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CARL DREADSTONE
Die Mumie Originaltitel: THE MUMMY
Aus dem Amerikanischen übertragen vo...
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CARL DREADSTONE
Die Mumie Originaltitel: THE MUMMY
Aus dem Amerikanischen übertragen von Dr. Eva Maisch Deutsche Erstveröffentlichung Juli 1978 Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG
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PROLOG Was immer nun auf ihn zukommen mochte – Muller fürchtete sich. Einen Augenblick lang hatte er den Wunsch verspürt, den Mumiensarg wieder einzugraben. Er fragte sich, ob er das getan hätte, wenn Whemple und Norton nicht bei ihm wären. Hätte Muller, der verletzliche, sterbliche, angsterfüllte Mensch, die Kis‐ ten wieder vergraben? Oder hätte jener andere Muller, der Wahrheitssucher, Geisterbeschwörer und Magier, sie geöffnet? Doch die Frage war müßig, da er die hölzernen Kisten nicht wie‐ der vergraben hatte. Sie hatten den Deckel des Mumiensargs inspiziert und den Na‐ men gelesen, der auf dem gemalten Abbild der Leiche geschrieben stand ‐ »Imhotep, Hoherprieser des Sonnentempels zu Karnak«. Sie hatten die Kerben im Holz gesehen, wo ein priesterliches Dia‐ dem und Amtsinsignien hätten funkeln müssen. Ein wenig später hatten sie den Mumiensarg geöffnet und die mumifizierte Leiche herausgehoben. Keine goldene Totenmaske, keine Juwelen. Nur ein Körper, in Leinen gewickelt. Aber immer‐ hin der Körper eines Hohenpriesters. Genau, wie der Junge ge‐ sagt hatte – irgend etwas stimmte da nicht. Ja, dachte Muller, der junge Norton hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Ein Ho‐ herpriester von Karnak in einem ungeschmückten, nicht gekenn‐ zeichneten Grab ‐ da stimmte irgend etwas nicht. Oder man besaß einen gewissen Instinkt und wußte, was man finden würde, wenn man die Bandagen abnahm. Das vergilbte Leinen fühlte sich in Mullers Hand wie totes Ge‐ webe an. Es war trocken und spröde, aber es zerbröckelte nicht. Nur einen einzigen Streifen wickelte er vom Kopf.
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Als der Mumienkopf freilag, trat er zurück, um die beiden ande‐ ren Männer einen Blick darauf werfen zu lassen. »Ein unheimlicher Bursche«, sagte Norton, und Whemple schnalzte mit der Zunge, wobei nicht recht klar wurde, was er damit zum Ausdruck bringen wollte. Der hochgewölbte Schädel war kahlrasiert, die Haut graubraun, faltig und brüchig. Die Augen waren halboffen wie bei den meis‐ ten Mumien, der Druck der Bandagen hatte den knorpeligen Teil der Habichtsnase teilweise abgeflacht. Der Kopf war ein wenig zur Seite geneigt, die verzerrten Lippen entblößten Zahnfleisch und Zähne. Das ganze Gesicht war zu einer grotesken Fratze verzerrt, und dafür gab es nur eine einzige Erklärung. Dr. Muller führte eine dünne Sonde in die Nasenlöcher der Mu‐ mie ein, suchte nach den Stoffeinlagen, die darin stecken müßten. Als er sie nicht fand, nickte er. Dies war die erste von zwei Un‐ tersuchungen gewesen, die er durchführen mußte. Um die andere vorzunehmen, mußte er die Bandagen über dem Bauch auf‐ schneiden. Sir Joseph Whemple spürte Nortons Ungeduld und Mullers selt‐ same Erregung. Vor allem Mullers innere Anspannung konnte er fast körperlich fühlen, obwohl Norton neben ihm an dem kleinen Tisch in der Hütte saß und Tonscherben mit Schildchen versah, während sich Muller am anderen Ende des Raumes über die Mumie beugte und die Bandagen über der Bauchregion auf‐ schnitt. 4
1. Muller hatte es gewußt, noch bevor er den Sarg geöffnet hatte. Hier würde er finden, wonach er gesucht hatte. Dies hatte ihn, den Fünfundfünfzigjährigen, mit Whemple und dem jungen Norton in die Wüste geführt, ihn täglich drei‐ zehn Stunden auf den Beinen gehalten, draußen im heißen Sand und hier in der Hütte, wo ihm sogar jetzt nach Son‐ nenuntergang noch das Hemd am Rücken klebte. Dies war etwas ganz Besonderes, kein Tempelschatz, und keine Touristen würden Schlange stehen, um es zu besich‐ tigen. Das war nichts für Whemple und das Britische Mu‐ seum, das diese Expedition veranlaßt hatte. Dies gehörte ihm allein ‐als wäre es sein eigener Name, der auf dem Sargdeckel eingraviert war. Eine Grabstätte, wo keine eingesunkenen Stufen in eine Vorkammer und dann in ein Grabgewölbe führten. Keine Lagerräume voll goldenem Tand, mit dem sich die Seele in der Unterwelt die Zeit vertreiben konnte. Keine Gruft mit Schreinen und Grabsäulen. Kein Quarzsarkophag, bedeckt mit rosa Granit, gefüllt mit soliden Goldsärgen. Dies war eine viel schlichtere Grabstätte – ein Loch, mit Sand gefüllt. Und darin hatten ein Mumiensarg, dessen Umrisse die Gestalt der Leiche nachzeichneten, und eine hölzerne Kiste gestanden. Zwei Stunden zuvor, bei Sonnenuntergang, hatten sie zu dritt den Sarg und die Kiste aus der Sandgrube gehoben. Norton, der frisch vom College kam, hatte sich dabei am meisten anstrengen müssen. Dann halfen ihm Muller und Whemple, die Kisten in die wenige Meter entfernte Hütte 5
zu schleifen. Erst jetzt sahen sie die Inschrift, die im Deckel des Mumiensarges eingeritzt und dann offenbar verstüm‐ melt worden war. Und doch hatte Muller schon zuvor ge‐ wußt, daß sie diese Schrift vorfinden würden. Noch bevor er den ersten Blick auf den Sargdeckel warf, hatte er ge‐ wußt, daß diese Zeichen für ihn bestimmt waren. Das Gefühl war zu vage gewesen, um es zu definieren, aber stark genug, um ihm einen Schauer über den Rücken zu ja‐ gen. Vielleicht hatte ihm die Grabstätte, die nicht gekenn‐ zeichnet war, alles verraten. Aber das erklärte nicht, war‐ um er an der Expedition des Britischen Museums teilnahm, die ihn in dieses Tal geführt hatte – ihn, einen Okkultisten. Weder Whemple noch sich selbst hatte er erklären können, was ihn dazu bewogen hatte. Eine Aufgabe, eine Verant‐ wortung, ein Pflichtgefühl... Er hatte Verständnis für den Eifer des jungen Norton. In diesem Eifer sah er den Ausdruck eines Paradoxons, das ihm schon vor zweiundzwanzig Jahren aufgefallen war, als das Jahrhundert und seine Karriere gemeinsam begonnen hatten. Das Paradoxon besagte, daß nur Männer mittleren Alters erfolgreich auf dem Gebiet der Archäologie arbeiten konnten. Nur während jener Jahre perfekter Ausgeglichen‐ heit konnte ein Archäologe hervorragende Leistungen vollbringen – in dieser kurzen Zeitspanne, nachdem er als Student und Anfänger genug Enttäuschungen erlebt und Irrtümer begangen hatte, um begriffen zu haben, daß man seine wissenschaftliche Ungeduld im Zaum halten mußte. Whemple wußte, daß er nach fünf oder sechs Jahren nicht mehr in der Lage sein würde, an Ausgrabungsarbeiten teil‐ 6
zunehmen. Muller hatte seine besten Jahre längst hinter sich. Norton war jung und stark, aber er hatte noch nicht die Charaktereigenschaften entwickelt, die zu einem guten Archäologen gehörten. Er würde ein unschätzbares Gold‐ fragment zertreten, während er hastig und entzückt nach einem unwichtigen vergoldeten Überbleibsel griff. Deshalb zwang ihn Whemple nun dazu, Disziplin zu lernen und sorgfältig und methodisch die Tonscherben mit Schildchen zu versehen, in der Reihenfolge, wie sie gefunden worden waren. Norton war leicht zu durchschauen und leicht einzuschät‐ zen. Aber Dr. Muller beunruhigte Whemple – hatte ihn immer schon beunruhigt. Er war ein unergründliches Zwit‐ terwesen, hochkultiviert auf der einen Seite, primitiv auf der anderen, eine Mischung von Empirist und Rationalist. Er war ein Doktor der Medizin, aber auch Student des Ok‐ kultismus. Wie Descartes besaß er einen großartigen analy‐ tischen Verstand und zog es doch vor, sich von seinen In‐ stinkten leiten zu lassen. Das war es, was ein tiefes Unbehagen in Whemple hervor‐ rief. Mehr noch – es brachte ihn in Wut, als wäre Mullers seltsame Wesensart ein öffentliches Ärgernis wie Trunk‐ sucht oder Unsauberkeit. Doch die großen Denker der An‐ tike waren wohl von einen ähnlichen Geist erfüllt gewesen wie Muller, überlegte Whemple, als er ein winziges Alabas‐ terfragment mit einer Nummer versah. Plato, Thales, Hip‐ pocrates ... Und jene früheren Namenlosen, die ihren eige‐ nen sonderbaren Mischmasch von Wissenschaft und Theo‐ sophie entwickelt hatten, hier in Ägypten, tausend Jahre 7
vor den alten Griechen. Whemple runzelte die Stirn. Es würde ihn nicht einmal überraschen, wenn Muller plötzlich begänne, Zaubersprüche zu murmeln oder Runen in Stein zu hauen. Norton wandte sich zu ihm um und sagte seufzend: »Ich glaube, unser merkwürdiger Freund da drüben ist der ein‐ zige nennenswerte Fund, den wir in diesen zwei Monaten gemacht haben. Der einzige, der ein Nummernschildchen verdienen würde.« Whemple mußte lächeln. Offenbar hatte Muller den jungen Mann bereits angesteckt. Vielleicht war es das Gefühl einer Verbundenheit mit Im‐ hotep, das Muller erregt hatte, das Gefühl einer Ver‐ wandtschaft zwischen zwei Schamanen verschiedener Epo‐ chen ... Mullers zitternde Stimme riß ihn aus seinen Be‐ trachtungen. »Whemple! Der Tote ist nicht einbalsamiert worden. Ich kann keinen Schnitt entdecken. Man hat die Eingeweide nicht entfernt.« Das Messer war beinahe überflüssig gewesen. Muller hätte mit seinen Fingernägeln die morschen Bandagen über dem Bauch durchtrennen können. Darunter fand er das Wun‐ der, das ihn immer wieder von neuen erregte – die Haut, die über Jahrtausende hinweg erhalten geblieben war. Tro‐ cken wie Papyrus und doch bemerkenswert elastisch, hielt sie immer noch den Körper eines Mannes zusammen, der vor Moses’ Zeiten gelebt hatte. Der Tote war außergewöhn‐ lich gut erhalten, und Muller führte dies auf die trockene Luft im Innern des Mumiensargs zurück. Die Leiche hatte 8
nicht unter den Einwirkungen eingeschlossener Luftfeuch‐ tigkeit gelitten und war rasch und gründlich ausgetrocknet. Daß der Körper nicht einbalsamiert worden war, stand einwandfrei fest. Keine Narbe war auf der Bauchdecke zu sehen. Und da keine Stoffeinlagen in den Nasenlöchern steckten, konnte man annehmen, daß das Gehirn nicht auf diesem Weg entfernt worden war. Muller war überzeugt, daß alle inneren Organe der Mumie unversehrt waren, und er glaubte auch zu wissen, warum. Norton hatte seinen Arbeitsplatz verlassen und blickte aufmerksam in das Gesicht der Leiche. »So einen Typ habe ich noch nie gesehen«, sagte er. »Trotz Ihrer langjährigen Erfahrung«, bemerkte Whemple trocken. Norton ignorierte diesen Einwand. »Er sieht aus, als hätte er ein schlimmes Ende erlitten.« Muller wies auf das verzerrte Gesicht der Mumie. »Die Muskelverkrampfung weist darauf hin, daß er sich zur Wehr gesetzt hat – daß er versucht hat, sich aus den Ban‐ dagen zu befreien.« Für Sekunden verschlug es Norton die Sprache, während ihm bewußt wurde, was Mullers Worte bedeuteten. Dann stieß er einen leisen Pfiff aus und sagte: »Der arme Kerl! Was haben Sie denn verbrochen, Mr. Imhotep, daß man Sie bei lebendigem Leib begraben hat?« »Eine Exekution«, meinte Whemple. »Wahrscheinlich we‐ gen Hochverrats.« Muller schüttelte langsam den Kopf. »Ich nehme eher an, daß er einen Frevel begangen hat.« Sanft ließ er die Finger‐ 9
spitzen über die unleserlichen Schriftzeichen auf dem Sargdeckel gleiten. »Dies waren die heiligen Sprüche, die seine Seele auf der Reise in die Unterwelt beschützen soll‐ ten. Man hat sie absichtlich zerstört. Imhotep war nicht nur in dieser Welt zum Tod verurteilt worden, sondern auch in seinem zweiten Leben.« Unwillkürlich erschauerte er, als er diese Worte aussprach. Er stellte sich vor, wie es sein müß‐ te, von Leinenbandagen umwunden zu werden, unter im‐ mer dickeren Schichten zu verschwinden, wie Nase, Mund und Augen verbunden wurden, wie das Licht allmählich erlosch. Was fühlte man, wenn man in einen Sarg gelegt wurde, wenn man hörte, wie sich der Deckel schloß, wie eine Schaufel Erde nach der anderen auf das Holz fiel. Die‐ se Panik, das gräßliche Ringen um ein letztes bißchen Luft, das Entsetzen der heißen, stickigen Dunkelheit... »Vielleicht finden wir die Antwort auf unsere Frage in die‐ ser Kassette, die gemeinsam mit ihm begraben wurde«, sagte Norton hoffnungsvoll. Whemple seufzte und schob seinen Stuhl zurück. Nur die äußere Hülle bestand aus Holz, und es war so morsch und trocken, daß es bei der ersten Berührung aus‐ einanderfiel. Darunter kam ein anderer Behälter zum Vor‐ schein, in vergilbtes Leinen gewickelt, das wie Mehl unter ihren Fingern zerbröckelte. Der Behälter war aus schwerem Metall, vielleicht aus Kupfer, das im Lauf der Jahrtausende dunkel geworden war. Whemple kratzte mit Mullers Mes‐ ser über das Metall, und ein hellgelber Streifen begann zu schimmern. Ein Tropfen Säure bewies, daß es sich um Gold handelte. Die Erregung der drei Männer wuchs noch, als 10
Whemple niederkniete, um die beiden Lehmsiegel zu be‐ trachten, die am Deckel angebracht waren. »Das Emblem des Pharao Ay«, sagte er und stellte fest, daß die Siegel nicht erbrochen waren. Mit zitternden Fingern hielt er die Messerklinge an den harten Lehm und begann ihn sorgfältig zu durchsägen. Dabei bemühte er sich, das Emblem nicht zu verletzen. Atemlose Stille herrschte in dem kleinen Raum. Sogar Nor‐ ton schwieg. Whemple legte das Messer beiseite, dann öff‐ nete er langsam die goldene Kassette und nahm den Inhalt heraus. Es war ein weiterer Behälter, ein Kästchen aus durchschei‐ nendem Alabaster. Whemple stellte es ehrfürchtig auf den Tisch, und vor dem Licht der Öllampe zeichnete sich die Silhouette des dunklen Gegenstands ab, der in dem Käst‐ chen lag. Es war unmöglich festzustellen, um was für einen Gegenstand es sich handelte. Whemple drehte die Lampe so, daß ihr Schein auf den Deckel des Kästchens fiel. Muller beugte sich vor, um einen Blick auf die Hieroglyphen zu werfen, aber Whemple versperrte ihm die Sicht. »Nun können wir die Zeit genau bestimmen«, sagte Whemple. »Spätägyptische Kursivschrift. Hieratisch.« Sei‐ ne Finger glitten über die Bildsymbole, während er sie langsam übersetzte. »Tod – Strafe ‐ewige Bestrafung – für den – der dieses Kästchen öffnet – Im Namen Amon Res – des Königs der Götter.« »Machen Sie den Kasten auf«, sagte Norton. »Nein!« stieß Muller hervor.
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Und als Whemple den Arm ausstreckte, um den Deckel an‐ zuheben, lag Mullers Hand bereits darauf. Zuerst war er überzeugt gewesen, daß das Kästchen den Gegenstand enthielt, an dem gefrevelt worden war – oder vielleicht auch einen schriftlichen Bericht über die Untat, die Imhotep begangen hatte, einen Bericht, den man zu‐ sammen mit ihm vergraben hatte, um die Erinnerung an den Frevel auszulöschen. Ganz sicher konnte der Inhalt des Kästchens die Antwort auf die Frage geben, was Imhotep verbrochen hatte. Offenbar handelte es sich um ein Sakrileg von großer Tragweite. Das Begräbnis war ein symbolischer Akt gewesen, erschre‐ ckend in seiner Grausamkeit, ehrfurchtgebietend in seiner Wirkung, die Jahrtausende überdauert hatte. Aber es war eben nur ein symbolischer Akt gewesen ... Wie Norton fragte sich auch Muller, was Imhotep getan hatte, um eine solche Strafe zu verdienen. Doch mit diesem Fluch hatte er nicht gerechnet. Der Fluch, sein Wortlaut, sein Datum, die Tatsache, daß er auf den Deckel des Ala‐ basterkästchens geschrieben war – all das verriet so vieles. Muller wußte nun, was das Kästchen enthielt und warum Imhotep bei lebendigem Leib begraben worden war. Er wußte auch, warum trotz jahrhundertelanger Ausgra‐ bungsarbeiten noch niemand die Schriftrolle des Thot, des ägyptischen Weisheitsgottes, gefunden hatte. Sie wurde in anderen Schriftrollen erwähnt, im Buch des Todes, auf Stel‐ len in unterirdischen Gewölben, aus Fels gehauen, im ma‐ gischen Schnitzwerk auf alten Schreinen. Die Wissenschaft kannte Kopien jener Schriftrolle, aber nicht das Original. 12
Man hatte festgestellt, daß die Schriftrolle des Thot aus der Zeit nach der achtzehnten Dynastie stammte, aus der Epo‐ che kurz nach dem Interregnum zwischen dem letzten Pha‐ rao jener Dynastie und dem Begründer der neunzehnten. Muller wußte, daß einige Gelehrte glaubten, die Schriftrolle sei während der Hethiterkriege zerstört worden. Andere nahmen an, sie sei nur ein Symbol, hervorgegangen aus dem ägyptischen Volksglauben, und habe nie wirklich exis‐ tiert. »Ich respektiere Ihre Bedenken, Muller«, sagte Whemple. »Aber nicht in dem Maß, daß ich mich dadurch in meiner Arbeit behindern ließe.« Muller blickte ihn an. Plötzlich haßte er dieses sanfte, be‐ brillte Gesicht. Ein dogmatisches Gesicht, das stets nach Beweisen verlangte, das Gesicht eines unerschütterlichen Positivisten... Und dieser Mann dachte wahrscheinlich, daß er, Muller, den Verstand verloren hatte. »Sie wissen nichts darüber«, sagte er leise. »Glauben Sie mir, Whemple. Lassen Sie den Deckel geschlossen. Das ist der beste Ratschlag, den Sie je in Ihrem Leben bekommen haben.« Und Norton, von der Arroganz und Ignoranz der Jugend erfüllt, brach in verächtliches Gelächter aus. »Ich glaube, ein Fluch, der ein paar tausend Jahre unter der Erde gelegen hat, ist nicht sehr wirksam.« »Whemple, ich möchte draußen mit Ihnen sprechen«, sagte Muller, ohne auf Nortons Einwand zu achten. Als er sah, daß die beiden Männer einen Blick wechselten, fügte er hinzu: »Rühren Sie das Kästchen nicht an, Norton – unter 13
keinen Umständen!« Er wußte, daß diese Warnung melod‐ ramatisch klang, aber das war genau der Effekt, den er er‐ zielen wollte. »Ich würde Ihnen sogar raten, es nicht einmal anzusehen.« »Katalogisieren Sie die restlichen Tonscherben«, trug Whemple seinem Assistenten auf. »Wir werden das Käst‐ chen später öffnen.« Sie saßen auf den noch sonnenwarmen Steinstufen des Hatshepsut‐Tempels. Hinter ihnen ragten die gewaltigen Säulen des Tempels auf, weiß wie der gebleichte Sand im strahlend hellen Mondlicht, von Sklavenhänden aus dem Felsen des Berges gehauen. Die Szenerie war ehrfurchterregend, und Whemple wußte, daß Muller ihn absichtlich aus der Hütte geführt hatte, da‐ mit die zeitlose Größe dieser Umgebung ihren Einfluß auf ihn ausübte. Hier maß man die Zeit in Äonen. Und wenn Mullers verdammter Mystizismus überhaupt irgendwo seine Berechtigung hatte, dann nur hier. Muller verschwendete keine Zeit. »Sie wissen doch Be‐ scheid über die Schriftrolle des Thot«, sagte er. »Natürlich.« »Ich glaube, daß sie sich in dem Alabasterkästchen befin‐ det.« Whemple wollte ihm ins Wort fallen. Doch Muller brachte ihn mit einer knappen Handbewegung zum Schweigen. »Ich glaube, daß Imhotep einen Frevel an ihr begangen hat«, fuhr er fort. »Sicher können Sie sich denken, welche Art von Frevel. Und dann wurde sie gemeinsam mit ihm
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begraben, damit sie nicht auch noch von anderen mißb‐ raucht werden konnte.« Whemple schwieg eine Weile und dachte nach. Wenn Mul‐ lers Vermutung stimmte, wäre das Kästchen eine der be‐ deutendsten Entdeckungen, die je auf dem Gebiet der Ägyptologie gemacht worden waren. Das mußte auch Mul‐ ler klar sein. Aber wenn er glaubte, die Schriftrolle läge zum Greifen nahe, warum wollte er dann das Kästchen nicht öffnen? Das ergab keinen Sinn. Warum nahm der Doktor an der Expedition teil, wenn nicht in der Hoffnung, eine große Entdeckung zu machen? Whemple erhob sich. »Wenn Sie recht haben«, sagte er zu dem älteren Mann, »wenn wirklich der Papyrus des Thot in diesem Kästchen liegt... Das wäre die Krönung meiner Kar‐ riere. Ich kann es kaum erwarten, zur Hütte zurückzuge‐ hen und herauszufinden, ob Ihre Vermutung richtig ist.« Dr. Muller stützte sich schwer auf seinen Stock und stand ebenfalls auf. »Sie sind doch so stolz auf Ihr logisches Denkvermögen, Sir Joseph«, sagte er langsam. »Dann versuchen Sie bitte auch in diesem Fall logisch zu überlegen. Angenommen, ich ha‐ be recht, und der Papyrus liegt tatsächlich in jenem Käst‐ chen. Es wäre dieselbe Schriftrolle, die von Pharao zu Pha‐ rao weitergereicht wurde, von Hohenpriester zu Hohenp‐ riester, noch vor der ersten ägyptischen Dynastie. Wenn sie zusammen mit Imhotep begraben wurde, so geht daraus hervor, daß er sie mißbraucht hat. Und ebenso geht daraus hervor, daß der Spruch, der darauf verzeichnet ist, seine Wirkung tut. Verstehen Sie denn 15
nicht, welch große Verantwortung Sie auf sich nehmen, wenn Sie das Kästchen öffnen? Mit dem großen Zauber‐ spruch, der auf diesem Papyrus geschrieben steht, hat Isis ihren Bruder und Gemahl Osiris von den Toten erweckt. Norton hält das alles für sinnlosen Aberglauben – und Sie sind ‐zweifellos seiner Meinung. Aber wie können Sie wis‐ sen, daß nicht doch eine geheime Kraft von diesem Papy‐ rus ausgeht? Imhotep wurde nicht umsonst lebendig be‐ graben.« »Er wurde bestraft, weil er die Tabus seiner Zeit gebrochen hat. Wenn ein Mann heutzutage wegen einer Gottesläste‐ rung in Tunbridge Wells eingesperrt wird, so bedeutet das noch lange nicht, daß Gott und Teufel auch wirklich exis‐ tieren. Sie sind es, der unlogisch argumentiert, Muller.« Der Doktor nickte, doch der Blick, den er Whemple zuwarf, wirkte eher resignierend als zustimmend. »Ich werde Ihnen noch etwas sagen«, fuhr Whemple nach einer kleinen Pause fort. »Auch wenn ich an den Fluch glaubte – wenn ich glaubte, daß der Papyrus des Thot Le‐ gionen von Toten erwecken kann, ich würde das Kästchen trotzdem öffnen. Sonst würde die Wissenschaft doch jede Berechtigung verlieren, nicht wahr? Kommen Sie mit mir zur Hütte zurück. Wir werden gemeinsam den Deckel des Kästchens hochheben, und bald wird man unsere Namen in einem Atemzug mit den großen Namen Schliemann, Lepsius und Bankes nennen.« Muller wandte sich ab und ging davon. »Sie können doch nicht einfach in die Wüste laufen!« rief Whemple ihm nach. 16
»Ich kenne die Spuren im Sand, die zum Nil zurückfüh‐ ren.« Muller blieb stehen und wandte sich um. »Es tut mir leid, aber es ist mir unmöglich, den Frevel mit anzusehen, den Sie vorhaben. Um Ihretwillen bete ich zu Gott, daß es nicht die Schriftrolle des Thot ist, die Sie in dem Alabaster‐ kästchen finden werden.« Zweitausend Meilen von der Wüste entfernt bewegte sich ein hübsches, dunkelhaariges Mädchen im Schlaf. Sie hatte ihre Decke abgeworfen, und obwohl die Novembernacht kalt war, versuchte sie nun auch, ihr Hemd auszuziehen. Ein paar Minuten später ging die Hausdame der Grangely School durch den Schlafsaal der ersten Klasse und blieb neben Helen Grosvenors Bett stehen. Es war ungewöhnlich, daß die Decke auf dem Boden lag, daß Helen sich so unru‐ hig hin und her warf und offenbar versuchte, ihr Nacht‐ hemd abzustreifen. Das Kind schlief sonst nicht so unruhig wie zum Beispiel die kleine Thornton und wurde auch nicht von Alpträumen geplagt wie Marion van der Renk. Die Hausdame hatte dreihundertzwanzig Mädchen im Al‐ ter von zwölf bis achtzehn in ihrer Obhut und kannte die Schlafgewohnheiten aller ihrer Schützlinge. Helen Grosve‐ nor pflegte tief und fest zu schlafen, ohne sich im Bett um‐ herzuwälzen. Um sie brauchte man sich in dieser Hinsicht keine Sorgen zu machen, obwohl sie mit elf Jahren und neun Monaten die jüngste Schülerin war. Sie war keine Nachtwandlerin, sprach nicht im Schlaf, hatte keine näch‐ tlichen Fieberanfälle, und sie behauptete auch niemals, daß Gespenster im Saal wären oder unheimliche Monstren zu ihr ins Bett kröchen. 17
Die Hausdame hatte schon mehrmals zu Miß Lowe gesagt, daß sie sich die nächtlichen Rundgänge sparen könnte, wenn dreihundertneunzehn weitere Helens die Grangely School besuchten. Und deshalb fand sie es besorgniserre‐ gend, daß Helen sich so unruhig im Schlaf bewegte, und nahm an, das Mädchen sei krank geworden. Sie legte ihre Hand auf Helens Stirn und stellte fest, daß die Haut brennend heiß war. Sie bückte sich, hob die Decke auf und breitete sie über das Kind, das verzweifelt am Kragen seines Nachthemds zerrte. Im gleichen Augenblick begann Helen leise zu sprechen. »Helen, Liebes! Bist du wach?« Die Hausdame beugte sich über das Bett und wartete auf eine Antwort. Aber der ein‐ zige Laut, den Helen Grosvenor von sich gab, war ein qualvolles Stöhnen. »Hast du Schmerzen, Helen?« Die Hausdame wußte nicht recht, ob sie das Mädchen wachrütteln, es weiterschlafen oder einen Arzt rufen sollte. Sie hatte große Angst davor, daß eines der hundertvierundsechzig Mädchen, deren El‐ tern im Ausland lebten, ernsthaft krank werden könnte. In solchen Fällen mußte man entscheiden, ob und wann man die Eltern verständigen, ob man sie bitten sollte, sofort zu kommen. Und dann mußte man warten, bis die Eltern aus dem gottverlassenen Teil des Globus angereist kamen, in dem sie sich gerade aufhielten. Nein, das war einfach zuviel. Helen Grosvenors Vater war Gouverneur im Sudan. Die Hausdame wußte, daß der Su‐ dan heiß und voller Sand war und über zweitausend Mei‐ len von Buckinghamshire entfernt lag, irgendwo im Osten. 18
Würde der Mann auf einem Kamel zum nächsten Hafen reiten müssen? Und dann sagte das Mädchen ganz deutlich: »Karnak.« Die Hausdame richtete sich auf. Das war sicher ein östli‐ cher Name. »Ist dein Vater in Karnak?« flüsterte sie und glaubte zu se‐ hen, daß Helen nickte. »Wird ihr Vater aus Karnak hierherkommen müssen?« er‐ kundigte sie sich eine Stunde später bei Miß Lowe, nach‐ dem der Arzt das Mädchen untersucht hatte. »Das wird nicht nötig sein«, entgegnete Miß Lowe. »Sie hat nur erhöhte Temperatur. Außerdem befindet sich Sir Geor‐ ge Grosvenor zur Zeit nicht in Karnak, sondern in Khar‐ tum.« Sir Joseph Whemple hörte das Gelächter schon lange, bevor er die Hütte erreichte. Schwach klang es über den losen Sand zu ihm herüber, ein erschreckender, unbegreiflicher Laut in der Stille der Wüste. Er wußte, daß es Norton war, der dieses Lachen ausstieß – aber es klang so fremd. Das war nicht Nortons Stimme. Whemple wußte, daß der junge Mann der geborene Clown war. Vielleicht hatte er sich irgendwelche Späßchen ausge‐ dacht, um sich bei der langweiligen Katalogarbeit aufzuhei‐ tern, und dabei einen Lachkrampf bekommen. Aber diese Lachsalven, die da in kurzen Abständen durch die Wüste hallten, hörten sich keineswegs heiter an. Ein Schauer lief über Whemples Rücken, als ihm dies bewußt wurde, und er beschleunigte seine Schritte, als er sich der Hütte näherte
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und das Gelächter immer lauter, immer unnatürlicher wurde. Und jetzt wußte Whemple, was ihn so entsetzte ‐der hyste‐ rische Ton, der in Nortons Lachen mitschwang. Es war das unkontrollierte Gelächter eines Wahnsinnigen. Und mit ei‐ ner Sachlichkeit, die ihn überraschte, stellte Whemple fest, daß der ausgehöhlte Berg das Lachen intensivierte, ihm den Klang eines Echos gab. Das Gelächter verstummte abrupt, als Whemple die Hütte betrat. Norton saß auf einem Stuhl, schlug sich auf die Knie und zeigte auf die gegenüberliegende Wand des kleinen Raumes. Er sah nicht auf, als Whemple hereinkam, hob auch nicht den Kopf, als der ältere Mann ihn bei den Schul‐ tern packte und ihn schüttelte. Seine glasigen Augen blick‐ ten auf die Wand, wie die Augen eines Blinden, der ins Leere starrt. »Er ist weggegangen«, sagte er. »Er macht einen kleinen Spaziergang.« »Was ist denn los mit Ihnen?« stieß Whemple hervor. »Was ist denn so komisch, zum Teufel?« Außerdem konnte Norton ja gar nicht wissen, daß Muller in die Wüste gegangen war. Whemple versuchte seine Ge‐ danken zu ordnen, überlegte, welche Frage er nun stellen sollte, aber da brach Norton schon wieder in ein kramp‐ fhaftes, unkontrolliertes Lachen aus. »Sie hätten sein Gesicht sehen sollen ...« Wieder zeigte er auf die Wand, und Whemple fuhr herum, wußte schon vorher, was er sehen würde.
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Er würde sehen, was Norton so komisch gefunden und was ihn um den Verstand gebracht hatte. Der Mumiensarg stand noch immer an der Hüttenwand – so wie sie ihn zurückgelassen hatten. Aber die Mumie lag nicht mehr darin. Whemples Blick glitt zum Tisch hinüber. Das Alabaster‐ kästchen stand noch auf dem Tisch, aber es war geöffnet worden und sein Inhalt war verschwunden. Ein Schwindelgefühl erfaßte Whemple, und er hatte das dringende Bedürfnis, sich zu setzen, am liebsten weit weg von hier, in einem stillen Raum, wo er in Ruhe denken, wo er den Unsinn entwirren konnte, der in seinem Gehirn um‐ herwirbelte wie aufgewühlter Schlamm in einem Teich. Ein Gedanke flog vorbei – langsam genug, so daß er ihn er‐ fassen und festhalten konnte. Raub. Irgend jemand hatte die Mumie und den Papyrus gestohlen. Und Norton lachte, weil ihn dieses Schockerlebnis in den Wahnsinn getrieben hatte. »Wie viele waren hier?« schrie Whemple und schüttelte Norton wie einen nassen Wischlappen. Ein schrilles entnervendes Lachen war Nortons Antwort. Natürlich – Norton hatte die Diebe nicht gesehen. Er war so vertieft in seine Arbeit gewesen, hatte selbstvergessen die Tonscherben mit Schildchen beklebt, die Zettel für den Ka‐ talogkasten beschriftet .. Und den Dieben war es gelungen, ihn lautlos zu bestehlen, unbemerkt zu entkommen. Ja, ir‐ gendwie mußten sie das geschafft haben. Dann hatte Norton den leeren Mumiensarg gesehen, hatte sich an Mullers mystischen Unsinn erinnert und ange‐ 21
nommen, die Mumie sei aus eigener Kraft davongegangen. Und das hatte seinen Verstand aus dem Gleichgewicht ge‐ bracht. »Sie sind beraubt worden, Norton«, sagte Whemple. »Ha‐ ben Sie verstanden? Hören Sie doch zu, Norton! Irgend je‐ mand hat sich hier hereingeschlichen und die Mumie und die Schriftrolle gestohlen. Das ist alles. Verdammt, so rei‐ ßen Sie sich doch zusammen!« Whemple blickte auf seine Hand, die auf der polierten Tischplatte lag. Daneben sah er den staubigen Abdruck ei‐ ner Hand, die viel größer war als die seine. Diebe mit stau‐ bigen Händen ... Er griff nach dem Katalogzettel, den Norton soeben be‐ schriftet hatte, und las: »Topfscherbe, halbrund, unglasier‐ ter Lehm, 311. Teil einer menschlichen Gestalt von einem kanopischen Krug, Alabaster, 312.« Und dann weiteten sich Whemples Augen, als er weiterlas. »Du wirst vom Leben ausruhen wie die sinkende Sonne, bevor sie erneut im Osten aufgeht, und wenn die ersten Strahlen Amon Res die Schatten vertreiben ...« Eine Abschrift des großen Zauberspruchs, dachte Whemp‐ le. Der Papyrus des Thot, prädynastisch, 313...
