Red Geller Schlosstrio Band 04
Die Mumie aus Kairo
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Red Geller Schlosstrio Band 04
Die Mumie aus Kairo
scanned by Ginevra corrected by AnyBody Wer bekommt in seinem Leben schon eine echte Mumie zu sehen? Wohl die wenigsten Menschen. Die drei vom Schloß-Trio hatten das Glück. Zusammen mit ihren Klassenkameraden besuchten sie eine Ausstellung 'altägyptischer Kunst. Der Mittelpunkt war die echte Mumie. Daß Randy zwischendurch bei einem Gang zur Toilette zwei RauschgiftDealer störte, konnte er nicht ahnen. Er wußte auch nicht, daß sich die Dealer um die Mumie kümmern wollten und daß er wider Willen zu einem gefährlichen Zeugen geworden war... ISBN 3-8144-1704-6 1988 by Pelikan AG Umschlaggestaltung: strat + kon, Hamburg Innen-Illustrationen: Solveig Ullrich
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Inhalt Das Versteck......................................................................... 3 Ein ungewöhnlicher Tag .................................................... 12 Die Mumie .......................................................................... 40 Krähes schwache Stunde .................................................... 52 Schmitz macht Ernst ........................................................... 60 Es wird Ernst ...................................................................... 78 Das weiße Gift .................................................................... 84 Eine ungewöhnliche Einladung........................................ 106 Dr. Ritter handelt ............................................................. 130 Keine Hoffnung?............................................................... 135 Vater und Sohn ................................................................. 147
Das Versteck Dämmriges Licht - graugrün und geheimnisvoll - hüllte den großen Raum mit den kahlen Wänden ein. Es gab kein Fenster, nur die glatten Flächen, zu denen auch der Fußboden gehörte. Eine Klimaanlage hielt die Temperatur konstant. Im Vergleich zu den hitze-, lärm- und stauberfüllten Straßen draußen vor dem Gebäude war es hier regelrecht kalt. Das dämmrige Licht gaben zwei Lampen ab, die unter der Decke befestigt waren. Ihre runden Lichtkörper steckten in unten offenen Metallrändern. Das Licht konnte direkt auf den Boden fallen und auf das makabre Ziel. Es war ein Sarg! Kein gewöhnlicher Sarg aus Holz, nein, er war schon etwas Besonderes. Dieser kantige Gegenstand, mehr lang als breit und aus Stein, besaß einen bestimmten Namen. Man sagte Sarkophag dazu! In früheren Zeiten wurden die hohen Herrschaften in diesen Sarkophagen bestattet, oft in die Krypten der Kirchen gestellt oder in alte Burg- und Schloßverliese. Der Sarkophag paßte nicht in die nüchterne Umgebung des hallenähnlichen Raumes. Er wirkte wie ein Fremdkörper, aber er war sehr, sehr wichtig. Das wußten auch die beiden Männer, deren Ausweispapiere am Eingang kontrolliert worden waren und die erst dann passieren durften. Sie fuhren mit dem Lift in den Keller des Instituts. Die Männer, von denen einer einen handlichen Koffer trug, waren die einzigen Personen an diesem Abend. Die meisten Beschäftigten hatten längst Feierabend. Wer jetzt noch im Institut arbeitete, konnte mit dem Beruf Nachtwächter tituliert werden. „Es war sehr einfach, Mr. Nassai", sagte der kleinere der -3-
beiden Männer. Er trug einen braunen Anzug und dazu ein gelbes Hemd, dessen Kragenenden zu lang waren, um noch modern zu sein. Der Mann hatte einen Kugelkopf und schütteres blondes Haar, das nach vorn gekämmt war und einen Cäsarenschnitt imitierte.
Ibrahim Nassai, so hieß der Angesprochene mit vollem Namen, öffnete den Mund und lachte leise. „Es ist alles eine Sache der Organisation, Mister..." „Keine Namen, bitte." „Schön, mein Freund." Ibrahim Nassai blieb stehen. Er schaute auf den blonden Mann hinab. Nassais Haar war pechschwarz und sehr voll und dicht. Seine Haut zeigte die dunkle Farbe des Nordafrikaners. Auf der Oberlippe wuchs ein mächtiger Bart, der an den Mundwinkeln in Form eines Halbmonds auslief. Direkt unter der Lippe schimmerte dunkelrot eine alte Narbe. Sie bildete einen schrägen Strich, der zum Kinn hin breiter wurde. „Darin sind Sie Meister, Mr. Nassai?" „Sogar ein großer." „Sie werden mitfahren?" -4-
„Hatte ich Ihnen das nicht versprochen?" Der Blonde nickte. „Ja, natürlich, aber seien Sie mir nicht böse. Ich komme aus einem anderen Land. Man sagt uns nach, daß wir die Ordnung und die Organisation lieben..." „Ja, ich weiß, ihr Deutschen. Keine Sorge. Wenn es darauf ankommt, sind Orientalen sehr verläßlich. Es geht schließlich um etwas. Wissen Sie die genaue Summe?" „Sie ist siebenstellig, glaube ich." „Dollar?" „Nein, Deutsche Mark." „Auch nicht schlecht." Der Blonde schaute sich um, obwohl der Gang leer war. „Sollen wir es nicht hinter uns bringen? Ich möchte morgen früh noch die Maschine nach Düsseldorf bekommen." „Kriegen Sie schon, keine Sorge." Ibrahim Nassai, der Ägypter, lachte. Er schlug dem Deutschen auf die Schulter, bevor er ihn weiterschob. Sie mußten den kahlen Betongang bis zum Ende durchgehen. Dort befand sich eine grau angestrichene Tür auf der rechten Seite. An der Außenseite war ein Schild angebracht mit der Aufschrift No entrance, kein Eintritt also. Das galt für Ibrahim Nassai und den blonden Deutschen nicht. Auch das hochkomplizierte Sicherheitsschloß bereitete dem Ägypter keine Schwierigkeiten, er besaß die beiden passenden Schlüssel. „Gehen Sie schnell hinter mir herein, ich muß die Tür sofort wieder schließen." „Natürlich." Der blonde Deutsche mit dem Koffer, er mochte ungefähr vierzig sein, blieb dem Ägypter auf den Fersen und dann plötzlich staunend stehen, als er den Sarkophag sah. „Ist er das?" fragte er beinahe ehrfurchtsvoll. „Ja." Ibrahim lächelte, und nur der Bart auf seiner Oberlippe zog sich in die Breite. „Alle Achtung, so hätte ich ihn mir nicht vorgestellt." Der -5-
Deutsche ging näher. Ibrahim blieb an seiner Seite. „Haben Sie Kraft?" fragte er. „Es kommt darauf an." „Wir müssen das Oberteil abnehmen." „Und dann sehe ich die Mumie?" „Noch nicht. Sie wird erst kurz vor dem Transport hineingelegt. Ich überwache alles." „Das ist gut." Der Deutsche hatte noch Bedenken. „Was ist mit dem Transport?" „Ich fliege doch mit." „Sorry, ich vergaß." „Können wir jetzt?" Der Deutsche nickte heftig und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er schwitzte trotz der kühlen Temperatur. Der Sarkophag besaß einen flachen Deckel. Fugendicht schloß er mit dem Unterteil ab. „Das wird nicht leicht sein!" flüsterte der Blonde. Ibrahim Nassai schüttelte nur den Kopf. „Etwas anstrengen müssen Sie sich schon. Seien Sie froh, daß der Sarkophag noch nicht so gesichert ist wie kurz vor dem Abflug. Schieben Sie mal, aber vorsichtig." Der Deutsche hatte den Koffer abgestellt, um beide Hände frei zu haben. Sie hörten das Knirschen, als der Deckel über die Kante des Unterteils hinwegrutschte. Dann mußte Ibrahim auf die andere Seite laufen, um den kippenden Deckel abzufangen. Er schaffte es problemlos. Danach konnte er ihn vorsichtig zu Boden gleiten lassen und hochkant hinstellen. „Gut so!" Auch der Deutsche atmete auf. Er wollte es noch nicht glauben und warf einen Blick in das Innere des Sarkophags. „Leer, das sagte ich doch." -6-
„Ja, ich mußte mich..." Er grinste. „Es ist komisch. Hier wird also noch ein Sarg hineingestellt - oder?" „Ja, einer aus Glas." „Und darin liegt dann die Mumie?" „So ist es. Ihre Landsleute in Düsseldorf warten auf die Ausstellung. Es ist nicht die Mumie eines Pharaos, dafür die eines Großbürgers, der sehr viel Einfluß am Hof hatte. Das reicht ja auch." „Klar. Bei Ramses war das, nicht?" „Ich bewundere Ihre Kenntnisse." Der Deutsche war noch nicht zufrieden. „Und ich soll die Ware jetzt in den Sarkophag legen?" „Natürlich." „Die wird man entdecken." „Packen Sie erst den Koffer aus!" Ibrahim Nassai blieb noch immer freundlich, auch wenn seine Stimme einen schärferen Unterton bekommen hatte. Das merkte der Blonde natürlich und winkte mit beiden Händen rasch ab. „Ja, es war nur eine Frage. Entschuldigen Sie." Er drehte sich und öffnete den kleinen Lederkoffer, der allerdings prall gefüllt war. Die beiden Hälften klappten auseinander, so daß der Inhalt sichtbar wurde. Es waren vier dicke Tüten. Gefüllt mit einem weißen Pulver. Mehl und Traubenzucker waren es nicht, sondern Rauschgift reinstes Heroin, das seinen Weg auf eine ungewöhnliche Art und Weise nach Deutschland finden sollte. „Ein Vermögen!" flüsterte der Blonde. „Ein gewaltiges Vermögen. Hoffentlich geht nichts schief." „Ich sorge schon dafür, daß alles glattläuft", erklärte der Ägypter. „Aber bitte, packen Sie die Tüten ein." „Einfach so?" Der Deutsche wunderte sich. „Fast so", erklärte Ibrahim und lachte kehlig. „Sie haben auch -7-
nicht die besten Nerven." „In diesem Fall nicht. Ich bin eben kein Profi. Ich... ich... mache es aus anderen Gründen." „Die will ich nicht wissen." Ibrahim steckte seine Hand in das Innere des Sarkophags. Der Deutsche schaute zu, wie die Finger des Ägypters über die Innenseite glitten, plötzlich verharrten und sich bewegten wie die Hände eines Klavierspielers. „Was machen Sie da?" „Ruhe..." Es gab ein Geräusch, als hätte jemand mit einem harten Gegenstand vor den Sarkophag geschlagen. Langsam schob sich am Boden des Sarkophags ein Teil des Steins zur Seite, so daß ein Loch wie ausgeschnitten sichtbar wurde. Der Deutsche staunte. „Der... der ist ja hohl." „Sicher." „Das ist sogar todsicher." Der Blonde begann zu lachen. „Supersicher. Ich gratuliere Ihnen." „Noch nicht. Erst wenn wir die Sache hinter uns haben. Sie können Ihren Freunden in Deutschland Bescheid geben, daß sie zur Besichtigung der Mumie antanzen. Es wird ein Spaß werden. Ich möchte gern ihre Gesichter sehen, wenn sie erkennen müssen, daß sie nicht an die Ware herankommen. Aber sie ist sicher." Ibrahim Nassai hatte sich wieder aufgerichtet und über den Sarkophag hinweg den rechten Arm ausgestreckt. Er drehte dem anderen Mann die offene Handfläche zu. „Geben Sie mir den ersten Beutel, Meister." Das tat der Deutsche auch. Ibrahim verstaute ihn im Hohlraum, der groß genug war, um auch die anderen drei fassen zu können. „Sind Sie jetzt zufrieden?" „Ich glaube, ja." Wieder drückte Ibrahim auf die gleiche Stelle. Ein leises Summen ertönte. Der Deckel glitt langsam wieder zu. -8-
„Das ist keine ägyptische Magie, sondern ein Elektromotor", erklärte Ibrahim. „Der den Stein antreibt?" Ibrahim schaute sein Gegenüber an, als hätte ihm dieser eine Lügengeschichte serviert. „Das ist kein Stein, sondern eine perfekte Imitation, die nicht auffällt, wie ich Ihnen versichern kann. Vergessen Sie nicht, daß ich den Transport überwachen werde. Wenn es sein muß, werde ich mich zu der Mumie in den Sarg legen." Er lachte schallend und rieb seine Hände. „Danke, ich verzichte." „Kann ich verstehen. So, jetzt müssen Sie noch einmal mit anpacken. Der Deckel ist echt." „Das habe ich bemerkt." Der Mann aus Deutschland griff zu. Mit Ibrahims Hilfe schaffte er es, Deckel und Oberteil wieder nahtlos zu verfugen. „Sehr gut", lobte der Ägypter ihn. „Sie machen sich, Meister." -9-
Der Blonde hatte den Koffer wieder geschlossen. „Können wir jetzt gehen?" fragte er. „Ich... ich fühle mich ein wenig unbehaglich." „Hier tut Ihnen keiner etwas." „Ich weiß nicht so recht..." Ibrahim spannte seinen Geschäftspartner nicht mehr länger auf die Folter. Er schloß die Tür auf und ließ dem Deutschen den Vortritt. Erst nachdem beide die unterirdische Welt hinter sich gelassen hatten, atmete der Mann aus Europa auf, obwohl ihn draußen die Hitze und der Staub empfingen, der die Stadt Kairo, die größte Afrikas, wie ein nie abreißender Mantel umgab. Der Wagen quälte sich durch den dichten Kairoer Verkehr. Es war mehr ein Dahinkriechen als ein Fahren. Einige Male wurden sie an der hinteren Stoßstange angestoßen, was Ibrahim nichts ausmachte. Er reagierte sehr gelassen auf diese Kleinigkeiten. Das Hotel lag am Nil. Es gehörte zu den hohen Kästen, wie die Amerikaner sie bauten. „Wenn Sie an der Bar noch einen Schluck nehmen wollen, Mr. Nassai, lade ich Sie gern ein." „Nein, das möchte ich nicht. Wir sehen uns in Deutschland." „Natürlich. Und gute Reise", sagte der Blonde beim Aussteigen. „Passen Sie auf die Ware auf." Das hörte der Ägypter bereits nicht mehr. Er hatte Gas gegeben und röhrte davon. Der Deutsche atmete tief durch. Am gesamten Körper war er schweißnaß. Im klimatisierten Foyer des Hotels atmete er zunächst tief durch, ließ sich in einen Sessel fallen und streckte die Beine von sich. Nach dieser Aufregung hatte er das verdient. Das war sein bisher heißester Job gewesen. Wenn man ihn jetzt faßte, ging er für Jahre hinter Gitter. Er würde erst zufrieden sein, wenn er das Heroin in Deutschland wußte. -10-
Noch war es nicht soweit. Ein Kellner erschien und fragte, ob er etwas bringen sollte. „Ja, ich brauche einen Cognac, aber einen Doppelten. Ich bin ja kein Moslem." Er lachte kichernd. Daß er den Mann damit beleidigt hatte, fiel ihm nicht auf. Das Getränk kam, der Deutsche ließ es auf die Rechnung setzen und kippte die Flüssigkeit weg. Er lehnte sich nach hinten, schloß die Augen, entspannte sich mehrere Minuten, bevor er ruckartig aufstand und mit offenem Jackett in Richtung Lift lief. Sein Zimmer lag im vierzehnten Stock. Von dort telefonierte er mit seiner Heimat. Der Mann am anderen Ende der Leitung fragte nur, wie es denn den Tieren ginge. „Die Vögel sind unterwegs", erwiderte der Blonde. „Sehr gut. Und der Käfig?" „Ist dicht, absolut dicht." „Das hoffe ich auch." Damit war für den Mann in Deutschland das Gespräch beendet. Der Blonde beneidete ihn. Wie gern wäre er jetzt an der Stelle seines Gesprächspartners gewesen. Für ihn aber hieß es warten bis zum nächsten Tag. Erst dann konnte er starten.
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Ein ungewöhnlicher Tag Schulfrei hatten sie nicht, obwohl sie nicht in die Schule zu gehen brauchten. An diesem Tag nämlich stand etwas anderes auf dem Stundenplan. Die Klassen neun und zehn des Gymnasiums waren zusammengelegt worden, um sich im Museum eine Ausstellung altägyptischer Kunst anzusehen. Höhepunkt des Lehrausflugs sollte die Besichtigung einer echten Mumie sein, die man aus Ägypten an den Rhein geschafft hatte. Da die Klassen zusammengelegt waren, hatten die drei unzertrennlichen Freunde Randy Ritter, Turbo und Michaela Schröder den Vorteil, den Ausflug gemeinsam mitmachen zu können. Randy ging in die zehnte Klasse, Michaela und Turbo eine tiefer. Bis zur Schule mußten sie mit dem Rad fahren. Dort warteten Busse, die sie in die Stadt brachten. Die drei fuhren gemeinsam. Randy und Turbo holten Ela ab. Sie war die dritte im Bunde des Schloß-Trios. „Hoi, schickgemacht?" fragte Randy. „Wieso?" Randy ging um sie herum. „Die komische weiße Schleife da an deinem Pferdeschwanz. Wen willst du denn auf dich aufmerksam machen?" „Keinen. Das trägt man heute." „Die Schleifen?" „Ja." „Toll. Ich werde mir überlegen, ob ich nicht auch eine..." Ela tippte gegen ihre Stirn und schwang sich in den Sattel. Sie war ein sportliches Mädchen mit dunkelbraunen Haaren, einigen Sommersprossen im Gesicht und dem Pferdeschwanz als -12-
Markenzeichen. An diesem etwas trüben Herbsttag hatte sie schon ihre dicke Thermohose angezogen, die hellgelb leuchtete. „Kommt ihr?" rief sie. „Wir holen dich sowieso ein." „Das will ich sehen." Turbo, der Junge aus Japan, der eigentlich Toshikiara hieß, dessen Namen aber keiner so recht aussprechen konnte, schwang sich ebenfalls in den Sattel. Er war kleiner als Randy, dafür etwas breiter in den Schultern und trug das Haar im Bürstenschnitt. Die einzelnen Spitzen sahen aus wie zahlreiche dunkle, schmale Streichhölzer. Er radelte hinter Ela her, während Randy sich mehr Zeit ließ und noch den Proviant auf dem Gepäckträger verstaute. Seine Mutter hatte es sich nicht nehmen lassen, sie mit Broten und kalten Frikadellen zu versorgen. Dazu noch einige Plastiktüten mit Orangensaft und die entsprechenden Strohhalme dazu. Randy stieg schwer in die Pedale. Der Wind trieb sein dunkelblondes Haar, in das sich ein paar braune Strähnen verirrt hatten nach hinten. Randy war schlank und hochgewachsen. Nur an seinem rechten Mundwinkel hatte sich eine Falte gebildet. Er hing ein wenig schief, so daß es aussah, als würde Randy stets grinsen. Das hatte schon manchen Pauker auf die Barrikaden gebracht, was Randy allerdings weniger störte. Ela legte ein scharfes Tempo vor. Sie wollte es tatsächlich wissen. Turbo hatte sie noch nicht eingeholt, und Randy kam dem Freund aus Japan auch kaum näher, obwohl er sich anstrengte. Ela Schröder hielt ihr Versprechen. Sie erreichte die Schule als erste, wo sie das Vorderrad bereits in den Ständer gestellt hatte, als Turbo und Randy fast gleichzeitig eintrafen. „Na, ihr Schlappschwänze? Große Klappe, wie? Aber nichts dahinter!" -13-
„Das war Zufall." Randy gab die Antwort und suchte noch einen freien Ständer. Er fand ihn ein paar Meter entfernt. Turbo mußte noch weiter laufen. Ela hatte auf die beiden gewartet. „Die letzten werden wir nicht sein", meinte sie. „Willst du noch in die Schule?" fragte Turbo. „Wie? Zu wem denn?" „Zu Meister Petz." „Ausgerechnet der Bio-Pauker." Meister Petz hieß eigentlich Bär. Wer so einen Namen trug, mußte damit rechnen, daß man ihn verballhornte. Spitznamen hatten die Lehrer schon immer bekommen. Randy wechselte das Thema. „Hast du den Fotoapparat?" Turbo deutete auf seine Innentasche. „Alles verstaut." „Klasse. Und wem darf ich den Proviant geben?" „Wie wäre es denn, wenn du den Beutel selbst trägst?" schlug Ela vor. „Das ist kein Beutel, sondern ein Rucksack." „Trotzdem kannst du ihn tragen. Dabei brichst du dir schon keinen Zacken aus der Krone." „Und ich dachte immer, du wärst emanzipiert." „Daß ich nicht lache. Es soll auch noch Kavaliere geben, habe ich mir sagen lassen. Wenn ich mich allerdings hier umschaue, kann ich leider keine entdecken." „So ein Pech aber auch." Randy schnallte den Rucksack fest. Es war bei Schülern Mode geworden, ihre Bücher nicht mehr in Taschen zur Schule zu tragen, sondern in speziell dafür hergestellten Rucksäcken, die sie am Rücken trugen, was sie aussehen ließ wie Wanderer. Sie gingen nebeneinander her über den großen SchulhofKomplex. Nicht nur das Gymnasium war in den dreistöckigen Bauten mit den Flachdächern untergebracht, auch eine -14-
Realschule und einen Steinwurf entfernt noch die Hauptschule. Deren Schulhof war kleiner und lag auf der anderen Seite, durch die Turnhalle von den anderen getrennt. Aus der Aula im zweiten Stock, wo zwei der acht Fenster offenstanden, schallte das Singen hoher Sextaner-Stimmen. Sie sangen ein Herbstlied, dessen Text davon erzählte, wie bunt die Wälder und wie gelb die Stoppelfelder doch waren. „Wer fährt denn noch mit?" fragte Turbo. „Wie meinst du das?" „Von den Lehrern." „Ach so." Ela hatte begriffen. „Bei uns ist es Frau Dr. Ebeler, Klammer auf - Mathe und Physik - Klammer zu." „Und bei uns hat sich Herr Neuhaus bereit erklärt", sagte Randy. „Der Nobby - ehrlich?" „Ja." „Der ist wenigstens in Ordnung." Herr Neuhaus war bei allen Schülern sehr beliebt. Er zählte noch zu der Kategorie von Lehrern, die nicht so spezialisiert waren. Er gab Deutsch, Musik, leitete den Chor, kannte sich aber auch in Fremdsprachen aus sowie in den alten Sprachen wie Latein. Und Mathe konnte er auch noch, wie er mal in einer Vertretungsstunde bewiesen hatte. „Schade, daß er bald pensioniert wird", sagte Randy. „Wie alt ist er denn?" wollte Turbo wissen. „Sechzig, glaube ich." „Allerhand." Randy stieß Ela an. „Was ist denn mit deinem neuen Hobby, der Malerei? Wirst du deine tollen Eindrücke auf Leinwand bringen und bald eine Ausstellung machen?" „Auf den Arm nehmen kann ich mich allein." -15-
„Ich habe nur gefragt." „Dir werde ich kein Bild geben." „Aber mir doch?" „Sicher, Turbo. Und ich werde auch eins nach London zu Benny Morton schicken, das habe ich ihm versprochen." Benny und sein Vater waren nach den letzten haarsträubenden Abenteuern wieder gut und sicher in England gelandet, obwohl es zuerst nicht danach ausgesehen hatte.* Benny hatte bei Ela angerufen und um ein Bild gebeten. „Er hat mich sogar nach London eingeladen", sagte sie. „Fährst du hin?" „Weiß noch nicht." „Dann kannst du mich mitnehmen", sagte Randy. „Ausgerechnet dich." Sie lachte. „Mal sehen, wie du dich in der nächsten Zeit führst, dann können wir darüber reden. Ich habe jetzt gehört, daß man im Winter schon für wenig Geld nach England reisen kann. So ein Angebot muß man sich überlegen." „Aber nicht zu lange, sonst ist der Winter vorbei." „Ha, ha..." Sie hatten das große Schulgebäude an der Westseite umrundet und erreichten das Gelände mit den Parkplätzen und den aufgemalten Parktaschen. Dort standen die Fahrzeuge der Lehrer. Sie wirkten klein im Vergleich zu den beiden Bussen, die bereits warteten. Die meisten Schüler waren schon eingestiegen. Noch standen die Türen offen. Stimmenlärm schallte nach draußen. Einem Busfahrer wurde es zuviel. Er verließ seinen Platz hinter dem Steuer und lief schimpfend durch den Mittelgang. Frau Dr. Ebeler und Herr Neuhaus standen mit dem zweiten Fahrer zusammen. Zufällig drehte die Studienrätin den Kopf und *
Siehe Schloß-Trio Band 3: „Gefährliche Agentenfracht" -16-
sah die drei Freunde ankommen. „Es wird auch Zeit, daß ihr endlich eintrefft. Ihr seid fast die letzten." Herr Neuhaus hob nur kurz die Hand, um die Neuankömmlinge zu begrüßen. Er war ziemlich klein, trug fast immer die gleiche Hose und hatte das grauweiße Haar nach hinten gekämmt. Die gleiche Farbe wie das Haar wies auch der Bart auf. Hinter seiner schlichten Brille mit dem Kassengestell blitzten graue Augen. Außerdem war er Vater von fünf Kindern. Randy sprach ihn noch an. „Müssen wir über den Besuch einen Aufsatz schreiben, Herr Neuhaus?" Der schob die Brille etwas nach vorn. „Rate mal, Junge." „Ich meine, ja." „Es kann sein, braucht aber nicht." Herr Neuhaus zwinkerte und deutete auf den offenen Einstieg. Aus dem zweiten Bus winkte Ela jemand zu. Eine ihrer Freundinnen. „Komm zu uns, ich habe dir einen Platz freigehalten. Beeil dich, Ela." „Dann bis später." Ela hob die Hand und verabschiedete sich von den beiden Jungen. „Ich fahre mit eurem Bus", sagte Turbo. „Meinetwegen. Sind die anderen aus deiner Klasse dann nicht sauer?" „Nein, warum?" „Nur so." Auch in diesem Bus war es nicht ruhig. Drei Jungen stritten um einen bestimmten Platz, andere wiederum hatten ihre Walkmen mitgebracht und ließen sie ohne Kopfhörer laufen. Dann gab es noch welche, die sich gegenüberhockten, die Beine in den Mittelgang streckten und Karten spielten. Randy begrüßte einige seiner Schulkameraden, indem er gegen ihre Hände schlug, und fand noch zwei freie Plätze im vorderen Drittel des Busses. -17-
Ein Schüler fehlte noch, wie Randy den Kommentaren der anderen entnahm. Es war Stefan Vogel, den sie nur Krähe nannten, weil er manchmal so lahm war. Jetzt wurde er von seiner Mutter gebracht. Die Vogels besaßen eine Computerfirma und fuhren immer die neuesten BMW-Modelle. Frau Vogel zischte mit einem Zweisitzer auf den Hof, tippte kurz auf die Bremse und ließ ihren Sohn aussteigen. Im Gegensatz zu dem flotten Wagen war Krähe nicht schnell. Gemächlich schlenderte er näher, winkte den Lehrern noch zu und stieg ein. Er war ein dürrer, schlacksiger Junge mit dunklen, gescheitelten Haaren, die an der rechten, der längeren Seite, stets in die Stirn fielen. Manchmal trug er eine Brille. Über das rote Gestell hatten sich nicht nur die Mädchen amüsiert. „Hi", sagte er und ließ sich ächzend vor Randy und Turbo nieder, bevor er die langen Beine einzog. „Wie ist die Lage?" „Jetzt okay, wo du da bist." „Ihr hättet auch ohne mich fahren können." „Da wäre Nobby doch im Dreieck gesprungen." „Das möchte ich sehen." Stefan schaute nach vorn, wo der Fahrer soeben einstieg und die Tür zuhämmerte. Er nahm Platz, der andere Bus rollte bereits vorbei. Die Schüler aus der anderen Klasse lachten und winkten. „Ist das dein Kumpel, von dem du erzählt hast?" fragte Krähe. Sein Daumen deutete auf Turbo. „Genau." „Der ist ja tatsächlich ein Japaner." „Denkst du, ich hätte dich angelogen?" „Man kann nie wissen." Stefan schnickte mit den Fingern, während sich der Bus langsam in Bewegung setzte. „Ich suche noch ein paar Kumpels für nachher." „Wie meinst du das denn?" -18-
„Nach der Besichtigung können wir uns verdrücken. Ich kenne da einen neuen Computerladen in der Innenstadt - irre, sage ich euch. Da gibt es Dinge, von denen hast du noch nicht einmal geträumt." „Keinen Bock", sagte Randy. „Du auch nicht?" Turbo fühlte sich angesprochen und schüttelte den Kopf. Krähe winkte ab. „Was seid ihr lahm. Nichts los mit euch. Ihr seid ja schon Grufties." „Das mußt du gerade sagen!" konterte Randy. „Wer kommt denn meist zu spät?" „Das verstehst du nicht. Es ist eben meine Imagepflege. So was gehört dazu, wenn man von der Masse abstechen will." Er drehte sich wieder um, zog die Beine an und stemmte die Knie gegen die Rückseite des Vordersitzes. „Der ist komisch", flüsterte Turbo. „Und sogar unbeliebt", sagte Randy leise. „Bei den Schülern ebenso wie bei den Paukern." „Wie ist er denn in der Schule?" „Ziemlich stark. Besonders in Mathe. Na ja, sein Vater handelt mit Computern und so." Der Bus hatte den Komplex des Schulgeländes längst verlassen und rollte in Richtung Stadt. Herr Neuhaus saß neben dem Fahrer, blätterte in Papieren und schaute sich ab und zu um. Er schielte durch den Mittelgang. Da kein Schüler irgendwelchen Ärger machte, war er zufrieden. „Wetten, daß Nobby gleich eine Rede hält?" fragte Krähe. „Meinetwegen." „Die kann er sich schenken. Jeder weiß doch, wo wir hinfahren." Im gleichen Moment griff Herr Neuhaus schon zum Mikro, -19-
pustete kurz hinein und machte eine Sprechprobe. „Eins, zwei, drei..." „Vier, fünf, sechs, sieben... aus...", brüllten die Schüler von der letzten Bank und wollten sich ausschütten vor Lachen. Herr Neuhaus nahm es gelassen. Er fragte nur: „Wollt ihr noch weiterzählen?" „Ja!" schrie der dicke Kurt, der auch nichts für seinen Namen konnte. „Der kann nicht zählen, Herr Neuhaus!" rief Randy. „Ja, ich kenne seine Zensuren." Kurt bekam einen roten Kopf, auch noch zwei Schläge links und rechts auf die Schulter, bevor er den Mund hielt, so daß Herr Neuhaus endlich seine Worte in das Mikro sprechen konnte. „Ich will mich kurz fassen, weil ihr es eigentlich wissen solltet. Daß wir in ein Museum fahren und uns dort eine altägyptische Ausstellung anschauen, deren Mittelpunkt eine echte Mumie ist, das bekommt nicht jeder geboten. Ich bitte mir deshalb keine soldatische Disziplin aus, aber so viel Beherrschung, daß man sich euretwegen nicht zu schämen braucht. Ich kenne den Hunger einiger von euch, ich selbst esse gern, doch in den Räumen des Museums ist das Essen untersagt. Wir werden eine Halbzeit machen und in den Erfrischungsraum gehen. Dort kann dann jeder etwas essen. Klar?" „Verstanden, Herr Neuhaus." „Wunderbar, weiter. Die Gegenstände sind sehr kostbar. Ich weiß nicht, wie viele von ihnen unter Glas stehen, um vor klebrigen Fingern und Patschern geschützt zu werden. Sollten einige nicht geschützt sein, möchte ich gern, daß sich niemand von euch an diesen Ausstellungsstücken vergreift. Ist das auch klar?" Die Antwort war ein vielstimmiges Gemurmel. -20-
„Benehmt euch also wie Menschen, und nicht wie Schüler", sagte Herr Neuhaus zum Schluß grinsend, wobei ein Proteststrom der Jungen und Mädchen durch den Bus schallte, der sehr schnell verstummte, als der Fahrer ein Band mit heißer Rockmusik auflegte. Natürlich gerieten sie in Düsseldorf in einen Stau. So verzögerte sich ihre Ankunft um eine Viertelstunde. Beide Busse trafen gemeinsam auf dem Parkplatz vor dem Museum ein. Es war ein alter Bau mit grauen Mauern, großen Fenstern und auch Erkern, die wie kantige Nasen aus der Wand herausragten. Eine breite Treppe führte hoch zum Eingang. Der Parkplatz war fast voll, zumeist mit Personenwagen, die Anzahl der Busse hielt sich in Grenzen. Ziemlich gesittet verließen die beiden Klassen ihre Fahrzeuge. Randy sah Michaela zusammen mit zwei anderen Mädchen stehen. Sie hatten sich eingehakt und lachten. Die große Eingangshalle des Museums wirkte kalt, ungemütlich und auch zu steinern. Wären nicht die bunten Plakate gewesen, die auf die Ausstellung hinwiesen, hätte man sie auch mit einer Friedhofshalle vergleichen können. Vom Boden wuchsen an vier verschiedenen Stellen dicke Säulen hoch, die die Decke abstützten. Eine breite Treppe führte im Halbbogen in die oberen Etagen des Museums. Die Treppe durfte nicht benutzt werden. Eine dunkelrote Kordel in Höhe der ersten Stufe deutete die Absperrung an. Das Licht fiel aus einem gewaltigen Kronleuchter, der über dem dunkelroten Steinfußboden schwebte. Es strahlte auch die an den Wänden hängenden Plakate an. Sie zeigten einen sehr guten graphischen Einfall. In einer gläsernen Pyramide war der Kopf einer goldenen Mumie zu sehen. Frau Dr. Ebeler baute sich vor dem Eingang auf. Sie winkte mit beiden Händen und hatte dabei die Arme erhoben, um die -21-
Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. „Ich möchte euch den Mann vorstellen, der so freundlich ist, uns durch die Ausstellung zu begleiten. Es ist Dr. Michels. Ich kenne ihn, man kann ihn ohne Übertreibung als Spezialisten bezeichnen. Er ist Ägyptologe, Archäologe und auch Historiker. Auf seinen Gebieten eine Kapazität." Dr. Michels hatte sich bisher hinter einer Säule versteckt gehalten. Jetzt trat er hervor, sichtlich gebauchpinselt, was das Lächeln auf seinen Lippen andeutete. Einige Schüler hatten Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken, als sie den Spezialisten sahen. Er war klein, dünn, trug ein kariertes Jackett, eine schwarze Hose mit Beulen, ein helles Hemd und einen schwarzen Gurgelpropeller, sprich Fliege. „Ach je, ist der trocken. Einen heißen Sommer, und den kannst du in der Pfeife rauchen", flüsterte Randy seinem Freund Turbo zu. „Wie meinst du das denn?" „Ist schon gut. Habe ich nur so dahingesagt." „Keinen Respekt mehr vor dem Alter und der Leistung", meldete sich Stefan Vogel hinter ihnen. „Du solltest dich was schämen, Ritter. Setzen fünf." „Halt dich geschlossen, Krähe, sonst machst du gleich den Abflug." „Aber bitte durch den Kronleuchter. Ich höre es so gern klirren." „Liebe Schüler", begann der Wissenschaftler seine Rede und zupfte gleichzeitig an seiner Fliege herum. „Es ist uns ja bekannt, daß die alten Ägypter mehr wußten, als wir noch vor fünfzig Jahren angenommen hatten. Und zwar hatten sie..." Es ging gleich richtig zur Sache. Der kleine Mann wuchs über sich selbst hinaus, er redete sich so sehr in Fahrt, daß es selbst den Lehrern zuviel wurde, sie aber keine Chance sahen, ihn zu -22-
unterbrechen. In den Reihen der Schüler entstand Unruhe. Dadurch waren auch Turbo und Randy getrennt worden. Turbo hatte die Tricks der anderen noch nicht so drauf, er hörte zu, während einige Karten spielten oder sich anderweitig unterhielten. Randy fand die Gelegenheit günstig, um sich abzusetzen. Nicht daß er ganz wegwollte, er spürte nur ein menschliches Bedürfnis, und er hatte vorhin einen Pfeil an der Wand mit der Aufschrift „Toiletten" gesehen. Die Spitze des Pfeils zeigte schräg in die Tiefe, genau dorthin, wo eine Treppe begann. Auch sie führte in einem Bogen hinab, den Randy rasch hinter sich brachte, daß er nun von der Halle aus nicht mehr gesehen werden konnte. Es hatte auch niemand von ihm Notiz genommen. Ein Mann kam ihm entgegen. Er hatte blonde, etwas schüttere Haare und trug einen braunen Anzug. Für einen Moment starrten er und der Junge sich in die Augen. Randy hütete sich vor Vorurteilen. Doch als er den Blick dieses Mannes sah, spürte er „Eis" auf seinem Rücken. Keiner der beiden konnte sich entscheiden, an welcher Seite sie nun vorbeilaufen wollten, so wären sie fast zusammengeprallt, und der Erwachsene, der von unten hochkam, zischte Randy zu: „Kannst du nicht achtgeben, du Esel?" „Wieso? Ich..." „Willst du noch frech werden?" „Entschuldigung." Randy ließ den Kerl stehen und lief den Rest der Treppe hinab. An ihrem Ende drehte er sich noch einmal um. Der Blonde stand auf der obersten Stufe und schaute hinab. Er bedachte Randy nicht gerade mit freundlichen Blicken.
