Der Nobelpreisträger John Steinbeck erscheint in dieser Sammlung kleiner Werke als Dichter wie als Mensch in einem selt...
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Der Nobelpreisträger John Steinbeck erscheint in dieser Sammlung kleiner Werke als Dichter wie als Mensch in einem seltsam klaren Licht. Kurzgeschichten, Memoiren, Impressionen, Essays strahlen ihn gleichsam von verschiedenen Seiten an, und zwischen diesen Strahlen wird unversehens sein Wesen transparent. Die Sammlung mutet an wie ein persönliches Gespräch mit Steinbeck, in dem er – wie nutzlos wäre sonst auch das Gespräch – die Unterhaltung führt. Wäre es ein Abend mit ihm, sei es in den USA beim Whisky, sei es beim Burgunder in Frankreich, so vergäße man diesen Abend nie. Steinbeck plaudert, lacht, erzählt und berichtet. Er bezaubert durch Klugheit und Witz, und er ist dabei ein Philosoph mit Charme. Die Themen wechseln, denn es ist ein munteres Gespräch. Sprudelnd erzählt er Unglaubliches, das er pfiffig und verschlagen minutenlang als wahr erscheinen läßt, und berichtet dann wieder aus seinem eigenen Leben Dinge, die handgreiflich und unbezweifelbar wahr sind. Ernst und Scherz wechseln. Nimmt er ein neues Thema auf und wendet er es betrachtend in seinen Händen, so zweifelt man zuweilen, ob Trauer oder Lust um seine Mundwinkel zuckt. Manchmal schwankt man noch am Schluß, ob, was er sagte, heiter war oder ernst. Denn Steinbecks Humor springt auf und ab über dessen das ganze Sein umfassende Skala, von der Clownerie über den Witz, über die scharfe Satire bis zu jener guten, lächelnden Weisheit, die auch die Last der drückenden Fragen anhebt. Dem Autor im «Heiteren Floh», dessen «Weltanschauung so pessimistisch ist, daß er im ganzen Land gefeiert und verehrt wird», steht Steinbeck ebenso fern wie dem anderen, «dessen Verse so tief sind, daß er sie selbst nicht versteht». Jedes Thema dieses Gespräches aus Geschichten, Memoiren, Pariser Impressionen, Essays behandelt er vielmehr klar, voller Menschenliebe und im Vertrauen auf eine vernünftige, bessere Zukunft.
JOHN STEINBECK wurde am 27. Februar 1902 in Pacific Grove in Kalifornien geboren. Er ist deutsch-irischer Abstammung. Nach dem Besuch der Highschool studierte er einige Jahre an der Stanford Universität. 1925 übersiedelte er nach New York und arbeitete zunächst als Hilfsarbeiter, später als Reporter. Ende der zwanziger Jahre kehrte er nach Kalifornien zurück, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Zuerst blieb ihm jedoch der Erfolg versagt, so daß er sich seinen Lebensunterhalt in verschiedenen Berufen verdienen mußte. Die erste große Dichtung, die ihm internationale Geltung verschaffte, war 1939 der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Roman «Früchte des Zorns». Ihm folgte 1952 als zweiter Höhepunkt seines Schaffens das amerikanische Epos «Jenseits von Eden». Seine Erzählung «Die Perle» ist eine gleichnishafte Dichtung über das Leben. 1962 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen.
JOHN STEINBECK
DIE GUTE ALTE UND DIE BESSERE NEUE ZEIT
DIANA VERLAG KONSTANZ
Ins Deutsche übertragen von Günter Wandel Umschlagzeichnung von Christoph Albrecht
Alle deutschen Rechte vorbehalten © Copyright 1964 by Diana Verlag Zürich Diana Verlag, Konstanz, Neuhauser Straße 19 Gesamtherstellung: J. Ebner, Ulm/Donau, Frauenstraße 77
INHALTSVERZEICHNIS ZUM HEITEREN FLOH, Kurzgeschichten Zum heiteren Floh ...................................................................... 11 Gleichmut der Größe .................................................................. 19 Bubblegum .................................................................................. 23 ICH HATTE MIR ALLES ANDERS GEDACHT Erinnerungen Duell ohne Blut ........................................................................... 37 Alle meine Autos ........................................................................ 48 Ich hatte mir alles anders gedacht ............................................. 59 Bei den Weinbauern von Poligny ............................................. 70 Geburt eines New Yorkers ......................................................... 83 Sehr geehrter Herr Steinbeck! .................................................. 102 MEIN EIGENES PARIS, Impressionen Ansprache an eine Stadt ............................................................ Das steinerne Schiff .................................................................. Mein eigenes Paris .................................................................... Ehrengruß ................................................................................. Dichter auf dem Laufsteg ......................................................... Suche nach einem Göttersitz .................................................... Adieu mon Paris .......................................................................
111 114 118 122 126 130 134
MEINE REVOLUTION, Essays Meine Revolution ..................................................................... Das trotzdem wahre Wunder ................................................... Nationen an der Angel .............................................................. Kennzeichen der Wahlkandidaten ........................................... Aristokratischer Vorschlag ....................................................... Ein Vielverkannter: der Tourist ............................................... Englischer Rosenkohl ............................................................... Von Sternen und Menschen .................................................... Adel der Leistung ...................................................................... Die gute alte und die bessere neue Zeit ...................................
141 144 148 155 163 166 170 174 179 182
ZUM HEITEREN FLOH Kurzgeschichten
ZUM HEITEREN FLOH
Manchmal wird an mir gerügt, ich hörte nicht die schrillen Dissonanzen unserer Zeit, ich verschlösse meine Ohren vor den dumpfen Trommeln des drohenden Verderbens unserer Welt. Doch der Donner pflegt zwar schrecklich zu grollen, aber er verklingt, und auch die wütendste politische Leidenschaft verebbt. Was dauert, sind die kleinen Wahrheiten, des Lebens sanfte Melodien. Während ich diese Zeilen schreibe, fährt MendèsFrance mit dem Schicksal der Welt in seinen Händen nach Genf; England und Amerika beutelt ein Sturm, und auch die Sowjets träumen hinter ihren eisernen Bettvorhängen schwer. Schriebe ich darüber, dann wären solche historischen Gewitter schon vergessen, wenn diese Zeilen gedruckt erscheinen, dann wären jene Ereignisse schon von den Spinnweben der Vergangenheit bedeckt, und neue Stöße erschütterten statt ihrer die Welt. Seit unsere Gattung von den Bäumen herabgekommen und in die Höhlen gekrochen ist, geriet sie von Katastrophen in Katastrophen, und sie hat überlebt. Daß sie überlebte, verdankt sie nicht den großen Taten, sondern den kleinen Episoden. Da gab es einmal und gibt es sicherlich noch heute in einem Pariser Vorort – nicht allzuweit von der Place de la Concorde und nicht allzunah – das kleine Restaurant «Zum heiteren Floh». 11
Auf der schmalen Terrasse davor standen drei Tische, und daran saßen stets drei Stammgäste. Der erste war ein Dichter, dessen Verse so tief waren, daß er selbst sie nicht verstand. Der zweite war ein Architekt, dessen Ruf sich aus seiner Leidenschaft herschrieb, mit der er rechte Winkel verdammte. Der dritte war ein Maler, der mit unsichtbarer Tinte malte. Natürlich hatte jeder der drei seine Schule, und so wurde im Lauf der Zeit der Heitere Floh den Touristen als einer der Brennpunkte des französischen Geisteslebens gezeigt. Indessen war den Besuchern bei aller Bedeutung des Heiteren Flohs für das europäische Kunstschaffen seine ausgezeichnete Küche nicht gleichgültig. Madame wirtschaftete mit den Augen und den Pranken einer Tigerin. Madames Mutter verlieh dem Etablissement die Aura leicht verblichener Eleganz; es war wohlbekannt in der Provence, daß ihre Tochter unter ihrem Stand geheiratet hatte. Drei Söhne suchten frühmorgens in den Hallen Geflügel aus, kauften Karotten ein und wuschen spätabends das Geschirr ab. Angèle, die sechzehnjährige Tochter, war bereits mit unsichtbarer Tinte gemalt und als Heldin in dem Gedicht «Der ButterTraktor» besungen worden; der Architekt jedoch verabscheute sie, weil sie rechte Winkel nicht verschmähte. Das waren gewiß Trümpfe. Allein sie reichten noch nicht aus, die Beliebtheit des Heiteren Flohs zu erklären. Vielmehr rührte sie, wie nur recht und billig, vom Genie seines Eigentümers und Chefs her, von Monsieur Amité. Er war ein fleißiger, warmherziger, aber auch ein ehrgeiziger Mann. Er hätte bequem leben und friedlich sterben 12
können, aber er erhob Anspruch auf Unsterblichkeit. Und das begann damit, daß sein Lokal im Michelin, dem Reiseführer, mit einem Stern ausgezeichnet wurde. Dieser Stern trug an allem Schuld. An der Milch dieses Sternes stillte Monsieur Amité den Durst seines Ehrgeizes, doch je mehr er trank, desto mehr dürstete ihn. Monsieur Amité träumte, plante, lebte und litt nur für den zweiten Stern im Michelin. Er wurde geheimnisschwanger. Niemand durfte sich ihm nahen, wenn er murmelnd eine Zauberformel einem Soufflé zutat, niemand – außer einem würdevollen, ernsten Kater namens Apollo. Ihm vertraute Monsieur Amité, in seine Alchimie vertieft, seine Geheimnisse, seine Zweifel, seine Hoffnungen und seine hohen Ziele an, während Apollo zusammengerollt auf seinem Schemel neben dem Hackbrett lag. Zuweilen tunkte der Meister seinen Zeige- und Mittelfinger zugleich in die Sauce, führte den Zeigefinger zur Zunge und hielt den Mittelfinger Apollo zum Kosten hin. So studierte er die kritischen Urteile des Katers und gewann damit eine hohe Achtung vor dessen Geschmack. Viel Wasser war unter den Seinebrücken hindurchgeflossen, seit Michelin den ersten Stern erteilt hatte, eine trübe, ereignislose Zeit war vergangen. Da berichtete eines Tages ein Spion, für den kommenden Mittwoch stehe der Besuch des Michelin-Inspektors zwecks neuerlicher Feststellung der Güte des Lokals bevor. Höchste Spannung ergriff den Heiteren Floh, vom Chef bis zum Küchenjungen und Kartoffelschäler. Die Stammgäste weiteten erregt ihre Diskussionen bis zu den entferntesten Tischen aus. Die Mutter von Madame holte 13
den Spitzenkragen ihrer Großmutter aus der Kampferkiste. Madame kommandierte ein Reinigungskorps, das den Staub aus Ecken und Winkeln aufscheuchte, wo er seit der großen Weltausstellung des Jahres neunzehnhundert unbehelligt geruht hatte. Angèle verschob die Bekanntgabe ihrer dritten Verlobung. Monsieur Amité setzte Apollo in einen Schließkorb, den er dafür hatte herstellen lassen, und ging mit ihm tief in den Vincenner Wald. Dort, wo der Wald am dichtesten ist, dachte Monsieur lange nach. Und hier erfand er ein Meisterstück, eine Symphonie des Geschmacks, einen Triumph, der die Augen auch des verwöhntesten Gourmets mit Freudentränen füllen mußte. Monsieur war zufrieden und beglückt. Seine Nerven waren ruhig, sein Puls ging regelmäßig. Indes entwickelte sich der Mittwoch vom Morgen an als Tragödie. Es regnete unentwegt, und alles war trostlos und grau, die Erde wie der Himmel. In den Hallen waren Karotten und Salat schlaff und kraftlos, das Kalbfleisch war zu weich oder zu zäh, und unter den fünfhundert Seezungen, die gesichtet, befühlt, berochen wurden, hatte keine einzige die notwendige Farbe, den richtigen Geruch, eine gute Figur. Zweifellos war im Olymp eine Verschwörung gegen Monsieur Amité im Gang. Die Götter intrigierten gegen ihn. Seine Ruhe war hin, seine Nerven wanden sich unter der Haut wie Schlangen. Er verkrachte sich mit Madame, nannte die Mutter von Madame eine alte Hexe, verwünschte alle drei Söhne und sagte Angèle, sie sei eine dumme Gans. Das mochte noch hingehen. Dann aber geschah das 14
Schreckliche: er trat Apollo auf den Schwanz, und als er laut aufjammerte, gab ihm Monsieur – ich kann es kaum niederschreiben – einen Fußtritt in sein Hinterteil. Apollo tat einen letzten, langen Schrei. Dann blickte er eine Weile auf den Mann, der einst sein Freund gewesen, rümpfte ein wenig die Nase und schritt gemessenen Ganges durch die Küche, durch die Gaststube und zum Haustor des Heiteren Flohs hinaus. Würdig, moralisch ein Sieger, kehrte er dem Haus sein schmachvoll geschändetes Hinterteil. Er wurde zuletzt auf dem Weg nach einer wenig bekannten Gegend gesehen, wo er zahlreiche Freunde und Freundinnen sowie einige Nachkommen hatte. Da stand nun Monsieur Amité am Morgen seines Sternentages in seinem derart selbst verwüsteten Reich. Die zerstörte häusliche Harmonie ließ sich noch verwinden. Doch nun fehlte ihm sein vertrauter Freund. Die kupfernen und blechernen Töpfe und Pfannen klapperten kühl und entrüstet, die Wände stimmten mit unwirschem Echo in den Chor der Geringschätzung ein. Monsieur Amité redete und beschwor. Aber er redete und beschwor ins Leere. Seine Stimme fand keinen verständnisvollen Widerhall auf dem Schemel neben dem Hackbrett, vergebens suchte des Meisters Blick den weichbepelzten, schnurrenden Partner und Berater. Apollo war fort. Monsieur Amité hatte sich selbst zerstört. Seine sonst so sichere Hand zitterte, seine Überlegenheit war hin. Sein instinktives Abwägen der Ingredienzen wurde plump. Zunge und Gaumen waren empfindungslos, und sein Geruchssinn trog. Den Tränen nahe, kochte er seinen großen Entwurf aus dem Vincenner Wald. 15
Der Regen strömte weiter. Madame tobte, die Mutter von Madame saß in einer Ecke wie eine aufgeweichte Semmel, und Angeles Schluchzen klang die Treppe herunter. Der Inspizient des Hauses Michelin kostete. Er war zu wohlerzogen, um das Essen von sich zu schieben. Aber als Monsieur Amité aus der Küche kam, empfing ihn keine Umarmung, kein leuchtender Blick, keine von jenen gemessenen und doch beredten Gesten der Fingerspitzen, mit denen der Kenner bei leisem und dezentem Schnalzen der Lippen Vollendung ausdrückt. Nein, düster blickte das Schicksal, und seine Höflichkeit war Eis. Er verneigte sich wortlos, zog seinen Mantel an und schritt zu seinem nächsten Besuch in den strömenden Regen. Monsieur Amité schlich in die Küche, ließ seinen Kopf auf das Hackbrett sinken und weinte. Doch allmählich wich seine Verzweiflung dem Vorwurf gegen sich selbst. «Bin ich denn ein Mensch?» wütete er gegen sich. «Nur ein Schuft tritt seinen besten Freund in den Hintern. Ein Unmensch bin ich, kein wildes Tier ist so gemein!» Schmerz ist eine gute Medizin. Monsieur Amité hob das Haupt vom Hackbrett und trocknete seine Tränen. «Wie muß Apollo zumute sein? Sicher ist er elend und durchnäßt», dachte er. «Habe ich auch seine Freundschaft für allezeit verloren, so könnte ich vielleicht doch noch auf seine Vergebung hoffen.» Hoffnung gibt Tatkraft, und Monsieur machte sich ans Werk. Er wollte ein Mahl bereiten, das der Vergebung Apollos würdig war. Sorgsam bedachte er die Saucen und alle die Kompositionen, die dem Kater von Monsieurs 16
Mittelfinger besonders geschmeckt hatten. Jetzt war seine Hand wieder sicher, sein Würzinstinkt wieder voll intakt. Als er fertig war und kostete, wußte er, alles war gewonnen; ein Kater, der solcher Himmelsspeise widerstehen konnte, war für das Irrenhaus reif. Zuletzt fügte er, um den Freund ganz sicher zurückzugewinnen, noch ein zauberisches Kräutlein bei, eine magische Zutat. Ein Goldhauch wie der Atem der unsterblichen Göttinnen umgab das Gericht, als Monsieur es leicht gebräunt dem Ofen entnahm. Sorgfältig füllte er Apollos Napf und lief in den Regen hinaus, um seinen Liebling zu suchen. Zuweilen sind auch die Götter versöhnlich gestimmt. Dann streicheln sie, wen sie zuvor gar zu grausam gezaust haben. Wie ließe sich sonst erklären, was dann geschah? Der Michelin-Mann hatte, als er den Heiteren Floh verließ, den Weg verfehlt, und zu der Zeit, als er bereits in der nächsten Gaststätte hatte sein wollen, war er noch weit vom Ziel. Wer stellte ihm da ein Bein, daß er stürzte und fast in den Kanal gefallen wäre? Wer führte ihn irre, bis er, der kultivierte Feinschmecker, frierend, hilflos, durchnäßt und mit leerem Magen im Regen umherstolperte? Wer brachte ihn bis dorthin, wo er dann in der Hoffnung auf einen schlichten Teller warmer Suppe die Lichter des Heiteren Flohs warm und sanft durch die kalten rieselnden Tropfen schimmern sah? Die Gaststube war leer. Der Inspektor wankte in die Küche, und dort weiteten sich Augen und Nase angesichts der halbvollen Kasserolle auf dem Herd. Eine Stunde später saß Monsieur Amité mit dem zu17
sammengerollten, schnurrenden Kater Apollo auf dem Schoß in der Gaststube. Ihm gegenüber saß der Inspizient von Michelin und sprach mit jenen gemessenen und doch beredten Gesten, unter denen der Kenner bei leisem und dezentem Schnalzen der Lippen Vollendung ausdrückt. «Hm», überlegte er, «ein Tropfen bulgarischer Bitter. Eine Spur Muskat und etwas Rosmarin. Vorzüglich. Und ausgezeichnet der Hauch der Perlzwiebeln. Aber da ist noch etwas, mein Freund, etwas, was die Komposition einzigartig zusammenhält, etwas, was sie rundet und was ihr den letzten Aufschwung gibt. Was ist das? Was kann es nur sein? Was ist die Zauberwürze, die dieser Speise die Krone aufsetzt?» Monsieur Amité lächelte wissend, und seine Finger kosten Apollos seidene Ohren. Zwei Sterne glitzerten in den Kateraugen, bald würden sie im Michelin glitzern. «Ja», sagte Monsieur, «man hat eben so seine kleinen Geheimnisse, das werden Sie verstehen.» Heute sitzt am Stammtisch des Heiteren Flohs ein bekannter Autor. Seine Weltanschauung ist so pessimistisch, daß er im ganzen Land gefeiert und verehrt wird. Autobusse mit Ausflüglern und Fremden halten an, und selbst die blasierten Pariser reiben sich die Hände und schnalzen mit den Lippen, wenn sie eintreten. Und heute ist Monsieur Amité der größte Konsument von Baldrian in der ganzen Welt.
GLEICHMUT DER GRÖSSE
Beim ersten Frühlingswind durchdringt New York, diesen Block aus Granit, Stahl, Beton und Glas, etwas wie ein ländlicher Hauch. Händler fahren in den Straßen Karren mit Geranien umher, und seriöse Männer tragen in ihren Aktenmappen Samentütchen oder in der Abendzeitung Stecklinge nach Haus. Bäume, ohne Chance groß zu werden, erscheinen auf Dachgärten zu einem aussichtslosen Kampf gegen Schwefelsäure und Ruß. Für mich wird das immer ein heikles Problem. Denn ich habe einen kleinen Garten, wo ich ein paar Sträucher hege, die mein Tun mißtrauisch und ohne rechte Zuversicht verfolgen. Alljährlich regt sich nun auch in mir der Geist des Frühlings, und ein paar Wochen lang ist mein Garten ein richtiger Garten. Dann denke ich stets, diesmal halte er sicher in aller Pracht den ganzen Sommer durch. In diesem Jahr hatte der Winter lange gedauert, und wochenlang hatte man sich vergeblich nach dem Frühling gesehnt. Als es dann wirklich lau wehte, wurde ich ein wenig wirr. Ich pflanzte. Ich pflanzte rote Geranien und hängenden Efeu in neue Blumenkästen, pflanzte wilden Wein an eine Ecke des Hauses, von wo aus er das ganze Haus mit grüner Frische umschmeicheln würde. So stand es im Prospekt. Sicherheitshalber strich ich trotzdem noch die Fensterläden blütenweiß. Und in einen dazu einfühl19
sam hergerichteten Kohlenkasten pflanzte ich eine Glyzinie. Alles war höchst attraktiv. Leider war es besonders attraktiv für Kinder und Hunde. Deshalb besorgte ich mir eine Ladung Ziegel, einen Sack Zement und etwas feinen Sand, um eine kleine Schutzmauer um mein wachsendes Paradies zu bauen. Dann hockte ich mich auf den Gehsteig und verfugte ächzend die Ziegel in Reih und Glied. Unsere Straße ist breit, und die Häuser sind flach. Deshalb scheint die Sonne ungehemmt auf den Asphalt. Hier wärmen sich dann die Hausfrauen zwischen ihren Einkaufswegen und erörtern die Tagesfragen. Ihre Kinder drücken inzwischen auf die Klingeln. Während ich kauernd Ziegel an Ziegel pappte, näherten sich wortreich zwei mollige Damen, überzeugt, die Frühlingspracht meines Hauses gebe ihrem Gespräch einen neuen Impuls. Ihr kleiner Junge schlich sich mit erhobenem Finger zu meinem Klingelknopf. Doch der Schwung meiner Maurerkelle bewog ihn zu klugem Verzicht. Die Frauen waren unterdes an meinen Werken interessiert. «Fensterläden», sagte die eine. «Blumenkästen», sagte die andere. «Geranien», sagte die erste. «Bestimmt wird das ein Restaurant.» Ich wandte mich wieder den Ziegeln zu. Ein ältlicher Ire rollte heran. Er hatte Schlagseite nach Steuerbord und kämpfte offensichtlich gegen eine heftige Dünung an. Er warf Anker und sicherte sein Gleichgewicht, indem er sich mit einer Hand an der Mauer hielt. 20
«Ich gehe nach Hause, ins Heim», sagte er schwer und ernst. «Toll», bestätigte ich ihm. «Ja, mein Junge. So schlimm ist es dort gar nicht, wie es klingt. Sehen Sie, heute früh hatte ich Geld genug für eine Schachtel Zigaretten und ein Glas Bier.» Das Glas Bier war allerdings eine Untertreibung von gigantischem Ausmaß. «Die Zigaretten sind nun alle. Hätten Sie vielleicht …?» Er bediente sich aus meinem Etui. Genußvoll sog er den Rauch ein. Dann sagte er: «Das sind Ziegel.» «Tatsächlich. Es sind Ziegel. Gewöhnliche rote Ziegel.» «Glauben Sie, ich sehe das nicht? Ich bin Maurermeister, mein Junge.» ‹Mein Junge› ist gut: ich bin dreiundfünfzig. «Seit vierzig Jahren Maurermeister.» «Ich wollte eigentlich rosa Ziegel, die virginischen. Aber die waren nicht da.» «Macht nichts, mein Junge.» Seine schwimmenden Blicke streiften über mein Werk. «Die roten sind härter. Wenn auch nicht so schön.» «Meine Arbeit zu sehen, ist für einen Maurermeister sicher eine Qual.» «Ach wo, mein Junge. Leben und leben lassen!» Ich folgte seinem Blick und erschrak. «Ui je! Die Mauer ist ja schief!» Seine Zigarette war aus. Doch er sog feierlich und ernst daran. «Glauben Sie nicht, daß ich Sie kritisiere!» «Nein, nein. Aber immerhin – Sie als Maurermeister …» «Gerade deshalb», sagte er. «Sehen Sie, das ist nämlich so: Nehmen Sie einmal an, Sie sind ein Maler. Ein richti21
ger. Ein ganz großer, so einer wie – sagen wir mal – Michelangelo. Und nun gehen Sie spazieren, und plötzlich stoßen Sie auf Churchill und Eisenhower, wie die da so herumpinseln vor ihrer Staffelei. Nun, mein Junge? Stellen Sie sich dann hin zu einer langen Kritik? Nein. Machen Sie nicht. Also pusseln Sie nur ruhig weiter an Ihren Ziegeln. Ich muß nach Hause.» Er setzte seine Nase Richtung Nordnordwest, rollte sich von der Wand ab und nahm bei gutem Rückenwind Kurs auf das Heim.
BUBBLEGUM
Ich hatte gehofft, die seltsamen Vorfälle, die mich in letzter Zeit Tag und Nacht in Erregung hielten, würden vor der Neugier der Öffentlichkeit verborgen bleiben. Doch bald fiel mir auf, wie das Ladenpersonal seine Blicke niederschlug, wenn ich eintrat, wie mir die Zeitungsfrau nachsah. Man sprach davon. Aber was sprach man davon! Ein paar üble Lügengeschichten drangen sogar bis zu mir vor. Deshalb betone ich: kein Wort daran ist wahr. Leider bieten indessen diese jammervollen Märchen gerade durch ihre Unglaubwürdigkeit primitiven Gemütern Stoff zu neuem Klatsch. Gestern besuchten mich sogar zwei Vertreter einer bekannten Boulevard-Zeitung mit Millionenauflage. Die Geschichte, sagten sie, oder jedenfalls eine Geschichte, habe bereits die Grenzen meines Stadtbezirks gesprengt und liege nun auf dem Schreibtisch der Redaktion. Die Zeitung verspreche sich vom Abdruck einen sensationellen Erfolg. Angesichts solcher Entstellungen weiß ich nun keinen anderen Ausweg, als selbst zu schildern, was als «die Affäre in der Avenue de M …» bereits so unsinnige Kreise zog. Ich berichte schlicht, kommentarlos und wahr. So kann sich jeder ein nüchternes Urteil bilden über das, was wirklich geschah. Zum Beginn des Sommers zog ich mit meiner Familie nach Paris. Wir mieteten ein hübsches kleines Haus in 23
der Avenue de M… Es gehörte zum Besitz einer derart alten und adelsreinen Familie, daß ihre Mitglieder noch heute darauf beharren, die Bourbonen seien als Anwärter auf den Thron Frankreichs nicht diskutabel. Meine Familie besteht derzeit aus meiner Frau, einer erwachsenen Tochter und zwei kleinen Söhnen, und natürlich auch aus mir. Ergänzt wird unser Haushalt außer durch die Concierge, die sozusagen ein Bestandteil ist, durch eine französische Köchin mit beträchtlicher Fachkenntnis, durch ein spanisches Hausmädchen und meine Sekretärin, eine Schweizerin, deren ehrgeizige Tüchtigkeit höchstens noch von ihrer Moral übertreffen wird. In diesem Kreise also spielten sich die Dinge ab. Falls nach einem Verantwortlichen dafür gesucht wird, muß ich sagen, es war John. Verantwortlich im strengen Sinne war er eigentlich nicht, doch was ihm zur Last fällt, ist gewissermaßen die Vaterschaft. John ist mein Jüngster, acht Jahre alt, lebhaft, hübsch, und er hat Prachtzähne. In Amerika hat John Bubblegum gekaut. Er tat es gern, wenn er auch nicht gerade süchtig war. Das Niveau der Großmeister dieses Sports hatte er allerdings noch nicht erreicht, aber er war geschickt darin und hatte seine Amateurzeit bereits hinter sich. Für europäische Leser ist hier vielleicht eine Erklärung über das Wesen und die Grundregeln dieses Sports nützlich. Bubblegum, Blasengummi, unterscheidet sich in Größe und Material vom gewöhnlichen Kaugummi. Jedes Stück ist so groß wie eine stattliche Auster. Seine Substanz, basierend auf der Grundlage von Kaugummi, ist durch die Zutat von Buna S und einem äußerst dehnba24
ren Stoff der Kohlenstoffreihe verstärkt. Er setzt den Kaumuskeln kräftigen Widerstand entgegen. Außerdem hat er einen scheußlichen Geschmack. Vermutlich wollte der Fabrikant den Benutzern jede Chance geben, sein Produkt zu verabscheuen, um dadurch die Verantwortung für die Bubblegumsucht von sich zu wälzen. Nach längerem und lebhaftem Ankauen wird nun der Bubblegum zwischen Zunge und Zähne gepreßt und durch gleichmäßiges aber kräftiges Blasen über die Lippen hinaus zu einem ständig wachsenden Ballon geformt. Dieses Verfahren setzt man solange fort, bis der Ballon mit einem sanften Knall explodiert. Dabei verteilen sich die Fetzen und Fäden des zerrissenen Gummis über des Kauers Kinn, Nase, Wangen und Haar. Mit einer kreisenden Bewegung seines Zeigefingers sammelt er dann die Stücke wieder ein, steckt sie in den Mund und kaut erneut, bis der Gummi wieder aufgeblasen werden kann. Um dieses Sportes willen ist die Jugend Amerikas bereit, Substanz und Geschmack des Produkts zu mißachten und jede wache Stunde außer den Mahlzeiten mit Kauen und Pusten zu erfüllen. Unterhaltung und Spiele sind aus den Zusammenkünften der Jugendlichen geschwunden, statt ihrer werden Blasen erzeugt und zerplatzt. Indessen wird von den europäischen Lesern nicht Beifall oder Verständnis für diesen Sport erwartet; es genügt vielmehr, wenn sie den mechanischen und technischen Prozeß des Bubblegums begreifen. Eine der erfreulichsten Seiten des Sommers in Paris war, daß John bei der Abreise aus Amerika vergessen hatte, Bubblegum mitzunehmen. Die Sprache des Kindes 25
wurde deutlich und zusammenhängend, der stiere Blick seiner Augen schwand. Doch diese glückliche Zeit dauerte nicht lange. Ein alter Freund der Familie brachte auf seiner Europareise den Kindern, sichtlich in der Absicht, uns allen eine Freude zu bereiten, einen reichlichen Vorrat dieses tierischen Gummis mit. Die vertraute Situation stellte sich wieder ein. Die Kaumuskeln der Kinder waren in ständiger Bewegung, ihre Worte kämpften sich ihren feuchten Weg durch den Kloß vor ihren Lippen, die Augen wurden starr wie bei einem frisch gestochenen Schwein. Da ich nichts davon halte, meinen Kindern viel zu verbieten, fand ich mich damit ab, daß der Sommer doch nicht so schön werden würde, wie ich gehofft hatte. Nur in einem Fall weiche ich von meiner Gewohnheit des Laissez-faire ab. Wenn ich an einem Buch oder einem Stück oder einem Essay arbeite, kurzum wenn ich mich ganz konzentrieren muß, dann zwinge ich meiner Umgebung zu meinem und meiner Bequemlichkeit Nutzen stahlharte Gesetze auf. Eins dieser Gesetze bestimmt, daß man weder Kaugummi kauen noch Blasen platzen lassen darf. Der kleine John hat das so vollständig begriffen, daß er es für eine Art Naturgesetz hält, über das man nicht mault und das man nicht umgeht. Manchmal kommt er, weil es ihm Spaß macht und mir auch, in mein Arbeitszimmer und setzt sich still neben mich. Er spricht kein Wort und bleibt, solange es sein Temperament erlaubt. Dann geht er still auf Zehenspitzen hinaus, und wir sind beide durch diese wortlose Verbundenheit ein bißchen reicher. 26
Vor zwei Wochen saß ich nachmittags an meinem Schreibtisch und arbeitete an einem wichtigen Essay. Gerade war ich im besten Zuge, als ich den unverwechselbaren, sanften Knall eines platzenden Bubblegums vernahm. Bestürzt und entrüstet blickte ich auf John. Er kaute. Seine Backen waren rot, seine Kaumuskeln gespannt. «Du kennst das Gesetz», sagte ich kalt. John traten Tränen in die Augen. Während seine Kiefer weiterkauten, brach sieh mühsam seine Bubblegumstimme durch den Klumpen Bahn: «Ich habe es nicht getan!» «Was?» schrie ich, «du hast es nicht getan? Ich habe es genau gehört, und jetzt sehe ich es genau.» «Ach, Pap», stöhnte er, «ich war es wirklich nicht. Ich kaue ihn gar nicht. Er kaut mich.» Ich musterte ihn eindringlich eine Minute lang. Er ist ein ehrliches Kind und lügt höchstens dann, wenn dabei wirklich viel herausschaut. Mir kam der Gedanke, der Bubblegum habe sein Werk getan und mein Sohn habe seinen Verstand verloren. Es galt also, Ruhe zu bewahren. Behutsam streckte ich die Hand aus. «Gib her!» Tapfer bemühte er sich, den Gummi aus seinen Zähnen zu lösen. «Er läßt mich nicht los», jammerte er verquetscht. «Mund auf!» Ich schob meine Finger zwischen seine Zähne, versuchte das glitschige Ding zu fassen, glitt immer wieder ab und zog schließlich mit großem Kraftaufwand den Klumpen heraus. Ich legte ihn auf einen Stoß frischen Schreibpapiers. Dort zitterte er ein paar Sekunden lang. Er schien zu 27
schaudern. Dann begann er, sich langsam zu rollen, zu schwellen und zu schrumpfen. Er führte die gleichen Bewegungen aus, als werde er gekaut. Lange starrten wir beide stumm auf das Schauspiel. Ich suchte nach einer Erklärung. Entweder träumte ich, oder in dem Bubblegum auf meinem Schreibtisch offenbarten sich neue, bislang unbekannte Naturgesetze. Während ich dem Tun des widerlichen Dinges zusah, gingen mir hundert Gedanken durch den Kopf. Schließlich fragte ich: «Wie lange kaut es dich schon?» «Seit gestern abend.» «Und wann hat es sich zum erstenmal – so verhalten?» John sprach vollkommen aufrichtig: «Bitte glaube mir, Pap, als ich gestern abend zu Bett ging, legte ich es unter mein Kopfkissen wie stets. In der Nacht wachte ich davon auf, daß es in meinem Mund war. Ich legte es wieder unter das Kopfkissen, und heute morgen hatte ich es wieder im Mund. Es lag ganz still. Aber als ich richtig wach war, fing es an, sich zu bewegen. Nun wurde mir klar, daß ich den Gummi nicht mehr beherrschte. Er war selbständig. Ich wollte ihn herausnehmen, und das ging nicht. Du hast ja selbst gesehen, wie schwer das war, für dich mit aller deiner Kraft. Deshalb kam ich in dein Zimmer. Ach, Pap, was ist bloß los?» «Ich muß darüber nachdenken», sagte ich. «Das ist ja kein ganz normaler Fall. Wir müssen die Sache näher untersuchen.» Während ich sprach, veränderte sich der Gummi. Er hörte auf, sich selbst zu kauen, und schien ein wenig zu ruhen. Und dann glitt er mit jener fließenden Bewegung, 28
wie sie sonst für einzellige Lebewesen charakteristisch ist, quer über den Schreibtisch auf meinen Sohn zu. Starr vor Staunen begriff ich erst gar nicht, was er wollte. Von der Schreibtischkante fiel er auf Johns Knie und kletterte rasch an seinem Hemd hoch. Da verstand ich. Er wollte wieder in Johns Mund. John starrte entsetzt und gelähmt auf das scheußliche Ding. «Halt!» schrie ich. Ich sah meinen Jungen in Gefahr. In solchen Momenten kann ich gewalttätig werden. Ich packte das Monstrum, das bereits an seinem Kinn hinauf kroch, lief damit hinüber in den Salon, riß das Fenster auf und schleuderte es auf die in regem Verkehr belebte Fahrbahn der Avenue de M … Meines Erachtens haben Eltern die Pflicht, ihren Kindern, wenn irgend möglich, Schocks fernzuhalten, die Alpträume, Traumata und andere Übel nach sich ziehen könnten. Als ich mein Zimmer wieder betrat, saß John da wie zuvor. In seiner Stirn stand eine tiefe Falte. Er starrte ins Nichts. «Mein Junge», sagte ich, «wir beide haben etwas erlebt. Wir wissen, es ist passiert. Aber es wäre schwer, das einem anderen begreiflich zu machen. Stell dir vor, du solltest das deiner Mutter und deinen Geschwistern erzählen. Sie lachten dich glatt aus.» «Klar», sagte John teilnahmslos. «Deshalb schlage ich dir vor, wir begraben die Geschichte in unserem Gedächtnis und sprechen zu niemandem davon. Ja?» Ich wartete auf seine Antwort. Als sie jedoch ausblieb, sah ich ihn an. Sein Gesicht war von Entsetzen verzerrt. 29
Die Augen schienen aus den Höhlen zu quellen. Ich folgte seinem Blick. Unter der geschlossenen Tür schob sich ein papierdünnes Blatt herein, kroch weiter und schwoll zu einem grauen Klumpen an. Auf dem Teppich ruhte es etwas aus und wanderte dann in der Art einer Raupe mit rhythmischen Bewegungen auf meinen Sohn zu. Ich unterdrückte meinen Schreck, stürzte mich darauf und warf es auf den Schreibtisch. Von der Wand holte ich eine afrikanische Kriegskeule, die dort zwischen Trophäen hing, ein furchterregendes, kupferbeschlagenes Instrument, und schlug auf den Gummi ein, bis mir der Atem wegblieb und mein Opfer bloß noch aus einigen jämmerlichen Fetzen Kunstharz bestand. Ich holte Luft. Doch im selben Augenblick ballten sich die Fetzen zusammen zur Kugel, und die kaute sich sogleich. Sie kaute sich sogar besonders schnell und intensiv, was aussah, als lache sie über meine Ohnmacht. Dann kroch sie wieder auf meinen Sohn zu, der sich in eine Ecke gekauert hatte, stöhnend vor Schrecken und Angst. Ich wurde ruhig und kühl. Ich ergriff das ekelhafte Ding, wickelte es fest in mein Taschentuch und lief damit aus dem Haus. Drei Straßen weiter lag das Seineufer. In weitem Bogen warf ich das Tuch in den träge dahinströmenden Fluß. Den Rest des Nachmittags verbrachte ich damit, meinen Sohn zu beruhigen und ihm zu versichern, er habe nun keinen Grund mehr zur Furcht. Aber er war nervös. Zur Nacht mußte ich ihm eine Schlaftablette geben. Meine Frau verlangte, ich solle den Arzt holen. Ich wagte nicht, ihr zu erklären, warum ich es unterließ. 30
In der Nacht durchdrang das Haus ein schrecklicher, verstümmelter Schrei. Alle wurden wach. Ich rannte in das Kinderzimmer und machte Licht. John saß aufrecht im Bett, versuchte zu schreien und wühlte mit seinen Fingern im Mund, in einem Mund, der dabei, greulich anzusehen, immerwährend kaute. Zwischen seinen Fingern bildete sich gerade eine Blase und platzte mit einem leisen, feuchten Knall. Wie sollten wir jetzt den Vorfall geheimhalten? Wir mußten alles erklären. So schwer war das nicht. Denn ich hatte den wogenden Gummi mit dem spitzen Instrument, das sonst zum Eiszerkleinern dient, auf dem Brotbrett festgespießt. Dort konnte ihn jeder kauen sehen. Ich bin stolz auf das Verständnis und den Trost, den ich allseits fand. Eine Familie ist eine großartige Einrichtung. Unsere französische Köchin löste das Problem, indem sie sich weigerte, daran zu glauben, selbst als sie es sah. «Das ist unvernünftig», sagte sie ablehnend; denn sie war ein vernünftiges Mitglied eines vernünftigen Volkes. Das spanische Hausmädchen holte den zuständigen Pfarrer und bezahlte eine Teufelsaustreibung. Der Pfarrer rackerte sich zwei Stunden ab und ging dann weg. Das sei wohl eher eine Sache des Magens als der Seele, sagte er. Zwei Wochen lang belagerte uns das Scheusal. Wir warfen es in den Kamin. Darin sahen wir es zischend und knallend mit blauen Flämmchen vergehen und zu grauem Brei in der Asche zerschmelzen. Noch vor dem Morgengrauen schlüpfte es wieder durch das Schlüsselloch ins Kinderzimmer, eine Aschespur an der Zimmertür hinterlassend. Wieder weckten uns die Schreie unseres Jüngsten. 31
Verzweifelt fuhr ich weit in die Provinz und warf es aus dem Auto. Noch vor Tagesanbruch war es wieder da. Wahrscheinlich war es auf die Fahrbahn gekrochen und hatte sich an einen Autoreifen geklebt. Als wir es John aus dem Mund rissen, trug es noch das Muster des bekannten Gleitschutzes von Michelin. Ich begann zu verzagen, müde und enttäuscht. Meine Kampfkraft ließ nach, da sich jeder Versuch, den Bubblegum loszuwerden, als vergeblich erwies. Erschöpft legte ich ihn eines Abends unter eine Glasglocke, die gewöhnlich über mein Mikroskop gestülpt wird. Ich ließ mich in einen Sessel fallen und starrte das Untier resigniert an. John schlief in seinem kleinen Bett, nachdem ich ihm ein Schlafmittel und das Versprechen gegeben hatte, das Ding nicht aus den Augen zu lassen. Ich zündete mir eine Pfeife an und beobachtete es. Zunächst kroch es emsig unter der Glocke hin und her. Anscheinend suchte es einen Ausweg. Ab und zu machte es eine Pause. Vermutlich dachte es nach. Dabei schickte es mir kleine Blasen entgegen. Ich spürte seinen Haß. In diesem Zustand der Apathie eröffnete sich meinen Gedanken der Weg zu jener Erklärung, die mir solange gefehlt hatte. Ich hatte den biologischen Hintergrund übersehen. Offensichtlich war durch die ständige und innige Berührung mit dem jugendkräftigen Leben meines Sohnes ein Hauch seines Lebens in den Gummi übergegangen und damit auch ein Teil Intelligenz. Was so entstand, war freilich nicht der geweckte, offene Verstand des Jungen, sondern einfach berechnende, böse Schlauheit. Wie konnte es an32
ders sein? Der Gummi hatte ja keinen Anteil an Johns Seele, und Verstand ohne den wägenden Ausgleich der Seele muß notwendigerweise böse sein. Gut, sagte ich mir. Eine Hypothese über seinen Ursprung ist da. Beschäftigen wir uns also jetzt mit seinem Charakter. Was denkt er? Was will er? Was liebt er? Was braucht er? Meine Müdigkeit war verflogen, meine Gedanken hüpften wie Drahthaarterriers. Ich wußte, was er braucht. Er muß zurück zu seinem Wirt, meinem Sohn. Er muß gekaut werden. Sonst ist es mit seinem Leben aus. Während ich so überlegte, quetschte der Gummi einen platten Ausläufer seiner selbst unter den Rand der Glasglocke und schob sich gleich weiter darunter, so daß sich der schwere Glassturz um ein paar Millimeter hob. Ich lachte und rückte die Glocke wieder zurecht. Ich lachte fast wahnsinnig vor Freude, siegestrunken. Aus dem Eßzimmer holte ich mir einen Plastikteller von unserem Picknickgeschirr. Dann stülpte ich die Glasglocke um, so daß das Untier auf den Glasgrund purzelte, und bestrich sorgsam und gemächlich den Rand der Glocke mit einem garantiert wasser-, alkohol- und säurefesten Plastikschweißmittel, legte den Teller auf die so präparierte offene Rundung der Glocke und drückte ihn darauf fest, bis er unlösbar am Glas haften blieb. Schließlich stellte ich die Glocke wieder aufrecht und beleuchtete meinen Gefangenen mit der Leselampe. Der Bubblegum rannte im Kreise und suchte einen Weg zur Flucht. Dann stellte er sich mir gegenüber und feuerte eine ganze Kette von Blasen gegen mich. Durch die Glaswand der Glocke hörte ich ihre wütenden Knalle. 33
«Dich habe ich, mein Lieber», rief ich. Das war vor einer Woche. Seither bin ich nicht von der Glocke gewichen. Ich wende den Blick nur ab, um nach der Kaffeetasse zu greifen. Wenn ich ins Badezimmer muß, paßt meine Frau auf. Heute kann ich nun die folgende gute Nachricht bekanntgeben: Während des ersten Tages versuchte der Bubblegum, auf jede nur denkbare Art zu entkommen. Einen weiteren Tag und eine Nacht lang war er erregt und nervös, als werde er sich jetzt so recht seiner Lage bewußt. Am dritten Tag kaute er weiter, nur sehr viel schneller, wie ein Baseball-Spieler. Am vierten Tag wurde er sichtlich schwächer, und mit Freude beobachtete ich eine Spur von Trockenheit auf seinem bisher glatten und blanken Äußeren. Heute, am siebenten Tag, kann ich glauben, es ist bald vorbei. Der Gummi liegt mitten auf dem Teller. Hin und wieder schwillt er an und fällt dann wieder zusammen. Seine Farbe ist jetzt ein schmutziges Gelb. Als mein Sohn einmal ins Zimmer kam, sprang er erregt auf, sank aber bald um so hoffnungsloser auf den Teller zurück. Vermutlich wird er noch heute nacht seinen Geist aufgeben. Dann grabe ich im Garten ein tiefes Loch, senke ihn mitsamt der Glocke hinein, schütte es zu und pflanze Geranien darauf. Ich hoffe, dieser sachliche und wahrheitsgetreue Bericht wird die dummen Geschichten entkräften, die man sich in der Stadt erzählt. Es ist nun wohl klar, daß sie nicht nur von A bis Z erlogen, sondern obendrein völlig unglaubwürdig sind.
