Seit dem Erscheinen seines Erstlingswerkes »Brain Wave« vor 11 Jahren gehört Poul Anderson zu den internationalen Spitz...
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Seit dem Erscheinen seines Erstlingswerkes »Brain Wave« vor 11 Jahren gehört Poul Anderson zu den internationalen Spitzenautoren der Science Fiction. Viele seiner Romane und Stories wurden bereits in fast alle Weltsprachen übertragen. Dies ist die deutsche Ausgabe der AndersonKollektion »Time and Stars«. Sie bringt: die Geschichte von den Psychodynamikern, die der Menschheit den Frieden schenken wollen – die Geschichte des Volkes, das um seine Zukunft be trogen werden soll – die Geschichte der Raumfahrer, die drei Milliarden Jahre zu spät kommen – und die Geschichte des Mannes, der vier Mädchen auf einmal heiraten möchte ...
In der TERRA-Sonderreihe erschienen bisher: Hans Kneifel Der Traum der Maschine (Band 100) E. F. Russell Die große Explosion (Band 101)
John Brunner Die Wächter der Sternstation (Band 102)
Terra
Sonderreihe
103
DIE ZEIT
UND DIE STERNE
von
POUL ANDERSON
Deutsche Erstveröffentlichung
Scan und Layout: Puckelz
Korrektur: Goofy
MOEWIG-VERLAG MÜNCHEN
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
Titel der amerikanischen Originalausgabe
TIME AND STARS Aus dem Amerikanischen übertragen von Walter Brumm
Copyright © 1964 by Poul Anderson
Printed in Germany 1965
Gesamtherstellung: H. Mühlberger, Augsburg
INHALT
Die Zentrale der Esper
(NO TRUCE WITH KINGS)...........................................
7
Wendepunkt Kassiopeia
(TURNING POINT) ...................................................... 100
Die Erde gehört uns nicht
(EPILOGUE)................................................................. 124
Eva mal vier
(EVE TIMES FOUR) ..................................................... 198
Die Zentrale der Esper
Die ganze Messe war betrunken, und die jüngeren Offiziere am unteren Ende der langen Tafel waren nur wenig geräuschvoller als die Dienstälteren in der Nähe des Colonels. Teppiche und Vorhänge ver mochten kaum den wirren Lärm aus Rufen, tram pelnden Stiefeln, dröhnenden Faustschlägen auf Ei chenholz und Gläsergeklirr zu dämpfen, der zwi schen den massiven Steinwänden widerhallte. Im rauchverhangenen Dämmerlicht unter der Saaldecke bewegten sich die Regimentsfahnen in der Zugluft, als wollten sie ihren Teil zum allgemeinen Chaos beitragen. Darunter tanzte der Lichtschein der Wandleuchter und des prasselnden Kaminfeuers über Trophäen und Waffen. Der Herbst kommt früh ins Bergland, und es stürmte draußen. Wind umheulte die Wachttürme, und auf den Höfen trommelte der Regen, ein leiser und gleichmäßiger Unterton, der Gebäude und Kor ridore erfüllte und unwillkürlich an die alte Ge schichte denken ließ, nach der die Toten der Einheit jedes Jahr in der Nacht des neunzehnten September aus ihren Gräbern stiegen und an den Festlichkeiten teilzunehmen versuchten. Doch ließ sich dadurch niemand beunruhigen, weder hier noch in den Mann schaftsunterkünften. Die dritte Division, die Division der Berglöwen, genoß den Ruf, die wildeste und un gezügeltste Einheit in der Armee der Pazifischen Staaten von Amerika zu sein, und die Rolling Stones von Fort Nakamura galten unter ihren Regimentern als das wildeste.
»Los, Charlie! Fang schon an. Du hast die beste Stimme in der ganzen verdammten Sierra«, rief Colo nel Mackenzie. Er öffnete den Kragen seiner schwar zen Litewka und warf sich in den Stuhl zurück, die Beine von sich gestreckt, die Pfeife in der einen und das Whiskyglas in der anderen Hand. Ein untersetz ter Mann mit blauen, von zahllosen Fältchen umge benen Augen in einem narbigen Gesicht. Sein spärli ches kurzgeschnittenes Haar begann zu ergrauen, aber sein Schnurrbart war noch immer von einem ge radezu herausfordernden Rot. Captain Hülse stand auf und schmetterte die erste Strophe eines Soldatenlieds in den von Lärm und Rauch erfüllten Raum. Die anderen stimmten brül lend und grölend in den zweideutigen Refrain ein. »Bitte um Entschuldigung, Sir.« Mackenzie drehte sich schwerfällig zur Seite und blickte in Sergeant Irwins Gesicht. Der Ausdruck des Mannes ernüchterte ihn. »Ja?« »Ein Telegramm, Sir. Major Speyer bittet Sie, sofort zu ihm zu kommen.« Speyer, der nichts vom Alkohol hielt, hatte sich an diesem Abend freiwillig zum Dienst gemeldet. Mak kenzie dachte an die letzten Nachrichten aus San Francisco und fröstelte. Der Refrain dröhnte durch die Messe; niemand merkte es, als der Colonel auf stand und seine Pfeife ausklopfte. Er ignorierte den dumpfen Druck in seinem Schä del, schritt aufrecht zur Tür und nahm automatisch sein Koppel mit der Pistolentasche vom Garderoben haken. Das Gegröle aus der Messe verfolgte ihn durch den langen Korridor. Vereinzelte Wandleuchter erhellten den Korridor
nur notdürftig. Porträts früherer Kommandanten be obachteten den Colonel und den Sergeanten aus Au gen, die im Halbdunkel versteckt lagen. Die Schritte hallten laut über den Steinboden. Mackenzie ging zwischen zwei Feldgeschützen hindurch, die den Treppenaufgang flankierten. Es waren Beutestücke aus dem Krieg gegen Wyoming, Erinnerungen an eine Zeit, die über eine Generation zurücklag. Der Colonel stieg schnaufend die Treppe hinauf. Die Entfernungen in diesem Fort waren grö ßer als es seinen nicht mehr jungen Beinen gefiel. Aber es war ein altes Fort, und jedes Jahrzehnt hatte ihm etwas hinzugefügt. Seine granitenen Kasematten und schweren Mauern waren ein Schlüssel zur Na tion, sie sperrten und bewachten eine lange Strecke der gebirgigen Ostgrenze. Mehr als eine Armee hatte sich an ihnen die Zähne ausgebissen, bevor Nevada unterworfen war, und viele junge Männer waren von diesem Fort ausgezogen, um unter feindlichen Ku geln zu sterben. Aber wir sind nie von Westen her angegriffen wor den, dachte Mackenzie ahnungsvoll. Mein Gott, das kannst du uns doch ersparen, nicht wahr? In der Befehlszentrale war es um diese Stunde still. Der Raum, wo Sergeant Irwin seinen Schreibtisch hatte, lag verlassen; um so deutlicher hörte man draußen den Wind um die Ecken heulen. Regen peitschte gegen die schwarzen Fensterscheiben und rann in Strömen daran herunter. Mackenzie öffnete die Tür zum nächsten Raum und hörte Irwin neben sich mit unsicherer Stimme sagen: »Hier ist der Colo nel, Sir.« Er schluckte, dann schloß er hinter Macken zie die Tür.
Speyer stand neben dem Schreibtisch, einem zer kratzten alten Möbel mit wenig darauf: einem Tinten faß, einer Briefablage, dem Lautsprecher und Mikro phon einer Sprechanlage, einer Photographie von No ra, die in den zwölf Jahren seit ihrem Tod verblaßt war. Der Major war groß und hager, hakennasig und kahlköpfig. Seine Uniform sah immer irgendwie un gebügelt aus. Aber er hatte das schärfste Gehirn in der ganzen Division, dachte Mackenzie; und bei Gott, es gab keinen Menschen, der so viele Bücher gelesen hatte wie Phil. Offiziell war er Mackenzies Adjutant, in Wirklichkeit sein Hauptratgeber. »Nun, was gibt's?« fragte Mackenzie. Der Alkohol schien sein Denken nicht zu beeinträchtigen, er ließ ihn die Dinge um ihn vielmehr mit geschärftem Be wußtsein wahrnehmen: den trockenen, heißen Ge ruch, den die Lampen ausstrahlten – wann würden sie endlich einen Generator bekommen, der groß ge nug wäre, elektrische Beleuchtung einzuführen? Er fühlte die kalten Steinplatten unter seinen Füßen und sah den Riß im Verputz der Nordwand. Der Ofen in der Ecke reichte kaum aus, um die feuchte Kälte zu vertreiben. Mackenzie gab sich zuversichtlich, steckte beide Daumen hinter sein Koppel und ließ sich auf die Absätze zurückwippen. »Nun, Phil, was ist los?« »Ein Telegramm aus San Francisco«, sagte Speyer. Er hatte ein Stück Papier in seinen Fingern hin und her gewendet, das er jetzt Mackenzie herüberreichte. »Warum keine Radiobotschaft?« »Ein Telegramm kann man nicht so leicht abhören. Dies hier ist übrigens verschlüsselt angekommen. Ir win hat es für mich in Klartext geschrieben.« »Was ist das wieder für ein Unsinn?«
»Lies es, Jimbo, dann wirst du es selbst sehen. Es ist sowieso an dich gerichtet. Direkt vom Hauptquar tier.« Mackenzie konzentrierte sich auf Irwins Gekritzel. Die üblichen Formalitäten der Anrede, dann: Sie werden hiermit verständigt, daß der Senat der Pazifi schen Staaten Owen Brodsky, früher Richter der Pazifi schen Staaten, von seinem Amt entbunden und unter An klage gestellt hat. Seine Nachfolge tritt in Übereinstim mung mit dem Gesetz sein bisheriger Stellvertreter Hum phrey Fallon an. Die Existenz subversiver Elemente, die für das Land eine öffentliche Gefahr bedeuten, hat Richter Fallon veranlaßt, ab 21 Uhr des heutigen Tages über die gesamte Nation das Kriegsrecht zu verhängen. Im Zu sammenhang damit ergehen an Sie folgende Anweisungen: 1. Bis zur öffentlichen Proklamation des Kriegsrechts gelten für, die obige Verlautbarung die üblichen Geheim haltungsvorschriften. 2. Alle verfügbaren Bestände an Waffen und Munition sind bis auf zehn Prozent einzuziehen und unter Ver schluß zu halten. Es sind Wachen aufzustellen. 3. Das Regiment hat Fort Nakamura nicht zu verlassen, bis Entsatz eintrifft. Ihre Ablösung besteht aus einem Ba taillon unter Colonel Simon Hollis, das morgen früh von San Francisco abrücken und in fünf Tagen in Fort Naka mura eintreffen wird, zu welchem Zeitpunkt Sie das Kom mando an ihn abgeben werden. Colonel Hollis wird dieje nigen Offiziere und Mannschaften bezeichnen, die durch Angehörige seines Bataillons ersetzt werden. Das Bataillon wird im dort stationierten Regiment aufgehen. Sie werden die ausgetauschte Truppe nach San Francisco zurückfüh ren und sich bei Brigadegeneral Mendoza im neuen Fort
Baker melden. Um Zwischenfälle zu vermeiden, ist diese Truppe bis auf die Pistolen der Offiziere zu entwaffnen. 4. Zu Ihrer privaten Information: Captain Thomas Da nielis ist zu Colonel Hollis' Adjutanten ernannt worden. 5. Sie werden nochmals darauf hingewiesen, daß über das Territorium der Pazifischen Staaten von Amerika das Kriegsrecht verhängt ist. Der nationale Notstand erfordert vollständige Loyalität zur gesetzmäßigen Regierung. Alle Ansätze zur Meuterei und Befehlsverweigerung sind streng zu ahnden. Jeder, der Brodsky oder seine Anhänger unterstützt, ist des Hochverrats schuldig und wird dem entsprechend zur Rechenschaft gezogen werden. Gerald O'Donnell, Stabschef der Armee der Pazifischen Staaten von Amerika Über die Berge rollte der Donner wie Artilleriefeuer. Es dauerte eine Weile, bis Mackenzie sich rührte, und dann tat er es nur, um das Telegramm wieder auf den Schreibtisch zu legen. »Sie haben es gewagt«, sagte Speyer tonlos. »Was?« Mackenzie drehte den Kopf und starrte dem Major ins Gesicht. Speyer sah es nicht, denn er blickte auf seine Finger, die eine Zigarette drehten. Er stieß seine Worte schnell und abgehackt heraus. »Ich kann mir vorstellen, was geschehen ist. Die Kriegspartei hat nach Amtsenthebung gerufen, seit Brodsky den Grenzkompromiß mit Westkanada ge troffen hat. Und Fallon – ja, der hat eigene Ambitio nen. Aber seine Partisanen sind eine Minderheit, und das weiß er. Seine Ernennung zum stellvertretenden Richter hat die Kriegspartei ein wenig besänftigt, aber er wäre trotzdem nie auf reguläre Weise Richter ge worden, weil Brodsky nicht eher als er an Alters
schwäche sterben wird, und weil der Senat zu mehr als fünfzig Prozent aus nüchtern denkenden, selbst zufriedenen Feudalherren besteht, die keineswegs der Ansicht sind, daß die PSA einen göttlichen Auf trag haben, den Kontinent der Wiedervereinigung zuzuführen. Ich verstehe nicht, wie ein vollständig und unbehindert zusammengetretener Senat Brods kys Amtsenthebung beschlossen haben könnte. Ich hätte es für wahrscheinlicher gehalten, daß sie Fallon absetzen würden.« »Aber der Senat ist einberufen worden«, sagte Mackenzie. »Wir haben es in den Radionachrichten gehört.« »Gewiß. Gestern sollte in einer Sitzung der Vertrag mit Westkanada ratifiziert werden. Aber die Feudal herren oder Oberhäupter, wie man sie nennen will, sind über das ganze Land verstreut, jeder in seinem Bezirk. Sie müssen nach San Francisco kommen. Ein paar einkalkulierte Verzögerungen – zum Teufel, es braucht bloß eine Brücke der Eisenbahnstrecke nach Boise zufällig in die Luft fliegen, und ein rundes Dut zend von Brodskys treuesten Gefolgsleuten kann nicht rechtzeitig zur Stelle sein! Aber dafür hat Fallon seine Anhänger vollzählig beisammen, und weil so viele von den anderen fehlen, hat die Kriegspartei ei ne klare Mehrheit. Dann kommen sie noch an einem Feiertag zusammen, wo kein Bürger sich um die Vor gänge im Senat kümmert. Die Folge? Brodsky wird seines Amtes enthoben und angeklagt – und wir ha ben einen neuen Richter!« Speyer steckte seine Ziga rette in den Mund und fummelte in seinen Taschen nach einem Zündholz. Seine Kiefermuskeln zuckten. »Bist du sicher, daß es so gewesen ist?« murmelte
Mackenzie. Er dachte flüchtig an eine Segelpartie, die er einmal im Puget Sund unternommen hatte. Eine Nebelbank hatte sich vor die Küste geschoben, und plötzlich war alles kalt und undurchsichtig gewesen. Es gab nichts, was man mit den Händen hätte greifen können. Genauso war es jetzt. »Natürlich bin ich nicht sicher!« knurrte Speyer. »Niemand wird es genau wissen, bis es für Gegenak tionen zu spät ist.« Er schwenkte die Streichholz schachtel in einer wilden Geste. »Sie haben auch einen neuen Mann im Hauptquar tier, wie man sieht.« »Klar. Sie müssen jeden, dem sie nicht voll vertrau en können, so schnell wie möglich ablösen, und De Barros war Boskys Mann.« Ein Zündholz flammte auf. Speyer inhalierte den Rauch. »Du und ich, wir gehören natürlich auch zu den unsicheren Kantoni sten. Das Regiment soll entwaffnet werden, damit keiner auf die Idee kommt, Widerstand zu leisten, wenn der neue Colonel eintrifft. Du siehst, daß er trotzdem ein Bataillon mitbringt, nur für den Fall. Wenn es nicht so wäre, hätte er ein Flugzeug nehmen und morgen hier sein können.« »Warum nicht die Eisenbahn?« »Wahrscheinlich wird alles rollende Material im Norden gebraucht, um Truppen hinzubringen, falls die dortigen Feudalherren revoltieren. Die Täler sind ihnen ziemlich sicher, mit friedlichen Bauern und den Niederlassungen der Esper. Keiner von ihnen wird Fallons Soldaten Widerstand leisten, wenn sie durchmarschieren, um die nördlichen Garnisonen zu besetzen.« Speyers Stimme bebte vor Zorn. »Und was wollen wir unternehmen?«
»Vermutlich hat sich Fallon bei seiner Machtüber nahme an die gesetzmäßigen Formen gehalten und den Senat abstimmen lassen«, sagte Speyer. »Man wird nicht leicht nachprüfen können, ob wirklich al les verfassungsgemäß in Ordnung war. Ich habe die ses verdammte Telegramm wieder und wieder gele sen, seit Irwin es entschlüsselt hat. Man kann eine Menge zwischen den Zeilen lesen. Zum Beispiel glaube ich, daß Brodsky in Freiheit ist. Wenn er ver haftet wäre, würde es erwähnt sein, und man würde sich nicht so viele Gedanken über eine Rebellion ma chen. Vielleicht haben ihm ergebene Truppenteile rechtzeitig zur Flucht verholfen; er verfügt ja wie die anderen Feudalherren über seine kleine Privatarmee. Aber man wird ihn natürlich wie ein Kaninchen ja gen.« Mackenzie zog seine Pfeife aus der Tasche, ver gaß jedoch, sie anzuzünden. »Tom kommt mit unse rer Ablösung«, sagte er unsicher. »Ja. Dein Schwiegersohn. Ein geschickter Schach zug, nicht? Eine Art Geisel, damit du dich gut be nimmst, aber auch eine Versprechung hinter vorge haltener Hand, daß du und die Deinen nichts zu be fürchten haben, wenn du dich wie befohlen zurück meldest. Tom ist ein guter Kerl. Um ihn brauchst du dir keine Sorgen zu machen.« »Das hier ist auch sein Regiment«, sagte Macken zie. Er nahm seine Schultern zurück. »Er wollte gegen Westkanada kämpfen, natürlich. Jung und abenteu erlustig – und in den Gefechten um den Nordzipfel von Idaho sind schließlich viele unserer Leute umge kommen, auch Frauen und Kinder.« »Nun«, sagte Speyer, »du bist der Colonel, Jimbo. Was sollen wir tun?«
»Ich weiß es nicht, bei Gott. Ich bin Soldat, sonst nichts.« Der Pfeifenstiel zerbrach in Mackenzies Fin gern. »Aber wir hier sind nicht die Miliz irgendeines Feudalherrn. Wir haben unseren Eid auf die Verfas sung abgelegt.« »Ich sehe nicht ein, warum Brodskys Kompromiß bereitschaft und sein Nachgeben in Idaho ein Grund sein sollten, ihn abzusetzen. Nach meiner Ansicht hat er richtig gehandelt.« »Aber ...« »Wenn ein anderer als Fallon den Staatsstreich un ternommen hätte, würde es genauso stinken. Du hast die politische Entwicklung vielleicht nicht so genau verfolgt, Jimbo, aber du weißt so gut wie ich, was es bedeutet, wenn Fallon Richter ist. Krieg mit Westka nada ist beinahe noch das wenigste. Fallon ist für eine starke Zentralregierung. Er wird Mittel und Wege finden, die alten Familien der herrschenden Feu dalclique zu entmachten. Viele von ihnen werden im Kampf um die Behauptung ihrer Positionen fallen. Andere wird man anklagen, mit Brodsky kollaboriert zu haben, und sie durch Geldstrafen und Enteignun gen brechen. Die Espergemeinschaften werden große Ländereien bekommen, damit ihre wirtschaftliche Konkurrenz weitere private Gutsherrschaften rui niert. Spätere Kriege werden die Feudalherren zu jah relanger Abwesenheit zwingen und daran hindern, ihre eigenen Geschäfte zu beaufsichtigen, die daher früher oder später zum Teufel gehen werden. Und auf diesem Wege marschieren wir dem glorreichen Ziel der Wiedervereinigung entgegen.« »Wenn die Esperzentrale Fallon unterstützt, kön nen wir nichts gegen ihn unternehmen. Ich habe ge
nug über diese Psi-Stöße gehört. Ich kann von meinen Männern nicht verlangen, daß sie sich dem ausset zen.« »Du könntest von deinen Männern verlangen, daß sie sich der Höllenbombe aussetzen, und sie würden es tun, Jimbo. Seit fünfzig Jahren werden die Rolling Stones von einem Mackenzie kommandiert.« »Ja. Ich dachte, Tom würde eines Tages ...« »Wir haben schon lange beobachtet, wie sich das zusammengebraut hat. Erinnerst du dich an unser Gespräch letzte Woche?« Mackenzie nickte. »Ich könnte dich außerdem daran erinnern, daß die Verfassung ausdrücklich das Ziel hat, ›die verschie denen Regionen in ihren alten Freiheiten zu bewah ren und zu schützen‹.« »Laß mich in Ruhe!« rief Mackenzie ärgerlich. »Ich weiß nicht, was richtig und was falsch ist, ich habe es dir schon gesagt! Laß mich also in Frieden!« Speyer schwieg und betrachtete den Colonel durch eine übelriechende Rauchwolke. Mackenzie schritt eine Weile auf und ab; seine Stiefel schlugen auf den Boden wie Trommelstöcke. Zuletzt warf er die zer brochene Pfeife in eine Ecke und fuhr herum. »Okay. Irwin ist ein guter Mann, der zu schweigen versteht.« Die Spannung in ihm war so groß, daß er die Worte einzeln hervorstieß. »Schick ihn hinaus, er soll die Telegraphendrähte ein paar Meilen weiter unten durchschneiden. Es muß so aussehen, als habe der Sturm sie zerrissen. Das passiert oft genug, der Himmel weiß es. Offiziell haben wir das Telegramm vom Hauptquartier nicht bekommen. Das gibt uns ein paar Tage Zeit, um uns mit dem Oberkommando
Ost in Verbindung zu setzen. Ich werde nicht gegen General Cruikshank ziehen – aber ich bin ziemlich si cher, welchen Weg er gehen wird, wenn er eine Chance sieht. Morgen werden wir das Fort in Alarm zustand versetzen. Es wird kein Problem sein, Hollis' Bataillon zurückzuschlagen, und sie werden dann ei ne Weile brauchen, bevor sie mit größeren Kräften gegen uns vorgehen können. Bis dahin wird der erste Schnee kommen und uns für den Winter von der Au ßenwelt abschneiden. Nur, daß wir mit Skiern und Schneeschuhen ausgerüstet sind, mit den anderen Einheiten Kontakt behalten und etwas organisieren können. Bis zum Frühling – wir werden sehen, was bis dahin geschieht.« »Danke, Jimbo«, murmelte Speyer. Der Wind übertönte seine Worte. »Ich – ich sollte zu Laura gehen und es ihr sagen.« »Ja.« Speyer drückte die Hand des Colonels. Er hatte Tränen in den Augen. Mackenzie ging mit schnellen, exakt abgemessenen Schritten hinaus, durch den Korridor, eine Treppe hinunter und an bewachten Türen vorbei, wo er Eh renbezeigungen erwiderte, ohne es zu merken, bis er endlich zu seinen Wohnräumen im Südflügel ge langte. Seine Tochter hatte sich bereits schlafen gelegt. Er nahm eine Laterne vom Haken und betrat ihr Zim mer. Sie war hierher zurückgekommen, während sich ihr Mann in San Francisco aufhielt. Für einen Augenblick konnte sich Mackenzie nicht erinnern, warum er Tom dorthin geschickt hatte. Er strich sich mit der Hand über den Kopf, als wollte er etwas aus ihm herauspressen ... oh, ja, vorgeblich, um
die Lieferung neuer Uniformen vorzubereiten. In Wahrheit aber, um den Jungen aus dem Wege zu ha ben, bis die politische Krise vorüber wäre. Tom war ehrlicher und aufrichtiger, als gut für ihn war, ein Bewunderer von Fallon und der Espergemeinschaft und ihren Zielen. Seine Offenheit hatte zu Spannun gen mit seinen Offizierskameraden geführt. Sie ka men vorwiegend aus Feudalkreisen oder aus den wohlhabenden Familien der Oberschicht. Aber Tom Danielis begann als einfacher Fischerjunge in einem von Armut und Not bedrückten Fischernest an der Mendocinoküste. In seiner Freizeit hatte er von einem Esper Unterricht im Lesen und Schreiben bekommen und war dann als junger Mann in die Armee einge treten, wo er sich mit Zähigkeit und Intelligenz em porgearbeitet hatte. Er hatte nie vergessen, daß die Esper den Armen halfen und daß Fallon versprochen hatte, die Esper und ihre Ziele zu unterstützen. Dann waren die Ideale hinzugekommen: Wiedervereini gung, Sozialismus, Demokratie ... Lauras Zimmer war kaum verändert, seit sie es vor einem Jahr verlassen hatte, um zu heiraten. Und sie war damals erst achtzehn gewesen. In diesem Zim mer überlebten Gegenstände, die einmal zu einer kleinen Person mit Zöpfen und gestärkten Schürzen kleidchen gehört hatten – ein formloser Teddybär, ein Puppenhaus, das ihr Vater gebaut hatte, das Bild ih rer Mutter, von einem Korporal gezeichnet, der am Salt Lake gefallen war. Mein Gott, wie sehr ähnelte sie jetzt ihrer Mutter. Dunkles Haar lag verwuschelt auf dem Kopfkissen. Mackenzie brauchte eine Weile, bis er imstande war, an ihre Schulter zu rühren. Sie erwachte sofort, und
er sah Angst und Erschrecken in ihren Augen. »Papa! Ist etwas mit Tom?« »Ihm fehlt nichts.« Mackenzie stellte die Laterne auf den Boden und setzte sich auf die Bettkante. Sie faßte seine Hand. »Das stimmt nicht«, sagte sie. »Ich kenne dich zu gut.« »Er ist nicht verletzt. Ich hoffe, daß es nicht dazu kommen wird.« Mackenzie holte Luft. Weil sie die Tochter eines Soldaten, war, sagte er ihr mit wenigen Worten die Wahrheit; aber er war nicht stark genug, sie dabei an zusehen. Als er geendet hatte, blieb er schweigend sitzen und lauschte auf den Regen. »Du willst revoltieren?« flüsterte sie. »Ich werde mit dem Divisionshauptquartier spre chen und mich nach den Befehlen meines Vorgesetz ten richten«, sagte Mackenzie unbehaglich. »Du weißt, wie diese Befehle aussehen werden – wenn er weiß, daß er deiner Unterstützung sicher ist.« Mackenzie zuckte die Achseln. Sein Kopf begann zu schmerzen. Sollte das schon der Kater sein? Um schlafen zu können, würde er noch mehr Alkohol nötig haben. Nein, zum Schlafen war keine Zeit – oder doch. Ja, es würde genügen, wenn er das Regi ment morgen auf dem Kasernenhof versammelte. – Er überraschte sich bei der unmotivierten Erinnerung an eine Ruderpartie auf dem Lake Tahoe, die er mit Nora und seiner Tochter unternommen hatte. Das Wasser hatte die Farbe von Noras Augen gehabt, grün und blau, und das Sonnenlicht flimmerte auf der Oberfläche, und es war so klar gewesen, daß man
die Felsblöcke am Grund sehen konnte. Und Laura hatte ihr kleines Hinterteil in die Luft gereckt, wäh rend sie ihre Hände in die Strömung hinter dem Boot gehalten hatte. Sie schwieg gedankenverloren, bevor sie endlich sagte: »Ich denke, es hat wohl keinen Zweck, wenn ich versuche, dich umzustimmen?« Er schüttelte den Kopf, und sie fuhr fort: »Nun, kann ich dann morgen früh abreisen?« »Ja. Ich werde dir einen Wagen besorgen.« »Ich – ich brauche keinen. Ich kann reiten.« »Einverstanden. Aber ich lasse dich von ein paar Männern begleiten.« Mackenzie atmete tief ein. »Vielleicht kannst du Tom überreden ...« »Nein, das kann ich nicht. Bitte verlange das nicht von mir, Papa.« Er lächelte. »Ich möchte dich nicht hier zurückhal ten. Du hast deine eigenen Pflichten. Sag Tom, ich denke immer noch, daß er der richtige Mann für dich ist. Gute Nacht, Kleines.« Es kam zu schnell heraus, aber er war voll Unruhe. Als sie zu weinen begann, mußte er ihre Arme von seinem Hals lösen. * »Aber ich hatte nicht mit so vielen Opfern gerechnet!« »Ich auch nicht – jedenfalls nicht in diesem Stadi um. Ich fürchte jedoch, daß es noch mehr geben wird, bevor das eigentliche Ziel erreicht ist.« »Du hast mir gesagt ...« »Ich habe dir von unseren Hoffnungen erzählt, Mwyr. Du weißt so gut wie ich, daß die Große Wis senschaft nur dann richtig gesehen wird, wenn man
sie vor dem Hintergrund der geschichtlichen Ent wicklung betrachtet. Einzelne Ergebnisse sind – für sich genommen – eher geeignet, das Bild zu verwir ren.« »Eine bequeme Art und Weise, zu erklären, daß empfindende Wesen elend umkommen.« »Du bist neu hier. Theorie ist eine Sache, die An passung an praktische Notwendigkeiten eine andere. Glaubst du etwa, es schmerzt mich nicht, wenn ich mitansehe, wie Dinge geschehen, die in dieser Form nicht geplant waren?« »Ich weiß, ich weiß. Aber das macht es mir nicht leichter, mit meiner Schuld zu leben.« »Mit deiner Verantwortung, wolltest du sagen.« »Das ist deine Redensart.« »Nein. Hier geht es nicht um semantische Spiele reien. Du hast Meldungen gelesen und Filme gese hen, aber ich bin mit der ersten Expedition hierher gekommen. Und hier lebe ich nun schon seit mehr als zweihundert Jahren. Die Agonie dieser Erdenbewoh ner ist für mich kein abstrakter Begriff.« »Aber es war anders, als wir sie zuerst entdeckten. Die Nachwirkungen ihrer nuklearen Kriege waren noch überall gegenwärtig. Damals brauchten sie uns, diese armen, verhungernden Anarchisten. Und wir – wir haben nichts getan als beobachtet und regi striert.« »Jetzt wirst du hysterisch. Hätten wir blindlings eingreifen sollen, ohne auch nur das Geringste über sie zu wissen? Nein, damit hätten wir das Chaos nur noch vergrößert. Es wäre geradezu kriminell gewe sen, einem Chirurgen vergleichbar, der sofort zu ope rieren beginnt, wenn er seinen Patienten vor sich hat,
ohne sich überhaupt über den Fall zu informieren. Wir mußten sie ihren eigenen Weg gehen lassen, während wir unbemerkt lernten und studierten. Du hast keine Ahnung, wie hart wir arbeiteten, Informa tionen sammelten und um Verständnis warben. Erst vor siebzig Jahren fühlten wir uns ausreichend vorbe reitet, um den ersten neuen Faktor in diese eine, für den Versuch ausgewählte Gesellschaft einzuführen. Ständig bemühen wir uns, den Plan unseren neuge wonnenen Erkenntnissen anzupassen. Es mag gut und gern tausend Jahre dauern, bis wir unsere Missi on erfüllt haben werden.« »Aber inzwischen werden sie sich aus den Trüm mern erhoben haben. Sie werden eigene Antworten auf ihre Probleme finden. Welches Recht haben wir ...« »Ich beginne mich zu wundern, Mwyr, mit wel chem Recht du den Titel eines Assistenten der Psy chodynamik trägst. Überlege doch einmal, was ihre ›eigenen Antworten‹ in Wirklichkeit bedeuten. Der größte Teil des Planeten befindet sich noch immer im Zustand finsterster Barbarei. Dieses Land gehört zu den am meisten fortgeschrittenen, weil technische Fertigkeiten und Mittel vor der Zerstörung weite Verbreitung gefunden hatten. Aber was für eine Sozi alstruktur hat sich entwickelt? Ein Haufen streitsüch tiger Nachfolgestaaten. Ein Feudalsystem, bei dem die politische, militärische und wirtschaftliche Macht in den Händen einer kleinen Minderheit liegt, einer Räuberaristokratie, um genauer zu sein. In diesen ar chaischen Gemeinwesen entwickeln sich verschiedene Sprachen, Religionen und primitive Unterkulturen nach ihren eigenen unberechenbaren Gesetzen. Blin
der Fortschrittsglaube und eine krankhafte Anbetung der Technologie, die sie von ihren Vorfahren ererbt haben, werden sie schließlich zu einer Maschinenzi vilisation zurückführen, die genauso teuflisch und unmenschlich sein wird wie jene, die sich vor drei Jahrhunderten selbst zerstört hat. Bist du bekümmert, daß ein paar hundert Menschen getötet worden sind, weil unsere Agenten eine Revolution unterstützt und gelenkt haben, die nicht ganz so reibungslos ablief, wie wir gehofft hatten? Ich kann dir versichern, mein Freund, daß diese Opfer nichts sind im Vergleich zu denen, die diese Menschen einander im Lauf der nächsten Jahrhunderte abverlangen würden, wenn wir es uns nicht zur Aufgabe gemacht hätten, das to tale Elend dieser Rasse zu ändern und sie auf neue Wege zu führen.« »Natürlich. Ich sehe ein, daß ich mich von Emotio nen habe lenken lassen. Es ist nicht immer leicht, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen.« »Du solltest dankbar sein, daß du auf eine so milde Weise mit den harten Notwendigkeiten des Plans be kannt gemacht wirst. Es wird noch schlimmer kom men.« »Das habe ich gehört.« »In der Abstraktion wissenschaftlicher Erörterung. Aber betrachte einmal die Realität. Eine Regierung, die sich das Ziel gesetzt hat, die alte Nation wieder herzustellen, muß notwendigerweise aggressiv han deln. Sie verwickelt sich also in längere Kriege mit ih ren mächtigen Nachbarn. Direkt durch Kriegseinwir kungen und indirekt durch wirtschaftliche Entwick lungen, die sie nicht steuern können, werden die Ari stokraten und Feudalherren in diesen Auseinander
setzungen untergehen. Ihr System wird vorüberge hend durch demokratische Formen ersetzt werden, in denen ein korrupter Kapitalismus dominiert. Das al les wird von endlosen Unterdrückungen, Unruhen und Kriegen begleitet werden, bis endlich eine Ge sellschaftsform entstehen kann, in der die Ausbeu tung des Menschen durch den Menschen beseitigt, der Krieg abgeschafft und ein friedliches Zusam menleben auf dem ganzen Planeten gewährleistet ist. Wir können diesen voraussehbaren Prozeß abkürzen und beeinflussen, aber wir werden noch viele Ant worten finden müssen, bevor wir am Ziel sind.« »Glaubst du, daß das endgültige Resultat uns rechtfertigen wird ... daß es das Blut von unseren Händen abwaschen wird?« »Nein. Wir müssen den höchsten Preis von allen bezahlen. Uns bleibt am Ende nur der Trost, durch unser Eingreifen Schlimmeres verhindert zu haben.« * Der Frühling im Hochgebirge ist kalt und naß. Die Schneemassen schmelzen nur langsam, lassen kahle Geröllfelder, schwammig aufgeweichten Waldboden und sumpfige Bergwiesen zurück, während Flüsse und Bäche anschwellen und das lehmige Schmelz wasser tosend und donnernd talwärts schießt. Der er ste grüne Hauch in den Birken steht unvergleichlich zart gegen die schwarzen Mauern der Fichten. Eine Krähe zieht mit schleppendem Flügelschlag von Wald zu Wald, der Wind nimmt ihren einsamen Ruf mit sich, und man hört nur noch das unablässige Rie seln und Tropfen der schmelzenden Schneeflächen.
Aber dann kommt man über die Baumgrenze hinaus, und die Welt wird zu einer blauen und grauen Un endlichkeit aus Fels und Himmel, die Sonne funkelt und glitzert auf Schneeresten, und der Wind bläst ei nem kalt um die Ohren. Captain Thomas Danielis lenkte sein Pferd an den Wegrand und wartete. Er war ein dunkelhaariger junger Mann mit schmalem und ernstem Gesicht. Hinter ihm mühte sich ein schlammbespritzter Trupp Soldaten unter Flüchen, einen steckengebliebenen Panzerwagen flottzumachen. Sein Alkoholmotor war zu schwach, um mehr als einige hilflose Umdrehun gen der schlammüberzogenen Räder zu bewirken. Die Infanteriekolonne trottete vorbei, die Schultern gebeugt, von der Höhenluft, einem nassen Biwak und pfundschweren Lehmklumpen an den Stiefeln er schöpft. Ihre lang hingezogene Linie schlängelte sich die Windungen der Fahrstraße aufwärts und über den nächsten Kamm. Ein Windstoß brachte den Ge ruch von Schweiß und feuchten Kleidern zu Danielis. Aber sie waren gute Kerle, dachte er. Schmutzig, unausgeschlafen und abgekämpft, gaben sie doch ihr Bestes, ohne sich zu beklagen. Wenigstens seine eige ne Kompanie sollte heute abend eine warme Mahlzeit bekommen, und wenn er den Quartiermeister kochen müßte. Die Pferdehufe klapperten über die Reste eines alten, fast ganz im Schlamm versunkenen Betonfunda ments. Hinter diesem Gebirgszug hatte es einmal blühende Siedlungen und Städte gegeben. Jetzt war das Land fast menschenleer. Die »Heiligen«, eine nomadisierende Sekte, beanspruchten es als Eigen tum, aber sie waren längst unterworfen und bildeten
keine Gefahr mehr. Es hatte sich sogar eine Art Tauschhandel mit ihnen angebahnt. Aber auf der an deren Seite hatten diese spärlichen Kontakte der Re gierung niemals Anlaß gegeben, die alten Gebirgs straßen instandzusetzen oder gar zu pflastern, und die Eisenbahn endete bereits in Hangtown. Daher mußte sich die Truppe durch Wildnis, Urwald und eisiges Hochland vorwärtskämpfen. Danielis gab seinem Pferd die Sporen und ritt im Trab die letzten Meter zum Kamm hinauf. Der schwere Säbel an seiner Seite schlug gegen sein Bein. Angekommen, zügelte er das Reittier und zog sei nen Feldstecher aus dem Futteral. Von diesem Aus sichtspunkt konnte er ein weites Areal des wild zer klüfteten Berglandes überblicken. Wolken segelten über den stürmischen blauen Himmel, und ihre Schatten glitten über Berghänge, Schneefelder und tief eingeschnittene Täler. Vor ihm lagen braune Grasflächen, die der Schnee erst vor kurzem, freige geben hatte. Irgendwo im Gewirr der Blöcke pfiff ein frühzeitig vom Winterschlaf erwachtes Murmeltier. Danielis konnte das Fort immer noch nicht ausma chen. Aber eigentlich hatte er nichts anderes erwartet. Er kannte dieses Land ... wie gut kannte er es! Immerhin könnte es möglich sein, feindliche Bewe gungen zu beobachten. Es war etwas unheimlich ge wesen, so weit durch das Land zu marschieren, ohne ein Zeichen vom Feind oder irgendeinem anderen Menschen zu sehen; Patrouillen zur Feststellung von Rebelleneinheiten auszusenden, die sich nirgendwo blicken ließen; mit gespannten Schultern zu reiten und auf den Pfeil eines Heckenschützen zu warten, der nie kam. Und doch war der alte Jimbo Mackenzie
nicht der Mann, der untätig hinter den dicken Mau ern von Fort Nakamura sitzenbleiben würde. Wenn Jimbo überhaupt noch am Leben ist. Woher soll ich wissen, was inzwischen geschehen ist? Der Geier, der dort drüben seine Kreise zieht, ist vielleicht derselbe, der ihm die Augen ausgehackt hat. Danielis biß sich auf die Lippen und begann, das Land systematisch durch das Glas abzusuchen. Nicht an Mackenzie denken, wie er dich im Brüllen, Trin ken und Lachen übertraf, was dir nie etwas aus machte. Wie er über dem Schachbrett grübelte, wo du ihn jederzeit mattsetzen konntest, was ihm nie etwas ausmachte. Wie stolz und glücklich er bei der Hoch zeit gewesen war ... Es war auch nicht gut, an Laura zu denken, die vor dir zu verheimlichen suchte, daß sie nachts oft weinte, die jetzt ein Kind unter dem Herzen trug und allein in ihrem armseligen Quartier in San Francisco aus den schlimmen Träumen der Schwangerschaft erwachte ... Jeder von diesen armen Teufeln, die da auf ein Fort zustapften, an dem bisher noch jede Armee zugrundegegangen war – jeder ein zelne von ihnen hat jemanden zu Haus und macht sich Sorgen. Besser, man läßt es damit bewenden. Danielis wurde plötzlich steif. Ein Reiter! Er drehte an der Einstellschraube. Einer von unseren eigenen Leuten, ein Kundschafter auf dem Rückweg. Fallons Armee hatte der Uniform eine blaue Armbinde hin zugefügt. Er spürte, wie es seinen Rücken überlief. Er beschloß, sich erst die Meldung des Kundschafters anzuhören, bevor er eine Entscheidung traf. Aber der Mann war noch eine gute Meile entfernt und wurde durch das unebene, von Blöcken übersäte Terrain be hindert. Danielis fuhr in seiner Beobachtung fort.