2. Sir Joseph Whemple betrat die neue Galerie des Museums für ägyptische Altertümer in Kairo und malte sich aus, wie es wäre, wenn er und nicht sein Sohn Frank das Grab ent‐ deckt hätte. 22
Nicht daß er Frank den Ruhm mißgönnte – aber daß ihn ir‐ gendein ägyptischer Landstreicher zum bedeutendsten Fund geführt hatte, der seit Carters Entdeckung von Tuten‐ chamons Grab gemacht worden war, dieses Glück verdien‐ te so ein junger Mann doch gar nicht. Whemple erinnerte sich an den armen Norton, aber er schob den Gedanken rasch wieder beiseite. Norton war vor ein paar Jahren in einer Zwangsjacke gestorben, von un‐ heilbarem Wahnsinn umnachtet. Sein grausiges Erlebnis vor elf Jahren in der nubischen Wüste hatte auch Whemple tief berührt, und er war seither nicht mehr in Ägypten ge‐ wesen, so schwer es ihm auch gefallen war, diesem Land fernzubleiben. Nicht einmal Howard Carters Entdeckung hatte ihn zur Rückkehr bewogen. Vielleicht, weil sein eigener Fund, den er kurz zuvor gemacht hatte, nicht so gefeiert worden war, vielleicht auch, weil er nicht den Ruhm für sich beanspru‐ chen konnte, an jener erfolgreichen Expedition teilgenom‐ men zu haben. Wenn dies sein Beweggrund gewesen war, so mußte er das akzeptieren, so wenig schmeichelhaft es auch war. Aber dieser neue Fund hatte ihn nach Ägypten zurückge‐ führt. Er schlenderte durch die menschenleere Galerie, und wieder sagte er sich, was für ein Glückspilz sein Sohn doch war. Frank hatte das vollständige, unversehrte, ungeplün‐ derte Grab der Königin Ankhesenamen gefunden, der Kindbraut Tutenchamons, des letzten der achtzehnten Pha‐ raonendynastie. Und jener Ägypter hatte ihn ganz einfach
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hingeführt – so wie ein Hund einen Fremden, den er sym‐ pathisch findet, zu einem vergrabenen Knochen führt. Am anderen Ende der Galerie sah Whemple einen hoch‐ gewachsenen Ägypter neben dem goldenen Sarg der Köni‐ gin stehen. Der Mann war offensichtlich ein Aristokrat. Das verriet seine würdevolle Haltung. Er trug eine weiße Sei‐ denrobe und einen roten Fez, der ihn noch größer erschei‐ nen ließ. Bald würde das Museum seine Pforten schließen. Die Glo‐ cke hatte bereits geläutet, und Whemple fiel die unange‐ nehme Aufgabe zu, den Besucher hinauszuweisen. Er beschleunigte seine Schritte, ging an den großen gläser‐ nen Schaukästen vorbei, in denen Ankhesenamens Grab‐ schmuck ausgestellt war – Juwelen und Kämme. Gegens‐ tände von unschätzbarem Wert, die seit 1350 v. Chr. vor Plünderern verschont geblieben waren. Aber wenn Whemple nicht wachsam war, würden sie vielleicht 1932 n. Chr. in Diebeshände fallen. Wenn der hochgewachsene Ägypter auch nicht wie ein Dieb aussah, so hatte er doch Whemples Mißtrauen ge‐ weckt. Was hatte der Mann zur Sperrstunde noch hier zu suchen? Warum starrte er so unverwandt auf die Mumie hinab? Der Ägypter schien die Schritte nicht zu hören, die sich ihm näherten. Er zuckte zusammen, als Whemple sagte: »Das Museum hat bereits geschlossen, Sir.« Aber als er sich umwandte, wirkte er keineswegs schuld‐ bewußt. Keine hastige Bewegung verriet, daß er sich er‐ 24
tappt fühlte. Er drehte sich ganz langsam um, mit einem leicht verwirrten Ausdruck in den Augen, als sei er mit sei‐ nen Gedanken in einer fernen Welt gewesen, aus der man ihn unsanft und plötzlich gerissen hatte, als müsse er sich erst wieder darauf besinnen, wo er sich befand. Dr. Muller bot Helen Grosvenor seinen Arm und führte sie auf den Dachgarten des Semiramis Hotels. Eine Jazz‐Band spielte, einige Paare drehten sich auf der Tanzfläche, nubische Kellner mit roten Filzkappen auf den Köpfen eilten zwischen den Gästen hin und her und balan‐ cierten Tabletts mit gefüllten Gläsern. Ein paar britische Offiziere standen zwischen den Palmen, mit Drinks in den Händen, und versuchten verzweifelt, He‐ lens Aufmerksamkeit zu entgehen, als sie an ihnen vorbei‐ schritt. Sie sah die Männer nicht an, aber sie spürte ihre Bli‐ cke im Rücken, als sie an Dr. Mullers Arm zum Rand des Dachgartens schlenderte. Im Internat hatte man ihr beigebracht, stolz, aber nicht ar‐ rogant zu wirken, Zurückhaltung zu üben, ohne sich herab‐ lassend zu geben. Sie sollte sich ihrer Schönheit bewußt sein, ohne damit zu prahlen, und sie sollte die Bewunde‐ rung der Männer akzeptieren, aber nicht herausfordern. Man hatte ihr erklärt, daß sie auf Tanzveranstaltungen de‐ korativ, aber nicht aufdringlich wirken sollte, und sie hatte alle diese gutgemeinten Ratschläge gräßlich langweilig ge‐ funden. Und jetzt erwiesen sie sich außerdem noch als überflüssig, weil sich ohnehin kein Mann für sie zu interes‐ sieren schien.
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Sie blieben an der Brüstung stehen, und Helen blickte auf das Panorama Kairos hinab, auf diese unglaubliche archi‐ tektonische Anarchie, die sich aus Minaretten und Beton‐ kästen, breiten, hellerleuchteten Straßen und dunklen, übelriechenden Seitengassen zusammensetzte. Das Hup‐ konzert der Autos, das von unten heraufklang, mischte sich mit den Klängen eines Orchesters, das in einem anderen Teil des Hotels spielte. »Schön, nicht wahr?« sagte Dr. Muller. »Widerlich. Aber besser als Khartum.« »Nein, ich meine das da drüben...« Er hob die Hand, wies auf die andere Seite des Nils, der wie träger heißer Teer dahinfloß. Ein paar Meilen jenseits der angeschwemmten Flußebene konnte Helen das Plateau und die Pyramiden des Cheops, des Chephren und des Mycerinus sehen, deren Umrisse sich im Mondlicht abzeichneten. Die Szenerie Ägyptens, fixiert für alle Zeiten, der Hintergrund, vor dem andere zeitgebundene Bilder vorbeiglitten, im Lauf der Jahrhunderte wechselten, wie eine gigantische Kinovorstel‐ lung... »Ja, natürlich«, sagte sie und fragte sich, wie sie nur einen Augenblick lang hatte annehmen können, er hätte von den Dächern Kairos gesprochen. »Vielen Dank.« »Wofür?« »Weil ich bei Ihnen und Mrs. Muller bleiben darf und nicht mit meinem Vater in den Sudan zurückgehen muß.« Muller lächelte. »Ich bin es, der dankbar sein muß. Sie sind meine interessanteste Patientin.«
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»Haben Sie vielleicht aus diesem Grund nicht herausge‐ funden, was mir fehlt?« fragte sie mit leichtem Spott. »Weil Sie mich als eine Art Kuriosum behalten wollen?« »Ich hätte nie geglaubt, daß Sie mir auf die Schliche kom‐ men würden«, entgegnete Muller lachend. Helen seufzte tief auf. Ihre gute Stimmung war verflogen. Er hatte sie daran erinnert, warum sie in Kairo war, warum er sie zu diesem Tanzabend eingeladen hatte. Sie sollte Zerstreuung finden, von sich selbst und ihren Launen abgelenkt wer‐ den. Dr. Muller nannte es ,Launen’, aber Helen wußte, daß mehr dahintersteckte. Temperamentvolle Filmstars hatten Lau‐ nen, aber was ihr widerfuhr, war etwas ganz anderes. Im‐ mer wieder glitt sie in einen tranceartigen Zustand hinüber, in Wachträume, die sie noch mehr entsetzten als ihre Alp‐ träume, und wenn sie daraus aufschreckte, schien jedes Ge‐ fühl in ihr erstorben zu sein – und auch jede Erinnerung, wofür sie vielleicht dankbar sein mußte. Wann hatte sie ihren letzten Anfall gehabt? Sie überlegte. Es war schon lange her, ein Monat. Ein ganzer Monat. Aber die Zeitabstände waren bedeutungslos. Einmal hatte sie ein ganzes Jahr lang weder an Alpträumen noch an ,Launen’ gelitten – als sechzehnjähriges Mädchen. Aber in den ver‐ gangenen fünf oder sechs Jahren war ihr nur eine einzige längere Ruhe‐ und Erholungspause vergönnt gewesen – ei‐ ne Pause von drei Monaten. Jetzt wohnte sie bei Dr. Muller und seiner Frau im Hotel Semiramis, und der Arzt beobachtete sie nahezu vierund‐ zwanzig Stunden pro Tag, verordnete ihr rosa Pillen und 27
weiße Pillen und rote Pillen, ließ sie hypnotisieren, psy‐ choanalysieren und testen, als wäre sie ein Versuchskanin‐ chen. »Warum tanzen Sie nicht?« fragte er, und sie nickte resig‐ nierend, weil auch das zur Therapie gehörte. Aber Mullers Behandlungsmethoden waren ihr immer noch angenehmer als das dumpfe Schweigen ihres Vaters, der am liebsten ei‐ ne ganze Anstalt voller Verrückter mit Schaum vor dem Mund engagiert hätte, um sie auf drastische Weise zu Ver‐ nunft zu bringen. Und ihr Aufenthalt in Kairo hatte noch einen weiteren Vorteil. Sie brauchte nicht mehr das trübse‐ lige Gesicht ihrer abergläubischen Mutter zu sehen, die den Stand der Planeten für alles verantwortlich machte. »Warum fordert mich denn niemand auf?« fragte sie. »Glauben die Männer, daß ich eine ansteckende Krankheit habe?« Offenbar gelang es dem Ägypter nur mit äußerster Wil‐ lenskraft, seine Fassung wiederzugewinnen. Er war eine imponierende Erscheinung, hochgewachsen und schlank, mit einem gutgeformten Kopf und tief ge‐ bräunter Haut, die verriet, daß er sein bisheriges Leben großteils im Freien zugebracht hatte, unter der sengenden Sonne Ägyptens. Er sprach sehr langsam und deutlich, als wäre es für ihn Ehrensache, kein einziges englisches Wort falsch zu betonen. »Mit wem habe ich das Vergnügen? Sir Joseph Whemple?« Als Whemple nickte, fügte der Ägypter hinzu: »Ich bin Ar‐ dath Bey.«
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Whemple kannte diesen Namen. Ardath Bey war der Mann, der Frank zu Ankhesenamens Grab geführt hatte. Als die Ausgrabungsarbeiten beendet waren, hatte Ardath Bey die allgemeine Aufregung genützt, um spurlos zu ver‐ schwinden. Niemand hatte ihn seither gesehen. Whemple war ebenso beeindruckt von der bescheidenen Haltung des Ägypters wie von seinem Aussehen. Er streck‐ te die Hand aus, aber Ardath Bey verbeugte sich, ohne sie zu ergreifen. Es war eine tiefe, devote Verbeugung, die bei einem anderen Mann übertrieben und affektiert gewirkt hätte. Doch Ardath Bey erweckte keineswegs diesen Ein‐ druck. »Dann haben wir es also Ihnen zu verdanken, daß diese Ausstellung stattfinden kann, Sir«, sagte Whemple. »Das Museum müßte Ihnen zu Ehren die ganze Nacht geöffnet bleiben.« Ardath Bey nahm das Kompliment mit einer weiteren Ver‐ neigung zur Kenntnis. »Mein Sohn ist im Erdgeschoß«, fuhr Whemple fort. »Si‐ cher wird es ihn sehr freuen, Sie wiederzusehen.« »Ich möchte Sie nicht aufhalten.« »Das tun Sie nicht. Wir arbeiten ohnehin bis spät in die Nacht hinein.« Er streckte die Hand aus, um Ardath Beys Arm zu ergrei‐ fen, aber der Ägypter wich rasch zurück. »Verzeihen Sie«, sagte er lächelnd, »aber wie den meisten Orientalen ist es mir unangenehm, berührt zu werden. Würden Sie mich jetzt bitte entschuldigen?« »Darf ich Sie in mein Haus einladen?« 29
»Ich bedaure – aber ich bin so beschäftigt, daß ich keine Einladungen annehmen kann.« Er verbeugte sich wieder, wandte sich abrupt ab und war gegangen, bevor Whemple eine Möglichkeit finden konnte, ihn zurückzuhalten. Die Begegnung war so kurz gewesen – und so merkwür‐ dig, daß Whemple sich ein paar Sekunden lang fragte, ob er nur geträumt hatte, aber das war natürlich Unsinn. Er wuß‐ te, daß Ardath Bey hier gestanden hatte – hier neben dem Mumiensarg. Kopfschüttelnd ging Whemple nach unten, um seinem Sohn von dem seltsamen Erlebnis zu erzählen. Es kam ohne Vorwarnung – wie immer. Diesmal spürte sie, wie ihr Körper in den Armen ihres Tanzpartners erschlaffte. Überrascht ließ er sie los. Sie woll‐ te ihn bitten, nicht zu erschrecken, wollte sich entschuldi‐ gen, eine Erklärung abgeben, den armen Kerl ersuchen, Dr. Muller zu holen. Aber die Helen, die das alles sagen wollte, war in ihr Inneres zurückgeschlüpft, wie Zahnpasta in einer fast leeren Tube, wenn man nicht fest genug daraufdrückte. Und die Tube – das war die andere Helen, vor der sie sich ein wenig fürchtete, wenn sie auch wußte, daß ihre Angst grundlos war. Sie spürte, wie sie über das Dach ging. Sie wußte, daß es ein Dach war, weil sie andere Dächer sah ‐häßliche, frem‐ dartige Dächer. Aber da unten floß der Nil. Sie erkannte ihn. Und zur Rechten lag die Ebene, und dahinter erhob sich das Plateau.
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Es war wie ein Gefangensein zwischen Schlaf und Wachen, in einer Welt, die nur halb vertraut war, wo nur gewisse Eindrücke von Bedeutung und andere völlig unwichtig waren. Diese Welt war ihr immerhin so vertraut, daß sie nicht in Panik geriet – und andererseits doch so fremd, um sie zu beunruhigen. So war es wieder. Sie erkannte Dinge wieder, wußte aber deren Namen nicht. Sie wußte zwar, wo sie sich befand, doch der Name des Ortes war ihr entfallen – wenigstens für den Augenblick. Doch sie würde sich wieder erinnern. Auch die Namen der Menschen, die sie kannte und die plötzlich an den äußersten Rand ihres Bewußtseins gerückt waren, würden wiederkommen. In diesem Moment war es nur wichtig, daß sie den langge‐ streckten Raum erreichte, der nun im Dunkel lag, wo die vielen schönen Dinge lagen. Die Kämme, die Juwelen, die goldene Kiste. Sie wollte sich nicht vorstellen, daß es ein Sarg war – es war eine Kiste, vielleicht eine Juwelenkasset‐ te. Warum starrten die Leute sie so an? Sie kannte keinen ein‐ zigen von diesen Menschen. Und warum war sie auf einem Dach? Zunächst mußte sie die kleine Tür zur Linken erreichen. Dann mußte sie hindurchgehen, an den niederen Tisch tre‐ ten. Sie streckte dem Nubier, der auf der anderen Seite des Tisches stand, die Hand entgegen und wartete, bis er ihr die Tierhaut reichte, die sie sich um die Schultern legte. Und dann stieg sie die Stufen hinab, die aus dem hohen Gebäude führten. 31
Draußen war die Luft erfrischend kühl. Eine Brise wehte vom Nil herüber. Der Lärm, der sie umgab, überraschte sie, und sie hatte den Eindruck, daß all die Leute es schrecklich eilig hatten, als sie wartend stehenblieb. Seltsame Gegens‐ tände glitten mit unglaublicher Geschwindigkeit an ihr vorbei, während sie selbst sich ebenfalls zur Eile getrieben fühlte. Aber sie bewegte sich langsam und würdevoll. Ein Bediensteter tauchte an ihrer Seite auf und fragte, wo‐ hin sie fahren wolle. Sie wußte, was sie antworten mußte, ohne zu wissen, woher die Worte kamen oder was sie be‐ deuteten. Aber der Diener verstand die Worte. Sie glitt durch eine schmale Tür und setzte sich auf eine gepolsterte Bank, und einen Augenblick später fühlte sie eine seltsame Bewegung, begleitet von einem Lärm, einem stetigen, vibrierenden Ge‐ räusch, und ein Geruch stieg ihr in die Nase, ein vager Hauch von Schwefel, der ihr unangenehm war. Seltsam, daß sie trotz alledem noch schneller vorankom‐ men wollte. Es war wichtig, daß sie so rasch wie möglich den langgestreckten Raum erreichte ‐wenn sie sich verspä‐ tete, war er vielleicht nicht mehr da. Sie war schon oft ge‐ nug umsonst in jenen Raum gelaufen. Und sie war immer so traurig, wenn sie feststellte, daß er nicht auf sie wartete, wie er es versprochen hatte. Aber diesmal würde es anders sein. Sie wußte, daß er be‐ reits in dem dunklen Raum war. Und diesmal würde er warten. Dies war der rechte Ort. Sie war noch nie zuvor hier gewe‐ sen, aber sie wußte, daß sie am Ziel war. 32
Da stand die Statue im Hof, eine Treppenflucht führte hi‐ nauf zu einer Doppeltür aus Bronze, die von Skulpturen n flankiert war. All das hatte sie vor ihren geistigen Auge gesehen, und nun war es Wirklichkeit geworden. Sie brauchte nur die Treppe hinaufzusteigen, die schweren Bronzetüren aufzustoßen, ein paar weitere Stufen hinauf‐ zugehen – zu der Galerie, wo er sie erwartete... Frank Whemple saß in seinem Auto und wartete auf seinen Vater, der den rückwärtigen Trakt des Museums inspizier‐ te, bevor er die Türen abschloß. Überrascht hob er den Kopf, als ein Taxi in den Hof fuhr. Das Mädchen, das hastig ausstieg, trug eine Pelzstola über einen langen weißen Abendkleid. Und diese Aufmachung verriet ebenso wie die hastigen, unsicheren Schritte, die sie in ihren hochhackigen Schuhen machte, daß sie keine ver‐ spätete Besucherin war, die das Museum besichtigen woll‐ te. Frank sah zu, wie sie die Stufen hinauflief. Sie ignorierte den ärgerlichen Ruf des Taxifahrers, der sein Geld haben wollte, und stemmte sich gegen die Bronzetüren, die sein Vater vor wenigen Minuten abgesperrt hatte. Als sie be‐ merkte, daß die Tür sich nicht bewegen ließ, begann sie mit ihren kleinen Fäusten dagegenzuhämmern, als glaubte sie allen Ernstes, sie könne sich gewaltsam Einlaß verschaffen – durch eine Tür, die acht Fuß hoch und zwei Zoll dick war und zwei Tonnen schwer. Frank stieg lächelnd aus seinem Wagen und ging die Trep‐ pe hinauf.
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Das Mädchen kam ihm bekannt vor. Entweder erinnerte sie ihn an jemanden, oder er war ihr schon einmal begegnet. Seltsam, daß er sich nicht genau erinnern konnte denn ihre Schönheit war faszinierend und hätte ihm unvergeßlich bleiben müssen.. Ihr Gesicht hatte europäische Züge, auch andere Merkmale. Vielleicht floß auch ägyptisches Blut in ihren Adern. Das würde erklären, warum ihr Teint so dunkel und die Nase so sanft gebogen war. Ihre Augen waren mandelförmig ge‐ schnitten, und das lange schwarze Haar schimmerte im Licht der Lampe, die über der Tür brannte. In dem weißen langen Kleid sah sie aus wie eine Statue, doch der wilde Ausdruck ihrer Augen verdarb diesen Effekt. Warum war sie so erregt? Auch wenn sie tagsüber irgend etwas im Museum vergessen hatte, es konnte diesen qual‐ vollen Blick nicht rechtfertigen. Denn selbst wenn sie ihren kostbaren Familienschmuck vermißte, sie brauchte nicht zu befürchten, daß er verschwunden war. Alles, was während der Nacht im Museum für ägyptische Altertümer einge‐ schlossen war, war vor Dieben genauso sicher, als würde es in einem Safe der ägyptischen Bank liegen. Vielleicht hatte sie etwas verloren, das einen sentimentalen Wert für sie besaß, und sie hatte schon überall vergebens gesucht. Und nun war ihr eingefallen, daß das Museum der letzte Ort war, wo sie noch nicht nachgesehen hatte – der letzte Ort, wo sie die vermißte Kostbarkeit finden könnte. Das wäre eine Erklärung für ihren verzweifelten Blick. Die Enttäuschung, die Tür verschlossen zu finden, hatte sie um die Fassung gebracht. 34
Aber wahrscheinlich war sie nur eines jener überempfindli‐ chen, nervösen Mädchen, die ausgerechnet ihm immer wieder über den Weg liefen und in deren Gegenwart er sich stets so unbehaglich fühlte. Das war die Art von Mäd‐ chen, die schon in Tränen ausbrachen, wenn man nur eine Braue hob. »Das Museum ist geschlossen«, sagte er. »Alle sind nach Hause gegangen. Morgen früh um neun Uhr öffnen wir wieder.« Sie starrte ihn verständnislos an, und in ihren Augen lag immer noch abgrundtiefe Verzweiflung. Allmählich wurde ihm dieser Blick unheimlich. Oder hatte sie Angst vor ihm? War sie Ägypterin und verstand nicht, was er sagte? Sanft nahm er ihren Arm, um sie von der verschlossenen Tür wegzuführen. Und in dem kurzen Augenblick, den sie ihm gönnte, bevor sie alles verdarb, spürte er die Wärme ihrer Haut durch den dünnen Seidenstoff des Kleides. Sie verdarb die Stimmung auf höchst unangenehme und lästige Weise. Sie fiel in Ohnmacht, als er sie berührte. Frank zuckte seufzend mit den Schultern, hob sie auf die Arme und trug sie zu seinem Wagen. Das alles war so verwirrend. Zuerst spürte sie, daß sie auf einen bewegten Sofa lag, dann bettete sie man sie auf ein anderes, das fest auf dem Boden zu stehen schien. Und gleichzeitig öffnete sie die Bronzetür, die in einen Raum voller Statuen und Mumien führte – ein Grab viel‐ leicht — aber auch der Tempel. Es war die Grabstätte, die ihr solche Angst einjagte. Sie versuchte, nach ihm zu rufen,
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und er schien von innen zu antworten, aber seine Stimme klang so schwach. Dann wurde sie übertönt von anderen Stimmen in ihrer Nähe. Sie sprachen eine Sprache, die sie nicht verstehen konnte. Ein jüngerer und ein älterer Mann redeten mitei‐ nander. Sie versuchte die fremden Stimmen auszuschalten, indem sie noch lauter schrie. Aber die Stimme des älteren Mannes drang immer tiefer in ihr Bewußtsein, nannte sei‐ nen Namen, und nun sprach er auch ihre Sprache. Sie hörte sich antworten, und offenbar war er zufrieden mit ihrer Antwort, denn er ging davon, um sie schlafen zu las‐ sen. Die Stimmen entfernten sich. Und mitten aus dem Gewirr von Stimmen drang plötzlich eine heran, die ihr bekannt vorkam. »Ich wußte, daß geschlossen war«, sagte die vertraute Stimme. »Aber ich kam hierher, weil ich auf jeden Fall mein Glück versuchen wollte.« Dann sprach jemand dicht an ihrem Ohr, die Stimme eines jungen Mannes, die sanft und beruhigend klang. Sie öffnete die Augen und erkannte den Mann, der ihr auf der Treppe vor dem Museum begegnet war. »Ich weiß«, sagte sie. »Es ist geschlossen. Ich sollte morgen wiederkommen.« »Sie haben das Bewußtsein verloren.« »O Gott!« Sie setzte sich auf. »Bin ich im Hotel?« »Nein, im Haus meines Vaters. Als Sie in Ohnmacht fielen, wußten wir nicht, wohin wir Sie bringen sollten, und so nahmen wir Sie erst einmal mit hierher.«
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Sie musterte ihn aufmerksam. Er war Mitte Zwanzig und sah auf konventionelle britische Weise gut aus. Er hatte kurzes, lockiges Haar und ein freundliches, vielleicht ein bißchen zu unscheinbares Gesicht. Jedenfalls machte er ei‐ nen sehr netten Eindruck. Er lächelte, und sie versuchte das Lächeln zu erwidern. Seine hellen Augen, die sie offen und ehrlich anblickten, gefielen ihr. »Mein Name ist Frank Whemple«, sagte er, und sie hätte am liebsten laut gelacht, weil der Name so gut zu ihm paß‐ te. Frank und frei, sympathisch und arglos, voll jugendli‐ cher Unschuld – eben ganz einfach Frank. Sie fand es sehr tröstlich, in der Gegenwart eines solchen Mannes zu erwachen. Und plötzlich verspürte sie das Be‐ dürfnis, ihm alles zu erzählen. Aber noch bevor sie eine Gelegenheit dazu fand, öffnete sich die Tür hinter ihm, und Dr. Muller kam herein. Sie sagte sich, daß sie nun überrascht sein müßte, aber sie war es nicht. Dr. Muller schaffte es immer wieder, sie aufzuspü‐ ren, wenn sie einen ihrer launischen Anfälle hatte und durchbrannte. Gott allein mochte wissen, wie ihm das stets von neuem gelang... »Ah, hier sind Sie ja«, sagte Muller, als wäre es das Natür‐ lichste von der Welt, sie in diesem Haus vorzufinden, als wären die Begleitumstände völlig normal. »Sie haben doch sicher schon Bekanntschaft geschlossen?« Sie schüttelte den Kopf, und Muller sagte in förmlichem Ton: »Frank Whemple ... Miß Helen Grosvenor.«
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Er wandte sich zu dem älteren Mann um, der hinter ihm eingetreten war. »Und das ist Franks Vater, Sir Joseph Whemple, ein alter Freund von mir.« »Ich glaube, wir sollten ihr ein paar Minuten Zeit lassen, damit sie sich erholen kann«, sagte Sir Joseph Whemple. »Sie braucht Ruhe, um wieder zu sich selbst zu finden. Drei Besucher auf einmal – das ist zuviel für sie. Kommen Sie, Muller.« Die beiden älteren Männer gingen hinaus, und sie war wieder allein mit Frank. Plötzlich kam ihr die Komik der Situation zu Bewußtsein, und sie begann zu kichern. Der verwirrte Blick, den Frank ihr zuwarf, machte alles nur noch schlimmer, und sie konnte nicht mehr aufhören zu la‐ chen. Die Lachtränen liefen ihr über die Wangen. Hilflos hob sie eine Hand, und nun hatte ihr Gekicher auch Frank angesteckt. »Und ich dachte schon, Sie sind hysterisch.« Sein jungen‐ haftes Lachen gefiel ihr. Sie fand dieses ganze Erlebnis überhaupt sehr vergnüglich. Zuerst war sie wie ein Mäd‐ chen aus der viktorianischen Epoche in Ohnmacht gefallen, und dieser große, ausgewachsene Junge, der ihr ritterlich zu Hilfe geeilt war, hatte Angst vor hysterischen Anfällen. Und Dr. Muller kam immer wieder herein, wie ein aufge‐ regter, besorgter Pfarrer. Das alles war so herrlich komisch. Als sie ihre Lachkrämpfe überwunden hatten, holte Frank einen niederen Hocker, stellte ihn neben die Couch und setzte sich. Lächelnd blickte er zu ihr auf, ganz der bewun‐ dernde Anbeter aus längst vergangenen Tagen. Auch diese 38
Szene würde wunderbar ins viktorianische Zeitalter pas‐ sen, dachte Helen und blickte hoheitsvoll auf ihn hinab. Sie hätte ihn gern ein wenig geneckt, um zu sehen, ob er auch erröten konnte wie ein altmodischer Liebhaber, doch statt dessen fragte sie: »Wo bin ich in Ohnmacht gefallen, Mr. Whemple?« »Vor dem Museum.« Ja, daran konnte sie sich dunkel erinnern. Und sie sprach mehr zu sich selbst, als sie die nächste Frage stellte. »Was habe ich denn dort gemacht?« »Wie soll ich das wissen?« entgegnete Frank, und seine Stimme klang so komisch, daß sie erneut in Gelächter aus‐ brachen. »Wissen Sie denn nicht, warum Sie dort waren?« »Nein.« »Vielleicht sind Sie kultursüchtig. Eine sehr geheimnisvolle Krankheit...« »Sie glauben, daß ich mich nachts in kulturhistorische Stät‐ ten schleiche und mit Statuen flirte?« fragte sie lachend. »Vielleicht haben Sie einen sogenannten Mumienkomplex.« »Das ist nicht komisch«, sagte sie und war plötzlich sehr ernst geworden. »Oh, es tut mir schrecklich leid.« Sie begann wieder zu lachen und wies mit dem Finger auf ihn. »O Gott! Jetzt sollten Sie Ihr Gesicht sehen!« »Was ist denn los damit?« »Sie sehen unbezahlbar aus, wenn Sie zerknirscht sind.« Muller setzte sich auf einen Stuhl, der neben dem Schreib‐ tisch in Whemples Arbeitszimmer stand. Er versuchte, sei‐ 39
ne Ungeduld zu verbergen, während sich Sir Joseph um‐ ständlich hinter dem Schreibtisch niederließ, ein paar Bü‐ cher und eine kleine Büste der Nofretete beiseite‐ schob, um Platz für seine Arme zu schaffen. Dann stützte er beide Arme auf die Tischplatte und machte noch immer keine Anstalten, das Schweigen zu brechen. Schließlich konnte Muller das Warten nicht mehr ertragen und fragte: »Warum war sie an der Tür des Museums?« »Keine Ahnung.« »Ich dachte, das wollten Sie mir erzählen.« »Nein, ich will Ihnen etwas anderes sagen.« »Über Helen?« Whemple nickte. Er war offensichtlich verwirrt, schien Un‐ behagen und sogar Angst zu empfinden. »Sie ist ein sonderbares Mädchen«, sagte er zögernd. »Ich weiß. Deshalb steht sie ja auch unter ärztlicher Be‐ handlung. Nun rücken Sie schon mit der Sprache heraus. Mann. Was ist denn los?« »Erinnern Sie sich an die Mumie, die wir im Jahr 1921 aus‐ gegraben haben?« »Natürlich.« »Wissen Sie auch noch den Namen?« »Imhotep.« Whemple nickte. »Er war Hoherpriester des Tempels, zu Ays Zeiten, am Ende der achtzehnten Dynastie. Imhotep – ein ungewöhnlicher Name. Ich entsinne mich nicht, ihn in irgendwelchen einschlägigen Büchern gelesen zu haben. Sie vielleicht?« »Nein. Aber worauf wollen Sie hinaus?« 40
»Helen Grosvenor hat diesen Namen vor etwa zehn Minu‐ ten ausgesprochen – im Salon dieses Hauses. Haben Sie den Namen jenes Hohenpriesters irgendwann einmal er‐ wähnt?« »Nein. Niemals. Was genau hat sie gesagt?« »Ich konnte es nicht verstehen. Sie flüsterte wirre, unzu‐ sammenhängende Worte vor sich hin. Nur den einen Na‐ men habe ich deutlich gehört.« Noch bevor Muller etwas erwidern konnte, läutete das Te‐ lefon auf Whemples Schreibtisch. Sir Joseph hielt den Hörer ans Ohr. »Oui?« Er runzelte die Stirn, und seine Lippen begannen leicht zu zittern. »II est mort? D’accord. Toute de suite.« Langsam legte er den Hörer auf die Gabel zurück, und Muller sah ihn fragend an. »Was ist passiert?« »Einer der Museumsdiener ist tot. Er wurde in Ankhese‐ namens Galerie gefunden.«
3. Ein Polizeiinspektor öffnete ihnen die schwere Bronzetür und führte sie in die Galerie. Ein uniformierter Polizist in‐ spizierte die Leiche des Museumsdieners. Er beendete die Untersuchung, als Muller und Whemple den Raum betra‐ ten, sah den Inspektor an und zuckte ratlos mit den Schul‐ tern. »Woran ist er gestorben?« fragte Muller. »Keine Ahnung.« 41
»Herzversagen ?« »Gewiß. Aber warum ...« »Vielleicht hat er einen Schock erlitten.« Whemple blickte sich um. »Ich kann nicht feststellen, daß irgend etwas fehlt. Das wäre auch sinnlos, denn kein Dieb könnte einen dieser Gegenstände zu Geld machen. Jedes Stück aus dieser Sammlung würde sofort identifiziert wer‐ den.« »Das hatte der Museumsdiener in der Hand, Sir Joseph«, sagte der Inspektor. Muller trat näher heran und sah, daß der Beamte ein zu‐ sammengerolltes Dokument hochhielt. »Der Dieb wollte die Rolle stehlen, der Wächter nahm sie ihm wieder weg, und der Dieb tötete ihn.« Der Inspektor seufzte tief auf. »So muß es gewesen sein. Verdammt unangenehm ...« Whemple rollte das Dokument auseinander und hob über‐ rascht die Brauen. Er hatte jedes einzelne Ausstellungs‐ stück, das man in Ankhesenamens Grab gefunden hatte, persönlich katalogisiert. Doch diese Schriftrolle war nicht dabeigewesen. »Solche Diebe könnte jedes Museum auf der ganzen Welt gut gebrauchen«, sagte Muller und ging auf Whemple zu. »Es ist der bewußte Papyrus, nicht wahr?« fragte er mit lei‐ ser Stimme. Whemple konnte nur nicken. Frank hielt mitten im Satz inne, weil er nicht wußte, ob He‐ len sich schon wieder über ihn lustig machte.
