannt. Zur Zeit Jesu mußten Angehörige von Kultvereinen mit feierlichen Worten versichern, ihrem Gott die Treue zu wahren und über ihren Glauben und ihre Bräuche Uneingeweihten gegenüber völliges Schweigen zu bewahren. Der jüdische Feldherr und spätere Schriftsteller Josephus war in seinen jungen Tagen Angehöriger der Essenersekte und lebte als Nazoräer in der Wüste. Josephus hat das Wesentliche des Essenereides überliefert. Nachdem er in seinem Werk Der jüdische Krieg die den Novizen auferlegten Prüfungen erläutert hat, fährt er fort: »Ehe er jedoch an das gemeinsame Mahl Hand anlegt, schwört er ihnen hochheilige Eide, vor allem die Gottheit zu ehren, sodann Gerechtigkeit zu üben gegen die Menschen und weder aus freiem Antrieb noch auf Befehl jemand zu schädigen, stets jedoch die Ungerechten zu hassen und die Gerechten in ihrem Kampf zu unterstützen, immer die Treue zu bewahren gegen jedermann ... Immer werde er die Wahrheit lieben und sich vornehmen, die Lügner zu entlarven. Die Hände wolle er reinhalten von Diebstahl und die Seele von sündhaftem Gewinn, und vor den anderen Sektenmitgliedern werde er kein Geheimnis haben, und an andere werde er nichts über sie preisgeben, auch wenn es um Leben oder Tod gehe. Außerdem schwört er, die Regeln der 109
Gemeinschaft keinem in anderer Weise mitzuteilen, als er sie selbst übernommen, sich reinzuhalten von Raub und die Schriften der Sekte wie die Namen der Engel in Ehren zu halten.« (11,8,7)
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Priester und Götter in Nabatäa Je mehr man sich mit der Geschichte der Nabatäer beschäftigt, desto mehr wird die Vermutung zur Gewißheit: Die Qumransiedlung kann zu Lebzeiten Jesu kein »Kloster«, in dem abgeschiedene Mönche beteten und Texte abschrieben, gewesen sein. Die Qumransiedlung war in den Tagen Jesu militärischer Vorposten, unweit des Niemandslandes an der judäisch-nabatäischen Grenze. Neuzeitliche Ausgrabungen in Nabatäa zeigen, wie oft dieses Land von schrecklichen Kriegen heimgesucht worden war. Petra, die auf halbem Wege zwischen dem Golf von Akaba und dem Toten Meer gelegene, immer noch rätselhafte heilige Stadt des Nabatäerreiches, wurde Anfang des neunzehnten Jahrhunderts von dem Schweizer Johann Ludwig Burckhardt wiederentdeckt. Damals war das Reisen in entlegenen Gebieten der moslemischen Welt für einen Nichtmoslem nicht immer ungefährlich. Burckhardt war aus diesem Grund Moslem geworden und kleidete sich wie ein Beduine; trotzdem hat sein allzu großes Interesse für die Felsheiligtümer der ehemaligen nabatäischen Hauptstadt Petra den Argwohn moslemischer Wüstensöhne erregt. Die Nabatäer waren im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung die führende Handelsmacht im Nahen Osten. Nabatäische Karawanen brachten Waren Arabiens zur Mittelmeerküste. Dort wurden die Handelsgüter verladen und hauptsächlich in die großen Zentren der
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damaligen Welt, nach Rom, zum Piräus, nach Ephesus und Korinth, verschifft. Manche Archäologen glauben, Petra sei niemals eine Stadt im eigentlichen Sinne des Wortes gewesen. Dieser Eindruck hat sich auch uns bei einem Besuch aufgedrängt. Nachdem wir eine tiefe und manchmal nur drei Meter breite Schlucht hinter uns gelassen hatten, sahen wir unvermittelt vor uns ein grandioses Grabmonument, das »Schatzhaus«. Und wo immer wir hinschauten: Kult- und Opferstätten, Heiligtümer und Grabbauten. Dieses »Schatzhaus des Pharao« am Ausgang der weltberühmten Felsschlucht wurde angeblich im Auftrag des Königs Aretas IV. dem rotleuchtenden Sandstein abgerungen. Die skulptierte zweistöckige Fassade ist vierzig Meter hoch; sie gilt als »schönste Felswand der Welt«. Alexandrinische Baumeister sollen dieses Wunderwerk geschaffen haben. Im großen Vorraum des Mausoleums sind rechts und links Eingänge zu Felsgewölben. Riesige hölzerne Portale haben vor vielen Jahrhunderten Neugierigen und Unerwünschten das Betreten der dahinterliegenden Räume verwehrt. Ich gehe weiter und betrete den fast quadratischen, riesigen und sehr hohen, totenstillen Hauptraum. Er diente wahrscheinlich den Beisetzungsfeierlichkeiten für die Großen des Nabatäerreiches. Im Hintergrund hatte man eine geräumige Nische in den Sandstein gehauen. Angeblich ruhte dort der prunkvolle Sarkophag König Aretas’ IV. Und welche Würdenträger hatte man rechts und links in den kleineren Nischen beigesetzt? Alles ist längst leer und ausgeraubt,
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und auch nicht die Andeutung einer Inschrift kann ich in den riesigen, hohen Gewölben entdecken. In Petra herrschte vom Jahre 9 vor bis zum Jahre 40 nach Christi Geburt der König Aretas IV.; man hat ihm den Beinamen Philodemos, Volksfreund, gegeben. Seine Regierungszeit war eine Zeit großer Prosperität. Vier Jahre vor der Zeitenwende, im Todesjahr Herodes’ des Großen, sandte König Aretas IV. dem römischen Legaten Syriens, P. Quinctilius Varus, Hilfstruppen. Diese nabatäischen Soldaten sollen sehr beutegierig gewesen sein, und der Römer Varus war froh, als er sie wieder zurückschicken konnte. Der gleiche Varus hat sich später, als er die Schlacht gegen die Germanen im Teutoburger Wald verloren hatte, in sein Schwert gestürzt. Jesu Landesherr, Herodes Antipas, regierte vom Jahre 4 bis zu seiner Verbannung im Jahre 39. Er hatte eine Tochter des Nabatäerkönigs Aretas IV. geheiratet. Mit dieser Vermählung wollte Aretas IV. die Eintracht zwischen Galiläern und Nabatäern fördern. Es kam jedoch ganz anders. Herodes Antipas wurde seiner nabatäischen Gemahlin überdrüssig und schickte sie nach Hause. Die Verschmähte floh in das östlich des Toten Meeres gelegene Moabgebirge, bis in die Nähe der Herodianischen Grenzfeste Machaerus. Hier haben nabatäische Offiziere die Verstoßene empfangen. Sie erreichte mit deren Hilfe die Residenz ihres Vaters. Auch die Täufer am Jordan und die Bewohner der nahen Qumransiedlung wußten sicherlich davon. Herodes Antipas heiratete nun Herodias, die Frau seines Bruders. König Aretas IV. sann wegen der seiner Tochter zugefügten Demütigung auf Rache. Außerdem 113
hatten ihm seine Kundschafter berichtet, Herodes Antipas vermittle zwischen dem Partherkönig Artabanus und dem römischen Statthalter in Syrien. Der Nabatäerkönig witterte Gefahr. Seine Soldaten machten sich kampfbereit und zogen gegen Galiläa. Im Jahre 36 besiegten die Truppen Aretas’ IV. das Heer des Herodes Antipas. Im gleichen Jahr mußte der in Caesarea am Meer residierende römische Statthalter Pontius Pilatus auf Geheiß des Legaten Vitellius nach Rom zurückkehren. Die kriegerischen Erfolge des Königs Aretas IV. hatten indessen den Argwohn des Kaisers Tiberius erregt. Das politische Gleichgewicht in Palästina schien gefährdet. Befehlsgemäß marschierte deshalb sein Legat Vitellius mit zwei Legionen südwärts. Als Vitellius die nabatäische Hauptstadt Petra bereits bedrohte, befragte König Aretas IV. das Orakel und soll erleichtert erfahren haben: Ein »Führer« werde sterben, und sein nabatäisches Reich werde verschont. Es mag eine Anekdote sein, aber so geschah es: Kaiser Tiberius starb plötzlich am 16. März des Jahres 37. Vitellius und seine zwei Legionen kehrten nach Syrien zurück. Der exzentrische Nachfolger auf dem Kaiserthron, Gaius, hat sich mit dem Nabatäerkönig Aretas IV. nicht angelegt. Auf einem hochgelegenen Altar Petras floß im ersten nachchristlichen Jahrhundert das Blut ungezählter Opfertiere. Noch deutlich kann man die Abflußrinnen erkennen. Von dieser Kultstätte aus schauen wir, über eine Talschlucht hinweg, auf die gegenüberliegenden kahlen Berghänge und zu den Überresten des sogenannten »Löwen-Greifen-Tempels«. Neben diesem Heiligtum wohnte das Kultpersonal. Mauerwerk ihrer 114
Behausungen ist noch sichtbar. Archäologen meinen, in diesem Heiligtum habe man dem ägyptischen Mysteriengott Osiris gehuldigt; eine Widmungsinschrift scheint es zu beweisen. Der amerikanische Archäologe Philip G. Hammond, Professor der Universität von Salt Lake City, berichtet: »Die Gestaltung der oberen Wände wird noch untersucht, mehrfache Gesimse, Friesbänder und anderes zeugen von gepflegtem Kunstsinn.« Offensichtlich wurde das Allerheiligste dieses Tempels von einem Vorhang zeitweise verdeckt. So war es auch im Jerusalemer Zentralheiligtum der Juden. Im Innern des nabatäischen »Löwen-Greifen-Tempels« standen Plastiken und Votivgaben: Dank für wundersame Heilung. Vorhangaufhänger, Münzen, Werkzeuge, Haushaltssachen, Keramiken, auch Ohrringe, Anhänger, Perlen und Armreifen wurden hier gefunden. Viele Kaurimuscheln zeugen von einer regen Karawanenverbindung zum Meer. Im Jahre 27 nach der Zeitenwende hatte man dieses Heiligtum vollendet. Im großen Theater der Stadt wurden in jenen Jahren auch Totenrituale zelebriert. Einwohner der Stadt und von auswärts herbeigeeilte Untertanen und auch Fremde, Juden, Ägypter, manchmal sogar Griechen, Syrer, Römer und Äthiopier, waren zugegen. Kahlköpfige, weißgekleidete Priester haben, ähnlich wie in Jerusalem, sakrale Gesänge intoniert. Den priesterlichen Prozessionen folgte die stumme Menge des einfachen Volkes. Auf den hochgelegenen Altären der Stadt wurden Blutopfer dargebracht. Qualm stieg in den immerblauen Himmel.
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5 Ägyptische Priester waren noch zu Lebzeiten Jesu Verkünder eines jahrtausendealten Jenseitsglaubens
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6 Hier stand das schönste und prächtigste Weltwunder der Antike: der Artemistempel in Ephesus.
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7 Angehöriger eines Mysterienvereins: Siegessicher hebt er die Krone. Er ist seiner Auferstehung gewiß. 7
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8 8 Einem Novizen werden feierlich die Glaubensgeheimnisse eines antiken Mysterien-Kultvereins offenbart.
9 Überglücklich und dankbar preist er seine ihm nunmehr zuteil gewordene Unsterblichkeit. 9
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10 10 Beredte Abschieds- und Abendmahls-Szene auf einer kleinasiatischen antiken Grabstelle. 11 In der Kom-el-Schugafa-Katakombe: Altägyptische Toten- und Auferstehungsrituale wurden zu Lebzeiten Jesu auch unter der Erde Alexandrias vollführt. Das Relief im Hintergrund bezeugt die »Auferstehung« einer Mumie.
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Trompetenstöße dröhnten durch die Täler und Schluchten und über die nahen, wüstenhaft kahlen Berge Nabatäas. König Aretas IV. hatte wahrscheinlich befohlen, daß nach seinem Ableben ihm zu Ehren hier Begräbnisfeierlichkeiten stattfinden sollten, ähnlich den einem verstorbenen Pharao im nahen Niltal zugedachten Ritualen. Unauffällige nabatäische Spione und Späher zogen indessen durch das Moabgebirge und schauten von dort argwöhnisch zu den Ufern des Jordan und zu der jenseits des Toten Meeres gelegenen Qumransiedlung. Was in Nabatäa geschah, blieb wiederum Täufern und den judäischen Soldaten in dieser Siedlung wohl nicht verborgen. Der kleinasiatische Pharisäer Saulus hatte in Jerusalem Angehörige der Jesus-Bewegung verfolgt. Er begab sich nach »Damaskus«, um auch dort Jesusjünger aufzuspüren. Manche Forscher glauben, »Damaskus« sei ein Deckname für das ungefähr 35 Kilometer von Jerusalem entfernte Qumran gewesen. Dort habe sich Paulus eine Zeitlang militanten Bewohnern und Jordan-Täufern zugesellt, da sein Gesinnungswandel ihm die Todfeindschaft mächtiger Priester Jerusalems eingebracht hatte. So konnte denn Paulus viele Jahre später in seinem Brief an die Galater mitteilen: »... ging auch nicht hinauf nach Jerusalem zu denen, die vor mir Apostel waren, sondern zog hin nach Arabien und kam wiederum nach Damaskus.« (1,17) Das an das Gebiet um die Qumransiedlung angrenzende Nabatäa nannte man in den Tagen des Apostels Paulus »Arabien«. Sehr wahrscheinlich hat der rührige und stets lernbegierige 120
Paulus auch Petra, die Hauptstadt des Naba-täerreiches, aufgesucht. Anfang des zweiten Jahrhunderts hat ein Erdbeben den »Löwen-Greifen-Tempel« teilweise zerstört. Ein Dachschaden soll die weitere Benutzung der Kulträume unmöglich gemacht haben. »Über lange Zeit Wind und Wetter ausgesetzt, wurde er«, so vermerkt Hammond, »außerdem seiner Marmorverkleidung und Ziegel beraubt und sah nur eine gelegentliche, kurzdauernde Belegung.« Am 19. Mai des Jahres 363 hat ein erneutes Erdbeben Petra heimgesucht. Menschliche Überreste von zwei Opfern dieser Katastrophe wurden im »Löwen-Greifen-Tempel« freigelegt. Das nächste Erdbeben, es hat sich am 9. Juli 551 zugetragen, war das Ende dieser einstmals so prachtvollen und exotischen Haupt- und Totenstadt des Nabatäerreiches.
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Die Pilatus-Inschrift in Caesarea am Meer In einer Dachkammer der Bibliotheque Nationale in Paris suchte ich mit dem Direktor des »Cabinet des Medailles«, Dr. Michel Amandry, die beschriftete Marmortafel des Wilhelm Fröhner. Immer wieder hoben und schoben wir vergeblich antike Inschriftentafeln, Statuen und heidnische Altäre auf die Seite. Mußten wir ergebnislos die Suche aufgeben? Ich war verzweifelt. Endlich sahen wir sie unvermittelt vor uns liegen, auf dem Dachboden: die »Nazareth-Tafel«! Wir starrten auf die formschöne Marmorplatte. Es waren denkwürdige und unvergeßliche Augenblicke. Sicherlich dachte auch Dr. Amandry an Geschehnisse, die der Anfertigung dieser Tafel vorausgegangen waren. Mir fiel plötzlich der sogenannte Pilatus-Stein ein, den ich Jahre zuvor noch am Rande der untergegangenen Stadt Caesarea am Meer fotografiert hatte. Italienische Archäologen hatten in den Überresten der ehemaligen römischen Provinzhauptstadt Caesarea am Meer eine stark beschädigte Kalksteinplatte, in die der Name »Pontius Pilatus« eingemeißelt worden war, entdeckt. Eine halbkreisförmige Aushöhlung könnte darauf hinweisen, daß der Kalkstein später als Tischplatte gedient hatte. Letztlich wurde die beschriftete Tafel aber für den Bau einer Theatertreppe genutzt. Dieser sogenannte Pilatus-Stein ist das erste und bislang einzigartige epigraphische Zeugnis von der Existenz des so heftig umstrittenen römischen Statthalters. Auf den denkwürdigen Stein war gemeißelt worden:
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IBERIEUM TIUSPILATUS ECTUSIUDAE E Welche Buchstaben hatte man weggehauen? Wo müssen Silben ergänzt werden? Es wurden verschiedene Deutungsversuche vorgeschlagen. Vielleicht besagte die Inschrift: DIESES TIBERIEUM HAT PONTIUS PILATUS PRAEFEKT VON JUDAEA DEN EINWOHNERN VON CAESAREA GESCHENKT Pilatus entstammte dem römischen Geschlecht der Pontier. Vorfahren des Pilatus waren Volkstribunen und Senatoren. L. Pontius Aquila, ein Freund des großen Cicero, war einer der Mörder Caesars. Wahrscheinlich mußte Pilatus, bevor er im Jahre 26 mit seiner Gemahlin Claudia Procula nach Caesarea am Meer reiste, ihretwegen manche Schwierigkeiten überwinden. Fünf Jahre vor seiner Abreise wurde nämlich im römischen Senat abgestimmt, und Severus Caecina, so erzählt der Geschichtsschreiber Tacitus, stellte den Antrag: es solle »keinem Beamten, der eine Provinz erhalten habe, erlaubt sein, seine Gattin mitzunehmen«. Nicht ohne Grund sei vor Zeiten beschlossen worden, man solle seine Gattin nicht zu den Bundesgenossen oder ins Ausland nachkommen lassen. Das Gefolge der Frauen sei im Frieden durch Üppigkeit, im Krieg durch Schreckhaftigkeit hinderlich und gebe dem römischen Heereszug das Aussehen einer asiatischen Karawane. Das weibliche Geschlecht sei nicht nur schwach und keinen Strapazen gewachsen, sondern auch, wenn man 123
ihm die Freiheit dazu lasse, grausam, ehrgeizig und herrschsüchtig. Pontius Pilatus hat jedoch diese Schwierigkeiten überwunden und Claudia Procula im Jahre 26 nach Caesarea am Meer mitgenommen. Die Karriere des Statthalters Pontius Pilatus war mit dem Schicksal des Römers L. Aelius Seianus eng verwoben. Der Vater dieses L. Aelius Seianus, L. Seius Strabo, gehörte dem Ritterstand an. Kaiser Tiberius hatte ihn mit der Verwaltung Ägyptens betraut. Sein Sohn, L. Aelius Seianus, war im etruskischen Volsinii geboren. Er wurde zunächst gemeinsam mit seinem Vater, später allein Präfekt der Prätorianergarde. »Die Soldaten machte er sich ergeben«, so erzählt der Historiker von Rohden, »und seinen Einfluß im Senat sicherte ihm des Tiberius’ Gunst, der an ihm zur Ausführung seiner Pläne stets ein willkürliches und tüchtiges Werkzeug fand und ihn überall als den ihm am nächsten Stehenden rühmte.« Auf öffentlichen Plätzen, im Theater und in den Militärlagern wurde das Bild dieses L. Aelius Seianus damals aufgestellt und verehrt. Er verstieß seine Gemahlin, die ihm drei Kinder geboren hatte, und verführte Livia, eine Nichte des Kaisers, die er bewog, ihren Gemahl mit einem langsam wirkenden Gift zu töten. Im Jahre 26 nach der Zeitenwende folgte Kaiser Tiberius dem Rat des L. Aelius Seianus und verließ Rom, um den Rest seines Lebens auf der Insel Capri zu verbringen. Seianus war nunmehr des Kaisers alleiniger Stellvertreter in der Hauptstadt des römischen Weltreiches. Im gleichen Jahr 26 wurde Pontius Pilatus Statthalter von Judäa. Wahrscheinlich konnte der Ju124
denhasser Seianus erst jetzt, nachdem Kaiser Tiberius Rom verlassen hatte, seinen Willen durchsetzen und seinen Freund und Günstling Pontius Pilatus in den Orient schicken. Pilatus erfreute sich auch weiterhin der Gunst des Seianus und brauchte trotz aller Provokationen nicht zu befürchten, daß von den Juden Beschwerden gegen ihn in Rom vorgebracht würden. Soldaten des Statthalters marschierten beispielsweise nächtens durch die engen Gassen Jerusalems. An ihren Standarten hatte man Kaiserbilder befestigt. Wahrscheinlich prangte auf quadratischem Stoff in Goldbuchstaben der Name des Kaisers. Standarten waren den römischen Legionen heilig. Es waren die Symbole des vergöttlichten Herrschers. In der Heiligen Stadt war für die Juden eine heidnische Standarte mit dem Kaiserbild jedoch unerträglich, bedeutete sie doch, so erzählt Josephus, »nichts anderes, als daß das Gesetz der Juden verhöhnt wurde, wo dieses doch ausdrücklich die Aufstellung eines Bildnisses in der Stadt verbietet (Der Jüdische Krieg II,9,2). Viele Einwohner Jerusalems und selbst Juden der Umgebung zogen deshalb nach Caesarea und baten Pilatus inständig, »die Bildnisse aus Jerusalem wegbringen zu lassen und nicht an die alten Gesetze zu rühren. Pilatus lehnte es ab.« Die Bittsteller knieten in der Nähe des Statthalterpalastes nieder, berührten, so überliefert Josephus, mit der Stirn die Erde und harrten so fünf Tage und Nächte aus. (II,9,2) Auf der großen Rennbahn schritt Pontius Pilatus am sechsten Tag auf die Rednertribüne. Die immer noch wartenden Juden waren entsetzt, denn Pi125
latus drohte, »er wolle sie umbringen lassen, falls sie die Kaiserbildnisse nicht bei sich duldeten; und schon gab er den Soldaten ein Zeichen, die Schwerter blankzuziehen. Doch die Juden fielen allesamt zu Boden, als hätten sie es so vereinbart, und sie boten den Nacken dar und riefen laut, sie wollten lieber sterben, als gegen das Gesetz der Väter zu verstoßen. Pilatus aber war betroffen ob ihrer lauteren Gottesfurcht und befahl, die Bildnisse sofort aus Jerusalem wegzubringen.« (II,9,3) In der überbevölkerten und an Wassermangel leidenden Heiligen Stadt war der Bau eines Aquäduktes sicherlich ein sehr vernünftiges Anliegen. Aber dafür brauchte Pilatus sehr viel Geld, und aus seiner Amtskasse durfte er es nicht nehmen. Auch das Eindringen in die verborgenen Räume des Tempels, der Griff nach dem Tempelschatz, wäre selbst für den Statthalter ein gar zu gewaltsames Unterfangen gewesen und hätte sicherlich einen Aufstand der gesamten jüdischen Bevölkerung heraufbeschworen. Pilatus hat sehr wahrscheinlich das Synedrium, das Oberste Gericht und den Hohen Rat der Juden, von der Vordringlichkeit des Baus eines Aquädukts überzeugt. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit werden ihm die Priester Geld für den Bau der Wasserleitung gegeben haben. Die Sache war jedoch durchgesickert, und entsetzte Juden umringten, so überliefert Josephus, »tobend und lärmend« den Jerusalemer Amtssitz des Statthalters. Pilatus befahl, »auf die Lärmenden mit Prügeln einzuschlagen.« (II,9,4) Noch heute kann man Überreste dieser auf Befehl des Pontius Pilatus gebauten Wasserleitung in der Nähe von Bethlehem bewundern. 126
Auch im Zusammenhang mit der nach Jerusalem führenden Wasserleitung werden keine jüdischen Eingaben an den römischen Kaiser überliefert. In Rom herrschte immer noch Seianus. Die Juden in Jerusalem werden deshalb von vornherein die Aussichtslosigkeit einer Beschwerde eingesehen haben. Wie groß mag die Enttäuschung des Kaisers Tiberius gewesen sein, als er ungefähr fünf Jahre nach Verlassen der römischen Hauptstadt hörte, Seianus strebe nach der alleinigen Macht! Tiberius bestimmte unverzüglich den Präfekten der städtischen Kohorten, Naevius Sartorius Macro, zum Nachfolger des Verräters. Seianus wurde am 18. Oktober des Jahres 31 in das römische Senatsgebäude gelockt, dort verhaftet und unverzüglich hingerichtet. Der Stadtpöbel konnte seine Wut an der Leiche des Seianus auslassen, danach wurde der Leichnam in den Tiber geworfen. Kaiser Tiberius befahl, »alle umzubringen, die, der Verbindung mit Seianus angeklagt, im Keller lagen. Da lagen«, so überliefert Tacitus, »in Massen hingerichtete Menschen jeden Geschlechtes, jeden Alters, berühmte und unbekannte, zerstreut oder übereinandergehäuft. Und dabei war es Verwandten oder Freunden nicht verstattet, bei ihnen zu stehen, über sie zu weinen, ja nicht einmal, sie länger anzusehen, sondern ringsum aufgestellte Wächter, die auf eines jeden laute Klage spähten, wichen von den verwesenden Leichen nicht, bis sie in den Tiber geschleift wurden, wo sie umherschwammen oder an die Ufer trieben, niemand sie verbrannte oder nur berührte.« (Annalen VI,25) Auch die Erinnerung an diesen Staatsfeind sollte völlig ausgelöscht werden. Sogar eine Bemerkung zugunsten 127
des Seianus führte zur Verhaftung. Wie groß muß der Haß des Stadtpöbels damals gewesen sein, denn man begnügte sich nicht mit dem Wegmeißeln seines Namens, sondern vernichtete samt und sonders alle Seianus-Bildnisse und -Inschriften. Seeleute, die sich per Schiff Caesarea näherten, konnten schon von sehr weit den am Hafeneingang gelegenen Caesartempel bewundern. Der Hafen der prächtigen Residenz der römischen Statthalter war größer als die Ankerbucht des Piräus bei Athen. Das Amphittheater der betriebsamen Metropole Caesarea war 95 Meter lang und 62 Meter breit. An Bord der einlaufenden Segelschiffe waren sehr oft Soldaten und Beamte, die dem Kaiser Tiberius völlig ergeben waren. Pilatus erfuhr, daß man die Anhänger des Seianus und seine drei Kinder umgebracht hatte. Sicherlich hatte man dem Statthalter in Caesarea am Meer auch mitgeteilt: Wer von des Seianus Anhängern dem Blutbad entronnen war, hatte in Rom Selbstmord verübt oder war geflohen. Würde man ihm, Pontius Pilatus, jetzt den kaiserlichen Befehl zum Selbstmord überbringen? Sollte auch er, Pontius Pilatus, mit seiner Gemahlin Claudia Procula und seinen nächsten Vertrauten sterben? In Caesarea konnten heidnische und jüdische Einwohner nach dem Bekanntwerden des Gemetzels in Rom die Veränderungen der internen römischen Machtverhältnisse hautnah miterleben. Pilatus hatte seinen Freund in Rom verloren und taktierte deshalb fortan bedachtsamer und kompromißbereit; die nachfolgend geschilderten Ereignisse haben sich nach dem Sturz des Seianus zugetragen.
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Der jüdische Schriftsteller Philo von Alexandrien überliefert, Pilatus habe das Aufstellen vergoldeter Schilde in der Heiligen Stadt befohlen. Juden widersetzten sich und baten den Statthalter, man möge die Schilde entfernen, andernfalls wolle man sich beim Kaiser beschweren. Pontius Pilatus war wütend, und er fürchtete, die Juden könnten wirklich eine Gesandtschaft nach Rom schicken »und sich über seine sonstige Amtsführung beschweren. Dabei könnte man seine Bestechlichkeit, seine Gewalttätigkeit, seine Räubereien, Mißhandlungen, Beleidigungen, fortgesetzten Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren sowie seine unaufhörliche und unerträgliche Grausamkeit vortragen.« Wäre Pilatus tatsächlich so selbstherrlich und korrupt gewesen, Tiberius hätte ihn sicherlich nicht zehn Jahre in Amt und Würden belassen. Philo fährt fort: »Als boshafter und unversöhnlicher Mensch geriet er in Verlegenheit. Denn er wagte nicht, die einmal angebrachten Schilde zu beseitigen. Auf der anderen Seite kannte er die Unbeirrbarkeit des Tiberius in solchen Dingen sehr genau. Die Bevollmächtigten sahen das und bemerkten, daß ihm sein Vorgehen leid tat, er es aber nicht zugeben wollte. Sie richteten daher an Tiberius ein dringendes Bittgesuch. Was der aber sagte, welche Drohungen er gegen Pilatus ausstieß, als er das Schreiben las, wie sehr er in Zorn geriet, obwohl er nicht zum Zorn neigte, ist müßig auszuführen, da sein Vorgehen für sich selbst spricht. Denn unverzüglich und ohne bis zum nächsten Tag zu warten, verfaßte er seine Antwort. Darin tadelt er Pilatus aufs Schärfste wegen seiner ungewöhnlichen Un129
überlegtheit und befiehlt, sofort die Schilde zu entfernen, sowie sie aus der Hauptstadt nach Caesarea ans Meer zu schaffen.« Die Schilde wurden, so wie es Kaiser Tiberius befohlen hatte, nach Caesarea zurückgebracht und dort im Augustustempel aufgehängt, denn ein »Tiberieum« gab es damals in Caesarea noch nicht. Obgleich Kaiser Tiberius die Vergottung seiner Person nicht billigte, mag Pilatus den strikten kaiserlichen Befehl, die Schilde im »Augusteum« aufzustellen, als Fingerzeig gedeutet haben. Er ließ in Caesarea eine Weihestätte für die kultische Verehrung des Kaisers, das »Tiberieum«, bauen. In jenen Tagen wurde sehr wahrscheinlich auch der rätselhafte Pilatus-Stein vor oder in dem Tiberieum aufgestellt.