ICH HATTE MIR ALLES ANDERS GEDACHT Erinnerungen
DUELL OHNE BLUT
In Italien suchten wir, meine Frau und ich, Kirchen und Altertümer. Altertümer seien überhaupt das beste, was ein Land produzieren könne, erklärte mir ein Mann in Florenz. Erstens gebe es keine Mühe mit dem Transport, denn die Touristen kämen her. Zweitens stehlen die Reisenden nichts, wenigstens wenn man aufpaßt. Und drittens werde die Ware durch Lagern immer noch altertümlicher. Man sitze einfach in der Sonne und kassiere das Geld. Dabei bleibe Zeit genug, über die vielen Touristen zu schimpfen, die das Land verpesten. Kurzum, Altertümer seien ein feines Geschäft. Weder meine Frau noch ich können Italienisch. Deshalb bedienten wir uns der Touristensprache, die nur in einer einzigen Geste besteht. Das geschieht so: Erklärt man etwas in Englisch einem Mann, der nur Italienisch kann, dann redet man sehr langsam und sehr laut und zieht dabei Grimassen. Zugleich bewegt man Daumen und Zeigefinger der einen Hand über der geöffneten anderen Hand gegeneinander, als melke man eine Maus in die Handfläche hinein. Was es bedeutet, weiß ich nicht; aber jeder tut es. Von Florenz fuhren wir nach Rom in einem Citroën, einem robusten, intelligenten und billigen, echt französischen Auto. Es ist stark – wenigstens solange die Straße 37
nicht ansteigt – und es ist individuell. Manchmal qualmt es, manchmal fährt es los, auch wenn niemand das Gaspedal berührt hat, und ab und zu weigert es sich, überhaupt zu fahren. Dann ist es zwecklos, an ihm herumzubasteln oder es zu beschimpfen. Man muß einfach weggehen und es nicht beachten. Nach einer kleinen Weile läuft es dann wieder. Rom ist verwirrend, und ich bin rasch verwirrt. Ich wußte in der Stadt nie, wo ich war. Es war ein heißer Spätnachmittag und der römische Verkehr ein regelloses Quirlen von Motorrollern, Autos, Fahrrädern, Fußgängern und Pferdekarren. An Straßenkreuzungen bewegten sich ausgezeichnet römisch aussehende Polizisten auf Podesten in tänzerischen Bewegungen, die keinerlei Einfluß auf den Verkehr hatten, es sei denn den, ihn noch ein wenig zu verlangsamen. Als wir endlich gemerkt hatten, wo unser Hotel lag, dauerte es noch eine gute Stunde, bis wir es erreichten. Ich brauchte den Zündschlüssel gar nicht zu drehen; der Wagen seufzte noch einmal und stand. In die Werkstatt mußte ich ihn schieben. Ich glaube, er hatte einen Nervenzusammenbruch. Die Rechnung lautete dann auf fünfzigtausend Lire, und es war nicht ersichtlich, daß an dem Wagen etwas getan worden war, außer vielleicht, ihn zu beruhigen. Auch unsere eigenen Nerven waren hin. Ich tropfte geradezu aus dem Auto und floß wie Sirup ins Hotel, um einen Hausdiener zu suchen. Als ich wieder herauskam, hatte ein Fotograf meine Frau gefragt, ob er mich wohl aufnehmen dürfe. Sie hatte geantwortet, vermutlich würde ich 38
ihn in meinem derzeitigen Zustand umbringen. Er knipste trotzdem, und ich war leider zu müde, ihn umzubringen. Der Platz vor dem Hotel wimmelte von Soldaten aus vielen Ländern. Alle waren schwer bewaffnet. Als wir nach dem Grund fragten, erfuhren wir auch die Ursache für das Verkehrschaos. General Ridgway war gerade in Rom eingetroffen, und die Kommunisten bereiteten einen Tumult vor. Zwar gab es keinen Tumult, aber alle Italiener versammelten sich, um zuzusehen, falls es doch einen gab. General Ridgway und seine Moglie wohnten in unserem Hotel. In Italien wird eine Frau Moglie genannt. Meine Frau wurde in manchen Zeitungen als «elegante Moglie» geschildert, was ihr gefiel. Jedenfalls wollte sie nun eilends den gesellschaftlichen Verkehr mit Mrs. Ridgway aufnehmen. Sie fuhren zusammen im Fahrstuhl abwärts. Mrs. Ridgway sagte müde: «Hallo.» «Hallo», sagte meine Moglie. «Heiß heute», sagte die Generalsmoglie. «Ja, sehr heiß», sagte meine Moglie. Da hielt der Fahrstuhl. Meine Frau berichtete mir, sie sei sehr nett, sehr hübsch und sehe kühl aus. Das war ein infamer Trick, denn kein Mensch sah an diesem Tag kühl aus. Wir fanden im Hotelrestaurant einen Platz am Fenster, und ich blieb hinter einigen Gläsern Bier für den Rest des Tages dort sitzen. Die vielen Soldaten vor dem Hotel hatten den Befehl, General Ridgway zu schützen, wenn die Kommunisten auf ihn schossen. Nie im Leben habe ich 39
mich sicherer gefühlt. Mir war, als hätte ich mich im Regen heimlich mit unter den Schirm eines anderen gestellt. Gegen vier Uhr morgens gab es eine Explosion. Mit einem Satz war ich aus dem Bett und am Fenster. Dort sah ich, wie vierzehn Soldaten gerade daran gingen, einen Autoreifen zu wechseln. Tags darauf verließ General Ridgway Rom ohne einen einzigen Tumult. Zuvor, in Paris, hatte es mächtige Tumulte gegeben. Aber die französische Regierung handelte jäh und brutal. Nicht nur steckte sie einige Demonstranten ins Gefängnis, nein, sie setzte sogar auch noch die Anführer fest. Das war regelwidrig und unfein. Denn im Normalfall werden bei einem Tumult eine Menge armer Leute und ein paar Polizisten verletzt, aber die Führer bleiben im Hintergrund und kalkulieren den Erfolg. Das französische Beispiel hatte die italienischen Kommunisten abgeschreckt. Sie demonstrierten nicht und fanden auch niemanden, der es für sie tat. So wurde man enttäuscht. In Italien nimmt man Schriftsteller ernst. Man schätzt sie ebenso hoch wie in den USA die Beine Lana Turners. Zunächst erschrak ich darüber. Hoffentlich gewöhne ich mich nicht daran, damit es mir daheim nicht fehlt. Mir fällt dabei ein, wie ich eines Nachts in New York aus einem Klub kam. Zwei Autogrammjäger standen vor der Tür. Der eine fragte: «Wer ist das?» und der andere antwortete: «Das ist niemand; drinnen ist Gregory Peck.» In Venedig und Florenz waren ein paar nette Berichte über meine Arbeit und mich erschienen. Deshalb war ich nicht überrascht, als mir in Rom ein Freund einen langen Artikel zeigte, worin ziemlich häufig mein Name stand. 40
Die Zeitung hieß L’Unità. Von der Überschrift begriff ich soviel, daß es ein offener Brief an John Steinbeck war. Ich war geschmeichelt und erfreut. Mein Freund sah mich verblüfft an und übersetzte dann. «Lieber Steinbeck!» redete mich der Briefschreiber, Enzio Taddei, an und zerlegte mich dann in einige Stücke. Allerdings nicht mich allein, keineswegs. Er benutzte mich beiläufig dazu, General Ridgway einen Mörder zu nennen, unser sehnliches Verlangen nach einem bakteriologischen Krieg darzustellen und die Dekadenz und Grausamkeit der amerikanischen Soldaten zu schildern. In Korea hätten unsere Truppen kleine Kinder als Fahrbahn für ihre Panzer benutzt, und nachts hätten sie infizierte Spinnen und Fliegen auf die Gesichter koreanischer Babies gesetzt. Unternähme ich nichts dagegen, schloß er, werde mich künftig kein Mensch als Schriftsteller achten. «Was in Korea geschah, reicht aus, den Abscheu der ganzen zivilisierten Welt zu erregen. Es sind nicht einzelne Untaten weniger, für die die Täter gefunden werden können, sondern es sind organisierte Verbrechen, angeordnet und geleitet von einem General.» Zuerst war ich amüsiert. Kritiken habe ich nie beantwortet. Das ist ein verlorenes Spiel. Man kann einem Journalisten einmal schreiben, ihm aber steht seine Zeitung täglich offen. Dann ärgerte ich mich. Dieser Taddei hatte meinen Namen nicht nur benutzt, um mich anzugreifen, sondern um die Aufmerksamkeit der Leser auf seine häßlichen Zwecke zu lenken. Wieviel Leute würden das lesen? Ich erkundigte mich und stellte fest, daß L’Unità die größte kommunistische 41
Zeitung Italiens war und eine Auflage von dreihunderttausend Exemplaren hatte. Rechnete man die Leute hinzu, die von den Zeitungen als Sekundärleser bezeichnet werden, dürften etwa eine Million Menschen die Ausführungen Taddeis über die USA lesen. Anderes kam hinzu; ich habe Erfahrungen als Journalist. Der Durchschnittsleser liest nicht sehr genau. In einer Woche würde ein großer Teil dieser Million glauben, das alles hätte ich von Amerika erzählt. Antwortete ich nicht, dessen war ich sicher, würden die Kommunisten laut verkünden, ich stimmte durch mein Schweigen zu oder hätte Angst. Ich wurde immer wütender. Mein Zorn nahm dabei die Gestalt von Höflichkeit und zuvorkommender Besorgnis für meine Frau an. Sie erschrak sichtlich über diese Reaktion. Entweder, glaubte sie, mußte ich plötzlich irre geworden sein, oder ich sei krank. Abwechselnd beruhigte sie mich und bot mir Medizin an. Ich beantwortete den offenen Brief. Voll Zorn über den Kerl, der mich für seine Politik einspannen wollte, schrieb ich zehn Seiten. Ich zerpflückte Taddeis Brief Punkt für Punkt. Er hatte Mißverständnisse und Irrtümer als Tatsachen genommen, und das war leicht durch Hinweise auf öffentliche Berichte zu widerlegen. «Glauben Sie selbst», schrieb ich, «an die zermalmten Kinder, an die gesprengten Hütten, die niedergemähten Flüchtlinge? Oder glauben Sie einfach, was man Ihnen zu glauben befiehlt? Darum frage ich Ihre unbeeinflußten Leser: Wenn wir so brutal zu den Flüchtlingen sind, warum kommen sie dann immer zu uns und nicht zu den Kommunisten?» Ausführlich ging ich auf seine Beschuldigungen ein, 42
wir wünschten einen Bakterienkrieg. Ich wies darauf hin, daß diese Waffe zuerst von den Sowjets erwähnt worden sei. Die Bakterien, die von den Vereinten Nationen in Korea abgeworfen worden seien, waren kleine Flugzettel. Die Zettel hätten die durchdringendste und unwiderstehlichste Bakterie der Welt enthalten: die Wahrheit. «Taddei», schrieb ich schließlich, «wissen Sie, wer die amerikanischen Soldaten sind? Sie sind unsere Söhne, die man von uns riß, als die Nation sie brauchte. Sie sind die geliebten Kinder unserer Bauern, unserer Bergleute, unserer Arbeiter, unserer Kaufleute, Bankiers, Schriftsteller und Künstler. Ich habe zwei kleine Söhne von sechs und acht Jahren. Wenn sie alt genug sind und wenn die Nation sie braucht, werden sie amerikanische Soldaten. Wollen Sie, Sie persönlich, nun noch behaupten, amerikanische Soldaten seien bösartig, degeneriert und brutal, dann sind Sie, Enzio Taddei, ein Lügner.» Meine Frau ging daran, blutstillende Mittel und Verbände herauszulegen. Sie erwartete ein Duell. Ich war wütend genug dazu. Dann fiel mir Abraham Lincoln ein. Als Geforderter würde ich die Wahl der Waffen haben. Lincoln soll einmal in einem solchen Fall als Waffe Kuhmist auf fünf Schritt Abstand gewählt haben. Ich beschloß, es ihm gleichzutun. Zum Schluß meiner Antwort an Taddei gab ich L’Unità das Recht, sie zu veröffentlichen. Täte sie es aber nicht oder kürzte oder veränderte sie meinen Brief, dann würde ich ihn veröffentlichen, schrieb ich, wo immer und so häufig ich könnte. Am Wochenende besichtigten wir wieder Kirchen und 43
Altertümer. Wir besahen uns das Kolosseum und trugen unsere Schulbucherinnerungen auf dem Forum Romanum umher. Im klangreichen Tone Ciceros, aber in weitaus schlechterem Latein klagten wir im Sitzungsraum des römischen Senats flammend Catilina an. Auch besahen wir Gebeine. Neben zerbrochenem Marmor und geköpften Statuen sind offenbar Gebeine Roms prominentestes Erzeugnis. Wir entwickelten uns derart zu Experten für Kirchen und Altertümer, daß wir bereits perfekt über Herkunft, Alter und Material streiten konnten. Dabei ließ meine Liebenswürdigkeit nach, und meine Frau war glücklich; ich war offenbar weder irre noch krank. Am Montagmorgen riefen die Unità-Leute an, als ich noch schlief. Es wurde ein Telefongespräch in ausgesuchter Höflichkeit und galanter Heuchelei. Sie seien glücklich über meinen Brief, erklärten sie. Ich sei glücklich, daß sie glücklich seien, sagte ich. Sie sagten, sie wollten ihn gern veröffentlichen. Ich meinte, das sei reizend von ihnen. Sie sagten, leider müßten sie natürlich Grenzen einhalten und deshalb den Brief ein wenig kürzen – nur wegen seiner Länge, versteht sich, nur wegen seiner Länge. Ich fand das edel. Indes, versicherte ich, ich sei kein wortreicher Autor. Und leider könne ich deshalb, so schmerzlich es mir sei, keine Kürzung gestatten. Ob ich darauf bestünde, daß der Brief so veröffentlicht werde, wie er sei? Gewiß, genau darauf. So freundlich verblieben wir. Ich legte mich wieder schlafen. Nach einer halben Stunde riefen sie mich erneut an. Sie wollten mich besuchen. Das wäre für mich eine riesige Freude, sagte ich. 44
Doch gleich darauf ärgerte ich mich. Nach bekannter Taktik würde niemals einer allein kommen. Außerdem würden sie behaupten, nicht Englisch zu können. Also mußte ein Dolmetscher teilnehmen, und es war nicht abzusehen, was dabei herauskäme. Da fiel mir Reynolds Packard ein. Er war hier in Rom Korrespondent der New York Daily News. Packard läßt sich nicht mit einem Satz beschreiben, oder man kann, wie man bei uns sagt, sein Bild nicht auf einen Daumennagel malen. Er ist groß, schweigsam und irisch. Ich möchte sagen, er ist unheimlich ruhig und gefährlich harmlos. Zudem spricht er gut Italienisch. Ich rief ihn an und fragte, ob er kommen wolle. «Yop», sagte er, und das war eine lange Rede für ihn. Die Sitzung verlief förmlich. Kommunisten scheinen nur paarweise aufzutreten wie die Polizisten in Los Angeles. Einer konnte sogar Englisch. Die Kommunisten fingen an. Sie mußten, denn ich sprach kein Wort. Der Brief Taddeis, sagte der eine, sei aus Hochachtung an mich gerichtet worden. Ich verneigte mich und lächelte. Packard schloß die Augen und kratzte sich lässig mit dem Zeigefinger den Bauch. Unglücklicherweise, fuhr der Sprecher fort, hätte ich die Absicht des Briefes mißverstanden, und deshalb wolle die Zeitung meine Antwort drucken, aus Respekt vor mir. Aber die Länge meiner Antwort mache sie verlegen. Die Zeiten seien schwer und das Papier knapp. Daher müsse mein Brief gekürzt werden, etwa um die Hälfte. Sicher würde ich mein Bestes tun. Ihr Interesse für mich schätzte ich tief, entgegnete ich. 45
Aber auch ich sei in Verlegenheit, und besser wäre es gewesen, Taddei hätte seinen Brief gar nicht erst geschrieben. Nun sei es aber geschehen, und meine Antwort sei so kurz wie nur möglich. Ich sei nicht als Wortverschwender bekannt, und Kürzen sei das schwierigste Geschäft in der schriftstellerischen Arbeit. Kürzen bedeute zwei Tage weniger Zeit für Kirchen und Museen. Und ich könne mich nicht eines einzigen Wortes erinnern, das ich streichen möchte – schon aus Hochachtung für Taddei. Der Sprecher wurde schärfer. Ob ich wisse, daß ein Redakteur nach italienischem Recht alles streichen könne, was ihm zu streichen beliebt? Nein, das wisse ich nicht. Aber wenn es so sei, könne ich nichts machen. Sie seien froh, daß ich das einsähe. Wenn sie den Artikel behutsam und geschmackvoll gekürzt hätten, würde ich sicherlich meine unverständliche Drohung, den Brief anderswo zu veröffentlichen, fallen lassen. Das sei keine Drohung, sagte ich. Das sei unabwendbar. Und ich dachte daran, wie jede nichtkommunistische Zeitung in Italien meinen Brief in voller Länge und unverändert bringen würde. Der Mann, der nicht Englisch konnte, sagte etwas in schnellem Italienisch. Sein Genosse antwortete in einer ebenso schnellen Rede. Packards Augen öffneten sich einen Spalt, um sich gleich wieder zu schließen. Wir standen auf. Sie fanden mich unvernünftig. Mir bleibe keine Wahl, sagte ich. Ob sie es nicht seltsam fänden, wenn ich erst etwas verkündete und es dann doch nicht täte? Die Atmosphäre war frostig. Wir schüttelten uns die 46
Hände und sagten uns, welches Vergnügen uns die Zusammenkunft gemacht habe. Sie gingen eilig, offenbar unzufrieden mit mir. Packard öffnete wieder ein wenig die Augen. «Der andere konnte auch Englisch», sagte er. Am nächsten Morgen druckte L’Unità meine Antwort, kommunistisch gekürzt. Das heißt, auch die kleinste Information war getilgt, und die Abschnitte waren so umgestellt, daß ein Sinn nicht mehr erkennbar war. Aber Taddei hatte auf meine gekürzte Antwort eine Antwort geschrieben. Sie war mehr als drei Spalten lang. Ich schickte mein Original an die bedeutende Zeitung II Tempo. Sie druckte den Brief in voller Länge. Der nächste Tag war ein bißchen unruhig. L’Unità teilte ihren Lesern mit, ich sei ein Faschist und stünde im Solde faschistischer Blätter, und das amerikanische Magazin Collier’s – für das ich gelegentlich schreibe – sei ein Teil der sattsam bekannten nazi-faschistisch-imperialistischen Kannibalistenclique, deren Ziel die Vernichtung der werktätigen Klasse sei. Außerdem hätten sie meine Bücher wieder gelesen und festgestellt, sie seien schlecht. Für den Rest meines Aufenthalts in Rom stand das Telefon nicht mehr still. Alles wollte Erklärungen. Wir waren nach Italien gereist, um Kirchen und Museen, Gebeine und Altertümer zu besichtigen. Eines Tages werden wir dahin zurückkehren, um sie zu Ende zu betrachten. Und meine elegante Moglie wird mit mir elegant über Herkunft, Alter und Material streiten.