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Er hatte ihr von der Expedition erzählt, von der Hitze, von der beschwerlichen Reise, die ihn zwei Monate lang durch die Wüste geführt hatte, von der stickigen Luft im Grabge‐ wölbe. Plötzlich hatte sie entsetzt den Atem angehalten. »Das haben Sie getan?« hatte sie hervorgestoßen, und was immer ihr Blick auch auszudrücken schien – es war keines‐ falls Bewunderung. »Ich dachte, Sie hätten davon gelesen«, erwiderte er und hörte selbst, daß seine Stimme gekränkt klang und seinen kindischen verletzten Stolz verriet. »Wie konnten Sie das nur tun?« »Wir haben das Grab nicht entweiht«, verteidigte er sich. »Soll ich Ihnen nun von Ankhesenamen erzählen oder nicht?« Sekundenlang sah sie ihn ausdruckslos an, dann nickte sie. »Vierzehn Stufen führten nach unten«, fuhr Frank fort, »und dann fanden wir den Vorraum mit den ungebroche‐ nen Siegeln.« »Und wie haben Sie das Grab gefunden?« »Das war reines Glück. Ein Ägypter sagte uns, wo wir gra‐ ben sollten – ein Bursche namens Ardath Bey. Also fingen wir zu graben an, und dann fanden wir das Grab – unver‐ sehrt, unberührt, genauso, wie es vor dreitausend Jahren ausgesehen hat. Damals hat man die Toten mitsamt ihrem persönlichem Besitz begraben – mit Kleidern, Toilettensa‐ chen und Schmuck. Den Großteil von dem Zeug bewahrte man im Vorraum der Grabkammer auf. Aber das Interes‐
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santeste kommt noch. Als wir nämlich anfingen, die Mu‐ mie ...« »Nein, ich will nichts mehr hören«, fiel Helen ihm ins Wort. »Ich finde das widerlich.« »Aber das war es nicht. Im Gegenteil – es war ein sehr schönes, ergreifendes Erlebnis. Ich hatte schon tagelang ih‐ re Sachen untersucht, und deshalb hatte ich das Gefühl, sie gut zu kennen. Ich kann verstehen, daß Sie meine Arbeit schmutzig, sogar ekelerregend finden. Aber es kommt nur darauf an, mit welcher Einstellung man an diese Dinge he‐ rangeht. Man hat nicht das Gefühl, eine Leiche auszugra‐ ben, man stellt sich vor, daß man eine Art von Wiederau‐ ferstehung miterlebt, und das ist ganz im Sinne der alt‐ ägyptischen Religion. Deshalb haben die Ägypter ihre To‐ ten mumifiziert – um ihre Körper bis zum Tag der Wieder‐ geburt zu bewahren, bis zu dem Tag, wo die Seele in ihre ursprüngliche Hülle zurückkehren wird. Verstehen Sie das?« »Nein. Sie sind Archäologe – kein göttliches Wesen, das Leben nimmt und wiedergibt.« »Das weiß ich. Trotzdem – die Wissenschaft war mir in je‐ nem Augenblick gleichgültig, als die Bandagen entfernt wurden. Ich sah ihr Gesicht – und so lächerlich es Ihnen auch erscheinen mag, ich habe mich in sie verliebt.« »Müssen Sie erst Gräber öffnen, um Mädchen zu finden, die Sie lieben können?« »Nein, das müßte ich nicht tun – wenn ich das Glück hätte, das ich mir wünsche ...« Ihre ernste Stimmung verflog, und sie lächelte. 44
»Also gut, erzählen Sie weiter.« »Sie kam um 1373 v. Chr. auf die Welt und war die Tochter Echnatons und Nofretetes. Ihr Vater war ein Ketzer. Er führte statt der traditionellen Verehrung Amons, des alten Stadtgottes von Theben, die Verehrung des Sonnengottes Aton ein. Das war ein sehr waghalsiges Unternehmen. Man könnte Echnaton als vorchristlichen Heinrich VIII. bezeich‐ nen. Er verheiratete seine Tochter mit unserem alten Freund Tutenchamon, als sie das reife Alter von neun Jah‐ ren erreicht hatte, und Tutenchamon, ein weiser alter Mann von fünfzehn, hob die Sonnenreligion seines Schwiegerva‐ ters wieder auf. Drei Jahre später starb er. Und von diesem Zeitpunkt an beginnt die Geschichte faszinierend zu wer‐ den, Helen. Stellen Sie sich das einmal vor – versetzen Sie sich in Ankhesenamen. In das alte Ägypten, um 1352 v. Chr. herum. Sie war die Thronerbin, hatte keine Söhne ge‐ boren, ihr Gemahl war tot, die Höflinge begannen gegenei‐ nander zu intrigieren, der Kampf um den Thron setzte ein. Jeder Mann, den Ankhesenamen heiratete, würde automa‐ tisch der neue Pharao werden, und unsere Anky, ein sehr kluges Mädchen, wußte das natürlich. Also, was hat sie ge‐ tan? Was hätten Sie an ihrer Stelle getan?« Helen runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich würde meinen Liebsten heiraten.« »Aber sie hatte keinen Liebhaber.« »Oder sie hat eine Republik ausgerufen?« »Die war damals noch nicht erfunden. Nein, Anky sah sich aufmerksam um und entdeckte zwei Thronanwärter, die beide alt genug waren, um ihr Vater zu sein. Sie hießen Ay und Horemheb und hatten Spitzenpositionen an Tutenchamons Hof. Ay 45
war Schatzmeister und Horemheb General. Nun, was hat Anky getan?« »Sie hat keinen von beiden geheiratet.« »Oh! Sie kennen die Geschichte?« »Nein, wirklich nicht. Ich rate nur.« »Jedenfalls haben Sie richtig geraten. Sie konnte keinen der beiden leiden. Und so schrieb sie einen Brief an den König der Hethiter, und das war ungefähr so, als hätte Victoria Mary eine Schlinge nach dem deutschen Kaiser ausgewor‐ fen, wenn der gute König George ganz plötzlich im Jahre 1918 verblichen wäre. Jedenfalls hat Anky an den König der Hethiter geschrieben: ,Such einen Sohn aus irgendeinen Sohn. Schick ihn nach Theben, und ich werde ihn heiraten und ihn zum Pharao von Ägypten machen.’ Ein großartiger Schachzug. Dadurch hätte sie gleichzeitig einen jungen Ehemann und einen militärischen Verbündeten ergattert. Verstehen Sie?« »Aber es hat nicht funktioniert?« Frank blinzelte verwirrt. »Woher wissen Sie denn das?« »Tut mir leid«, erwiderte sie vage. »Es hat tatsächlich nicht funktioniert, weil die Hethiter den Ägyptern nicht trauten. Eine verdammt mißtrauische Ban‐ de war das.« »Seien Sie vorsichtig!« warnte Helen. »Ich bin eine halbe Ägypterin.« »Wirklich?« »Ja – mütterlicherseits.«
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»Das habe ich mir beinahe schon gedacht. Sie haben so et‐ was an sich, Helen ... Jedenfalls schickte der Hethiterkönig erst einen Sohn nach Theben, als es schon zu spät war. Ra‐ ten Sie einmal, was dann passiert ist.« »Sie mögen es doch nicht, wenn ich richtig rate, Frank.« »Bitte, tun Sie’s trotzdem.« »Sie hat einen der beiden alten Männer geheiratet«, antwor‐ tete Helen. »Nicht den General. Den Schatzmeister. Der He‐ thiter kam niemals in Theben an.« »Er wurde ermordet«, berichtete Frank in melodramati‐ schem Flüsterton. »Und höchstwahrscheinlich hat Ay den Mörder gedungen.« Helen schüttelte entschieden den Kopf. »Das war Horemheb. Und es geschah aus militärischen Gründen.« »So genau wissen wir das nicht. Aber was Ay betrifft, so haben Sie recht. Ankhesenamen hat ihn geheiratet, vermut‐ lich im Jahr 1352. Und dann passierte etwas Merkwürdiges. Denn plötzlich war Ankhesenamen wie vom Erdboden verschwunden, genau wie unser Freund Ardath Bey. Sie wird auf keinem Papyrus mehr erwähnt.« Frank beugte sich vor und legte eine dramatische Pause ein. »Wir wissen nicht, was mit ihr geschah. Nur eins wissen wir ganz sicher – daß sie etwa ein Jahr später nicht mehr Ays Gemahlin war. Auf Ays Grab steht das Bildnis einer anderen Frau, und als Horemheb im Jahr 1348 Ays Nach‐ folger wurde, ließ er Ankhesenamens Relief von Tuten‐ chamons Grabsäule entfernen. Vielleicht hatte sie eine Af‐ 47
färe mit irgendeinem jungen Kerl und war deshalb in Un‐ gnade gefallen. Wir wissen auch, daß sie 1350 v. Chr. starb. Das haben die medizinischen Untersuchungen der Leiche ergeben. Wenn wir also diese Mumie nicht gefunden hät‐ ten, dann hätten wir auch niemals erfahren, wie jung Anky gestorben ist. Das kann man nämlich am Zustand ihrer Zähne erkennen. Zum Zeitpunkt ihres Todes war sie zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahre alt... Aber was haben Sie denn?« Helens Augen hatten sich mit Tränen gefüllt, und sie wischte sie mit dem Handrücken weg. »Ich habe Ihnen ja gesagt, daß das eine ergreifende Ge‐ schichte ist.« »Sie war so alt wie ich«, sagte Helen leise. »Es ist einfach nicht fair — in so jungen Jahren zu sterben ...« »Leider können uns die Ärzte nicht sagen, woran sie ge‐ storben ist.« »Ich will nicht mehr darüber sprechen«, sagte Helen Gros‐ venor. Im Taxi versuchte Muller, Sir Joseph Whemple in ein Ge‐ spräch zu verwickeln. Aber Whemple war so erschüttert, daß es ihm die Sprache verschlagen hatte. Er saß reglos auf seinem Platz und umklammerte den Papyrus des Thot und sah aus, als hätte er plötzlich entdeckt, daß sein ganzes bis‐ heriges Leben nur ein Traum gewesen sei. Es ist verständ‐ lich, daß man zu solchen Überlegungen neigt, wenn sich innerhalb eines Augenblicks herausstellt, daß man nach falschen Prämissen gelebt hat, sagte sich Muller.
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Er warf einen mitleidigen Blick auf den Gelehrten an seiner Seite, der jünger war als er selbst und plötzlich so alt wirk‐ te, daß er sein Vater sein könnte. Tröstend drückte er Whemples Arm. Doch Whemple achtete nicht darauf, schien es nicht einmal zu spüren. Muller lehnte sich in die Polsterung zurück, und seine Ge‐ danken konzentrierten sich auf die Schriftrolle. Etwas spä‐ ter würde er es vielleicht über sich bringen, die Hierogly‐ phen zu studieren, die auf dem Papyrus geschrieben stan‐ den – trotz des Fluchs. Aber im Augenblick war es viel wichtiger, herauszufinden, warum die Schriftrolle nach elf Jahren im Museum für ägyptische Altertümer in Kairo aufgetaucht war – in der Hand eines ermordeten Museumsdieners. Die Theorie des Inspektors, daß ein Dieb in die Galerie ein‐ gedrungen sei, erschien ihm sinnlos. Der Papyrus des Thot war niemals ein Ausstellungsstück gewesen, konnte also gar nicht gestohlen worden sein. Irgend jemand hatte ihn aus einem ganz bestimmten Grund ins Museum und in Ankhesenamens Galerie gebracht. Ein Museumsdiener hat‐ te den Unbekannten dabei erwischt, und in seiner Panik hatte der Eindringling den Papyrus zurückgelassen. Aber welchen Zweck hatte er verfolgt? Und wie war die Schriftrolle in seine Hand gelangt? Whemple flüsterte etwas Unverständliches vor sich hin. »Wie, bitte?« fragte Muller. »Kein Staub auf dem Tisch«, sagte Whemple langsam und blickte dem Okkultisten in die Augen. »Hätte ein Dieb Staub an den Händen gehabt?« 49
Franz Whemple wußte, daß es lächerlich war. Aber er konnte nicht anders. Er sah sich von seltsamen Bedürfnis‐ sen getrieben, die er nicht unterdrücken konnte, und so sagte er Worte zu Helen Grosvenor, die er nie zuvor aus‐ gesprochen hatte, und benahm sich so merkwürdig, daß er sich selbst nicht wiedererkannte. Welcher vernünftige Mensch redete schon einen solchen Unsinn? »Ich habe mich in dich verliebt...« »Wenn ich dich in meinen Armen halte ...« »Wir kennen ei‐ nander erst so kurze Zeit, aber es ist ernst. Ich meine es ernst, Helen ...« Hatte er das alles wirklich gesagt? War das möglich? Manchmal hatte er das Gefühl, daß sein Ich in zwei Teile gespalten war, daß der eine Teil kopfschüttelnd mit anhör‐ te, was der andere sagte. Dialoge aus einem drittklassigen Hollywood‐Film: Junger Mann lernt junges Mädchen auf Museumsstufen kennen. Mädchen fällt in Ohnmacht. Nächste Szene – Mädchen liegt in der Wohnung des jungen Mannes auf einem Sofa. Der junge Mann gesteht dem Mäd‐ chen, nachdem er eine Stunde lang mit ihm gesprochen hat (auf der Filmleinwand drei Minuten) seine Liebe, beginnt es leidenschaftlich zu küssen ... Geküßt hatte er sie bisher noch nicht. Aber bei Gott, er würde es bald tun. Und wenn er ein bißchen Glück hatte, würde er vielleicht auch die Geigenmusik hören, die bei solchen Liebesszenen angeblich immer erklang. Oder war‐ en es Glockentöne?
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Aber wenn er sich auch einbildete, John Barrymore zu sein, Helen war keine Gloria Swanson. »Du solltest dich nicht so völlig in meine Hand geben«, würde sie ihm mit einem desillusionierenden Lächeln sa‐ gen, »wart erst einmal ab, bis du mich bei Tageslicht und mit Lockenwicklern im Haar gesehen hast.« Und wenn er dann galant erwiderte: »Du siehst mit Lo‐ ckenwicklern bestimmt hinreißend aus«, würde sie nur la‐ chen. Er kam sich vor wie ein Clown – wie ein verzauberter, när‐ rischer Automat. Die Phrasen kamen ihm über die Lippen, bevor sie überhaupt in sein Bewußtsein drangen, bevor sein Gehirn Zeit fand, sie zu filtern. Die Worte strömten nur so aus seinem Mund, ohne daß sein Verstand die Kraft hatte, sie zu zensieren. O Gott, wie konnte er das alles sagen? Diese dummen ro‐ mantischen Sätze, die er da produzierte und die ihm vor‐ kamen wie kitschige Geschenkpäckchen, in rosa Glanzpa‐ pier gewickelt... »Ich dürste nach deinen Lippen« – das war zum Beispiel ein Satz, den er gerade noch rechtzeitig hinuntergeschluckt hatte. Dafür hatte er andere Sätze ausgesprochen, die ge‐ nauso peinlich waren, wenn er sich auch glücklicherweise nicht mehr genau an ihren Wortlaut erinnerte. »Glaubst du an Liebe auf den ersten Blick, Helen?« hörte er Frank Whemple fragen. »Morgen früh wirst du es bereuen, daß du mir solche Fra‐ gen gestellt hast«, erwiderte sie mit ihrer tiefen Einfüh‐ lungsgabe. 51
»Nein, ganz bestimmt nicht. Du bist das wunderbarste Mädchen, das mir je im Leben begegnet ist. Und ich werde es nie bereuen, daß ich dir das gesagt habe.« Sie brach in Gelächter aus. »Du bist wirklich süß, Frank.« »Ich will nicht, daß du mich süß findest. Ich will, daß du meine Liebe erwiderst.« »Frank, sei doch nicht so kindisch. Du weißt doch gar nichts von mir.« »Ich weiß alles, was ich wissen muß.« »Weißt du, warum ich heute abend die Treppe zum Mu‐ seum hinaufgelaufen bin?« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es auch nicht«, sagte sie. »Und das ist gar nicht komisch – wirklich nicht. Ich hatte einfach die Gewalt über mich verloren, Frank. Wenn das passiert, habe ich jedesmal schreckliche Angst. Und es passiert sehr oft.« »Ich habe mich auch nicht mehr in der Gewalt«, entgegnete er und küßte ihre Hand. Doch sie entzog ihm heftig die schmalen Finger. »Hör mir zu!« sagte sie mit scharfer Stimme. »Ich meine es völlig ernst.« »Ich auch.« »Ich verliere sehr oft das Bewußtsein. Und ich wohne in Dr. Mullers Haus, weil er herauszufinden versucht, was mir fehlt. Irgend etwas stimmt nicht mit mir. Verstehst du das? Ich bin einfach nicht in der Lage, mir Liebeserklärungen anzuhören, Hoffnungen in einem Mann zu erwecken – auch dann nicht, wenn ich es wollte. Ich bin krank, Frank.« 52
»Du bist vollkommen«, sagte die Stimme seines anderen Ichs, das ihm so fremd war, und dann stieg ihm vor Ver‐ wirrung das Blut ins Gesicht. Ungeschickt beugte er sich vor, legte die Arme um ihre Schultern, und er verachtete sich selbst, aber er konnte nicht anders. Er überwand ihren ohnehin nur halbherzigen Widerstand, preßte seine Lippen auf die ihren. Dieser Kuß hätte den letzten Rest ihres Widerstands schmelzen, hätte in ihr Empfindungen wecken müssen, die den seinen gli‐ chen. Sie hätte den Kuß mit der Leidenschaft und Hingabe erwidern müssen, die ihn erfüllte. Aber ihre Lippen blieben kalt und geschlossen. Und ihr Widerstand wuchs, anstatt zu schmelzen. Sie bohrte ihm schmerzhaft die Ellbogen in die Brust und versuchte ihn wegzuschieben. Er fand nicht einmal die Zeit, ihr zu sagen: Tut mir leid, aber ich mußte es ganz einfach tun. Denn im gleichen Au‐ genblick, als er sie losließ, flog die Tür auf, und sein Vater kam mit Dr. Muller herein. »Helen«, sagte Muller, »ich komme in wenigen Minuten wieder zu Ihnen. Mr. Whemple, Ihr Vater und ich möchten Sie im Arbeitszimmer sprechen.« Muller war fest davon überzeugt, daß es zwischen Imhotep und Ankhesenamen eine geheime Verbindung gab. Beide stammten aus der Zeit der achtzehnten Dynastie, und die Schriftrolle des Thot war in demselben Raum ge‐ funden worden, in dem die Mumie der altägyptischen Kö‐ nigin lag,
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Muller glaubte auch, daß ein Zusammenhang zwischen dem jüngsten Vorfall in der Galerie und jenem Ereignis vor elf Jahren bestand, das den jungen Norton in den Wahn‐ sinn getrieben hatte. Deshalb wollte er mit Frank Whemple sprechen. Frank hat‐ te das Grab der Königin Ankhesenamen in der Nubischen Wüste entdeckt. Und sein Vater hatte Imhoteps Mumie ge‐ funden, am anderen Ufer des Nils, direkt gegenüber der Stelle, wo die Königin bestattet worden war. Gab es eine Verbindung zwischen diesen beiden Funden? Oder war es nur ein Zufall, daß Vater und Sohn an zwei er‐ folgreichen Expeditionen teilgenommen hatten, die elf Jah‐ re auseinander lagen? Das bezweifelte Muller. Er glaubte, daß ein Zufall das falsch verstandene Wirken einer leitenden Intelligenz war. Dieser Glaube war tief in ihm verwurzelt. War es denn ein Zufall, wenn zwei Mathematiker dieselbe Lösung eines Problems fanden, obwohl sie verschiedene Methoden an‐ gewandt hatten? Bestimmt nicht – wenn die Lösung richtig war. Und wenn sie falsch war, würde jene übergeordnete Macht die Forscher so lange veranlassen, ihre Denkprozes‐ se zu überprüfen, bis sie zur richtigen Antwort gelangten. Frank sah ihn erwartungsvoll an, wenn sein Blick auch immer wieder zu der Schriftrolle wanderte, die auf dem Schreibtisch lag, und zu seinem Vater, der den Kopf in bei‐ de Hände gestützt hatte. Die Ereignisse dieses Abends hatten Sir Joseph Whemple tief erschüttert, und Muller war ernsthaft besorgt um den Freund. Als Arzt wußte er, wie stark sich ein solches Erleb‐ 54
nis auf den Gesundheitszustand eines Menschen auswirken konnte. Seine Gedanken konzentrierten sich wieder auf Helen. Dies war ein anderer Teil des Rätsels. Ihr tranceartiger Zustand am früheren Abend, ihre Fahrt zum Museum ... Aber war es dasselbe Rätsel oder ein ganz anderes? »Imhotep lebte zur gleichen Zeit wie Ankhesenamen«, sag‐ te er. »Dr. Muller, was soll das alles?« fragte Frank Whemple. »Ihr Vater beginnt eben erst zu begreifen. Vor elf Jahren grub er gemeinsam mit mir eine Mumie im Tal der Könige aus, einen Hohenpriester der achtzehnten Dynastie namens Imhotep.« »Jemand hat ihn gestohlen. Dad hat mir damals davon er‐ zählt.« »Ja, das hat Ihr Vater damals geglaubt. Jetzt ist er sich nicht mehr so sicher. Ich habe doch recht, Whemple?« »Ich weiß es nicht«, sagte Sir Joseph. »Die Möglichkeit, an die Sie jetzt denken, ist erschreckend, nicht wahr?« »Wovon sprechen Sie eigentlich, Doktor?« fragte Frank, als er sah, daß sein Vater nickte. »Und was hat das alles mit Helen Grosvenor zu tun? Ich dachte, wir wollten über sie sprechen.« »Dazu werden wir gleich kommen. Aber zuerst möchte ich Ihnen eine Frage stellen. Wie haben Sie das Grab der Köni‐ gin Ankhesenamen gefunden?«
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»Ich dachte, das wüßten Sie«, erwiderte Frank. »Das weiß doch jeder. Ein Ägypter hat uns gezeigt, wo wir graben sol‐ len.« Whemple hob langsam den Kopf. »Ardath Bey.« Er stand auf, ging zu Muller und legte die Hand auf seinen Arm. »Ich habe vergessen, es Ihnen zu sa‐ gen. Das Mädchen fiel in Ohnmacht ‐und darüber vergaß ich diesen Ägypter. Ich sah ihn heute abend im Museum, ein paar Minuten vor der Sperrstunde. Ich bat ihn, mit mir nach unten zu kommen und Frank zu begrüßen, aber er sagte, er hätte keine Zeit. Er hat die Schriftrolle genommen ‐er muß sie genommen haben, damals vor elf Jahren. Und heute kam er ins Museum, um sie zurückzugeben. Aber warum, Muller? Warum wollte er sie zurückgeben?« »Ich glaube nicht, daß er sie zurückbringen wollte«, ent‐ gegnete Muller. »Ich glaube, er kam ins Museum, um sie zu benutzen.« Helen war wieder eingeschlafen. In ihrem Traum stand sie neben einem Brunnen und blickte in eine Zypressenallee. Ihr Haar war hochgetürmt, statt wie üblich in weichen Wellen auf ihre Schultern zu fallen. Das Gewicht ihrer Haarpracht war ihr unangenehm und erin‐ nerte sie an die Turnübungen, die sie vor Jahren in einem Schweizer Internat hatte machen müssen, um ihre Körper‐ haltung zu verbessern. Sie hatte ein Buch auf dem Kopf ba‐ lanciert, während sie aufrecht und mit steifen Schritten durch den Turnsaal gegangen war und sich gräßlich gela‐ ngweilt hatte.
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Frank stand an ihrer Seite, seltsam gekleidet in enge Sei‐ denhosen, mit einem Federhut auf dem Kopf, der schreck‐ lich komisch aussah. Sie konnte nicht hören, was er sagte, konnte auch sein Gesicht nicht deutlich sehen – aber sie war fast sicher, daß es Frank war. Er mußte es sein. Denn wer sonst würde so demütig die Hände vor der Brust kreu‐ zen? Sie lächelte im Traum. Und dabei wußte sie, daß es nur ein Traum war und daß sie im Schlaf lächelte, weil sie sich an Franks kindisches, lächerliches Benehmen erinnerte. Sie öffnete die Augen und sah ohne Erschrecken einen hochgewachsenen Ägypter mit rotem Fez neben ihrem Sofa stehen. Er beugte sich zu ihr herab, und sie streckte die Hand aus, mit nach unten gerichteter Handfläche, damit er sie nach ägyptischer Sitte küssen konnte. Aber das tat er nicht. Statt dessen machte er eine zweite Verbeugung, und sie sagte sich, daß dies wohl angemessen war. Sie konnte nicht feststellen, ob sie erwacht oder in einen anderen Traum hinübergeglitten war. Und seltsamerweise war es auch gar nicht wichtig, das zu wissen. »Ich bitte vielmals um Vergebung«, sagte der Mann förm‐ lich. »Ich möchte Sir Joseph Whemple sprechen. Mein Na‐ me ist Ardath Bey.« Helens Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen – aus so weiter Ferne, daß sie nicht verstehen konnte, was sie sagte. Ardath Bey nickte, dann setzte er sich und sah sie an. Sie fühlte sich nackt unter seinem Blick, aber dieses Gefühl war 57
ihr nicht peinlich, denn sie sah ihr Spiegelbild in seinen Augen. Sie sah, daß sie vollständig angezogen war. »Sind wir uns schon einmal irgendwo begegnet?« fragte Ardath Bey. Auch ihr Kopfschütteln spiegelte sich in seinen Augen. Nein, dachte sie, er war ihr noch nie begegnet. Daran wür‐ de sie sich erinnern. Ganz bestimmt würde sie sich an Ar‐ dath Bey erinnern. »Dann muß ich mich irren«, sagte er. »Aber Sie sind ägyp‐ tischer Abstammung. In diesem Punkt irre ich mich gewiß nicht.« Sie fragte sich, wie er das erraten hatte. Ihre Lippen beweg‐ ten sich, und sie beobachtete seine Augen, sah ihre Bewe‐ gungen im Spiegelbild, versuchte ihre Antwort von ihren eigenen Lippen abzulesen. »Das dachte ich mir«, erwiderte er. »Ihre Mutter muß eine bemerkenswert schöne Frau gewesen sein.« Dann sagte er einige Worte in einer Sprache, die sie nicht verstand, und wieder mußte sie den Kopf schütteln. Sie beherrschte die arabische Sprache nicht. Ihr Vater hatte keinen Wert darauf gelegt, daß sie fremde Sprachen lernte. Ardath Bey schien enttäuscht zu sein. Sie empfand es zu‐ mindest als Ausdruck der Enttäuschung, daß sein Blick plötzlich verschwommen wurde, daß sich ihr Spiegelbild darin verzerrte. Als der Blick wieder schärfer wurde, sah sie drei andere Gestalten in der dunklen Iris. Franks Vater ergriff das Wort.
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»Ardath Bey – Dr. Muller.« Seine Stimme klang angestrengt und brüchig. Helen überlegte, ob sie sich umdrehen und ihn ansehen sollte. Aber es war einfacher, ihn im Spiegel zu beobachten. »Ich habe mich entschlossen, Ihre Einladung anzunehmen«, sagte Ardath Bey. »Aber ich komme wohl ungelegen.« »Ganz im Gegenteil«, protestierte Dr. Muller. »Wir haben gerade von Ihnen gesprochen. Sir Joseph hat sich gewun‐ dert, weil Sie so genau wußten, wo das Grab Ankhesena‐ mens versteckt war.« »Einesteils zog ich gewisse Schlußfolgerungen, andernteils war mir das Glück des Zufalls gewogen. Sir Joseph, Sie scheinen verstört zu sein.« »Ja. Ein tragischer Zwischenfall ereignete sich im Museum, nachdem Sie gegangen waren.« Es ist, als wäre ich betrunken, dachte Helen, als sie sich er‐ hob. Im Schweizer Internat war sie einmal beschwipst ge‐ wesen, und da hatte sie sich ganz genauso gefühlt. Man kam sich vor, als würde man gar nicht dazugehören. Man war so weit weg von den anderen Menschen, seltsam losgelöst von seiner Umgebung ... Helen hatte das Empfin‐ den, als sei nichts, was in diesem Raum geschah, von wirk‐ licher Bedeutung für sie, als hätte ihr Körper einen kleinen Teil ihres Geistes an einen anderen Ort geschickt, als Abge‐ sandten ihres restlichen Ichs. Jetzt wollte der Abgesandte sprechen, wollte wissen, was im Museum geschehen war, nachdem sie auf den Stufen vor dem Eingang das Bewußtsein verloren hatte. Aber der
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Abgesandte war offenbar eingeschlafen. Es überraschte sie, daß niemand Notiz davon nahm. »Als Sie dort waren, Miß Grosvenor?« fragte Ardath Bey, und seine Stimme klang schärfer als zuvor. »Wann waren Sie denn dort?« Wie wunderbar entspannend das war, so ohne jede Ans‐ trengung zu sprechen, ganz mühelos, als würde man nur flüchtige Gedanken bilden. Sie wußte nicht genau, wann sie zum Museum gefahren war, erinnerte sich auch nicht, daß sie überhaupt dort ge‐ wesen war, obwohl man ihr das versichert hatte. Die Tür war verschlossen gewesen, also mußte sie wohl nach der Sperrstunde dort gewesen sein. Und all das konnte man in Worte fassen, dachte sie voller Bewunderung. Es ging so leicht, so glatt. Sie könnte die ganze Nacht so weiterreden, ohne müde zu werden. »Helen«, sagte Dr. Muller, »es ist schon sehr spät. Mr. Whemple, würden Sie bitte so freundlich sein, Helen ins Hotel Semiramis zu bringen?« Der arme Frank ... Er war nur allzugern dazu bereit, fieber‐ te geradezu vor Eifer. Aber sie wollte noch nicht gehen. Sie wollte hierbleiben. Muller sagte ihr zwar, daß sie Ruhe brauchte. Aber sie spürte, daß sie sich nicht auszuruhen brauchte. Jetzt nicht mehr. Das war vorbei. Jetzt fühlte sie sich frischer und ta‐ tendurstiger als je zuvor in ihrem Leben. »Dann muß ich als Ihr Arzt darauf bestehen, daß Sie jetzt nach Hause fahren.«
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Wie pompös das klang ... Helen erschrak. War auch dieser Gedanke als gesprochener Satz über ihre Lippen gekom‐ men? Offenbar nicht, denn Dr. Muller zeigte keine Reakti‐ on. Man behandelte sie wie ein Kind, und das war nicht fair. Man konnte sie doch nicht so herumkommandieren. »Bitte, Helen!« Das war Frank, der an ihrem Arm zerrte. Ardath Bey sah auf, dann wandte er den Kopf ab. Der Spiegel verschwand, sie konnte nichts mehr sehen, die Show war beendet. Ein anderes Mal, Ardath Bey ... Sie mußte ihn unbedingt wiedersehen. Sehnsüchtig streckte sie die Hand aus, damit er sie küßte. Aber auch diesmal mußte sie sich mit einer Verbeugung zufriedengeben. »Ich freue mich schon sehr auf unser nächstes Zusamment‐ reffen, Miß Grosvenor«, sagte er. Muller hatte Ardath Bey gegenüber Platz genommen. Als er die Beine übereinanderschlug, knisterte ein Papier in der Tasche seines Jacketts, und er sah, wie sich die Augen des Ägypters sekundenlang verengten. Also war ihm das Ge‐ räusch nicht entgangen. Muller konzentrierte sich, kämpfte gegen seine Müdigkeit an. Er wollte Ardath Bey zu einem Duell herausfordern, und er spürte, daß sein Gegner das wußte. Nur Whemple, der immer noch verzweifelt versuchte, das Banner der Logik hochzuhalten, ahnte nicht, daß dieses Duell stattfinden würde, wußte auch nicht, was es zu be‐ deuten hatte. Also konnte der Doktor nicht mit Whemples Beistand rechnen. 61
Muller entdeckte, daß er diese Tatsache ganz ruhig akzep‐ tierte. Er akzeptierte seine Einsamkeit als Konsequenz jenes Geschehens vor elf Jahren. Er war allein in diesem Kampf, in dem er all sein Wissen würde einsetzen müssen, all seine Kraft – vielleicht sogar sein Leben. Seltsam, daß er so phlegmatisch reagierte ... Doch dann wurde ihm bewußt, daß ihm sein eigenes Schicksal gleich‐ gültig war. Der Ausgang des Duells interessierte ihn nicht – zumindest nicht, soweit es ihn persönlich betraf. Nur dem Kampf selbst schenkte er Beachtung, der Notwendigkeit, diesen Mann zu vernichten. Dafür würde er auch einen Pyrrhus‐Sieg in Kauf nehmen. Doch er mußte siegen – um jeden Preis. Zunächst mußte er Ardath Bey auf den Zahn fühlen. »Wirklich ungewöhnlich, was da im Museum passiert ist«, sagte er im Konversationston. »Ein Wächter wurde getötet, und der Mörder hat ein Geschenk für das Museum zurück‐ gelassen.« Ardath Bey zeigte höfliche Neugier. »Ein Geschenk?« »Eine Schriftrolle«, antwortete Muller. »Ein Teil davon wurde abgeschrieben, als sie zum erstenmal aufgetaucht war ‐ vor elf Jahren.« Er stand auf und zog Nortons Ab‐ schrift aus der Tasche seines Jacketts. »Sir Joseph dachte, Sie würden sich dafür interessieren – da Sie sich doch of‐ fenbar sehr intensiv mit ägyptischen Altertümern beschäf‐ tigen.« Ardath Bey warf nur einen flüchtigen Blick auf den Papy‐ rus. 62
»Leider bin ich nicht in der Lage, eine Schrift zu lesen, die aus einer so frühen Epoche stammt.« Bevor Muller antworten konnte, sagte Whemple: »Frank hat mir erzählt, Sie hätten Ankhesenamens Emblem auf ei‐ ner Tonscherbe entziffert. Deshalb hätten Sie gewußt, wo mein Sohn graben sollte.« »Ganz recht. Aber ich muß Sie wohl nicht daran erinnern, daß Ankhesenamen der achtzehnten Dynastie angehörte, während dies prädynastische Ideogramme sind.« »Die Schriftrolle, die ein verstorbener junger Wissenschaft‐ ler zum Teil kopiert hat, wurde vor elf Jahren gestohlen«, erklärte Muller, »zusammen mit der Mumie des Hohenp‐ riesters Imhotep. Sie haben sicher schonvon ihm gehört.« »Ja, das wäre möglich«, erwiderte der Ägypter langsam und sah zu Whemple hinüber. »Das alles scheint sehr inter‐ essant zu sein. Darf ich die Schriftrolle sehen?« »Wir haben sie im Museum zurückgelassen«, sagte Muller. »Ah« »Sir Joseph und ich dachten, sie sei zu wertvoll, um sie mit hierher zu nehmen. Im Museum wird sie ständig bewacht, rund um die Uhr. Vielleicht möchten Sie sie morgen se‐ hen?« Ardath Bey schwieg. »Aber dies hier dürfte Sie ebenfalls interessieren«, fuhr Muller fort. Er zog die Fotografie aus der Tasche, die Nor‐ ton von der Mumie gemacht hatte, nachdem die Kopfban‐ dagen entfernt worden waren. Die Aufnahme zeigte die grotesk verzerrten Züge des Priesters und eine dunkle Fläche hinter dem Kopf, das ge‐ 63
trocknete Holz des Mumiensarges. Archäologische Werk‐ zeuge, die in einer Ecke der kleinen Hütte lagen, bildeten den Hintergrund. Der Ägypter betrachtete die Fotografie nur wenige Sekun‐ den lang, dann gab er sie Muller zurück. »Warum haben Sie mir das gezeigt?« »Die Leiche war nicht einbalsamiert. Das unversehrte Ge‐ hirn befand sich immer noch im Schädel. Es würde uns interessieren, ob Sie schon auf ähnliche Fälle gestoßen sind.« »Ja«, sagte Ardath Bey. »Gelegentlich.« »Dieser Mann wurde bei lebendigem Leib begraben – als Strafe für einen Frevel, den er begangen hatte. Er hatte ver‐ sucht, Tote zum Leben zu erwecken, Ardath Bey.« »Ja, so etwas ist manchmal vorgekommen.« »Er versuchte, mit Hilfe dieser Schriftrolle, mit den Worten des Weisheitsgottes Thot, die Königin Ankhesenamen aus der Welt der Toten zurückzuholen. Aber es gelang ihm nicht.« »Natürlich nicht.« Nur zwei Worte, aber voll Emphase ausgesprochen ... Muller spürte, daß er auf dem richtigen Weg war. »Und für diese Freveltat hätte er nach der ägyptischen Re‐ ligion bis in alle Ewigkeit leiden müssen.« »Bis in alle Ewigkeit«, sagte Ardath Bey leise. »Glauben Sie an die Macht des Thot?« »Glauben Sie daran?« »Ja. Ich glaube, daß es möglich ist, Körper und Seele wieder miteinander zu vereinen. Wenn ich auch befürchte, daß ei‐ 64