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„Was habe ich dem nur getan?" murmelte der Junge und drehte sich nach links. Er geriet in einen breiten Gang, von dem mehrere Türen abzweigten. Bei den meisten war der Eintritt verboten, das zeigten die Schilder an. Erst weiter hinten befanden sich die Toiletten. Auf der rechten Seite die der Herren, auf der linken -24-
die der Damen. Randy wandte sich nach rechts. Er gelangte in einen Waschraum mit vier Becken an den Seitenwänden. Der Eingangstür gegenüber lag die zu dem eigentlichen Toilettenraum. Da mußte Randy hin. Er befand sich allein dort. Überall bildeten die schwarzweißen Fliesen ein Muster, das bei längerem Starren den Augen weh tat. Randy beeilte sich, ging wieder zurück und wollte sich im Vorraum die Hände waschen. Erst jetzt fiel ihm der kleine runde Tisch auf und der Stuhl daneben. Auf dem Tisch stand eine Schale, in die normalerweise Geld für den Toilettenmann geworfen wurde, aber der war nicht vorhanden. Und in der Schale blinkte nicht mal ein Groschen. Randy nahm es am Rande zur Kenntnis. Er ließ Seife aus dem Spender in seine Hände tropfen, feuchtete sie an und wusch sie. Als er den Hahn abdrehte, um sich dem Trockner zuzuwenden, hörte er das Geräusch. Es klang ungewöhnlich dumpf, und es drang auch nicht aus der oberen Etage in die Kellerräume. Das mußte ganz in der Nähe aufgeklungen sein. Es hörte sich an, als wollte jemand schreien, ohne daß es ihm gelang. Randy vergaß das Abtrocknen der Hände. Er konzentrierte sich statt dessen auf das Geräusch. Hinzu kam ein dumpfes Klopfen. Die Ursache mußte einfach innerhalb des Waschraums zu suchen sein. Der Blick des Jungen glitt über die Wände. Dann hatte er die Lösung gefunden. Direkt neben dem Eingang befand sich in der Wand die Tür eines weißlackierten Einbauschranks. In ihm mußte jemand stecken. Randy schluckte. Er sah keinen Schlüssel im Schloß stecken, aber die Geräusche hörten nicht auf. Dicht vor dem Schrank -25-
verhielt der Junge seinen Schritt. „Was ist los?" Abermals hörte er nur die dumpfen Laute.
Ihm kam die Idee mit dem Taschenmesser. Er holte es hervor und setzte die Klinge in Höhe des Schlosses an. Dabei hatte er ein schlechtes Gewissen, gleichzeitig beruhigte er es damit, daß er möglicherweise einen Menschen aus einer schlimmen Lage -26-
befreite. Der andere half von innen mit, daß er die Tür aufbrechen konnte. Dann fiel ihm der Mann entgegen. Glücklicherweise war Randy auf ähnliches gefaßt gewesen. Er fing den Mann auf, der nicht reden konnte, weil man ihm einen Knebel in den Mund gesteckt hatte. Das war noch nicht alles. Jemand hatte ihm die Hände und auch die Füße mit Klebeband zusammengebunden. Da wußte Randy Ritter, daß dieser Museumsbesuch etwas anders als sonst ablaufen würde... Randy hatte den Mann abstützen können, schaute an dessen Schulter vorbei und sah, daß sich die Stiele zweier Besen bedrohlich näherten. Sie wären dem Gefesselten vor den Hinterkopf getickt, hätte Randy den Mann nicht schnell genug zur Seite gezerrt. So glitten die Besen vorbei und fielen auf die Fliesen. Randy befreite den Mann von seinen Fesseln. Zuerst löste er den Knebel. Der Toilettenwärter war kein Deutscher. Die dunkle Hautfarbe deutete auf einen Südländer hin. In seinen Augen stand noch immer der Schrecken, als er japsend Luft holte, auf dem Boden saß und dabei seinen Hals rieb. „Geht es wieder?" fragte Randy. „Danke, ja. Ich danke dir, Junge." „Wer hat das denn getan?" Der Mann schaute ihn an, als wollte er Randy beißen. „Getan?" hauchte er. „Daß ich nicht lache. Mir hat niemand etwas getan, glaub mir. Keiner war da, keiner..." Er redete sehr schnell und kam auch wieder auf die Beine. Sein dunkles Haar war durcheinander. Er griff in den Schrank und holte seine Lederjacke hervor, die er kurzerhand über den weißen Kittel streifte. Während er in den linken Ärmel schlüpfte, sagte er: „Junge, tu dir selbst einen Gefallen. Hau ab, -27-
lauf weg, schnell." „Wieso? Ich bin mit meiner Klasse hier..." „Geh!" „Vor wem haben Sie denn Angst?" Der Mann war schon an der Tür. Er bekam große Augen, als er Randy anschaute. Dann hob er seine Hand und zog die Kante quer zur Kehle hin. „Reicht das?" „Kaum, aber..." Der Toilettenwärter schüttelte den Kopf und verschwand. Er ließ Randy allein zurück, der die Schultern hob und aus der Reaktion des Mannes nicht schlau wurde. Daß der andere Angst gehabt hatte, stand fest. Und zwar vor den Personen, die ihn eingesperrt hatten. Die letzte Geste war klar genug gewesen. Irgend etwas lief hier ab. Eine Sache, für die gewisse Leute wohl keine Zeugen haben wollten. Was konnte man in einem Waschraum schon anstellen? Randy überlegte noch, als er von draußen Schritte hörte. Einen Moment später wurde die Tür geöffnet, und ein Fremder erschien auf der Schwelle. Für Randy war es eigentlich kein Fremder, es war der blonde Mann, der ihm auf der Treppe begegnet war. Diesmal hatte er noch jemand mitgebracht. Ebenfalls einen Ausländer. Größer als der Blonde. Als Markenzeichen besaß der Fremde einen gewaltigen Schnauzer, der wie ein Busch auf seiner Oberlippe wuchs. Der Dunkelhaarige trug einen weißen Kittel. Es schien so, als sollte er den Toilettenwärter ablösen. Randy brauchte nur in die kalten Augen des Blonden zu sehen, um zu wissen, daß der nicht spaßte. Er hatte auch mit einem Blick erkannt, was vorgefallen war. „Und?" fragte er nur. Frechheit siegt, dachte Randy und fragte zurück: „Wieso und?" -28-
Die Hand des Blonden schoß vor. Die Finger bekamen Randys Pullover dicht unter dem Hals zu fassen und drehten den Stoff zusammen. „Wo ist der Türke?" „Welcher Türke?" „Das weißt du ganz genau." „Er ist weg!" „Das sehe ich." Der Blonde drückte Randy gegen ein Waschbecken, während sein Helfer die Tür schloß. „Er konnte sich nicht allein befreien. Also hast du ihn aus dem Schrank geholt." „Ist das ein Verbrechen?" Der Blonde grinste. „Nein, ein Verbrechen nicht, aber eine große Dummheit, für den, der es getan hat." Er hielt Randy noch immer fest. „Was soll ich mit ihm machen, Ibrahim?" „Mußt du wissen. Er darf uns nicht stören." „Nein, das darf er nicht." Randy wurde es allmählich mulmig. „Was habe ich Ihnen überhaupt getan? Ich bin hier nur in die Toilette gegangen." „Das genau war dein Fehler. Jetzt ist es zu spät." „Man wird mich oben vermissen. Ich bin nicht allein gekommen, verstehen Sie?" „Weiß ich. Du gehörst zu dieser Klasse. Ich kenne das Spiel. Wenn du nicht zurückkehrst, wird man denken, daß es dir zu langweilig wurde und du dich abgesetzt hast." „Das glaube ich nicht." „Ach, Mistkerl." Der Blonde schüttelte Randy noch einmal durch und ließ ihn dann los. „Kümmere du dich um ihn, Ibrahim." „Mach ich." Der Mann mit dem Namen Ibrahim kam grinsend näher und rieb seine Hände. Es waren ziemliche Pranken, von denen -29-
Randy nicht unbedingt getroffen werden wollte. Er mußte sich etwas einfallen lassen und gab sich daher ängstlicher, als er es tatsächlich war. „Nein, bitte nicht schlagen." Er duckte sich und legte die Hände über seinen Kopf. Beide Männer lachten. Randy ging noch weiter. Er schielte in die Höhe, achtete auf Ibrahim und die beiden aus dem Schrank gefallenen Besen. Ibrahim griff zu. Er faßte mit seiner Hand in den Nacken des Jungen, als wollte er einen Hasen hochheben. Da griff Randy zu. Mit der rechten Hand bekam er den Besen zu packen. Als der Kerl mit dem Schnauzer ihn nach unten drückte, rammte er den Stiel schräg in die Höhe. Volltreffer! Er hörte den anderen gurgeln, in seiner kehligen Heimatsprache fluchen, sah, wie er zurücktaumelte und mit dem Rücken gegen die Wand stieß, wo sich der Heizkörper befand. Randy mußte ihn wirklich hart und an einer bestimmten Stelle getroffen haben, denn Ibrahim hatte die Gesichtsfarbe gewechselt. Zwar zeigte seine Haut noch den braunen Ton, sie hatte aber einen leichten Stich ins Grünliche bekommen. Hinter sich hörte der Junge ein wütendes Schnaufen. Den Besen noch in der Hand, kreiselte er auf der Stelle herum. Der Blonde griff an. Randy rammte wieder den Stiel vor. Der Blonde drehte im letzten Moment ab, an der Hüfte wurde er trotzdem erwischt. Auch das tat weh. Sekundenlang war der Mann mit sich selbst beschäftigt. Diese Zeit reichte Randy zur Flucht. An der Tür schleuderte er dem Blonden den Besen entgegen, dann hatte er den Waschraum verlassen, jagte den Flur hinunter und anschließend mit -30-
Riesensätzen die Stufen der Treppe hoch. Erst in der Halle blieb er stehen und stellte fest, wie sehr er zitterte. Er hatte weiche Knie bekommen und lehnte sich gegen eine Säule. Nur tief Luft holen, Ruhe bewahren, dann ganz harmlos tun und... „Ist dir nicht gut, Junge?" Ein älterer Mann in der grauen Uniform der Wach- und Schließgesellschaft stand vor ihm und lächelte Randy unter dem Rand seiner Mütze hinweg freundlich an. „Doch, doch, aber ich..." „Dir ist schlecht, nicht?" „Nein, es geht schon." „Warst du unten?" „Ach so, ja." Der Mann schob seine Mütze zurück. „Gehörst du zu der Klasse?" Randy nickte. „Dann beeil dich. Die sind schon mitten im Vortrag. Wenn dir aber wirklich nicht gut ist, rufe ich einen Arzt an, der dich..." „Danke, das brauchen Sie nicht. Ich komme schon zurecht." Randy löste sich von der Säule und lief auf die beiden Glastüren zu, von denen er die rechte öffnete. Dr. Michels Stimme war nicht zu überhören. Sie stand im umgekehrten Verhältnis zu seiner Körpergröße. Er hatte sich vor zwei großen Fotos aufgebaut und schwenkte einen Zeigestock zwischen den beiden Abbildungen hin und her. Niemand schaute zurück, so konnte sich Randy ungesehen an die große Gruppe heranschleichen. Die Schüler stellten die Masse der Besucher dar. Ansonsten waren nur wenig Interessenten gekommen. Randy schielte zur Tür, während er sich der Gruppe näherte. -31-
Eine Frau betrat den Ausstellungsraum. Sie nahm ihr Kopftuch ab und schüttelte das lange Haar durch. Einen Verfolger sah Randy nicht. Der Blonde und auch der Araber hielten sich zurück. Es war ihnen bestimmt zu riskant, bei so vielen Zeugen alles auf eine Karte zu setzen.
Randy drückte sich in die letzte Reihe. Er suchte nach Turbo, fand den Freund nicht, sah dafür Michaela Schröder weiter vorn stehen und zuhören. Noch einmal liefen die letzten Ereignisse vor seinem geistigen Auge ab. Er fand einfach keine Erklärung für das Erscheinen der beiden Fremden. Dieser Araber hatte einen weißen Kittel getragen, so war auch der überwältigte Toilettenmann gekleidet gewesen. Hatte der Araber dessen Posten einnehmen wollen? Randy ärgerte sich im nachhinein darüber, daß es dem Toilettenmann gelungen war zu fliehen. Damit war ihm ein -32-
Trumpf genommen. Daß dort unten einiges nicht mit rechten Dingen abgelaufen war, lag auf der Hand. Nur konnte sich Randy ohne Beweis nicht mit der Polizei in Verbindung setzen. Da fehlte also etwas. Die Beamten hätten ihn ausgelacht. Vielleicht nicht Kommissar Hartmann, der Freund der Familie Ritter, aber auch er benötigte Beweise. Dr. Michels Stimme war einfach zu laut, als daß sich Randy noch weiter konzentrieren hätte können. Der Wissenschaftler befand sich in seinem Element. Er redete wie ein Wasserfall, bewegte sich vor den großen Fotos und ließ den Zeigestock über die Abbildungen tanzen. Er berichtete über die verschiedenen Pyramiden, nannte als Beispiel die Stufenpyramide und die Knickpyramide und zeigte auch das Foto einer unvollendeten Pyramide, die in Medum gefunden worden war und aus der dritten bis vierten Dynastie stammte. Die Schüler hörten sich den Vortrag an. Ihren Gesichtern war zu entnehmen, daß sie mit den Gedanken ganz woanders waren, auch Randy dachte stets an sein Erlebnis im Waschraum. Die Gruppen wanderten weiter. Wie ein General schritt Dr. Michels voran, gefolgt von den beiden Lehrpersonen. In diesem ersten Ausstellungsraum war der Wissenschaftler mit seinen Erklärungen bereits durch. Sie betraten einen zweiten, wesentlich kleineren. Hier waren Dinge ausgestellt, die das Kairoer Museum als Leihgabe nach Düsseldorf geschafft hatte.
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Echte alte Vasen, Tonkrüge, eine handgeschnitzte Totenbarke, die man in die Gräber der reichen Bürger und Pharaonen gelegt hatte, damit die Toten gut und sicher über den großen Fluß ins Jenseits fahren konnten. Der Glaube der alten Ägypter war sehr eindrucksvoll, und diesmal redete nicht nur Dr. Michels, auch Herr Neuhaus wußte etwas zu sagen. Er machte das wesentlich interessanter als der Wissenschaftler. Herr Neuhaus sprach von den zahlreichen Göttern und auch von den Sternbildern, wobei er auf ein großes Foto wies, das die Darstellung eines solchen zeigte. „Man hat es in der Grabkammer von König Sethos dem Ersten gefunden. Er regierte in der 19. Dynastie." „Ach, da bist du ja." Turbo stand plötzlich an Randys Seite. „Ich hatte dich schon vermißt." „Tatsache?" „Ja." Turbo grinste. „Der Michels ist langweilig. Das mit der Pfeife stimmt wohl. Hast du dich abgesetzt?" „Ich mußte mal." „Ach so." Turbo wollte wieder zuhören, doch Randy hielt ihn am Ärmel fest und zog ihn herum. „Da unten ist mir eine Sache passiert, über deren Folgen ich mir noch nicht im klaren bin." „Was denn?" „Da waren zwei Typen, die mir an den Kragen wollten. Ein Blonder und ein Araber, der Ibrahim hieß." „Kenne ich nicht." „Der Araber trug einen weißen Kittel." Turbo überlegte. „Nein, den habe ich nicht gesehen." Randy legte die Stirn in Falten. „Er wollte wohl den Toilettenmann ablösen. Den ersten haben die beiden gefesselt, -34-
geknebelt und in einen Wandschrank gesperrt, bis es mir gelang, ihn zu befreien. Leider kamen die anderen beiden..." „Du erzählst Märchen!" „Leider nicht, Turbo. Das war verdammt hart an der Grenze. Die wollten mir wirklich ans Fell." Der Junge aus Japan schluckte. „Und was machst du jetzt?" „Wir warten auf die Pause." Sie kamen jetzt zu den alten Amuletten, die ebenfalls in Gräbern gefunden worden waren. Um sie vor Diebstahl zu schützen, standen sie unter viereckigen Hauben aus Plastik. Gleichzeitig waren sie durch eine Alarmanlage gesichert. „Das scheint alles sehr wertvoll zu sein", bemerkte Turbo. „Bestimmt." Dr. Michels sprach über die Amulette. Er bezeichnete eines als das Blut des Gottes Isis. Daneben lag das Auge des Horus und eine Handbreit entfernt ein Papyrusstengel. Viele Darstellungen aus dem Alltagsleben der Ägypter waren nur auf Fotos zu sehen. Männer und Frauen bei der Arbeit, beim Beten und auch beim Sterben. Diese Halle konnte dem Interessierten den Kulturkreis und das Leben der alten Ägypter anschaulich nahebringen, man mußte sich nur konzentrieren und sich damit beschäftigen, was Randy und Turbo schwerfiel. Da sich unter die Gruppen der Schüler auch andere Besucher gemischt hatten, hielten sie stets Ausschau nach dem Blonden und auch seinem Begleiter, dem Araber. Keiner der beiden zeigte sich. Dafür hörten sie die Stimme von Dr. Michels. „Eure Lehrer haben mir berichtet, daß die Führung in zwei Etappen durchgeführt werden soll. Zur Mumie, dem wertvollsten und außergewöhnlichsten Ausstellungsstück, werden wir noch kommen." Dr. Michels grinste etwas schief und zupfte seinen -35-
Gurgelpropeller zurecht. „Allerdings nach der Pause, über die ich mit euren Lehrern gesprochen habe." „Ist die jetzt?" rief ein Mädchen, das neben Ela stand. „Ja." Einige klatschten, andere jubelten, bis Frau Dr. Ebeler rief: „Wir sind hier nicht auf einem Sportplatz!" Sie deutete über die Köpfe der Schüler hinweg. „Die Tür hinter euch führt in den Erfrischungsraum. Die Pause dauert exakt dreißig Minuten." „Typische Mathelehrerin", maulte einer. Herr Neuhaus öffnete die Tür. Er blieb neben ihr stehen und gab acht, daß die zahlreichen Schüler den großen Raum mit den viereckigen Tischen, der langen Fensterfront und der Theke auch ruhig und ohne Krawall betraten. Ela blieb bei ihren Freundinnen. Als die drei Mädchen Turbo und Randy passierten, begannen sie zu kichern. Eine fragte Randy direkt. „Geht ihr zusammen?" „Wohin?" Sie kicherte wieder und lief weiter. „Sind das dumme Gänse", meinte Turbo. „Kannst du wohl sagen." Die Jungen hatten einen Tisch an der Tür gefunden. Kaum saßen sie, stand Ela neben ihnen. „Willst du dich zu uns setzen?" fragte Randy. „Nein, ich möchte etwas abhaben." „Ach ja, der Rucksack." Randy nahm ihn ab und öffnete ihn. Er förderte Saft, Butterbrote und Frikadellen zutage. „Wieviel?" fragte er. „Ein Thekenfloh und ein Butterbrot reichen mir." „Nichts zu trinken?" Ela grapschte nach der Tüte mit Saft, schüttelte den Kopf, nahm auch das Essen und ging. -36-
„Thekenfloh", wunderte sich Turbo. „Was ist das denn?" „Das gleiche wie ein Elefantenkürtel." „Jetzt bin ich schlau." „Wir sagen auch Frikadellen dazu oder Brötchen mit Fleisch. Aber nicht bei meiner Mutter." Randy grinste. „Die macht noch echte Frikadellen. Die schmecken." „Laß mal probieren." Turbo nahm einen Klops, biß hinein und nickte heftig. „O ja, die sind gut." „Du kannst alle vier essen." „Magst du nichts?" „Doch, aber ich habe keinen Hunger. Ich muß immer an die beiden Kerle denken und an das, was sie wohl vorhaben." „Das sind doch Verbrecher." „Vielleicht." Turbo kaute weiter, während Randy sich umschaute. Die meisten Schüler hatten ihre Verpflegung mitgebracht. Nur wenige standen an der Theke und kauften etwas. Der Raum war erfüllt vom Lärm der Stimmen. An Turbos und Randys Tisch konnte sich keiner mehr setzen. Es war der kleinste, an ihm standen nur zwei Stühle. „Es kann doch sein, daß die Typen hier sind, um etwas zu stehlen", sagte Turbo plötzlich. Randy nickte. „Daran habe ich auch schon gedacht. Aber was wollen sie mitnehmen?" „Hier steht genug herum." „Ja, das sagst du." Randy schaute ins Leere, als er überlegte. „Jetzt stell dir mal vor, die wollen die Mumie klauen. Das ist doch ein Irrsinn. Wo wollen sie die verkaufen?" „An Sammler!" „Meinst du?" Turbo nickte heftig und nahm eine Frikadelle, während Randy -37-
nur Saft aus dem Halm saugte. „Ich weiß das. Bei uns in Japan gibt es auch Sammler, die sind wie wild." „Fanatisch, meinst du?" „Ja, ich kenne das Wort nicht. Die sind wild darauf, alte Dinge aus unserer Geschichte in die Hände zu bekommen. Denke doch nur mal an mein Schwert, das man mir damals stehlen wollte."* „Du hast recht." „Sage ich doch." Randy murmelte: „Und du meinst, daß die hier sind, um die Mumie abzuholen." „Das kann auch was anderes sein. Aber die Mumie ist eben das wertvollste Stück." „Das wäre ja ein Hammer." „Meine ich auch." „Ob die Wächter mit denen unter einer Decke stecken?" „Keine Ahnung." Randy drückte die leere Tüte zusammen. „Man sollte wirklich der Polizei Bescheid geben." „Klar. Vorhin hast du von Beweisen gesprochen?" „Die gibt es leider nicht." „Sollen wir sie besorgen?" fragte Turbo. „Das ist gefährlich." „Stimmt auch wieder." „Ich bin dafür", schlug Randy vor, „daß wir erst einmal abwarten, was sich noch ergibt." „Denk aber daran, daß du ein Zeuge bist." *
Siehe Schloß-Trio Band 1: „Das geheimnisvolle Schwert" -38-
„Das weiß ich." Nach der Pause hielt Dr. Michels wieder eine kurze Rede. „Wir werden jetzt den Raum betreten, auf den ihr wahrscheinlich alle gewartet habt. Dort findet ihr die Mumie. Wie schon erwähnt, es ist nicht der Körper eines berühmten Königs, diese Mumie stammt aus einem Grab, das in Ägypten Mastaba heißt. So nennt man die vornehmen Gräber der Menschen, die zu Lebzeiten sehr begütert gewesen waren. Der Mann, den ihr jetzt seht, war einmal ein Kaufmann, aber das werde ich später noch erklären, ebenso wie ich auf das Thema der Einbalsamierung eingehe." Die meisten Schüler verdrehten die Augen. Randy machte da keine Ausnahme. Er fügte noch einen Kommentar hinzu. „Da schlafe ich bei ein, ehrlich." „Schlafen kannst du in der Nacht." Herr Neuhaus hatte Randys Worte gehört. „Finden Sie das toll?" „Ja, ich war schon des öfteren hier. Diese Ausstellung ist etwas Außergewöhnliches. Das bekommt ihr nicht alle Tage geboten." „Wenn Sie meinen." Dr. Michels ging wieder voran. Er schien um das Doppelte zu wachsen, als er mit einer wilden Geste eine Tür aufstieß, die den Zutritt zum dritten Raum freigab. Jetzt waren selbst die großen Meckerer und Zweifler überrascht. Was sie nun geboten bekamen, damit hatten sie nicht gerechnet...
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Die Mumie Unter der Decke und an einer Schiene befestigt, befanden sich drei in verschiedene Winkel strahlende Scheinwerfer, deren armbreite Strahlen auf ein Ziel gerichtet waren, das den großen Raum zwar nicht ausfüllte, aber alles andere, was noch in ihm stand, einfach vergessen ließ. Es war die Mumie! Dr. Michels, dessen große Stunde nahte, hatte sich vor dem unteren Ende aufgebaut und beide Arme ausgestreckt. Er wirkte jetzt wie der kleine „große" Kaiser Napoleon.