Ein Aufklärungsflugzeug erschien am Himmel, ei ne unbeholfene Libelle, deren Propellerscheibe in der Sonne schimmerte. Sein Dröhnen hing über den zer rissenen Gebirgsketten. Später könnte man die Ma schine als Artilleriebeobachter einsetzen. Es hatte keinen Sinn, einen Bomber daraus zu machen; Fort Nakamura war unverwundbar gegen alles, was die schwächlichen Flugzeuge der Gegenwart abwerfen konnten, und es konnte dieses Ding sehr leicht ab schießen. Schritte knirschten hinter Danielis. Er fuhr mit ge zogener Pistole herum, senkte die Waffe sofort und lächelte verlegen. »Entschuldigen Sie, Philosoph.« Der Mann im blauen Umhang nickte, und ein Lä cheln machte sein ernstes Gesicht plötzlich weich. Er mußte etwa sechzig Jahre alt sein, hatte weiße Haare und ein zerfurchtes Gesicht, bewegte sich aber in die ser Höhe wie eine Bergziege. Das Yin-Yang-Symbol leuchtete golden auf seiner Brust. »Ihre Nervosität ist unnötig, mein Sohn«, sagte er. Die Spur eines texanischen Akzents dehnte seine Worte. Die Esper gehorchten den Gesetzen, wo im mer sie lebten, aber sie erkannten kein Land als das ihre an. Nichtsdestoweniger hatten die Pazifischen Staaten gewaltig an Prestige und Einfluß gewonnen, als die unbetretbare Zentrale dieses Ordens beim Wiederaufbau der Stadt in San Francisco errichtet worden war. Es hatte keinen Widerstand gegen den Wunsch der Esperzentrale gegeben, daß der Philos oph Woodworth die Expedition als Beobachter be gleiten sollte. Danielis lächelte verlegen. »Können Sie es nicht verstehen?«
»Doch, gewiß. Aber ich möchte Ihnen einen guten Rat geben. Ihre Nervosität ist unnütz, sie zehrt an Ih ren Kräften. Der Kampf hat noch nicht begonnen, aber Sie denken seit Wochen an nichts anderes.« Danielis erinnerte sich an den Apostel, der sein Heim in San Francisco besucht hatte – auf seine Ein ladung, in der Hoffnung, daß Laura ihre innere Ruhe wiederfinden möge. Der Gedanke schmerzte, und als Danielis antwortete, klang seine Stimme unnötig rauh. »Vielleicht könnte ich mich entspannen, wenn Sie Ihre Kräfte benützen und mir sagen würden, was uns erwartet.« »Ich bin kein Adept, mein Sohn. Zu sehr der mate riellen Welt verhaftet, fürchte ich. Jemand muß schließlich die praktische Arbeit für den Orden tun. Eines Tages werde ich mich zur Ruhe setzen können und Zeit haben, mein Inneres zu erforschen. Aber man muß früh anfangen und sein ganzes Leben dabei bleiben, wenn man seine vollen Kräfte entwickeln will.« Woodworth blickte über die fernen Gipfel. Sein Gesicht nahm einen geistesabwesenden Ausdruck an, und er schien mit ihrer Einsamkeit zu verschmelzen. Danielis zögerte, den Mann in seiner Meditation zu unterbrechen. Er fragte sich, welchen praktischen Zweck der Philosoph mit seiner Teilnahme an diesem Feldzug verfolgte. Um einen Bericht zurückzubrin gen? Das mochte sein. Es war möglich, daß die Esper beschließen würden, aktiv in diesen Krieg einzugrei fen. Doch war bekannt, daß ihre Zentrale den Einsatz der verheerenden Psi-Kräfte nur sehr selten und auch dann noch widerstrebend erlaubt hatte. Es war bisher nur in Fällen geschehen, wo der Bestand des Ordens unmittelbar bedroht gewesen war. Immerhin war
Richter Fallon ein besserer Freund des Ordens als Brodsky und der frühere Senat aus Grundbesitzern und Feudalherren. Das Pferd stampfte und schnaubte. Woodworth wandte den Kopf und blickte den Reiter an. »Wenn Sie mich fragen«, sagte er langsam, »ich glaube nicht, daß Sie in dieser Gegend viel finden werden. Früher, bevor ich den Weg sah, war ich selbst Kundschafter für die Armee. Dieses Land gibt einem ein Gefühl der Leere.« »Wenn wir bloß Genaueres wüßten!« brach es aus Danielis hervor. »Den ganzen Winter lang hatten sie die Berge für sich, während der Schnee uns den Zu gang versperrte. Unsere Kundschafter haben unge wöhnliche Aktivität gemeldet – bis vor zwei Wochen. Was haben sie geplant?« Woodworth gab keine Antwort. »Wenn wir wenigstens über Rohstoffe und Hilfs quellen verfügten! Ein paar kümmerliche kleine Ei senbahnen und Motorfahrzeuge; eine Handvoll Flug zeuge; fast der gesamte Nachschub wird von Maul tieren gezogen – was bleibt uns da noch für eine Be weglichkeit übrig? Was einen dabei verrückt machen kann, ist, daß wir ganz genau wissen, wie man die Dinge herstellt, die sie in den alten Tagen gehabt ha ben. Wir besitzen die Bücher, die Informationen. Vielleicht mehr als unsere Vorfahren. Ich habe gese hen, wie der Elektroschmied von Fort Nakamura Transistoreinheiten von Faustgröße gebaut hat, mit einer Bandbreite, die für das Fernsehen ausgereicht hätte. Ich habe in den wissenschaftlichen Zeitschriften herumgelesen und weiß, auf welchem Stand die bio logischen, chemischen, astronomischen und mathe
matischen Forschungen stehen. Und alles das ist völ lig nutzlos!« »Nicht doch«, widersprach Woodworth milde. »Wie mein eigener Orden, wächst auch die Wissen schaft in einen übernationalen Rahmen hinein. Druckpressen, Funksprechgeräte, Fernschreiber ...« »Nutzlos, sagte ich! Es ist sinnlos, die Menschen davon abzuhalten, einander umzubringen, weil es keine Autorität gibt, die stark genug wäre, dafür zu sorgen, daß sie sich benehmen. Es ist sinnlos, einem Farmer den von Pferden gezogenen Pflug aus der Hand zu nehmen und ihn auf einen Traktor zu set zen. Wir haben das Wissen, aber wir können es nicht anwenden.« »Wir wenden es an, mein Sohn, wenn nicht allzu viel Energie und industrielle Anlagen nötig sind. Sie dürfen nicht vergessen, daß die Welt viel ärmer an natürlichen Rohstoffen und Energiequellen ist, als sie vor der Zerstörung durch die Höllenbomben war. Ich habe das schwarze Land selbst gesehen, wo die Ölfelder von Texas im Feuersturm untergegangen sind.« Woodworth wandte sich wieder ab, sichtlich bewegt von der Erinnerung, die er mit seinen Worten heraufbeschworen hatte. »Es gibt auch noch anderswo Öl«, beharrte Danie lis. »Und Kohlen, Eisenerz, Uran – alles was wir brauchen. Aber die Menschheit hat nicht die Organi sation und die Kräfte, um diese Schätze in nennens wertem Umfang auszubeuten. Also bebauen wir rie sige Landflächen mit Pflanzen, aus denen Alkohol gewonnen werden kann, mit dem wir ein paar Moto ren antreiben können. Und wir importieren kleine Mengen anderer Sachen über eine unglaublich lange
Kette von Mittelsmännern. Und fast alles davon dient der Aufrechterhaltung von Armeen.« Er machte eine ärgerliche Kopfbewegung zu dem Teil des Himmels, den das primitive Flugzeug durchquert hatte. »Das ist nur ein Grund dafür, daß wir die Wiedervereini gung brauchen. Damit wir in größerem Maßstab pla nen und aufbauen können.« »Und der andere Grund?« fragte Woodworth ru hig. »Volksherrschaft – Abstimmungen – Beseitigung der Ungleichheit ...« Danielis schluckte. »Und damit Söhne nicht mehr gegen ihre Väter kämpfen müs sen.« »Das sind bessere Gründe«, sagte Woodworth. »Gründe, die wir Esper unterstützen. Aber was diese ganze Zivilisationsmaschinerie betrifft, die Sie wol len«, er schüttelte seinen Kopf, »nein, da irren Sie sich. Das ist nicht die richtige Lebensweise für den Menschen.« »Vielleicht nicht«, erwiderte Danielis. »Obwohl mein eigener Vater nicht vorzeitig durch Überarbei tung zum Krüppel geworden wäre, wenn er Maschi nen gehabt hätte ... Aber das lag vielleicht auch an der Ausbeutung, ich weiß es nicht. Zuerst müssen wir jedenfalls diesen unseligen Krieg zu einem Ende bringen. Entschuldigen Sie mich jetzt, Philosoph, ich muß mich um den Kundschafter kümmern.« Der Esper hob seine Hand in einer Friedensgeste, und Danielis ritt davon. Nachdem er einige hundert Meter die schlammige Straße entlang geritten war, sah er den Mann bei Major Jacobsen halten. Der Kundschafter war ein Klamath-Indianer, der einen langen Bogen auf dem Rücken trug. Viele Männer aus
den nördlichen Distrikten hielten nicht viel von Ge wehren und bevorzugten Pfeil und Bogen. Pfeile wa ren billiger als Kugeln, machten kein Geräusch und hatten bei allerdings geringerer Reichweite annä hernd dieselbe Durchschlagskraft. Bogenschützen hatten in früheren Kriegen mehr als eine Schlacht ent schieden. »Ah, Captain Danielis«, grüßte Jacobsen. »Sie kommen gerade rechtzeitig. Leutnant Smith wollte gerade melden, was er mit seinem Spähtrupp heraus gefunden hat.« »Und das Flugzeug«, sagte Smith gelassen. »Was uns der Pilot über Sprechfunk erzählt hat, gab uns erst den Mut, weiterzureiten und selbst nachzuse hen.« »Und was haben Sie gesehen?« »Es ist niemand da.« »Was?« »Das Fort ist evakuiert. Auch die Siedlung. Wir ha ben keine Seele entdeckt.« »Aber – aber ...« Jacobsen faßte sich. »Erzählen Sie weiter.« »Nun, wir haben alle Anzeichen studiert, so gut es eben möglich war. Die Zivilisten und nichtkämpfen den Teile der Garnison scheinen das Fort schon vor einiger Zeit verlassen zu haben. Mit Schlitten und Skiern, würde ich sagen, vielleicht nach Norden zu irgendeinem festen Platz. Dabei muß auch ein Teil des Materials abtransportiert worden sein. Das Regi ment selbst ist erst vor drei oder vier Tagen abmar schiert. Sie haben die volle Ausrüstung mitgenom men, sogar die Feldgeschütze, denn der Boden ist vollständig zerwühlt. Soweit wir aus den Spuren er
sehen konnten, sind sie talwärts gezogen, Richtung Westnordwest.« Jacobsen lockerte seinen Kragen. »Mit welchem Ziel?« Ein Windstoß fuhr Danielis ins Gesicht und be wegte die Mähnen der Pferde. Hinter seinem Rücken hörte er das Platschen der Stiefel, das Knarren der Räder, die Schreie und das Peitschenknallen der Maultiertreiber. Vereinzelte Motoren knatterten und spuckten asthmatisch, Ketten rasselten, und das Holz der Fuhrwerke ächzte. Aber Danielis nahm das alles nur undeutlich wahr. Vor seinen Augen entstand eine Landkarte. Die Armee der Loyalisten hatte den ganzen Winter hindurch heftige Kämpfe zu bestehen gehabt, vom Küstengebirge bis hinauf zum Puget Sund. Es war Brodsky gelungen, in die Gegend des Mount Rainier zu entkommen, wo er den Schutz und die Unterstüt zung des dortigen Feudalherrn gefunden hatte. Der Sender auf dem Mount Rainier stand ihm zur Verfü gung, und die Stützpunkte im Norden waren zu gut befestigt, um im ersten Ansturm erobert werden zu können. Die Feudalherren und die autonomen Stäm me hatten die Waffen erhoben, weil sie um ihre örtli chen Privilegien und Pfründen fürchteten. Ihre bäu erlichen Untertanen kämpften für sie, weil sie nie et was anderes gelernt hatten, als für ihren Patron zu arbeiten und – wenn er es so wollte – auch zu sterben. Westkanada unterstützte die Rebellen aus Furcht vor einem starken Nachbarn in einer Weise, die schon nicht mehr heimlich genannt werden konnte. Trotzdem war die Nationalarmee stärker. Sie ver fügte über mehr Material, eine bessere Organisation
und vor allem über ein Zukunftsideal, das ihr einen überlegenen Kampfgeist sicherte. General O'Donnell hatte eine Strategie entwickelt, die bereits Erfolge ge zeitigt hatte. Die Regierung kontrollierte die gesamte Küste; ihre Marineeinheiten konnten den kanadi schen Hafen Vancouver beobachten und die wichti gen Handelsrouten nach Hawaii überwachen; ihre Truppen beherrschten die nördliche Hälfte von Wa shington fast bis zur Grenze von Idaho, das Tal des Columbia-River und den größten Teil von Kaliforni en. Die übriggebliebenen Rebellenstützpunkte und Städte wurden nacheinander eingeschlossen und ka pitulierten. Eine Feudalherrschaft nach der anderen fiel, während die Nationalarmee vorwärtsdrängte, den Feind zurückwarf, in offener Schlacht vernichtete oder zersprengte. Die einzige wirkliche Sorge stellte General Cruikshanks Sierrakommando dar. Seine Di vision bestand aus regulären Truppen und nicht aus zwangsrekrutierten Stadtmilizionären und Bauern. Sie war gut ausgerüstet, straff organisiert und wurde von ausgezeichneten Offizieren geführt. Diese Expe dition gegen Fort Nakamura war nur ein kleiner Teil dessen, was nach einem langwierigen Feldzug ausge sehen hatte. Aber jetzt hatte die Garnison das Fort kampflos aufgegeben. Was bedeutete, daß die Berglöwen auch ihre ande ren Stützpunkte geräumt hatten. Aber man gibt kei nen Anker auf, an dem man sich festzuhalten trach tet. Also? »Sie gehen in die Täler«, sagte Danielis. »Sie han deln nach der Devise: Angriff ist die beste Verteidi gung.«
Major Jacobsen grunzte. »Nein, das können sie nicht. Wir hätten es gemerkt.« »Es gibt eine Menge Wege durch den Urwald«, be harrte Danielis. »Sie sind für Infanterie und Kavalle rie gangbar, wenn die Truppe solches Gelände ge wöhnt ist. Fuhrwerke, Motorfahrzeuge und Geschüt ze, das ist natürlich schwieriger. Aber sie brauchen nur unsere Flanke zu umgehen und uns in den Rük ken zu kommen, dann haben sie uns von unseren Versorgungslinien abgeschnitten. Ich fürchte, sie ste hen in diesem Augenblick schon westlich von uns.« »Die Osthänge ...« sagte Jacobsen hilflos. »Wozu? Wollen Sie einen Haufen Ödland besetzen, wo es nur Salbeisträucher gibt? Bis wir hier wieder herauskommen, werden sie sich zum Angriff auf das Flachland formiert haben.« Danielis umklammerte den Sattelknopf, daß seine Knöchel weiß wurden. »Es würde mich sehr wundern, wenn das nicht Colonel Mackenzies Idee wäre. Sein Stil ist es jedenfalls.« »Aber dann sind sie zwischen uns und San Francis co! Und wir haben den größten Teil unserer Truppen im Norden!« Zwischen mir und Laura, dachte Danielis. Laut sagte er: »Ich schlage vor, Major, daß wir sofort den Divisionsgefechtsstand benachrichtigen. Und dann sollten wir das Hauptquartier verständigen.« Er hob seinen Kopf; der Wind zerrte an seiner Uniform. »Das braucht noch lange nicht die Katastrophe zu bedeu ten. Ich bin sogar der Meinung, daß sie draußen im offenen Land leichter zu schlagen sind.« *
Die Regenfälle, aus denen in den Tälern Kaliforniens ein guter Teil des Winters besteht, hatten fast aufge hört. Auf einer gepflasterten Straße ritt Colonel Mak kenzie durch ein Meer von Grün nach Norden. Eu kalyptusbäume und Pappeln längs der Straße schie nen mit frischen Blättern zu explodieren. Hinter den Baumreihen erstreckte sich zu beiden Seiten das Schachbrettmuster der Felder und Weingärten bis zu den fernen Hügeln im Osten und den höheren und näheren Bergen im Westen. Die Bauernhöfe, die bis vor einigen Meilen noch verstreut im Tal zu sehen gewesen waren, fehlten jetzt. Dieses Ende des Napa tals gehörte der Espergemeinschaft von St. Helena. Vor den Bergwänden im Westen hingen weiße Wol kenbänke. Der Wind brachte den frischen Geschmack von umgepflügter Erde und Vegetation. Hinter Mackenzie klapperten unzählige Pferdehufe über das Pflaster. Auf die Kavallerie folgte die lange Kolonne der zweitausend Infanteristen, dahinter ka men die Wagen und Geschütze. Die Sonne blitzte auf den Helmen und den Lanzenspitzen der Reiter. Mackenzies Aufmerksamkeit war nach vorn ge richtet. Zwischen blühenden Obstbäumen konnte man weißgekalkte Wände und das Rot von Ziegeldä chern sehen. Die Gemeinde war groß, hier lebten mehrere tausend Menschen. Mackenzie vermochte seine Nervosität kaum zu verbergen. »Glaubst du, daß wir ihnen vertrauen können?« fragte er. Speyer, der neben ihm ritt, nickte kurz. »Sie haben sich über Radio zu Verhandlungen bereiterklärt. Ich halte sie für ehrlich, um so mehr, als wir das Regi ment hinter uns haben. Übrigens glauben die Esper an die Gewaltlosigkeit.«
»Das schon, aber wenn es trotzdem zu Kämpfen kommt? Ich weiß, daß es noch nicht sehr viele Adep ten gibt. Der Orden besteht dafür nicht lange genug. Aber wo so viele beisammen sitzen, wird es auch ein paar geben, die etwas von dieser verdammten Psio nik verstehen. Ich möchte nicht, daß meine Leute weggefegt oder in die Luft geschleudert werden.« Speyer warf ihm einen Seitenblick zu. »Hast du Angst vor ihnen, Jimbo?« murmelte er. »Nein, das nicht.« Mackenzie überlegte, ob es eine Lüge sei oder nicht. »Aber sie gefallen mir nicht.« »Sie tun überall Gutes. Besonders unter den Ar men.« »Gewiß, gewiß. Aber auch ein anständiger Feudal herr kümmert sich um seine Leute. Ich sehe nicht ein, wieso Mildtätigkeit ihnen das Recht geben soll, die Waisen und die Kinder der Armen nach ihren Regeln zu erziehen. Wenn die Kinder einmal heranwachsen, sind sie unfähig, mit dem Leben draußen fertigzu werden.« »Das Ziel dieser Erziehung ist ja, wie du sehr wohl weißt, daß die Menschen sich nach innen orientieren, Frieden mit sich selbst und anderen finden und gei stige Werte über alles Materielle stellen. Woran die amerikanische Zivilisation als Ganzes noch nie son derlich interessiert war. Offen gestanden, abgesehen von den bemerkenswerten Fähigkeiten, die einzelne Esper erworben haben, beneide ich sie oft wegen ih rer Lebensweisheit.« Mackenzie starrte seinen Freund verdutzt an. »Du, Phil?« Speyer nickte seufzend. »Ich habe mir oft gedacht, wie schön es sein muß, wahren Frieden zu kennen.
Mit sich selbst und allen anderen, nach innen und nach außen. Der Hauptgrund, daß wir den Espern mißtrauen, ist, daß sie etwas uns Fremdes verkör pern. Etwas, das vielleicht eines Tages die ganze Le bensweise verändern wird, mit der wir aufgewachsen sind. In unserem Alter, Jimbo, ist ein Mann selten be reit, sein ganzes Leben niederzureißen und noch ein mal neu aufzubauen, nach einem radikal anderen Plan.« »Du hast recht.« Mackenzie verlor das Interesse am Thema. Sie waren jetzt kurz vor der Siedlung. Er drehte sich nach Captain Hülse um. »Wir reiten jetzt voraus. Sagen Sie Oberleutnant Yamaguchi, daß er bis zu unserer Rückkehr den Be fehl übernimmt. Wenn er verdächtige Beobachtungen macht, kann er nach eigenem Ermessen handeln.« »Jawohl, Sir.« Hülse salutierte und drehte um. Mackenzie spornte seinen großen Fuchswallach zum Trab. Hinter ihm klangen Hornsignale, die scharfen Kommandos der Zugführer. Speyer hielt sein Pferd neben dem Colonel. Mak kenzie hatte darauf bestanden, mit einem Begleiter zur Verhandlung zu erscheinen. Seine eigene Intelli genz reichte wahrscheinlich nicht an die eines hoch stehenden Esper heran, aber bei Phil war das etwas anderes. Die Espergemeinschaften verzichteten bei ihren Siedlungen auf Stadtmauern und Umwallungen, wie sie die Städte und die Stützpunkte der Feudalherren kennzeichneten. Die beiden Offiziere bogen von der Hauptstraße ab und in eine Seitenstraße, die von lan gen Gebäuden mit hübschen Kolonnaden gesäumt war. Die Siedlung nahm keine große Fläche ein, denn
die Menschen lebten in Bruderschaften oder Großfa milien zusammen und lehnten jede Form der Abkap selung in Eigenheimen ab. Dies und der Verzicht der Esper auf Privateigentum hatte dem Orden die Feindschaft der feudalen Gruppen eingetragen und war die Quelle einer Unzahl schmutziger Witze. Aber Speyer wußte, daß es bei den Espern keine größere Promiskuität gab als in der Außenwelt. Ihre Idee war sehr einfach: Ausschaltung der Selbstbezogenheit und der gegenseitigen Besitzansprüche der Ehepart ner sowie gemeinschaftliche Kindererziehung anstelle einzelner Kleinfamilien. Viele Kinder waren auf der Straße und starrten aus runden Augen auf die fremden Gestalten. Es mußten Hunderte von ihnen sein. Sie sahen gesund und glücklich aus. Aber ziemlich ernst, dachte Mackenzie, und alle trugen die gleiche blaue Kleidung. Einige Erwachsene standen zwischen ihnen und beobachte ten die Reiter mit ausdruckslosen Gesichtern. Die Bewohner der Siedlung waren bei der Annäherung des Regiments von den Feldern zurückgekehrt. Die Stille war wie eine unsichtbare Barrikade. Mackenzie fühlte, wie ihm Schweiß über den Rücken rann. Als er auf den hellen und weiten Hauptplatz hinauskam, atmete er hörbar auf. In der Mitte des Platzes war ein Springbrunnen aufgestellt, dessen Becken die Form einer Lotosblume nachahmten. Blühende Bäume umgaben ihn. Der Platz wurde an drei Seiten von massiven Gebäuden begrenzt, die irgendwelchen Lagerungszwecken zu dienen schienen. Die vierte Seite wurde von einem kleineren, tempelähnlichen Bauwerk eingenommen, das von einer Kuppel gekrönt war. Es diente offenbar
als Versammlungshalle und Hauptquartier. Auf der untersten Stufe der breiten Freitreppe standen sechs blaugekleidete Männer. Einer war von mittleren Jah ren, und er trug das große goldene Yin-Yang-Symbol auf der Brust. Seine Gesichtszüge verrieten uner schütterliche Ruhe. Mackenzie und Speyer zügelten ihre Pferde. Der Colonel hob die Hand zu einem lässigen Gruß. »Phil osoph Gaines? Ich bin Mackenzie, und das hier ist Major Speyer.« Er verwünschte sich insgeheim wegen seiner Unbeholfenheit und wußte nicht, wo er seine Hände lassen sollte. Die jungen Burschen konnte er mehr oder weniger gut verstehen; sie musterten ihn mit kaum verhohlener Feindseligkeit. Aber er fand es ausgesprochen schwierig, Gaines' unverwandtem Blick standzuhalten. Endlich reagierte der Philosoph. Er neigte unmerk lich den Kopf. »Willkommen, Gentlemen. Wollen Sie nicht hereinkommen?« Mackenzie stieg ab, band sein Pferd an einen Pfo sten und nahm seinen Helm vom Kopf. Seine abge tragene, rotbraune Uniform kam ihm in dieser Um gebung noch schäbiger vor. »Danke. Äh, Sie werden verstehen, ich möchte mich kurz fassen.« »Gewiß. Bitte folgen Sie mir.« Sie schritten durch eine leere Vorhalle und einen kurzen Korridor. Speyer war von den geschmack vollen Wandmosaiken beeindruckt. Gaines blieb vor einer Tür aus schön gemasertem Walnußholz stehen, öffnete sie und machte eine ein ladende Geste. »Hier ist mein Büro.« Sie traten ein, Gaines schloß die Tür und ließ die Akolyten draußen warten.
Der Raum war von strenger Nüchternheit; seine weißgetünchten Wände umschlossen kaum mehr als einen Schreibtisch, ein Bücherregal und einige Hok ker. Das einzige Fenster öffnete sich auf einen Garten. Mackenzie und Speyer setzten sich auf die unbeque men Hocker. »Wir wollen gleich zum Geschäft kom men«, platzte Mackenzie heraus. Gaines sagte nichts, und Mackenzie blieb nichts anderes übrig, als einen neuen Anlauf zu nehmen: »Die Situation ist die: Unser Regiment hat Calistoga zu besetzen und auf beiden Seiten in den Hügeln Au ßenposten einzurichten. Auf diese Weise können wir sowohl das Napatal als auch den Eingang zum Mondtal kontrollieren – teilweise, wenigstens. Der beste Platz für die Stationierung unseres Ostflügels ist hier. Wir haben die Absicht, in den Feldern jenseits der Siedlung ein befestigtes Feldlager zu errichten. Es tut mir leid, daß Ihre Anbauflächen dadurch in Mit leidenschaft gezogen werden, aber die Flurschäden werden Ihnen ersetzt, sobald die rechtmäßige Regie rung wieder im Amt ist. Und was Nahrung sowie Arzneimittel angeht – Sie werden verstehen, daß die Armee solche Dinge requirieren muß. Immerhin werden wir unbillige Härten zu vermeiden suchen und für alle empfangenen Güter Quittungen ausstel len. Und – äh – als Vorsichtsmaßnahme wird es er forderlich sein, eine kleine Abteilung hier innerhalb der Gemeinde zu stationieren, um die Dinge im Auge zu behalten, sozusagen. Sie wird so wenig wie mög lich in Erscheinung treten. Einverstanden?« »Die Staats Verfassung garantiert unserem Orden Befreiung von allen militärischen Dienstleistungen und Kontributionen«, erwiderte Gaines ohne Erre
gung. »Sie geht sogar soweit, anzuordnen, daß kein bewaffneter Soldat die Siedlungsgrenzen einer Espergemeinschaft überschreiten darf. Ich kann mich mit einer Verletzung der Gesetze nicht einverstanden erklären, Colonel.« »Wenn Sie juristische Haare spalten wollen, Philos oph«, sagte Speyer, »darf ich Sie vielleicht daran er innern, daß sowohl Fallon als auch Richter Brodsky den Ausnahmezustand erklärt haben. Die für Frie denszeiten erlassenen Gesetze sind dadurch vorüber gehend außer Kraft gesetzt.« Gaines lächelte. »Da es nur eine legitime Regierung geben kann, sind die Proklamationen der anderen notwendigerweise null und nichtig. Einem unbetei ligten Betrachter würde es scheinen, daß Richter Fal lons Legalitätsanspruch begründeter ist. Überdies kontrolliert seine Regierung ein großes zusammen hängendes Gebiet und nicht nur einige verstreute Feudalherrschaften.« »Nicht mehr«, schnappte Mackenzie. »Das ist vor bei.« Speyer hob beschwichtigend die Hand. »Vielleicht hatten Sie noch keine Gelegenheit, die Entwicklung der letzten Wochen zu verfolgen, Philosoph«, sagte er. »Das Sierrakommando hat den mittleren Teil Kali forniens besetzt. Wirhaben Sacramento genommenund kontrollieren den Fluß- und Eisenbahnverkehr. Unse re Front verläuft südlich von Bakersfield. Die bloße Tatsache unserer Anwesenheit hier hat den Feind ge zwungen, das Columbiatal zu evakuieren und seine Truppen zur Verteidigung der Stadt nach San Fran cisco zu werfen. Es ist eine offene Frage, welche Seite heute über das größere Territorium verfügt.«
»Nun, und wie steht es mit der Armee, die gegen Sie ins Gebirge gezogen ist?« forschte Gaines. »Haben Sie sie besiegt?« Mackenzie runzelte die Stirn. »Nein. Das ist kein Geheimnis. Sie ist nach Süden ausgewichen und be findet sich im Süden Kaliforniens.« »Ein gefährlicher Gegner«, sagte Gaines milde. »Glauben Sie, diese Armee auf unbegrenzte Zeit ab wehren zu können?« »Wir werden nichts unversucht lassen«, entgegnete Mackenzie. »Im Falle unseres Sieges haben wir fast das gesamte Nachrichten- und Verkehrsnetz Kalifor niens in der Hand. Und die meisten der freien Bauern leisten uns schon jetzt Späherdienste. Wir können un sere Kräfte an jedem Punkt konzentrieren, wo der Feind angreift.« »Es ist bedauernswert, daß dieses reiche Land vom Krieg zerrissen sein muß.« »Ja, da haben Sie freilich recht.« »Unser strategisches Ziel ist klar genug«, sagte Speyer. »Wir haben die Nordsüdverbindungen des Gegners mit Ausnahme des Seewegs zerschnitten. Seine getrennt voneinander operierenden Streitkräfte haben nur noch mangelhafte Nachschubmöglichkei ten für Nahrungsmittel, technisches Material und Treibstoff. Das Rückgrat unserer Seite sind die Feu dalherrschaften, wirtschaftlich und sozial praktisch unabhängige Gebilde. Sie werden bald in einer besse ren Lage sein als die schlecht versorgte Armee, die ihnen gegenübersteht. Ich denke, daß Richter Brods ky noch in diesem Herbst in San Francisco einziehen wird.« »Wenn Ihre Pläne gelingen«, sagte Gaines.
»Das ist unsere Sorge.« Mackenzie beugte sich vor, eine geballte Faust auf seinem rechten Knie. »Gut, Philosoph. Ich weiß, daß Ihnen Fallon als Sieger lieber wäre, aber ich denke auch, daß Sie klug genug sind, sich nicht einer verlorenen Sache zu verschreiben. Wollen Sie mit uns zusammenarbeiten?« »Der Orden beteiligt sich nicht an politischen oder militärischen Auseinandersetzungen, Colonel, es sei denn, seine eigene Existenz ist gefährdet.« »Oh, so war es auch nicht gemeint. Mit Zusam menarbeit meine ich nichts anderes, als daß Sie uns keine Schwierigkeiten machen.« »Ich fürchte, auch das würde noch als Zusammenar beit ausgelegtwerden müssen.Wir können auf unserem Land keine militärischen Niederlassungen dulden.« Mackenzie starrte in Gaines' Gesicht und fragte sich, ob er richtig gehört hatte. »Soll das heißen, daß Sie uns des Landes verweisen wollen?« »Ja«, sagte der Philosoph. »Während unsere Artillerie auf Ihre Stadt gerichtet ist?« »Würden Sie wirklich Frauen und Kinder beschie ßen, Colonel?« »Das haben wir nicht nötig. Unsere Truppen kön nen jederzeit einmarschieren.« »Gegen Psi-Stöße? Ich bitte Sie dringend, diese ar men Jungen nicht sinnlos zu opfern.« Gaines machte eine Pause, dann fügte er hinzu: »Ich möchte darauf hinweisen, daß Sie mit dem Verlust Ihres Regiments Ihre ganze Sache in Gefahr bringen würden. Ich stelle es Ihnen frei, unser Gebiet zu umgehen und nach Ca listoga weiterzumarschieren.« Und ein gegnerisches Nest in meinem Rücken zu
lassen, das die Verbindungen nach Süden gefährdet! Mackenzies Zähne knirschten. Gaines erhob sich. »Das Gespräch ist beendet, mei ne Herren. Sie haben eine Stunde Zeit, unser Land zu verlassen.« Auch Mackenzie und Speyer standen auf. »Wir sind noch nicht fertig«, sagte Speyer. Schweiß glänzte auf seiner Stirn und der langen Nase. »Ich habe noch eine Erklärung abzugeben.« Gaines durchschritt das Zimmer und öffnete die Tür. »Führt die beiden Herren hinaus«, sagte er zu den fünf Akolyten. »Nein, bei Gott!« rief Mackenzie. Seine Hand klatschte gegen die Pistolentasche. »Informiert die Adepten«, sagte Gaines. Einer der jungen Männer wandte sich ab. Mackenzie hörte das schlappende Geräusch seiner Sandalen im Korridor. Gaines nickte ihnen kurz zu. »Ich glaube, Sie sollten jetzt lieber gehen!« Speyer wurde steif. Er schloß die Augen, riß sie wieder auf und hauchte: »Die Adepten informieren?« Mackenzie blickte in Gaines' steinernes Gesicht. Seine Verblüffung dauerte nicht länger als eine Se kunde. Sein Körper reagierte für ihn. Die Pistole kam zur gleichen Zeit wie Speyers Waffe aus der Tasche. »Halt den Boten auf, Jimbo!« schnappte Speyer. »Ich halte diese Kerle hier in Schach.« Mackenzie stürzte los. Flüchtig überlegte er, ob sein Verhalten mit dem Ehrenkodex eines Soldaten ver einbar sei. War es richtig, Feindseligkeiten zu eröff nen, wenn man als Unterhändler gekommen war? Aber Gaines hatte das Gespräch selbst abgebrochen ... »Haltet ihn!« rief Gaines.
Die vier übrigen Akolyten kamen in Bewegung. Zwei von ihnen verstellten die Tür, die zwei anderen kamen von den Seiten. »Stehenbleiben oder ich schie ße!« brüllte Speyer, doch sie ignorierten ihn. Mackenzie brachte es nicht über sich, auf unbe waffnete Männer zu feuern. Er schlug dem nächsten Jüngling den Pistolenlauf ins Gesicht. Der Esper tau melte mit blutigem Gesicht zurück. Mackenzie wehrte den von der anderen Seite auf ihn eindrin genden Mann mit ausgestrecktem Arm ab und warf sich auf den dritten, der an der Tür stand. Es gelang ihm, seinen Fuß hinter die Beine des anderen zu stel len und ihn zu Fall zu bringen. Er sprang über ihn in den Korridor, aber da saß ihm schon der vierte im Rücken und umklammerte ihn von hinten. Macken zie drehte und wand sich, aber die Arme, die ihn festhielten, waren bärenstark. Mackenzie stieß mit seinem Hinterkopf zurück und traf die Nase des an deren. Der Akolyt mußte seinen Griff lockern. Mak kenzie wirbelte herum, stieß ihm das Knie in den Unterleib, machte kehrt und rannte. Hinter ihm blieb es ruhig. Offenbar hielt Phil die fünf Männer in Schach. Mackenzie stürmte durch den K or ridor, in die leere Halle. Wohin war dieser verdammte Bote gelaufen? Mackenzie kam an den Eingang und überblickte den Platz. Das Sonnenlicht blendete ihn, sein Atem ging in hastigen, flachen Stößen, und er spürte ein Stechen in der Seite. Ja, er wurde alt. Blaue Gewänder kamen aus einer Seitenstraße ge flattert. Mackenzie erkannte den Boten; der junge Mann deutete auf das Gebäude, und seine Stimme drang über den Platz. Sieben oder acht ältere Männer waren bei ihm. Nichts zeichnete ihre Kleidung aus,
aber Mackenzie erkannte wichtige Persönlichkeiten, wenn er welche sah. Der junge Akolyt wurde entlas sen, die anderen Männer überquerten den Platz mit langen Schritten. Mackenzies Magen verkrampfte sich, doch er un terdrückte die Regung, einfach zu fliehen. Aber er wußte, daß er gegen die Mittel dieser Menschen machtlos war; sie konnten mit einem Blick sein Inne res nach außen kehren. Die Adepten hatten den Fuß der Freitreppe fast er reicht. Mackenzie trat vor und schwenkte drohend seine Pistole. »Halt!« Sie blieben in einer dichtgedrängten Gruppe ste hen. Ihre Körper waren völlig entspannt, ihre Ge sichter wie hölzerne Masken. Keiner sprach. Endlich ertrug Mackenzie es nicht länger. »Dieser Ort ist besetzt und steht hiermit unter Kriegsrecht«, sagte er. »Gehen Sie in Ihre Quartiere zurück.« »Was haben Sie mit unserem Oberhaupt gemacht?« fragte ein großer Mann mit tiefer, wohlklingender Stimme. »Ihm wird nichts geschehen, solange er seine Nase sauberhält. Dasselbe gilt für Sie. Gehen Sie.« »Wir haben nicht den Wunsch, die Psionik für ge walttätige Zwecke zu pervertieren«, erwiderte der Große. »Bitte, zwingen Sie uns nicht dazu.« »Ihr Oberhaupt hat nach Ihnen geschickt, bevor wir irgend etwas getan hatten«, gab Mackenzie zurück. »Es sieht so aus, als wäre er derjenige gewesen, der zuerst an Gewalttätigkeiten gedacht hat. Los jetzt, Bewegung!« Die Esper tauschten Blicke aus. Der Große nickte.
Seine Gefährten entfernten sich langsam. »Ich möchte Philosoph Gaines sehen«, sagte der Große. »Sie werden bald Gelegenheit bekommen.« »Wollen Sie damit sagen, daß er von Ihnen gefan gengehalten wird?« »Nehmen Sie es, wie Sie wollen.« Die anderen Esper verschwanden hinter der Ecke der Gebäudes. »Ich möchte nicht schießen. Gehen Sie zurück, bevor ich es muß.« »Es scheint, wir haben einen toten Punkt erreicht«, sagte der große Mann gelassen. »Keiner von uns möchte jemanden verletzen, den er für wehrlos hält. Erlauben Sie mir, daß ich Sie aus der Stadt begleite.« Mackenzie befeuchtete seine von Wind und Sonne aufgesprungenen Lippen. »Ich werde Sie nicht daran hindern, zu Ihren Leuten zurückzukehren«, erklärteder Mann. »Aber ich warne Sie. Jede bewaffnete Macht, die mit Gewalt einzudringen versucht, wird vernich tet werden. Welches der beiden Pferde ist das Ihre?« Er hat es mächtig eilig, mich loszuwerden, dachte Mackenzie. Hölle und Verdammnis! Es muß einen rückwärtigen Eingang geben! Mackenzie fuhr herum und raste zurück durch die leere Eingangshalle. Der Esper rief etwas hinter ihm her. Seine Stiefeltritte hallten. Nein, nicht links, dort war nur das Büro. Rechts, um diese Ecke ... Vor ihm erstreckte sich ein langer Korridor. Eine Treppe führte zur oberen Etage. Die anderen Esper befanden sich bereits auf den Stufen. »Halt!« brüllte Mackenzie. »Halt, oder ich schieße!« Die zwei Männer an der Spitze eilten weiter. Die übrigen machten kehrt und kamen zurück, ihm ent gegen.
Er zielte sorgfältig, um die Männer kampfunfähig zu machen, ohne sie zu töten. Die Wände zitterten unter den Explosionen. Einer nach dem anderen stürzte, von den Kugeln in Beine oder Schultern ge troffen. Die Ziele waren klein, und Mackenzie traf nicht mit jedem Schuß. Als der große Mann von hin ten angriff, war das Magazin leergeschossen. Mak kenzie zog seinen Säbel und schlug dem Mann die flache Klinge über den Kopf. Der Esper torkelte zur Seite. Mackenzie sprang die Stufen hinauf. Er glaubte, sein Herz müsse zerspringen. Vom oberen Treppenabsatz aus konnte er sehen, wie die beiden Männer vor einer eisernen Tür stan den. Einer fummelte am Schloß herum, der zweite sah ihn kommen und griff an. Mackenzie traf ihn mit einem Schwinger. Der Mann sackte in sich zusammen. Mackenzie packte den anderen am Gewand und schleuderte ihn zu Bo den. »Verschwindet!« keuchte er. Sie rappelten sich auf und starrten ihn feindselig an. Mackenzie hob seinen Säbel mit dramatischer Ge ste. »Von jetzt an werde ich jeden töten, der Wider stand leistet.« »Hol Hilfe, Dave«, sagte der Mann, der an der Tür gearbeitet hatte. »Ich werde ihn beobachten.« Der an dere ging mit unsicheren Schritten zur Treppe und verschwand. Der erste stand außer Reichweite des Säbels. »Wollen Sie vernichtet werden?« fragte er. Mackenzie drückte auf die Klinke hinter seinem Rücken, aber die Tür war noch verschlossen. »Ich glaube nicht, daß Sie es können«, sagte er. »Nicht oh ne das, was hier drinnen ist.« Der Esper rang um seine Selbstbeherrschung. Die
Minuten zogen sich in die Länge, dann wurde es un ten laut. Der Esper deutete mit dem Kopf zur Treppe. »Wir besitzen nur unsere landwirtschaftlichen Gerä te«, sagte er. »Aber Sie haben bloß Ihren Säbel. Wol len Sie sich ergeben?« Mackenzie spuckte aus, und der Esper entfernte sich zur Treppe. Kurz darauf kamen die Angreifer in Sicht. Nach dem Lärm mußten es mindestens fünfzig sein, aber Mackenzie sah nur die ersten zehn oder fünfzehn auf der Treppe, kräftige Feldarbeiter mit hochgesteckten Gewändern und bloßen Füßen. Sie schwangen Hacken, Mistgabeln und Sensen. Der Treppenabsatz war zu breit, um sie dort abzuwehren. Mackenzie ging ihnen bis auf die Treppe entgegen, wo höchstens zwei oder drei gleichzeitig angreifen konnten. Einer der Sensenträger holte aus. Mackenzie pa rierte den ersten Schlag und stieß nach. Die Säbelspit ze bohrte sich in Fleisch und traf auf Knochen. Blut strömte aus der Wunde. Der Mann fiel mit einem gellenden Aufschrei auf alle viere. Mackenzie wich dem nächsten Hieb aus. Metall schlug auf Metall, die Waffen verbissen sich ineinander, Mackenzies Arm wurde zurückgezwungen. Er blickte in ein breites, sonnenverbranntes Gesicht, dann schlug er mit der freien linken Hand zu und traf mit der Handkante die Halsseite des Gegners. Der Esper verlor das Gleich gewicht und fiel gegen einen seiner Kameraden. Zu sammen stürzten sie in den Haufen der von unten Nachdrängenden. Es dauerte eine Weile, bis das Ge wirr sich auflöste und die Esper sich neu formieren konnten. Eine Mistgabel stieß nach Mackenzies Bauch. Er
konnte den Stoß mit seiner Linken ablenken und mit dem Säbel auf die Finger am Schaft schlagen. Eine Sense schnitt in seine rechte Seite. Er sah sein Blut, spürte aber keine Schmerzen. Eine Fleischwunde, nicht mehr. Mit wilden Säbelhieben verschaffte er sich Platz. Die Angreifer wichen vor der pfeifenden Klinge zurück. Er tat einen Schritt nach vorn, fühlte aber, daß seine Knie wie aus Gummi waren. Lange konnte er nicht mehr aushalten. Draußen schmetterte ein Hornsignal. Gewehrfeuer knatterte. Die Menge auf der Treppe erstarrte. Je mand schrie. Im Erdgeschoß klirrten Sporen. Die Schritte gena gelter Stiefel hallten durch den Korridor, dann schnarrte eine Stimme: »Halt! Laßt eure Waffen fallen und kommt herunter. Wer Widerstand leistet, wird erschossen!« Mackenzie stützte sich auf seinen Säbel und rang nach Luft. Er merkte kaum, wie die Esper die Treppe frei machten und sich entwaffnen ließen. Als er sich ein wenig besser fühlte, ging er an eins der Fenster und blickte hinaus. Der weite Platz wimmelte von Kavallerie. Er hörte den Marschtritt der Infanterie kolonnen. Speyer kam die Treppe herauf, begleitet von eini gen Soldaten. Als er Mackenzie sah, wurde er blaß. »Du bist verletzt, Jimbo? Ist es schlimm? Hast du Schmerzen?« »Ein Kratzer, weiter nichts«, antwortete Mackenzie. Er fühlte sich besser, aber das Triumphgefühl über den Sieg wollte sich nicht einstellen. Die Verletzung begann zu schmerzen. »Sieh es dir selbst an, Phil. Nicht der Rede wert.«
Speyer bückte sich und untersuchte die Seite des Colonels. »Ja, du wirst wohl am Leben bleiben. Los, Männer, sprengt die Tür auf.« Die Soldaten gehorchten mit einem Eifer, der ohne Angst nicht recht zu erklären war. »Wie kommt es, daß ihr so früh einmarschiert seid?« fragte Mackenzie. »Ich dachte, daß es Schwierigkeiten geben würde«, sagte Speyer. »Als ich die Schüsse hörte, sprang ich aus dem Fenster und rannte zu meinem Pferd. Das war kurz bevor die Bauern mit ihren Werkzeugen in den Kampf eingriffen. Beim Wegreiten sah ich sie zu sammenlaufen. Unsere Kavallerie war natürlich so fort in der Stadt.« »Hat es Widerstand gegeben?« »Nein. Wir feuerten ein paar Salven in die Luft, das genügte. Die Stadt ist völlig in unserer Hand.« Mackenzie blickte zur Tür. »Es sieht beinahe so aus, als hätten ihre Adepten in Wirklichkeit nichts als normale, altmodische Waffen. Und die Esper be haupten, sie besäßen keine Waffen!« Das Schloß zerbrach, und die Soldaten stießen die Tür auf. Mackenzie und Speyer betraten einen großen Raum, über dem sich die Kuppel erhob. Verdutzt stellten sie fest, daß hier keine der ver muteten herkömmlichen Waffen verwahrt wurden. Lange wanderten sie schweigend zwischen Metall strukturen und Formen aus unbekannten Materialien umher. Nichts von dem, was sie sahen, war ihnen be kannt. Zuletzt blieb Mackenzie vor einem schnecken förmigen Gebilde stehen, das einem transparenten Würfel entragte. Formlose Dunkelheit wirbelte im In nern des Würfels. Manchmal leuchteten kleine Fun ken auf, winzigen Sternen gleich.