ne solche neue Verschmelzung ein gräßliches, monströses Wesen hervorbringen würde. Es wäre niemals dieselbe Ankhesenamen, niemals die Frau, die sie in ihrem ersten Leben gewesen war.« Ardath Bey hatte am ganzen Körper zu zittern begonnen. Als er sprach, klang seine Stimme schwach und müde. »Doch dieses Wesen wäre ihr ähnlich genug – ähnlicher als dieses Bündel trockenen Fleisches, das im Museum liegt. Davon bin ich überzeugt.« »Doch ohne die Schriftrolle könnte die Wiedergeburt nicht stattfinden«, sagte Muller ruhig. »Also hat nur der die Macht, Tote zu erwecken, der auch jenen Papyrus besitzt.« »Es gibt auch noch andere Mächte«, sagte Ardath Bey, ver‐ neigte sich tief und verließ den Raum. Frank parkte seinen Wagen vor der vornehmen Fassade des Semiramis Hotel und schaltete den Motor aus. Helen hatte während der Fahrt geschwiegen, offenbar tief in Gedanken versunken. Sie war ein verwirrendes Mäd‐ chen, entweder in Hochstimmung oder auf dem seelischen Nullpunkt. Ihre Gefühlswelt war offenbar niemals ausgeg‐ lichen. Frank begann zu begreifen, daß sie mit Recht gesagt hatte, er wüßte nichts von ihr. Aber das Wenige, das er wußte, faszinierte ihn, weckte den Wunsch in ihm, mehr zu erfah‐ ren. Warum zum Beispiel hatte sich ihre Stimmung so sehr ver‐ ändert, nachdem er sie allein gelassen hatte, um mit Muller und seinem Vater zu sprechen? Sie war wie ausgewechselt
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gewesen, als er zurückgekommen war und sie in der Ge‐ sellschaft Ardath Beys vorgefunden hatte. Welche Helen Grosvenor war nun die echte, die wirkliche? Das kokette, lachende Mädchen, das er auf dem Sofa ge‐ küßt hatte? Oder diese hochmütige, in sich gekehrte Helen, die nun neben ihm im Wagen saß? Er wandte sich ihr zu, entschlossen, diese Frage zur Spra‐ che zu bringen. Aber zu seiner Überraschung ergriff sie als erste das Wort. Und was sie sagte, erstaunte ihn noch mehr, ebenso ihre plötzliche Lebhaftigkeit. »Weißt du, was ich jetzt am liebsten tun würde, Frank? Ich möchte die ganze Nacht hier sitzen und nur einfach reden und zusehen, wie der Nil die Farbe wechselt. Erst schim‐ mert er tiefschwarz, dann geht er in verschiedene Schattie‐ rungen von Grau über, und schließlich leuchtet er grün‐ blau.« »Ich bleibe gern hier mit dir sitzen«, sagte er. »Dir zuliebe schlage ich mir gern die Nacht um die Ohren.« »Das weiß ich.« Sie lachte, und es entzückte ihn, sie wieder lachen zu hören. Plötzlich streckte sie die Hand aus und berührte sanft seine Wange. »Sag jetzt nichts, Frank. Tu auch nichts. In diesem Augen‐ blick will ich nicht geküßt werden.« Sie zögerte, und er öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Doch sie legte ihren Zeigefinger auf seine Lippen. »Ich danke dir, Frank.« »Darf ich jetzt etwas sagen?« 66
»Nur einen Satz.« »Wofür dankst du mir?« »Für deine Freundschaft. Ich kann dir gar nicht sagen, wie wichtig es für mich ist, einen Freund zu haben. Einen Freund brauch ich viel dringender als einen Liebhaber. Hör auf zu schmollen! Bitte! Ich habe ja gar nicht behauptet, daß Freund und Liebhaber einander für alle Zeiten ausschlie‐ ßen. Aber ich möchte dich bitten, Frank ... Gib dich zu‐ nächst mit meiner Freundschaft zufrieden.« »Ich verstehe das nicht.« »Was verstehst du nicht?« »Dein Verhalten. Du wolltest im Haus meines Vaters blei‐ ben. Bei diesem Ägypter. Deine Stimmung wechselt alle fünf Minuten.« »Ich habe dir doch schon erzählt, daß ich an seltsamen Launen leide. Und jetzt werde ich dir noch etwas sagen. Ich möchte diesen Mann nie mehr wiedersehen.« »Aber du hast ihm doch gesagt, daß du ihn wiedersehen willst, Helen,« stieß er hervor. »Ich habe es gehört.« »Es ist mir egal, was du glaubst, Frank.« Ein leichter Schauer lief über ihren Rücken. Aber er wußte nicht, warum sie erschauerte, er konnte es nicht einmal erahnen. »Entweder, du akzeptierst mich so, wie ich bin ‐oder du akzeptierst mich nicht«, sagte sie. Sie stieg aus dem Wagen, und er sah ihr nach, als sie ins Hotel ging. Frank hatte leise vor sich hin gepfiffen, als er nach Hause gekommen und zu Bett gegangen war. 67
Whemple verstand nicht, warum sein Sohn so fröhlich war. Was für einen Grund hatte er, so unbeschwert zu pfeifen? Das war doch völlig absurd. Am liebsten hätte Sir Joseph darüber gelacht. Aber er hatte zu große Angst, um zu la‐ chen. Er öffnete den Wandsafe in seinem Arbeitszimmer, nahm den Papyrus heraus, begann ihn auseinanderzurollen, doch dann legte er ihn hastig beiseite. In seinen Schläfen pochte es – immer stärker. Auch davor fürchtete er sich. Zwar war es lächerlich, sich vor Kopf‐ schmerzen zu fürchten, aber die Angst war ihm zur Ge‐ wohnheit geworden. Angst und Unvernunft. Die Unvernunft hatte ihn in ihrer Gewalt, und er war wie ein Kind in einem dunklen Haus, schreiend, den Licht‐ schalter nur wenige Zoll von seiner zitternden Hand ent‐ fernt... Er wußte, daß es auch in seinem Gehirn irgendwo einen Lichtschalter gab ‐nicht weit weg – zum Greifen na‐ he. Wenn er diesen Schalter erreichen könnte, wenn das Licht des Verstandes seinen Geist durchflutete, dann wür‐ de die Angst schwinden, sich in bedeutungsloses Nichts auflösen. Dann würde er befreit lachen können. Dann brauchte er keine Angst mehr zu haben vor seinem eigenen Gelächter, denn es würde ganz anders klingen als damals das Lachen des jungen Norton. Plötzlich ließ der pochende Schmerz in seinem Kopf ein wenig nach, und durch ein kleines Loch in den Schmerz‐ wellen sah er den Lichtschalter, der die Macht hatte, die ungewohnten Schatten in seinem Gehirn zu zerstreuen. 68
Ein Feuer würde Licht in das Dunkel bringen. Er brauchte nichts weiter zu tun, als den Papyrus zu verbrennen. Muller hatte ihn heute abend angefleht, die Schriftrolle zu verbrennen. Doch Whemple hatte entgegnet, sie gehöre nicht ihm, sondern dem Museum für ägyptische Altertü‐ mer. Es wäre nicht richtig und sogar ungesetzlich, sie zu zerstören. Muller hatte nicht eingesehen, wie stichhaltig dieses Ar‐ gument war, und hatte sich schrecklich aufgeregt. Bald danach hatte sie Stimmen im Salon gehört ‐Ardath Beys Stimme. Muller hatte darauf bestanden, daß Whemple den Safe öffnete und die Schriftrolle darin deponierte. Und Whemple hatte diesem Wunsch entsprochen und Nortons Abschrift und die Fotografie aus dem Safe genommen. Wie lange war es her, daß dies alles geschehen war? Elf Jahre. Damals war Frank noch ein Schuljunge gewesen. Whemple preßte die Hände an die Schläfen. Elf Jahre lang war eine Lüge die Gefangene seines Verstandes gewesen, und schließlich hatte der Gefängniswärter alle Autorität verloren, hatte die Lüge freigelassen. Da war es doch nur natürlich, daß sie sich nun gegen ihn wandte und ihn ang‐ riff. Der Schmerz hatte sich ausgebreitet, war bis in seine Brust hinuntergekrochen, hatte sich wie eine Bleikugel unter sei‐ nem Herzen festgesetzt. Whemple biß sich vor Qual auf die Lippen, als seine Hand nach dem Kaminsims tastete, wo er eine Schachtel Streich‐ hölzer aufbewahrte. Der Schmerz ebbte auch nicht ab, als er vor dem offenen Kamin niederkniete, die Schriftrolle 69
zwischen den bebenden Fingern. Seltsam, daß der Schmerz jetzt nicht nachließ... Nur mit Mühe gelang es ihm, die Streichholzschachtel zu öffnen, ein Hölzchen herauszunehmen. Es lag wohl am Al‐ ter, daß es ihm so schwerfiel, eine simple Aufgabe zu erfül‐ len – ein Streichholz zu umfassen. Es war, als würde er ver‐ suchen, einen mikroskopisch kleinen Splitter mit einer Zange aufzuheben. Er hatte nicht einmal genügend Kraft, das Streichholz anzuzünden. Aber Geduld war doch immer seine größte Stärke gewesen. Er würde es schaffen – er mußte es schaffen – und wenn es die ganze Nacht dauerte... Ein plötzlicher, krampfartiger Schmerz brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Er streckte den Arm aus, um den Sturz abzubremsen, warf die Schriftrolle in den Kamin. Aber dann konnte er sich nicht mehr erinnern, was das für ein Papyrus war oder warum er sich vor den Feuerrost gekniet hatte, mit einer Streichholzschachtel in der Hand. Da war doch etwas gewesen, was er tun wollte ‐etwas sehr Wichtiges ... Luft... Er brauchte dringend frische Luft zum Atmen. Der Schmerz schien seine Brust entzweizureißen, als er sich aufrappelte. Die eine Hand klammerte sich am Kaminsims fest, die andere verstreute die Streichhölzer auf den Tep‐ pich. Eine hundert Meilen breite luftlose Wüste schien zwischen ihm und dem Fenster zu liegen. Und noch während er an seinem Kragen zerrte, um sich Erleichterung zu verschaf‐ fen, wußte er schon, daß alle Mühe vergeblich war. 70
4. Frank Whemple wußte, daß er entsetzt und traurig sein müßte. Aber alles, was er fühlte, war Schuldbewußtsein, weil ihn weder Entsetzen noch Kummer erfüllten – nur un‐ gläubiges Staunen. Es war alles so unwirklich – genauso unwirklich wie das plötzliche Auftauchen dieser Schriftrolle und des merk‐ würdigen Ägypters. Was hatte das alles zu bedeuten? War nun auch sein Verstand in Gefahr? Würde er bald genau wie Helen Bewußtseinslücken haben? Helen hatte gestern abend von einem Traum gesprochen, der mit der Wirklichkeit verschmolzen war – so vollkom‐ men, daß die Trennlinie zwischen Traum und Realität nicht nur verschwommen, sondern unsichtbar und belanglos geworden war. Jetzt verstand er, was ihm gestern noch un‐ klar gewesen war. Jetzt wußte er, was sie gemeint hatte. Er ertappte sich immer wieder dabei, daß er auf die Tür starrte, als müsse sein Vater jeden Augenblick hereinkom‐ men. Aber sein Vater war tot. Ein Krankenwagen hatte ihn ins Leichenschauhaus gebracht, wo ein Pathologe eine Au‐ topsie vornahm, um die Todesursache festzustellen. Aber Dr. Briggs hatte ihm bereits gesagt, woran sein Vater gestorben war – an akutem Herzversagen. Fünfzig Jahre – das war ein gefährliches Alter. Das Herz eines Fünfzigjäh‐ rigen konnte ganz plötzlich zu schlagen aufhören – ohne Vorwarnung. Dr. Muller hatte zustimmend genickt, wenn auch mit gewissem Zögern, wie Frank festgestellt hatte. Und jetzt wühlte Muller in der Asche herum, die im Kamin des Arbeitszimmers lag. Seltsam ‐warum tat er das? Muller 71
sollte doch eigentlich versuchen, ihn zu trösten. Zumindest wäre das seine Pflicht. »Eine Zeitung«, sagte Muller. »Wie, bitte?« »Das ist eine verkohlte Zeitung. Aber die Schriftrolle ist aus Papyrus.« Muller hatte ein Taschenmikroskop hervorgezo‐ gen und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen die schwarzen Fragmente, die er aus dem Kamin geholt hatte. »Die ,Gazette Egyptien’, um genau zu sein. Ist Ihnen heute morgen etwas Ungewöhnliches aufgefallen?« »Ja«, sagte Frank. »Mein Vater lag tot auf dem Boden.« »Zum Teufel mit Ihrem schwarzen Humor!« Frank akzeptierte den Tadel mit einem Schulterzucken. »Wo ist die Schriftrolle?« fragte Muller. »Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich im Safe.« »Wollen wir nachsehen?« Es dauerte lange, bis sie den Schlüssel gefunden hatten. Zuerst dachten sie, er könnte immer noch in Sir Josephs Ta‐ sche stecken und daß sie zum Leichenschauhaus fahren müßten, um ihn zu holen. Aber dann fand ihn Frank unter einem Papierstoß in der Schreibtischschublade. Keiner der beiden Männer war überrascht, als sich herausstellte, daß die Schriftrolle nicht im Safe lag. Muller begann das Arbeitszimmer zu durchsu‐ chen, doch er gab es bald auf, da er ohnehin wußte, daß er nichts finden würde. »Ardath Bey hat die Schriftrolle«, sagte er. »Aber wie ist sie in seine Hände gelangt?« »Vielleicht hat der Nubier sie gestohlen – Selim.« 72
»Wo ist er?« »Das weiß ich nicht. Er war heute morgen nicht hier. Er stand schon seit Jahren in den Diensten meines Vaters. Ich nehme an, daß er Dad gefunden hat und vor Angst und Entsetzen davongelaufen ist. Er wird sicher bald wieder‐ kommen.« Muller blickte nachdenklich vor sich hin. »Das alte Blut«, sagte er. »Hören Sie, Dr. Muller, ich verstehe das alles nicht. Warum ist denn diese Schriftrolle so verdammt wichtig, und war‐ um sollte Ardath Bey sie an sich genommen haben? Was will er denn damit anfangen?« Statt zu antworten, zog Muller einen kleinen Gegenstand aus seiner Brusttasche. Ein Amulett, das an einer feinen sil‐ bernen Kette hing. Frank erkannte sofort die Crux Ansata, das Lebenssymbol des alten ägyptischen Glaubens, das seinem Träger angeb‐ lich die Kraft gibt, das Böse abzuwehren. Er nahm das Amulett aus Mullers Hand und sah, daß eine Figurine der Isis das Kreuz umklammerte. »Das wollte ich Ihrem Vater geben«, sagte Muller. »Nun möchte ich Sie bitten, es zu tragen.« »Dr. Muller, ich möchte Sie nicht kränken, aber ich bin nicht abergläubisch. Meines Wissens hat so ein Ding keine andere Macht, als im Ernstfall eine Kugel abprallen zu las‐ sen. Und ich bezweifle, daß man auf mich schießen wird.« »Tragen Sie das Amulett trotzdem – mir zuliebe.« »Warum kein Kruzifix? Dazu könnte ich mich noch eher durchringen.« 73
Muller schüttelte mit einem geduldigen Lächeln den Kopf. »Ein Kruzifix würde in diesem Fall nichts nützen.« Helen fütterte Wolfram gerade mit kleinen Häppchen von ihrem Frühstückstablett, als das Telefon läutete. Automatisch zog sie das Neglige enger um die Schultern, um etwas präsentabler auszusehen, bevor sie den Hörer abhob, dann lächelte sie dem schwarzen Schäferhund zu, der sich nun selbst die Reste von dem Tablett holte. »Du Opportunist!« schimpfte sie. Nach einer Nacht voller harmloser Träume war sie in aus‐ gelassener Stimmung. Sie erinnerte sich nur an einen einzi‐ gen dieser Träume, der sie in die Zeit des Mittelalters ver‐ setzt hatte. Frank war ein Ritter gewesen, hatte ein rotes Kreuz über seiner Rüstung getragen und ihr die Hand ge‐ küßt. Offenbar hatte er sich von ihr verabschieden wollen, bevor er zu einem Kreuzzug aufbrach. Sie wußte genau, daß es Frank Whemple gewesen war, obwohl der Ritter ihres Traums einen dichten Vollbart ge‐ tragen hatte. Sie wußte es, weil der Mann dem Bild ent‐ sprochen hatte, daß sie sich von Frank machte. Jetzt war er ihr schon zum zweitenmal im Traum erschie‐ nen. Das war sehr schmeichelhaft für Frank und überra‐ schend für sie selbst. Normalerweise dauerte es viel länger, bis es einem jungen Mann gelang, einen so tiefen, nachhal‐ tigen Eindruck auf sie zu machen. Aber Frank war eben ein Opportunist, genau wie Wolfram, allerdings, ohne es zu wissen. Sie sehnte sich verzweifelt nach einem jungenhaften, geistreichen Mann, nach un‐ komplizierter Gesellschaft, nach einem Menschen, der ihr 74
half, die beängstigend surreale Welt zu bekämpfen, in der sie seit einigen Tagen lebte. Frank war genau der Mann, den sie jetzt brauchte. Sie konnte sich an ihn anlehnen, an seiner inneren Kraft parti‐ zipieren, sich sicher fühlen in dem Bewußtsein, daß die Forderungen, die er an sie stellte, minimal und leicht zu er‐ füllen sein würden. Helen verglich ihn im Geist mit Ardath Bey, der sie unwi‐ derstehlich in seinen Bann zog, sie betörte und faszinierte – so wie Schlangen verschreckte Kaninchen faszinieren. Ar‐ dath Bey war wie die beiden Pole eines Magneten – anzie‐ hend und abstoßend zugleich. Und Helens Reaktion auf die Begegnung mit dem Ägypter war ebenso unklar und zwiespältig. Sie erkannte Franks Stimme sofort und wollte einen kleinen telefonischen Flirt mit ihm beginnen, doch sein ernster Ton‐ fall hielt sie davon ab. Helen hörte ihn sagen, daß sein Vater gestorben wäre, und dann war es still am anderen Ende der Leitung, als er auf ihre Antwort wartete. Aber sie hatte nichts zu sagen. Das Schweigen zog sich unbehaglich in die Länge, bis sie schließlich erwiderte: »Dazu kann ich nichts sagen, Frank. Ich finde keine Worte, die nicht banal und abgedroschen klingen würden. Weißt du – woran er gestorben ist?« Seine Stimme drang abgehackt durch den Draht. Die Ver‐ bindung war sehr schlecht. »An akutem Herzversagen. Dr. Muller ist bei mir.« Er machte eine Pause, und dann fragte er: »Helen, würde es dir etwas ausmachen, wenn wir zu dir kämen?« 75
Sie fand seine Bitte ziemlich seltsam. Er mußte doch das Begräbnis vorbereiten, alle Freunde und Bekannten ver‐ ständigen. Und außerdem war die Trauer um einen gelieb‐ ten Toten doch etwas sehr Privates. Wenn ein Hinterblie‐ bener diese Trauer teilte, dann doch nur mit nahestehenden Menschen nicht mit Fremden. Helen begann sich Sorgen zu machen. Sie war nicht dazu bereit, die Stütze zusein, an der er jetzt Halt finden konnte. Sie war es doch, die Unterstüt‐ zung und Hilfe brauchte. Und sie wußte auch gar nicht, was er von ihr erwartete, welchen Trost sie ihm geben konnte. »Nein, natürlich nicht«, sagte sie zögernd ins Telefon. »Ich wollte ohnehin nicht ausgehen. Ich werde hier auf euch warten.« Im Hintergrund sagte Dr. Mullers Stimme etwas, das sie nicht verstehen konnte. Und dann war wieder Franks Stimme zu hören. »Helen, Dr. Muller bittet dich, auf alle Fälle im Hotel zu bleiben. Du darfst das Zimmer unter keinen Umständen verlassen. Wir sind in etwa zwanzig Minuten bei dir. Warte noch einen Augenblick!« Wieder hörte sie ein undeutliches Gemurmel im Hinter‐ grund, dann fragte Frank: »Helen, bist du noch da?« »Ja. Bitte, Frank, hol doch Dr. Muller an den Apparat.« Eine Sekunde später meldete sich der Doktor: »Helen, bitte, versprechen Sie, daß Sie auf uns warten werden.« »Was ist denn eigentlich los? Sie...« »Ich möchte, daß Sie mir Ihr Wort geben, Helen.« »Also gut, ich verspreche hoch
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und heilig, daß ich hierbleiben werde. Aber ...« Es klickte, und dann war die Leitung tot. Die Fahrt zum Hotel Semiramis dauerte über eine halbe Stunde. Der Verkehr auf der Shari’a el Koubri war uner‐ wartet dicht gewesen, und eine lange Autoschlange wartete vor dem Grand Pont de Kasren‐Nil und blockierte die Stra‐ ßenecke der Midan el Hami. Wenn Frank sich aus dem Wagenfenster beugte, konnte er bereits das Dach des Semiramis sehen, aber es würde noch mindestens fünf Minuten dauern, bis sie dort ankamen. Er war ungeduldig, aber aus anderen Gründen als Muller. Er war ungeduldig, weil er Verkehrsstauungen haßte und weil er Helen Grosvenor bei Tageslicht und in einer ande‐ ren Umgebung sehen wollte. Er wollte wissen, ob er sich heute, am Morgen eines neuen Tages noch genauso zu ihr hingezogen fühlen würde wie am vergangenen Abend. Er sah zu Muller hinüber, der nervös seine Uhr aufzog. »Ich weiß noch immer nicht, wovor Sie Angst haben«, sagte Frank. »Sie hat mir gestern abend gesagt, daß sie ihn nicht wiedersehen will.« »Aber Sie haben die beiden doch gesehen, als sie zusam‐ men waren.« »Ja – und? Was soll er denn schon tun? Glauben Sie, daß er Helen entführen wird?« »Können Sie nicht auf dem Gehsteig fahren?« fragte Mul‐ ler. Als sie endlich die Hotelhalle erreicht hatten, weigerte sich Muller, auf den Lift zu warten, obwohl der Aufstieg über die Treppe qualvoll lange dauerte ‐eine halbe Ewigkeit. 77
Helens Zimmer lag im dritten Stock. Als sie klopften, er‐ hielten sie keine Antwort, aber sie hörten einen Hund auf der anderen Seite der Tür winseln. »Das ist Wolfram«, sag‐ te Muller. »Ein Polizeihund, der fast so schwer ist wie Sie, Frank.« Er begann mit der Faust gegen die Tür zu hämmern, dann nahm er seinen Stock zu Hilfe. Der Hund winselte noch lauter. Einen Augenblick später sprang Frank die Treppe hinab, um sich einen Zimmerschlüssel geben zu lassen, nahm immer zwei Stufen auf einmal. Nervenaufreibende Minu‐ ten verstrichen, während der Portier den Empfangschef suchte, während dieser sich von Franks Vertrauenswür‐ digkeit überzeugte. Der junge Mann war in Schweiß gebadet, als er zum zwei‐ tenmal vor Helens Tür stand, und Muller war nahe daran, in Panik zu geraten. Frank sperrte die Tür auf. Der Hund legte seine großen Pfoten spielerisch auf Mullers Schultern und wedelte mit dem Schwanz. Wolfram war unverletzt, und auch sonst wies nichts darauf hin, daß ein Kampf im Zimmer stattge‐ funden hatte. Dafür verrieten mehrere Anzeichen, daß He‐ len überstürzt aufgebrochen war. Ihr Nachthemd und ihr Neglige lagen auf dem Teppich. Auf dem Frühstückstablett war eine Tasse umgefallen, aber die konnte auch der Hund umgestoßen haben. Frank drehte sich zu Muller um. »Was halten Sie davon?«
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»Niemand war hier außer Helen. Ich frage mich nur, war‐ um sie den Hund nicht mitgenommen hat, wenn sie schon unbedingt ausgehen mußte.« »Sie sagte doch, daß sie auf uns warten würde.« Muller nickte. »Ich weiß, was sie gesagt hat. Aber manch‐ mal weiß Helen leider nicht, was sie tut. Zum Beispiel ge‐ stern abend, als sie versuchte, ins Museum zu gelangen – das war durchaus nicht ungewöhnlich.« »Ich weiß. Sie hat es mir erzählt. Aber das spielt für mich keine Rolle.« Muller klopfte dem jungen Mann auf die Schulter. »Es freut mich sehr, daß Sie so denken. Helen braucht einen Freund, der aus Ihrem Holz geschnitzt ist, Frank. Deshalb möchte ich auch, daß Sie das Amulett tragen, mag es Ihnen noch so lächerlich vorkommen. Machen Sie Ihre Witze darüber, la‐ chen Sie mich aus, machen Sie, was Sie wollen – aber ich flehe Sie an, tragen Sie es! Tag und Nacht! Bitte! Tun Sie doch einem armen alten Narren diesen Gefallen.« »Warum?« »Sie würden mir nicht glauben, wenn ich es Ihnen sagte. Ihr Vater hat mir auch nicht geglaubt. Und Sie sind der Sohn Ihres Vaters.« »Stellen Sie mich doch auf die Probe!« Muller schüttelte den Kopf. »Ich bin mir selbst nicht ganz sicher. Doch wir haben jetzt keine Zeit, um darüber zu diskutieren. Wir müssen Helen finden. Gestern abend fuhr sie zum Museum, deshalb soll‐ ten wir dort zuerst unser Glück versuchen.«
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Der Verkehr war nicht mehr so dicht, als sie zum Museum fuhren. Muller schien jetzt ruhiger zu sein, war aber nicht sehr gesprächig. Auf Franks Fragen gab er nur einsilbige Antworten. Erst als der junge Mann den Wagen vor der Museumstrep‐ pe geparkt hatte, begann Muller zu sprechen. »Vielleicht werden Sie das, was ich Ihnen jetzt sage, für wi‐ dersprüchlich halten Frank. Ich habe schon einmal gesagt, daß Helen Sie braucht, und ich wiederhole es jetzt. Aber zu Ihrem Besten und weil ich es Ihrem verstorbenen Vater schuldig bin, muß ich Sie warnen.« Er machte eine Pause, als müsse er erst nach den richtigen Worten suchen, dann sprach er zögernd weiter. »Sie dürfen sich nicht allzusehr in Helen verlieben. Es könnte gefährlich werden.« »Das akzeptiere ich nicht. Sie sprechen wie ein übertrieben fürsorglicher Vormund, der voller Vorurteile steckt – nicht wie ein sachlicher Arzt, der das Wohl seiner Patientin im Auge hat. Aber Sie dürfen nicht vergessen, daß Helen schon über einundzwanzig ist.« »Ich spreche weder als Helens Arzt noch als ihr Aufpas‐ ser«, entgegnete Muller. »Ich meinte auch nicht, daß eine engere Bindung zwischen Ihnen beiden für das Mädchen gefährlich werden könnte. Sie sind es, der in Gefahr ist, mein Junge. Wenn Sie Helen zu nahe treten, wird Ardath Bey Sie ebenso vernichten, wie er Ihren Vater vernichtet hat.« Frank starrte ihn entgeistert an. »Aber Dad hatte doch einen Herzanfall.« 80
»Diese Todesursache würde man auch bei Ihnen feststel‐ len«, sagte Muller und öffnete die Wagentür. Sie ließ Wolfram im Zimmer zurück, weil es ihr unpassend erschien, den Hund mitzunehmen. Eine Weile blieb sie auf dem Korridor stehen und lauschte voller Mitleid auf das traurige Winseln des Hundes, das durch die geschlossene Tür drang. Dann wandte sie sich abrupt ab und ging zum Lift. Vor dem Hotel blickte sie sich nach allen Seiten um, dann schlug sie die Richtung zum Nil ein. Eine Zeitlang folgte sie dem Uferweg, dann bog sie in eine Straße, die sie zurück ins Zentrum der Stadt führte. Die meisten Straßen waren ihr vertraut, aber einige der schmalen, orientalisch wirkenden Seitengassen kannte sie nicht. Diese Gassen verbanden die modernen breiten Straßen von europä‐ ischem Gepräge. Helen ging durch diese Gassen und Stra‐ ßen, benutzte Abkürzungen. Und wo immer sie auch ging, sie schien ein bestimmtes Ziel anzusteuern, eine direkte Route zu wählen, als würde ihr ein animalischer Orientie‐ rungssinn, der ihr bisher unbekannt gewesen war, die Rich‐ tung weisen. Sie ging sehr lange dahin und achtete nicht auf die Zeit. Die Zeit, nach Sekunden, Minuten und Stunden gemessen, war bedeutungslos geworden. Nur das Ziel, dem sie zustrebte, war wichtig. Irgendwann stieg sie eine steinerne Treppe hinauf, an de‐ ren Ende eine schwere bronzene Doppeltür wartete. Sie nahm an, daß die Türen verschlossen waren, aber sie ließen sich öffnen und führten in eine gruftartige Halle. Als Helen 81
über den Marmorboden ging, hallten ihre Schritte von den Wänden wider. Sie zögerte nur kurz, dann stieg sie eine weitere Treppe hi‐ nauf, die zu mehreren Galerien führte. Die Galerie, die sie suchte, war mit Ä 18 gekennzeichnet und lag im Südflügel des Gebäudes, hinter der Galerie Ä 19. Die Galerien waren in umgekehrter chronologischer Rei‐ henfolge angeordnet, und Helen mußte ein »Ramses I‐ Zimmer« durchqueren, um in die Räume zu gelangen, in denen Ausstellungsstücke aus dem Zeitalter der achtzehn‐ ten Dynastie in Glaskästen lagen. Für die Grabausstattung Ankhesenamens war eine ganze Galerie reserviert, die als Ä 18‐a bezeichnet war. Die Mu‐ mie in ihrem gläsernen Kasten lag am anderen Ende des Raumes und zog sofort Helens Aufmerksamkeit auf sich. Doch als sie vor dem Glaskasten stand, empfand sie nichts – nicht einmal Zorn, weil man die Juwelen der Mumie ge‐ raubt und sie aus ihrem Sarg gehoben hatte. Damit hatte sie gerechnet. Es gab keine Möglichkeit, die Grabräuber von den unterirdischen Gewölben fernzuhalten. Man nahm ih‐ nen die Eingeweide aus, zwang sie, ihre eigenen Gedärme zu essen oder kochte sie bei lebendigem Leib in Teer. Trotzdem drangen die Räuber immer wieder in die Gräber ein. Die Beute war zu verlockend. Jetzt, wo Ankhesenamens Mumie ihrer Reichtümer beraubt war, besaß sie keine Anziehungskraft mehr. Sie war eine schmucklose Hülle und hätte genausogut die Mumie einer Sklavin sein können.
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Helen ging zurück durch die Galerie. Und dabei fiel ihr Blick auf die Kästen, die zu beiden Seiten des Ganges auf‐ gestellt waren. Besonders der Inhalt des einen Kastens ließ ihr Herz höher schlagen. Denn darin lag die Krone, die Ankhesenamen als Gemahlin Tutenchamons getragen hatte – und auch später als Ays Frau. Die Krone sah aus wie ers‐ tarrtes Spinnengewebe, wie das Netzwerk einer Spinne, de‐ ren Drüsen Gold produziert hatten statt eines farblosen Sekrets. Die Krone bestand ganz aus goldener Filigranar‐ beit, und hineingewoben waren Zweige wilder Blüten, Sommer‐ und Winterblumen, die unsterbliche Schönheit symbolisierten. Man konnte die Krone den ganzen Tag lang tragen, weil sie so leicht wie ein Leinenhut war, und ihr Anblick trieb Helen die Tränen in die Augen. Schlangenarmbänder umgaben die Krone, wie um sie zu bewachen – so wie einst Kobras den königlichen Schatz von Theben bewacht hatten. Helen entdeckte noch andere Kästen, die Ringe und An‐ hänger enthielten, die Parfumflasche aus gemeißeltem Ala‐ baster, mit Gold und Elfenbein verziert, die goldene To‐ tenmaske mit der Uräusschlange und den Isis‐Anhänger, der ganz für sich in einem Kästchen lag. Das Grab war also nicht geplündert worden. Die Gegens‐ tände waren unversehrt, aber man hatte sie neu arrangiert, um sie hier auszustellen. Warum? Sie konnte das nicht verstehen. Das waren doch Ankhesenamens Sachen, für sie allein bestimmt, zu ihrem ureigensten Gebrauch im Leben und nach dem Tod. War‐
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um wurden die Sachen hier zur Schau gestellt? Noch dazu in offenen Kästen? Sie streckte die Hand nach einem Kästchen aus, das ihre Kosmetika enthielt, ihre Parfüms, die Schale, in der man die verschiedensten Mixturen herstellen konnte, der winzi‐ ge, juwelengeschmückte Salbentiegel, ein Geschenk ihres Vaters Echnaton, den runden Spiegel aus polierter Bronze mit dem geschnitzten Griff, der die Form der Göttin Isis hatte. Hastig zog sie die Hand zurück, als hätte sie sich ver‐ brannt. Irgend etwas war ihr im Weg. Sie konnte den Spie‐ gel sehen, sogar ihr eigenes Gesicht darin. Aber als sie die Finger ausstreckte, um danach zu greifen, stießen ihre Fin‐ ger gegen eine glatte, kühle, unsichtbare Wand. Dann lächelte sie über ihre eigene Dummheit. Das war na‐ türlich Glas. Der Spiegel lag in einem Schränkchen, dessen Vorderwand aus Glas war, so sauber gewischt, daß sie un‐ sichtbar war, daß sie gar nicht vorhanden zu sein schien. Obwohl sie tief in Gedanken versunken war, erschreckte seine Stimme sie nicht. Sie hatte erwartet, ihn hier anzutref‐ fen, hatte ebenso erwartet, daß er ihr in seiner sonderbaren altmodischen Art Komplimente machen würde. »Nun dient der Spiegel wieder der Schönheit«, sagte er. Sie wandte sich zu ihm um, mit einem scheuen Lächeln, das ihr in dieser Situation angemessen erschien. »Der Spiegel schmeichelt mir«, antwortet sie. »Haben Sie geglaubt, es würde mich überraschen, Sie hier zu sehen?« »Nein.«
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»Nein – dazu sind Sie zu klug.« Sie wies auf die Schaukäs‐ ten. »Warum haben die Leute alle diese Dinge voneinander getrennt?« »Weil sie nichts begreifen«, sagte Ardath Bey. »Sie betrach‐ ten den physischen Tod genauso verständnislos, wie der erste Mensch den Horizont des Meeres sah. Und weil sie nicht auf die andere Seite der Grenze blicken können, neh‐ men sie an, daß sich hinter dem Tod ein großer Abgrund auftut.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber der Tod ist doch gar nicht wichtig — genausowenig wie die Zeit.« »Würde es eine Rolle spielen, wenn ein schöner Körper stirbt und seine Seele in einen häßlichen Körper wandert?« Sie dachte einen Augenblick lang nach. »Es sollte keine Rolle spielen – oder vielleicht doch? Für ei‐ ne Frau könnte es sehr wichtig sein, daß ihre Seele in einem schönen Körper wohnt.« »Und wenn die Liebe so sterblich wäre wie das Fleisch?« »Dann wäre es keine Liebe«, entgegnete sie mit fester Stimme. »Für die Liebe ist der Körper das, was die Hände eines Bildhauers seiner Seele bedeuten. Ein Mittel, um auszudrücken, was sonst unaussprechlich wäre – aber deshalb nicht unwirklicher als das Körperli‐ che.« »Das ist es nicht, was ich hören wollte.« Seine Stimme klang ärgerlich. Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Ich möchte Ihnen einige Dinge zeigen – aber nicht hier. Vielleicht morgen.« 85
»Wo?« »Ich werde Sie finden. Aber Sie müssen Stillschweigen be‐ wahren. Sie dürfen niemandem von unserer Begegnung er‐ zählen. Kann ich Ihnen vertrauen?« »Natürlich«, antwortete sie und wußte genausogut wie er, wie wichtig es war, das Geheimnis zu bewahren. Sie fanden sie, als sie allein in Ankhesenamens Galerie um‐ herwanderte, wie ein verirrtes Kind. »Es tut mir leid«, sagte sie zu Frank. »Ich weiß, ich habe dir versprochen zu warten.« Sie schien überrascht zu sein, als er sie fragte, ob sie die ganze Zeit allein gewesen sei. Und es fiel Muller schwer, mit ihr Schritt zu halten, als sie angewidert aus dem Mu‐ seum lief, mit unwillig gerunzelter Stirn.