„Ich möchte noch einmal darum bitten, daß die Disziplin unter allen Umständen beibehalten wird. Diese Mumie ist das -40-
Prunkstück unserer Ausstellung. Ihr könnt euch vorstellen, daß es nicht einfach war, sie als Leihgabe zu bekommen. Sie ist ungemein kostbar und auch entsprechend gesichert. Wir haben sie in einen offenen Sarkophag gelegt. Das ist nicht alles. Um die Mumie vor Umwelteinflüssen zu schützen, mußte ein zweiter Sarg gebaut werden. Er besteht aus einem SpezialMaterial, das die Temperatur konstant hält. Kleinste Schwankungen können Furchtbares anrichten und die Mumie zerstören. Ich möchte euch bitten, jetzt der Reihe nach an dem Sarkophag vorbeizuschreiten, euch die Mumie anzusehen, euch an einem anderen Platz wieder hinzustellen, um anschließend meine Erklärungen zu hören. Auch eure beiden Lehrer sind mit dieser Regelung einverstanden, sie wurde mit ihnen abgesprochen." Die Schüler nickten. Diesmal protestierte niemand. Vielleicht war es die Anwesenheit der Mumie, die so etwas wie Ehrfurcht vor dem Tod abgab. Selbst die größten Krawallmacher waren still geworden. Manche „froren" auch, das lag mehr an der Gänsehaut, die über ihre Körper glitt. Randy hatte schon einen Blick erhaschen können. Er flüsterte dem neben ihm stehenden Turbo zu: „Sarkophag und Sarg sind noch einmal gesichert worden durch eine Extrahaube. Die haben es ganz genau genommen." „Ist das ein Wunder?" „Bestimmt nicht." Frau Dr. Ebeler und Herr Neuhaus standen zusammen und überwachten die Besichtigung. Die ersten setzten sich bereits in Bewegung. Es waren Schüler aus der Klasse der Studienrätin. Auch Michaela Schröder befand sich unter ihnen. Randy hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt, um Ela im Blickfeld zu behalten. Als zweite blieb sie neben dem Sarkophag stehen und senkte den Kopf. -41-
Ihr Gesicht konnte Randy leider nicht sehen, aber Ela schien von dem Anblick nicht gerade begeistert zu sein. Der war auch nichts für schwache Nerven. Es dauerte noch, bis Randy und Turbo an die Reihe kamen. Sie schauten sich inzwischen um. An der Stirnseite des Raumes klebte ein übergroßes Foto der Sphinx. Es war die Riesenlöwin mit dem Kopf der Frau, Wächterin vor den großen Pyramidengräbern. Der Anblick faszinierte Randy. Er nahm sich vor, später einmal nach Ägypten zu fahren und sich dieses Schauspiel in natura anzusehen. Sehr langsam kamen sie nur voran. Die Schüler blieben unterschiedlich lange neben der Mumie stehen. Einige hatten noch Fragen, die Dr. Michels beantwortete. Turbo dachte an Randys Erlebnisse. „Von den beiden Kerlen hast du nichts mehr gesehen?" „Leider nicht." „Und wenn sie dir noch mal über den Weg laufen? Was willst du dann machen?" „Weiß ich noch nicht. Ich rechne damit, daß sie sich verzogen haben." „Und wiederkommen!" „Kann sein." „Dann klauen sie die Mumie!" „Nein, ich meine..." „Laß es dir gesagt sein. Noch mal, ich kenne die Sammler aus meinem Land." „Sei jetzt ruhig." Sie hatten sich dem Ziel so weit genähert, daß sie schon in den Sarkophag und auch in den gläsernen Sarg hineinschauen konnten. Randy ließ Turbo den Vortritt, der sich die Mumie anschaute und von Dr. Michels angesprochen wurde. -42-
„Hast du Fragen, Junge?" „Eigentlich keine. Sie erklären doch gleich alles." „Das werde ich." Turbo hob die Schultern, ging weiter und schuf somit Platz für seinen Freund Randy. Der schob sich nun langsam an den Sarg heran. Die Schutzhülle war sehr groß und bestand aus einem Material, das nicht reflektierte, obwohl die Lichtbalken darauffielen. Man hatte den Deckel des Sarkophags entfernt und nur das Unterteil stehenlassen. In ihm lag die Mumie. Elektrische Meßgeräte waren angeschlossen. Sie überwachten Druck und Temperatur innerhalb des Glassargs, wo der kostbare Körper lag. Jetzt, wo Randy ihn sich aus der Nähe anschaute, konnte er sich noch weniger vorstellen, daß es Menschen gab, die so etwas sammelten. Randy wunderte sich über die geringe Größe der Mumie. Sie war von ihren Tüchern befreit worden und sah aus wie dunkle Baumrinde. Nicht glatt, sondern eingefallen, an einigen Stellen auch wie klebrig wirkend. Augen waren nicht vorhanden. Sie hatte man bei der Einbalsamierung ebenso entfernt wie zuvor die Eingeweide. Die Arme lagen auf dem Körper. Randy gönnte den Händen einen besonders langen Blick. Die einzelnen Finger waren noch vorhanden und erinnerten ihn an abgebrochene, dunkle Zweige. Verkrümmt wirkten die nackten Füße, wie zusammengeklumpt, und der Mund stand halb offen. Randy schaute wieder hoch und ging nachdenklich weiter. Hinter ihm drängelte schon der nächste. Turbo stand mit Ela zusammen. „Hu", sagte das Mädchen. „Davor kann man sich richtig fürchten." Turbo winkte ab. „Tote tun dir nichts mehr. Erst recht keine Mumie." -43-
„Wie die das nur gemacht haben, damals?" flüsterte Ela. „Die haben ja unwahrscheinlich viel über Medizin gewußt und auch über Chemie." „Das wirst du gleich hören können", sagte Turbo. Randy hatte sich nicht am Gespräch der beiden beteiligt. Sein Blick war an den Mitschülern vorbeigeglitten und peilte die -44-
Eingangstür an. Andere Besucher betraten den Raum. Randy sah eine Gruppe von fünf Frauen, die langsam näher kamen. Sie verdeckten den Mann, der hinter ihnen eingetreten war und sich nun seitlich absetzte. Es war der Blonde! Randy reagierte sofort. Vergessen war die Ausstellung, vergessen war die Mumie. Dafür stieß er Turbo, der ein wenig geträumt hatte, den Ellbogen in die Seite. „He, bist du..." „Den Fotoapparat, schnell!" Turbo fragte nicht lange. Er holte die kleine Kamera unter der Jacke hervor und drückte sie Randy in die Hand, der sich sofort von den Freunden absetzte. „Was hat er denn vor?" fragte Ela. „Weiß ich auch nicht." Randy wußte sehr wohl, was er tat. Er konnte es nicht riskieren, mit dem eingebauten Blitzlicht zu knipsen, das wäre zu sehr aufgefallen. Deshalb verließ er sich darauf, daß die Helligkeit der Strahler ausreichte. Die Mumie interessierte ihn nicht. Er richtete das Objektiv auf das große Bild der Sphinx und hoffte, unverdächtig genug zu wirken. Bevor er auf den Auslöser drückte, schwenkte er die Kamera nach links. Sie besaß zum Glück einen Motor, so konnte er mehrere Bilder schnell hintereinander schießen. Dreimal drückte er auf den Auslöser. Und auf allen drei Bildern bekam er die Person auf den Film, die er haben wollte. Den Blonden! Er ging dicht an der Wand her, schien von den Schülern keine Notiz zu nehmen. Das war ein Irrtum, denn plötzlich drehte er sich um. -45-
Randy stand ziemlich frei. Blitzschnell ließ er die Kamera hinter seinem Rücken verschwinden. Ob der blonde Mann dies gesehen hatte, konnte er nicht sagen. Jedenfalls zog er sich zurück und fand hinter seinen Klassenkameraden Deckung. Er schlug einen Bogen, um sich wieder seinen Freunden zu nähern, die schon auf ihn gewartet hatten. „Was war denn los?" fragte Ela. Randy deutete auf den Fotoapparat, bevor er ihn in seine Tasche steckte. „Ich habe ihn." „Wen?" „Den aus dem Keller!" „Tatsächlich?" flüsterte Turbo. „Wo ist er?" „Es ist der blonde Kerl im braunen Anzug, der hier herumschleicht. Schau nicht so auffällig hin, sonst merkt er noch etwas. Jedenfalls habe ich jetzt ein Foto." „Ich verstehe nur Bahnhof", sagte Ela. „Macht nichts, Mädchen. Ich werde dir später alles erklären." Randy nickte Turbo zu. „Das hier jedenfalls war äußerst wichtig." „Glaube ich auch." Michaela war beleidigt. Sie sah zur Seite. „Hat er denn gesehen, wie du ihn fotografiert hast?" Randy machte ein zweifelndes Gesicht. „Das kann ich dir nicht genau sagen." „Ich an deiner Stelle würde die Kamera abgeben." „Wem denn?" „Ela." „Sprecht ihr von mir?" „Die Idee ist gut", sagte Randy. „Bitte, Ela, tu mir einen Gefallen. Steck du den Fotoapparat ein - ja?" -46-
„Und dann?" „Nichts dann. Du kannst ihn tragen. Es ist ungemein wichtig, glaub mir, wir übertreiben da nicht." Ela zögerte noch. „Bitte!" drängte Randy. Er sprach mit einer sehr ernst klingenden Stimme. „Na gut, gib her." „Danke dir." Wieder klatschte Frau Dr. Ebeler in die Hände. „Ich hoffe, ihr habt euch die Mumie mit einem ebensolchen Staunen angeschaut, wie ich es getan habe. Was wir hier gesehen haben, ist einmalig. Daß vor einigen tausend Jahren so etwas möglich war, kann uns nur staunen lassen. Man hat heute durch die Methoden der modernen Wissenschaft herausgefunden, wie die alten Ägypter ihre Toten mumifizierten. Das Stichwort dabei heißt: Einbalsamierung. Darüber wird euch Herr Dr. Michels mehr erzählen können, denn er ist der Spezialist. Bitte, Herr Dr. Michels." „Danke sehr, danke sehr." Der Mann mit dem Gurgelpropeller stellte sich so hin, daß er von allen Schülern gesehen werden konnte. Randy hatte sich etwas verkrochen. Er benutzte die anderen als Deckung, denn der Blonde befand sich noch immer im Raum. „Die Einbalsamierung der Toten ist seit der l. Dynastie zu belegen. Aus der 3. Dynastie sind Reste der Mumie von König Djoser erhalten. Wir fragen uns natürlich, wie so etwas möglich war. Die Einbalsamierung würde ich als eines der aufregendsten Mysterien bezeichnen, das das alte Ägypten hervorgebracht hat. Wir müssen vom Glauben der Ägypter ausgehen. Für sie bedeutete der Tod nicht das Ende, sondern eine gefährliche Durchgangszeit in eine andere Welt. Im Jenseits sollten Körper und Geist wieder zusammengeführt werden. Und um den Körper zu erhalten, ließ man sich etwas einfallen. Ich möchte hier nicht -47-
auf die Einzelheiten eingehen, wie die Innereien und Eingeweide aus dem Körper entfernt wurden. Waren sie einmal draußen, wurden die Höhlungen mit Palmwein und aromatischen Substanzen gereinigt. Dann füllten sie den Leib mit reinem Myrrhenpulver, Kassia und anderen bekannten Duftstoffen. Anschließend wurde der Schnitt wieder zugenäht. In dieser Phase bestand der Körper praktisch nur noch aus der Haut und dem Skelett. Der Haut mußte noch die Flüssigkeit entzogen werden. Das schafften sie mit Hilfe eines Natronsalzes. Siebzig Tage lang wurde die Leiche so konserviert. Chemiker haben bestätigt, daß so etwas möglich ist. Waren die siebzig Tage vergangen, wuschen sie die Mumie und umwickelten sie mit sehr feinen Leinenbinden. Diese wurden mit einer Art von Gummimasse, die die Ägypter hauptsächlich an Stelle von Kleister verwendeten, überzogen. Die Länge der Binden kann beträchtlich sein. Manche waren einige hundert Meter lang, unter ihnen waren die Mumien auch am besten erhalten gewesen. Das also war das wesentliche der Einbalsamierung." Dr. Michels räusperte sich. „Wer von euch noch Fragen hat, kann sie gern stellen." So etwas kam den Schülern gerade recht. Es gab einige Streber unter ihnen, die sicherlich Fragen gestellt hätten, sie aber wurden von den anderen nur einmal scharf angesehen und hielten lieber ihren Mund. „Keine Fragen?" „Nein!" meldete sich Krähe. „Nun, dann ist meine Aufgabe wohl beendet. Ich darf mich für euer Interesse bedanken." Frau Dr. Ebeler trat vor. „Und wir, sehr geehrter Herr Dr. Michels, bedanken uns bei Ihnen, daß Sie es geschafft haben, uns einen Teil der Geschichte so anschaulich näherzubringen." „Ich habe mein Bestes versucht. Natürlich wäre ich gern wissenschaftlicher geworden, aber..." -48-
Seine Stimme ging im Murmeln zahlreicher Stimmen unter. Die Schüler hatten keine Lust mehr, noch länger zu bleiben. „Wir sammeln uns in der ersten Halle!" rief „Nobby" Neuhaus. „Fahren wir sofort zurück?" fragte jemand. „Natürlich." „Müssen denn alle mit?" „Wir sind gemeinsam gekommen, wir werden gemeinsam wieder fahren. Merk dir das, Vogel." „Schon gut." „Willst du jetzt deinen Apparat zurückhaben?" fragte Ela. „Nein, behalte ihn noch." „Das ist mir lästig." „Und mir ist es wichtig." Sie wandte sich an Turbo. „Sag mal, spinnt der Kerl?" „Das glaube ich nicht. Da steckt schon etwas mehr dahinter. Im Bus kann er es dir erzählen." „Ich fahre mit meinen Freundinnen." „Dann eben zu Hause." Die beiden anderen Mädchen drängten Ela, endlich zu kommen. „Laß doch die blöden Affen, die erzählen nur Unsinn." Randy kümmerte sich nicht um die Kommentare. „Gib gut auf den Apparat acht." Ela kannte ihren Freund gut. Wenn Randy so redete, steckte mehr hinter der Sache, als es den äußeren Anschein hatte. Frau Dr. Ebeler und Herr Neuhaus kümmerten sich um die Schüler. Sie wurden zwar nicht getrennt, aber jeder wollte wieder in den Bus, mit dem er auch gekommen war. Der Vormittag war fast vorbei. Wenn sie an der Schule eintrafen, wurde es Zeit für das Mittagessen. Die Jungen und -49-
Mädchen würden nicht später zu Hause eintreffen als an den normalen Schultagen. Stefan Vogel schob sich an Randys linke Seite. Rechts von ihm ging Turbo. Krähe hatte seine Hände in den Hosentaschen versenkt. „Mein Angebot gilt noch", sagte er leise. „Ihr könnt es euch überlegen." „Was?" „Die Sache mit dem Computerladen." Randy schüttelte den Kopf. „Nein, wir fahren wieder mit zurück." „Ihr seid feige!" „Feigheit ist etwas anderes." Krähe ließ nicht locker. „Ich gebe auch einen aus." Er schleuderte sein Haar zurück, weil ihm einige Spitzen mal wieder in die Augen gefallen waren. „Du kannst zehn ausgeben und uns ins Kino einladen, wir fahren trotzdem zurück. Das würde ich dir auch raten." „Darauf verzichte ich." „Dann bleibst du?" „Klar." Krähe grinste. „Ich setze mich ab und hoffe, daß ihr mich nicht verpetzt." „Was hätten wir davon?" Krähe lachte, schleuderte wieder sein Haar zurück und war plötzlich verschwunden. Niemand hatte gesehen, wie er hinter einer der Säulen Deckung gefunden hatte. Die Schüler aber gingen weiter. „Ein komischer Knabe", sagte Turbo. „Kennst du den schon lange?" „Seit einem halben Jahr. Da zog die Familie Vogel in die Nähe von Düsseldorf. Die haben vorher im Ruhrgebiet gewohnt. Krähe erzählte, daß sein Vater expandieren wollte. Die Firma ist größer geworden." -50-
„Soll er, das ist mir egal." Turbo schaute gegen den Bus. Der Fahrer hatte die Türen bereits geöffnet. „Einsteigen, die Herrschaften!" rief er. „Ich habe heute nachmittag noch eine Fuhre." „Wohin denn?" fragte ein neugieriges Mädchen. „Kannst du schweigen?" Ihre Augen leuchteten. „Sicher." „Ich auch!" Unter dem Lachen der anderen Schüler bekam die neugierige Fragerin einen roten Kopf. Nur Randy lachte nicht mit. Sein Gesicht hatte einen ernsten Ausdruck angenommen. Er war beileibe kein Schwarzseher, aber er hatte das Gefühl, mal wieder voll in irgend etwas reingetreten zu sein...
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Krähes schwache Stunde Die Säule war eine gute Deckung. Stefan Vogel blieb dahinter, schielte nur hin und wieder in die Halle und nahm zufrieden grinsend zur Kenntnis, daß sie sich allmählich leerte. Um ihn hatte sich keiner gekümmert. Weshalb auch? Die Schüler waren alt genug. Sie brauchten nicht mehr an der Hand geführt werden. Von anderen Fahrten her wußte Stefan, daß im Bus auch nicht mehr nachgezählt wurde. Nur Herr Neuhaus blieb noch zurück. Er stand an der Tür, strich durch seinen grauen Kinnbart und sah aus wie ein Mann, der darüber nachdachte, ob er nicht etwas vergessen hatte. Dabei streifte sein Blick auch durch die Halle. War ihm doch etwas aufgefallen? Krähe wurde nervös. Er atmete scharf ein, hörte Schritte und sah einen der Männer von der Wach- und Schließgesellschaft auf den Studienrat zugehen. Die beiden redeten miteinander, und der Mann in der grauen Uniform nickte. Es schien alles klar zu sein. Herr Neuhaus verabschiedete sich mit einem Händedruck und einem Lächeln auf den Lippen. Dann ging auch er. Die Konturen seines Körpers verschwammen hinter der Glastür. Krähe atmete tief durch. Das hätte im letzten Augenblick noch schiefgehen können. Der Angestellte ging auf das Kassenhäuschen zu und passierte die Säule, ohne hinter sie zu schauen. Zudem kamen neue Besucher. Niemand beobachtete ihn, als er nach draußen schlüpfte. Er wollte sich erst darüber informieren, ob die Busse auch verschwunden waren, ging zum Parkplatz und sah sie noch dort stehen. Rasch zog er sich zurück. Es wäre nicht mehr nötig gewesen, denn er hörte das Brummen der Motoren. Beide Busse starteten -52-
gleichzeitig und rollten an. Krähe grinste und flüsterte: „Viel Spaß noch..." Er freute sich darauf, in der Stadt bleiben zu können. Wenn sich einer der Pauker beschwerte, das regte ihn auch nicht weiter auf. So etwas ließ sich leicht regeln. Stefan Vogel gehörte zu den Jugendlichen, die eigentlich alles hatten, wobei das Wichtigste trotzdem fehlte. Die Liebe und das Verständnis eines Elternhauses. Seine Eltern standen unter Dauerstreß, die Firma mußte laufen, sein Vater expandierte laufend, er verlangte von seinem Sohn, daß dieser funktionierte und deshalb ziemlich selbständig lebte. Um Stefan dies zu ermöglichen, bekam er ein reichliches Taschengeld zugemessen, viel zuviel, doch er hatte sich daran gewöhnt, zudem machte ihn das Geld unabhängig, das jedenfalls glaubte er. Einen festen Plan hatte er sich für den kommenden Nachmittag noch nicht zurechtgelegt. Jedenfalls wollte er in der City stöbern und nach bestimmten Dingen Ausschau halten. Die Elektronik stand dabei an erster Stelle. Neue Soft- und Hardware. Es gab da tolle Dinge, von denen sein Vater berichtet hatte und die er sich eventuell kaufen wollte. Seine Anlage mußte vergrößert werden, er wollte Hausaufgaben speichern und... „Gehörst du nicht zu der Klasse?" Stefan war ganz in seine Gedanken versunken gewesen. Jetzt schrak er zusammen, und eine Gänsehaut rann über seinen Rücken. Er hatte den Sprecher noch nie gehört, geschweige denn gesehen. Der Mann, der neben ihm stand, trug einen braunen Anzug, sein Haar zeigte ein fahles Blond und lag flach auf dem Kopf. Stefan wurde mißtrauisch. „Was geht Sie das denn an?" „Ach, eigentlich nichts." „Was fragen Sie dann?" -53-
„Nun sei nicht so unfreundlich. Ich habe nur ein paar Fragen." „Was wollen Sie denn wissen?" „Sollten wir das nicht bei einer Cola oder Limo bereden?" Krähe überlegte. Er wußte nicht, weshalb der Typ ihn anmachte. Vielleicht hatte er tatsächlich Probleme, bei denen Stefan ihm helfen konnte. Möglicherweise ging es um die Schule. „Nun?" „Sagen Sie mir erst, was Sie wollen?" „Ich will dich nicht reinlegen, weil du nicht mitgefahren bist." In den Augen des Blonden glitzerte es. „Obwohl du sicherlich Ärger bekommen könntest, wenn ich deinen Lehrern berichte, wie gerissen du dich abgesetzt hast." „Das würden Sie tun?" Der Blonde hob die Schultern. Er tat wieder sehr harmlos. „Es kommt ganz darauf an." „Viel wird mir nicht passieren." „Das stimmt, aber Ärger könnte es dennoch geben. Den will ich ja vermeiden, das heißt, ich helfe dir, wenn wir beide uns etwas zusammensetzen und reden." „Ich kenne Sie überhaupt nicht." „Oh, entschuldige, ja. Mein Name ist Schmitz. Ganz einfach Schmitz, verstehst du?" „Toller Name. Kommt so selten vor, nicht?" „Im Rheinland ist er sehr häufig." Schmitz sah, daß der Junge überlegte, und war sicher, daß er schon fast gewonnen hatte. „Wie ist es? Es dauert wirklich nicht lange." „Gut, ich komme mit. Wohin?" „In der Nähe gibt es ein Bistro. Wenn du Hunger hast, können wir dort auch eine Kleinigkeit essen." „Danke, habe ich nicht." -54-
Das Bistro gehörte zu der Sorte Lokalen, die in waren. Sehr hell eingerichtet mit Stehtischen, einer Marmortheke, viel Licht, weißen Fliesen, bunten Grafiken an den Wänden und einem Publikum, das sich für etwas Besonderes hielt. Die meist jungen Erwachsenen waren topmodisch gekleidet, gaben sich lässig, schlürften teure Drinks, und wer einen Kaffee bestellte, wurde schon schief angesehen. Das Gesicht des Keepers hinter der Bar wirkte im Licht blaß. Im linken Ohr des Mannes funkelte ein kleiner Brillant. Der Knabe hatte sein blondes Haar mit Gel beschmiert. Die Mähne war flach nach hinten gekämmt worden. -55-
Schmitz bestellte einen Espresso, sein Gast entschied sich für eine Cola. Im Glas schwammen Eisstücke um eine halbe Zitronenscheibe. Leise Musik drang aus versteckt angebrachten Lautsprechern. „Ja, dann zum Wohl", sagte Schmitz. Er nahm einen Schluck und strich über seine Wangen. Krähe nickte. „Gut, Herr Schmitz. Ich bin hier. Was also wollen Sie jetzt von mir?" „Hattest du einen besonderen Grund, nicht mitzufahren?" Krähe hob die Schultern. „Ist rein persönlich gewesen." „Auch gut." „Haben Sie denn etwas mit der Ausstellung zu tun?" „Vielleicht." Krähe nuckelte an der Cola. Er wartete darauf, daß der Mann endlich die Katze aus dem Sack ließ. „Was wollen Sie denn?" „Es geht mir nicht um dich." „Wie schön." „Ich suche eine bestimmte Person, einen Jungen, etwa in deinem Alter. Er müßte in deine Klasse gehen." „Das sind eine ganze Menge." Schmitz nickte. „Ich weiß. Ich weiß das sogar sehr genau, aber den Jungen, den ich suche, der sieht folgendermaßen aus." Er lieferte Krähe eine sehr genaue Beschreibung von Randy Ritter. Stefan hörte zu und gab mit keinem Wimperzucken zu erkennen, ob er den Beschriebenen nun kannte oder nicht. Erst als Schmitz geendet hatte und wieder einen Schluck Espresso trank, bekam der Mann die Antwort, die mehr eine Frage war. „Na und?" „Du kennst ihn also?" „Klar, der geht in meine Klasse." -56-
„Wie heißt er denn?" „Das sage ich nicht." Schmitz lächelte. Es war kein nettes Lächeln, eher eisig und kalt. „Du willst doch keinen Ärger bekommen, Junge." „Was wollen Sie denn von ihm?" „Mit ihm reden, das ist alles. Ich habe nämlich das Gefühl, ihn von früher her zu kennen. Zumindest seinen Vater. Nur komme ich nicht mehr auf den Namen. Ich war lange im Ausland..." „Ägypten?" „Ja, genau. Ich habe mitgeholfen, die Ausstellung zu organisieren. Als ich den Jungen sah, da klickte es bei mir. Verstehst du?" Krähe nickte. Ein Mädchen - poppig gekleidet - drängte sich neben ihn. Sie trug eine Latzhose und ein Gesicht zur Schau, als würde ihr der Laden gehören. Im hellblonden Stehhaar fiel die grüne Strähne besonders auf. „Wir brauchen noch Nachschub, Siggi." „Wieder Champagner?" Siggi, der Keeper, drehte sich so hastig, daß sein Brillant im Ohr funkelte. „Klar doch." „Wird erledigt." „Wie heißt er also?" fragte Schmitz. „Randy Ritter!" Stefan erschrak selbst, daß ihm der Name so plötzlich herausgerutscht war. Er hatte sich durch das Mädchen ablenken und gleichzeitig durch die Frage überrumpeln lassen. „Na gut, danke." Stefan schaute den Blonden an. Schmitz lächelte wieder. Diesmal triumphierend. „Und deshalb hast du einen so großen Wirbel gemacht, Junge? Alles klar." „Was werden Sie jetzt tun?" Krähe war nervös geworden und -57-
rutschte unruhig über das Hockerleder. „Ich weiß es noch nicht. Ich freue mich nur, daß ich den Namen weiß. Wenn mich nicht alles täuscht, habe ich die Ritters schon früher kennengelernt. Ich war mir nur nicht sicher." „Dann wissen Sie ja alles." Krähe ärgerte sich weiter. Er wollte vom Hocker rutschen, doch der Blonde hielt ihn fest. Er legte seine Hand auf Stefans Schulter, und der Junge wunderte sich über den Druck dieser kurzen Finger. „He, was soll das?" „Bleib noch." „Danke, die Cola ist getrunken..." „Du kannst eine neue haben." „Will ich aber nicht." Der Mann griff in die Tasche und holte einen Geldschein hervor. Es war ein Zwanziger. „Der gehört dir, wenn du mir noch eine Frage beantwortest." Stefan rührte den Schein nicht an. „Und welche?" „Wie ist es weitergegangen? Die Busse fahren sicherlich zu eurer Schule - oder?" „Ja, da ist dann Schluß." „Ich möchte gern mit Randy Ritter reden. Beschreibe mir den Weg. Mehr nicht." Stefan tat es, auch wenn er ein schlechtes Gewissen dabei hatte. Schmitz zahlte bereits und nickte vor sich hin, als wollte er sich selbst beglückwünschen. „Dann wünsche ich dir noch viel Spaß", sagte er, hatte es auf einmal sehr eilig und ließ Stefan an der Bar sitzen. Der Junge verfolgte den Blonden mit seinen Blicken. An der Tür wurde Schmitz bereits erwartet. Dort stand ein dunkelhaariger Mann, der aussah wie ein Südländer. Besonders fiel die rötlich schimmernde Narbe in seinem Gesicht auf. -58-
Er schaute kurz zu Stefan hin, der rasch den Kopf zur Seite drehte und sich schüttelte. Wenn er ehrlich gegen sich selbst war, hatte er ein sehr schlechtes Gewissen. Er bereute seine Vertrauensseligkeit. Den Schein ließ er liegen. Er kam ihm jetzt vor wie Judasgeld...