»Ich dachte, die Esper hätten vielleicht ein Versteck von altem Zeug gefunden, aus der Zeit kurz vor den Höllenbomben«, murmelte Mackenzie. »Geheimwaf fen, die nicht mehr zum Einsatz kommen konnten. Aber das hier sieht nicht danach aus. Was denkst du darüber?« »Nein«, sagte Speyer. »Ich habe den Eindruck, daß diese Dinge überhaupt nicht von Menschen gemacht sind.« * »Aber verstehst du denn nicht? Sie haben eine Sied lung besetzt! Das beweist der ganzen Welt, daß die Esper nicht unverwundbar sind. Und um die Kata strophe vollständig zu machen, haben sie das Arsenal erobert.« »Deswegen brauchen wir uns keine Sorgen zu ma chen. Keine ungeübte Person kann die Instrumente aktivieren. Und sie werden sich hüten, die Adepten heranzulassen.« »Das ist klar. Was mich beängstigt, ist die Tatsache, daß die Nachricht von der Entdeckung durch das ganze Land gehen wird. Jeder wird wissen, daß die Adepten der Esper ihre übernatürlichen Kräfte keiner unbekannten psychischen Tiefe verdanken, sondern daß sie bloß über weit fortgeschrittene wissenschaft lich-physikalische Kenntnisse verfügen. Das aber wird nicht nur die Rebellen in ihrem Selbstbewußt sein bestärken, sondern es wird – und das halte ich für weitaus schlimmer – viele Mitglieder der Gemein schaft veranlassen, dem Orden enttäuscht den Rük ken zu kehren.«
»Das befürchte ich weniger. Unter den gegenwärti gen Umständen können sich Neuigkeiten nur lang sam verbreiten. Außerdem unterschätzt du die Fä higkeit der Menschen, Mwyr, Dinge einfach zu igno rieren, die mit ihren hochgeschätzten Glaubenswahr heiten nicht in Einklang gebracht werden können.« »Aber ...« »Also gut, laß uns ruhig das Schlimmste anneh men. Setzen wir einmal voraus, daß der Glaube an die Ideale der Esper wegen dieser Nebensächlichkeit verlorengeht und der Orden auseinanderfällt. Das wäre ein fataler Rückschlag für unseren Plan, aber keine Katastrophe. Für uns war die Psionik nichts weiter als ein kleines Stück Folklore, das sich den Menschen gegenüber als wirksam genug erwiesen hat, um bei der Verwirklichung unseres eigentlichen Ziels, der Neuorientierung des Lebens, mitzuhelfen. Diese überraschende Wirkung der Psionik mag nicht zuletzt am weitverbreiteten Glauben der Menschen an magische Dinge liegen. Wir könnten noch einmal auf einer anderen Basis beginnen, wenn es sein muß. Die Form ist nicht wichtig; sie stellt nur das Gerüst dar, in dem die eigentliche Aufbauarbeit vor sich geht: die Schaffung einer von materiellen Zielsetzun gen und persönlichem Gewinnstreben freien Gesell schaft, die in der Gemeinschaft der Gleichen, im Für einanderleben der Menschen ihre Erfüllung findet. Im Laufe der Zeit werden sich mehr und mehr Menschen für diese neue Lebensform entscheiden, weil auch die Dümmsten und Verbohrtesten früher oder später er kennen müssen, wie untauglich ihre herkömmlichen Gesellschaftsstrukturen sind. Wenn unser Ziel er reicht ist, kann und wird die neue Kultur von selbst
allen Aberglauben und alle überflüssigen Mythen ablegen, die einmal den Anstoß zu ihrer Entwicklung gegeben haben.« »Aber es bleibt ein Rückschlag, der uns mindestens hundert Jahre kosten wird.« »Richtig. Es ist immer schwierig, radikal neue Ide en durchzusetzen, wenn die eingesessene Gesell schaft eigene starke Institutionen entwickelt hat, so unsinnig sie auch sein mögen. In Zeiten des Über gangs oder der Erschütterung ist es unvergleichlich einfacher. Aber ich wollte dir nur deutlich machen, daß die Aufgabe nicht unlösbar ist. Natürlich schlage ich nicht vor, es überhaupt soweit kommen zu lassen. Die Esper können ohne weiteres gerettet werden.« »Wie?« »Wenn sich die Lage nicht verschlechtert, werden sie sich selbst helfen können. Der Orden ist bereits tief verwurzelt. Andernfalls müssen wir direkt inter venieren.« »Ich verstehe ...« »Du bist nicht sehr glücklich hier, nicht wahr, Mwyr?« »Das kann ich nicht gerade behaupten. Alles ist so kompliziert. Zu viele Menschen scheinen einfach un belehrbar zu sein. Die unzähligen Katastrophen ihrer Geschichte haben sie nichts gelehrt. Sie verfallen im mer wieder in dieselben Fehler, statt sich endlich einmal zum radikalen Umdenken zu entschließen.« »Sei froh, daß du nicht auf einen der wirklich fremdartigen Planeten geschickt worden bist.« »Das würde ich beinahe noch vorziehen. Dort gäbe es eine eindeutig feindselige Umwelt, mit der man sich auseinanderzusetzen hat. Man könnte darüber
vergessen, wie weit die Heimat ist.« »Drei Reisejahre.« »Du sagst das so glatt. Als entsprächen drei Jahre im Raumschiff nicht fünfzig Jahren kosmischer Zeit. Als könnten wir täglich Ablösung erwarten und nicht einmal in hundert Jahren. Als wäre die Region, die unsere Raumschiffe in diesem Spiralnebel erforscht haben, mehr als nur ein winziger Bruchteil!« »Die Region wird wachsen, bis sie eines Tages die ganze Milchstraße umspannt.« »Ja, ja, ich weiß. Warum, glaubst du, bin ich Psy chodynamiker geworden? Warum bin ich hier und lerne mich mit dem Schicksal einer Welt herumzu schlagen, in die ich nicht gehöre? ›Um die Union der empfindenden Wesen zu schaffen und die Herrschaft des Lebens über das Universum auszubreiten.‹ Ein schöner Slogan! Aber in der Praxis scheint es nur all zu wenige Rassen zu geben, die an der Freiheit des Universums teilhaben dürfen.« »Nicht doch, Mwyr. Sieh dir einmal diese Men schen hier an, mit deren Welt wir uns, wie du sagst, herumschlagen. Erinnere dich daran, welchen Ge brauch sie von der Atomenergie gemacht haben, als sie sie hatten. Beim Tempo ihres technologischen Fortschritts werden sie sie innerhalb der nächsten hundert oder zweihundert Jahre von neuem besitzen. Nicht lange danach werden sie Raumschiffe bauen. Möchtest du vielleicht, daß eine solche Bande von Barbaren auf die Milchstraße losgelassen wird? Nein, das kann niemand im Ernst wünschen. Also kommt es darauf an, sie zunächst von innen heraus zu zivili sierten Wesen zu machen. Gewisse Ansätze dazu sind ja da; denke nur an die Schriften ihrer alten Philoso
phen und Dichter. Wenn das geschehen ist, werden wir sehen, ob man ihnen vertrauen darf. Wenn nicht, werden sie auf Grund ihrer Geistesentwicklung we nigstens auf ihrem eigenen Planeten glücklich wer den, in der Gesellschaftsform, die von der Großen Wissenschaft eigens für sie entworfen wurde. Sie ha ben ja den unsterblichen Drang nach Frieden in sich; nur ist das eben etwas, das sie von selbst nie errei chen werden. Ich halte mich nicht für eine besonders gute Person, Mwyr. Doch die Arbeit, die wir hier tun, gibt mir das Bewußtsein, daß meine Anwesenheit im Kosmos nicht völlig nutzlos ist.« * Durch die hohen Verluste im abgelaufenen Jahr ging es mit den Beförderungen rascher als gewöhnlich. Captain Thomas Danielis wurde für seine Verdienste um die Niederwerfung der südkalifornischen Feu dalherrschaften zum Major ernannt. Kurz darauf kam es zur Schlacht am Maricopa, in der es der Natio nalarmee gelang, die Rebellendivision der Berglöwen aus dem Tal von San Joaquin zu vertreiben, und er wurde zum Colonel befördert. Die Armee mar schierte nordwärts, ständig in Bereitschaft, einen An griff aus dem Osten abzuwehren. Aber die Anhänger Brodskys schienen genug mit der Konsolidierung ih rer letzten Eroberungen und mit der Reorganisation ihrer geschlagenen Truppen zu tun zu haben. Die einzigen Schwierigkeiten kamen von Guerrillas und versprengten Feindverbänden. Nach einer besonders anstrengenden Säuberungs aktion im Bergland schlenderte Danielis durch das
Lager, wo Zelte und Geschütze in dichten Reihen standen und die Männer essend und rauchend in kleinen Gruppen beisammen saßen. Die Luft war heiß und windstill; der Geruch von Lagerfeuern, Es sen, Pferden, Schweiß und Lederfett vermischte sich zu einem ranzigen Gestank. Das Grün der umliegen den Hügel war unter den sengenden Strahlen der Sonne längst zum sommerlichen Braun und Gelb ge worden. Danielis wartete auf die Lagebesprechung, die vom General angesetzt worden war, aber seine innere Unruhe trieb ihn durch das Lager. Inzwischen bin ich Vater, dachte er. Und ich habe meinen Sohn noch nie gesehen. Das große Zelt, in dem die Gefangenen verhört wurden, lag auf seinem Weg. Zwei Soldaten führten einen gefangenen Guerrilla hinein, einen blonden, mürrischen und verwildert aussehenden Mann. Seine verschlissene Uniform hatte Sergeantenstreifen und das aufgenähte Wappen Echevarrias, der in diesem Teil des Küstengebirges Feudalherr war. In Friedens zeiten Holzfäller, schloß Danielis nach dem Aussehen des Mannes; Soldat in einer Privatarmee, wann im mer die Interessen eines Echevarria bedroht waren. Danielis betrat das Zelt, einer plötzlichen Regung folgend. Captain Lambert saß hinter einem transpor tablen Schreibtisch, hatte eben die Personalien des Mannes aufgenommen und blickte nun auf, als Dani elis' Gestalt den Eingang verdunkelte. »Oh.« Der Nachrichtenoffizier stand auf. »Ja, Sir?« »Lassen Sie sich nicht stören«, sagte Danielis. Er suchte sich einen Hocker in der Ecke des Zelts und setzte sich. Lambert nahm wieder Platz und betrach tete den Gefangenen, der zwischen den beiden Wa
chen vor ihm stand. »Nun, Sergeant, wir hätten gern ein paar Auskünfte von Ihnen«, sagte er freundlich. »Ich bin nicht verpflichtet, mehr zu sagen als Na men, Rang und Heimatort«, knurrte der Gefangene. »Das habe ich schon gesagt.« »Hm-m, das ist fraglich. Sie sind kein fremder Sol dat. Sie haben an einer Rebellion gegen Ihre eigene Regierung teilgenommen.« »Nichts habe ich. Ich bin Echevarrias Mann.« »Na und?« »Echevarria sagt, Brodsky sei der rechtmäßige Richter und Sie die Rebellen.« »Unsinn!« sagte Lambert scharf. »Ich diskutiere nicht mit Ihnen. Wie viele Gewehrschützen und wie viele Bogenschützen waren in Ihrer Guerillaabtei lung?« Trotziges Schweigen. »Wenn Sie sprechen, können Sie Ihr Los nur ver bessern«, sagte Lambert. Der Mann schüttelte den Kopf. Lambert gab den Wachen einen Wink. Einer trat hinter den Gefangenen und drehte ihm den Arm auf den Rücken, bis der Mann stöhnte. »Echevarria würde das nicht machen!« sagte er durch weiße Lippen. »Idiot«, sagte Lambert. »Natürlich nicht. Schließ lich sind Sie sein Mann.« »Klar bin ich sein Mann. Glauben Sie, ich will nur eine Nummer auf irgendeiner Liste in San Francisco sein?« Lambert nickte den Wachen wieder zu, aber Dani elis winkte ab. »Lassen Sie ihn hinausführen, Lam bert. Es hat keinen Zweck.«
Die beiden Wachen gehorchten verwundert. Lam bert erhob sich. »Tut mir leid, Sir. Nehmen Sie Anstoß an der Behandlung? Ich darf Ihnen versichern, daß unsere Vernehmungsmethoden human sind. So hu man, wie es unter den Umständen überhaupt mög lich ist. Von selbst reden sie nicht. Kaum einer. Was sollen wir machen? Wie sollen wir zu den nötigen In formationen kommen?« Danielis setzte sich auf den Schreibtischrand und drehte sich eine Zigarette. »Sie müssen verstehen, Lambert. Dies ist kein regulärer Krieg. Wir kämpfen im eigenen Land. Und daher müssen wir die Kon ventionen strenger befolgen als je zuvor. Wir dürfen uns nicht wie Eroberer aufführen; wir sind mehr eine Art Polizei, die einen Aufruhr niederzuschlagen hat. Die Opposition ist Teil unserer Gesellschaft, sie ge hört genauso dazu wie wir.« Er gab Lambert die Zigarette und drehte sich eine neue. Lambert entzündete ein Streichholz für ihn. Danielis inhalierte den Rauch und fuhr fort: »Übri gens müssen wir auch daran denken, Captain, daß weder unsere Armee noch die der Rebellen zahlen mäßig sehr bedeutend ist. Kaum mehr als Kader truppen, wenn man es genau nimmt. Wir sind ein Verein von zweitgeborenen Söhnen, erfolglosen Bau ern, armen Stadtleuten und Abenteurern, kurzum, von Leuten, die in ihrem Regiment das suchen, was sie im Zivilleben erwartet und nicht gefunden haben. Außerhalb der Armeen gibt es viel mehr wehrfähige Männer als in ihnen. Wir wollen, daß der gewöhnli che Mann auf der Straße denkt: ›Nun, Fallons Leute sind eigentlich keine schlechten Kerle, und wenn ich mich gut mit ihnen stelle, habe ich kaum etwas zu
verlieren. Im Gegenteil, vielleicht wird sogar einiges besser.‹ Verstehen Sie, was ich meine?« »Ja, gewiß.« »Sie sind ein intelligenter Mensch, Lambert. Wenn Sie die Gefangenen zwingen wollen, Informationen preiszugeben, müssen Sie viel härtere Methoden an wenden, aber das würde uns einen schlechten Ruf eintragen, von dem wir uns nie wieder befreien könnten. Versuchen Sie es einmal mit List, mit ir gendwelchen Tricks.« »Ich werde mich bemühen, Sir.« »Schön.« Danielis blickte auf seine Armbanduhr. Man hatte sie ihm zusammen mit der Dienstpistole übergeben, als er sein Offizierspatent in Empfang nahm. Für den einfachen Mann waren solche Gegen stände viel zu kostspielig. Im Zeitalter der Massen produktion war das anders gewesen; und vielleicht auch im kommenden Zeitalter ... »Ich muß jetzt ge hen. Bis später.« Er verließ das Zelt und fühlte sich etwas erleich terter als zuvor. Kein Zweifel, sagte er sich, ich bin der geborene Prediger. Gitarrenklänge wehten zu ihm herüber. Soldaten saßen unter einem Baum und sangen leise die Melodie mit. Es war ein gutes Zei chen für die Moral der Truppe, dachte Danielis, und Kampfmoral hatte sie nach der verlustreichen Schlacht am Maricopa nötig. Das Zelt des Regimentsstabs war groß genug, um die Bezeichnung Pavillon zu verdienen. Zwei Wa chen mit geschulterten Gewehren standen vor dem Eingang. Danielis traf als letzter ein und nahm unauf fällig am Ende des Konferenztischs Platz, gegenüber von Brigadegeneral Perez. Die Luft im Zelt war blau
vom Rauch, und die leise Konversation erfüllte den Raum mit einem Geräusch, das Danielis an das Ra scheln von Blättern im Wind erinnerte. Als schließlich noch die blaugekleidete Gestalt mit dem goldgestickten Yin-Yang auf der Brust eintrat, fiel die Stille wie ein Vorhang über die Anwesenden. Danielis war verwundert, als er Philosoph Wood worth erkannte. Er hatte den Mann zuletzt in Los Angeles gesehen und angenommen, daß er in der dortigen Esperzentrale bleiben würde. Seine Anwe senheit mußte eine besondere Bedeutung haben. Perez stellte ihn den Offizieren vor. »Ich habe wichtige Nachrichten für Sie, meine Herren«, sagte er dann. »Sie können es als eine Ehre betrachten, hier zu sein. Es bedeutet, daß Sie nach meinem Urteil ver trauenswürdig genug sind, um erstens absolutes Schweigen über alles zu bewahren, was Sie hier hö ren werden, und zweitens, um militärische Operatio nen von außerordentlicher Schwierigkeit durchzu führen.« Danielis blickte um sich und bemerkte mit einem leisen Schock, daß verschiedene Offiziere fehlten, die nach ihrem Rang zur Teilnahme berechtigt gewesen wären. »Ich wiederhole«, sagte Perez, »jeder Bruch der Geheimhaltung kann den ganzen Operationsplan zum Scheitern bringen. In diesem Fall wird sich der Krieg noch Monate und Jahre hinziehen. Sie wissen, wie schlecht unsere Position ist. Sie wissen auch, daß eine Niederlage im Bereich des Möglichen liegt. Ich bin kein Defätist, wenn ich das sage, sondern nur Realist. Wir könnten den Krieg verlieren. Andererseits kön nen wir dem Feind noch in diesem Monat das Rück
grat brechen, wenn unser Vorhaben gelingt.« Er legte eine Pause ein, um die Bedeutung seiner Worte zu unterstreichen. »Der Plan, meine Herren, ist vor einigen Wochen vom Oberkommando in San Francisco ausgearbeitet worden, zusammen mit der Esperzentrale. Er ist der Grund, daß wir nach Norden marschieren ...« Er ließ die Unruhe im Raum verebben. »Ja, Sie wissen, daß der Esperorden politisch neutral ist. Aber Sie wissen auch, daß er sich verteidigt, wenn er angegriffen wird. Und genau das ist geschehen. Die Rebellen ha ben die Siedlung im Napatal besetzt. Würden Sie uns dazu einen kurzen Kommentar geben, Philosoph Woodworth?« Der Mann im blauen Gewand nickte und blickte gelassen in die Runde. »St. Helena wurde zu einem Zeitpunkt angegriffen, als die meisten Adepten ab wesend waren, um beim Aufbau einer neuen Sied lung in Montana mitzuhelfen. Ich weiß nicht, ob dem Feind dieser Umstand bekannt war oder ob er bloß Glück hatte. Jedenfalls wurden die zwei oder drei dort verbliebenen Adepten getötet, bevor sie handeln konnten.« Er lächelte schwach. »Wir behaupten nicht, unsterblich oder unfehlbar zu sein. St. Helena befin det sich jetzt in der Hand feindlicher Truppen. Wir planen jedoch keine direkten Befreiungsaktionen, weil das viele unschuldige Mitglieder unserer Ge meinschaft in Gefahr bringen würde. Was die Geschichten angeht, die vom Feind über unseren Orden verbreitet werden, nun, so würde ich wahrscheinlich dasselbe tun, wenn ich eine solche Gelegenheit hätte. Jeder weiß, daß ein Adept über Mittel und Kräfte verfügt, die anderen Menschen
nicht zugänglich sind. Der einfache Soldat fühlt, daß dem Orden Unrecht getan wurde und fürchtet ir gendeine übernatürliche Vergeltung. Sie, meine Her ren, sind gebildete Menschen und wissen, daß der Orden nicht an Rache oder Vergeltung glaubt. Aber der gewöhnliche Soldat denkt anders. Seine Offiziere müssen ihn auf irgendeine Weise beruhigen und sein Vertrauen wiederherstellen. Also erzählen sie ihm, daß die Adepten ihre Kraft in Wirklichkeit nur ein paar Maschinen verdanken, die man wie jede andere Maschine funktionsunfähig machen kann, wenn man nur tapfer kämpft. Das haben die Rebellenoffiziere denn auch getan. Immerhin stellt es für den Orden eine Bedrohung dar; und wir können auch nicht zulassen, daß man unsere Gemeinschaften ungestraft angreift. Also hat die Esperzentrale beschlossen, sich auf Ihre Seite zu stellen. Je früher dieser Krieg beendet wird, desto besser für alle.« Am Tisch wurden erleichterte Seufzer laut. Erreg tes Gemurmel erhob sich, unterbrochen von freudi gen Ausrufen. General Perez hob seine Hand. »Nicht zu voreilig, bitte«, sagte er. »Die Adepten werden nicht durch das Land ziehen, den Feind in die Luft blasen und Ihnen die Arbeit abnehmen. Es kostete sie schon große Überwindung, das zu tun, was sie versprochen haben. Ich weiß, daß die – äh – persönliche Entwicklung jedes Espers durch diese gewaltsame Aktion um viele Jahre zurückgeworfen wird. Der Orden bringt ein großes Opfer. Nach ihrer Ordensregel dürfen sie die Psionik an wenden, um ihre Gemeinschaften gegen Angriffe zu verteidigen. Ein feindlicher Angriff auf San Francisco
wird als ein Angriff auf die Zentrale, ihr Welthaupt quartier, angesehen.« Die Tragweite dieser Entscheidung beschäftigte Danielis so, daß er kaum zu folgen vermochte, als Pe rez fortfuhr: »Wir wollen kurz die strategische Lage skizzieren. Der Feind hält gegenwärtig etwa die Hälfte Kaliforniens, ganz Idaho und kleine Teile Ore gons und Washingtons besetzt. Wir, diese Armee, wir benützen den einzigen noch verbliebenen Landzu gang nach San Francisco. Der Feind hat noch nicht versucht, ihn abzuschnüren, weil seine Kräfte zu schwach sind, um einen Zweifrontenkrieg gegen die Stadtgarnison und uns mit Aussicht auf Erfolg führen zu können. Die Stadt selbst befindet sich meines Erachtens nicht in unmittelbarer Gefahr. Unsere Schiffe können sie ausreichend mit Munition und Nahrungsmitteln versorgen. Die Seestreitkräfte des Feindes sind den unsrigen weit unterlegen. Es handelt sich bei seinen Einheiten vorwiegend um Küstenschoner, die von Portland aus operieren. Er kann damit vielleicht den einen oder anderen Geleitzug angreifen, aber das würde kaum den Einsatz lohnen. Und der Zugang zur Bucht von San Francisco ist durch unsere Küsten artillerie und die Raketenabschußrampen zu beiden Seiten des Goldenen Tors versperrt. Nichtsdestowe niger muß die Eroberung von San Francisco sein Hauptziel bleiben. Es ist der Regierungssitz, das In dustriezentrum, das Herz der Nation. Nun, der Operationsplan sieht so aus: Unsere Ar mee hat die in Kalifornien eingedrungenen Streit kräfte des Feindes und ihre Hilfstruppen zu stellen. Unser Angriffsziel ist San José. Wenn das Manöver
gelingt, können wir die in Kalifornien operierenden feindlichen Truppen in zwei Teile aufsplittern. Wir wissen, daß der Feind in Erwartung eines solchen Angriffs südöstlich von San José bereits Truppen zu sammenzieht. Unser Angriff wird erfolglos bleiben. Wir liefern dem Feind ein gutes Gefecht und werden zurückge worfen. Das ist der schwierigste Teil des Manövers: eine Niederlage vorzutäuschen und doch die volle Ordnung aufrechtzuerhalten. Wir werden zu diesem Punkt noch eine Menge Details zu erörtern haben. Wir werden uns nach Norden in Richtung auf San Francisco zurückziehen. Der Feind wird uns verfol gen; für ihn wird es wie eine einmalige Gelegenheit aussehen, unsere Armee aufzureiben und bis vor die Mauern der Stadt zu gelangen. Wenn er auf der Halbinsel steht, den Ozean zur Linken und die Bucht zur Rechten, werden wir ihn umgehen und von hinten angreifen. Die Esperadep ten werden in dieser Phase der Auseinandersetzung eingreifen. Plötzlich sieht sich der Feind zwischen uns und der Stadt eingeschlossen. Was die Adepten nicht vernichten, wird uns zum Opfer fallen. Vom Si errakommando wird außer einigen schwachen Garni sonen nichts mehr übrigbleiben. Der Rest des Krieges wird eine Säuberungsaktion sein, mehr nicht. Es ist eine brillante strategische Aufgabe, und nicht leicht in die Praxis umzusetzen. Ich bitte jetzt um Ihre Fragen, meine Herren.« Danielis erhob seine Stimme nicht mit den anderen. Er konnte seine Gedanken nicht von Laura losreißen. *
Im Norden und Osten wurde gekämpft. Man hörte gelegentliches Artilleriefeuer, das Knattern von Ge wehren. Pulverrauch zog in dünnen Schleiern über das Gras und die vom Seewind gekrümmten Eichen, die das Hügelland bedeckten. Aber hier unten an der Meeresküste war nur die Brandung, der Wind und die Sanddünen. Mackenzie ritt am Strand entlang, wo das Voran kommen am leichtesten und der Blick am weitesten war. Der größte Teil seines Regiments marschierte im Inland. Aber das war eine Wildnis aus Wäldern, Sümpfen und den Ruinen alter Besiedlung. Früher war diese Gegend einmal dicht bevölkert gewesen, aber der Feuersturm des nuklearen Kriegs hatte das Land verwüstet und kahlgeschoren, und heutzutage konnte man mit dem unfruchtbaren, von Beton- und Mauerresten bedeckten Boden nicht mehr viel anfan gen. Nun, noch ein Tag oder zwei, und die weiße Stadt würde vor ihren Augen aufragen. Und dort wird der Feind verzweifelten Widerstand leisten, dachte Mackenzie. Wir werden seine Stellun gen unter Artilleriefeuer nehmen müssen. Vielleicht bleibt uns nichts anderes übrig, als die Stadt im Stra ßenkampf zu erobern. Laura, mein Kind, wirst du noch am Leben sein, wenn alles vorüber ist? Natür lich, vielleicht wird es nicht so kommen. Vielleicht gelingt mein Plan, und der Sieg fällt uns ohne viel Blutvergießen in den Schoß ... Speyer warf ihm einen Seitenblick zu, aber er schwieg. Mackenzie konzentrierte seine Aufmerk samkeit wieder auf die Umgebung. Rechts lagen Hü gel und leiteten zur niedrigen aber massiven Ge birgskette der San Brunos über. Hier und dort machte
er Abteilungen seines Regiments aus, Infanteristen und Berittene. Über ihnen kreiste mit spuckendem Motor ein Aufklärer. Aber die Gegend war unüber sichtlich und bot zahllose Verstecke. In jedem Au genblick konnte die Hölle losbrechen. Mackenzie blickte voll Unbehagen nach links. Hier bot sich ein Anblick, der die überreizten Nerven be ruhigen konnte. Der Ozean rollte grüngrau heran, seine mächtige Dünung zerbrach in Donnern und weißer Gischt. Es roch nach Salz und Seetang. Ein paar Möwen kreisten über dem blendendweißen Sandstrand. Die glitzernde Unendlichkeit des Ozeans lag vollkommen leer vor ihm. Kein Segel, keine Rauchfahne belebte den weiten Horizont. Die Kon vois vom Puget Sund und die schlanken, schnellen Schoner der nördlichen Feudalherren befanden sich noch Meilen hinter der Krümmung des Erdballs. Genauso sollte es sein. Vielleicht lief dort draußen al les planmäßig ab. Jetzt konnte man nur noch abwar ten und hoffen. Er war es gewesen, der General Cruik shank zwischen den Gefechten von Maricopa und San José den Vorschlag gemacht hatte; derselbe James Mackenzie, der zuerst angeregt hatte, daß das Sierra kommando die Berge verließ und zum Angriff über ging und der den gigantischen Schwindel der Esper entlarvt hatte. Dem es gelungen war, seinen Soldaten die Tatsache zu verheimlichen, daß hinter diesem so genannten Schwindel ein Geheimnis lag, an das man kaum zu denken wagte. Sein Name würde in den Ge schichtsbüchern weiterleben, und noch nach Hunder ten von Jahren würde man Balladen über ihn singen. Aber er fühlte sich nicht danach. James Mackenzie wußte, daß er unter den günstigsten Bedingungen
nicht mehr als durchschnittlich intelligent war. Mü digkeit und die ständige Sorge um das Wohlergehen seiner Tochter hatten ihn jetzt abgestumpft. Oft mußte er sich betrinken, um überhaupt den nötigsten Schlaf zu finden. Er war rasiert, weil ein Offizier auf seine äußere Erscheinung zu achten hatte, aber seine Uniform war zerschlissen und fadenscheinig, sein ungewaschener Körper stank und juckte, und er sehnte sich nach Tabak, der wegen gewisser Nach schubschwierigkeiten seit einer Woche ausgeblieben war. Seine Tätigkeit erschöpfte sich in kleinen Aktio nen oder im dumpfen Dahintrotten, und er wünschte sich nur noch, daß dies alles bald ein Ende nehmen möge. Eines nicht zu fernen Tages würde sein Körper nicht mehr mitspielen, und sein Ende würde genauso einsam und würdelos sein wie das eines jeden Men schen. Ein Held? Zum Lachen! Hinter ihm begleiteten zwei Infanteriekompanien die Artillerie der Division den Strand entlang. Tau send Mann, Maultierfuhrwerke, Feldgeschütze, ein paar Motorlastwagen, ein kostbarer Panzer, das alles wälzte sich in einer ziemlich ungeordneten Formation vorwärts. Die Geräusche der Wagen und Motoren gingen im Donnern der Brandung und im Wind un ter. Captain Hülse kam herangaloppiert; der Sand spritzte unter den Pferdehufen auf. »Eine Meldung, Sir.« »Nun, was gibt's?« brüllte Mackenzie. »Fünf Meilen nordöstlich von hier steht der Feind. Es sieht so aus, als ob eine größere Truppenformation im Begriff ist, uns den Weg zu versperren.« Mackenzie versteifte sich im Sattel. »Haben Sie nichts Genaueres als das?«
»Vorläufig nicht, Sir. Das Terrain erschwert die Be obachtung.« »Mein Gott, dann verlangen Sie Luftaufklärung!« »Jawohl, Sir. Ich werde außerdem neue Spähtrupps vorschicken.« »Mach du hier weiter, Phil.« Mackenzie warf sein Pferd herum und galoppierte zum Funkwagen zu rück. Er hatte ein Funksprechgerät in seiner Sattelta sche, aber San Francisco hielt alle Wellen besetzt, und man brauchte eine kräftige Sendeenergie, wenn man wenigstens ein paar Meilen weit Signalisieren wollte. Die Patrouillen mußten die Verbindung mit Melde reitern aufrechterhalten. Er merkte, daß die Gefechtstätigkeit nachgelassen hatte. Im nördlichen Teil der Halbinsel gab es einige anständige Straßen. Der Feind konnte sie zu raschen Manövern und Truppenbewegungen benützen. Eine Stimme vom Divisionsstab, kaum hörbar durch das Gequietsche und Gesumm, wiederholte seine Meldung und gab einen kurzen Lagebericht über die anderswo gemachten Beobachtungen. Trup penmanöver rechts und links, ja, es sah so aus, als wollten die feindlichen Verbände nach Süden durch brechen. Vielleicht war es auch nur eine Finte. Die ei gene Hauptmacht mußte einstweilen bleiben, wo sie war, bis sich die Situation klärte. Mackenzie kehrte an die Spitze der Kolonne zurück. Speyer empfing ihn mit einem fragenden Blick. »Ich glaube, wir machen uns bereit, wie?« Mackenzie nickte und begann eine Anzahl Kom mandos zu brüllen. Die Ordonnanzen jagten nachein ander davon, um die Anordnungen zu den Trup penteilen zu bringen. Der Aufklärer kehrte zurück
und überflog die Kolonne in kaum fünfzig Metern Höhe, um seine Meldung durchzubringen. Ja, es stand ein Angriff bevor, aber die Stärke des Gegners ließ sich nicht einwandfrei abschätzen, Bäume und Buschwerk behinderten die Sicht, aber es mochte gut und gern eine ganze Brigade sein. Mackenzie überblickte kurz die Verteidigungsvor bereitungen, dann ritt er mit seinem Stab und mehre ren Meldern auf einen nahegelegenen Hügel. Unter ihm formierte sich die Artillerie zu einer Linie. Hinter den Geschützen und ihren Bedienungsmannschaften wartete die Kavallerie mit schimmernden Helmen und Lanzenspitzen. Die Infanterie sicherte die Flanke, nur eine Kompanie stand bei den Reitern. Die See donnerte ihre eigene Kanonade, und Möwen began nen sich zu sammeln, als wüßten sie, daß es bald Futter geben würde. »Glaubst du, wir können sie hier aufhalten?« fragte Speyer zweifelnd. »Klar«, versetzte Mackenzie zuversichtlich. »Wenn sie uns auf dem Strand entgegenkommen, laufen sie direkt in unser Feuer. Wenn sie von der Seite angrei fen, nun, das Hügelland ist ideales Verteidigungsge lände. Schlimm kann es nur werden, wenn wir um gangen und eingeschlossen werden. Aber das kann jetzt nicht unsere Sorge sein.« »Wahrscheinlich wollen sie uns von hinten fassen.« »Möglich. Aber das würde nicht viel ändern. Wir können San Francisco auch mit einer Armee im Rük ken einschließen.« »Solange die Stadtgarnison keinen Ausfall macht und wir in die Zange genommen werden.« »Selbst dann. Die Truppenstärken sind ungefähr
gleich, aber wir haben mehr Munition und Alkohol. Die Guerrillamilizen der Feudalherren nicht gerech net, die es gewohnt sind, auf sich selbst gestellt zu kämpfen.« »Und wenn wir sie schlagen ...« Speyer preßte die Lippen zusammen. »Was dann?« fragte Mackenzie. »Nichts.« »Unsinn. Du meinst, wie wir die Stadt ohne allzu hohe Verluste einnehmen wollen? Nun, ich weiß, daß wir da noch eine Karte auszuspielen haben, die uns vielleicht helfen wird.« Speyer wandte seine mitleidigen Augen ab. Auf der Hügelkuppe wurde es still. Es dauerte lange, bevor der Feind endlich in Sicht kam. Zuerst einzelne Späher zu Pferde, weit im Nor den, dann ergoß sich die Masse der feindlichen Trup pen über Hügel und aus dem Buschwald. Die ersten Schüsse peitschten. Eine große Streitmacht, dachte Mackenzie, annähernd doppelt so groß wie unsere, aber mit wenig Artillerie. Inzwischen litten sie unter Treibstoffmangel und mußten ihr schweres Material mehr als bisher mit Maultieren bespannen. Offenbar wollten sie es auf einen Sturmangriff ankommen las sen, um ihre zahlenmäßige Überlegenheit im Nah kampf ausspielen zu können. Mackenzie richtete sei ne Verteidigung entsprechend ein. Der Feind formierte sich im Abstand von etwa ei ner Meile. Mackenzie erkannte ihre Regimentsfahnen durch sein Feldglas; die roten Farben der Kavallerie aus Madera, die grünen und goldenen der Dagos. Er hatte mit beiden Einheiten gemeinsam den Feldzug nach Idaho unternommen und kannte ihre Offiziere.
Einige leichte Feldgeschütze und ein Panzerspähwa gen glänzten in der Sonne. Hörner schmetterten. Fallons Kavalleristen legten die Lanzen ein und ließen ihre Pferde antraben. Ihre Geschwindigkeit steigerte sich, bis die Erde unter den galoppierenden Hufen erzitterte. Dann setzte sich die Infanterie in Bewegung, flankiert von den Geschüt zen. Der Panzerwagen rollte zwischen der ersten und der zweiten Schützenlinie. Seltsamerweise schien er weder für den Abschuß von Raketen noch mit Kano nen ausgerüstet zu sein. Es waren gute Truppen, dachte Mackenzie. Sie bewegten sich in guter Ord nung vorwärts. Alte Kriegsveteranen wahrscheinlich, dachte Mackenzie. Er haßte, was jetzt geschehen mußte. Seine Verteidigung wartete unbeweglich. In den Hügeln knatterte helles Gewehrfeuer, unterbrochen vom gelegentlichen dumpfen Krachen der Granat werfer. Ein Reiter fiel aus dem Sattel, ein Infanterist krümmte sich und brach zusammen. Seine Kameraden schlossen die Lücke und marschierten weiter vorwärts. Mackenzie blickte zu seinen Geschützen. Die Männer standen gespannt und warteten auf das Signal zum Feuern. Jetzt! Yamaguchi, der unmittelbar hinter den beiden Batterien auf seinem Pferd saß, zog seinen Säbel und senkte die blitzende Klinge. Die Ka nonen brüllten. Feuer schoß durch grauweißen Rauch, Sand spritzte auf, die Schrapnells hagelten auf die angreifende Kavallerie herunter. Die Bedie nungsmannschaften fanden sofort den gewohnten Rhythmus von drei Runden pro Minute, der die Läu fe schonte und Armeen zerbrach. Pferde brachen zu sammen und wälzten sich schreiend in ihrem Blut.