5. Frank lud Helen zum Mittagessen ein, und sie war wieder das fröhliche, lächelnde Mädchen, das er am vergangenen Abend liebengelernt hatte. Sie unterhielten sich über triviale Dinge, erzählten sich, was sie mochten und nicht mochten, entdeckten Gemeinsamkeiten, aber auch Diskrepanzen. Zum Beispiel mochten sie beide Musik von Johann Sebastian Bach und nicht durchgebratenes Fleisch, aber ihr gefiel Paris besser als London, und sie verabscheute Kairo, während Frank diese Stadt sehr interessant fand. Er berichtete, wie sein bisheriges Leben verlaufen war, und gab zu, daß er seinen Vater nicht sehr gut gekannt hatte. Er 86
hatte Sir Joseph immer nur während der Schulferien gese‐ hen. Und auch dann nur, wenn er nicht gerade an Expedi‐ tionen teilnahm oder Bücher schrieb. »Jetzt, wo du mir das alles erzählt hast, kann ich erst richtig erfassen, wie tragisch sein Tod ist«, sagte Helen. Danach fanden sie minutenlang kein Gesprächsthema mehr. Das Schweigen wurde peinlich. Schließlich fragte Helen: »Wolltest du aus eigenem Antrieb Archäologe werden? Oder hat dich dein Vater dazu über‐ redet?« »Beides trifft zu. Ich habe mich schon immer mehr für die Vergangenheit interessiert als für die Gegenwart.« »Ich auch. Aber ich bin noch keinem Menschen begegnet, der das zugegeben hat. Die Leute glauben, es sei ein Un‐ recht, die Vergangenheit zu lieben, es sei ein Verrat an der Gegenwart, wenn man sich nicht völlig dem Hier und Heu‐ te verschreibt. Ich finde es wunderbar, endlich einen Men‐ schen zu finden, der meine Liebe zur Vergangenheit teilt. Sie ist irgendwie – realer. Oft habe ich das Gefühl, die Leu‐ te, die heute leben, versuchen nur, ein Original zu kopie‐ ren‐ wenn du verstehst, was ich meine. Sie kommen mir wie Fälscher vor – wie Betrüger. Die Farben, in die wir uns kleiden, sind viel zu bunt, die Materialien nicht authen‐ tisch. Die echte Qualität ist verlorengegangen. Verstehst du, was ich damit sagen will?« Er wußte nicht, was sie meinte. Er jedenfalls hatte etwas viel Simpleres gemeint, ganz einfach, daß die Vergangen‐ heit nicht so wirr war wie die Gegenwart, daß sich in jenen fernen Zeiten noch nicht so viele Menschen auf der Welt 87
gedrängt hatten. Wahrscheinlich empfand er so, weil die Probleme der Geschichtswissenschaft zum Großteil gelöst waren, ihre frühere Kurzsichtigkeit korrigiert worden war durch die klare Linse der Einsicht. Helen vertrat einen eher mystischen Standpunkt. Typisch weiblich. Und sie war nicht nur zufällig der Meinung, die sie da äußerte. Nein, dieses emotionale Verhältnis zur Ver‐ gangenheit war offenbar ein wesentlicher Bestandteil ihres ganzen Seins. Das erkannte er an ihren strahlenden Augen, an den lebhaften Gesten, die ihre Worte begleiteten. Hier gab es keine klare Grenze zwischen Intellekt und Ge‐ fühl. Immer wieder geriet sie ins Stottern, weil die Gedan‐ ken so schnell kamen, daß sie kaum Zeit fand, sie zu for‐ mulieren. Und während Frank zuhörte, fragte er sich, ob dieser Denkprozeß ihrem Charakter zuzuschreiben war, ih‐ rem weiblichen Wesen oder ihrer Krankheit – woran auch immer sie leiden mochte. »Hast du nicht auch manchmal das Gefühl, daß du nicht dazugehörst?« fragte sie. »Es ist wie in diesen gräßlichen Träumen, wenn man nackt auf der Straße steht. Und wenn die Leute einen auch nicht anstarren, so weiß man doch, daß man ein Außenseiter ist, daß man nicht dazugehört. Und man kann nichts dagegen tun.« »Ja, du hast sicher recht«, erwiderte Frank hastig und be‐ mühte sich krampfhaft, das Thema zu wechseln. »Hübsch ist es hier, nicht wahr? Möchtest du noch eine Tasse Kaffee trinken? Ich glaube, in diesem Lokal muß man nur für die erste Tasse bezahlen, und danach kann man trinken, soviel man will... « 88
»Frank, bitte!« unterbrach sie ihn. »Du brauchst mich nicht wie eine Schwachsinnige zu behandeln, der man nicht wi‐ dersprechen darf, weil sie sonst zu toben anfängt. Du kannst mir ruhig sagen, daß du anderer Meinung bist als ich oder daß du nicht weißt, was ich da für dummes Zeug rede. Ich werde ganz bestimmt keinen Schreikrampf be‐ kommen.« Er wußte nicht, was er darauf antworten sollte. Unbehag‐ lich zuckte er mit den Schultern. »Ja, natürlich, ich weiß ... Willst du noch eine Tasse Kaf‐ fee?« »Nein. Ich hatte gehofft, daß du anders bist. Bitte, gib mir nicht das Gefühl, ich könnte mich geirrt haben.« »Versuch es doch noch einmal mit mir.« »Nein. Es ist ja nicht so wichtig.« »Doch. Für dich offenbar schon. Sieh mal, Helen«, log er, »ich weiß ja, was du meinst. Aber ich empfinde das nicht so stark wie du. Ein Mann hat kein so ausgeprägtes Gefühls‐ leben wie eine Frau.« »Detritus.« »Wie, bitte?« »Detritus – das ist der Lieblingsausdruck meines Vaters. Es bedeutet Schutt, Abfall, Unsinn ... Ich weiß noch drastische‐ re Wörter. Willst du sie hören?« »Ich nehme an, diese Wörter sind nicht gerade ladylike.« Sie lachte. »Das ist wiederum ein anderes meiner vielen Probleme. Ich kann schreien und schimpfen wie ein Marktweib. Und dabei benutze ich durchaus zeitgemäße
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Ausdrücke. Aber in Wirklichkeit bin ich ein altmodisches Mädchen.« »Nun hast du mein ungeteiltes Interesse geweckt«, sagte Frank und beugte sich vor. »Sprich doch weiter!« »Ich stecke voller Widersprüche«, warnte sie ihn. »Ich glaube an die Heiligkeit der Liebe. Für mich kommt das Geistige vor dem Physischen. Im Bett pflege ich nur zu schlafen, Frank.« »Woanders schlafe ich auch nicht«, sagte Frank und ärgerte sich, kaum daß er diese Worte ausgesprochen hatte. Das war wirklich eine sehr dumme Bemerkung gewesen. Danach versank er in dumpfes Schweigen, und er bedauer‐ te es nicht, als Helen ihn bat, sie ins Hotel zurückzubrin‐ gen. Den Nachmittag verbrachte er in Mullers Gesellschaft. Sie riefen im Leichenschauhaus an und lauschten dem Autop‐ siebericht eines Pathologen, dessen Stimme sehr offiziös klang. Sir Joseph Whemple war eines natürlichen Todes gestor‐ ben, hervorgerufen durch Herzversagen. Frank hörte ziemlich verwirrt den umständlichen Ausfüh‐ rungen zu. Er verstand den medizinischen Fachjargon nicht, den Muller übersetzte, indem er ihn auf einen einfa‐ chen Nenner brachte. »Ihr Vater mußte sterben, weil seine Lebensfunktionen zum Stillstand kamen.« Als der Doktor sah, daß Frank immer noch irritiert blinzel‐ te, fügte er hinzu: »Es ist wirklich nicht notwendig, Ihnen das alles lang und breit zu erklären, mein Junge. Es wäre 90
genauso, als würde ich Ihnen sagen, daß Schlaftabletten nur deshalb so nützlich sind, weil sie eine einschläfernde Wirkung haben. Das klingt zwar informativ, sagt Ihnen aber gar nichts. Sie würden staunen, wenn Sie wüßten, wie viele medizinische Erklärungen’ es von dieser Sorte gibt. Die Medizin wird als empirische Wissenschaft bezeichnet, aber die Mediziner engen das Forschungsgebiet so stark ein, daß die Hälfte der natürlichen Phänomene eliminiert wird ‐die Phänomene, denen die empirische Methode nicht gewachsen ist.« »Aber Sie sind doch auch Arzt, Dr. Mul‐ ler.« »Ja, das bin ich. Ich habe am selben Institut wie Freud gearbeitet, aber ich habe nicht dort aufgehört, wo er offen‐ bar aufgehört hat. Für die Freudianer ist der Begriff des Geistes verwandt mit dem Begriff des Universums. Es ist sinnlos zu fragen, was jenseits des Universums liegt, weil dieser Raum, der als Universum bezeichnet wird, alles mit einschließt. Ich bin aber überzeugt, daß gewisse physikali‐ sche und geistige Phänomene nicht erklärt oder erfaßt werden können, ohne auch jenes Etwas einzubeziehen, das über das Geistige hinausgeht. Ihr Vater nannte mich einen Magier, und vielleicht bin ich das auch. Aber was immer Helen bedroht – und vielleicht jetzt auch Sie, Frank, das ist nicht in euren Gehirnen entstanden. Da bin ich ganz sicher ...« Er brach ab und strich sich mit fast unmerklich zitternden Fingern über die Stirn. Dann fragte er: »Tragen Sie das Amulett, das ich Ihnen gegeben habe?« »Ich habe es bei mir«, erwiderte Frank. Der Anhänger steckte in der Tasche seines Jacketts, das mußte genügen. 91
Daß er das Ding überhaupt mit sich herumtrug, war ein Zugeständnis, das er dem Freund seines Vaters machte. Ein geistig verwirrtes Mädchen in der Obhut eines exzent‐ rischen alten Mannes, dachte Frank mit einem unterdrück‐ ten Seufzer, und meine Aufgabe besteht offenbar darin, den beiden hin und wieder einen Gefallen zu tun, um sie bei Laune zu halten. »Nehmen Sie das Amulett auch nicht ab, wenn Sie ins Bett gehen«, sagte Muller in eindringlichem Ton, und Frank lä‐ chelte gequält. »Im Bett pflege ich ohnehin nichts anderes als zu schlafen, und dabei ist mir das Ding nicht im Weg.« Muller nickte geistesabwesend und nahm Franks Arm. »Kommen Sie, ich will Ihnen etwas zeigen.« Die Mullers lebten in Wien und verbrachten nur den Win‐ ter in Kairo. Die Suite, die sie im Hotel Semiramis bezogen hatten, zwei Stockwerke über Helen Grosvenors Zimmer, war geräumig, aber mit allen möglichen seltsamen Dingen vollgestopft. Frank kam sich vor wie in einem Kuriositätenladen, in dem Mrs. Muller als permanente, unverkäufliche Kuriosität für die richtige sentimentale Stimmung sorgte. Dr. Muller machte seine Frau mit Frank bekannt, sie sprach ihm ihr Beileid aus, dann verschwand sie wieder in einem Wald von Figurinen, Totems und monströsen phallischen Sym‐ bolen. Muller führte Frank in ein kleineres Zimmer, in dem eine noch schlimmere Unordnung herrschte. Auf einem Schreib‐ tisch häuften sich Bücher, Manuskripte, noch mehr Statuet‐ 92
ten und verschiedene medizinische Utensilien, die hier ir‐ gendwie fehl am Platz wirkten — ein Stethoskop, ein Sphygmomater, ein Medizinkästchen. Es war, als würde man eine Traumwelt betreten ‐oder eine Sphäre, die irgendwo zwischen der Requisitenkammer ei‐ nes Theaters und dem Lagerraum eines Museums schweb‐ te, das gerade eine Ausstellung mit dem Titel »Die Medizin im Lauf der Jahrhunderte« vorbereitete. Frank ertappte sich bei dem Gedanken, daß Muller jetzt wohl einen Zauberhut aufsetzen würde, sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Aber statt dessen öffnete der Arzt einen Wandschrank und nahm eine weiße Karte heraus. Als er sie umdrehte, sah Frank, daß es eine Fotografie war. »Was halten Sie davon?« fragte Muller und drückte ihm das Foto in die Hand. Frank betrachtete das Bild. Es zeigte eine Figur aus polier‐ tem schwarzen Holz, die etwa drei Fuß hoch war. Am Rand des Fotos war eine Meßskala eingezeichnet, damit man die Größe der abgebildeten Figur erkennen konnte. Sie hatte den Körper eines Löwen und zwei Schlangenköpfe, einen mit offenem, einen mit geschlossenem Maul. Symbole waren in den Hals der Gestalt geschnitzt, an dem Punkt, wo die beiden Schlangenköpfe auseinanderstrebten. Doch es waren keine Hieroglyphen, auch keine Keilschrift. Das mittlere Symbol bestand aus zwei diagonalen Wellen‐ linien, die einander kreuzten, und einem Oval, das den Schnittpunkt umgab. Und in der Mitte des Ovals befand sich ein einzelnes Pünktchen. 93
»Das ist nicht ägyptisch«, sagte Frank. »Wenn die Symbolik auch ägyptisch ist – der Löwenkörper, das Uräusschlan‐ genmotiv ... Was ist das für eine Figur?« »Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Dr. Muller. »Ich kann Ihnen nur sagen, daß ein Mann namens Harris Bentwith sie im Jahr 1911 gefunden hat – ein amerikanischer Archäolo‐ ge, der sich auf das prämykenäische Zeitalter spezialisiert hat. Er grub diese Figur auf Kreta aus, etwa dreißig Fuß un‐ terhalb der Ebene des Bronzezeitalters. Er wußte auch nicht, was die Figur darstellen soll. Und es gelang auch keinem anderen Wissenschaftler, das herauszufinden.« Frank wartete, aber Muller sagte nichts mehr. »Ja – und weiter?« fragte der junge Mann. »Diese Figur ist heute noch genauso geheimnisumwittert wie damals im Jahr 1911«, fuhr Muller zögernd fort. »Auf dieser Ebene wurde sonst nichts gefunden. Bentwith hat zwei Monate lang die Umgebung des Fundorts abgesucht – vergeblich. Im nächsten Jahr fingen zwei junge Franzosen dort an, wo er aufgehört hatte. Aber auch sie konnten nichts finden. Bentwith konnte seine Arbeit nicht fortset‐ zen, weil er im Januar 1912 erblindete. Die beiden Franzo‐ sen verloren ihr Augenlicht am gleichen Wochentag, zur gleichen Stunde, am 17. Juli 1912, genau sieben Tage, nach‐ dem sie diese Figur gesehen und berührt hatten.« Er wies auf die Fotografie. »Soll ich weitererzählen?« Frank nickte. »Bentwith erblindete siebzig Tage nach seiner Entdeckung. Auf den Tag genau, Frank. Auch zur gleichen Stunde. Se‐ hen Sie das Symbol am Hals?« 94
»Sie glauben, daß es ein Auge ist, nicht wahr, Doktor?« »Genau. Latimer dachte das auch. Er hat dieses ‐dieses Ding Descrouches und Brie abgekauft, die es von Bentwith erworben hatten. Kein Museum auf der ganzen Welt wür‐ de es wagen, diese Figur in seinen Galerien aufzustellen. Die Museumsdirektoren behaupteten, sie wollten nichts damit zu tun haben, weil es sich wahrscheinlich um eine Fälschung handle. Aber Sir Reginald Latimer kaufte die Fi‐ gur am 8. August 1912, und als er sie übernahm, war sie in ein dunkles Tuch gewickelt. Er berührte sie, aber er ver‐ mied es, sie anzusehen. Eine vernünftige Vorsichtsmaß‐ nahme, für die ihn die Archäologen seiner Zeit mit Hohn und Spott überschütteten. Natürlich nur die Leute, die von dieser Entdeckung wußten. Allzu viele waren das nicht. Aus irgendeinem Grund wurde die Sache nicht publik ge‐ macht.« »Und was geschah mit Latimer?« »Das können Sie sich selbst ausrechnen«, entgegnete Mul‐ ler. »Sie brauchen dazu nur einen Kalender.« »Aber er hat die Figur nicht angesehen?« »Kein einziges Mal. Er hat sie nur berührt. Seither liegt das Ding in einer plombierten Bleikassette in einem Lagerraum des New Yorker Metropo‐ litan Museums. Gott allein weiß, warum die es haben woll‐ ten und was sie damit anfangen werden. Aber wenn Sie es sehen oder anfassen wollen, so können Sie das tun – vor‐ ausgesetzt, Sie unterschreiben in Gegenwart eines Notars ein Formular in dreifacher Ausführung, mit dem Sie das Museum von jeglicher Verantwortung entbinden und im Ernstfall keinen Schadenersatz beanspruchen. Man hat mir 95
gesagt, daß dieses Formular völlig legal und absolut hieb ‐ und stichfest ist. Meines Wissens bin ich der erste Mensch, der um die Erlaubnis bat, das Ding fotografieren zu dürfen, und sie auch erhielt. Ich habe es tatsächlich gemacht, wie Sie sehen, und keine Kosten gescheut. Es war ziemlich kompliziert. Ich benutzte eine automatische Kamera, die ich aus sicherer Entfernung betätigte, und ein aufwendiges System aus Drähten und Flaschenzügen, um die Bleikasset‐ te zu öffnen und zu schließen. Danach lebte ich siebzig Ta‐ ge lang in qualvoller Angst. Aber schließlich stellte ich fest, daß es ungefährlich ist, die Fotografie zu betrachten. Was immer Sie jetzt auch sagen wollen, Frank – bitte, gebrau‐ chen Sie nicht das Wort ,Zufall’. Ich bin bereit, jede Erklä‐ rung zu akzeptieren, die Sie mir anbieten – aber diese eine nicht.« »Ich habe keine Erklärung«, erwiderte Frank. »Ich weiß nicht einmal, warum Sie mir das alles erzählen.« »Das ist doch ganz einfach. Ich will nur den Wahrheitsge‐ halt eines Satzes demonstrieren, den Shakespeare vor über dreihundert Jahren formulierte — ,Es gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden, als eure Schulweisheit sich träu‐ men läßt. « »Nur ein Narr würde bestreiten, daß dieser Satz stimmt.« »Ihr Vater hat es bestritten«, entgegnete Muller mit sanfter Stimme. Frank schüttelte den Kopf. »Er war nur ein Gegner Ihrer Hypothesen, Dr. Muller. Sie simplifizieren dieses Problem zu sehr und dramatisieren es über Gebühr.« 96
»Ich hoffe sehr, daß Sie recht haben, Frank. Denn wenn ich mich irre, hat Ardath Bey Ihren Vater nicht getötet und wä‐ re auch nicht imstande, Sie zu töten. Wenn ich übertreibe, hätte die Schriftrolle des Thot nicht die Macht, Tote zum Leben zu erwecken, und Helen Grosvenors Seele wäre nicht in Gefahr.« »Und wenn Sie recht haben«, sagte Frank langsam, »dann hat Ardath Bey meinen Vater umgebracht und besäße auch die Fähigkeit, ihn ins Leben zurückzurufen.« Mullers Reaktion Überraschte den jungen Mann, denn sie war unerwartet heftig. Die Finger des Arztes gruben sich schmerzhaft in Franks Arm, und er stieß mit zitternder Stimme hervor: »So etwas dürfen Sie nicht sagen. Sie dürfen es nicht einmal denken – ich flehe Sie an ...« Helen sah das Haus klar und deutlich vor ihrem geistigen Auge. Es stand in einer jener schmalen, mittelalterlichen Straßen im arabischen Viertel, in einer jener Gassen, die nicht gepflastert waren, wo die hölzernen Obergeschosse sich zu beiden Seiten vorneigten und einander fast berühr‐ ten. Durch eine dieser Gassen ging sie nun, durch eine Gasse voller Menschen. Sie standen oder saßen am Straßenrand, schlenderten oder liefen umher, ritten auf Eseln oder Ka‐ melen, verkauften, priesen lautstark ihre Waren an, ver‐ handelten wortreich mit Geschäftspartnern ‐ein lärmendes, wildes Durcheinander.
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Wolfram zerrte an seiner Leine, der Geruch der Kamele und Hunde und Esel erregte seine Nase. Der Knall einer Peitsche schreckte ihn auf, sein Kopf ruckte in die eine Richtung, dann wieder in die andere, als zwei Wasserkessel klirrend aneinanderstießen. Manchmal knurrte er drohend, dann wieder kläffte er laut und gellend. Helen spürte, wie die Leine in ihrer Hand sich straffte oder lockerte. Daran erkannte sie, wie der Hund sich bewegte. Doch sie drehte sich nicht zu ihm um, sprach auch nicht zu ihm. Sie ging immer weiter, unbeirrt, auf die Stelle zu, wo das Haus stehen mußte, die Fassade der Straße zugewandt, doch zum Eingang würde eine stille Seitengasse führen. Sie konnte Ardath Beys Haus gar nicht verfehlen. Halb aus Stein gebaut, halb aus Holz ragte es wie ein überdimensio‐ nales Erkerfenster über die Straße hinaus. Schmiedeeiserne Gitter zogen sich über die Fenster, und an der eisenbe‐ schlagenen Tür hing ein reichverzierter Türklopfer aus Bronze. Sie ging weiter, hörte nicht den Lärm ringsumher, nahm die Gerüche nicht wahr. Es war sehr wichtig, daß sie sich ganz auf das Bild konzentrierte, das vor ihrem geistigen Auge stand, damit sie es mit dem Haus vergleichen konnte, wenn sie am Ziel war. Drei abgetretene Stufen führten zu der massiven Tür hinauf, schwere Gardinen hingen an je‐ dem Fenster. Bald würde die Nacht hereinbrechen. Helen beschleunigte ihre Schritte. Sicher würde es schwieriger sein, das Haus im Dunkeln zu finden. Nicht unmöglich, denn sie würde es auch in schwachem Licht erkennen – aber schwieriger. 98
Wolfram begann zu winseln, und ihre Hand umklammerte die Leine fester, damit er sich nicht plötzlich losreißen konnte. Ein paar Minuten später bog Helen in die Seitengasse, die sie gesucht hatte, und sie entdeckte das Haus sofort. In je‐ der Einzelheit stimmte es mit dem Bild überein, das sie im Geist vor sich sah, seit sie das Hotel Semiramis verlassen hatte. Sie war sehr zufrieden mit sich – als hätte sie eine schwere Prüfung bestanden. Aber Wolfram benahm sich sehr merkwürdig. Statt ihr die Stufen hinaufzufolgen, stemmte er alle viere gegen den Bo‐ den, zog an der Leine, und ein tiefes Knurren kam aus sei‐ ner Kehle. Als sich die Tür öffnete und ein großer Nubier erschien, in weißem Gewand und mit rotem Fez, begann der Hund noch lauter zu knurren. Helen zerrte mit aller Kraft an der Leine, und schließlich gelang es ihr, Wolfram durch die Tür und in die Halle zu zerren. Nun spielte sich eine seltsame Szene vor ihr ab. Eine Tür schwang auf, und Ardath Bey kam heraus, begleitet von einer weißen Katze. Das Tier war sehr schön, schlank und anmutig, vollkommen in seinen Proportionen. Das Fell war lang und dicht und fleckenlos weiß. In majestätischer Hal‐ tung trabte die Katze auf Wolfram zu, und der große Schä‐ ferhund krümmte sich mit gesträubtem Haar, sein Knurren ging in ein schauerliches Winseln über. »Miß Grosvenor, leider hat meine Katze nichts für Hunde übrig«, sagte Ardath Bey. »Mein Diener wird sich um Ihren Gefährten kümmern.«
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Er gab dem Nubier ein Zeichen, und der große Mann nahm die Leine aus Helens Hand und hielt sie fest, während Ar‐ dath Bey seinen Gast in das Zimmer führte, das er soeben verlassen hatte. Die Katze folgte ihnen auf leisen Pfoten. Der Anblick des Raumes hätte Helen überraschen und verwirren müssen. Und doch nickte sie, als sie sich umsah — als habe sie nichts anderes erwartet. Nichts in diesem Zimmer widersprach all dem, was sie bisher von Ardath Bey wußte. Sie hatte erwartet, daß er in einem so exotischen Stil leben würde. Der Raum entsprach dem Charakter seines Bewohners, war luxuriös, aber nicht überladen ausgestattet, verschwende‐ risch, aber nicht unbescheiden, und nirgends war auch nur ein Hauch des modernen Zeitalters zu spüren. Ein großer Teich in der Mitte beherrschte die Szenerie, von einem Brunnen gespeist, von weichen Kissen umgeben. Es gab keine Stühle, nur ein Tisch stand in einer Ecke, ge‐ schmückt mit einer Statue des ägyptischen Totengottes Anubis. Gardinen in gedämpften Farben hingen vor Türen und Fenstern, zwei Öllampen, die zu beiden Seiten der katzen‐ köpfigen Göttin Bast standen, erhellten den Raum. In der Nähe des Teiches brannte ein Weihrauchfaß, aus dem hell‐ blauer Rauch strömte und die Luft zart parfümierte und ein wenig vernebelte, so daß die Farben noch gedämpfter wirk‐ ten und subtil miteinander harmonierten. Ardath breitete ein paar zusätzliche Kissen neben dem Teich aus und lud Helen ein, Platz zu nehmen. Sie ließ sich
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mühelos nieder, kreuzte automatisch die Beine, mit anmu‐ tigen Bewegungen, die fließend ineinander übergingen. Auch Ardath Bey setzte sich, ohne Helen auch nur für eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Er verschränkte die Arme, und sie legte die ihren locker auf die Oberschenkel. Irgend etwas würde jetzt geschehen. Sie mußte ihn auf‐ merksam beobachten, um die Zeichen zu empfangen, die er ihr gab, damit sie nichts Unpassendes sagte oder tat – nichts, das die zauberhafte Stimmung dieses Raumes und ihres Beisammenseins stören könnte. Der Raum schien eine eigene Persönlichkeit zu haben, wie die Katze. Oder viel‐ leicht war es auch der Weihrauch, der diesen Eindruck hervorrief. Es war ein verlockender Duft ‐ein Duft, den sie halb erkannte und immer schon geliebt haben mußte. Die Weihrauchnebel stiegen ihr in den Kopf, machten sie aber nicht schläfrig. Vielleicht hätten sie die Macht, Träume zu erzeugen, die unabhängig vom Schlaf waren – Wach‐ träume, ein Erwachen in einer schöneren Welt. Ja, das muß‐ te es sein. Die Wirklichkeit war ein Schlaf. Falschheit, häßli‐ che Täuschung. Ardath Bey wußte es, und auch sie wußte es. Und sie war hierhergekommen, um dieses Wissen mit ihm zu teilen, in diesem von Weihrauch erfüllten Raum, wo sie nun zwischen den Gottheiten saß und auf sein Spie‐ gelbild im reglosen Teich starrte. Ihr ganzes Sein wurde von dem Duft erfüllt, während ihre Seele allmählich er‐ wachte. Schade, daß sie sich später nicht daran erinnern würde ... Aber das war nicht so traurig, wie es ihr in diesem Augen‐ blick erschien, denn die Erinnerungen würden unerträglich 101
sein. Es genügte, in kurzen Träumen zu leben und dann die störende Wirklichkeit zu verschlafen – bis zum nächsten Erwachen. Jetzt begann es. Das Dunkel im Raum verdichtete sich. Das Wasser bewegte sich, als hätte Helen ihren Körper auf den Kissen am Rand des Teichs zurückgelassen, als würde die Essenz ihres Seins, ihre Seele hinabsteigen in die weichen, nachgiebigen Fluten. Gleichzeitig konnte sie sich am Was‐ serrand sitzen sehen, beobachtete sich selbst, wußte, daß auch sie von jenem anderen Teil ihres Ichs beobachtet wur‐ de. Die Träumende und die Geträumte ... Helen und doch nicht Helen ... Das eigene Ich und das andere... Jetzt legte sie sich nieder. Ihr Kopf ruhte auf dem abgerun‐ deten Holzkissen, noch immer trug sie das Stirnband, das die Uräusschlange festhielt. Die Steinwände ihrer Kammer hätten kühl sein müssen, aber die Hitze war unerträglich. Sie fühlte, wie sie um sich schlug, eine angenehmere Lage einzunehmen, irgendwo eine kühle Stelle zu finden ver‐ suchte. Ihr Kopf brannte vor Schmerzen. Sie war krank. Ja, sie erinnerte sich an die plötzliche Erkrankung, an das Fieber. Wie konnte sie das auch nur für eine Sekunde vergessen haben. Und dann der herrliche Augenblick der Erleichte‐ rung, als ein weinendes Mädchen, an dessen Namen sie sich nicht erinnerte, eine kühle Kompresse auf ihre Stirn legte. Am Rand ihres Blickfelds standen zwei Männer in weißen Roben, die Ärzte, die ernst miteinander diskutier‐ ten. 102
Sie würde sterben – plötzlich wußte sie es, mit unumstößli‐ cher Gewißheit. Als sich die Tür öffnete und der Vorhang zurückschwang, hatte sie nicht die Kraft, den Kopf zu wenden und zu se‐ hen, wer hereingekommen war. Aber sie spürte, daß er ne‐ ben ihr kniete, und brachte ein Lächeln zustande. Es gelang ihr sogar, den Arm auszustrecken, den das Gewicht des schweren Armbands nach unten zog. Seine Lippen berührten ihre Hand – dann noch einmal – immer wieder. Sie hörte sein Schluchzen und wünschte sich, die nötige Kraft aufzubringen, um ihm Trost zu spen‐ den. Denn sie wußte, daß sie den Verlust ihres eigenen Le‐ bens besser ertragen würde als er den Abschied von ihr. Aber als sie den Mund öffnete, um ihn zu trösten, kam nur ein trockener, heiserer Laut heraus, und sie begann davon‐ zuschweben, ließ sie alle zurück – die Ärzte, das Mädchen, den Mann, den sie liebte. Und seltsamerweise hatte sie nicht das Verlangen, zurückzukehren. Und noch seltsamer war es, als Beobachterin zurückzukeh‐ ren, zuzusehen, wie sie für das Begräbnis vorbereitet wur‐ de, die Trauernden zu betrachten, die Musik zu hören, die bei den Bestattungsfeierlichkeiten erklang. Und doch fühlte sie gleichzeitig auch das Schwanken der Totenbahre, als sie zum Grab getragen wurde. Sie war überall – sie war Körper und Geist. Dies war die Allwissenheit und Allgegenwart der Toten. Die Arme wurden ihr über der Brust gefaltet, tote, reglose Glieder. Der Sarg wurde hinabgesenkt – ein leichtes Rüt‐ teln. Und sie war auch draußen und sah zu, wie sie den 103
Sarg wieder hochhoben, um ihn durch einen Gang zu tra‐ gen, an einem tiefen Brunnenschacht vorbei, über hölzerne Planken, zu jenem allerletzten Ort, wo der große Stein auf seinen Streben wartete, um sie für immer einzuschließen. Das Licht war nur mehr schwach und flackernd. Aber über ihr schimmerten die Sterne und der Vollmond, als wären sie auf die gewölbte Decke einer Höhle gemalt. Und viel‐ leicht waren sie das auch ... Sie wartete, bis die Stützpfeiler entfernt wurden, damit der schwere steinerne Deckel auf den Sarkophag fallen konnte. Sie wartete draußen, um dies mit anzusehen, und drinnen wartete sie auf den dumpfen Krach. Aber der Granitblock fiel nicht herab. Statt dessen sah sie, wie die großen Nubier mit den schwarzglänzenden Kör‐ pern die Kammer verließen, ohne die hölzernen Stützpfei‐ ler zu entfernen, und sie war allein. Nein, sie war nicht allein. Irgend jemand war immer noch hier bei ihr. Sie konnte ihn in den Schatten vor der Statue des Amon sehen, eine große Gestalt mit hochgewölbtem Schädel, die im Vergleich zu dem Sonnengott allerdings zwergenhaft wirkte. Der Gott saß auf einem Thron und trug die hohe Doppelkrone des oberen und den unteren Ägypten. In der rechten Hand hielt er die Zeremonienpeit‐ sche, in der linken die gewundene Crux Ansata, das Sym‐ bol des ewigen Lebens. Durch ein Loch im Dach fiel Licht herein, ein Mondstrahl, der den Kopf und die Schultern Amons berührte, aber nicht den knieenden Mann beleuch‐ tete.
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Nicht daß sie ihn zu sehen brauchte, um zu wissen, wer er war... Sie kannte ihn? Aber was hatte er hier zu suchen? Sie beobachtete, wie er auf eine Sprungfeder im Sockel der riesenhaften Statue drückte. Ein Panel in der Steinwand glitt zur Seite, und sie sah, wie der Mann in die Öffnung griff und ein Kästchen herausnahm. Sie versuchte den Mund zu öffnen, nach ihm zu rufen, ihn zu warnen. Denn jetzt hob er den Deckel des Kästchens hoch und nahm eine Schriftrolle heraus, und es gab keinen Zweifel daran, welcher Papyrus das war und wozu er be‐ nützt werden sollte. Aber ihr Mund war tot, und so kam kein Laut über ihre Lippen. Der rechte Arm des steinernen Gottes schien sich zu bewe‐ gen, die Peitsche dem Frevler entgegenzustrecken. Offen‐ bar sah auch er, wie der Arm auf ihn zuglitt, denn er warf sich zu Amons Füßen nieder, hielt die Schriftrolle aber im‐ mer noch umklammert. Dann sah sie, wie er sich erhob, sich nur leicht verneigte und dann in aufrechter, trotziger Haltung zurücktrat. Wenn er auch den Gott fürchtete – seine Liebe zu ihr war stärker als jenes ehrwürdige Verbot. Und die Liebe zu ihm, der Stolz auf seinen Mut erfüllten sie so sehr, daß Tränen ihre toten Augen überfluteten. Und als sie die Tränen auf dem Gesicht spürte, waren sie kalt wie unterirdisches Was‐ ser. Wenn es ihr möglich gewesen wäre, so hätte sie es vermie‐ den, das Geschehen noch weiter zu beobachten. Denn was sie jetzt mit ansehen mußte, würde unerträglich sein – sein Leiden, seine Schmerzen. 105
Aber sie hatte keine Gewalt über ihre Augen, sie waren un‐ beweglich auf ihn gerichtet, starrten ihn an. Sie sahen, wie er auf den Knien zum Fußende ihres Sarges kroch, den Pa‐ pyrus auseinanderrollte und zu lesen begann. Sie sahen, wie er verzweifelt aufsprang, als die Tür aufschwang und die Wächter zurückkehrten, angeführt von einem Mann mit furchterregendem, strafendem Blick und einem ande‐ ren, dessen Name ihr entfallen war. Und ihre Augen sahen, wie der Mann, der sie mehr liebte als das Leben und die Gottheit und den auch sie immer noch liebte mit ihrem to‐ ten Herzen, ergriffen und aus der Kammer geschleift wur‐ de ... Dann fand sie ihre Stimme wieder. Sie genoß diesen Schrei, schrie immer weiter, bis ihr der Atem ausging. Es war genug. Sie stiegen aus dem Traum auf, wie ein er‐ trinkender Schwimmer die Wasserfläche durchbricht und nach Luft ringt – nach parfümierter Luft. Sie sog den Anb‐ lick des Raumes ein, sah die Katze hinter einem Vorhang verschwinden, sah die Statuen und den Teich und die Ge‐ stalt des Mannes, der vor ihr kauerte. Ardath Bey. Sie erinnerte sich an seinen Namen. Ihre Gedanken hatten wieder zu fließen begonnen, waren nicht mehr erstarrt in einem eiskalten, toten Gehirn. Sie lebte – Ardath Bey lebte. Der Traum war vorüber. »Nichts mehr«, hörte sie sich selbst sagen. »Vorläufig nichts mehr«, entgegnete er. »Sie werden es bald vergessen. Träume vergißt man leicht.« Er hatte recht. Sie hatte es bereits vergessen. Sie wollte ihm gerade zustimmen, als ein Geräusch durch die Tür drang – 106
ein entnervendes Heulen, fast menschlich und doch nicht. Ein Tier – ein Hund ... »Mein Hund«, sagte sie. Ardath Bey war schon an der Tür. Er öffnete sie und blickte hinaus in die Halle. Dann wandte er sich um und zuckte mit seinen breiten Schultern. »Mein Haus ist Bast geweiht. Hier ist kein Platz für Hun‐ de.« Sie akzeptierte es ohne Widerspruch – sie akzeptierte den Anblick der weißen Katze, die fauchend und mit flammen‐ den grünen Augen auf dem reglosen Körper des Hundes stand. Sein Tod schien nicht die geringste Bedeutung zu haben.