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Münzen und das Todesurteil des Pilatus Michel Amandry, der Direktor des Cabinet des Medailles der Bibliotheque Nationale, wird weltweit als der beste Kenner der antiken Münzpolitik angesehen. In Zeiten ohne Briefmarke, Zeitung und Fernsehen waren Geldstücke die prägnantesten Zeugen politischer Vorherrschaft, Willensbekundung der Besatzungsmächte und mitunter auch augenfällige Künder brutaler Gewalt. Juden haben deshalb auch fremdländisches Geld sehr genau angesehen, denn die neuen Prägungen zeigten, woher in dieser und jener römischen Provinz der Wind wehte. Jeder über zwanzig Jahre alte Jude hatte beim Betreten des Jerusalemer Tempels eine Tempelsteuer zu entrichten. Sogar aus entlegenen Teilen der römisch-griechischen Welt brachten Juden Geldstücke in die Heilige Stadt, oder die Münzen wurden in kleinen Säcken nach Jerusalem geschafft. Das Geld war für die Erhaltung des Heiligtums und für die Priester bestimmt, und ein Teil wurde dem Tempelschatz zugefügt. Die politische Bedeutsamkeit der römischen Münzpolitik können wir auch aus einer Erzählung des Neuen Testamentes herauslesen. Die Pharisäer stellten Jesus die Fangfrage, ob es recht sei, dem Kaiser Steuern zu zahlen oder nicht. Jesus wies auf eine ihm gereichte Münze mit dem Bild des Kaisers und antwortete: »So gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!« (Matthäus 22,15-21) Bis zur Ankunft des Pontius Pilatus im Jahre 26 hatte man in Caesarea fast nur Münzen geprägt, deren Em131
bleme das religiöse Empfinden der Juden nicht verletzten. Pontius Pilatus befahl nunmehr, ganz entgegen der bisherigen Gepflogenheit, das Prägen von Geldstücken, die verhaßte heidnische Symbole, ein Schöpfgefäß und einen Krummstab, zeigten. Sowohl das Schöpfgefäß wie auch der Krummstab wurden bei römischen Kultfeiern benutzt. Der Krummstab war sogar das Symbol der römischen Auguren. Nach der Hinrichtung des Seianus im Jahre 31 hat Pontius Pilatus das Prägen seiner provokativen Münzen sofort eingestellt. Die Ursache der so plötzlich veränderten Münzpolitik war sicherlich auch den Juden nicht entgangen. In Stadt und Land hatte es sich sofort herumgesprochen: Der verhaßte römische Statthalter hatte nur allzu gut die Zeichen der Zeit erkannt. Auch in anderen Provinzen des großen Weltreiches wußten die Einwohner, daß sich plötzlich sehr viel geändert hatte; sie brauchten nur auf ihre Münzen zu schauen. In der spanischen Stadt Bilbilis beispielsweise hatte man Geldstücke geprägt, die Tiberius und Seianus, beide mit dem Symbol des Sieges, dem Eichenkranz geschmückt zeigten. Nach dem Sturz des Seianus hatte man sein Bildnis sehr sorgfältig abgeschliffen, so, als hätte sich der Eigentümer dieser Münze gescheut, Geldstücke mit dem Bildnis des Hingerichteten weiterhin in die Hand zu nehmen oder gar vorzuzeigen. Es wäre ein gar zu gefährliches Unterfangen gewesen. Im Britischen Museum in London findet sich ebenfalls ein sehr ungewöhnliches Geldstück. Mit Hilfe einer Lupe kann man deutlich erkennen: Die Vorderseite zeigt einen Palmenzweig, auf der Rückseite sieht man einen Olivenkranz. Schaut man ganz genau hin, 132
gewahrt man unter dem Palmenzweig noch die ursprüngliche Prägung: den Krummstab der römischen Auguren. Eine ebenfalls verunstaltete Münze aus der Zeit des Pontius Pilatus! Die Ermordung des Seianus hat nicht nur die Münzpolitik des Pilatus, sie hat auch das richterliche Verhalten des Statthalters verändert. Pontius Pilatus wohnte während seiner Jerusalemer Aufenthalte im alten Palast des Königs Herodes des Großen. Hier soll er auch seine Urteile verkündet haben. Nirgends wird dies zwar eindeutig überliefert, aber man glaubt, es einer Erzählung des Josephus entnehmen zu können. Josephus berichtet nämlich, der römische Statthalter Forus habe im Jerusalemer Königsschloß residiert: »... und ließ tags darauf auf dem Platz den Richterstuhl aufrichten und setzte sich darauf.«(Der Jüdische Krieg II,14,8) Wie prunkvoll werden die Räumlichkeiten der Residenz Herodes’ des Großen einmal gewesen sein? »Die Herrlichkeit des Mosaiks im Innern läßt sich mit Worten nicht schildern«, vermerkt Josephus. »Es gab eine Menge von Gemächern, die in unendlicher Vielfalt ausgestattet und mit allem möglichen Hausrat versehen waren. Zumeist waren es Arbeiten aus Silber und Gold, die sich in allen Räumen befanden, die miteinander verbunden waren und deren jeder wieder andere Säulen aufwies. Die Innenhöfe lagen unter freiem Himmel und waren über und über mit Grün bewachsen; ja sogar die verschiedensten Baumgruppen standen hier, und lange Wege zum Lustwandeln zogen sich hindurch, begleitet von tiefen Kanälen, denen durch eherne Röhren allenthalben reichlich Wasser zufloß; und die Wasser waren umsäumt von vielen Türmen, in 133
denen zahme Tauben nisteten. Aber die Worte reichen nicht aus, um den Königspalast der Wahrheit gemäß zu schildern.« (Der Jüdische Krieg V,4,4) Als Jesus am Hang des Ölberges verhaftet wurde, weilte auch Claudia Procula in der Jerusalemer Residenz ihres Gemahls. Kaiphas hastete, um den Statthalter zu unterrichten, durch die dunklen Gassen Jerusalems. Vielleicht hat Pilatus spät abends seiner Gemahlin noch erzählt, was ihm der einflußreiche Hohepriester Kaiphas zugetragen hatte. Claudia Procula ließ frühmorgens hastig und erregt ihrem Gemahl, er hatte sich bereits in den Gerichtssaal begeben, mitteilen: »Habe du nichts zu schaffen mit diesem Gerechten; ich habe heute viel erlitten im Traum seinetwegen.« (Matthäus 27,19) Der Evangelist Johannes erzählt, Pontius Pilatus habe während der Gerichtsverhandlung voll Bewunderung über Jesu Haltung ausgerufen: »Sehet, welch ein Mensch!« (19,5) Danach sei Pilatus wankelmütig geworden. Aus der Menschenmenge vernahm man nämlich den Ruf: »Läßt du diesen los, so bist du des Kaisers Freund nicht; denn wer sich zum König macht, der ist wider den Kaiser!« (19,12) Wen bezeichnete man damals als »Freund des Kaisers«? Der Heidelberger Rechtshistoriker Otto Kariowa hat sich mit dieser auch für das Verständnis der JohannesÜberlieferung wichtigen Frage beschäftigt: »Freunde des Kaisers sind diejenigen, welche von ihm regelmäßig zur salutatio empfangen und zur Tafel gezogen werden, welche, um eines anderen Ausdrucks mich zu bedienen, hoffähig sind. Zu diesen Freunden gehörten sämtliche Personen senatorischen Standes, von den Personen des 134
Ritterstandes zunächst wohl nur die, denen das Bild des Kaisers im goldenen Ringe zu tragen gestattet war, später wurden alle Ritter als Freunde des Kaisers angesehen.« Judenfeindliche Amtshandlungen konnten, nach der Hinrichtung des Judenhassers Seianus von den Juden vorgetragen, den Statthalter Pontius Pilatus Ehre und Leben kosten. Das hat Pilatus in jenen schicksalhaften Augenblicken sicherlich bedacht. Er sprach das Todesurteil. Der herrliche Jerusalemer Herodespalast wurde während des römisch-jüdischen Krieges völlig zerstört. Hier haben die israelischen Archäologen Ruth Amiran und A. Eitan mit vielen Helfern gegraben. Im Erdreich und im Geröll der eingestürzten Mauern entdeckte man Topfscherben, einfache Öllampen, Bruchstücke von Glasschalen, viele Münzen und Teile von Kalksteinbecken. Niemand kann sagen, wem diese Münzen einmal gehört, wer die Öllampen abends, vielleicht in einem römisch schlichten Wohnraum oder einem ehelichen Schlafgemach, entzündet hat. Niemand weiß, wer sich in einem solchen Becken die Hände wusch. »Da aber Pilatus sah, daß er nichts ausrichtete, sondern vielmehr ein Getümmel entstand, nahm er Wasser und wusch die Hände vor dem Volk und sprach: Ich bin unschuldig an seinem Blut; sehet ihr zu!« (Matthäus 27,24) Die heutige Via Dolorosa, der angebliche Kreuzesweg Jesu, liegt ungefähr acht Meter tiefer als das Jerusalem des ersten nachchristlichen Jahrhunderts, denn nach der Zerstörung der Heiligen Stadt wurde jeweils auf dem »Kulturschutt« aufgebaut. Wie viele wertvolle Inschriftentafeln mögen noch unter den Straßen, Gassen 135
und Häusern des alten Jerusalem liegen? Auf der Leidensstraße soll ein Mann namens Simon Jesu Kreuz hilfreich auf seine Schultern genommen haben. Können uns Archäologen über diesen Mann etwas berichten? An den Südwesthängen des Kedrontales wurde der Eingang eines in den Fels gehauenen Grabgemachs gefunden. Den Zugang hatte man vor der Zerstörung Jerusalems mit einem Stein verschlossen. Auf einem steinernen Gebeinekasten konnten die verblüfften Ausgräber deutlich lassen: »Alexander, Sohn von Simon«. Im Augenblick der Entdeckung dachten die Forscher an die Begebenheit, die im Markus-Evangelium überliefert wird: »Und da sie ihn verspottet hatten, zogen sie ihm den Purpur aus und zogen ihm seine eigenen Kleider an und führten ihn hinaus, daß sie ihn kreuzigten, und zwangen einen, der vorüberging, mit Namen Simon von Kyrene, der vom Feld kam – der war der Vater des Alexander und des Rufus –, daß er ihm das Kreuz trüge.« (15,20f) War der hier bestattete »Alexander, Sohn von Simon«, einer der Söhne des Mannes, der Jesus in höchster Not beigestanden hatte? Immer noch wandern zwei Meter hohe Dünen über die einst blühende Stadt Caesarea am Meer, zum Glück für die Ausgräber, denn der Sand hat die Gebäude vor dem völligen Untergang bewahrt. Schon vor hundert Jahren waren vierundsiebzig verschiedene in Caesarea geprägte Münzsorten bekannt. Der Münzforscher Leo Kadman hat in zweiunddreißig Museen und neunzehn Privatsammlungen mehr als zweitausendfünfhundert in Caesarea geprägte Münzen
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untersucht. Dr. H.Hamburger entdeckte in Caesareas Dünen über dreitausend Kleinstmünzen. Vielleicht ist das Suchen und Bestimmen von Münzen im Sand der verwehten Provinzhauptstadt des Pontius Pilatus nur ein akademisches Unterfangen. Vielleicht ist es aber auch ein sehr nachdenklich stimmendes und unvergeßliches Erlebnis, wenn man im Wüstensand eine heiße Münze erblickt, sie säubert, untersucht und es schließlich ganz deutlich sehen kann: Ein Krummstab und ein Schöpfgefäß. Man wähnt sich weltgeschichtlichem Geschehen sehr nahe.
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Straßenarbeiter entdecken das Skelett des Kaiphas In der Nähe von Jerusalem stießen Ende November 1990 Straßenarbeiter auf altjüdische Grabkammern. Der Archäologe Zvi Greenhut und seine Mitarbeiter wurden herbeigerufen, sie stiegen in die von Plünderungen verwüsteten Grabgewölbe und entdeckten mehrere Gebeinekästen. Bis zum Untergang Jerusalems wurden Skelette in kleine Steinsärge, Ossuarien, umgebettet. An Wänden der neuentdeckten Gebeinekästen hatte man im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung mit Nägeln jüdische Namen eingeritzt. In dem von den Ausgräbern mit der Nummer »sechs« bezeichneten reichverzierten Ossuar lag das fast völlig verfallene Gebein eines ungefähr sechzig Jahre alten Mannes. Die Ossuarinschrift, »Joseph bar Chaiaphas«, bezeugt, daß der hier Bestattete der Hohepriester gewesen ist, der die folgenschwerste Tragödie der Weltgeschichte heraufbeschworen hat. Kaiphas war vor und nach der von ihm betriebenen Verurteilung Jesu der einflußreichste Würdenträger der sadduzäischen Priesterhierarchie. Er bekleidete sein hohes Amt vom Jahre 18 nach Christi Geburt bis zu seiner Absetzung im Jahre 36. Im gleichen Jahre 36 mußte Pontius Pilatus Palästina verlassen. Ein ursächlicher Zusammenhang von beiden Amtsenthebungen ist sehr oft gemutmaßt worden. Die Ausgräber entdeckten zusätzlich zwischen Überresten eines weiblichen Schädels eine im Jahre 42/43 nach Christi Geburt, somit während der Herrschaft des Königs Agrippa I. geprägte Münze. Indem Trauern138
de ein Geldstück in den erstarrten Mund eines Leichnams legten, huldigten sie einem nichtjüdischen heidnischen Brauch: Diese Geste sollte die unbeschadete Wanderung ins Jenseits gewährleisten. Man vermutete, daß ein heidnischer Haussklave der Toter heimlich die Münze in den Mund gelegt hat. Auf dem Ölbergg werden die von Archäologen freigelegten Überreste von Juden, Nichtjuden und auch von Menschen, deren Religion nicht mehr ermittelt werden kann, wieder bestattet. Auch die leiblichen Überreste des Hohenpriesters Kaip|ias haben nach der anthropologischen Untersuchung hier die letzte Ruhe gefunden.
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Die Schuld der Sadduzäer Der mutmaßliche Schwiegervater des Kaiphas war der in seinen Tagen sehr mächtige Hohepriester Annas. Annas war Begründer einer bedeutenden Priesterhierarchie. Im Jahre 6 nach Christi Geburt hatte ihm der römische Statthalter Quirinius das hohepriesterliche Amt anvertraut. Der Sadduzäer Annas soll »einer der glücklichsten Menschen« gewesen sein, überliefert Josephus in seinem Werk Jüdische Altertümer: »Er hatte nämlich fünf Söhne, dje alle dem Herrn als Hohepriester dienten, nachdem er auch selbst diese Würde lange Zeit hindurch bekleidet hatte, und so etwas war noch bei keinem unserer Hohenpriester der Fall gewesen.« (XX,9,1) Im Jahre 15 wurde Annas von dem römischen Statthalter Valerius Gratus seines Amtes enthoben. Sicherlich hat Annas trotzdem die Amtshandlungen seiner fünf Söhne und auch die Entscheidungen des Kaiphas maßgeblich beeinflußt. Wahrscheinlich nährte der wegen seiner Amtsenthebung frustrierte Annas auch heftige Zweifel an einer geordneten Amtsführung des Statthalters Pontius Pilatus. Annas könnte somit der eigentliche Auslöser der Golgatha-Tragödie gewesen sein. Das dürfte vielleicht einer Mitteilung des Evangelisten Johannes zu entnehmen sein: »Die Schar aber und der Oberhauptmann und die Diener der Juden nahmen Jesus und banden ihn und führten ihn zuerst zu Annas; der war der Schwiegervater des Kaiphas, welcher des Jahres Hoherpriester war.« (18,12 f)
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Frühe Angehörige der Jesus-Bewegung waren sich der Schuld der Sadduzäer an der Verurteilung Jesu sehr bewußt. Eine entscheidende Mitschuld an Jesu Kreuzigung kann man den Pharisäern hingegen nicht anlasten. Die Pharisäer hatten sich der Verurteilung Jesu sogar widersetzt, denn sie waren von der Verbindlichkeit ihrer Schrift überzeugt: Kein Jude durfte einer fremden Macht überantwortet werden, es wäre dies eine Sünde, die nicht vergeben werden konnte. So haben sie den Groll der mit ihnen rivalisierenden sadduzäischen Hohenpriester gemehrt. Welche Macht die damaligen sadduzäischen Priester in den frühen Tagen der JesusBewegung ausübten, kann man der Apostelgeschichte entnehmen. Jünger Jesu predigten in Jerusalem: »Als sie aber zum Volk redeten, traten zu ihnen die Priester und der Hauptmann des Tempels und die Sadduzäer, die verdroß, daß sie das Volk lehrten und verkündigten an Jesus die Auferstehung von den Toten. Und sie legten die Hände an sie und setzten sie bis auf den Morgen ins Gefängnis.« (4,1-3) Die Evangelisten und Josephus nennen unzweideutig den Zynismus und die Roheit des sadduzäischen Hohepriesterklans. »Der Hohepriester Annas der Jüngere war«, so überliefert Josephus in seinem Werk Jüdische Altertümer, »von heftiger und verwegener Gemütsart und gehörte zur Sekte der Sadduzäer, die, wie schon früher bemerkt, im Gerichte härter und liebloser sind als alle anderen Juden.« (XX,9,1) Nach dem Ableben des römischen Statthalters Festus und bevor der neuernannte Statthalter Albinus eingetroffen war, glaubte Annas der Jüngere, eine günstige 141
Gelegenheit wahrnehmen zu können: »Er versammelte daher«, so überliefert Josephus, »den hohen Rat zum Gericht und stellte vor dasselbe den Bruder des Jesus, der Christus genannt wird, mit Namen Jakobus, sowie noch einige andere, die er der Gesetzesübertretung anklagte und zur Steinigung führen ließ.« Widersacher wollten die Amtsanmaßung dieses Hohenpriesters nicht hinnehmen und »gingen sogar dem Albinus«, so fährt Josephus in seiner Erzählung fort, »der von Alexandria kam, entgegen und stellten ihm vor, daß Annas ohne seine Genehmigung den hohen Rat gar nicht zum Gericht habe berufen dürfen. Diesen Ausführungen pflichtete Albinus bei und schrieb im höchsten Zorn an Annas einen Brief, worin er ihm die gebührende Strafe androht. Infolge dieser Vorkommnisse wurde Annas schon nach drei Monaten seines Amtes enthoben. Der Statthalter Albinus wollte, so überliefert Josephus, in Jerusalem geordnete Verhältnisse schaffen, deshalb ließ er Aufständische, die auch vor Meuchelmord nicht zurückschreckten, umbringen. Der frühere Hohepriester Ananias erfreute sich hingegen zunehmenden Ansehens.
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Geldgier, Hochmut und Geheimnisse der Tempelpriester Nahman Avigad, Archäologieprofessor der Hebräischen Universität in Jerusalem, entdeckte ungefähr hundertfünfzig Meter westlich des Jerusalemer Tempelberges Überreste eines Hauses: einen Empfangsraum, vier Wohnräume, eine kleine Küche und eine Badestube. Eine Feuersbrunst hatte das Wohnhaus während der Belagerung Jerusalems zerstört. Zwischen dem Gemäuer lagen Steine, verkohlte Balken und Asche. Eine bislang einmalige Entdeckung, denn diese Schuttmassen waren später nicht weggeräumt worden. Avigad entdeckte zwischen den Mauerüberresten einen Speer. Seinen geschulten Augen war nicht entgangen: Jemand hatte diese Waffe an die Hausmauer gelehnt. Man konnte den Speer wahrscheinlich nicht mehr gebrauchen an jenem 28. August des Jahres 70, als man das Gebrüll der brandschatzenden römischen Soldaten vernahm, als nebenan der brennende Tempel die Unterstadt Jerusalems in eine Lohe des Unheils und des Verbrechens tauchte, als die Mauern dieses Hauses barsten und das Dach zusammenbrach. Solche Gedanken nährte Avigad, als ihm ein Ausgräber zurief, man habe eine Inschrift entdeckt! Eine Inschrift? Jeder Ausgräber, so versichert Avigad, sei, wenn er dieses Wort vernehme, wie elektrisiert. Avigad konnte denn auch tatsächlich das aramäische »Bar Kathros«, Sohn des Kathros, lesen. Hier also wurde der Angehörige einer berüchtigten Jerusalemer Priesterfamilie genannt! 143
Männer dieses Namens waren anmaßende Hohepriester. Sie glaubten, allein im Besitze der ganzen Wahrheit zu sein. In den Tagen der römischen Statthalter, so vermerkt Avigad, beherrschten sie die Juden Palästinas. Sie verfügten über wichtige Geschäftsbereiche des Tempels und mißbrauchten ihre hohen Ämter. Jedes Mitglied der Kathros-Familie bediente sich dabei seiner eigenen Methode: Die einen stritten und schimpften, andere griffen zu nackter Gewalt, wieder andere kränkten und beleidigten mit ihrer Feder! Ein noch lange nach der Zerstörung Jerusalems gesungenes Spottlied handelt von der Habsucht und Überheblichkeit dieses Hohepriesterklans. Das Spottlied ist sogar in den Talmud eingegangen. Der Refrain beginnt mit »Wehe mir ...!« Avigad meint, hier verspüre man, woher damals in Jerusalem der Wind geweht, wir vernähmen das Seufzen eines Volkes, dessen Priesterschaft vor nichts zurückschreckte, wenn ihren finanziellen Interessen nicht der selbstherrlich geforderte Vorrang eingeräumt worden war. Der Evangelist Matthäus hat Jesus in den Mund gelegt: »Es ist nichts verborgen, was nicht offenbar werde, und ist nichts heimlich, was man nicht wissen werde. Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht; und was euch gesagt wird in das Ohr, das predigt auf den Dächern.« (10,26-27) Dachte Matthäus an die geheimen Praktiken der Priester im Jerusalemer Tempel? Priester sprachen dort über Gott, Schöpfung, Himmel, Gesetzesauslegung und über Gottes Thron. Sie überwachten die Geheimhaltung ihrer esoterischen Auslegung alten Traditionsgutes. Geheime Rituale wurden vollzogen. Deshalb durften ja auch nur Priester die 144
heiligsten Räume des Jerusalemer Tempelkomplexes betreten. Im Jahre 1870 entdeckte der französische Altertumsforscher Charles Clermont-Ganneau ungefähr fünfzig Meter vom Jerusalemer Tempelareal entfernt einen Stein mit einer griechischen Inschrift. Nachfolgend die Übersetzung: »Einem Fremden ist es verboten, die den Tempel und seinen Hof umgebende Balustrade zu überschreiten. Wer dabei ertappt wird, wird angeklagt und zum Tode verurteilt.« Der israelische Ausgräber B. Mazar erläutert: »Wie die meisten antiken Heiligtümer bestand der Tempel in Jerusalem aus verschiedenen Teilen, für die es unterschiedliche Vorschriften gab, die den Zugang zu ihnen regelten. Das Allerheiligste durfte nur einmal im Jahr, am Versöhnungstag, vom Hohenpriester betreten werden. Jede Verletzung dieser Vorschrift wurde von den römischen Behörden mit der Todesstrafe belegt, und auch nur der Anschein eines solchen unerlaubten Betretens rief den Zorn der Bevölkerung hervor. Um solche Vorfälle zu vermeiden, wurden an der Grenze des Inneren Tempels Inschriften angebracht, die NichtJuden das Nähertreten untersagten.« Im Jahre 1870 war das Heilige Land Teil des Osmanischen Reiches. Der denkwürdige, von ClermontGanneau entdeckte Stein wurde deshalb damals von Jerusalem nach Konstantinopel, in die Hauptstadt des Reiches, geschafft und vielen dort bereits zusammengetragenen Statuen, Sarkophagen und beschrifteten Tafeln beigefügt. Ich hatte mich in Konstantinopel um diese Inschriftentafel bemüht. Der Direktor der Archäologischen Museen sagte mir, diese Tafel befände 145
sich im Lager und sei deshalb für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Bauarbeiter entdeckten vor einiger Zeit in Jerusalem, außerhalb des Sankt-Stephans-Tores, Überreste eines Gewölbes und darunter eine Grabkammer. In diesem Gewölbe wurden Bruchstücke einer griechisch beschrifteten Platte gefunden. Die Inschrift untersagte ebenfalls das Betreten des Tempel-Innenhofes. Auch Josephus erwähnt die Drohung. Während der Belagerung Jerusalems hatte man, so überliefert Josephus, ein Geschütz, Katapulte und Steinwurfmaschinen aufgestellt. Der Raum rund um den Tempel glich bei der Fülle der Leichen einem Friedhof, der Tempel selbst einer Festung. »Habt nicht ihr selbst, ihr Verworfenen«, schleuderte Josephus namens des römischen Feldherrn Titus über die Mauern der belagerten Stadt seinen Landsleuten entgegen, »diese Schranke um den Tempel aufgeführt? Und habt ihr nicht daran die Säulen errichtet, auf denen in griechischer Sprache und der eurigen das Verbot aufgezeichnet ist, daß niemand diese Grenze überschreite? Haben wir Römer euch nicht das Recht gegeben, jeden zu töten, der diese Weisung übertrat, auch wenn der Mann ein Römer war? Wie könnt ihr nun, ihr Frevler, selbst Leichname in diesem Heiligtum zertreten?« (Der Jüdische Krieg IV,2,3)
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Schicksal und Aussehen des gekreuzigen Jehohanan Im Nordosten von Jerusalem entdeckten Straßenarbeiter neun im ersten nachchristlichen Jahrhundert in den weichen Kalkstein gehauene jüdische Familiengräber. In das eine große Familiengrab mußte der Archäologe V. Tzaferis von oben eindringen, denn der Grabzugang befand sich unter einer Straße, und der Eingang dieses Felsengrabes war im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung von einem Stein verschlossen worden. In den Gewölben lagen verstreut Skelettreste, steinerne Gebeinekästen und Tonlampen. Tzaferis und seine Mitarbeiter machten eine makabre Entdeckung: In dem von den Ausgräbern mit der Nummer vier bezeichneten Ossuar lagen Gebeine eines Gekreuzigten. Er war zwischen seinem vierundzwanzigsten und achtundzwanzigsten Lebensjahr hingerichtet worden. Seine Beine hatte man gebrochen. Seine Füße hatte man abgehackt. Knochen seiner Füße wurden immer noch von einem Nagel zusammengehalten. Auf dem Gebeinekasten war der Name des Hingerichteten eingeritzt worden: JEHOHANAN. Es sind bislang die einzigen von Archäologen in Israel entdeckten Überreste eines Gekreuzigten, obgleich im heiligen Land unüberschaubar viele Juden und Heiden von römischen Soldaten gekreuzigt worden waren. In dem gleichen Ossuar lagen auch die Gebeine eines dreibis vierjährigen Kindes. Vielleicht war es ein leibliches Kind des Gekreuzigten. Auf dem Gebeinekasten konnte man den eingeritzten Namen entziffern: »Jehohanan, Sohn des Gespreizten«. Der Zusatz »Sohn des Ge147
spreizten« entfachte einen heftigen wissenschaftlichen Meinungsaustausch. Der israelische Archäologe und Sprachforscher Yigael Yadin vertrat die Ansicht, man habe Jehohanan den Spitznamen »Der mit gespreizten Beinen Gekreuzigte« zugedacht. Mit der wissenschaftlichen Auswertung der Skelette wurde Dr. Nicu Haas, ein namhafter Anatom der Hebräischen Universität, betreut. Was dieser Gelehrte herausfand, ist geradezu verblüffend, obgleich die äußeren Umstände seiner Arbeit nicht immer förderlich gewesen sind; denn aus religiösen Gründen wird das Ausgraben und Entfernen menschlicher Überreste von strenggläubigen Juden als »Grabraub« und »Grabfrevel« verurteilt. Ist es trotzdem geschehen, müssen Gebeine spätestens nach vier Wochen wieder bestattet werden. Haas durfte jedoch einige Knochen des Gekreuzigten zurückbehalten, da eine exakte wissenschaftliche Untersuchung dieses Gebeins erst nach langwieriger und gründlicher Konservierung möglich war. Dr. Haas hat den Inhalt von fünfzehn Ossuarien untersucht. Dreizehn Steinkästen waren bis zum Rande mit den Skeletten von fünfunddreißig Individuen angefüllt. Nahezu alle Knochen, so betont Haas, waren gut erhalten. Zwischen den menschlichen Gebeinen lagen geringe Skelettreste von Tieren. Auch das Schicksal der hier Bestatteten bezeugt die unerhörte Grausamkeit des Endkampfes zwischen Juden und heidnischen Römern: Jehohanan hatte man ans Kreuz geschlagen. In dem Schädel eines mit achtzehn oder siebzehn Jahren in den Flammen umgekommenen Jungen waren noch achtundzwanzig Zähne. Nach der Verbrennung 148
hatte man die Überreste dieser Leiche, so Dr. Haas, noch lange auf dem Scheiterhaufen liegenlassen. Einen Jungen hatte man mit einem Pfeil getötet. Eine dreißig- bis fünfunddreißigjährige Frau starb, weil man ihr offensichtlich keine Hilfe leisten konnte. Auf ihrem Gebeinekasten war die von manchen Sprachgelehrten allerdings angefochtene Inschrift zu lesen: »Ossuar der Salome, der Tochter des Saul, die nicht gebären konnte. Friede, Tochter!« Einen Menschen hatte man mit einer Keule erschlagen. Drei Kinder waren verhungert. Und so weiter! Zwischen den vielen erstaunlichen Einzelheiten, die Haas aus dem Zustand der Skelettüberreste herauslesen konnte, findet sich auch die Bemerkung, einer der hier Begrabenen, ein vierzig- bis fünfundvierzigjähriger Mann, sei wahrscheinlich Steinmetz gewesen. Aus der Beschaffenheit der Zehenknochen glaubte Dr. Haas auch den Schluß ziehen zu können, der Mann habe zu enge Schuhe getragen. Schließlich konnte Haas der Weltöffentlichkeit mitteilen: Der Gekreuzigte war ungefähr 167 cm groß. Dies entspricht der mittleren Größe eines nahöstlichen Menschen zu Lebzeiten Jesu. Jehohanan hatte, so glaubt Haas, ein einnehmendes Äußeres. Eine ungleichmäßige Gesichtsbildung wurde von Kopfhaaren und von einem Backenbart fast völlig verdeckt. Bis zu seiner Kreuzigung erfreute sich Jehohanan guter Gesundheit. Schon bald nach der Kreuzigung des jungen Mannes hatte man damals versucht, den Nagel aus seinen Füßen zu ziehen. Dies gelang nicht, denn nach dem Einschla-
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gen hatte man den Nagel umgebogen. Die Füße wurden deshalb mit einem einzigen Beilhieb abgetrennt. Was war die Ursache des asymmetrischen Gesichtes? Dr. Haas ließ für seine Studien von dem Gekreuzigten ein Phantombild anfertigen. Seine Diagnose lautet: Während der ersten zwei oder drei Wochen der Schwangerschaft erlebte die Mutter des Jehohanan eine kritische Änderung ihrer Lebensumstände. Hinzu kamen Störungen während der Schlußphase der Schwangerschaft oder Schwierigkeiten während des Gebärens. Das wissenschaftliche Gutachten von Haas umfaßt zweihundertzwanzig Seiten, und er fügte noch an, daß er nicht ohne innere Anteilnahme die Gebeine der Ossuarien untersucht habe. Vor und nach der Hinrichtung Jesu seien viele tausend Juden und Heiden aus Kreuz geschlagen worden. Seine anthropologischen Studien hätten gezeigt, daß der Lebensweg des in seinen frühen Mannesjahren Gekreuzigten wegen der Begleitumstände seiner Geburt schon von Anfang an in bestimmte Bahnen gelenkt worden sei. Erst drei Jahre nach der Entdeckung des im Nordosten von Jerusalem gelegenen Familiengrabes wurde die Weltöffentlichkeit über die anatomische Untersuchung der Jehohanan-Skelettreste informiert. Eine namhafte Presseagentur berichtete: »Jerusalem: Gebeine eines Gekreuzigten. Tod im Sitzen. Es war nicht Jesus.« Dr. Haas fügte seinem Gutachten später noch hinzu, laut anatomischem Befund sei die Kreuzigung dieses jungen Mannes schmerzhafter gewesen als die Kreuzigung Jesu. »Die Füße waren parallel zum Kreuz hochgestellt«, so vermerkt Haas, »und an den Fersen mit einem einzigen Nagel durchbohrt. Die Knie waren 150
übereinandergeschlagen, der Rumpf verdreht und die Arme waagrecht von den Schultern aus angenagelt.« Die angebliche Schuld dieses Gekreuzigten wird sicherlich niemals erforscht werden. Wie willkürlich damals Menschen hingerichtet und gekreuzigt wurden, hat Josephus angedeutet: »... und eine Menge friedlicher Bürger wurde gefangen und vor Florus geführt«, überliefert Josephus in seinem Werk Der Jüdische Krieg, »der sie erst schmachvoll geißeln und dann ans Kreuz schlagen ließ. Insgesamt 630 Menschen kamen an diesem Tag um, Frauen und Kinder eingerechnet, nicht einmal die Kleinsten wurden verschont. Die Katastrophe erhielt durch die bislang noch nicht erlebte Grausamkeit der Römer ein besonderes Gewicht: Florus verstieg sich nämlich zu einer Handlungsweise, wie sie noch keiner vor ihm gewagt hatte, indem er Angehörige des Ritterstandes, die wohl jüdischen Geblüts waren, aber ein römisches Ehrenamt innehatten, unmittelbar vor seinem Richterstuhl geißeln und ans Kreuz schlagen ließ.« (11,14,9) Nach der Zerstörung Jerusalems erblickte Josephus viele gekreuzigte Juden. Drei seiner Freunde hatte man ebenfalls ans Kreuz geschlagen. Josephus sah es, weinte und meldete es dem römischen Feldherrn Titus. Titus » .. .gab sogleich Befehl«, so erzählte Josephus, »sie vom Kreuze abzunehmen und mit aller erdenklichen Kunst zu behandeln.« (Vita IV,75) Trotzdem starben zwei von ihnen unter den Händen der Pfleger, der dritte blieb am Leben.