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Schmitz macht Ernst Lisa, my Love hieß der Song, der durch den Bus schallte und einige Schüler so anmachte, daß sie mitsangen oder mitwippten. Dieser Sound ging ihnen unter die Haut, auch Randy hörte ihn gern, hatte aber auf der Rückfahrt keinen Bock, genauer hinzuhören. Seine Gedanken beschäftigten sich mit anderen Dingen. Je länger er über die Szene im Waschraum nachdachte, um so größer wurde seine Sorge, daß mehr dahintersteckte, als er sich bisher hatte träumen lassen. Worum konnte es diesen Leuten nur gegangen sein? Es kam eigentlich nur die Mumie in Frage. Sie war wertvoll, Sammler zahlten sicherlich ein Vermögen dafür. Aber wer hätte ihm geglaubt, wenn er mit diesen Vermutungen angekommen wäre? Herr Neuhaus meldete sich. Die Gelegenheit war günstig, da ein Verkehrsstau den Bus aufhielt. Vom Schwung und vom Krach der Hinfahrt war kaum noch etwas zu spüren. Viele Schüler hingen in ihren Sitzen, die Kassette war auch durch, man döste halt vor sich hin und ließ die Gedanken fliegen. „Ich hoffe, daß euch die Ausstellung gefallen hat", drang die Stimme aus den Lautsprechern, „und ich würde mich sehr freuen, wenn sich euer Interesse bei der nächsten Arbeit in guten Noten niederschlägt. In der folgenden Woche. Nehmt dies als kleine Vorwarnung." „Da bin ich krank", rief jemand. „Und ich auch." Herr Neuhaus lachte nur. Er kannte die Sprüche und nahm sie nicht ernst. „Weiß dieser Kerl eigentlich, wer du bist?" fragte Turbo. Randy erschrak fast. „Zum Glück nicht. Der würde mir ja auf den Fersen hocken." -60-
„Aber er könnte es herausfinden." „Klar. Aber davor habe ich keine Angst. Bis das geschieht, haben wir schon Gegenmaßnahmen getroffen." „Wen meinst du damit?" „Alfred, meinen Vater oder Kommissar Hartmann. Ich bin davon überzeugt, daß wir in einer dicken Sache stecken. Altertumsschmuggel und so. Das kann schon unter die Haut gehen, finde ich." „Du mußt es wissen, Randy." „Würdest du denn anders handeln?" „Keine Ahnung. Vielleicht würde ich mir nicht so große Sorgen machen." „Du warst auch nicht im Waschraum." „Stimmt." Das Gespräch zwischen den beiden versickerte. Der Stau hatte sich aufgelöst, sie kamen normal voran. Das graue Band der Straße wies wie ein breiter Lanzenschaft nach vorn, nur in der Mitte von den weißen Markierungen unterteilt. Der Fahrer schob eine neue Kassette in den Recorder. Einigen Schülern gefiel die Musik nicht. Sie protestierten lautstark. Herr Neuhaus mischte sich ein und wurde energisch. Das alles gehörte zu einer Fahrt. Randy und Turbo kümmerten sich nicht darum. Diese Äußerlichkeiten prallten an ihnen ab. Wenig später kamen die Umrisse des Schulkomplexes in Sicht. Schüler auf Fahrrädern begegneten ihnen. Sie winkten den Bussen zu, die auf die Zufahrt bogen und die Parkplätze anfuhren. Falls die Lehrpersonen noch Abschiedsworte hatten sprechen wollen, dazu ließen sie die Schüler nicht kommen, jeder stand auf, wollte als erster an der Tür sein, wo es ein Gedränge und Geschiebe gab. -61-
Randy und Turbo verließen den Bus ziemlich als letzte. Die Schüler hatten sich in Gruppen versammelt. Einige wollten nicht nach Hause und noch irgendwohin gehen. Es gab heiße Diskussionen. Auch Randy und Turbo wurden gefragt, sie aber hatten andere Sorgen. „Seid ihr feige", hieß es. „Bei der nächsten Fahrt", sagte Randy. „Außerdem fahren wir bald ins Landschulheim. Da können wir noch oft genug den Bär loslassen." „Dann gib acht, daß er dich nicht beißt", sagte Carola, ein flotter Teeny, dessen Mutter eine Boutique hatte und ihre Tochter immer modisch top kleidete. Randy ließ das Mädchen stehen. Er hatte Ela entdeckt, die auch ihn suchte. „Was ist mit dir?" fragte sie. „Gehst du noch irgendwohin?" „Nein. Du denn?" Ela zog die kleine Nase kraus. „Ich weiß nicht. Ich möchte schon, aber ich muß heute nachmittag auf meinen Bruder aufpassen. Meine Mutter will weg." „Es ist auch besser, wenn du mit uns kommst." „Wieso das denn?" „Ich denke an die Fotos." „Den Apparat gebe ich sofort zurück. Ich..." „Laß ihn bei dir", sagte Randy. Er reckte seine Arme und schüttelte die Beine aus, weil ihn das lange Sitzen im Bus steif gemacht hatte. „Ich jedenfalls gehe jetzt zu den Fahrrädern." Turbo schloß sich ihm an. Ela noch nicht. Sie redete mit ihren Freundinnen. Erst als die Jungen schon bei den Rädern standen, hetzte sie herbei. „Ihr hättet ja auch warten können", beschwerte sie sich. „Du weißt doch, wo die Räder stehen." -62-
Ela tippte gegen die Stirn. Sie meinte Randy damit. Außer den dreien hatte kein anderer Schüler den gleichen Weg. Sie wohnten in verschiedenen Richtungen, und so waren Ela, Randy und Turbo allein unterwegs. „Das Schloß-Trio auf Tour!" rief Turbo, der an der Spitze fuhr. Er hatte Alfreds Rad bekommen, schaltete einen Gang höher und gab richtig Stoff. Die anderen beiden hatten Mühe, ihm zu folgen. Der Wind biß in ihre Gesichter. Es war ziemlich kalt geworden, nachdem sich die Sonne hinter grauen Wolken versteckt hatte. Sie brauchten zum Glück nicht auf der normalen Straße zu fahren, es gab einen gut ausgebauten Radweg. Hin und wieder sahen sie noch einen Klassenkameraden im Auto vorbeihuschen. Einige waren von ihren Eltern abgeholt worden. Turbo fuhr an der Spitze, Ela dahinter, Randy machte den Schluß. Der Radweg führte an villenartigen Häusern vorbei, deren Fassaden versteckt in großen Vorgärten ab und zu hinter dem blattlosen Geäst der Bäume erschienen. Ein grauer Opel Senator glitt an den Freunden vorbei. Da er getönte Scheiben besaß, war nicht so leicht auszumachen, wer in dem Fahrzeug hockte. Randy hatte den Wagen zwar zur Kenntnis genommen, ihn aber sehr bald wieder vergessen. Bis zu dem Zeitpunkt, als er sich plötzlich aus einem Nebenweg, der zwei Grundstücke zerschnitt, hervorschob. Eine lange graue Schnauze und genau in dem Augenblick, als der an der Spitze fahrende Turbo den Wagen fast erreicht hatte. „Turbo, gib acht!" schrie Ela. Der Junge stellte sich in den Rücktritt. Er bremste schon brutal, stoppte auch, aber das Rad rutschte weiter. Es geriet dabei in eine Schräglage. Turbo tat das einzig Vernünftige, er sprang ab, konnte sich dabei nicht mehr halten, weil der -63-
Schwung einfach zu groß gewesen war, und fiel selbst hin. Geschickt rollte er sich über die Schulter ab, so daß er ohne Kratzer oder Prellungen davonkam. Das Rad aber rutschte weiter und gegen den linken Vorderreifen des Senator. Es prallte ab, drehte sich noch einmal und blieb neben der Fahrertür liegen. Turbo lief sofort hin, riß das Rad wieder an sich und sah, daß beide Türen geöffnet wurden. Michaela Schröder, die hinter Turbo fuhr, hatte es besser gehabt und normal bremsen können. Randy ebenfalls. Und er war derjenige, dessen Augen groß wurden, als er erkannte, wer sich da aus dem grauen Opel Senator schob. Es waren die Kerle aus dem Waschraum! Der blonde Mann hatte hinter dem Lenkrad gesessen. Nahezu provozierend lässig und mit der Mir-kann-keiner-Geste schob er sich aus dem Wagen, ließ die Tür offen und stützte sich mit dem angewinkelten Arm auf dem Holm ab. Randy hatte zu Ela aufgeschlossen. Er stand neben ihr und sah auch, daß sie ihn anschaute. „Weißt du, was das soll?" fragte sie leise. „Ich glaube, schon." „Und?" „Warte erst mal ab." Turbo stand ein wenig abseits. Er hielt sein Rad fest. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck, der Randy zu verstehen gab, daß Turbo längst begriffen hatte. Aus Randys Erzählungen wußte er, wie die beiden Männer im Waschraum ausgesehen hatten. Jetzt sah er sie vor sich. Der dunkelhaarige Araber hatte den Wagen an der anderen Seite verlassen. Auch er gab sich lässig und überheblich. Er -64-
schaute über das Dach des Opel hinweg. Die Narbe in seinem Gesicht leuchtete wie ein Fanal. Sie fiel noch mehr auf als der Bart. „Randy, noch einmal, was wollen die?" Ela hatte die Frage geflüstert, war aber trotzdem von dem Blonden verstanden worden. Der Mann lachte. „Das weiß dein Freund sehr genau. Wir sind nicht umsonst gekommen. Ich möchte etwas von euch haben. Es ist ganz einfach." Er streckte Randy seinen rechten Arm entgegen. „Rück den Fotoapparat raus, Junge!" Ela wollte etwas erwidern, überlegte es sich im letzten Augenblick anders und hielt den Mund. Randy fragte: „Welchen Fotoapparat?" „Eine Kamera", sagte der Blonde, „wenn du das besser verstehst." „Sehen Sie eine?" Hinter dem Mann räusperte sich der Araber. Ein böses Omen für die Freunde, denn der Blonde wurde sauer. Er kam auf Randy und Ela zu. Sein Blick hatte überhaupt nichts Freundliches an sich. Eine Beinlänge vor ihnen stoppte er seine Schritte. „Noch einmal, Junge. Ich will, daß du mir die Kamera gibst, mit der du in der Ausstellung geknipst hast. Streite es nicht ab. Ich habe es gesehen." „Sehen Sie eine?" Da wurde es dem Mann zuviel. Seine Arme schnellten vor. Harte Hände bekamen Randy zu packen. Er wurde mit einem heftigen Ruck an den Blonden herangerissen und roch dessen Knoblauch-Atem. Der Mann schüttelte ihn durch. „Bei der dritten Frage gibt es Hiebe, die du nie vergessen wirst, Junge", sagte er. „Glaube nur nicht, daß ich mich von einem halbwüchsigen Bengel auf den Arm nehmen lasse. Mein Freund und ich nehmen dich auseinander, darauf kannst du dich -65-
verlassen!"
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Randy schwieg. Er stand starr im Griff des Mannes. Der Araber setzte sich in Bewegung und ging auf Randys Fahrrad zu, das er hatte loslassen müssen und das neben dem Jungen zu Boden gefallen war. „Ich mache das, Toni", sagte er in holprigem Deutsch. „Keine Namen, verdammt!" Der Araber kümmerte sich um Randys Rucksack, der auf dem Gepäckträger festgeschnallt war und auch den Fall überstanden hatte. Er riß den Beutel unter der Klammer hervor und durchwühlte ihn, wobei er den Abfall kurzerhand auf dem Boden verstreute. Und niemand griff ein. Auf der Straße zischten die Autos vorbei. Die Fahrer warfen kaum einen Blick auf die rechte Seite, sie ging das alles nichts an, während Randy Blut und Wasser schwitzte. Toni schielte auf seinen Kumpan. Er hörte ihn fluchen. „Nichts?" fragte der Blonde. „Ja." Ibrahim kam wieder hoch. In seinen dunklen Augen lag eine gewisse Heimtücke. „Du mußt die Kamera haben!" flüsterte der Blonde. „Du mußt es einfach. Ich werde dir das Versteck..." „Laß es", sagte Ibrahim. Er griff unter sein helles Jackett und hielt plötzlich ein Messer in der Hand. „Bei uns in Ägypten werden Leute auf eine andere Art und Weise..." „Nein, nein!" rief Ela. „Tun Sie das nicht!" Ibrahim drehte den Kopf. „Was willst du..." Da meldete sich Turbo. „Vielleicht habe ich die Kamera!" rief er laut und schwang sich gleichzeitig auf sein Rad. Als Ibrahim und der Mann namens Schmitz herumfuhren, strampelte er schon los. „Ihr könnt hinterherkommen!" brüllte Turbo. Er stemmte sich in die Pedale. „Hinterher!" -67-
Es hätte des Befehls nicht bedurft, Ibrahim wußte auch so, was er zu tun hatte. Er wurde plötzlich zum Sprinter und schien mit seinen langen Beinen über den Boden zu fliegen. Wenn der so weiterlief, schaffte er es noch, Turbo trotz des Vorsprungs einzuholen. Schmitz war abgelenkt. Zwar hielt er Randy noch fest, nur hatte sich der Griff gelockert. Das nutzte Randy. Er arbeitete mit dem Knie und dem Kopf. Schmitz erwischte es an der Brust und weiter unten. Er wurde plötzlich grün im Gesicht. Im Waschraum war es der Besenstiel gewesen, hier das Knie. Er taumelte zurück, hielt den Mund weit offen und atmete würgend. Randy dachte an Ela. „Hau ab!" schrie er ihr zu. „Fahr so schnell du kannst!" „Und du?" „Weg mit dir!" Jetzt zählte jede Sekunde. Glücklicherweise tat Ela, was ihr geraten worden war. Sie schwang sich blitzschnell in den Sattel und radelte los. Randy war beruhigter. Ela kannte sich in der Gegend aus. Wenn sie geschickt war, würde sie den Häschern entwischen. Von Turbo und dem Araber war nichts mehr zu sehen. Randy hatte nur noch den Deutschen als Gegner. Der griff wieder an. Da rammte Randy sein Rad vor. Er erwischte den Blonden mit dem Vorderreifen, trat noch nach ihm und gab anschließend Fersengeld. Bevor sich Schmitz erholt hatte, hockte Randy bereits im Sattel und jagte davon. Er rechnete mit einer Hetzjagd, huschte am abgestellten Senator vorbei, nahm fast noch die Hecke eines Vorgartens mit und jagte auf dem normalen Radweg weiter. -68-
Von Ibrahim und Turbo sah er nichts. Vielleicht waren sie in einem der zahlreichen Nebenwege verschwunden. Darum konnte sich Randy jetzt nicht kümmern. Für ihn war wichtig, daß ihn Toni letztendlich nicht doch erwischte. Das rote Pflaster schien unter Randy hinwegzufliegen, so trimmte er sein Rad auf Geschwindigkeit. Er schaute nur nach vorn. Die Umgebung veränderte sich, sie schien nur mehr aus fließenden Schatten zu bestehen, bis ihn ein schrilles Klingeln hochschreckte. Radfahrer vor ihm! Eine Familie. Mutter, Vater, zwei Kinder, letztere noch ziemlich klein und nicht so beweglich im Fahrradsattel. Randy mußte ausweichen. Er schaffte es im letzten Augenblick, riß die Lenkstange nach rechts und streifte noch eine Hecke, an die sich eine Mauer anschloß, der Randy allerdings ausweichen konnte, sonst hätte es böse enden können. Er hörte hinter sich das Schimpfen des Familienvaters, hätte sich gern entschuldigt, doch das ging jetzt nicht. Die Angst trieb ihn weiter. Einen Blick riskierte er noch zurück. Der Opel war schon kleiner geworden, so viel Distanz lag bereits zwischen ihm und dem Jungen. Noch kleiner wirkte Schmitz. Er stand vor dem Wagen. Wahrscheinlich verging er vor Wut. Nicht alles war gewonnen. Der Araber und Turbo waren unterwegs. Wenn es dem Ägypter gelang, Turbo als Geisel zu nehmen, mußte Randy passen. Er fuhr weiter. Langsamer jetzt, seine Blicke forschten überall. Er sah die Straße, den Fluß im Hintergrund und auch die Vorgärten neben ihm. Dazwischen schmale Privatwege, sehr gepflegt wirkend und wie Streifen das Wohngebiet durchschneidend. Aus einem dieser Wege hörte er einen bekannten Pfiff. Er war -69-
schon an der Einmündung vorbei, als er bremste, drehte, zurückund in den schmalen Weg hineinfuhr, wo Turbo wartete, der den Pfiff ausgestoßen hatte. „Wo ist der Araber?" fragte Randy, als er neben Turbo hielt. „Abgehängt. Und wie lief's bei dir?" „Auch erledigt. Ich habe diesem Toni noch mal eine Kostprobe mitgegeben." „Was ist mit Ela?" Randy grinste knapp. „Sie konnte auch entwischen. Den Film haben wir noch." Turbo nickte. „Ja, der ist wichtig. Mann, muß der Blonde Dreck am Stecken haben, daß er sich so anstellt." „Klar, der ist ein Verbrecher." „Der Araber ist verschwunden. Ich habe ein paar Haken gefahren. Der hat ganz dumm ausgesehen." „Kann ich mir denken." Randy schaute sich um. Gegenüber war ein Mann aus der Seitentür seines Hauses getreten und stand im Garten. Er hielt einen Schäferhund an der Leine. Beide, Mensch und Tier, schauten zu den Jungen hinüber. Randy hob die Hand. „Guten Tag, Herr Winter. Keine Sorge, wir sind es nur." „Ach du, Randy. Grüße dich. Meine Augen sind nicht mehr so gut. Wie geht es deinen Eltern?" „Prima." Randy schob das Rad auf den Zaun zu. Der Hund tat nichts. Herr Winter war Randy bekannt. Er hatte ihm stets ein dickes Trinkgeld gegeben, als der Junge sich vor zwei Jahren noch etwas Geld durch das Austragen von Zeitungen verdiente. „Herr Winter, darf ich bei Ihnen mal telefonieren?" „Sicher doch, komm rein. Das Tor ist offen." Randy drückte es nach innen. Auch Turbo schlenderte heran. „Dein Freund?" fragte Herr Winter, der den Hund beruhigte, -70-
weil er anfing zu knurren. „Ja, das ist Turbo." „Guten Tag", sagte der Junge. „Ich warte draußen." „Okay, bis gleich." Randy ging ins Haus. Er kannte sich aus. Das Telefon stand in der Diele. Von dort aus rief er im Schloß an, wo er mit seinen Eltern wohnte. Weder seine Mutter noch der Vater hoben ab, es war Alfred, der sich meldete. „Ich bin es, Randy. Hör zu, Alfred. Wenn Ela kommt, das wird sie wahrscheinlich, sag ihr, daß sie auf jeden Fall warten soll, ja?" „Natürlich." Alfred räusperte sich. „Ist etwas geschehen, Randy? Du klingst so gehetzt?" „Ich erzähle dir das gleich. Nur soviel: Wirf schon mal die Dunkelkammer an. Du mußt einen Film entwickeln." „Tatsächlich?" „Ja, bis gleich." Herr Winter stand in der Diele. „Du hast es aber eilig, Junge." „Das stimmt. Es geht auch los." „Und wohin?" Randy lachte. „Erst mal nach Hause." „Dann grüße deine Eltern bitte." „Mach ich. Danke, Herr Winter." „Keine Ursache, Randy. Komm mal wieder vorbei." Turbo wartete im Garten und schaute seinem Freund gespannt entgegen. „Na, hat alles geklappt?" „Ja, Alfred weiß Bescheid, daß wir kommen." „Hast du ihm sonst noch was gesagt?" „Nein, nur daß er die Dunkelkammer anheizen soll. Das Entwickeln geht ja schnell." -71-
„Und Ela?" fragte Turbo. Randy rieb seine Hände. „Die wird es geschafft haben. Und jetzt nichts wie weg, sage ich dir. Aber nicht auf dem normalen Weg. Ich kenne da einige Schleichwege, die wir ausnutzen können. Wäre doch gelacht, wenn wir den Typen nicht ein Schnippchen schlagen könnten..." Die Freunde waren trotzdem nicht unvorsichtig auf ihrem restlichen Weg zum Schloß gewesen. Obwohl sie die Hauptstraße gemieden hatten, war ihnen nicht wohl zumute, der graue Senator aber ließ sich nicht blicken. Die Kerle schienen vorerst aufgegeben zu haben. Vor dem Eingang sahen sie das Fahrrad ihrer Freundin Ela. Sie hatte es also geschafft. Bei diesem Wetter wirkte das Schloß am Rhein sehr düster. Der graue Himmel ließ die alten Mauern noch dunkler aussehen. Der angebaute Turm ragte wie eine abgebrochene Zigarre in den Himmel. Der Turm diente Randys Vater als Arbeitsstätte. Er beherbergte ein Labor, in dem Dr. Peter Ritter forschte. Er war nicht allein Ingenieur und Wissenschaftler. Seit einiger Zeit wußte Randy, daß sein Vater auch für die Regierung arbeitete. Genaues hatte er nicht gesagt, aber Dr. Ritter besaß auch Verbindungen zum Geheimdienst, ebenso wie Alfred, der bei den Ritters als Mädchen für alles eingestellt worden war und sich in vielen Sätteln wohl fühlte. Man konnte ihn als Allroundgenie bezeichnen. Er öffnete auch den Jungen die Tür. Aus seinen dunklen Augen schaute er die beiden überaus nachdenklich an. Alfred war um die Dreißig. Auf seiner Oberlippe wuchs ein dunkler Bart. Er war durchschnittlich groß, ungemein durchtrainiert und sportlich immer sehr engagiert gewesen, denn er hatte in früheren Jahren auch als Stuntman gearbeitet und als Fachmann für Spezial-Effekte beim Film. Randy grinste etwas verlegen, als er über die Schwelle trat. -72-
Ela saß in der Halle. Sie hatte sich in einem der großen Sessel vor dem Kamin regelrecht verkrochen. Das Feuer flackerte hell. Sein Widerschein leuchtete durch die Halle und gab ihr einen warmen Ton. Ab und zu zerknackte Holz, dann sprühten Funken weg wie an Silvester die Feuerwerkskörper. „Dann mal rein mit euch", sagte Alfred. „Wo sind denn meine Eltern?" fragte Randy. „Einkaufen. Deine Mutter hat es endlich geschafft, ihren Mann mit in die Stadt zu bekommen." „Hast du an den Film gedacht?" „Das habe ich." „Ist er fertig entwickelt?" „Nein." „Alfred, mach keinen Unsinn. Das ist wichtig, ehrlich." Randy deutete auf Ela. „Du kannst sie fragen. Sie wird es dir sagen. Ich habe nicht gelogen." „Ja, ich weiß." Alfreds Gesicht war sehr ernst geworden. „Ela hat einiges erzählt, und das hat mir gar nicht gefallen, wenn ich ehrlich sein will. Ihr habt euch da wieder in eine Sache verwickeln lassen, die mir..." „Alfred, das war Künstlerpech oder Zufall!" sprach Randy in den Satz hinein. „Das kenne ich. Bei euch ist das immer Zufall." „Diesmal ja. Stimmt's, Ela?" „Ja, Alfred, er hat recht." Sie stand auf. „Das war wirklich so. Du mußt den Film entwickeln lassen. Dieser Blonde wollte ihn unbedingt haben. Der Kerl hat bestimmt Dreck am Stecken. Randy meint, daß es ein Gangster ist." „Wir werden sehen." Alfred schüttelte den Kopf und zog sich zurück. „Ich verschwinde jetzt in der Dunkelkammer." -73-
„Und wenn er nichts geworden ist?" fragte Turbo. „Haben wir Pech gehabt." Randy streckte die Beine aus. „Ich glaube schon, daß wir Glück haben. Das Licht war nicht mal so schlecht." Ela setzte sich wieder neben das Feuer. „Ich habe vielleicht Angst gehabt", flüsterte sie und schüttelte sich noch im nachhinein. „Das alles ist so plötzlich gekommen. Wir fuhren, da war auf einmal der Wagen, dann die Kerle..." „Du hättest ihnen beinahe die Kamera gegeben - oder?" „Ja, ich war dicht davor." „Das haben wir ja abbiegen können", erklärte Randy. „Jetzt muß nur noch Alfred seine Pflicht tun." „Hast du schon bei dir angerufen?" fragte Turbo. Ela nickte. „Ich habe eine Verlängerung herausgeholt. Eine halbe Stunde kann ich noch bleiben." „Aber erzählt hast du nichts?" „Nein, meine Mutter wäre im Dreieck gesprungen. Die denkt noch mit Schrecken an das letzte Abenteuer im Bayerischen Wald. Seit der Zeit darf ich nicht mehr viel sagen." „Kann ich verstehen." Turbo nickte. „Ich hole uns mal etwas zu trinken", sagte Randy und verschwand in der Küche, wo immer Saft im Kühlschrank stand. Er füllte drei Gläser, stellte sie auf ein Tablett und balancierte die Sachen in die Halle. Ela schaute auf die Uhr. „Hoffentlich schafft Alfred das noch, bevor ich nach Hause muß." „Das geht schnell", sagte Randy. Sie nahmen ihre Gläser, und Randy meinte: „Auf uns, auf das Schloß-Trio!" Damit waren die beiden anderen ebenfalls einverstanden. Turbo leerte das Glas bis zum Grund und verdrehte die Augen. „Es muß am Wetter liegen, daß ich so einen Durst habe." -74-
„Den hast du doch immer", sagte Randy. „Ha, ha..." „Hört mal, ihr beiden!" mischte sich Ela ein. „Ist euch eigentlich nichts aufgefallen?" „Was denn?" „Das fragst gerade du, Randy? Überleg doch mal. Wie war es den Kerlen eigentlich möglich, unsere Spur zu finden? Kannst du mir das sagen?" „Nein", erwiderte Randy erstaunt. „Aber sie hat recht", meinte Turbo. Randy mußte sich setzen und dachte über die Bemerkung nach. „Das würde mich wirklich mal interessieren", murmelte er vor sich hin. „Wie konnten die Typen wissen, wo wir entlangfahren würden?" „Zufall?" „Nein, Ela, daran glaube ich nicht. Das ist kein Zufall." „Was dann?" Randy hob die Schultern. Er schaute Turbo an, der nur grinste und dann meinte: „Frag mich nicht so etwas Schweres. Ich kann dir nicht helfen." Sein Blick veränderte sich. Er sah aus, als wäre ihm urplötzlich etwas eingefallen. „Es sei denn..." „Was ist?" fragte Ela. „Daß diese Kerle über uns Informationen bekommen hätten. Daß sie sich genauer erkundigt haben und deshalb keinen Fehler machen konnten. Wäre doch möglich - oder?" Ela und Randy stimmten ihm zu. Das Mädchen ließ seinen Pferdeschwanz durch die Finger gleiten. „Fragt sich nur, wer so etwas tut", sagte sie leise. „Ich bin es jedenfalls nicht gewesen."
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Randy nickte. „Kann ich mir vorstellen. Wenn ich bedenke, daß ich die Männer heute zum erstenmal gesehen habe und sie mich auch, dann haben sie in der kurzen Zeit schon verflixt viel über uns herausbekommen. Das grenzt an ein kleines Wunder." „Einspruch", sagte Turbo. „Kein Wunder. Die haben einen Informanten gehabt." „Wen?" rief Randy und sprang auf. „Willst du weg?" Keiner von ihnen hatte Alfred gehört, der zurückgekehrt war. Er stand noch im Hintergrund der Halle. Die Aufnahmen waren entwickelt, nur nicht ganz trocken. Er hatte die Bilder auf einen dünnen Filz gelegt. „Alles fertig?" rief Randy. Die Freunde rannten auf Alfred zu, der sie abwehrte. „Moment, Moment. Keine Hektik, keine Panik, Kameraden. Alles der Reihe nach." Keinem vom Schloß-Trio fiel auf, wie ernst Alfreds Gesicht geworden war. Alfred suchte nach einem Platz für die Fotos. Er fand ihn auf einem Tisch, wo er die Bilder ablegte. Zwei Fotos waren etwas geworden. Randy, der sie geschossen -76-
hatte, beugte sich vor, um sie genau zu erkennen. „Sind ein bißchen verschwommen", stellte er fest. „Man kann aber etwas erkennen", sagte Alfred und reichte dem Jungen eine Lupe. „Damit siehst du besser." Randy schaute durch das Glas, nickte leicht und gab leise seinen Kommentar ab. „Ja", sagte er, „das ist er. Das ist dieser Blonde aus dem Waschraum, der uns auch angehalten hat, zusammen mit dem Araber, der Ibrahim heißt." „Weißt du den Namen von dem Blonden, Randy?" „Ja und nein. Ich habe gehört, daß er Toni gerufen wurde." „Richtig - Toni!" Es dauerte einige Sekunden, bis Randy begriffen hatte. Dann aber richtete er sich auf und schaute Alfred an. „Moment mal, was hast du da gesagt? Du hast mir recht gegeben?" „Ja, das habe ich." Die drei verstanden, aber sie begriffen noch nicht so recht und schauten Alfred gespannt an. Der kam sich vor wie ein Schauspieler auf der Bühne, als er mit der Wahrheit herausrückte. „Also, Freunde, ich kenne den Mann. Zwar nicht persönlich, aber ich weiß, wer er ist." Bei den folgenden Worten hob Alfred seine Stimme an, sie wurde um zwei Nuancen schärfer. „Dieser Mensch heißt tatsächlich Toni mit Vornamen. Sein Nachname ist Raski. Und Toni Raski ist einer der gefährlichsten Rauschgiftdealer im europäischen Raum..."