ALLE MEINE AUTOS
Unlängst fuhr ich an einem Sonntagnachmittag von Carrison Hudson nach New York. In einer dahinkriechenden Metallparade war ich ein winziges Glied. Meilenweit schoben sich Autolack und blitzendes Chrom zentimeterweise weiter, Stoßstange an Stoßstange. Nirgends gab es dazwischen Schrotthaufen auf Rädern, Veteranen des Automobilismus. Hin und wieder standen Autos mit Pannen am Straßenrand. Fahrer und Insassen warteten daneben geduldig auf den Mechaniker oder das Abschleppen. Offenbar kam keinem der Gedanke, den Defekt selbst zu beheben. Ich glaube, kaum einer wußte überhaupt, weshalb sein Wagen nicht mehr fuhr. Dabei fielen mir alte Zeiten und alte Autos ein. Ich wünschte sie mir nicht zurück, ebensowenig wie die Zeiten der Entbehrung und der Not von einst. Dafür bin ich über meinen heutigen, kräftigen und zähen Wagen viel zu froh. Ich dachte nur daran, wie es einmal war. Ich erinnerte mich, wie man damals seinen Wagen entweder selbst reparieren mußte oder eben nicht fahren konnte. Ich dachte an die Autos, die ich besaß, die ich verfluchte, haßte und liebte. Das erste Auto, das ich sah, war, soviel ich weiß, ein Reo. Er war mit einer Lenkstange zu steuern. Der Reo gehörte einem Tierarzt, der durch den Besitz des Wagens in Salinas, meiner Geburtsstadt, in Verruf geriet. Man fand, 48
er verhalte sich damit den Pferden gegenüber unloyal. Wir mochten dieses Auto nicht. Fuhr es schmutzspritzend die Stone Street hinab, dann riefen wir ihm kränkende Worte nach. Allmählich gab es mehr Automobile in der Stadt. Sie gehörten den Reichen. Lange zehn Jahre hindurch besaßen wir kein Auto. Einen Kauf auf Raten lehnten meine Eltern ab. Das hielten sie für eine Sünde. Und ein Auto, bar bezahlt, kostete zuviel. Damals brauchte ein Wagen lange, bis er so alt war, daß ich ihn mir leisten konnte. Er brauchte etwa fünfzehn Jahre. Zwar leitete mein Onkel eine Filiale von Ford, doch er versorgte seine Verwandten nicht mit kostenlosen Probeautos. Am Verkauf von Fordwagen wurde er reich. Er selbst fuhr aber einen Stutz-Bearcat – vier Zylinder, sechzehn Ventile. Es waren große Augenblicke, wenn er mit dem Getöse eines berstenden Staudamms vor unser Haus fuhr. Aber das war ein Traumwagen und nichts für uns. Meine ersten beiden Autos waren Fords, Modelle T. Sie waren seltsame Wesen. Zu keiner Zeit waren sie so kaputt, daß sie nicht irgendwie noch zum Fahren zu bringen waren. Der erste war ein Überlandwagen. Auf dem Volant hatten Hühner genistet; ihre Spuren konnte ich nie ganz tilgen. Der Volant hatte einen Sprung. Griff man beim Fahren etwas fester zu, dann zwickte er einem beim Loslassen in den Finger. Der Rücksitz diente für Werkzeug, Ersatzreifen und Draht. Auch heute noch gerät mir dieses Auto mit meiner ersten Liebesaffäre durcheinander; beide sind nicht zu trennen. Das Auto lernte weder eine Garage noch einen Mechaniker kennen. Ich weiß 49
noch, wie es beim Schalten schauerte und seufzte und wie bösartig sein Schalthebel ausschlug. Es war ein niederträchtiges Auto. Es liebte niemanden, lief oder stand nach Laune und sprach ebensogut auf Pflege an wie auf Magie. Mein zweites Modell T war eine Limousine. Den Rücksitz überwölbte ein Plafond, und darunter barg es einen kleinen Salon. In ihm hingen Spitzenvorhänge, und an den Seiten prangten geschliffene Blumenvasen aus Glas. Zum viktorianischen Wohnzimmer fehlten noch der Kronleuchter und der offene Kamin. Gelegentlich diente es auch als Boudoir. Dann zog man die grauen Seidenrollos an den Fenstern herab. Es war ein vornehmes Auto und hatte auch das zähe Leben echter Damen. Einst blieb ich im Winter eine Viertelmeile von meiner Hütte im Schnee stecken. Ich ließ das Wasser aus dem Kühler und das Auto, wo es war. Von meinem Fenster aus sah ich es; bald war es bis über die Radnaben eingeschneit. Dann hatte ich Freunde zu Besuch, und wir pflegten aus einem Grunde, der mir inzwischen entfallen ist, auf das Auto zu schießen. Es ging darum, kein Glas zu treffen. Über vierhundert Meter Distanz war das nicht leicht. Im Frühjahr grub ich das Auto aus. Es war mit Einschüssen übersät. Zufällig hatten wir den Benzintank nicht getroffen. Ich goß einen Eimer Wasser in den Kühler, und der Salon fuhr vom Fleck weg an. Er fuhr den ganzen Sommer lang. Die Modelle T wurden mir zur Gewohnheit, von der ich nur schwer loskam. Zum Lob ihrer Qualitäten erzählte ich die folgende Geschichte bereits einmal der FordGesellschaft. Das Kühlsystem des Modells T beruhte auf dem Gesetz, demzufolge heißes Wasser steigt und kaltes 50
Wasser sinkt. Dies geht nicht eben rasch vor sich, doch das war auch nicht nötig, denn diese Wagen fuhren nicht gar so schnell. Leckte nun in einem Modell T der Kühler, so warf man eine Handvoll Maismehl hinein. Das heiße Wasser kochte es zu Brei, und der verstopfte dann das Leck. In den Werkzeugkasten gehörte deshalb stets ein Säckchen Maismehl. Mit der Zeit stieg ich, wie das unvermeidlich ist, zu größeren und luxuriöseren Fahrzeugen auf. Ich kaufte einen offenen Chevrolet. Er sah wie eine schwarze Badewanne auf Rädern aus und war ein vornehmer Wagen mit vielem technischen Komfort. Damals wohnte ich in Los Angeles, und meine Mutter kam zu mir auf Besuch. Ich sollte sie vom Bahnhof abholen. Als ich den Wagen wusch, merkte ich, daß der Kühler leckte. Ich ging deshalb in die Küche, stellte jedoch fest, daß wir kein Maismehl hatten. Aber Haferflocken hatten wir, die für diesen Zweck noch geeigneter sind, weil sie besser kleistern. Ich gab eine Tasse voll in den Kühler und fuhr los. Nun gehörte zum technischen Komfort des Chevrolets eine Pumpe, die den Wasserkreislauf beschleunigte, und die Fahrt zum Bahnhof mußte die Haferflocken gründlich eingekocht haben. Meine Mutter kam an, sehr schön angezogen. Ich erinnere mich noch vieler Blumen auf ihrem Hut. Plötzlich knallte es während der Fahrt, und eine Säule aus Haferschleim erhob sich in die Luft. Sie überstieg die Windschutzscheibe, neigte sich über meiner Mutter Hut und übergoß ihn und ihr Gesicht. Leider war damit der Haferschleim noch nicht erschöpft. Während der Fahrt durch den Stadtverkehr von Los Angeles pufften wir weiter 51
stoßweise Haferschleim aus. Anzuhalten wagte ich nicht, denn ich hatte Angst, meine Mutter würde mich auf offener Straße erschlagen. Bei unserer Ankunft standen wir fast in Flammen, weil das Kühlsystem verstopft war. Auch als der Wagen stand, stieß er noch Rauchwolken aus; sie rochen nach angebranntem Haferschleim. Es nahm Zeit in Anspruch, meine Mutter sauberzukratzen. Sie hatte schon vorher wenig mit Automobilen im Sinn. Ein Freund von mir hatte ein Modell-T-Kabriolett, langgestreckt und elegant. Es ruhte auf einem Grundstück hinter seinem Haus. Nach einiger Zeit schien es ihm, als stehle jemand sein Benzin. Der Tank lag unter dem Vordersitz und zwar unzugänglich, wenn die Türen abgeschlossen waren. Das Auto hatte jedoch keine Schlösser. Mein Freund legte zuerst Zettel auf den Sitz, in denen er bat, ihm kein Benzin mehr zu stehlen. Als das nichts half, konstruierte er eine sinnvolle Falle. Er war jetzt verärgert. Beim öffnen der Wagentür hupte das Horn, und ein Schießgewehr ging los. Wie das Folgende geschah, wurde uns nie klar. Vielleicht war ein Tropfen Wasser schuld, vielleicht ein kleines Erdbeben. Jedenfalls heulte mitten in der Nacht die Hupe auf. Mein Freund sprang aus dem Bett, zog einen Bademantel an und setzte seinen Hut auf. Warum es nicht ohne Hut ging, weiß ich nicht. Er stürzte hinaus und riß mit dem Ruf: «Jetzt habe ich dich!» die Wagentür auf. Der Schuß aus dem Schießgewehr zerfetzte ihm den Hut. Es war sein bester Hut. Damals begann die Wirtschaftskrise und komplizierte den Umgang mit Autos noch mehr. Man litt unter Ben52
zinmangel. Wollte einer meiner Freunde auf sein Mädchen Eindruck machen, bediente er sich eines feinen Tricks. Er fuhr an einer Tankstelle vor und hielt zwei Finger so zum Fenster hinaus, daß es das Mädchen nicht sah. Dazu sagte er zum Tankwart: «Volltanken!» Dann fuhr er mit dem beeindruckten Mädchen und zwei Litern im Tank davon. Derselbe Freund legte sich ein System zurecht, wie sich der Erwerb des Zulassungsscheines umgehen ließ, denn dafür fehlte ihm das Geld. Immer, wenn eine Zulassungsgebühr fällig war, tauschte er sein Auto, und zwar nur gegen ein Auto mit einem neuen Zulassungsschein. So wurden allerdings seine Automobile von Mal zu Mal etwas schlechter, aber er besaß stets einen gültigen Schein. Die Wirtschaftskrise verwirrte den Markt. Kleinere Wagen waren kaum zu bekommen, die großen gab es für ein Butterbrot. Das hatte zwei Gründe. Einmal war der Betrieb großer Wagen zu teuer, und zweitens zahlte man die Unterstützung nur ungern an jemanden aus, der in einem kostspieligen Wagen vorgefahren kam. Wagentyp und Einkommen standen nicht immer in Harmonie. George, ein Freund von mir, war in Geldverlegenheit. Das waren damals die meisten, aber George war es immer. Ein alter Schulfreund, der reich war und gerade eine Europareise vorhatte, bot George an, inzwischen in seinem großen Haus in Pebble Beach in Kalifornien zu wohnen. Das Haus war vollständig ausgestattet, bis zum Rolls Royce in der Garage. Alles war da, nur nichts zu essen. Als erstes fuhr George gleich nach seiner Ankunft freudig den Rolls nach Monterey und zurück. Dabei verbrauchte er alles 53
Benzin. In der folgenden Woche aß er die Reste trockener Weizenflocken in der Küche auf. Dann stellte er im Garten den Kaninchen Fallen. Nach zehn Tagen war er am Verhungern. Um Energie zu sparen, blieb er im Bett. Eines Morgens, als ihm der Hunger an den Eingeweiden fraß, läutete es. Mühsam stand George auf und stolperte auf schwachen Beinen durch den riesigen Salon, durch die weiß tapezierte Halle und öffnete das prunkvolle Tor. Bescheiden stand draußen eine solid gekleidete Frau. «Ich bin vom Roten Kreuz», sagte sie und hielt George einen Ausweis und die Sammelbüchse hin. George tat einen Freudenschrei. «Gott sei Dank, daß Sie gekommen sind.» Er war so ausgehungert, daß sie ihm dann beim Roten Kreuz eine ganze Weile lang nur dünne Suppe geben durften. Ich fuhr damals einen alten vierzylindrigen Dodge. Es war ein schöner Wagen, der ewig fahren sollte. Ihm machte nichts aus, wieviel Öl er bekam, er fuhr. Allmählich erahnte ich an ihm jedoch Symptome des Verfalls. Dafür hatten wir einen feinen Instinkt entwickelt. Es kam darauf an, ein Auto abzugeben, kurz bevor es in die Luft ging. Ich wollte einen kleinen Wagen, aber so etwas gab es nicht. Für meinen Dodge und zehn Dollar bekam ich einen Marmon, einen großen, niedrigen, rassigen Wagen mit einer Aluminiumkarosserie. Es war ein prächtiges Auto mit einem tiefen sanften Brummen, und es fuhr hundertfünfzig Kilometer in der Stunde. Doch damals sah man nicht so sehr auf das Auto selbst. Niemand konnte sich neue Reifen leisten. Sie waren glatt, aber man sah die Unterlage noch nicht durch. Also kaufte ich ihn. Es war der 54
beste Wagen, den ich je besaß. Störend war allein, daß er mit zehn Litern Benzin etwa fünfundzwanzig Kilometer weit kam. Wir gingen damals viel zu Fuß, das Benzin wurde für Notfälle gebraucht. Eines Tages hörte ich ein häßliches Klicken hinten und dann einen Krach. Was das war, wußte damals jeder. Es war ein herausgebrochener Zahn im Differential. So etwas erzeugt einen herzzerreißenden Ton. Ein neues Differential hätte fünfundneunzig Dollar oder – sagen wir – das Dreifache dessen gekostet, was ich für den ganzen Wagen bezahlt hatte. Also mußte zu Hause repariert werden. Mit einem einfachen Heber stellte ich den Wagen hinten auf Betonblöcke. Dann setzte ich den Heber von den Blöcken aus an und hob wieder, bis der Wagen sein Hinterteil hochreckte wie eine Stechmücke. Da fing es an zu regnen. Ich spannte eine Plane und hatte nun eine Art Zelt. Jetzt saugte sich dickes, schwarzes Öl in meinen Ärmeln aufwärts und verklebte mein Haar. Ich hatte keine Spezialwerkzeuge, sondern nur einen Schraubenschlüssel und einen Schraubenzieher; Spezialwerkzeuge wurden gemacht, indem man Nägel auf einem Stein zurechtklopfte. Das Differential hatte drei Zähne verloren. Dann ging ich fünf Kilometer zu Fuß auf einen Autofriedhof. Dort hatten sie keinen Marmon. Es dauerte eine Woche, bis ich einen Marmon meines Baujahrs fand. Zwei Tage wurde gehandelt. Schließlich hatte ich den Preis auf sechs Dollar gedrückt. Ich mußte das Differential selbst ausbauen, doch bekam ich die Werkzeuge geliehen. Der Ausbau dauerte zwei Tage. Dann, wieder daheim, verbrachte ich einige Tage auf dem Rücken liegend, 55
um die neuen Teile einzusetzen. Das Chassis war schmutzig, und leises Ölgetröpfel führte den Schmutz auf Gesicht und Arme und klebte ihn dort fest. Ich wüßte nicht, daß ich je schmutziger war und je unbequemer lag. Endlos feilte und paßte ich ein. Dabei umstanden mich Kinder, die teilweise sechs Straßenzüge weit hergekommen waren. Sie sprachen viel und voller Spott. Eins stahl meine Schrauben. Aber Schrauben waren öffentlicher Besitz; ich glaube, ich hatte sie ursprünglich selbst gestohlen. Ich stahl also noch ein paar bei einem Nachbarn. Das galt nicht als Diebstahl. Schließlich war alles an seinem Fleck. Ich gab frisches Schmieröl und ließ das Hinterteil des Wagens zu Boden. Jeder Versuch, mich zu waschen, wäre sinnlos gewesen. Dazu brauchte ich später noch einige Wochen und Stahlwolle. Jetzt sprach sich herum, daß ich fertig war. Viele Menschen fanden sich ein, um die Probefahrt zu sehen, Nachbarn, skeptische, wohlgesinnte, kritische Leute, Kinder, Hunde. Ein Papagei schrie immerfort kreischend «verrückt». Ich ließ den Motor an. Er klang wundervoll, wie immer brummend, sanft. Ich schaltete, kroch auf die Straße hinaus, schaltete wieder und kam einen Häuserblock weit, bevor die Hinterpartie des Wagens mit einem Krach wie beim Entladen einer Schrottfuhre herunterfiel. Selbst die Karosserie war zerschmettert. Was falsch war, weiß ich nicht, aber ich machte Schluß. Ich verkaufte den Wagen für zwölf Dollar, wie er stand. Der Trödler, der mir das Differential verkauft hatte, schleppte ihn ab – Aluminiumkarosserie, ganz großer Motor, silbergrau lak56
kiert, hundertfünfzig Kilometer die Stunde und Reifen, bei denen man die Unterlage noch nicht sah. Während der Wirtschaftskrise war das Grundstück des Gebrauchtwagenhändlers ein Mittelpunkt des geselligen Lebens. Ich lernte einen dieser genialen Männer kennen, und er brachte mir einiges vom Geschäft bei. Dieses Wirken war damals eine hohe Kunst. Ich lernte, wie man Sägemehl im Getriebe aufspürt. War ein Auto schon friedhofsreif, dann fuhr es mit ein paar Händen von Sägemehl noch zehn Kilometer weit ziemlich lautlos. Alle Bräuche und Praktiken des Pferdehandels, emsig und mühsam in einem Jahrtausend erworben, fanden behende den Weg ins Gebrauchtwagengeschäft. Da gab es Mittel, die Reifen fest und neu erscheinen zu lassen, den Motor zu behandeln, daß er schnurrte wie eine zufriedene Katze, Lack, der den Käufer blendet, Überzüge, die die Federung verdecken, wenn sie durch die Sitze kommt. Einem guten Gebrauchtwagenhändler zuzusehen und zuzuhören, war ein Genuß. Leid konnte einem der Kunde tun, der nicht auf der Hut war. Denn vom Bordstein an erlosch die Garantie. Mein Freund im Gebrauchtwagengeschäft bot eine Woche lang zu jedem verkauften Wagen einen Radioapparat gratis an. Da kam ein Kunde, der Radio nicht mochte. Mein Freund schaute besorgt drein. Der Kunde sagte: «Also gut, was kostet der Wagen ohne Radio?» Mein Freund zog einen Block und einen Bleistift aus der Tasche und schrieb rechnend ein paar Zahlen. Dann sagte er: «Also, für zehn Dollar Zuschlag können Sie ihn haben. Aber nur dieses eine Mal, nie wieder.» Der Kunde zahlte erfreut. 57
Jetzt ist das anders. Alles ist Spritzlack und Chrom. Früher stand uns das Auto nah. Wir kannten es genau, es ärgerte uns, und wir liebten es wie die eigene Frau. Nun bleibt es uns fremd. Das ist bequemer, gewiß, aber etwas ist verlorengegangen. Ich hoffe nur, ich finde es nicht wieder.
ICH HATTE MIR ALLES ANDERS GEDACHT
In den stillen kleinen Dörfern Italiens, Deutschlands, Irlands und Englands verbirgt sich offenbar eine geheime Kraft. Sie wird spürbar, wenn der Nachfahre der Einheimischen dorthin zurückkehren will, um den Ort seiner Herkunft zu sehen. Ich glaube, diese Kraft wirkt in Irland besonders stark. Denn jeder Ire, und das heißt, jeder Mensch mit auch nur einem einzigen Tropfen irischen Blutes in sich, besucht früher oder später in einer Art Pilgerfahrt die Heimat seiner Ahnen. Da besichtigt er dann in weihevollem Triumph die winzigen Schafhürden und Ställe, da beklopft er stolz und wohlwollend bemooste Felsstücke, begeistert sich angesichts altmodischer Möbel und findet es reizend, daß die Vergangenheit in seiner Familie weiterbesteht. Leben würde er allerdings nicht dort, und schenkte man ihm auch das ganze Dorf. Die Einheimischen kommen sich dabei freilich gar nicht altmodisch vor. Sie finden sich normal. Ihnen erscheint die Sprache des amerikanischen Nachkommen ausländisch, und zwar gerade dann, wenn er in seiner sentimentalen Begrüßungsfreude amerikanisch mit irischem Akzent spricht. Und das tut er meist. Die Einheimischen empfinden ihn dann als ein bißchen komisch. Ich habe eine solche Pilgerfahrt hinter mir. Ich bin zur Hälfte Ire, der Rest meines Blutes ist mit etwas Deutsch 59
und etwas Massachusetts-Englisch verwässert. Aber irisches Blut ist schwer zu verwässern. Bei mir herrschte die irische Dosis ziemlich vor. Meinen Verwandten erschien wohl immer Irland als grünes Paradies. Nur Könige und Helden waren dieser heiligen Insel entsprossen, und die Spitze der schimmernden Pyramide bildete unsere Familie, die Hamiltons. Mein Großvater, von dort herübergekommen und Träger dieses Namens, war wirklich ein prächtiger Mann mit vornehmer Weisheit und untadligem Wesen. Ich war ein Kind, als er starb, aber trotzdem erinnere ich mich seiner noch genau. Seine kleine irische Frau, so erzählt man, brachte den Kobolden hinter den Hügeln von King City in Kalifornien regelmäßig Milch. Als ein Nachbar skeptisch meinte, die ganze schöne Milch söffen ja doch bloß die Katzen, warf ihm meine Großmutter einen Blick zu, der ihm die Nase verbrannte. Wir wuchsen in dem unbestimmten Gefühl auf, Bevorzugte zu sein, weil wir halbirischer Abstammung waren. Damals dachte niemand daran, man könne einmal zurückfahren, um sich daheim umzusehen. Meine Großeltern besuchten ihre alte Heimat nie. Ich weiß nur von zwei Verwandten, die das taten. Der eine war ein Vetter meiner Mutter und Richter am Obersten Gericht in Kalifornien. Vermutlich fuhr er zurück, um den irischen Verwandten einen Eindruck von der überragenden Bedeutung des amerikanischen Zweiges der Familie zu vermitteln. Ich bezweifle, ob ihm dieser Eindruck gelang. Er erzählte nie ein Wort von seinem Besuch. Später unternahm einer meiner Onkel die gleiche Rei60
se. Er berichtete, er habe die ganze Zeit über vor Rührung geweint. Er berichtete ferner, die Familie sei im Aussterben. Es gebe nur noch zwei Schwestern und einen Bruder, Katherine, Elizabeth und Thomas. Alle drei seien unverheiratet und alt. Sie lebten im «neuen Haus». Das alte sei vor ein paar Jahrhunderten niedergebrannt. Nach der Rückkehr meines Onkels erhielten wir in großen Zeitabständen Briefe von Elizabeth. Sie hatte eine feine, elegante Handschrift, und ihr Englisch war außerordentlich gepflegt. Es erinnerte an den Stil klassischer Briefschreiber des achtzehnten Jahrhunderts. Das befriedigte uns und machte uns stolz, denn wir glaubten, daß es keine dummen oder ungebildeten Iren gebe – jedenfalls nicht in Irland. Hier kannten wir zwar eine ganze Menge, aber das hielten wir für Degeneration. Ich hätte schon lange in die Heimat meiner Ahnen reisen sollen, aber ich tat es nicht. Im Krieg war ich oft auf irischen Flugplätzen gelandet und hätte meinen Plan ausführen können, aber jedesmal hielt mich ein seltsamer und starker innerer Widerstand zurück. Dann blieben die Briefe aus, und wir hörten gar nichts mehr. Im Sommer fuhren wir, meine Frau und ich, nun doch. Irland ist ein grünes Land, das stimmt. Allerdings ist Schottland auch grün. Das schottische Grün schien mir zwar ein anderes Grün zu sein, aber ich möchte den Unterschied der beiden Grüns lieber nicht in einem Farbtest überprüfen lassen. Um von Belfast nach Londonderry zu fahren, mieteten wir ein Auto, und zwar einen Rolls Royce. Das war eine Extravaganz, die sogar dem Mann die überlegene Ruhe nahm, der uns den Wagen vermietete. 61
Wir überquerten die Insel und kamen in Derry an. Für den Fremden ist das eine düstere und kalte Stadt. Verräucherte Quaderhäuser und leere Straßen scheinen ständig auf irgend etwas zu warten. Es sieht aus, als protestierte die Stadt gegen das sanfte Grün der Grafschaft Derry und die liebliche Hügelkette, die sich von Donegal nach Lough Foyle hinüberzieht. In dem wenig freundlichen Hotel war uns unbehaglich zumute. Das Mädchen im Empfang fertigte uns ohne Lächeln und ohne ein nettes Wort ab, so sehr wir uns auch um einen Schimmer von Freundlichkeit bei ihr bemühten. Das Haus lag unter der Last seiner eigenen Düsternis. In der Bar war die Stimmung trist. Ich weiß nicht, ob dort gelacht wurde, bevor wir unseren Drink nahmen und nachdem wir sie wieder verlassen hatten. Kein Lächeln begrüßte oder ermunterte uns. Dagegen zogen sich Vorhänge unbekannter Gesetze um uns zu. Ein Drink in unserem Zimmer? Das ist nicht erlaubt. Zwei Minuten zu spät im Speisesaal! Es ist verboten, nach der vollen Stunde zu servieren. Also dann, bitte, eine Londoner Zeitung. Die sind alle ausgeliehen. Eine Lautlosigkeit lag über den Menschen wie über der ganzen Stadt. Dazu kam das Gefühl, daß Blicke über einen huschten, wenn man wegsah, und sich senkten, sowie man aufsah. Wir waren Fremde. Der Dienstmann – er sagte sogleich, er sei nicht der richtige Dienstmann, der richtige sei fort – versprach uns, er wolle uns für den nächsten Tag einen Mann besorgen, der uns ins Land hinein fahren könne. Der Mann kenne das Land wie seine Westentasche. Dieser Ersatzdienstmann war um uns rührend bemüht. 62
Es tat ihm so leid, daß er unsere Kleidung nicht mehr zum Bügeln geben konnte. Aber nach der dafür vorgeschriebenen Zeit sei es zu spät. Traurig blickte er auf das Trinkgeld in seiner Hand. Gern wollte er versuchen, uns noch einen Drink zu besorgen, wenn es irgend ginge. Nach einer Weile kam er zurück. Die alkoholischen Getränke seien eingeschlossen. Den Schlüssel habe der Geschäftsführer, und der sei schon weg. Ein belegtes Brot? Das Büfett sei schon geschlossen, den Schlüssel habe – ich weiß nicht wer. Eine Times morgen früh? Die seien alle schon vorbestellt, und für eine neue Bestellung sei es leider schon zu spät. Es sah aus, als wolle er uns das Trinkgeld in seiner Hand zurückgeben. Er war ein junger, melancholischer, dunkelhaariger Bursche. Ich versuchte, ihm zu erklären, was ich meinte. «Lächelt die junge Dame in der Empfangshalle nie?» fragte ich. «Kaum», sagte er. «Wird überhaupt kein Gesetz mehr umgangen?» fragte ich. «Wie bitte?» «Sehen Sie», sagte ich, «meine Familie stammt aus der Gegend hier. Sie waren Menschen, die die Gesetze achteten. Aber dennoch war etwas Eigenes, etwas Widersetzliches in ihnen. Wenn sich meine Mutter einmal in einem Restaurant zuviel Senf auf den Teller getan hätte, wäre ihr nie eingefallen, ihn mit Brot aufzustippen.» «Wie bitte?» fragte er. Ich sagte: «Einer meiner Onkel hatte Scherereien in der Schule, weil er Hühner gestohlen hatte. Ein anderer muß63
te Abschied nehmen, weil er einen Mord verübt hatte, ich selber …» Ich unterbrach mich, weil mich der Dienstmann hilflos anstarrte und sich offensichtlich abmühte, Sinn in meine Worte zu bringen. Meine Sprache zerschlug sich an einer Mauer von Unverständnis. «Was ich gern wissen möchte, ist das», sagte ich. «Ist dieser ganze Stolz der Widersetzlichkeit innerhalb von drei Generationen auf dieser Rebelleninsel erloschen?» «Wie bitte, Sir?» «Passen Sie auf. Wenn ich Ihnen jetzt Geld gäbe, mehr als genug, um davon eine Flasche Whisky, ein Brot und eine Wurst zu kaufen, fände sich dann jemand, der Ihnen trotz der Gesetze Whisky, Brot und Wurst verkaufte?» «Die Gesetze sind sehr streng», sagte er, «es tut mir leid, Sir, ich würde Ihnen gern helfen.» Ich war tief betroffen. «Ich bin nicht der richtige Dienstmann», sagte er, «der richtige ist fort. Gute Nacht, Sir. Es tut mir sehr leid.» Morgens erwartete uns der Fahrer, der das Land wie seine Westentasche kannte. Er sah verschlagen aus und trug eine abgewetzte Kappe. Er kenne die Spitzen aller Hügel in allen Himmelsrichtungen, sagte er. Er kannte sie dann zwar nicht, aber er war sonst ganz gutwillig. Sein Wagen klirrte und klapperte vor Alter, und ein blauer, erstickender Qualm drang aus allen Ritzen. Wir suchten Mulkerough. Man kann diesen Ortsnamen auf ein halbes Dutzend Arten schreiben, und man findet ihn auf keiner Karte. Mir war, als müsse es in der Nähe von Ballykelly liegen. Das wiederum liegt bei Limavady, und ich wußte, daß man von Mulkerough über den See auf die Hügel von Donegal sehen kann. 64
Wir klapperten und qualmten uns dreißig Kilometer von Londonderry nach Norden zu. Wir durchfuhren Dörfer mit strohgedeckten Häusern, wir wanden uns zwischen heckenumsäumten kleinen Feldern hindurch, wo schwarze Flachsbündel darauf warteten, eingefahren zu werden. Die Landschaft war wellig und lieblich, die Düsternis der Stadt versank. Fern in der Sonne lagen die Donegalhügel. Wir fuhren durch Ballykelly, ohne es zu merken; in Limavady wiesen sie uns den Weg zurück. Ich hatte mir Ballykelly als Stadt gedacht. Es ist aber keine Stadt. Es ist etwas, was man in Texas Straßen-Raststätte nennen würde. Außer durch zwei Kirchen unterscheidet es sich durch nichts von der gehöftumstandenen Landstraße, durch die wir gefahren waren. Ein alter Mann stand vor einer der Kirchen. «Mulkerough?» überlegte er. «Zweite Straße links abbiegen.» «Kennen Sie irgendwelche Hamiltons hier in der Gegend?» fragte ich. «Die sind alle tot», sagte er, «Miß Elizabeth ist vor zwei Jahren gestorben. Aber ihr Vetter lebt noch auf dem Hügel, Mr. Richey.» Mulkerough ist gar kein Ort. Es ist ein Hügel, um den drei, vier Gehöfte verstreut liegen. Mr. Richey kam an die Tür seines Hauses am Hügel, und er sah wirklich aus wie einer von uns. Er hatte die rosigen Backen und den hellblauen, sprühenden Blick. «Der Besitz von Hamiltons ist verkauft», sagte er, «Haus und Grund und Boden. Genaueres werden Sie in Limavady beim Richter erfahren können.» 65
«Ich bin der Enkel von Samuel. Er ging vor einer ganzen Zeit hier weg.» «Ich habe gehört, daß es da noch einen Bruder gab. Der soll nach Amerika ausgewandert sein. Aber hieß der nicht Joseph?» Wo wir auch fragten, war es das gleiche. Mein Großvater war vergessen. Mit seinem Bruder, der hierblieb, war es anders. Und mit dessen Kindern war es auch anders. Ebenso mit ihrem Land, dem nutzbaren Boden, mit dem Erlös, den es brachte. Darüber wußte man Bescheid. Das waren reale Dinge. Wie aber sollte man sich noch an derart Vergangenes erinnern wie an meinen Großvater? Die drei Kinder des Bruders meines Großvaters kannte jeder, Miß Katherine, Miß Elizabeth und Mister Tom. Sie hatten einen guten Hof mit mehr als dreihundert Morgen und einem festen, zweistöckigen Haus. Alle drei haben nie geheiratet. Warum eigentlich nicht? Niemand wußte es. Sie hätten eine gute Mitgift gehabt, waren gebildet und wohlerzogen und hatten mehr Land als die meisten Nachbarn rundum. Sie besaßen silberne Löffel und feines Porzellan und so dünne Kaffeeschalen, daß sie beinahe durchsichtig waren. Sie hatten alles, was die Familie im Lauf der Jahrhunderte gesammelt hatte, Bilder, Bücher, Urkunden, Möbel, um die sie die ganze Gegend hätte beneiden können. Aber sie heirateten nie. Alle kannten sie, jeder hatte sie gern. So wurden sie miteinander alt. Miß Katherine war die tüchtigste, fast so tüchtig wie Toms Mutter, und Tom tat, was sie sagte. Er pflügte, wenn sie sagte, er solle pflügen, er säte, wenn sie sagte, es sei 66
Zeit zum Säen, und er erntete, wenn sie sagte, es sei die Zeit dafür. Miß Elizabeth war eher dem Lesen und Schreiben zugetan, und sie hatte einen Rosengarten. Sie verbrachte mit ihren Rosen viel Zeit. Tom war still, gutmütig, und alle mochten ihn. Die drei wurden miteinander auf dem Hof immer älter, und dann, es sind ungefähr zwölf Jahre her, starb Miß Katherine. Dem Hof fehlte nun das ordnende Element. Er verkam nach und nach. Das ging so langsam, daß man es kaum sah. Niemand sagte mehr zu Tom, wann er pflügen und säen sollte, und die Feldwirtschaft ging zurück. Er verkaufte ein paar Kühe, und niemand sagte ihm, daß ihre Zahl wieder ergänzt werden müsse. Wenn das Dach schadhaft war, dachte er nicht daran, es zu flicken. Die Hecken krochen langsam in die Felder. Spielten seine Freunde darauf an, lächelte und nickte er, ja, ja, es müßte gemacht werden. Aber die befehlende Stimme war tot. Niemand sagte ihm mehr, was jetzt zu tun sei. Elizabeth sei ein Bücherwurm geworden, erzählten die Nachbarn. Neben dem Lesen pflegte sie ihre Rosen. Sie und Tom wurden unzertrennlich. Vor sieben Jahren starb Tom. Er riß sich an einem rostigen Nagel und kümmerte sich nicht darum, weil ihm niemand sagte, er solle sich darum kümmern. So starb er an Blutvergiftung. Die Leute erzählten uns das Ende der Geschichte nur zögernd. Sie mochten wohl nicht als Schwätzer oder Klatschmäuler gelten. Miß Elizabeth, sagten sie, wurde nach Toms Tod seltsam. Ja, seltsam, sagten sie. Sie blieb frisch und klug wie zuvor. Aber dann geschah zuweilen 67
Unerwartetes. Sie unterhielt sich beispielsweise mit einem Nachbarn. Dabei schien sie in die Ferne zu lauschen, und mitten in der vernünftigsten Unterhaltung sagte sie: «Tom rodet heute den Wurzelstumpf unten am Weg. Wir brauchen dort einen neuen Baum.» Und wenn die Nachbarinnen bei ihr aus den fast durchsichtigen Tassen Tee tranken, konnte Elizabeth plötzlich sagen: «Ich muß jetzt leider bitten, mich zu entschuldigen. Tom kommt gleich heim, und er wird sehr müde sein.» Und abends hörten die Nachbarn oft, wie Miß Elizabeth auf den Wegen herumlief und ihren Bruder rief, es sei schon spät und das Abendessen warte auf ihn. Manchmal irrte sie auch in der Nacht auf ihren Feldern umher. Sie war im Nachthemd, und ihre Füße waren nackt. Aber sie war keine Schlafwandlerin, sagten die Leute. Nur eben etwas seltsam war sie. Nein, sie war durchaus nicht wirr. Abgesehen von diesen Dingen redete sie wie immer vernünftig und klug. Nur konnte niemand sie davon überzeugen, daß ihr Bruder tot war. Allerdings tat sie noch etwas Seltsames, etwas, sagen die Leute, was gar nicht zu ihr paßte. Sie trieb Politik. Sie trat in die Partei ein, die mit größter Leidenschaft gegen die Vereinigung der nördlichen Grafschaften mit Eire auftrat. Und schließlich bestimmte Miß Elizabeth in ihrem Testament, ihr ganzer Besitz solle nach ihrem Tod verkauft werden und jeder Pfennig der Partei zufallen, die gegen die Vereinigung von Ulster und Eire war. Danach starb sie. Die Nachbarn sagten, es sei ein Jammer gewesen, wie das Haus immer mehr zerfiel und verkam. Jeder wußte, 68
wie schöne Sachen die Hamiltons besaßen. Zur Auktion kamen die Pferdewagen und die Autos zu Hunderten. Die Leute kauften die Bilder schon der Rahmen wegen. So ging das Silber hin und das köstliche Porzellan und die Bücher, die nur der Einbände wegen gekauft wurden – alles ging in fremde Hände. Fremde kauften das Haus. Es war wirklich ein Jammer, sagten die Leute. Ich sah mir das Haus an. Nichts von uns war mehr da. Im Rosengarten wucherte Unkraut. Nur die Spitzen der Rosenbüsche sahen ein wenig aus dem Gras hervor, das noch vom vorigen Jahr verdorrt war. Efeu bedeckte fast überall die Wege. Die neuen Eigentümer des Hauses waren freundlich. Aber sie waren Fremde. Und – was schlimmer war – wir waren Fremde.