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Geheimnisvolle Kreuze Während der Verwirklichung von Bauvorhaben auf dem Gelände eines A. David Kirat in einem nordöstlichen Vorortjerusalems hatte man jüdische Grabkammern entdeckt. Den Eingang des Grabgewölbes verschloß ein großer Stein. Im Innern glaubte der israelische Archäologe E. L. Sukenik auf einem steinernen Gebeinekasten MIRIAM TOCHTER DES SIMON lesen zu können. Wann wurde dieses Grabgewölbe gebaut und benutzt? Im Erdreich der Grabkammer fand man schließlich eine stark beschädigte Münze. Das Geldstück nennt wiederum das sechste Regierungsjahr König Agrippas I., das Jahr 42/43. Auf allen vier Seiten eines hier entdeckten Steinsarges hatte man Kreuze eingeritzt. Im ersten Jahrhundert war das Kreuz jedoch noch kein Symbol der Jesus-Bewegung. Neben einem Kreuz entzifferte Sukenik den Namen JESUS. Dahinter hatte man ein Wort eingeritzt, das Sukenik nicht sofort verstehen konnte. Auf einen anderen Steinsarg hatte man den gleichen Namen eingeritzt und hebräische Schriftzeichen angefügt, die Sukenik als Schmerzenslaut »Weh« deutete. Sukenik glaubte schließlich, die Lösung dieses Rätsels gefunden zu haben: Um die Mitte des ersten Jahrhunderts war das Kreuz noch nicht als Symbol für den Glauben der damals neuen Jesus-Bewegung bekannt. 152
Das Kreuz sollte lediglich besagen: »Es wurde gekreuzigt!« Später entdeckte man im gleichen Grabgewölbe ein Ossuar mit dem eingeritzten Namen SIMON BARSABA. Dieser Eigenname findet sich nur in Schriften des Neuen Testaments. Nach dem Kreuzestod suchte man einen würdigen Jünger Jesu, der die Stelle des Verräters Judas Iskariot einnehmen sollte. »Und sie stellten«, so lesen wir in der Apostelgeschichte, »zwei auf: Joseph, genannt Barsabas, mit dem Zunamen Justus ...« (1,23). Sukenik und andere Forscher meinen, auf dem Baugelände des Kirat sei der im Neuen Testament genannte Barsabas beigesetzt worden; man hätte somit ein noch nicht ausgeräubertes Familiengrab aus der frühesten Zeit der Jerusalemer Jesusgemeinde entdeckt.
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Auferstehungsgerüchte in der Hauptstadt Sepphoris Es ist mehr als erstaunlich: Die im ersten nachchristlichen Jahrhundert sehr bedeutende, im Auftrag des Landesherrn Jesu, Herodes Antipas, in Anlehnung an hellenistisches Kunstempfinden prächtig wiederaufgebaute Stadt Sepphoris war die Kapitale von Galiläa und Peräa und wird trotzdem im Neuen Testament nicht genannt. Das kam sicherlich nicht von ungefähr. Zur Zeit Jesu lebten in Sepphoris ungefähr dreißigtausend Menschen, hauptsächlich Juden, Araber, Griechen, Römer, Syrer und Ägypter. Im nahen Nazareth waren damals etwa vierhundert Menschen beheimatet. Sepphoris wird jetzt ausgegraben. Wahrscheinlich hat Jesus in der großen Stadt Sepphoris schon als Kind und junger Mann nachhaltige Anregungen für seine späteren Lehren empfangen. In der damals hochmodernen und weltoffenen Kapitale wird er mit Menschen aus vielen Ländern geredet haben. Sepphoris lag an einer der großen östlichen Verkehrsstraßen der römisch-griechischen Welt. In den öffentlichen Bädern, an Springbrunnen, auf Marktplätzen, unter Kolonnaden, in Regierungsgebäuden, in den mit buntem oder weißem Marmor verkleideten Villen traf man sogar Besucher, die vom fernen Baktrien, Indien und Persien nach Sepphoris gekommen waren. Ungefähr viertausend Zuschauer konnten in dem Amphitheater Platz finden. Das Theater war so groß wie das berühmte Amphitheater in Caesarea am Meer. Als Ausgräber in Sepphoris die Bühne des Theaters freilegten, war das hölzerne Parkett längst vermodert. Man vermutet, daß 154
sehr viele Handwerker aus der Umgebung hier Arbeit und Brot gefunden hatten. Jesus könnte sehr wohl mit seinem Vater bei der Anfertigung des Theaterparketts mitgearbeitet haben. In Sepphoris war ein Mann namens Chusa als Finanzbeamter des Herodes Antipas tätig. Seine gemütskranke Gemahlin Johanna begleitete Jesus. »Und es begab sich danach«, so lesen wir im Evangelium des Lukas, »daß er reiste durch Städte und Dörfer und predigte und verkündigte das Evangelium vom Reich Gottes; und die Zwölf waren mit ihm, dazu etliche Frauen, die er gesund gemacht hatte von bösen Geistern und Krankheiten, nämlich Maria, die da Magdalena heißt, von welcher waren sieben Geister ausgefahren, und Johanna, die Frau des Chusa, eines Verwalters des Herodes, und Susanna und viele andere, die ihnen Handreichung taten von ihrer Habe.« (8,1-3) Man wird Jesus oft erzählt haben, wie es in den Villen der Reichen und in den Amtsstuben der Regierungshauptstadt Sepphoris aussah. Dann mag Jesus hin und wieder schmerzvoll an sein eigenes Los gedacht haben: »Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber des Menschen Sohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.« (Lukas 9,58) Man glaubt, die von großer Weltkenntnis und Lebenserfahrung zeugenden Gleichnisse Jesu auf sein nachhaltiges Vertrautsein mit Gepflogenheiten der großen, geschäftigen Stadt Sepphoris zurückführen zu können. Die in der Regierungshauptstadt des Herodes Antipas besonders heftig ausgetragenen Zwistigkeiten zwischen Galiläern, Nabatäern und Parthern sind Jesus
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sicherlich nicht entgangen. Man sprach auch über das Aufbegehren der Zeloten. Nach Jesu Kreuzigung kehrte ein Teil seiner Jünger nach Galiläa zurück. Wahrscheinlich hat man einige sogar wiederum in der Regierungshauptstadt Sepphoris gesehen. Nach und nach behaupteten Galiläer auf den Märkten, in den Gassen, in Synagogen, im Theater und in den Villen, Jesus sei auferstanden, er sei in Galiläa gesehen worden und werde wiederkommen. Manche meinten, Jesus sei der so lange herbeigesehnte Messias, er komme, um das Land von dem Joch der römischen Besatzungsmacht zu befreien. Das Gerücht verbreitete sich damals sicherlich sehr schnell. Sadduzäische Priester, die selbst nicht an die Auferstehung der Toten glaubten, hatten vor dem Richterstuhl des Statthalters Pontius Pilatus heftig und erfolgreich für die Kreuzigung Jesu gestritten. Der Unglaube gerade dieser mächtigen, an dem großen Unrecht für schuldig befundenen verhaßten Priesterschaft sollte jetzt widerlegt werden, denn Jesus sei tatsächlich auferstanden.
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12 12 Alexandria: Der Palast des römischen Statthalters, die einmalige Bibliothek und das weltberühmte Museum sind längst nicht mehr. Die einstige Weltstadt existiert seit über zweitausend Jahren, ... 13 ... aber Caesarea am Meer, die prunkvolle Residenz des Statthalters Pontius Pilatus, ist untergegangen. Überreste des damals von Beamten, Touristen und Seeleuten vielbesuchten Hafens. 13
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14 14 Über diese helle Treppen (Bildmitte) ging Jesus mit seinen Jüngern, umgeben von Neugierigen, zu den Geldwechslern des gewaltigen jüdischen Zentral- Heiligtums 14 Kein Jude sollte diese im Auftrag des Statthalters Pontius Pilatus geprägte Münze berühren 15
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16 16 Noch war Pontius Pilatus der Protektion seines Gönners sicher, als er hier mit seiner Frau während einer Jerusalemer Inspektionsreise wohnte und nahebei das Urteil sprach. 17 Der denkwürdige »Pilatus- Stein«: Er wurde vom Autor kurz nach der Entdeckung und noch in Caesarea fotografiert. 17
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18 18 Blick über den Essener-Friedhof. Rechts oben, vor den gewaltigen Mauern Jerusalems, wurde angeblich Jesus hingerichtet und an den Hängen des Kedrontales, links neben dem hochaufragenden altjüdischen Grabmonument, beigesetzt. 19 Im Jakobus-Hypogaeum. Vielleicht wurde Jesus auf diesem Steinbett aufgebahrt. 19
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3 Die Lehren des Apostels Paulus Auferstehungsglaube im versunkenen Ugarit Götter und Religionen sterben nicht. Niemals entsteht eine Religion aus dem Nichts. Archäologen haben immer wieder Nährböden, die Paulinische Lehren erst möglich machten, freigelegt. »Paulus ist eine bestimmt faßbare Persönlichkeit«, schrieb der evangelische Neutestamentier Karl Ludwig Schmidt, »die uns aus ihren eigenen Briefen bekannter ist als alle anderen Gestalten des Urchristentums.« Und der evangelische Theologe Hans Lietzmann, Professor für Kirchengeschichte, ist der Ansicht: »Voll verstanden hat den Paulus keiner von seinen Hörern und Lesern bis auf den heutigen Tag.« Und so urteilt der jüdische Religionshistoriker Cecil Roth: »Als Jesus den Kreuzestod starb, durfte man annehmen, daß sein Einfluß mit ihm sterben würde, wie das bei so vielen seiner Zeitgenossen der Fall war.« Und: »Wenige Juden haben die Welt je in gleichem Maße beeinflußt. Er [Paulus] ist wahrscheinlich mehr als jede andere Person dafür verantwortlich, daß das Christentum die uns heute bekannte Form annahm und daß es schließlich die Welt eroberte.« So wollen wir uns denn fragen: Welche »heute bekannte Form« hat schließlich »die Welt« erobert?
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Während des Pflügens stieß ein Bauer nördlich der syrischen Stadt Latakia auf einen Stein. Er gehörte zu den Überresten eines Grabes. So begann eine der folgenschwersten Entdeckungen unseres Jahrhunderts: Unter den Hügeln, man nennt sie heute Ras Schamra, ist eine Stadt der Kanaaniter begraben, eines Volkes, das die eindringenden Hebräer mit einem erstaunlichen Reichtum uralter Glaubensvorstellungen vertraut gemacht hatte. Im zweiten vorchristlichen Jahrtausend hieß diese Siedlung Ugarit. Wie konnten Forscher dies nachweisen? »Der Name«, so erläutert der dänische Religionshistoriker Arvid S. Kapelrud, »kommt mehrfach auf den aufgefundenen Tafeln vor. Er ist außerdem durch die Briefe von Teil el Amarna bekannt, der alten in Ägypten entdeckten diplomatischen Korrespondenz.« Mit atemloser Spannung haben die Ausgräber immer wieder neue und überraschende Funde gemacht. Sie entdeckten Geschenke eines Pharao, eine Bibliothek, einen Palast und den Aufenthaltsraum für Priester und Tempelgelehrte. Vor Jahrtausenden kamen Gelehrte aus Ägypten, Assyrien und vom minoischen Kreta nach Ugarit. Über zweihundertfünfzig Keilschrifttafeln mit akkadischen Schriftzeichen kamen ans Licht. Auf anderen Tafeln sind hier alle bedeutenden Sprachen des zweiten vorchristlichen Jahrtausends vertreten: Akkadisch, Ägyptisch, Hethitisch, Hurritisch und Sumerisch. Obgleich kein mehrsprachiger Text gefunden wurde, gelang einem Orientalisten der Universität Halle, Hans Bauer, schon bald die Entzifferung der ugaritischen Keilschriftzeichen und damit das Lesen ugari162
tischer Texte. »Man ist sich allgemein darüber einig«, schrieb später der Orientalist Cyrus H. Gordon, »daß die ugaritischen Tafeln die größte Entdeckung auf dem Gebiet des antiken Schrifttums seit der Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen und der mesopotamischen Keilschrift bedeuten. Es ist auch weitherum bekannt, daß die ugaritische Literatur der hebräischen Bibel näher kommt als jede andere.« Kernpunkt der ugaritischen Religion war der Glaube an den Tod und an die Auferstehung eines Kultgottes. Die in Kanaan eindringenden Hebräer haben sich diesen Glauben nach und nach angeeignet. Um 1358 vor Christi Geburt, während der Regierungszeit des Pharao Amenhotep IV., ist Ugarit untergegangen. Wahrscheinlich hat ein Erdbeben die blühende Stadtkultur vernichtet. Die historischen und prophetischen Bücher, auch die Psalmen des Alten Testaments bekunden den Einfluß des kanaanäischen Glaubens und Kultes. Beim Propheten Hesekiel lesen wir: »Und er führte mich zum Eingang des Tores am Hause des HERRN, das gegen Norden liegt, und dort saßen Frauen, die den Tammuz beweinten.« (8,14) Tammuz ist der ursprünglich sumerische, später babylonische Gott des Todes und der Auferstehung, vergleichbar dem ägyptischen Osiris, dem phrygischen Attis, dem syrischen Adonis. Mit dem Sterben des Tammuz stirbt auch das Blühen und Gedeihen der Natur. Betrauert wurde Tammuz also an der nördlichen Stadtmauer Jerusalems. Man darf dieses von dem Propheten Hesekiel genannte Tor an der Stelle des heutigen Damaskustores oder in dessen unmittelbarer Nähe vermuten. 163
Der Glaube an den altorientalischen Kultgott Tammuz war noch in den Tagen Jesu lebendig. Tammuz wurde damals auch in den Höhlen der heutigen Geburtskirche kultisch verehrt. Ließ man deshalb Jesus dort geboren sein? Noch zu Lebzeiten der römischen Kaiser Hadrian und Konstantin wurde in diesen Höhlen, an der vermeintlichen Geburtsstätte Jesu, der Tod des uralten babylonischen Gottes Tammuz beweint.
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Der Rabbiner Saulus und die Geheimkulte Saulus wurde in der kleinasiatischen Universitäts- und Handelsstadt Tarsus geboren. Seine Eltern besaßen das römische Bürgerrecht. Die für sein gesamtes späteres Leben und Lehren bestimmenden Erlebnisse und Erkenntnisse wurden ihm in Tarsus zuteil. Im Spätsommer, während die Natur verdorrte, zogen Prozessionen durch die Straßen und Gassen der Heimatstadt des Saulus. Bilder des Vegetationsgottes Sandan wurden feierlich an den Gläubigen vorbeigetragen. Einheimische und Fremde sangen Klagelieder. Danach wurden die Gottesbilder, Münzfunde beweisen es, verbrannt. Im Frühjahr, während des erneuten Grünens und Blühens der Natur, jubelte das Volk über die so heiß ersehnte Auferstehung des tarsischen Vegetationsgottes. Not, Hunger und Tod werden keinen Einzug halten. Dem heranreifenden Saulus können diese überschäumenden Freudenszenen nicht entgangen sein. Die Hafenstadt Tarsus war zu Lebzeiten des Paulus auch ein Zentrum mithrischer Gelehrsamkeit und mithrischen Glaubens. Die Ursprünge des Mithrakultes gehen auf die Lehren des altiranischen Propheten und Religionsgründers Zarathustra zurück. Während der Wanderschaft nach Westen vermischte Zarathustras Botschaft sich mit babylonischen Mythen, Lehren der Mysterienreligionen Kleinasiens und Syriens und sogar mit philosophischen Spekulationen der Griechen: Der fruchtbaren Erde des Nahen Ostens entsprang eine für die Religionsgeschichte sehr bedeutsame Religion, der Mithraskult. 165
Nach der Zeitenwende verbreitete sich diese kompromißlose Männerreligion besonders unter Soldaten mit erstaunlicher Schnelligkeit in allen Bereichen des römischen Weltreiches. Paulus war sogar mit Geheimlehren dieses Kults wohlvertraut. Seine oftmals rätselhafte und dunkle Ausdrucksweise deutet daraufhin. Als ungefähr Siebzehnjähriger reiste der Pharisäer Saulus nach Jerusalem; dort wollte der angehende Rabbiner bei dem großen Lehrer Gamaliel sein Thorastudium vollenden. Zugleich tat er sich als fanatischer Verfolger der Jünger Jesu hervor, bis das Damaskuserlebnis sein Leben radikal veränderte. Nach einem mehrjährigen Wüstenaufenthalt wanderte er nordwärts, seiner kleinasiatischen Heimat entgegen. In dem von Paulus damals durchquerten Syrien waren Auferstehungsfeste sehr beliebt. Der griechische Schriftsteller Lukian von Samosata erzählt sehr ausführlich: In Biblos hatte er einen Aphroditetempel aufgesucht und sah, wie herzzerreißend der Tod des AphroditeGefährten Adonis beklagt wurde. »Sie erheben im ganzen Land eine große Totenklage. Wenn Jammer und Klage verklungen sind, vollziehen sie die Beisetzungsriten für Adonis, als sei er gestorben«, erzählt Lukian, »um danach an einem anderen Tag zu verkünden, daß er lebe. Sie werfen Staub in die Luft und lassen sich die Köpfe kahlscheren, wie es die Ägypter tun, wenn Apis stirbt. Frauen aber, die sich nicht kahlscheren lassen wollen, zahlen folgende Buße: An einem gewissen Tag müssen sie zur bestimmten Zeit für die Prostitution zur Verfügung stehen. Der Markt ist nur Fremden freigegeben, und die Gebühr wird Aphrodite als Opfergabe dargebracht.« 166
Von Tarsus aus kehrte Paulus später nach Syrien zurück. In der nordsyrischen Stadt Antiochia hingen ebenfalls viele Bewohner dem Adoniskult an. Hier tauchte übrigens zum ersten Mal der Name »Christen« auf. In Antiochia war der Apostel Paulus sehr erfolgreich. »Da religiöse Bräuche nie aus dem Nichts geschaffen werden«, vermerkt Otto Pfleiderer, der 1875 zum Professor für evangelische Theologie und Religionsphilosophie an die Berliner Universität berufen wurde, »so werden wir wohl annehmen dürfen, daß die Heidenchristen Antiochiens ihre alten Bräuche, mit denen sie vordem den Tod und die Auferstehung ihres Herrn Adonis gefeiert haben, noch beibehalten und jetzt nur auf den neuen Herrn Christus übertragen haben. So geschah es ganz von selbst, daß ihnen Christus als der Herr erschien, der eben durch seinen Tod und seine Auferstehung das Heil der Seinigen bewirkt habe und der Erlöser der Welt geworden sei. Und nun kam der Apostel Paulus in diese neue Gemeinde, wohin er aus seiner Vaterstadt Tarsus von Barnabas abgeholt worden war; bald war er in ihr heimisch und wirkte mit reichem Segen, so daß die Gemeinde zusehends wuchs. Da war es gewiß nur natürlich, daß Paulus auf die Bräuche und Vorstellungen, die er in der heidenchristlichen Gemeinde Antiochiens vorfand, auch seinerseits einging – wie hätte er sonst segensreich unter ihr wirken können?« Welche Lehre war so »segensreich«? Schon seit vielen Jahrtausenden glaubte man im Orient, der Mensch sei von Geburt an sündhaft. Um Gott zu versöhnen, ist, so lehrte Paulus fortan, Jesus freiwillig den Kreuzestod gestorben. Für Paulus wurde dieser vermeintliche eingeborene Gottessohn zum 167
»Opferlamm«. Und nach seinem Opfertod ist er sogar auferstanden. »Ist aber Christus nicht auferstanden«, so beteuerte Paulus, »so ist unsere Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich.« (Erster Brief an die Korinther 15,14) Der berühmte Sohn eines Pastors, der Philosoph Friedrich Nietzsche, sieht es so: »Paulus hat diese Auffassung, diese Unzucht von Auffassung mit jener rabbinerhaften Frechheit, die ihn in allen Stücken auszeichnet, dahin logisiert: ›Wenn Christus nicht auferstanden ist von den Toten, so ist unser Glaube eitel.‹ Und mit einem Male wurde aus dem Evangelium die verächtlichste aller unerfüllbaren Versprechungen, die unverschämte Lehre von der Personal-Unsterblichkeit... Paulus selbst lehrte sie noch als Lohn!« (Der Antichrist II, 1203) In Nietzsches Nachlaß lesen wir: »Paulus geht von dem Mysterienbedürfnis der großen religiös erregten Menge aus: er sucht ein Opfer, eine blutige Phantasmagorie, die den Kampf aushält mit den Bildern der Geheimkulte: Gott am Kreuze, das Bluttrinken, die unio mystica mit dem ›Opfer‹. Er hat das große Bedürfnis der heidnischen Welt verstanden und aus den Tatsachen vom Leben und Tode Christi eine vollkommen willkürliche Auswahl gemacht, alles neu akzentuiert, überall das Schwergewicht verlegt ..., er hat prinzipiell das ursprüngliche Christentum annulliert.«
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Was geschah in Ephesus? Das Vertrautsein mit Auferstehungsbräuchen konnte der Apostel Paulus auch in den sehr alten und reichen Städten Kleinasiens voraussetzen. In den Synagogen, auf den Straßen und in Privathäusern der großen Städte und sogar auf dem Lande sprach er sicherlich oft mit Leuten, die insgeheim einer Mysteriengemeinde angehörten. In ihren Kulträumen erflehten sie mit Gesängen, Anrufungen und Gebeten die Auferstehung ihres Erlösergottes. In seinen Briefen brauchte Paulus nicht auf heidnische Bräuche näher einzugehen. Bei persönlichen Auseinandersetzungen mit Heiden scheint er manchmal unsicher gewesen zu sein; im Zweiten Brief an die Korinther heißt es nämlich: »Denn seine Briefe, sprechen sie, sind stark und wiegen schwer; aber wenn er selbst anwesend ist, ist er schwach und seine Rede ohne Gewicht.« (10,10) Ephesus war die größte und bedeutendste antike Metropole Kleinasiens. Vor zweitausend Jahren war Ephesus eine Hafenstadt, heute ist die Küste versandet, und der Salzgehalt der Erde erlaubt nur eine spärliche Vegetation. Ungefähr ein Zwangzigstel des Stadtareals wurde bisher ausgegraben, über dreitausend Inschriften wurden gefunden und ausgewertet. Wir wissen deshalb recht genau, wie es hier ausgeschaut hat, als die ersten Angehörigen der Jesus-Bewegung über die mit Säulen und Statuen geschmückten Straßen gingen. Eine prächtige Hangstraße wurde nach einer damals sehr einflußreichen Priestervereinigung Kuretenstraße genannt. An dieser heiligen Straße fand man das Mit169
telstück der Basis einer heidnischen Ehrensäule. In lateinischen Lettern hatte ein antiker Steinmetz eine Huldigung an den Kaiser Vespasian in den Marmor gemeißelt. Hier die Übersetzung: DEM VERGÖTTLICHTEN IMPERATOR CAESAR VESPASIANUS AUGUSTUS. In Palästina wurde der Kaiser Vespasian sogar als Soter, »Erlöser« verehrt. Als sich Vespasian todkrank wähnte, im Jahre 79, soll er, so erzählt der römische Geschichtsschreiber Suetonius, spöttisch ausgerufen haben: »O weh, ich glaube, ich werde ein Gott!« Auch der Kaiser Augustus wurde als Heiland verehrt. Eine im antiken Priene entdeckte Inschrift nennt Augustus »den Heiland der Welt, den Heiland und Wohltäter aller Menschen, den unbesiegbaren Sohn Gottes«. Unweit der Kuretenstraße haben Archäologen zwischen Überresten eines Privathauses eine beschriftete und mit christlicher Kreuzsymbolik gezierte Marmortafel gefunden. Die ungenaue Orthographie mag andeuten: Der Schreiber hat dem Stein sein ganz persönliches und hoffnungsfrohes Bekenntnis anvertraut: »Mögest du diesen Wettstreit«, so übersetzen Epigraphiker, »siegesvoll bestehen.« Die merkwürdige Tafel beschreibt somit den Kampf des Christen, dem gleich einem Athleten der Siegeskranz gehören wird. Die Ausdrucksweise erinnert an ein Sprachbild des Apostels Paulus. Vielleicht hatte der Schreiber dem Apostel während dessen zweijährigem Aufenthalt in Ephesus zugehört. 170
An der Kuretenstraße wurden neuerdings auch viele Privathäuser reicher Epheser freigelegt. Diese an den Hang gebauten Häuser könnte man geradezu als religionskundliches »Freilichtmuseum« bezeichnen. Die Schönheit und Pracht der hier ausgegrabenen Kunstwerke ist einmalig: Isis- und Serapisstatuetten, Öllampen, eine einundsiebzig Zentimeter hohe Asklepiosstatue aus Marmor, Ehreninschriften, Büsten römischer Kaiser aus urchristlicher Zeit, Götterbildnisse des griechischen und römischen Pantheons, eine herrliche beinerne Aphroditefigur, eine achtzig Zentimeter große Artemisstatue, Glasschalen, Standarten, Attisskulpturen aus Marmor oder Kalkstein, eine wunderbare Büste des jungen Gottes Eros, Hera und Hermes, diese und viele andere antike Kunstschätze wurden in den Häusern an der Kuretenstraße gefunden. Als Paulus in Ephesus weilte, bangten Händler und Handwerksleute um den Absatz ihrer heidnischen Reiseandenken und Kultgegenstände. Ein Goldschmied namens Demetrius soll deshalb in der großen Stadt die Volksmenge mit heftigen Worten aufgestachelt haben. »Liebe Männer«, so überliefert der Evangelist Lukas, der Autor der Apostelgeschichte, »ihr wisset, daß wir großen Gewinn von diesem Gewerbe haben; und ihr sehet und höret, daß nicht allein zu Ephesus, sondern auch fast in der ganzen Landschaft Asien dieser Paulus viel Volks abfällig macht, überredet und spricht: Was von Händen gemacht ist, das sind keine Götter. Aber es droht nicht nur unser Gewerbe dahin zu geraten, daß es nichts mehr gilt, sondern auch der Tempel der großen Göttin Diana wird für nichts geachtet werden, und sogar ihre göttliche Majestät wird untergehen, welcher 171
doch die ganze Landschaft Asien und der Weltkreis Anbetung erzeigt.« (19,25-27) Die aufgepeitschten Volksmassen stürmten zum großen Theater. Während eines zweistündigen Getümmels soll die Menge getobt und geschrien haben: »Groß ist die Diana der Epheser!« – Die Göttin Artemis wurde von Römern Diana genannt. Dem britischen Archäologen J.T. Wood war nach jahrelangem und fieberhaftem Suchen das Auffinden des Tempels der Artemis/Diana gelungen. Wood vermutete, der Stadtrat habe sich nach den Wirren genötigt gesehen, eine Verordnung zu erlassen, die Judenchristen fortan das Predigen im großen Theater untersagte. Hochinteressant ist die neuerliche Entdeckung einer merkwürdigen Inschrift, sie nennt einen Tempel-Vorsteher namens Demetrius. Ein Demetrius soll zwar ein »neopoios« gewesen sein, die Übersetzer der Apostelgeschichte, so meinen manche Forscher, seien jedoch einem Irrtum aufgesessen, denn mit dem griechischen Wort »neopoios« könne sowohl ein Goldschmied wie auch ein Tempelvorsteher gemeint sein. Hatte gar der Oberpriester des großen nahen Artemis-Heiligtums, somit ein Eunuche, die Menschenmassen in der damaligen Weltstadt gegen Juden und Heidenchristen aufgestachelt? Der Artemis-Tempel in Ephesus war das prächtigste der sieben Weltwunder. Auch in den Tagen des Apostels Paulus drängten sich in und rund um das Artemision Tempelbesucher. Beamte des Heiligtums, braune, gelbe und weiße Asylanten, Kultgehilfen und freilich auch Oberpriester, Priester und Priesterinnen gingen hier mehr oder weniger ihren Geschäften nach. 172
Der Oberpriester des Artemisions mußte ein Verschnittener, ein Eunuche, sein. Die Priesterinnen waren Jungfrauen. Nach dem Ausscheiden aus dem Tempeldienst durften sie heiraten. Ihre Töchter konnten wiederum als Priesterinnen im Artemision dienen. Verheirateten Frauen war das Betreten des Heiligtums hingegen bei Todesstrafe untersagt. Hetären durften den Tempel nur betreten, nachdem sie sich zuvor von ihrem Liebhaber getrennt hatten. Kranke und Verzagte suchten im Gespräch mit Priesterinnen und Priestern Trost und Hilfe. Ungezählte Votivgaben und Weihegeschenke wurden als Dank für die große Göttin im Tempel aufgestellt. Auf dem Marktplatz der großen Stadt, in unmittelbarer Nähe der Kuretenstraße, wurden damals Sklaven und Sklavinnen feilgeboten. Mißbrauchte eine Sklavin das Asylrecht des Tempels, bekam ihr Herr die Sklavin zurück, er durfte sie jedoch wegen ihrer Flucht nicht bestrafen. Hatte aber der Eigentümer der Sklavin deren Flucht verschuldet, wurde die entlaufene Sklavin Eigentum des Artemisions. Im Jahre 1965 wurde der Brandopferaltar des Artemisions entdeckt. An der Opferstätte fanden die Ausgräber auch viele Überreste tierischer Skelette und sogar menschliches Gebein. Der Artemistempel muß damals einem Schlachthaus geglichen haben. In den Tagen des Apostels Paulus waren der Handel mit Opfertieren und Votivgaben, das Bankwesen und die Einkünfte aus den tempeleigenen Ländereien für die Priester des Artemisions ein lukratives Geschäft. Wenige Schritte vor der ausgegrabenen und teilweise wieder aufgebauten Celsus-Bibliothek haben Archäologen Überreste eines Hörsaales entdeckt. Der Apostel 173
Paulus, und vielleicht auch der berühmte Dionysios von Milet, könnten dieses Auditorium gemietet haben. »Er ging aber in die Synagoge und predigte frei öffentlich drei Monate lang, lehrte und überzeugte sie von dem Reich Gottes. Da aber etliche verstockt waren und nicht glaubten«, so steht es in der Apostelgeschichte, »und übel redeten über die Lehre vor der Menge, wich er von ihnen und sonderte die Jünger ab und redete täglich in der Schule des Tyrannus.« (19,89) Überreste der Synagoge wurden bislang in Ephe-sus nicht entdeckt. Wenige Schritte von der Celsus-Bibliothek entfernt steht ein Sarkophag. Eine Inschrift besagt, daß man Dionysios von Milet, einen gefeierten, von Kaiser Hadrian mehrfach geehrten Virtuosen der Redekunst, in diesen Sarkophag gebettet hatte. Dionysios pflegte die im Altertum hochgepriesene Kunst der schönen und geschliffenen Rede bei Vortragsreisen darzubieten. Die Ehre, inmitten einer Stadt begraben zu werden, wurde auch im Altertum nur sehr wenigen zuteil.