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Es wird Ernst Zack, das hatte gesessen! Die Freunde schauten sich an, sie wußten nicht, was sie sagen sollten. Ela bekam eine Gänsehaut, Turbo trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, Randy starrte ins Leere, nur Alfred fügte noch ein etwas bitter klingendes Lachen hinterher. „Und du hast dich nicht geirrt?" „Nein, Turbo, nein. Ich kenne ihn leider zu gut. Ich war schon einmal hinter ihm her!" „Wann?" „Das ist länger her und spielt wohl auch keine Rolle. Jedenfalls ist er jetzt aus der Versenkung aufgetaucht. Er arbeitet nie allein, damit müssen wir auch rechnen. Hinter ihm stehen mächtige Männer, die vom Rauschgift und der Not sowie dem Elend der Menschen leben, die von diesem verfluchten Zeug abhängig sind." Randy schüttelte den Kopf. „Nein, Alfred, nein, das kann ich einfach nicht glauben." „Wieso nicht?" „Was hat denn ein Dealer in einer Ausstellung über altägyptische Kunst zu suchen?" „Das weiß ich auch nicht." „Vielleicht hat er den Job gewechselt", sagte Turbo. „Daß er jetzt Altertümer schmuggelt. Das soll ja auch..." „Nein, Turbo, auf keinen Fall", widersprach Alfred. „Toni Raski ist ein Dealer, Toni Raski wird immer ein Dealer bleiben. Davon müssen wir einfach ausgehen." „Und ich habe ihn gestört", flüsterte Randy. „So sieht es aus." „Wobei?" -78-
„Wie war das im Waschraum genau?" fragte Ela. „Erinnere dich daran, Randy!" Der Junge legte die Lupe zur Seite, dachte noch einmal kurz nach und begann mit seinem Bericht. Alfred hörte sehr aufmerksam zu. Zwischenfragen stellte er keine. Erst als Randy die Erzählung beendet hatte, erkundigte er sich, weshalb der Junge eigentlich nicht die Polizei alarmiert hatte. „Ich... ich wäre mir irgendwie lächerlich vorgekommen." „Das glaube ich kaum. Ich hoffe nur, daß das Kind noch nicht in den Brunnen gefallen ist." Randy senkte den Kopf. „Und wie geht es jetzt weiter?" fragte er leise. „Das müssen wir sehen. Zunächst einmal mußt du davon ausgehen, daß Toni Raski Bescheid weiß." „Worüber?" fragte Ela. „Nun, daß er entdeckt worden ist. Daß Randy sicherlich der Polizei von seiner Entdeckung Bescheid geben wird. Das alles wird er wissen und dementsprechend handeln. Dieser Mann ist gefährlich. Er hält sich nicht zum Spaß in Düsseldorf auf. Der hat bestimmt ein gewaltiges Geschäft vor. Und er ist nicht allein." „Der Araber Ibrahim ist bei ihm." „Kann das ein Ägypter sein, Randy?" „Möglich." „Und aus Ägypten ist auch die Ausstellung gekommen", fügte Turbo noch hinzu. „Dann müßte es eine Verbindung zwischen dem Rauschgift, der Ausstellung und dem Land Ägypten geben", folgerte Alfred. „Wie willst du die herstellen?" „Indem ich telefoniere, ganz einfach." -79-
„Wen rufst du an?" Alfred lachte leise. „Weißt du, Randy, gewisse Dinge möchte ich für mich behalten." Er drehte sich um und ging. „Ich bin gleich wieder zurück. Es dauert nicht lange." Er ließ drei staunende Freunde in der Halle zurück. Sie starrten ins Feuer, ohne die Flammen eigentlich zu sehen. „Vor kurzem waren es Spione, jetzt ist es ein Rauschgifthändler", flüsterte Ela. „Es wird immer schlimmer und dicker. Wo soll das noch alles enden?" „Keine Ahnung", erwiderte Randy. „Damit habe ich auch nicht gerechnet, tut mir leid." „Ich muß sowieso gehen." „Soll ich dich nach Hause bringen, Ela?" „Nein, laß mal, den Weg finde ich." „Glaubst du nicht, daß die Kerle uns beobachten?" „Wissen die denn, wo du wohnst?" „Wenn sie den Namen wissen, ist alles andere kein Kunststück. Allmählich bekomme ich Fracksausen. Ausgerechnet Dealer. Das sind die widerlichsten Typen, die es gibt. Die reißen andere ins Unglück. Wir haben mal in der Schule eine Ausstellung gesehen, wo man Aufnahmen von Rauschgiftsüchtigen aus einer Klinik zeigte. Das... das war einfach furchtbar." Randy schluckte. „Und so Hundesöhne wie dieser Raski, die verdienen am Elend der Menschen viel Geld." „Die Hintermänner sogar Millionen", fügte Turbo hinzu. „Wer könnte dahinterstecken?" fragte Ela. „Der Ägypter?" Sie nickte Randy zu. „Unschuldig ist der Mann mit der Narbe bestimmt nicht." Turbo schüttelte den Kopf. „Und ich dachte, die schmuggeln nur Altertümer." -80-
„So kann man sich irren." Alfred kehrte zurück. Sein Gesicht hatte einen harten und gleichzeitig sehr nachdenklichen Ausdruck angenommen. Er wischte über seine Stirn. Dabei schüttelte er den Kopf. „Du siehst aus, als könntest du Trost gebrauchen", sagte Ela. Alfred nickte. „So ähnlich fühle ich mich auch, Mädchen. Ich habe telefoniert und leider keinen Erfolg gehabt." „Konnte man dir nicht helfen?" „Nein. Mein Informant, der sonst über alles Bescheid weiß, was so in der Szene läuft, war hier überfragt." „Kennt er sich denn in der Unterwelt aus?" „Das kann man sagen. Natürlich horchte er auf, als ich den Namen Raski erwähnte. Es werden auch Gegenmaßnahmen getroffen, das kann ich euch versprechen, ob sie Erfolg haben werden, steht in den Sternen. Vielleicht ist schon alles zu spät." „Wäre es nicht besser, Alfred, wenn du dir die Ausstellung einmal ansiehst?" schlug Randy vor. „Mit dem Gedanken habe ich auch gespielt und werde ihn wohl in die Tat umsetzen." „Wann?" „Bestimmt noch heute." „Können wir mit?" „Nein!" Alfred schüttelte entschieden den Kopf. „Auf keinen Fall. Das ist viel zu gefährlich." „Schade", sagte Turbo. „Hört auf und seid froh, wenn euch Raski nicht noch einmal in die Quere kommt. Der ist verdammt gefährlich." „Einen festen Wohnsitz hat der nicht zufällig?" fragte Randy. „Diese Leute besitzen so etwas nicht." „Dann kann es sein, daß er in Düsseldorf in einem Hotel abgestiegen ist. Soll die Polizei nicht überprüfen, ob..." -81-
„Sollte das tatsächlich der Fall gewesen sein, Randy, so wird Raski schon jetzt sein Zimmer aufgegeben haben, weil er von dir gestört und auch erkannt worden ist." „Das sehe ich ein." „Eben, und deshalb müssen wir ihm auf eine andere Art und Weise auf die Spur kommen." „Wie denn?" fragte Ela. „Auf frischer Tat ertappen." Randy lachte. „Dazu mußt du erst einmal wissen, wo er sich aufhält. Und auch dieser Ägypter." „Jedenfalls fahre ich nach Düsseldorf", erklärte Alfred. „Kannst du mich bei uns vorbeibringen?" fragte Ela. „Ja, gern." „Danke." „Dann beeile dich aber." Ela verabschiedete sich von ihren Freunden. „Ruft an, wenn sich etwas tut", flüsterte sie. Alfred hatte schon seine Jacke geholt. Er streifte sie schnell über. Aber nicht schnell genug, die beiden Jungen sahen trotzdem den Kolben der Waffe aus der Schulterhalfter ragen. „Mann", sagte Turbo, „das kann hart werden. Ob Alfred das schafft?" Randy hob die Schultern. „Ich weiß es nicht. Zum Glück läßt er sich nichts vormachen." „Und was erzählst du deinen Eltern, wenn sie zurückkommen?" Randy ließ sich in einen Sessel fallen. „Die Wahrheit, Turbo, nichts als die reine Wahrheit. Schließlich weiß ich inzwischen, was mit meinem Vater los ist und daß er auch nicht gerade zu denjenigen gehört, die nur im Labor sitzen und forschen." „Dealer hat er wohl noch nicht gejagt, oder?" -82-
„Ich glaube nicht..."
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Das weiße Gift Ibrahim, der Ägypter, ballte seine Hände zu Fäusten. Er hockte auf dem Beifahrersitz, sein Gesicht war verzerrt, die Augen hielt er geschlossen, die Narbe leuchtete noch roter, und die straffe Haut auf den Wangen zuckte, als würde sie von leichten Stromstößen berührt. „Ich habe es nicht geschafft!" keuchte er. „Ich habe es nicht geschafft. Dieser Junge ist mir entwischt." „Dein Pech", sagte Raski, der sich hin und wieder auch Schmitz nannte. „Aber dir ist es auch nicht besser ergangen!" erklärte Ibrahim und lachte satt. „Ich weiß!" „Was machen wir? Lassen wir den Plan fallen?" „Die Millionen weg? Nein, wir holen uns das Zeug." „Wann?" „In der kommenden Nacht!" Ibrahim nickte. „Ja, du hast recht. Wir müssen handeln. Der Türke wird nichts sagen. Er hat Angst gehabt. Dabei hätten wir heute alles vorbereiten können. Ich wäre als Waschraumwärter gegangen, hätte mich einschließen lassen..." „Jetzt werden wir eben so in das Museum eindringen." „Wenn es geschlossen ist?" „Vorher." „Wir lassen uns also einschließen?" fragte der Ägypter. „So ist es." „Man wird uns erwischen." „Wenn schon. Hat uns das je gestört?" Der Araber lachte. „Bestimmt nicht. Das hat uns nie gestört. -84-
Mich ärgern nur die Jungen. Sie kennen unsere Gesichter. Sollten wir uns um sie kümmern?" „Später ja." Ibrahim drehte sich zu Raski um. „Was meinst du? Werden sie die Bullen alarmieren?" „Bestimmt." „Dann..." „Hör auf, wir müssen eben schneller sein. Es geht um den Stoff. Meine Auftraggeber warten. Ich bin nur Zwischenhändler. Da hängen Millionen und Abermillionen dran. Verstehst du das? Jedes Risiko müssen wir eingehen, jedes." „Schon gut, schon gut." Das Gespräch hatte auf der Fahrt nach Düsseldorf stattgefunden. Mittlerweile befanden sie sich in Ibrahims Wohnung. Der Ägypter hatte die Zwei-Zimmer-Bude in einem Apartmenthaus angemietet, wo er selbst als Ausländer anonym blieb. Vorbereitet hatten die beiden den Coup schon seit langem. Sie brauchten nicht einmal mehr über Einzelheiten zu reden. Jeder wußte genau, was er zu tun hatte. Raski führte noch ein Telefongespräch. Er wählte die Nummer so, daß Ibrahim sie nicht mitbekam. Der Teilnehmer meldete sich nicht mit seinem Namen. Er gehörte zu den großen Bossen, die nur im Hintergrund agierten. Auch Raski kannte ihn nicht, nur das Codewort. „Wir ziehen die Aktion vor!" sagte er. „Wann?" „Heute!" „Sie müssen es wissen. Und was ist der Grund?" „Es gab einige Ungereimtheiten..." „Also Schwierigkeiten?" -85-
Der große Unbekannte hatte die Stimme verschärft. Toni Raski bekam einen leichten Schweißausbruch. „Nein, nicht -86-
direkt. Ich garantiere dafür, daß alles glatt über die Bühne läuft." „Das will ich Ihnen auch geraten haben! Wann kann ich eine Erfolgsmeldung hören?" „Spätestens morgen früh." Damit war für den großen Boß das Gespräch beendet. Ibrahim drehte sich zu seinem Kumpan um. „Was hat er gesagt?" „Er nahm es hin." Der Araber verzog seine Lippen. „Wir werden Erfolg haben müssen, das weißt du." „Natürlich, komm jetzt!" Raski war ärgerlich. Auf den Innenflächen der Hände spürte er Schweiß. Kein gutes Zeichen. Es zeugte von Nervosität. Sie nahmen gewisse Hilfsmittel mit, die sie unbedingt brauchten. Dann verließen sie die Wohnung. Zum Haus gehörte auch eine große Tiefgarage, wo der Senator parkte. Wieder fuhr Raski. Als sie starteten, warf er einen Blick auf die Uhr. „Die schließen in einer Stunde." „Schaffen wir es?" „Genau zur rechten Zeit, mein Freund." In Ägypten hatte Ibrahim die Operation geleitet, hier in Deutschland hatte Raski das Sagen. Der Araber verließ sich voll und ganz auf ihn. Er dachte darüber nach, wie er den Deutschen kennengelernt hatte. Vor gut zwei Jahren war es gewesen, in einem Hotel in Kairo. An der Bar waren die Männer ins Gespräch gekommen, hatten über Geld geredet und auch darüber, daß beide eigentlich zu wenig davon hatten. Ibrahim beschäftigte sich mit Altertümern, war einem Nebengeschäft nie ganz abgeneigt und hatte in Raski den richtigen Partner gefunden. Das Vertrauen war ziemlich rasch hergestellt worden. Irgendwann war der Deutsche dann mit seinem Vorschlag herausgerückt, Heroin so in die Bundesrepublik Deutschland zu -87-
schmuggeln, daß sie praktisch hundertprozentig sicher sein konnten, nicht erwischt zu werden. Ibrahim hatte die Idee gehabt, Raski führte aus, und er besaß auch die Verbindungen. Über diese Verbindung zu dem Boß dachte er nach. Bisher hatte er ihn so gut wie nicht zu Gesicht bekommen. Er kannte wohl die Rufnummer, aber er nahm sich vor, nach dem geglückten Coup mit diesem Mann direkten Kontakt aufzunehmen. Bei einer so großen Summe sagte auch er gewiß nicht mehr nein. Es dämmerte. Blätter fielen. Sie blieben auf der Straße kleben, als wäre die Fahrbahn mit Leim angestrichen worden. Laub häufte sich auch auf den Gehwegen. Niemand kümmerte sich darum. Der Wind würde es irgendwann weiterschieben. Die Autos fuhren mit Licht. Eine nie abreißende Schlange aus bleichen Glotzaugen schob sich durch die City. Dazwischen leuchtete bunt das Licht der Ampeln, die zum Stop-and-goVerkehr zwangen. Ibrahim wurde unruhig. Er trommelte mit den Fingern gegen die Seitenscheibe. „Das werden wir nicht mehr schaffen. Die schließen um 18.00 Uhr." „Ich weiß." „Wie willst du in die Ausstellung hineinkommen?" Der Blonde grinste kalt und schob die Brille höher. „Das laß mal meine Sorge sein." „Gewalt ist in diesem Fall..." Raski startete heftig. Ibrahim fiel in den Gurt. „Ich will nichts mehr hören. Wir ziehen die Sache so durch, wie wir sie geplant haben. Hast du begriffen?" „Natürlich." „Dann gib Ruhe." -88-
Auch Raski ärgerte sich über den Verkehr und darüber, daß er sich verschätzt hatte. Aber was sollte er tun? Darüber verzweifeln? Einfach dasitzen und alles fallenlassen? Nein, sie hatten zuviel Energie hineingesteckt, sie mußten es durchziehen, sie würden es durchziehen. Die Luft drückte. Sie schob die Wolken noch tiefer. An manchen Stellen schienen sie die Dächer der Hochhäuser zu berühren. Zudem begann es auch noch zu nieseln. Da rollte der Wagen schon auf den zum Gelände gehörenden Parkplatz. Er war glücklicherweise nicht abgesperrt. Raski lenkte ihn bis in den Schatten einer Außenmauer, wo er nicht so leicht entdeckt werden konnte. Ibrahim huschte als erster nach draußen. Er nahm auch den dünnen Plastiksack mit, der sich zusammenfalten ließ. Das Werkzeug trug der Deutsche. „Wir sind um zehn Minuten zu spät", stellte Ibrahim mit einem Blick auf die Uhr fest. „Ich weiß." Raski grinste. „Aber schau hoch. Da brennt noch Licht. Es ist jemand im Haus." „Wird man öffnen?" „Man wird, verlaß dich darauf. Um diese Zeit immer. Wir machen es ganz offiziell, und du hältst dich zurück. Niemand soll vor deinem Gesicht erschrecken." Raski lachte. „Verfluchter..." „Keine Beleidigungen bitte." Toni Raski lief jetzt schneller. Sie verließen den Hof und gingen wie zwei normale Besucher auf den Eingang zu, über dem eine große Kugellampe brannte. Die Steintreppen waren sehr breit. Auf ihnen spiegelte sich das Licht. Raski klingelte. Er hörte das Schellen auch innen und brauchte nicht einmal lange zu warten, bis ein Guckloch in der Tür entstand. Von -89-
innen war die viereckige Luke geöffnet worden. In diesem Ausschnitt erschien ein mißtrauisches Gesicht. „Guten Abend, wir möchten..." Das Männergesicht geriet in Bewegung. „Tut mir leid, wir haben bereits geschlossen." „Das wissen wir." „Dann kommen Sie morgen wieder." „Ich brauche aber meine Aktentasche, die habe ich nämlich vergessen." Raski blieb freundlich. Der Nachtwächter begriff nicht so recht. „Hier?" „Ja." „Wo? Ich werde sie..." „Nein, Sie brauchen die Tasche nicht zu holen. Wenn Sie mich hineinlassen..." „Verboten!" „Auch jetzt?" fragte Raski, als er einen Schein sehen ließ. Es war ein Zehner. Der Nachtwächter, ein Mann, der seine karge Rente etwas aufbesserte, zuckte mit den Schultern. „Nun ja, es ist so. Wenn Sie unbedingt darauf bestehen, kann ich ja mal eine Ausnahme machen." „Bitte, seien Sie so gut." Der Schein verschwand aus Raskis Hand, die Klappe fiel wieder zu, dafür drehte sich von innen ein Schlüssel. Raski zwinkerte Ibrahim kurz zu. Der Araber hatte bisher im toten Blickwinkel gestanden, jetzt kam er vor, blieb aber außer Sichtweite. Der Nachtwächter war vorsichtig. Er zog die Tür nicht weiter auf als unbedingt nötig. Das reichte Raski. „Danke", sagte er, schob sich durch den Spalt, blieb nicht eine Sekunde lang in der Halle ruhig stehen, -90-
sondern drehte sich um. Er hielt etwas in der Hand, das schmal und lang aussah und plötzlich zischte. Trichterförmig sprühte dem Nachtwächter eine Wolke entgegen. Weißlich, widerlich riechend. Sie traf das Gesicht des Mannes voll, der noch schreien wollte, in der Bewegung erstarrte und dann langsam zur Seite kippte. Raski fing ihn auf. Das hatte Ibrahim ebenfalls mitbekommen. Er stand schon in der Halle. „Alles klar", meldete der Deutsche flüsternd. Er zerrte den Nachtwächter hinter eine Säule, wo er ihn so hinlegte, daß er so leicht nicht entdeckt werden konnte. Der Araber folgte ihm auf leisen Schritten und schaute sich dabei suchend im Licht der Notbeleuchtung um, die mehr Schatten zuließ, als sie Helligkeit abgab. „War doch gut, nicht?" „Wo ist der zweite?" „Den suchen wir noch. Aber jetzt haben wir Zeit, mein Freund, und können in aller Ruhe den Stoff holen. Und die Schlüssel des Knaben habe ich auch." Raski hielt sie hoch.
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Beide Männer trugen Schuhe mit weichen Sohlen, so daß ihre Schritte kaum zu hören waren. Wenn sie gingen, war es mehr ein Gleiten. Ein Lauscher hätte schon besondere Ohren haben müssen, um sie wahrzunehmen. Sie kannten sich aus. An der Treppe zu den Waschräumen blieb der Araber stehen und schaute die Stufen hinab, die matt im Licht der Notbeleuchtung glänzten. Es war nichts Verdächtiges zu sehen. Sie hörten den zweiten Nachtwächter auch nicht. Möglicherweise hielt er sich in den Ausstellungsräumen auf. Die waren noch nicht verschlossen worden, wie Raski mit einem Druck gegen eine Türhälfte feststellte. Er gelangte in den ersten Raum, witterte wie ein Raubtier auf Beutesuche und suchte sofort den Schatten, aus dessen sicherer Deckung er beobachten konnte. Den zweiten sah er, bevor dieser ihn hatte entdecken können. Der Nachtwächter schöpfte überhaupt keinen Verdacht. Er ging mit normalen Schritten durch die Halle, pfiff sogar noch ein Liedchen und war frohen Mutes. Er kam nicht direkt auf die Tür zu. Wenn er jedoch so weiterging, mußte er Raski passieren. Darauf wartete der Dealer. Er hielt nicht nur die Sprayflasche mit dem Gas bereit. Aus der Schultertasche hatte er auch eine Stableuchte hervorgeholt. Wie eine Waffe hielt er sie umklammert. Noch war das Auge der Lampe blaß, explodierte dann wie ein heller Stern und schickte seinen Lichtarm in die Dunkelheit, um haargenau das Ziel zu treffen. Im Kegel tauchte wie auf einer Kinoleinwand ein erschrecktes Männergesicht auf. Es wirkte grau und gleichzeitig grell. Der Nachtwächter kam nicht einmal mehr dazu, mit den Augen zu zwinkern, geschweige denn, Raski zu sehen, da war dieser schon vor ihm. -92-
Das leise Zischen nahm der ältere Mann mit hinüber in die Bewußtlosigkeit. Auch er fiel wie eine Schaufensterpuppe, die ein Dekorateur unachtsam angestoßen hatte. Diesmal war der Araber schneller. Er fing den Mann ab und schleifte ihn ebenfalls hinter eine Säule. „Gut!" Raski lobte sich selbst. „Waren das alle?" „Das weißt du doch." Toni winkte knapp. „Wir sehen uns mal die Mumie an." „Die Alarmanlage wird eingeschaltet sein..." „Das geschieht erst später." Raski war sauer. „Hast du alles vergessen?" fuhr er seinen Kumpan an. „Ja, entschuldige, aber..." „Behalte jetzt nur die Nerven. Der Rest wird ein Kinderspiel sein, glaub mir das." „Wie du meinst." Als Besucher waren die beiden nicht gekommen. Was noch in den Räumen ausgestellt wurde, interessierte sie nicht. Für sie galt es, die Mumie zu bekommen. Im letzten Ausstellungssaal brannte nur mehr eine einzige Lampe. Zwar nicht genau in der Mitte, aber ihr Lichtschein streifte noch den Sarkophag. „Da ist sie!" flüsterte Ibrahim. „Ja, und wir sind allein." Toni Raski schritt einmal um den Gegenstand herum. Er verließ sich darauf, daß die Anlage noch nicht eingeschaltet worden war, und winkte seinen Kumpan herbei. Von zwei verschiedenen Seiten packten sie die Haube an, nachdem sie die Metallsperren gelöst hatten. Jetzt ließ sie sich abheben und zur Seite stellen. -93-
Sie war ziemlich schwer, die Dealer kamen etwas außer Atem, aber das störte sie so dicht vor dem Erfolg nicht mehr. Die Fenster lagen glücklicherweise hoch genug. Von außen würde kaum jemand die Lichtlanzen ihrer Lampen sehen können. So bewegten sie sich völlig ungezwungen und schreckten nur einmal zusammen, als das Telefon anschlug. Es geschah im Nebenraum. In der Stille war dieses Geräusch doppelt so laut zu hören. Nach dem achten Durchklingeln verstummte der Apparat. „Alles klar", sagte der Deutsche, „weitermachen." Ibrahim starrte auf die Mumie unter dem Glasschutz. Sie wirkte in dieser dämmrigen Atmosphäre ungewöhnlich gruselig, noch schauriger als bei normalem Licht. „Pack mit an!" „Sie wird zerstört werden!" sagte der Araber. „Na und?" „Schließlich ist sie etwas Besonderes." „Ja, schon gut." Raski arbeitete schnell und gezielt. Die Mumie lag in diesem luftdicht verschlossenen Kasten, der aussah wie ein kleiner Sarg aus Glas. Er stand auf dem Boden des Sarkophags. An ihn waren auch die Verbindungskabel zur Alarmanlage angeschlossen, die tatsächlich nicht reagierte, als Raski den Kasten berührte. Er hatte zwar damit gerechnet, trotzdem fiel ihm ein Stein vom Herzen, daß es so glatt verlaufen war. Nach einem tiefen Durchatmen hob er den Kasten ab. Er trug ihn vorsichtig wie eine kostbare Vase, bis er ihn neben dem Sarkophag abstellte. Dann kümmerte er sich um das Wichtigste. Auch Ibrahim beugte sich über den Sarkophag. In Ägypten hatten die beiden vorgesorgt, hier wollten sie die Früchte ihrer Arbeit ernten. Das Versteck war todsicher, dennoch erfaßte beide eine gewisse Spannung, als sie das Summen des Motors -94-
hörten, der die Klappe in Bewegung setzte und damit das Versteck langsam preisgab. Es dauerte nur Sekunden, bis sie in das Loch im dicken Boden des Sarkophags hineinschauen konnten. Da lagen sie. Die prallen, vollen Beutel. Das weiße, gefährliche Pulver sah so harmlos aus wie Traubenzucker, und dabei konnte es schreckliches Elend über die Welt bringen. Es knisterte, als Ibrahim die dünne Plastiktüte auseinanderfaltete. Seine Hände zitterten dabei. Raski lachte leise vor sich hin. Er griff mit beiden Händen zu und holte Beutel für Beutel hervor. „Die Mumie aus Kairo!" flüsterte er dabei. „Wie wunderbar. Was birgt sie nur für Überraschungen. Es ist einfach einmalig." Er wühlte weiter und ließ die Tüten in den Sack fallen. Raski erhob sich. „Eine perfekte Imitation, alles ist perfekt bei uns, mein Freund." Er nickte Ibrahim zu. „In Ägypten waren wir noch per Sie. Jetzt sind wir gute Partner und Duzfreunde." „Freunde betrügen sich nicht." Toni winkte ab. „Keine Sorge, mein Lieber. Wir bekommen beide von dem Kuchen ab." „Und der Boß?" „Den werden wir heute abend kennenlernen. Ich setze ihm einfach die Pistole auf die Brust. Er wird mit uns neu verhandeln müssen." Raski lachte kalt. „Das glaube ich auch. Was ist, wenn er nicht will?" Der deutsche Dealer richtete sich wieder auf. „Dann bekommt er den Stoff nicht." „Das traust du dir zu?" „Sogar noch mehr." Raski nickte und schaute zu, wie Ibrahim die Plastiktüte verschloß. -95-
„Können wir?" „Sicher." Der Araber atmete schnaufend. „Ich würde zu gern die Augen der Besucher sehen, wenn sie merken, was..." „Moment." Toni hatte eine Idee. „Wir haben ja noch Zeit. Faß mit an." „Was hast du vor?" „Wirst du gleich sehen." Sie hatten die Öffnung wieder verschlossen. Jetzt stellten sie die Mumie zurück in den Sarkophag und waren beide hoch zufrieden. „Schließlich wollen wir den zahlenden Besuchern nichts vorenthalten", erklärte der Deutsche. „Du bist mir einer." „War ich immer." Raski klopfte sich im Geiste selbst auf die Schulter. Hier fühlte er sich wohl und sicher, im Gegensatz zu Ägypten, in diesem für ihn fremden Land. „Wann werden die Wächter wieder aufwachen?" Raski winkte ab. „Das dauert. Vor Mitternacht bestimmt nicht. Danach wird ihnen noch einige Zeit sehr übel sein, das kann ich dir versichern. So, und wir verschwinden jetzt." Mit ruhigen, nahezu gemessenen Schritten durchquerten sie die beiden Ausstellungsräume, erreichten die Halle und hatten es nicht weit bis zur Tür. „Bleib du zurück!" hauchte Raski. Ibrahim, der das Rauschgift trug, suchte Deckung. Der Deutsche war sehr vorsichtig. Behutsam öffnete er die Tür, peilte nach draußen und sah die Treppe leer. Es hatte zu regnen angefangen. Aus den grauen Wolken nieselte es unaufhörlich. Von der Straße her hörte Raski die Geräusche der vorbeifahrenden Wagen, wenn die Reifen über die feuchte Oberfläche schmatzten. -96-
„Weiter!" Er wartete nicht auf seinen Partner, sondern schob sich durch die Lücke auf die Treppe. Ibrahim folgte ihm. Die Männer beeilten sich, den Lichtschein der Außenleuchte so schnell wie möglich zu verlassen. Es war auch niemand da, der auf sie geachtet hätte. Ungesehen, so rechneten sie zumindest, gelangten sie in den Hof und blieben erst stehen, als sie den Opel Senator erreichten. Raski konnte nicht mehr. Er mußte einfach lachen und schlug dabei zweimal mit der flachen Hand auf das Autodach. „Das gibt es doch nicht", sagte er. „Das ist alles einfach nicht wahr. Ich habe es geschafft, ich habe es tatsächlich geschafft." „Wir haben es geschafft!" „Ja, okay, wir. Aber ich bin so lange im Geschäft. Nie war es so leicht gewesen, zwei Kilo Stoff einzuschmuggeln." Er schlug gegen seine Stirn. „Man braucht nur Ideen, Ibrahim, und einen guten Partner natürlich." „Schließ schon auf." „Nicht in den Kofferraum!" Raski deutete auf die Tüte. „Die gibst du nicht aus der Hand." „Das ist klar." Sie standen noch beisammen. Raski wollte sich bücken, um die Tür zu öffnen, als alles anders kam, als die beiden Männer es erhofft hatten. Sie hörten den Schritt hinter sich, kreiselten herum und sahen die hochgewachsene Gestalt eines dunkelhaarigen Mannes vor sich. Es war ein Fremder, aber er hatte auf sie gewartet. „Guten Abend, Toni Raski!" Der Dealer wußte nicht, was er sagen sollte. Er stand unbeweglich, lauschte der Stimme nach und dachte daran, daß dieser Mann ihn offensichtlich kannte, er jedoch nicht wußte, wo er ihn hinstecken sollte. -97-
Zudem stand der Fremde im Dunkeln. Es war nur wenig von ihm zu erkennen, die Waffe in seiner Rechten sahen Ibrahim und Raski, und das machte den anderen so gefährlich. Schnaufend atmete Raski aus. „Sie... Sie kennen mich?" fragte er leise und lauernd. „Sicher." „Woher?" „Wir hatten schon einmal miteinander zu tun, Es ist ungefähr zwei Jahre her. Da versuchte ich, Sie zu überführen. Sie verschwanden plötzlich. Zum Glück ohne das Heroin, das konnte sichergestellt werden. Haben Sie jetzt das Gebiet gewechselt, Raski?" „Ich verstehe nicht." „Sehr gut sogar. Und ich bin froh, im richtigen Moment gekommen zu sein." „Ich weiß noch immer nicht, wer..." „Alfred!" Raskis Augen hinter den Gläsern der Brille nahmen einen wissenden Ausdruck an. „Ach!" keuchte er. „Alfred, der Typ, der kein Bulle ist, aber so etwas Ähnliches war." „Genau. Ich jagte damals Dealer auf höhere Weisung hin. Und Sie, Raski, standen bei mir ganz oben auf der Liste." Der Dealer nickte. „Geschafft haben Sie es nicht." „Dafür jetzt." Alfred schob sich etwas näher. „Wissen Sie, Raski, ich kann einfach nicht glauben, daß Sie das Metier gewechselt haben. Oder sollte ich mich täuschen?" „Ich weiß überhaupt nicht, was Sie wollen. Mein Freund und ich haben hier geparkt..." „Ja, der graue Senator. Sie sollten öfter mal das Fahrzeug wechseln, Raski." „Was hat das damit zu tun?" -98-
„Man erkennt Sie eben. Und ich mag es auch nicht, wenn man Jugendliche bedroht."
„Welche Jugendlichen?" „Tun Sie nicht so. Sie wissen doch haargenau, wovon ich rede. Ich kann auch überhaupt verstehen, daß Sie sich nicht gern fotografieren lassen wollen, von Ihnen gibt es keine neueren Aufnahmen, das alles ist mir bekannt. Sie sehen, ich weiß Bescheid..." „Das merke ich auch." „Und wer ist Ihr neuer Kumpan?" „Ein Freund aus Ägypten. Er hat mir das Museum gezeigt, mehr nicht. Und jetzt lassen Sie mich in Ruhe, Meier. So heißen Sie doch, wenn ich mich recht erinnere." -99-
„Das stimmt." „Sie haben mir damals schon nichts beweisen können und werden es heute auch nicht..." „Aber Toni, nicht diese Worte. Ich möchte gern sehen, was Ihr Freund in dem Sack transportiert." „Bestimmt keine Mumie!" „Das kann ich mir vorstellen. Was ist es dann?" „Es gehört meinem Partner." Alfred wurde sauer. „Ich lasse mich von Ihnen nicht auf den Arm nehmen, Raski. Sagen Sie Ihrem Freund, daß er das Zeug auspackt!" „Nein!" Alfred hob die Waffe etwas an. „Hier spielt die Musik, denken Sie daran. Ich habe gesehen, wie und auf welche Weise Sie das Gebäude verlassen haben. Sie beide kamen mir vor wie Einbrecher. Daß Ihr Kumpan einen Sack über den Rücken geschwungen hat, läßt darauf schließen..." „Sie reden Mist! Ibrahim Nassai gehört zu den Leuten, die es geschafft haben, die wertvollen Gegenstände von Kairo nach Düsseldorf zu schaffen. Er ist ein ehrenwerter Geschäftsmann und bei den Botschaften der Länder hoch angesehen. Da besitzen Sie tatsächlich die Frechheit, ihn eines Verbrechens zu verdächtigen. Außerdem steht Herr Nassai unter diplomatischem Schutz." „Alles klar. Aber ich will sehen, was er da mitschleppt!" Zum erstenmal meldete sich Nassai zu Wort. „Was wollen Sie von mir?" fragte er in seinem gebrochenen Deutsch. „Sie haben gehört, daß ich unter diplomatischem Schutz stehe..." „Und Jugendliche mit dem Messer bedrohten!" schnitt ihm -100-
Alfred das Wort ab. „Erzählen Sie mir keine Märchen, Meister. Meinetwegen können Sie die Mumie eigenhändig von Kairo nach Düsseldorf getragen haben, das ist mir egal. Ich habe Zeugenaussagen, die ganz eindeutig beweisen, daß Sie einfach Dreck am Stecken haben müssen. Wenn Sie nicht in den folgenden drei Sekunden mit Ihrer Arbeit beginnen, drücke ich ab." „Sie wollen uns erschießen, Meier?" lachte Raski. „Das wird nicht nötig sein. Ich treffe sehr gut. Ich kann auch den Sack durchschießen." Da hatte Alfred einen wunden Punkt getroffen. Beide Männer schraken zusammen. „Nun?" „Es ist gut", sagte der Ägypter, „ich beuge mich der Gewalt. Ich werde Ihnen zeigen, daß Sie sich geirrt haben. Ich habe nichts aus meiner Heimat gestohlen." „Das wird sich herausstellen." Ibrahim bückte sich. Er ließ den Sack von seiner Schulter rutschen und stellte ihn auf den Boden. Es war einer der kleineren Müllbeutel, immer noch groß genug, um einiges fassen zu können. Langsam und sehr zögernd tauchte der Ägypter seinen Arm in den Sack, zögerte, als die Finger den ersten Beutel umklammerten und schielte schließlich auf Raski, der allmählich schwitzte. „Na komm schon!" Zwei Sekunden später wußte Alfred Bescheid. Er stellte keine Fragen nach dem Inhalt. Die Farbe sagte ihm mehr als genug.