6. Es war nach sieben, als sie hereinkam. Frank schob automatisch die Manschette seines Hemds zu‐ rück, um auf seine Armbanduhr zu blicken – als wäre der Zeitpunkt ein wichtiger Beweis, der vor Gericht Geltung haben würde. Er hatte den Telefonhörer aufgelegt, als sich der Schlüssel im Schloß drehte. Er hatte gerade mit der Polizei telefo‐ niert. Während der vergangenen zwei Stunden hatte er mehrmals die Polizei angerufen und alle Leute, die er in Kairo kannte. Und Muller hatte ihn ein paarmal im Hotel angerufen, um ihm mitzuteilen, daß seine Suche erfolglos verlaufen war. Frank war so erleichtert, Helen wiederzuse‐ hen, daß er sich ganz schwach in den Knien fühlte. Er wag‐ 107
te nicht aufzustehen, aus Angst, die Beine würden sein Gewicht nicht tragen. Er wußte, daß seine Reaktion über‐ trieben war, daß er sich viel zu sehr engagiert hatte und sich lächerlich machte. Aber er konnte nichts dagegen tun. Er hatte so sehr gelitten. Irgendwann, ungefähr um halb sieben Uhr, war er überzeugt gewesen, daß sie tot war. Und seither hatten ihn Verzweiflung und Schuldgefühle gequält. Jetzt sah er, daß sein Kummer in Wahrheit dem Tod seines Vaters galt, ebenso wie sein Schuldbewußtsein. Und doch war es eine gräßliche halbe Stunde lang Helen Grosvenor gewesen, die sein Gewissen peinigte, nicht sein Vater. Nur an Helen hatte er gedacht, nur um sie hatte er sich Sorgen gemacht. Es war Helen, die er wieder zum Leben erweckt hätte, wenn sie tot wäre und wenn er den Papyrus von Thot besäße. Sie warf ihm einen ärgerlichen Blick zu, als sie ihre Hand‐ schuhe auszog. Als wäre sie nach einem anstrengenden Tag heimgekommen und müßte nun feststellen, daß ihr Dienstmädchen noch immer nicht das Bett gemacht und das Frühstücksgeschirr abgeräumt hatte. »Oh – du bist es schon wieder.« »Wo warst du, zum Teufel?« Er war wütend auf sich selbst, weil er sich wie ein besitzergreifender Ehemann oder Lieb‐ haber benahm. »Wir haben überall nach dir gesucht«, fügte er in etwas sanfterem Ton hinzu. Ihre Stimme klang kalt und sarkastisch. »Habt ihr auch im Museum nachgesehen?« »Ja. Und Muller ist gerade unten im arabischen Viertel.« 108
»Ich sehe keinen Grund, dir zu sagen, wohin ich gehe und was ich mache. Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig. Du willst mich wie einen Hund hier einsperren. Aber ich bin kein Hund. Ich bin nicht dein Eigentum – du kannst nicht über mich bestimmen.« Frank sah, wie sie plötzlich verwirrt die Stirn runzelte. Sie blickte zu Boden, als würde sie nach dem Hund suchen, um einen Beweis dafür zu haben, daß sie nicht mit Wolf‐ ram identisch war. »Wo ist der Hund?« fragte Frank. Sie schüttelte langsam und ungläubig den Kopf. »Er ist tot...« Sie zögerte, dann sprach sie weiter. »Ja, er ist tot. Mein Hund ist tot.« Ihre Lippen begannen zu zittern. »Wolfram ... Eine Katze hat ihn umgebracht.« Er unterdrückte das fast unwiderstehliche Bedürfnis, laut zu lachen. »Aber Helen ...« »Ich weiß nicht, wie es geschehen ist«, fuhr sie fort. »Es war eine weiße Katze. Ja, ich erinnere mich ganz genau. Sie war strahlend weiß.« Frank spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief. »Und wo ist das passiert?« Helen zuckte hilflos mit den Achseln. »Das weiß ich nicht.« »Versuch dich zu erinnern«, bat er liebevoll. »Es macht nichts, wenn du es nicht kannst, aber versuch es wenigs‐ tens.« »Nein«, entgegnete sie. »Ich glaube nicht, daß ich mich daran erinnern will. Außerdem – was hast du damit zu 109
tun?« »Ich mache mir Sorgen.« »Aber du bedeutest mir doch gar nichts.« »Das hindert mich nicht daran, mir Sor‐ gen um dich zu machen. Ich würde dir sehr gern etwas be‐ deuten, Helen.« »Laß mich in Ruhe. Du stehst mir nur im Weg.« »Wieso?« »Du stehst mir eben im Weg.« »Ich versperre dir den Weg, der zu Ardath Bey führt, nicht wahr? Du warst doch bei Ardath Bey?« Er erwartete trotzigen Widerspruch, aber sie reagierte ganz anders. Plötzlich las er Angst in ihren Augen, dann Entsetzen. Er wich vor ihr zurück, weil er annahm, sie fürchte sich vor ihm. Doch dann streckte sie die Arme nach ihm aus wie ein reumütiges Kind, warf sich an seine Brust und klammerte sich an ihn. Tröstend strich er über ihr Haar, sprach zärtlich auf sie ein. »Laß mich nie wieder weggehen«, bat sie. »Ich werde dir zu entfliehen versuchen, Frank, aber du darfst es nicht zu‐ lassen – was immer ich auch sage oder tue.« »Schon gut mein Liebes, beruhige dich.« »Hier ist der Tod – und ein anderes Leben ist in mir, das mit dem meinen nichts zu tun hat. Aber es ist da – und es kämpft, weil es mein Leben besiegen will. Ich weiß, daß du nicht verstehst, was ich meine. Auch ich kann es nicht ganz begreifen – nur zur Hälfte. Ich flehe dich nur an, mich von diesem fremden Leben fernzuhalten. Bitte, Frank!« »Ja, natürlich.«
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Er trug sie zur Couch und bettete sie darauf, berührte ihre Stirn mit den Lippen, und sie schlang die Arme um seinen Hals. »Es ist ja alles gut«, sagte er. »Wir werden dich nicht mehr allein lassen. Ich werde Mrs. Muller bitten, herunterzu‐ kommen, und dann warte ich hier bei dir auf den Doktor. Möchtest du zusammen mit den Mullers in mein Haus übersiedeln? Es ist groß genug. Und dort könnten wir viel besser auf dich aufpassen, Helen.« Sie nickte, drückte ihr nasses Gesicht an das seine, und er schmeckte ihre salzigen Tränen auf der Zunge. Sanft be‐ gann er ihre Wangen zu küssen, und auch sie küßte ihn. Doch sie vermieden es, sich auf die Lippen zu küssen, das wollten sie sich in stillschweigender Übereinkunft noch ein wenig aufheben. Eine sehr lange Zeit schien verstrichen zu sein, als er end‐ lich sagte: »Ich liebe dich.« Als Antwort preßte sie ihren Mund auf den seinen. Und er wußte nicht, ob sie ihn damit zum Schweigen bringen, ihm ihre Gefühle zeigen – oder ihm zu verstehen geben wollte, daß Worte überflüssig waren. Mrs. Muller war heruntergekommen, hatte einen Imbiß zu‐ bereitet und war dann wieder gegangen. Muller war noch nicht zurückgekehrt, hatte aber angeru‐ fen. Frank nahm an, daß der Arzt nun jeden Augenblick kommen müsse. Er mußte nur noch wach bleiben, bis Mul‐ ler eintraf, aber das fiel ihm schwer, weil er erschöpft war, weil die Gefühlsbewegungen des vergangenen Tages an seiner Substanz zehrten. 111
An einem einzigen Tag war so viel geschehen. Sein Vater war gestorben, ein Mann hatte ihn von der Existenz einer bösen Welt überzeugt, in der magische Kräfte regierten. Und er hatte sich endgültig und unwiderruflich in ein Mädchen verliebt, das halb von Sinnen war, das mit einem Hund davongelaufen und ohne Hund zurückgekommen war. Und dann hatte Helen behauptet, eine Katze hätte Wolfram umgebracht, und sie hatte ihn angefleht, sie nie mehr gehen zu lassen, sie festzuhalten, was immer auch geschehen mochte. Eine weiße Katze hatte den Schäferhund getötet. Frank fragte sich, was Muller wohl dazu sagen würde. Am Tele‐ fon hatte er nichts davon erwähnt. Über so etwas konnte man nicht am Telefon sprechen. Oh, übrigens, Doktor, Bast hat ihren Polizeihund getötet. Sie wissen doch — Bast, die alte ägyptische Katzengöttin ... Nein, das war unmöglich. Es war so unwirklich alles. Un‐ glaublich und unwahrscheinlich. Er zog das Amulett aus der Tasche und betrachtete es. Ein kleines kreuzförmiges Ding mit einem Ring am Ende, das entfernte Ähnlichkeit mit einem Babyschnuller aufwies. Muller glaubte, daß diese halbe Unze Schmiedeeisen die Kraft hatte, die Macht abzuwehren, die seinen Vater getötet hatte und nun Helen bedrohte. Oder ihn selbst – Frank. Er war es, der nach Mullers Behauptung Schutz brauchte – nicht Helen. Es war Frank Whemple, den Ardath Bey ang‐ reifen würde. Aber das stimmte nicht mit den Tatsachen überein. Helen stand unter Ardath Beys Einfluß – nicht Frank. Also war es sie, die beschützt werden mußte. Wenn 112
das Amulett überhaupt irgendwelche Kräfte besaß, wenn es mehr konnte, als einen Anfall von Schluckauf zu unter‐ binden ... Er ging zu Helens Schlafzimmertür und legte die Kette vor. Dabei kam er sich albern vor, aber gleichzeitig überkam ihn auch ein Gefühl der Sicherheit. Es gab doch eine Theorie über solche Phänomene, nicht wahr? Autosuggestion nann‐ te man das. Der Glaube, der Wunder wirken kann... Wenn man glaubte, daß es funktioniert, dann funktioniert es auch. Er fand es zwar schwierig, daran zu glauben, aber vielleicht genügte Mullers offenbar unerschütterlicher Glaube. Muller glaubte, daß eine drei Fuß hohe Statuette von einer bösen Macht auf die Welt geschickt worden war, um den Menschen die Sehkraft zu rauben. Muller glaubte auch, daß Tote zum Leben erweckt werden konnten, indem man ei‐ nen Spruch rezitierte, der auf einem alten Papyrus ge‐ schrieben stand. Vielleicht war Muller ein Wirrkopf, viel‐ leicht hatte Muller recht... Frank legte sich auf die Couch, die immer noch einen schwachen Duft von Helens Parfüm verströmte. Er schloß die Augen, und in Gedanken erlebte er den vergangenen Tag noch einmal, konzentrierte sich auf die Küsse, die er mit Helen getauscht hatte. Doch dann irrten seine Gedan‐ ken wieder ab, und er fragte sich wieder einmal, warum sie von einer weißen Katze gesprochen hatte. Sie war keine Ägyptologin, sie konnte nichts von Bast wissen. Aber viel‐ leicht hatte Muller ihr von Bast erzählt. Oder die weiße Katze hatte tatsächlich ... 113
Eine Katze saß auf seinem Hals, krallte sich an seiner Luft‐ röhre fest, sog den Atem aus seinen Lungen. Ihr dichtes Fell versperrte ihm die Nasenlöcher, so daß er nicht atmen konnte. Sein Mund war voller Katzenhaare, sie fraßen sich würgend in seiner Kehle fest. Er schnellte hoch, warf sich im gleichen Sekundenbruchteil von der Couch, so daß er auf die Katze fallen, sie mit sei‐ nem Körpergewicht erdrücken mußte. Aber da war keine Katze – nur der würgende Schmerz in seinem Hals. Es war wirklich. Es passiert jetzt – und es pas‐ sierte ihm. Er wußte, daß er sich um Helen sorgte. Aber er selbst war es, dem jetzt seine ganze Sorge galt. Wenn er nicht bald wieder atmen konnte, würde er sterben. Eine Herzattacke ... Mullers Worte kehrten zurück, breiteten sich aus, um das Vakuum in seinem Kopf zu füllen. Und der Druck dieses Dings, das ihn töten wollte, preßte alle anderen Gedanken aus ihm heraus. Man würde auch von ihm sagen, er sei an einem Herzver‐ sagen gestorben. Das hatte Muller behauptet. Seine Wange brannte, rieb sich wund an dem Teppich, wo er lag und sich in Qualen wand, wo er auf die letzten Sekunden seines Lebens wartete. Und er wünschte sich schließlich nur noch, daß die Schmerzen aufhörten, auch wenn er sterben müßte, um die Pein zu beenden, die seine Lungen zerriß. Seine Hand strich über lackiertes Holz, als würde sie einem eigenen Willen gehorchen. Die Tür. Er war zur Tür gekro‐ chen, um hier zu sterben, treu bis in den Tod wie Wolfram.
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Das gefiel ihm. Es war sehr wichtig, keinen selbstsüchtigen Tod zu sterben. Seine Sehkraft war gestört, alles war ver‐ schwommen und neblig. Aber in seinen letzten lichten Momenten wußte Frank Whemple, daß eine Glocke läuten mußte, um Helen zu wecken. Oder mußte er seinen Vater wecken? Oder an der Tür der Unterwelt läuten, um seine Ankunft anzukündigen? Es mußte die Unterwelt sein, denn der Glockenstrang hatte die Gestalt der Isis, der schützenden Göttin. Er brauchte nichts weiter zu tun, als an diesem Strang zu ziehen. Und als er daran zog, glitt der Strang aus seiner Hand. Muller fand ihn eine halbe Stunde später. Er beugte sich aus dem Fenster, rang nach Luft, als könne er nie mehr genug davon bekommen, und zitterte am gan‐ zen Körper. Als er sich umwandte, sah Muller, daß alle Farbe aus sei‐ nem Gesicht gewichen war. Franks rechte Hand umklam‐ merte das Amulett. »Jetzt glauben Sie mir«, sagte Muller leise. »Ich glaube Ihnen«, antwortete Frank mit brüchiger Stim‐ me. »Bitte, sagen Sie mir, was ich tun muß.« Sir Joseph Whemples Haus war groß und komfortabel. Im Erdgeschoß befanden sich die Dienstbotenquartiere. Aber seit der Nubier weggelaufen war, mußte Frank auf Haus‐ personal verzichten. Am nächsten Tag zogen die Mullers ein, brachten Helen und eine englische Krankenschwester mit, die ihnen eine Agentur vermittelt hatte. Frank stellte Helen sein Schlaf‐ zimmer zur Verfügung und den Mullers das angrenzende 115
Zimmer, das sein Vater bewohnt hatte. Er selbst zog in ei‐ nen der Gästeräume, in das Zimmer, das der Treppe am nächsten lag. Durch dieses Arrangement war es Helen Grosvenor nicht möglich, das Haus unbemerkt durch die Vorder‐ oder Hin‐ tertür zu verlassen, denn in beiden Fällen mußte sie an ei‐ nem bewohnten Zimmer vorbeigehen. Und da die Kran‐ kenschwester sich nachts um sie kümmerte, stand Helen vierundzwanzig Stunden pro Tag unter Aufsicht. Eine Woche lang mußte sie sich an eine proteinreiche Diät halten, die Muller ihr verordnet hatte. Sie unterhielten sich stundenlang mit ihr, wechselten sich ab, wobei Frank stets die längste Schicht übernahm. Und Muller kontrollierte re‐ gelmäßig ihren Gesundheitszustand, aber es zeichnete sich keine Besserung ab. Im Gegenteil, ihr Befinden verschlech‐ terte sich zusehends. Am Ende der Woche hatte sie stark abgenommen und sah aus, als hätte sie das Endstadium einer tödlichen Krankheit erreicht. Frank bestand darauf, daß Muller einen Allge‐ meinmediziner konsultierte. Dr. LeBarron nahm umfangreiche, langwierige Untersu‐ chungen vor, verabreichte Helen Beruhigungsmittel, zuerst in kleinen, dann in massiveren Dosen, und nach einiger Zeit weigerte er sich, eine Diagnose zu stellen. Als Frank ihn zur Rede stellte, erklärte der Arzt, daß Helen einige, wenn auch nicht alle klassischen Symptome von Schizophrenie aufwiese – Wahnvorstellungen, Krampf zu‐ stände der Muskulatur, Verlust des Umweltkontakts, des Kontakts mit der Realität. Andererseits hätte sie durchaus 116
lichte Momente, und gelegentlich könnte man sich sogar ganz vernünftig mit ihr unterhalten. Der Arzt wußte nicht, was ihr letztlich fehlte, gab ihr wei‐ terhin Beruhigungsmittel und schließlich immer stärkere Schlaftabletten. Oft schlief sie stundenlang am Tag, manchmal sogar ganze Tage hindurch. Ihre Verzweiflung über ihren Zustand übertrug sich auf den ganzen Haushalt, und nur Miß Sparling, die Krankenschwester, blieb davon unberührt. Ihrer Ansicht nach war Helen ein hysterisches Mädchen, das ihre Umgebung mit Launen tyrannisierte, und dagegen konnten nur freundliche Strenge und Geduld helfen. Einmal erwachte Helen schreiend aus einem tranceartigen Zustand, den sie ,Schmerztraum’ nannte. Frank saß an ih‐ rem Bett und bat sie, von diesem Traum zu erzählen, aber sie bestand zunächst darauf, daß er nachsah, ob die Bettwä‐ sche blutig war. Sie behauptete, sie hätte sich erstochen. Aber da war kein Blut. Frank tat so, als würde er lange und gründlich su‐ chen, dann veranlaßte er Helen, selbst nachzusehen. »Sie sind in Schiffen gekommen«, sagte sie. »Ich wollte nicht vergewaltigt werden. Habe ich alles richtig ge‐ macht?« »Jetzt sind sie ja wieder verschwunden«, sagte Frank trös‐ tend. »Alles ist in Ordnung.« Ein anderes Mal rief sie nach einem Priester. Diesmal saß Muller an ihrem Bett. »Wozu brauchen Sie einen Priester, Helen?« fragte er mit sanfter Stimme. 117
»Für meine Seele.« »Aber der Tempel ist weit weg. Was für ein Priester soll denn zu Ihnen kommen?« Sie begann zu stottern. Muller konnte keinen Zusammen‐ hang in ihrem Gestammel entdecken, bis er das Wort ,Sacerdos’ hörte. Sie sprach Latein, obwohl sie in der Schule nicht Latein ge‐ lernt hatte. Sie sagte irgend etwas von einer Arena, bäumte sich auf, warf sich im Bett hin und her und stöhnte schmerzlich. Dann plötzlich entspannte sich ihr Körper wieder, und ein ekstatisches Lächeln erhellte ihr Gesicht. »Cruce vitam intrabunt«, flüsterte sie und schlief ein. »Ich werde sterben«, sagte sie am nächsten Tag zu Dr. Mul‐ ler. »Wir alle müssen eines Tages sterben, Helen«, entgegnete er. »Und ich bin dem Tod viel näher als Sie.« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Ich werde früher als Sie sterben, Doktor. Jemand tötet mich.« »Wer tötet Sie, Helen?« »Sie wissen es, Dr. Muller.« »Vielleicht. Kämpfen Sie dagegen an?« »Ja, aber ich werde nicht mehr lange kämpfen können.« Er griff nach ihrer Hand. »Aber was wird geschehen, wenn Sie den Kampf aufgeben, Helen?« »Er will, daß ich zu ihm komme. Und ich will es auch. Ver‐ stehen Sie, Dr. Muller? Ich möchte zu ihm gehen.« »Warum?« 118
»Das weiß ich nicht.« »Lieben Sie ihn?« »Ich bin mir nicht sicher. Ich liebe ihn – und dann wieder liebe ich ihn nicht. Ich bin ganz durcheinander. Ich liebe ihn – und gleichzeitig habe ich Angst vor ihm.« »Und Frank?« »Ich glaube, daß ich auch ihn liebe. Aber das ist eine andere Art von Liebe. Ich fürchte mich nicht vor Frank. Was ist nur los mit mir?« Er zögerte, und dann antwortete er: »Irgend etwas, das keiner von uns versteht. Aber ich glaube, Sie sollten gegen ihn ankämpfen, wenn er versucht, Sie zu sich zu locken. Das große Problem liegt nur darin, daß Sie jedesmal mehr Kraft brauchen werden, um Widerstand zu leisten. Aber andererseits wird es auch an Ardath Beys Kräften zehren.« »Ardath Bey?« »Ist er es denn nicht, der Sie mit magnetischer Kraft in sei‐ nen Bann zieht?« Sie nickte langsam. »Ja, ich glaube er ist es. Warum gerade er?« »Er scheint Sie zu begehren.« »Aber warum will er, daß ich sterbe?« »Das verstehe ich auch nicht«, sagte Muller und erhob sich. »Jetzt wird sich Frank zu Ihnen setzen. Haben Sie irgendei‐ nen Wunsch, Helen?« »Nein, vielen Dank.« »Vielleicht ein Kreuz?« Sie sah ihn verständnislos an.
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»Durch das Kreuz wird neues Leben entstehen«, sagte er leise. »Ich wußte gar nicht, daß Sie an so etwas glauben«, erwi‐ derte Helen verwundert. Es fiel Frank immer schwerer, an ihrem Bett zu sitzen. Er fand es fast unerträglich, in ihr bleiches, abgemagertes, ge‐ quältes Gesicht zu blicken, ihren unzusammenhängenden Reden zuzuhören. Sie hatte jetzt immer seltener lichte Momente, und die Krankheit schien ihren Charakter zu verderben. Sie ver‐ suchte mit simplen, leicht durchschaubaren Tricks, ihm Sand in die Augen zu streuen. Wenn er ihr half, aus dem Haus zu gelangen, würde sie ihn küssen. Und sie erklärte mit einem verführerischen Lächeln, sie würde sich ihm ganz hingeben, wenn er sie nur bis zum Nil gehen ließe, damit sie ihre Füße im Flußwasser baden und sich die Haa‐ re waschen konnte. Als er ihr erklärte, der Nil sei eine Kloake, schmollte sie, nannte ihn einen selbstsüchtigen Lügner und weigerte sich, noch ein Wort mit ihm zu sprechen. Aber zehn Minuten später behauptete sie, mit ihrem Vater auf dem Grand Pont de Kasren‐Nil verabredet zu sein. Er sei eigens aus Khar‐ tum nach Kairo geflogen, um sie zu sehen. Und wenn sie nicht zum Treffpunkt käme, würde er glauben, sie sei tot. »Ich werde Muller zum Grand Pont schicken«, versprach Frank. »Muller kann deinen Vater dann hierherbringen.« »Du hältst dich wohl für sehr clever, nicht wahr?« »Warum versuchst du nicht, ein wenig zu schlafen?«
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»Ich hasse den Schlaf. Ich weiß ja nicht, was du im Schilde führst, was du tun wirst, während ich schlafe. Deshalb muß ich Tag und Nacht wach bleiben, und das ist nicht fair, denn du kannst schlafen, so lange du willst. Warum tötest du mich denn nicht einfach? Dann hätten wir es endlich hinter uns.« »Niemand will dir etwas anhaben, Helen«, sagte er und hoffte, daß sie nicht hörte, wie müde seine Stimme klang. Sie durfte nicht merken, wie sehr diese unmögliche Situati‐ on an seinen Nerven zerrte, wie elend, hoffnungslos und krank er sich fühlte, wenn er an ihrem Bett Wache halten mußte, wenn die Reihe wieder einmal an ihm war. »Wir kümmern uns doch um dich, wir alle haben dich sehr lieb.« »Laß mich gehen, wenn dir etwas an mir liegt. Du kannst doch kein eingesperrtes Tier lieben. Man kann nur ein freies, selbständiges Wesen lieben.« »Wohin würdest du gehen?« »Das ist meine Sache. Ich bin nicht deine Sklavin. Ich werde häßlich – immer häßlicher. Du willst wohl, daß ich so häß‐ lich bin, damit sich kein anderer Mann mehr zu mir hinge‐ zogen fühlt. Du bist eifersüchtig, weil auch andere mich at‐ traktiv finden. Gib es doch endlich zu! Du kannst ganz of‐ fen mit mir sprechen, Frank.« Sie brach in ein schrilles Ge‐ lächter aus. Dann stieß sie hervor: »Ich hätte mir jeden Mann in Ägypten aussuchen können ‐jeden, den ich haben wollte. Und schau doch nur, wen ich mir ausgesucht habe – dich – einen Wurm.« »Ich liebe dich«, sagte er ausdruckslos, als würde er die Worte eines Fremden zitieren. 121
»Ich hasse dich. Du widerst mich an. Geh doch endlich! Geh zu ihr und wein dich an ihrer Brust aus!« Als er sie fragte, wen sie denn meine, schrie sie: »Hinaus! Verschwinde! Geh mir aus den Augen!« Später entschuldigte sie sich schluchzend und küßte ihn leidenschaftlich. Er stellte fest, daß seine Stimme steif und förmlich klang, als er ihr sagte, ihr Wutausbruch hätte ihm nichts ausge‐ macht. Aber diese Szene hatte ihn doch zutiefst bestürzt, obwohl er sich sagte, er hätte kein Recht dazu, er müsse auf ihre Krankheit Rücksicht nehmen. Aber er begann die For‐ derungen zu hassen, die Helen an seine verletzliche, noch so junge Liebe stellte. Frank erkannte, daß diese Reaktion nicht richtig und seiner nicht würdig war, und er versuchte, vor Helen zu verber‐ gen, daß er verletzt war. Aber er befürchtete, sie könnte es spüren. Waren die Geisteskranken denn nicht überemp‐ findlich? Und diese Angst hielt ihn fern von ihrem Zimmer. Er ging nur mehr zu ihr, wenn sie ausdrücklich darum bat, er möge sich an ihr Bett setzen. Eines Abends kam Miß Sparling mit einem unberührten Tablett aus Helens Zimmer. Die Patientin hatte weder ge‐ gessen noch ihre Medikamente genommen und die Schwester gebeten, Mrs. Muller zu ihr zu schicken. »Sie hat wieder eine dieser seltsamen Anwandlungen«, sagte Miß Sparling. »Jetzt will sie mir einreden, daß ihr Freund mich in eine Schönheit verwandeln würde, wenn ich sie zu ihm gehen ließe. Fragen Sie nicht, was ich alles tun würde, wenn ich zur Schönheit erblühen könnte.« Sie 122
brach in ein gellendes Gelächter aus, verstummte aber so‐ fort wieder, als sie merkte, daß niemand außer ihr lachte, und ging in die Küche hinab. Mrs. Muller blieb zwanzig Minuten bei Helen, dann verließ sie das Zimmer, sah Frank hilflos an und zuckte mit den Schultern. »Seien Sie nicht böse mit mir«, bat sie. »Ich konnte einfach nicht anders. Sie hat mich so inständig darum gebeten.« Helen lag auf ihrem Bett, als Frank ihr Schlafzimmer betrat. Die Vorhänge waren zugezogen, und drei Tischlampen hüllten den Raum in gedämpftes, angenehmes Licht. Sie trug ein tief ausgeschnittenes weißes Neglige und hatte Make up aufgelegt – eine dicke Puderschicht, viel zuviel Rouge und einen verschmierten grellroten Lippenstift. Um ihre Augen hatte sie dunkle Schatten gemalt. Sie sah aus wie ein mitleiderregender Clown. Und als sie ihn anstarrte, auf seine Bewunderung hoffte und gleichzei‐ tig auch seine Ablehnung fürchtete, fühlte er sich an ein Kind erinnert, daß sein Gesicht mit Farbe bekleckst hatte, um den Vater zu verführen. Die Hoffnungslosigkeit der Situation trieb ihm fast die Trä‐ nen in die Augen. »Frank, ich habe mich für dich schön gemacht«, sagte sie. »Du sollst mich in meiner ganzen Schönheit sehen – für den Fall, daß du danach keine Gelegenheit dazu hast...« In diesem Augenblick verspürte er das fast unwiderstehli‐ che Verlangen, sie schützend in die Arme zu nehmen, sie an sich zu drücken, mit seiner Liebe alles Leben aus ihr he‐
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rauszupressen, als wäre sie eine Blume, die man nur erhal‐ ten konnte, wenn sie vertrocknete. »Das hätte Mrs. Muller nicht zulassen dürfen«, sagte er und schüttelte den Kopf. Die dunklen Schatten um die Augen gaben ihr ein gespens‐ tisches Aussehen – eine Leiche, die zu neuem Leben erweckt worden war. Um sie nicht mehr anschauen zu müssen, nahm er sie in die Arme und legte den Kopf auf ihre Schulter. Vor Entzücken lachte sie leise auf. »Wie konntest du nur auf so dumme Gedanken kommen?« flüsterte er. »Ich soll keine Gelegenheit mehr haben, dich in deiner ganzen Schönheit zu sehen. Was für ein Unsinn, He‐ len!« »Du sollst mich so in der Erinnerung behalten, wie ich jetzt bin«, entgegnete sie, und er betete, sie möge den Schauer nicht spüren, der durch seinen Körper lief. »Ich liebe dich, Frank. Ich versuche, es dir zu beweisen, verstehst du. Denn ich werde wirklich lieber sterben als leben und dich verlie‐ ren.« »Du wirst nicht sterben.« Die Antwort kam automatisch – die Stimme war tonlos, gefühllos. Die einfache Lüge, die so leicht über die Lippen kam, die obligatorische Beruhigung‐ spille, die allen Sterbenden zustand... »Schimpfen Sie nicht mit mir«, sagte Helen. »Weibliche Ei‐ telkeit...« Die Worte waren für Muller bestimmt, der lautlos hinter Frank hereingekommen war. »Sie wissen mehr, als ich angenommen habe«, sagte Muller. Und als Frank sich umwandte, fügte der Doktor hinzu: »Sie weiß, daß sie nicht über einen unbegrenzten Zeitraum 124
hinweg Widerstand leisten kann, Frank. Der Impuls zu ihm zu gehen, ist zu stark. Er wird sie töten.« »Er versteht mich, Frank«, sagte sie leise. »Du nicht?« »Nein. In diesem Zustand kann sie nicht ausgehen. Muller, Sie sind doch Arzt.« »Natürlich könnte sie ausgehen. Er würde ihr die Kraft ge‐ ben, die sie brauchte, um zu ihm zu kommen. Und wenn sie nicht geht, wird sie sterben. LeBarron will sie in eine Klinik bringen. Aber in einer Klinik kann man nichts für sie tun. Und kein Arzt der Welt kann ihr helfen. Auch Sie nicht, Frank. Er hat uns besiegt, und es bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als das zu akzeptieren.« »Nein. Verdammt. Nein!« Muller schloß sekundenlang die Augen. »Es ist die einzige Möglichkeit, die wir noch haben«, sagte er sanft. »Und die Zeit wird zu knapp, um noch andere Wege zu suchen.« Helen griff nach Franks Schulter, drehte ihn so zu sich he‐ rum, daß er sie ansehen mußte. »Du hast nach ihm gesucht, nicht wahr! Oh, es ist schon gut. Ich nahm an, daß du das tun würdest. Aber du hast ihn nicht gefunden, nicht wahr?« Weder Frank noch Muller sagten ein Wort, und Helen ließ sich in die Kissen zurücksinken. »Er wird nicht zulassen, daß du ihn findest«, flüsterte sie. »Nur ich darf ihn finden ...« »Aber sie ist doch keine blutende Ziege, Muller!« schrie Frank. »Sie können sie nicht an einem Baum festbinden
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und auf den Tiger warten. Nicht im Dunkeln, Muller – nicht, wenn er kugelsicher ist.« Muller ignorierte ihn und wandte sich an Helen. »Wenn Sie das nächstemal spüren, daß er Sie zu sich lockt, Helen, dann gehen Sie. Mag es nun Tag oder Nacht sein.« Jetzt war es Frank, der Trost brauchte. Er schmiegte das Gesicht an Helens Brust und weinte, ohne sich zu schämen. Sie streichelte liebevoll über sein Haar. »Es ist ja alles gut – beruhige dich ...«
7. Es mußte die Stunde zwischen dem Dinner und Dr. Mullers letztem Besuch vor der Nachtruhe sein, überlegte Helen, ungefähr um acht Uhr dreißig. Sie konnte keine Geräusche in den angrenzenden Räumen hören, und es war noch nicht völlig dunkel. Das bedeutete, daß Frank und die Mullers noch unten im Salon saßen. Miß Sparling würde in ihrem Zimmer sein. Helen versuchte Speichel in ihrem trockenen Mund zu sammeln, während sie angestrengt nachdachte. Wie lange hatte sie geschlafen? Sie schlief an jedem Nachmittag län‐ ger – vier Stunden gestern, dreieinhalb vorgestern. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Sie hatte keine Ah‐ nung. Sie wußte nur, daß der Schlaf, aus dem sie soeben erwacht war, traumlos gewesen war und daß sie sich nicht mehr müde fühlte. Aber sie war zu schwach, um aufzustehen. Als sie einen Arm ausstrecken wollte, um nach Miß Sparling zu läuten, 126
war er schwer und kraftlos, fühlte sich seltsam fremd an, wie der Arm eines anderen Menschen, den ein Chirurg an ihren Körper genäht hatte. War auch das eine Sinnestäu‐ schung, eine Phantasie? Wie jene Einbildung, unter der sie gestern gelitten hatte, um die gleiche Stunde ... Als ihre dämonische Vorstellungskraft ihr vorgespiegelt hatte, sie sei allein und verlassen. Die Stille des Hauses hatte am ver‐ gangenen Abend so sehr an ihren Nerven gezerrt, daß sie atemlos im Bett gelegen und sich verzweifelt bemüht hatte, eine Stimme zu hören – irgendeine Stimme, einen Laut, der ihr beweisen würde, daß sie nicht alle tot waren – Frank, die Mullers, Miß Sparling. Später hatte sie erkannt, daß sie nur einer Sinnestäuschung zum Opfer gefallen war. Aber es war quälend und grauen‐ voll gewesen, jenes Gefühl, im Stich gelassen und ihm ausgeliefert zu sein. Zehn Minuten lang hatte sie sich von dieser schrecklichen Wahnvorstellung peinigen lassen, dann war es ihr endlich gelungen, auf den Klingelknopf zu drücken und Miß Spar‐ ling herbeizuholen. Der Anblick der Schwester hatte sie be‐ ruhigt, und sie war erleichtert eingeschlafen. Aber heute abend entstanden neue Phantasien in ihrem kranken Gehirn. Es hatte die gleiche Stunde gewählt, um sie zu plagen. Sie glaubte einen Druck in ihrem Kopf zu spüren, den Druck seiner Gedanken, die ihre eigenen verdrängten. Sie fühlte seine Gedanken fast wie eine physische Präsenz in ihrem Kopf – als säße ein kleines Tier in einer versteck‐
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ten Gehirnwindung, das immer größer wurde und sich ausbreitete, rücksichtslos, zerstörerisch. Der Druck verwirrte sie, weckte kalte Angst in ihr. Ob die‐ ses Gefühl nun Wirklichkeit war oder eine neuerliche Sin‐ nestäuschung – jedenfalls entzog es sich ihrer Kontrolle. Auch Muller würde nicht wissen, was dagegen zu tun war. Sie konnte sich nur von dem Druck befreien, wenn sie ihm nachgab, wenn sie sich dem fremden Willen anvertraute, sich leiten ließ. Und sie wußte es ganz instinktiv‐ wie ein Kind, dem man den Arm verdreht und das genau weiß, daß es keinen Widerstand leisten darf und nachgeben muß, wenn es keine Schmerzen erleiden will. Ja, man mußte dem fremden Willen nachgeben, wenn man den Schmerzen ent‐ gehen wollte. Und hatte Muller nicht gesagt, daß sie das tun sollte? Nein, sie würde nicht nach Miß Sparling läuten. Als sie ihre Muskeln anspannte, ging ihr Atem rascher. Sie mußte sich im Bett aufsetzen und leicht vorbeugen, um den Atem wie‐ der zu verlangsamen. Dann erst fühlte sie sich kräftig ge‐ nug, um aufzustehen. Der Druck in ihrem Kopf hatte sich so verstärkt, daß sie ihn als Schmerz empfand. Sie wußte, daß ihr eigener Wille bald völlig ausgelöscht sein würde. Es war wichtig, daß sie noch alles bedachte, was zu bedenken war, bevor sie sich willen‐ los ausgeliefert sah. Aber als sie es versuchte, fand sie nichts, worüber sie nach‐ denken könnte. In ihrem Gehirn war nur mehr Platz für je‐ nen blinden Gehorsam, für jenen Impuls, der sie aus dem
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Haus trieb, zur Quelle ihrer Schmerzen, zu jenem Ort, wo sie Erlösung finden würde. Es dauerte lange, bis sie angezogen war. Ihre Bewegungen waren ungeschickt und schwerfällig, immer wieder zwang sie ein Schwindelgefühl, sich hinzusetzen. Nichts schien ihr mehr zu passen, die Wäsche hing schlaff an ihrem abgema‐ gerten Körper, und der Verschluß des BH’s war zu klein für ihre angeschwollenen Finger. Sie schlüpfte mühsam in das Kleid, und dann mußte sie ki‐ chern, als sie sah, daß sie es verkehrt herum angezogen hat‐ te. Die Knöpfe waren vorn ‐und das war falsch. Seltsam – es wäre doch viel sinnvoller, das Kleid vorn zu schließen, wo man die Knöpfe leichter erreichen konnte. Fast war ihr zumute, als hätte sie noch nie zuvor Knöpfe gesehen. Noch als sie lautlos die Treppe hinabzusteigen begann, dachte sie staunend, daß Knöpfe eine wunderbare Erfin‐ dung waren. Diesmal konnte er ihre Reaktion spüren – ein sanftes Zie‐ hen am Ende der langen Schnur, die ihre Gehirne mitei‐ nander verband. Er war sehr glücklich. Oft genug hatte er es versucht, ohne jene Reaktion zu fühlen, und jedesmal hatte es ihn Kraft gekostet – so wie es sie Kraft kostete, seinem Ruf nicht zu folgen, sich seinen Befehlen zu widersetzen. Aber letzten Endes hatte er den Kampf gewonnen, und er begann die Schnur aufzurollen, die immer stärker und fes‐ ter wurde, je näher sie ihm kam. Er wartete auf sie im Ge‐ büsch am Shari’a Marietta Pascha, in den Schatten verbor‐
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gen, wartete mit einer Geduld, die sich in elf langen Jahren nicht verringert hatte. Zunächst hatte sie zur Frau erblühen müssen. Dann hatte er Whemple aus dem Weg räumen müssen, damit er die Schriftrolle zurückerobern konnte. Dann mußte er warten, bis Mullers Wachsamkeit nachließ. Und er hatte gewußt, daß der Mann irgendwann ermüden würde. Muller war zwar gefährlich, aber kein Gegner für ihn. Und schließlich mußte er warten, bis sie die kurze Strecke zum Museum zurückgelegt hatte – und das tat sie nun. Ja, er hatte sehr lange auf diesen Augenblick gewartet – viel, viel länger als elf Jahre ... Er trat heraus aus den Schatten, sobald er ihre Schritte auf den Pflastersteinen hörte, nahm ihren Arm, den sie ihm willenlos überließ, und führte sie zu dem Fenster, wo Selim postiert war. Er sagte sich, daß er nun langsam und würdevoll vorgehen mußte. Es war sehr wichtig, daß nichts von seinem unge‐ duldigen Verlangen auf sie überging ‐nichts von dieser Ungeduld, die er nun nach all den Jahren kaum mehr be‐ zähmen konnte. Sie durfte nicht nervös werden. Er musterte ihr Gesicht, als Selims schwarze Hand aus dem Fenster glitt und ihren bleichen, zarten Arm packte, um sie ins Innere des Gebäudes zu ziehen. Sie sah völlig entspannt aus, wenn auch leicht verwirrt. Das hatte er erwartet. Es gab so vieles, was sie immer noch nicht wußte, und er hatte zu wenig Zeit, um es ihr beizubringen. Aber sie würde es verstehen. Er kannte sie gut genug, um sich auf ihr Verständnis, auf ihren Glauben an ihn verlas‐ 130
sen zu können. Dieser Glaube würde sie durch die nächste Stunde führen, und danach konnte ihnen keine Macht die‐ ser oder der jenseitigen Welt gefährlich werden. Nur eine Stunde – mehr brauchte er nicht. Als Frank kurz nach neun Uhr in Helens Zimmer kam, um ihr vorzulesen, sah er das leere Bett. Er rannte die Treppe hinab und entdeckte, daß der Riegel an der Haustür zurückgeschoben war. Dann lief er in den Salon, um Muller zu informieren. »Wenn Sie mir erlaubt hätten, die Tür abzusperren, dann wüßten wir jetzt, daß sie heute abend zu ihm gehen wird!« schrie er den alten Mann an. »Dann hätten wir sie hinaus‐ lassen und ihr folgen können!« »Wir werden sie finden, Frank«, entgegnete Muller mit ru‐ higer Stimme. »Sie kann das Haus erst vor einer halben Stunde verlassen haben. Miß Sparling war um acht Uhr zwanzig bei ihr, und da lag sie noch im Bett. « »Aber in einer halben Stunde kann sie die halbe Stadt durchquert haben.« Muller schüttelte den Kopf. »Nicht zu Fuß. Außerdem wissen wir, wohin sie gegangen ist – das ist ein unschätzbarer Vorteil. Zumindest glaube ich es zu wissen. Wenn wir ihr auf den Fersen gefolgt wä‐ ren, hätte er uns gesehen, und dann hätten wir unsere Vor‐ teile nicht nutzen können.« »Wo ist sie?« »Das werde ich Ihnen in zehn Minuten sagen«, versprach Muller. »Trinken Sie erst einmal eine Tasse Tee.«
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»Sie braucht Hilfe, Muller. Jetzt. Nicht erst in zehn Minu‐ ten.« »Sie können ihr am besten helfen, indem Sie nicht die Ner‐ ven verlieren, Frank. Ich weiß, es ist schwer für Sie, hier zu sitzen und zu warten, wenn Sie keine Ahnung haben, war‐ um und worauf Sie warten. Aber ich bitte Sie, mir nur noch ein wenig länger Ihr Vertrauen zu schenken. Wenn mich nicht alles täuscht, werden wir ihn schnappen.« »Und wenn Sie sich doch irren?« »Sind Sie fest davon überzeugt, daß Sie Helen lieben?« fragte Muller. »Wechseln Sie nicht das Thema! Ich will wissen, was pas‐ sieren wird, wenn Sie sich doch irren.« Muller griff nach der Teekanne und goß die Tassen voll. »Ich habe das Thema nicht gewechselt, Frank. Es spielt eine große Rolle, ob Sie Helen lieben oder nicht. Ich habe Sie beide in der vergangenen Woche genau beobachtet.« Er machte eine Pause, um einen Schluck Tee zu trinken. »Und dabei konnte ich feststellen, daß Sie eine Entdeckung ge‐ macht haben. Keine Entdeckung, über die man in den archäologischen Zeitschriften berichten wird. Nein. Ich meine die Art von Entdeckung, die manche junge Männer, die sich einbilden, verliebt zu sein, wahrscheinlich niemals machen – und die andere erst machen, wenn es schon zu spät ist. Wissen Sie, wovon ich spreche?« Frank schüttelte den Kopf, und Muller sprach weiter, im selben geduldigen, didaktischen Ton wie zuvor. »Ich habe beobachtet, wie Ihnen klar wurde, daß man mit der Liebe auch Pflichten auf sich nimmt. Überrascht Sie 132
das, Frank? Ja, es überrascht Sie. Ich sehe es Ihnen an.« Muller lächelte. »Nicht alles Wissen dieser Welt kann man zwischen Buchdeckeln finden. Das Wichtigste lernen wir von den Menschen direkt, und man braucht sehr lange, um es zu lernen – länger, als Ihr Leben bisher gedauert hat, mein Junge. Ich habe beobachtet, wie Sie allmählich lern‐ ten, sich Helens wechselnden Stimmungen anzupassen, wie Sie lernten, Beleidigungen und Beschimpfungen hin‐ zunehmen, die Sie nicht verdienten. Und ich habe gesehen, wie Sie immer wieder zu ihr gingen, trotz allem, was sie Ihnen antat, wie Sie bei ihr saßen und sich mit ihr unter‐ hielten. Sie haben erkannt, daß die wahre Liebe sehr wenig mit den Vorstellungen zu tun hat, die gefühlvolle Lieder oder romantische Filme in uns erwecken, Frank. Wenn Sie mir jetzt sagen, daß Sie Helen Grosvenor lieben, dann wer‐ de ich es akzeptieren, weil ich weiß, daß Sie die Bedeutung des Wortes ,Liebe’ verstehen. Lieben Sie Helen, Frank?« »Ja.« Die Analyse des alten Mannes war völlig richtig gewesen und überraschend einfühlsam. Plötzlich empfand Frank großen Respekt vor Dr. Muller, und gleichzeitig war er ein wenig verwirrt. Er trank einen Schluck Tee, um seine inne‐ re Bewegung zu verbergen. »Sehr gut«, sagte Muller. »Dann werden wir Helen retten können.« Frank hob erschrocken den Kopf. »Retten?« flüsterte er. Muller nickte und sah ihn ernst an.