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Der Heiland und Wunderwirker aus Tyana Im Museum der kleinasiatischen Hafenstadt Adana machten Forscher eine erstaunliche Entdeckung: Eine Inschrift nennt den Heiligen und Wanderprediger Apollonius von Tyana. Bislang glaubten manche Forscher, antike Apollonius-Erzählungen seien eine Fabel und dieser Heilige der kleinasiatischen Stadt Tyana habe niemals gelebt. In dem Hörsaal neben der Celsus-Bibliothek in Ephesus könnte im ersten Jahrhundert auch der Magier Apollonius gepredigt haben. Vielleicht ist Paulus dem kleinasiatischen Wundermann dort begegnet. In dem kleinasiatischen Ort Tyana hatte Apollonius das Licht der Welt erblickt. Schon während seiner Geburt hatten angeblich Boten des Gottes Apollo gesungen. Apollonius durchwanderte in seinen jungen Jahren die Länder der östlichen Welt. Begierig nach immer neuem Wissen suchte und fand er Weisheitslehrer in Syrien, Babylonien und Ägypten. Apollonius soll in Indien sogar zu Füßen brahmanischer Lehrer gesessen haben. Ein Weiser soll dort, so erzählt der Sophist Philostratos, zu Apollonius gesagt haben: »Ihr habt, wenn ich mich nicht irre, ein Gesetz, das demjenigen, der Geld fälscht oder ein Kind fälschlicherweise eintragen läßt oder sonst etwas dieser Art tut, mit dem Tode droht. Dagegen gibt es bei euch kein Gesetz und keine geeignete Obrigkeit gegen solche, die die Philosophie verfälschen und ihr etwas unterschieben.« Apollonius wirkte Wunder; er trieb Dämonen aus und rief ein junges Mädchen ins Leben zurück. »Wie Jesus 175
wird auch er angeklagt«, sinnierte der protestantische Theologe Albert Reville, der 1880 zum Professor für Religionsgeschichte an das College de France in Paris berufen wurde, »durch zauberische unerlaubte Mittel die Wunder zu wirken, die er doch nur vollbringen kann, weil er ein Freund der Götter ist und es zu sein verdient.« Wir wissen nicht, was Apollonius und Jesus wirklich gelehrt haben und was man ihnen nachträglich in den Mund gelegt hat. Wahrscheinlich waren beide über die allzu überschwengliche Reaktion mancher Verehrer betroffen. Jesus jedenfalls wollte kein Wundermann und Magier sein. Er soll Zuhörer sogar unumwunden gerügt und gesagt haben: »Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, so glaubt ihr nicht.« (Johannes 4,48) Reville hat es so gesehen: »Die böswilligen Anschuldigungen, denen Jesus sowohl wie Apollonius zum Opfer fallen, sind unter den Philosophen der verschiedenen Religionen und besonders den untereinander rivalisierenden Zauberkünstlern an der Tagesordnung.« Apollonius ist ebenfalls auferstanden. Seine Freunde glaubten, ein Gespenst vor sich zu haben. Das »läßt uns«, so schrieb Reville, »nur an die Erscheinungen Jesu nach seinem Tode denken, und wie diese ist sie unabhängig von den Gesetzen, nach denen sich Körper im Raum bewegen. Ähnliches würde man ohne große Mühe«, so Reville, »bei all den Gauklern finden können, die sich damals in die Gunst der Leute teilten.« Man entdeckte Münzen, die in Apollonius’ Geburtsort Tyana geprägt worden waren. Die Geldstücke lassen den Namen des Kaisers Caracalla erkennen. Manche Forscher vermuten, Caracalla habe mit Münzprägun176
gen das Andenken an den heiligen Mann ehren wollen. Im Betgemach des römischen Kaisers Alexander Severus standen Bilder, die Jesus, Apollonius, Abraham, Orpheus und »andere Heilige« zeigten. Für Apollonius wurden Tempel gebaut und Bildsäulen errichtet. Der Wanderprediger und Wundermann aus Tyana wurde noch in der Spätantike als Gott verehrt. Die neuerliche Entdeckung der Apollonius-Inschrift hat der weit über hundert Jahre währenden Apollonius-Auseinandersetzung neuen Auftrieb verschafft.
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Abendmahl und Amulette Von der teilweise ausgegrabenen antiken Metropole Ephesus sind es nur ungefähr zwanzig Gehminuten zu der heutigen türkischen Kleinstadt Seljuk. Fremde aus aller Welt besuchen das gepflegte Seljuk-Museum. Hier scheint die Zeit des Apostels Paulus wieder lebendig zu werden. Jede Statue, jede Inschrift und jeder Sarkophag erzählt eine Geschichte. Das Relief eines sehr schönen Sarkophags zeigt einen Trinkenden. Er hebt, auf seiner Kline liegend, einen Becher und scheint diesem Gefäß eine besondere Bedeutung beizumessen. Auf einem Tisch liegen Speisen, daneben stehen Trauernde. Wahrscheinlich ist es ein Abschiedsmahl. Solche Kunstwerke der Mysterienfrömmigkeit waren auch zu Lebzeiten des Apostels Paulus in Kleinasien und in Syrien sehr beliebt. Unwillkürlich denkt man beim Betrachten des Kultreliefs an das im Neuen Testament berichtete »Abendmahl«. Der Theologieprofessor Wilhelm Heitmüller vermerkt: »daß damals in der heidnischen Welt des paulinischen Missionsgebietes, zumal in Syrien und Kleinasien, der Glaube an die Vermittlung göttlicher Kräfte durch Essen und Trinken weite Verbreitung hatte. In diesen religionsgeschichtlichen Zusammenhang gehört die paulinische Auffassung von der sakramentalen Bedeutung des Herrenmahles; auf diesem Hintergrund allein kann sie verstanden werden. Die Verwandtschaft liegt auf der Hand. Vermutlich hat Paulus Jesu schlichtes abendliches Zusammensein mit seinen
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Jüngern in Anlehnung an die damals weitverbreiteten Mysterienfeiern als Sakrament mißdeutet. Nach Art der Amulette des Mysterienglaubens trugen Angehörige der Jesus-Bewegung Amulette, die sie als Verehrer Jesu auswiesen. Solche Amulette werden in Überresten des antiken Ephesus immer wieder ausgegraben. Sogar die damals weitverbreitete Tätowierungskunst wurde in den Dienst des neuen Glaubens gestellt. »Vor allem«, schreibt Heitmüller, »war die Tätowierung auf religiösem Gebiet gebräuchlich. Die Verehrer einer Gottheit trugen deren Namen oder ihr Emblem an ihrem Körper. « Eine Ampulle aus gebranntem Ton zeigt im Seljuk-Museum ein Bild Christi. Fromme Christen bedienten sich solcher Gefäße zur Aufbewahrung von Öl, das Pilger aus Palästina mitgebracht hatten.
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Der Brite William Ramsay wird fündig Der britische Archäologe und Historiker William Ramsay hat sich um die Erforschung des Urchristentums große Verdienste erworben. Sein Haupttätigkeitsbereich war die Ausgrabung versunkener Städte Kleinasiens. Mit seinem legendären Spürsinn schien er geradezu die antiken Ruinen zu beschwören. Besonders antike Inschriften hatten es ihm angetan. In Würdigung seiner großen Verdienste wurde Ramsay geadelt. Sir William Ramsay hatte in der untergegangenen antiken Stadt Klaros das berühmte Heiligtum des Apollo ausgegraben. In den Tagen des Apostels Paulus waren Mysten sogar von weither nach Klaros gekommen, um hier Befreiung von seelischen und körperlichen Leiden zu erflehen. Manche haben mit Votivtafeln und Inschriften später ihre Dankbarkeit bekundet. Ramsay verglich die auf einer Klaros-Tafel gebrauchte Ausdrucksweise mit der Ermahnung des Apostels Paulus: »Lasset euch niemand das Ziel verrücken, der sich gefällt in falscher Demut und Verehrung der Engel und sich mit seinen Geschichten rühmt und ist ohne Ursache aufgeblasen in seinem fleischlichen Sinn.« (Brief an die Kolosser 2,18) Nach sorgfältigem sprach- und religionswissenschaftlichem Abwägen war Ramsay überzeugt: Der Apostel Paulus hatte mit der Wahl seiner Worte bewußt und für seine Leser damals sehr gut verständlich wiederum an das Ritual der Mysterienweihe angeknüpft. Paulus dachte an den Hochmut heidnischer Kultpriester, die 180
sinnlichen Genüssen verfallen waren. Paulus verspottete wahrscheinlich auch bei seinem öffentlichen Auftreten in der großen Stadt Ephesus die Rituale der Geheimbünde. Die in der antiken Welt weithin berühmte Pilgerstätte Klaros ist nur eine kurze Wegstrecke von Ephesus entfernt. Sicherlich wird der Apostel Paulus während seines ungefähr zweijährigen Aufenthaltes in Ephesus auch Klaros und das Mysterienheiligtum dieser Stadt aufgesucht haben.
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Das Haus der Jungfrau Maria – ein frommer Betrug Als Archäologen nach dem Zweiten Weltkrieg die Marienkirche in Ephesus freilegten, konnten sie feststellen, daß man beim Bau dieses frühchristlichen Gotteshauses der Verehrung der Muttergottheit Artemis eingedenk gewesen war. Die Südhalle »blickt nämlich gerade auf jenen Berg, der unter dem Namen Koressos-Tracheia (und Peion?)«, so schrieb der Archäologe Stefan Karwiese, »im Zentrum der uralten Prozession lag, die vom Artemision durch Ephesus und zurück zum Heiligtum führt. Er wird deshalb gewiß auch als ein der Artemis Ephesis heiliger Berg Geltung gehabt haben.« Eine wissenschaftliche Erklärung. Weshalb aber zieht es heute alljährlich so viele tausend Pilger aus aller Welt zu »jenem« Berg? Der stigmatisierten deutschen Klosterfrau Katharina Emmerich (1774-1824) wurden Visionen zuteil; sie vermeinte, in der Gegend des antiken Ephesus die Hütte schauen zu können, in der die »Gottesmutter Maria« gestorben war. Sie beschrieb sogar, wo man diese Hütte suchen müsse. Der Dichter Clemens von Brentano hat ihre Geschichte zu Papier gebracht. Das Buch wurde in mehrere Sprachen übersetzt und hat Priester, Mönche, Nonnen und Laien gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts zu Nachforschungen angeregt. Im Jahre 1881 verließ der Abbe Gouyet seine Pariser Diözese, um das von Katharina Emmerich genannte Häuschen zu suchen.
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Er fand tatsächlich in der Nähe der versunkenen Stadt Ephesus, in einem damals fast unzugänglichen, steil ansteigenden Waldgebiet, Überreste eines kleinen Steinhauses, von dem er annahm, daß es bis in das erste nachchristliche Jahrhundert zurückreichen könnte. Archäologen stellten später fest, daß er Mauerwerk einer byzantinischen Kapelle des sechsten oder siebten Jahrhunderts entdeckt hatte; die Grundmauern waren keinesfalls im ersten Jahrhundert erbaut worden. Unbeachtet blieb damals auch, daß die arme Klosterfrau ihre westfälische Heimat zwar niemals verlassen, aber erfahren hatte, daß eine kleine Christengemeinde unweit des alten Ephesus die Mutergottes verehrte. Das Gemäuer wurde renoviert, der bislang so stille und weltentlegene Berghang und das Häuschen wurden zur weltberühmten und vielbesuchten Pilgerstätte. Es ist heute ähnlich wie im nahen Ephesus zu Lebzeiten des Apostels Paulus: Prozessionen kommen und gehen, Muttergottesstatuen werden feierlich einhergetragen, exotisch gewandete Priester intonieren fromme Weisen, man hört auch lateinische Laute. Pilger knien und singen, beten und heben beschwörend die Arme. Bei Kerzenschein werden Weihegeschenke und Votivgaben im Innern des Häuschens auf den geschmückten Altar gestellt. Vermeintliche Wunderheilungen geschehen an diesem Wallfahrtsort. Geweihte und angeblich heilbringende Reiseandenken werden verkauft. Im Sommer 1967 hatte man das Oberhaupt der katholischen Kirche in Konstantinopel feierlich empfangen; kurz danach besuchte Papst Paul VI. das vermeintliche Sterbe-und Wohnhaus Marias. Am 30. November 1979 zelebrierte Papst Johannes Paul II. eine Messe vor dem 183
schlichten Steinhäuschen. »Brachten diese päpstlichen Wallfahrten auch keine grundsätzlich neuen dogmatischen oder archäologischen Erkenntnisse«, versicherte der Autor Thierry, »so trugen sie doch ganz wesentlich dazu bei, das Mysterium des Hauses der Heiligen Jungfrau durch Presse und Fernsehen weltweit bekannt zu machen.« In erstaunlicher und sinnfälliger Weise hat sich bewahrheitet, was Heiden im nahen großen Amphitheater zu Ephesus Anhängern Paulinischer Lehren vor fast zweitausend Jahren entgegengeschleudert hatten: »Groß ist die Diana der Epheser!«
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Paulus und altorientalische Magie Keine Weltreligion konnte sich der Faszination des Magischen entziehen. Schon bald nach dem Ableben ihres Gründers wurden dessen Lehren von wundersamen Erzählungen durchwoben. Die großen Gedanken eines religiösen Genies konnten von den meisten Menschen nachvollzogen werden. Paulus beispielsweise behauptete: »... denn ich trage die Malzeichen Jesu an meinem Leibe.« (Brief an die Galater6,17) In der Apostelgeschichte lesen wir: »Es unterstanden sich aber etliche der umherziehenden Juden, die da Beschwörer waren, den Namen des Herrn Jesus zu nennen über denen, die da böse Geister hatten, und sprachen: Ich beschwöre euch bei dem Jesus, den Paulus predigt.« (19,13) Überlieferungen antiker heidnischer Autoren und vor allem eine Überfülle moderner Ausgrabungsberichte zeigen, wie sehr der antike Mensch der Magie verhaftet war. Der römische Schriftsteller Plinius der Ältere berichtet, der berühmte Arzt Asklepiades sei einem »Leichenzug« begegnet. Dem geschulten Auge des Arztes war es nicht entgangen: Der Betrauerte lebte noch und konnte deshalb auferweckt werden. Auch Lukian von Samosata macht sich über den Wunderglauben seiner Zeit lustig. Ein Zauberer hat einen Kranken wundersam geheilt, und die Geschichte endigt mit der Bemerkung: »Midas nahm sein Bett und ging!« Offenbar war das eine im Altertum gebräuchliche Redewendung. Der Arzt und Wunderwirker Menecrates wurde von dem einfachen Volk wie ein Gott verehrt. 185
Menecrates konnte angeblich eine im Altertum weitverbreitete psychische Krankheit, die »dämonische Besessenheit«, heilen. Geschichten von Jungfrauengeburten und von Wunderheilungen sorgten auch zu Lebzeiten des Apostels Paulus im Orient und in den kaiserlichen Palästen auf dem Palatin für gute Unterhaltung. Wer weiß, wie viele Lehrmeister des Wundersamen in den Tagen des Apostels Paulus auf den östlichen Straßen des römischen Weltreiches unterwegs gewesen sind und Leichtgläubigen solche Geschichten erzählten? Es waren vermeintliche Heilbringer, Erlöser. Und sie fuhren fast ausnahmslos nach ihrem mehr oder weniger geheimnisvollen Hinscheiden in den Himmel auf! Manche sollen sogar aus dem Totenreich zurückgekehrt sein. Mit magischen Praktiken, Zaubertränken, Brotessen, Weintrinken, rituellen Reinigungen und so weiter glaubte man, an deren »Auferstehung« teilhaben zu können. Archäologen fanden im antiken Korinth einen unterirdischen Kultraum. In der Nähe des Eingangs wurde eine Säule, deren Inschrift das Betreten des heiligen Geländes bei Strafe untersagte, ausgegraben. Hätte im Altertum ein Neugieriger diese Warnung unbeachtet gelassen, hätte er den steinernen Zugang aufgestoßen und wäre in den Gang gekrochen, dann würde eine zweite, sorgsam verschlossene Tür ihm den Weg verwehrt haben. Was sollte all dies bedeuten? In dem Ausgrabungsbericht wird nüchtern festgestellt: Der schmale, niedrige Gang führt unter den Altar. In der Decke ist ein Loch. Durch eine Röhre könnte auch heute noch ein Neugieriger Prophezeiungen, Ermahnungen, Flüche oder Beschwörungen in den Kultraum 186
hinaufschreien oder -flüstern. Standen in alten Tagen leichtgläubige Tempelbesucher vor dem Altar, wurden ihnen im Dämmerlicht des Tempels und auch bei unstetem Fackelschein manchmal sogar allzu persönliche Antworten auf die sie bedrängenden Fragen unmittelbar aus dem Munde des »Gottes« zuteil. Was sagen Archäologen, die unversehens mit frommem Betrug antiker Priester konfrontiert werden? Sie berichten mit kargen Worten, was die Steine erzählen, und überlassen in der Regel den »Rest« den Sprachgelehrten und Religionsforschern. Der Religionswissenschaftler Theodor Hopfner sieht es so: »Oft werden die Magier bei solchen Gaukeleien auch selbst als Götter und Dämonen aufgetreten sein, wobei sie nicht nur in Kleidung und Maske des betreffenden höheren Wesens erschienen, sondern auch Dinge vollbrachten, die übermenschlich, göttlich oder dämonisch erscheinen mußten und sie als höhere Wesen legitimierten. Denn die Zauberer jener Jahrhunderte verstanden sich vortrefflich darauf, Feuer und Rauch aus dem Munde zu blasen, mit von Flammen umlohtem Haupthaar zu erscheinen, Donner und Erdbeben vorzutäuschen, sich das Opferfeuer von selbst entzünden, sich die Kohlen des Opferfeuers von selbst bewegen zu lassen und zu bewirken, daß sich das Opfertier selbst an dem bereitliegenden haarscharfen Messer den Hals abschnitt. Sie verstanden es aber auch, Wasser in angeblichen Wein oder in loderndes Feuer zu verwandeln, eine Weinrebe in ganz kurzer Zeit mit Blüten und Früchten zu be decken ...« Auf dem Marktplatz des antiken Korinth entdeckten Archäologen eine Quelle, die man mit Steinplatten zugedeckt hatte. Das Wasser rinnt immer 187
noch durch die beiden bronzenen Löwenköpfe. In den Tagen des Apostels Paulus wurde das heilige Wasser, für alle Frommen sichtbar, zu dem oben genannten Heiligtum geleitet und floß dort über den steinernen Altar. Das wäre noch nicht rätselhaft. In dem unterirdischen Gang fand man jedoch ein verborgenes Rohr, in das man Wein schütten konnte. Kultdiener haben somit von hier aus Wasser in Wein verwandelt. Heute besuchen Fremde aus aller Welt die Überreste des antiken Korinth. Lektoren erläutern an Ort und Stelle die den Gläubigen damals so rätselhaften Vorgänge und glauben mithin sogar, das »Weinwunder« des antiken Korinth mit der angeblich während der »Hochzeit zu Kana« vollführten Wasserwandlung vergleichen zu können.
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Jüdische Sklaven im Kaiserpalast Alljährlich werden immer noch antike Inschriften, die neu-testamentliches Geschehen erhellen, entdeckt. Eine kürzlich gefundene Grabinschrift nennt einen Freigelassenen des Kaisers Claudius: CLAUDIA ASTER, DIE KRIEGSGEFANGENE AUS JERUSALEM, TRUG SORGE FÜR DIESES GRAB. TIBERIUS CLAUDIUS MASCULUS, DER FREIGELASSENE DES KAISERS CLAUDIUS, LIEGT HIER BEGRABEN Wahrscheinlich wurde die Jüdin Aster nach Beendigung des jüdisch-römischen Krieges mit vielen jüdischen Mitgefangenen nach Rom deportiert. Vielleicht hat diese Claudia Aster den Tiberius Claudius Masculus auf dem Palatin kennengelernt. Auf der Tafel entziffern wir: ICH BITTE EUCH, MACHET, DASS MIR KEINER GEGEN DAS GESETZ DIESE AUFSCHRIFT HERUNTERWIRFT, DAFÜR TRAGET SORGE! An welches »Gesetz« hat diese sorgsame Claudia Aster gedacht? Auch in der Regierungszeit des Kaisers Claudius (41 bis 54) waren Juden aus Palästina nach Rom gekommen und hatten erzählt, was sich in Jerusalem zugetragen hatte. Viele werden auch von der aufsehenerregenden Lehrtätigkeit des Apostels Paulus gesprochen 189
haben, der den gekreuzigten und auferstandenen Jesus von Nazareth verkündigte. Da die strengen Reinheitsvorschriften der Juden nichtjüdischen Anhängern Jesu nicht abverlangt würden, könnten auch Heiden den neuen Glauben annehmen. Die Behörden in Rom waren sicherlich mit solchen Einzelheiten anfangs nicht vertraut. Zuständige Beamte mögen auch nicht geahnt haben, daß hier eine neue religiöse Bewegung entstand. Der Stadtteil Trans Tiberim lag in unmittelbarer Nähe der Kaiserpaläste, auf der anderen Seite des Tiber. Vom Palatin aus konnte man auf den betriebsamen Hafen, auf die engen Gassen und vielen Gasthöfe hinabschauen. Vom neuen großen Hafen Ostia an der Mündung des Tiber kommende Schiffe legten in Trans Tiberim an. Statt wie bisher in Puteoli wurden neuerdings die für Rom bestimmten Waren des Orients in Ostia entladen. In Trans Tiberim gingen die neu zugewanderten Orientalen an Land. Slaven und Sklavinnen des kaiserlichen Haushaltes gingen, um Neuigkeiten auszutauschen, gern zum nahen Trans Tiberim hinab. Was sie in den Gassen und Schenken vernahmen, werden sie auch ihren Herren zugetragen haben. Kaiser Claudius blieben die religiösen Auseinandersetzungen unter seinen jüdischen Nachbarn sicher nicht verborgen. Auch der Apostel Paulus hatte bereits Anhänger in des Kaisers Haushalt, denn in seinem Brief an die Philipper lesen wir: »Es grüßen euch die Brüder, die bei mir sind. Es grüßen euch alle Heiligen, sonderlich aber die von des Kaisers Hause.« (4,21-22) Und nicht nur Sklavinnen und Sklaven, auch Staatsbeamte werden sich der 190
neuen Lehre zugewandt haben, denn Paulus vermerkt in seinem Brief an die Römer: »Grüßet Herodion, meinen Stammverwandten. Grüßet, die da sind von des Narcissus Hausgenossen, in dem Herrn.« (16,11) Paulus hatte einem Mann namens Tertius diesen Brief diktiert. Im Römerbrief werden übrigens immer wieder neue Namen genannt. Immer wieder heißt es »Grüßet...« Wie viele Freunde und Bekannte, Angehörige der römischen Jesusgemeinde, wird Paulus damals mit seinem Sendschreiben erfreut haben? Beim Lesen des Namens Narcissus wird man überrascht innehalten. Hatte Paulus den hohen kaiserlichen Beamten Narcissus gemeint? Dieser Narcissus, ursprünglich ein Sklave, nunmehr ein Freigelassener, war eine überragende Persönlichkeit. Als Kanzleichef des Kaisers Claudius sah er alle Depeschen und Nachrichten, die aus den Verwaltungszentren des römischen Weltreiches einliefen, und traf Entscheidungen, die nur der Kaiser ändern oder verwerfen konnte. Seine Machtbefugnisse reichten bis in die entferntesten Winkel des Römischen Reiches. Narcissus beeinflußte sogar die Religionspolitik des Kaisers. Er könnte sehr wohl Einzelheiten über die Verurteilung Jesu gekannt haben, jedenfalls konnte er die archivierten Berichte des Pontius Pilatus einsehen. Dem Freigelassenen Narcissus mag bei der Durchsicht der Gerichtsakte Jesu der Gedanke, Grabfrevel hinfort in Palästina mit dem Tode bestrafen zu lassen, gekommen sein. Narcissus erwies dem Kaiser Claudius nach dessen Tod noch einen letzten Dienst, indem er dem kaiserlichen Archiv Briefe entnahm und sie vernichtete. Seit der Hinrichtung Jesu waren nur wenige Jahre vergan191
gen. Es ist nicht auszuschließen, daß sich unter den von Narcissus verbrannten Papieren auch der Prozeßbericht des Pontius Pilatus und das Reskript wider den Grabfrevel befanden. Der hohe Staatsbeamte und ehemalige Sklave Narcissus wurde auf Betreiben seiner Feinde im Jahre 54 am Grabmal der zügellosen Messalina hingerichtet. Valeria Messalina war bereits im Jahre 48, so wollte es der Kaiser Claudius, wegen ihrer Sittenlosigkeit hingerichtet worden.