Aber nicht viele waren getroffen. Die MaderaKavallerie setzte ihre Attacke unbeirrt fort. Ihre ersten Reiter waren jetzt so nahe, daß Mackenzie durch das Glas die Gesichter der Reiter erkennen konnte. Er sah einen jungen Kerl mit rotem, sommersprossigem Ge sicht, dessen Mund sich in einem langgezogenen An griffsschrei dehnte. Wahrscheinlich ein Bauernjunge. Die Reihen der Bogenschützen hinter den Geschüt zen ließen ihre Pfeile wie eine helle Wolke von den Sehnen schwirren. Die erste Salve war noch in der Luft, da folgte ihr schon die zweite. Das Knattern des Gewehrfeuers nahm noch an Heftigkeit zu. Männer stürzten in den Sand, von Pfeilen oder Kugeln getrof fen. Die feindliche Batterie erwiderte das Artillerie feuer. Mackenzie sah durch Rauch und Mündungs feuer, daß der Angriffsgeist der gegnerischen Kaval lerie zu erlahmen schien. Ein Gegenangriff seiner ei genen Reiter und Fußsoldaten erschien ihm erfolg versprechend. »Fertigmachen zum Gegenangriff!« rief er in sein Funksprechgerät. Er sah die Reihen der Berittenen aufschließen; sie legten ihre Lanzen ein. Die Geschütze feuerten wieder. Der feindliche Panzerspähwagen war auf einige hundert Meter herangekommen; nun hielt er plötz lich an. Ein bläulichweißer Schein lief den Hügelhang hin auf und hüllte innerhalb einer Stunde die ganze Kuppe ein. Mackenzie schloß geblendet die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er durch das Flimmern auf seiner Hornhaut ein Grasfeuer. Sechs oder sieben seiner Soldaten sprangen heulend und mit brennen den Kleidern aus ihren Deckungen. Sie rannten wie irr zur steilen Böschung, rollten hinunter und blieben
als flammende Bündel liegen. Und nun hob sich der Sand auf der ganzen Breite des Strandes wie in einer ungeheuren Woge, deren Kamm in der Höhe eines dreistöckigen Hauses nähe raste. »Ein Psi-Stoß!« kreischte jemand mit überschnap pender Stimme durch das Chaos. Der Boden zitterte. »Die Esper ...« Mackenzie sah, daß seine Kavallerie bereits die Ge schütze passiert hatte und in donnernder Formation auf den Gegner zujagte. Auf einmal wurden Pferde und Reiter in die Luft geworfen, wirbelten wie im Sog einer ungeheuren Windhose durcheinander und stürzten zur Erde herab. Fast die ganze Kavallerie war in einem Augenblick vernichtet, lag mit gebro chenen Knochen tot über den Strand verstreut. Die wenigen überlebenden Reiter aus dem letzten Glied warfen ihre Lanzen fort und flohen in alle Richtun gen, einige sogar ins flache Wasser. Ein schreckliches tiefes Summen erfüllte die Luft. Mackenzie sah alles wie durch einen Nebelschleier. Ihm war, als würde sein Gehirn im Inneren des Schä dels durchgeschüttelt. Ein neuer Lichtschein schoß über den nächsten Hügel, höher als der erste. Er ver brannte die dort postierten Infanteristen in ihren Lö chern. »Wir müssen weg hier!« brüllte Speyer. Es war eine schwache Stimme, die sich mit dem Auf und Ab der Luftdruckwellen veränderte. »Sonst sind wir die nächsten, die gebraten werden.« »Die Adepten müssen in dem Panzerwagen sit zen!« brüllte Mackenzie zurück. »Los, komm mit!« Ein Teil der Reiterei war auf die Geschützstellun gen gefallen, die nun ein Chaos aus zuckenden, um
sich schlagenden Pferdeleibern und nutzlosem Mate rial waren. Die Infanterie hatte ihren Posten noch nicht verlassen, aber man sah der Truppe an, daß sie im Begriff war, sich aufzulösen. Ein Blick nach rechts zeigte Mackenzie, daß auch die feindliche Kavallerie in Verwirrung haltgemacht hatte. Die Reiter bemüh ten sich, ihre scheuenden Tiere zu bändigen. Auch für sie mußte es eine furchtbare Überraschung gewesen sein, aber nach dem ersten Schock würde sie nichts mehr halten können, sie würden alles überrennen, nun, da übernatürliche Kräfte mit ihnen im Bunde waren. Er hieb seinem widerstrebenden Pferd die Sporen in die Flanken und jagte den Hügel hinunter zu den Geschützstellungen, Speyer an seiner Seite. Mackenzie brauchte seine ganzen Kräfte, um den Wallach vor den schweigenden Geschützmündungen zum Halten zu bringen. Die Geschützbedienungen lagen tot in der Batteriestellung, aber man sah keine Verletzungen an ihnen. Mackenzie sprang aus dem Sattel. Sein Pferd raste mit schleifenden Zügeln da von. Er hatte keine Zeit, sich darum zu kümmern. Er blickte hilfesuchend um sich, aber da war Speyer schon neben ihm, riß den Verschluß des nächsten Ge schützes auf und schob eine Granate ins Rohr. Mak kenzie spähte mit zusammengekniffenen Augen über Kimme und Korn. Er sah den Panzerwagen der Esper, der unbeweglich zwischen Verletzten und Toten stand. Speyer half ihm beim Anheben der Lafette. Das Vi sier zeigte, daß die Richtung stimmte. Speyer zog die Reißleine. Das Geschütz brüllte auf und sprang zu rück. Die Granate schlug vor dem Ziel in den Sand und verdeckte es sekundenlang mit einer schwärzli
chen Wolke aus Rauch und Sand. Speyer lud nach, während Mackenzie zielte. Zu weit, diesmal, aber nicht sehr viel. Wenigstens hatten die Psi-Stöße auf gehört. Aber es war notwendig, den Wagen kampf unfähig zu machen, bevor der Feind von neuem an griff. Sie ließen das Geschütz stehen und rannten zu ih rem eigenen Panzer zurück. Die Luke stand offen, die Besatzung war geflohen. Mackenzie warf sich in den Fahrersitz. Speyer schloß die Luke und klemmte sich hinter das Periskop des Raketenrohrs. Mackenzie startete den Motor und gab Gas. Das Heulen der Ma schine und das Kettengerassel übertönte jeden ande ren Laut im Innern des Panzers. Die Fahne am Pan zerturm knatterte im Wind. Speyer visierte das Ziel an und drückte auf den Feuerknopf. Die Rakete zischte flach über den Strand und traf. Der Panzer wagen wurde erschüttert. In seiner Seite klaffte ein Loch, und die Ausstiegsluke im Turm sprang auf. Schwarzer Qualm hüllte das Fahrzeug ein, dann trieb der scharfe Seewind ihn weg. Kreischend kam der schwere Panzer zum Stehen. Mackenzie stieß die Tür auf und stürzte hinaus, rannte zum feindlichen Fahrzeug hinüber, schwang sich hinauf und stieg durch die Turmluke ein. Drei Esper lagen in ihren Sitzen. Der Fahrer war tot, des gleichen einer der Adepten. Ein anderer krümmte sich stöhnend zwischen seinen seltsamen Instrumen ten. Sein Gesicht war blutüberströmt. Mackenzie zog den toten Adepten von seinem Sitz und riß ihm die blaue Robe vom Körper. Er raffte ein gewundenes Metallrohr an sich und krabbelte wieder ins Freie. Speyer war im Panzer geblieben und feuerte mit
der kleinen Schnellfeuerkanone, um den Gegner in Schach zu halten. Mackenzie stellte sich neben der Ausstiegsluke auf den Turm des abgeschossenen Kampfwagens, schwenkte in einer Hand die blaue Robe und in der anderen das Metallrohr, dessen Zweck ihm unbekannt war. »Los, kommt schon, ihr Feiglinge!« heulte er in den Seewind. »Wir haben sie für euch erledigt! Soll ich euch auch noch das Frühstück ans Bett servieren?« Eine Kugel sang an seinem Ohr vorbei, sonst nichts. Das Gros der feindlichen Streitmacht stand wie erstarrt. Mackenzie wußte in dieser seltsamen Stille nicht, ob er die Brandung hörte oder ob es das Rauschen des Blutes in seinen Ohren war. Dann klang ein einzelnes Hornsignal auf, vom Tom-tom einer einzelnen Trommel untermalt. Zwei lückenhafte Schützenketten seiner Infanterie gingen vor, weitere formierten sich aus Soldaten, die in die angrenzenden Hügel geflohen waren und nun zu rückkehrten. Mackenzie sprang vom Wagen und lief zum Pan zer zurück. »Kehren wir um«, sagte er zu Speyer. »Die Schlacht ist noch nicht zu Ende.« * Nebel trieb zwischen den Bäumen, tropfte von Zwei gen und Blättern und verbarg das Land und die Bri gade im grauen Nichts. Das Geräusch von marschie render Infanterie, Reitern und rollenden Wagen klang gedämpft, isoliert und unendlich müde. Die Luft war kalt, und die durchnäßten Kleider klebten an der Haut.
»Ich bin der Meinung, mein Sohn, daß wir unsere Adepten sammeln und gegen das Zentrum der feindlichen Armee losschlagen lassen sollten«, sagte Woodworth. »Haben Sie etwas dagegen?« Danielis ballte die Fäuste. »Nichts«, sagte er. »Aber ich fürchte, daß es ein noch größeres Unheil über uns bringen wird, als es Ihre Adepten schon jetzt fertig gebracht haben. Ihre Psi-Stöße sind zwar überaus wirksam, aber sie haben ein Chaos herbeigeführt. Wo sie angewandt werden, wird der Feind verlustreich zurückgeschlagen, aber gleichzeitig machen unsere eigenen Soldaten in die Hosen und laufen weg. Sie haben so etwas noch nie gesehen und bekommen es mit der Angst zu tun. Wenn der Feind seine Kräfte gesammelt hat und nachstößt, ist niemand da, der ihm Widerstand leisten kann.« »Gewiß, wir haben einen oder zwei Rückschläge erlitten«, wandte Major Lescarbault ein. »Sie haben uns im Westen überrannt, aber hier an der Bucht ha ben wir ihre rechte Flanke vernichtet.« »Mit dem Resultat, daß das feindliche Gros ab schwenkte, angriff und einen Keil zwischen unsere Truppen trieb«, schnappte Danielis ärgerlich. »Und von den Espern haben wir seitdem nicht viel Unter stützung bekommen. Die Rebellen wissen jetzt, daß die Adepten Wagen brauchen, um ihre Wunderwaf fen zu transportieren, und daß sie besiegbar sind. Die Artillerie beschießt ihre Positionen, Guerrillas ma chen sich an die Wagen heran und setzen sie mit Handgranaten außer Gefecht, oder der Feind umgeht einfach die Punkte, wo er Adepten ausgemacht hat. Wir haben nicht genug Adepten, das ist es!« »Darum schlage ich ja vor, sie in einer Gruppe zu
sammenzufassen und ihre Kräfte nicht zu verzetteln«, sagte Woodworth. »Die Adepten«, erwiderte Danielis ruhig, »werden bei der Verteidigung von San Francisco sehr nützlich sein. Eine bewegliche Armee, die in kleinere Einhei ten verteilt im unübersichtlichen Gelände operiert, wird auf diese oder jene Weise mit ihnen fertig. Des halb hat es keinen Sinn, sie weiterhin außerhalb der Mauern einzusetzen. Aber ihre Waffen können einen Angriff gegen die Stadt abwehren. Darum müssen die Adepten zurück.« Mehr konnte er nicht tun. Die nördliche Hälfte der Nationalarmee hatte noch nicht von sich hören lassen. Zweifellos hatte sie sich in die Hauptstadt zurückge zogen. Die Radiostörungen hielten an und behinder ten den Sprechfunkverkehr beider Parteien. Er mußte etwas unternehmen. Entweder zog er sich nach Süden zurück, oder er schlug sich zur Stadt durch. Letzteres erschien ihm sinnvoller. Er redete sich ein, daß der Ge danke an Laura seine Entscheidung nicht beeinflußte. »Ich selbst bin kein Adept«, sagte Woodworth. »Ich kann keinen geistigen Kontakt mit ihnen herstellen, um sie zu verständigen.« »Sie meinen, Sie verfügen nicht über das, was die Esper als Äquivalent für unser Radio benutzen«, sagte Danielis brutal. »Nun, Sie haben einen Adepten hier in Ihrer Nähe. Lassen Sie ihn die Botschaft an seine Mitbrüder weitergeben.« Woodworth zuckte zusammen. »Ich hoffe«, sagte er, »ich hoffe, Sie verstehen, daß dies auch für mich überraschend gekommen ist.« »O ja, selbstverständlich«, sagte Lescarbault zuvor kommend.
Woodworth schluckte. »Es gibt nichts, was man dem Orden, seinen Mitteln und seinem Ziel vorwer fen könnte. Ich kann nicht mehr tun als das, was in meinen Kräften steht. Das Kriegshandwerk ist nicht unsere Sache. Der Große Sucher hat eine volle Erklä rung zu den widersprüchlichen Gerüchten über unse ren Orden und die angewendeten Machtmittel ange kündigt, sobald die Kämpfe vorbei sind.« Er schüt telte seinen Kopf. »Aber Sie sind der Kampfkom mandant, mein Sohn, und ich werde dafür sorgen, daß Ihre Anordnung ausgeführt wird.« Danielis fühlte sich vom Mitleid angerührt, als der Mann mit dem blauen Gewand im Nebel ver schwand. Um so energischer erteilte er seine Befehle. Langsam ordneten sich die Truppenteile und mar schierten ab. Danielis blieb bei der zweiten Brigade und hoffte, daß die weiter landeinwärts stehenden Einheiten auf dem Marsch durch die San Bruno-Kette zu ihm stoßen würden. Er ritt über eine schlammige Straße, die sich in zahl losen WindungendurchdasBerglandschlängelte. Näs se triefte von seinem Helm. Sein Pferd stolperte, er schöpft vonvielenMarschtagen,Gefechten, Hitze,Kälte und kleinen Futterrationen. Das arme Tier, dachte Danielis, wenn wir die Stadt erreichen, werde ich da für sorgen, daß es die nötige Pflege bekommt. In San Francisco sind wir sicher. Die Mauern, die Kanonen und die Maschinen der Esper können die Landseite verteidigen, und das Meer in unserem Rücken ist für den Nachschub offen. Wir können unsere Kräfte re organisieren, frische Truppen von Washington her unterbringen. Der Krieg ist noch nicht entschieden – mit Gottes Hilfe kann er noch gewonnen werden.
Weiß der Himmel, wir haben einen hohen Preis be zahlt. Aber vielleicht doch nicht zu hoch für das, was wir gelernt haben. Fremde auf diesem Planeten ... wer sonst könnte diese Waffen hergestellt haben? Danielis erinnerte sich an die Geschichten, die man sich in den Fischerhütten seiner Kindheit erzählt hatte, an den langen Abenden, wenn Geister umgingen und mit dem Wind an den Türen rüttelten. Vor der Vernich tung der alten Zivilisation hatte es Legenden über die Sterne gegeben, und diese Legenden waren am Leben geblieben, waren von einer Generation zur anderen weitergereicht worden. Danielis wußte nicht, ob er jemals wieder fähig sein würde, ohne Erschauern zum Nachthimmel aufzublicken. Dieser verdammte Nebel ... Gedämpfte Hufschläge wurden laut. Danielis griff an seine Pistolentasche. Aber der Reiter war nur ein Kundschafter, der salutierend den rechten Arm hoch riß. »Colonel, feindliche Truppen zehn Meilen vor aus. Auf der Straße. Ein Bataillon, schätzungsweise.« »Haben sie uns ausgemacht?« »Nein, Sir. Sie marschieren den Kamm entlang nach Osten.« »Wahrscheinlich wollen sie die Ruinen im Candle stick Park besetzen«, murmelte Danielis zu sich selbst. »Guter Stützpunkt, das. Sehr schön, Korporal.« Er wandte sich an Lescarbault und gab Instruktionen aus. Patrouillen machten sich auf den Weg. Nach ei niger Zeit kamen weitere Informationen durch, und Danielis entwarf einen Plan. Er wollte seine Männer nicht nutzlos opfern, sondern den Feind durch einen Überraschungsangriff zerstreuen und weitermar schieren. Es kam darauf an, die Truppe für die Ver
teidigung der Stadt und eine eventuelle Gegenoffen sive zu schonen. Lescarbault kam zurück. »Sir! Die Radiostörungen haben aufgehört!« Danielis zwinkerte verständnislos. »Was?« »Ja, Sir. Ich habe das Funksprechgerät benutzt« – Lescarbault hob seine rechte Hand, um deren Gelenk das kleine Gerät geschnallt war – »um den Batail lonskommandeuren die Befehle weiterzugeben. Die Störungen haben vor ein paar Minuten aufgehört. Der Empfang ist vollkommen klar.« Danielis hob seine Hand vor den Mund. »Hallo, hallo, Funkwagen! Hier spricht der Regimentskom mandeur. Können Sie mich empfangen?« »Ja, Sir«, sagte eine Stimme. »Empfang ist einwand frei.« »Man hat aus irgendwelchen Gründen den Stör sender abgeschaltet. Übernehmen Sie die Welle des Armeehauptquartiers.« »Jawohl, Sir.« Es trat eine Pause ein. Stimmen murmelten, in unsichtbaren Rinnsalen gluckste und plätscherte Wasser. Tropfen lösten sich von der Kante des Stahlhelms und fielen auf seinen Kragen. Plötzlich kam es, wie das Zirpen eines Insekts: »... sofort hierher! Alle Feldtruppen sofort nach San Francisco! Wir werden von der See her angegriffen!« Danielis warf Lescarbault einen schnellen Seiten blick zu, dann starrte er ins Leere, während die dün ne Stimme im Mikrophon weiterzirpte. »... sofort hierher! Alle Feldtruppen sofort nach San Francisco! Wir werden von der See her angegriffen!« »Feindliche Flotteneinheiten beschießen Potrero Pont. Die Decks sind mit Truppen vollgestopft. Sie
bereiten die Landung vor.« Danielis' Gedanken eilten den Worten voraus. Über der Bucht und dem Goldenen Tor schien also kein Nebel zu liegen. Der Konvoi mußte an den Küsten batterien vorbeigekommen sein, die ihn ohne weite res hätten vernichten können. Die gewohnten dick bäuchigen Frachtschiffe mit ihren weißen Segeln, darunter wohl auch ein paar qualmende Schornstei ne. Die Flotte war bereits in der Bucht, wo San Fran ciscos Hafen lag, ungeschützt und ohne Mauern. Und dort hatte der Feind sich zu erkennen gegeben, die Planen von den Kanonen gezogen und seine Soldaten an Deck gelassen. Ja, sie mußten einen Versorgungskonvoi gekapert haben, diese Piratenschoner. Und dann hatten sie alle Radiowellen gestört, um jede Warnung, jeden Hilfe ruf zu ersticken. Sie hatten die Nachschubgüter über Bord geworfen und Milizen der nördlichen Feudal herrschaften eingeschifft. Irgendein Spion oder Ver räter mußte ihnen das Erkennungssignal gegeben ha ben. So ungefähr mußte es gegangen sein. Und nun lag die Stadt fast wehrlos vor ihnen, die Garnison vor den südlichen Mauern in Abwehrkämpfe verwickelt und kaum ein Adept in der Esperzentrale. Und Laura allein mit dem Kind ... Danielis schaltete von Empfang auf Sendung und brüllte: »Wir kommen!« Lescarbault gab das Kom mando weiter, und die Brigade hinter ihm setzte sich in Bewegung. Sie stießen mit verzweifelter Wildheit auf das feindliche Bataillon und warfen es im Nebel mit Bajonett und Messer aus seinen Stellungen. Nach einer Stunde war das Rebellenbataillon bis auf ein paar Versprengte aufgerieben. Aber Danielis, der den
Angriff selbst angeführt hatte, war von einer Hand granate zerrissen worden. * Im Osten und Süden, im Hafengebiet und an den Stadtmauern, wurde immer noch gekämpft. Macken zie sah die Rauchschwaden, die brennenden und zer schossenen Häuser, und er hörte das unaufhörliche Knattern des Gewehrfeuers, das dumpfe Krachen der Granateneinschläge. Aber der größere Teil der Stadt lag weiß und scheinbar friedlich im Sonnenlicht, Dä cher und weiße Häuser im Gewebe der Straßen, das Bundeshaus auf dem Nob Hill und der Wachtturm auf dem Telegraph Hill, wie er sie von seinen frühe ren Besuchen her in Erinnerung hatte. Die weite Bucht glitzerte in der Sonne. Aber er hatte keine Zeit, die Aussicht zu genießen oder sich über Lauras Aufenthalt Gedanken zu ma chen. Der Angriff auf den Doppelhügel mußte schnell erfolgen denn die Esperzentrale würde sich ganz ge wiß nicht kampflos ergeben. Speyer führte die eine Hälfte der Rolling Stones, denn Yamaguchi war gefallen. Sie marschierten durch menschenleere Straßen, zwischen Häusern, de ren Rolladen und Fensterläden geschlossen waren. Der breite Boulevard, der zum Doppelhügel der Esperzentrale führte, zweigte von der Portola Road ab und stieg steil an. Die letzten Wohnhäuser blieben zurück. Weit voraus ragten die beiden schimmernden Wolkenkratzer auf, die innerhalb weniger Wochen errichtet worden waren. Mackenzie glaubte hinter sich ein vielstimmiges Gemurmel, ein allgemeines
Aufstöhnen zu hören. Mackenzie gab Befehl, die Geschützbatterien auf zustellen. Gleichzeitig formierten sich die Schützenli nien zum Angriff. Ein Horn schmetterte. Schweiß lief von Mackenzies Stirn und brannte in den Augen. Wenn er selbst getötet wurde, war es nicht so wichtig, nach allem, was geschehen war – aber das Regiment – sein Regiment. Weißliche Flammen schossen den Hang herunter. Die Luft zischte und brüllte. Das Straßenpflaster sank ein, die Steine schmolzen. Rauch und Gestank erfüllte die Luft. Mackenzies Pferd drängte zurück. Nur eine Warnung, offenbar. Aber würden sie sich mit einer Warnung begnügen, wenn sie genug Adepten hätten? Mackenzie gab der Artillerie Feuerbefehl. Die Geschütze spuckten Feuer und Rauch, nicht nur die kleinen Feldhaubitzen, sondern auch die motorisierten 75-mm-Geschütze, die man in der Stadt erbeutet hatte. Die Granaten orgelten durch die Luft, und ihre Explosionen hüllten das Ziel in schwärzli chen Rauch. Mackenzie bereitete sich auf einen neuen Psi-Stoß der Esper vor, aber keiner kam. Der steife Seewind nahm den Rauch mit sich, und Mackenzie sah große Löcher in den Türmen klaffen. Ihre schimmernden Fassaden waren stellenweise geschwärzt, hier und dort war die Verschalung weggerissen und gab den Blick auf unglaublich dünnes Gitterwerk frei. Er brüllte eine Reihe von Kommandos. Reiterei und Fußvolk setzten sich zögernd in Bewegung. Die Ar tillerie feuerte weiter, mit einer fast hysterischen Ge schwindigkeit. Mackenzie sah das Gebäude hinter den aufblitzenden Einschlägen zusammenstürzen.
Ganze Flächen der Fassade lösten sich und fielen herunter. Das Metallgerüst knickte ein und brach auseinander. Was war das? Was stand da im Innern des Gerü stes? Das Gitterwerk enthielt keine Etagen, keine Zimmer. Nur Verstrebungen, rätselhafte Maschinen und ein paar noch leuchtende Kugeln. Dahinter aber erhob sich eine mattschimmernde Säule, fast so hoch wie das ganze Gerüst, glatt und makellos und mit Seitenfinnen versehen. Es erinnerte an ein Raketenge schoß, war aber von unvorstellbarer Größe. Ihr Raumschiff, dachte Mackenzie. Ja, natürlich, vor der großen Zerstörung hatten die Alten angefan gen, Raumschiffe zu bauen, und unsere Wissen schaftler dachten immer, daß es wieder einmal dahin kommen würde. Aber dies hier ...! Die Bogenschützen stießen ein wildes Triumphge schrei aus. Infanterie und Kavallerie stimmten in das barbari sche Geheul ein. Beim Satan, wir haben die Sterne ge schlagen! Sie stürmten hügelaufwärts, das Geschütz feuer hörte auf, und ihre Schreie übertönten den Wind, der den bitteren Geschmack von Pulverrauch mit sich trug. Beim Näherkommen sah Mackenzie die blauge kleideten Gestalten einiger Esper tot zwischen den Trümmern liegen. Ein halbes Dutzend Überlebende drängten zum Raumschiff. Ein Bogenschütze ließ sei nen Pfeil fliegen. Das Geschoß glitt am Metall ab, aber die Esper blieben stehen. Die Soldaten stürmten über die Trümmer, um sie gefangenzunehmen. Mackenzie zügelte sein Pferd. Etwas, das nicht menschlich war, lag zerrissen neben einer Maschine.
Sein Blut war von tiefvioletter Farbe. Wenn die Leute dies gesehen haben, bedeutet es das Ende des Or dens, dachte Mackenzie. Er fühlte keinen Triumph. In St. Helena hatte er gelernt, die Integrität der Esper und ihre gemeinnützigen Ziele zu würdigen. Aber dies war nicht der Augenblick, sich dem Be dauern und der bestürzenden Erkenntnis hinzuge ben, daß er mitgeholfen hatte, eine für die Menschheit vielleicht fruchtbare Entwicklung zu zerschlagen und die Barbarei wieder einzuführen. Es galt, das einmal Begonnene zu Ende zu führen und sich und seine Soldaten zu schützen. Der Turm auf dem benachbar ten Hügel war noch intakt. Er mußte seine Position hier festigen und dann Phil zu Hilfe kommen, wenn es nötig werden sollte. Doch bevor er damit fertig war, krächzte es im Lautsprecher seines Funksprechgeräts, und Speyers entstellte Stimme sagte: »Komm herüber, Jimbo. Das Schauspiel ist vorbei.« Als er allein zum Nachbarhü gel hinüberritt, sah er die Rebellenfahne von einem provisorischen Mast vor dem Wolkenkratzer flattern. Nervöse und ängstliche Wachen liefen vor dem Portal herum und fuchtelten mit ihren Gewehren, wahrscheinlich, um sich selbst Mut zu machen. Mak kenzie stieg ab und ging hinein. Die Eingangshalle glich einem schimmernden Phantasiegebilde aus Far ben, Glas und kühn geschwungenen Bögen, in denen sich die Menschen wie Zwerge ausnahmen. Ein Kor poral führte ihn durch einen Korridor. Dieses Gebäu de hatte offenbar Wohnungen, Büros, Magazine und weniger verständliche Einrichtungen beherbergt. Dann kam er an eine mächtige Tür, die anscheinend mit einer Dynamitladung aufgesprengt worden war.
Die abstrakt gemusterten Wände waren beschädigt und geschwärzt. Vier bärtige, abgerissene Soldaten hielten ihre Gewehre auf zwei Wesen gerichtet, die Speyer gerade verhörte. Eins saß hinter einem tischähnlichen Gestell von gewaltigen Dimensionen. Sein Kopf war in sieben fingrigen Händen vergraben, und die rudimentären Flügel an den beiden Kopfseiten zuckten. Sie können weinen? fragte sich Mackenzie verblüfft. Er verspürte den Wunsch, dieses Wesen irgendwie zu trösten. Das andere stand aufrecht, in ein Gewand aus ge webtem Metall gekleidet. Riesige, topasfarbene Au gen begegneten Speyers Blick aus einer Höhe von na hezu drei Metern. Die Stimme verwandelte seine ak zentuierte Sprache in – Musik. »... zu einem Stern vom Typ G, etwa fünfzig Licht jahre entfernt. Er ist für das unbewaffnete Auge kaum sichtbar.« Speyers abgemagertes Gesicht stieß vor. Mackenzie mußte an einen großen, verhungerten Raubvogel denken. »Wann erwarten Sie Verstärkungen?« »Das nächste Schiff wird erst in knapp hundert Jah ren eintreffen, und es wird nur Personal bringen. Wir sind durch Raum und Zeit isoliert; nur wenige kön nen kommen, um hier zu arbeiten, um über diese großen Räume hinweg eine Brücke des Geistes zu bauen ...« »Ja.« Speyer nickte nüchtern. »Ich habe es mir schon gedacht. Die Lichtmauer ist die Grenze. Wenn Sie die Wahrheit sagen.« Das Wesen seufzte. »Es bleibt uns nichts anderes übrig, als die Wahrheit zu sprechen und zu hoffen, daß Sie unsere Motive verstehen und helfen werden.
Eroberung oder jede andere Form von Gewalttat lag noch nie in unserer Absicht und wäre angesichts des gewaltigen Abstands im Raum auch ganz unmöglich. Wir haben unsere Arbeit im Geist und in den Herzen der Menschen getan. Es ist noch nicht zu spät, auch jetzt noch nicht. Ich beschwöre Sie im Namen Ihrer und Ihrer Mitmenschen ungeborenen Kinder, zerstö ren Sie nicht das, was diesem Planeten endlich einmal den Frieden bringen wird.« Speyer nickte Mackenzie zu. »Alles in Ordnung?« fragte er. »Wir haben keinen Widerstand angetroffen. Ungefähr zwanzig von ihnen sind hier, dieser hier ist ihr Leiter. Anscheinend sind sie die einzigen auf der Erde.« »Wir haben uns schon gedacht, daß es nicht viele sein können«, sagte der Colonel tonlos. Seine Gefühle waren ausgebrannt. »Als wir über unsere Vermutun gen sprachen. Es konnten nicht viele sein, sonst hät ten sie offener gearbeitet.« »Hören Sie mich an«, bat das Wesen. »Wir sind in Liebe gekommen. Unser Traum war, Sie anzuleiten, Ihnen den Weg zu Frieden und Erfüllung zu zeigen, damit Sie ihn selbst weitergehen können. O ja, natür lich haben wir uns auch etwas davon versprochen. Wir hofften eine neue Rasse zu gewinnen, mit der wir eines Tages wie Brüder verkehren könnten. Im Uni versum gibt es viele Rassen. Es geschah hauptsäch lich im Interesse Ihrer eigenen gequälten und von Un frieden zerrissenen Welt, daß wir den Wunsch hatten, Ihnen den Weg zu einer besseren Zukunft zu zeigen.« »Die Idee vom kontrollierten Ablauf der Geschichte ist nicht Ihre alleinige Erfindung«, grunzte Speyer. »Wir haben sie hier auf Erden schon ein paar Male zu
verwirklichen versucht. Letztesmal führte es zum Atomkrieg. Nein danke.« »Weil Sie nie ernsthaft versucht haben, zuvor den Geist und die Herzen der Menschen zu ändern. Wir kennen Ihre Geschichte gut. Bei all diesen Bestrebun gen haben Liebe und Brüderlichkeit nie eine Rolle ge spielt, darum waren sie zum Scheitern verurteilt und mußten ins Chaos führen. Wir aber wissen es! Die Große Wissenschaft kann mit absoluter Gewißheit voraussagen ...« »Hat sie auch dies hier vorausgesagt?« Speyers Armbewegung umfaßte den rauchgeschwärzten Raum. »Rückschläge sind unvermeidlich. Wir sind zu we nige, um so viele Barbaren zu kontrollieren. Wir wollen Sie ja überzeugen, zur Mitarbeit gewinnen, nicht beherrschen. Haben nicht auch Sie den Wunsch, daß der Krieg von diesem Planeten verschwindet, und mit ihm all das unermeßliche Leid vergangener Epochen? Ich biete Ihnen das Mittel hierzu, als Ge genleistung für Ihre Hilfe.« »Sie haben selbst an einem ziemlich üblen Krieg teilgenommen«, sagte Speyer. »Was blieb uns anderes übrig? Nach der gewaltsa men Besetzung der Espersiedlung St. Helena mußten wir um den Bestand unserer geduldigen Aufbauar beit fürchten. Der Plan bleibt bestehen; es ist der ein zige Weg, Ihre Mitmenschen zum Frieden zu führen. Ich, der ich zwischen Sonnen gereist bin, werfe mich Ihnen zu Füßen und bitte Sie ...« »Bleiben Sie stehen!« erwiderte Speyer. »Wenn Sie wenigstens offen gekommen wären, wie anständige Leute, hätte die Welt vielleicht auf Sie gehört. Aber
nein, Sie mußten im geheimen arbeiten. Sie wußten, was gut für uns ist, aber wir sollten dabei nicht ge fragt werden. Gott im Himmel, ich habe noch nie et was so Arrogantes gehört!« Das Wesen machte eine unbestimmte Bewegung. »Erzählen Sie Ihren Kindern die ganze Wahrheit?« »Soviel, wie sie zu verstehen gelernt haben.« »Der infantile Zustand Ihrer allgemeinen Geiste sentwicklung bedingt, daß die Menschen ebenso all mählich an diese Wahrheiten herangeführt werden.« »Wer gibt Ihnen das Recht, uns Kinder zu nennen – außer Ihnen selbst?« »Woher wissen Sie, daß Sie erwachsen sind?« »Indem ich Verantwortung übernehme und her ausfinde, ob ich ihr gewachsen bin. Natürlich, wir haben furchtbare Fehler gemacht, wir Menschen. Man kann uns deswegen mit einigem Recht unreif nennen. Aber Sie wollen zum Beispiel den zentrali sierten Staat wiederherstellen, nicht wahr? Haben Sie sich nie überlegt, ob nicht eine Welt voll kleiner Staaten für uns Menschen besser ist? Wir haben hier auf der Erde immer Riesenreiche geschaffen, und wir haben sie immer wieder in Stücke geschlagen. War um keine kleinen Staaten, zu fest verwurzelt, um sich in große Nationen aufzulösen, zu klein, um viel Un heil anzurichten – tausend verschiedene Versuche, unsere Gemeinschaftsprobleme zu lösen.« »Das klingt nicht übel«, sagte das Wesen, »aber die Entwicklung kümmert sich nicht um gute Vorsätze. Machtgier und Gewinnsucht werden immer wieder dazu führen, daß die Staaten einander bekriegen und sich auf Kosten anderer vergrößern. So ist es seit fünftausend Jahren gegangen, und am Ende wird die
Erde wieder von Kriegen zerrissen sein.« Speyer seufzte. »Vielleicht haben Sie recht. Jimbo, was sollen wir mit diesen Leuten anfangen?« Mackenzie betrachtete zweifelnd Speyers schwit zendes Gesicht. »Nun, die Ideale der Esper sind nicht so übel, würde ich sagen. Man sollte sie weiterarbei ten lassen und sehen, was daraus wird. Diese Leute hier können den Orden von mir ans auch weiterhin anleiten, aber offen und ohne Geheimniskrämerei. Wenn die Menschen die Wahrheit über dies alles er fahren, wird sich schon herausstellen, ob sie sich enttäuscht abwenden oder nicht.« Er richtete seinen Blick auf das Wesen. »Aber wir werden Ihre Wun derwaffen beschlagnahmen und vernichten. Die Be völkerung wird über Sie unterrichtet werden, sobald Richter Brodsky wieder im Amt ist, nicht früher. Das Regiment wird heute informiert, die Stadt morgen, nur um sicherzugehen, daß niemand auf die Idee kommt, die einfachen Tatsachen durch abenteuerliche Legenden und Mythen zu ersetzen. Sie und Ihre Adepten werden sich in Zukunft auf die bloße Über zeugungskraft Ihrer Ideen und des guten Beispiels beschränken müssen. Wenn Sie damit nicht zufrieden sind, müssen Sie unseren Planeten wieder verlassen. Dieser Platz bleibt unter Bewachung.« Mackenzie warf Speyer einen kurzen Blick zu. »Was sagst du da zu? Einverstanden?« »Klar.« Speyer atmete auf. »Das scheint mir eine faire Lösung zu sein. Und die feindlichen Truppen in den anderen Landesteilen werden bald kapitulieren. Sie haben nach dem Fall von San Francisco nichts mehr, wofür zu kämpfen sich lohnen würde. Wir werden bald mit dem Neuaufbau beginnen können.«
Das Wesen hob seinen geflügelten Kopf und blickte Mackenzie an. »Ich danke Ihnen, daß Sie unsere Ar beit nicht zerstören wollen. Wir werden uns Ihres Vertrauens würdig erweisen. Sie werden sehen, daß wir Ihre Brüder sind, daß wir nichts wollen als Liebe und Frieden, hier und im ganzen Universum.« * Es war ein weißgetünchtes Haus mit einem kleinen Garten dahinter. Die Straße lag still im Sonnenlicht. Eine alte Frau führte Mackenzie durch das Haus zum Garten und ging. Er bewegte sich langsam auf Laura zu, die auf einer Bank unter Büschen saß. Sie sah ihn kommen, stand aber nicht auf. Neben sich hatte sie eine Wiege. Er blieb stehen und wußte nicht, was er ihr sagen sollte. Wie dünn und abgehärmt sie war! Sie sagte so leise, daß er sie kaum hören konnte: »Tom ist tot.« »Nein!« Vor seinen Augen wurde es dunkel. »Ich habe es vorgestern erfahren, als seine Brigade in die Stadt kam. Er ist bei einem Gefecht im San-BrunoGebirge gefallen.« Mackenzie wagte nicht, sich zu ihr zu setzen, aber seine Beine wollten ihn nicht mehr tragen. Er ließ sich auf die steinerne Einfassung eines Blumenbeetes nie der und starrte auf seine staubigen Stiefel. Ihre tonlo se Stimme ging über ihn hinweg: »War es das wert? Nicht nur Tom, so viele andere wurden getötet. Und warum? Wegen einer politischen Auseinanderset zung.« »Es stand viel auf dem Spiel«, sagte er.
»Ja, ich habe darüber im Radio gehört. Aber ich kann immer noch nicht glauben, daß es die Opfer wert war. Ich habe mir die Mühe gegeben, aber ich kann es nicht.« Er hatte nicht die Kraft, sich zu verteidigen. »Viel leicht hast du recht, Kind. Ich weiß es selbst nicht.« »Es ist nicht aus Selbstmitleid«, sagte sie. »Ich habe noch Jimmy. Aber Tom wurde um so vieles ge bracht.« Er begriff erst jetzt, daß da noch ein Baby war. Sein Enkelkind. Vielleicht sollte er es in seine Arme neh men und daran denken, daß das Leben weiterging. Aber er war zu leer. »Tom wollte, daß er deinen Namen bekommt.« Du auch, Laura? dachte er. Laut sagte er: »Was willst du jetzt tun?« »Ich werde irgend etwas finden.« Er zwang sich, zu ihr aufzublicken. Die Sonne lag auf ihrem Gesicht, das jetzt zu dem Kind gewandt war. »Komm zurück nach Nakamura«, sagte er. »Nein. An jeden anderen Ort.« »Du hast die Berge immer geliebt«, tastete er unbe holfen. »Wir ...« »Nein.« Sie sah ihm in die Augen. »Es ist nicht dei netwegen, Papa. Aber Jimmy soll nicht unter Solda ten aufwachsen und später selber einer werden.« Sie zögerte. »Ich bin sicher, daß die Esper weitermachen werden, auf einer neuen Basis vielleicht, aber mit denselben Zielen. Ich glaube, wir sollten ihnen bei treten. Er soll an etwas anderes glauben als an das, was seinen Vater getötet hat. Und er soll dafür arbei ten, daß es Wirklichkeit wird. Stimmst du mir zu?« Mackenzie kam schwerfällig und unsicher auf die
Füße. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich war noch nie ein Denker ... Darf ich ihn sehen?« »Oh, Papa ...« Er trat zu ihr und beugte sich über das kleine schla fende Wesen. »Wenn du wieder heiratest«, sagte er, »und eine Tochter bekommst, würdest du sie dann nach ihrer Mutter nennen?« Er sah, wie Laura den Kopf neigte und ihre Hände sich verkrampften. Schnell fügte er hinzu: »Ich werde jetzt gehen. Ich würde dich gern wieder besuchen, morgen oder ir gendwann, wenn es dir recht ist.« Da kam sie in seine Arme und weinte. Er strich über ihr Haar und murmelte zärtliche Worte, wie er es getan hatte, als sie noch ein Kind gewesen war. »Du möchtest doch gern in die Berge zurückkehren, nicht wahr? Sie sind auch deine Heimat, das Land, wo du hingehörst.« »Du weißt nicht, wie gern ich es täte.« »Warum tust du es dann nicht?« rief er. Seine Tochter richtete sich auf. »Ich kann es nicht«, sagte sie entschlossen. »Dein Krieg ist zu Ende. Mei ner hat gerade erst begonnen.« In seiner Hilflosigkeit konnte er nur sagen: »Ich hoffe, daß du ihn gewinnst.« »Vielleicht in tausend Jahren ...« Sie konnte nicht weitersprechen. Die Nacht war gekommen, als er sie verließ. Die Straßenbeleuchtung funktionierte noch nicht, und die Sterne funkelten hell über den Dächern der Stadt. Die Patrouille, die darauf gewartet hatte, ihren Colonel zum Quartier zu begleiten, sah im flackernden Later nenlicht wie eine Bande von Strauchdieben aus. Sie salutierten und ritten mit schußbereiten Gewehren
hinter ihm die Straße hinauf. Aber es blieb still. Nur das Klingen der Hufeisen auf dem Straßenpflaster hallte von den Hauswänden wider.