BEI DEN WEINBAUERN VON POLIGNY
Bemüht sich ein amerikanischer Politiker um seine Wiederwahl, dann kauft er viele Zeitungen, liest sogar die Leitartikel, konferiert mit den Spitzen seiner Partei und geht, wenn er gescheit ist, aufs Land, um die Bauern zu hören. Denn verließe er sich auf die Zeitungen allein, so würde sein Bild der öffentlichen Meinung ziemlich schief. Französische Zeitungen spiegeln die Volksmeinung – sofern überhaupt möglich – noch mangelhafter wider als die Zeitungen der USA. Liest man nur einen Tag alle Pariser Blätter, so bleibt man für Wochen leicht verwirrt. Deshalb weiß ich nicht, was alle Franzosen denken. Aber ich weiß halbwegs, was man in der Kleinstadt Poligny denkt und worüber man dort spricht. Und das ist wichtig. Denn Menschen wie die Weinbauern, die Lehrer und die jungen Leute von Poligny sind Frankreichs Seele und sein Herz. Sie verteidigten ihr Land noch weiter, als Regierung und Armee schon aufgelöst waren; sie sind wie unsere Bauern, eigenwillig und zäh. Ich glaube, die Zukunft Europas hängt von solchen Menschen ab. Und deshalb ist gut, sich anzuhören, was man in Poligny sagt. Poligny liegt im Jura, im Schoß des hohen Gebirges, das Frankreich von der Schweiz trennt. Einige der besten Weine kommen aus seiner Provinz. Die Menschen sind hart, karg und arbeiten gut. Sie sind Individualisten; nicht zwei von ihnen empfinden und denken gleich. Wir waren 70
bei Louis Gibey zu Gast. Er ist Lehrer und baut Wein. Mit seiner Frau und drei kleinen Töchtern wohnt er in einer schmutzigen Straße Polignys in einem ganz alten Haus. Seine Nachbarn sind die bäuerlichen Grundbesitzer der Provinz. Die Straße ist voller Kinder und Hunde und morgens und abends dazu noch voller Kühe; sie gehen dann zur Weide oder kommen zurück. Wahrscheinlich gab es Poligny schon zur Römerzeit. Aus dem Mittelalter steht noch ein Stück Stadtmauer mit einem Turm. Louis Gibeys Haus ist offensichtlich ohne Senkblei gebaut. Aber die Küche birgt einen seltenen Luxus, nämlich eine Handpumpe. Die anderen holen ihr Wasser aus dem Dorfbrunnen. Gibeys Hausgenossen sind ein weißes Kaninchen, Tail-Tail, eine Siamkatze mit lädiertem Schwanz, und eine Hündin, ein Juwel der Jagd. Sie heißt deshalb Diana. Außerdem wohnt dort Miro, ein Hund unbestimmter Rasse, der Türen öffnen und bei Tisch unbemerkt so unter dem Arm durchschlüpfen kann, daß er einem das Essen unter der erhobenen Gabel wegfrißt. Alle Bauern unserer Straße jagen leidenschaftlich gern. Jede Familie hat mindestens einen Schweißhund. Einer davon, Ticot, steht in derart hohem Ansehen, daß die Geburt eines Sohnes die ganze Straße zutiefst erregte. Gejagt werden Kaninchen, Hasen, Füchse, Fasanen. Das Essen ist reichhaltig und gut, der Wein vorzüglich, aber in den Häusern gibt es wenig Komfort. Wir bekamen das beste Zimmer des Hauses, unser Wirt hatte es selbst tapeziert. Zu unserem Einzug trugen die Kinder neue Schuhe, doch mehr dem festlichen Anlaß zuliebe als zum Gebrauch. Sie drückten die Mädchen quälend. Des71
halb wurden sie gleich wieder ausgezogen, aber so hingestellt, daß man sie sah. So war der Schönheit wie der Zweckmäßigkeit gedient. Bei der ersten Mahlzeit wurden wir sogleich den drei zentralen Problemen der Rue de Charcigny – und wohl der ganzen Stadt – konfrontiert. Das sind Wein, Jagd und Politik. Der Wein steht vornan. Man besucht beispielsweise einen Nachbarn. Der bringt eine verstaubte Flasche von unten herauf. Seine Frau stellt köstlichen Käse auf den Tisch. Die kleine Tochter schleppt einen Brotlaib herbei, fast so groß wie sie selbst. Das Brot ist außen herrlich kroß und schmeckt leicht säuerlich wie das beste französische Brot. Alles wartet voller Andacht. Der Hausherr geht so sorgsam mit der Flasche um, als sei sie eine Ladung Nitroglyzerin. Unter totalem Schweigen setzt er den Korkenzieher an. Ein dezentes «Plopp» des Korkens bleibt zunächst der einzige Laut. Der Hausherr betrachtet den Pfropf bedächtig, dreht und wendet ihn, riecht daran und reicht ihn seinen Gästen. Die Qualität des Korks ist die Vorschau auf die Qualität des Weins. Der Hausherr gießt ein. Dann wird angestoßen, und jeder trinkt einen Schluck. Schweigen. Dann der Hausherr: «Etwas zu herb.» Sein linker Nachbar blickt auf den rotschimmernden Wein. «Zu herb? Für die Jahreszeit? Wo draußen der Wein blüht?» «Nun ja, gewiß», lenkt der Hausherr bereitwillig ein, und uns erklärt er das Gespräch. Wenn die Weinstöcke im Frühling blühen und noch keine Trauben angesetzt 72
haben, erinnert sich im Keller der Wein in seinen Fässern oder Flaschen an die Zeit seiner eigenen Blüte. Dann wird er unruhig, es gärt noch einmal leise in ihm, und sein Aroma wechselt. Die Unruhe wirkt auf seinen Geschmack. Nach der Blüte wird er wieder normal. Und es ist wahr, der Wein schmeckt während der Blüte wirklich seltsam ruhelos und etwas streng – was auch immer der Grund sein mag, ob die Erinnerung im Wein, die warme Frühlingsluft oder einfach Zauberei. Wieder werden die Gläser gefüllt. Ein Nachbar geht fort und kommt mit einer staubigen Flasche aus seinem eigenen Keller zurück. Vor tausend Jahren haben die Ahnen dieser Männer schon ihren Wein auf denselben Hängen hinter dem Dorf gebaut, generationenlang verdichtete sich ihr Wissen, ihr Gefühl, ihr Instinkt. In ihrem Leben ist der Wein das stärkste Element. Sie sind wie Bauern überall. Sie loben ihren Wein und sagen, er sei der beste Frankreichs. Aber an jeder Flasche, die sie öffnen, setzen sie etwas aus. Diese schmeckt nach Pfropfen, jene ist zu kalt, diese ist zu warm, jene geschüttelt worden, ehe sie auf den Tisch kam. Meine Tante Mamie kocht das beste Essen, das ich je aß. Aber sie jammert unentwegt, wenn es auf dem Tisch steht. Der Ofen war nicht recht im Schuß, die Eier nicht frisch, die Hefe in dem himmlisch lockeren Kuchen – ja, die war direkt Betrug! Es ist wohl eine Eigenschaft der Vollkommenen, nie einzugestehen, daß ihr Werk vollkommen ist. Wir saßen an dem langen Tisch, tranken, kauten Brokken des Brotes, aßen gemächlich von dem sanften Landkäse und schnitten Scheiben vom festen Gruyère; der Ta73
gelöhner zwischen uns tat es mit der gleichen Hingabe wie die Weinbauern. Doch das ging nicht in abgeschiedener Stille vor sich, keineswegs. Kinder liefen herein und hinaus und nippten zwischendurch an den Gläsern ihrer Väter. Ein Hund biß sich mit einem anderen, die Hausfrau lag auf den Knien und bügelte eine auf den Fußboden gebreitete Decke. Eine Kuh steckte ihren Kopf herein und zog sich wieder zurück, um in Ruhe wiederzukäuen, eine Ente durchquerte das Zimmer, von fünf gelben Gösseln gefolgt. Miro, der große Jäger, leckte das weiße Kaninchen vom Kopf bis zum Schwanz sauber ab, und Diana war getreten worden, hatte gejault und schmollte nun gekränkt unter einer Bank. Ein Mädchen brachte einen Korb mit frischgepflückten Kirschen, das andere hatte die Schürze voll mit winzigen wilden Erdbeeren, nicht größer als Bohnen, aber zuckersüß, und das dritte stellte sich mit selbstgeflochtenen Girlanden aus Wiesenblumen vor, die es um Haar und Schultern trug. Nun war es Zeit für die Politik. Dieses Spiel geht bei den Franzosen nach eigenen Regeln vor sich. Während der Weinprobe hatte sich unsere Zahl vermehrt. Ein kräftiger, gut aussehender junger Mann stand in der Tür. Ich fand, seine Hosen sähen so aus wie die der amerikanischen Luftwaffe. Er lachte. «Wissen Sie, Ihre Armee hat ja nach dem Krieg alles ausverkauft – Kleidung, Decken und Hosen wie meine. Und als keine mehr zu verkaufen waren, machten wir Franzosen sie selbst.» Er sah an sich hinunter. «Sind sie nicht ebensogut?» 74
Ein kleiner Mann mit verkniffenem Gesicht fing den Ball auf. Er war während des Krieges in Gefangenschaft geraten und hinkte noch. «Ihr habt ja nun einen neuen Präsidenten», sagte er. «Ja», sagte ich. «Gefällt er Ihnen?» Ein alter Bauer antwortete: «Er gefällt uns. Weil er uns versteht. Er sagt, wir sollen nicht so schnell wieder aufrüsten, sondern an unseren Lebensstandard denken. Das stimmt. Wir haben ja gerade erst einmal wieder genug zu essen.» Und ein anderer sagte: «Wir haben den Hunger im Krieg kennengelernt. Jetzt haben wir Angst davor. Wir wollen unser bißchen Verdientes nicht für Kanonen ausgeben.» «Wenn Sie wählen könnten zwischen Hunger und Herrschaft des Kremls – was wäre Ihnen lieber?» fragte ich. «Ach was. Die Gefahr ist nicht so groß. Wir wollen unseren Verdienst nicht opfern.» «Das will ich auch nicht», sagte ich. «Aber haben Sie einmal darüber nachgedacht, ein wie großer Teil der Steuern, die ich und alle anderen Amerikaner zahlen, in die Rüstung Europas geht? Was meinen Sie, was es für ein Geschrei gäbe, wenn Sie auch nur einen Sou dafür an uns zu zahlen hätten? Oder täten Sie das gern?» Ein jovialer Mann, der eine riesige wollene Leibbinde trug, lächelte in sein Glas. «Nein, das täten wir gar nicht gern. Aber das machen Sie doch nicht für uns. Das machen Sie bloß für sich. Damit wir Sie verteidigen.» «Ein bißchen stimmt das schon», sagte ich, «und das sollte Sie als realistischen Franzosen, der nicht an pure 75
Nächstenliebe glaubt, etwas beruhigen. Und wenn wir es nicht schaffen, meinen Sie, Sie würden einen dritten Weltkrieg überleben?» «Wir wollen keinen Krieg», antwortete der freundliche Mann. «Ich bin neunzehnhundertsechzehn verwundet worden und neunzehnhundertdreiundvierzig noch einmal. Das reicht. Wir wollen keinen neuen Krieg.» «Sie haben auch keinen Krieg gewollt, als Hitler kam. Doch das reichte nicht, ihn aufzuhalten. Wollen Sie allein mit dem Wunsch nach Frieden die Russen aufhalten? Vielleicht haben Sie auch uns nicht gern in Ihr Land kommen sehen. Aber wären wir nicht gekommen, dann hätten Sie immer noch die Deutschen hier.» «Da waren ja noch die Russen», sagte ein weißhaariger Mann. «Die Russen haben gut gekämpft.» «Gut. Nehmen wir an, wir wären nicht in den Krieg eingetreten, die Engländer auch nicht, und die Russen hätten allein die Deutschen besiegt. Hätten Sie dann noch Ihre freie Genossenschaft, Ihre Wahlen, Ihre Schulen, ja, Ihre Kirchen? Oder sähe es dann nicht bei Ihnen wie in Polen oder Ungarn oder Ostdeutschland aus? Können Sie mir ein Beispiel nennen, wo die Russen nicht nahmen, was sie bekommen konnten?» Ein Mann in einem zerschlissenen Hut antwortete mir. Seine Worte waren undeutlich, denn ihm fehlte ein Vorderzahn. «Das ist alles schwierig. Aber wir denken oft, es wäre besser gewesen, ihr hättet uns in Ruhe gelassen.» «Ja, wollen Sie keine Marshallplangelder?» Gibey sagte: «Das ist eine schlechte Frage. Sie wissen ja nicht, was hier passiert. Das Geld bekommen die Großen, 76
die Konzerne. Und die machen damit die Kleinen bankrott. Die Großen werden noch größer, und die Kleinen verschwinden. Das ist nicht gut. Die Politiker haben auch ihre Finger drin. Wir trauen den Politikern nicht.» «Bei Ihnen gibt es doch auch politische Skandale», sagte der junge Mann mit den Luftwaffenhosen. «Wir lesen es ja in der Zeitung.» «Gewiß. Und wir haben Tausende von anständigen Leuten, auf die es schließlich ankommt. Der Endeffekt ist, daß alles funktioniert.» «Wir halten nichts von Politikern», sagte Gibey. «Wir haben da eine Lehre aus dem letzten Krieg.» An der Tür gab es Lärm. Eine Frau kam herein und rief: «Das Junge von Ticot winselt!» Alle sprangen auf. Wir liefen zwischen den heimkehrenden Kühen die Straße entlang, eine Treppe hinauf und standen in einer bäuerlichen Küche. Neben dem Ofen lag eine Hündin, an der überhaupt keine Rasse erkennbar war – oder alle Rassen –, angekettet in einer großen Kiste. Unter ihrem schweren Körper wimmerte es. Sie zitterte vor Furcht und Wut. Drei Männer packten sie, während sie wild um sich biß, und hielten sie fest. Ein vierter holte unter ihr einen winzigen jungen Hund hervor. Er war braun gezeichnet, sein Gesicht faltig, und die Augen waren wasserblau und noch blind. Er schrie und winselte. Der Mann trug ihn zum Fenster und zog ihm einen langen Strohhalm aus der Nase. Ticots Sohn gähnte darauf sogleich und schlief in der Hand des Mannes ein. Die anderen umstanden bewundernd den schlafenden kleinen Hund. 77
«Das ist genau Ticots Sohn. Da, das braune Dreieck zwischen den Augen. Und die beiden runden Flecke auf dem Rücken. Genau wie Ticot. Der wird nach Ticot der beste Jäger im ganzen Jura.» «Wo steckt denn Ticot?» fragte ich. «Wir haben die ganze Woche nicht gejagt, wissen Sie. Das wird Ticot dann immer zu dumm, und er geht allein auf Jagd.» «Wem gehört Ticot?» fragte ich. «Ticot? Niemandem. Jedem, der jagen will. Ticot gehört unserer Straße. Ticot ist ein freier Hund.» «Und Ticots Frau?» «Ach die –» sagten sie und sprachen von etwas anderem. Ich verstand, Ticots Frau war nicht comme il faut. Der junge Ticot wurde wieder in die Kiste gelegt, und Frau Ticot leckte ihn zärtlich, ohne ihn zu wecken. «Jetzt gehen wir in den Keller», sagte der Weißhaarige. «Sie müssen sehen, wo unser Wein entsteht.» Unsere Gesellschaft polterte die Treppe hinunter auf die alte Straße. Auf dem schmalen, grasbewachsenen Weg, auf dem einst die Römer gereist waren, saßen Daniele und Lena Gibey, die ihre kleine Schwester Jenny jetzt mit Weinranken behängt und bekränzt hatten. Jenny zupfte die Blätter eines Gänseblümchens ab. «Er liebt mich – von Herzen – mit Schmerzen – über alle Maßen – kann’s gar nicht lassen – ein wenig – gar nicht.» Der Weinkeller ist eine gotische Kirche aus dem zwölften Jahrhundert; sie wurde in der französischen Revolution zerstört. Von Zeit zu Zeit besichtigen sie kirchliche Würdenträger, doch nur mit dem Erfolg, daß man fest78
stellt, die Wiederherstellung koste voraussichtlich einige Millionen Francs. Das runde Mauerloch, das einst die Fensterrose enthielt, ist mit Ziegelsteinen geschlossen. Innen steigen die Pfeiler schlank und klarlinig zum Kreuzgewölbe empor. Unter den Schwibbogen des Seitenschiffes liegen die Weinfässer. Im Dämmer des alten Baues wirken sie nicht fehl am Platz. «Hier ist es kühl», sagten die Männer. «Es wäre dumm, einen solchen Raum zu verschwenden. Wenn das Bistum die Kirche wiederhaben will, bitte! Hier ist sie! So reparieren wir wenigstens immer das Dach.» Mauern und Pfeiler sind schwarz von jahrhundertealtem Schmutz. Der süßliche Weingeruch hängt schwer in der Luft. Der mit den Luftwaffenhosen sagte: «Hier brach der Boden einmal ein. Wir fanden fast zweihundert Skelette darunter. In manchen Schädeln steckten noch Pfeilspitzen.» Eine elektrische Pumpe beförderte Wein von einem Faß ins andere, um ihn zu klären. Der weißhaarige Alte fragte: «Sind Sie sicher, daß damals in Korea keine Bazillen gebraucht wurden?» «Ganz sicher. Wenn wir hätten morden wollen, hätten wir es mit anderen Waffen besser gekonnt.» «Aber ihr habt Atombomben auf Hiroshima geworfen.» «Ja. Wir glaubten, Millionen von Menschen durch das Opfer dieser Tausende zu retten.» Der weißhaarige Mann sagte: «Das ist grausam.» Er ging hinaus. Der mit der breiten Bauchbinde sagte: «Das müssen Sie 79
verstehen. Er ist Kommunist. Er kann seine Meinung nicht mehr ändern.» «Ist er in der Partei?» «Kaum. Die Führer sind in der Partei. Er ist kein Führer. Die meisten hier in Poligny sind nicht mehr Kommunisten. Sie haben ihre Meinung geändert. Aber ihm fällt es schwer.» «Warum haben die anderen ihre Meinung geändert?» «Als die Deutschen hier waren, hatten die Kommunisten den besten Widerstand organisiert. Deshalb schlossen wir uns an. Und wir glaubten auch, wir seien richtige Kommunisten. Wir kämpften für die Freiheit Frankreichs. Wir dachten, die kommunistische Partei sei eine französische Partei. Als dann der Krieg vorbei war, machten die Führer einen groben Fehler. Vielleicht wissen Sie es noch. Sie verlangten von uns, wir sollten schwören, nie gegen die Rote Armee zu kämpfen. Da wußten wir, daß es keine französische Partei war, und wir gingen unserer Wege. Das war ein böser Fehler von denen.» «Und der alte Mann?» fragte ich. «Er hat immer davon geträumt, daß alle Menschen freundlich und gut zueinander sein sollen. Daß sie ihren Besitz und ihre Arbeit miteinander teilen. Das war für ihn der Himmel. Und die Kommunisten versprachen, bei ihnen würde das so. Solchen Traum gibt man nicht gern auf.» Er lächelte. «Aber ich glaube, er wacht langsam auf. Die Führer der Kommunisten machen zuviel falsch. Gut, sie werden in Moskau geschult. Bloß vergessen sie dabei, was wir hier für Menschen sind. Sie vergessen, daß wir zunächst einmal Franzosen sind. Sie stecken voll Haß. Sie 80
predigen bloß Haß. Unser Freund haßt aber doch niemanden auf der ganzen Welt.» «Wenn das bei allen Franzosen so ist, woher kommen dann die hohen Stimmenzahlen für die Kommunisten bei den Wahlen?» Gibey gab die Antwort darauf. «Millionen Franzosen wählen die Kommunisten nur aus Protest. Wir haben immer das Gefühl, wir müßten gegen unsere Regierung protestieren. Vielleicht ist das gut, damit die oben nicht zu übermütig werden.» Die Pumpe ächzte, und der Wein blubberte. Sie mußte reguliert werden. Wir füllten dann kleine Gläser aus einem alten Faß. Der Wein war noch nicht reif, aber würzig und schon voll. Ein alter Mann mit einem gewaltigen, kriegerischen Schnurrbart sagte: «Vielleicht verstehen uns die Amerikaner auch nicht. Sie müssen sich eins merken: zu allererst sind wir Franzosen. Das ist alles. Wir wollen keine Kolonie werden. Niemandes Kolonie. Auch nicht die Amerikas.» «Wie meinen Sie das?» «Unsere Regierung sagt: Wir sind für Amerika. Wählt uns, sonst kommt von Amerika kein Geld. Das ist Erpressung, und die ärgert uns. Sie gibt uns das Gefühl, die Amerikaner haben den Daumen auf unserer Regierung. Franzosen mögen so etwas nicht. Deshalb wählen viele die Kommunisten. Ich zum Beispiel auch.» «Glauben Sie, daß alle Franzosen so denken?» «Ja. Aber ich weiß es natürlich nicht genau.» Der Mann ohne Vorderzahn sagte: «Alles, was wir wol81
len, ist Frieden. Wir haben ihn jetzt endlich und wollen ihn behalten. Wir wollen nichts tun, was zum Krieg führt, und wir wollen auch nicht, daß ihr etwas dazu tut. Wir haben den Krieg satt. Satt bis hierher. Das ist unsere Meinung.» Die Weinbauern von Poligny nahmen kleine Schlucke aus ihren Gläsern, und in ihren Augen saß der typische französische Ausdruck: Zähigkeit und Eigenwille, Humor und Streitlust, Spott und Kritik. Louis Gibey sagte: «Sehen Sie einmal, da gibt es etwas ganz Paradoxes. Für uns war immer die katholische Kirche das Symbol der Reaktion. Sie war für uns die ausführende Hand der äußersten Rechten. Aber nun gibt es – Sie wissen es sicher – eine Schar junger Priester in Frankreich, die für eine soziale Wandlung arbeiten, für ein Projekt also, wie man annehmen sollte, der äußersten Linken. Ist das nicht paradox? Die Kommunisten sind Reaktionäre geworden, formalistisch, starr. Sie ändern sich nicht und lassen sich nicht ändern. Und die Kirche führt jetzt nach links. Vielleicht nicht gerade die Erzbischöfe und Kardinäle, aber diese jungen, dynamischen Priester.» Die Bauern von Poligny hielten die Weingläser in ihren harten, schwieligen Händen und lachten. Sie lieben das Paradoxe. Das helle Gebell eines jagenden Hundes klang von den Bergen her. Alle horchten auf. «Ticot» murmelte der Mann in den Luftwaffenhosen sanft. Und durch die offene Tür klang die hohe Stimme Jennys: «Ich lieb’ ihn – von Herzen – mit Schmerzen – über alle Maßen –»
GEBURT EINES NEW YORKERS
Die einzige Großstadt, in der ich je gelebt habe, ist New York. Ich habe in einer kalifornischen Kleinstadt gelebt und in New York. Gewiß, gewohnt habe ich auch in San Francisco, in Mexico City, in Los Angeles und in Paris. Ich war dort monatelang, aber das ist etwas anderes. Spreche ich von Städten, die mich leben sahen, so sind das nur jene Kleinstadt in Kalifornien und New York. Der Wechsel von einer Kleinstadt nach New York ist ein langer Entwicklungsprozeß. Wenn ich nun beschreibe, wie er bei mir verlief, dann geschieht das nicht, weil ich mein Erlebnis für einzigartig halte. Nein, ich bin vielmehr überzeugt, Millionen von New Yorkern, die nicht dort geboren sind, haben das gleiche erlebt. Und diese Zeilen frischen vielleicht ihre Erinnerung an die angstvollsten und fröhlichsten Stunden ihres Lebens auf. Als ich im Jahr neunzehnhundertfünfundzwanzig zum ersten Male in New York ankam, hatte ich noch keine Weltstadt gesehen. Als Student der Stanford-Universität hatte ich ein paar Abstecher nach San Francisco gemacht und glaubte nun, alles zu wissen und alles zu kennen, namentlich auf dem Gebiet des Lasters – jedenfalls soweit das Laster meinen Mitteln zugänglich war. Nun, ich war damals dreiundzwanzig Jahre alt, und meine Mittel waren dürftig. Ich kam als Tourist mit dem Dampfboot an. Es war im 83
November. Als ich in San Francisco abfuhr, besaß ich hundert Dollar, die mir über die erste Zeit in New York hinweghelfen sollten. Wäre ich etwas reicher gewesen, an Erfahrung oder an Geld, dann hätte ich meine hübsche Reisegefährtin nicht eingeladen, mit mir in einer Taxe die Höhen und Tiefen Havannas zu besichtigen, und ich hätte dann auch den kostspieligen Reizen rumhaltiger Drinks besser widerstanden. Ich weiß nicht mehr, welche leuchtenden Aspekte ich dem schönen Mädchen für unsere Ankunft in New York ausmalte; jedenfalls wollten wir alsbald heiraten, uns in einer Villa in der Park Avenue einrichten und dort unser Leben als Gastgeber von Prominenten und Stars führen. Ob es das war oder anderes, ich gewann sie für mich. Sie hatte die gleichen Filme gesehen, aus denen ich meine Lebenserfahrung bezogen hatte, und sie half mir, die hundert Dollar für den Anfang des dolce vita bereits unterwegs auszugeben. Als dann auf der Höhe vom Kap Hatteras unser Boot bei stark bewegter See zu rollen und zu schlingern begann und die sanfte Brise des Südens nördliche Kühle annahm, fröstelte ich auch aus einem anderen Grund. Ich besaß nur noch drei Dollar, und so konnte ich, der große Weltmann, noch nicht einmal den Kabinenstewards die fälligen Trinkgelder geben. Ich schloß mich fest in meine Kabine ein. In regelmäßigen Abständen klopfte meine Reisegefährtin an die Tür. Sie sah keinen Anlaß für einen Verzicht auf die Villa in der Park Avenue. Die Weltstadt erblickte ich zum ersten Male durch das Bullauge. Ich schauderte. Die Riesenbauten standen wie 84
chinesische Schattenfiguren gegen den Himmel, und ihre Lichter stachen hart durch ein unwirtliches Gestöber von nassem Schnee. Bedrückt, verschüchtert, mit vor Angst zusammengepreßtem Magen schlich ich an Land. Dabei war meine Lage nicht vollends ohne Trost. Ich hatte in New York eine Schwester, die gut verdiente. Sie war verheiratet, und auch ihr Mann verdiente gut. Kommt in Kalifornien ein Verwandter zu Besuch, dann ist jederzeit ein Bett für ihn bereit, sei es auch in der Mansarde, und er kann bleiben, solange er mag. Die Wohnung meiner Schwester war vornehm. Aber sie bestand, wie ich dann sah, nur aus einem einzigen großen Zimmer mit einem Alkoven, wo man ein bißchen kochen konnte, wenn man wollte; doch man wollte nicht. Eine Doppelcouch, tagsüber Sitzmöbel, nahm den ganzen als Schlafstelle verwendbaren Raum ein. Mein Schwager lieh mir dreißig Dollar und bezahlte meine erste Nacht im Hotel. Am anderen Morgen fand ich im dritten Stock eines Hauses am Fort Green Place in Brooklyn ein Zimmer; und es gelang mir auch, Arbeit zu bekommen. Ihre Stätte war der Madison Square Garden, der eilig fertig werden sollte. Es wurde acht Stunden täglich gearbeitet, doch man konnte bis zu zehn Überstunden machen. Einsamer als ich damals war, kann man kaum sein. Ich war kräftig und groß. Als Glied einer endlosen Kette mußte ich Zement karren, Schubkarren nach Schubkarren, Stunde um Stunde. Dafür war ich wiederum noch nicht groß und kräftig genug. Die Arbeit warf mich fast zu Boden, und ich war viel zu zerschlagen, um zu bemerken, was rings um mich vorging. Die anderen Kärrner 85
waren fast durchweg Neger. Sie wirkten weder groß noch kräftig, aber sie liefen mit ihren achtzig Kilo schweren Karren, als spielten sie mit Puppen. Beim Schieben schwatzten und sangen sie, Ermüdung kannten sie offenbar nicht. Die Tage waren zum Weinen lang. Sonntage gab es nicht, denn sonntags wurde doppelter Lohn gezahlt, ein Himmelsgeschenk, zwei Dollar die Stunde. Gab jemand die Arbeit auf, warteten vor dem Tor schon fünfzig andere, um an seine Stelle zu treten. Die Stadt lernte ich nur höchst oberflächlich kennen. Stechend blendende Lichter, Rattern und Dröhnen der Untergrundbahn, ein eiserner Treppenkäfig, vier schmutziggrüne Wände, ein Bett, um sich nach flüchtigem Waschen daraufzuwerfen, Kaffee, grobes Brot, Selbstbedienungsrestaurant, unter den Schritten leicht schwankendes Trottoir – weiter kannte ich nichts. Auf dem Bauplatz standen Koksfeuer, an denen man sich die Hände wärmen konnte. Hin und wieder tat ich es, bloß um ein wenig zu verschnaufen; in den Händen hatte ich längst kein Gefühl mehr. Einmal stürzte ein Mann von einem dreißig Meter hohen Gerüst und schlug einen Meter vor mir auf. Als er aufprallte, hatte er einen roten Kopf, doch das Blut wich aus seinem Gesicht wie ein Vorhang, der zur Seite gezogen wird, und dann lief es unter den Lampen der Baustelle blauweiß an. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich diese Arbeit betrieb. Heute scheint mir die Zeit endlos. Vielleicht waren es vier, vielleicht sechs Wochen. Noch immer denke ich voll tiefem Respekt an die Neger von damals, wie sie geschmeidig wie Katzen unermüdlich die Eisenkarren scho86
ben, die so hoch gefüllt waren, daß der Zement herabrieselte. Endlich war der Madison Square fertig, rechtzeitig für das Sechstagerennen, und Tex Rickard dankte uns allen ohne Unterschied zwischen Rasse und Hautfarbe. Wenn ich heute daran vorbeikomme, läuft mir noch manchmal ein Schauder über den Rücken. Um diese Zeit kam ein Onkel von mir nach New York. Er war im Reklamegeschäft tätig, rasch reich geworden, und seine Verbindungen reichten überallhin. Er hatte eine Zimmerflucht im Hotel Commodore, bestellte zu jeder Tages- und Nachtzeit etwas zu essen oder zu trinken und schickte alle paar Minuten ein Telegramm ab, auch wenn es nicht eilig war. Sein kurzer Aufenthalt ist mir noch heute Sinnbild für ein Leben in allem Komfort. Mein Onkel brachte mich in einer Tageszeitung unter, beim New York American in der William Street. Journalistische Arbeit kann nicht verderblicher anfangen als dadurch, daß man vom Besitzer dem Chefredakteur und vom Chefredakteur dem Lokalredakteur aufgezwungen wird. Selbst wenn man etwas kann, bleibt der einmal erregte neidische Groll der Kollegen kaum überwindbar. Aber ich konnte nichts. Ich hatte vom journalistischen Handwerk keine Ahnung und war für nichts brauchbar. Die fünfundzwanzig Dollar Wochenlohn für mich waren sinnlos vergeudet. Ich sollte Reportagen in Queens oder in Brooklyn machen. Dabei verlief ich mich und brauchte Stunden für den Rückweg zur Redaktion. Mir kam nicht einmal der Gedanke, in der Wohnung einer Familie, die sich nicht photographieren lassen wollte, ein Bild einfach 87
vom Tisch weg zu stehlen. Ich fiel auf jede Ausrede und jeden Schwindel herein und nahm den Artikeln alle Schlagkraft, weil ich die Hauptperson nicht bloßstellen wollte. Aber auch sonst war ich ein miserabler Reporter. Meine Auffassung über Berichtenswertes unterschied sich stets von der des Lokalredakteurs. Ich gab mir Mühe, ich versuchte zu lernen, doch mir fehlte jede Anlage für diesen Beruf. Man überließ mir die kirchlichen Angelegenheiten. Auch hier versagte ich total. Natürlich warf man mich nur um meines Onkels willen nicht schon nach der ersten Woche hinaus. Man versetzte mich zur Rubrik «Gerichtssaal». Was ich dort sollte, wußte ich nicht. Gerade hierfür braucht man Spezialisten. Die meisten meiner neuen Kollegen gingen seit Jahren bei den Gerichten ein und aus, aber ich verstand nichts von der Justiz. Trotzdem war man nett zu mir. Meine Kollegen im Pressezimmer des Justizpalastes stellten sich, als verstünde ich mein Handwerk, und bemühten sich gleichzeitig nebenher, mir seine Grundbegriffe beizubringen. Ich lernte Bridge spielen und entwickelte sogar eine Nase für interessante Prozesse und Skandale. Die Kollegen sagten mir, welche Richter Reklame schätzten, und sie schrieben für mich Berichte über Verhandlungen, die ich geschwänzt hatte. Noch heute bin ich ihnen dankbar. Dabei wußte ich nicht, wer sie eigentlich waren, wo sie wohnten, was sie trieben, wenn sie das Journalistenzimmer verlassen hatten. Der Grund für mein Schwänzen steckte auch diesmal in einem Rock. Ich kannte das Mädchen schon flüchtig von Kalifornien her. Seine Schönheit ist nicht nur ein 88
Trugbild meiner Erinnerung; denn die Greenwich Village Revue engagierte sie sofort, als sie sich dort vorstellte. Sie hatte nichts weiter zu tun, als über die Bühne zu gehen und sich ansehen zu lassen. Für sie war das ein Glück; anderes hätte sie gar nicht gekonnt. Sie verdiente damit hundert Dollar in der Woche. Ich war bis in den letzten Nerv in sie verliebt. New York bekam für mich ein anderes Gesicht. Ich war Reporter, und das war ja ein recht romantischer Beruf. Allerdings verdiente ich dabei nur ein Fünftel von dem, was ich beim Zementkarren verdient hatte. Entweder konnte ich essen oder meine Wäsche waschen lassen; beides zusammen war undurchführbar. Meine Freundin wohnte beim Gramercy Park. Also mußte ich auch in dieses Viertel umziehen. Im alten Parkwood Hotel gab es für sieben Dollar wöchentlich winzige Zimmer im sechsten Stock ohne Lift. New York interessierte mich nicht. Es war nur die Kulisse für mein Liebesdrama, das mich ganz erfüllte. Ich lernte, meine Wäsche selbst zu waschen, auch die Hemdkragen, die ich dann naß an die Seitenwand des Waschbeckens klebte. Da meine Freundin viermal soviel verdiente wie ich, kam sie meist für die Mahlzeiten auf, die wir nach der Vorstellung miteinander einnahmen. Jeden Abend erwartete ich sie an der Bühnentür. Sie bemühte sich sehr, mich zu bessern, warum, weiß ich nicht. Stundenlang saßen wir in italienischen Restaurants und tranken Rotwein. Ich wollte Romane schreiben. Dagegen hatte sie nichts, meinte jedoch, ich solle es erst einmal im Reklamegeschäft versuchen, mein Onkel würde sicher etwas für mich tun. Das lehnte ich ab. Ich sei 89
Künstler, und die Lauterkeit meiner Seele stehe mir höher als jedes Geschäft. Heute wüßte ich gern, was aus mir geworden wäre, hätte ich einen Job im Reklamewesen bekommen. Es blieb mir erspart. Ich leistete ja noch nicht einmal etwas als Journalist. Um uns flimmerte New York in einem schemenhaften Tanz. Es war, wie gesagt, der Bühnenhintergrund, und wir gingen davor Hand in Hand einher. Sobald mein erster Roman erschiene, würden wir heiraten. Der erste Roman bringe immer ein Vermögen ein, glaubte ich fest. Ich vernachlässigte meine Arbeit; das schade nichts, redete ich mir ein, ich leistete ja ohnehin nichts. Ich fing gleichzeitig zwei Romane an. Nachts schlief ich nicht. Das Mädchen setzte mir weiter zu, Texter bei einer Werbeagentur zu werden. Romane könne ich später immer noch schreiben, wenn ich es erst einmal zu etwas gebracht hätte. Die New Yorker waren für mich in dieser Zeit keine menschlichen Wesen. Auch lernte ich keinen als solches kennen. Für mich waren sie bloße Statisten in meiner persönlichen Tragödie. Dann brach plötzlich alles zusammen, und es war wohl gut so. Das Mädchen war vernünftiger, als zu erwarten gewesen war. Sie heiratete einen Bankier aus dem Mittelwesten und fuhr mit ihm davon. Es gab keine Szene, sie schrieb mir einfach einen Brief. Und zwei Tage darauf setzte mich auch der New York American an die Luft. Jetzt endlich nahm ich die Stadt wahr. Sie rückte mir auf den Leib. Ich bekam Angst. Ich suchte Arbeit, doch ich bekam keine. Ich schrieb ein paar Kurzgeschichten, 90
aber ich brachte sie nirgends an. Ich offerierte meine Dienste Zeitungen, doch vergeblich. Kalt, grausam drang die Stadt auf mich ein. Ich zahlte die Miete nicht, ich hungerte. Ein Trost blieb mir, notfalls konnte ich wieder auf einer Baustelle arbeiten. Ab und zu lieh mir ein Freund ein paar Dollars. Schließlich war ich so verschuldet, daß ich wieder als Hilfsarbeiter auf einen Bau ging. Für einen Jockey wäre meine Hungerkur vielleicht nützlich gewesen, für die Bauarbeit war sie es nicht. Ich konnte kaum eine Schaufel heben, und abends kam ich nur noch mühsam die sechs Treppen zu meiner Schlafstelle hinauf. Der Freund lieh mir nochmals einen Dollar. Dafür kaufte ich mir zwei Laib Schwarzbrot und eine Tüte geräucherte Heringe. Mit ihnen schloß ich mich in mein Zimmer ein und lebte eine Woche davon. Ich mochte nicht auf die Straße hinuntergehen, denn ich scheute die Autos und den Lärm. Ich fürchtete mich vor dem Hausbesitzer, vor den Menschen überhaupt und sogar vor Freunden. Schließlich fand einer meiner früheren Kollegen für mich einen Schiffsplatz auf einem Frachter, der nach San Francisco fuhr. Ich griff sofort zu. Vor der Großstadt hatte ich jetzt Angst. Ich war ungeeignet, darin vorwärtszukommen. Ohne Groll und ohne Abscheu verließ ich sie, sondern bloß mit Angst, mit reiner, nackter Angst. So kehrte ich in meine kalifornische Kleinstadt heim, arbeitete dort als Holzfäller, schrieb Romane, Kurzgeschichten und Theaterstücke, und elf Jahre gingen ins Land, bis ich wieder nach New York kam. Mein zweiter Angriff auf New York war anders, aber 91