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Weißes, zusammengepreßtes Pulver, das bestimmt kein Traubenzucker war. „Rauschgift", flüsterte er. „Ich habe es mir fast gedacht, Raski. Noch immer in der gleichen Branche, wie? Ein Mann wie Sie wechselt auch nicht. Das ist mir klar." Raski schwieg. „Habt ihr das aus Ägypten mitgebracht?" fragte Alfred. -102-
„Ich..." „Halte den Mund, Ibrahim!" sagte Raski. „Halte nur deinen Mund. Mehr brauchst du nicht zu tun." „Er wird den Sack leeren!" erklärte Alfred. „Und zwar hübsch vorsichtig. Alles, was er..." „Er wird gar nichts tun, was Sie sagen! Sie werden jetzt tun, was ich will!" Alfred erstarrte. An seinem Hinterkopf spürte er einen harten Druck. Der wurde bestimmt nicht von einem Zeigefinger ausgelöst, es war die Mündung einer Waffe... Raski lachte plötzlich. Es war ein hohes, schrilles, kicherndes Lachen. Fast schon widerlich. Und es schallte über das Dach des Senator hinweg. Ibrahim hatte nicht so schnell geschaltet. Er wollte den zweiten Beutel aus dem Sack holen, da erklang die Stimme erneut. „Laß ihn drin, verdammt!" Der Ägypter gehorchte. „Weg mit der Waffe!" sprach der dritte Mann Alfred an. „Lassen Sie das Ding fallen, und zwar sofort." „Okay!" Als die Pistole auf dem Boden aufschlug, mußte Alfred sie noch wegkicken. Sie blieb unter dem Opel liegen. „Das ist gut, mein Freund. Jetzt geht es umgekehrt weiter." Der Unbekannte sprach nur mit Raski. „Ich habe mir doch gedacht, daß etwas schieflaufen würde..." „Ja, Boß, schon, aber wer konnte wissen..." „Keine Reden mehr. Sie und Ihr Freund bleiben so stehen. Den Rest hier erledige ich." Mit dem Rest war Alfred gemeint. Der hätte gern reagiert, doch der Unbekannte hinter ihm war zu schnell. Einmal schlug er zu. -103-
Alfred stöhnte auf. Etwas schien seinen Nacken zerreißen zu wollen. Vor seinen Augen bewegte sich der Hof, er wurde zu einem dunklen Meer mit vielen Wellen, in das Alfred hineintauchte. Er fiel nach links. Zu seinem Glück, denn so wurde der Fall von der Karosserie des Wagens gebremst. Am hinteren Holm und über den Kofferraum hinweg rutschte er dann zu Boden. Der Boß blieb weiterhin im Hintergrund. „Ihr packt ein und werdet mir folgen. Ich fahre einen BMW. Er steht um die Ecke." „Ja, Chef", keuchte Raski. Er war völlig aus dem Häuschen. „Vielen Dank auch. Und wohin geht die Fahrt?" „Das werdet ihr noch sehen." Raski bekam einen gelinden Schock. „Sie wollen uns doch nicht abservieren?" „Nein, aber ich nehme den Stoff." „Trauen Sie uns nicht?" „So ist es!" „Wir würden Sie nie betrügen, ehrlich!" „Her mit dem Zeug. Es bleibt dabei. Sie fahren hinter mir her. Wir haben bei mir noch etwas zu bereden. Alles andere überlassen Sie mir. Das hat Sie nicht zu interessieren." „Geht in Ordnung, Chef!" Ibrahim packte die Tüte wieder ein. Noch wollte der Boß sein Gesicht nicht zeigen. Er ließ die beiden Männer in den Wagen steigen. Erst als die Türen geschlossen waren, kam er näher und nahm die Tüte an sich. Bevor er ging, schob er Alfred noch zur Seite, damit der Bewußtlose nicht von den Reifen des Opel überrollt wurde. Dann ging er. Ein Mann mit Hut und Mantel. So sahen Tausende anderer ebenfalls aus. -104-
Im Wagen wischte Raski den Schweiß aus seinem Gesicht. „Ich kann es noch immer nicht begreifen, welch ein Glück wir gehabt haben!" keuchte er. „Das war schon Schwein." „Meinst du?" „Und wie." „Mal sehen..."
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Eine ungewöhnliche Einladung „Du ziehst ein Gesicht, als hätte man dir konzentrierte Zitrone zu trinken gegeben!" stellte Turbo fest, als er Randy ansah. „Dabei hast du nur Saft getrunken." „Ich bin sauer." „Weshalb?" „Frag doch nicht so doof. Wegen Alfred natürlich." „Hat er etwas falsch gemacht?" „Nein, das wohl nicht. Nur wäre ich gern mit nach Düsseldorf gefahren." „Ach so, ja. Kann ich verstehen. Nach dem, was wir hinter uns haben, wäre das logisch. Ich komme mir schon fast wie ein kleiner James Bond vor." „So schlimm ist es nicht. Außerdem hätten wir ihm das Museum zeigen können." „Das findet er schon allein." „Ich weiß, du hast keinen Bock. Kann ich auch verstehen, Turbo." Randy saß im Sessel und reckte sich. „Was machen wir jetzt?" „Fernsehen?" „Danke." „Was läuft denn überhaupt?" „Meine Nase nicht, aber..." Da meldete sich das Telefon. Sofort ging auf Randys Gesicht die Sonne auf. „Das hat etwas zu bedeuten", flüsterte er. „Ich spüre das, glaub mir." „Heb erst ab!" Randy nahm beim vierten Klingeln den Hörer hoch und meldete sich mit einem vorsichtigen „Ja, Ritter hier". -106-
„Du, Randy?" Der Junge schaltete den Lautsprecher ein, damit auch Turbo hören konnte. „Wer sonst. Und wer bist du?" „Krähe!" „Äh." Randy schluckte. „Bist du noch immer in Düsseldorf?" „Nein, wieder zu Hause. Oder fast. Ich telefoniere von einer Zelle aus. Ich bin mit einem Taxi gefahren. Ich... ich habe irgendwie ein schlechtes Gewissen und möchte euch bitten, zu mir zu kommen." „Was, zu dir?" „Wenn ich es sage. Oder könnt ihr nicht?" Randy warf Turbo einen fragenden Blick zu. Sein Freund nickte. Bei ihm war es okay. „Turbo ist einverstanden." „Und du?" „Tja, Krähe, ich weiß nicht. Du bist nicht gerade ein richtiger Kumpel, weißt du." „Klar, ich kann verstehen, daß du manchmal sauer auf mich bist. Ich... ich fühle mich auch sauschlecht. Ich habe etwas gemacht, über das ich mit euch reden möchte." „Hast du geklaut?" „Quatsch, nein. Es ist... es ist etwas anderes." „Was denn?" „Kann ich jetzt nicht so sagen. Das dauert länger. Komm, Randy, entscheide dich!" „Das ist schwer. Meine Eltern sind nicht da. Ich..." „Du brauchst bei mir doch nicht zu übernachten. Ich habe wirklich etwas gutzumachen. Ich komme mit dem Taxi bei euch vorbei und nehme euch mit." „Wann?" Randy war schon halb überzeugt. „In einer Viertelstunde spätestens." -107-
„Okay, einverstanden." „Danke, Randy, danke." Stefan Vogel legte auf. Auch Randy ließ den Hörer wieder sinken. Als er sich umdrehte und Turbo anschaute, lag ein nachdenklicher Zug um seine Augen. „Das gefällt mir nicht. Dir etwa?" „Keine Ahnung. Du kennst ihn besser. Stefan ist in deiner Klasse, nicht in meiner." „Klar. Ich hatte nie besonders viel Kontakt mit ihm. Weißt du, wie er mir vorkam?" „Nein." „Als hätte er ein schlechtes Gewissen." Turbo starrte Randy ins Gesicht. „Ein schlechtes Gewissen?" murmelte er. „Ja, das ist möglich. Jetzt, wo du es sagst. Der klang so, als hätte er etwas gutzumachen. Verstehe ich nicht." Randy lachte. „Vielleicht will er uns noch einmal ins Gebet nehmen, daß wir in der Schule auch nur nichts sagen." „Hättest du das denn getan?" „Natürlich nicht. Stefan ist wohl einsam. Er sucht eine Chance, sich jemand anzuschließen. Wir sollten sie ihm geben. Ich bin jetzt dafür." „Ja, ich mache auch mit. Mal was anderes. Deine Eltern kommen wann zurück?" „Keine Ahnung." „Alfred ist auch unterwegs." „Wir lassen beiden eine Nachricht da, dann ist alles klar." Randy holte aus der Küche Papier und Kugelschreiber. Er legte die Zettel so hin, daß sie von einem Eintretenden nicht übersehen werden konnten. Dann warteten sie. Draußen begann es zu dämmern. Es war noch nicht richtig dunkel geworden, allerdings hatte sich die Sicht verschlechtert. Die Wolken lagen noch tiefer. Über dem Rhein schienen sie die -108-
Wasserfläche des Stroms fast zu berühren. Sie nahmen ihre Jacken und gingen vor die Tür. Ihr Blick fiel auf die Straße, wo die Wagen wie Phantome vorbeihuschten. Beide Jungen standen im Schatten des Schlosses, dieses wuchtigen Baus mit dem angebauten Turm. Randy lebte gern hier. Auch Turbo, der Junge aus Japan, hatte sich inzwischen an seine neue Heimat gewöhnt. Nur daran nicht, daß seine Eltern verschollen waren. Immer wieder hoffte er auf eine Nachricht. Bisher hatte sich nichts getan. Daß sie eventuell tot sein könnten, daran wollte er nicht denken. Dafür dachte er an das Erbe seiner Eltern, an das alte Samurai-Schwert. Es hatte der Familie über Jahrhunderte hinweg gehört. Turbo war der vorerst letzte Träger des Schwerts, um das es bereits einen harten Kampf gegeben hatte, weil eine andere Sippe versucht hatte, es zu stehlen. „Da kommt ein Taxi!" Von der Uferstraße her war ein helles Fahrzeug mit dem gelben Schild auf dem Dach abgebogen. Die Jungen liefen dem Wagen entgegen. Noch vor dem Haus stoppte der Fahrer. Krähe stieg aus dem Auto. Er strahlte. „Mann, ihr glaubt gar nicht, wie ich mich freue." Er schlug beiden auf die Schultern. „Wir werden uns in meine Bude setzen und mal richtig reden, ja?" Randy grinste. „Seelenklempner sind wir aber nicht." „So habe ich das auch nicht gemeint." Randy und Turbo stiegen in den Fond. Der Fahrer drehte sich kurz um und nickte ihnen zu. Dann fragte er Krähe: „Wohin geht es denn jetzt?" Stefan nannte ihm eine Adresse im Stadtteil Grafenberg, einem sehr teuren Vorort. Sie fuhren ab. Stefan sprach nicht. Er saß neben dem Fahrer und starrte durch die Scheibe. Auch Turbo und Randy schwiegen. -109-
In Grafenberg, nahe der Rennbahn, rollten sie durch gepflegte Villenstraßen. Hier herrschte eine ungewöhnliche Ruhe. Man sah nur wenige Menschen auf den Straßen. Die Häuser lagen fast durchweg versteckt hinter hohen Hecken, Mauern oder alten Bäumen auf breiten Grundstücken, deren Preise ein Normalsterblicher nicht bezahlen konnte. Sie bogen in eine schmale Straße ein. Serpentinenartig führte sie in die Höhe. Die Villen standen weit auseinander. Hin und wieder schimmerte ein Lichtfleck, dann wurde es wieder dunkel, mal tauchte die helle Kette einer Laternenreihe auf. Zwei Fahrzeuge kamen ihnen hintereinander entgegen, wobei es eng wurde, dann fuhren sie an einem Feld vorbei. Die Sicht wäre bei gutem Wetter herrlich gewesen. Stefan drehte sich um. „Wir sind gleich da." „Du wohnst sehr einsam." „Mein Vater wollte es so." Rechts lag noch immer das flache Feld. An der linken Seite reihten sich die knorrigen Bäume eines Waldstücks. Dahinter glitt der Weg in eine Linkskurve, die in einem weiten Bogen auslief. An dessen Ende stand das Haus! Bungalowähnlich gebaut, Hanglage. Zur Straße hin wirkte es sehr klein, war aber durch die abfallende Lage viel größer. Auf der Terrasse brannte Licht. Vier Laternen gaben einen milchigen Schein ab. Das Wasser eines Pools sah grau wie altes Gußeisen aus. „Du wohnst toll!" stellte Randy fest. „Und einsam!" fügte Krähe etwas bitter hinzu. Der Fahrer hielt vor einer breiten Doppelgarage. Er nannte den Preis, Krähe zahlte die hohe Summe, ohne mit der Wimper zu zucken. Soviel bekam Randy als Taschengeld für einen -110-
ganzen Monat. „Danke", sagte der Fahrer, „und viel Spaß noch." „Ebenfalls!" Randy schlug als letzter die Tür zu. Krähe ging schon vor. Er klimperte mit den Schlüsseln. Scheinwerfer strahlten die Hausfront an und auch das graue Pflaster davor. Unterbrochen war es von einem großen Oval. Dort bildeten Rasen, kurzwachsende Sträucher und verblühte Herbstblumen ein etwas melancholisches Bild. Breit war auch die Haustür. Da hätten drei normale hineingepaßt. Glas und weißes Mauerwerk harmonierten miteinander. Im Innern betraten die Jungen eine Diele, in der eine riesige Vase auf einem alten Biedermeiertisch fast alles andere erschlug. Ein Dienstmädchen huschte vorbei und fragte, ob die Jungen was trinken wollten. „Ja, Helga, bringen Sie uns Saft nach unten." „Gut, Stefan." „Was ist mit meinen Eltern? Sind sie beide da?" „Ihr Vater ist noch nicht zurück. Ihre Mutter wollte mal kurz weg." „Danke." Randy stieß Stefan an, als das Mädchen außer Hörweite war. „Sagt sie Sie zu dir?" „Ja." „Komisch." „Finde ich auch, aber ich kann es ihr nicht abgewöhnen." Er deutete auf eine in die Tiefe führende Treppe. „Kommt mit." Sie gelangten in die erste der Hangetagen. Es waren kaum Türen vorhanden. Die Räume gingen ineinander über. So wirkte alles noch größer. Der Architekt hatte viel Glas verwendet, und der Blick aus den Zimmern fiel weit über die Ebene. -111-
„Astreine Aussicht!" stellte Turbo fest. „Ja, hier ist es schön. Besonders im Sommer." Krähe wandte sich nach rechts. Dort begann ein kurzer Gang. Als einziges Möbelstück stand auf dem Parkettboden eine abgebrochen wirkende Holzsäule. Stefans Zimmer besaß eine Tür. Er öffnete und ließ den Besuchern den Vortritt. „Macht es euch bequem." Randy und Turbo staunten. Krähes Zimmer war gewaltig. Es gab in ihm eigentlich nichts, was es nicht gab. Stefan war elektronisch up to date. Der Computer vom Feinsten, der Drucker, der Monitor, die Hi-Fi-Anlage, Fernseher und Video sowieso. Dazu der Schreibtisch, die Regale, die Teppiche, das Bett, es wirkte alles top fein. Dennoch fehlte etwas. Es war die Gemütlichkeit, die man vermißte. Viel Geld konnte sie oft genug nicht ersetzen. „Nett hier", sagte Randy. „Es geht." Er drehte sich um. „Bist du nicht zufrieden, Krähe?" „Manchmal." Stefan strich sein Haar zurück. „Da könnte ich einen Stein nehmen und ihn in die Scheibe werfen. Ich habe alles, wißt ihr, aber es fehlt mir doch was. Ich habe noch nie mit meiner Mutter so richtig reden können. Die ist immer im Streß. Am Abend ist sie oft weg. Gesellschaftliche Verpflichtungen nennt man so was. Mein Vater geht auch mit oder ist im Ausland, der hat ja seine Verbindungen überall." „Als Geschäftsmann..." „Weniger ist oft mehr", sagte Stefan, der es wahrscheinlich wissen mußte. „Aber setzt euch doch." Die Jungen nahmen auf der Couch Platz. Sie war mit einem hellgrünen Stoff überzogen worden. Dann kam Helga. Sie brachte den Saft und schob einen Servierwagen vor sich her. -112-
Helga war um die Zwanzig. Ziemlich klein, nicht zu dick und lächelte immer. „Danke, Helga, wir machen das selbst. Bitte nicht einschenken." „Sehr wohl. Schönen Abend noch." „Wann ist Feierabend?" „Ich werde in einer Viertelstunde gehen, falls Sie nichts dagegen haben, Stefan." „Nein, wie sollte ich." „Danke, und grüßen Sie Ihre Eltern. Ich bin morgen früh zur gewohnten Zeit wieder da." „Viel Spaß." Helga ging. Randy lachte. Er zog das rechte Bein an und umspannte sein Knie. „Tut mir leid, so etwas wäre nichts für mich. Überhaupt nicht." Krähe reagierte nicht. Er verteilte Getränke in hohe Saftgläser und stellte Kekse auf den Tisch. Per Fernbedienung schaltete er den Recorder ein. Popmusik, eingestellt auf Zimmerlautstärke, war zu hören. Stefan hatte sich Randy und Turbo gegenüber hingesetzt. Er nahm sein Glas, trank aber noch nicht. Da sagte Randy: „Du kommst mir vor wie jemand, der irgendwie ein schlechtes Gewissen hat." Für einen Moment schaute der Junge gegen die Decke, unter der ein Mobile aus kleinen Flugzeugen schwebte. „Ja, im Prinzip hast du recht. Das habe ich auch." „Uns gegenüber?" fragte Turbo. „Natürlich." „Das brauchst du aber nicht. Du hast uns einen Vorschlag gemacht, wir haben abgelehnt und..." „Das ist es doch nicht, Mensch!" -113-
Turbo wußte nicht mehr weiter. Dafür nahm er einen flüssigen Vitaminstoß zu sich. „Was dann?" „Weißt du, Randy, es ist eine komische Sache. Ich war richtig froh, daß du dich gemeldet hast, als ich anrief." Bei seinem Satz hatte Krähe gegen die Tapete gestarrt. Auch Randy wunderte sich. „Ich hatte dir doch gesagt, daß ich nach Hause fahre." „Schon, es hätte auch was passieren können. Unterwegs, meine ich." Stefan blickte Randy nun direkt an. Dessen Augen verengten sich. Irgendwo in seinem Hinterkopf begann ein Licht zu blinken. „Moment mal, Stefan, das hast du nicht so dahingesagt - oder?" „Nein!" „Was steckt dahinter?" „Ja", sagte Turbo, „das möchte ich auch wissen." „Es ist nicht leicht, ich muß euch was gestehen und will mich auch dafür entschuldigen. Ich habe die Ausstellung nicht mit euch verlassen. Erst als ihr weg wart, bin ich nach draußen gegangen und wollte eigentlich in die Stadt. Da sprach mich jemand an, ein Mann." „Wie sah er aus?" „Er trug eine Brille und hatte blonde Haare." „Das ist er!" flüsterte Turbo. „Wer?" „Erzähl weiter, Krähe, mach schon." Randy war plötzlich nervös geworden. „Er sprach mich also an und schaffte es, mich zu einer Cola mitzunehmen in eines dieser neuen Lokale. Ich wollte ja nicht, doch er erpreßte mich irgendwie. Der erklärte mir, daß er den Lehrern Bescheid geben würde, daß ich mich abgesetzt hätte -114-
und so. Na ja, ich ging also mit. Es kam heraus, daß ich ihm erzählen sollte, wer ihr seid." „Das hast du getan?" Stefan nickte Randy zu. „O Hölle!" keuchte Randy und ließ sich zurücksinken. „Jetzt weiß ich, woher die Gangster die Informationen hatten." „Wie... wieso Gangster?" Krähe zeigte sich irritiert. „Was hat das zu bedeuten?" „Das werde ich dir gleich sagen. Erzähl du erst mal." „Ich habe eure Namen gesagt und daß ihr mit dem Fahrrad nach Hause fahren würdet." „Das war alles?" „Ja." „Es hat gereicht", stellte Randy fest. „Es hat, verflixt noch mal, gereicht. Echt." „Habt ihr Ärger bekommen?" „Ärger? Das ist gar kein Ausdruck. Wir haben mehr Ärger bekommen, als uns lieb sein kann. Der Kerl, der dich angesprochen hat, ist ein Gangster, ein Dealer. Der handelt mit Rauschgift!" „Du spinnst!" „Ich wollte, es wäre so. Es stimmt aber - leider. Du bist einem Dealer aufgesessen, mein Freund." „Das haut mich um." Krähe trank. Es dauerte, bis er sich von seinem Schock erholt hatte. „Daß etwas nicht stimmte, hatte ich mir schon gedacht", sagte er leise. „Ich habe zu spät nachgedacht. Deshalb war ich so froh, als sich Randy meldete." „Ist noch mal gutgegangen." „Klar. Nur frage ich mich, was ihr mit den Kerlen zu tun hattet?" -115-
„Nichts", sagte Randy. „Die hatten nur vor, irgendwas in der Ausstellung anzustellen." „Blöde Antwort." „Ich weiß es doch nicht. Aber entsprechende Maßnahmen, um den Blonden und seinen orientalischen Kumpan zu fangen, sind bereits eingeleitet worden." „Der ein Dealer?" Stefan kam noch immer nicht darüber hinweg. „So hätte ich mir keinen vorgestellt." „Der Bursche ist gefährlich. Er gehört sogar zur Spitzenklasse in dem Geschäft." „Woher wißt ihr das?" Randy winkte ab. „Man hat so seine Informanten. Und ich hoffe, daß er jetzt schon festgenommen ist. Der hatte bestimmt einen Deal vor, das kann ich dir sagen." Stefan war entsetzt. „Ich begreife das nicht mehr. Das ist mir einfach zu hoch. Ich... ich bin völlig von der Rolle. Aufgeschmissen." „Sind wir auch", sagte Turbo. „Ihr müßt mit ihm zusammengerasselt sein." „Stimmt." „Wie denn?" „Das kann Randy besser erzählen." Er hatte zwar keinen großen Bock, tat Stefan trotzdem den Gefallen und berichtete von seinen Erlebnissen im Keller und auch von den Fotos. Krähe staunte nur. „Dann ist ja alles klar. Der wollte die Aufnahmen. Deshalb also." „Richtig." „Und ich bin schuld." Randy winkte ab. „Laß dir mal keine grauen Haare wachsen. Wir sind so gut wie aus dem Schneider." -116-
„Stimmt das auch?" „So ungefähr." Randy stand auf und ging zum Fenster. „Ein drückendes Gefühl bleibt trotzdem zurück. Ich hätte nie gedacht, daß das so laufen würde." „Meine ich auch", gab Stefan Vogel zu. In Krähes Zimmer befand sich, wie gesagt, alles. Unter anderem auch ein Telefon. „Kann ich von hier aus direkt wählen?" fragte Randy. „Klar." „Dann will ich bei uns mal anrufen." „Meinst du, es hätte sich schon was ergeben?" fragte Turbo. „Möglich. Der Blonde kann schon hinter Gittern sitzen, wenn unser Plan geklappt hat." „Das wäre ja irre." Randy tippte. Er hörte das Rufzeichen, es läutete noch ein paarmal durch, nur hob keiner ab. Der Anrufbeantworter war auch nicht eingeschaltet. „Na?" fragten Turbo und Krähe wie aus einem Mund. „Noch keiner da." Turbo winkte ab. „Ich würde das nicht tragisch nehmen. Bei Alfred dauert es bestimmt." „Er hat versprochen, uns Bescheid zu geben", murmelte Randy. „Alfred hält seine Versprechen ein. Ob ihm etwas passiert ist." „Der weiß sich zu wehren." „Die anderen sind zu zweit." „Was bist du so komisch, Randy", wunderte sich Turbo. „Es ist bisher alles gutgegangen." „Stimmt." Randy schlug auf eine Sessellehne. „Was ärgert dich?" -117-
„Weil ich das Gefühl habe, es kommt das dicke Ende noch nach." Sofort mischte sich Krähe ein. „Aber eines sage ich euch. Von mir nicht. Ich habe euch nichts mehr verschwiegen." „Dich meine ich auch nicht. Mir paßt es nur nicht, daß Alfred noch nicht zurück ist." Niemand wußte einen Rat. Es blieb den Jungen nichts anderes übrig, als abzuwarten. „Habt ihr Lust auf ein Computer-Spiel?" fragte Krähe. „Ich habe hier einiges zur Auswahl. Auch neue Sachen..." „Nein!" „Ich auch nicht", sagte Randy. „Sollen wir Tischtennis spielen?" Da summte das Telefon. Da niemand anderer im Haus war, hob Stefan ab, meldete sich und sagte: „Guten Abend, Herr Ritter. Ja, Ihr Sohn ist bei mir. Ich gebe ihm den Hörer." „Hallo, Paps!" rief Randy. „Toll, daß ihr schon..." „Ja, wir sind zurück, aber ihr seid weg." Peter Ritters Stimme klang ärgerlich. „Ich hatte damit gerechnet, euch im Haus zu finden. Und was ist..." „Es ist nicht tragisch. Wir sind bei einem Freund." „Der Telefonnummer nach zu urteilen, ist es ein Anschluß in Grafenberg?" „Stimmt." „Ziemlich weit weg. Wie willst du zurückkommen?" Randy bekam einen roten Kopf, als er sagte: „Mit einem Taxi." „Oh, mein Sohn ist auf dem Weg zum Großverdiener. Wir sind früher zu Fuß gelaufen. Hat Mutti dir eine Taschengelderhöhung gegeben, von der ich nichts weiß?" „Nein, das Taxi wird bezahlt." -118-
„Von wem?" „Die Eltern..." „Randy, hör zu. Ich kann es nicht leiden, wenn ihr auf diese Touren reitet. Ich möchte, daß ihr beide so schnell wie möglich zurückkommt. Den Wagen bezahle ich, verstanden?" „Ja, Vati." „Wie lange werdet ihr brauchen?" „Ich weiß nicht." „Ich gebe euch eine Stunde, dann steht das Abendbrot auf dem Tisch. Mutti ist auch sauer, wie du dir vorstellen kannst. Wir haben uns verstanden?" wiederholte Herr Ritter noch einmal. „Ja, Vati." „Dann bis später." Randy legte auf und winkte gleichzeitig ab. „Der ist sauer", sagte er, „mein lieber Schwan." „Ist dein Alter Herr streng?" fragte Krähe. „Eigentlich nicht. Nur hat er es nicht gern, wenn wir uns um diese Zeit irgendwo in der Stadt herumtreiben und er nicht darüber informiert ist. Dann macht er sich Sorgen, meine Mutter auch." „Das ist manchmal nicht schlecht", stimmte Krähe ihm zu. Er hob die Schultern. „Schade, ich hätte euch noch gern hiergehabt. Aber wir wiederholen das, ja?" „Versprochen." „Das Taxi können wir auch aus der Halle anrufen", sagte Stefan. „Ich kann euch noch den Keller zeigen. Der ist sogar atombombensicher, hat mein Vater gesagt." „Was stellt er eigentlich her?" wollte Turbo wissen. „Alles mögliche, was mit Computern zusammenhängt. Mein Vater verkauft eigentlich Ideen. Er sagt auch Firmen, wie sie -119-
etwas herstellen und vertreiben sollen. Dabei bringt er seine eigenen Erfindungen natürlich auch mit ein. Das lohnt sich schon." „Man sieht's", kommentierte Randy Stefan ließ den beiden Freunden den Vortritt. Sie hatten den Raum kaum verlassen und standen wieder in dem Teil des Hauses mit der großen Glasfront, als sie die beiden Scheinwerferpaare sahen, die den Weg hochschwenkten. Die Fahrzeuge befanden sich noch in Höhe des Waldes. „Das ist mein Alter Herr", sagte Stefan. „Der bringt Besuch mit." Er verzog das Gesicht. „Es wird wohl wieder auf einen langen Abend hinauslaufen. Besprechung mit Kunden und so." Sie gingen noch weiter, weil das Telefon separat stand. „Ruf mal an", sagte Randy und deutete auf den metallicschimmernden kegelförmigen Gegenstand, der mit einem althergebrachten Telefon nicht mehr viel gemein hatte. „Wollt ihr nicht noch meinen Vater kennenlernen?" „Das wird spät." „Unsinn, er ist gleich hier. Nicht mal eine Minute. Ich verspreche euch, daß ihr pünktlich wieder zu Hause seid." Es war Randy überhaupt nicht recht. Er dachte an Krähe. Mit seinem Vater würde er zurechtkommen. Stefan fühlte sich glücklich, daß er Freunde um sich hatte. Er schaute sie auch bittend an. Der Junge hatte sich völlig gedreht. In der Schule gab er stets einen Stiefel an. Hier war er beinahe schüchtern. „Gut", sagte Randy, „ein paar Minuten noch." Auch Turbo nickte. „Okay." Krähe lachte. „Mein Vater wird sich ungemein freuen, daß ihr bei mir seid. Er drängt immer darauf, daß ich Schulkollegen mitbringe. Jetzt habe ich es getan." Die zwei Fahrzeuge hatten mittlerweile den breiten Bereich der Grundstückseinfahrt erreicht. Sie hielten, die Lichter -120-
verloschen, dann schlugen Türen zu. Direkt bis in die große Halle hineinsehen konnten die Kinder nicht. Sie standen zu weit im Hintergrund und hörten nur, wie die Tür geöffnet wurde. „Kommen Sie, wir haben nicht viel Zeit", sagte eine herrische Männerstimme. „Das ist mein Vater", flüsterte Krähe und schluckte etwas. „Ich glaube, der ist nicht besonders gut gelaunt." „Dann sollten wir lieber verschwinden", wisperte Turbo. „Unsinn. Jetzt beweise ich ihm, daß ich auch etwas geschafft habe. Kommt mit, ihr beiden." Sie bewegten sich leise weiter und vorbei an den großen Holzbalken, die an verschiedenen Stellen und in unterschiedlichen Höhen die Decke stützten. In seiner Freude stürmte Stefan vor. „Vater!" rief er noch während des Laufens. „Ich habe zwei Freunde hier." Herr Vogel fuhr herum. Er sah nicht aus wie jemand, der sich darüber freute. Dieser Mann glich einem Menschen, dem die Botschaft eher unangenehm war und den sie auch erschreckt hatte. Seine beiden Gäste standen noch an der Tür und wurden nicht vom vollen Licht getroffen. „Wieso?" fragte er. Stefan lief die letzten Schritte: „Du hast immer gesagt, daß ich mir Freunde einladen darf." „Ach ja, natürlich." Er nahm seinen dunklen Hut ab, den grauen Kaschmirmantel behielt er noch an. Der Kragen war am Nacken hochgestellt und scheuerte in seinem Haar. Er besaß das gleiche dunkle Haar wie sein Sohn. Nur wuchsen im Gesicht des Erwachsenen dunkle Bartschatten. Sie verteilten sich auf den Wangen. Passend dazu wirkten auch die Augenbrauen. Sie erinnerten an Kohlestriche. -121-
„Warte, ich zeige dir die beiden. Sie wollten sowieso gehen und nur eben guten Abend sagen." Stefan war stehengeblieben und winkte in den Hintergrund des offenen Hauses. „Kommt schon, Randy und Turbo. Los, keine falsche Scheu, ihr beiden." Die Freunde hatten sich endlich überreden lassen. Sie traten näher, gerieten dabei in die Lichtfächer der in die Holzdecke integrierten Scheinwerfer, und auch die beiden Gäste hatten die Tür geschlossen. -122-