Wendepunkt Kassiopeia
»Bitte, Mister, könnte ich eine Brezel für mein Ontat herium haben?« Das sind nicht gerade Worte, die man in einem Augenblick erwartet, wo die Geschichte ihren Lauf verändert und das Universum nie wieder das sein kann, was es war. Kein phantasiebegabter Mensch kann sich eines Erschauerns erwehren, wenn er sich den Tag vergegenwärtigt, an dem Kolumbus die Neue Welt entdeckte; oder den Augenblick, da Kon stantin der Große die Vision sah: »In diesem Zeichen wirst du siegen«. Aber um auf das zurückzukommen, was die kleine Mierna zu uns sagte, auf jener Insel, ein halbes Tausend Lichtjahre von unserer Heimat entfernt ... Der Stern ist unter der Nummer AGC 4256836 ka talogisiert, ein weißer Zwerg der Gruppe K 2 im Sternbild Kassiopeia. Unser Raumschiff befand sich auf einer normalen Forschungsreise in dieser Region, und wir hatten schon genug Geheimnisvolles gefun den. Wie leicht vergessen wir Erdbewohner, daß je der Planet eine vollständige Welt für sich ist, die eine isolierte Entwicklung von einigen Milliarden Jahren hinter sich hat! Aber für die phantastischen Maßstäbe dieses Kosmos war uns doch nichts eigentlich Außer gewöhnliches widerfahren. Die Handelsexperten hatten einige Orte gefunden, die einer näheren Untersuchung wert zu sein schie nen. Dasselbe galt für die Naturwissenschaftler. Die Listen waren allerdings nicht ganz identisch. Nach einem Jahr war die Mannschaft ermüdet und
ruhebedürftig. Wir brauchten eine günstige Lande möglichkeit, einen Platz, wo wir uns vor der langen Heimreise ein paar Wochen erholen und notwendige Reparaturen am Raumschiff vornehmen konnten. Es ist eine Kunst, einen solchen Platz zu finden. Man be sucht diejenigen Sonnensysteme, deren Zentralsterne geeignet erscheinen. Wenn man dort einen Planeten antrifft, dessen physikalische Bedingungen erdähn lich sind, untersucht man die biologischen Verhält nisse und nimmt mit den Bewohnern Verbindung auf, wenn welche da sind. Primitive werden bevor zugt. Das geschieht nicht aus militärischen Erwägun gen, wie manche denken. Unsere Handelsexperten verweisen darauf, daß primitive Wesen gewöhnlich nichts dagegen haben, wenn man auf ihrem Land Stationen einrichtet, während die Militärs der Ansicht sind, daß jemand, der die Atomenergie noch nicht entdeckt hat, keine Gefahr darstellt, gleichgültig, ob er eine Zivilisation entwickelt hat oder nicht. Im Grunde geschieht es nur, weil Primitive keine kom plizierten Fragen zu stellen pflegen oder auf andere Weise lästig werden. Unsere Raumfahrer sind be glückt, daß Planeten mit Maschinenzivilisationen so selten sind. Nun, Joril sah einfach ideal aus. Es war der zweite Planet jenes Sonnensystems, hatte mehr Wasser als die Erde und bot überall ein angenehmes Klima. Die Biochemie ähnelte so sehr unserer eigenen, daß wir die dort vorkommenden Nahrungsmittel essen konnten, und überdies schien es keine Krankheits keime zu geben, mit denen UX-2 nicht fertig wurde. Seen, Wälder und Wiesen bildeten eine anheimelnde Umgebung, doch die zahllosen Unterschiede zu un
serer irdischen Vegetation verliehen ihr den Reiz ei nes Märchenlandes. Die Bewohner waren Wilde, das heißt, sie ernährten sich durch Jagd, Fischfang und das Sammeln wildwachsender Früchte. So nahmen wir an, daß es auf diesem Planeten Tausende kleiner Stammeskulturen geben mußte und suchten uns die jenige aus, die am weitesten fortgeschritten zu sein schien. Nicht, daß die Luftbeobachtung nennenswerte Unterschiede gezeigt hätte. Diese Leute lebten in sauberen, künstlerisch ausge stalteten Dörfern an der Westküste des größten Kon tinents, mit Wäldern und Hügeln im Hinterland. Der Kontakt entwickelte sich zufriedenstellend. Unsere Sprachforscher hatten einige Mühe mit ihrem Idiom, aber die Dorfbewohner begannen sofort, unsere Spra che zu erlernen. Ihre Gastfreundschaft war überwäl tigend, wann immer wir sie besuchten, aber sie hiel ten sich von unserem Lager fern, wenn wir nicht ge rade Führungen veranstalteten oder Einladungen aussprachen. Glücklich und mit unserer Wahl über aus zufrieden ließen wir uns nieder. Aber von Anfang an gab es gewisse, beunruhigen de Symptome. Obgleich sie menschenähnliche Kehlen und Zungen besaßen, hatten wir doch nicht im ent ferntesten erwartet, daß die Eingeborenen unsere Sprache innerhalb einiger Wochen fehlerlos be herrschten. Jeder von ihnen. Offenbar hätten sie sie noch viel schneller gelernt, wenn wir sie ihnen syste matisch beigebracht hätten. Wir folgten der üblichen Praxis und tauften den Planeten »Joril«, weil es die lokale Bezeichnung war. Die Leute hatten eine ausge zeichnete Astronomie entwickelt, in der ihre Sonne den Mittelpunkt des Alls darstellte. Obwohl sie zu
höflich waren, um sich uns aufzudrängen, akzeptier ten sie uns nicht einfach als etwas Unerklärliches; ihre Neugier ruhte keinen Augenblick, und wenn wir ih nen die Gelegenheit gaben, stellten sie uns die uner wartetsten und verzwicktesten Fragen. Nachdem wir uns eingerichtet und Zeit zum Nachdenken hatten, wurde uns klar, daß wir hier auf etwas gestoßen waren, das eingehender Studien würdig war. Zuerst galt es, andere Gegenden des Planeten zu besuchen und sicherzustellen, daß die Kultur dieser Dannikars, wie sie sich selbst nannten, keine abnorme Sonderentwicklung war. Schließlich waren auch die Mayas mit ihrer steinzeitlichen Kul tur gute Astronomen gewesen; die alten Griechen der beginnenden Eisenzeit hatten auf der Grundlage ein facher Ackerwirtschaft eine großartige Kunst und ei ne hochentwickelte, ja einmalige Philosophie hervor gebracht. Nach Durchsicht der Karten, die wir wäh rend unserer Umkreisungen des Planeten angefertigt hatten, wählte Kapitän Barlow eine große Insel aus, die ungefähr siebenhundert Kilometer westlich von unserem Landeplatz lag. Das kleine Tochterschiff wurde ausgerüstet, und fünf Mann gingen an Bord. Pilot: Jacques Lejeune. Ingenieur: ich. Militärtech niker: Kommandant Ernst Baldinger von der interna tionalen Raumfahrtbehörde. Wissenschaftlicher Be rater: Walter Vaughan. Handelsagent: Don Harasz thy. Wir starteten kurz nach Sonnenaufgang, um die vollen achtzehn Stunden Tageslicht auszunutzen. Ich erinnere mich, wie schön der Ozean unter uns aus sah, wie eine riesige Metallscheibe, silbern, wo das Sonnenlicht auftraf, kobalt und kupfergrün an ande
ren Stellen. Dann tauchte die Insel über den Horizont, dunkel bewaldet und von den gigantischen Blüten rotblühender Bäume gesprenkelt. Lejeune suchte eine Waldlichtung, ungefähr zwei Kilometer von einem Küstendorf entfernt, dann legte er ein gewagtes Lan demanöver hin. »Da wären wir.« Haraszthy erhob sich zu seiner vollen Länge von zwei Metern und reckte sich, daß seine Gelenke knackten. Seine Breite paßte zu seiner Größe, und sein hakennasiges Gesicht trug die Spu ren früherer Kämpfe. Die meisten Handelsagenten sind harte, extrovertierte Pragmatiker; das bringen die Geschäfte mit sich. »Gehen wir also.« »Nicht so hastig«, sagte Vaughan, ein schlanker jüngerer Mann mit durchdringenden Augen. »Der Stamm hat noch nie von unsereinem gesehen oder gehört. Wenn sie unsere Landung beobachtet haben, sind sie vielleicht in Panikstimmung.« Haraszthy zuckte die Achseln. »Dann werden wir ihnen eben heraushelfen.« »Wir alle?« fragte Baldinger. »Nein, das hat keinen Zweck. Ich habe schließlich die Verantwortung für unsere Sicherheit. Lejeune und Cathcart, ihr bleibt hier. Wir anderen gehen ins Dorf.« »Einfach so?« protestierte Vaughan. »Weißt du eine bessere Lösung?« fragte Haraszthy. Vaughan begann eine längere Erklärung, aber nie mand hörte zu. Wir alle waren ungeduldig, hinaus zukommen, und ich bedauerte, daß ich nicht mitge hen durfte. Immerhin, jemand mußte bleiben, um un sere Waffen einsetzen zu können, falls sich ernsthafte Schwierigkeiten ergaben. Wir sprangen in tiefes Gras, und ein Wind um
wehte uns, der stark nach Zimt roch. Ringsum ragten Bäume in einen tiefblauen Himmel; rötliches Sonnen licht umspielte purpurne Wildblumen und schim merte auf den bronzefarbenen Flügeln handgroßer Insekten. Ich atmete tief durch, bevor ich mich zu sammen mit Lejeune daran machte, den sicheren Stand unseres Schiffes zu überprüfen. Wir waren alle leicht gekleidet. Baldinger trug ein Schnellfeuerge wehr und Haraszthy ein Funksprechgerät, mit dem wir die Verbindung mit Dannikar aufrechterhalten konnten, aber beides erschien in diesem Augenblick lächerlich unzureichend. »Ich beneide die Jorillier«, bemerkte ich. »Ich auch, in mancher Hinsicht«, erwiderte Lejeu ne. »Obwohl ihre Umweltbedingungen vielleicht zu günstig sind. Welches Stimulans haben sie, um sich weiterzuentwickeln?« »Warum sollten sie? Sie wären schön dumm, wenn sie ihren herrlichen Planeten durch eine Zivilisation verschandeln würden.« »Natürlich wollen sie das nicht, jedenfalls nicht bewußt, mein Alter. Aber jede intelligente Rasse stammt von Tieren ab, die einmal schwer um ihr Überleben zu kämpfen hatten, so schwer, daß sie ge zwungen waren, ihre Gehirne zu entwickeln ...« »Heiliges Kanonenrohr!« Haraszthys Schrei veranlaßte Lejeune und mich, um das Schiff herum zur anderen Seite zu rasen. Ei nen Augenblick lang glaubte ich zu träumen. Dann fand ich, der Anblick sei schließlich doch nicht so seltsam – hier. Ein Mädchen war aus dem Wald getreten. Sie hatte ungefähr die Größe eines fünfjährigen Menschenkin
des. Kaum einen Meter groß – die Jorillier entspre chen in Größe und Körperbau etwa unseren Pygmäen – hatte sie den übergroßen Kopf ihrer Rasse, was sie noch elfenähnlicher erscheinen ließ. Lange blonde Haare, runde Ohren, beinahe menschliche Gesichts züge, abgesehen von der übermäßig hohen Stirn, und große violette Augen verliehen ihr einen seltsamen Charme. Ihr braunhäutiger Körper war nur mit einem weißen Lendenschurz bekleidet. Sie winkte uns mit einer vierfingrigen Hand; lebhaft zu. Mit der anderen hielt sie einen Strick, an dessen anderem Ende ein Grashüpfer von der Größe eines Nilpferds war. Nein, kein Grashüpfer, sah ich, als sie näher tanzte. Der Kopf sah ähnlich aus, aber die sechs Beine waren kurz und gedrungen und die übrigen Anhängsel weich und ohne erkennbare Funktion. Sein farben prächtiger Körper war mit Haut überzogen, nicht mit Chitin. Auch sah ich jetzt, daß dieses Wesen mit Lun gen atmete. Nichtsdestoweniger war es ein erschrek kendes Monstrum. »Eine Gattung, die auf diese Insel beschränkt zu sein scheint«, sagte Vaughan. »Zweifelsohne völlig harmlos, sonst würde sie es nicht ... Aber ein Kind, und es kommt so unbefangen daher ...!« Baldingergrinsteundließ seinGewehr sinken. »Zum Teufel«,sagte er, »für ein Kind ist alles gleich wunder bar. Eine günstige Gelegenheit für uns. Sie wird uns ihren Eltern und den Dorfbewohnern empfehlen.« Das kleine Mädchen – ich weiß nicht, wie ich sie sonst bezeichnen sollte – ging nahe an Haraszthy her an, drehte ihre großen Augen nach oben, bis sie auf sein Piratengesicht gerichtet waren, und trillerte mit einem unwiderstehlichen Lächeln:
»Bitte, Mister, könnte ich eine Brezel für mein On tatherium haben?« * An die nächsten Minuten kann ich mich nicht mehr ganz klar erinnern. Sie waren zu verwirrend. Kurz darauf fanden wir uns, alle fünf Besatzungsmitglie der, auf einem sonnenlichtgesprenkelten Waldpfad wieder. Das Mädchen tanzte neben uns her und schnatterte wie ein Xylophon. Das Untier tappte schwerfällig hinterdrein und kaute geräuschvoll auf den Dingen, die wir ihm gegeben hatten. Als das Sonnenlicht auf die violetten Augen des Mädchens fiel, mußte ich an eine Juwelenschatulle denken. »Ich heiße Mierna«, sagte das Mädchen, »und mein Vater macht Dinge aus Holz, ich weiß nicht mehr, wie man das in Ihrer Sprache nennt, bitte sagen Sie es mir. O ja, Zimmermann, Dankeschön, Sie sind ein netter Mann. Mein Vater denkt viel. Meine Mutter macht Lieder, sehr hübsche Lieder. Ich wollte Gras holen, aber als ich Sie herunterkommen sah, wie Pengwil es erzählt hatte, wußte ich, daß ich Ihnen Guten Tag sagen und Sie nach Taori bringen muß. Das ist unser Dorf. Wir haben fünfundzwanzig Häu ser. Und Schuppen und eine Denkhalle, die noch größer ist als die in Riru. Pengwil hat uns erzählt, daß Brezeln wunderbar schmecken. Könnte ich auch eine haben?« Haraszthy erfüllte ihre Bitte. Er war wie betäubt. Vaughan schüttelte sich und fragte beinahe ärgerlich: »Wie kommt es, daß du unsere Sprache verstehst und sprechen kannst?«
»Wieso, das kann jeder in Taori. Seit Pengwil kam und sie uns gelehrt hat. Das war vor drei Tagen. Wir haben gehofft, daß Sie kommen würden! Die Leute in Riru werden neidisch sein! Aber wir lassen sie zu Be such kommen, wenn sie uns höflich darum bitten.« »Pengwil ... ein dannikarischer Name«, murmelte Baldinger. »Aber sie hatten noch nie von dieser Insel gehört, bis ich ihnen unsere Karte zeigte. Und sie können mit ihren Einbäumen doch nicht den Ozean überqueren! Die vorherrschende Windrichtung steht gegen sie, und diese viereckigen Segel ...« »O, Pengwils Boot kann direkt in den Wind se geln«, lachte Mierna. »Ich habe ihn selbst gesehen, er hat alle Leute aus dem Dorf zu Fahrten eingeladen. Und jetzt macht mein Vater genauso ein Boot, nur besser.« »Warum ist Pengwil gekommen?« forschte Vaug han. »Um zu sehen, wie es hier ist. Er kommt aus einem Dorf, das Folat heißt. In Dannikar haben sie wirklich komische Namen, und sie ziehen sich auch sehr merkwürdig an, finden Sie nicht auch, Mister?« »Folat ... ja, ich erinnere mich, das ist ein Dorf nördlich von unserem Lager«, sagte Baldinger. »Aber Wilde fahren doch nicht aus Neugier über einen unbekannten Ozean«, stammelte ich. »Diese tun es«, grunzte Haraszthy. Man konnte fast sehen, wie seine Gedankengänge waren. Hier boten sich ungeheure kommerzielle Möglichkeiten. Nah rungsmittel, Textilien, und besonders dieses phanta stische Kunsthandwerk. Als Ausgleich könnte man ... »Nein!« rief Vaughan aus. »Ich weiß, was du denkst, Haraszthy. Du verdammter Krämer, du wirst
hier keine Maschinen herbringen!« Der große Mann warf seinen Kopf in den Nacken. »Wer sagt das?« »Ich, und dabei habe ich die Autorität der Wissen schaft hinter mir. Und ich bin überzeugt, daß der Rat für extraterrestrische Angelegenheiten meine Ent scheidung gutheißen wird.« Leiser fügte er hinzu. »Wir können es nicht riskieren.« »Was ist ein Rat?« fragte Mierna. Der Schatten ei nes Zweifels ging über ihr Gesicht. Sie schob sich nä her an ihr mächtiges Tier heran. Ich streichelte ihren Kopf und murmelte: »Nichts, worüber du dir Sorgen machen müßtest, Kind.« Um ihre Gedanken – und auch die meinen – von vagen Befürchtungen abzulenken, fragte ich sie: »Warum nennst du diesen Burschen ein Ontatherium? Das kann doch nicht sein wirklicher Name sein.« »O nein.« Sofort vergaß sie ihre Sorgen. »Er ist ein Yao, und Ontatherium ist nur mein Name für ihn. Er gehört mir, und er ist lieb.« Sie zog an einem der lan gen Fühler. Das Ungeheuer fing tatsächlich an zu schnurren. »Wer hat erklärt, daß die Endung ›therium‹ in der Biologie für Säugetiere steht?« fragte ich. Niemand wußte es, aber zweifellos hatte einer unserer Wissen schaftler das Wort in irgendeinem Zusammenhang erwähnt. Und die kleine Mierna hatte es von einem fremden Seefahrer zufällig aufgeschnappt und abso lut korrekt angewendet. Denn ungeachtet seiner Fühler und der insektenähnlichen Augen war der Yao ein echtes Säugetier. Nach einer Weile kamen wir auf eine gerodete Flä che, die sanft abfallend zu einer Meeresbucht über
leitete. Am Rand der glitzernden Wasserfläche lag das Dorf, Häuser aus Holz, deren schilfgedeckte Dä cher schnabelförmig aufgebogen waren. Der Stil war ein anderer, als wir in Dannikar beobachtet hatten, aber darum nicht weniger hübsch. Alles machte einen wohlgepflegten, sauberen Eindruck. Auslegerkanus waren auf den Strand gezogen, wo Fischernetze zum Trocknen hingen. Etwas abseits war ein anderes Boot im Wasser verankert. Der geschwungene, buntbe malte Rumpf, die zwei Steuerruder zu beiden Seiten, die Mattensegel und die Takelung aus Lederstreifen hätten auf unserer übermechanisierten Erde einen eher primitiven Eindruck gemacht. Aber das Boot be saß Gaffeltakelung und ganz offensichtlich einen Kiel, der es nicht zuließ, daß man es wie die anderen Boote an Land zog. »Ich habe mir fast so etwas gedacht«, sagte Baldin ger mit unsicherer Stimme. »Dieser Pengwil hat ein praktisches Boot gebaut und das Kreuzen gegen den Wind entdeckt. So konnte er das Meer in einer Woche oder so überqueren.« »Er hat auch die Navigation erfunden«, ergänzte Lejeune. Die Dorfbewohner, die uns nicht landen gesehen hatten, ließen jetzt ihre Arbeiten liegen – Kochen, Weben, Schnitzen, die zahllosen Tätigkeiten der Pri mitiven – und kamen gerannt. Alle waren ebenso ein fach gekleidet wie Mierna. Abgesehen von den gro ßen Köpfen, den seltsamen Händen und Ohren und den etwas anderen Körperproportionen, waren die Frauen ein durchaus erfreulicher Anblick; zu erfreu lich nach jahrelangem Zölibat. Die bartlosen, langhaa rigen Männer waren auf ihre Weise ebenso gutausse
hend, und beide Geschlechter bewegten sich ge schmeidig wie Katzen. Es gab kein Geschrei und kein Gedränge. Nur un ten am Strand erklang ein Horn. Mierna rannte zu ei nem älteren Mann, faßte ihn bei der Hand und zog ihn näher. »Das ist mein Vater«, krähte sie triumphie rend. »Ist er nicht wunderbar? Und er denkt so viel. Sein jetziger Name ist Sarato, aber sein letzter Name gefiel mir besser.« »Man wird des gleichen Wortes allmählich müde«, sagte Sarato lächelnd. »Willkommen, Erdleute. Es ist uns eine große ... Lula ... pardon, das Wort ist mir ent fallen. Sie erheben uns hoch durch Ihren Besuch.« Sein Händedruck – Pengwil mußte ihn über diese Sitte unterrichtet haben – war hart, und seine Augen begegneten uns respektvoll, aber ohne Furcht. Die Dorfgemeinschaften der Dannikarier ließen ih re wenigen Regierungsangelegenheiten von Speziali sten wahrnehmen, die auf der Basis von Tests ausge wählt wurden, deren Sinn wir noch nicht verstanden hatten. Aber diese Leute schienen nicht einmal das zu kennen. Jeder wurde uns mit seinem Beruf vorge stellt: Jäger, Fischer, Musikant, Prophet und so fort. Tabus waren hier ebenso unbekannt wie in Dannikar, aber es gab dafür genau ausgearbeitete Regeln der Umgangsformen. Selbstverständlich begriffen diese Leute, daß sie von uns nicht erwarten konnten, daß wir uns an diese Regeln hielten. Pengwil, ein kräftiger jüngerer Mann in der Tunika seines Stammes, begrüßte uns mit großer Freude. Es war kein Zufall, daß er am gleichen Punkt angekom men war wie wir. Taori lag fast genau westlich von seinem Heimatdorf, und seine Bucht war weit und
breit der beste Ankerplatz. Er zersprang fast vor Be gierde, uns sein Boot zu zeigen. Ich tat ihm den Ge fallen, schwamm mit ihm hinaus und kletterte an Bord. »Gute Arbeit!« sagte ich mit ehrlicher Bewun derung. »Aber ich habe einen Vorschlag. Wenn Sie an Küsten entlangsegeln, brauchen Sie keinen festen Kiel.« Ich beschrieb ihm ein Schwert. »Wenn Sie so ein Schwert anstelle des Kiels verwenden, können Sie das Boot auch an Land ziehen.« »Ja. Sarato hat daran gedacht, als er meine Arbeit sah. Er hat schon ein Boot nach diesem Muster ange fangen. Er will außerdem auch die Steuerruder auf beiden Seiten abschaffen und dafür am Heck ein fla ches,drehbaresStück Holz anbringen. Ist das richtig?« »Ja«,sagteich nach einem Augenblick des Würgens. Wir schwammen zurück und legten unsere Kleider an. Das Dorf war in Aufregung. Man bereitete uns zu Ehren ein Fest vor. Während Pengwil vorauseilte, blieb ich allein zurück und wanderte den Strand ent lang, zu sehr von innerer Unruhe erfüllt, um mich zu setzen. Ich starrte über das Wasser hinaus, atmete die frische Ozeanluft, die der auf unserer Erde so ähnlich war, und dachte seltsame Gedanken. Sie wurden von Mierna unterbrochen. Sie lief zum Strand herunter und zog einen kleinen Wagen hinter sich her. »Hallo, Mister Cathcart!« rief sie. »Ich muß Seetang sammeln, als Gemüse. Wollen Sie mir helfen?« »Gern«, sagte ich. Sie zog eine Grimasse. »Ich bin froh, hier zu sein. Vater und Kuaya und viele andere fragen Mister Le jeune über Mathematik aus. Ich bin noch zu jung, als daß mir Integralfunktionen gefallen könnten. Lieber höre ich Mister Haraszthy von der Erde erzählen,
aber er spricht mit seinen Freunden in einem Haus. Wollen Sie mir von der Erde erzählen? Kann ich eines Tages hinfliegen?« Ich murmelte etwas. Sie begann blättrige Ranken aufzusammeln, die das Meer ans Ufer gespült hatte. »Früher hat mir diese Arbeit nicht gefallen«, plau derte sie munter. »Ich mußte so oft hin und her lau fen. Und mein Ontatherium durfte ich nicht mitneh men, weil es sich so leicht erkältet. Ich sagte, ich wür de ihm Schuhe machen, aber sie sagten nein. Jetzt macht es Spaß, mit diesem Ding, diesem – wie nen nen Sie es?« »Wagen. Habt ihr so etwas noch nicht gehabt?« »Nein, nie. Nur Schleifgestelle. Pengwil hat uns von Rädern erzählt. Er hatte sie bei den Erdleuten ge sehen. Der Zimmermann Huanna hat sofort angefan gen,solcheWagen zu bauen. Wir haben erst ein paar.« Ich sah mir den Wagen an, solide aus Holz ge schnitzt. Die beiden Seitenwände waren mit Halbreli efs geschmückt, die eine Prozession oder etwas Ähn liches zeigten. Die Räder waren nicht einfach auf die Achsen gesteckt. Mit ihrer Erlaubnis nahm ich die Nabe von einem Rad ab und sah einen Ring harter, kugelförmiger Nüsse um die Achse liegen. Soweit ich wußte, hatte niemand von uns mit Pengwil über Ku gellager gesprochen. »Ich habe gedacht und gedacht«, sagte Mierna. »Wenn wir einen großen Wagen bauen würden, könnte er von einem Yao gezogen werden, nicht? Aber wir brauchen eine praktische Methode, ihn an zubinden, damit man ihn lenken kann und er nicht verletzt wird. Jetzt weiß ich, wie man es machen kann.« Sie bückte sich und zog Linien im Sand. Ein
Zuggeschirr, das sicherlich seinen Zweck erfüllen würde. Mit voll beladenem Wagen kehrten wir zu den Häusern zurück. Ich verlor mich in der Bewunderung der geschnitzten Pfosten, Simse und Giebel. Sarato kam aus dem Haus, wo er mit anderen Dorfbewoh nern und Lejeune die Gruppentheorie diskutiert hat te. Die Eingeborenen kannten sie bereits, und das Ge spräch hatte nur die verschiedenen Lösungsmetho den behandelt. Wir gingen zu seinem Haus, wo er mir seine Obsidianwerkzeuge zeigen wollte. Nach seinen Worten handelten die Küstenbewohner das Material im Inland ein. Dann fragte er, ob wir ihm Metall geben könnten. Oder ob ich so gütig sein wol le, ihm zu erklären, auf welche Weise man Metall aus der Erde holen kann. Das Bankett, die Musik, die Tänze und Pantomi men, die Konversation, alles war so großartig, wie wir bereits geahnt hatten. Ich glaube, die Frohsinn spillen, die wir Menschen zuvor geschluckt hatten, bewirkten, daß wir keinen allzu grimmigen Eindruck machten. Aber wir enttäuschten unsere Gastgeber, als wir es ablehnten, die Nacht bei ihnen im Dorf zu ver bringen. Sie führten uns bei Fackelschein zu unserem Schiff; zurück, und auf dem ganzen Weg sangen sie in einer Art Zwölftonskala, der sie die merkwürdig sten Harmonien entlockten, die ich je gehört habe. Nachdem sie uns ans Ziel gebracht hatten, kehrten sie singend und tanzend um. Mierna war am Schluß der Prozession. Sie stand lange im kupfernen Licht eines riesigen Mondes und winkte uns. *
Baldinger stellte Gläser und eine Flasche Wodka auf den schmalen Tisch in unserer Kajüte. »Also«, sagte er, »die Wirkung der Pillen dürfte jetzt vorbei sein, aber wir brauchen ein Äquivalent.« »O ja!« Haraszthy griff nach der Flasche. »Ich frage mich, wie ihr Wein sein wird, wenn sie den erfunden haben«, sinnierte Lejeune. »Sei still!« sagte Vaughan. »Das werden sie nicht.« Wir starrten ihn an. Er zitterte vor Spannung. »Was zum Teufel willst du damit sagen?« fragte Haraszthy zuletzt. »Wenn sie einen Wein keltern, der nur halb so gut ist wie das, was sie sonst alles ma chen, dann können unsere irdischen Weinbauern ein packen.« »Verstehst du denn nicht?« rief Vaughan. »Wir können keinen Handel mit ihnen treiben. Wir müssen von diesem Planeten verschwinden! Mein Gott, war um mußten wir dieses verdammte Ding finden?« Er tastete nach einem Glas. »Nun«, seufzte ich, »diejenigen unter uns, die sich über solche Dinge überhaupt Gedanken gemacht ha ben, wußten immer, daß wir eines Tages auf eine sol che Rasse stoßen würden. Was ist der Mensch schon?« Baldinger nickte. »Dieser Stern ist wahrscheinlich älter als unsere Sonne.« »Das Entwicklungsalter dieses Planeten spielt da bei keine große Rolle«, sagte ich. »Eine halbe oder ei ne Million Jahre, das spielt doch in der Astronomie oder in der Geologie keine Rolle. Die Entwicklung ei ner intelligenten Rasse ...« »Aber sie sind doch Wilde!« protestierte Haraszthy. »Die meisten Rassen, die wir gefunden haben, wa
ren Wilde«, erinnerte ich ihn. »Auch der Mensch war es die längste Zeit seiner Existenz. Zivilisation ist eine Abnormität, sie kommt nicht von allein. Auf der Erde fing sie an, wurde mir erzählt, weil der Mittlere Osten nach dem Ende der Eiszeit mit dem Abschmelzen der Gletscher austrocknete, und weil die Menschen sich irgendwie am Leben erhalten mußten, als das Jagd wild rar wurde. Und Wissenschaft, Maschinenzivili sation, das sind noch ungewöhnlichere Abnormitä ten. Warum sollte die Technologie der Jorillier sich über den Stand der Jungsteinzeit hinaus weiterent wickeln? Es bestand ja nie eine Notwendigkeit dazu.« »Warum haben sie solche Gehirne, wenn sie in der Steinzeit steckengeblieben sind?« argumentierte Ha raszthy. »Warum hatten wir in unserer Steinzeit solche Ge hirne?« konterte ich. »Zum bloßen Überleben waren sie nicht nötig. Der Affenmensch von Java, der Pe kingmensch und ihre primitiven Verwandten, die kamen schon zurecht. Aber dann gab es Evolution, Konkurrenzkämpfe innerhalb der Rasse, sexuelle Se lektion. – Was immer die Intelligenz am Anfang ver mehrt haben mag, zwingt sie auch späterhin weiter aufwärts zur Vervollkommnung, wenn nicht irgend welche neue Faktoren wie Maschinen, Versklavung und so weiter dazwischenkommen. Ein kluger Mann hat mehr Prestige, kommt im Leben weiter, hat in der primitiven Gesellschaft mehr Partner und Kinder, und so geht es weiter. Aber die Jorillier haben hier ei ne angenehme und bequeme Umgebung, wenigstens in der gegenwärtigen geologischen Epoche. Sie schei nen nicht einmal Kriege zu führen, die die technische Entwicklung stimulieren würden. Deswegen hatten
sie bisher kaum Gelegenheit, ihre unheimlich anmu tenden Verstandeskräfte für etwas anderes als Kunst, Philosophie und soziale Experimente einzusetzen.« »Wie ist ihr durchschnittlicher Intelligenzquoti ent?« flüsterte Lejeune. »Das ist bedeutungslos«, sagte Vaughan dumpf. »Über hundertachtzig oder so, möchte ich annehmen. Unsere Skala ist für so etwas nicht eingerichtet. Wie willst du eine Intelligenz messen, die soviel größer ist als deine?« Stille trat ein. Ich hörte den nächtlichen Wald ringsum rauschen. »Ja«, sagte Baldinger und seufzte. »Ich habe mir immer gedacht, daß unsere Meister existieren müs sen. Ich erwartete allerdings nicht, daß wir sie zu un seren eigenen Lebzeiten entdecken würden. Nicht in dieser kleinen Raumkugel, die wir bisher erforscht haben. Und dann hatte ich mir immer vorgestellt, daß sie Maschinen, Wissenschaft, Raumflug und so weiter haben.« »Diese Dinge werden sie haben«, sagte ich. »Wenn wir fortgehen ...«, fing Lejeune an. »Zu spät«, erwiderte ich. »Wir haben ihnen schon dieses glänzende neue Spielzeug Wissenschaft gege ben. Wenn wir sie verlassen, werden sie uns in ein paar hundert Jahren zu Haus besuchen kommen. Spätestens.« Haraszthys Faust krachte auf die Tischplatte. »Warum sollen wir hier verschwinden?« brüllte er. »Wovor habt ihr Angst, zum Teufel? Ich bezweifle, daß die Bevölkerung dieses ganzen Planeten zehn Millionen erreicht. Im Sonnensystem und den Kolo nien gibt es fünfzehn Milliarden Menschen! Ein Joril
lier ist also doppelt so intelligent wie ich. Na und? Auf der Erde gibt es auch viele Leute, die das sind, und es stört mich nicht im mindesten. Hauptsache, wir können miteinander Geschäfte machen.« Baldinger schüttelte seinen Kopf. Sein Gesicht schien wie aus Stein gemeißelt. »So einfach liegen die Dinge nicht. Die Frage ist, welche Rasse diesen Teil der Milchstraße beherrschen wird.« »Ist es so schrecklich, wenn es die Jorillier sind?« fragte Lejeune leise. »Vielleicht nicht. Sie scheinen anständige Leute zu sein. Aber ...« Baldinger richtete sich in seinem Stuhl auf. »Ich habe nicht die Absicht, das Haustier eines anderen zu sein. Ich möchte, daß mein Planet über sein Schicksal selber entscheidet.« Das war die unveränderbare Tatsache. Wir saßen lange schweigend und dachten darüber nach. Die hypothetischen Superwesen hatte man sich bisher immer in bequemer, unerreichbarer Ferne vor gestellt. Wir hatten sie nicht entdeckt und sie uns auch nicht, und daher konnten sie nicht irgendwo in der Nähe leben. Daher würden sie wahrscheinlich nie in die Angelegenheiten jenes Randbezirks der Milch straße eingreifen, wo wir leben. Aber jetzt hatte sich das Bild verändert. Ein Planet, der nur ein paar Mo nate Fluges von unserer Erde entfernt war; eine Rasse von Bewohnern, deren durchschnittliches Mitglied ein Genie war und deren Genies uns unverständlich bleiben mußten. Man konnte sich leicht vorstellen, wie sie die Grenzen ihrer Welt hinter sich ließen, in den Raum hinausschwärmten und in zehn Jahren Dinge vollbrachten, für die wir mindestens ein Jahr hundert benötigten. War es nicht einfach unaus
weichlich, daß sie unsere mühevoll aufgebaute, über empfindliche Zivilisation über kurz oder lang zerstö ren würden? Wir würden sie selbst wegwerfen, wie es unsere eigenen reichen Kulturvölker – Inder, Chi nesen, – Araber – angesichts der überwältigenden Macht der westlichen Zivilisation zu ihrem eigenen Schaden getan hatten. Unsere Kinder würden über die kümmerlichen Errungenschaften ihrer Väter la chen und sich den Jorilliern an den Hals werfen. Und sie würden daran zerbrechen, sich in eine lächerliche Imitation fremdartiger, als überlegen empfundener Lebensformen flüchten und in ihrer Hoffnungslosig keit allmählich verrotten. Und so würde es allen an deren denkenden Wesen ergehen, sofern die Jorillier nicht gnädig genug sein würden, sie alleinzulassen. Was die Jorillier wahrscheinlich sogar machen würden. Aber wer will sich schon einer solchen Art Gnade ausliefern? Die gleichen Gedanken spiegelten sich in den Ge sichtern der anderen. Nur Vaughan hatte den Mut, die allgemeine Überlegung in Worte zu fassen: »Es gibt Planeten, die unter technologischer Blockade ste hen, wie ihr wißt. Kulturen, die zu gefährlich sind, als daß man ihnen moderne Waffen oder gar Raumschif fe zur Verfügung stellen könnte. Joril könnte mit auf diese Liste gesetzt werden.« »Sie würden das Zeug selbst erfinden, nachdem wir sie jetzt auf die Idee gebracht haben«, sagte Bal dinger. Vaughans Mundwinkel zuckten. »Nicht, wenn die beiden einzigen Regionen, die mit uns Bekanntschaft gemacht haben, zerstört werden.« »Lieber Gott!« Haraszthy sprang erregt auf.
»Setz dich!« befahl Baldinger. Haraszthy stieß einen Fluch aus. Sein Gesicht war gerötet, seine Augen blitzten. Wir anderen aber saßen stumm. »Und du hast mich skrupellos genannt!« knurrte Haraszthy. »Nimm diesen Vorschlag mit in die Hölle zurück, wo er hergekommen ist, oder ich schlage dich zu Brei!« Ich dachte an den nuklearen Feuersturm, an Mier na, die in diesem Inferno verdampfte, und sagte: »Nein.« »Die Alternative ist«, sagte Vaughan und starrte Haraszthy an, »nichts zu tun, bis es eines Tages nötig wird, die Bevölkerung dieses ganzen Planeten zu ste rilisieren.« Lejeune schüttelte entsetzt den Kopf. »Falsch, falsch, falsch. Für unser Überleben ist es ein zu hoher Preis.« »Aber für das Überleben unserer Kinder? Ihre Frei heit? Ihren Stolz und ...« »Worauf können sie noch stolz sein, wenn sie ein mal die Wahrheit erfahren?« unterbrach Haraszthy. Er langte plötzlich über den Tisch, packte Vaughan an der Hemdbrust und zog ihn gewaltsam in die Hö he. Sein rotes, zernarbtes Gesicht schob sich bis auf wenige Zentimeter an das des Wissenschaftlers her an. »Ich will dir sagen, was wir tun werden«, sagte er heiser. »Wir werden Handel treiben, lehren und fra ternisieren, genauso wie mit jedem anderen Volk, dessen Salz wir essen. Und wir werden unser Risiko wie Männer tragen!« »Laß ihn los!« befahl Baldinger. Haraszthy hörte nicht; er ballte seine freie Hand zur Faust. »Wenn du
ihn schlägst, werde ich dir zu Hause den Prozeß ma chen lassen. Laß ihn los, sage ich!« Haraszthy gab Vaughan einen Stoß, daß er kra chend auf seinen Sitz zurückfiel. Dann setzte er sich selbst, vergrub sein Gesicht in die Hände und schien gewaltsam ein Schluchzen zu unterdrücken. Baldinger füllte unsere Gläser auf. »Nun, meine Freunde«, sagte er versöhnlich, »es sieht aus, als hät ten wir einen toten Punkt erreicht. Wir sind ver dammt, wenn wir etwas unternehmen, und wir sind verdammt, wenn wir nichts unternehmen, und ich wette, daß kein Jorillier in so müden Klischees reden würde.« »Sie könnten uns soviel geben«, sagte Lejeune. »Geben!« Vaughan richtete sich auf und stand zit ternd vor uns. »Das ist ja gerade die Schwierigkeit. Sie würden uns vieles geben, es würde aber nicht un ser sein. Wahrscheinlich könnten wir ihre Arbeit we der verstehen noch gebrauchen oder ... es wäre nicht unser, sage ich!« Haraszthy sah aus, als wollte er Vaughan erneut anfallen. »Warum nicht?« schrie er. Gesegnet sei der Alkohol. Bis zum Anbruch der Morgendämmerung konnte ich tatsächlich ein paar Stunden schlafen. Dann schien das licht des neuen Morgens durch die Bullaugen und zwang mich zum Aufstehen. Ich kleidete mich an, schwenkte die Tele skopleiter aus und kletterte aus dem Raumschiff. Das Land lag still. Die Sterne waren verblaßt, aber die Sonne war noch nicht aufgegangen. Durch die kühle Luft hörte ich den ersten Vogelgesang aus der dunklen Mauer des Waldes. Ich zog meine Schuhe aus und wanderte barfuß durch das taufeuchte Gras.