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»O ja – retten. Ich habe das richtige Wort gebraucht. Wir müssen sie retten, denn es würde nicht genügen, sie zu hei‐ len. Das wäre auch gar nicht möglich. Sie müssen verste‐ hen, daß sie gar nicht krank ist, Frank. Der Feind, gegen den wir ankämpfen, ist keine Krankheit. Es ist eine böse Macht, und Ardath Bey verkörpert diese Macht. Deshalb mußte ich wissen, was Sie für Helen empfinden. Ich möchte Ihre Liebe als Waffe benutzen – vielleicht ist sie sogar unse‐ re einzige Waffe. Wenn Helen Ihre Liebe erwidert, haben wir eine Chance. Wenn nicht, machen zehn Minuten mehr oder weniger keinen Unterschied.« »Wo ist sie, Dr. Muller?« »Im Museum natürlich. In Ankhesenamens Galerie.« Der Doktor blickte auf seine Armbanduhr. »Wir werden in et‐ wa sechs Minuten aufbrechen.« Der Nubier goß Öl in eine Lampe und zündete den schwankenden Docht an. Ein schwacher, tröstlicher Schein beleuchtete die Galerie, und in diesem Licht sah sie Ardath Bey, der sich über ein Alabastergefäß beugte und ein Bündel Kleider heraus‐ nahm. »Dies ist für dich«, sagte er, dann folgte er dem Nubier in einen anderen Raum, ließ sie allein, damit sie sich umzie‐ hen konnte. Sie hielt die feingewebte Leinenrobe ins Licht, ließ die Fin‐ ger über die exquisite goldene Perlstickerei gleiten, drückte das Gewand an die Wange, um den weichen Stoff zu füh‐ len. Dann zerrte sie an den unhandlichen Knöpfen ihres 134
schlechtgeschnittenen, unbequemen Kleides, konnte es kaum mehr erwarten, es abzustreifen, das kühle Leinen auf ihrer Haut zu spüren, die leichten Sandalen an den Füßen. Als Ardath Bey ein paar Minuten später zurück kehrte, trug er ein loses weißes Gewand ohne jeden Schmuck. Er blieb im Eingang der Galerie stehen, streckte den rechten Arm nach ihr aus und neigte den Kopf. Der Nubier, der jetzt nur mit einem Lendenschurz beklei‐ det war, trat neben ihn und verbeugte sich. Sie fand das Benehmen der beiden Männer keineswegs seltsam, nicht einmal dann, als der Diener auf ein Zeichen seines Herrn das Schloß von Ankhesenamens Juwelenkas‐ sette zertrümmerte und den Deckel hob. Sie blieb reglos stehen und wartete. Sie wußte, daß sie nun geschmückt werden sollte. Ardath Bey schickte den Nubier zurück an die Arbeit, dann griff er in die Schmuckkassette. Seine Finger schlossen sich um einen Gegenstand, der sie zu verbrennen schien. Die Form des Schmucks verriet ihr sofort, was er da umfaßte – die winzige Statuette der Isis. Seine Hand zitterte, als er das Amulett aus dem Kästchen nahm. Wie eine winzige gewundene Natter lag es auf sei‐ ner Handfläche – ein lebendiges, warmes, tödliches Ding. Seine Angst war unpassend. Ärgerlich warf er das Amulett in eine dunkle Ecke und griff noch einmal in die Kassette. Diesmal zog er den Brustschild hervor, der mit schweren Steinen besetzt war und im alabastergefilterten Lampen‐ licht funkelte.
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Sie trat auf ihn zu, damit er ihr den Schmuck um den schlanken Hals legen konnte. Dann nahm er die Ringe aus dem Kästchen. Sie streckte die Finger aus, und er steckte auf jeden Finger einen schweren Ring und goldene, schlan‐ genförmige Armbänder an ihre Handgelenke. Zum Schluß wand er das goldene Uräusschlangenband um ihre Stirn, dann neigte sie den Kopf, und er setzte ihr die Krone aus goldenem Filigran auf. Nun war das Werk vollendet. Er trat zurück, um sie zu be‐ wundern, ihre Schönheit, die in diesem Augenblick voll‐ kommen war. Es war der Augenblick des Sieges, ein Triumph für sie beide. Hier hatte die Zeit, die sonst unbe‐ siegbar war, eine Schlacht verloren, einen Teil ihres Impe‐ riums an dieses Paar abgetreten. Er zog sie zum Sofa und bat sie, sich darauf zu legen, und erklärte ihr, was sie erreicht und wie sie den schlimmsten Feind überwunden hatten – den Verfall des menschlichen Körpers. Seine Worte schienen ihr Gehirn wie Sand zu füllen, der in eine Vase gegossen wird, schoben ihre Gedanken beiseite, drückten sie immer weiter an den Rand – diese Worte, die durch ein kleines Loch in ihrer Schädeldecke hereinflossen ... Wenn seine Worte sie ganz erfüllt hatten, wenn ihr Ich durch jenes kleine Loch entwichen war, würde er das neue Wissen in ihr festigen, indem er einen starken Druck aus‐ übte, den sie als Schmerz empfinden würde. Das wußte sie, aber es machte ihr nichts aus, denn er hatte sie gelehrt, die Verwandlung willkommen zu heißen. 136
Sie vertraute ihm. Er hatte ihr gesagt, sie müsse ihm ver‐ trauen. Er würde ihr Leben auslöschen, um ihre Seele zu befreien. Er würde mehrere Leben vernichten, die alle mit dieser einen Seele existiert hatten, mit der Seele, die ein neues Dasein führen sollte. Er hatte gesagt, daß er dies tun würde, und sie hatte nicht widersprochen, weil sie weder das Verlangen noch die Wil‐ lenskraft dazu besaß. Die feste Leinenbespannung des Sofas schmiegte sich an ihren Körper, als sie auf dem Rücken lag und lauschte und in den Bronzespiegel starrte, den er vor ihr Gesicht hielt. Sie spürte das Gewicht ihres Körpers nicht mehr, sie schien zu schweben. Sie fühlte es mehr, als daß sie es sah, wie er den Papyrus auseinanderrollte. Am Klang seiner Stimme erkannte sie, wann er zu ihr sprach und wann er die Worte vorlas, die auf dem Papyrus geschrieben standen. Es war unmöglich, die Sprache zu identifizieren, die er gebrauchte, und doch verstand sie jedes Wort. Er sagte ihr, daß sie nun eine lange und oft beschwerliche Reise antreten müsse. Ihre Seele würde auf die Reise gehen, nicht ihr Körper, aber ihr Körper würde die Schmerzen fühlen. Doch das war nicht wichtig. Die menschlichen Kör‐ per hatten keine Bedeutung, man konnte sie ersetzen. Am Ende der Reise würden Körper und Seele übereinstimmen, und dann würde sie nie mehr an ihrem wahren Ich zwei‐ feln und auch nicht mehr fragen, wer er sei. Sie würde es wissen. Und dieses Wissen, das sie einst besessen hatte, würde dann auf immer bei ihr bleiben, und die Aufzeich‐ 137
nungen des Osiris würden im Buch der Seelen verwischt werden. Als er zu singen begann, sah sie ihr Bild in der polierten Bronze des Spiegels. Ihr weißgepudertes Haar war hoch aufgetürmt. Sie stand neben einem Brunnen am Ende einer langen Zypressenallee. Neben ihr stand ein junger Mann in seidenen Hosen, mit einem Federhut auf dem Kopf. In gewählten Worten bat er sie um die Ehre, sie lieben zu dürfen. Sie lächelte, als sie sich erinnerte. Es war in Versail‐ les gewesen, im letzten Sommer ‐oder vielleicht im vorletz‐ ten Sommer, und der Galan hatte Charles geheißen — Marquis dAregnes. Sie sah im Spiegel, wie sie lächelnd den Kopf schüttelte. Ja, sie erinnerte sich ganz genau. Er hatte gedroht, sich in den Teich zu werfen, wenn sie ihn abwies. Und sie hatte geantwortet, wenn er sich mitsamt seinen Kleidern ertränkte, würde der Teich über die Ufer treten, und das wäre doch sehr unerfreulich. Das Bild verschwamm vor ihren Augen. Als die Spiegelflä‐ che wieder klarer wurde, sah sie sich in einem Samtmantel auf einem Podium stehen, in der großen Halle von Wro‐ thingham Castle. Vor ihr hatten sich die Ritter ihres Gemahls versammelt, Lord Henrys of Wrothingham, und standen Schlange, um ihr die Hand zu küssen, bevor sie zum Kreuzzug aufbra‐ chen. Sie trugen weiße Umhänge, bemalt mit roten Kreu‐ zen. Es war eine sehr schöne Szene, aber irgend etwas stör‐ te sie, als sie das Geschehen jetzt in ihre Erinnerung zu‐ rückrief, und sie konnte nicht feststellen, was es war.
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Da trat Giles Fitzalan vor, um ihre Hand zu küssen, und als die Spitzen seines dunklen Barts ihre zarte Haut streiften, wußte sie, warum dieser Abschied sie bedrückte. Ihre Au‐ gen füllten sich mit Tränen, während sie sah, wie Giles sich verbeugte und sich dann abwandte. Sie wollte ihn zurück‐ rufen, aber die Stimme gehorchte ihr nicht. Es war ohnehin zu spät, denn nun war De Bevis vorgetreten und versperrte ihr die Sicht. Zu spät – denn Giles Fitzalan war vor den Toren Jerusa‐ lems gestorben, vom Krummsäbel eines Heiden erstochen. Ja, sie erinnerte sich. Die Gesichter der Toten vermischten sich mit den Gesichtern der Lebenden. De Bevis hatte einen Arm verloren, aber er war zurückgekehrt, Maltravers war auf Zypern getötet worden. Richard of Ainsbridge hatte überlebt. John Bowmaster war tot. Die Lebenden und die Toten warteten in Reih und Glied, um ihr die Hand zu küs‐ sen. Entsetzt wich sie zurück vor der prophetischen Vision und wandte sich ab. »Du erkennst sie alle wieder.« Er hatte seinen Gesang unterbrochen, um ihr dies zu sagen. »Es werden noch andere kommen – aber es wird nicht mehr lange dauern.« Als er weitersang, sah sie die Einfriedung, die sie sofort er‐ kannte. Und ein zweiter Blick zeigte ihr, daß der Zaun brannte. Die Wikinger waren innerhalb des Zaunes und schwangen ihre großen Äxte. Sie hörte die Schreie der Frauen und gelegentlich den tiefe‐ ren Schrei eines Mannes, wenn eine Axt oder ein Speer töd‐ liche Wunden riß. Sie spürte Panik in sich aufsteigen, als 139
Wulfric in die Hütte stürmte, um die Nachricht zu über‐ bringen. Entsetzt sah sie, daß seine eine Körperhälfte eine einzige offene Fleischwunde war. Sie konnten den Wikin‐ gern nicht mehr standhalten. Die Barbaren brannten alles nieder, erdolchten alle Männer, vergewaltigten die Frauen. Manchmal warfen sich ein Dutzend Wikinger auf eine ein‐ zige Frau. Die Mädchen umklammerten ihre Beine, schluchzten in animalischer Angst, flehten sie an, sie möge ihnen doch sa‐ gen, was sie tun sollten. Sie wußte, was zu tun war. Aber sie wollte es nicht noch einmal tun. Sie wußte, was man dabei fühlte, hatte es erlebt, und sie fürchtete sich davor. Aber sie warfen sich bereits gegen die Eichentür, und die Zeit war knapp. Sie sah, wie sie niederkniete, um Wulfrics Stirn zu küssen, die schon kalt war, dann zog sie den eiser‐ nen Dolch aus seinem Gürtel. Sie stand auf und blickte um sich, mit dem Trotz und dem Stolz, der ihrem Rang zukam. Und als das Tor unter den Axthieben der Wikinger nachgab, stieß sie sich die Klinge tief in die Brust, mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte. Zuerst bahnte sich der Dolch einen weißglühenden Pfad zu ihrem Herzen. Dann schwoll er an in ihrem Inneren, und sie spürte, wie er sich in ihr Fleisch fraß, wie die eiserne Schwere das sanfte Gewebe ihres Körpers zerstörte, der sich wie eine weiche Scheide um die Klinge schloß. Sie warf sich hin und her auf dem Sofa, und sie war unfä‐ hig, den Schrei auszustoßen, der die Schmerzen lindern könnte. Sie wand sich, wälzte sich umher, und ihr Körper war nun unglaublich schwer, nachdem das Eisen einged‐ 140
rungen war, sich wie ein Krebsgeschwür ausgebreitet hatte, in ihrem Inneren zur Größe eines Baumstammes ange‐ wachsen war. Und dann begann sich der Spiegel erneut zu verdunkeln, und ihr Atem ging langsamer und regelmäßiger, das Eisen schmolz und verwandelte sich wieder in Fleisch. »Nun wirst du keine Schmerzen mehr haben«, versprach er. »Diesmal wirst du nicht leiden.« Und sie sah im Spiegel Demetrius, der ein rohgezimmertes Holzkreuz hielt. Sie kniete davor, inmitten der betenden Schar. Sie küßte das Kreuz, als die Türen aufflogen, kniete noch einmal nieder für einen Augenblick, um die Frau aus Jaffa zu trösten und sie daran zu erinnern, daß sie einen würdevollen Tod sterben müsse, um sich ihren Mördern überlegen zu zeigen. Hätte auch Er das gesagt? Vielleicht nicht. Er würde sie alle gebeten haben, den Feinden zu verzeihen. Nun, das konnte man von der Frau aus Jaffa nicht verlangen, die nun auf‐ gestanden war und den Soldaten durch die Tür folgte. Sie tauchten ein in die Helligkeit und den Tumult der Are‐ na – sie selbst, die Frau aus Jaffa und alle anderen, die sich Jesus und dem Kreuz geweiht hatten. Sie spürte den kleb‐ rigen Sand, feucht von Blut, der an ihren Füßen hängenb‐ lieb, hörte die Menge kreischen, wie sie vor hundert Jahren gekreischt und nach Seinem Blut verlangt hatte. Ein Adeli‐ ger saß in seiner Loge, stieß tiefe, kehlige Laute aus und fuhr mit beiden Händen durch die Luft. Sie sah, daß die Frau aus Jaffa sich schon wieder fürchtete, und sie legte einen Arm um ihre Schultern, flüsterte ihr et‐ 141
was ins Ohr, um sie abzulenken. Denn jetzt wurde das Tor in der Wand der Arena geöffnet, und dahinter sah sie Schemen aus gelbbraunem Fell, die sich unruhig bewegten. Demetrius hob seine alten, mageren Arme, um Ihn anzuru‐ fen oder um die Löwen abzuwehren – sie wußte es nicht. Aber sie hörte ihn sagen: »Cruve vitam intrabimus« — im gleichen Augenblick, als das erste wilde Biest seine triefen‐ den Fänge in den Arm schlug. Die Schreie der Frau aus Jaffa dröhnten ihr in den Ohren, als eine der Bestien sie alle beide in den Sand warf. Sie hiel‐ ten sich eng umschlungen. Und wirklich – sie fühlte keinen Schmerz, als sich ein Nebel auf den Spiegel legte. Sand drang in ihren Mund, der sich zu einem Lächeln öffnete, als sie in ein neues Leben hinüberging. Und wieder wandelte sich das Bild im Spiegel. Jetzt sah sie sich so, wie sie in Wahrheit war, in der feinen Leinenrobe mit der goldenen Perlstickerei, mit dem Uräusband um die Stirn gewunden. Aber im Spiegel trug sie keine Krone, und Imhotep war bei ihr und umarmte sie im Heiligtum des Isistempels zu Kar‐ nak. Auch daran erinnerte sie sich. Es gab auch keinen Grund, warum sie das hätte vergessen sollen, denn es war erst vor kurzem geschehen, und es war noch ungewiß, wo‐ hin das alles führen würde. Doch dessen war sie sich nicht so sicher. Als sie die Umarmung beobachtete, hatte sie das Gefühl, sie hätte das Ende ahnen müssen – das Ende, das ihm und ihr bevorstand. Die verbotene Liebe mußte Kon‐ sequenzen haben – diese Liebe zwischen ihr und dem Ho‐ henpriester des Tempels. Aber sie konnte sich nicht erin‐ 142
nern, ob es irgendwelche Konsequenzen gegeben hatte. Vielleicht würde das noch kommen. Sie erinnerte sich noch genau, wie und wann und warum die Affäre begonnen hatte. Natürlich hatte es erst nach Tutenchamons Tod angefan‐ gen, denn sie hatte ihren jungen Ehemann mit allen Fasern ihres Herzens geliebt. Und sie hatte auch nach seinem Tod nicht aufgehört, ihn zu lieben. Der einzige Schatten, der auf ihre Ehe fiel, war die ungünstige Lage ihrer Gebärmutter gewesen. Die beiden totgeborenen Kinder waren mumifi‐ ziert worden und lagen nun zusammen mit ihrem Vater unter der Erde. Wie erschütternd war das alles gewesen – sein Begräbnis, das Begräbnis der Kinder ... Im Alter von achtzehn Jahren war er ohne Nachkommenschaft gestorben und hatte es ihr überlassen, den schwankenden Thron zu sichern, um den Horemheb und Ay wetteiferten, die beiden mächtigsten Männer des Reiches. Sie selbst war fast noch ein Kind, das sich an kindischen Spielen freute, an Spielen, die sie zum Beispiel gemeinsam mit Tutenchamon genossen hatte, wenn sie ihn auf seinen Jagdausflügen begleitete. Dann hatte sie seinen Köcher ge‐ tragen und über sein Geschick als Bogenschütze gespottet ‐ jedesmal, wenn sie ihm einen Pfeil gereicht hatte. Und sie hatte ihn herausgefordert, auf die unmöglichsten Ziele zu schießen, und Wetten mit ihm abgeschlossen, daß er ja doch nicht treffen würde. Eine dieser Szenen hatte sie auf seinem Bestattungsthron eingravieren lassen, zusammen mit den Bildern, die sie 143
beide bei einem anderen Lieblingsspiel zeigten – wie sie ei‐ nander mit duftenden Ölen einsalbten. Ja, das war eine ganz besondere Art der Liebe gewesen, eine kindliche, un‐ zerstörbare Liebe. Nach seinem Tod sah sie sich durch die Umstände ge‐ zwungen, beängstigend schnell erwachsen zu werden, eine Reife zu erlangen, die ihrem Alter noch nicht zukam. Zu jener Zeit war Imhotep nur ein Name für sie gewesen, ein Name wie so viele andere. Damals war er nur ein kleiner Priester von Ays Gnaden gewesen. Wäre er doch nur Hoherpriester gewesen – schon damals – einer Ehe mit ihr würdig ... Oder wenn sie ihn schon damals gekannt hätte – sie hätte von seinem niede‐ ren Rang profitieren können. Aber nun war sie nach der katastrophalen Brautwerbung der Hethiter gezwungen, zwischen den beiden alten, ver‐ feindeten Männern zu wählen – Ay oder Horemheb, Ho‐ remheb oder Ay, den General oder den Schatzmeister. Und doch gab das Schicksal mit einer Hand zurück, was es mit der anderen genommen hatte, denn indem sie sich für Ay entschied, verhalf sie Imhotep zu Ansehen und Bedeutung. Bei Ays Krönung sah sie ihn zum erstenmal. Als neuer‐ nannter Hoherpriester von Karnak waltete er bei der Zere‐ monie seines Amtes. Und schon während der Feierlichkei‐ ten spürte sie seinen milden Spott, entdeckte Spuren von Belustigung in seinem schiefen Lächeln. Und als sie ihn eines Tages später im Palastgarten traf, fragte sie ihn in kindlicher Offenheit, warum er denn so seltsam gelächelt hätte. 144
»Wenn ich gelächelt habe«, erwiderte er, »dann nur aus Freude, Sie mit Ihrem neuen Gemahl so glücklich zu sehen.« »Und warum sollte ich nicht mit ihm glücklich sein?« fragte sie pikiert. »Aus keinem Grund. Ein junger Hethiterprinz wäre ihm zwar überlegen, was die Manneskraft betrifft. Doch diesen kleinen Mangel kann er zweifellos mit größerer Reife und Weisheit ausgleichen:« Sie war zu schockiert gewesen, um eine Antwort zu finden. Wenn Imhotep von ihrem Brief an die Hethiter wußte – dann wußten vielleicht auch alle anderen Bescheid. Ay könnte den Hohenpriester beauftragt haben, ihr eine Falle zu stellen, und sie dann des Hochverrats beschuldigen. Oder wollte Imhotep sein Wissen benutzen, um sich Vortei‐ le zu verschaffen – um seine Karriere noch weiter auszu‐ bauen? Am nächsten Tag ging sie in den Tempel, um ihn zur Rede zu stellen und ihn als Intriganten zu beschimpfen. Sie ge‐ riet in Wut und drohte ihm, aber Imhotep lächelte nur sein schiefes Lächeln. »Es ist Ihr gutes Recht, dem Pharao von diesem Gespräch zu berichten«, sagte er. »Aber was meine vermeintlichen Intrigen betrifft – ich wäre doch nicht so dumm, mit Kro‐ kodilen um die Wette zu schwimmen, mit Löwen um die Wette zu jagen oder gegen Intriganten zu intrigieren. Wie könnte ich mich je mit diesen Meistern ihres Fachs messen? Wie könnte ich je versuchen, sie zu überlisten?«
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Widerwillig mußte sie sich eingestehen, daß ihr sein schie‐ fes Lächeln gefiel. In den nächsten Tagen besuchte sie den Tempel sehr oft. Zuerst benutzte sie Imhotep als Resonanzboden, dann als Vertrauten. Sie unterzog ihn einer Prüfung, erzählte ihm einiges über ihren Mann, um herauszufinden, ob der Pha‐ rao davon erfuhr. Als nichts dergleichen geschah, schenkte sie Imhotep immer größeres Vertrauen. Er hörte ihr geduldig zu, heiterte sie auf, wenn sie schlech‐ ter Laune war, aber er stellte keine Forderungen an sie. Sie waren bereits enge Freunde geworden, als sie aus ande‐ rer Quelle erfuhr, daß Ay ins Bett seiner ersten Frau zu‐ rückgekehrt war. Diese Neuigkeit überraschte sie nicht, wenn auch ihr Stolz ein wenig verletzt war. Dabei hatte sie Ay nicht einmal abgewiesen. Er war viel zu selten in ihr Schlafgemach gekommen, um eine Zurückweisung heraus‐ zufordern. Und so war es nicht Liebe, sondern eher Trotz, der sie be‐ wog, Imhotep in ihr Bett zu holen. Und seit jenem Tag ge‐ hörte ihr Leben ihm, an jenem Tag begann ihre Liebe zu wachsen. Es war eine andere Art von Liebe als jene, die sie mit Tu‐ tenchamon geteilt hatte, und so war die Erinnerung an ih‐ ren verstorbenen Mann auch nicht bedroht. Jene Liebe war verspielt und voller Späße gewesen, die gesunde Leiden‐ schaft zweier junger Menschen, die sich selbst kennenlern‐ ten, indem sie den anderen entdeckten. Doch die Liebe zu Imhotep stellte Ansprüche an ihren Geist, und ihren Verstand – nicht nur an ihren Körper, der 146
Imhoteps bescheidenen Forderungen leicht genügen konn‐ te. Diese Liebe lehrte sie, ihre bisherige Wertskala in Frage zu stellen, hinter die Außenfläche der Dinge zu schauen, das Triviale und Vergängliche ihres Lebens dem unter‐ zuordnen, was für die Menschheit von dauerhafter Bedeu‐ tung war. Diese Liebe, die sie mit einem Hohenpriester von Karnak verband, wurde für sie zu einer Art religiöser Erfahrung, denn er bekehrte sie zur Seelenverehrung. Es war Imhotep, der sie lehrte, was es hieß, eine Seele zu haben, daß die See‐ le mehr war als nur eine Spielmarke, die auf einem trans‐ zendentalen Spieltisch hin und her gerückt wurde. Er lehr‐ te sie die Oberflächlichkeit der Religion zu durchschauen, eine wahrere und tiefere Religion zu finden, die ihre Wur‐ zeln, ihren Anfang und ihr Ende nicht in irgendeinem Tempel oder einem heiligen Buch hatte, sondern im Willen, im Geist und im Herzen des Menschen. Die Religion, die Imhotep sie begreifen lehrte, stellte eine einzigartige Macht dar, die nicht halbiert wurde, wenn zwei Menschen sie miteinander teilten, sondern verdop‐ pelt. Und diese doppelte Macht konnte jeder gegnerischen Macht standhalten. Er lehrte sie, die Liebe als allerhöchste Macht zu begreifen, die der Macht von Priestern und Magiern überlegen war. Und er veranlaßte sie, ausschließlich der Liebe zu dienen. All das hatte Imhotep ihr beigebracht, und neues Wissen ersetzte das alte und nährte die Liebe, die sie mit dem Freund verband. Und die Liebe wiederum nährte ihre Weisheit. 147
Sie spürte Imhoteps Anwesenheit im Raum und sah hinab, sah ihn neben ihrem Sofa knien. Eine Erinnerung regte sich in ihr. Es war, als sei sie aus einem langen, komplizierten Traum erwacht, um festzustellen, daß kaum ein Augen‐ blick verstrichen war, während sie geschlafen hatte. Dies war ihr letztes Erwachen gewesen, bevor sie erneut eingeschlafen war – sie selbst fiebernd im Bett, Imhotep auf den Knien an ihrer Seite. Sie war verwirrt. Der Traum war in gewissem Sinn realer gewesen als das, was sie jetzt erleb‐ te. Sie nannte ihn beim Namen, streckte die Arme aus, um ihn an sich zu ziehen. Aber er wich zurück. Warum entfernte er sich von ihr? Wegen ihres Fiebers? »Ich habe Angst«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wo wir sind. Dies ist nicht der Tempel – auch nicht mein Zimmer.« Er sprach mit leiser Stimme, die brüchig klang vor innerer Bewegung. »Fürchte dich nicht, Ankhesenamen.« »Es wurde so dun‐ kel«, sagte sie, als die Erinnerungen wiederkamen. »Ich war krank, und du knietest an meinem Bett – so wie jetzt. Dann wurde es dunkel, und ich glaubte, das sei der Tod. Aber ich habe kein Fieber mehr, Imhotep.« Sie lächelte er‐ freut. »Es ist vorbei – es ist überstanden. Ich bin nicht ge‐ storben, mein Liebster. Es geht mir viel besser.« »Die Dunkelheit hat nicht lange gedauert, meine Liebste. Du bist nicht mehr krank.« »Aber ich verstehe das alles nicht, Imhotep. Warum steht dieser Mumiensarg hier? Was ist das für ein Ort?«
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Sie hörte ihn seufzen, und es dauerte eine Weile, bis er wieder zu sprechen begann. »Eine lange Zeit ist verstrichen seit deinem letzten Erwa‐ chen, Ankhesenamen – seit jenem Augenblick, wo du mich zuletzt gesehen hast. Du erinnerst dich, daß ich ebenso wie jetzt an deinem Lager gekniet bin – in der letzten Stunde deiner Krankheit. Aber das ist schon lange her, und vieles hat sich seither verändert. Du mußt dich an diese Verände‐ rungen gewöhnen.« Sie schüttelte den Kopf, um ihm zu zeigen, daß sie immer noch irritiert war. »Es war die Stunde deines Todes, meine Liebste«, sagte er leise. »Du erinnerst dich doch an deine letzte Stunde. Sei‐ ther sind mehr als dreitausend Jahre vergangen.«
8. »Haben Sie das Amulett?« fragte Muller. Frank nickte und zeigte auf seine Brust. »Sie müssen es immer wieder berühren«, sagte Muller. »Es nützt vielleicht nichts, aber es kann auch nicht schaden. Noch etwas können Sie tun – denken Sie so oft und so in‐ tensiv wie möglich an Helen.« »Was glauben Sie denn? Woran sollte ich sonst denken?« »Ich meine, daß Sie sich auf ihr Bild konzentrieren müssen. Versuchen Sie Ihre Gedanken an Helen so substantiell wie möglich zu gestalten – denn sie sollen ein Hindernis sein, Frank. Eine unüberwindliche Mauer. Wenn Sie an Helen denken, dann legen Sie so viel Liebe in Ihre Gedanken, wie 149
Sie nur können. Ich habe jetzt keine Zeit mehr, um Ihnen meine Theorie zu erklären, jedenfalls glaube ich, daß es auf die Gedanken ankommt – nicht auf den Geist. Ein hoher Grad von gedanklicher Konzentration kann wie eine Mate‐ rie funktionieren, und das ist der Effekt, den wir erzielen wollen. In physikalischer Hinsicht können wir nicht viel gegen Imhotep tun.« Frank blieb in der Tür stehen und wandte sich um. »Imhotep?« »Ich dachte, Sie hätten es mittlerweile erraten«, sagte Mul‐ ler. »Ardath Bey ist Imhotep. Deshalb konnte die Polizei keine Personalakten über ihn finden. Er existiert nicht – zumindest nicht in unserem Zeitalter. Ardath Bey ist eine lebende Leiche, Frank. Eine dreitausend Jahre alte Leiche, die von der Schriftrolle des Thot ins Leben zurückgerufen wurde. Macht Ihnen das Angst?« Frank nickte langsam, sein Gesicht war aschgrau gewor‐ den. »Mein Gott – das ist doch unmöglich ...« »Es ist entsetzlich – aber nicht unmöglich.« »Und was hat er mit Helen vor?« »Das erzähle ich Ihnen im Auto. Ich habe unsere Aktion zeitlich genau eingeteilt. Wir können es uns nicht leisten, auch nur eine Minute zu spät zu kommen.« Er durfte sie nicht zwingen. Er mußte sie überreden – überzeugen. Es würde schwierig sein, aber er war sicher, daß es ihm gelingen würde. Sein
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Plan durfte einfach nicht scheitern. Zu lange hatte er auf diesen Augenblick gewartet. Sie gehörte immer noch ihm, war das gleiche liebenswerte, anpassungsfähige Geschöpf, das sie in jener früheren In‐ karnation gewesen war. Sie hatte sich ihm ganz anvertraut, und er hatte sie sein Wissen gelehrt, hatte ihr den Weg ge‐ zeigt, den sie gehen mußte. Hatte er ihr denn nicht beigebracht, daß die Liebe die stärkste Macht im Universum war? Wenn er ihr jetzt noch zeigte, was er aus Liebe erlitten hatte, würde sie ihm ihre Zustimmung nicht versagen. Wie konnte sie diese Welt der Technik und der Maschinen, diese Welt ohne jeden Zauber der einfacheren, menschli‐ cheren Welt vorziehen, die sie einst gekannt hatte? Es war unmöglich, daß irgend jemand und schon gar nicht Ankhe‐ senamen in einem Zeitalter glücklich sein konnte, wo die Menschen in keiner Verbindung zu ihren Göttern standen, wo sie die Macht ihrer Seelen vernachlässigten, sie oft so‐ gar vergessen hatten. Es war ihm schwer genug gefallen, das zu lernen, was er über dieses Zeitalter wissen mußte, um elf Jahre lang darin leben zu können. Sein Bewußtsein war während dieser Jah‐ re nicht zeitgemäß gewesen. Er hatte mit fremden, unme‐ lodischen Sprachen gekämpft, sich mit dummen Menschen auseinandersetzen müssen. Er hatte Whemple bekämpfen müssen, der zerstören woll‐ te, was er nicht begriff. Mit Whemples Sohn, der sein Ver‐ langen nach einem Mädchenkörper als Liebe mißdeutete,
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der einer Liebe im Weg zu stehen versuchte, die durch jahrhundertelanges Leiden erprobt worden war. Das würde er ihr zeigen müssen. Er mußte ihr zeigen, was er ihr zuliebe gelitten hatte, wenn er die seichte Helen Grosvenor ausschalten wollte, die jetzt noch ihre Seele überlagerte, wenn er das Original, das sich darunter be‐ fand, freilegen wollte. Ankhesenamen würde erkennen, daß eine zeitgebundene Inkarnation nicht ihr wahres Ich sein konnte – aber die Per‐ sönlichkeit Helen Grosvenor würde das nicht begreifen. Wenn sie nun doch wieder dominieren sollte, dann konn‐ ten ihre trivialen Gefühle für diesen Jungen seine Wieder‐ vereinigung mit Ankhesenamen bedrohen – wie ein auf‐ dringliches Insekt die Funktion eines empfindlichen Präzi‐ sionsinstruments stören kann. Sie hatte ihre Lage auf dem Sofa ein wenig verändert. Er mußte den Spiegel drehen, so daß sie sehen konnte, was er ihr zeigen wollte. »Du sollst wissen, wie ich für dich gelitten habe«, sagte er. »Wenn wir dieses Leid teilen, wird es uns noch enger anei‐ nander binden.« »Ich will dich nicht leiden sehen, Imhotep.« Er nickte. »Ich weiß. Aber du mußt. Ich muß dieses Grauen noch einmal erleben, wenn ich es dir zeige. Sieh jetzt in den Spiegel.« Er schloß die Augen und konzentrierte sich darauf, die Bil‐ der zu erzeugen. Zuerst die Verurteilung ...