Sie kamen in das Haus. Die Jungen und die beiden Männer sahen sich zur gleichen Zeit - und erstarrten. Herrn Vogels Gäste waren Toni Raski und Ibrahim, der Ägypter! Plötzlich sprach keiner mehr. Blicke sagen oft mehr als tausend Worte. Das war hier der Fall. Herr Vogel und sein Sohn spürten ebenfalls, daß etwas in der Luft lag. Sie schauten sich erst an, dann die beiden Jungen, und beide erkannten, wie bleich Turbo und Randy geworden waren. Im Gegensatz zu den Besuchern, die hochrote Köpfe bekamen. Als erster fand Herr Vogel die Sprache wieder. „Was ist mit Ihnen? Weshalb starren Sie so?" „D... darf ich mal was sagen?" fragte Toni Raski. „Natürlich!" „Das sind die Jungen, Chef!" „Welche?" „Von denen ich Ihnen erzählt habe." „Ich verstehe nichts", sagte Krähe. „Ich dafür um so mehr", flüsterte Randy so laut, daß auch Herr Vogel die Worte gehört hatte. Er griff unter den Mantel und holte eine Waffe hervor, die einen überlangen Lauf besaß. Es war eine mit Schalldämpfer bestückte Pistole. „Vati!" schrie Stefan. „Bist du denn..." „Halt dich da raus!" Eiskalt klang Vogels Stimme. Ohne Randy und Turbo aus den Augen zu lassen, wandte er sich an seine Kumpane. „Ihr seid euch sicher, daß sie es sind?" „Hundertprozentig!" „Und was sagt ihr dazu?" Randy und Turbo fühlten sich angesprochen. Am liebsten -123-
hätten sie sich unsichtbar gemacht, doch das ging nicht. So blieben sie stehen und starrten zu Boden. „Antwortet!" „Ja!" erwiderte Randy leise. „Es stimmt. Wir kennen die beiden." Herr Vogel nickte. Er sprach und wandte sich dabei an seinen Sohn. „Ich glaube, daß deine Freunde noch für eine Weile bei uns bleiben werden. Das steht fest!" Stefan hatte zwar alles gesehen, aber nichts überrissen. „Vater, was machst du da? Was hast du mit diesem Mistkerl zu tun? Der hat mich über die beiden ausgehorcht!" Toni Raski fing an zu lachen. Es hörte sich an wie das Meckern einer Ziege, während sich der Ägypter zurückhielt. „Das gibt es doch nicht!" röhrte er in das Gelächter hinein. „Das kann nicht wahr sein. Ich habe Ihren Sohn ausgespitzelt, Chef, um die beiden... nein..." Er schlug sich auf die Schenkel, bis es Vogel zu bunt wurde. „Halten Sie Ihr Maul!" Schlagartig war Raski ruhig. Diese Töne verstand er nur zu gut. „Ab jetzt übernehme ich die Initiative", erklärte Herr Vogel und wandte sich an seinen Sohn. „Du verschwindest, Stefan!" „Nein!" „Hau ab, Mensch!" Stefan erschrak über den Ton seines Vaters. So hatte er ihn noch nie erlebt. Dieser Mann kam ihm vor wie ein Fremder. Das Blut wich aus dem Gesicht des Jungen. Er nickte und gehorchte. Wie ein geprügelter Hund schlich er davon. „Und daß du mir greifbar im Haus bleibst, sonst werde ich sehr böse!" drohte sein Vater. Stefan gab keine Antwort. Er verschwand im Hintergrund des großen Hauses. -124-
„Und nun zu euch", sagte Vogel. „Kommt mal näher. Ich möchte euch genauer sehen." Beiden Jungen zitterten die Knie. Sie wußten nicht, wie sie aus dieser verzwickten Lage herauskommen sollten. Daß Krähes Vater ein Gangster war, nichts sprach mehr dagegen, damit hätte keiner von ihnen auch in den kühnsten Träumen rechnen können. Herr Vogel erwartete sie. Kalt starrte er ihnen entgegen. Die Lippen lagen fest aufeinander, wobei die Oberlippe in der Mitte eine kleine Vertiefung bildete, so daß sie an dieser Stelle die Form eines Sattels bekommen hatte. Als die Jungen Herrn Vogels Meinung nach weit genug vorgekommen waren, befahl er ihnen stehenzubleiben. Erst jetzt ließ er die Waffe mit dem Schalldämpfer wieder verschwinden. „Ich glaube schon, daß ihr mir einiges zu erzählen habt!" sagte er mit zunächst noch ruhiger Stimme. Randy und Turbo senkten die Köpfe. Sie blieben stumm. „Los, redet!" brüllte Vogel sie an. Seine Stimme hallte durch das Haus. Sie war auch von Krähe gehört worden, der wieder zurückgeschlichen war. „Vater, du...!" Vogel fuhr herum, als er die Stimme seines Sohnes vernahm. Das Gesicht des Mannes verzerrte sich vor Wut. „Ich habe dir gesagt, du sollst dich hier nicht mehr blicken lassen!" Der Schlag kam plötzlich, völlig unerwartet. Krähe erwischte es voll. Der Schwung drehte ihn um die eigene Achse, er prallte gegen einen Stützbalken, fing sich dort wieder und starrte seinem Vater ins Gesicht. Die rechte Wange war hochrot geworden, in Stefans Blick war etwas zerbrochen. „Das zahle ich dir heim!" keuchte er. „Oh, das zahle ich dir heim. Das hast du nicht umsonst getan, du nicht!" „Hör auf, geh weg!" -125-
Krähe rieb seine Wange und nickte. Er zog sich zurück. Schritt für Schritt. Dabei blickte er weder seinen Vater noch dessen Besucher oder seine beiden Schulkameraden an. „Und hüte dich, noch einmal zurückzukommen!" rief Vogel hinter seinem Sohn her. „Chef", meldete sich Toni Raski, wobei er seine Brille zurechtrückte. „Wenn die beiden nicht reden wollen, lassen Sie mich das machen. Ich bin Spezialist für gewisse Methoden." „Das nehme ich Ihnen sogar ab, Raski. Ich aber hasse Gewalt, wenn sie nicht nötig ist. Ist sie bei euch nötig?" wandte er sich an die Jungen. „Nein!" flüsterte Randy. „So verstehen wir uns schon besser. Ich habe selbst einen Sohn, ihr kennt ihn ja. Und er hat mich in eine verdammte Lage hineingebracht. Was soll ich jetzt tun? Ihr wißt Bescheid. Stefan hätte nie etwas davon mitbekommen, nun ist auch bei ihm das große Licht aufgegangen. Er weiß von meiner Arbeit, er wird nicht mehr so leben können wie früher." Vogels Blick bekam eine gewisse Nachdenklichkeit. „Ich glaube, das werden wir alle nicht mehr können." Randy hatte sich wieder etwas gefangen. „Und ich dachte, daß Sie mit Elektronik handeln. Stefan erzählte das." „Denken ist Glückssache. Aber es stimmt, ich handle tatsächlich mit Elektronik. Ein lukratives Geschäft, wirklich. Nur gibt es Dinge, die noch mehr Geld bringen." „Rauschgift!" Turbo hatte das Wort gesagt. Er verzog dabei den Mund, als hätte er Essig getrunken. „So ist es!" Randy spürte den Schauer auf seiner Haut. „Und Sie schämen sich nicht?" flüsterte er. Dieser Satz löste bei Toni Raski und seinem ägyptischen Partner Lachkrämpfe aus. Auch Vogel zeigte sich amüsiert, -126-
auch wenn er nur mit dem Mund zuckte. Mit einer barschen Handbewegung brachte er die beiden Dealer zum Schweigen. „Schämen?" fragte er dann. „Wie kommst du darauf? Welcher Geschäftsmann schämt sich schon?" „Haben Sie nie gehört, welch Elend Sie über die Menschen bringen, denen Sie das Rauschgift verkaufen? Das ist furchtbar. Ich habe Bilder von Menschen gesehen, die rauschgiftsüchtig waren. Als ich sie sah, da... da..." Randy mußte schlucken, bevor er weitersprechen konnte. „Da habe ich geweint. So schlimm war das. Das waren keine Menschen mehr, das..." Er konnte nicht mehr reden. Ihm fehlten die Worte. „So etwas geht mich nichts an. Und so naiv, wie ihr denkt, kann ich nicht handeln." „Stellen Sie sich vor, Stefan würde Rauschgift nehmen", sagte Turbo. Herr Vogel hob seine dunklen Augenbrauen. „Stefan? Der nicht. Er hat alles, er braucht das Zeug nicht." „Er hat nicht alles", flüsterte Randy. „Was fehlt ihm denn?" „Ein wenig Liebe, etwas Verständnis seiner Eltern. Menschen, die auf ihn und seine Probleme eingehen. Das ist es. Was nutzt die beste Hi-Fi-Anlage und das modernste ComputerSpiel, wenn man innerlich einsam ist..." „Hast du dir das angelesen?" „Nein, das weiß ich so." „Dann möchte ich gern eure Namen noch wissen, damit ich weiß, wer so schlau ist." „Randy Ritter." „Ich heiße Toshikiara!" erklärte Turbo voller Stolz, denn seinen „Kampfnamen" brauchte nicht jeder wissen. Vogel überlegte. „Ritter", murmelte er. „Ja, den Namen habe -127-
ich schon gehört. Ihr wohnt im Schloß, nicht?" Randy nickte. „Dann beschäftigt sich dein Vater auch mit gewissen Dingen, die außerhalb der Norm liegen." „Kann sein." „Das kann nicht nur sein, das ist so. Mal abgesehen davon, für euch wird sich einiges ändern. Es ist euch klar, daß ihr nicht mehr so weiterleben könnt wie bisher. Wir müssen uns eine Lösung einfallen lassen. Sie wird sehr schwer für alle werden." Das Telefon meldete sich. Da Vogel in der Nähe stand, hob er ab. Er drückte die obere Hälfte des Ovals nach hinten, dann konnte er den Hörer nehmen, meldete sich nicht und legte sofort wieder auf. „So, das wäre es gewesen." Toni Raski sah seine Chance. „Sollen wir uns der beiden Burschen annehmen?" „Später vielleicht. Ich will noch etwas wissen. Ihr müßt doch auch den kennen, der euch an die Wäsche wollte, als ihr den Stoff geholt habt?" „Sie meinen den Meier, Chef?" „Sehr richtig." Vogel war nicht entgangen, wie Randy bei Erwähnung des Namens Meier zusammengeschreckt war. Er lachte plötzlich. „Ah, du scheinst ihn zu kennen." „Vielleicht." „Hast du ihn auf die beiden gehetzt?" „Das haben wir." Randy holte Luft. „Ich würde Ihnen raten, Herr Vogel, sehr vorsichtig zu sein. Alfred ist ein Experte, den Sie nicht so leicht überrumpeln können." Raski fing an zu lachen. „Experte ist gut", sagte er, „sogar sehr gut. Ja, das ist ein Experte, wir haben es erlebt. Nur liegt er irgendwo in einer Ecke und leckt seine Wunden." „Was haben Sie mit ihm gemacht!?" schrie Randy. Auch -128-
Turbo war bleich geworden. „Wir gar nichts!" „Ich habe es getan!" erklärte Vogel. „Euren Alfred könnt ihr vergessen. Er ist nicht mehr im Spiel. Wir haben ihn ausgeklammert. Es gibt keinen Ausweg." „Man weiß, wo wir sind!" platzte Randy heraus. „Wer?" „Meine Eltern!" Vogel hob die Schultern. „Ich werde Ihnen sagen, daß ihr nie hier angekommen seid. Es tut mir leid für euch, meine beiden Mitarbeiter wollten sich um euch kümmern. Es ist wohl besser, wenn ich sie euch überlasse, aber das werden wir noch besprechen. Zunächst einmal möchte ich vor euch Ruhe haben. Wir werden sie wegschaffen." Die letzten Worte waren an Raski und Ibrahim gerichtet gewesen. „Und wohin?" fragte Toni. „Ich gehe vor!" Er zog wieder seine Waffe. Randy und Turbo mußten sich umdrehen. „Habt ihr schon unseren Keller gesehen?" fragte Vogel leise. Als er keine Antwort bekam, gab er sie sich selbst. „Wie ich merke, noch nicht. Aber ihr werdet ihn kennenlernen, verlaßt euch darauf." Die Jungen schwiegen. Beide durchströmte das gleiche schreckliche Gefühl. Angst!
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Dr. Ritter handelt Schon zum zweitenmal innerhalb einer Minute schaute Dr. Peter Ritter auf die Uhr. „Ich verstehe nicht, wo sie bleiben", sagte er und ließ sich in den Sessel vor seinem Schreibtisch im Arbeitszimmer fallen. „Sie hätten schon hier sein müssen!" „Hast du denn angerufen?" Marion Ritter hatte die letzten Worte ihres Mannes gehört. Unhörbar war sie gekommen und stand jetzt in der Tür, ihr Gesicht sah besorgt aus. Frau Ritter war in Düsseldorf noch beim Friseur gewesen und hatte sich das blonde Haar strähnig fönen lassen. Sie trug einen dunkelgrünen, weit ausgeschnittenen Pullover und dazu einen braunen Rock. „Ja, das habe ich!" Peter Ritter stützte sein Kinn auf die Handfläche. „Was sagten sie?" „Nichts." Sie kam näher. „Das gibt es doch nicht." „Doch, Marion, es stimmt. Ich rief an, es wurde abgehoben und sofort wieder aufgelegt." „Und dann?" „Ich tat nichts mehr." „Versuche es noch mal." „Wie du willst." Wieder wählte Dr. Ritter die Nummer. Diesmal hob überhaupt keiner ab. „Dann werden sie möglicherweise schon unterwegs sein." „Nein, Peter, davon bin ich nicht überzeugt. Zumindest Stefan hätte abheben müssen. Allmählich fange ich an, mir Sorgen zu machen. Wir hätten auch nicht so lange wegbleiben sollen." „Unsinn. Der Junge ist kein Kleinkind mehr. Mit sechzehn müssen andere Kinder ihr Leben manchmal selbst in die Hand nehmen." -130-
„Aber nicht mein Sohn. Außerdem weißt du selbst, welch einen gefährlichen Beruf du hast." „Ja, das stimmt, wir leben eben nicht normal und müssen dafür Opfer bringen. Wenn ich nur wüßte, wo Alfred steckt. Er ist auch nicht da und hat keine Nachricht hinterlassen." „Ist sein Wagen weg?" „Ja." „Vielleicht solltest du selbst zu den Vogels fahren und dort nachfragen." Dr. Ritter erhob sich. „Daran habe ich schon gedacht. Die als Frist gesetzte Stunde ist fast vorbei. Ich lege noch zehn Minuten zu. Wenn sie dann nicht hier sind, fahre ich los." „Das wäre gut." Marion schaute ihren Mann an. Sie sah die Sorgen in seinen graublauen Augen und den etwas verkniffenen Zug um die Mundwinkel. „Du hast Angst, nicht?" „Nein, so kann man das nicht sagen. Ich mache mir eben Sorgen. Wenn ich an die Vorgänge in der letzten Zeit denke, sind die schon berechtigt. Findest du nicht auch?" „Du hast recht. Nur weigere ich mich, die Vogels mit irgendwelchen schlimmen Vorgängen in Verbindung zu bringen. Ich meine, mit verbrecherischen Aktivitäten." Marion Ritter senkte den Kopf und schaute auf ihre Stiefelspitzen. „Das meine ich auch nicht direkt. Ich denke eher, daß ein Unfall passiert sein könnte." „Mit dem Taxi?" „Ja." „Mal den Teufel nicht an die Wand." „Vielleicht war es auch ein Stau. Es gibt viele Möglichkeiten!" Sie schüttelte den Kopf. „Man kann die Jungen auch nicht festbinden." „Nein, das kann man nicht!" fügte Dr. Ritter energisch hinzu -131-
und schaute auf seine Uhr. „Willst du jetzt fahren?" „Ja, die Zeit ist um. Ich warte nicht mehr länger. Bleib du hier. Ich rufe von unterwegs noch an." „Ist gut." Peter Ritter streifte seine Jacke über. „Eines sage ich dir, Marion. Obwohl Randy schon sechzehn ist, werde ich ihm noch einiges erzählen, darauf kann er sich verlassen." Da schlug das Telefon an. „Vielleicht ist er das!" Peter Ritter hob ab und meldete sich. „Guten Abend, Herr Ritter." „Du bist es, Ela." „Kann ich Randy sprechen?" „Nein, der ist nicht hier. Turbo auch nicht." „Sind sie noch mal weg?" „Ja, warum fragst du?" „Mir haben sie nichts davon gesagt." „Die sind zu einem Klassenkameraden gefahren. Der Junge heißt Stefan Vogel." „Krähe?" Ela lachte. „Das gibt es doch nicht." „Wieso?" „Herr Ritter, die sind nicht gerade die besten Freunde, aber bei den Jungens weiß man ja nie. Man kann sich selten auf sie verlassen. Da sind wir Mädchen anders. Deswegen habe ich nicht angerufen. Ich wollte nur wissen, ob sie schon herausgefunden haben, wo sich diese Typen versteckt halten. Alfred wollte da hinterhersein." „Moment mal, Ela. Welche Typen?" „Wissen Sie denn nichts, Herr Ritter?" „Nein." -132-
„Tja, hm..." Ela war durcheinander. „Das ist wirklich ein Ding. Ich dachte, Randy hätte Ihnen von den Kerlen berichtet. Die sind gefährlich. Die haben uns fast überfallen, als wir auf dem Nachhauseweg waren. Das sind Dealer." „Was sind das?" schrie Peter Ritter. Er hatte plötzlich einen hochroten Kopf bekommen. „Rauschgifthändler, Herr Ritter." „O Gott, das darf nicht wahr sein." Er wechselte den Tonfall. „Ela, ich habe nicht viel Zeit, aber ich muß wissen, was euch da passiert ist." „Gut, Herr Ritter. Ich mach es kurz." Über Lautsprecher hörte auch Frau Ritter zu, und sie war ebenso entsetzt wie ihr Mann, als sie Elas Bericht hörte. Für beide war es fast unglaublich, in welch eine Lage sich die Jungen gebracht hatten. Zum Glück hatten sie es geschafft, zu entwischen, jetzt war Alfred unterwegs, um die Spur weiterzuverfolgen. „Ich danke dir, Ela." „Herr Ritter, wenn Randy und Turbo zurückkommen, sollen sie mal anrufen, ja?" „Ich sage es ihnen." „Mein Gefühl", flüsterte Marion, „ich kann mich einfach darauf verlassen." Sie hatte sich in einen Sessel gesetzt und starrte die zahlreichen Buchrücken in den Regalen an. „Ich weiß genau, daß..." „Sei froh, Marion, daß sich Alfred um die Leute kümmert und die Jungen in Sicherheit sind." „Weißt du das genau?" Dr. Ritter überlegte. „Wie meinst du das?" „Wenn diese Dealer einmal wissen, wer sie beobachtet hat, dann werden sie alles daransetzen, um die Jungen zu bekommen." -133-
„Aber Alfred..." „Wir haben bisher nichts von ihm gehört. Peter, das kann trotzdem gefährlich werden..." Wieder klingelte das Telefon. Diesmal war es Alfred. „Da bist du ja endlich", sagte Dr. Ritter. „Ja und ziemlich angeschlagen." „Wieso?" „Man hat mir etwas über den Kopf gezogen, als ich zwei Dealer schon vor der Mündung hatte. Ein dritter Typ war plötzlich da und legte mich rein." „Ich bin informiert. Jetzt sind die anderen entkommen?" „So ist es." „Randy und Turbo sind auch weg!" „Das ist doch nicht wahr." „Doch. Sie sind zu einem Schulkameraden gefahren und haben ihre Rückkehrzeit überschritten." Herr Ritter holte tief Luft. „Ich habe keine Minute mehr. Alfred. Ich fahre los, um sie zu suchen. Bis später dann." Dr. Ritter legte auf und nickte seiner Frau zu. Dann öffnete er eine Schublade und holte etwas hervor, das er nur ungern in die Hand nahm. Es war eine Waffe! Und es hatte eine Zeit gegeben, wo Dr. Peter Ritter beigebracht worden war, mit dieser Waffe umzugehen...
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Keine Hoffnung? Wie hatte Krähe noch gesagt? „Unser Keller ist atombombensicher!" Daran mußten Randy und Turbo denken, als Herr Vogel sie unter der Erde in einen Raum gesperrt hatte, der tatsächlich so aussah. Vier glatte Betonwände, davon eine nur durch die Tür unterbrochen, die aus einer schweren Eisenplatte bestand. Die Freunde schauten sich an. Auf beiden Gesichtern lag Gänsehaut, in den Augen nistete Furcht. Ihre Haut sah im Schein der Leuchtstoffröhre kalt und teigig aus. „Da ist nichts mehr zu machen", sagte Randy. „Sprich nicht so!" „Siehst du eine Chance?" „Nein." „Na also." „Aber dein Vater..." Randy winkte ab. „Okay, der wird sauer sein, wenn wir die Zeit überschreiten. Irgendwann alarmiert er auch die Polizei oder kommt zusammen mit Alfred sogar her. Aber Vogel streitet alles ab, und man wird ihm glauben, verlaß dich darauf. Wer kann sich denn vorstellen, daß ein angesehener Mann wie er, der eine Firma führt, mit Rauschgift handelt? Niemand, da bin ich sicher." Turbo lehnte sich an die kalte Betonwand. Er starrte gegen den ebenfalls grauen Boden. Nach einer Weile fragte er: „Wie wird es weitergehen? Hast du darüber schon nachgedacht?" „Lieber nicht." „Du befürchtest das Schlimmste?" „Genau." „Auch für Stefan?" -135-
„Da fällt seinem Vater bestimmt etwas ein." „Aber Krähe ist sein Sohn!" „Ich glaube kaum, daß so ein Typ wie Vogel Rücksicht kennt, wenn es um solche Geschäfte geht. Die haben das Rauschgift aus Ägypten hergeschafft und aus der Ausstellung geholt. Es muß da versteckt gewesen sein, glaube ich." „Und wo?" „Vielleicht sogar in der Mumie oder..." Turbo lachte. „Das kann ich nicht glauben." „Ich schon." Turbo ging zur Tür und untersuchte sie. Es hatte keinen Sinn. Er wollte nur irgend etwas tun, um nicht immer trübselig auf die Wände starren zu müssen. „Sieht verdammt mies aus", sagte Randy. „Man sieht kein Land, nur eben..." Er sprach nicht mehr weiter, weil er an die schlimmsten Folgen nicht denken wollte. Randy schaute schließlich, um überhaupt etwas zu tun, auf seine Uhr. „Jetzt sind wir schon fast zwanzig Minuten hier unten." „Und werden auch noch länger bleiben. In der Nacht sind ihre Chancen besser." „Wofür?" „Muß ich das noch sagen?" „Nein, hör auf." Randy holte ein Taschentuch hervor und schneuzte seine Nase. Danach sagte er: „Im Kino sieht das alles immer so leicht aus. Da sind die Helden locker, ich mache mir bald vor Angst in die Hose. Mist auch, verfluchter." „Sei mal ruhig." „Wieso?" „Sei ruhig, Mensch." Randy hielt den Mund. Er sah, wie Turbo, der dicht vor der -136-
Tür stand, sich gebückt und vorgebeugt hatte und ein Ohr gegen das kalte graue Metall preßte. Hörte er etwas? Jetzt richtete er sich wieder auf und drehte sich um. „Was war denn?" „Ich dachte, da wäre jemand gekommen. Schritte und so." „Die Tür schließt fugendicht." „Trotzdem. Metall leitet auch den Schall und..." Da klopfte es von außen gegen die Tür. „Glaubst du mir jetzt?" fragte Turbo. Randy nickte, kam näher und legte einen Finger auf die Lippen. Neben seinem Freund bückte er sich, um ebenfalls ein Ohr an das kalte Metall zu pressen. Wieder erklang das Klopfen! Die Jungen richteten sich auf. „Das sind bestimmt nicht die Dealer", wisperte Turbo. Randy klopfte zurück und erhielt Antwort. Irgendwie beruhigte diese „Erwiderung" die beiden, sogar ein knappes Lächeln glitt über ihre Lippen. Es wurde spannend. Noch geschah nichts. Sie warteten ab, mußten sich einfach auf den Unbekannten vor der Tür verlassen. „Hoffentlich hat er auch einen Schlüssel!" sagte Turbo. Randy dachte über etwas anderes nach. „Wer könnte das sein? Ich meine, eigentlich nur Krähe." „Ja, stimmt." Wenn es tatsächlich Krähe war, so hielt er sich in den folgenden Sekunden zurück, denn sie vernahmen nichts mehr, auch keine Schritte. Wieder mußten sie warten. Randy ging von der Tür weg. Er konnte nicht mehr still auf der Stelle stehenbleiben und mußte sich bewegen. „Wenn uns da nur keiner falsche Hoffnungen gemacht hat. Diesen verfluchten Kerlen traue ich alles zu, einfach alles." -137-
„Abwarten." Turbo war da ruhiger. Wieder verstrichen Minuten. Sie dehnten sich, sie zogen sich in die Länge, es wurde immer schlimmer. Selbst Turbo verlor jetzt seine Ruhe. Er lehnte rechts neben der Tür an der Wand und trat von einem Fuß auf den anderen. Hin und wieder trafen sich die Blicke der beiden Freunde. Keiner von ihnen schaute sehr hoffnungsvoll aus. Bis zu dem Augenblick, als Turbo abermals das Geräusch -138-
vernahm. „Da sind sie wieder." „Wer?" „Die Schritte." Er preßte das Ohr gegen den Stahl. „Ich... ich glaube, das sind zwei." Randys Gesicht verlor jegliche Farbe. „Dann kommen sie jetzt, um uns zu holen." „Meinst du?" „Ja, was sonst!" Turbo trat von der Tür zurück. Er blinzelte mit den Augen, als wären ihm Staubkörner hineingeraten. Angestrengt schaute er auf das graue Rechteck, hinter dem jetzt dumpfe Geräusche aufklangen, als wäre jemand dabei, etwas wegzuräumen. Die Verriegelung schnappte zurück... Danach hörten sie ein schmatzendes Geräusch. Sehr langsam wurde die Tür nach außen gezogen. Das Licht vom Gang traf mit dem im Innern des Kellers zusammen. Eine Gestalt erschien. Es war Stefan Vogel! Er nickte den beiden zu. Auch Krähe war bleich. Er hielt ein Tablett so, daß es auf seinen Armen lag. Trotzdem zitterte er. Die Gläser und die Colaflaschen klirrten gegeneinander. „Hier", sagte er mit krächzender Stimme. „Mein Vater hat erlaubt, euch was zu trinken zu bringen." „Und mehr nicht!" sagte hinter ihm eine scharfe Stimme. Ibrahim war mitgekommen. Er stand wie ein Fels im Gang. Eine sichtbare Waffe trug er nicht, aber er fühlte sich stark genug, um gegen die drei Jungen anzukommen. Schon einmal hatte er sein Messer gezeigt. Krähe kam näher. Er drehte dem Ägypter den Rücken zu und starrte die beiden Freunde an, als wollte er sie hypnotisieren. Dabei bewegte er auch die Lippen. Er sagte irgend etwas. Randy und Turbo mußten schon vom -139-
Mund ablesen, was er wollte. Jetzt oder nie... Das hatte er „gesagt", bückte sich und stellte das Tablett auf den Boden. Während er hochkam, hauchte er: „Mit der Flasche..." „Komm jetzt!" Stefan dreht sich um. „Was reden Sie überhaupt mit mir? Sie sind doch nur eine Nebenfigur." Der Araber lachte. „Dein Vater wird dir die Ohren schon über dem Kopf zusammenziehen, darauf kannst du dich verlassen." „Der zeigt Ihnen höchstens, wo es langgeht. Aber gut, ich komme, ich..." Er blieb plötzlich stehen. Seine Blicke wechselten zwischen den Freunden und Ibrahim hin und her. „Was ist denn?" fragte der Ägypter. „Ich habe den Flaschenöffner vergessen." Er räusperte sich und schob die dunkle Haarsträhne zurück. „Ich muß noch mal zurück und den Öffner holen." „Du bleibst hier!" „Wir können ohne Öffner die Flaschen nicht aufbekommen. Sollen wir die Hälse kaputtschlagen?" „Das ist mir egal." „Seien Sie doch nicht dumm. Mein Vater hat erlaubt, daß Randy und Turbo etwas zu trinken bekommen. Wenn sie Hunger haben, werde ich ihnen auch etwas bringen. Aber es gibt trotzdem eine Möglichkeit. Ich kann die Flaschen hier an der Tür öffnen." „Wieso?" „Am Schloß." Der Junge deutete an die äußere Seite. „Da kann ich es schaffen. Schauen Sie sich die Kante an. Es dauert nur einen Moment, nicht länger." Der Ägypter überlegte. Er wußte nicht, ob man ihn auf den -140-
Arm nehmen wollte oder nicht. Auch für Randy und Turbo nahm der Druck zu. Es kam darauf an, wie der Ägypter reagierte. Stefan wollte nicht so lange warten. Er bückte sich wieder und hob die erste Flasche hoch. „Dann mach es." „Danke." Ibrahim ließ Stefan nicht aus dem Blick. Der tat ganz harmlos, stellte sich in Positur und brachte den Deckel in die Nähe der etwas vorspringenden Metallkante. Die Berührung ließ er noch zu, mehr aber auch nicht. Dann schleuderte er die Flasche blitzschnell nach rechts. Es war ein unheimlich harter, gezielter, aber auch sehr überraschender Wurf, mit dem Ibrahim nicht gerechnet hatte. Die volle Colaflasche wuchtete gegen sein Kinn und erwischte ihn auch noch am Hals. Der Ägypter taumelte zurück. Erst die Gangwand hielt ihn auf. Das alles dauerte seine Zeit, die Stefan, Randy und auch Turbo nutzten. Krähe hätte erst nicht zu rufen brauchen, die beiden anderen waren schnell wie der Blitz. Sie stürzten sich auf Ibrahim. Wie schnell der Ägypter war, bewies er in den nächsten Momenten. Reflexartig verschwand seine Hand unter der Jacke. Er wollte das Messer hervorziehen, aber Turbo war um die berühmte Idee flinker. Er hatte seine Handkante bereits auf die Reise geschickt, und Turbo kannte sich aus. Der Araber schrie, als ihn der Treffer am rechten Arm erwischte und diesen buchstäblich lähmte. Er konnte ihn nicht mehr benutzen. Und Randy hatte sich an seinen linken Arm geklammert. Er riß den Mann von der Wand weg, um Platz zu bekommen. -141-
Den Polizeigriff hatte er geübt. Bis zur Schmerzgrenze drehte er den Arm des Arabers hoch, der sich bückte und aufstöhnte. „Und jetzt drehst du dich um!" befahl Randy mit keuchender Stimme. „Eine falsche Bewegung, ein Warnschrei, dann ist es vorbei."