nicht weniger albern als der erste. Nach vielen Fehlschlägen hatte einer meiner Romane einen mäßigen Erfolg. Mein Honorar erschien mir geradezu horrend. Doch das muß ein wenig erklärt werden. Von drei Romanen, die ich vorher geschrieben hatte, brachte keiner den mir dafür vom Verleger bezahlten Vorschuß von vierhundert Dollar ein. Das größte Honorar, das ich bislang verdient hatte, waren neunzig Dollar. Ich bekam sie für «Das rote Pony», aber nur weil diese Erzählung sehr lang war. Als nun meine Tantiemen an «Tortilla Flat» die TausendDollar-Grenze überschritten hatten, und als noch dazu die Paramount für dreitausend Dollar die Filmrechte erwarb, hätte ich in einen Freudentaumel geraten müssen. Das Gegenteil trat ein. Ich bekam einen Schreck. In den letzten Jahren hatte ich mich an das Existenzminimum von vierzig oder fünfzig Dollar monatlich gewöhnt. Als nun die Unsummen von mehreren tausend Dollar in greifbare Nähe rückten, befiel mich Angst. Ich fürchtete, dann später nicht in das karge, zufriedene Leben zurückfinden zu können. Denn daß das hohe Einkommen anhalten könnte, glaubte ich nicht. Ich reiste zunächst in meinem uralten Ford nach Mexico. Mit vielen Eindrücken, allerlei Keramik und bunten Masken kam ich zurück. Mit allen Einkäufen hatte die Reise sechshundert Dollar gekostet. Zufriedenheit in ärmlichen Verhältnissen ist eine schwer erlernbare Kunst. Würde ich sie wiederfinden, wenn ich sie erst einmal verlernt hätte? Ich kannte meinen unterdrückten Hang zum Luxus, der leicht entfachbar war. Außerdem war ich von jeher in alle neuen technischen Geräte und Spielereien 92
verliebt. Was ich davon sah, mußte ich kaufen; es war eine Narrheit, die bei mir fast an Laster grenzte. Wer an meinem Schicksal Anteil nahm, mußte ständig unter dem Alpdruck leiden, ich könnte mit zehn Dollar in der Tasche in einen Spielzeugladen geraten. Hatte mich New York beim ersten Male durch seine Schrecken enttäuscht, so trat es beim zweiten Male als die große, lockende Versuchung auf, der es gleichsam als heiliger Antonius zu widerstehen galt. Ich war jetzt eine Berühmtheit fünften Ranges. In einem Weltkreis sehr beschränkten Umfanges rissen sich die Leute um mich, stopften mich mit Essen und Trinken voll, mit erlesenen Gerichten und ehrwürdigem Wein. Ich aber sträubte mich dagegen wie ein störrischer Esel – aus lauter Furcht davor, den Geschmack an meinem Wein für neunundzwanzig Cents je Liter und an meinem Schweinefleisch mit Bohnen einzubüßen. Wie bei den meisten heiligen Antoniussen wäre die Versuchung keine Versuchung gewesen, hätten mich im Grunde nicht gerade Wohlleben und Sünde innig verlockt, zwei Wörter, aber für mich nur ein Begriff. Originell war das übrigens nicht. Ich kenne heute eine Menge Leute, die angesichts ihres ersten Erfolges so widerspenstig sind. Ich tat, als verachte und verabscheue ich die Großstadt mit ihren Fußangeln und Fallen zutiefst, und ich machte mir selbst vor, ich glaubte daran. Ich sehnte mich nach meinem beschaulichen Winkel in Kalifornien und lechzte nach Schweinefleisch mit Bohnen und dem Wein zu neunundzwanzig Cents. So sah ich wieder nichts von New York. Abermals hatte mich die Großstadt erschreckt, wenngleich diesmal in 93
anderer Art. Ich hielt einen Tugendvorhang über meinen Blick gesenkt. Ich beleidigte alle Leute, die nett zu mir waren. Derart entrann ich der großen Hure Babylon durch meine sittenfeste Ansicht, die Weltstadt wolle nichts anderes von mir, als mein lauteres Künstlertum und mein schlichtes Gemüt verderben. Ich mied Menschen und erst recht Menschenansammlungen. Ich war mein eigenes Publikum, dessen Beifall mir gewiß war. Hätte ich je ein anderes? Ich zog wieder in den Westen, baute mir ein Haus, kaufte mir einen Chevrolet und ging unmerklich aber stetig vom Wein zu neunundzwanzig Cents zum Wein neunundfünfzig Cents je Liter über. Und die Honorare kamen weiter. Ich warf mit dem Geld umher und vertat ein gut Teil meines neuen Reichtums für allerlei Kram. Jeder Verein oder Verband hatte seine Freude an mir, die Pfadfinder, die Jungkommunisten, die Bahnhofsmission für gefallene Mädchen, das Rote, Grüne und Blaue Kreuz und eine Menge von Leuten, deren einziger Vorzug war, bedürftig zu sein. Dazu trug eine Art von schlechtem Gewissen bei, daß ich nun Geld scheffelte und häufte. So schlecht war es allerdings nicht, daß es mich daran gehindert hätte, alle modischen mechanischen Spielereien zu kaufen, die zahlreich auf den Markt kamen, und zum Wein für neunundsechzig Cents je Liter überzugehen, nicht ohne die Kritik, er schmecke nach Brennspiritus. Damals fuhr ich öfter geschäftlich nach New York. Ich fuhr als schlichter Mann vom Lande und schenkte der Stadt überhaupt keinen Blick. Ich war zu geschäftig, um 94
den Sieg über ihre Fallen und Fußangeln auszukosten. Ein Stück von mir hatte Erfolg, es wurde viel gespielt. Aber ich ging nicht einmal ins Theater, um es mir anzusehen. Wahrscheinlich fürchtete ich mich davor, hören zu müssen, was ich geschrieben hatte. Ich verbreitete sogar das Märchen, ich möge Theater nicht. So glichen meine Besuche in New York jenen zwar lobenswerten aber doch nie ganz befriedigenden Besuchen, mit denen die Heilsarmee ab und zu die Bordelle bedenkt. Daß ich dann doch wieder in die Weltstadt kam, und zwar nun, um mich darin einzunisten, war wieder das Werk einer Frau. Wenn ich von der Anhöhe des reifen Alters, ausgestattet mit dessen Weitblick, auf mein Leben zurücksehe, erkenne ich, daß der größte Teil meiner heldenhaften Entschlüsse darin das Werk einer Frau war. Allzuoft spreche ich nicht davon, denn ein gewisser Sinn für Gleichgewicht hindert mich, das Thema Frau noch meinem reichhaltigen Sündenregister anzureihen. Wie dem auch sei, bei allem angeborenen Mißtrauen gegen den Luxus fiel ich immer wieder auf den allerteuersten Luxus herein, die Frau. Ich mietete eine Wohnung in der Einundfünfzigsten Straße, zwischen der Ersten und der Zweiten Avenue. Aber ich wollte nicht verstädtern. Die Wohnung umfaßte die beiden unteren Stockwerke eines kleinen Hauses, und unter den Fenstern des Wohnzimmers lag ein Stück verrußten Erdbodens. Ich gab ihm den Namen «Garten». Zwei Bäumen darin gelang es, sich in dem Gemisch von Kohlenstaub und Salpetersäure, das den Sauerstoff New Yorks bildet, durchzusetzen und leben zu bleiben. 95
Nun wohnte ich in der Weltstadt, aber ich tat alles, sie mir fernzuhalten. Ich legte in dem Garten einen Rasen an. Ich kaufte Riesenkisten. Darin setzte ich Tomaten, deren Blüten ich mit Wasserfarbe anpinselte. Ich holte mir aus Rockland Tonnen von Farnkraut. Ich grub die Beete um, ja, ich versuchte, einen Küchengarten anzulegen, steckte Rüben und pflanzte Zwiebeln. Sobald wieder ein gärtnerisches Werk gescheitert war, ging ich an ein anderes und ersetzte die dahingesiechten Pflanzen durch neues, vorerst noch frisches Gewächs. Dazwischen legte ich immer wieder Kilometer um Kilometer auf den Straßen zurück. Aber endlich mußte ich einmal damit anfangen, im Metzger, in der Zeitungsfrau und im Wirt an der Ecke Menschen zu erkennen, statt in ihnen nur Schreckbilder oder Feinde zu vermuten. Ich habe mit vielen Menschen darüber gesprochen; es scheint ein mystisches Erlebnis zu sein. Es reift im Unbewußten, und die Erleuchtung, die Offenbarung kommt blitzhaft. Ich entsinne mich, wann und wo das bei mir geschah. Andere sagten mir, sie hätten das gleiche erlebt. Es war in der Dritten Avenue. Die Hochbahn raste dröhnend auf den Schienen über mir dahin. Eine hohe Schneewand trennte den Gehsteig vom Fahrdamm, Kehrichteimer standen und lagen im schmutzigen Schnee. Steifgefrorene Papierfetzen flogen, von einem kalten Wind aufgewirbelt, um mich herum. Ich war vor dem Schaufenster eines Spielwarengeschäftes stehengeblieben, um einem Hampelmann zuzusehen, dessen Gliedmaßen von einer unsichtbaren Kraftquelle bewegt wurden, und da geschah es. Es war, als platze etwas in mir, als blende 96
mich etwas. Es war ein Aufleuchten in der Seele, im Gemüt: «Mein Gott, ich gehöre ja dazu!» Und damit war ein Gleichgewicht erreicht. Ich merkte überrascht, daß ich den Entgegenkommenden ins Gesicht sah. Ich nahm die Türen, die Treppenhäuser wahr, durch die die Menschen in jene Räume gelangten, die ihnen Heimstatt waren. Ich musterte die Fenster drüben, die Gardinen und die Geranien, wie sie die verrußten Scheiben bunt aufheiterten. Es war beglückend, und noch beglückender war, daß ich zu alledem gehörte, daß ich kein Fremder mehr war. Ich war ein New Yorker geworden. Die meisten, mit denen ich darüber sprach, hatten eine mühselige Probezeit hinter sich, ehe sie aufgenommen wurden. War ihre Aufnahme aber dann erfolgt, dann war sie zwiefach. Die Weltstadt nimmt einen zu guter Letzt auf, aber ebenso nimmt man die Weltstadt in sich auf. Den in New York Geborenen wird diese Offenbarung nicht zuteil. Ich weiß nicht, ob ich sie deswegen beneiden oder bedauern soll. Ich habe viel darüber nachgedacht und bin sicher, daß meine Schlußfolgerung für mich stimmt. Ob sie auch für andere stimmt, weiß ich nicht. In einer Kleinstadt fällt ein junger Mann, wenn er viel Umtrieb macht, auf. Man kennt ihn, kennt seine Familie, man beobachtet ihn und seine Angehörigen, sei es wohlwollend, sei es gehässig, jedenfalls immer interessiert. Kommt er aber nach New York, dann kann er anstellen, was er will, niemand kümmert sich darum. Er fordert die große Stadt zum Kampf heraus, und die große Stadt streckt ihn unversehens zu Boden. Für den kleinstädtischen Stolz ist das ein harter 97
Schlag. Er haßt jetzt den großen Apparat, den er gar nicht kennt, und er haßt die Menschen, die ihn unter all seinen Hüllen nackt sehen. Abweisende Unsicherheit befällt ihn; die Menschen, die er streift, sind rauh und kalt. Eines Tages aber fühlt er sich frei, ihm ist wohl in seiner Haut. Er richtet sich in der Großstadt ein, er hört zu kämpfen auf. Die Großstadt ist zu riesig, um von ihm Notiz zu nehmen, und gerade das, daß sie keine Kenntnis von ihm nimmt, entzückt ihn. Seine Unsicherheit weicht einem Empfinden seiner Freiheit. Zieht er sich an wie ein Fürst, so gibt es hier fünfzigtausend Männer, die angezogen sind wie Könige. Geht er in Lumpen, so wird er, wohin er auch geht, Zerlumpten begegnen. Ist er groß, dann findet er die Stadt von einer Unzahl von Riesen bewohnt, ist er klein, dann wimmelt sie von Zwergen. Ist er häßlich, so weist jeder Häuserblock zehn scheußliche Mißgeburten auf, ist er schön, dann erdrückt ihn die Konkurrenz anderer schöner Männer. Hat er Talent, dann entdeckt er ringsum Talent im Überfluß. Will er auffallen und die Leute verblüffen, indem er in eine Toga gehüllt durch die Straße geht, wird er auf der anderen Straßenseite bald jemanden sehen, der ein Leopardenfell über die Schultern gehängt hat. Was er auch tut oder denkt, was er auch tragen oder sagen mag, er ist nicht einzigartig. Findet er sich damit ab, so hat er unbeschränkte Freiheit gewonnen, wenn nicht, verurteilt er sich zu einem schrecklichen Los. New York ist, finde ich, anders als andere Großstädte, anders als Los Angeles oder New Orleans. Es hat einen anderen Charakter, und zwar alle Charaktere. Es ist ein Kosmos. Es mag einen Menschen vernichten, aber es wird 98
nie einen Menschen, wenn er seine Augen offenhält, langweilen. Es ist eine häßliche, eine schmutzige Stadt. Sein Klima ist scheußlich, seine Kommunalpolitik zum Grausen, sein Straßenverkehr infernalisch, der Lebenskampf mörderisch. Aber eins in seinem Wesen ist grandios: es setzt sich nicht in die Kleider. Es geht vielmehr in die Poren. Wer einmal in dieser Stadt zu Hause war, dem bietet keine andere Ersatz dafür. Mit Schönem wie mit Häßlichem erfüllt sie das Dasein. Menschenmassen, Kunst, Theater, Literatur, Großbetriebe, Verbrechen, Trunksucht, Luxus und Elend – alles streift einander, alles geht nebeneinander her. New York hat alles, New York ist alles. Es steht nie still, auch nachts nicht. Es wird nie müde, seine Luft strotzt, strömt über von Energie. Nirgends kann man so vollkommen arbeiten, ohne zu ermüden. Eine Last aller, die sich in New York niederlassen, sind ihre Besucher aus der Provinz. Sie kommen mit Listen von Plätzen, Gebäuden, Sehenswürdigkeiten, die sie besichtigen wollen. Man schleppt sie eine Woche lang durch die Stadt, durch Theater, Nachtlokale, Restaurants. Man trinkt schon nachmittags um vier Cocktail, man geht in der Morgendämmerung zu Bett und hört auf zu arbeiten. Man zankt sich mit seiner Frau und wird mürrisch zu den Kindern. Und wenn die Gäste dann endlich abreisen, sagen sie, sie verstünden nicht, wie man in solchem Sündenbabel leben könne. Ich wohne in einem Häuschen an der östlichen Straße. Es hat einen kleinen Garten, der nach Süden liegt. Mein Viertel ist mein Dorf. Ich kenne die Ladenbesitzer und 99
manche Nachbarn. Oft komme ich wochenlang nicht aus meinem Dorf heraus. Es hat wirklich alle Vorzüge eines Weilers, aber noch den, daß es keinen Klatsch gibt. Niemand kümmert sich um die Dinge des anderen, kein Mensch kommt einem ins Haus, ohne sich telefonisch anzumelden. Wenn wir unsere Haustür schließen, sind die Weltstadt und ihr Treiben ausgesperrt, und wir leben so ruhig und still für uns, als wohnten wir im finstersten Hinterwald. Wir haben viele gute Freunde in der Stadt. Doch wir sehen sie manchmal sechs, acht Monate lang nicht. Und das bringt unserer Freundschaft keinen Schaden. Anderswo fände man das nachlässig und nähme es übel. Werden wir eingeladen, dann sagen wir zu, oder wir sagen ab ohne irgendeine Erklärung. Laden wir ein, dann bitten wir zu uns, wen wir wollen, und wer nicht dabei ist, ist darüber nicht verstimmt. Zuweilen gehen wir um acht Uhr ins Bett, zuweilen überhaupt nicht. Rufen gute Freunde an, ob sie uns besuchen dürften, so ärgern sie sich nicht, wenn wir nein sagen. Ins Restaurant oder ins Theater gehen wir nur, wenn wir wirklich Lust dazu haben. Die Erklärung «ich habe zu arbeiten» wird ohne Unfreundlichkeit hingenommen. Niemand weiß und niemand will wissen, wohin wir gehen und wann wir heimkommen. Ich bin zwar nicht der erste beste, sagt man, aber es gibt hunderttausend berühmtere Leute als mich. In New York ist Berühmtheit kein Kreuz, an dem man schwer zu schleppen hat. Vielleicht mögen deshalb viele unserer Besucher aus Hollywood New York nicht. Über kurz oder lang sucht ein jeder nach einer Erklä100
rung seiner Liebe zur Stadt. Ein Mann, der bei mir arbeitete, liebt New York, weil er, wenn er nicht einschläft, aufstehen und in eins der Kinos gehen kann, die die ganze Nacht hindurch spielen. Das ist auch ein Grund, und vielleicht kein schlechterer als viele andere. Hin und wieder verreisen wir für längere Zeit. Wenn wir wiederkommen, sagen wir uns: «Gott sei Dank, wir sind wieder daheim.» Hat man einmal in New York gelebt, so mag man nirgendwo sonst mehr leben. Denn New York ist mit allen seinen Lastern und Herrlichkeiten eine Welt, in der man für sich allein bleiben kann. Und was könnte man mehr verlangen?
SEHR GEEHRTER HERR STEINBECK!
Die Post, die ein Schriftsteller bekommt, ist interessant. Bei all ihrer Vielfalt bilden sich im Lauf der Jahre Kategorien heraus. Die umfangreichste dieser Kategorien stammt von Absendern, die eins meiner Bücher gelesen haben und nun etwas dazu sagen wollen. Diese Zuschriften beginnen gewöhnlich: «Ich habe noch nie einen solchen Brief geschrieben.» Warum, weiß ich nicht. Es mag aus demselben Ursprung herrühren wie die Taktik der Autogrammjäger, die nie ein Autogramm für sich selber wollen, sondern immer nur für ihre kleine Tochter. Dann kommen Briefe, die anfangs freundlichen Lobes voll sind. Aber nach den ersten Sätzen bemängeln sie die Stoffwahl und mein ethisches Gefühl. «Es gibt doch soviel Schönes und Reines in der Welt. Warum wühlen Sie da statt dessen im Schmutz?» Die dritte Sorte ist sacksiedegrob. Gern bedienen sich darin die Schreiber des Zitates aus dem Götz. Ein Mann war mir so spinnefeind, daß er mir schrieb: «Hüten Sie sich! Sie werden diese Welt nicht lebend verlassen!» Dann folgen die Bitten um Autogramme und Photos, manche berufsmäßig, manche naiv. Die Berufsmäßigen zählen gewöhnlich die Autogramme auf, die sie schon bekommen haben. Darunter sind fast immer Thomas Mann und meist G. B. Shaw. So deutet man dezent an, 102
daß ich mich in guter Gesellschaft befinde, wenn ich ein Autogramm gebe, und nichts wert bin, wenn ich es unterlasse. Jemand schickte mir gleich fünfzig Zettel zur Unterschrift. Er war ehrlich. Zum Tauschen brauche er sie, schrieb er. Viele Briefe sind durchdacht und intelligent. Sie gehen manchmal auf eine bestimmte Periode meiner Arbeit ein, die den Schreiber interessiert und zu der er etwas beitragen möchte. Solche Post erfreut und schafft ein warmes Gefühl. Bettelbriefe kommen ständig; zur Flut wachsen sie an, wenn ein neues Buch erschienen ist. Manchmal entstammen sie einer wirklichen Not, meist aber sind sie geschwindelt, und noch nicht einmal gescheit geschwindelt. Einmal erhielt ich ein Telegramm: «sendet sofort telegraphisch vierhundert dollar für operation – pickering.» Ich kannte keinen Pickering und antwortete nicht. Tags darauf telegraphierte Pickering, zweihundertfünfzig Dollar genügten auch schon. Ich antwortete wieder nicht, und ein paar Tage später bekam ich einen Brief von Pickering, worin er mir schrieb, ich sei ein schmutziger Geizhals. Eine Kategorie bilden die Schreiber mit leichten Defekten. Ich beantwortete einmal den Brief einer Frau, die schrieb, sie sei hundert Jahre alt. Ich hätte es nicht tun sollen. Denn nun bekam ich ein Jahr lang täglich eine unleserliche Postkarte von ihr. Immerhin war zu entziffern, daß sie mich für ihren Sohn hielt, der vor fünfzig Jahren gestorben war. Später gewann ich eine Brieffreundin, die behauptete, mit mir verheiratet zu sein, und eine andere, die mir erklärte, ihr Vater sei Bing Crosby und ihre Mut103
ter Joan Crawford, und da ihr beide kein Geld gäben, müsse ich, ihr Onkel, es ihr geben. Es handele sich nur um fünfzigtausend Dollar. Ihr Photo lag bei. Sie sah reizend aus – wenn sie es selbst war. Alle Schriftsteller erhalten regelmäßig Angebote zur Mitarbeit. Meine Post besteht zu großen Teilen daraus. Meistens beginnen sie: «Ich habe ein tolles Leben hinter mir. Es braucht sich nur einer hinzusetzen und es zu schreiben.» Fast immer endet der Brief mit dem Vorschlag, die Einnahmen aus dem Buch fünfzig zu fünfzig zu teilen. Was an ihrem Leben so toll war, teilen die Schreiber nicht mit. Der Grund ist wohl immer der gleiche, und manche sagen ihn auch: damit ich ihnen den Stoff nicht stehle. Hin und wieder deuten sie etwas an: raffinierte politische Machenschaften – Verbrechen an höchster Stelle – Enthüllung eines Sündenpfuhls. Dann wird eine Unterredung vorgeschlagen, wobei mir der faszinierende Stoff erzählt werden soll. Ich weiß nicht, warum er dann weniger der Gefahr des Diebstahls unterliegt. Die Ziele der Schreiber sind immer voll von Idealen, aber der Hinweis auf die Gewinnverteilung fehlt nie. Solche Briefe kommen aus allen Schichten, von alten Damen, die Lincoln noch gesehen hatten, von Sträflingen, Pfarrern, Professoren, Träumern, Realisten. Bei einem fiel es mir besonders schwer, ihn abzulehnen. Er lautete: «Mann, ich habe Stoff für eine Million Geschichten. Was sich alles in meiner Kneipe abspielt – Mensch, Sie glauben’s nicht. Kommen Sie her und hören es sich an! Wenn Sie eine Frau haben, die kann mitkommen. Sie 104
kann hinter der Theke arbeiten, während wir Schriftstellern.» Wirklich, die Ablehnung kam mich hart an. Und dann darf ich die Mastsitzer nicht vergessen, Mann und Frau. Sie hatten sich auf einem MastsitzerWettbewerb kennengelernt und später auf einem Mast geheiratet. Als sie mir schrieben, erwarteten sie ein Kind; es sollte vierzig Meter über dem Erdboden zur Welt kommen. Sie brauchten jemanden, der ihre Geschichte schrieb; wir würden alle Millionäre daran. Einen Brief will ich hier ungekürzt veröffentlichen. In der oberen linken Ecke trug das Briefpapier den gedruckten Kopf: Weltmeisterin im Damenringkampf. Der Text hieß: Sehr geehrter Herr Steinbeck! Nach Lektüre Ihrer Bücher erachte ich Sie für den richtigen Mann für meinen Plan. Ich will meine Memoiren schreiben, gleichzeitig die Ereignisse der zwanzig Jahre als Damenringkämpferin. Gar nicht um mich selbst, sondern um meinen Beruf herauszustellen. Ich bin schon oft von verschiedenen Schriftstellern um meine Erinnerungen angegangen worden. Aber immer fühlte ich, ich muß meinen Beruf verteidigen. Und außerdem, niemand kann niederschreiben, was man selbst in zwanzig Jahren erlebt hat. Meine Geschichte würde, gut geschrieben, geradezu epochemachend wirken. Zuerst wollte ich sie selbst schreiben und nachher von einer kundigen Feder redigieren lassen, weil mir stilistische Feinheiten abgehen. Da ich aber im Augenblick in ernsten Geldschwierigkeiten bin und sofort 5000 Dollar haben muß, um die dringlichsten Schulden zu bezahlen, gar nicht zu reden 105
von einem kleinen Kapital, das ich zum Leben brauche, wenn ich meine Lebensgeschichte auf das Papier bringen will, interessiert es mich festzustellen, ob Sie diese 5000 Dollar in mich investieren würden. Das ist ein winziger Betrag im Verhältnis zu den gewaltigen Summen, die mit dem Buch verdient werden können, und selbstverständlich würden die 5000 Dollar aus den Eingängen des Buches an Sie zurückgezahlt werden. Wenn Sie wünschen, kann das Buch als von Ihnen geschrieben verlegt werden, denn ich will sowieso möglichst wenig damit zu tun haben. Allerdings, meine Karriere – ich meine: meine Karriere als Damenringkämpferin – ist mit dem Erscheinen des Buches erledigt, und ich muß deswegen ganz sicher sein, daß mir etwas von der Sache bleibt, und ich muß den Betrag auch umgehend erhalten, da meine finanzielle Lage sehr kritisch ist. Natürlich muß ich das alles mit Ihnen besprechen, damit Sie auch sehen, daß ich wirkliche Erlebnisse mitzuteilen habe, Dinge, die Sie wahrscheinlich mit Schaudern erfüllen werden. Darf ich auf postwendende Antwort hoffen? Wenn Sie nämlich nicht interessiert sind, muß ich jemand anderen finden, der meine Geschichte richtig niederschreiben kann. Nicht jeder kann das. Sie wären der richtige Mann dafür. Mit freundlichen Empfehlungen A.J. Ich muß schon sagen, diese ungeschminkte Sprache gefällt mir. Im Geist habe ich schon den Film besetzt, um so mehr, als ich ein paar Damenringkämpferinnen in Hol106
lywood persönlich kenne, Amateurinnen. Ich fühle mich geschmeichelt, daß A. J. glaubt, ihre Geschichte sei bei mir in guten Händen. Aber es geht nun einmal nicht. Und so beginne ich meinen Antwortbrief wieder mit der traurigsten aller Vokabeln: Leider …
MEIN EIGENES PARIS Impressionen
ANSPRACHE AN EINE STADT
Zuerst erschien es mir vorlaut, als Amerikaner über Paris zu schreiben. Ich fragte mich, was ich wohl sagen würde, wenn ein Franzose über Amerika schriebe. Und da fiel mir ein, daß der beste Bericht über das Amerika des achtzehnten Jahrhunderts von einem zeitgenössischen Franzosen stammt. Er brachte auf seiner Reise Einzelheiten des amerikanischen Alltagslebens jener Zeit so zu Papier, wie es einem Amerikaner niemals eingefallen wäre. Einem Amerikaner wäre alles das viel zu selbstverständlich erschienen, um es aufzuzeichnen. Heute sind wir auf die Schriften dieses Franzosen angewiesen, wenn wir wissen wollen, was man damals aß und wie man sich damals benahm. Was alle wissen, notiert man nun einmal nicht, und nach ein paar Jahren ist die Kenntnis dahin. Nicht das Geschichtliche allein erschließt sich erst auf diesem Umweg unserem Blick. Oft entdecken Fremde dort Schönheiten, wo wir blind dafür sind. Wir haben sie nicht bemerkt, weil wir sie ständig vor Augen hatten. Oft bringen uns Fragen Fremder erst zum Nachdenken über uns, manchmal leichthin gestellte Fragen, die uns erstaunlich tiefsinnig erscheinen. Zuweilen auch machen sie uns erst Tugenden bewußt, von denen wir bislang nicht ahnten, daß wir sie haben. Das gefällt uns dann natürlich gut. Das suchende Auge des Neulings sieht oft mehr als der abgestumpfte Blick dessen, der immer im selben Umkreis lebt. 111
Mein Blick über Paris ist naiv. Und er ist verzaubert. Er reizt mich, zu den Parisern über Paris zu sprechen. Vielleicht lerne ich selbst etwas dabei, vielleicht antwortet mir ein Leser auf eine Frage. Ich schreibe hier nicht als Schriftsteller, sondern als Tourist. Ich will nicht wie viele andere das Ungewöhnliche, Verborgene, Sonderbare entdecken, nein, mich lockt das Alltägliche, das Normale. Ich will sehen, was die Kinder auf den Straßen treiben, was sich auf den Märkten abspielt, wie die Bürger abends Spazierengehen. Vielleicht finde ich dabei Unterschiede zu meiner Heimat, vielleicht auch Gleiches, was uns verbindet und eint. Denn die Menschen in der ganzen Welt mögen in ihren Methoden und Praktiken voneinander abweichen, aber ihre Ziele sind überall gleich. Uns Amerikanern ist es nicht gegeben, anonym in der Menge unterzutauchen, unauffällig mit dem Milieu zu verschmelzen. Man merkt mir den Amerikaner schon von weitem an. Unter der Madeleine sprechen mich täglich mindestens vier Leute an, um mir Photos zu verkaufen, wie man sie seinen Kindern – und auch seiner Frau – nicht zeigt. Mein Französisch ist völkerverbindend; versuche ich auch nur ein Wort, herrscht Heiterkeit ringsum. Gestern kam ich aus dem American Express mit einem Brief-Umschlag voll Geld in der Hand. Sogleich boten mir drei junge Damen ihre Dienste an. Sie konnten augenscheinlich durch dickes Papier sehen, um zu erkennen, wie liebenswert ich bin. Jeder sieht sogleich, daß ich Tourist und Amerikaner bin. Ich bin darüber nicht traurig und deprimiert. Ich bin auch nicht eitel darauf. Ich stelle es einfach fest. 112
Für mein Vorhaben bin ich dreifach gerüstet. Meine beiden Jungen verbringen den Sommer mit mir in Paris. So sind drei Augenpaare und drei Gehirne zum Registrieren bereit. Und Blicke von Kindern sind scharf. Ob nun verständlich ist, was ich will? Ich will über Paris schreiben, nicht, wie es ist, sondern wie ich es sehe. Ich werde kein Urteil fällen, und wenn ich mich irre, bitte ich um Widerspruch, und wenn ich etwas frage, hätte ich auch gern eine Antwort. Ich habe ein hübsches Zimmer mit Büchern bis zur Decke. Der Schreibtisch steht vor dem Fenster, und mein Blick geht auf einen Kastanienbaum, dessen Blüten in der Sonne flimmern. Die Vögel sind leicht verrückt vor Lebenslust, denn ihre Nester sind gebaut, die Eier sind gelegt, und nun freuen sich die Eltern auf die neue Pariser Vogelgeneration. Unten an der Ecke spielt auch schon eine neue, lebhafte Pariser Menschengeneration mit Energie und Krach. Solange die Stimmen solcher Vögel und solcher Kinder gellen, solange bleibt die Welt in ihrem Schwung. Wenn wir, die Alten, voll Melancholie und Zynismus stecken, so ist das unser Fehler, nicht der ihre. Ich frage mich oft, ob es nicht besser wäre, wenn die Kinder ohne den törichten Zwang unserer Erfahrung heranwüchsen, einer Erfahrung, aus der wir selbst so wenig gelernt haben. Das also will ich. Abzuwarten bleibt, ob ich es kann und ob es der Mühe wert ist. Hoffentlich blamiere ich mich nicht.
DAS STEINERNE SCHIFF
Es wäre absurd, wollte ich Neues oder Originelles über Paris schreiben: Keine Stadt der Welt wurde mehr besungen und mehr geliebt. Wer ankommt, spürt sogleich, wie ihn diese Stadt umfängt, die mehr ist als eine Stadt. Viele Amerikaner mögen Paris um des Vergnügens, um der Restaurants, um der Schönheit – in jeder Form – willen besuchen. Gewiß, wie jedermann liebe auch ich gutes Essen und Schönheit; aber wenn ich wieder nach Paris komme, ist das für mich eine Art Heimkehr. Dann zieht es mich unweigerlich zur Ile de la Cité, jenem steinernen Schiff mitten in der Seine, das Reichtümer für die ganze Welt trägt. Ich liebe diese Insel, und ich liebe die Musik aus Stein darauf: Notre Dame. Ich liebe die Gäßchen und Häuser, die greifbaren Zeugen ferner Zeit. Die Berührung damit weckt in mir geheime gebundene Kräfte. Die Insel ist heiliger Boden. Hier entstand das Denken des Abendlandes, jenes mutige Denken, das sich kämpfend aus den noblen Trümmern Roms und Griechenlands befreite. Hier sichteten die Großen das Erbe der Vergangenheit, bewahrten das Echte, verwarfen das Falsche; sie wärmten mit ihrem neuen Feuer eine erstarrende Welt. Dann aber stieg die Insel gleichsam über sich selbst und über den Fluß hinaus, sie erhob sich aus seinem Bett, und hier, unter meinen Füßen, geschah das Wunder, das physische Wunder, langsam, mühevoll mit allen Wehen 114
der Geburt und des Wachstums. Man sagt, die französische Gotik lenke den Blick des Menschen zum Himmel empor, sie trotze scheinbar dem Gesetz der Schwere, sie durchstoße die dem Stein gesetzten Grenzen. Notre Dame und ihre Schwestern sind Zeugnisse für diese beseligende Illusion. Allein die Kathedralen sind nicht die einzigen Zeugnisse. Mein eigenes Denken, mein eigenes Verstehen sind ebenso auf dieser winzigen Insel gezeugt worden – damals, als die Beziehungen von Mensch zu Mensch auseinandergeknüpft wurden, um neu auf den Webstuhl gelegt und zum Gewebe der eigenen Verantwortlichkeit verwoben zu werden. Hier wurde die Freiheit geboren, nein, nicht nur die politische Freiheit, sondern die gewaltige Idee des Rechts, ja der Pflicht des Menschen, in seinen Gedanken die Welt zu umgreifen und den Himmel zu berühren. Diese Insel hob den lastenden Himmel der Vergangenheit von uns auf und weitete deren engen Horizont. Meine Söhne sind noch zu jung für Abstraktionen. Aber ich kann sie auf die Insel mitnehmen und sie ein wenig durch den Schleier vor dem Vergangenen durchblicken lassen. «Hier, Jungen, wo ihr jetzt steht, hat Cäsar gestanden, und dort, seht ihr, über dieses Pflaster trabte der Zelter von Richard Löwenherz. Da vorn ging Franz der Erste und an seiner Seite vielleicht gerade Leonardo da Vinci. Hier hat Abälard seine Kapuze zurückgeschlagen und seiner Gedanken Glut in seine Predigt gegossen.» Der großartige Geisterzug bezaubert meine Jungen. Dann gehen wir zum Fluß hinunter, setzen uns auf die Ufermauer und lassen die Füße über dem Wasser bau115
meln. Wir sehen den vielen Fischern zu und warten geduldig, ob einer etwas fängt. Hat endlich irgendwo etwas angebissen, dann rennen wir hinzu, um den Fisch zu besichtigen und dem Mann zu gratulieren. Meist ist es ein kleiner Gründling, aber der Triumph des Anglers ist größer, als ihn ein Hochseefischer je erlebt. Wir gehen weiter, unsere Absätze klacken auf dem Pflaster. Der Fluß trägt dickbäuchige Lastkähne an uns vorbei, Wäsche trocknet auf ihrem Deck. Das Leben scheint uns geruhsam und leicht. Wir riechen, was gekocht wird, und einmal sehen wir durch das Kombüsenfenster eine dralle Frau mit aufgekrempelten Ärmeln, wie sie mit der Kelle Runden in der brodelnden Suppe dreht. Doch wir können ihr nicht zusehen, denn es gibt einen Aufruhr. Ein anderer Angler hat einen wilden Fisch an der Schnur, etwa daumengroß. Als ich wieder einmal so am Ufer saß, befiel mich ein abscheulicher Gedanke, bösartig und gemein. Ich erzählte ihn einem französischen Freund. «Was geschähe», fragte ich, «wenn ich in einem Fischgeschäft eine lebende Forelle kaufte, vielleicht dreißig Zentimeter lang, sie hierherbrächte und sie heimlich an meiner Angelschnur ins Wasser würfe? Dann zöge ich heftig an meiner Rute, gebärdete mich schrecklich erregt und landete schließlich diesen sensationellen Fang, der noch keinem gelang. Was meinen Sie?» «Liebster Freund», stöhnte mein Gefährte, «bitte tun Sie das nicht. Schlagen Sie sich das aus dem Kopf, ich bitte Sie inständig. Versprechen Sie mir, so etwas nie zu tun, an so etwas noch nicht einmal zu denken!» 116
«Nun gut. Aber wenn – gesetzt den Fall, ich täte es, was geschähe dann? Was?» In tiefem Ernst erwiderte mein Freund: «Fünfzig Angler, die Elite der Seinefischer, fünfzig unbescholtene Männer, Familienväter, fünfzig Männer lauterer Gesinnung begingen auf der Stelle Selbstmord.» Auf dem Heimweg kommen wir wie immer über den Vogelmarkt. Wie jeden Tag wollen wir einen Vogel kaufen. Doch wieder kaufen wir keinen. Wir können uns nicht entscheiden. Wir wollen sie alle haben. Wie mich die Insel lockt, dieses steinerne Zauberschiff, wie sie mich ruft, wenn ich ihr fern bin! Wie sie mich heiter macht, weil sie mir sagt, daß die Welt nicht untergehen wird, daß die Ideen unsterblich sind, daß die Menschheit unsterblich ist. Diese Insel mitten in ihrem zeitlosen Fluß beweist mir, wie ich zwar bloß Staub, aber doch etwas wert bin. Und die Forelle bleibt im Fischgeschäft.