Irgendwie fand ich es keineswegs erstaunlich, daß in diesem Augenblick Mierna auftauchte, die ihr On tatherium an der Leine führte. Als sie mich sah, ließ sie ihr Monstrum stehen und kam zu mir gerannt. »Hallo, Mister Cathcart! Ich hoffte, daß schon jemand auf sein würde. Ich habe noch nicht gefrühstückt.« »Darum werden wir uns kümmern müssen.« Ich hob sie auf und schwenkte sie im Kreis herum, bis sie quietschte. »Und dann machen wir vielleicht einen kleinen Spaziergang mit diesem Schiff hier. Wie wür de dir das gefallen?« »Oooh!« Sie machte runde Augen. Ich setzte sie nieder. Es dauerte eine Weile, bis sie zu fragen wagte: »Bis zur Erde?« »Nein, nicht so weit, fürchte ich. Die Erde ist ziem lich weit entfernt.« »Vielleicht später einmal? Bitte?« »Eines Tages sicher, mein Kind. Und so sehr lang wird es bis dahin nicht dauern.« »Ich fliege zur Erde, ich fliege zur Erde, ich fliege zur Erde!« Sie umarmte das Ontatherium. »Wirst du mich sehr vermissen, mein Guter? Sabbere nicht so traurig. Vielleicht darfst du auch mitfliegen. Darf er, Mister Cathcart? Er ist ein sehr nettes und gutgezo genes Ontatherium, und er hat Brezel so gern!« »Nun, vielleicht. Vielleicht auch nicht«, sagte ich ausweichend. »Aber du darfst, wenn du willst, das verspreche ich dir. Jeder auf diesem Planeten, der zur Erde will, wird hinfliegen dürfen.« Und die meisten von ihnen werden es tun, dachte ich. Ich bin sicher, daß unsere Idee vom Rat für Welt raumangelegenheiten gebilligt werden wird. Es ist das einzig Mögliche. Wen man nicht schlagen kann,
muß man zu seinem Freund machen. Ich fuhr Mierna über die Haare. Was für ein schmutziger Trick, den wir da mit dir spielen, dachte ich reuig. Dich aus diesem Naturparadies direkt in eine gewaltige und komplizierte Zivilisation zu ver pflanzen. Dich mit allen technischen Raffinessen und Errungenschaften zu verblüffen, nicht weil wir besser oder klüger sind, sondern einfach, weil wir an diesen Dingen ein bißchen länger gearbeitet haben. Wir werden eure zehn Millionen unter unsere fünfzehn Milliarden mischen. Natürlich werdet ihr darauf her einfallen. Ihr seid zu arglos, um euch selbst helfen zu können. Wenn ihr begreift, was gespielt wird, werdet ihr es nicht mehr aufhalten können. Du wirst assimiliert werden, Mierna. Du wirst ein irdisches Mädchen werden. Natürlich wirst du eines Tages zu unserer Führungsschicht gehören. Du und die Deinen, ihr werdet ungeheure Leistungen zu un serer Kultur und Zivilisation beitragen und dafür entsprechend belohnt werden. Aber der entscheiden de Punkt ist, daß es unsere Zivilisation bleiben wird. Meine ... und deine. Ich frage mich allerdings, ob du nicht den Wald vermissen wirst, das kleine Dorf an der Bucht und die Lieder und eure alten Geschichten und das gute, ein fache Leben. Ja, und dein liebes Ontatherium. Ich weiß, daß der leere Planet dich vermissen wird, so wie du ihn vermissen wirst. Und wie ich es tun wer de. »Komm«, sagte ich, »machen wir uns jetzt unser Frühstück.«
Die Erde gehört uns nicht
1. Sein Name war eine Folge von Radioimpulsen. In gleichlautende Schallwellen übertragen, hätte er nichts als ein paar häßliche Quietschtöne ergeben. Aber weil er wie jedes Bewußtsein das Zentrum sei nes eigenen Koordinatensystems war, wollen wir ihn Null nennen. Er ging an diesem Tag auf die Jagd. Die Energiere serven in der Höhle waren nur noch gering. Das an dere, das man vielleicht Eins nennen könnte, weil es das wichtigste in Nulls Universum war, hatte sich nicht beklagt. Aber das war auch nicht nötig, denn Null fühlte es sehr deutlich, wenn das Potential ge ringer wurde. Akkumulatoren wuchsen in der Nach barschaft im Überfluß, aber zum Aufladen mußte man eine beträchtliche Menge dieser Zellen verar beiten. Motiles enthielten mehr konzentrierte Energie, und sie waren natürlich viel höher organisiert. Ganze Teile konnten dem Körper eines Motiles entnommen werden und bedurften fast keiner Umformung, um von Eins in neue Energie umgesetzt zu werden. Null selbst, obwohl in seinen Ansprüchen zur Erhaltung seiner Funktionsfähigkeit weit anspruchsloser, suchte eine leichter zu verarbeitende Energie, als sie von den Akkumulatoren geboten wurde. Kurzum, alle beide brauchten einen Wechsel in ih rer Diät. Jagdbares Wild kam nicht mehr in die Nähe der Höhle. Die letzten hundert Jahre hatten gelehrt, daß
es unsicher und gefährlich war. Null wußte, daß er eines Tages vielleicht würde umziehen müssen. Aber der Gedanke, daß er Eins durch viele Meilen steiles, dichtbewachsenes und gefahrvolles Land helfen müßte, um einen anderen geeigneten Platz zu finden, ließ ihn die Ausführung immer wieder verschieben. Überdies konnte er im Umkreis einiger Tage immer noch große Motiles finden. Unterstützt von Eins, be festigte er ein Tragegestell an seinen Schultern, nahm seine Waffen und machte sich auf den Weg. Die Sonne näherte sich bereits dem Horizont, als er die Höhle aus den Augen verlor, und bald darauf stieß er schon auf eine Fährte: zerbrochene Erdkri stalle, die noch nicht wieder nachgewachsen waren, Abfälle von frisch verarbeiteten Akkumulatoren, eine Tropfspur von Schmiermitteln. Er stellte seinen Emp fänger auf höchste Empfindlichkeit und untersuchte alle Wellenlängen, die gewöhnlich von den Geräu schen der Motiles belebt waren. Er fing die Konver sation zwischen zwei hundert Meilen entfernten Per sonen auf; er fühlte die schwachen Impulse kleiner Dinge, die irgendwo in seiner Umgebung herumkro chen, aber sie waren zu klein, als daß eine Jagd auf sie sich lohnen würde. Ein Flieger zischte über ihm und störte für eine Weile den Empfang. Aber die unver wechselbare Vibration des großen Motiles blieb aus. Es mußte schon vor Tagen hier vorbeigekommen sein und befand sich jetzt außer Reichweite des Empfän gers. Nun, er konnte der Fährte folgen und den unbehol fenen Säger einholen. Es war zweifellos ein Säger – er kannte die Spuren – und daher eine längere Jagd wert. Er nahm eine kurze Überprüfung an sich selbst
vor. Alle Teile schienen ordnungsgemäß zu funktio nieren. Er setzte sich mit langen Schritten in Bewe gung. Die Geschwindigkeit sollte ausreichen, um al les, was Räder hatte, zu überholen. Die Dämmerung wurde zur Nacht. Ein fast voller Mond schob sich wie eine kleine kalte Linse über die Hügel. Die Nachtdämpfe lagen rötlich glühend über dem Land und streiften den violettschwarzen Him mel. Auf allen Bandbreiten des Radios summte und knisterte es. Der metallene Wald schimmerte im Mondlicht, und überall blitzten die Silikate wie Eis kristalle. Der Wind fuhr durch die Strahlenspeicher platten über ihm und ließ sie gegeneinander klingen. Ein Wühler zischte, ein Gräber knirschte durch ver wachsene Kristalle, ein Fluß schoß kalt und donnernd durch eine Schlucht talwärts. Während Null sich mit der Gewandtheit langer Praxis zwischen Stämmen, Gitterwerk und korrosi onszerfressenen Stangen weiterbewegte, verließ er sich hauptsächlich auf seinen Radioempfänger. In den oberen Frequenzen war an diesem Abend etwas Mysteriöses, gelegentliche kurze Töne ... unerklärli che, auf- und abschwellende Geräusche, ein Dröhnen. Er hatte noch nie etwas Derartiges gehört. Aber die Welt war ein Geheimnis. Niemand war je über den Ozean im Westen oder die Berge im Osten hinausge kommen. Zuletzt stellte Null sein Horchen ein und konzentrierte sich darauf, seiner Beute zu folgen. Das war schwierig, denn seine optischen Sensoren erfüll ten ihren Zweck in der herrschenden Dunkelheit nur unvollkommen, obwohl er sich langsamer vorwärts bewegte als zuvor. Einmal zapfte er Schmierflüssig keit aus wildwachsenden Zylindern, dann verdünnte
er seine Säuren mit einer geringen Menge Wasser. Mehrere Male fühlte er ein Absinken der Kraft in sei nen Energiezellen und wartete eine Weile, damit sie sich wieder aufladen konnten: er rastete. Das Morgengrauen ließ den Himmel über fernen Schneegipfeln verblassen. Aus dem Tal stiegen Dämpfe, die nach Feuchtigkeit und Schwefelverbin dungen schmeckten. Bald konnte Null wieder die Fährte erkennen und bewegte sich rascher. Dann kehrten die seltsamen Geräusche wieder, lauter als zuvor. Null kauerte sich nieder. Seine Antennen richteten sich nach oben. Ja, die Sendeimpulse kamen von oben, und sie wurden zusehends stärker. Einige von ihnen waren den Radioausstrahlungen eines Motiles ähnlich, aber sie glichen keinem der Typen, die er kannte. Und da war noch etwas, ein schwer zu identi fizierender, pulsierender Unterton, Modulationen auf der Kurzwelle. Plötzlich trafen ihn die Schallwellen. Zuerst war es ein dünnes Pfeifen, hoch und kalt über den gelblichen Wolken. Aber innerhalb von Se kunden schwoll es zu einem Brüllen an, das die Erde erzittern ließ, von den Bergen widerhallte und die Speicherplatten aneinanderschlagen ließ, bis der gan ze Wald rasselte und klang. Nulls Kopf wurde zu ei ner Echokammer; der Lärm erschütterte ihn. Er rich tete seine optischen Sensoren alarmiert himmelwärts. Und da sah er das Ding herunterkommen. Im ersten Augenblick hielt er es für einen Flieger. Es hatte den langen, spindelförmigen Körper und die Steuerungsfinnen. Aber kein Flieger war je auf einem Schwanz vielfarbiger Flammen gelandet. Kein Flieger
war so ungeheuer groß, daß er einen ganzen Teil des Himmels verdeckte. Und dabei mußte das Ding noch zwei Meilen entfernt sein! Er fühlte die Zerstörung, die das Ding bei der Lan dung anrichtete; zerbrochenes Gitterwerk, geschmol zene Erdkristalle, zusammenbrechende Akkumulato ren. Er warf sich flach auf den Boden und klammerte sich mit allen vier Greifern fest. Die plötzlich eintre tende Stille, nachdem das Ungeheuer den Boden er reicht hatte, war unerklärlich und voll geheimer Dro hung. Langsam hob Null seinen Kopf. Der Empfang wurde wieder klarer. Die Sonne stand noch über den Schneegipfeln im Osten. Es schien unerhört, daß die Sonne aufging, als wäre nichts geschehen. Der Wald blieb still, im Radio waren nur ein Summen und gele gentliche Zirpgeräusche zu hören. Die letzten Echos verhallten zwischen den Hügeln. Null hatte seinen Entschluß gefaßt: Dies war nicht der Augenblick, nur an seine eigene Existenz zu den ken. Er schaltete seine volle Sendestärke ein. »Alarm! Alarm! Alle Personen, die diese Sendung empfangen, bitte melden. Alarm!« Vierzig Meilen entfernt antwortete eine andere Per son, die wir geradesogut Zwei nennen können: »Bist du es, Null? Ich habe etwas Sonderbares in der Rich tung deiner Niederlassung bemerkt. Was ist gesche hen?« Null antwortete nicht sofort. Andere Meldungen kamen herein, eine plötzliche Flut von Stimmen, von Berggipfeln, Hügeln und aus dem Flachland. Jäger, Erzsucher, Werkzeugmacher, Seeräumer, Steinbre cher – alle bildeten auf einmal eine Einheit. Aber er
sendete zu seiner eigenen Höhle zurück: »Bleib drin nen, Eins. Spare deine Energie. Ich bin unverletzt und werde vorsichtig sein. Bleib versteckt und warte auf meine Rückkehr.« »Ruhe!« rief eine grelle Stimme, von der sie alle wußten, daß sie Hundert gehörte. Er war der Älteste von ihnen und hatte wahrscheinlich schon ein halbes Dutzend Körper verschlissen. Irreparable Polarisation und Oxydationserscheinungen hatten sein Denken ein wenig langsamer gemacht, aber die Erfahrungen seines Alters blieben in seinem Speicher verfügbar, und er hatte bei ihren Ratsversammlungen den Vor sitz inne. »Null, gib uns eine Meldung. Was hast du beobachtet?« Der Jäger zögerte. »Das ist nicht einfach. Ich bin am ...« Er beschrieb seinen Aufenthaltsort. »Das Ding äh nelt einem Flieger, ist aber von enormer Größe, fünf zig Meter lang oder noch mehr. Es ist zwei Meilen nördlich von hier niedergegangen und verhält sich jetzt still. Ich glaubte vorhin eine Art Signal empfan gen zu haben. Wenn es eins war, ist es jedenfalls et was ganz anderes als der Schrei eines Motiles.« »In dieser Gegend ist es vielleicht neu«, meinte Hundert, »aber das Ding muß von weither gekom men sein. Sieht es gefährlich aus?« »Die Flammenstöße aus seinen Düsen sind ver nichtend«, sagte Null. »Aber nichts von dieser Größe könnte auf so kleinen Finnen umhergleiten. Daher bezweifle ich, daß es ein räuberisches Wesen ist.« »Lockakkumulatoren«, sagte Acht. »Wie? Was soll mit ihnen sein?« fragte Hundert. »Nun, wenn Lockakkumulatoren Signale auszu strahlen vermögen, die stark genug sind, um jedes
kleine Motile zu kontrollieren und anzulocken, das in ihre Nähe kommt, damit es von selbst in ihr Mahl werk läuft, kann dieses Ding sehr leicht ähnliche Fä higkeiten haben. Nach seiner Größe zu urteilen, muß seine Anlockung auf große Entfernung wirken und aus der Nähe sogar große Motiles überwältigen. Vielleicht sogar Personen?« Etwas wie ein Erschauern kam über die Wellenlän ge, auf der sie konferierten. »Wahrscheinlich ist es bloß ein Graser«, sagte Drei. »Wenn es so wäre ...« Sein Signal stoppte, aber der Gedanke blieb in ihren teilweise gleichgeschalteten Denkzentren hängen: Ein so großes Motile! Es muß Megawattstunden in seinen Energiezellen aufgespei chert haben! Hunderte oder Tausende von nützlichen Teilen. Metall tonnenweise. Hundert, hat sich dein Urschöpfer jemals erinnert, in den sagenhaften alten Zeiten so ein ungeheures Wild angetroffen zu haben? Nein. Wenn es gefährlich ist, muß es vertrieben oder zer stört werden. Wenn nicht, müssen wir es unter uns aufteilen. In jedem Fall müssen wir es angreifen! Hundert teilte seine Entscheidung mit: »Alle männlichen Personen nehmen Waffen und treffen sich an der Gletscherzunge über dem Kupferge schmack-Fluß. Null, du gehst so nahe an das Ding heran, wie es ohne Gefahr möglich ist, aber bleib still, solange nichts Unvorhergesehenes passiert. Wenn wir uns versammelt haben, kannst du die Details be schreiben, auf deren Basis wir einen Plan ausarbeiten werden. Beeile dich!« In Nulls Empfangsgerät wurde es still. Er war wie der allein.
Die Sonnenstrahlen fielen schräg in den Wald ein und malten bizarre Muster aus Gitterwerk und Stan gen auf den Boden. Die Akkumulatoren wendeten die schwarzen Gesichter ihrer Strahlungsspeicher platten dem Licht zu und tranken durstig die Strah lungsenergie. Masten und Gestänge glänzten von Feuchtigkeit. Eine Brise ließ den Bodenbewuchs aus Silikaten leise klingen. Einen Augenblick lang wurde sich Null zu seinem eigenen Erstaunen der Schönheit bewußt. Er wünschte, Eins könnte jetzt neben ihm sein, und die morgendliche Helle machte die Vor stellung, daß er sich im Gluthauch des Ungeheuers vielleicht bald in eine formlose Masse verzunderten Metalls verwandeln würde, doppelt unerträglich. Und doch verfestigte sich in ihm der Entschluß, das Wagnis auf sich zu nehmen. Eine untergründige Gier war daran nicht ganz unbeteiligt. In den Jahrzehnten seit seiner Aktivierung hatte es noch nie eine solche Beute wie diese gegeben. Rasch machte er sich bereit. Zuerst kam die Wahl der Waffen. Seine gewöhnliche Drahtseilschlinge wäre außerstande, dieses Mon strum festzuhalten, und auch der Eisenhammer, mit dem er bewegliche Teile zu zerschmettern pflegte, würde in diesem Fall nur wenig nützen können. Auch die Stahlbolzen seines Bogens, die eine dünne Platte durchschlagen und einen Kurzschluß herbei führen konnten, erschienen ihm angesichts dieses Monstrums ungenügend. Aber die lange Brechstange mochte zu etwas taugen. Er nahm sie in einen Greifer, während zwei andere den vierten Greifer lösten und zu den Waffen ins Traggestell legten. Daraufhin setzten sie an seine Stelle den Schweißbrenner. Man verwendete ihn nur für notwendige Arbeiten, oder
um ein großes Motile zu erledigen, dessen Energie zellen den gewaltigen Verlust wettmachen konnten, der durch die Flammenerzeugung entstand. Und wenn ihn das Ungeheuer angriff, mochte der Schweißbrenner besser als andere Waffen zur Ab wehr geeignet sein. Aber seine vorläufige Absicht war nur, das Ding zu beobachten. Er schlich zwischen Schatten und Son nenreflexen vorsichtig weiter. Sein mit Tarnanstrich versehener Körper war in dieser Umgebung fast un sichtbar. Diejenigen Motiles, die ihn hörten oder fühlten, machten sich davon, so schnell sie konnten. Andere erstarrten und stellten jegliche Sendetätigkeit ein. Nicht einmal der große Schlitzer war als Räuber so gefürchtet wie eine jagende Person. So war es schon seit jenem fernen Tag, an dem irgendein ver gessenes Genie die Elektrizität gezähmt hatte. Null hatte etwa die Hälfte der Strecke zu seinem Ziel zurückgelegt, mit jedem Schritt langsamer und vorsichtiger gehend, als er die Neuankömmlinge ent deckte. Er blieb sofort regungslos stehen. Der Wind schlug die Haltestangen der Akkumulatorenplatten gegen einander, daß andere Geräusche nicht zu hören wa ren. Aber seine elektronischen Sensoren stellten drei bewegliche Formen fest, die sich vom Ungetüm her näherten. Ihre Radioausstrahlungen waren ebenso fremdartig wie die des Monstrums selbst. Aber doch wieder anders. Null stand lange da und versuchte die aufgefangenen Sendungen zu identifi zieren oder wenigstens ihre Bedeutung zu erraten. Die Sendeenergie der drei Formen war sehr gering und selbst aus dieser geringen Entfernung kaum
wahrnehmbar. Gräber oder Bodengleiter benötigten trotz ihrer geringen Größe mehr Energie, um sich zu bewegen. Auch die Art der Emission war seltsam und in keiner Weise der eines Motiles vergleichbar: Zu einfach, als ob lediglich einer oder zwei Stromkreise oszillierten. Ein schwaches Pulsieren, kalt und ohne Aktivität, wie es schien. Aber andererseits waren da die Signale – und es mußten Signale sein, dieses Ra diogeschnatter – nun, diese Signale waren einfach unerträglich laut. Die Dinger verursachten einen sol chen Lärm, daß sie noch auf fünf Meilen gehört wer den konnten, selbst wenn der Empfänger auf ein Mi nimum gedrosselt war. Als wüßten sie überhaupt nichts von Feinden, Raubzeug und Wild. Oder als kümmerte sie das alles nicht ... Null blieb noch eine Weile stehen. Die Ungewöhn lichkeit dieses Abenteuers machte ihn momentan ent schlußunfähig. Man könnte sagen, er sammelte Mut. Zuletzt nahm er die Brechstange fester in seinen Grei fer und ging den drei Dingern nach. Bald erkannte er sie deutlicher. Seine Radarsenso ren und die Optik erspähten sie zwischen den Masten des Waldes. Null versteckte sich hinter dichtem Git terwerk und beobachtete. Er war starr vor Staunen. Nach ihrer winzigen Bewegungsenergie hatte er auf sehr kleine Körper geschlossen. Aber nun sah er, daß sie fast halb so groß waren wie er selbst! Und dabei schien jedes dieser Wesen nur über einen Motor zu verfügen, dessen Kraft kaum ausreichte, den Arm ei ner Person zu bewegen. Das konnte nicht ihre Kraft quelle sein. Aber wo war sie dann? Als er seine Verwirrung überwunden hatte, stu dierte er ihre fremdartigen Einzelheiten genauer. Ihre
Form war seiner eigenen nicht ganz unähnlich, ob wohl sie nur zwei Arme hatten, bucklig und ohne er kennbare Gesichtszüge waren. Völlig verschieden von dem großen Monstrum, aber fraglos irgendwie mit ihm verbunden. Ohne Zweifel hatte es sie vorge schickt, vielleicht als eine Art von Spionenaugen. Seit hundert Jahren hatten einige Personen versucht, et was Ähnliches zu entwickeln, indem sie Motiles zähmten und als Jagdgehilfen benutzten. Ja, ein so großes und unbeholfenes Ding wie das Ungetüm mochte sehr wohl solche Helfer benötigen. War das Ungetüm also doch ein Räuber? Oder so gar – der Gedanke fuhr wie ein Blitzschlag durch Nulls ganzen Stromkreis – ein Denker? Wie eine Per son? Er versuchte wieder, aus den modulierten Si gnalen der drei Zweifüßler etwas Verständliches her auszuhören. Nein, das war unmöglich. Aber ... Nulls Antennen schwangen erregt hin und her. Er konnte die Wahrheit nicht einfach abschütteln. Dieses letzte Signal eben war vom Ungeheuer ausgegangen, das eine Meile entfernt hinter dem Wald war. Vom Ungeheuer zu den Zweifüßlern. Antworteten sie? Die Zweifüßler bewegten sich in südlicher Rich tung. Bei ihrer Geschwindigkeit konnten sie bald auf Spuren von Besiedlung stoßen, ihnen folgen und zur Höhle gelangen, wo Eins war. Und das, lange bevor die von Hundert zusammengerufenen Personen an der Gletscherzunge zusammenkommen konnten. Das Ungeheuer würde alles über Eins erfahren. Die Entscheidung ließ nicht lange auf sich warten. Null schaltete seinen Sender auf die höchste Energie stufe. »Achtung! Achtung! Stellt euch auf meine Wel lenlänge ein. Ich versuche diese Motiles zu fangen.«
Hundert antwortete sofort. »Nein, warte, du darfst unsere Existenz nicht verraten, bevor wir zum Han deln bereit sind.« »Das Ungeheuer wird in jedem Fall bald von uns erfahren«, antwortete Null. »Der Wald ist voller alter Lagerplätze, zerbrochener Werkzeuge, zerschlagener Steine und Schlackenhaufen. Im Augenblick habe ich noch den Vorteil des Überraschungsmoments. Wenn es mißlingt und ich zerstört werde, werdet ihr im merhin wichtige Daten daraus entnehmen können. Bleibt alle eingeschaltet!« Er stürzte aus der Deckung hervor. Die drei waren schon vorbeigegangen. Sie fühlten ihn und drehten sich mit erstaunlicher Gewandtheit um. Die Modulation ihrer Signale veränderte sich plötzlich; abgerissene kurze Tonfolgen. Ein anderes, tiefer gestimmtes Signal antwortete. Die Stimme des Ungeheuers? Null hatte keine Zeit, darüber nachzu denken. Obwohl sie im allgemeinen langsam und plump wirkten, begannen sich die Zweifüßler jetzt heftig und schnell zu bewegen. Der Mittlere griff nach einer Röhre, die er auf dem Rücken getragen hatte. Null stürzte auf sie zu, durch zersplitternde Kristalle und hell aufklingende Stäbe. Ich habe noch keine feindselige Handlung begangen, dachte er, aber das Rohr blitzte und krachte. Ein Aufschlag warf Null taumelnd zur Seite. Er ging auf ein Knie nieder. Unterbrochene Stromkreise überfluteten seine Denkzentrale mit Zerstörungs signalen. Als er sie verarbeitet hatte, wußte er, daß sein oberer linker Arm abgerissen war. Der Zweifüßler hielt das Rohr weiter auf ihn ge richtet. Er stand auf. Das Bewußtsein der Gefahr
durchzuckte ihn mit Stromstößen. Ein anderer Zwei füßler hatte seine Arme um den dritten gelegt, der ei nen kleineren Gegenstand aus einer Scheide zu zie hen versuchte. Null schaltete auf volle Kraft. Er sprang mit einem blitzartigen Satz zur Seite, während sein übriggeblie bener linker Arm die Brechstange warf. Sie schoß wie ein aufblitzender Meteor durch das Sonnenlicht und traf das Rohr. Es wurde dem Zweifüßler aus den Greifern gerissen, zu Boden geschleudert und verbog beim Aufprall. Im nächsten Augenblick war er über ihnen. Er hatte bereits ihr Kommunikationssystem identifiziert. Sen der und Antennen, die außen an ihre Hüllen montiert waren. Einer seiner rechten Greifer riß die Anlage ei nes Zweifüßlers mit einem Schlag herunter. Sein Schweißbrenner spuckte einen präzisen Feuerstrahl, und auch der Radiosender des zweiten war außer Betrieb. Der dritte Zweifüßler suchte zu entkommen. Null fing ihn nach vier Schritten ein, riß ihm die Antenne aus und trug den wild um sich Stoßenden unter ei nem Arm, während er die zwei anderen verfolgte. Als er auch den zweiten eingefangen hatte, begann der erste mit seinen schwächlichen Greifern sinnlos auf Null einzuhämmern. Dann hatte er auch den dritten und band sie alle mit seinem Drahtseil zu sammen. Vorsichtshalber leerte er das Traggestell des Zweifüßlers, der auf ihn geschossen hatte. Diese dün nen Objekte konnten gefährlich sein, selbst wenn das Rohr, aus dem sie abgefeuert werden mußten, zer stört und funktionsunfähig am Boden lag. Er stopfte die drei Zweifüßler in sein eigenes Traggestell.
Er blieb noch eine Weile stehen. Im Wald gab es kaum sonare Geräusche, abgesehen vom Wind, der in den Akkumulatoren heulte und sie aneinanderschla gen ließ. Aber im Radio lärmte es. Das Ungeheuer heulte. Nulls eigener Sender strahlte mit voller Ener gie, von Person zu Person, zwischen Gebirge und See. »Jetzt wollen wir nicht mehr reden«, beendete er seine Meldung. »Ich möchte nicht, daß das Ungeheu er meine Position ortet. Ich habe verhindert, daß sich seine Helfer mit ihm in Verbindung setzen können. Nun werde ich sie zum Studium in meine Höhle schaffen. Ich hoffe, bei unserem Zusammentreffen nützliche Informationen vorlegen zu können.« »Vielleicht wird deine Tat das Ungeheuer ängstlich machen und verscheuchen«, sagte Zweiundsiebzig. »Um so besser«, sagte Hundert. »In diesem Fall«, erklärte Null, »werde ich von meiner Jagd wenigstens etwas mitgebracht haben.« Er schaltete seine Radioanlage aus und tauchte in den Schatten des Waldes unter. 2. Das Tochterschiff hatte sich mit einem bloßen Flü stern seiner Triebwerke vom Raumschiff getrennt. An Bord summte, klickte und murmelte die Maschinerie, übertönt vom Zischen der Luftregenerationsanlage. Sein Rechenzentrum beschäftigte sich mit Wärmeund Lichtmessungen, der Kursfestlegung und was dergleichen Aufgaben mehr sind. Hugh Darkington starrte aus einem der Bugfenster. Als das Schiff von der Kreisbahn des Mutterschiffs
abschwenkte, fiel sein riesiger Rumpf, der zuvor fast den halben Himmel verdeckt hatte, in Sekunden schnelle zurück und verlor sich zu einem Pünktchen im Raum. Weiß leuchteten die Sterne vor dem riesi gen schwarzen Hintergrund des Alls. Der Sternhimmel schien sich nicht verändert zu haben, aber das war eine Täuschung. Von der Erd oberfläche aus betrachtet, würden die Konstellationen einen völlig fremdartigen Anblick bieten, aber im Raum waren so viele Sterne sichtbar, daß sie ein ein ziges Chaos bildeten, wenigstens für Darkingtons Augen. Captain Thurshaw hatte ihm im Komman dostand des Schiffes gezeigt, daß die Milchstraße eine andere Form angenommen hatte, daß einer ihrer Spi ralarme sich aufgelöst und in zahllose Sternhaufen verwandelt hatte, und daß schließlich ein gewaltiger Dunkelnebel völlig von der Stelle verschwunden war, wo man ihn vor drei Milliarden Jahren noch angetrof fen hatte. Für Darkington blieben das alles Worte. Er war Biologe und hatte sich noch nie besonders inten siv mit Astronomie beschäftigt. In der Isolierung des Raumschiffs war er seinen Studien nachgegangen und hatte sich um alles andere gekümmert als um die Verformung der Milchstraße. Das Schiff näherte sich seinem Ziel mit jeder Spi rale. Jetzt trieb der Mond durch sein Gesichtsfeld. In den Äonen, seit die »Traveler« die Heimat verlassen hatte, war die Entfernung zwischen Erde und Mond gewachsen. Sie hatten beide Himmelskörper durch die Bordteleskope des Raumschiffs beobachtet. Das Antlitz der Erde war bis zur Unkenntlichkeit verän dert. Die alten Kontinente hatten sich verschoben und neue Formen angenommen, und mit ihnen jeder an
dere Ort, an den man sich erinnerte. Jetzt hing sie wie eine oxydierte Kupfermünze im Raum, und es er schien unvorstellbar, daß sie die Heimat sein sollte. Anders der Mond. Im Teleskop hatte er auf den er sten Blick ganz das gewohnte Gesicht gezeigt. Ein paar neue Berge und Krater waren entstanden, die Wärmeerosion hatte einige Züge verändert, aber Thurshaw konnte vieles von dem identifizieren, was er einst gekannt hatte. Es schien grotesk, daß der Mond der gleiche geblieben sein sollte, während alles andere sich verändert hatte. Sogar die Sonne. Wenn man sie durch ein ge schwärztes Glas beobachtete, sah man ihre Kugel aufgedunsen und grell. Die Erde war ihr ein wenig nähergerückt, und auch die Sonne selbst war größer und heißer geworden; der nukleare Zerfallsprozeß hatte sich beschleunigt, die Strahlung verstärkt. In drei Milliarden Jahren veränderten sich selbst die kosmischen Maßstäbe. Die vorgenommenen Messun gen machten bereits jetzt ziemlich klar, daß die Erde schon lange aufgehört hatte, eine Heimstatt für le bende Organismen zu sein. Darkington fluchte leise und ballte die Fäuste, daß die Haut sich weiß über die Knöchel spannte. Er war ein magerer Mann mit langem Gesicht und scharfen Zügen, dessen braunes Haar vorzeitig zu ergrauen begann und sich am Hinterkopf lichtete. Seine Erin nerungen umschlossen die ernste Stille gotischer Ka thedralen, im Mikroskop erschaute Wunder, ein Se gelboot, das vor der französischen Küste in Gischt und Möwengeschrei gegen den Wind kreuzte, Kame radschaft über einem Schachbrett oder beim Leeren mächtiger Bierkrüge, Wälder, die im Morgendunst
schwammen und in den Farben des Herbstes erglüh ten. Und alle diese Dinge waren tot. Der Schock, den diese Erkenntnis zuerst ausgelöst hatte, war vorüber, die hundert Männer und Frauen an Bord der »Trave ler« konnten wieder ihren normalen Beschäftigungen nachgehen. Aber die Heimat war von ihrer aller Le ben amputiert, und der zurückgebliebene Stumpf schmerzte. Frederika Ruys legte ihre Hand auf die seine und drückte ein wenig. Langsam entspannten sich seine Muskeln, bis er als Antwort ein Lächeln zuwege brachte. »Schließlich wußten wir, daß wir lange fort bleiben würden«, sagte sie sanft. »Daß wir vielleicht nie zurückkehren würden.« »Aber damals war es ein lebender Planet«, mur melte er. »Wir werden uns eben einen anderen suchen«, er klärte Sato Kuroki von seinem Pilotensitz. »Im Um kreis von fünfzig Lichtjahren gibt es nicht weniger als sechs Sterne vom G-Typ.« »Es wird nicht dasselbe sein«, protestierte Dar kington. »Nein«, stimmte Frederika zu. »Aber wird es nicht auf eine andere Weise mehr sein? Wir, die letzten Menschen im Universum, die der Rasse einen neuen Anfang ermöglichen?« Sie anzusehen, war nicht eben eine Augenweide. Sie war plump, simpel, mit glattem blonden Haar und einem zu breiten Mund. Aber diese Dinge hatten aufgehört, eine Rolle zu spielen, seit die Geschwin digkeit des Raumschiffs den Gang der Zeit aufgeho ben hatte. Frederika Ruys war eine tapfere Seele und ein erfahrener Ingenieur. Darkington fühlte sich un
glaublich glücklich, daß sie ihn erwählt hatte. »Vielleicht sind wir gar nicht die letzten«, sagte Kuroki. Sein flaches Gesicht verzog sich zu seinem gewohnten Lächeln. »Vielleicht hat man ähnliche Kolonien wie die unsrige gegründet. Natürlich sind ihre Abkömmlinge inzwischen zu kahlköpfigen Zwergen geworden.« »Das bezweifle ich«, seufzte Darkington. »Wenn in irgendeinem anderen Teil der Milchstraße Menschen überlebt haben, glaubst du nicht auch, daß sie dann zurückgekommen wären und ... und dies hier mit neuem Leben besiedelt haben würden? Ihren Mutter planeten?« Er holte tief Luft. Sie hatten dieses Thema hundertmal oder öfter durchgedroschen, während die »Traveler« die un kenntliche Erde in weitem Abstand umkreist hatte, aber sie konnten sich nicht enthalten, das Offensicht liche wieder und wieder einander vorzuhalten, wie einer, der von dem absurden Zwang verfolgt wird, ständig eine Wunde an seinem Körper zu betasten. »Nein, ich glaube, der Krieg begann tatsächlich kurz nach unserem Abflug. Die Weltsituation deutete auf eine baldige Explosion hin.« Das war damals der Grund gewesen, daß man die »Traveler« gebaut und mit solcher Hast bemannt und in den Weltraum geschickt hatte, dachte Darkington weiter. Fünfzig Paare, die sich davongemacht hatten, um sich auf Tau Ceti II anzusiedeln, bevor die AtomRaketen abgefeuert wurden. Natürlich, offiziell hatte man sie als wissenschaftliche Forschungsgruppe de klariert, und viele Regierungen hatten das Unter nehmen gemeinsam finanziert und ausgesuchte Spe zialisten dafür abgestellt. Aber dahinter stand – und
das wußte jeder – die Hoffnung, daß ein Fragment der Zivilisation gerettet werden und eines Tages zu rückkehren würde, um beim Wiederaufbau zu helfen. Die internationalen Spannungen hatten sich in den letzten Monaten vor dem Abflug so verschärft, daß man keine Zeit mehr gehabt hatte, den Feldantrieb sorgfältig zu erproben. Eine so neue und wenig er forschte Antriebsart hätte unter normalen Umständen durch zahlreiche Testflüge erprobt werden müssen, bevor man sich ihr anvertraute. Aber im nächsten Jahr hätte es schon zu spät sein können. Und ver schiedene Forschungsschiffe hatten ja bereits die nä heren Sterne besucht, wobei sie sich knapp unterhalb der Lichtgeschwindigkeit bewegt hatten, wobei die jahrelange Abwesenheit für die Besatzung auf ein paar Wochen Reisezeit zusammengeschrumpft war. Warum sollte die »Traveler« nicht genauso erfolg reich operieren? »Der absolute Krieg?« sagte Frederika, wie sie es schon so oft getan hatte. »Ein Gemetzel, das die ganze Erde leblos und steril zurückgelassen haben soll? Nein, daran kann ich nicht glauben.« »So simpel darf man es natürlich nicht sehen«, er widerte Darkington. »Wahrscheinlich endete der Krieg mit einem nominellen Sieger. Aber auch sein Land war so verheert, daß an einen Wiederaufbau oder auch nur an die Erhaltung der übriggebliebenen Industrieanlagen nicht zu denken war. Dem Erlö schen des Menschengeschlechts ging vielleicht ein Rückfall in dunkle Urzeit voraus.« »Hm, ich weiß nicht«, wandte Kuroki ein. »Immer hin gab es eine Menge Maschinen. Die Automation war weit fortgeschritten. Denk nur an diese sich
selbst reproduzierenden, von Sonnenenergie betrie benen, Minerale sammelnden Hochseeflöße. Und an viele andere sich selbst erhaltende Mechanis men. Ich sehe nicht ein, warum die Industrie sich auf einer solchen Basis nicht wiederbeleben lassen sollte.« »Die Radioaktivität muß überall gewesen sein«, er klärte Darkington. »Ihre Auswirkungen auf alle le benden Wesen müssen äußerst schwerwiegend ge wesen sein. Der ganze Prozeß mochte Hunderte von Jahren gedauert haben. Arten und Rassen veränder ten sich oder starben aus. Wie sollten die überleben den Menschen ihre Technologie neu schaffen, wäh rend sich die Biologie ringsumher auflöste?« Er schüttelte traurig seinen Kopf. »Das ist meine An sicht. Ich kann mich irren, aber sie scheint den Tatsa chen zu entsprechen. Genau werden wir es wohl nie wissen, fürchte ich allerdings.« Die Erdkugel kam wieder in Sicht, größer jetzt und deutlicher. Wolkenfelder lagen weiß über schim mernden Ozeanen. Die Erde war noch schön. Aber die veränderten Formen der Kontinente lagen in schwarzen und gelblichen Farbtönen, wo sie ein mal grün gewesen waren. Die Polkappen waren bis auf winzige Reste abgeschmolzen, die Wassertempe raturen der Ozeane lagen zwischen zwanzig und sechzig Grad Celsius. In der Atmosphäre gab es kei nen freien Sauerstoff mehr; sie bestand jetzt vorwie gend aus Stickstoff, Ammoniak, Schwefeldioxyd, Wasserstoffverbindungen und Dampf. Die spektro skopischen Untersuchungen hatten keine Spuren von Chlorophyll oder anderen nennenswerten organi schen Substanzen gezeigt. Die Bodenbedeckung, so weit man sie durch die dichte Atmosphäre identifi
zieren konnte, bestand aus kristallinen Mineralen und Metallen. Dies war nicht mehr die Erde. Es gab eigentlich keinen Grund, warum die »Traveler« ein Tochter schiff mit drei unentbehrlichen Menschen hinunter schicken sollte, damit sie sich die Leblosigkeit ihres Heimatplaneten näher ansahen. Aber niemand hatte den Vorschlag gewagt, das Sonnensystem ohne einen solchen letzten Besuch zu verlassen. Darkington erin nerte sich, seine tote Großmutter gesehen zu haben, als er zwölf Jahre alt gewesen war. Die seltsame und fremde Maske, die er im Sarg gesehen hatte, war nicht sie gewesen, aber wo war sie geblieben? »Nun, was auch immer geschehen sein mag, es liegt drei Milliarden Jahre zurück«, sagte Kuroki, ein wenig zu laut. »Vergessen wir es. Wir haben unsere eigenen Pro bleme zu lösen.« Frederikas Augen hatten den Planeten nicht verlas sen. »Wir können nie vergessen, Sato«, sagte sie. Ihre Gegenwart ließ Darkington seine Traurigkeit für ei nen Augenblick vergessen. Aber er wußte, daß sie immer da sein würde, in jedem von ihnen. Und er hoffte, daß sie ihren Kindern nicht zuviel von dieser Traurigkeit mitgeben würden. Laßt uns nicht ewig um Zion weinen ... Warum hatte sich das Leben in diesen drei Milliar den Jahren nicht von neuem entwickelt? Die Radio aktivität mußte spätestens nach einigen Jahrhunder ten verschwunden sein. Dann mußten Bedingungen eingetreten sein, die der erdgeschichtlichen Frühzeit glichen. Was hatte gefehlt, daß es nicht zu neuem Le ben gekommen war?
Er wurde aus seinen Überlegungen gerissen, als Kuroki sagte: »Ich glaube, wir können die Spirale jetzt verengen.« Er bediente die Kontrolltasten. Die schon nahe Erdkugel schien ungeheuer anzuschwel len, als stürzte sie auf das Raumschiff zu. Dann war sie plötzlich nicht mehr vor oder über ihnen, sondern unter ihnen; und sie war nicht mehr ein kleiner Pla net, sondern eine riesige, sanftgerundete Fläche. Die Bremsdüsen traten in Aktion, und Kurokis Finger tanzten auf den Kontrolltasten wie die eines Piani sten. Darkington wußte, daß der Pilot weniger der Herr des Raumschiffs war als sein Helfer. Eine Masse von so vielen Tonnen Gewicht, die durch eine turbulente Atmosphäre schoß und mit Radarstrahlen nach ei nem sicheren Landeplatz suchte, ließ sich nicht mehr von einem organischen Gehirn und Nervenfunktio nen dirigieren. Das zentrale Navigationsgerät – eine Datenverarbeitungsanlage, deren Informationen von den Instrumenten kam und deren Befehlsimpulse di rekt an das Steuerungssystem und die übrigen Kon trollen gingen, erledigte alle Operationen selbsttätig. Kurokis Finger konnten dem Schiff mit einigen Ta stendrücken sagen: »Geh dorthin«, aber das Naviga tionsgerät konnte den Befehl verweigern und seinen eigenen Kursberechnungen folgen, wenn es ihn für falsch hielt. »Ich glaube, wir werden zwischen diesen Hügeln dort niedergehen.« Der Pilot mußte brüllen, um das Dröhnen der Bremsdüsen zu übertönen. »So sind wir gerade östlich der Sonnenaufgangslinie und haben den ganzen Tag vor uns. Das Flachland sieht irgendwie für eine Landung zu sumpfig aus.«
Darkington nickte und sah Frederika an. Sie lä chelte und zeigte mit dem Daumen ihrer rechten Hand nach oben. Er beugte sich hinüber, soweit es der Sicherheitsgurt zuließ und streifte ihre Wange mit seinen Lippen. Sie errötete. Eines Tages, auf einem anderen Planeten – der vielleicht noch nicht einmal geboren war, als sie die Erde verlassen hatten ... Sie konnten sich jederzeit zu einem neuen Sonnensystem aufmachen und fünfzig Lichtjahre reisen, ohne mehr als ein paar Monate älter zu werden. Ein letzter Abschied von der Großmutter Erde, dachte er. Dann können wir das Leben neu be ginnen, das wir von ihr empfangen haben. Aber gleichzeitig wurde er trotz aller beruhigenden Versi cherungen die Befürchtung nicht ganz los, daß es noch einmal so kommen könnte, wie sie es nach ih rem Start in die Tiefen des Weltraums erlebt hatten. Damals hatte der Antrieb der »Traveler« nicht wie vorgesehen funktioniert, und sie waren mit immer zunehmender Geschwindigkeit ins All hineingerast. Die Milchstraße war hinter ihnen zurückgeblieben, sie hatten die Lichtgrenze überschritten, und erst das Nachlassen der Feldenergie zwischen fernen Spiral nebeln hatte bewirkt, daß sie die »Traveler« wieder unter ihre Gewalt bekommen und umkehren konn ten. Und während an Bord die Zeit stehengeblieben war, hatten Jahrmilliarden die Sterne verwandelt. Die Bremswirkung wurde stärker. Darkington lag in seinem Sitz, der jetzt zu einer Art Couch geworden war, und konzentrierte sich aufs Atmen. Sie erreichten den Boden. Plötzlich war es vollkommen still. Kuroki war der erste, der sich bewegte. Er löste seinen Sicherheitsgurt
und stellte die Lehne seines Sitzes aufrecht. Mit der einen Hand nahm er das Mikrophon aus der Halte rung, mit der anderen drückte er auf Knöpfe. »Hallo Traveler, hallo Traveler«, rief er. »Bitte Rückmel dung.« Er wartete, bis die Antwort eintraf, dann gab er seine Landemeldung und die Positionsangabe. Darkington machte sich los und half Frederika. Er schluckte. »Würdest du zuerst aus dem Bullauge schauen, mein Schatz? Ich bringe es einfach nicht über mich.« Er stand bewegungslos, bis sie endlich den Kopf hob und hinausblickte. 3. Die ganze Fremdartigkeit der Umgebung kam ihnen erst zu Bewußtsein, als sie ihre Raumanzüge angelegt und das Schiff verlassen hatten. Dann wanderten sie fast wortlos umher, sahen und fühlten, was ihre Ge hirne nicht verarbeiten konnten und sich vorläufig noch jeder Beurteilung entzog. Ein Baum ist ein Baum, überall und immer, ganz gleich, wie seine Äste und Blätter gestaltet sind. Aber was ist ein – ein dik ker grauer Metallschaft, der sich über ein labyrinthi sches Gewirr aus geraden und gebogenen Stangen und Gitterwerk erhebt, an die zwanzig Meter hoch ist und an der Spitze zahlreiche schwärzliche Platten trägt, die der Sonne zugekehrt sind? Wenn man einen Punkt erreicht hat, wo man in der Lage ist, ein solches Ding überhaupt zu beschreiben, dann hat man es schon zu einem guten Teil verstan den. Nach einiger Zeit sah Darkington, daß dieselbe
Struktur sich in zahllosen Variationen der Form und der Größe wiederholte, soweit das Auge reichte. Ei nige waren hoch und dünn, andere niedrig und breit, so bedeckten sie die Hänge der Hügel. Am Boden dieses sonderbaren Waldes herrschte Dämmerlicht, aber einzelne Sonnenstrahlen malten glitzernde Re flexe selbst in die tiefsten Schatten, und der Wind schüttelte die der Sonne zugewandten Platten, daß es klapperte und klang und lärmte. Es gab keine Erde, nur Sand, rostroten und gelben Sand. Aber außerhalb des Kreises, der von den An triebsdüsen des Raumschiffs verwüstet worden war, fand Darkington, daß der Boden mit kristallinen Auswüchsen bedeckt war. Sie erreichten eine Höhe von zehn bis fünfzehn Zentimetern, waren überaus zerbrechlich und schienen im Boden verwurzelt zu sein. Er brach einen ab und untersuchte ihn näher. Es schien sich um eine Art Silikat zu handeln, transpa rent und aus unzähligen zusammenhängenden Kri stallen gewachsen. Das Material funkelte in der Sonne so hell, daß man den inneren Aufbau nicht studieren konnte. Er wanderte ein Stück hügelaufwärts und hoffte auf einen Ausblick, der wenigstens entfernt an das Bild erinnerte, das er in sich trug. Als der Hang so steil wurde, daß er nichts als die Kristalle tragen konnte – sie bedeckten weite Flächen wie ein Teppich – sah er Erosionsfurchen, verstreute Felsblöcke und in der Fer ne den weißen Gischt eines Wasserfalls. Das Land senk te sich in sanften Wellen und führte den Blick in blaue, dunstige Fernen. Eine schneebedeckte Gebirgskette bewachte den östlichen Horizont. Der Himmel über ihm war dunkler, als er ihn in Erinnerung hatte, von
einem etwas grünlichen Blau, und mit eilig ziehenden Wolken bedeckt. Er konnte nicht einmal in die Nähe der großen, gleißenden Sonne sehen. Kuroki kam zu ihm. »Was sagst du dazu, Hugh?« fragte der Pilot. »Ich finde kaum Worte. Und du?« »Ich kann keinen klaren Gedanken fassen, solange diese verdammte Röhrenfabrik einen derartigen Lärm vollführt.« Kuroki machte hinter seiner Sicht platte eine Grimasse. »Schalte dein Sonarmikrophon aus und laß uns über die Funksprechanlage reden.« Darkington nickte. Ohne die Verstärkung drang der Lärm wie fernes Glockenläuten durch seinen Iso lierhelm. »Ich glaube, wir können annehmen«, sagte er, »daß nichts von dem, was wir hier sehen, rein zufällig ist.« »Aber irgendwie sieht es auch nicht fabriziert aus.« »Nun, du darfst auch nicht erwarten, daß sie ihre Produkte in einer Fabrik herstellen, wie wir sie ken nen.« »Sie?« »Wer oder was auch immer dieses Zeug gemacht hat.« Kuroki pfiff leise. »Ich fürchtete schon, daß du so etwas sagen würdest. Aber wir haben bei unseren Umkreisungen keine Spur von Städten, Straßen oder dergleichen gesehen. Ich weiß, daß die Bewölkung die Beobachtungen erschwert hat, aber wir hätten die Zeichen einer Zivilisation nicht übersehen können, die in diesem Maßstab produziert.« »Warum nicht? Wenn die Zivilisation nicht im Ent ferntesten dem ähnelt, was wir uns darunter vorstel len können?«
Frederika kam zu ihnen. »Auf allen Radiowellen wimmelt es«, meldete sie. »Soviel Pfeifen, Brummen, Summen und Heulen hab' ich meiner Lebtag noch nicht gehört.« Kuroki nickte. »Als wir noch auf der Umlaufbahn waren, habe ich schon etwas davon aufgefangen. Ich habe mir nicht viel dabei gedacht.« »Nur Geräusche«, sagte Frederika hastig. »Nicht differenziert genug, um so etwas wie Mitteilungen zu sein. Aber ich frage mich, was für eine Bewandtnis es damit haben mag?« »Oszillatoren«, sagte Darkington. »Zufällige Aus strahlungen von verschiedenen – na, sagen wir mal: Maschinen.« »Aber ...« Ihre Hand stahl sich in die seine. Ein Handschuh umklammerte den anderen. Sie befeuch tete ihre Lippen. »Nein, Hugh, das ist absurd. Wie könnte jemand fähig sein, das zu machen, was wir hier sehen, ohne unser Landemanöver beobachtet und irgend etwas unternommen zu haben?« Darkington zuckte die Achseln. Die Bewegung blieb unter seinem Raumanzug verborgen. »Vielleicht sind sie im Moment nicht hier«, erklärte er lahm. »Der ganze Planet könnte eine vollautomatisierte Fa brik sein, weißt du, wie diese Erntemaschinen für die Mineralgewinnung aus dem Ozean, die wir zu unse rer Zeit hatten. Sato hat sie schon erwähnt. Vielleicht kommt in regelmäßigen Abständen jemand, um die Produktion einzusammeln.« »Woher sollen sie kommen?« fragte Kuroki barsch. »Das weiß ich doch nicht. Hören wir lieber auf, wilde Vermutungen anzustellen. Wir haben genug praktische Arbeit vor uns.«
Es wurde still zwischen ihnen. Die skelettartigen Türme und Masten läuteten. Viele schwache, unbe stimmbare Geräusche tummelten sich auf der Wel lenlänge ihrer Funksprechgeräte. Endlich nickte Kuroki. »Ja. Was sagt ihr zu einem kleinen Spazier gang? Vielleicht finden wir etwas.« Keiner ließ sich seine Angst anmerken. Sie wagten es nicht. Sie kehrten ins Raumschiff zurück und trafen die nötigen Vorbereitungen. Die »Traveler« umkreiste Erde und Mond in weitem Abstand, und Kapitän Thurshaw gab widerwillig seine Zustimmung zu ei ner Erkundung zu Fuß. Während Kuroki sprach, holten Darkington und Frederika die Ausrüstungsge genstände. Sie brauchten nicht viel. Die Spezialbatte rien in ihren Raumanzügen enthielten noch genug Ladung, um Thermostaten und Lufterneuerer hun dert Stunden lang zu betreiben, und sie planten, nur drei oder vier Stunden auszubleiben. Sie beluden zwei Traggestelle mit Nahrungsmitteln, Wasser und den sogenannten »Eimern«, die zum Essen und für andere natürliche Funktionen gebraucht wurden. Doch das geschah nur für den Fall, daß sich ihre Rückkehr verzögerte. Dann kam eine Auswahl wis senschaftlicher Instrumente für die geplanten Mes sungen, einige Beutel für gesammelte Materialproben und das aufblasbare Leichtzelt. Darkington steckte eine Pistole ein. Kuroki hängte sich das lange Rohr eines Raketen gewehrs um und füllte sein Traggestell mit Geschos sen. Endlich schlossen sie die Ausstiegsluke hinter sich und traten hinaus. »Welche Richtung nehmen wir?« fragte Frederika.