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Mysterien feiern im römischen Judenviertel Im römischen Trastevere, dem antiken Trans Tiberim, wurde von Archäologen Mauerwerk eines syrischen Tempels freigelegt, wobei eine Kultstatuette gefunden wurde. Die hier im ersten nachchristlichen Jahrhundert vollzogenen Rituale galten wahrscheinlich einer orientalischen Erlösergottheit. In einer eigens dafür ausgesparten Vertiefung fand man die Kapsel eines menschlichen Schädels. Paulus wußte wohl, daß in dem römischen Stadtviertel Trans Tiberim nachts geheimnisvolle Rituale vollzogen wurden, denn in seinem Brief an die Römer hat er sich sprachlich der Glaubenswelt der Mysterien-Geheimbünde angepaßt: »Oder wisset ihr nicht, daß alle, die wir in Jesus Christus getauft sind, die sind in seinen Tod getauft?« (6,3) Im Altertum bezeichnete man das Gebiet der heutigen Metropole des Weltkatholizismus einschließlich des angrenzenden Janiculum-Hügels als Vaticanum. Vermutlich werden dem Apostel Paulus wie später dem Schriftsteller Julius Firmicus Maternus aus Syracus die esoterischen Lehren der heidnischen Priester auf dem Janiculum-Hügel wohlvertraut gewesen sein. »Eines Nachts wird«, so schreibt Firmicus Maternus – und Geschehnisse im syrischen VaticanumTempel mag er dabei sehr wohl im Auge gehabt haben –, »ein Bildnis auf ein Bett niedergelegt und von einer Anzahl Anwesender durch Weinen beklagt. Darauf wird, sobald sich die vorgebliche Klage erschöpft hat, ein Licht herbeigebracht. Dann wird von einem Priester allen denen, die geweint haben, die Kehle ge193
salbt. Nachdem das geschehen ist, spricht der Priester langsam murmelnd und im Flüsterton folgenden Satz: »Habet Mut, Mysten des geretteten Gottes, auch für euch gibt es eine Rettung aus der Mühsal.« Der Religionshistoriker Volkmar von Graeve vermerkt zu der Ausgrabung dieses syrischen Heiligtums in unmittelbarer Nähe der heutigen Peterskirche, indem er sich auf den geheimnisvollen Text des Firmicus Maternus bezieht: »Die Übereinstimmung des Textes mit dem, was sich nach all den bisher beschriebenen Voraussetzungen in dem betreffenden Kultlokal des Tempels Janiculum abgespielt haben kann, ist erstaunlich. Wenn dies, wie es ausdrücklich heißt, ein Mysterienritus ist, wenn andererseits auf unabhängigem Wege die Statuette als Adonis gedeutet werden kann, dürfte endgültig erwiesen sein, daß im Tempel am Janiculum Adonis-Atagartis-Mysterien gefeiert worden sind.«
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Unter der Kanzlei des Papstes entdeckt Unter der päpstlichen Kanzlei entdeckten Ausgräber eine lateinische Inschrift und Überreste eines Heiligtums, dessen Mauern man mit Sternen und Halbmonden ausgemalt hatte. Dieser Tempel diente dem Mithraskult. Ein pater sacrorum Proficentius, er bezeichnet sich als »Vater der Mysterien«, hat dieses Heiligtum gestiftet und die nachfolgend zitierte Inschrift entworfen: GLÜCKLICH IST DIESER ORT, FROMM, HEILIG UND SEGENSPENDEND. MITHRAS BEZEICHNETE IHN UND GAB DIE MAHNENDE WEISUNG DEM PROFICENTIUS, VATER DER MYSTERIEN, HIER IHM DIE GROTTE ZU BAUEN UND ZU WEIHEN. Ein Römer namens Rufus Caeionius war im vierten Jahrhundert Oberpriester des römischen Staatskultus, Pontifex und zugleich Priester der Mithrasgläubigen. Er wohnte in der Regia auf dem großen Forum der Hauptstadt Rom und nannte sich, so lesen wir auf einer neuentdeckten Tafel, VORSTEHER IM TEMPEL DES PERSISCHEN MITH-RAS IN BABYLONIEN, LEITER ZUGLEICH DER MYSTERIEN DES GROSSEN, HEILIGEN TAUROBOLIUM
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Ein Taurobolium war ein heidnisches Taufritual: Verehrer der phrygischen Vegetationsgottheit Attis und der Muttergöttin Kybele stiegen in Gruben und wurden vom Blut des über ihnen auf Balken geschlachteten Stiers überrieselt. Der Vollzug dieses Rituals, so glaubte der Myste, machte ihn unsterblich. Im vierten Jahrhundert kämpften die Christen und die Mithrasgläubigen im römischen Weltreich um die Vorherrschaft. Mithraskult und Jesuskult ähneln sich sehr, und das kann kein Zufall sein. Den Mithrasgläubigen war der 25. Dezember heilig, denn an jenem Tag der Wintersonnenwende wurde, so glaubten sie, in einer Höhle und in Gegenwart anbetender Hirten ihr Erlöser und Heiland geboren. »Diese »Geburt des ›Sol invictus‹, der unbesiegbaren Sonne, am Wintersonnwendtag«, schrieb der Mithrasforscher Alfred Schütze, »war so fest in den Herzen der Menschen verankert, daß man nicht ohne Schaden für die Entwicklung der christlichen Kirche daran vorbeigehen konnte.« Die Kirche hätte nicht gewagt, »diesen Tag zu ignorieren, weil sie fürchten mußte, weite Anhängerkreise, die mit dem Mithraskult sympathisiert hatten, zu verlieren oder die Massen, die seit der Verfolgung der Mithrasreligion religiös heimatlos geworden waren, nicht zu gewinnen.« Mithras war, wie Jesus, »Menschensohn« und Mittler zwischen dem Betenden und Gott. Das Kreuz war den heidnischen Rivalen ebenfalls heilig, und das Kreuzessymbol ließen sich fanatische Mithrasverehrer damals sogar auf die Stirn brennen. Angehörige beider Religionen besprengten sich mit Weihwasser, glaubten an die segensreiche Wirkung der Taufe, kannten die 196
Priesterweihe, Sündenvergebung durch Beichte und Buße, bedienten sich der Zeiteinteilung nach Wochen und nannten die Tage nach den Planeten, feierten den Sonn(en)tag als Ehrentag der unbesiegbaren Sonne und des unbesiegbaren Gottes. Sie glaubten, das gemeinsame rituelle Mahl verbürge das ewige Leben. Sie verehrten Engel und ängstigten sich vor Dämonen. Sie glaubten an eine Auferstehung der Toten, an die Himmelfahrt ihres Erlösers, an das Jüngste Gericht und an ein Fortleben in der Hölle oder im Paradies. In Mithräen stand, allen Gläubigen gut sichtbar, eine aus Stein gehauene Darstellung des stiertötenden Mithras, beredter Ausdruck mithrischen Glaubens. Manche Forscher meinen, die Erzählung von Jesu Tod, dem Begraben sein in einem Felsengrab, dem Beweinen des Toten, der Auferstehung von den Toten und der Wiederkunft fände eine Entsprechung in den älteren mithrischen Lehren und seien deshalb ein der mithrischen Kultlegende nachgeahmter Mythos.
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Sternstunde unter der Kirche Santa Prisca Auf dem Aventinischen Hügel in Rom waren Augustinerpatres unter ihrer Kirche Santa Prisca auf Überreste eines Mithrasheiligtums gestoßen. Archäologen gruben es aus. Schriften der Mithrasgemeinde hatte man schon vor mehr als fünfzehnhundert Jahren vernichtet. Durfte man jetzt trotzdem Funde erwarten, die neue Erkenntnisse brachten? Die Forscher entdeckten Reste von Wandmalereien. Unter dem Wandverputz legten sie mit Pinsel und Schaber vorsichtig einige lateinische Verse frei, die sie übersetzten. Der Anfang lautete: HEIL DEN LÖWEN! HEIL FÜR VIELE NEUE JAHRE! Fast mit den gleichen Worten hatten Senat und Volk im alten Rom dem neuen Kaiser zugejubelt. »Mit der Zeit wurde es auch Sitte«, kommentierte Maarten J. Vermaseren, der leider allzu früh verstorbene Forschungsleiter an diesem Heiligtum, »dem Papst nach seiner Wahl in dieser Weise zu huldigen. Dies deutet darauf hin, daß dieser Segenswunsch, der heute noch in kirchlichem Gebrauch ist, auch dem Mithrasdienst geläufig war und bei der Weihe der ›Löwen‹ ausgesprochen wurde.« »Löwen« waren Männer, die sich nach Vollzug geheimer Riten eines beglückenden Wissens erfreuen konnten. Indem sie auf der Stufenfolge der Weihungen fortschritten, durften sie hoffen, auch des höchsten beseligenden Erkennens, der höchsten Wahr198
heit, teilhaftig zu werden. Fieberhaft arbeiteten die Ausgräber im Mithräum auf dem Aventin und konnten schließlich weiter lesen: AUCH UNS HAST DU GERETTET, INDEM DU DAS BLUT VERGOSSEN HAST, DAS UNS UNSTERBLICH MACHT Eine enge Verwandtschaft zwischen mithrischen und paulinischen Lehren hatten kompetente Religionsforscher zuvor zwar nicht mehr bezweifelt, nunmehr hatte man jedoch tatsächlich das so lange vergeblich gesuchte missing link, das fehlende Beweisglied zwischen dem älteren Mithrasglauben und dem Paulinismus entdeckt. Es war eine Sternstunde der Religionsforschung. Der belgische Religionshistoriker Franz Cumont verweist in diesem Zusammenhang auf einen mittelalterlichen Text: »Also sprach Zarathustra zu seinen Jüngern: ›Wer nicht von meinem Leib essen und von meinem Blut trinken wird, so daß er sich mit mir vermischt, wie ich mich mit ihm vermische, der wird das Heil nicht haben.‹ Christus aber sagte zu seinen Jüngern: ›Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der hat das ewige Leben, und ich werde ihn am Jüngsten Tage auferwecken.‹« Noch im Mittelalter wurde also der Auferstehungsglaube der Christen mit dem Glauben der Mysten verglichen. Nachfolgend eine andere in diesem AventinMithräum entdeckte Wandinschrift:
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UND AUF MEINE SCHULTERN LADE ICH, WAS DIE GÖTTER MIR AUFERLEGEN, UND TRAGE ES BIS ANS ENDE Im Matthäus-Evangelium lesen wir: »Nehmet auf euch mein Joch und lernet von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen.« (11,29) Auf den Grundmauern einer vornehmen altrömischen Villa, angeblich dem Haus des christlichen Ehepaares Aquila und Prisca, erhebt sich heute die Kirche Santa Prisca. Als die Mithrasverehrer sich in Gefahr wähnten, bauten sie, um unerwünschten Fremden den Blick in ihren Kultraum zu verwehren, in aller Eile am Eingang ihres Heiligtums eine Mauer. Unmittelbar neben dem heiligen Raum der Mithristen befand sich ein Gewölbe, in dem die Kultfeiern der Christen stattfanden. Auf beiden Seiten der Mauer wurde mit sakralem Essen und Trinken einem Kult-und Erlösergott gehuldigt. Auf dem Aventin haben Ausgräber viele Krüge, Becher und Schalen gefunden; man vermutet deshalb, daß ein der Eucharistie ähnliches Ritual hier vollzogen worden war. Das Flackern zahlreicher Öllampen verbreitete damals in diesem unterirdischen Raum, in dessen abschließender Rundnische ein Hochrelief des stiertötenden Gottes Mithras steht, ein unstetes Licht. Während der mitternächtlichen Kultfeier trug der Priester eine Kopfbedeckung ähnlich der Tiara des Papstes. Er trug einen Kultring und hielt in seiner Rechten einen Krummstab. Es gab sieben Weihegrade. Ein Novize mußte sich harten Prüfungen unterziehen. Rituelle Reinigungen, Ent200
haltsamkeit und Fasten waren vorgeschrieben. Über das in der Grotte oder in einem unterirdischen Kultgemach Erlebte hatte er mit einem heiligen Eid immerwährendes Schweigen zu geloben. Nachdem man ihm die Geheimnisse der Lehre offenbart hatte, reichte ihm der Oberpriester die Rechte als Unterpfand der Treue und des Vertrauens. Auf ungezählten Sarkophagen wird dieses Treuegelöbnis bezeugt. Wer nach vielen Prüfungen den höchsten Weihegrad errungen hatte, wurde »Vater der Gläubigen« genannt. Für seine Gemeinde war er nunmehr der Stellvertreter Gottes. Er war für die Aufnahme neuer Gemeindemitglieder verantwortlich. Untereinander nannten sich die Angehörigen der Kultgemeinde »fratres« – Brüder. Angehörige der benachbarten Christengemeinde drangen schließlich in das heidnische Heiligtum ein, zertrümmerten die Kultgeräte und zerstörten einen großen Teil der Wandfresken. Mithräen wurden nicht nur zerstört, die Kultstätten des »unbesiegbaren Gottes«, es waren Höhlen oder in den Fels gehauene, in jedem Falle unterirdische Gemächer, wurden damals auch entweiht. In dem Mithrasheiligtum von Saarburg fanden Forscher beispielsweise auf einem in Stücke gehauenen Kultrelief Gebeine eines ungefähr dreißig bis vierzig Jahre alten Mannes. Mit einer eisernen Kette hatte man seine Hände gefesselt. Das Heiligtum war verwüstet worden. Rache oder Ritualmord? Für die Mithrasgläubigen war ihre Andachtsstätte jedenfalls für immer entheiligt und unbenutzbar.
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20 20 Auch die Paläste der römischen, allmächtigen Kaiser sind längst nicht mehr, ...
21 ... und von der Qumran-Siedlung verblieben ebenfalls nur noch Ruinen. Heute streiten sich Gelehrte weltweit: War es ein »Kloster« oder ein Soldatenhauptquartier? 21
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22 22 Letzte, der Tradition völlig verhaftete Nazoräer: Tauf-Vorbereitungen am Tigris-Ufer in Baghdad.
23 Nazoräer- oder Mandäer-Priester am TigrisUfer: So hat der Bußprediger Johannes am Jordan den Nazoräer Jesus »von Nazareth« getauft. 23
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24 24 Ungezählte Depeschen wurden von eiligen Sklaven alltäglich in das riesige Archivgebäude Roms getragen. Es war die Schaltzentrale des Weltreiches. Dokumente millionenweise – es blieb kein Blatt. 25 Auch im Archivgebäude wurde der Krieg gegen die Juden besiegelt. Noch heute beklagen fromme Juden lautstark an der Jerusalemer Tempelmauer den Untergang der heiligen Stadt. 25
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26 26 Wo heute die Peterskirche steht, drängten sich in Jesu Tagen Verehrer des gestorbenen und auferstandenen kleinasiatischen Gottes Attis. 27 Hier haben Bauarbeiter im Mittelalter Überreste des großen Attis-Heiligtums und einen heidnischen Altar entdeckt. Der Altar (Bildmitte) steht jetzt in einem dunklen Kellergewölbe des Louvre. 27
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Eunuchen-Priester und der Papas Auf dem Palatin, dem römischen Hügel der Kaiserpaläste, wurde das Bruchstück einer beschrifteten Marmortafel gefunden. Noch sind die Zeilenanfänge dieser Inschrift lesbar: Priester der großen phrygischen Muttergottheit Kybele haben ihr Heiligtum der kaiserlichen Familie geweiht. Zwei Jahre später wurde auf dem Palatin der Torso einer überlebensgroßen weiblichen Statue ausgegraben. Ein Jahr nach diesem Fund entdeckten Archäologen hier das Bruchstück einer marmornen Säulenbasis mit einer der großen heidnischen Muttergottheit Kybele gewidmeten Weiheinschrift. Der Althistoriker und Archäologe Christian Hülsen, der sich als Erforscher der Topographie des alten Rom einen Namen gemacht hat, schrieb: »Auf der Westseite des Palatins, wenige Schritte vom Fundort dieser Denkmäler ist nun, bedeckt von einem allen Besuchern des Hügels bekannten Eichenwäldchen, eine Trümmermasse erhalten, welche offenbar einem monumentalen Bau angehört.« Von den Überresten dieses Attis-Kybele-Tempels aus kann man das nahe, unmittelbar unterhalb gelegene antike Trans Tiberim gut überschauen. Nahebei ist auch der Hügel Janiculum. Die Kuppel der Peterskirche überragt dieses für die Geschicke der Welt so bedeutsame Areal. Während der Punischen Kriege erbaten Römer in Kleinasien von Priestern der Kybele den Wunder wirkenden Stein ihres berühmtesten Heiligtums. Dieser Stein sollte in Rom die von den Karthagern drohende Gefahr abwenden. Kybelepriester und 206
-priesterinnen kamen nach Rom, um den heiligen Stein fortan auf dem Palatin kultisch zu betreuen. Für die Aufbewahrung des Steins wurden an der Westecke des Palatins, dort, wo sich heute das von Hülsen genannte »Eichenwäldchen« erhebt, ein prachtvoller Tempel gebaut. Schon sehr bald nach der Fertigstellung des Kybeleheilig-tums sind Römer auf die exotischen und seltsamen Feierlichkeiten der Orientalen aufmerksam geworden. Vor und in dem merkwürdigen Heiligtum wurden Kult-Dramen aufgeführt, in denen der Tod des Kybele-Gefährten Attis, eines ursprünglich ebenfalls in Kleinasien beheimateten Kultgottes dargestellt wurde. Priester, Priesterinnen und Angehörige der Attis-Sekte beteiligten sich mit schmerzvollen Schreien, die Römer konnten es weithin hören, an der Trauer ihrer Muttergottheit Kybele. Im Innern des von Hülsen erwähnten »monumentalen Baus« glühte Räucherwerk. Im Halbdunkel wurde Gläubigen ein heiliges Mahl gereicht. Man vermutet, daß die folgenden von Julius Firmicus Maternus überlieferten Worte auch aus Anlaß solcher Kultfeiern von einem Kybelepriester zu den Gläubigern gesprochen wurden: »Getrost ihr Frommen, da der Gott gerettet ist, so wird auch uns aus Nöten Rettung werden!« »Beim rauschenden Getöse der Tympana, der Zimbeln und der Klappern, das von dem tiefen Ton der Hörner und dem grellen Pfeifen der großen Doppelflöten begleitet wird«, so weiß Cumont zu berichten, »drehten sich die begeisterten Gallen, schüttelten ihr langes, aufgelöstes Haar, und wenn sie durch dieses betäuben207
de Umherschwingen besinnungslos und gegen jeden Schmerz unempfindlich geworden waren, geißelten sie sich mit Astralalenpeitschen, verwundeten sich die Arme mit scharfen Messern und besprengten mit ihrem Blut den Altar.« Gallen entmannten sich mit einem scharfen Stein oder mit einer Tonscherbe und opferten ihre Geschlechtsteile der Göttin. Danach wurden diese kultisch gewaschen, einbalsamiert und fortan im geheimen, unterirdischen »Brautgemach« des Tempels verwahrt. Erst nach dieser Entmannung waren Angehörige der Attis-Sekte Priester, Sklaven der Göttin. Nach drei Tagen wurde der Gott Attis wieder lebendig. Die Freude der Kultgemeinde war übergroß. Ihr Gott war auferstanden. Auch Jesus soll nach drei Tagen auferstanden sein. Religionshistoriker haben diesen drei Tagen ganz besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Pfleiderer glaubte, man habe diese drei Tage »mit Rücksicht auf das Attis-Kybele-Fest, wo am vierten Tag, also nach drei Tagen auf dem Trauerfest des Todes, das Freudenfest der Auferstehung des Gottes folgte«, gewählt, und fügt noch an: »Man beachte endlich, daß auch die neutestamentliche Ostersage schwankt zwischen ›am dritten Tag‹ und ›nach drei Tagen‹ – eine sehr beachtliche Parallele!« Drei Tage nach dem Tod des Attis, alljährlich am 27. März, bewegte sich die Prozession der Priester und der Gläubigen der römischen Attisgemeinde vom Palatin aus durch die Porta Capena zur Mündung des Baches Almo. Auf einem von Kühen gezogenen Karren, schwankte eine Statue der Muttergöttin Kybele. Der Oberste des orientalischen Priesterkollegiums, er wurde Archigallus oder auch Papas genannt, trug ein pur208
purnes Kultgewand. Ihm oblag an der Mündung des Almo in den Tiber das kultische Waschen der Statue. Sie wurde mit Blumen überschüttet. Die Volksmenge sang »obszöne« Lieder, deren Fruchtbarkeitssymbolik sicherlich sehr weit in die Glaubenswelt vorgeschichtlicher Ackerbaukulturen zurückreicht.
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Wo heute die Peterskirche steht, war früher ein heidnischer Tempel Auf dem Areal der Peterskirche, links unter der breiten Aufgangstreppe oder unmittelbar dahinter, stand das Phrygianum, ein heidnisches, dem Kult des Attis und der Kybele gewidmetes Heiligtum. In der Zeit zwischen 1588 und 1609 wurde von Bauarbeitern hier ein Marmoraltar entdeckt. Eine wahrscheinlich im siebzehnten Jahrhundert angefertigte, heute im Vatikanischen Archiv aufbewahrte Inschrift beschreibt diesen Altar folgendermaßen: Während man die Fundamente der Fagade von Sankt Peter aushub, fand man ungefähr dreißig Spannen unter der Erde die Trümmer von Götzenbildern des sogenannten Taurobolium-Opferkultes. Von diesen wurden einige mit Eisenstangen von Christen aus Mißachtung dieses Götzendienstes zertrümmert und in der rechten Ecke der Fagade in Friedhofsnähe übereinandergeworfen. – Es ist bemerkenswert und man mag beachten, daß der Götzendienst in Rom nahe der Kirche von Sankt Peter noch ungefähr hundert Jahre nach Konstantin fortbestand. – Man sieht eingemeißelte Darstellungen eines Stiers und eines Widders, von Geräten des Opferkultes und des Pinienbaumes. Sie bezeugen unzweideutig die hier vollzogenen Attis- und KybeleRituale. Umrisse des Pinienbaumes wurden seitlich eingemeißelt. Unter diese Erläuterung wurde mit ungelenker Hand der Altarstein gezeichnet. Das Kunstwerk würde, so hat der mittelalterliche Schreiber noch angefügt, in den Gärten des Kardinals 210
Borghese, auf dem Monte Cavallo, aufbewahrt. Der Monte Cavallo ist einer der sieben klassischen Hügel Roms, er wurde nach den dort aufgestellten berühmten antiken Rössern benannt. Heute befindet sich auf diesem Hügel der Quirinal, der Regierungssitz des italienischen Staatsoberhauptes. Den denkwürdigen Marmoraltar habe ich in Rom gesucht, ihn aber schließlich in Paris, in einem abgeschlossenen dunklen Kellergewölbe des Louvre, gefunden. Nachfolgend die Übersetzung der eingemeißelten Altarinschrift: Die Mutter der Götter, der großen, vom Ida. Als unsere Herrscher Constantinus und Maximianus, die allererlauchtesten Kaiser, zum 5. Male das Konsulat bekleideten, 18 Tage vor den Kaienden des Mai, habe ich, Iulius Italicus, Senator, Mitglied des Fünfzehnmännerkollegiums für die Durchführung von Opfern, das Taurobolium glücklich empfangen. Dieses Datum war der 14. April des Jahres 305 nach Christi Geburt. Iulius Italicus, der auch anderweitig inschriftlich bezeugt wird, war wahrscheinlich der Sohn eines römischen Beamten, der sich in Ägypten rühmlich hervorgetan hatte. Das Taurobolium war eine Mitternachtsfeier. Der Tag des vollzogenen Stieropfers war der Tag der geistigen Wiedergeburt: Wird der nunmehr zum Priester Geweihte während der nachfolgenden zwanzig Jahre sterben, die Auferstehung ist ihm gewiß. Wird das Taurobolium gar wiederholt, dem Priester wird in aller Ewigkeit die Auferstehung zuteil. 211
Das Stieropfer war für die auf dem Areal der heutigen Peterskirche zusammengeströmten neugierigen und schaulustigen Menschenmassen ein unerhört erregendes Erlebnis. Hier wurde ihnen das letzte Geheimnis ihres Glaubens offenbart. Vier Tage lang konnte das Turobolium-Ritual währen. Es war eine nervliche Zerreißprobe sondergleichen. Clemens Aurelius Prudentius, der bedeutsamste altchristliche Dichter, hat im vierten Jahrhundert die für viele römische und orientalische Zuschauer so unvergleichlichen Geschehnisse so geschildert: »In tiefer Grube taucht hinab zur Weihe Der Oberpriester, wundersam geschmückt Mit Bändern um die Schläfen und mit Gold Bekränzt; die seidne Toga ist ihm fest, Nach altem Brauche, um den Leib geschnürt. Ein Bretterboden wird darüber hin Gezimmert, der nur los zusammenhängt: Man schneidet drauf und bohrt in ihn hinein; Das Holz, durchlöchert an unzähl’gen Stellen Beut kleine Risse überall dem Blick. Der riesengroße Stier, mit drohn’der Stirn, Dem Blütenkränze Bug’ und Hörnerpaar Umschlingen, wird alsdann herbeigeführt; Die Stirn erzittert in des Goldes Glanz Und funkelnd schmückt den Leib das Blättergold.
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Sobald das Ungetüm zum Opfer fertig, Zerteilen sie die Brust mit heil’gem Speere; Es klafft die Wunde und des Blutes Strom, Noch lebenswarm, ergießt in breiter Woge Sich über das Gerüst und wallt und raucht. Es drängt sich durch die tausendfachen Risse Und träuft hinab, ein ek’ler Regenschauer; Der eingegrabne Priester fängt ihn auf Und beut das Haupt jedwedem Tropfen dar, Am Kleid besudelt und am ganzen Leib. Ja, hinterwärts beugt er den Kopf und giebt Dem Blutstrom Wangen, Ohren, Lippen preis; Die Augen selbst wäscht er mit garst’gem Naß, Den Gaumen schont er nicht, benetzt die Zunge, Nimmt gänzlich in sich auf das dunkle Blut. Es war des Stieres blutlos starrer Leichnam Vom Bretterboden schon hinweggezogen: Da tritt der Priester schauerlich hervor; Er zeigt den Scheitel triefend und den Bart, Die Bänder und das Kleid, von Blute trunken. Und ihn, durch solche Ungebühr geschändet, Besudelt durch den kaum verübten Greu’l Begrüßen alle ehrfurchtsvoll von weitem, Weil er, verborgen in der ek’len Grube, Sich, leichten Kaufes, wusch in Rinderblut!« Es ist ein von Archäologen und Religionswissenschaftlern oftmals aufgezeigtes Phänomen: Auf Trümmern 213
sterbender Religionen wurden Heiligtümer des neuen Glaubens gebaut. Man wollte damit Priester und Gläubige der geschwächten Religion demütigen und ihnen den Sieg des vermeintlich ausschließlich wahren Glaubens vor Augen führen, meinen die einen. Andere Forscher sind überzeugt: Der alte Glaube wird niemals völlig überwunden, denn auch Priester machen keine Sprünge ... Das prachtvolle Zentralheiligtum der römischen Attispriester erhob sich auf dem Areal der späteren Peterskirche, im Zentrum des heutigen Weltkatholizismus. Wieviel Haß und Verachtung wird man dem heidnischen Tempel zugedacht haben, wie machtvoll müssen die Priester und Priesterinnen des kleinasiatischen Attis gewesen sein, daß man just auf den Überresten des Attistempels – das prachtvollste Kultgebäude des neuen, siegreichen Glaubens erstellte! Man darf fragen, ob im Verein mit der Wiederverwendung von Steinen des alten heidnischen Tempels auch orientalischer Mystizismus in der Peterskirche heimisch geworden ist. Im Jahre 1940 wurden auf Drängen von Papst Pius XII. unter der Peterskirche wissenschaftliche Ausgrabungen durchgeführt. Man entdeckte heidnische und frühchristliche Grabstätten. Sie bezeugen, daß sich auch die altchristliche Kunst der religiösen Gedankenwelt des griechischen und orientalischen Heidentums bediente. In dieser vatikanischen Nekropole finden wir beispielsweise Darstellungen des Guten Hirten, es sind Nachbildungen des lammtragenden Hermes. Die Gallen, Priester der kleinasiatischen Muttergottheit Kybele, waren Eunuchen. Sie trugen weibliche Kleidung und zwar, wie die von ihnen verehrte Kybele, 214
eine Ärmeltunika und einen langen farbigen Rock. Als Kopfschmuck diente, wie gesagt, eine Tiara oder eine Mitra. Das langwallende Haar wurde nach Frauenart mit Salben aufgeputzt. Sie waren geschminkt. Ihre Körperhaare hatten sie sorgsam entfernt. Auch Tätowierungen bezeugten ihr Priestertum. Ihre Ohren zierten Ringe. Sie trugen ein Halsband. Auf ihrer Brust prangte ein goldenes Diadem mit dem Symbol des Attis. Der Archigallus war der Oberste des, römischen Priesterkollegiums. In Rom hieß dieser höchste Würdenträger der Attissekte Papas oder Sacerdos Phrygius Maximus. In den unteren Räumen des Kapitolinischen Museums werden wertvolle Kunstwerke des KybeleAttis-Kults aufbewahrt. Diese Räume waren, sooft ich hinkam, immer unzugänglich. Niemand konnte oder wollte mir sagen, weshalb man die hinter verschlossenen Portalen aufgestellten Kunstschätze Besuchern, die aus allen Bereichen der Welt nach Rom kamen, stillschweigend vorenthielt. Immerhin durfte ich nach beharrlichem Drängen diese Räume des Erdgeschosses für einige Minuten betreten. Sofort fiel mein Blick auf ein herrliches Relief. Das steinerne Kunstwerk stammt aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert und zeigt einen Gallen, vielleicht sogar den Archigallus der römischen Hauptstadt, den Papas. Ein Kandelaber zeigt Attis als hängenden und sterbenden Gott. Mit dem Bau des Kybele-Attis-Heiligtums auf dem Palatin hatte im Abendland bereits vor weit über zweitausend Jahren die folgenschwere Infiltration des orientalischen Mystizismus begonnen. Die römische Attisgemeinde konnte zu Lebzeiten des Apostels Pau215
lus bereits auf ein mehrhundertjähriges Bestehen zurückschauen. Kaiser Claudius war den Attispriestern sehr zugetan. Sein Wohlwollen ermöglichte den Gallen auch in der Hauptstadt eine bis dahin unerhörte Macht- und Prachtentfaltung. Damals konnte noch niemand ahnen, daß der Glaube an die gestorbene und auferstandene Gottheit Attis von dem Glauben an den auferstandenen »Jesus von Nazareth« überwunden werden sollte.