MEIN EIGENES PARIS
Mir wird vorgeworfen, ich sähe zu wenig von Paris, um davon erzählen zu können, schon gar den Parisern. Manchmal bliebe ich tagelang auf meiner Terrasse, und wenn ich wegginge, so höchstens zur nächsten Ecke, zum Zeitungsstand oder ins Tabakgeschäft. Und manchmal ginge ich wohl auch ein paar Kilometer durch die Straßen, sähe mir Schaufenster an oder sähe mir andere Leute an, wie sie Schaufenster ansehen. Ich müsse, sagt man mir, endlich das wahre Paris kennenlernen. Ich kenne ein kleines Restaurant am linken Seineufer nahe einer der Brücken. Vier winzige Tische stehen auf dem Gehsteig. Von einem dieser Tische sah ich während einer Stunde vier – nicht schwere – Verkehrsunfälle und deren leidenschaftliche Abwicklung; ich bewunderte die dabei entfaltete Logik und zugleich das Temperament. Aber das, sagt man mir, sei nicht das wahre Paris. Ich habe in halboffene Fenster hineingesehen, ich bin beobachtend über Hinterhöfe gegangen, ich habe den schönen Beinen und geschmeidigen Hüften junger Frauen nachgeblickt, wenn sie über das Trottoir glitten wie eine Raupe über eine Blüte. Aber das sei nicht das wahre Paris. Ich habe mehr als mir guttat in jenen kleinen Restaurants gegessen, wo das Essen so ist, daß man lieber unter Magenkrämpfen sterben als einen Gang auslassen möch118
te. Aber diese Restaurants seien nicht die wahren Restaurants von Paris, die wahren kenne ich noch nicht, wird mir gesagt, die fine fleur der Restaurants. Länger als eine Stunde habe ich gaffend auf einem Boulevard einem Mann zugeschaut, der Puppen an versteckten Fäden tanzen ließ. Aber das ist nicht das wahre Paris. Ich bin zwischen Bergen von Gemüsen umhergegangen. Ich habe einen Blumenkohl gestohlen, eigentlich hatte ich eine Artischocke daneben nehmen wollen, doch das erschien mir zu spärlich. Das ist nicht Paris. Ich habe an meinen eigenen Muskeln die Erschöpfung der Arbeiter gespürt, die todmüde auf dem Heimweg wie ablaufende Spielzeugfiguren die Pedale ihrer Fahrräder treten, und ich habe im Bistro bei einem verzweifelten Arbeiter gesessen und mit ihm – nach einigen Gläsern Rotwein – auf die da oben geschimpft, die einem das Leben verderben, die Reichen, die Mächtigen, die ohne Herz. Das ist nicht Paris. Ich habe auch toll gelebt und mich amüsiert. Ich bin morgens mit süßen Mädchen am Arm aus einem freundlichen Haus herausgekommen und habe die Verachtung in den Blicken der Leute gesehen, die ausgeschlafen zur Arbeit gingen. Ich mag kein Erlebnis und keine Stelle mehr nennen, denn jedesmal sagt man mir, es war nicht das richtige, das echte, das wahre Paris. Aber wo und was ist, um aller Götter dieser Stadt willen, das wahre Paris? Ich steige in die Katakomben hinunter. Es waren, sagt man mir, nicht die richtigen Katakomben. Ich komme aus dem Schlachthaus. Es war nicht die richtige Stunde, ich hätte gehen 119
sollen, wenn die Pferde geschlachtet werden. Ich gehe ins Parlament. Vorige Woche hätte ich gehen sollen. Aber ich kenne die Antwort darauf. Kein Paris, und welches Paris ich auch sehen könnte, ist das wahre – außer für mich selbst. Das muß ich begreifen, das muß meine Überzeugung werden. Paris ist das ganz persönliche Privateigentum jedes seiner vier Millionen Einwohner. Und keiner dieser vier Millionen nimmt meine Unkenntnis seines eigenen, speziellen Paris hin. Mir bleibt nur ein Weg. Ich muß mein eigenes Paris haben, und dieses Paris, mein Eigentum, wird dann für mich das einzig wahre Paris sein. Im Morgengrauen stehe ich auf und gehe spazieren; ein Versuch, noch einmal einzuschlafen, wäre nicht der Mühe wert. Die Tauber tänzeln und bocken wie Zuchthengste, und die Spatzen raufen sich so wild auf dem Trottoir, daß ich einen Bogen um sie machen muß. Die Luft ist voll vom Duft frischen Brotes, und die Hausfrauen eilen, die knusprige lange Stange halb unter dem Schal verborgen, nach Haus. Vor dem rosa Horizont wirken die Schornsteine schwarz. Leichter Wind treibt die eigentümliche Mischung der Düfte eines frühen Morgens hin und her. Meine Freundin, die Kioskfrau, öffnet die Läden und legt ihre Zeitungen aus. Eine Taxe fährt langsam vorbei, der Fahrer streift mich mit einem hoffnungsvollen Blick, aber dann merkt er an meinem Gang, daß ich nicht heim, sondern ausgehen will. Ich spreche nicht französisch. Das hindere mich daran, hat man mir oft gesagt, Paris kennenzulernen. Aber vielleicht begreife ich gerade dadurch Paris besser. Mich len120
ken keine Worte ab. Ich sehe um so mehr Farben, Formen, Gesten; die Worte bleiben nur eine Art Begleitung zur Melodie der Stadt. Ich trete in ein Café ein. Mit verschlafenem Blick nähert sich der Kellner, bringt dann eine überschwappende Tasse mit Kaffee und verbessert dabei nachsichtig und dezent meine Aussprache. Gegenüber liegt ein Kino, ich sehe es durch die Glasscheibe. Ein junges Mädchen geht eilig vorbei, zur Arbeit. Wird sie in einem Büro sitzen, in einem Laden stehen? Sie hält im Laufen inne und blickt mit gewendetem Kopf an ihren Beinen herab, um sicher zu sein, daß die Strumpfnähte richtig sitzen. Dann geht sie rasch weiter und sieht die Bilder vor dem Kino. Wieder bleibt sie stehen und betrachtet die Photos. Ein strahlender italienischer Filmstar mit gleichsam pneumatischen Formen: das Mädchen strafft die Schultern und wölbt die Brust heraus. Eine düstere, trotzsprühende Halbwüchsige im besten Hollywood-Stil: das Mädchen wirft den Kopf in den Nakken. Ein jugendlicher Liebhaber mit schwarzen Augen, schwarzen Haaren, schwarzer Leidenschaft blickt hypnotisch aus dem Bild: das Mädchen senkt die Wimpern halb über die Augen und bietet Verheißung gegen Verheißung; einen Augenblick lang stemmt sie die Hand in die sanft geschwungene Hüfte. Dann läuft sie eilig weiter. Die Strumpfnähte sitzen wirklich richtig, und die Hand huscht wie ein Eichhörnchen um den Kopf und streicht die störrischen Haarsträhnen zurecht. Wie schön das Mädchen in der Morgenfrühe ist, so schön wie seine Stadt im frühen Licht – aber das ist nicht das wahre Paris.
EHRENGRUSS
Mein Freund Robert Capa ist in Nordvietnam gefallen. Eine Mine hat ihn zerrissen. Mit ihm verlor ich ein Stück meiner Welt. Ich habe mit Capa zusammen gearbeitet, habe mit ihm die Welt durchstreift. Wir waren gemeinsam im Krieg. Er war tapfer. Er war mein Freund. Ein Stück meiner Lebensfreude starb mit ihm. Als ich es erfuhr, mußte ich laufen, wandern. Ich weiß nicht mehr, welche Wege meine Füße nahmen; ich ging durch Straßen, über Brücken, durchlief Anlagen und Parks. Wie ein Blinder nahm ich nur unklare Schatten von vorübergehenden Menschen um mich wahr. Paris schien mir trüb, ohne Licht. War ich zufällig dort hingelangt? Ich stand am Arc de Triomphe, ich blickte in die Flamme, die da für das ewig lebende Frankreich brennt. Etwas hat mich wohl, mir unbewußt, dorthin gezogen, wo meine Trauer mit der Trauer von jedermann am Grab des unbekannten Soldaten verschmelzen kann, um mit anderen gemeinsam jenen Mut wiederzufinden, jene Hoffnung, die im Lebensrhythmus nach der Trostlosigkeit aufsteht. Oft habe ich gedacht, um Größe zu erlangen, müsse der Mensch immer wieder den Boden für seine Hoffnung im Vergangenen finden. Männer und Frauen umstanden das Grabmal und blickten in die daraus emporlodernde Flamme. Einige 122
waren nur aus Neugier da, aber andere, das sah ich, standen aus dem gleichen Drang hier wie ich. Ich habe mit Capa den Krieg erlebt. Ich weiß, was Krieg ist. Er ist das letzte Eingeständnis, daß nicht Vernunft über die Nationen herrscht. Und weil ich weiß, was Krieg ist, verließen meine Gedanken Capa und wandten sich all den Menschen in der großen Festung Vietnam zu, die eine anrennende Menschenflut bestürmte. Als Soldaten taten sie ihre Pflicht, wie man sie ihre Pflicht zu tun gelehrt hatte. Sie waren nicht freiwillig dort. Man hatte sie dorthin geschickt. Sie hätten erwarten können, man komme ihnen zu Hilfe. Nur durchhalten müßten sie. Und mit jeder Stunde, die verstrich, rückte der Feind näher heran. Die Soldaten hielten aus, aus Stolz, aus Kameradschaft, es mußte ja sein. Sie konnten nicht wissen, daß die Welt draußen, die hätte Hilfe bringen müssen, dabei war, Verhandlungen zu pflegen, für und wider abzuwägen, auszutüfteln wie und wann. Ich glaube, Zorn wäre in die Soldaten gefahren, hätten sie es gewußt. Und als dann ihr Mut unter der Menschenlawine, in Schlamm und unter Regengüssen und unter der Übermacht der Waffen niederbrach, was dachten sie da von uns? Was denken sie heute von uns? Was denken heute ihre Mütter, ihre Brüder, ihre Schwestern von uns? Ich verstehe nicht genug von der großen Weltpolitik, um zu wissen, ob sie hätten gerettet werden können. Ich weiß nur, daß sie hätten gerettet werden müssen. Ich weiß, daß an ihnen kein Makel ist, aber an uns. Unter dem Arc de Triomphe flackert die Flamme, die 123
von Frankreichs Mut und Blut brennt. Je nach den Windstößen senkt sie sich oder richtet sich hoch auf. Wir haben in unserem sicheren und bequemen Leben die Festung aufgegeben, ihre Verteidiger können nichts dafür. Ich sehe mir die Leute an, die hierhergekommen sind, um von der flackernden Flamme Kraft und Zuversicht zu gewinnen. Die Steinbogen darüber sind Symbol für die Größe Frankreichs, und davor flattert ungestüm die Standarte im Wind. Angesichts unserer Feigheit und unseres Unverstandes sollten wir oft hier stehen, damit dieser Funke von Schönheit und Größe zu unserem Gewissen spricht, und wir sollten mit den anderen zusammen beten: Helft, daß er nie erlischt. Ich dachte daran, daß die Flamme wieder blutige Nahrung erhalten hatte. Wissen die Soldaten, die nicht gefallen sind, daß die Flamme noch brennt? Sie müssen daran zweifeln. Gingen doch die Parteiführer und die Leute an der Macht, die entscheiden – oder nicht entscheiden – zum Grab unter dem Triumphbogen und ließen dieses Feuer, das von Blut brennt, in ihr Gewissen schlagen. Sie haben dabei nichts zu verlieren, aber sie können dabei ein wenig Größe gewinnen. Mein Freund Capa war ein gütiger, edler Mensch. Ich werde oft zu der Flamme gehen, denn auch er hat nun dem ewigen Feuer durch seinen sterblichen Stoff Nahrung gegeben. Hin und wieder will ich in diesem Sommer ein paar Blumen auf die Grabplatte legen, nicht für die Soldaten, sondern für mich. Denn da ich lebe, trage ich mit Schuld an der Vergangenheit und bin mit verantwortlich für die Zukunft. 124
Ich sah einen kleinen Jungen, der beim Bäcker Brot geholt hatte. Er trug die lange Brotstange geschultert. Plötzlich straffte er sich im Gehen, und seine Füße nahmen Marschtritt an. Das Brot war sein Gewehr, er war nun Soldat. So kam er am Palais des Präsidenten der Republik vorbei. Als er beim Wachtposten vor dem Portal vorüberging, präsentierte der dort in Galauniform stehende Soldat der Garde Républicaine vor dem Kind sein Gewehr. Der Junge erwiderte den Ehrengruß mit dem Brot, würdig und ernst.
DICHTER AUF DEM LAUFSTEG
Das seltsamste Fest, das ich je sah, war die Kirmes am Etoile in Paris. Nie habe ich etwas erlebt, was damit verglichen werden könnte. Tausende, Männer und Frauen, standen oder saßen im Regen, um einige hundert Berühmte oder weniger Berühmte zu sehen. In Amerika widmen die Großen von Bühne und Film den Wohltätigkeitsfesten viel Zeit und Talent. Doch hier war es neu für mich, das Talent einer Nation auf kleiner Fläche versammelt zu sehen, um die Stützen und Träger seiner Freiheit zu feiern. In einer Zeit der Klassenspaltungen bewies mir die Kirmes, wie die innere Einheit der Franzosen noch wirkt, wie intensiv sie noch lebt. Mich erregte die Kirmes, und sie schmeichelte mir. Ich sollte mich zu den Schriftstellern setzen, die Autogramme zu geben und Widmungen in ihre Bücher zu schreiben hatten. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber es war sicher nicht das, was geschah. In Amerika halten die Schriftsteller einen recht bescheidenen Platz im Raum der Nation besetzt. Niemals wird ein Autor aufgefordert, an einer größeren Veranstaltung teilzunehmen; zwischen den Lesern und den Autoren besteht dafür zu wenig Kontakt. Nun aber geleitete mich ein Junge, der ein an einer Stange befestigtes Schild mit meinem Namen trug, durch ein Menschenmeer. Es war wie im Traum. Plötzlich stand 126
ich nahe einem Mikrophon. Dahinein sprach ein mir unbekannter Herr. Er beschrieb gerade einen Menschen von solcher Schönheit, solcher Begabung und von solchem inneren Wert, daß ich mir wünschte, diesen Halbgott einmal kennenzulernen. Am Schluß seiner Lobpreisung fiel mein Name. Der Halbgott war ich. Schade, daß das nicht gewisse amerikanische und englische Kritiker hörten, deren Meinung über mich um einige Grade von solchem Lob abweicht. Ob nun des Ansagers Urteil über meine Bücher zutrifft oder nicht, ich muß sagen, mir gefiel es gut. Nun wurde ich über einen langen, erhöhten Laufsteg geführt wie ein Mannequin. Tausende von Köpfen waren mir zugewandt. Es gab Zurufe und Applaus. Noch nie hatte ich vor einem Publikum gestanden; es war erschrekkend und angenehm zugleich. Ich glaube, so etwas kann gefährlich werden. Man könnte Gefallen daran finden. Doch bald stellte sich das natürliche Gleichgewicht wieder her. Als ich am Ende des Laufsteges war, hörte ich Pfiffe. Und mir fiel ein Klub ein, den im vorigen Jahrhundert Schriftsteller gegründet hatten. Aufgenommen wurde nur, wer in Paris ausgepfiffen worden war. Turgeniew hatte dem Klub beitreten wollen, doch er wurde abgelehnt, weil Paris ihn nicht ausgepfiffen hatte. Er sei in Moskau und Petersburg nicht nur ausgepfiffen, sondern sogar mit Steinen beworfen worden, wandte Turgeniew ein. Es nützte ihm nichts. Seine Voraussetzungen seien ungenügend, hieß es, nur wer in Paris ausgepfiffen war, galt. Nun war ich in Paris ausgepfiffen und war stolz. Schließlich kam ich zur Tribüne der Schriftsteller. Da 127
saßen die großen, bedeutenden Autoren Frankreichs. Sie räumten mir einen Platz ein. Was dann geschah, war für mich beinahe unfaßbar. Eine endlose Schlange von Menschen, Männer und Frauen jeden Alters und jeden Standes, zogen an uns vorbei. In den Händen hatten sie Bücher von uns und baten jeweils den Verfasser, seinen Namen hineinzuschreiben. Zuerst schrieb ich wie irr, als ich jedoch einmal aufsah, bemerkte ich, wie André Maurois, der neben mir saß, höchst sorgfältig und ruhevoll schrieb. «Nur keine Hast», sagte er zu mir, «lassen Sie sich ruhig Zeit.» Ich folgte seinem Beispiel und sah mir die Leute an, die meine Bücher hatten. Das war für mich höchst aufschlußreich. Für viele war der Erwerb eine große Ausgabe, ein Opfer, das sah man. Kann es für einen Autor ein größeres Kompliment geben? Was könnte ihn mehr ehren als das Opfer von Menschen, die das Geld für sein Buch vom Notwendigen absparen müssen – welchen Zweck der Kauf auch immer haben mag? Da waren junge Mädchen mit frischen Wangen und schüchternen Blicken; sie wurden noch hübscher, wenn sie ein bißchen darüber lächelten, als ich ihren Namen, den sie mir gesagt hatten, falsch schrieb. Da waren junge Burschen, fast noch Knaben; ihre Augen glänzten schwarz wie Heidelbeeren, und ein paar von ihnen klammerten beide Hände um die Tischkante und vergaßen vor Aufregung das Atmen. Ältere Frauen warteten geduldig und hielten das Buch schon an der richtigen Seite aufgeschlagen hin. Soldaten kamen mit Büchern und Autogrammalben. Ein Fallschirmspringer gab mir ein Stück tarnfarbener Ballonseide als Gegengabe 128
für meine Unterschrift. Ich versuchte, in jedes Buch etwas Persönliches zu schreiben. Sie hätten sich über mein mangelhaftes Französisch ärgern oder darüber lachen können. Das geschah nicht. Einige baten mich ausdrücklich, ich solle ja englisch schreiben. Und dann, wie es immer ist, wenn der Kontakt zwischen Menschen erst einmal hergestellt ist, sprachen sie von sich selbst. «Das ist meine Tochter. Sie heiratet nächste Woche.» «Meine Mutter konnte nicht kommen. Sie ist krank. Würden Sie das Buch ihr widmen?» «Ich bin im Krieg verwundet worden. Ich habe ein künstliches Bein.» «Ich bin Schriftsteller. Aber unbekannt.» «Noch», tröstete ich ihn. Hin und wieder drang von draußen der Beifall der Menge vor dem Laufsteg herein, wenn eine neue Berühmtheit vorgestellt wurde. Ich hätte jedesmal gern gewußt, wem er galt. Aber die Schlange vor mir kroch unentwegt weiter, und immer weiter sahen midi wundersam sprechende Augen an. Es war für mich ein Erlebnis warmer Menschlichkeit wie kein anderes je zuvor. «Sie müssen doch müde sein», sagte jemand auf der Tribüne zu mir. Vier Stunden waren vergangen; ich war nicht müde. Mein Zeitsinn stand still. Natürlich fühlte ich mich geschmeichelt. Aber es war noch mehr. Nie werde ich die Gesichter und die Empfindungen dabei vergessen.
SUCHE NACH EINEM GÖTTERSITZ
Paris hat mich herzlicher und freundschaftlicher bei sich aufgenommen, als ich erwarten durfte. Ich erhielt hier Ehrungen, wie sie meine Heimat nicht kennt; in Amerika kann ein Schriftsteller nur sagen, er sei erfolgreich, wenn er keinen Ärger mehr mit der Polizei und dem Gerichtsvollzieher hat. Und nun wurde mir noch eine ganz unerwartete Ehrung zuteil. Jockeys und Brauereibesitzer sollen stolz darauf sein, geadelt zu werden, memoirenschreibende Gesellschaftsdamen und millionenschwere Filmproduzenten mögen hochmütig die Rosette der Ehrenlegion tragen. Es sei ihnen vergönnt. Denn mir wurde gerade durch eine mächtige Gruppe, die anonym bleiben will, die Wahl eines Musensitzes freigestellt, eines Stammlokals. Darin bekomme ich meinen eigenen Tisch in einer gut beleuchteten und gut sichtbaren Ecke. Jedermann kann mir dann täglich zusehen, wie ich schreibe. Dort werden meine Bücher unter den bewundernden Blicken der Umsitzenden entstehen, die dabei ihren Apéritif trinken. In Momenten höchster schöpferischer Konzentration werden die Kellner dem Publikum «Pst!» gebieten. Die Mitteilung von dieser Auszeichnung brachte mich dem Platzen vor Stolz nah. Nein, sagte ich, das mache gar keine Schwierigkeit, gleich würde ich ein Lokal wählen, und dann ließe ich mich dort nieder, bis überall bekannt 130
sei, das Café «Zur lahmen Maus», oder wie es heißen werde, stehe jetzt im Rang des Olymps. Doch so einfach war es nicht. Es gibt Tausende von Restaurants. Ich habe die Musensitze der Großen von einst durchwandert, von der Rotonde bis zu den Deux Magots, wo der Hauch der Genialität den Gästen spürbar in die Nasen dringt. Da fiel mir ein Mißstand ein, der an meinem Musensitz abgestellt werden muß. Man hat seinen Tisch und seine Zuschauer. Soweit gut. Aber die Gäste kommen eben nur, um einem zuzuschauen, und das regt noch lange nicht zu einem guten Konsum an. Doch ist wohl der Verzehr kleiner und billiger Getränke immer noch besser als ein leeres Lokal. Nun ist auch der größte Meister nicht zu jeder Stunde da. Er muß auch einmal weg sein, sei es auch nur, um ein wenig mehr oder weniger allein zu schlafen oder sich auch einmal ein bißchen zu waschen. Es hat sogar schon solche Meister gegeben, die zeitweise außer Landes waren, natürlich nur zur Erfüllung einer literarischen Mission. Dann bleibt der Platz in der Ecke leer. Ein gewöhnlicher Gast darf dort nicht sitzen, und so wird der Tisch zum toten Klotz am Bein des Betriebs. Mit solchem Übel mache ich Schluß. In mein Stammlokal wird in solchem Fall ein Doppelgänger placiert. Ich lasse ihn vom Musée Grévin herstellen und von Citroën mit einer durchdachten Mechanik versehen. Er wird an meinem Tisch mit der rechten Hand unaufhörlich schreiben und mit der linken dann und wann einen Kognak hinter die Wachslippen schütten. So wird der Gast zu keiner Stunde enttäuscht. Die Apparatur wird natürlich auch Autogramme geben. Wie sich 131
verhindern läßt, daß statt meiner Bücher Scheckhefte unter die Autogrammhand geschoben werden, wird noch geklärt. Ich denke, das Ganze ist eine nützliche Idee. Ich habe viele Restaurants geprüft. Für wichtig hielt ich dabei die Stärke der Spirituosen, den Komfort der Stühle, die Liebenswürdigkeit der Kellner. Die Wahl war nicht leicht. Wohin soll sie fallen? In die fröhliche Freiheit des Montmartre, in die geistige Sphäre des Montparnasse, in die würdige Vereinsamung der Champs Elysées? Das will gut überlegt sein. Es geht ja um die Unsterblichkeit. Und die Unsterblichkeit hat ihre Rechte und ihre Pflichten. Zu den Pflichten gehörte dann auch die Diskussion. Ich dachte daran, wie es darin um die Form, die Struktur, die Evolution des Quadrizyklismus oder Zykloquadrismus und um die supramythische Entropie gehen werde. Mir kamen Bedenken, ob das nicht ein wenig langweilig würde. Ich spürte das Halseisen meiner neuen Stellung drückend im voraus. Der Gedanke gewann an Reiz, in das erste Restaurant an meinem Weg gehen zu können, und koste es auch Stammlokal und Prominenz. Hat nicht Napoleon gesagt, nur mit vollem Magen tauge eine Armee etwas? Jetzt fiel mir der Standort für meinen Musensitz ein: in den Markthallen. Die prächtigen Metzger mit den blutigen Schürzen sollen die Gefährten meiner Mahlzeiten sein, die gotisch getürmten Haufen von Karotten und Artischocken meine Architektur und der Pflanzengeruch von Lattich, Petersilie und Kresse mein Weihrauch. Im geschäftigen Durcheinander der ersten Morgen132
stunden, da die Tageshitze erst die Dachfirste bestreicht, werde ich mein Zwiebelgericht essen und meiner Muse begegnen. Sollen doch die anderen zu den Quellen des Geistes gehen und dort Labsal suchen! Hier, hier, in der großen Kathedrale des Magens sei mein Göttersitz. Die knirschenden Räder der Marktkarren und das Schreien der Händler und Käufer seien meine Musik. Die Stilformen wechseln. Die Kritik der Gegenwart verwirft die Gedanken der Vergangenheit. Aber die Rübe und die Zwiebel, der Pfirsich und die Melone, die Rinderkeule, die anmutig über der Schulter des Metzgers liegt, sie sind unsterblich. Da wird mein Musensitz sein. Ich fürchte nur, man wird mich dort nicht haben wollen.
ADIEU MON PARIS
Diese kleinen Aufsätze habe ich für den Figaro Littéraire geschrieben. Die Mitarbeit an diesem Organ hat mir viel Freude gemacht. Nicht weniger aber freute mich die liebenswerte Aufnahme meiner Skizzen durch ihre Leser in Paris. Zuerst war ich zaghaft. Ich kannte ja wenig vom französischen Denken und wußte nicht genug über die französische Geschichte der letzten Zeit. Doch als ich dann sah, wie nachsichtig die Pariser meine Arbeiten aufnahmen, verlor ich meine anfängliche Scheu. Ich erhielt sogar Briefe, worin stand, mein Stil sei echt französisch. Kann das sein? Ich denke, ich schreibe meinen eigenen Stil. Und damit beweisen solche Zuschriften, wie die in aller Welt als Individualisten bekannten Franzosen wirklich die Eigenschaft besitzen, die ein Kennzeichen des Individualismus ist: Toleranz. Pläne und Hoffnungen erfüllen sich nur selten voll. Ich hatte mir vorgenommen, mich dem ganzen Paris zu widmen, mir das ganze Paris zu unterwerfen. Aber ich hatte aus New York zu wenig gelernt. Geradeso wie dort ging es mir auch hier: mein Stadtviertel wurde meine Stadt. Ich durchstreifte auch andere Viertel gewissenhaft. Doch wo ich mein Brot und meinen Wein für den Haushalt kaufe, da bin ich daheim, da ist mein Dorf. Der Polizist an der Ecke ist für mich nicht der Arm der Staatsge134
walt, sondern er ist mein Polizist. Er ist zu meinem Schutz da, und ich bin mit ihm bekannt. Die Leute meines Viertels sind meine Nachbarn. Ich bin kein Fremder mehr für sie, und sie sind mir nicht mehr fremd. Betrachtet man ein Gemälde, dann wirkt es zuerst insgesamt. Das Bild ist ein Ganzes, die Details verschwimmen. Dann jedoch gewinnt das Einzelne Kraft, und das Ganze verschwimmt. Dieser Prozeß muß sein, und er ist gut. So wird Paris für mich immer mehr eine aus vielen kleinen Einheiten zusammengesetzte Stadt, und jede dieser Einheiten ist ein Mensch. Auch in einer fremden Sprache befreien sich die Wörter erst allmählich aus den Sätzen, so daß man sie einzeln lernen und behalten kann, und geradeso lösen sich in einer fremden Stadt die Einzelwesen nach und nach aus der Menge heraus; sie werden durchschaubar und bekannt. Nahe meinem Haus lebt ein Straßenkehrer. Er fegt die Gehwege und sammelt im Park die Papierfetzen auf. Er lebt zufrieden und still. Nachts schläft er unter seinem Karren. Zwischen dessen Deichseln spannt er abends eine Plane, falls es regnet. Oft besuchen ihn Freunde, und manchmal spielen sie dann Karten. Der Briefträger bringt ihm seine Post. In seinem Vorratssack steckt stets ein Liter Rotwein, Käse und Brot, um seine Freunde zu bewirten. Sein Blick ist fröhlich, seine Nase nicht eben blaß. Für die bürgerliche Welt ist der Mann Plebs, Unterschicht, fast ein Verbrecher. Denn dem Reichtum scheint es Sünde, ohne Besitz glücklich zu sein. Ich jedoch glaube, er versteht mehr vom Glück als die Eifrigen, die mit der Aktentasche in der Hand und dem Fieberblick im 135
Auge dem Geschäft nachrennen. Mir sieht es aus, als habe der Straßenkehrer auf die irdischen Güter verzichtet zugunsten anderer Güter von größerem Wert. Wir stehen jetzt auf dem Grüßfuß. Ich bewundere ihn. Täglich verstehe ich dieses angeblich kalte, verschlossene Volk mehr, das, wie manche sagen, bloß an sich denkt, bloß aus Eigennutz besteht und von dem Descartes gesagt haben soll, es werde nur vom logischen Kalkül gelenkt und beherrscht. Mir sieht es nicht immer so aus. Da redet Madame Grégoire, die Inhaberin des Lebensmittelgeschäftes, meiner Frau lange und warm zu, sie solle doch lieber auf dem Markt einkaufen, statt die leider höheren Preise in ihrem, Madame Grégoires, Laden zu bezahlen. Die Pächterin des Zeitungskiosks legt unaufgefordert die Zeitschriften für uns zurück, die wir öfter geholt haben, und hebt sie für uns auf. Wir sind für die anderen Bewohner unseres Viertels Freunde, keine anonymen Touristen mehr. Es ist ein Unterschied, ob man für seine Nebenmenschen als Individuum in der Masse verschwimmt oder aus ihr herausgehoben wird. Durch die Freundschaft und die Gefälligkeit unserer Nachbarn wird das Leben leicht. Vielleicht weil auch wir sie so gern mögen. Für einen modernen Autor schickt es sich freilich nicht, ja, es verstößt schon gegen die guten Sitten, wenn er meint, an dieser Welt sei auch manches gut. Gewiß, ich selbst habe in Paris entsetzliche Armut gesehen, kenne im Umkreis der Stadt ganze Gegenden voll Verzweiflung und Not und ganze Menschengruppen voller Wut und Zorn und andere voller Überheblichkeit, 136
Zynismus und Eigennutz. Aber es gibt auch andere, gute Eigenschaften, von denen gesprochen werden soll, damit sie nicht im Drang des Alltags entfallen oder weil sie vielleicht zu landläufig, zu selbstverständlich sind. Wißt ihr, Pariser, wie wunderbar eure Achtung vor der Persönlichkeit ist, sei sie, wie sie will? Seid ihr euch des Zuvorkommens und der Herzlichkeit im Umgang miteinander bewußt? Immer wieder bewegt mich euer unbeirrbarer Sinn dafür, einen Menschen er selber sein zu lassen, sein Eigenleben nicht anzutasten, euch der Einmischung fernzuhalten. Die Pariser Taxichauffeure unterliegen vielfach böser Kritik. Sie ist falsch. Eine Zigarette, ein paar Worte über das Wetter oder über den Zustand der Welt – und der schlechtgelaunte Grobian wird ein gescheiter, gutmütiger, scharfsinniger Mensch. Er weiß, wie es sein Beruf mit sich bringt, über alles in der Stadt Bescheid. Aber jedem, der kommt, drängt er sein Wissen freilich nicht auf. Wißt ihr, Pariser, wie nett ihr gegen Fremde seid, wenn sie euch um Hilfe bitten? Frage ich einen Passanten nach dem Weg, dann führt er einen oft selbst bis zum Ziel, mag der Umweg für ihn auch groß sein. Esse ich zum erstenmal in einem Restaurant, dann bitte ich den Kellner, den Wein für mich zu wählen, er kenne ja den Keller des Hauses besser als ich. Dann kommt unfehlbar ein vorzüglicher Wein und durchaus nicht der teuerste. Kaufe ich für den Haushalt ein und finde im Geschäft nicht, was ich möchte, dann besorgt der Inhaber mir das Fehlende von der Konkurrenz, wenn er mich nicht sogar selbst in deren Laden bringt. 137
Von meinem Fenster aus sah ich oft meine Jungen vom Spiel im Park gegenüber heimkommen. Der Verkehrspolizist an der Ecke kennt sie. Er hält den Wagenstrom an, vergewissert sich, daß die Kinder heil über die Straße kommen und winkt ihnen dann mit dem weißen Stab noch einen Gruß zu. Bald reise ich ab. Ich fahre nach Italien, dann nach Griechenland und schließlich zurück nach New York. Aber ich glaube, Paris wird mich wieder zu sich zurückziehen. Und dann komme ich nicht mehr als Gast. Denn jetzt bin ich dort daheim, für allezeit.