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Ay auf seinem Thron, im weißen Gewand, mit der roten Krone des unteren und des oberen Ägypten, die Peitsche in der Hand. Imhotep hatte vor dem Pahari gestanden, flan‐ kiert von zwei Wächtern. Auf dem Marmorboden lag die Schriftrolle des Thot, als Schuldbeweis. Ay streckte die Peitsche nach ihm aus, und er stand stolz und aufrecht da, die Arme vor der Brust ver‐ schränkt, um seine Strafe zu empfangen. Er erinnerte sich an den bitteren Blick in Ays Augen, den Blick des Pharaos, dem man Hörner aufgesetzt hatte, des betrogenen Wohltäters. Ay hatte ihn als dreifachen Verbre‐ cher bezeichnet – als Frevler, der sein priesterliches Amt verriet, als Undankbaren, der das Vertrauen des Pharaos mißbraucht, als Ehebrecher, der seinen Regenten betrogen hatte. Er hatte Ays Erbitterung verstanden. Und er war nicht überrascht gewesen, als er die Strafe hörte. »Er hat mich zu einem namenlosen Tod verdammt, Ankhe‐ senamen. Er befahl die Schriftrolle des Thot zusammen mit mir zu vergraben, damit jener Frevel nie wieder begangen werden konnte. Und jetzt sieh dir dies an.« Er zeigte ihr den Sarg, dessen Linien die Umrisse eines Menschen nachzeichneten, er zeigte ihr die Stelle, wo die schützenden Sprüche weggekratzt worden waren, die einst den Deckel geziert hatten. »Dadurch wurde meine Seele in meinem Körper festgehal‐ ten. Ich lebte nur ein einziges Leben. Du hast viele Leben gelebt, Ankhesenamen. Mir war dieses Privileg nicht ver‐ gönnt. Man hat mich mumifiziert, so daß mein Körper 153
nicht dem Verfall preisgegeben war, aber man raubte mir die Hoffnung auf eine Wiedergeburt.« Er verstummte, konzentrierte sich auf die schrecklichen Bilder, und er rang nach Atem, als er jene Szene zum zwei‐ tenmal erlebte. Sie hatten ihn mit Bandagen umwickelt, bei den Füßen be‐ gonnen, hatten imprägniertes Leinen um seinen Körper gewunden, eine Schicht nach der anderen. Von neuem spürte er den Druck der engen Bandagen, die seine Beine zusammenpreßten, dann seine Arme – und schließlich fühl‐ te er, wie jene letzten Leinenstreifen ihm den Atem nah‐ men. Er wand sich verzweifelt, wehrte sich gegen den ers‐ tickenden Druck, sog den schwachen Lufthauch ein, der noch durch das Leinengewebe drang, so lang er nur konn‐ te. Der Stoff erstickte seine Schreie, sein heißer Atem strömte zurück in sein verzerrtes Gesicht, als sie immer noch mehr Bandagen um seinen Kopf wickelten, um Mund und Nase, bis keine Luft mehr zum Atmen übrig war. Sein Mund war trocken, das Leinen sog den Speichel auf, seine Lungen be‐ gannen sich zu dehnen, geweitet vom Druck seines Atems. Sein Hals brannte, seine Ohren dröhnten, schienen zu bers‐ ten, Blut überflutete sein Gesicht, und er starb würgend und qualvoll langsam. »Ich wurde in einem namenlosen Grab bestattet. Wahr‐ scheinlich hatte man die Sklaven getötet, so daß sie nicht verraten konnten, wo sich mein Grab befand. Und dann hatte man wohl auch die Soldaten umgebracht, die jene Sklaven abgeschlachtet hatten. Du weißt, daß das bei uns 154
so üblich war. Man mußte verhindern, daß meine Freunde Grabgeschenke in die Wüste trugen, daß sie mein Grab schmückten. Nichts durfte die Stelle kennzeichnen, 146wo meine verdammte Seele ruhte. Und auch die Schrift‐ rolle des Thot sollte den Augen der Menschen auf ewig verborgen bleiben. Über dreitausend Jahre lang lag sie un‐ ter der Erde, bis zu einem Zeitalter, das dem unseren so fern ist wie das unsere dem Beginn aller Zeiten. Was dann geschah, weißt du.« »Mein Liebster«, sagte sie und streckte die Arme nach ihm aus. Er sah, daß ihre Augen voller Tränen waren. Er wollte sie umarmen, ihr seine Liebe zeigen. Aber er trat zurück und las den Schmerz und die Kränkung in ihrem Blick. »Noch nicht, meine Liebste ‐noch nicht. Dein Körper ist vie‐ le Male erneuert worden – der meine nicht.« »Ich verstehe dich nicht, mein Geliebter.« »Deine Seele«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Deine Seele ist in diesem Körper. Aber sie gehört nicht dorthin. Sie gehört hierher.« Er trat zur Seite, um ihr den Blick auf den Mumiensarg freizugeben, und schlug mit der Faust darauf. »Hierher! « Sie starrte auf Ankhesenamens Bild, das im Sargdeckel ein‐ graviert war, und ihr Gesicht drückte Entsetzen aus, Ver‐ ständnislosigkeit, nackte Angst. »Hier drinnen liegt eine Hülle«, sagte Imhotep mit sanfter Stimme. »Nur eine Hülle. Damals versuchte ich vergeblich, sie mit neuem Leben zu erfüllen. Jetzt will ich es wieder 155
tun – jetzt kann ich es, glaub mir, es wird mir gelingen. Aber es wäre ein nichtiges Ding, das ich zum Leben erwe‐ cken würde, ein Ding, das sich ohne Seele bewegte.« Während er sprach, begann er die Mumie aus dem Sarg zu heben. »Es war nicht allein dieser Körper, den ich geliebt habe. Es war eine Seele – deine Seele, Ankhesenamen.« Imhotep griff nach der Lampe und entfernte den Alabas‐ terzylinder. Ein plötzlicher Luftzug ließ den Docht zittern, die Flamme warf verzerrte Schatten an die Wände. »Es ist nicht schwer, dieses leblose Ding zu zerstören, mei‐ ne Liebste. Aber für wenige Augenblicke mußt du seinen Platz einnehmen. Und dann wirst du wieder auferstehen und für ewig vom Tod befreit sein – so wie ich mich selbst befreit habe.« Er hielt die Flamme an die Füße der Mumie. Einige Au‐ genblicke lang stand er reglos neben dem Sarg und sah zu, wie die trockene Leiche Feuer fing und brannte. Dann wandte er sich der Tür zu, die in den Einbalsamierungs‐ raum führte, und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Frank Whemple lenkte den Wagen automatisch durch die Straßen. Seine Gedanken waren bei Helen. Es war viel schwieriger, als er sich das vorgestellt hatte, seine Gedanken ganz auf sie zu konzentrieren. Irgend et‐ was schob sich immer wieder dazwischen, verwischte das Bild, das vor seinem geistigen Auge stand. Zuerst hatte er versucht, ihr Bild in seiner Phantasie festzu‐ halten, als würde er ihr Foto an eine Wand nageln.
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Dann hatte er versucht, abstrakt an Helen zu denken – an seine Liebe zu ihr, an sein Verlangen nach ihr – aber alles, was er in Gedanken festhalten konnte, waren Worte – die Worte ,Liebe’ und ,Verlangen’ in Großbuchstaben, Worte als Dinge, ihrer Bedeutung beraubt. 148Er hatte das Gefühl, daß seine Unfähigkeit, konzentriert an Helen zu denken, einen Scharlatan aus ihm machte. Aber war das Versagen seiner schwachen Einbildungskraft zuzuschreiben – oder seiner mangelnden Liebe zu Helen? Er versuchte eine Szene, die sich in den vergangenen Tagen abgespielt hatte, neu zu erleben. Helen, die auf der Couch im Salon lag und sich über seine Schüchternheit lustig machte ... Die Szene im Auto, an jenem ersten Abend, wo sie auf dem Platz gesessen hatte, auf dem jetzt Muller saß, wo sie ihm für die Freundschaft gedankt hatte, die er ihr schenkte ... Und dann das Mittagessen im Restaurant, wo er zum ers‐ tenmal bemerkt hatte, daß sie krank war ... Sie hatte bei je‐ ner Gelegenheit irgend etwas über die Vergangenheit ge‐ sagt. Aber er konnte sich nicht mehr genau daran erinnern. Andere Momente, die aus anderen Szenen stammten, glit‐ ten an seinem inneren Auge vorbei – einige flüchtig, einige zu schmerzhaft, um festgehalten zu werden, schmerzhaft wie winzige Nadelstiche. War dies der Grund, warum es ihm so schwerfiel, an sie zu denken? Weil es zu viele schmerzliche Augenblicke gege‐ ben hatte? Oder weil die Liebe zwischen ihnen, die nach Mullers Behauptung so wichtig für Helens Rettung war, nie
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Wirklichkeit geworden – niemals mehr als ein Wunsch‐ traum gewesen war? Es schien keine andere Erklärung zu geben für das Phäno‐ men, das ihn jetzt bestürzte – daß es unmöglich war, diese Liebe in sein Bewußtsein zu rufen. »Glauben Sie an die Wiedergeburt?« Die Frage riß Frank aus seinen Gedanken. »Wie bitte?« »Die Wiedergeburt spielt in der Kultur vieler Völker eine große Rolle«, sagte Muller. »Zum Beispiel auch bei den al‐ ten Ägyptern. Ich habe mir gerade überlegt, ob Sie daran schon gedacht haben.« »Eigentlich nicht. Warum?« »Sie haben mich vorhin gefragt, warum sich Imhotep alias Ardath Bey für Helen interessiert. Ich werde es Ihnen jetzt sagen. Aber es wird Sie schockieren.« »Nach diesen letzten paar Tagen kann mich nichts mehr schockieren.« »Sehr gut. Sie müssen gegen jede Art von Entsetzen gefeit sein, wenn Sie ins Museum gehen, Frank. Ich bezweifle, ob Helen Sie erkennen wird. In gewissem Sinn wird sie gar nicht da sein.« »Aber Sie sagten doch ... Warum fahren wir dann über‐ haupt zum Museum?« »Um sie zurückzuholen – von irgendwoher, wo auch im‐ mer sie sein mag. Lassen Sie es mich in Worte fassen, die auch Ihr Vater akzeptiert hätte. Die Minimalthese. Ange‐ nommen, ein Ägypter namens Ardath Bey hat nichts weiter getan, als einen hypnotischen Einfluß auf Helen ausgeübt. 158
Daran ist nichts Okkultes. Dies ist ein Phänomen, das all‐ gemein bekannt ist, wenn auch kein Mensch ganz genau erklären kann, wie es funktioniert. Nehmen wir außerdem noch an, daß dieser Mann Helen eingeredet hat, sie sei in Wirklichkeit gar nicht Helen Grosvenor, sondern die Rein‐ karnation einer Königin aus dem Zeitalter der achtzehnten Dynastie – die Königin Ankhesenamen. Und er selbst, Ar‐ dath Bey, sei ein Priester aus Karnak und entstamme der‐ selben Epoche. Stellen Sie sich die beiden zusammen in ei‐ ner authentischen Szenerie aus der Zeit der achtzehnten Dynastie vor, Frank. Wie würde sich Helen benehmen?« »Ich kann Ihnen nicht ganz folgen«, entgegnete Frank. »Wie können sich die beiden in einer Szenerie aus der Epo‐ che der achtzehnten Dynastie befinden? Sie wollen doch nicht etwa behaupten, man könne zwischen den einzelnen Zeitaltern hin‐ und herreisen, Dr. Muller? An diesen Un‐ sinn glaube ich nicht, und ich ...« »Nein«, unterbrach ihn Muller. »Sie haben mich nicht rich‐ tig verstanden. Ich sprach von einer authentischen Szene‐ rie, mein Junge.« »O Gott – ja! Das Museum! Die Galerie Ankhesenamens! « »Genau. Helen würde dort besonders leicht zu beeinflussen sein, glauben Sie nicht auch? Sie würde sich in jeder Hin‐ sicht so benehmen, als sei sie wirklich Tutenchamons Köni‐ gin und nicht ein Mädchen aus dem zwanzigsten Jahrhun‐ dert n. Chr. Wenn Sie ihre wahre Identität nicht kennen würden, Frank ‐würden Sie wissen, wer sie ist? Glauben Sie, daß Sie es wüßten?«
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»Nein, ich glaube nicht. Und Sie behaupten, daß das alles geschehen ist, was Sie da soeben geschildert haben? Daß Helen deshalb in Gefahr ist?« »Das ist nur ein Teil dessen, was geschehen ist nicht alles. Aber im Augenblick will ich Ihnen nur klarmachen, daß Sie Helen vielleicht nicht erkennen werden, wenn Sie sie heute abend sehen, Frank. Ich möchte, daß Sie darauf vorbereitet sind. Auf alles andere kann ich Sie nicht vorbereiten. Es wird heute abend einen kritischen Augenblick geben, in dem sich alles zuspitzen wird, was in den vergangenen elf Jahren geschehen ist. Ja, denn vor elf Jahren hat alles ange‐ fangen – damals, als wir jene Mumie ausgruben. Ich sagte Ihnen, daß ich Ihnen eine Minimalthese liefere. Und ich glaube nicht, daß sie ausreichen wird, um alle Fakten zu erklären. Dr. Freud könnte uns heute abend nicht helfen, Frank, denn ich betrachte es als Tatsache, daß Ardath Bey und Imhotep ein und derselbe Mensch sind. Nein – nicht Mensch. Ein Ding – ein Monstrum. Ich glaube auch ‐ verzeihen Sie mir, daß ich Sie mit all dem belaste... Ich glaube ebenso, daß Helen tatsächlich eine Reinkarnation der Königin Ankhesenamen, und daß es ihr am heutigen Abend klargeworden ist. Die Helen, die Sie kennen, exis‐ tiert in diesem Augenblick nicht mehr, aber ich hoffe, daß die Transformation, der sie unterzogen wurde, wieder rückgängig zu machen ist. Wenn es möglich ist, die beiden Persönlichkeiten wieder miteinander zu vereinen, werden Sie es leider allein schaffen müssen, Frank – mit der Kraft Ihrer Liebe. Fällt es Ihnen schwer, das alles zu glauben? Ihm nicht. Er benützt die gleiche Waffe, die auch wir ein‐ 160
setzen wollen, um ihm das Mädchen zu entreißen. Aber vergessen Sie nicht, Frank – er ist uns gegenüber im Vorteil, denn er hat seine Liebe bereits bewiesen. Er hat für diese Liebe gelitten, ist dafür gestorben. Dreißig Jahrhunderte konnten seine Liebe nicht auslöschen. Ich möchte nur, daß Sie wissen, wie stark unser Gegner sein wird.« Franks Stimme klang verzweifelt. »Ich kann es nicht, Dr. Muller. Mit dieser Liebe kann sich die meine nicht messen.« Seine Hände umklammerten das Lenkrad so fest, daß die Knöchel weiß hervortraten. »Ich bin froh, daß Sie ehrlich sind, Frank«, sagte der Dok‐ tor. »Das ist eine Eigenschaft, die Helen zu schätzen weiß. Und das könnte uns einen kleinen Vorteil verschaffen. Das und noch etwas anderes.« »Was? Um Himmels willen – was?« »Ihre Jugend, Frank. Ihre und Helens Jugend.« Irgend etwas in diesem Raum störte sie. Sie kannte den Raum, wußte auch, wofür er bestimmt war. Aber sie spürte, daß sie hier fehl am Platz war, wenn sie auch nicht wußte, warum. Anubis, der Totengott, beherrschte den Raum. Der Gott mit dem Hundekopf stand vor der steinernen Platte, auf der die Toten einbalsamiert wurden, denn es war seine Aufga‐ be, die toten Seelen in die Unterwelt zu geleiten. In der rechten Hand hielt er die Crux Ansata, in der linken den Stab, der so lang war wie er selbst, und mit dem er den Toten den richtigen Weg wies. Auf der anderen Seite des Raumes stand der nubische Sklave vor einem Trog und rührte im Natronbad. Die Luft 161
war schwer, war erfüllt vom Geruch der Chemikalien, kratzte in ihrer Kehle. Sie trafen die nötigen Vorbereitungen, um sie einzubalsa‐ mieren, und das war es, was sie störte. Das Flintsteinmesser lag auf einem niederen Tisch bereit, um den heiligen Schnitt zu vollziehen, und auf einem Schränkchen häuften sich Leinenbandagen. Gegenüber der Tür stand eine Statue der Isis, die ebenfalls eine Crux Ansata in der Rechten hielt und in der Linken das Sistrum, das alte Rasselmusikinstrument. Sie trug eine gehörnte Kopfbedeckung, mit der Mondscheibe zwischen den Hörnern. Alles war bereit. Aber keine Leiche lag auf der Platte, um einbalsamiert zu werden. Die Mulden im Stein, die den Kopf und den Körper des Toten aufnehmen sollten, waren leer. Warum hatte Imhotep sie hierhergebracht? Einer Priesterin der Isis war es verboten, etwas Unsauberes zu berühren oder auch nur anzusehen – und doch schien er von ihr zu erwarten, daß sie eine Einbalsamierung mit ansah. Sie wandte sich ab, um zu gehen, aber Imhotep hielt ihren Arm fest. »Komm mit mir zum Altar des Anubis«, sagte er. »Die Zeit ist gekommen, um die letzten Gebete zu sprechen.« »Es wäre nicht richtig, wenn ich zusehen würde. Ich kann nicht hierbleiben.« »Du vor allem mußt bleiben«, sagte Imhotep. Sie befreite ihren Arm aus seinem harten Griff. »Was habe ich mit Anubis zu tun?« 162
Irgend etwas stimmte nicht. Er benahm sich so seltsam – war ihr plötzlich so fremd. Imhotep war doch immer so sanft gewesen, hatte sie stets respektvoll behandelt. Warum führte er sich plötzlich wie ein Bauer auf? Warum behan‐ delte er sie wie ein Sklavenmädchen? Wenn sie sich weigerte, bei einer Einbalsamierung zuzuse‐ hen, dann gab es doch gar nichts mehr dazu zu sagen. Und er hatte brutal ihren Arm umklammert, eine Druckstelle auf ihrer zarten Haut zurückgelassen, direkt unter dem kurzen Ärmel ihres Kleides. Ein dunkles Mal... Sie berührte es mit einem Finger, nahm an, daß sie nun einen Schmerz verspüren würde. Aber da war kein Schmerz, und das Mal verschwand wie Staub, ließ sich wie Staub von ihrer Haut wischen. Sie hob den Kopf, sah in sein Gesicht, sah den Tod in sei‐ nen Augen. Dieser Mann war nicht mehr ihr Liebster. Er war ein ande‐ res Wesen, das sie nicht kannte. Seine Haut schien durch‐ sichtig zu sein wie Papyrus, durch das der Schein einer Lampe dringt. Und seine Augen waren wie Lichter ohne Glanz, Licht ohne Leben. Augen – glühend wie Asche. Kerzen in einem leeren Schädel. . Sie begann vor ihm zurückzuweichen. Der Nubier hob sie auf die kalte Platte, bettete ihren Kopf und ihren Körper in die glatten Steinmulden. Und dann stand Imhotep neben ihr, als sich der kalte, unnachgiebige Stein an ihren Rücken preßte. »Warum siehst du mich so entsetzt an?« fragte er.
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»Weil du meinen Tod willst – und weil ich nicht dazu be‐ reit bin – noch nicht«, entgegnete sie. »Das ist keine Liebe, Imhotep. Du hast mich gelehrt, was Liebe ist. Aber das, was du mir jetzt antun willst – davon hast du damals nicht gesprochen.« Hinter Imhotep stand der Sklave und rührte im Natronbad. Sie warf einen Blick auf das dampfende Gefäß und schau‐ derte. »Du glaubst also, daß ich deinen Tod genießen werde, Liebste?« fragte Imhotep. »Glaubst du, daß mich der Aus‐ druck erfreut, den ich jetzt in deinen Augen sehe? Ich habe mich nicht verändert, Ankhesenamen. Wenn es eine Ver‐ änderung gibt – dann ist sie in dir vorgegangen. Das Mäd‐ chen, dessen Körper nun deine Seele umgibt wie ein schlechtsitzendes Kleid – dieses Mädchen würde den Tod fürchten, weil sie nicht versteht, was ewige Liebe bedeutet. Du hast recht. Ich habe dich lieben gelehrt und die Bedeu‐ tung der Liebe zu erkennen. Und was ich dir jetzt anbiete, ist ewige Liebe – ist ewiges Leben. Zuerst wirst du für ei‐ nen kurzen Augenblick Schmerzen empfinden. Und dann werde ich dich ins Leben zurückrufen – mit Hilfe der gro‐ ßen Zauberworte, die Isis gesprochen hat, um Osiris von den Toten zu erwecken. Ich werde dich in ein Leben zu‐ rückholen, das du für immer mit mir teilen wirst. Ist denn das so schrecklich, daß du es nicht ertragen kannst?« Verwirrt wollte sie den Kopf schütteln, aber die steinerne Mulde, in der sie gefangen war, behinderte ihre Bewegun‐ gen. »Ich weiß es nicht«, flüsterte sie. 164
»Vertraust du mir denn nicht, Ankhesenamen? Die Schrift‐ rolle des Thot hat die Macht, dich ins Leben zurückzurufen. Zweifelst du daran?« »Ich will nicht sterben – nicht auf diese Art. Es erscheint mir einfach nicht richtig, Imhotep. Ich komme mir so son‐ derbar vor – so fremd. Ich weiß nicht, wie ich es dir erklä‐ ren soll. Ich bin Ankhesenamen ‐ja. Aber ich bin auch je‐ mand anderer – jemand, der am Leben ist, ein Mädchen das leben will, in ihrem frischen jungen Körper. Ich will in die‐ sem Körper weiterleben, so lange es nur möglich ist. Ich will nicht, daß er in diese Natronbrühe geworfen wird.« Imhotep seufzte tief auf. »Weil ich dich liebte, mußte ich mich bei lebendigem Leib begraben lassen. Ich bedaure es nicht. Alles, was ich als Gegenleistung von dir erbitte, ist doch nur dieser kurze Augenblick des Schmerzes. Und dieser Augenblick ist der Weg, der zu unserer Wiedervereinigung führt. Du glaubst, daß in der Welt der Toten kein Raum für das Leben ist. Nun, damit hast du recht. Die Vereinigung wird nicht voll‐ kommen sein. Wenn ich in meinen sterblichen Körper zu‐ rückkehren könnte, ich würde es mit Freuden tun. Aber es ist mir unmöglich. So bleibt uns also nur dieser eine Weg. Wirst du dich weigern, auf diesem Weg zu mir zu kom‐ men?« »Du erbittest von mir eine Pflichterfüllung, Imhotep ‐nicht einen Akt der Liebe«, erwiderte sie. »Doch meine Pflicht ist es, am Leben zu bleiben ‐das Leben zu erhalten, das mir ge‐ schenkt wurde.« Imhotep griff nach dem Flintsteinmesser. 165
»Ich dachte nicht, daß du dich weigern würdest.« Sie hörte, wie verzweifelt seine Stimme klang. »O Imhotep! Es muß noch einen anderen Weg geben. Der Tod mag uns getrennt haben – aber ich liebe immer noch die Erinnerung an dich, an den Mann, der du damals war‐ st. Diese Erinnerung wirst du zerstören, wenn du mich tö‐ test.« »Ich habe mich nicht verändert seit jener Zeit, als du mich gekannt hast, Ankhesenamen, und sobald die große Ver‐ änderung an dir vollzogen ist, werde ich auch dich wiede‐ rerkennen. Es wird genauso sein, wie es vorher war.« Bevor sie noch weiter protestieren konnte, trat er hervor – aus dem grauen Schatten, der ihn bisher halb verborgen hatte. Als er den Arm hob, schimmerte die polierte Schnei‐ de des Flintsteinmessers im Lampenlicht, und sie begann stumm zu beten. Das Museum lag völlig im Dunkeln. Sie waren durch ein offenes Fenster im Erdgeschoß hinein‐ gestiegen, durch ein Fenster, dessen Riegel abgesägt waren, durch den Eingang, den auch Ardath Bey benutzt hatte. Frank zündete ein Streichholz nach dem anderen an, wäh‐ rend er mit Mullers Hilfe versuchte, den Flügel zu finden, in dem die Ausstellungsstücke aus dem Zeitalter der acht‐ zehnten Dynastie untergebracht waren. Sie kannten sich beide gut im Museum aus, sie wußten, wo sich die einzel‐ nen Abteilungen befanden. Aber die Dunkelheit verkürzte die Entfernungen und hatte ihren Orientierungssinn ver‐ wirrt. Und allmählich gingen ihnen die Streichhölzer aus.
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»Wie viele von diesen Dingern haben Sie noch?« fragte Muller nervös. »Zwei oder drei.« Das Streichholz, das Frank in der Hand hielt, verbrannte ihm plötzlich die Finger. Er ließ es fluchend zu Boden fallen, nahm ein anderes aus der Schachtel und zündete es an. »Verdammt, Muller, wir müssen doch gleich da sein!« »Noch nicht nah genug, um Helen helfen zu können. Ich habe das Gefühl, das wir schon zu spät kommen. Es wäre ganz allein meine Schuld.« »Wir können uns später darüber streiten, wer schuld ist. Welche Richtung müssen wir jetzt einschlagen?« »Geradeaus – durch die Ramses‐Galerie, dann die Treppe hinauf.« Frank ging ein paar Schritte weiter, an Muller vorbei, woll‐ te tiefer in den dunklen Korridor eindringen. Aber der Doktor hielt ihn am Arm fest. »Frank – lassen Sie mich allein gehen. Ich bin ein alter Mann. Mir kann er nicht viel anhaben – zumindest nicht viel, was von Bedeutung wäre.« »Lassen Sie mich los, Dr. Muller. Sie verschwenden nur kostbare Zeit.« »Sie sind der Sohn Ihres Vaters. Ich hätte wissen müssen, daß es keinen Sinn hat, Ihnen einen solchen Vorschlag zu machen.« Im flackernden Schein der Streichholzflamme warfen die Ausstellungsstücke groteske Schatten an die Wände, als sie die Ramses‐Galerie durchquerten. Die Köpfe der Statuen verlängerten sich so sehr, daß sie fast bis zur gewölbten 167
Decke zu springen schienen. Der Schatten einer Säule dehnte sich so aus, daß er eine ganze Wand füllte. Als ein Mondstrahl durch eines der großen Fenster fiel, konnten Dr. Muller und Frank mehrere Yards weit sehen und diese Strecke im Laufschritt zurücklegen, bis sie im schwarzen Dunkel des nächsten Korridors untertauchten. Das letzte ihrer Streichhölzer war abgebrannt, sie tasteten sich die steinerne Treppe hinauf, die zu Ankhesenamens Galerie führte. Muller rang nach Atem, aber als Frank eine stützende Hand unter seinen Ellbogen legte, schüttelte der alte Mann sie ab. »Ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß ich wenig zu verlieren habe, Frank«, sagte er. »Gehen Sie nur voran – ich werde Sie schon einholen ...« Er brach abrupt ab, als ein heller Lichtstrahl am Treppen‐ absatz aufblitzte und die beiden Männer sekundenlang blendete. Es war, als sei ohne Vorwarnung ein Gewitter losgebrochen. »Was war das?« stieß Frank hervor. »Das Licht einer Ta‐ schenlampe?« Muller gab ihm keine Antwort. Hastig stolperte er die Stu‐ fen hinauf. In jenem letzten Augenblick wandte sie sich der Statue der Göttin Isis zu. Als das Opfermesser in weitem Bogen auf sie herabsauste, streckte sie abwehrend einen Arm aus. »O Isis – Heilige Frau! Ich war deine Vestalin – dir ge‐ weiht.. «
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Imhotep hielt mitten in der Bewegung inne, als er ihre Worte hörte. »Ankhesenamen – ich flehe dich an ...« Doch sie ließ sich nicht beirren. »Jetzt rufe ich dich an. Lehre mich die geheiligsten Worte, den alten mächtigen Spruch, der mir in dieser Stunde der Not helfen kann ...« Er schrie gequält auf. »Ankhesenamen _ hab Erbarmen! Ich bitte dich ‐um des Mitleids willen ...« » ... Sehotpe ibre Mem‐mosut Sit‐sekhem!« Gelähmt vor Entsetzen sah Imhotep zu, wie sich der rechte Arm der Göttin zu bewegen begann -ganz langsam, die Crux Ansata ausstreckte, die geformt war wie die ewige Hieroglyphe, wie sich das machtvolle Gebilde ihm näherte – vernichten, zerschmetternd... Als sie bei ihr ankamen, hatte sie das Bewußtsein verloren. Frank hob sie sanft auf die Arme, drückte sie schützend an sich, als wäre sie ein kleines Kind, und weinte ohne Scham und ohne Hemmungen. Muller legte ein Ohr an ihre Brust. »Sie lebt. Sie müssen sie beim Namen rufen, Frank. Um Gottes willen, wenn Sie sie lieben, dann rufen Sie sie ir‐ gendwie zurück – zurück in diese Welt!« »Aber ich weiß nicht, wie ...« Verzweifelt suchte Frank nach Worten. »Helen, Helen. Liebste! Ich bin es ‐ Frank. Es ist al‐
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les vorbei, mein Liebes. Du bist in Sicherheit. Jetzt kann dir nichts mehr geschehen.« Sie rührte sich nicht, und in seiner namenlosen Angst be‐ gann er sie zu schütteln. »O Gott, ich schaffe es nicht, Muller«, flüsterte er. »Es geht nicht – sie reagiert nicht. Oh, was sollen wir nur tun!« »Versuchen Sie es – bemühen Sie sich. Sie müssen immer weiter nach ihr rufen, Frank. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.« Und in diesem Augenblick, als Frank die Wärme ihres Körpers an dem seinen fühlte, erkannte er zum erstenmal, daß er sie echt und wahrhaft liebte. Er hatte sie erst verlie‐ ren müssen, um zu wissen, wie groß, wie übermenschlich groß seine Liebe war. Dieses Wissen schnürte ihm die Kehle zu, drohte ihn zu ersticken. Ein Klumpen schien sich in seinem Hals zu bil‐ den, er schmeckte bittere Galle auf den Lippen... »Gott sei Dank«, sagte Muller, und diese Worte verwirrten Frank, denn er sah keinen Sinn darin. Bis er spürte, daß sich ihre Arme um seinen Nacken legten – bis er durch einen Tränenschleier sah, daß Helen die Au‐ gen geöffnet hatte, bis er das sanfte Heben und Senken ih‐ rer Brust an seinem Körper fühlte. Am äußersten Rand seines Blickfelds nahm er noch etwas anderes wahr. Auf dem Boden lagen die verwesten Reste eines Menschen. Der Kopf hatte sich vom Rumpf gelöst, ein Arm war abgefallen. Ein Knochen, der in dumpfem Weiß schimmerte, ragte aus einer schuppigen Masse dunkler, zerklüfteter Haut. 170
Es war deutlich zu sehen, daß dies die Leiche eines Mannes sein mußte, der vor langer, langer Zeit gestorben war. »Mein Liebling«, flüsterte Frank und legte seine Wange an die ihre. »Helen, Helen ...« »Tutenchamon«, sagte sie, aber als er zurückzuckte, als hät‐ te ihn eine Flamme verbrannt, schmiegte sie sich an ihn, nannte ihn Frank und brach in Gelächter aus. ENDE
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