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Auferstehungsrituale in Alexandria Der Apostel Paulus kam bei seinen Missionsreisen nicht in das Nilland. Erst viele Jahrzehnte nach dem Ableben des Apostels lichtet sich das Dunkel, wird die Existenz von christlichen Kultgemeinden in Ägypten überliefert. Schon Jahrhunderte vor der Geburt Jesu nennt das Alte Testament den Segenswunsch: »Möge David, mein Herr, der König, ewig leben!« (Erstes Buch Könige 1,31) Auch der einundzwanzigste Psalm nennt ein ewiges Leben: »Leben erbat er von dir, du gabst es ihm, lange Jahre für immer und ewig.« Jahrtausende vorher glaubte man am Nil an das »ewige Leben«. Der Einfluß altägyptischen Mysterienglaubens bekundet sich etwa in der zweifachen Sohnschaft Jesu: Er ist Gottes Sohn und Sohn des Joseph. Die Christengemeinden in Ägypten balsamierten später die Leichen ihrer Angehörigen. Grabsteine wurden mit Hieroglyphen geschmückt, die der Hoffnung auf ewiges Leben Ausdruck verliehen. Die Märtyrerverehrung rückte den Glauben der Christen nach und nach fast in die Nachbarschaft des scheinbar überwundenen heidnischen Vielgötterglaubens. In Zaubertexten der Kopten, sie sind nichthellenisierte »christliche« Nachkommen der altägyptischen Fellachenbevölkerung, wurden sogar die altägyptischen Gottheiten Isis, Nephthys und Horus angerufen. In einem von Menschen überquellenden uralten Stadtteil Alexandrias brach der Karren eines Ägypters unvermittelt in die Erde. Archäologen fanden hier tief 217
hinabreichende Gewölbe und Schächte. Man nennt diese Begräbnisstätte Kom-el-Chougafa-Katakombe. Noch im neunzehnten Jahrhundert war die Erde Alexandrias für Archäologen überaus ergiebig. Der Frankfurter Gelehrte Eduard Rüppel (1794-1884) hat allein während seiner ersten Forschungsreise, 1816 bis 1817, weit mehr als tausend antike Münzen mit nach Hause gebracht. Fast sämtliche alexandrinischen Kaisermünzen des Frankfurter Historischen Museums, es sind ungefähr eintausendvierhundert, wurden von Rüppel in Alexandria entdeckt. Zur Erforschung der unterirdischen Gräberwelt Alexandrias hat Pietro Pugioli danach noch ungeplünderte Gräber geöffnet und entleert; seine gesammelten Grabbeigaben wurden nach seinem Tode weltweit verstreut. So mußte denn Theodor Schreiber, der gewissenhafte Erforscher der Kom-elChougafa-Katakombe, feststellen: »Die einzelnen Fälle, wo Reste von Totenbeigaben sich erhalten haben, sind selten mit aller wünschenswerten Genauigkeit beschrieben und bildlich erläutert worden.« Keine Metropole der alten Welt wurde so gründlich ausgeräubert, zerstört und überbaut wie Alexandria. Deshalb wohl sucht man auch heute noch vergeblich die sicherlich prunkvolle Grabstätte und den Sarkophag Alexanders des Großen. Selbst Überreste des römischen Statthaltergebäudes sind bislang nicht entdeckt worden. Auch in den Tagen Jesu erfreute sich die Haupt- und Hafenstadt der römischen Provinz Ägypten großen Ansehens. Das untere Niltal war die Kornkammer Roms. Überreste der damals weltberühmten Bibliothek sucht man immer noch vergeblich. Eine zweite, wesentlich kleinere Bibliothek soll sich wenige Schritte von der 218
sogenannten Pompejus-Säule entfernt in unmittelbarer Nähe der Kom-el-Chougafa-Katakombe befunden haben. In den unterirdischen Gewölben dieser angeblichen Bibliotheksräume sah ich seitliche Nischen, in denen man vielleicht Papyrusrollen aufbewahrt hatte. In der Kom-el-Chougafa-Katakombe entdeckte man Taufbecken. Manche Forscher glauben, frühe Angehörige der Jesus-Bewegung hätten hier schon bald nach Jesu Kreuzigung insgeheim ihre Auferstehungsrituale vollzogen; wenn dies stimmt, wurde eine erstaunliche Nahtstelle urchristlichen und altägyptischen Auferstehungsglaubens aufgedeckt. Ich habe die unvergleichliche Kom-el-Chougafa-Katakombe immer wieder aufgesucht. Am Eingang dieser unterirdischen Gräberwelt saß vor zweitausend Jahren ein Wächter und prüfte das Kommen und Gehen der Grabbesucher. Tief unter der Erde wurden hier vornehme Tote in Mumienhüllen oder Holzsarkophagen beigesetzt. In einem großen Gewölbe sehe ich an beiden Längswänden leergefegte, in den gewachsenen Stein gehauene Mumienschächte. Hier und dort sind Wände über und über mit geheimnisvollen Symbolen altägyptischer Mysterienfrömmigkeit übersät. Erst während der römischen Epoche wurde auch in dieser großen Stadt das Offenhalten der Grabgewölbe Mode. Grabwächter, Choachyten, bewachten die Mumien und machten das Vermieten dieser reichgeschmückten Grabräume sogar zu einem schwungvollen Geschäft. Hinfort wurde das Totenopfer nicht mehr oben, unter ägyptischem Himmel, sondern hier, in der ewigen Nacht vor der einzelnen Mumie dargebracht. Je nach der Höhe der empfan219
genen Honorare spendete der Grab- oder Totenpfleger der ihm anvertrauten Mumie Wasser und Weihrauch. Nach und nach wurden diese Profis altägyptischer Magie jedoch des täglichen Hinab- und Heraufsteigens müde und haben sich hier unten, unmittelbar am Arbeitsplatz, häuslich eingerichtet. Eine kurze Wegstrecke von der Kom-el-Chougafa-Katakombe entfernt wird während der Osternacht Stunde um Stunde der Tod des Erlösers beklagt. Ich habe eine solche Osternacht in der überfüllten griechisch-orthodoxen Kirche miterlebt. Unvergeßlich war der Eindruck, den der hünenhafte, mit einem wallenden Bart gezierte und mit prachtvollen Gewändern angetane Alexandrinische Patriarch hinterlassen hat. In dem fast nur mit liturgischen Kerzen erleuchteten altehrwürdigen Gotteshaus konnte man den feierlichen, fast nur geraunten Auferstehungshymnus der griechisch-orthodoxen Kirche vernehmen: »Christi Auferstehung haben wir geschaut, so lasset uns anbeten den heiligen Herrn Jesus, der allein ist ohne Sünde. Vor deinem Kreuze fallen wir nieder, Christus, und deine heilige Auferstehung singen und verherrlichen wir; denn du bist unser Gott. Außer dir kennen wir keinen anderen, und deinen Namen rufen wir an. Kommt alle, ihr Gläubigen, lasset uns anbeten die Auferstehung Christi. Denn siehe, durch das Kreuz ist Freude gekommen für alle Welt, immerdar danken wir dem Herrn und singen seine Auferstehung: denn das Leiden hat er am Kreuze auf sich genommen und so den Tod durch den Tod überwunden.« Nach stundenlangem Singen, nach langanhaltendem rituellen Schweigen und nach dem rauhen volltönenden Psalmodieren der Priester trat der Diakon um Mit220
ternacht hervor und verkündete in feierlichstem Ton: »Was suchet ihr den Lebendigen unter den Toten!« Ein unbeschreiblicher Jubel schallte in diesem Augenblick durch das altehrwürdige hohe Kirchengewölbe. Wie eine Befreiung wurde die Verkündung nach stundenlangem bedrücktem Fragen und Schweigen im Tiefdunkel der Kirche empfunden. In diesem Augenblick wurden ungezählte Kerzen entzündet. Die Gläubigen neigten sich nach rechts und nach links, fragten, antworteten, gestikulierten, riefen und beteuerten, so als könne man es immer noch nicht glauben: »Er ist auferstanden! Er ist wirklich auferstanden!« Alle Teilnehmer der mitternächtlichen Feier durften nach und nach, glücklich über die wiedergewonnene Gewißheit der Auferstehung Jesu, dem würdevollen, herkulischen Patriarchen feierlich ihre Ehrerbietung bezeugen: Sie verneigten sich tief, alle küßten die dargereichte Rechte des hohen griechisch-orthodoxen Würdenträgers. Die nächtlichen Straßen Alexandriens waren wie leergefegt. An einer denkwürdigen Straßenkreuzung vorbei, unter ihr sollen der Sarkophag und die sterblichen Überreste Alexander des Großen liegen, kehrte ich, immer noch im Banne dieser nächtlichen Feierstunden, zum Schiff zurück.
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TEIL II Die Tafel und die Jünger Jesu
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4 Die verheimlichte Inschrift Das Geschenk des exzentrischen Grafen Tyskiewicz »Der Graf schenkte mir«, schrieb der Altertumsforscher Wilhelm Fröhner am 31. Mai 1878 in sein Tagebuch, »eine griechische Inschrift.« Dieser Graf Tyskiewicz wurde 1828 in Wien geboren. Schon als junger Mann war er von der Passion des Ausgrabens und Sammeins besessen. Sammeln wurde zu seinem Lebensinhalt. »Den Winter 1860–61 verbrachte ich«, hat er als Greis seinen Memoiren anvertraut, »in Ägypten und grub in Sakkara, Karnak und Theben und erwarb zur gleichen Zeit in Kairo zwei Sammlungen.« Im Frühjahr 1861 kehrte Tyskiewicz nach Paris zurück und zeigte seine schon damals unermeßlich wertvollen Funde den beiden zuständigen Herren des Louvre, die sie erwerben wollten. Tyskiewicz lehnte das ab, bot aber den beiden Besuchern seine gesamte Sammlung als Geschenk an, und schon bald kamen Männer und packten alles für das Louvre-Museum zusammen. Auch weiterhin konnte Tyskiewicz einer unter Sammlern überaus seltenen Angewohnheit nicht entsagen: Er freute sich zwar königlich an antiken Skulpturen, Vasen und Inschriftentafeln, dann aber verschenkte er die wertvollen Antiquitäten. Schon zu Tyskiewicz’ Lebzeiten
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gelangten Antiquitäten aus seinen Sammlungen in die berühmtesten Museen der Welt. Graf Tyskiewicz war ein exzentrischer und überaus höflieher Hüne. Er trug einen wallenden roten, später weißen Bart und war als Sammler in Rom, Paris und London bestens bekannt und beliebt. »Der Graf« lebte in einer Zeit, als Antiquitätenhändler noch eifrig nach Käufern Ausschau hielten und ihre Waren nach heutigen Standards unglaublich preiswert verkauften. Am 4. Mai 1872 schrieb Tyskiewicz seinen ersten für Fröh-ner bestimmten Brief. Zwei Jahre danach folgte Fröhner einer Einladung und begab sich mit Tyskiewicz und dessen Gemahlin für viele Wochen nach Rom. Im November 1897, wenige Tage vor seinem Tod, hat Tyskiewicz für seinen Freund Fröhner die letzten Zeilen zu Papier gebracht. Insgesamt schrieb er ihm 452, die Gemahlin des Grafen sogar 684 Briefe. Sie alle zeugen ausnahmslos von der großen Sammlerleidenschaft der Eheleute Tyskiewicz. Am 18. November 1897 starb der Graf. Er wurde auf dem römischen Friedhof Verano beigesetzt. Sein Grab zierte, so hatte er es gewünscht, nur ein Kubus mit seinem eingemeißelten Namen. Wer war Wilhelm Fröhner, dieser absonderliche Sammler, der schon sehr früh jeglichen Briefkontakt mit seinem in die Vereinigten Staaten ausgewanderten Bruder Eduard verloren hatte und später seine gesamte Antikensammlung, es waren weit über dreitausend Exponate, einem Freund vermachte? Am 17. August 1834 wurde Fröhner in Karlsruhe als Sohn eines Hofmusikers geboren. Wilhelm verehrte seine Eltern und hatte auch seinen um zwei Jahre älteren Bruder sehr gern. Armut und Genügsamkeit 224
prägten seine Kindheitsund Jugendjahre. Seine Eltern waren fleißig und sparsam. Mit großer Hingabe sammelte Wilhelm Münzen. Er war ein begeisterter Leser. Schon bald sah man ihn in der Städtischen Bibliothek und im Münzkabinett. Ab 1854, nach der Reifeprüfung, studierte Fröhner in Freiburg Katholische Theologie und widmete sich dem Erlernen der griechischen, lateinischen, hebräischen, arabischen, italienischen, spanischen, portugiesischen, englischen, französischen, russischen und kroatischen Sprache. Nach dem bestandenen ersten theologischen Examen galt sein Interesse mehr und mehr der archäologischen und sprachwissenschaftlichen Forschung. Er verdiente sich seinen Lebensunterhalt als Hauslehrer, bis ihm der Großherzog von Baden die Fortsetzung seiner Studien in Bonn ermöglichte. Fröhner gelang die Entzifferung einiger bis dahin rätselhafter römischer Inschriften. In Würdigung einer dem Andenken des Historikers Barthold Georg Niebuhr gewidmeten Schrift verlieh die Göttinger Universität Fröhner die Doktorwürde. Im Jahre 1859 begab sich Fröhner nach Paris. In diesem großen Zentrum abendländischen Geisteslebens konnte er sich vollauf seiner Sammler- und Forscherleidenschaft hingeben. Er verkehrte mit vielen berühmten Persönlichkeiten, Gelehrten, Musikern, Malern und Schriftstellern. Im Louvre betrachtete Fröhner immer wieder die steinernen antiken Skulpturen. Hingerissen von solchen Erlebnissen, hat Fröhner später seinem Tagebuch anvertraut: »Man wird zum Götzendiener, wenn man ihnen tief in das starre Antlitz schaut!«
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Ab 1862 war Fröhner in der Antikensammlung des Louvre tätig. Napoleon III. war ihm sehr gewogen. Nicht selten las der Gelehrte dem Kaiser bis in die späten Abendstunden vor. Oft speiste er an der kaiserlichen Tafel. Als Ernest Renan sein weltberühmtes Buch La Vie de Jesus schrieb, kamen ihm die umfassenden hebräischen Sprachkenntnisse seines Freundes Fröhner sehr zustatten. Am 10. Februar 1863 schrieb Fröhner in sein Tagebuch: »Ich mietete heute eine kleine Wohnung in der Rue Casimir Perrier, no. 11. Es sind drei nette Zimmerchen, der Kirche Sainte-Clotilde gegenüber, in einer sehr ruhigen Straße. Ich verspreche mir da viel Stimmung und Lebensglück.« Fröhner war Wahlfranzose geworden und wurde Konservator der in den kaiserlichen Palästen ausgestellten Kunstwerke. Seine Verdienste wurden mit dem Orden der Ehrenlegion gewürdigt. Während des Deutsch-Französischen Krieges verlor der Gelehrte jedoch Amt und Existenz und wurde eingekerkert. Man machte ihm den Vorwurf, für anrückende deutsche Truppen wertvolle Antiquitäten auf die Seite geschafft zu haben. Eine, wie sich später einwandfrei herausstellte, völlig unbegründete und böswillige Anschuldigung. Nach der Haftentlassung lebte Fröhner zurückgezogen als Privatgelehrter ausschließlich seinen Forschungen »... und bildet«, so teilte die Wiener Zeitung Neue Presse am 4. September 1923 ihren Lesern mit, »den Mittelpunkt eines kleinen, aber erlesenen Kreises Gleichgesinnter. Er ist der größte Kenner der Antike in Paris, sein Urteil ist Alpha und Omega. 226
Viele tausend wichtige antike Denkmale hat er im Laufe der Dezennien in einer großen Reihe wertvoller Veröffentlichungen publiziert. Die politische Wandlung in Frankreich seit 1870, seine betonte Zugehörigkeit zur bo-napartischen Partei und wohl auch Fröhners schonungsloses, sarkastisches Urteil über Personen, Vorgänge und Zustände brachten es mit sich, daß Fröhner in seiner Adoptivheimat nicht jene offizielle Anerkennung seitens der gelehrten Gesellschaften fand, auf die er seit Dezennien den vollsten Anspruch hatte. Nur die ferne alte Heimat erinnerte sich seiner. Die Berliner Akademie der Wissenschaften ernannte ihn vor etwa fünfzehn Jahren zum Korrespondierenden Mitgliede, und das Deutsche Archäologische Institut zählt ihn seit vielen Jahren zu seinen ordentlichen Mitgliedern.« Man nannte Fröhner sogar den »letzten Polyhistor«. Auch als Fröhners Augenlicht mehr und mehr schwand, nahm er immer noch regelmäßig sein Tagebuch zur Hand. Die Schrift des fast völlig Erblindeten wurde nach und nach fast unleserlich. Schließlich hat ihm das völlig erlöschende Augenlicht das Weiterschreiben versagt. Fröhner starb, auch menschlich vereinsamt, am 22. Mai des Jahres 1925 in der Pariser Rue Casimir Perrier 11. Hier hatte er 62 Jahre lang gewohnt. Wo hatte Graf Tyskiewicz die Nazareth-Tafel gekauft? Wie kam sie nach Paris? Weshalb haben die beiden berühmten Sammler lebenslanges Stillschweigen bewahrt? Es wird dies Fröhner nicht immer leichtgefallen sein, denn in seiner kleinen, mit ungefähr achttausend Büchern und wertvollen Antiquitäten angefüllten Wohnung hatte er die Marmortafel ständig vor Augen. Er hat sie liebevoll gepflegt. Im Herbst 1918 konnte er 227
sich, obgleich die Welt in einem Abgrund zu versinken drohte, wieder seinen Inschriften widmen. Am 5. September 1918 schrieb er in sein Tagebuch: »In den letzten Wochen haben die Deutschen fast alle ihre Eroberungen an der Somme und Marne wieder aufgegeben, nachdem sie fast bis nach Paris vorgedrungen waren und die Einnahme der Hauptstadt kaum mehr zweifelhaft war ... Meine Marmor-Inschriften sind jetzt wieder aufgestellt und kontrolliert, dazu waren neun Nachmittage nöthig und es war eine beschwerliche Arbeit. « Ich habe Fröhners, in winziger Schrift über Jahrzehnte hinweg angefertigten Tagebuchaufzeichnungen, seine in eigenen Werken mit schwarzer Tinte angebrachten Randbemerkungen und über zweitausend an Fröhner geschickte Sammler-Briefe gelesen, Anmerkungen oder Hinweise über das Geschenk des Grafen fand ich jedoch nicht. Graf Tyskiewicz war bis zu seinem Lebensende mit sehr einflußreichen Gelehrten, Sammlern und Museumsdirektoren befreundet. Unter ihnen waren Männer, die Fröhners Einkerkerung in mehr als unfeiner Weise herbeigeführt hatten. Aus vielen Andeutungen glaube ich entnehmen zu können: Fröhner und Tyskiewicz waren stillschweigend übereingekommen und haben dieses Versprechen auch eingehalten: Der Text der Tafel bleibt geheim. Und erst nach Fröhners Tod erinnerte man sich an rätselhafte Bemerkungen des absonderlichen Sammlers. Auch dem angesehenen französischen Archäologen Ernest Babelon hatte Fröhner mit einem schalkhaften Augenzwinkern beteuert: »Meine Sammlung ist jungfräulich, ich zeige sie nicht, und ich verwahre getreulich die Geheimnisse der Ent228
zifferung alter Texte.« Diese Bemerkung des auf seine Raritäten eifersüchtigen Fröhner läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig.
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Franz Cumonts unerhörte These Kaum hatte der erblindete Fröhner am 22. Mai 1925 diese Welt verlassen, bekam der berühmte Altertumsforscher Michail Rostovcev Gelegenheit, die Tafel zu betrachten. Er berichtete dem belgischen Religionshistoriker Franz Cu-mont. Die beiden Gelehrten konnten den griechischen Text mühelos lesen und waren ratlos: Warum hatte Fröhner seine für unser Verstehen der »christlichen« Weltreligion unerhört bedeutsame, geradezu sensationelle Entdeckung der Weltöffentlichkeit vorenthalten? Leopold Wenger hat den Text der Tafel übersetzt: Verfügung des Kaisers Es ergeht hiemit von mir die Entscheidung, daß Grabeskammern und Grabeshügel, durch wen immer sie zur frommen Ehrung für Vorfahren oder Kinder oder Familienzugehörige errichtet worden sind, daß diese unangetastet an ihrem Platz verbleiben sollen auf ewige Zeiten. Erfolgt aber eine amtliche Anzeige gegen jemand, der entweder eine Grabesstätte beschädigt hat oder, mag es auf sonst eine Weise geschehen sein, die dort zur Ruhe Bestatteten herausgeworfen hat, oder ...
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gegen jemand, der die Tat gewagt hat, in böswillig hinterlistiger Absicht eine Überführung der zur Ruhe Bestatteten an andere Plätze vorzunehmen zu dem Zweck, ihnen Schmach anzutun, oder ... gegen jemand, der es gewagt hat, Verschlußsteine oder sonstige Steine einer Grabesstätte zu versetzen: Auf jede solche amtliche Anzeige hin ist – so lautet mein Befehl – gegen einen derartigen Missetäter der Strafprozeß zu eröffnen ganz so, wie wenn es sich handelt um Verletzung der den Göttern geschuldeten frommen Verehrung, so bei Verletzung der den Menschen dort geziemenden frommen Ehrungen. Denn noch weit mehr, als gewöhnlich geschieht, den zur Ruhe Bestatteten Ehre zu erweisen, wird doch wahrlich sich gebühren! Überhaupt soll es niemandem gestattet sein, ohne Genehmigung irgend welche Veränderung an Grabesstätten vorzunehmen. Handelt aber irgend jemand gegen diese Bestimmungen, dann soll ihn – diese meine Willensentscheidung sei hiermit kundgetan – dann soll diesen unter dem Straftitel: Grabesschändung unnachsichtlich treffen das Urteil der Todesstrafe. Ein Steinmetz hatte also in Palästina im ersten nachchristlichen Jahrhundert diese Kundmachung eines römischen Kaisers auszugsweise einer vorgefertigten 231
formschönen, hellen Marmorplatte anvertraut. Der Name des Kaisers und auch das Datum des Erlasses fehlen. Weltberühmte Althistoriker wollten Einzelheiten kennenlernen. Man durchsuchte deshalb Fröhners nachgelassene Papiere, fand jedoch bezüglich dieser Marmortafel nur die Notiz, die Tafel sei im Jahre 1878 von Nazareth geschickt worden. Fröhner hatte mit winzigen Lettern in gotischer Schrift über eine feinsäuberliche Wiedergabe des Textes der Inschrift geschrieben: »envoyée de Nazareth en 1878«. Cumont hat den Text der Tafel veröffentlicht und kommentiert. Er war überzeugt, ein außerordentlich bedeutsames Ereignis müsse der Anlaß für die Anfertigung der geheimnisvollen Marmortafel gewesen sein! Der sonst so vorsichtige Cumont wagte die Vermutung, es könne ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Überlieferung des Matthäus-Evangeliums und dieser sogenannten Nazareth-Tafel existieren. Der Evangelist Matthäus überlieferte, Jesus sei seinen Jüngern nach dem Tode erschienen, und dies sei den Hohenpriestern hinterbracht worden: »Da sie aber hingingen, siehe, da kamen etliche von den Hütern in die Stadt und verkündeten den Hohenpriestern alles, was geschehen war. Und sie kamen zusammen mit den Ältesten und hielten einen Rat und gaben den Kriegsknechten Geld genug und sprachen: Saget, seine Jünger kamen des Nachts und stahlen ihn, während wir schliefen. Und wenn es würde herauskommen bei dem Landpfleger, wollen wir ihn beschwichtigen und sorgen, daß ihr sicher seid. Und sie nahmen das Geld und taten, wie sie gewiesen waren. Und so ist dies zum Ge-
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rede geworden bei den Juden bis auf den heutigen Tag.« (28, 11-15) Der Philosoph Justinus der Märtyrer, der bekannteste christliche Apologet des zweiten Jahrhunderts, überlieferte, die Juden hätten damals Botschafter in alle Welt entsandt, damit sie eine Behauptung der Jünger Jesu, ihr Meister sei auferstanden, widerlegten: Jünger Jesu hätten vielmehr bei Nacht Jesu Leichnam aus dem Grabraum gestohlen. Der französische Altertumsforscher Jérôme Carcopino fuhr eigens nach Nazareth, um hier Spuren und Hinweise über die geheimnisvolle, nach Fröhners Tod in seiner Wohnung entdeckte Marmortafel zu suchen. Carcopinos Reise verlief ergebnislos. Man hat natürlich geglaubt, der Erlaß des Kaisers sei für alle seine Untertanen bestimmt gewesen. In der Tat wurde Grabfrevel in sämtlichen Provinzen des Römischen Reiches begangen. Auch viele in jüngster Zeit entdeckte Grabplatten beweisen es. Man suchte sich beispielsweise vor Grabplünderung zu schützen, indem man warnende Inschriften auf dem Grabstein anbrachte: »Möge den, der diesen Grabstein von der Stelle rückt, der Zorn der Schatten treffen, die hier begraben liegen.« »Wenn mich einer von der Stelle rückt, wird er den Zorn der Götter auf sich laden und bei lebendigem Leib verbrennen.« »Wer Unrat zwischen die Leichensteine bringt oder sie beschädigt, soll sich des Augenblickes nicht freuen.«
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»Sie schwört beim Tag des furchtbaren Gerichtes, niemand wage es jemals, dieses Grab zu beschädigen.« »Wer dieses Grab entfernt, nehme ein schlimmes Ende.« »Weine, wer immer dies liest, er schone jedoch das Grab.« Offensichtlich hatte der römische Kaiser aber nicht an diese vielerorts begangene Grabschändung gedacht, als er den auf unserer Marmortafel erhaltenen Erlaß verfügte, denn Texte kaiserliche Reskripte wurden nur in Stein gemeißelt, wenn ein außerordentliches, den Frieden des Reiches bedrohendes Geschehen dies erheischte. Marmorplatten waren im Altertum sehr teuer, und Steinmetzarbeiten waren kostspielig. Eine aufsehenerregende Nachricht hat vermutlich die Anfertigung der Nazareth-Tafel als dringend notwendig erscheinen lassen.