MEINE REVOLUTION Essays
MEINE REVOLUTION
Gerade las ich einen Artikel über mich selbst, der dem Leser lobend versicherte, ich sei kein Revolutionär. Gleichzeitig greift mich die kommunistische Presse aus ebendiesem Grund an. Ich muß daher beide Seiten über diese Frage aufklären, sowohl die extrem Rechten wie auch jene anderen Rechten, die sich Linke nennen. Beide irren sich. Ich bin ein ganz gefährlicher Revolutionär. Die Kommunisten sind heute nicht viel revolutionärer als die «Töchter der amerikanischen Revolution». Nachdem ihr Coup geglückt ist und sie Herrscher geworden sind, ist für sie jede Umwälzung ein Schreckbild. Wer auch nur die geringste revolutionäre Tendenz zeigt, kämpfte er auch einst in ihren eigenen Reihen, wird niedergehetzt und vernichtet. Wo immer die Kommunisten in der Übermacht sind, verhalten sie sich wie die reaktionärsten Regierungen der Welt. Sie leben in ständiger Angst vor einer Revolution, machen deshalb jeden zum Angeber gegen seinen Mitbürger und durchsetzen alle Schichten der Nation mit Spionen. Und wie alle Organisationen, die sich nicht sicher fühlen, versuchen sie, ihre Unsicherheit unter dem Mantel ständiger Expansion zu verbergen. Das ist doch wohl das klarste Kennzeichen für Imperialismus. Mich und mein Werk lieben sie nicht. Meine Bücher sind im Sowjetgebiet tabu. Nicht, weil sie antirevolutionär sind, sondern weil sie revolutionär sind. Denn inner141
halb der beiden großen Flügel der Reaktion, dem rechten wie dem linken, gilt jede freie Kritik als Revolte. Das Verlockende der marxistischen Bewegung lag einst in der Theorie, die Massen würden, befreit von den Fesseln der Bourgeoisie, über ihr Massendasein hinauswachsen und zur Individualität finden, während Macht und Autorität sich auflösten. Diese Illusion war kurz. Sie besteht heute nur noch als Propaganda. Die Macht der Unterdrücker ist nicht beendet, sie drückt härter als je, und die sogenannten Massen sind hilfloser als zuvor. Jedes Zeichen von Individualität wird erstickt, und an der Stelle der Freiheit des kleinen Mannes steht die Lehre der Unfehlbarkeit von Partei und Staat. Das Opfer dieses Systems ist das Individuum. Die Reaktion muß den Individualismus auslöschen. Er gefährdet sie, denn Individualismus ist schöpferisch, und auf seinem Boden gedeihen Ideen. Ideen jedoch, die außerhalb der engen Bahn des status quo wachsen, bergen Gefahr. Ideen fördern den Wissensdrang, den Wunsch nach Kritik und nach Veränderungen, sie sind daher Feinde der Reaktion. Das Denken, das exklusive Kennzeichen des Kulturmenschen, stört. Indessen ist die Denkkraft des Einzelmenschen das einzige schöpferische Element der Natur. Die Masse ist nie schöpferisch, obwohl sie oft die Ideen des Einzelmenschen verwirklicht. Die Reaktion hat keine Wahl. Gefährden Kritik und Zweifel das System, dann muß der Individualismus unterdrückt und damit die Schöpfungskraft des Individuums erstickt werden. Literatur, Kunst, Musik werden 142
geopfert, die Vielfalt menschlichen Wesens wird in einen Käfig gesperrt. Eine neue Generation von Menschen muß aus Lehm geschaffen werden, Roboter, die mitmarschieren, ohne zu fragen, die kein persönliches Ziel haben und nur nach Vorschrift denken. So zerstört das System in dem grausamen Prozeß seiner Selbsterhaltung sein eigenes Genie und nimmt selber seiner Dauer die Chance. Dagegen revoltiere ich. Ich will mit allen Mitteln für das Recht der Individualität kämpfen, für das Recht des Einzelmenschen, nach seiner Art und ohne Druck von rechts oder links seiner Bestimmung zu folgen. Ich bin ein verschworener Feind jeder Einschränkung der schöpferischen Kraft des Individuums, und ich werde solche Einschränkung bekämpfen, wo immer sie auftritt – in meinem eigenen Land oder in irgendeinem anderen Land. Das ist revolutionär, nicht der monotone Chor hirngewaschener Marionetten. Der Begriff der Hirnwäsche ist klar. Individuelles Denken muß weggewaschen werden, denn der denkende Mensch war seit jeher ein Feind der Reaktion. Die größte und dauerhafteste Revolution, die wir kennen, geschah, als der Mensch seine Seele entdeckte und fand, jede Seele für sich allein habe einen individuellen Wert. Dieses Erkennen schuf eine neue Ära. Aber wir müssen noch einen Schritt weiter. Die Erkenntnis der Kostbarkeit des individuellen Denkens wird noch viel mehr umwälzen. Eine solche Revolution ist unterwegs. Kein Polizeisystem, kein Kneten der Massen wird sie aufhalten. Dieser Revolution will ich dienen – der Freiheit des denkenden Menschen.
DAS TROTZDEM WAHRE WUNDER
Fast jeder, der schreibt, gleichviel in welcher Sprache, hat wohl schon über Jeanne d’Arc nachgesonnen, die heilige Johanna, die Jungfrau von Orleans. Und fast jeder, der schreibt, wünschte dabei, sie zur Heldin eines seiner Werke zu machen. Jährlich werden wenigstens vier Stükke über sie verfaßt, deren Leben in so mannigfachem Licht erscheint. Manche fragen, ob sie wirkliche Stimmen hörte oder ob in ihr nur das Echo des Reifens ihrer Mädchenseele widerklang. Andere prüfen ihr Geständnis vor den Richtern und dessen Widerruf, wollen ergründen, warum sie doch noch den Tod dem Selbstverrat vorzog, und wiederum andere sehen in ihr das Opfer kalt rechnender Politik. Ich kenne die meisten der Berichte, der Urkunden, der Romane und der Dramen über Johanna und ihre Zeit, und ich glaube zu wissen, warum ihr Schicksal uns so fesselt. Es ist großenteils das gemeinhin Gültige, das uns darin anzieht: jedermann kann in ihrer Geschichte ein Stück von sich selbst entdecken und seine Anschauung bestätigt finden, welcherart sie auch sei. Das beweisen allein die Menge und die Ungleichheit der Berichte. Aber steckt in ihrer Geschichte nicht noch ein anderes Grundelement, nie erwähnt, vielleicht weil es zu klar liegt? Johannas Geschichte kann nach dem Gesetz der Logik nicht wahr sein, und sie ist trotzdem wahr. Darin liegt das 144
Wunder, das verwirrende und hartnäckige Rätsel. Johanna ist eine Märchenfigur, unwirklich und unglaubwürdig. Doch die Archive liefern urkundliche Beweise. Entstammte die Geschichte der Phantasie eines Romanciers, dann gälte sie als Hohn auf die Leichtgläubigkeit der Menschen; niemand mit kritischer Vernunft läse einen so verstiegenen, sentimentalen Roman, unlogisch, wirklichkeitsfremd, kurzum schlecht erdacht. Mit den Stimmen freilich fände sich auch der Skeptiker ab. Empfindsame Kinder in der Pubertät hören solche Stimmen zuweilen in ihren Tagträumen. Doch gleich danach beginnt bereits der historische Widersinn. Zur Zeit Johannas zählte ein Bauernmädchen kaum mehr als ein Haustier. Auch der obskurste kleine Lehnsherr hätte Jeanne nicht in Audienz empfangen. Niemand im Bauernstand wußte auch nur das Geringste von Politik; sie war Sache der Herrenschicht. So waren denn auch Johannas politische Ideen lächerlich primitiv. Wie fand sie also bei Männern Gehör, die von klein auf in allen Finessen des Machtkampfes geschult waren, die sich in allen intriganten Fäden zwischen den Familien des europäischen Hochadels auskannten? Dieses ungebildete Mädchen, das einer politisch gar nicht existenten Schicht entstammt und nicht schreiben noch lesen kann, überspringt alle Leitersprossen der fürstlichen Hierarchie, bis es vor dem Erben des Reiches steht, dem Dauphin. Ihn, der zweifelnd und entschlußlos schwankt, bekehrt sie zu ihrer Überzeugung – im Widerspruch zu allen seinen Ratgebern, wissenden und erfahrenen Männern. Es ist absurd. Aber es ist wahr. 145
Doch das ist nur eins der Wunder. Das Waffenhandwerk war damals eine eifersüchtig gehütete Kunst. Für eine Kommandostelle genügte nicht vornehme Abkunft; der Soldat mußte sein Handwerk erlernen, sobald er der Wiege entwachsen war. Das bezeugen die Rüstungen im Format für Knaben, die gerade erst laufen gelernt haben. Die Kriegsführung verlief in starrer, strenger Schematik, die Truppenbewegungen waren einstudiert wie ein Ballett, Angriff und Rückzug erfolgten in festgelegten Regeln wie in der Choreographie. Krieg war kein Gebiet für Amateure und Truppenführung kein Geschäft für Bauern. Und nun stand ein Mädchen an der Spitze des Heeres, befahl dessen strategische Bewegungen, führte eine revolutionäre Taktik ein und setzte sie durch, ein Bauernmädchen, das bis dahin nur ein paar Schafe geleitet hatte. Es ist schwer zu glauben. Aber es war so. Johanna erhielt den Oberbefehl, legte die Taktik fest – und siegte. Sie sah voraus, daß der Wind umschlagen werde, sie scherte sich nicht um die Meinung der Fachleute, und sie gewann. Wie muß das die Strategen ihrer Zeit erschüttert haben – etwa so, als hätte im letzten Weltkrieg eine kleine Fabrikarbeiterin verkündet, die Ardennen seien einem feindlichen Angriff schutzlos ausgesetzt, und der alliierte Generalstab wäre ihr gefolgt. Oder wenn heute eine Bäuerin ihren Gemüsekarren auf dem Weg zur Markthalle anhielte, in die Abgeordnetenkammer hineinginge und die Politiker veranlaßte, die Parteikämpfe einzustellen. Das eine ist so unglaubhaft wie das andere. Doch am unglaubhaftesten ist Johannas Ende. Nicht 146
nur war sie ohne Vorbildung Feldherr und Staatsmann geworden, sie mußte auch noch Theologin werden, mußte sich selbst opfern, ohne zu ahnen, daß sie je eine Heilige würde. Traum und Wunder lebten in dem ungebärdigen, trotzigen Kind. Hierin liegt, glaube ich, die Anziehungskraft Johannas auf die Dichter. Wir kennen die Gesetze und die Fakten des Lebens, wir wissen, was geschehen kann, was nach seinen Regeln geschehen muß – oder wir glauben es zu wissen. Nun zieht uns das Irreale der Geschichte Johannas magisch an. Denn wir alle träumen von dem Tag, da die Regeln des Lebens überwunden hinter uns bleiben, da Träume wahr werden. Gewiß schildern Sagen und Legenden viele Wunder; doch die Beweise dafür sind spärlich, die Aufzeichnungen ungetreu, durch die Zeit verdunkelt und durch die Tendenz des Berichters verfälscht. Allein für das Wunder des Bauernmädchens Jeanne aus dem Dorf Domremy sind die Zeugen Legion, die Berichte genau, die Tatsachen belegt. Dieses Wunder ist wahr. In ihm sind die Regeln des Lebens überspielt. Johanna gibt uns den Glauben, ähnliches könne abermals geschehen, da es einmal geschah. Und das ist wohl das größte Wunder – dieser Schimmer Johannas, der in jedem von uns lebt.
NATIONEN AN DER ANGEL
Ich bin einer der besten Sachverständigen der Welt für die Kunst, andere beim Angeln zu beobachten. In der Art, wie man das Angeln schätzt und betreibt, offenbaren sich, so glaube ich fest, gewisse Eigenschaften der Volksseele. Aus dieser Einsicht heraus studiere ich seit Jahren die Beziehungen zwischen Fischern und Fisch. Und so kam es, daß ich an einem schönen Sommernachmittag das Angeln der Pariser erkunden wollte, und zwar dort, wo es am eifrigsten betrieben wird, an den Ufern der Oise. Zuvor sei allerdings noch etwas vom Ritus und von den Methoden des angelsächsischen Umgangs mit Fischen erwähnt. Die Erkenntnisse, die ich aus dem französischen Angeln gewann, leuchten dann durch ihre Gegensätzlichkeit um so klarer ein. In Amerika hat der Angelsport mehrere Aspekte. Ich greife einmal zwei heraus. Zunächst einmal hält sich jeder Amerikaner für einen geborenen Angler. Ein Mann, der etwa sagte, er glühe nicht vor Begeisterung für den Angelsport, würde angesehen werden wie jemand, der die Mutterliebe oder den Mondschein beschimpft. Für den Amerikaner ist Fischen mehr als Sport. Es ist für ihn seine persönliche Auseinandersetzung mit der Natur. Er kauft Berge von Zubehör, Ruten, Haspeln, Leinen, Blinker, Köder – alles zu stattlichen Preisen. Es hat seinen Grund, daß die Angelgeräte-Industrie Amerikas unver148
gleichlich floriert. Aber mit dem Zubehör ist es noch nicht getan. Um dem Fisch angemessen gegenüberzustehen, braucht der Angler eine ebenfalls teure Spezialkleidung. Sind ihm danach noch Mittel verblieben, kauft oder mietet er ein Boot, das ausschließlich zum Fischen eingerichtet ist wie ein Operationssaal für die Chirurgie. Hat er das alles, dann ist er soweit, daß er der Natur in ihrer Gestalt von Fischen gegenübertreten kann. Der echte Angler unterwirft sich harter Disziplin. Er legt zum Angeln eine Entfernung von mehreren tausend Kilometern von seiner Wohnung zurück. Er erlernt ein Spezialvokabular, in dem er dann ausschließlich spricht. Er hält alle kultischen Riten jener Sekte ein, der er nun als Angler angehört. Damit beweist er der Umwelt seine Überlegenheit über den Fisch. Der wahre Angler geht vorzugsweise auf die großen und starken Bewohner des Wassers aus, deren Fang schwierig und deren Fleisch nur in seltenen Fällen genießbar ist. Ist er am Feind, unterwirft er sich einer körperlichen Tortur sondersgleichen. An etwas wie einen verchromten Friseurstuhl festgeschnallt, ist er stundenlang darum bemüht, sich nicht die Arme aus den Schultergelenken reißen zu lassen. Allein dann hat er erwiesen, daß er dem Fisch überlegen ist. Eine strenge Regel verlangt, die kämpferischen Fähigkeiten jedes gefangenen Fisches zu rühmen und ihm große Intelligenz und fabelhafte Kraft zuzuschreiben. Dadurch erscheinen die eigene Intelligenz und die eigene Kraft in um so hellerem Licht. Ich finde allerdings, ein Mann, der seine ganze Intelligenz gegen einen Fisch einsetzt und dabei Verlierer bleibt, 149
täte gut daran, von diesem Vorfall zu schweigen. Aber das ist meine eigene und ganz und gar unamerikanische Ansicht, und ich hoffe, daß mich deswegen niemand verrät. Ein anderer, nicht minder wichtiger Aspekt ist politischer Natur. Kein Kandidat, und sei es auch für das kleinste öffentliche Amt, könnte sich zu einer Wahl stellen, ohne zuvor einen Fisch gefangen zu haben und mit ihm photographiert zu sein. Ich glaube nicht, daß je ein Nichtangler Präsident der Vereinigten Staaten werden könnte. Das erklärt meinen europäischen Lesern sicherlich, warum so viele unserer Politiker derart große Teile ihrer Zeit an Fluß- und Seeufern verbringen. Golf ist auch nicht unwichtig; in seiner politischen Bedeutung reicht Golf jedoch nicht an das Angeln heran. Das englische Angeln ist davon grundverschieden. Dem Engländer bietet das Angeln Gelegenheit, der in ihm gestauten Sentimentalität ihren Lauf zu lassen, soweit er seiner Sentimentalität ihren Lauf lassen kann. Die englische Leidenschaft für Privateigentum feiert ihre schönsten Triumphe beim Besitz, beim Kauf und beim Verkauf von exklusiven Fischrechten in Flüssen und Bächen. Eine ideale englische Anglergeschichte spielt sich etwa folgendermaßen ab. Unter einem hundertjährigen Baumstamm, der von einem durch saftiggrüne Wiesen plätschernden Bach überspült wird, steht eine alte, prächtige Forelle. Seit Jahren hat sie sich listenreich den besten Anglern entzogen. In der ganzen Gegend ist sie bekannt. Sie hat einen Namen. Sie heißt vielleicht Old George oder Old Gwendolyn. Daß Old 150
George so lange überleben konnte, ist den strengen Anstandsregeln zu verdanken, wie sie unter Gentlemen eingehalten werden, hier also zwischen Engländer und Forelle. Nach diesen Regeln darf der Angler sich nur eines höchst unzweckmäßigen Anglergerätes bedienen und bloß einen Köder benutzen, der Old George bekanntermaßen völlig zuwider ist. Natürlich hätte ein kleiner Junge, ausgerüstet vielleicht mit einem Regenwurm, oder ein Unhold mit ein paar Gramm Dynamit Old George schon längst sein Schicksal bereiten können. Aber das wäre geradeso unenglisch, als würde man einen Fuchs, der Hühner gerissen hat, einfach über den Haufen schießen, statt mit fünfundzwanzig Reitern aus guten Familien und fünfzig Hunden mit erstklassigem Stammbaum Old Wilbur – oder wie der Fuchs gerade heißt – nachzusetzen. «Old» ist für den Engländer ein Ausdruck leicht familiärer Zärtlichkeit. So kann für eine Ehefrau ihr Mann etwa Old Charley sein. Liebt sie ihn aber bis zur Raserei, dann fügt sie noch das Wort «Poor» hinzu, und er wird Poor Old Charley; doch das ist dann bereits ein Grad von Zuneigung, den derart kraß auszudrücken, an Schamlosigkeit grenzt. In unserer idealen Anglergeschichte liest der Eigentümer der Fischereigerechtsame für jenen Bach, in dem Old George steht, zunächst einige Seiten in Izaak Waltons Buch «Der perfekte Angler», um seinem Vorhaben den wünschenswerten philosophischen Unterbau zu geben. Davor, dazu und danach raucht er jeweils eine Anzahl Pfeifen. So vorbereitet, bricht er dann abends zu Old George auf. 151
Er schleicht sich in die Nähe des hundertjährigen Baumstammes und spießt, nicht eben fest, auf den Angelhaken eine alte und schon ganz vertrocknete Fliege. Beides wirft er bachaufwärts ins Wasser, so daß es Old George ins Maul treiben muß. Das geht fast allabendlich so fünfzehn oder zwanzig Jahre lang. Eines Abends aber fühlt sich Old George vielleicht gerade unerträglich gelangweilt, oder er ist mit offenem Maul eingeschlafen, da verfängt sich der Haken in seinem Schlund. Während Tränen über des Anglers Wangen laufen, zieht er Poor Old George an den saftiggrünen Strand. Dort zappelt der noch ein bißchen und gibt schließlich unter militärischen Ehrenbezeigungen und zivilen Trauerkundgebungen der Umgebung seinen Geist auf. Dann ißt der Angler Poor Old George gekocht mit Rosenkohl zum Dinner, läßt sich einen Trauerflor an den Ärmel nähen und erzählt, wenn er die Sprache wiedergefunden hat, die Geschichte von diesem Fang während der nächsten zwanzig Jahre in seinem Club. Doch wir wollten zur Oise mit ihren reizvollen Ufern. Es ist Sommer und Sonntagnachmittag. Das Angeln, wie es hier betrieben wird, ist wiederum ganz anders. Jeder Angler verharrt auf seinem Platz und weicht nicht vom Fleck. Manchmal steht einer auf einem Boot, das für die Ewigkeit zwischen zwei Pfählen vertäut ist. Zuweilen hat sich auch jemand an einem Vorsprung der steilen Böschung selbst festgebunden. Da sich die Angler nicht rühren, glaubt man, auch die Fische rührten sich nicht. Und man fühlt sich in einem Status quo des Weltalls. Ich sah einmal einen Mann in einem Winkel der Uferböschung 152
unter einem großen Sonnenschirm. Er saß auf einem Klappstuhl, und zu seinen Füßen stand ein Liter Wein. Um sich herum hatte er das Schilf zu einer regelmäßigen Hecke geschnitten und davor Geranien gepflanzt. Das Gerät ist immer das gleiche; es ist primitiv. Es besteht aus einer Bambusrute, manchmal blau und rot gekerbt, manchmal auch grell bunt bemalt. Daran hängt die schwache, oft spinnwebdünne Leine. Auf den Haken ist ein Brotkügelchen von der Größe eines Stecknadelkopfes gespießt. Das ist die Ausrüstung des Pariser Anglers. Hier gibt es keine Sentimentalität, kein Prahlen, keinen Neid, keinen Streit. Zuweilen läßt sich einmal ein törichtes Fischbaby fangen; aber meist hat man den Eindruck, es bestehe eine höfliche Übereinkunft zwischen Fischern und Fischen, sich gegenseitig nichts zu tun. Es besteht auch, so scheint es, eine Übereinkunft in der Konversation, nämlich die, zu schweigen. Das Auge des Anglers ruht in sich, in einem träumenden Blick, nach innen, in seine Seele gewandt. Er denkt nach, er durchforscht sich und seine innere Welt, lautlos, still. Er angelt, und deshalb stört ihn kein Mensch. Er entspannt sich von den Problemen seines Alltags, von den Problemen überhaupt. In Amerika, sagt man, brauche man drei Wochen, um sich von vierzehn Tagen Urlaub zu erholen. An der Oise ist das nicht so. Ich bewundere die Art, wie der Pariser angelt. Ruhig und gesammelt geht er aus dem Seelenzustand hervor, in den er sich an der Oise versenkt. Er geht dabei nicht müßig. Er angelt. Ich werde mir gleich eine Bambusrute, eine Spinnwebleine und ein Röhrchen mit Brotkugeln kaufen. Ich 153
möchte teilhaben an diesem Tun, das dem Menschen erlaubt, in Würde und Ruhe mit sich allein zu sein. Ich glaube, das ist eine Quelle der Kraft.
KENNZEICHEN DER WAHLKANDIDATEN
Wieder einmal stehen die Vereinigten Staaten im Wetter der Präsidentenwahl, und von mancher Seite bläst der Wind. Es liegt mir fern, auch nur zu versuchen, dem europäischen Leser die seltsamen Verwicklungen und die spitzfindigen politischen Schachzüge unseres Systems zu erklären. Die Parteipolitik meines Heimatlandes grenzt an Mystik, und bei jedem Ansatz zur Entwirrung erschiene sie dem Außenstehenden nur noch verwirrter. So schwierig die Spielregeln sind, so schlicht ist das Prinzip: Wer am Ruder ist, will am Ruder bleiben; wer nicht am Ruder ist, will ans Ruder kommen. Mit diesem einfachen Grundsatz ist allerdings alles Einfache und Grundsätzliche bereits erschöpft. Man sagt, unsere Präsidenten verbrächten ihre erste Amtszeit mit dem Kampf um ihre zweite. Das stimmt nicht. Es stimmt insofern nicht, als sich dieser Satz unvollkommenerweise nur auf die Präsidenten beschränkt. Hier sei nicht von den Charakteristiken, den fixen Ideen, den Unterschieden der Kandidaten erzählt. Hier sei vielmehr von dem Gemeinsamen berichtet, von den übereinstimmenden Kennzeichen jener wunderlichen Kreaturen, die man in den USA Kandidaten nennt. Ich habe mich ernsthaft dem Kandidatenstudium hingegeben, und das ist lohnend, belehrsam und aufschlußreich. Zunächst ist zu klären: Wer ist Kandidat? Es wird ge155
sagt: Jedermann ist Kandidat. Das ist übertrieben. Beispielsweise ich bin nicht Kandidat, und darüber hinaus kenne ich noch zwei Leute, die auch nicht Kandidaten sind. Die zweite Frage lautet daher: Woran erkennt man einen Kandidaten? Man bildet sich vorteilhaft in diesem Wissenszweig der Kandidatenforschung so heran, daß man etwa ein Jahr vor der Wahl die Grundkenntnisse beherrscht. Dann nämlich erspäht der Fachmann – für den Laien zunächst kaum merklich – in den Herzen bisher noch normaler Mitbürger jenes erste zarte Regen, mit dem die Kandidatur beginnt. Deren Spielregeln sind elastisch und subtil. Dennoch ankern sie in alter Tradition, fast monoton wie die zeremoniellen Tänze mancher Negerstämme und unabweichlich wie die Flugrouten der Zugvögel. Das erste Symptom für einen Kandidaten ist seine auffallende Bescheidenheit. Wiederholt ein Mann deutlich, laut und oft genug, er habe nicht die leiseste Absicht zu kandidieren und er eigne sich auch durchaus nicht für ein öffentliches Amt, so hat er seine Wahlkampagne begonnen. Dazu, vielleicht auch ein wenig später, bezeichnet er sich als unwandelbar treuen Anhänger eines anderen Kandidaten, von dem er genau weiß, daß er keine Chance hat. Dann folgt das Familienidyll. Über Nacht wird der Kandidat zum vorbildlichen Hausvater, und Frau und Kinder haben schwer zu leiden. Der Vater besteht darauf, mit den Engelchen spazierenzugehen und zu spielen und sich dabei von Reportern und Photographen überraschen 156
zu lassen. Kein Maulen hilft, und somit können bei unmündigen Kindern, die in die Pläne des Vaters nicht eingeweiht sind, durch die Kandidatur zuweilen böse Traumata entstehen. Die Frau bekommt von ihrem Mann Rosen, zum erstenmal seit Jahren. In der Öffentlichkeit wird sie von ihm mit liebevoller Aufmerksamkeit hofiert, was allerdings manchmal gerade ihren Interessen entgegensteht. Die Gesellschaft seiner Freundin meidet der Kandidat. Ist sie geschickt, läßt sie sich statt dessen für die Zeit nach der Wahl einen Nerzmantel versprechen, ist sie es nicht, muß sie ein Jahr lang ihre Miete selber zahlen. An dieser Etappe des Weges zur Kandidatur betreten die Hunde den Schauplatz. Jeder Hund, sofern er nur etwas Ehrgeiz hat, wird gut daran tun, diesen Zeitpunkt abzupassen und zu nutzen. Immer ist der Hund des Kandidaten beispiellos treu und wird geliebt, gehätschelt und gepflegt. Man könnte denken, der Hund sei der Kandidat. Das wäre übrigens auch nicht schlecht, denn ein Hund hat meist eine makellose Vergangenheit, ist ehrlich und beständig, und, soweit bekannt, hat noch nie ein Hund vor einer Wahl etwas versprochen. Die amerikanische Geschichte weist einen Hund auf, der von seinem für ein hohes Amt kandidierenden Herrn in der Wahlpropaganda derart aufgebaut worden war, daß die Wähler schließlich glaubten, für einen Spaniel zu stimmen, überzeugt davon, daß er sich nie an öffentlichen Geldern vergriffen hatte. Und das stimmte auch. Einer althergebrachten amerikanischen Tradition zufolge geben die Bewerber um das Präsidentenamt stets ihre Kandidatur erst in letzter Minute bekannt. Dadurch 157
soll der Gegner im Ungewissen bleiben, aber den Beweis dafür hat noch niemand erbracht. Nun schieben auch die Bewerber um mindere Posten die Bekanntgabe ihrer Kandidatur möglichst hinaus. Aber nur Anfänger im Kandidatenstudium werden durch solche Tricks getäuscht. Schleppt ein Ehemann, wohin er auch geht, seine liebe Frau mit, so dürstet ihn nach politischem Ruhm. Schenkt er öfter Straßenjungen Schokolade, so ist das ein doppelter Beweis. An dem Tag, als seinerzeit Thomas E. Dewey eifrig die Zumutung zurückwies, er wolle Präsident werden, ließ er seine hübsche Frau beim Melken einer Kuh photographieren. Da lag seine Absicht trotz des Dementis klar. Das photographierte Idyll sollte drei Fliegen mit einem Schlag treffen, es erwies die Hingabe Deweys an die Institutionen der Ehe, der Demokratie, der Landwirtschaft. Übrigens kann man mit allem Recht auch umgekehrt schließen. Sieht man die Ehefrau nur noch wenig an der Seite ihres Mannes in der Öffentlichkeit, so hat er mit Sicherheit jedes Interesse an dem Ehrenplatz unter seinen Mitbürgern verloren, oder seine Hoffnungen sind dahin. Mannigfach sind die Anzeichen, die der Kandidatenforscher aufspürt. Der Geizhals erfreut seine Freunde plötzlich mit Geschenken, der mürrische Chef betritt morgens lächelnd das Büro und bessert seiner Sekretärin das Gehalt auf, der Kahlkopf geht ohne Hut. Ich finde, jeder Mensch sollte mindestens einmal in seinem Leben Kandidat werden, das fördert das Zusammenleben der Menschen ungemein. Ein Kandidat ist immer gut gelaunt, voll Lebensfreude und Zuversicht. Er ist in allem akkurat und wählt dabei seine Freunde aus dem einfa158
chen Volk, unter Schwerarbeitern, Negern, Baseballspielern. Er verachtet die Börse, Nachtlokale und die Halbwelt, und geht er einmal auf den Rennplatz, so nur aus Liebe zum edlen Pferd. Gut geht es den Kirchen vor einer Wahl. Sie sind von Kandidaten überfüllt, und die Sammelbüchsen fließen über – auf Geschäftsunkosten und steuerlich absetzbar, versteht sich. Viele Kirchen bekommen nach der Wahl Ölheizung oder werden frisch verputzt. Gesellschaftliche Vorurteile gibt es nicht mehr. Mancher bislang sorgsam gehütete patrizische Stammbaum wird plötzlich durch die Mitteilung des Kandidaten angesägt, daß sein Großvater Straßenkehrer gewesen sei. Mit dem Aufkommen der Neigung für die Landwirtschaft sinkt gleichzeitig sein sonst reges Interesse an Öl. Ölquellen scheinen nur nach Wahlen zu fließen, niemals davor. Freilich kann der Kandidatenforscher nicht umhin, Wahlversammlungen zu besuchen. Das wird ihm neben dem Ernst seines Studiums heitere Stunden bereiten, wenn auch wenig für seine Entscheidung nützen, wen er selbst wählen will. Denn alle Kandidaten sind für die Freiheit und gegen die Knechtschaft, für das Volk und gegen den Sozialismus, für die Frau und gegen die Halbwelt, für die Tugend und gegen die Sünde, für den Wohlstand und gegen die Not. Doch greifen wir nicht vor. Wenn ich sagte, der Kandidat sei an seiner Hutlosigkeit erkennbar, so muß nun angefügt werden, daß dieses Stadium nur kurz ist. Bald danach bedient er sich einer Reihe folkloristischer Kopf159
bedeckungen und läßt sich mit ihnen photographieren. Unerläßlich sind dafür ein riesiger Cowboyhut, die Pelzmütze des Trappers und der alte abgenutzte Strohhut eines Bauern. Mit Lokomotivführerkappen, Stahlhelmen der Feuerwehr oder anderen Berufsinsignien läßt sich die Auswahl unbeschränkt anreichern. Schmückt er dann noch sein Haupt mit Adlerfedern, bemalt sein Gesicht mit Kriegsfarben und läßt sich als Ehrenhäuptling in einen Indianerstamm aufnehmen, dann ist die Katze endgültig aus dem Sack. In Wahlzeiten beklagen sich unsere rothäutigen Brüder zuweilen, daß es mehr weiße Ehrenhäuptlinge als Indianer gibt. Es kommt der Tag, da das Geheimnis der offenen Schaustellung weicht. Freilich gibt der Kandidat seine Absicht noch nicht in einer Erklärung an die Wählerschaft bekannt. Vielmehr kauft er sich eine Angel und geht fischen. Damit ist alles gesagt. Einst schien es, als werde das Golfspielen als Haupttätigkeit des Politikers den Angelsport verdrängen. Doch das war nur eine flüchtige Tendenz. Selbst Mr. Eisenhower wandte sich vor seiner Kandidatur für die Präsidentschaft vom Golfplatz ab und den Forellen zu. Wie und was er angeln will, bedenkt der Kandidat sorgsam und mit tiefem Ernst. Hochseefischerei fällt weg, denn sie ist kein demokratischer Sport. Gut demokratisch ist dagegen ein selbstgemachter Haken aus einer krummgebogenen Stecknadel und eine Konservendose mit Würmern. In letzter Zeit dürfen auch Ruten mit Spulrädchen benutzt werden, wahrscheinlich mit Rücksicht auf die Angelgeräteindustrie. 160
Gegen die Notwendigkeit des Angelns verstieß sogar ein so starrsinniger Politiker wie Herbert Hoover nicht. Ich sehe noch ein Bild aus der Zeit seiner Wahlkampagne vor mir. Er stand mit einem Umlegekragen und einer Schleife unter dem Kinn an einem wild schäumenden Gebirgsbach und hatte voller Mißtrauen gegen den seinen Fingern ungewohnten Gegenstand einen Fisch in der Hand. Es war – eine Makrele. Aber solche Pannen können nicht mehr vorkommen. Seither halten alle unter Staatsaufsicht stehenden Angelplätze Fischkästen mit lebenden Lachsforellen für die Kandidaten bereit. Hat der Kandidat die Angelphase hinter sich, braucht er ein besonderes politisches Konzept. Er muß gegen etwas sein. Das ist freilich nicht immer leicht. Denn er muß gegen etwas sein, was nicht gegen ihn stimmen kann. Gegnerschaft gegen den Kommunismus genügt nicht mehr, sie wird vorausgegesetzt. Auch Gangster und Alkoholiker sind mittlerweile verbraucht. Indessen hat sich in letzter Zeit die Korruption bewährt. Allerdings herrscht hier starker Andrang, denn alle Kandidaten sind jetzt gegen die Korruption und fahnden emsig nach wahlkampfgeeigneten Fällen. Leider müssen eventuelle Funde vorsichtig behandelt werden; denn was vor der Wahl Korruption ist, ist Gönnerschaft, wenn man selbst im Amt ist. Der Kandidat muß also dagegen sein, ohne deutlich zu sagen, wogegen er ist. Einer der erfolgreichsten Oberbürgermeister von Chicago kam während seiner Wahlvorbereitung auf die Idee, Krieg gegen England auf sein Programm zu setzen. Die Engländer haben in Chicago kein Stimmrecht. So gewann 161
er jahrelang eine Wahl nach der anderen. Wie immer bei guten Einfällen erhofften sich Nachahmer den gleichen Erfolg. Heute ist jeder Kandidat entweder für einen Krieg gegen die Sowjets oder für einen Krieg gegen China. Ausnahmen davon machen nur diejenigen, die noch militärpflichtig sind. Die Spielregeln sind gewiß streng. Doch ohne sie auskommen zu wollen, bedeutet Verzicht. Das beweist das traurige Beispiel von Adlai Stevenson. Er trug einen gewöhnlichen Hut, hatte keinen Hund, und wenn er je angelte, so muß es heimlich geschehen sein. Er fiel durch. Ich hoffe, dem Leser nun zu einem besseren Verständnis des Kandidatenwesens verholfen zu haben. Sollte er einmal einen Amerikaner für leicht gestört halten, so vergewissere er sich vor seinem Urteil, ob nicht eine Wahl bevorsteht, und wenn, dann prüfe er die Erscheinungen nach dem gegebenen Rezept. Vielleicht ist der Verdächtigte nur Kandidat.