»Süden«, sagte Darkington, nachdem er das Ge lände betrachtet hatte. »Wir folgen diesem langen Höhenzug, würde ich sagen. Auf die Weise können wir uns nicht so leicht verlaufen.« Diese Gefahr war allerdings verschwindend gering, denn das Raum schiff sendete ein Dauersignal; außerdem trug jeder von ihnen einen Kompaß am Handgelenk. Das Schiff kam bald außer Sicht. Sie gingen durch einen surrealistischen Wald aus Stangen, Gittern, Spi ralen und Platten. Die Bodenkristalle knirschten bei jedem Schritt unter ihren Füßen. Darkington begann verschiedene, anscheinend unabhängig voneinander bestehende Strukturen zu unterscheiden. Mehrmals sahen sie zusammengebrochene Objekte, die am Bo den zerfielen und oxydierten. Frederika untersuchte einige kleinere Muster und sagte: »Eine Aluminiumlegierung scheint das häufig ste Material zu sein. Aber hier, sieh mal, diese feinen, darin eingelagerten Adern müssen Kupfer sein. Und dies hier ist wahrscheinlich Manganstahl mit irgend einem seltsamen Schutzüberzug.« Darkington brach eins der kleineren stangenartigen Gebilde ab und betrachtete die Bruchstelle durch ein Vergrößerungsglas. »Porös«, sagte er. »Mein Gott, sollten das etwa Kapillargefäße zum Transport von Wasser sein? Ich habe noch nie von einer feiner kon struierten Maschine gehört«, erklärte er. »Ich glaubte, nur ein biologisches System könnte ...« »Halt! Da!« Kurokis Stimme gellte in ihren Empfängern. Dar kington tastete nach dem Griff seiner Pistole. Sein Kopf drehte sich im Helm, und nach einem Moment sah auch er das Ding.
Es regte sich zwischen den Schatten, hinter einem niedrigen, zylinderartigen Stumpf, der oben mit den üblichen schwarzen Platten besetzt war. Es war viel leicht einen Meter lang und zwanzig bis dreißig Zen timeter hoch – jetzt kam es ganz in Sicht. Darkington sah einen schlanken Körper und sechs kurze Beine aus gegliedertem, mattem Metall. Am Kopfende drehte sich eine Art Gitterwerk wie ein Miniaturra dar. Darunter glitzerte etwas Knopfartiges. Doppel linsen? Zwei dünne Tentakel hielten ein Metallstück von einer der großen stationären Strukturen. Sie schoben es in eine Öffnung. Funken wurden sichtbar. »Heiliger Konfuzius!« flüsterte Kuroki. Das Ding verharrte regungslos. Das Gitterwerk am Vorderende schwang herum, bis es auf die Menschen gerichtet zur Ruhe kam. Dann war das Ding weg, un glaublich schnell. Zwei Sekunden später war nichts mehr zu sehen. Die drei rührten sich nicht von der Stelle. Dann stieß Frederika einen leisen Schrei aus und umklam merte Darkingtons Arm. Sein Körper entspannte sich, und er sagte etwas von Roboterschildkröten in der Frühzeit der kybernetischen Forschung. Es seien ganz einfache Experimentiermaschinen gewesen. Ein Mo tor trieb eine fahrbare Plattform an, die von einer photoelektrischen Einheit gesteuert wurde und zur Aufladung seiner Batterien selbsttätig Lichtquellen aufsuchte. Wenn dies geschehen war, setzte der Ge geneffekt ein, und die kybernetische Maschine suchte die Dunkelheit. Ein einfaches Rückkopplungsprinzip. Aber die Maschinen hatten eine erstaunliche Zielstre bigkeit entwickelt, Hindernisse überwunden oder so gar umgangen ...
»Das Biest hier war viel komplizierter«, unterbrach sie ihn. »Gewiß, gewiß«, sagte Darkington. »Aber ...« »Ich wette, es hat Satos Stimme im Radio gehört, uns mit Radar oder Augen ausgemacht und ist ge flüchtet.« »Schon möglich, obwohl mir deine anthropologi sche Sprache in diesem Zusammenhang nicht behagt. Immerhin ...« »Es hat von diesem Stengel gefressen.« Frederika ging hinüber und hob das Metallstück auf, das der Renner fallengelassen hatte. »Siehst du, das Ende ist von einem Paar grober Schleifräder oder etwas Ähn lichem zerrieben. Mit Zähnen, wie wir sie haben, kannst du nicht gut Aluminium essen. Du mußt es zermahlen.« »He!« fiel Kuroki ein. »Wie lange wollt ihr noch diskutieren?« »Was zum Teufel ist da unten los?« fragte der Mann an Bord der »Traveler«. Sie gingen langsam weiter, wie im Traum, und be richteten dabei, was sie gesehen hatten. Frederika schloß: »Diese – dieses Arrangement ist möglicher weise eine Art automatischer Fabrik – chemosynthe tisch oder so etwas – wenn man sie für sich betrach tet. Aber nicht, wenn Biester wie dieses frei darin herumlaufen.« »Augenblick mal«, sagte Darkington. »Es könnten Instandhaltungsroboter sein. Zum Wegräumen von Abfällen und so weiter.« »Eine Wissenschaft, die so entwickelt ist, daß sie bauen kann, was wir gesehen haben, würde kein der art unrationelles Instandhaltungssystem verwenden«,
antwortete sie. »Laß deine professionelle Skepsis fal len, Hugh, und gib zu, was offensichtlich ist.« Bevor er antworten konnte, wurde in seinem Emp fänger ein merkwürdiges Geschnatter laut. Er ver suchte es auszuregulieren – es war nur mit starkem Schwund vernehmbar und kam in rasch an- und ab schwellenden Ausbrüchen – aber die Bandbreite war zu groß. Was er hörte, klang wie ein außer Kontrolle geratenes elektronisches Orchester. Schweiß prickelte auf seiner Stirn. Plötzlich brach das Geräusch ab. »So, Hugh«, sagte Kuroki mit gepreßter Stimme. »Vielleicht hast du dafür auch eine Erklärung.« »Es könnte eine Art Sprache gewesen sein«, sagte Frederika heiser. »Das waren keine einfachen Oszil lationen, wie wir sie auf den anderen Frequenzen ge hört haben.« Kapitän Thurshaw sprach jetzt selbst aus dem Raumschiff: »Geht lieber zurück und macht euch startbereit.« Darkington fand seine Fassung. »Nein – also ich meine, lieber nicht gleich. Wenn – wenn es hier intel ligente Wesen gibt ... wenn wir wirklich Kontakt mit ihnen aufnehmen wollen, dann ist jetzt der Zeitpunkt dafür gekommen. Vielleicht sollten wir doch wenig stens einen Versuch machen.« »Nun ...« »Natürlich bringen wir dich erst zum Schiff zurück, Frederika.« »Unsinn«, sagte sie energisch. »Ich bleibe bei euch.« Sie setzten sich wieder in Bewegung. Einmal, als sie eine offene Stelle überquerten, wo nur Kristalle wuchsen, sahen sie etwas am Himmel. Im Feldstecher erwies es sich als ein metallisches Objekt, das in der
Form an einen Rochen erinnerte. Offenbar war es größtenteils hohl und wurde von der Luftströmung getragen. Eine Gasdüse am Schwanzende ließ das Ding in langsamer Fahrt durch den Himmel kreuzen. »Oh, natürlich«, murmelte Frederika. »Vögel.« Sie betraten wieder das waldartige Dickicht der hohen Strukturen. Sie hatten ihre Sonarverstärker wieder eingeschaltet, und das Klappern der Platten im Wind verursachte einen höllischen Lärm. Die Radioimpulse, die möglicherweise Sprache darstellten, bellten wieder in den Empfängern. »Das alles gefällt mir nicht«, erklärte Thurshaw. »Ihr habt zu viele Unbekannte auf einmal gegen euch. Kehrt zum Schiff zurück, dann können wir über die näch sten Schritte diskutieren.« Sie gingen in derselben Richtung weiter, mecha nisch und ohne nachzudenken. Wir sind hier gar nicht so fehl am Platz, in diesem steifen und kalten Wald, dachte Darkington. Aber wir sollten lieber um kehren. Wir wollen unsere Würde als organische We sen nicht in dieser Umgebung verlieren! »Das ist ein Befehl«, sagte Thurshaws Stimme. »In Ordnung, Sir«, antwortete Kuroki in dienstli chem Tonfall. »Befehl wird ausgeführt.« Das Geräusch rennender Schritte ließ sie haltma chen. Sie fuhren herum. Frederika kreischte. »Was ist los?« brüllte Thurshaw. »Was ist pas siert?« Die unbekannte Sprache schnatterte los und übertönte seine Worte. Kuroki riß sein Raketengewehr von der Schulter und brachte die Waffe in Anschlag. »Warte!« schrie Darkington. Aber gleichzeitig griff er schon zur Pi stole. Das Etwas stürmte in einem Schauer zersplit
ternder Kristalle heran und wischte dabei Stangen und Gitterwerk beiseite. Sein ungeheures Gewicht brachte den Boden zum Erzittern. Für Darkington schien die Zeit stehenzubleiben, er hatte Minuten oder Stunden, um seine Pistole zu zie hen und zu entsichern, Frederika seinen Namen rufen zu hören und zu sehen, wie Kuroki zielte und feuerte. Die fremde Gestalt erhob sich riesenhaft vor ihnen. Drei Meter hoch, stand sie auf zwei überaus bewegli chen Beinen, hatte vier monströse Greifarme und ei nen Kopf, der mit dem Gitterwerk von Antennen und Radar gehörnt war. Zwei große, augenähnliche Lin sen reflektierten das Sonnenlicht mit einem leeren Glitzern. Unter ihnen befand sich eine klaffende Öffnung zum Zermalmen und Zerreiben irgendwel cher metallischer Nahrung, und – die Rakete explo dierte! Das Ding taumelte und fiel beinahe. Einer der Greifarme war zerstört. »Ha!« Kuroki lud hastig nach. »Bleib wo du bist, du!« Frederika, die Darkington in panischer Angst um klammerte, keuchte: »Sato, vielleicht wollte es uns gar nichts tun!« Kuroki schnappte: »Vielleicht doch. Wir können nichts riskieren, es ist zu verdammt groß.« Dann ging alles drunter und drüber. Plötzlich wurde Kuroki das Raketengewehr von einer heranfliegenden Eisenstange aus den Händen geschlagen und er selbst zu Boden geworfen. Keiner von ihnen hatte das Eisen zuvor bemerkt. Und der Riese war zwischen ihnen. Ein Schlag über Kurokis Rücken zerstörte sein Radio und schmetterte ihn er neut zu Boden. Blaue Flammen spuckten, und Frede rikas Stimme erstarb in Darkingtons Empfänger.
Seine Pistole bellte, aber die Kugeln blieben ohne jeden Effekt. Er rannte davon. »Lauf, Fredie!« heulte er in sein Sonarmikrophon. »Ich versuche ...« Die Ma schine fing ihn und hob ihn vom Boden wie eine Fe der. Die Pistole entfiel seiner Hand. Im nächsten Moment brachen Thurshaws entsetzte Fragen und Verwünschungen ab: Darkingtons Antenne war mit den anhängenden Drähten ausgerissen. Frederika versuchte zu entkommen, wurde aber ebenso mühe los eingefangen. Kuroki war aufgestanden und bear beitete das Monstrum mit sinnlosen und lächerlichen Faustschlägen. Es dauerte kaum ein paar Sekunden, dann war auch er gefangen. Die Maschine um schnürte sie alle mit einem Stahlseil, stopfte sie rück sichtslos in ein Traggestell, das sie auf dem Rücken trug und schleppte sie nach Süden davon. 4. Zuerst rannte Null beinahe. Das Ungeheuer mußte erfahren haben, wo seine Helfer waren, und wahr scheinlich wußte es auch etwas von dem, was ihnen zugestoßen war. Nun, nachdem die Kontakte unter brochen waren, mochte es andere hinterher schicken, besser bewaffnete. Oder vielleicht würde es selber brüllend und brennend durch den Wald kommen. Null floh. Nur die Stimme des Ungeheuers, die kreischend nach den verlorenen Helfern rief, folgte ihm. Nach einigen Meilen kauerte er in einem Dickicht nieder und suchte mit seinen Sensoren die Umgebung ab. Außer dicht wachsenden Akkumulatoren und dem
leeren Himmel war nichts zu sehen. Das Ungeheuer hatte zu rufen aufgehört, aber es sendete immer noch ein unmoduliertes Signal. Durch die Entfernung war es schwächer geworden und wurde von den anderen Radiogeräuschen fast verschluckt. Die Einheiten, die Null gefangen hatten, gaben be trächtliche Schallwellenausstrahlungen von sich. Wenn sie nicht einfach das Resultat einer Fehlfunkti on in ihrem beschädigten Mechanismus waren, mußten sie von irgendeinem Hilfssystem produziert werden, das sie mittels innerer Kontrollen einge schaltet hatten. Nulls Schallwellenempfänger war nicht sensibel genug, um ihm zu sagen, ob die Emis sionen moduliert waren oder nicht. Es war ihm auch gleichgültig. Gewisse niedrige Formen von Motiles waren mit gut entwickelten Sonarsystemen ausge stattet, doch alle in ihrer Reichweite so begrenzten Hilfsmittel waren für ihn selbst nutzlos. Eine Person benötigte viele Quadratkilometer, um sich am Leben zu erhalten. Wie könnte es ohne die mühelose Fähig keit, über weite Entfernungen zu sprechen, über haupt eine Gemeinschaft von Personen geben? Zum erstenmal in den hundertfünfzig Jahren seiner Existenz begriff Null, wie wenige Personen er jemals direkt durch seine Optik gesehen hatte. Wie wenige er berührt hatte. Hier und da, zu diesem oder jenem Zweck, kam es vor, daß einige sich trafen. Die männ lichen Verwandten einer Braut begleiteten sie auf ih rer Reise zum Wohnsitz ihres künftigen Mannes. Ein zelne Personen trafen sich, um die Produkte ihrer Ar beit auszutauschen. Aber die bevorstehende Ver sammlung aller funktionsfähigen männlichen Perso nen an der Gletscherzunge würde die größte Zu
sammenkunft der ganzen Geschichte sein. Nicht ein mal Hundert schien die Einzigartigkeit eines solchen Geschehens erfaßt zu haben. Das mochte daran liegen, daß Personen ständig miteinander in Kontakt blieben. Nicht nur praktische Fragen wurden diskutiert. Tatsächlich, nun, da Null darüber nachdachte, nahmen solche Probleme nur den geringsten Teil ihrer Konversation in Anspruch. Die Hauptthemen waren Fragen des Rituals, Kunst oder einfach freundliche Unterhaltung. Null war Sie ben als physikalischer Einheit noch nie begegnet, aber die Jahrzehnte, in denen jeder die Gedichte des ande ren kritisiert hatte, hatten sie zu intimen Freunden werden lassen. Die abstrakten Tonkompositionen von Sechsundneunzig, die Erzählungen von Achtzig, die Spekulationen über Zeit und Raum von Sechsund fünfzig – solche Dinge gehörten allen gemeinsam. Daher war es ganz klar, daß kaum jemals die Not wendigkeit zu physikalischen Kontakten bestand. Null war noch nie am Meeresufer gewesen. Aber er hatte sein Bewußtsein mit Vierzehn geteilt, der dort lebte. So war es ihm möglich gewesen, das langsame Heranrollen der Wellen kennenzulernen, ihr Rau schen zu hören, das Salz in der Luft zu schmecken; er hatte erfahren, wie man den Körper mit Fett be schmierte, um ihn vor Rost und Korrosion zu schüt zen, wie man ein Aquamotile aus dem Netz holte und es verspeiste. In jenen Stunden waren er und der See fischer eins gewesen. Und später hatte er Vierzehn den Wald im Hochland gezeigt ... Worauf warte ich noch? Null erkannte plötzlich, daß er ins Träumen geraten war. Das Ungeheuer ver folgte ihn nicht. Die Einheiten auf seinem Rücken wa
ren ziemlich still geworden. Aber er war immer noch weit von der Höhle entfernt. Er stand auf und wan derte weiter, langsamer jetzt und darauf bedacht, keine allzu deutlichen Spuren zu hinterlassen. Als die Stunden vergingen, wurden die inneren Warnsignale häufiger. Die Energiezellen mußten auf geladen werden. Gegen Mittag machte er halt und lud seine drei Beutestücke ab. Sie wanden sich schwächlich in ihren Fesseln, und einer hatte einen Arm herausgezogen. Er befreite sie und probierte ei ne neue Art der Fesselung aus. Er schlang das Draht seil nacheinander um die Mitte jedes der drei Wesen, daß sie ihre Glieder bewegen konnten, aber unterein ander verbunden waren. Dann schweißte er die bei den freien Enden des Seils an einen Mast. Dieser zusätzliche Energieverbrauch verursachte ihm Heißhunger. Er durchsuchte den Wald, bis er ei nige Akkumulatoren der Kalathiart entdeckte. Zielsi chere Hiebe mit seiner Brechstange legten ihr poröses Inneres frei, das reich an Energiespeicherzellen und Mineralsalzen war. Es war kein großer Genuß, sie unverarbeitet zu essen, aber er war zu hungrig, als daß es ihn störte. Nachdem das erste Bedürfnis ge stillt war, konnte er gründlicher und aufmerksamer suchen. Bald fand er auch die Spuren eines Gräbers, der sich in den Sand eingewühlt hatte, und förderte ein weibliches Exemplar zutage. Es war durch ein halbfertiges neues Muster ihrer Gattung behindert und schwerfällig, und er hatte keine Mühe, es zu fan gen. Auch dies wäre besser gewesen, wenn er es mit Hitze und Säure hätte behandeln können, aber selbst das rohe Material war eine Wohltat für seine Zerklei nerungswerkzeuge.
Nun galt es, noch etwas für Eins zu beschaffen. Obwohl sie ihre Funktionen besser als er verringern konnte, wenn die Nahrung knapp war, mußte er ihr etwas bringen, denn die Nähe des Ungeheuers konnte spätere Jagdausflüge erschweren oder gar unmöglich machen. Nachdem er eine Stunde lang ge sucht hatte, war ihm das Glück endlich hold. Null scheuchte einen Rotor auf. Er raste durch Gestänge und Kristalle davon, schneller als Null rennen konn te, aber Null schoß ihm einen Stahlbolzen durch den Leib. Zerlegt und ins Traggestell gepackt, bildete der Rotor eine überaus wertvolle Last. Er kehrte zu seiner Beute zurück. Weil er sich vor sichtig bewegte und der Lärm der Akkumulatoren seine Geräusche übertönte, konnte er sich ihnen un bemerkt nähern. Sie hatten ihre Befreiungsversuche aufgegeben – er sah, daß das Drahtseil an mehreren Stellen blankgescheuert war, wo sie versucht hatten, es an scharfkantigen Steinen zu zersägen – und be schäftigten sich mit anderen Arbeiten. Einer von ih nen hatte einen kastenförmigen Gegenstand vom Rücken genommen und steckte Kopf und Arme durch Öffnungen, die offenbar mit Dichtungen ver sehen waren. Ein zweiter entfernte gerade einen ähn lichen Kasten von seinem Unterteil. Der dritte hatte den flexiblen Schlauch von einer Flasche in sein Ge sicht gesteckt. Null ging näher. »Laßt mich das mal ansehen«, sagte er zu ihnen, bevor ihm einfiel, wie lächerlich es war, sie anzusprechen. Sie schreckten vor ihm zu rück. Er fing den mit der Flasche und zog ihm den Schlauch aus dem Gesicht. Flüssigkeit tropfte heraus. Null streckte seinen chemischen Sensor aus und
schmeckte vorsichtig. Wasser. Sehr rein. Er konnte sich nicht erinnern, jemals Wasser angetroffen zu ha ben, das so frei von aufgelösten Mineralien war. Nachdenklich ließ er die Einheit los. Sie verstöp selte den Schlauch. Sie brauchten also Wasser wie er, überlegte Null, und sie führten einen Vorrat davon mit sich. Das war natürlich; sie konnten schließlich nicht wissen, wo die Flüsse und Quellen waren. Aber warum saugten sie es durch einen Schlauch? Fehlte ihnen eine geeignete Öffnung zur Aufnahme von Flüssigkeit? Augenscheinlich. Das kleine Loch im Ge sicht, in das der Schlauch eingeführt worden war, hatte sich beim Herausziehen automatisch geschlos sen. Die anderen zwei hatten ihre Kästen auf den Boden gestellt. Null studierte sie und ihre Inhalte. In beiden fand er breiiges Material, das eine entfernte Ähnlich keit mit normalem Körperschlamm aufwies. Nahrung oder Abfall? Warum ein so umständliches System? Es war, als müßte der innere Mechanismus peinlich ge nau vom direkten Kontakt mit der Umwelt bewahrt werden. Er gab die Kästen zurück und sah sich ihre Benut zer etwas sorgfältiger an. Sie waren nicht ganz so un beholfen, wie es zuerst den Anschein gehabt hatte. Die Buckel auf ihren Rücken waren abnehmbare Traggestelle gleich seinem eigenen. Einige der Ge genstände, mit denen sie behängt waren, mußten Werkzeuge sein, keine Waffen oder Fluchtmittel, sonst hätten sie sie gewiß schon eingesetzt. Die Ge stalt dieser Zweifüßler war glatter als seine eigene, fast formlos, wenn man von den Gelenken absah. Le diglich der Kopf schien etwas komplizierter zu sein,
doch noch lange nicht so wie der Kopf einer Person. Auf der kugelförmigen Schale wuchsen verschiedene Teile, darunter Schallwellengeneratoren, aus denen Gebabbel drang, während er dastand und sie be trachtete. Das Gesicht war eine Glasplatte, hinter der sich etwas bewegte – was? Irgendein zusammenge setzter, teilweise beweglicher Mechanismus. Es gab keine Möglichkeit, über Radio mit ihnen Ver bindung aufzunehmen. Null machte ein paar experi mentelle Gesten, aber die Einheiten standen bloß her um und scharrten mit den Füßen. Zwei von ihnen um armten sich. Der dritte begann plötzlich die Arme zu schwenken und stieß verstärkt Schallwellen aus. Auf einmal hockte er sich nieder und zeichnete geometri sche Figuren i n den Sand, nicht unähnlich den Braut werbungsfiguren eines männlichen Dünenrenners. Sie waren also nicht nur mechanisch autonom, sondern in gewissem Umfang auch eines unabhängi gen Benehmens fähig. Sie waren mehr als einfache ferngesteuerte Glieder oder Sensoren des Ungeheu ers. Höchstwahrscheinlich waren sie domestizierte Motiles. Aber wenn es sich so verhielt, dann hatte die Rasse dieser Ungeheuer ihren Typ noch weiter entwickelt, als es den Personen im Flachland mit ihren eigenen zahmen Motiles bisher gelungen war. Diese Zwei füßler waren im Verhältnis zu ihrer Größe seltsam schwach; sie verwendeten Schallwellen in einem Um fang, der darauf schließen ließ, daß ihre Fähigkeit zur Radiokommunikation ziemlich unentwickelt war; sie benötigten alle möglichen Hilfsgeräte; kurzum: auf sich selbst gestellt, waren sie kaum funktionsfähig. Nur der Schutz und die Unterstützung durch ihre
Meister erlaubte ihnen eine längere Existenz. Aber wer sind ihre Meister? dachte Null besorgt. Sogar das Ungeheuer selbst könnte nichts weiter als ein Motile sein. Jedenfalls besaß es keine Glieder. Die wirklichen Meister könnten Personen wie wir sein, Personen, die jenseits des Meeres oder der Berge le ben und Fertigkeiten und Kräfte besitzen, die die un seren übertreffen. Aber was wollen sie? Warum haben sie nicht ver sucht, mit uns in Verbindung zu treten? Sind sie ge kommen, um uns unser Land wegzunehmen? Die Frage war aufrüttelnd. Hastig setzte sich Null in Bewegung. Nun, da sein Traggestell beladen war, hatte er für seine Gefangenen keinen Platz mehr. Au ßerdem schien ihnen der Transport eher geschadet als genützt zu haben. Jetzt, nachdem sie sich erholt hat ten, bewegten sie sich viel kräftiger als in den ersten Minuten nach ihrer Befreiung aus dem Traggestell. Er ließ sie aneinandergekettet, schnitt die Drahtseilen den los und nahm eins davon in seine Greifer. Weil er sich Mühe gab, keine Fährte zu hinterlassen, ging er langsam genug, daß sie mit ihm Schritt halten konn ten. Von Zeit zu Zeit taumelten sie und stützten sich aufeinander – offenbar verbrauchten sich ihre Ener giezellen viel rascher als seine – aber er fand, daß sie weitergehen konnten, wenn er ihnen Pausen ge währte, in denen sie sich hinlegten und ihre sonder baren Hilfsmittel benützten. Der Tag verging. Sobald es dunkel wurde, fingen die gefangenen Einheiten an zu stolpern und herum zutasten. Es zeigte ihm, daß sie kein Radar besaßen. Vielleicht war die Anlage auch bei der Zerstörung ih rer Radiosender unbrauchbar geworden.
Nach einiger Überlegung verfertigte er aus gebro chenen und zusammengeschweißten Stangen eine Art Sitzbank und nötigte sie mit sanften Stößen, dar auf Platz zu nehmen. Dann hob er die Sitzbank mit zwei Greifern auf und trug sie vor sich her. Sie machten keine Fluchtversuche mehr und emittierten nur noch wenige und leise Schallwellen. Anscheinend waren sie erschöpft. Aber zu seiner Überraschung begannen sie sich wieder lebhaft zu bewegen und strahlten laute Schallwellen aus, als er endlich die Höhle erreicht und sie niedergesetzt hatte. Als erstes verschweißte er die zwei Drahtseilenden mit einem Eisenblock, den er für Notfälle aufbewahrt hatte. Ein Teil seines Bewußtseins reflektierte, daß ihr Mechanismus sehr seltsam sein mußte, vielleicht so seltsam, daß sie sich als unverdaulich erweisen wür den. Ihre Energiezellen schienen so extremen Span nungsverhältnissen unterworfen zu sein, daß sie zeitweise sämtliche Funktionen zum Erliegen brach ten, was bei Personen nur sehr selten und nach lan gem Nahrungsmittelentzug vorkam. Für diese Ein heiten schien es jedoch normal zu sein, und oft wur den sie ganz plötzlich wieder munter. Null gab seine Spekulationen auf. Während er ar beitete, überflutete Eins besorgte Stimme seinen Emp fänger. »Was ist geschehen? Du bist verletzt! Komm näher, laß mich sehen! Oh, mein Lieber!« »Nichts Gefährliches«, versicherte er ihr. »Ich habe einen Rotor erschossen. Mach dir ein Essen, bevor du dich um mich kümmerst.« Er ließ sich neben ihr auf dem Höhlenboden nieder. Die Glühkugeln, die sie auf den rauhen Steinwänden kultiviert hatten, warfen Glanzlichter auf ihren Kör
per und auf die graziösen Werkzeugfühler, die sich nach ihm ausstreckten. Sein chemischer Sensor brachte ihm den Duft von Lösungs- und Schmier mitteln, die Essenz der Weiblichkeit. Vor der Höhlen öffnung war es dunkel geworden. Der Wald stöhnte und läutete. Aber hier hatte er Licht und ihre Nähe. Er war zu Hause. Sie nahm ihm das Traggestell vom Rücken, machte aber keine Anstalten, den Kessel zu bedienen, der für die Aufbereitung der Nahrung diente. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt seinem beschädigten Arm. »Unterhalb des Ellbogens müssen wir alles ersetzen«, entschied sie. »Null, du lieber tapferer Dummkopf, warum hast du dich solchen Gefahren ausgesetzt? Begreifst du denn nicht, daß meine Welt ohne dich nur Rost wäre?« »Es tut mir leid«, entschuldigte er sich. »Was du jetzt für mich aufwenden mußt, geht unserem Neuen verloren.« »Das macht nichts. Bring mir noch so ein paar hüb sche große Rotoren, und ich werde den Verlust bald ausgeglichen und auch den Neuen fertiggemacht ha ben.« Ihre Fröhlichkeit bekam einen schüchternen Unterton. »Weißt du, ich möchte den Neuen ja auch recht bald aktivieren, damit wir einen anderen anfan gen können.« Die Erinnerung an jenen Augenblick im letzten Jahr, als er seine elektrischen Energien und Magnet felder mit denen ihres Körpers vereinigt hatte, als in ihrem Innern die erste Kristallisation seines Baumu sters stattfand, erfüllte ihn mit Wärme. Was sie jetzt zusammen taten, geschah in einer Atmosphäre liebevoller Intimität. Als sie seinen rui
nierten Unterarm entfernt und er den Stumpf in ihre Reparaturöffnung gesteckt hatte, begannen tausend feine Fühler und Geräte ihre Arbeit. Wieder vereinten sich die elektrischen, chemischen und mechanischen Systeme von Null und Eins. Der Prozeß war bewußt nicht kontrollierbar, er war eine weibliche Funktion. Eins unterschied sich in diesem Augenblick durch nichts von einem primitiven Motile, das sich in einem lichtlosen Wühlgang mit seinem beschädigten Part ner vereinte. Die Reparatur dauerte lange. Die neue Person, die Eins in ihrem Körper aufbaute, war lebensgroß und stand kurz vor der Fertigstellung. Aber sie war noch nicht aktiviert. Die feinsten Verflechtungen des Spei chersystems waren noch im Aufbau begriffen und die Speicherplatten selbst noch nicht magnetisiert. Endlich hatte Eins die Arbeit getan. Langsam zog Null seinen neuen Arm heraus und bewegte die Grei fer. »Nun, funktioniert alles richtig?« fragte sie be sorgt. »Wie fühlst du dich? Gut? Schön, dann laß uns essen. Ich bin ganz schwach vor Hunger!« Null half ihr bei der Zubereitung des Rotors. Auch den beschädigten Unterarm warfen sie in den Kessel. Während sie gemeinsam aßen, berichtete er ihr von seinen Erlebnissen. Die drei Zweifüßler hatten sie nicht sonderlich neugierig gemacht. Wie die meisten Frauen ließ sie jedes eingehendere Interesse für Dinge vermissen, die sich in der Welt außerhalb ihres Hei mes abspielten. Sie hatte einfach angenommen, daß es sich bei den gefangenen Zweifüßlern um eine un bekannte Abart der wilden Motiles handelte. Wäh rend er sprach, wurde sie besorgt, und ihre Fröhlich keit verschwand. »Ach nein«, sagte sie unglücklich,
»du wirst doch nicht so dumm sein und gegen dieses Ungeheuer kämpfen, nicht wahr?« »Doch, wir müssen.« Er wußte, daß sie von der Vorstellung entsetzt war, er könnte bis zur Reparatu runfähigkeit zerstört werden und fügte hastig hinzu: »Wenn wir es in Ruhe lassen, weiß niemand, was es unternehmen wird. Aber auf jeden Fall wird ein gro ßes Ding gewaltigen Schaden anrichten. Selbst wenn es nur ein Graser ist, wird sein Appetit riesige Flä chen mit Akkumulatoren zerstören. Und es kann ein Räuber sein. Andererseits, wenn wir es vernichten, was für ein ungeheurer Schatz an Nahrung! Dein und mein Anteil werden uns in die Lage versetzen, ein Dutzend neue Personen zu produzieren. Die Energie wird mir soviel Kraft und Ausdauer geben, daß ich hundert Kilometer und weiter den Wald durchstrei fen und noch mehr Nahrung herbeischaffen kann.« »Wenn man das Ding assimilieren kann«, gab sie zu bedenken. »Es könnte voll Fluorsäure oder so et was sein, wie ein Rührmichnichtan.« »Ja. Was das angeht, so könnte das Ding auch Ei gentum intelligenter Wesen sein; was jedoch nicht bedeutet, daß wir es nicht zerstören und essen wer den. Ich habe vor, das jetzt gleich festzustellen. Wenn diese Helfer genießbar sind, kann man fast mit Si cherheit annehmen, daß es auch das Ungeheuer ist.« »Aber wenn nicht – Null, nimm dich in acht!« »Ich werde vorsichtig sein, schon um deinetwil len.« Er streichelte sie und spürte eine antwortende Vibration. Es wäre angenehm gewesen, den ganzen Abend so dasitzen zu können, aber er mußte sich bald auf den Weg zum Treffpunkt machen. Und vor her mußte er wenigstens eine der gefangenen Ein
heiten zerlegen. Er hob seine Brechstange auf und näherte sich ihnen. 5. Darkington erwachte aus einem von üblen Träumen erfüllten Halbschlaf, als er auf dem Höhlenboden ab gesetzt wurde. Er streckte seinen Arm nach Frederika aus, und sie kam zu ihm. Sie hockten am Boden und sahen sich um. Der Riese, der sie gefangen hatte, schweißte das Stahlseil an einen unverrückbaren Block aus Roheisen. Das Mädchen saß zwischen Dar kington und Kuroki. Die Seillänge von einem zum anderen betrug etwa einen Meter fünfzig. Mit den Werkzeugen, die sie bei sich hatten, war es völlig unmöglich, das Drahtseil zu zerschneiden. »Eine Kalksteinhöhle«, krächzte Kuroki. Hinter der Sicht platte seines Helms sah er mager, stoppelbärtig und hohläugig aus. Auch in Frederikas Gesicht hatten die Strapazen deutliche Spuren hinterlassen. Wenn der Roboter sie nicht die letzten Stunden getragen hätte, wären sie wahrscheinlich längst zusammengebro chen. Trotzdem waren Darkingtons Sinne klar und scharf. Er konnte so gut beobachten und denken, als befände er sich an Bord des Raumschiffs. Sein Körper schmerzte, aber er ignorierte es und konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf das Geschehen ringsum. Hier, in der Nähe des Eingangs, war die Höhle un gefähr sieben Meter hoch und etwa zehn Meter breit. Dreißig Meter weiter im Innern wurde sie schmaler und endete in einem Spalt. Der rückwärtige Teil der Höhle diente offenbar als Lagerraum und erinnerte
an einen Trödlerladen, der mit mechanischen, elek tronischen Teilen und Werkzeugen aller Art vollge stopft war. Die Wände waren von einem dichten Netzwerk aus dünnen Drähten überzogen, aus dem zahlreiche kleine, kristalline Kugeln hervorsprossen. Diese strahlten ein kühles weißes Licht aus. »Ja, eine einfache Felsenhöhle«, sagte Frederika. »So viel habe ich auch gesehen. Ich war die ganze Zeit mehr oder weniger bei Bewußtsein und versuchte mir die Richtung einzuprägen. Aber wahrscheinlich wird es uns nicht viel nützen.« Sie umschlang ihre Knie mit bei den Armen. »Ich bin todmüde. Ich muß endlich schla fen.« »Das können wir uns jetzt nicht leisten«, erwiderte Kuroki. »Wir müssen uns mit diesem Roboter ir gendwie verständigen. Verdammt, ich wollte diesem blechernen Ungeheuer zeigen, daß wir intelligente Wesen sind. Ich habe Diagramme gezeichnet und ...« Er schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich wird er von denen, die ihn gebaut haben, nicht überwacht. Wir werden es noch mal probieren, wenn sie kommen.« »Sehen wir doch den Tatsachen ins Auge, Sato«, sagte Frederika tonlos. »Es gibt keine Wesen, die ihn gebaut haben. Es hat nie welche gegeben.« »Nein!« Kuroki warf Darkington einen hilfesu chenden Blick zu. »Du bist der Biologe, Hugh. Glaubst du das?« Darkington nagte an seiner Unterlippe. »Ich fürch te, sie hat recht.« Frederikas Lachen bellte in ihren Kopfhörern. »Wißt ihr, was diese große Maschine ist, dort in der Mitte der Höhle? Die, mit der der Roboter herumspielt? Ich will es
euch sagen. Seine Frau!« Sie brach ab. Darkington wandte den Kopf. Die zweite Maschine hatte mit dem Roboter wenig gemeinsam. Sie war niedrig und breit, etwa von der doppelten Masse des zweifüßigen Ro boters und besaß acht kurze Beine, die sie nur lang sam und schwerfällig bewegen konnte. Das Gitter werk ihrer Radio- und Radarantennen, die optischen Linsen und die zwei kräftigen Arme ähnelten denen des Roboters. Aber außerdem verfügte sie über zahl reiche zusätzliche Glieder, lang, dünn und beweglich, die teils fühlerartig waren, teils in spezialisierten Werkzeugen endigten. Glattes, bläuliches Metall um hüllte den Körper. Und doch, wie die zwei sich bewegten ... »Ich glaube, du könntest auch darin recht haben«, sagte Darkington endlich. Kuroki schlug mit der Faust auf den Boden und fluchte. »Wollt ihr mir nicht endlich erklären, worauf ihr hinauswollt? Dieser Schlamassel wäre nicht so schlimm, wenn er einen Sinn hätte.« »Wir können nur Vermutungen anstellen«, sagte Darkington. »Nun, dann vermute doch!« »Roboterrevolution«, sagte Frederika. »Als es keine Menschen mehr gab, begannen die übriggebliebenen Maschinen sich weiterzuentwickeln.« »Nein«, sagte Kuroki, »das ist Unsinn. Unmöglich!« »Was wir gesehen haben, ist anders kaum zu erklä ren«, sagte Darkington. »Metallisches Leben konnte sich nicht spontan entwickeln. Nur Kohlenstoffatome entwickeln jene langen Molekülketten, die für die chemische Speicherung biologischer Informationen notwendig sind. Aber die elektronische Speicherung
kann ähnliche Aufgaben ausführen. Und bevor die Traveler abflog, gab es bereits Maschinen, die sich selbst reproduzierten.« »Ich glaube, die Seeflöße müssen dabei eine ent scheidende Rolle gespielt haben«, sagte Frederika. »Erinnert ihr euch? Es waren motorisierte Flöße, die metallurgische Verarbeitungsanlagen enthielten, und ihre Energie aus Sonnenbatterien bezogen. Sie ent nahmen dem Seewasser gelöste Mineralien, Magne sium, Eisen, Uran, je nachdem, für welchen Zweck sie konstruiert waren. Wenn sie eine volle Ladung bei sammen hatten, fuhren sie an eine bestimmte Ufer stelle, wo ein Depot die Ladung übernahm. Dann kehrten sie selbsttätig auf die hohe See zurück, um eine neue Ladung zu sammeln. Die Flöße hatten Ra dar, elektronische Sensoren und Rechenanlagen, die mit dem gesamten Herstellungsverfahren ihrer eige nen Spezies programmiert waren. Sie kontrollierten außerdem die Mechanismen an Bord, die alle etwa benötigten Ersatzteile herstellten. So waren diese Flö ße nicht nur in der Lage, sich selbst zu erhalten, son dern sie stellten auch komplette Duplikatflöße her. Die ersten derartigen schwimmenden Fabriken ko steten Hunderte von Millionen, ganz abgesehen von den Kosten der Forschung und Entwicklung. Aber einmal gebaut, erforderten sie keine weiteren Investi tionen oder Unterhaltungskosten. Die Produktion und die weitere Verbreiterung der Flöße kostete nicht mehr. Und nachdem die Menschen von der Erde ver schwunden waren, und mit ihnen alles Leben, waren diese Seeflöße immer noch da, brachten geduldig ihre Ladungen zu den zerfallenden Magazinen an leeren Küsten, Jahr für Jahr ...«
Sie schüttelte sich. »Erzähl weiter, Hugh, wenn du kannst.« »Ich kenne die Einzelheiten nicht«, begann er vor sichtig. »Du solltest mir vielleicht erklären, wie Mu tationen bei Maschinen möglich waren. Aber wenn die Reproduktionsprogramme magnetisch gespei chert oder auf Band aufgenommen waren, nehme ich an, daß harte Strahlung sie beeinflussen konnte, ähn lich wie sie auch organische Gene beeinflußt. Und für eine Weile gab es sicherlich eine Überdosis an harter Strahlung. Die Flöße fingen an, fehlerhafte Duplikate herzustellen. Die meisten waren sicherlich unbrauch bar, aber einige kamen auf diese Weise auch zu Vor teilen. Zum Beispiel fuhren sie nicht mehr zum Ufer zurück und warteten jahrzehntelang auf ihre Entla dung. Andere gewannen die Fähigkeit, sich das Me tall aus reicheren Quellen zu holen als im Ozean. Im Laufe der Jahrmillionen entwickelten sich Arten, das Land wurde erobert. Ganz neue Typen entstanden und führten allmählich zu dem, was wir heute se hen.« »Aber woher ist die Energie gekommen?« fragte Kuroki. »Von der Sonne, nehme ich an. Die ursprünglichen Sonnenbatterien werden sich ungeheuer verfeinert haben. Vielleicht haben sie Speichereinheiten auf der Molekularebene entwickelt, Zellen von mikroskopi scher Größe.« »Aber wo kommt das Metall her?« »Von niedrigeren Maschinenformen. Letzten Endes wohl von Typen, die Erze zerkleinern, Legierungen herstellen und mehr Energie erzeugen, als sie ver brauchen können. Man muß sich das Ganze als eine
Entwicklung vorstellen, die im Prinzip analog der or ganischen Vegetation ist. Es ist eine gröbere Form der Existenz als unsere. Aber sie funktioniert.« »Sogar verschiedene Geschlechter gibt es«, sagte Frederika. »Man könnte es beinahe so nennen«, pflichtete Darkington bei. »Bei den entwickelteren Formen ist die Reproduktion wahrscheinlich zur Spezialität einer Art geworden, während sich die andere auf Kraft und Beweglichkeit spezialisierte. Ich möchte sagen, daß es auch korrespondierende psychologische Unterschie de gibt.« »Psychologische?« fragte Kuroki aufgebracht. »Au genblick mal! Ich weiß, daß man die Rechenanlagen früher einmal Elektronengehirne genannt hat und ähnlichen Unsinn, aber ...« »Bezeichne das Phänomen, wie du willst«, meinte Darkington, »aber dieser Roboter verwendet Werk zeuge, die hergestellt und nicht gewachsen sind. Das Problem ist, wie man ihn davon überzeugen kann, daß auch wir denken.« »Kann es das nicht sehen?« rief Frederika. »Auch wir verwenden Werkzeuge. Sato hat mathematische Symbole gezeichnet. Was will es noch mehr?« »Ich weiß nicht genug über diese Welt, um darüber Vermutungen zu äußern«, sagte Darkington müde. »Aber wir alle haben schon gesehen, wie trainierte Affen irgendwelche Kunststückchen vollführt haben, ohne sie deswegen für mehr zu halten als Affen. Auch wenn der Anschein vielleicht dagegen sprach.« »Wenn unsere Beobachtungen richtig sind«, meinte Frederika, »dann muß sich die Roboterrasse als eine Rasse von Jägern entwickelt haben. Als stammte der
Mensch vom Tiger ab und nicht vom Affen. Was für einen psychologischen Unterschied würde das erge ben?« Keiner antwortete. Sie lehnte sich an Darkingtons Schulter und schloß ihre Augen. Kuroki blickte weg, weniger aus Taktgefühl als aus Einsamkeit. Sein Mädchen war mehrere Tausend Ki lometer entfernt, irgendwo auf einer Umlaufbahn um die Erde, und er besaß kein Mittel, ihr einen Ab schiedsgruß zu schicken. Thurshaw hatte die Freiwilligen gewarnt, daß es keine Rettungsaktion geben könne. Wenn etwas Un vorhergesehenes geschähe, würde die »Traveler« noch eine Weile auf der Umlaufbahn bleiben, in der Hoffnung, daß das Tochterschiff zurückkehren wür de. Aber dann würde sich die »Traveler« wieder den Sternen zuwenden. Kurokis Mädchen würde sich ei nen anderen Mann und einen anderen Vater für ihre Kinder suchen müssen. »Ich glaube, diese Roboter verständigen sich per Radio«, sagte Kuroki. »Wahrscheinlich haben sie kei ne Ahnung, daß Schallwellen demselben Zweck die nen können. Vielleicht sind sie sogar taub. Ohren sind in diesem Blechdschungel nicht sehr nützlich. Und unsere Funkgeräte sind unbrauchbar. Vielleicht könnte ich aus unseren drei Geräten ein brauchbares machen. Wenn wir auf der Wellenlänge der Roboter systematische Geräusche machen, werden sie viel leicht daran interessiert, uns zu verstehen.« Er begann die Teile der zerstörten Geräte vor sich auszubreiten. Darkington, unfähig, ihm zu helfen, schämte sich, daß er an keine Möglichkeit zur Ret tung gedacht hatte. Er blickte zu den Robotern hin
über. Sie beschäftigten sich miteinander und küm merten sich nicht um ihre Gefangenen. Frederika nickte ein. Wie langsam die Nachtstunden vergingen. Aber die Erde war alt geworden und drehte sich so müde, wie er selbst war ... Er schlief ein. Ein Keuchen weckte ihn. Das Ungeheuer stand vor ihnen, groß und dro hend. Aus leeren Augenlinsen blickte es auf Kurokis armselige, kaum begonnene Arbeit herunter. Einer der Arme war noch immer mit dem Schweißbrenner versehen. Der beschädigte Arm war repariert. Die ganze Gestalt erschien unverwundbar und seelenlos. Plötzlich spuckte der Schweißbrenner, zerschnitt das Drahtseil, und Kuroki war frei. »Sato!« schrie Frederika. »Nicht ... so heftig ... Freund«, würgte Kuroki in der Umklammerung des Roboters. »Es freut mich, daß du mich gern hast, aber – au! – vorsichtig!« Mit einer freien Greiferhand drehte der Roboter experimentell an Kurokis linkem Bein. Kuroki kreischte, und Darkington glaubte das Brechen von Knochen zu hören. »Nein!« Er stürzte vorwärts, aber das Stahlseil hielt ihn nach einem Schritt zurück. Frederika bedeckte ih re Sichtplatte mit beiden Händen und betete, daß Kuroki tot sein möge. Doch er war es nicht. Er war nicht einmal besin nungslos. Er kreischte weiter, während der Roboter versuchte, das Bein vom Körper zu trennen. Der Raumanzug zerriß, und eine Dichtungslösung floß aus dem Gewebe, um den Luftdruck im Anzug auf rechtzuerhalten. Plötzlich ließ der Roboter ihn fallen und sprang zu
rück, wobei er merkwürdige Bewegungen vollführte. Sauerstoff, dachte Darkington inmitten seines Entset zens. Seit undenklichen Zeiten hatte es auf Erden kei nen freien Sauerstoff mehr gegeben ... Kuroki zuckte im Todeskampf, dann lag er still. Der Roboter näherte sich von neuem, vorsichtig jetzt. Er hockte neben dem ausgerissenen Bein nieder, betastete das blutige Fleisch, löste zur genaueren Prü fung ein Stück ab und warf es zur Seite. Die Metall ringe eines Gelenks vom Raumanzug schienen ihm besser zu gefallen. Darkington sah, daß Frederika am Boden lag und schluchzte. Der Roboter war durch das Sauerstoffgas vorsich tig geworden, aber er schien entschlossen, seine Un tersuchung fortzusetzen. Er stand auf, entfernte sich einige Meter, und eine dünne blaue Flamme schoß aus dem Arm, wo er den Schweißbrenner montiert hatte. Kurokis Körper wurde in der Mitte durchge schnitten. Darkington glaubte den Verstand zu verlieren. Er sprang wieder vorwärts. Das Stahlseil, das ihn mit Frederika verband, wurde durch die Schweißflamme gezogen und zerteilte sich wie Rauch. Der Roboter stürzte auf ihn los, rannte in das Sau erstoffgas, das Kurokis Anzug entströmte, und tau melte zurück. Darkington ergriff das Seilende, das ihn mit dem Eisenblock verband. Die Schweißflamme hatte sich im austretenden Sauerstoff weiß verfärbt und war zu hell, um hineinzusehen. Wenn er mit ihr in Berührung käme, würde es auch für ihn das Ende bedeuten. Aber daran durfte er nicht denken. Blind lings hielt er die Schlinge in die Schneidflamme.