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Pilatus und das kaiserliche Antwortschreiben Der Kirchenhistoriker Eusebius war im vierten Jahrhundert Bischof in Caesarea, dem vormaligen Regierungssitz des Statthalters Pontius Pilatus. Eusebius schrieb in seiner Kirchengeschichte: »Nachdem die wunderbare Auferstehung und Himmelfahrt unseres Erlösers den meisten bereits bekannt geworden war, erstattete Pilatus gemäß der alten Gewohnheit der Provinzbeamten, über die neuen Vorfälle den Inhaber der kaiserlichen Gewalt zu unterrichten, auf daß dieser über kein Ereignis in Unkenntnis bleibe, dem Kaiser Tiberius Bericht über die allen Bewohnern von ganz Palästina bereits bekannten Vorgänge bei der Auferstehung unseres Heilandes Jesu sowie über seine anderen ihm zur Kenntnis gekommenen Wunder und über den Glauben der Menge, welche ihn bereits seit seiner Auferstehung von den Toten für einen Gott hielt.« (II, 2) Hatte sich der gelehrte Eusebius auch der damals wahrscheinlich noch in Caesarea am Meer lagernden Archivalien des Pontius Pilatus bedient? Auszüge aus Amtstagebüchern der Statthalter, auch Papyrus-Abschriften der Gerichtsurteile wurden auch in Caesarea am Meer öffentlich ausgehängt und später den Archiven einverleibt. Besonders wichtig waren die Aufzeichnungen der Gerichtsschreiber. Sie protokollierten den Verlauf der Verhandlungen und die Urteile. Jede Entscheidung war bedeutungsvoll für künftige, ähnliche Fälle, und da man wichtige Entscheidungen damals nicht in gedruckten Büchern studieren konnte, war man auf handschriftliche Berichte angewiesen. Auch nach dem 235
Aushang waren sie der Bevölkerung noch zugänglich. Jedermann durfte sogar Auszüge anfertigen. Über die Tätigkeit der Gerichts- und Archivbeamten des Pontius Pilatus ist nichts überliefert worden. Wir dürfen jedoch annehmen, daß der Alltag eines im Ägypten der Kaiserzeit tätigen leitenden Gerichtsbeamten nicht viel anders aussah als der eines Beamten der Kanzlei des Pilatus in gleicher Funktion. Der Schriftsteller Lukian von Samosata war zeitweilig für den römischen Statthalter Ägyptens tätig. Er schreibt an einen Freund: »In meinem Privatleben ist noch alles wie zuvor; als eine öffentliche Person aber habe ich an der Administration einer der größten Provinzen des Reiches keinen kleinen Anteil. Denn wenn du dich etwas genauer erkundigen willst, so wirst du finden, daß es nicht der kleinste Teil der Staatsverwaltung von Ägypten ist, der in meinen Händen liegt, da ich angestellt bin, alle Rechtshändel in Vortrag zu bringen, und über alles, was gesprochen und verhandelt wird, Protokolle zu führen, die gerichtlichen Reden der Sachwalter zu ordnen und vornehmlich die Reskripte des Kaisers mit der größten Deutlichkeit und Genauigkeit und mit der heiligsten Treue zu erhalten und in den öffentlichen Archiven für die Nachwelt auf ewige Zeit zu hinterlegen.« Aus erhalten gebliebenen Berichten von Schriftstellern sowie aus Archivakten und Inschriften können wir heute noch ersehen, mit welcher Fülle von Problemen sich Statthalter herumzuschlagen hatten. Eine Stadt bat beispielsweise den Statthalter um eine würdige Kaiserstatue. Baumaßnahmen mußten geplant und beschlossen werden. Über die dem Kaiser zugedach236
ten Opfer sollte er entscheiden. Eine Militärinspektion mußte vorbereitet werden, repräsentative Pflichten, öffentliche Feiern und Eidesleistungen kamen hinzu. Für die römischen Zirkusse wurden wilde Tiere geordert. Verbrecher, die sich als römische Bürger auf die Entscheidung des Kaisers berufen hatten, mußten an Bord eines Segelschiffes geschafft werden, das sie nach Rom brachte. Ein Beamter der kaiserlichen Kanzlei wollte wissen, ob der Statthalter Anhänger verbotener Kulte, die man in römischen Arenen Raubtieren vorzuwerfen pflegte, besorgen könne. Abgeurteilte Straftäter mußten zur Arbeit in Steinbrüchen deportiert werden. Beförderungen orientalischer Offiziere erheischten die Aufmerksamkeit des Statthalters. Immer wieder wurde ihm von Wundertätern und Aufständischen berichtet. Pilatus war im Lande der Juden, ebenso wie seine Vorgänger und Nachfolger, auch Chef des römischen Geheimdienstes. Natürlich hielt er für seine Berichte an den Kaiser schriftlich fest, was ihm Spione, Späher, umgedrehte Zeloten und jüdische Renegaten insgeheim zugetragen hatten. Er wird das auch während jener denkwürdigen Jerusalem-Inspektionsreise so gehalten haben. Die Warnung des Statthalters durch seine Frau Procula legt die Vermutung nahe, daß diese die Informationen bezüglich des Galiläers Jesus am Tag vor dem Gerichtstermin eingesehen hatte. Was Eusebius an Akten in Amtsgebäuden und Tempeln vorgefunden und eingesehen hat, wissen wir nicht. Offensichtlich war er jedoch über die Vorgänge beim Tode Jesu sehr gut informiert. 237
Wahrscheinlich wurden schon sehr bald nach Jesu Hinrichtung dem Kaiser die Berichte über die für uns heute so denkwürdigen Geschehnisse vorgelegt, und der Kaiser wollte seinen Statthalter bezüglich der nunmehr dringend erforderlichen Maßnahmen nicht im unklaren lassen. Er diktierte ein Antwortschreiben. Der ungekürzte Text dieses Reskriptes wurde in lateinischer Sprache in der römischen Kanzlei des Kaisers einem Papyrus anvertraut. Dieser Papyrus wurde dem Statthalter in Caesarea am Meer übermittelt und von diesem wahrscheinlich mit der sonst üblichen Präambel versehen. Man nimmt an, daß der kaiserliche Erlaß erst in Palästina ins Griechische übersetzt worden ist, denn die in der kaiserlichen Kanzlei Roms beschäftigten Staatssklaven beherrschten die griechische Sprache perfekt, der griechische Text der Nazareth-Tafel ist hingegen fehlerhaft. Aus unzulänglichen Übersetzungen können Spezialisten Bildungsmängel und die sprachliche Heimat des Schreibers herauslesen: Der Übersetzer der kaiserlichen Gesetzestexte war wahrscheinlich ein Jude Palästinas, dessen Muttersprache das in Jesu Tagen in Jerusalem gebräuchliche Aramäisch gewesen ist. In Palästina wurde der Text des kaiserlichen Reskriptes, und wahrscheinlich auch die Präambel, landauf, landab für das Volk öffentlich verlesen. Auch Angehörigen der frühen Jesus-Bewegung kann diese Strafandrohung nicht entgangen sein. Der in die Marmortafel eingemeißelte Text des Reskriptes ist keine vollständige Übersetzung der kaiserlichen Kundmachung, es fehlt der Name des Kaisers, und es fehlt der Jahrestag. 238
Wollte ein Jude Jerusalems, indem er den Namen des Kaisers und den Jahrestag auf einer Papyruskopie strich, der kaiserlichen Kundmachung, ehe er einem Steinmetz den Auftrag erteilte, die Patina des Zeitlosen und immerfort Gültigen verleihen? Es ist nicht auszuschließen, daß der dem Kaiser zugegangene Bericht von der vermeintlichen Auferstehung eines jüdischen Untertans auf dem ungekürzten Papyrus des nach Caesarea am Meer geschickten Reskripts erwähnt worden war. Ob dem so war, wissen wir freilich nicht, und wir können auch kaum vermuten, wer diese Streichungen auf dem Papyrus veranlaßt haben könnte. Schon seit dem Jahr 78 vor Christi Geburt war das Staatsarchiv des Römischen Reiches in einem Neubau an der Südostecke des Kapitols, dem Tabularium, untergebracht. Vor allem Sklaven und Freigelassene der kaiserlichen Kanzlei waren hier mit dem Ordnen und Stapeln der Briefe, der Eingaben, der Berichte, der Gerichtspapiere und so fort betraut. Aus allen Provinzen des Weltreiches wurden diese Materialien nach Rom geschickt. Hier wurden sie sortiert und bearbeitet. Der Chef der kaiserlichen Kanzlei entschied, welche Akten dem Kaiser selbst vorgelegt wurden. »Die Vorstellung, daß es bei Hofe nur bedingt Informationsmöglichkeiten über Sachgegenstände und ältere Verwaltungsvorgänge gegeben hätte«, schrieb der Rechtshistorikerjochen Bleicken, »ist mit Sicherheit nicht richtig. Das Archivwesen hatte sogar einen hohen Stand. Davon zeugen nicht nur die zahlreichen Ämter, die auf Bibliotheken und Archive verweisen; wir haben bis ins einzelne ge-
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hende Nachrichten über die Gliederung des zentralen Archivs.« Wurde das Original des kaiserlichen Erlasses wider den Grabfrevel, wurden die Gerichtspapyri des Pontius Pilatus in Rom, aus welchen Gründen auch immer, trotzdem schon sehr bald vernichtet? In diesem Zusammenhang ist eine Mitteilung des griechischen Historikers Cassius Dio besonders interessant. Dieser berichtet, Kaiser Gaius, der Nachfolger des im Frühjahr 37 gestorbenen Tiberius, habe das Verbrennen von Schriftstücken gewünscht, die Einzelheiten über die Hinrichtung eines Mannes namens Protagenes nannten. Nach der Ermordung des Kaisers Gaius habe man die Papiere jedoch im Kaiserpalast entdeckt. Kaiser Claudius, Gaius’ Nachfolger auf dem Kaiserthron, zeigte die Dokumente den Senatoren »und gab sie speziell denen zu lesen, die sie abgefaßt hatten und gegen die sie gerichtet waren, worauf er alles den Flammen überließ«. Vielleicht hat Kaiser Claudius auch die Vernichtung der Gerichtsakten Jesu angeordnet. Oder die Akten des Pilatus wurden bald danach, im Jahre 69, insgesamt ein Raub der Flammen, als das Kapitol in Rom eingeäschert wurde, es verbrannten angeblich allein dreitausend Dokumente. Normale Gerichtspapiere wurden in allen Städten und Provinzen des römischen Weltreiches nach Ablauf einer gewissen Frist verbrannt oder fortgeworfen. Welche Massen an Papyri werden sich etwa in Caesarea am Meer oder in Alexandria angehäuft haben! Nur wenige Überbleibsel tauchen in unseren Tagen gelegentlich auf und können Forschern interessante und manchmal wichtige Hinweise geben. 240
In Ägypten werden immer wieder neuentdeckte Papyrus-Schriftrollen angeboten. Um den Preis in die Höhe zu treiben, werden sie mithin von Fellachen zerschnitten. Damit nicht noch mehr Papyri in den Untergrund des schwarzen Marktes abdriften, werden von Museen für alte Papyri oftmals horrende Geldbeträge verausgabt.
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Die jüdische Delegation und die Tafel Als nach Fröhners Ableben der Gelehrtenstreit ausbrach, meinten manche Forscher, der Tafel-Text sei die kaiserliche Reaktion auf eine von Pilatus nach Rom gesandte amtliche Mitteilung, ein Antwortschreiben also, und der Steinmetz habe einen Teil dieses kaiserlichen Reskriptes der Marmortafel anvertraut. Andere Forscher hingegen waren überzeugt, nicht eine Depesche oder ein versiegelter Brief des römischen Statthalters Pontius Pilatus, vielmehr angesehene Juden, eine von Jerusalem nach Rom entsandte Delegation, hätten dem Kaiser die Nachricht von der vermeintlichen Auferstehung eines Hingerichteten hinterbracht, Juden hätten ihre Ängste erregt vorgetragen, und der Kaiser müsse nunmehr entscheiden, wie die drohende Gefahr tumultartiger Auseinandersetzungen gebannt werden könne. Nach heftigen Beteuerungen und lauthals vorgebrachten Befürchtungen mag der Kaiser Männer der Delegation einzeln befragt haben. Mit seinen Ratgebern und Freunden (amici) erörterte er danach vielleicht sehr ausführlich die vorgebrachten Probleme. Wahrscheinlich hat auch der tagtägliche Einfluß des kaiserlichen Haushaltes, das Für und Wider seiner im Orient beheimateten Sklaven bei dem Zustandekommen der kaiserlichen Kundmachung nachhaltig mitgewirkt. Letztlich diktierte der Kaiser den Wortlaut des Erlasses seinen Kanzleibeamten. Mit eigener Hand wird der Kaiser die abschließende Bemerkung angefügt haben:
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»Handelt aber irgend jemand gegen diese Bestimmungen, dann soll ihn – diese meine Willensentscheidung sei hiermit kundgetan – dann soll diesen unter dem Straftitel Grabesschändung unnachsichtlich treffen das Urteil der Todesstrafe.« Den in lateinischer Sprache abgefaßten Text des Erlasses mag man den Juden unverzüglich vorgelesen haben. Wahrscheinlich wurde ihnen eine Papyruskopie sogar mitgegeben. Kanzleibeamte oder Sekretäre haben den Statthalter Pontius Pilatus entsprechend benachrichtigt. Das Original des kaiserlichen Erlasses wurde, so meinen manche Forscher, im privaten Archivraum des Kaisers aufbewahrt. Wo mögen die ungezählten Originale der kaiserlichen Erlasse verblieben sein? Solche Originale wären heute unschätzbar wertvoll. Wurde die handgeschriebene Kundmachung wider den Grabesfrevel absichtlich vernichtet, oder ist auch dieser Papyrus, achtlos auf die Seite geräumt, nach und nach vermodert und von Insekten zerfressen worden? Vielleicht gibt uns der antike Autor Cassius Dio einen wertvollen Fingerzeig: Dio nannte eine Feuersbrunst, die im Jahre 192 den Kaiserpalast in Rom heimgesucht und einen großen Teil der Regierungs-Dokumente vernichtet hatte. Man wagt es kaum zu glauben: Das an Hängen des Kapitols gelegene gewaltige altrömische Archivgebäude wird zwar tagtäglich von ungezählten Touristen bewundert und fotografiert, betreten darf man diese denkwürdigen Gewölbe jedoch nur mit einer Sondergenehmigung.
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Grabräuber, Schatzsucher und Sammler Fröhner hat am 6. August des Jahres 1878 seinem Tagebuch anvertraut: »Hoffmann gab mir eine jüdische Teßera, die er gestern von Issa Kouboursi aus Jerusalem für 100 Francs gekauft hatte. Sie soll in einem Grab der heiligen Stadt gefunden worden sein.« Tesserae waren münzähnliche, in der römischen Kaiserzeit weitverbreitete metallene Vierecke; sie dienten als Berechtigungsmarken für die Zuteilung von Korn oder auch als Ersatz für kleinste Münzen. Hoffmann war in Fröhners Tagen ein in Paris sehr bekannter und angesehener Antiquitätenhändler. Niemand weiß heute mehr, und auch in Hoffmanns Antiquitätenkatalog wird nicht mitgeteilt, welches »Grab« gemeint war. Die Frage nach dem Wann und Woher der Nazareth-Tafel hat mich mehrere Monate beschäftigt. Ich durchsuchte immer wieder Antiquariatskataloge der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts und las Palästina-Reiseberichte namhafter Autoren. Bestürzt war ich manchmal über das Ausmaß des damaligen Grabraubes. »Vor kurzem, im Juni 1902«, schrieb der Kunsthistoriker und Archäologe Hermann Thiersch, »hatten wir auf einer Tour durch Südpalästina zufällig Gelegenheit, Gräber zu sehen, welche vor wenigen Wochen erst erbrochen und geplündert ...« Thiersch sah »an 200 frisch erbrochene Grabstellen«. An der Stelle der großen Jerusalemer Moschee, des Felsendoms, stand bis zum Untergang der Heiligen Stadt der Tempel, das Zentralheiligtum der Juden. Seit Generationen suchen Archäologen vergeblich um die Erlaubnis nach, 244
Gewölbe unter den heiligen islamischen Bereichen zu untersuchen. Im Jahre 1909 hatten Schatzsucher einen Wächter bestochen und insgeheim unter dem für Moslems so heiligen Bezirk bei Nacht gegraben. Ein englischer Kapitän namens Parker leitete das Unternehmen. Die nächtlichen Schatzgräber wurden bei frischer Tat ertappt, sie konnten aber fliehen und sollen zehn mit Tempelschätzen prallvoll gefüllte Kisten mitgenommen haben. Als die Verfolger in Jaffa ankamen, war das Schiff des Kapitäns Parker bereits am Horizont entschwunden. In Jerusalem munkelte man indessen, die Schatzgräber hätten die Krone Davids, das Schwert Salomons, die Gesetzestafeln des Mose und große Mengen Gold geraubt. Nachdem Allegro und Milik den Text der unweit Qumran entdeckten Kupferrolle entziffert und der Weltöffentlichkeit zugänglich gemacht hatten, erinnerte man sich auch an Parkers illegale Grabungen. Man erklärte, der römische Feldherr Titus habe zwar nach der Belagerung der Heiligen Stadt die Kleinodien des Tempels nach Rom verschleppt, es sei aber nicht auszuschließen, daß Teile des Tempelschatzes noch rechtzeitig fortgeschafft und versteckt worden seien. Würden nicht nach der Veröffentlichung des Textes der Kupferrolle viele Schatzsucher nach Israel eilen und ebenfalls heimlich bei Nacht graben? Würde man nicht vielleicht sogar einen Goldrausch heraufbeschwören? Diese Befürchtungen sollen zu der zögerlichen und zurückhaltenden Veröffentlichung des Textes der Kupferrolle beigetragen haben. Ein Graf Tyskiewicz könnte heute seinen Spaten nicht mehr in heilige Erde Ägyptens stoßen. Immerhin mö245
gen diese Andeutungen zeigen, wie die Verhältnisse waren, als man die denkwürdige Nazareth-Tafel von Palästina nach Paris schaffte. Und heute? Grabraub und Plünderung antiker Schätze florieren im heiligen Land wie eh und je.
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Die Tafel am Grabgewölbe Jesu? Die Nazareth-Tafel wurde sicherlich nicht in einem entlegenen Flecken des jüdischen Landes aufgestellt. Fröhner vermerkt denn auch, man habe die Tafel von Nazareth herbeigeschafft; damit wird nicht gesagt, man habe sie in Nazareth gefunden. Fröhner hinterließ zusätzlich einen interessanten handschriftlichen Hinweis: Mit Hinblick auf die Tafel schrieb er auf einen Papierbogen: »Die jüdische Lazarus-Inschrift, die zuzüglich ankam, stammt aus Jaffa. Sepp. Meerfahrt nach Tyrus. p. 51.« Die Nazareth-Tafel und die sogenannte Lazarus-Inschrift hatte man also gleichzeitig nach Paris geschafft. Der deutsche Kirchenhistoriker Johann Nepomuk Sepp (1816-1909) war 1877 wieder einmal in Palästina und vermerkte in dem von Fröhner genannten Buch Meerfahrt nach Tyrus zur Ausgrabung der Kathedrale mit Barbarossas Grab auf Seite 51 tatsächlich: »C. Ganneau entdeckte jüngst den alten Kirchhof von Joppe. Dazu berichtet mir der jüngere Hardegg, Inhaber des Jerusalemer Hotels in Jaffa, brieflich den Fund einer Steinplatte beim Graben eines Brunnens mit dem eingemeißelten siebenarmigen Leuchter und der Inschrift...« Die Inschrift ist in griechischer Sprache wiedergegeben, sie bedeutet: »Des Lazarus und des Salomon und des Simon«. Manche Forscher meinen, hier könnte der Simon der Apostelgeschichte (8, 9-13) gemeint sein. Der von Sepp genannte »C. Ganneau« ist der in diesem Buch bereits mehrmals erwähnte französische Gelehrte Charles Clermont-Ganneau. 247
Fröhners Hinweis besagt freilich nicht, man habe auch seine Tafel in Jaffa verladen. Andererseits war Jaffa damals und schon viele Jahrzehnte zuvor der Ausfuhrhafen für Antiquitäten, die man in Gräbern und Heiligtümern Arabiens, Nabatäas und Judäas gefunden hatte. Im Altertum wurde diese bedeutende Hafenstadt Joppe genannt. Fröhner erwähnt sogar einen Kapitän Ferand, der am 18. Mai des Jahres 1749 beschriftete antike Marmorplatten verladen hatte. Wahrscheinlich wurden sie in Jaffa an Bord geschafft. Schon zu Fröhners Lebzeiten waren sie unauffindbar. Wenn somit unsere Nazareth-Tafel gleichzeitig mit der im antiken Friedhof von Jaffa entdeckten »zuzüglichen« Tafel in Paris ankam, darf man vermuten, daß sie im gleichen Hafen an Bord verstaut worden war. Hätte man die Tafel in Nazareth entdeckt, man hätte die schwere Marmorplatte wohl nicht auf Kamel- oder Mauleselrücken zum fernen Jaffa transportiert, sondern in der nahen Hafenstadt Haifa verladen. Hatte man vielleicht die denkwürdige Tafel ursprünglich in oder in der Nähe von Jerusalem entdeckt? Wahrscheinlich wurde Jesus auf dem Essenerfriedhof der Heiligen Stadt im sogenannten Jakobusgrab beigesetzt. In wessen Auftrag wurde nach Erlaß des kaiserlichen Reskriptes die Tafel von einem Steinmetz angefertigt? Der Name des Mannes, der von Pontius Pilatus den Leichnam Jesu erbeten hatte, drängt sich auf. War es Joseph von Arimathia, ein Mitglied des Hohen Rates? »Am Abend aber kam ein reicher Mann von Arimathia, der hieß Joseph, welcher auch ein Jünger Jesu war. Der ging zu Pilatus und bat ihn um den Leib Jesu. Da befahl Pilatus, man sollte ihm ihn ge248
ben. Und Joseph nahm den Leib und wickelte ihn in eine reine Leinwand und legte ihn in sein eigenes neues Grab, welches er in einen Fels hatte hauen lassen.« (Matthäus 27, 57-60) Ließ vielleicht Joseph von Arimathia den Gekreuzigten im Vorraum dieses Hypogaeums aufbahren? Nachdem Anhänger Jesu – Bewohner des nahen Jerusalemer Essenerstadtteils werden es gewesen sein – ihre Totenwache beendet hatten, würde Joseph von Arimathia die Umbettung in eine der Nischen verfügt haben; das Hypogaeum wäre dann späteren fremden und uneingeweihten Besuchern leer erschienen. An den äußeren Steinwänden des Jakobusgrabes könnte man später die Tafel befestigt haben. Rechts neben dem Eingang dieses Hypogaeums ist eine Grabnische. Für eine Steinplatte wäre an allen vier Seiten des niedrigen Eingangs eine Vertiefung eingespart worden. Hatte man in diese Vertiefung die Tafel mit der kaiserlichen Kundmachung eingelassen? Vielleicht schon während der Belagerung der Heiligen Stadt, im Jahre 70, wurde der Zugang dieses Hypogaeums verschüttet, und die Natur wird allmählich den Grabeingang unkenntlich gemacht haben. Auch die Tafel wurde zugedeckt und vergessen, bis sie ein Unbekannter fand und verkaufte. Die Ahnung, daß diese Tafel das Sterben eines Nazoräers andeuten sollte, mag ihr noch lange angehaftet haben. Das alte Mißverständnis »Nazoräer« gleich »von Nazareth« tat seine Wirkung. Letztlich glaubte man die Tafel sei »von Nazareth« herbeigeschafft worden. Ich bin hin und wieder in das Innere des Jakobus-Hypogaeums vorgedrungen. Rechts, links und vor mir waren in alter Zeit Türen, 249
dahinter sind immer noch die Grabkammern, in deren Wände man Nischen gehauen hatte. Sogar diese Grabnischen sind leer. Es gibt auch Vermutungen, Jesu Leichnam sei in wenig pietätvoller Weise beigesetzt worden. Zur Begründung wird unter anderem auf einen Bericht des Kirchenhistorikers Dionysius Exiguus (etwa 500-550) verwiesen, auf dem Campus Esquilinus in Rom hätte man 4500 Aufständische hingerichtet. Für sie gab es kein Massengrab. Sie wurden nicht wie die Sklaven und einfachen Bewohner der großen Stadt in schnell geschaufelte Gruben geworfen. Man überließ die Hingerichteten vielmehr auf freiem Felde Hunden und Raubvögeln. Vielleicht ruhen irgendwo in der Erde des Heiligen Landes noch mehrere Marmorplatten, in die nicht nur der ungekürzte Text des kaiserlichen Reskriptes, sondern auch der Name des Kaisers und der Jahrestag eingemeißelt worden waren. Leider werden Inschriften-Tafeln auch heute noch zertrümmert, achtlos beschädigt oder unter der Hand in Israel an Ausländer verkauft. Für die wissenschaftliche Erforschung der Anfänge der Jesus-Bewegung sind diese Platten fast ausnahmslos für immer verloren.
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Leopold Wenger macht erstaunliche Entdeckungen Welcher Kaiser hatte das immer noch geheimnisvolle Reskript wider den Grabesraub erlassen? Der Rechtshistoriker Leopold Wenger hat den Wortlaut der Agrargesetze des Kaisers Gaius mit der Textgestaltung der Nazareth-Tafel verglichen und war überzeugt: »Die Schlußfolgerung, die ich wagen möchte, kann nicht zu gewagt erscheinen: Die Lex Agraria des Caligula und dieses unser Diatagma Kaisaros werden von ein und demselben Beamten in der kaiserlichen Kanzlei der Abteilung ab epistulis latinis verfaßt und in der Kanzlei des Praefectus Syriae bzw. Procurator Iudaeae ins Griechische übersetzt worden oder – anders gewandet: Gaius Caesar Caligula, er und er allein wird in unserem Diatagma der ›Kaiser‹ sein!« Wenger glaubte auch, in einem für den in Syrien residierenden Legaten Petronius bestimmten Brief des Kaisers Gaius einen sprachlichen Widerhall der Nazareth-Inschrift heraushören zu können: »Weil du die Geschenke, mit denen die Juden dich bedacht haben, höher als meine Befehle geachtet und dich unterstanden hast, den Juden zuliebe anders zu handeln, als dir von mir aufgetragen war, so sollst du jetzt dein eigener Richter sein und selbst bestimmen, was dir geschehen soll, damit du die Wucht meines Zornes fühlst. Denn ich will an dir ein Beispiel aufstellen, das die Mitwelt wie die Nachwelt davor warnen soll, den Befehlen des Caesars zuwiderzuhandeln.« (Josephus, Jüdische Altertümer XVlll, 8,8)
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Der hektische, von Selbstbewunderung besessene römische Kaiser Gaius (37-41) wird den abgesetzten Statthalter Pontius Pilatus im Frühjahr des Jahres 37 verhört haben. Gaius trug in seinen jungen Jahren das grobe Schuhwerk der Soldaten, römische Legionäre nannten ihn deshalb auch liebevoll Caligula – Stiefelchen. Man weiß heute, daß die Selbstvergottung des Kaisers mit seiner Vorliebe für die geheimnisvollen ägyptischen Kulte zusammenhängt. Der heilige Vogel Phoenix soll in Ägypten Gaius die für ihn anbrechende Königsherrschaft verkündet haben. Wie früher im Lande der Pharaonen, so begann jetzt in Rom mit der Herrschaft des neuen Kaisers eine neue Zeitrechnung. Gaius wollte den Regierungssitz des römischen Weltreiches sogar nach Alexandria verlegen. Vielleicht hat Gaius beim Verhör des Pilatus auch den Gerichtsakt Jesu eingesehen. Er wird daraus entnommen haben, was man sich damals über Jesu Auferstehung erzählte. Hat der Kaiser in jenen Augenblicken beschlossen, Grabfrevel hinfort mit dem Tode zu bestrafen? Wenger beendet seine Datierungsversuche mit den Worten: »Unser Diatagma Kaisaros, erlassen für Palästina, muß aus einem ganz besonders schwerwiegenden Anlaß, wie er auf dem Boden Palästinas sich abgespielt hatte, ergangen sein. Einen Anlaß aber, der so entscheidend oder entscheidender gewesen wäre wie der Streit zwischen Synedrium und Aposteln über den Hergang der Auferstehung Jesu, nennen uns weder die profangeschichtlichen noch die neutestamentlichen, noch die talmudischen Quellen. Ist aber unser Diatag252
ma aus der gedachten Veranlassung durch Pilatus bei Tiberius beantragt und durch Caligula erlassen, dann hebt sich dessen Inhalt zu einzigartiger Bedeutung empor: Wir haben dann in unserer Nazareth-Inschrift vor uns die bis heute älteste profangeschichtliche Urkunde zu den neutestamentlichen Berichten von der Auferstehung Jesu.« Soweit die Meinung des Rechtshistorikers Wenger.