ARISTOKRATISCHER VORSCHLAG
Ich habe jüngst das Verzeichnis der direkten Nachkommen Wilhelms des Eroberers studiert und, soweit es mir möglich war, nachgeprüft. Das Ergebnis überrascht. Die vorsichtigste Schätzung beziffert die Nachkommenschaft auf sechs Millionen, wovon gut vier Millionen in den Vereinigten Staaten leben. Noch bestürzender als diese Zahlen ist aber das Tempo, in dem sich die direkten Nachkommen Wilhelms vermehren. In zwanzig Jahren wird sich ihre Zahl auf mindestens zwanzig Millionen belaufen, nach einem weiteren Menschenalter auf – knapp gerechnet – vierhundert Millionen. Binnen eines Jahrhunderts wird demnach der Erdball von direkten Nachkommen Wilhelm des Eroberers wimmeln, und drei Viertel von ihnen werden die Vereinigten Staaten auf dem Hals haben. Bekanntlich sind die gewöhnlichen Durchschnittsmenschen unfruchtbar, denn von ihnen stammt nie jemand ab. Daraus folgt, daß in Amerika, wo doch alle gewöhnliche Durchschnittsmenschen sind, der adligen Herkunft eine besondere Bedeutung zugemessen wird. Meine eigene Familie, eine relativ bescheidene Bürgerfamilie, hat das Recht, wenn nicht gar die Pflicht, sich und ihr Heim mit achtundzwanzig verschiedenen Wappenbildern zu schmücken. Nun gibt es ein Paradoxon. Amerika hat auch die Mut163
ter erfunden, die Mutter schlechthin, den uns heute geläufigen Mutterbegriff. Nirgendwo sonst wird die Mutter so geehrt. Steht eine Frau unter Mordanklage vor Gericht, ist sie vielleicht außerdem noch Säuferin, Landstreicherin und Brandstifterin, gleichviel, wenn sie sagt, sie sei Mutter, zerschmelzen die Herzen der Geschworenen, und dem Staatsanwalt bleibt das Nachsehen. Man kann mühelos zum Senator gewählt werden, wenn man nur nachdrücklich genug betont, man habe eine Mutter gehabt. Die Mutter ist einer unserer bedeutendsten Industriezweige. Er hat eine imposante Werbungs- und Umsatzspitze vor dem Muttertag. Im Alltag gilt eine leise Andeutung, die eigene Mutter sei nicht der Inbegriff aller Tugend und Schönheit, als Entschuldigungsgrund für Mord. Somit haben wir eine Bevölkerung, die durchweg von Aristokraten abstammt und durchweg die eigene Mutter vergöttert. Das ist der fragliche Punkt. In einer Stichprobenuntersuchung, die meine Annahme bekräftigte, hat sich erwiesen, was ich schon lange vermutete: von den Millionen direkter Nachkommen Wilhelm des Eroberers, der bekanntlich ein unehelicher Sohn war, stammt kein einziger von der Mutter Wilhelms ab. Ich meine, es sei Sache des britischen Volks, hier Ordnung zu schaffen, schon um des guten Einvernehmens zwischen unseren beiden Völkern willen. So, wie die Dinge jetzt liegen, steckt eine stetig wachsende Anzahl anständiger Menschen in einem scheußlichen Dilemma. Sie müssen entweder ihren königlichen Stammbaum oder die Ehre der Mutter opfern. 164
Vielleicht darf ich einen Weg zur Lösung vorschlagen. Man grabe aus einer beliebigen elenden Mansarde New Yorks irgendeinen armen Teufel hervor. Man befrage ihn, und man wird feststellen, daß er adliger Abkunft ist. Also verfahre man ebenso mit der Mutter Wilhelms des Eroberers. Da das bei jedermann der Fall ist, muß ja auch sie von einem Adligen abstammen. Ist das erst einmal ausgemacht und ihr Recht auf die Führung eines Familienwappens von den zuständigen Stellen amtlich bestätigt, dann sind die kleinen Unregelmäßigkeiten ihres Ehelebens automatisch eingeebnet. Meines Erachtens ist England uns eine solche Geste schuldig. Sie kostet nichts oder fast nichts. Es wäre eine Gegengabe zum Pacht- und Leihvertrag, eine Nothilfe in umgekehrter Richtung. Beim Erwägen meines Vorschlages sollten die Engländer auch den wirtschaftlichen Aspekt bedenken. Der sichere Millionenabsatz von wappengeschmückten Aschbechern liegt auf der Hand.
EIN VIELVERKANNTER: DER TOURIST
Seit ich in Europa, genauer: in Paris, bin, sehe ich die Touristen, vornehmlich die amerikanischen, in einem anderen Licht. Mir ist nun klar, Touristen führen ein ebenso trauriges wie kostspieliges Dasein. Daheim, also bevor sie Touristen geworden sind, streiten sich alle Länder der Welt um ihre Gunst. Sie werden reichlich mit prächtigen Bildern und romantischen Schilderungen der Genüsse versehen, die ihrer im fremden Land warten. Sie werden herzlich, heißt es, und mit offenen Armen empfangen, und hoher Komfort stehe für sie bereit. Solange sie nicht weitgereist seien, bleibe ihre Ausstattung mit Kultur mangelhaft, und bis dahin gebühre ihnen unter gesitteten Menschen kein Platz. Auch lebe man im fremden Land preiswert und kaufe manche Ware, die daheim gar nicht zu bezahlen ist, günstig ein. So heißt es. In Amerika sparen die Leute jahrelang für ihre große Europareise. Es fällt ihnen oft nicht leicht, aber sie meinen, ihr Leben sei bis dahin noch unvollkommen. Sie studieren Prospekte, Reisebeschreibungen, Landkarten, holen die Geschichtsbücher aus der Schulzeit wieder hervor und frischen ihre historischen Kenntnisse auf. Viele nehmen an Sprachschnellkursen teil, und alle schaffen sich Wörterbücher an. Vor der Abreise üben sie die Aussprache französischer und italienischer Vokabeln. 166
Die Weltreise ist der große Traum des Amerikaners. Er entstammt einer Art Unsicherheit. Man fühlt sich minderwertig gegenüber dem Nachbarn, der schon in Europa war. Kein Franzose wäre je bedrückt, weil er noch nicht in England, in Griechenland oder gar in Amerika war, doch der Amerikaner schämt sich, wenn er die Stätten aus den Bilderbüchern seiner Kindheit noch nicht selbst gesehen hat. Die Meinung, alle reisenden Amerikaner, oder zumindest die meisten, seien reich, ist eine Sage. Die Mehrzahl hat seit Jahren jeden Cent gespart, jede Ausgabe vorsichtig errechnet, jeden Hotelpreis erwogen. Sorgsam studieren sie, wo und wieviel Trinkgeld erwartet wird; sie wollen alles machen, wie es Brauch ist und wie es sich gehört. Ihre größte Sorge ist, sie könnten bei den Einheimischen Aufsehen erregen oder gar Spott. Endlich kommt der Tag, da sie vom Schiff an Land gehen, mit ihren Landkarten und gedruckten Reiseführern, mit ihren Wörterbüchern und Travellerschecks. Sie fühlen sich unbehaglich, sie haben ein bißchen Angst. Dann tritt das Gefürchtete ein. Ihnen ist, als würden sie angestarrt und belächelt, und sie gewinnen den Verdacht, daß man sie neppt. So bleiben sie in ihrem Häufchen zusammengeballt aus Furcht vor dem hochmütigen Blick der Kellner und den herablassenden Phrasen des Fremdenführers. Und es ist seltsam; jeder einheimische Dorfbewohner, der nie weiter als fünfzig Kilometer aus seinem Heimatort herausgekommen ist, schaut auf die Touristen herab. Wo die Touristen auftreten, schnellen die Preise hoch. Das kränkt sie, und zuweilen packt sie auch Wut. 167
In jeder Menschengruppe sind ein paar mit schlechten Manieren. Ist da einmal ein Großmaul oder dort einer, der zuviel getrunken hat, dann wird nach ihnen die große Zahl der wohlerzogenen, bescheidenen, höflichen Touristen eingeschätzt. Weshalb die Herablassung? Diese Leute machen das größte Kompliment, das ein Volk einem anderen machen kann. Sie kommen, um die Größe und Schönheit Europas zu sehen, aus ihr zu lernen und etwas von ihrem Abglanz zurück in die Heimat zu tragen. Ihre Reise ist eine Wallfahrt zu den Quellen ihrer Kultur. Was ist daran lächerlich, was verächtlich? Ich habe in der letzten Zeit die amerikanischen Touristen häufig beobachtet. Wenn zehn von ihnen in der Place Pigalle herumstehen, sind tausend in Notre Dame. Für jeden, der auf Pornographie aus ist, betrachten Hunderte, Kopf im Nacken, den Reiseführer in der Hand und Ehrfurcht im Blick, die Glasfenster der Sainte Chapelle. Hunderte durchwandern im Louvre die Säle, von ernster Hingabe und stillem Staunen erfüllt. Daß sie nicht Französisch sprechen, ist schade. Aber sie halten die Franzosen nicht für ungebildet, weil sie nicht Englisch können. Wie überall gibt es Ausnahmen. Doch warum baut man die allgemeine Einstellung zu den Touristen auf Ausnahmen auf? Ich will nicht behaupten, die Fremden würden überall schlecht behandelt. Ist es indessen verwunderlich, wenn sie sich unwillkommen und in ihren Erwartungen enttäuscht fühlen? Die Abneigung ringsum macht sie oft scheu und stumm. Manche versuchen sogar, so zu tun, als seien sie keine Touristen. Ich sehe das nicht ein. Im Gegenteil, Tourist sein heißt, wiß168
begierig und aufgeschlossen, wachen Geistes sein, und es heißt auch, das behagliche Heim, die Sprache und die Umgebung, in der man sich wohlfühlt, für eine Zeit aufzugeben, um in der Fremde Neues zu lernen. Ich habe mir selbst Mühe geben müssen, die amerikanischen Touristen nicht nach dem unangenehmen Auftreten einzelner Ausnahmen zu messen. Ich kenne auch Franzosen, die nicht viel taugen, ich kenne Italiener mit schlechten Manieren, ich kenne unerfreuliche Briten. Aber ich verdamme nicht deshalb ihr ganzes Volk. Gewiß habe ich eine große Zuneigung für meine Landsleute, die lange und hart für eine Reise nach Europa gespart haben, um seine Architektur kennenzulernen, um vor den großen Meisterwerken zu stehen. Wenn sie auch die esoterische Sprache der Kunstexperten nicht beherrschen, so kehren sie doch reicher an Erlebnissen und Eindrücken zurück. Ein Kontakt mit Europa und den Europäern kann sie, wenn man sie nicht zu schlecht behandelt, ein wenig aus ihrem Insularen befreien, aus ihrer Furcht und aus jenem Mißtrauen, das unserer Zeit so vielen Kummer und so große Sorgen gebracht hat. Abgesehen davon, daß der Tourist, wohin er kommt, seine Ersparnisse dort läßt, sind Touristen auch ein wertvolles Friedenselement. Denn es ist gar nicht leicht, Menschen zu hassen, die man kennt.
ENGLISCHER ROSENKOHL
Mein Pariser Sommer geht seinem Ende zu. Bald reise ich ab, und mein kleines Haus und die Spatzen bleiben zurück. Zurück bleibt auch die Concierge, die Zeitungsverkäuferin, Madame le Kiosque, und der Zigarrenhändler, Monsieur le Tabac. Es wird ein trauriger Tag, und nur der Gedanke an die Wiederkehr wird mir helfen, ihn zu überstehen. Zuerst fahre ich nach England. Ich mag die Engländer gern, dieses rätselhafte Volk mit seinen ebenso seltsamen wie zähen Bräuchen. Sie bemalen ihre Körper nicht mehr blau, aber der blasse Azurschein, der von ihnen ausgeht, läßt vermuten, daß der Farbstoff nun nicht mehr auf ihnen, sondern jetzt in ihnen sitzt. Während des Krieges habe ich die Engländer in England selbst kennengelernt. Zuvor hatte ich nur reisende Engländer gesehen. Sie und meine irische Familientradition bewirkten meine Überzeugung, ich verabscheue die Engländer. Offenbar ist der Export-Engländer eine besondere Spielart seines Stammes. Ich begreife, daß man sie exportiert. Daheim, in ihrem Land, sind die Engländer sympathisch, großzügig, charmant. Es ist ratsam, anfangs seinen Umgang möglichst auf junge Menschen auszurichten. Im Kindes- und Jugendalter, etwa bis zum Twen, sprechen Engländer noch recht gut verständlich, hin und wieder sogar nahezu geläufig. Nähern sie sich dem dreißigsten Lebensjahr, schränken sie 170
zunehmend ihre Unterhaltung auf eine Reihe von Brummlauten ein. Damit drücken sie Kummer, Wohlsein, Freude aus, je nachdem. Zweifellos ist deshalb die englische Lyrik vornehmlich von jungen Menschen verfaßt. Die älteren Lyriker sind in der Regel Schotten, Waliser oder Iren. Der Schlüssel zum englischen Wesen, dem die übrigen Völker, besonders die Franzosen, immer wieder ratlos gegenüberstehen, liegt in ihrem Umgang mit Lebensmitteln. Darüber gibt es zwei Theorien, vertreten durch zwei Schulen. Eine Schule lehrt, die englische Kochkunst sei eine Art Masochismus, eine Selbstzüchtigung und ein Opfer, das sie den Göttern um guter Witterung willen darbringen. Die andere Schule meint, atavistische Urinstinkte einstiger Wildheit fänden darin ihr Ventil. Füchse treten immer seltener auf, bald werden sie ausgestorben sein. Deshalb muß der sadistische Trieb ein Ersatzobjekt finden, und dazu dient den Engländern das Gemüse. Ich schwankte lange zwischen beiden Lehren. Heute bin ich geneigt, die erste Theorie fallen zu lassen. Sie entstand seinerzeit aus der Erforschung des Rosenkohls. Rosenkohl ist ursprünglich ein unbescholtenes, ja sogar ansehnliches, hübsches Gemüse. Es besteht aus reizenden kleinen Kugeln mit gelben Blättchen als Herz, jedenfalls solange, bis sich die Engländer damit befassen. Pflückt man ihn frisch, läßt ihn auf mildem Feuer langsam so zart werden, daß er auf der Zunge zergeht, würzt mit Salz und ein wenig Pfeffer und vielleicht noch mit etwas Essig oder Zitrone, so ist Rosenkohl ein Gemüse von köstlichem Geschmack. Was machen nun die Engländer damit? Ich weiß es 171
nicht, doch wüßte ich es gern. Zweifellos schlagen sie auf ihn ein, dreschen ihn wohl auch und tauchen ihn in ätzende Säuren. Dadurch entsteht eine Art von grobem Brei, der wie schmutzige Wäsche aussieht und schmeckt. Dieser Brei kann kein Zufallsprodukt sein. Denn Rosenkohl für den zuvor beschriebenen Zustand zuzubereiten, ist ganz leicht. Dagegen erfordert das englische Verfahren viel Mühe und Zeit. Es muß also zu einem bestimmten Zweck eingeführt worden sein, dessen Sinn unsere Denkkraft übersteigt. Jedenfalls ist nach der englischen Behandlungsart der Reiz und die Persönlichkeit des Gemüses zerstört. Eine Weile erschien mir eine andere Deutung für den englischen Umgang mit Gemüse plausibel. Ich nahm an, die Engländer befürchteten, bei allzu zivilisiertem Umgang mit Gemüsen könnten diese den Dominium-Status verlangen. Bis vor kurzer Zeit dachte ich, das sei der Grund. Nun gibt es bei einer Anzahl von Engländern gewisse biologische Charakteristika, Sexualreaktionen und sonstige Verhaltensweisen, die deutlich an die der Gattung homo sapiens anklingen. Das gibt Rätsel auf. Ich beschloß, sie zu lösen. In Gibraltar stand mir eine kleine, isolierte Gruppe von Exemplaren dieser Gattung zur Verfügung, und ich beobachtete sie studienhalber. Ihre Hälse sind lang, ihre Haare erinnern an Farnwedel, die Beine sind ganz dünn. Selbst die Füße sind kurz und schmal, doch die Zehen, die Baumwurzeln ähneln, sind so lang, daß man denkt, sie hörten gar nicht auf. Für mein Studium traf es sich gut, daß ich eine Tätigkeit von ihnen verfolgen konnte, die sie «Tanzen» nannten. Sie übten dabei interessante Schaukelbewegungen aus, die wie das Wogen 172
windbewegten Grases wirkten und sich unabhängig vom Rhythmus der Musik vollzogen. Die Hauptfrage biologischen Studiums ist natürlich die Frage: wie pflanzen sie sich fort? Durch direkte Befragung erhielt ich keine Auskunft, noch nicht einmal eine Antwort. Sie schrecken sofort ins Schneckenhaus zurück, sowie man dieses Thema nur andeutet. Zweifelsohne pflanzen sie sich jedoch fort, sonst stürben sie aus. Und Hinweise hierauf konnten bisher nicht festgestellt werden. Eines Abends im Rock-Hotel von Gibraltar, als ich die Schaukelhälse und die dünnen Beine bei der «Tanzen» genannten Tätigkeit sah, fiel mir die Lösung ein: sie werden im Sommer von Bienen befruchtet. Mit dieser Erkenntnis gelangte ich auch zu der Hypothese über die Ursache der Mißhandlung von Gemüsen. Wer, so schloß ich, ist am grausamsten gegen die Menschen? Selbstverständlich der Mensch selbst. Wer also wird Gemüse erbarmungslos roh behandeln? Nun ist es klar. Natürlich gibt es alle möglichen Engländer. Unter ihnen können auch Verräter an der Tradition stecken. So ist es ein offenes Geheimnis, daß in manchen reichen und vornehmen Londoner Häusern zum Umgang mit den Lebensmitteln französische Köche angestellt sind. Es geht bei einigen noch weiter. Gesinnungslose Untertanen Ihrer Majestät beklagen insgeheim sogar, daß Napoleon ihre Insel nicht erobert habe, denn dann hätte er die Küche verbessert. Ich glaube, ich fahre von Paris aus lieber nach Italien. Italien ist ein sehr schönes Land.
VON STERNEN UND MENSCHEN
Wir saßen abends auf unserer Terrasse, wir und unsere vierundzwanzig Geranien. Der Lichtschein am Himmel von Paris war blau, dann wurde er dunkelblau, und die Bäume sahen aus wie verstaubt. Der erste Stern glitzerte auf. Wir summten, ganz ernst, den alten Abendgesang: Erster Stern, schöner Stern, der du leuchtest mir von fern, gib, daß, was ich wünsch heut nacht, mir am Morgen wird gebracht. Und wir wünschten uns insgeheim alle etwas ganz fest. Die Wünsche unserer Jungen sind so geheim, wie etwa der Eiffelturm für Paris geheim ist. Sie wünschen sich Pferde, keine Schulpferde oder gemietete, aus dem Tattersall, nein, eigene Pferde, die man zureitet, die man kennt, mit denen man lebt. Mein Jüngster fragte: «Was für Sterne sind das eigentlich hier über Paris?» «Französische Sterne», sagte ich. «Erfüllen die auch Wünsche wie unsere Sterne daheim?» «Französische Wünsche schon», antwortete ich. «Französische Pferde?» «Sicher», sagte ich unsicher. 174
Plötzlich wurde mir klar, welche Kluft ich mit diesen wenigen, unüberlegten Worten aufgerissen hatte. Tausend andere, wohlüberlegte Worte würden sie nicht mehr schließen können. Französische Sterne – französische Wünsche! Da sind wir nun erwachsen und haben noch immer nicht gelernt, daß alle Wünsche gleich sind. So säen wir in die Seele unserer Kinder die eigene Dummheit und sind sogar darauf noch stolz. Ich versuchte, es wiedergutzumachen. «Vergiß, was ich eben gesagt habe. Es sind dieselben Sterne, drüben wie hier. Ich leihe mir morgen ein Fernrohr. Da siehst du sie dann genau.» «Aber französische Wünsche? Wie sind die?» «Wie deine.» «Ein Pferd?» «Natürlich. Ein Pferd.» «Ein amerikanisches Pferd?» «Ein ebensolches Pferd, wie du es dir wünschst.» Ich werde nie begreifen, wie das Denken der Erwachsenen, oder besser, die Empfindung, die sie mit Denken verwechseln, vor sich geht. Wie müssen wir unsere Kinder hassen, daß wir ihnen als Strafe unsere Irrtümer aufzwingen, Irrtümer, die – warum eigentlich? – geheiligt sind. Gleichermaßen tugendhaft wie dumm lehren wir unsere Kinder, wie auf einer Insel zu leben, die mehr wert sein soll als die ganze übrige Welt. Und wir lehren sie, sie sollten auf diese Isolierung noch stolz sein. Dann hetzen wir, damit sie unseren Irrtum nicht merken, durch Lüge und Furcht die Inseln gegeneinander auf, und so lernen unsere Kinder Verständigung und Sicherheit nicht besser 175
kennen als wir selbst. Französische Wünsche – amerikanische Pferde! Neulich ertappte ich mich bei einem Akt häßlichster Grausamkeit, und ich war darauf noch stolz. Mein Jüngster sagte: «Kein Junge auf der Welt hat mehr Glück als ich.» «Meinst du?» fragte ich. «Ja. Wie ich damals vom Auto angefahren wurde, saß ein Doktor drin, und es war ganz nah am Krankenhaus. Und überhaupt bekomme ich alles, was ich mir wünsche. Oder doch fast alles.» Da regte sich in mir das latent Böse, das Erbe vorzeitlichen Aberglaubens. Mir war, als müsse ich meinen Sohn belehren. «Verlaß dich nicht auf dein Glück! Wenn du zu fest daran glaubst, läßt es dich im Stich.» Warum sollte er eigentlich den wunderschönen Glauben an sein Glück mit meiner verschimmelten Weisheit vertauschen? Warum soll ihm sein Glück nicht zeitlebens treu bleiben, wenn er daran glaubt? Alles, was er sich wünscht, bekommt er, oder wenigstens fast alles. Er hat seinen Irrtumswert kalkuliert, und was übrig bleibt, ist Glück. Ich werde ihm noch die Freude am Sommer nehmen, indem ich ihm sage, daß der Winter darauf folgt. Diesmal konnte ich den Schaden vielleicht gerade noch gutmachen. «Doch ja, ich glaube auch, du hast wirklich fabelhaftes Glück.» Amerikanische Kinder sind besessen von Weltraumabenteuern und Reisen in das Reich der Sterne. Beim 176
Spielen tragen sie blasenartige Kopfbedeckungen, Raummasken aus Plastikmaterial. Sie reden miteinander in einer interplanetarischen Geheimsprache, und die Milchstraße ist ihr Fahrtziel und nicht ein fernleuchtendes Sternkonglomerat. Das Fernsehen unterstützt solche Träume lebhaft im Bestreben, gleichzeitig Haferflocken zu verkaufen. Aber Kinder glauben nur, was sie glauben wollen, und das hat schon mancher Film- und Fernsehproduzent erfahren. In den Spielwarenläden von Paris gibt es ebenfalls Plastikhelme für die Weltraumfahrt und interplanetarische Pistolen. Das Spiel ist international. Aber ist es nur ein Spiel? Oder ist es etwa der tief verborgene Drang, unseren Planeten zu verlassen, der nicht einmal die einfachsten Fragen der Geographie und der Güterverteilung lösen kann? Der zwar ein Atom zerkleinern kann, aber die freigewordene Energie nicht nützlich zu verwenden weiß? Der die differenziertesten physikalischen Gesetze erdenkt, aber die elementarsten Verhaltensweisen vergißt? Wäre es verwunderlich, wenn unsere Kinder eines Tages genug von uns hätten und mit Meteorenschnelle die Erde verließen, den strahlenden, reinen Sternen zu? Dann verließen sie uns inmitten unserer Weisheit mit ihren Errungenschaften, während wir neue Schutzmaßnahmen für den Trümmerhaufen Erde treffen, neue Wälle, neue Mauern bauen, neue Waffen konstruieren gegen den einzigen Feind, den wir haben – uns selbst. Ich habe meinen Jungen versprochen, ein Fernrohr zu besorgen, das stark genug ist, meinen Fehler gutzuma177
chen und ihnen zu zeigen, daß es auf den Sternen kein Frankreich, kein Texas, kein Pakistan und keine dazwischen gezogenen Grenzen gibt. Das wenigstens kann ich für sie tun.
ADEL DER LEISTUNG
So wie der Mensch mit seinen größeren Aufgaben wächst, so sinkt er auch zu tierischer Verrohung, wenn ihn die Verzweiflung des Hasses schlägt. In unseren Tagen ist der Weg nur mangelhaft bezeichnet, der die Menschen zu ihrem Ziel führt, geachtet und verehrt zu werden. Wir haben keine Adelstitel mehr, und das ist vom Übel. Denn wir streben nach Veredlung, und wir brauchen die Pflichten, die Adel auf uns legt. Die Schlüssel zum Reich der Ehre sind heute ein großes Bankkonto, politische Macht und militärischer Ruhm. Dieses Reich der Ehre wäre von einer neuen Aristokratie belebt, wenn jeder, der dort eintritt, seine Mühe und seine Arbeit ebenso der Welt gewidmet hätte wie sich selbst. So könnte der Snob, der in jedem von uns steckt, dem Gemeinwohl dienstbar werden. Unsere Ehrenmedaille, die der Kongreß verleiht, wird allseits heiß begehrt, wohl weil sie den Träger über alle anderen Amerikaner erhebt. Der Orden und sein Träger müssen von einem jeden gegrüßt werden, auch von einem Fünf-Sterne-General. Verachtung für dieses Ehrenzeichen wäre wider die Natur. Adel verpflichtet. Und wie er Pflicht birgt, sollte er auch Lohn in sich tragen. Ich finde, Männer und Frauen, die etwas zum Glück der Menschheit getan haben, sollten auf Lebenszeit geadelt werden. Männer etwa wie Albert Ein179
stein und Bernhard Baruch, wie General Marshall und Doktor Salk, vielleicht auch der eine oder der andere Dichter und Maler, dessen Werk über die Grenzen seines Landes hinausging, ein Ingenieur, der Wüsten bewässerte, ein Biologe, der Mittel gegen einen bösartigen Virus fand, ein Astrophysiker, der unseren Horizont in den Weltraum hinausdehnte, ein Philantrop, der Menschengruppen half, ein Politiker, der seine Aufgabe erfolgreich, sauber und würdig erfüllte, ein Yeats, ein Marconi, ein Sibelius, ein Cruce, ein John Dewey – ihnen würde ich den Adel verleihen. Sie sollten den Adel nicht nur zum Lohn für ihre Leistungen tragen, sie sollten auch als Beispiel ausgezeichnet werden, als Leitbild und Ziel für alle anderen, durch Leistung die Menschheit zu fördern. Da niemand vorgeschlagen werden könnte, der noch nichts geleistet hat, entfiele die Frage, ob würdig oder nicht. Der Titel müßte kurz und einzig in seiner Art, die Auszeichnung die höchste der Welt sein. Nehmen wir an, die Ehrenliste würde alljährlich der UNO-Vollversammlung vorgelegt. Mit einstimmig gefaßtem Beschluß würde der Kandidat als überragend anerkannt und gekrönt. Er verlöre seine Staatsangehörigkeit nicht, aber alle Staaten der Erde täten sich ihm auf und böten ihm ihre Bürgerschaft an. An den Grenzen stieße er auf keinen Argwohn, unangetastet ließe man sein Gepäck, ihm blieben Einwanderungs- und Zollscherereien, das unnütze Warten und alle Quälereien der Reisenden durch die Organe der öffentlichen Ordnung erspart. Er wäre in Wahrheit ein Weltbürger, ein Weltbürger im Status des Lohnes und der Anerkennung für seinen der Menschheit geleisteten Dienst. 180
Vielleicht erscheint manchem eine derartige Krönung des Lebens voller Arbeit als unzulänglich. Mir kommt sie nicht so vor. Sie könnte zur begehrtesten Belohnung überhaupt werden. Wer dafür ausersehen wird, wird sicher schon seiner Veranlagung nach kein Snob werden. Wohl aber kann sie sich zum Anreiz für alle die entwikkeln, die jetzt nur darauf aus sind, unsere Welt zu zerklüften oder sie im unfruchtbaren Konformismus zu halten. Bliebe die höchste Würde der Welt nur wirklichen Dienstleistungen an der Menschheit vorbehalten, dann ginge der Trieb zur Selbsterhöhung durch Geld, Macht und sonstige Mittel vielleicht einen anderen Weg. Es gibt so viele Menschen, selbst niederträchtige, die danach gieren, berühmt zu sein. Vielleicht täten sie, um Ruhm zu gewinnen, sogar Gutes. Haben Wert und Art dieser Adelserhebung erst einmal feste Gestalt und sind sie allseits anerkannt, dann sollten in diesen Adel auch Leute aufgenommen werden, die ihr Geld zum Wohl der Menschheit hergegeben haben. Dieser Plan entstammt nicht schwärmerischer Träumerei. Er ist realistisch und realisierbar, weil er eine menschliche Schwäche nutzbringend verwerten will, einen der mächtigsten menschlichen Triebe. Wir sollten doch unsere Triebe nicht zu unserem Unheil benutzen, sondern zu unserem Heil.
DIE GUTE ALTE UND DIE BESSERE NEUE ZEIT
Ich war auf die üblichen Fragen gefaßt: «Warum sind Sie nach Paris gekommen? Wieviel Kinder haben Sie? Was schreiben Sie zur Zeit?» Jedoch die Interviewerin fragte mich: «Warum schreiben die Amerikaner immer über die Vergangenheit? Warum schreiben sie soviel Erzählungen aus ihrer eigenen Jugend oder aus der Jugend der Vereinigten Staaten? Warum werden so viele historische Romane verfaßt und vom Publikum begeistert gelesen? Kurzum, warum scheuen ihre Autoren die Gegenwart?» Ich fand nicht gleich eine Antwort. Die Frage ist durchaus angebracht. Wahrscheinlich ist die Tatsache so grell, daß sie dem Blick entgeht. Richter darf ich hier nicht sein, denn ich bin mitschuldig. In den letzten Jahren habe ich Bücher voller Heimweh nach vergangenen Zeiten geschrieben, habe Verschollenes zu neuem Leben geweckt, ich habe sogar eine Reihe von Erzählungen geplant, in denen meine Kindheit wieder lebendig werden soll. In diese Arbeit war ich so vertieft, daß mir kaum noch Zeit für die Gegenwart blieb. Nun war ich darüber betroffen. Um zu erfahren, ob ich wohl allein das Phänomen der Vorliebe für Vergangenes bestaunte, gab ich die Frage einigen Verlegern und literarischen Agenten weiter. Sie antworteten mir, es sei so. Und sie fügten hinzu, dieser Zustand erfülle sie schon 182
längst mit Sorge. Physiker, Nationalökonomen, Biologen behandeln die Zeit, in der wir leben, Soziologen sezieren sie. Doch kein Roman stellt sie dar, sieht man von rührseligen Liebesgeschichten oder den Erzählungen über das Schicksal untypischer Neurastheniker ab. Die amerikanischen Romanciers und Lyriker lassen die Gegenwart aus dem Spiel. Da es auch mich angeht, dachte ich darüber nach. Ja, warum schreiben wir nicht über unsere Zeit? Widert uns ihre Verworrenheit an? Stoßen wir uns an ihrem offenbaren Mangel eines Ziels? Nein, das ist es nicht, wenigstens ist es das nicht in meinem Fall. Ich glaube, jede Generation hielt die geschichtliche Epoche, in der sie lebte, für verworren und ziellos. Stehen wir vielleicht ratlos vor einer Wegkreuzung, ohne zu wissen, wohin die Straßen vor uns führen? Vielleicht ist es das. Aber warum erschreckt es uns? Gerade wir, finde ich, sollten doch die Wege, die sich uns bieten, prüfen und erforschen. Fürchten wir etwa Repressalien, irgendwie und irgendwoher? Solche Furcht eines Schriftstellers setzte ein tiefes menschliches Niveau voraus. Oder sind wir einfach zu faul, kritisch zu schauen und zu urteilen? Das ist vielleicht der wahrscheinlichste Grund, aber auch der, der am wenigsten verzeihlich ist. Der Historiker späterer Zeit wird einmal aus anderen Quellen als den unseren schöpfen müssen, wenn er etwas über unsere Sitten, unsere Lebensart, unsere Denkweise erfahren will. Ich kenne die Gründe nicht, aus denen andere Autoren sich vor der Gegenwart verschließen. Ich selbst merkte gar nicht, daß es bei mir geschah. Ich arbeitete zu vertieft, 183
um zu erkennen, welche Tendenz sich in meiner Arbeit kundgab. Hat ein Schriftsteller – denke ich, und das ist ein wichtiges Moment – einen anderen Daseinszweck als den, Unterhaltung zu geben, so ist es der, sein Lebensbild zu schildern, darüber zu richten, zu urteilen und es dem Leser greifbar zu präsentieren. Man hört beispielsweise vielfach, Amerika und die Amerikaner seien imperialistisch. Das stimmt, glaube ich, nicht. Ich schließe aus dem Wesen meiner Mitbürger, aber ich schreibe nicht darüber. Ich schreibe eine Chronik aus vergangener Zeit. Doch wieviel Allgemeinheiten bekomme ich zu hören, die meiner Beobachtung widersprechen, Allgemeinheiten, die eigentlich Anklagen sind. Meine Bücher sollen reine Wahrheit wiedergeben, soweit nur irgend reine Wahrheit definierbar ist. Sie sollen kein Wunschbild darstellen, kein Bild einer Vergangenheit, die der Nebel der Zeit verwischt und die Entfernung verkleinert hat, und erst recht nicht das noch fernere Bild einer Zeit, die ich nicht einmal selbst erlebt habe. Die Frage scheuchte mich aus meiner Selbstversunkenheit hervor. Daß ich mir darüber nicht klar war, ändert nichts an der Tatsache, daß ich vor unserer Zeit auswich. Doch da ich mir nun dessen bewußt geworden bin, wäre es ein Vergehen, wollte ich nicht gegen diese Einstellung ankämpfen. Unsere Zeit ist erregender als alle anderen Zeiten zuvor. Dem gewaltigen Sprung der Technik entspricht unsererseits noch kein ebenbürtiger Fortschritt im Verständnis füreinander, noch nicht einmal im Verständnis der neuen Kräfte. Wir stehen wie Kinder vor dem unge184
heuerlichen Produkt unserer eigenen Fabrikation. Untätig und starr warten wir, was geschehen wird. Werden wir zum willenlosen Spielzeug der Kräfte, die wir selbst geschaffen haben, oder werden wir lernen, sie zu benutzen? Ich sehe keinen Anlaß für die Furcht, nur ihr schlechter Gebrauch stünde bevor. Wahrscheinlich werden wir teils guten, teils schlechten Gebrauch von ihnen machen, wie von allem anderen auch. Ich meine nicht allein die Kernspaltung mit allen von ihr freigesetzten Energien. Ich meine auch den Untergang der alten Formen, der alten Grenzen und der alten Moral. Allein deshalb, weil eine große Entwicklung im Kommen ist, brauchen wir noch nicht zu fürchten, daß sie zum Schlechten führt. Die Geschichte beweist das Gegenteil. In der Vergangenheit, soweit wir auch zurückgehen, haben sich die menschlichen Beziehungen mit kurzen Pausen und Verzögerungen stetig verbessert. Warum soll die neue Entwicklung anders laufen? Gewiß, wir leben in einer gefahrvollen Zeit. Aber wie langweilig wäre sie sonst. Viele Bewohner des westlichen Europas werfen den Amerikanern vor, sie hätten Europa zu ihrer vorgeschobenen Verteidigungslinie gemacht. Daß es so ist, steht außer Zweifel. Aber ist das ein Übel? Liegt darin nicht vielmehr die erste Verbesserung in den Begriffen der internationalen Politik? Seit die Queen Elizabeth die Politik des divide et impera einführte, beherrschte das Teilungsprinzip die Welt. Jetzt ist das westliche Europa die Gefährtin Amerikas, die Schicksalsgefährtin. Es gibt Wichtigeres als die Wasserstoffbombe. Wichtiger ist beispielsweise eine Erkenntnis, die rasch und 185
durchdringend um sich greift. Es ist die Erkenntnis, daß keine Menschengruppe vom Unglück einer anderen Menschengruppe leben kann. Das ist etwas durchaus Neues auf Erden. Es wird noch Fehlschläge geben. Aber noch nie haben Rückschläge eine wahre Erkenntnis daran gehindert, sich durchzusetzen. Das sind so einige von den Gedanken, die anstelle unglücklicher Jugendjahre oder historischer Romantik Themata unserer Bücher werden sollten. Unsere Zeit ist interessanter als jede andere Zeit von einst. Zudem ist sie da, greifbar, vor unseren Augen. Ich bin dankbar, daß mir die Frage gestellt wurde. Sie zeigte mir einen neuen Horizont. ENDE