„Keine Sorge, hier unten hört man nichts", sagte Krähe. „Atombombensicher, ihr wißt ja." „Klar!" Randy hatte sich Ibrahim zurechtgestellt. Der Ägypter stand gebückt und stierte in den offenen Raum. -142-
Die Gelegenheit! Randys Tritt in das verlängerte Rückgrat und sein gleichzeitiges Loslassen sorgten für den nötigen Schwung. Es glich schon einem kleinen Wunder, daß sich Ibrahim noch auf den Beinen halten konnte und nicht mit dem Gesicht zuerst auf den Beton schlug, als er in den Raum hineintorkelte. Er prallte vor die gegenüberliegende Wand und bekam nicht mit, daß die Jungen gemeinsam die schwere Tür zudrückten und sie auch wieder verschlossen. Sie lehnten sich von außen dagegen. Niemand konnte sprechen, nur schwer atmen. Krähe nickte. „Ich... hatte eine Angst", gab er zu. „Und wir erst mal", sagte Turbo. „Was machen wir jetzt?" „Wir müssen raus!" keuchte Randy. „Gibt es von hier einen Weg nach draußen?" Stefan nickte. „Ja, den gibt es. Der endet allerdings vor einer Tür, und die ist verschlossen." „Du hast keinen Schlüssel?" „Nein, ich nicht." „Dann bleibt nur der Weg nach oben?" fragte Turbo. „So ist es." „Da wird man uns erwischen." „Ich weiß nicht", sagte Stefan. „Unser Haus ist groß. Wenn wir vorsichtig sind, dann nicht." „Ihr habt doch überall Telefon", sagte Randy. „Auch hier unten im Keller?" „Nebenan, wo mein Vater arbeitet, da steht ein Apparat, aber da ist auch abgeschlossen." „Sieht nicht gut aus", stellte Turbo fest. -143-
„Besser noch als vor drei Minuten", sagte Randy. Er stieß Stefan in die Seite. „Los, du kennst dich aus." „Aber geht so leise wie möglich. Da ist noch dieser fiese Blonde. Wenn es nach dem ging, würden wir alle nicht mehr leben, glaube ich." „Wir packen das schon." „Ich weiß nicht, was danach geschieht", sagte Stefan leise. „Mein Leben ist irgendwie verpfuscht." „Denk darüber jetzt nicht nach", flüsterte Randy, „geh lieber vor." Stefan setzte sich in Bewegung. Sie schritten an weiteren Türen vorbei, betraten einen anderen Gang, in dem ein nicht so helles Licht brannte. Nur Beton umgab sie. Graues, sehr glattes Mauerwerk. Es gab kein Fenster, keine Öffnung, keinen Durchschlupf. Hier unten kam man sich wie lebendig begraben vor. Schließlich führte sie Krähe zu einer Betontreppe. Am Ende befand sich die Tür, die aus dem Kellerbereich hinausführte. Wieder ging Stefan vor. Bevor er öffnete, lauschte er, hörte nichts und zog die Tür dann auf. Er winkte. Randy und Turbo schlichen ihm nach. Sie betraten eine andere Welt. Warmes Licht umschmeichelte sie. Auf dem Boden lag eine lange, helle Teppichbrücke. „Wo sind wir denn hier?" hauchte Turbo. „In unserem Partyraum. Wenn wir viele Gäste haben, wird hier serviert." Ein sehr langer Tisch teilte den Raum. Aus zahlreichen Lampen fiel das warme Licht. Die Jungen sahen eine breite Doppeltür, die sich aufschieben ließ. Eine andere, schmaler als die Doppeltür, stand offen. -144-
Auf die schlich Stefan zu. „Wir nehmen den Umweg durch die Küche", sagte er. „Gut." Die Küche war ein Prachtstück. Sehr groß, sehr luftig. Sie lag ebenfalls an der Rückseite des Hauses. Längst hielt die Dunkelheit das Land umklammert. Die Blicke der Jungen glitten durch die Scheibe in das tiefschwarze Meer, aus Ebene und leichten Hügeln, nur hin und wieder von winzigen Lichtern unterbrochen. In der Küchenmitte befand sich die Kochstelle. Ein großes Viereck, über dem eine Dunsthaube schwebte. „Wo kommen wir denn hin, wenn wir die Küche verlassen?" fragte Randy. „In unsere Wohnbereiche." „Wo sich auch dein Vater und dieser Raski aufhalten?" Krähe nickte. Turbo hatte eine Idee. Er deutete auf das Fenster. „Da können wir rausklettern." „Geht schlecht." „Weshalb?" „Wenn du hinausschaust, wirst du sehen, daß dieses Haus am Hang steht. Du kannst ziemlich tief fallen." „Ich habe eine Terrasse gesehen." „Die steht auf Stützpfeilern. Die Erde für den Pool wurde angeschüttet. Beides ist weiter weg." „Wir werden es trotzdem riskieren", sagte Randy. Fragend schaute er Stefan an. „Kommst du mit?" „Ich kann nicht." Er senkte den Kopf. Niemand sollte sehen, daß er weinte. Randy und Turbo vergaßen ihre eigene Situation. Sie wußten nicht, was sie noch sagen sollten. Ihnen fehlten einfach die -145-
tröstenden Worte für den Freund. Diesmal machte Turbo den Anfang, wollte zum Fenster gehen, als Randy ihn stoppte. „Was ist denn?" Randy gab keine Antwort. Er war blaß geworden und huschte auf die zweite Küchentür zu. „Eine Stimme", sagte er, drückte die Tür nach außen und schaute durch den winzigen Spalt in den großen Wohnbereich der Vogels. Er war geräumig, aber nicht mit zahlreichen Möbelstücken vollgestopft. Deshalb klangen die Stimmen während einer Unterhaltung etwas lauter, obwohl das Holz dämpfte. „Das gibt es nicht!" hauchte Randy. Er drehte sich um, ohne die Tür wieder zu schließen. „Was gibt es nicht?" „Weißt du, wer hier im Haus ist, Turbo?" „Nein, wieso?" „Mein Vater!" Turbo stand da und sagte nichts mehr...
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Vater und Sohn Dr. Ritter ärgerte sich. In der Dunkelheit hatte er das versteckt liegende Ziel erst nach einigem Suchen gefunden. Außerdem hatte er vergessen, seine Frau anzurufen und ihr Bescheid zu geben. Er nahm sich vor, bei der Anschaffung des nächsten Wagens ein Autotelefon zu beantragen. Noch fuhr der alte Daimler. Er war nahezu unverwüstlich, wie früher der Käfer. Endlich sah auch Dr. Ritter die breite Hausfassade und entdeckte die beiden Autos vor der großen Doppelgarage. Ein BMW der Oberklasse und ein Opel Senator. Hätte Randy in seinem Bericht die Automarke erwähnt, wäre dem Wissenschaftler bestimmt ein Verdacht gekommen. So aber dachte er sich nichts dabei. Er ging davon aus, daß die Fahrzeuge zu den Bewohnern gehörten. Peter Ritter stieg aus und klingelte. Er hörte den melodisch klingenden Gong durch das Haus hallen, wartete ab und wollte schon ein zweites Mal schellen, als er endlich Schritte vernahm. Ein hochgewachsener, dunkelhaariger Mann öffnete ihm. Er trug einen grauen Anzug, ein weißes Hemd und eine Krawatte mit Streifen. Insgesamt eine elegante Erscheinung. „Guten Abend", sagte der Besucher. „Ja bitte?" „Mein Name ist Ritter. Ich habe gehört, daß mein Sohn sich bei Ihnen aufhalten soll." „Ihr Sohn?" Die breiten Augenbrauen zogen sich über der Nasenwurzel zusammen. „Ja, Randy." „Tut mir leid, ich..." -147-
„Hören Sie, Herr Vogel. Sie sind doch Herr Vogel?" „Der bin ich." „Und Sie haben einen Sohn namens Stefan, der auf das Gymnasium in der..." „Stimmt auch." „Dann bin ich hier richtig." „Aber trotzdem falsch. Ihr Sohn, wie hieß er noch gleich?" „Randy." „Ja, Randy. Er ist nicht hiergewesen." „Sein Freund auch nicht? Er wäre Ihnen aufgefallen, Herr Vogel. Ein Japaner." „Nein, hier war niemand." Dr. Ritter schüttelte den Kopf. „Seltsam. Dabei hat mich Randy von Ihrem Hause aus angerufen." „Tatsächlich? Das wissen Sie genau?" „Er hat es mir gesagt." Herr Vogel lachte, und es klang unecht. „Meine Güte, Herr Ritter. Sie wissen doch, wie die Jungens sind. Die sagen längst nicht immer die Wahrheit. Oder macht Ihrer da eine Ausnahme? Bei meinem jedenfalls ist das nicht der Fall." Peter Ritter räusperte sich. „Ich kann mir keinen Grund für eine Lüge vorstellen. Weshalb hätte mein Sohn mir erklären sollen, daß er sich hier befindet und mit einem Taxi nach Hause kommen wollte? Von diesem Haus aus. Er ist nicht angekommen, deshalb wollte ich bei Ihnen nachfragen." „Da haben Sie Pech gehabt. Am besten wäre es, Sie rufen bei den Eltern anderer Klassenkameraden an. Möglicherweise finden Sie ihn dort." „Ja, das werde ich wohl machen." Dr. Ritter schaute seinem Gegenüber in die Augen. „Wäre es Ihnen unangenehm, wenn ich kurz von Ihrem Apparat aus telefonieren könnte? Ich will -148-
nicht jeden Bekannten meines Sohnes anrufen, nur meiner Frau Bescheid geben. Sie macht sich sicher schon berechtigte Sorgen." Herr Vogel zögerte. Er sah aus wie jemand, der ablehnend reagieren wollte und sich im letzten Augenblick überlegte, daß dies wohl nicht der richtige Weg war. „Gut", gab er zögernd zu. „Kommen Sie rein. Sie können das Gespräch führen." „Ich danke Ihnen, Herr Vogel." Zwei Schritte hinter der Tür blieb Dr. Ritter stehen. „Sie wohnen hier noch nicht lange, wie ich von meinem Sohn hörte?" „Nein, wir zogen aus dem Ruhrgebiet her." „Ah so, ja. Sehr schön haben Sie es hier." Peter Ritter schaute sich um. „Wirklich außergewöhnlich, das alles." „Bitte, Sie wollten telefonieren." „Klar, entschuldigen Sie." Herr Ritter spürte, daß er störte, sagte aber nichts, schaute sich jetzt so um, daß Vogel nicht viel davon mitbekam. „Bitte sehr, Herr Ritter!" „Ein ungewöhnliches Telefon haben Sie." „Ja, ein mit uns bekannter Künstler hat die Haube entworfen. Sehr aus dem Rahmen fallend." Peter Ritter wählte. Während er die Nummer tippte, dachte er über seinen Besuch nach. Er hatte sich auch so hingestellt, daß er von der Diele aus in das offene Haus hineinschauen konnte und die Sitzecke aus hellem Leder sah, wo noch ein zweiter Mann Platz genommen hatte. Er war blondhaarig und trug eine Brille. „Ja, Ritter hier." „Marion, ich bin es." „Du-Peter! Und?" -149-
„Tut mir leid. Ich bin hier bei den Vogels, aber unser Sohn ist nicht hier." „Schon weg?" „Nein, Marion, nie hiergewesen. Sagt Herr Vogel." „Das kann ich nicht glauben!" vernahm Peter Ritter die spontane Antwort. „Nein, das glaube ich nicht." Er warf dem im Hintergrund wartenden Herrn Vogel einen knappen Blick zu, lächelte dabei und sprach eine Antwort in den Hörer, die diesem äußeren Bild nicht entsprach. „Mir geht es ebenso." „Was willst du tun?" „Mal sehen." „Kannst du offen reden?" „Nein." „Das habe ich mir gedacht. Bitte, Peter, laß dich auf nichts ein. Sei vorsichtig." „Werde ich, Marion, bis gleich." Er legte auf, drehte sich um und hob die Schultern. „Es tut mir leid, Herr Vogel, daß es etwas länger gedauert hat. Sie werden die Sorgen einer Mutter verstehen können." „Selbstverständlich. Uns geht es nicht anders." Er räusperte sich. „Ist Ihr Sohn immer noch nicht zu Hause eingetroffen?" „Nein, leider nicht." „Dann bleibt Ihnen nur die Möglichkeit, von der wir vorhin gesprochen haben." „Natürlich. Jedenfalls danke ich Ihnen, daß Sie so freundlich gewesen sind und mir Ihr Telefon zur Verfügung gestellt haben." „Ich bitte Sie, das ist doch eine Selbstverständlichkeit." „Es ist bald wieder Elternabend. Werden wir uns dort sehen, Herr Vogel?" -150-
„Oh, das ist schwer zu sagen. Wissen Sie, ich habe viel zu tun. Meine Firma expandiert. Da arbeite ich oft genug zwölf und mehr Stunden am Tag. Auch heute abend habe ich noch eine Besprechung mit einem Geschäftspartner. Man kann oft nicht so, wie man wollte." „Das geht mir ebenso." Herr Vogel ging bereits zur Tür. Peter Ritter warf noch einen Blick auf den Besucher. Der Mann hatte seine Sitzhaltung verändert. Sie kam ihm jetzt gespannt vor. Außerdem schaute er direkt in Richtung des Besuchers, als würde er darüber nachdenken, ob ihm diese Person bekannt war oder nicht. „Tut mir leid, daß ich Ihnen nicht helfen konnte, Herr Ritter. Aber manchmal gibt es eben Tage, da läuft alles verkehrt." „Sie sagen es, Herr Vogel." Peter Ritter nickte dem Mann kurz zu. „Ich darf mich noch einmal bedanken." „Keine Ursache, Herr Ritter!" Dr. Ritter wollte schon gehen, da hörte er den hellen Ruf, fast schon einen Schrei, durch die Halle schallen. „Vatiiii...!" Dr. Ritter stand plötzlich auf dem Fleck, als wäre er mit dem Parkettboden verwachsen. Vogels Kopf ruckte herum. Er schaute in sein Haus hinein, in die Richtung, aus der der Schrei aufgeklungen war. Der Besucher war wie von der Tarantel gestochen von seinem Platz in die Höhe gesprungen. „Verdammt, das ist Randy!" „Ja, ich bin es, Vati!" Im Hintergrund entstand Bewegung. Auch Dr. Ritter hielt es nicht länger auf seinem Platz. Er wollte seinem Sohn entgegenlaufen, und das gefiel Toni Raski überhaupt nicht. „Stopp! Keinen Schritt weiter!" -151-
Raski löste sich aus der Nähe des Sessels, stand frei im Raum und hielt eine Waffe in der Hand. Mit der Rechten umklammerte er sie. Die Linke stützte das Handgelenk noch ab. Er wollte den Schuß nicht verreißen, wenn er feuern mußte. Sein Gesicht wirkte wie eingefroren. Die Augen hinter den Brillengläsern glichen kalten Steinen. Auch Randy, Turbo und Stefan hatten gesehen, wie sich die Lage veränderte. Sie blieben im Hintergrund. Schwer atmete Dr. Ritter aus. „So ist das also", sagte er. „Ja, so ist es!" hörte er hinter sich Vogels Stimme. „Sie hätten Ihre Neugierde etwas zügeln sollen. Jetzt ist es zu spät!" „Wozu denn? Um Ihre feinen Machenschaften aufzudecken?" Peter Ritter schoß mit seinen Bemerkungen ins Blaue hinein und traf trotzdem zielgenau. „Um Ihnen zu sagen, daß Sie mit Rauschgift handeln wie Ihr toller Geschäftspartner? Meinen Sie das, Herr Vogel?" „Sie wissen viel, zu viel. Wie Ihr Sohn und auch dessen Freund." Peter Ritter schaute zu den Kindern hin. Er sah auch einen dritten Jungen. „Weiß Ihr Sohn denn weniger?" „Jetzt nicht mehr." „Sie stecken in einer Zwickmühle, Herr Vogel. Die zieht sich immer mehr zu." „Ich kenne den Ausweg!" „Vielleicht Mord?" „Nicht unbedingt." „Wie beruhigend." „Ich werde Sie, Ihren Sohn, dessen Freund und auch mein eigenes Kind außer Gefecht setzen müssen." „Das wird Ihnen gelingen, meinen Sie?" „Ja, denn Ihr Sohn wird Ihnen bestimmt sagen können, wie es -152-
sich in einem atombombensicheren Keller lebt. Daß sie sich befreien konnten, war meine Dummheit. Ich war zu leichtgläubig meinem eigenen Kind gegenüber. Das bin ich jetzt nicht mehr. Diesmal werden Sie festsitzen. Zum Glück habe ich immer damit rechnen müssen, daß meine Tarnung auffliegt. Deshalb habe ich vorgesorgt." „Sie vergessen Ihre Frau!" „Aber Herr Ritter. Meine Frau kann sich auch allein durchschlagen. Sie ist versorgt. Wenn sie zurückkehrt, sitze ich längst im Flugzeug oder in der Bahn. Wer weiß..." Er lächelte kalt und sagte scharf: „Gehen Sie zu Ihrem Sohn!" „Ja, ist gut." Dr. Ritter nickte. Er hatte längst die schallgedämpfte Waffe in der Hand des Mannes gesehen. Seine Chancen waren sehr tief gesunken. Er näherte sich Toni Raski, der schmierig grinste. Die Mündung seiner Pistole blieb auf Peter Ritter gerichtet. „Waren Sie derjenige, der meinen Sohn und..." Dr. Ritter fragte nicht mehr weiter, denn ein anderer ergriff die Initiative. Es war Stefan Vogel! In diesem Augenblick wuchs der Jugendliche über sich selbst hinaus. Er war in der letzten Stunde durch eine Hölle aus Wechselbädern von Gefühlen gegangen. Er hatte alles mitbekommen, eine Welt war für ihn zusammengebrochen, und dieser Zusammenbruch hatte in ihm eine Trotzreaktion ausgelöst und ihn sehr stark gemacht. „Vater, du wirst nichts tun!" Er hatte mit zitternder Stimme gesprochen. Die einzelnen Worte schienen an einem dünnen Seil zu hängen, das jeden Augenblick reißen konnte. Es war zu hören, wie sehr er unter dem Druck stand, wie schwer es ihm fiel, sich gegen seinen Vater zu stellen, aber er war auch konsequent und ging den -153-
einmal angefangenen Weg zu Ende. Randy wollte ihn noch zurückhalten, der Satz erstarb ihm auf den Lippen.
Stefan Vogel, auch Krähe genannt, ging vor. Er starrte seinen Vater an. In seinen Augen brannten die Tränen. Der Junge ging langsam. Fast bei jedem Schritt zog er die Nase hoch, und er brachte mit dieser Reaktion seinen Vater in Verlegenheit. „Bleib stehen, Junge! Keinen Schritt mehr weiter, Stefan! Hörst du?" Krähe nickte, dann schüttelte er den Kopf. „Nein, diesmal gehorche ich dir nicht, Vater. Diesmal nicht, das verspreche ich dir. Du hast mir lange genug Befehle erteilt. Du hast mich an der Nase herumgeführt, du wolltest mich in deinem Sinne erziehen, jetzt aber bin ich an der Reihe. Leg die Pistole weg, Vater. Sie ist Gift. Waffen sind Gift für uns Menschen!" -154-
„Niemals!" Stefan schritt weiter. „Leg sie weg!" „Nein!" „Dann." Er holte tief Luft. „Dann werde ich sie dir abnehmen müssen, Vater!" Nach diesem Satz wurde es totenstill. Die Spannung stieg ins Unermeßliche. Wie würde sich Herr Vogel verhalten? Würde er seinen eigenen Sohn angreifen? Dr. Ritter hatte sich so gedreht, daß er Vogel anschauen konnte. Der Mann stand unter ungeheurem Streß. Sein Gesicht glänzte, als hätte es jemand mit Öl eingerieben. Auf seiner Stirn hatte sich der Schweiß gesammelt. Die Tropfen rannen in langen Bahnen nach unten und wurden von den Augenbrauen kaum mehr gestoppt. Sie sickerten in die Augen. Der salzige Schweiß verursachte ein Brennen, so daß Vogel zwinkern mußte. Auch Toni Raski stand nicht mehr so sicher auf den Beinen. Er atmete scharf und mit offenem Mund. Bisher war alles glattgelaufen, er hätte auch so gehandelt, wie es nötig gewesen wäre. Nun sah alles anders aus. War sein großer Boß dabei, nachzugeben? „He, Chef, spiel nicht verrückt! Denk an den Stoff. Das sind Millionen, Millionen sind das!" „Halten Sie den Mund!" sagte Vogel scharf. „Mann, ich drehe hier noch durch!" „Hüten Sie sich!" Und Stefan setzte seinen Weg fort. Die Bewegungen glichen der einer ferngesteuerten Puppe. Da war nichts Geschmeidiges mehr zu sehen. Jeder Schritt zeugte von einer gewissen Steifheit, jede Berührung der Sohle auf dem Parkett hörte sich überlaut an. Die Hälfte der Distanz hatte der Junge bereits hinter sich gebracht. Noch immer hielt sein Vater die Waffe fest. „Leg sie weg, Vater! Leg sie weg - bitte!" -155-
Vogel reagierte nicht. Er war zu einem Denkmal erstarrt. Seine Gesichtszüge schienen zerlaufen zu wollen, so stark transpirierte er. Die Lippen zuckten, die Nasenflügel ebenfalls. Es sah aus, als wollte er jeden Moment anfangen zu weinen. Stefan ließ seinen Vater nicht aus den Augen. Sein Blick saugte sich an dessen Gesicht fest. Vater und Sohn starrten sich an, sie „sprachen" stumm miteinander. Dennoch stellte der Junge eine Frage: „Würdest du es fertigbringen", flüsterte er mit seiner Stimme, die kaum seiner eigenen glich, „auf mich zu schießen? Auf dein eigen Fleisch und Blut? Würdest du das tun, Vater? Gib Antwort. Jetzt und hier. Vor allen Zeugen!" Mein Gott, laß alles gut ausgehen, betete Randy mit zitternden Lippen. Bitte, lieber Gott... „Mein... mein eigen Fleisch und Blut", keuchte der Mann. Dieser Satz hatte ihn getroffen, sehr tief getroffen, wie die nächsten Sekunden bewiesen. Ein Zittern durchlief seine Gestalt. Er erfaßte jeden Teil der Körpers, auch den rechten Waffenarm. Das fast schon Unglaubliche - oder das Normale - geschah. Der rechte Arm des Rauschgiftbosses sank nach unten. Zunächst kaum zu erkennen, dann bewegte sich die Mündung. Sie zeigte nicht mehr in den Raum, sie kippte dem Boden entgegen, und auch der Griff der Finger lockerte sich. Sie konnten die schwere Waffe nicht mehr halten. Zudem war die Innenfläche der Hand schweißnaß geworden. Die Pistole mit dem überlangen Lauf rutschte ihm aus der Hand. Mit einem dumpfen Geräusch polterte sie zu Boden und blieb dort liegen. Der Junge brauchte noch drei Schritte. Die legte er schneller zurück. Und dann schrie er nur ein Wort, bevor er in die Arme seines Vaters fiel. -156-
„Danke!" Beide - Vater und Sohn - hielten sich umarmt. Sie standen bewegungslos und beide weinten. Einer nur sprach. Es war Stefan. „Ich habe meinen Vater wiedergefunden", sagte er. „Ich habe dich in diesem Augenblick zurückbekommen. Ich... ich liebe dich... Vati..." Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Toni Raski stillgehalten. Jetzt nicht mehr. „Okay, ihr könnt euch lieben, wie ihr wollt!" schrie er. „Ich will den Stoff!" Und plötzlich rannte er los! Schießen wollte er wohl nicht, das hätte er sonst längst getan. Er war hinter dem weißen Gift her, das so viele Menschen ins Verderben riß. „Rührt euch bloß nicht!" brüllte er, lief auf die Haustür zu und zielte mit seiner Waffe in den Raum. „Ich schieße sofort, und ich treffe verdammt gut. Verlaßt euch darauf." Sein Blick flackerte. Die Nerven zum Zerreißen gespannt, konnte der Mann jeden Augenblick in Panik ausbrechen. Auch Dr. Ritter tat nichts. Seine Waffe steckte noch in der Tasche. Er wollte sie nicht benutzen. Sollte Raski fliehen. Sie würden ihn bekommen. An der Tür blieb er noch einmal stehen. „Los, Vogel, die Schlüssel! Deine Wagenschlüssel!" Herr Vogel warf sie ihm zu. Geschickt fing Raski sie mit der linken Hand auf. „Wunderbar, du toller Vater, du! In einer halben Minute bin ich weg." Er lachte noch einmal schrill in das Haus hinein, machte auf dem Absatz kehrt und rannte nach draußen. Sofort setzte sich Randy in Bewegung. Auch Turbo blieb an seiner Seite. Sie liefen auf Dr. Ritter zu, der die Jungen zurückhielt. „Kinder, bleibt hier. Laßt ihn fahren." „Der kommt nicht weg!" meldete sich Stefan. -157-
„Wieso nicht?" „Ich habe bei den Wagen alle Reifen zerstochen!" In einer anderen Situation hätte man darüber lachen können. Nicht in dieser hier. Der Fluch, den Raski ausstieß, war trotz verschlossener Tür im Haus zu hören. Auch das fast wütend klingende Anlassen des Motors, der zwar satt und rund lief, doch der Wagen kam nicht von der Stelle. Dafür kehrte Raski zurück. Wutentbrannt stürmte er wieder in das Haus. Damit hatte Dr. Ritter gerechnet und sich neben der Tür im toten Winkel aufgebaut. Raski kam - und schlug einen Salto. Blitzschnell hatte Dr. Ritter sein Bein vorgestreckt, über das Raski in seinem blinden Eifer gestolpert war. Er dachte nicht mehr an die Waffe, an das Schießen, er schlug schwer wie ein Stein auf den harten Parkettboden und rutschte noch vor, bis er den Rand eines Teppichs erreicht hatte.
Regungslos blieb er liegen. -158-
Innerhalb einer Sekunde war er entwaffnet. Dr. Ritter hatte die Pistole an sich genommen und schickte seinen Sohn zum Telefon, damit dieser die Polizei anrief. Stefan Vogel und sein Vater aber standen noch immer da und umarmten sich. Und der Mann sagte einen sehr wichtigen Satz. „Nie hätte ich geschossen, Stefan! Nie. Ich... ich kann doch nicht auf meinen eigenen Sohn..." Er verstummte und schämte sich seiner Tränen nicht... Es war keine fröhliche Heimfahrt, die Peter Ritter mit Randy und Turbo zwei Stunden später antrat, nachdem sie der Polizei berichtet hatten, was sie wußten, und die Beamten das Rauschgift aus dem Kofferraum des BMW geholt hatten. Jeder hing seinen Gedanken nach, aber Randy konnte einfach nicht länger schweigen. „Was geschieht jetzt mit Herrn Vogel?" „Er wird für Jahre hinter Gitter wandern." „Und Stefan?" „Muß lernen, sein Schicksal zu meistern. Zusammen mit seiner Mutter. Da muß auch sie umdenken." Randy schüttelte den Kopf. „Ich kann das noch alles nicht begreifen. Dabei ging es mit einem Besuch in der Ausstellung los. Schon stolpert man über Rauschgift. Was hatte diese Ausstellung überhaupt damit zu tun? Weißt du das, Vati?" „Ja. Diese Leute haben das Gift im Sarkophag transportiert, in dem auch die Mumie ihren Platz gefunden hat." „Wirklich?" Auch Turbo staunte. „Ibrahim Nassai hat es einem Polizisten gesagt. Es sollte einer der perfektesten Schmuggelwege sein, die man sich je ausgedacht hatte. Ein Irrtum, was wiederum beweist, daß sich Verbrechen nicht lohnen, auch wenn sie noch so raffiniert und intelligent ausgeführt werden." Keiner der Jungen wollte widersprechen. Turbo und Randy -159-
interessierte mehr das Schicksal ihres Klassenkameraden. Falls er auf der Schule blieb und nicht wegzog, nahmen sie sich fest vor, sich um Stefan zu kümmern. So etwas war für die zwei vom Schloß-Trio Ehrensache. Und Ela Schröder würde ihnen sicherlich beipflichten...
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