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Der gelehrte Kaiser Claudius und die Tafel Fellachen hatten einen Papyrus unter Mauerüberresten der altägyptischen Stadt Philadelphia ausgegraben. In Kairo zeigten sich Händler am Ankauf uninteressiert. Sie hielten den Papyrus für wertlos. Das Britische Museum kaufte diese Schriftrolle. Sie wurde mit der Signatur »London 1912« versehen. Bei näherem Hinschauen zeigte sich: Der Text des Papyrus 1912 beinhaltet einen sehr wertvollen Fingerzeig zur Ausbreitung der JesusBewegung. Die Vorderseite der Schriftrolle weist zwar nur ein Steuerregister auf, auf der Rückseite aber findet sich die Abschrift eines für die Einwohner Alexandrias bestimmten kaiserlichen Reskriptes. Kaiser Claudius war auf den Gebieten Geschichte und Sprachwissenschaften sehr bewandert. Man nimmt deshalb an, daß er dieses Reskript persönlich diktiert hatte. Wahrscheinlich wurde auch dieser ursprünglich in lateinischer Sprache abgefaßte Erlaß erst im Orient ins Griechische übersetzt, denn der Schreiber verfügte zwar über eine geübte Hand, seine griechische Orthographie war jedoch mangelhaft. Kaiser Claudius schloß sein »Reskript an die Alexandriner« mit der Mahnung, den »Überfluß der Stadt zu genießen, jedoch nicht Juden einzuführen oder zuzulassen, die aus Syrien oder Ägypten herbeisegeln, was mich nötigen würde, größeren Verdacht zu schöpfen: Widrigenfalls werde ich mit allen Mitteln gegen sie vorgehen als gegen Menschen, die der ganzen Welt eine allgemeine Pest erregen. Wenn ihr auf beiden Seiten von solchem Vorgehen absteht und bereit seid, in Ver254
träglichkeit und Wohlwollen miteinander zu leben, so will auch ich weiterhin die altbewährte Sorge für die Stadt beweisen, die meinem Hause seit alters freundschaftlich verbunden ist.« Da nicht alle Alexandriner die kaiserliche Kundmachung in der Kanzlei des Statthalters einsehen konnten, hatte dieser Abschriften anfertigen lassen und den Ausführungen des Kaisers erläuternde Worte, eine Präambel, vorausgeschickt. Solche Papyri wurden damals grundsätzlich an öffentlichen Gebäuden gut lesbar angebracht. Warum wurde aber eine Abschrift des kaiserlichen Reskriptes auch an die Gemeindeverwaltung von Philadelphia geschickt und später dem Archiv dieser ägyptischen Kleinstadt einverleibt? Vielleicht waren zuvor Alexandriner nach Philadelphia ausgewandert und hatten die Weisung des höchsten Beamten ihrer Heimatstadt weiterhin zu befolgen. Über den Anlaß dieses kaiserlichen Reskriptes haben Altertumsforscher und Theologen heftige Meinungsverschiedenheiten ausgetragen. Manche meinen, die im Erlaß des Claudius genannten Juden seien Judenchristen gewesen, in Alexandria hätten sie in den Synagogen ihren Glauben verkündet und so Unruhen heraufbeschworen. Ähnliches habe sich damals auch in anderen Städten des römischen Weltreiches, in Jerusalem, Antiochia, Caesarea, Ephesus, Korinth und sogar in Rom zugetragen. Wegen Unruhen in Alexandria habe sich der Apostel Paulus ja auch nicht nach Ägypten eingeschifft. Auch Cumont glaubte, frühe Angehörige der Jesus-Bewegung könnten in Ägypten Unruhen ausgelöst, somit das warnende Schreiben des Kaisers verursacht haben. 255
Erinnere doch sogar der Sprachgebrauch des Autors der Apostelgeschichte an die Ausdrucksweise des kaiserlichen Reskriptes: »Wir haben diesen Mann erfunden als eine Pest und als einen, der Aufruhr erregt unter allen Juden auf dem ganzen Erdboden«, schrieb Lukas, »und als einen Anführer der Sekte der Nazarener.« (25, 5) Andere Forscher meinen, von einem so frühen Auftreten der Jesus-Bewegung in Ägypten könne keine Rede sein! Der britische Papyrologe Idris H. Bell hat das Schreiben des Kaisers Claudius übersetzt und kommentiert. Er glaubte, man brauche die alexandrinischen Unruhen in keiner Weise mit dem Auftreten der Jesus-Bewegung in Verbindung zu bringen. Es sei auch nicht anzunehmen, der neue Glaube habe die jüdische Gemeinde in Rom schon ernstlich beunruhigt. Bell räumte jedoch ein, Unruhen seien vielleicht von frühen Angehörigen der Jesus-Bewegung in Antiochia verursacht worden und hätten den Unwillen des Kaisers erregt. Abschließend bemerkte Bell: »Waren solche Wirren anderswo vorgekommen, so mag Claudius sehr wohl das Gefühl gehabt haben, daß die Juden ein Schaden für ihre Nachbarn und eine Gefahr für den Weltfrieden würden. Unter dieser Voraussetzung ist diese Stelle zwar nicht eine unmittelbare Anspielung auf das Christentum, aber doch die früheste geschichtliche Spur der Unrast, die das Ausstreuen der christlichen Lehre wecken mußte.« Neuere Entdeckungen hingegen bestätigen eine solche »Unrast« auch in Ägypten. Im Niltal wurden immer wieder Papyri mit Zaubersprüchen ausgegraben, deren Ähnlichkeit mit Sprüchen des Neuen Testaments geradezu in die Augen springt. 256
Die nachfolgend zitierten Texte wurden dem Werk Die griechischen Zaubertexte entnommen. Sein Herausgeber und Übersetzer ist der Papyrologe Karl Preisendanz. Totenauferweckung »... erwecke durch die Macht des ewigen Gottes diesen Körper und wandle an diesem Ort«: 13, 278 »Das Kind ist nicht gestorben, sondern es schläft«: Markus 5,39 Dämonen-Austreibung »Das gebt, das man spricht, beschwört Dämonen und treibt sie ein«: 13,121 Unsichtbar »Wenn du unsichtbar werden willst, salbe nur deine Stirn«: l,255f »Und er verschwand vor ihnen.« Lukas 24,31 Wandeln auf dem Meer »... er wird Flüsse und Meer auf der Stelle festmachen, damit du sogar aufrecht darauf laufen kannst, wie du willst.«: 1,120 »Und um die vierte Nachtwache kam er zu ihnen und wandelte auf dem Meer.«: Markus 6,48 Selbstverständnis Jesu »Ich bin du und du bist ich«: 8, 50 »Ich und der Vater sind eins«: Johannes 10, 30 Wissen um fremde Gedanken »... vorherwissen, was er in der Seele hat«: 5, 228 »... frage den Engel darüber, und er wird es dir in der Seele mitteilen«: 1,176 f »Und Jesus erkannte alsbald in seinem Geist, daß sie so bei sich dachten ...«: Markus 2, 8 257
Auferstehung »... deinen Geist aber wird er nehmen und mit sich in die Luft führen« :1,179 f »... und war vor ihnen verklärt.«: Markus 9,2 Wie sind die Ähnlichkeiten der ägyptischen PapyrusTexte einerseits und die Texte der Evangelisten andererseits zustande gekommen? Morton Smith, Religionshistoriker an der amerikanischen Columbia-Universität, entdeckte im Kloster Mar Saba, auf halbem Wege zwischen Jerusalem und Qumran, ein holländisches, im Jahre 1646 in Amsterdam gedrucktes Buch. Es trägt den Titel Epistolae Genuinae S. Ignatii Martyris. Der Verfasser hieß Issac Voss. Auf den letzten Seiten dieses Werkes fand Smith die Abschrift eines im achten Jahrhundert verfaßten merkwürdigen Briefes, den man mit der Überschrift »Aus den Briefen des höchst heiligen Clemens, des Autors der Stromateis, an Theodoros« versehen hatte. Das Original dieses Briefes, so betont Smith, sei somit fast tausend Jahre vor dem in Amsterdam gedruckten Buch angefertigt worden. Smith meinte, es könne sich um einen authentischen Text des vor dem Jahre 216 verstorbenen Kirchenlehrers Clemens von Alexandrien handeln. Der Verfasser des geheimnisvollen Briefes erzählt, der Evangelist Markus habe in Rom eine verkürzte Auswahl seines Evangeliums, des kanonischen Markus-Evangeliums, verkündet. Danach habe Markus in Alexandria in Umlauf befindliche verborgene Worte Jesu gesammelt und so geheime, von Jesus nur für Eingeweihte bestimmte Lehren überliefert. Eine der Ursachen der 258
von Kaiser Claudius genannten Unruhen, so darf man folgern, könnte die Agitation des Evangelisten Markus gewesen sein. Trotz aller Erfolge der Papyrologen und Archäologen bleiben die Anfänge der Jesusgemeinde Ägyptens auch weiterhin rätselhaft. Immerhin wissen wir, daß schon sehr früh ägyptische Zauberei das keimende Gemeindeleben der Jesus-Bewegung erstickte. Grabsteine beispielsweise wurden in Ägypten mit Hieroglyphen geschmückt. In Zaubertexten früher Angehöriger der Jesus-Bewegung werden altägyptische Gottheiten, Isis, Nephthys und Horus, genannt; man will sich ihrer Gunst versichern. Die Märtyrer- und Heiligenverehrung rückte den Glauben der Jesusgemeinde im Niltal sogar nach und nach in die Nachbarschaft des scheinbar überwundenen heidnischen Vielgötterglaubens. In Rom entdeckten Archäologen an der Wand eines kaiserlichen Palastes ein eingeritztes Kreuz: Ein Wesen mit weitausgebreiteten, nur angedeuteten Armen, die Beine nach außen gekehrt und mit einem Eselskopf. Ein Mensch steht, von dem Kreuz abgewandt, unterhalb des Hingerichteten. Er hebt einen Arm und scheint den Gekreuzigten zu adorieren. Mit unkorrekter Orthographie hat man darunter gekritzelt: »Alexamenos verehrt Gott«. Der Esel war in Ägypten das heilige Tier des Seth, des Schutzgottes der Fremden. Juden waren im Alexandria des ersten Jahrhunderts sehr zahlreich, sie waren für den einfachen Ägypter die Fremden par excellence. In Montagnana, zwischen Padua und Mantua, wurde eine beinerne Statuette gefunden. Das kleine Kunstwerk zeigt ein am lebenden Baum
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gekreuzigtes Tier, wiederum einen Esel. Unterhalb kauert ein Äffchen. Kaiser Claudius wollte vermutlich dem ständigen Gerede über die Auferstehung eines seiner galiläischen Untertanen ein Ende bereiten. Er sah sich in Rom zum Einschreiten genötigt. Der römische Historiker Suetonius überliefert: »Iudaeos impulsore Chresto assidue tumultuantes Roma expulit.« (Die Juden, die auf Betreiben des Christus ständig Unruhe stifteten, vertrieb er aus Rom.) Diese knappe Mitteilung hat sehr viele gelehrte Debatten heraufbeschworen. Hätte Suetonius nicht einen ganz bestimmten Juden im Auge gehabt, er hätte nicht einfach »Chresto«, sondern »aliquo Chresto«, irgendeines Christen, geschrieben. Wir können das auch daraus folgern, daß er im Zusammenhang mit der Neronischen Verfolgung berichtet: »Mit Hinrichtungen verfolgte er Christen, diese einem neuen und ruchlosen Aberglauben anhängende Gruppe von Menschen.« War der Unruhestifter für Suetonius der Galiläer Jesus »von Nazareth« ? Bezieht sich Suetonius ebenfalls auf ein in Rom kursierendes Gerücht? Suetonius’ Bericht über das Auftreten des »Chrestus« in Rom könnte man vergleichen mit dem neutestamentlichen Bericht von Jesu Auferstehung in Galiläa. Beide entspringen der gleichen Mysteriengläubigkeit des antiken Menschen. Kaiser Claudius’ unermüdliches und leidenschaftliches Bemühen um geordnete Rechtsverhältnisse und seine Vertreibung der Juden aus Rom nähren die Vermutung, daß er der Urheber des Erlasses wider den Grabesfrevel gewesen sein könnte.
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Eine unzweideutige Ermittlung des Urhebers unseres Tafeltextes ist bis heute nicht gelungen.
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Hat ein Zecher und Verschwender mitgemischt? Der jüdische König Agrippa I. könnte auf das Zustandekommen des kaiserlichen Reskriptes Einfluß genommen haben. Wer war dieser einflußreiche Mann, der sich auf Münzen »Freund des Kaisers« nannte? Der jüdische Historiker Manahim Stern behauptet, Agrippa I. sei »die bedeutendste jüdische Führerpersönlichkeit des römischen Imperiums« gewesen. Und: »Er genoß seine Erziehung in Rom und hatte die Möglichkeit, in die höchsten Ränge der römischen Gesellschaft emporzusteigen.« Um Agrippa mit römischen Sitten und römischer Bildung vertraut zu machen, hatte man ihn, einen Enkel Herodes des Großen, schon früh nach Rom geschickt. Nach seiner Rückkehr in die Heimat war Agrippa von seinem Schwager Herodes Antipas, Jesu Landesherrn, mit dem bescheidenen Amt eines Marktaufsehers des aufblühenden Städtchens Tiberias betraut worden. Nach peinlichen Auseinandersetzungen mit dem römischen Legaten Syriens floh Agrippa, völlig verschuldet, nach Alexandria, lieh sich dort Gelder von dem Bruder des berühmten Philosophen Philo und konnte damit nach Rom entweichen. Wegen einer Indiskretion wurde Agrippa auf Befehl des Kaisers Tiberius ins Gefängnis geworfen und nach dem Ableben des Kaisers, im Jahre 37, von seinem Freund, dem nunmehrigen Kaiser Gaius, freigelassen und zum König und Landesherrn des nördlichen und nordöstlichen Palästina ernannt. Im Herbst des Jahres 38 kehrte Agrippa in den Orient zurück. 262
In Alexandria kam es wegen des Besuchs Agrippas I. zu Ausschreitungen. Der heidnische Pöbel legte sogar einem stadtbekannten Idioten königliche Gewänder an. Man bezeugte ihm spöttisch den einem orientalischen Herrscher gebührenden Kniefall. Es gibt Vermutungen, die Evangelisten hätten die Berichte über Jesu Verspottung dieser Überlieferung entnommen. Agrippas Schwester Herodias versuchte nunmehr, für ihren Gemahl, Herodes Antipas, ebenfalls die Königswürde zu erwirken. Gaius jedoch ließ beide abblitzen, und der vormalige Landesherr des Galiläers Jesus »von Nazareth« wurde nach Gallien verbannt. Das geschah im Jahre 39. Herodias folgte ihrem Gemahl freiwillig ins Exil. Galiläa und Peräa wurden dem Königreich des Agrippa einverleibt. Agrippa war wieder in Rom, als Kaiser Gaius im Januar des Jahres 41 in seinem Palast auf dem Palatin ermordet wurden. Agrippa hat maßgeblich dazu beigetragen, daß Claudius zum Nachfolger des Gaius erhoben wurde. Kaiser Claudius belohnte seinen Jugendfreund Agrippa, indem er dessen Königreich noch Judäa und Samaria anfügte. Jetzt herrschte Agrippa I. über das gesamte Gebiet, das sein Großvater, Herodes der Große, innegehabt hatte. König Agrippa I. war oft zu Gast bei Kaiser Claudius. Die beiden Männer werden sicherlich auch über die Geschehnisse in Palästina gesprochen haben. Agrippa I. mag das kaiserliche Reskript wider den Grabesfrevel und auch die Schwere der angedrohten Strafe angeregt haben. Schon bald nach der Thronbesteigung des Claudius, noch im Jahre 41, kehrte Agrippa I. in den Orient zurück. Der König wollte sich in seiner Heimat des Wohl263
wollens der Juden und der Heiden versichern, denn er verfolgte fortan unerbittlich die Judenchristen, Juden also, die sich der strengen judaistischen Gesetzesreligion nicht mehr verpflichtet fühlten. In der Apostelgeschichte lesen wir: »Um diese Zeit legte der König Herodes die Hände an etliche von der Gemeinde, sie zu peinigen. Er tötete aber Jakobus, des Johannes Bruder, mit dem Schwert.« (12,1-2) Agrippa I. hatte die Vergrößerung der Jerusalemer Stadtmauer befohlen. Das erschien mehr als sonderbar. Sogar Kaiser Claudius war deshalb in Rom mißtrauisch geworden und verfügte die Beendigung dieser Bauarbeiten. Auch hier konnten Archäologen neuerdings zur Klärung des historischen Geschehens beitragen. Josephus nennt eine dritte Mauer, die Agrippa I. bauen ließ: »... die Stadt war nämlich zu klein geworden für die Größe ihrer Bevölkerung, und so war sie mit der Zeit über die Mauern hinausgewachsen.« Unter dieser Mauer, ungefähr acht Meter unter dem heutigen Damaskustor, entdeckte die britische Archäologin Kathleen M. Kenyon zwei Steingräber und einen Krug, er enthielt Überreste einer Kindesleiche. Zu Beginn des ersten Jahrhunderts befand sich hier ein Friedhof. Zwischen Mörtel fanden die Ausgräber eine Münze. Sie zeigt König Agrippa I. und war im Jahre 42/43 geprägt worden. Noch ein anderes Vorgehen Agrippas I. erregte den kaiserlichen Argwohn. Fünf römische Vasallenkönige waren einer Einladung Agrippas I. gefolgt. Als Gäste des Königs weilten sie in der damals aufblühenden galiläischen Stadt Tiberias. Das erschien ebenfalls sehr 264
verdächtig. Der römische Legat Syriens, Marsus, erschien im Auftrag des Kaisers und verlangte die Beendigung des Treffens. Es waren zwei schlimme Demütigungen. Argwöhnte der Kaiser tatsächlich eine Verschwörung Agrippas L? Wollte der Jugendfreund des Kaisers, nachdem er sich durch seine kluge und freigebige Lebensart sowohl in Rom wie auch in Palästina so viele einflußreiche Freunde geschaffen hatte, einen Aufruhr gegen die römische Besatzungsmacht anzetteln? Agrippa I. starb im Jahre 44, zwei Jahre vor Beginn der ersten Missionsreise des Apostels Paulus. In der Apostelgeschichte wird über sein Lebensende nur mit knappen Worten berichtet: »Das Volk aber rief ihm zu: Das ist Gottes Stimme und nicht eines Menschen! Alsbald schlug ihn der Engel des Herrn, darum daß er die Ehre nicht Gott gab, und ward gefressen von den Würmern und gab den Geist auf.« (12,22-23) Viel ausführlicher erzählt Josephus: »Agrippa begab sich nach Caesarea am Meer und veranstaltete dort zu Ehren des Kaisers Claudius Schauspiele. Im Theater umdrängten Schmeichler den König. Sie nannten ihn ›Gott‹ und riefen: ›Sei uns gnädig! Haben wir dich bisher nur als Mensch geachtet, so wollen wir in Zukunft ein überirdisches Wesen in dir verehren !‹ Der König war ihnen gewogen, jedoch entsetzt, als er über sich einen Uhu erblickte. Hatte nicht ein germanischer Söldner, als er noch auf Geheiß des Kaisers Tiberius in Ketten lag, vorausgesagt, er müsse sterben, sobald sich ein Uhu über seinem Haupte zeige? Bald stellten sich auch heftige Schmerzen in seinem Leibe ein. Da richtete er den Blick auf seine Freunde und sprach zu ihnen: ›Seht, 265
euer Gott muß jetzt das Leben lassen, und das Schicksal macht eure gleißnerischen Worte zuschanden. Unsterblich nanntet ihr mich, und doch streckt der Tod schon seine Arme nach mir aus. Aber ich muß mein Geschick tragen, wie Gott es will. Habe ich doch nicht in kümmerlichen Verhältnissen, sondern im höchsten Glanze gelebt !‹ Noch während er diese Worte sprach, mehrten sich seine Qualen in hohem Grade. Er wurde daher schnell in seinen Palast gebracht, und bald verbreitete sich allenthalben das Gerücht, der König liege im Sterben. Sogleich warf sich das gesamte Volk mit Weibern und Kindern nach väterlicher Sitte auf Teppiche nieder, um für die Genesung des Königs zu Gott zu flehen.« (Jüdische Altertümer, XIX, 8,2) König Agrippa I. blickte von seinem Palast aus auf das Volk und brach in Tränen aus. Er starb unter qualvollen Schmerzen fünf Tage später. König Agrippa I., »Freund des Kaisers«, Lebemann par excellence und, wie manche Historiker meinen, Abenteurer, ist fünfundfünfzig Jahre alt geworden. Josephus war seinem halbjüdischen Landsmann Agrippa sehr zugetan. Trotzdem stellt er nüchtern fest: »Er bezog aus seinem Reiche die denkbar größten Einkünfte, nämlich zwölf Millionen Drachmen; gleichwohl mußte er noch viele Anleihen machen. Da er nämlich außerordentlich freigebig war, konnten seine Einkünfte die Ausgaben nicht decken, und Sparsamkeit war ihm gänzlich fremd.« (Jüdische Altertümer XIX, 8,2) Wenige Gehminuten von der Südwestecke der Jerusalemer Stadtmauer entfernt wurden unterirdische Grabgewölbe und Gänge entdeckt. Sorgsam hatte man die 266
schönen Steinblöcke dieses Hypogaeums zusammengefügt. Hier waren vornehme Juden in Steinsarkophagen beigesetzt worden. In einer Rinne konnte man einen großen Stein vor den Eingang rollen. Zwei Sarkophage stehen immer noch in den geheimnisvollen Gewölben. Ist Agrippa I. hier beigesetzt worden? Die Sarkophage wurden ausgeraubt, sie sind leer. In der alten Sammlung des russischen Museums in Jerusalem befindet sich eine merkwürdige beschriftete Steintafel. Wir lesen und übersetzen: HIERHER WURDEN DIE GEBEINE DES USIA, DES KÖNIGS VON JUDA GEBRACHT --NICHT ÖFFNEN! Usia wurde zum König ausgerufen, nachdem sein Vater, Amazia, einer Verschwörung zum Opfer gefallen war. Usia regierte von 779 bis 740 vor Christi Geburt; es war eine Blütezeit Judäas. Usia wollte angeblich das Priestern vorbehaltene Räucheropfer vollziehen. Der Steinmetz hatte sich des Aramäischen, der Muttersprache Jesu, bedient. Wiederum diese Mahnung, keinen Grabesraub zu begehen. König Agrippa I. war ein Lebemann, ein Verschwender und Intrigant. Was tatsächlich mit dem Leichnam Jesu geschah, wird ihm nicht entgangen sein. Auf eine wie auch immer geartete Mittäterschaft Agrippas am Grabesraub gibt es jedoch keine Hinweise.
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Das »Apostelkonzil« und das letzte Geheimnis Ungefähr vier Jahre nach dem Tode des Königs Agrippa I. begab sich der Apostel Paulus nach Jerusalem, um sich wegen der von ihm verbreiteten Lehren zu rechtfertigen. Den Anstoß zu dem nach Jerusalem einberufenen sogenannten »Apostelkonzil« könnte die Nazareth-Tafel gegeben haben. Man debattierte in Jerusalem über die kaiserliche Strafandrohung und über die angebliche Auferstehung Jesu. Dies war sicherlich für manche Konzilsteilnehmer ein traumatisches Erlebnis, denn wer wollte Glaubensbrüder des Grabraubes oder des Grabfrevels bezichtigen? Nur hinter vorgehaltener Hand sprach man deshalb von dem durch staatliche Ausrufer verkündeten Reskript; verstohlen zeigte man auf den an römischen Amtsgebäuden angebrachten Aushang des kaiserlichen Erlasses, dem der Statthalter wahrscheinlich wie üblich eine Präambel angefügt hatte, und auf die an exponierter Stelle aufgestellte Marmortafel. Der unermüdliche »Apostel« Paulus konnte dieses traumatische Erlebnis niemals mehr völlig verdrängen; wie unter Zwang hat er die gleiche Beteuerung sich und seinen Zuhörern immer wieder eingehämmert, so, als könne er es ebenfalls nicht glauben: »Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist unsre Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich.« (Erster Brief an die Korinther, 15,14) Die Tafel wird freilich in den damals immer wieder den Erfordernissen der Zeit angepaßten Glaubens- und Propagandaschriften der Jesus-Bewegung aus naheliegenden Gründen nicht erwähnt. Nur 268
sehr widerwillig werden sich die Evangelisten, falls sie den genauen Text der Tafel Jahrzehnte später überhaupt noch vor Augen hatten, an die schreckliche kaiserliche Strafandrohung erinnert haben. Gäbe es nicht die heute für uns alle sichtbare Nazareth-Tafel, die Jünger Jesu hätten dieses letzte Geheimnis der christlichen Weltreligion für immer mit ins Grab genommen.
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Ausblick Hätte der Steinmetz den Namen des römischen Kaisers und das Jahr der Kundmachung seiner Marmortafel anvertraut, wir wären einer Lösung des Problems, das uns Fröhners Tafel aufgibt, viel näher. Auch weiterhin wird sich der Scharfsinn namhafter Forscher an dieser rätselhaften Marmortafel entzünden. Vielleicht wird uns eine gütige Fügung eine ähnliche Tafel, die den Kaiser und das Jahr der Kundmachung nennt, in die Hand geben, oder eine neuentdeckte Inschrift, vor fast zweitausend Jahren auf einen Grabstein gemeißelt oder auf eine Tonscherbe gekritzelt, wird unser Wissen bereichern oder bietet, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, die Lösung des Problems. Nach mehrjähriger Beschäftigung mit der sogenannten Nazareth-Tafel glaube ich, die Meinung des ersten Erforschers der Tafel, Franz Cumont, teilen zu können: Die Tafel ist die zu Stein gewordene kaiserliche Reaktion auf die Nachricht der angeblich in Palästina erfolgten Wiederkunft eines Hingerichteten. Da ich mich für Cumonts Hypothese entschieden hatte, habe ich die vielen anderen, ebenfalls beachtenswerten Erklärungsversuche meiner vorliegenden Monographie nicht einverleibt. Grabfrevel wurde immer und wird noch heute weltweit verübt. Die Geschichte der Archäologie ist auch eine Geschichte der Grabschändung. Das an Jesus »von Nazareth« verübte Verbrechen war nicht einmalig – einmalig und unvergleichlich sind hingegen die weltgeschichtlichen Folgen.
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Als ich im Jahre 1955 zum ersten Mal das riesige Grabgelände des Kedrontales aufsuchte, war ich über die ungezählten offenen Gräber entsetzt. In übereinanderliegenden Grabschächten lagen Gerippe und längst vermoderte Schädel. Würde ich hier und dort eine Teßera, vielleicht sogar Münzen aus den Tagen Jesu finden? Könnte hier eine Tafel oder auch nur eine beschriftete Tonscherbe ebenfalls ein ungewohntes Licht auf das Werden der Jesus-Sekte werfen? Die Schädel schweigen für immer, aber Inschriften und Schriftrollen werden nach zwei Jahrtausenden religiöser Verirrung und priesterlicher Anmaßung die Wege der »christlichen« Uranfänge zuzüglich lichten.
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Zeittafel Vor der Zeitenwende 605 Nebukadnezar wird König der Babylonier 587 Einnahme und Zerstörung der Stadt Jerusalem Beginn der Babylonischen Gefangenschaft 538 Der Perserkönig Kyros erobert Babylonien 521 Darius I. wird König der Perser 31 Octavianus, genannt Augustus – der Erhabene –, wird römischer Kaiser Nach der Zeitenwende 14 Kaiser Augustus stirbt Tiberius wird Kaiser des Römischen Reiches 26 Der römische Statthalter Pontius Pilatus trifft mit seiner Gemahlin Claudia Procula in Caesarea am Meer ein 27 (?) Johannes tauft Jesus »von Nazareth« im Jordan 31 Seianus wird in Rom hingerichtet 33 3. April (?) Kreuzigung Jesu (astronomische Berechnung) 36 Der Statthalter Pontius Pilatus wird nach Rom zurückbeordert 37 (?) Bekehrung des Saulus Aufenthalt in Arabien und »Damaskus« bis zum Jahre 39 37 Kaiser Tiberius stirbt Gaius wird römischer Kaiser 39 Verbannung des Herodes Antipas, des Landesherrn Jesu 41 Gaius wird ermordet Claudius wird römischer Kaiser 43/44 Paulus in Antiochia 44 König Agrippa I. stirbt in Caesarea am Meer
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48 (?) »Apostelkonzil« in Jerusalem 54 Kaiser Claudius wird ermordet Nero wird Kaiser 66 Beginn des großen römisch-jüdischen Krieges 68 Zerstörung der Qumransiedlung Kaiser Nero stirbt 69 Vespasian wird zum Kaiser ausgerufen 70 Belagerung und Einnahme der Stadt Jerusalem 73 Die Bergfeste Masada wird von römischen Soldaten eingenommen 79 Feldherr Titus, Sohn des Vespasian, wird Kaiser 81 Kaiser Titus stirbt 1834 Wilhelm Fröhner wird in Karlsruhe geboren 1878 Die »galiläische Marmortafel« wird Fröhner überlassen 1884 Moses Wilhelm Shapira begeht in Rotterdam Selbstmord 1925 Fröhner stirbt in Paris 1947 Der Beduinenjunge Muhammad ed-Deeb entdeckt Krüge und Schriftrollen in der Nähe der Qumransiedlung.
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Literaturhinweise Albright, William Foxwell: Front the stone age to Christianity, New York 1957 Allegro, John Marco: The Dead Sea Scrolls, Harmondsworth 1966 Cumont, Franz: Un rescrit imperial sur la violation de sepultures, in: Revue historique 163, Paris 1930 Drower, Ethel Stefana: The secret Adam, Oxford 1960 –: Mandaean Polemic, London 1962 –: Water and wine, London 1965 Guthe, Hermann: Fragmente einer Lederhandschrift, Leipzig 1883 Hellmann, Marie-Christine: Wilhelm Fröhner, Paris 1982 Lidzbarski, Mark: Mandäische Liturgien, Berlin 1900 Macuch, Rudolf: Alter und Heimat des Mandäismus nach neuerschlossenen Quellen, in: Theologische Literaturzeitung 6, Leipzig 1957 Milik, Joseph T.: Dix ans de Decouvertes dans le Desert dejuda, Paris 1957 Reinach, Salomon: La mort de Froehner, Paris 1925 Robert, Louis: Collection Froehner, vol. I: Inscriptions Greques, Paris 1936 Rudolph, Kurt: Die Mandäer, Band 1 und 2, Leipzig 1960/61 –: Die Gnosis, Göttingen 1980 Wenger, Leopold: Eine Inschrift aus Nazareth, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung, Band 51, Weimar 1931.
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Danksagung Dr. Michel Amandry, Direktor des Cabinet des Medailles, und Frau Dr. Marie-Christine Hellmann, beide in Paris, Dr. Michael Knoche, Direktor der Herzogin Anna Amalia-Bibliothek in Weimar und seinen Mitarbeitern sowie Sachbearbeitern des Goethe-und SchillerArchives, ebenfalls in Weimar, darf ich für vielfältiges und freundliches Entgegenkommen herzlich danken. Hermann Lauschmann hat mit vielen gehaltvollen Anregungen das Werden dieses Buches gefördert. Ein herzliches Dankeschön. Für viele und überaus wertvolle Hinweise danke ich Dr. Hanns Rössler. Danken darf ich zuzüglich den Universitätsprofessoren Peter Pardue (New York), Klaus Berger (Heidelberg), Manfried Dietrich (Münster), Kurt Rudolph (Marburg) und Dieter Schlingloff (München) sowie Richard und Johanna Brill, Dr. Bruno Hafner, Oskar Kröher, Jürgen Lindenburger, Dr. Joseph Milik, Dr. Johannes Nolle, Salome Panitz, Dr. Anton Sitzmann, Dr. Richard Thurner und, last not least, meinem Sohn und zeitweiligen Reisegefährten Klaus. Vielleicht wird dieses Buch die Wiederentdeckung der verschollenen Shapira-Schriftrolle herbeiführen. Verlag und Autor sind für jeden Hinweis dankbar. Gustav Pfirrmann
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