Er war frei. »Lauf weg, Fredie!« keuchte er und rannte von der Seite auf den Roboter zu. Dieser hatte die Schweiß flamme ausgeschaltet, aber er bewegte sich unsicher und wie benommen durch das Gas. Hatte er Schmer zen? Darkington hoffte es mit dem letzten Funken seines Bewußtseins. »Los, Fredie, lauf!« Der Roboter verfolgte ihn mit ungelenken Schrit ten. Er floh hinter die andere Maschine, die größere, die sie die Frau des Roboters genannt hatten, dann in den hinteren Teil der Höhle. Eine zwei Meter lange Brechstange lag am Boden. Er hob sie auf und fuhr herum. Die mächtige Gestalt des Monstrums war fast über ihm. Er duckte sich, und über seinem Helm klangen die Greifwerkzeuge aneinander. Darkington nützte den Augenblick und raste in die Mitte der Höhle zurück. Die weibliche Maschine kroch in eine Ecke. Aber langsam, unbeholfen ... Mit einem Satz war Darkington auf ihr. Ein Arm griff von unten herauf und versuchte ihn zu fassen. Darkington schlug mit der Brechstange zu, daß es in der ganzen Höhle widerhallte. Der Arm sank herun ter. Dieser Achtfüßler hatte bei weitem nicht die Kräfte des Roboters. Seine schwachen Fühler und Werkzeugarme zogen sich vor ihm zurück. Der Roboter kam näher. Auch jetzt überragte er Darkington noch. Darkington schlug die Brechstange in das Gitterwerk der Radioanlage zu seinen Füßen. Es zerbrach. Er schwang die Brechstange erneut und heulte sinnlos: »Bleib stehen, du da! Ein Schritt näher, und ich schlage sie zusammen! Ich bringe sie um!« Der Roboter blieb stehen, eine monströse Maschine,
die mühelos einen Menschen zerreißen konnte. Nun hob das Ungeheuer seinen Schweißbrenner. »Nein!« brüllte Darkington und ließ sich auf die Knie fallen. Er öffnete eine Entlüfterdüse an seinem Anzug und brachte sie in eine Richtung, daß das aus strömende Sauerstoffgemisch das Vorderende der Maschine traf, auf der er ritt. Sensoren mußten emp findlicher sein als der Metallkörper. Er konnte nicht hören, ob das Ding schrie, wie Kuroki geschrien hat te, weil die Geräusche nur im Radio hörbar waren. Aber als er den Roboter durch Gesten zurückwinkte, gehorchte das Ungetüm. »Hast du mich verstanden?« keuchte er voll Haß. »Du kannst mich mit deiner Flamme zerschneiden, aber meine Luft wird sich über alles hier ergießen. Und bei der ersten verdächtigen Bewegung mache ich die Düse wieder auf. Und gleichzeitig werde ich das spitze Ende dieser Stange durch eine dieser Lin sen stoßen. Hast du verstanden? Gut, dann bleib', wo du bist, Maschine!« Der Roboter bewegte sich nicht. Frederika kam näher. Sie hatte sich aus der Draht schlinge befreit. Das Licht wurde von ihrer Sichtplatte reflektiert, und Darkington konnte ihr Gesicht nicht erkennen. Ihre Stimme war kaum noch kenntlich. »Hugh, o Hugh!« »Lauf zum Schiff zurück«, befahl er. »Schnell!« »Ohne dich? Nein.« »Hör zu, jetzt ist nicht der Augenblick, die Heroine zu spielen. Deine erste Pflicht ist, Mutter zu werden. Aber ich hoffe, daß du mit dem Schiff zurückkom men und mich an Bord nehmen kannst. Du bist kein Pilot, aber sie können dich über Radio instruieren.
Das Navigationsgerät tut sowieso die meiste Arbeit. Lande hier vor der Höhle, dann kann ich schon ir gendwie einen Rückzug bewerkstelligen.« »Aber – aber der Roboter hat an die zwanzig Stun den gebraucht, um uns herzubringen. Und er wußte den Weg besser als ich. Ich muß mich nach dem Ge fühl und meinem Kompaß richten. Natürlich kann ich versuchen, ohne Pause durchzumarschieren, aber es würde doch mindestens zwanzig Stunden dauern – und so lange kannst du nicht aushalten!« »Ich kann es jedenfalls versuchen«, sagte er. »Hast du eine bessere Idee?« »Nein. Also gut. Leb wohl, Hugh. Nein, ich meine: auf Wiedersehen. Ich liebe dich.« Er murmelte eine Antwort, aber er sah sie nicht ge hen. Er mußte auf den Roboter achtgeben. 6. »Null!« rief sie hilfesuchend, als die fremde Einheit auf ihren Rücken sprang. Sie griff danach, aber die Brechstange schmetterte auf ihren Arm herunter. Er hörte die Zerstörungssignale in ihrem Empfänger, als hätte es ihn selbst getroffen. Er griff an. Die feindliche Einheit schlug mit der Brechstange auf Eins ein und traf ihren Kommunika tionsaufbau. Ihre Signale schrillten. Ihr Radar war zerstört, und ihre Modulation wurde plötzlich auf beängstigende Weise verändert. Null blieb wie ange wurzelt stehen. Sie rief immer wieder seinen Namen, und diese Angstsignale überkamen das Brennen in ihm, wo das
zersetzende Gas eingeströmt war. Er hob seinen Schweißbrenner und zielte sorgfältig. Die Einheit kniete auf Eins nieder und fummelte an sich herum. Eins schrie wieder, ihre Signale wurden verzweifelter. Sie schlug mit ihren Fühlern um sich. Null ließ seinen Arm sinken. Die Einheit sprang wie der auf und hielt die Brechstange über ihre Linsen. Ein einziger kräftiger Stoß nach unten durch das Glas könnte ihr Gehirn erreichen. Die Einheit gestikulierte ihn zurück, und er gehorchte. »Hilfe«, rief Eins. Null konnte die Zerstörung in ih rem Gesicht nicht mitansehen. Ihre entstellten Signale gellten in seinem Empfänger: »Hilfe, Null. Es tut so weh.« »Halt aus!« rief er. »Ich kann im Moment nichts tun. Das Ding ist voller Gift. Das ist es, womit es dich angegriffen hat. Die Schmerzen werden in einer Mi nute nachlassen; es war nur eine kleine Menge. Aber wenn du eine größere Dosis bekommst – ich weiß nicht. Vielleicht ist es zerstörerisch. Oder der Zwei füßler täte dir mechanischen Schaden an, bevor ich es verhindern könnte. Halt aus, bis mir etwas einfällt.« »Ich fürchte für den Neuen«, jammerte sie. »Halt aus«, wiederholte er. »Wenn die Einheit dir weiteren Schaden zufügt, werde ich sie zerstören. Ich glaube, sie hat es begriffen.« Der andere Zweifüßler kam näher. Er tauschte mit dem ersten ein paar Heultöne aus und verließ eilig die Höhle. »Das Ding muß zum fliegenden Ungeheu er zurücklaufen«, sagte Eins. »Wird es das Ungeheuer herbringen?« »Ich kann es jetzt nicht verfolgen«, sagte Null. »Aber ...« Er sammelte seine Energie, dann verließ
der Hilferuf mit höchster Sendeleistung sein Radio. »Alarm, Alarm! Alle Personen herhören! Bitte mel den! Alarm!« Stimmen von nah und fern drangen aus seinem Empfänger, und es war, als gäben sie ihm neue Kraft. Er und Eins waren nicht allein in der nächtlichen Höhle, zusammen mit diesem giftigen Wesen. Ihre ganze Gemeinschaft war da. Mit wenigen Worten beschrieb er die Situation. »Du hast übereilt gehandelt«, sagte Hundert beunru higt. »Möge es keine weiteren Folgen deiner Aktio nen geben.« »Was hättest du an seiner Stelle getan?« verteidigte ihn Sieben. »Wir können es mit einem so mächtigen Ding wie dem Ungeheuer nicht aufnehmen. Null hat die Gefahr auf sich genommen, Informationen zu be schaffen. Was ihm auch gelungen ist.« »Und er hat bewiesen, daß die Gefahr größer ist, als wir angenommen hatten«, fügte Sechzehn hinzu. »Die Frage ist, was wir jetzt tun sollen«, sagte Hundert. »Obwohl du sagst, daß es langsam ist, wird das entkommene Ding zum Ungeheuer zurückkeh ren, bevor wir uns versammeln und in die Hügel hin aufkommen können.« »Aber bis es dort ist, kann es keine Verbindung herstellen, weil sein Radio außer Betrieb ist«, sagte Null. »Also wird das Ungeheuer bleiben, wo es ist, weil es nichts vom Geschehen weiß. Ich schlage vor, daß die Personen, die sich irgendwo in dieser Nach barschaft befinden, dem Zweifüßler den Weg ab schneiden.« »Du könntest ihn in ein paar Minuten fangen«, sagte Hundert.
»Ich kann diesen Ort nicht verlassen.« »Doch, du kannst. Das Ding, das deine Frau ergrif fen hat, wird logischerweise nichts unternehmen, wenn sie als Geisel keinen Wert mehr hat.« »Woher willst du das wissen?« versetzte Null. »Ich glaube sogar, daß es sofort Eins angreifen würde, wenn ich seinen Gefährten fangen würde. Seine ein zige Hoffnung besteht ja im Entkommen des anderen, das Hilfe bringen könnte.« »Hoffnung ist ein komisches Wort, wenn du es im Zusammenhang mit einem Spionenauge gebrauchst«, wandte Sieben ein. »Wenn es eins ist«, sagte Null. »Ihre Aktionen le gen nahe, daß diese Zweifüßler mehr sind als den kunfähige domestizierte Motiles.« »Lassen wir die Diskussion«, sagte Hundert. »Wir haben nicht viel Zeit zu verlieren. Wir dürfen nicht die ganze Gemeinschaft für die Sache eines einzelnen Mitglieds in Gefahr bringen. Null, geh und fang den Zweifüßler.« Unmodulierte Radiotöne summten durch die Nacht. Zuletzt sagte Null: »Nein.« Eins streckte den unbeschädigten Arm nach ihm aus, aber sie konnten einander nicht berühren; die Entfernung war zu groß. »Wir werden dich bald wieder ganz haben«, mur melte er ihr zu. Sie war zu schüchtern, um vor der ganzen Gemeinschaft zu antworten. Hundert lenkte ein. Er existierte lange genug, um zu wissen, daß es falsch war, sich einer unbeugsamen Meinung entgegenzustellen. »Wer nahe genug beim Ungeheuer ist, um es bis zum Morgengrauen errei chen zu können, soll sich melden«, sagte er. Mehrere meldeten sich. Als sie geendet hatten, fuhr er fort:
»Sehr gut. Geht hin und riegelt den wahrscheinlichen Weg des Zweifüßlers ab. Wenn ihr ihn fangt, gebt so fort Bescheid. Wir übrigen treffen uns wie verabre det.« Nach und nach verstummten die vielen Stimmen, bis nur noch Hundert, der verantwortlich war, und Sieben, der ein Freund war, mit Null in Verbindung standen. »Wie fühlst du dich jetzt, Eins?« fragte Sie ben freundlich. »Ich funktioniere wieder ein bißchen«, sagte sie un sicher. »Es ist seltsam, radarblind zu sein. Immer denke ich, daß schwere Gegenstände im Begriff sind, auf mich zu fallen. Aber wenn ich meine Optik in die Richtung drehe, ist nichts da.« »Null, ich kann deine Beschreibung vom Innern des Zweifüßlers nicht verstehen«, sagte Hundert. »Weiches, poröses Material, das mit klebriger roter Flüssigkeit getränkt ist; beißende Dämpfe ... Wie funktionieren sie? Wo ist der Mechanismus?« »Sie sind vielleicht gar nicht funktionell«, meinte Sieben. »Sie könnten rein künstliche Apparate sein, die von chemischen Reaktionen angetrieben werden.« »Aber sie handeln intelligent«, argumentierte Null. »Wenn das Ungeheuer oder die Meister des Unge heuers keine direkte Kontrolle über sie ausüben – und das ist ohne Radio nicht möglich ...« »Es kann andere Mittel als Radio geben, um einen Helfer zu betreiben«, sagte Sieben. »Wir wissen so wenig, wir Personen.« »In diesem Fall«, antwortete Null, »hat das Unge heuer die ganze Zeit von meiner Höhle gewußt. Dann beobachtet es mich in diesem Augenblick durch die Linsen des Zweifüßlers auf Eins' Rücken.«
»Wir müssen von einer anderen Annahme ausge hen«, warf Hundert ein. »Das tue ich auch«, sagte Null. »Ich handle in dem Glauben, daß diese Zweifüßler keinen Kontakt mit dem großen Feuerflieger haben. Aber da sie sich trotzdem ganz unabhängig benehmen, müssen sie selbständige Funktionen, sogar einen gewissen Grad von Intelligenz haben.« Ein Gedanke kam ihn, so ver blüffend, daß er ihn nicht sofort aussprechen konnte. Endlich sagte er: »Sie könnten die Meister des Unge heuers sein! Das große Ding könnte der Helfer sein, und sie die Personen!« »Nein, nein, das ist unmöglich«, erwiderte Hun dert. Sieben griff den Gedanken schneller auf; er hatte schon immer die Fähigkeit besessen, beide Seiten ei nes Problems zu erkennen. »Nehmen wir einmal an«, sagte er, »daß diese klei nen Einheiten wirklich die Meister oder sogar die Er bauer dieses fliegenden Dinges sind. Können wir mit ihnen verhandeln?« »Nicht nach dem, was geschehen ist«, antwortete Null düster. Er dachte weniger daran, was er ihnen angetan hatte, sondern vielmehr daran, wie sie mit Eins umgesprungen waren. »Ich zweifle selbst daran, aus philosophischen Gründen«, erklärte Sieben. »Sie sind zu fremd. Ihre Funktionsweise ist tödlich: die Zerstörung, die ihr Feuerflieger angerichtet hat, das Gift unter ihren Häuten. Möglicherweise ließe sich eine gewisse bei derseitige Verständigung erreichen, aber das würde ein komplizierter und langwieriger Prozeß sein. Un sere Aufgabe besteht hauptsächlich darin, unsere ei gene Existenzform zu sichern. Daher müssen wir die
Oberhand gewinnen, bevor wir Versuche unterneh men, mit ihnen zu sprechen.« Aufgeregt setzte er hin zu: »Und ich glaube, wir können es.« Null und Hundert verbanden ihren Intellekt mit dem seinen. Der Plan bildete sich heraus und nahm genauere Formen an. Schwächlich und langsam, wa ren die Fremden auf die Hilfe hochentwickelter Werkzeuge oder gezähmter Motiles von radikal mo difizierten Typen angewiesen: des Feuerfliegers, der Röhre, die Nulls Arm beschädigt hatte und anderer hypothetischer Waffen. Aber ungenutzte Waffen sind keine Bedrohung. Wenn es gelänge, den Feuerflieger bewegungsunfähig zu machen ... Natürlich, wahrscheinlich hielten sich in seinem Innern weitere Zweifüßler auf. Gestern hatte man ih re Stimmen gehört. Aber Nulls Rückmarsch hatte er wiesen, daß ihre Sensoren bei Nacht nicht viel taug ten. Selbst wenn sie Radar besaßen, nützte es ihnen nicht viel. Radar kann gestört werden, wenn man weiß wie. Hunderts Befehle flogen über viele Kilometer zu den Gebirgsbewohnern, die sich nun von allen Seiten dem Feuerflieger näherten: »Schneidet die dicksten Stahlseile, die ihr im Wald finden könnt. Dreht sie zu Kabeln. Baut eine Radarstörung auf und kreist das Ungeheuer im Schutz der Dunkelheit ein. Wir glau ben jetzt, daß es kein Wesen ist, sondern nur ein Flie ger. Schweißt die Kabelenden fest an die Masten gut verwurzelter Akkumulatoren und schweißt die Ka belschlinge schnell um den Schwanz des Fliegers zu sammen. Bindet ihn fest!« »Nein«, sagte Neunundzwanzig entsetzt. »Wir können die Kabel nicht an seine Haut schweißen. Es
würde uns mit einem Feuerstrahl zerstören. Wir müßten zuerst mehrere Schlingen machen und ...« »Dann macht also Schlingen«, sagte Null. »Das Ungeheuer ist am unteren Ende dicker als darüber. Zieht die Schlingen über den Schwanzfinnen zusam men, dann kann es nicht aufsteigen, ohne sie sich selbst auszureißen.« »Du hast gut reden, Null. Du sitzt sicher in deiner Höhle.« »Wenn du wüßtest, was ich geben würde, wenn ich dieses Ding nicht hier hätte und bei euch sein könnte ...« Beschämt gaben die Jäger nach. Ihre Mission war nicht so sehr gefährlich, wie es auf den ersten Blick schien. »Und wenn wir das Ungeheuer festgebunden haben, was dann?« fragte Neunundzwanzig. »Dann tun wir, was angezeigt erscheint«, entschied Hundert. »Wenn sich kein befriedigendes Verhältnis zu den Fremden herstellen läßt, können wir den Flie ger aus sicherer Entfernung mit Flugbolzen durchlö chern und anschließend in Stücke schlagen.« »Das wäre das Beste«, sagte Null mit einem Blick auf das fremde Wesen. »Tut also, was ich angeordnet habe«, sagte Hun dert. »Aber was ist mit uns?« fragte Null. »Mit Eins und mir?« »Ich werde zu dir kommen«, sagte Sieben. »Wenn wir schon nichts anderes unternehmen können, wer den wir eben warten und Wache halten. Du hast er wähnt, daß die Fremden ihre Energie sehr schnell verbrauchen. Wir können abwarten, bis das Wesen vor Erschöpfung umfällt.«
»Gut«, sagte Null. »Hast du gehört, Eins? Wir brauchen nur abzuwarten. Ich werde dich die ganze Zeit bewachen. Dich und den Neuen.« »Ich werde meinen Energieverbrauch herabset zen«, sagte sie. »Dann spüre ich nichts.« Ihre Signale wurden schwächer und hörten nach kurzer Zeit ganz auf. Als sie still geworden war, beobachtete Null den Zweifüßler auf ihrem Rücken. Irgendwo hinter die sem Glas und dem widerwärtigen Gewebe befand sich ein Gehirn. Null hob probeweise einen Arm. So fort riß der Zweifüßler seine Brechstange hoch. Er schien tatsächlich erkannt zu haben, daß die Optik ihr verwundbarster Punkt war. Langsam ließ Null den Arm sinken. Der Zweifüßler bewegte sich unruhig. Das war gut; je schneller er seine Energie verbrauch te, desto besser. Null überließ sich seinen Gedanken. Stunden ver gingen. Der Zweifüßler schritt auf Eins' breitem Rük ken auf und ab, setzte sich, sprang wieder auf, be wegte die Arme und machte langgezogene Geräu sche, die vielleicht dazu dienen sollten, den Dämmer zustand abzuwehren. Manchmal steckte er den Schlauch seiner Wasserflasche ins Gesicht. Null sah mehrmals eine günstige Gelegenheit, den Zweifüßler zu überraschen – mit einem plötzlichen Angriff, ei nem raschen Schlag oder einem geschleuderten Ge genstand – aber er entschied sich gegen das damit verbundene Risiko. Die Zeit war sein Verbündeter. Außerdem begann er jetzt, nachdem sein anfängli cher Zorn verraucht war, zu hoffen, daß er dieses fremde Wesen unbeschädigt fangen könnte. Von ei nem funktionsfähigen Exemplar war mehr zu lernen als von dem Ding, das zerstückelt neben dem Eisen
block lag. Was für widerwärtige Gase es ausströmte! Nulls chemischer Sensor vermochte den unbekannten Geruchsstoffen nichts abzugewinnen. Vor dem Höhleneingang begann der Morgen zu grauen. »Wir haben den Flieger!« Neunundzwanzigs Jubelruf entlockte Null eine erfreute Geste. Der Zwei füßler krabbelte erschrocken auf die Füße, aber als Null nicht näherkam, sackte er wieder in sich zu sammen. »Wir haben zwei Kabel um seinen Körper gelegt. Er hat keinen Widerstand geleistet, sich nicht einmal gerührt. Er gibt immer noch dasselbe Radiosi gnal von sich.« »Ich dachte ...«, sagte jemand anders, »war da nicht vor einiger Zeit ein komisches Signal? Es schien von oben zu kommen.« »Es können noch andere Flieger über den Wolken sein«, sagte Hundert. »Seid vorsichtig. Verteilt euch und bleibt in Deckung. Wir anderen werden am frü hen Nachmittag zusammentreffen. Meldet uns, was inzwischen geschieht. Das war gute Arbeit, Jäger.« Neunundzwanzig gab eine kurze Radarübertra gung, und Null konnte den Platz sehen: der aufrech te, spindelförmige Körper wurde von den schrägen Strahlen der Morgensonne angeleuchtet und stand inmitten einer verbrannten und verwüsteten Fläche. Von seinem unteren Teil liefen glänzende Kabel zu zwei mächtigen alten Akkumulatorenmasten. Ja, das Ding war gefangen, daran gab es keinen Zweifel. Wind blies über die Schneegipfel, ließ den Wald er klingen und vertrieb die morgendlichen Dunstwol ken. Selten hatte er sein Land so schön gefunden. Die Übertragung war beendet. Er fand sich wieder in seiner Höhle. Sieben rief: »Ich bin jetzt in deiner
Nähe, Null. Soll ich eintreten?« »Nein, lieber nicht. Du könntest den Zweifüßler er schrecken und zu Gewalttätigkeiten veranlassen. Ich habe die ganze Nacht hindurch seine Bewegungen beobachtet. Sie werden mit jeder Stunde langsamer und unregelmäßiger. Er muß nahe am Zusammen brechen sein. Vielleicht ist es am besten, wenn du ein fach vor dem Eingang wartest. Wenn ich glaube, daß der Augenblick gekommen ist, werde ich dich herein rufen. Wenn er auf deinen Anblick nicht reagiert, wissen wir, daß er das Bewußtsein verloren hat.« »Wenn das Ding ein Bewußtsein hat«, erwiderte Sieben. »Trotz unserer Diskussion bringe ich es im mer noch nicht ganz über mich, ernsthaft zu glauben, daß diese Dinger etwas anderes als Motiles oder künstliche Helfer sind. Kompliziert und entwickelt, ja – aber bewußt, wie eine Person?« Der Zweifüßler machte eine Reihe sonarer Geräu sche. Sie waren viel schwächer als zuvor. Null war befriedigt. Einige Stunden später wurde seine Aufmerksamkeit durch einen neuen Alarmruf auf die Vorgänge au ßerhalb seiner Höhle gelenkt. »Das geflüchtete Ding ist zurückgekehrt! Es ist im Flieger verschwunden!« »Was? Und ihr habt es nicht aufgehalten?« fragte Hundert. Neunundzwanzig gab die volle Meldung. »Zuerst hatten wir genug zu tun, die Kabel zu flechten und den Flieger zu fesseln, um im Wald nach dem Zwerg zu suchen. Nachdem der Flieger gefangen war, ver teilten wir uns wie befohlen und bildeten einen Kreis um die verwüstete Fläche. Natürlich war unsere Aufmerksamkeit auf den Flieger und auf den Him
mel gerichtet, denn es hätte ja sein können, daß wei tere Flieger auftauchten. Mehrere wilde Motiles wa ren in der Gegend, und der Wind wurde sehr laut in den Akkumulatoren. Ihr werdet verstehen, daß sol che Umstände den Zweifüßler begünstigten. So kam er ungesehen durch unsere Kette und erreichte das freie Feld. Als wir es bemerkten, war keine Person nahe ge nug, um den Flieger vor dem Ding erreichen zu kön nen. Es schob eine Platte am Körper des Fliegers bei seite und drehte an einem Schalter. Darauf öffnete sich weiter oben eine Luke, und eine Leiter kam her aus. Das Ding kletterte sie hinauf. Inzwischen hatten mehrere von uns die Lichtung betreten. Wir zögerten aber, weil wir einen Feuerstrahl fürchteten. Keiner kam, doch wie hätten wir das vorhersehen können? Als wir schließlich herangekommen waren, hatte sich die Leiter zurückgezogen, und die Luke war ge schlossen. Ich drehte selber am Schalter, aber nichts geschah. Wahrscheinlich hat der Zweifüßler die Kontrolle lahmgelegt, als er drinnen war.« »Wenigstens wissen wir jetzt, wo er ist«, sagte Hundert. »Verteilt euch wieder um den Rand der Lichtung, wenn ihr es noch nicht getan habt. Der Zweifüßler wird vielleicht einen Fluchtversuch ma chen und die Feuerstrahlen anstellen. Seid ihr sicher, daß der Flieger die Kabel nicht zerreißen kann?« »Ziemlich sicher. Der Flieger scheint nur eine dün ne Haut aus Aluminium oder einer ähnlichen Legie rung zu haben. Wenn er aufsteigen will, reißt er sich selbst in Stücke.« »Wenn nicht ein Zweifüßler herauskommt und die KabelmiteinemSchweißbrennerzerschneidet«, wandte
Vierzehn ein, der in diesem Augenblick durch Talne bel und Sumpfwälder dem Hügelland entgegeneilte. »Soll er es nur wagen!« sagte Neunundzwanzig, begierig, den Fehler seiner Mannschaft wiedergut zumachen. »Es könnte gefährliche Waffen herausbringen«, warnte Null. »Zehn Bogen sind gespannt und zielen auf die Lu ke. Wenn sich ein Zweifüßler zeigt, werden wir ihn mit Stahlbolzen durchlöchern.« »Ich denke, das genügt«, sagte Null. Er betrachtete die kauernde Gestalt des fremden Wesens. »Sie sind nicht stark, diese Dinger. Häßlich und schlau, aber schwach.« Als wüßte er, daß über ihn gesprochen wurde, stand der Zweifüßler plötzlich auf und drohte ihm mit der Brechstange. Aber Null merkte, wie langsam und unsicher seine Bewegungen geworden waren. Noch eine Stunde, und Eins würde frei sein. Er fühlte bereits den Stolz des Siegers. Doch dann sprach das Ungeheuer. Seine Stimme rollte über die Berge, brüllte und wütete im Radio, lauter als der Blitz. Neunundzwan zig und seine Jäger riefen etwas, aber ihre Stimmen gingen im Aufruhr unter. Sieben und Null empfingen über fünfzig Kilometer hinweg die Schallwellen als Vibration, die ihre Körper zum Erzittern brachte. Hundert und seine Gefolgsleute im Tal starrten un behaglich zu den Bergketten hinauf. Sieben vergaß alle Vorsicht und rannte in die Höh le. Das feindliche Ding bewegte sich kaum, aber we der Null noch Sieben bemerkten es. Beide liefen zum Eingang und blickten entsetzt ins Freie.
Der Himmel war leer. Der Wald läutete in der Bri se. Nur das Radiogebrüll von jenseits des Horizonts zeigte, daß etwas nicht stimmte. »Ich habe nicht ge glaubt«, stammelte Sieben. »Ich – ich hatte nicht mit einem so lauten Ton gerechnet ...« Null, der an Eins denken mußte, zeigte mehr Fas sung. »Es schadet uns nicht«, sagte er. »Ich bin froh, daß ich nicht so nahe heran bin wie die Jäger, aber selbst sie werden es eine Weile ertragen. Wir werden sehen. Komm, gehen wir hinein. Wenn wir erst unse ren Gefangenen überwältigt haben ...« Das Ungeheuer begann zu sprechen. Es war jetzt kein wildes Geheul mehr, sondern modulierte Laute. Keine Worte außer einigen An klängen, die in Null und Sieben Assoziationen auslö sten. Aber solche Ähnlichkeiten waren reiner Zufall. Das Ungeheuer redete in seiner eigenen Sprache, und die war blanker Wahnsinn. * Als die Sonne vom Himmel fiel und die Berge er schütterte, rannte Null. Sieben konnte nicht; er lag vor dem Höhleneingang, als wäre er zu Salz gewor den. Und als der unbekannte Gott niederstieg und in seiner verrückten Sprache brüllte, zerschmolz Sieben unter seinem feurigen Schweif zu einer metallischen Pfütze. Nach unbestimmter Zeit kehrte Null nach Hause zurück. Er war nicht erstaunt, daß der Zweifüßler fort war. Natürlich hatte sein Meister ihn zurückgeholt. Aber als Null sah, daß Eins unberührt geblieben war, stand er lange stumm.
Nachdem er sie ermuntert hatte und die Beschleu nigung ihrer Funktion den Dämmerzustand beende te, konnte sie nicht verstehen, warum er sie hinaus führte und mit ihr um Gnade betete. 7. Darkington kam erst zu Bewußtsein, als das Schiff be reits im Raum war. Dann schleppte er sich in den Sitz neben Frederika. »Wie hast du es geschafft?« keuchte er. Ihre Aufmerksamkeit blieb den Armaturen zuge wandt. Trotz der Hilfe durch das Navigationssystem und der Radioinstruktionen der »Traveler« war die Steuerung des Schiffes für eine Anfängerin keine leichte Aufgabe. Geistesabwesend antwortete sie: »Ich habe die Roboter verscheucht. Sie hatten das Schiff angebunden, verstehst du; mit Kabeln, die so dick waren, daß sie es beim Start zerrissen hätten. Ich mußte wieder hinaus und die Kabel mit einem Schweißbrenner zerschneiden. Aber ich war schon vorher nur mit Mühe und Not vor den Robotern hin eingekommen. Ich wußte, daß sie mich fangen wür den, sowie ich mich draußen blicken ließe. Also ver jagte ich sie. Danach schweißte ich die Kabel durch und startete, um dich zu holen.« »Im letzten Augenblick«, murmelte er schwach. »Ich war auf dem besten Wege, ohnmächtig zu wer den. Du weißt, daß ich zusammenbrach, als ich an Bord war. Aber ich kann mir nicht vorstellen, wie du den Feind verjagt hast. Erzähle.« Die automatische Kontrolle schaltete die Triebwer
ke aus. Sie schwebten frei im Raum. Sie wandte ihr abgezehrtes, verschwitztes und schmutziges Gesicht. »Mir fiel nichts Besonderes ein«, sagte sie in gleich gültigem Tonfall. »Es war eigentlich nur eine Ver mutung, und ich hatte nichts zu verlieren. Wir wuß ten ja ziemlich sicher, daß die Roboter sich durch Ra dio verständigten. Also schaltete ich den Radiosender auf volle Kraft und hoffte, daß die bloße Sendestärke zuviel für sie sein würde. Dann fiel mir noch etwas ein. Ich wollte sie durch ungewohnte Signale verwir ren, denn unmodulierte Töne sind sie wahrscheinlich gewohnt. Deshalb fütterte ich die Rechenanlage mit einem schwierigen mathematischen Problem und ei nigen Aufgaben der Himmelsnavigation und schloß die Stromkreise des Rechners und des Senders zu sammen. Zuletzt zog ich wieder den Raumanzug an, faßte mir ein Herz und ging hinaus. Nichts geschah. Ich zerschweißte die Kabel, ohne von den Robotern etwas zu sehen. Vor dem Start trennte ich Sender und Rechenanlage, sendete aber weiter, jetzt mit meiner eigenen Stimme. Dann flog ich los. Der Navigator wird es nicht leicht gehabt haben, meine Ungeschick lichkeiten auszugleichen. Und als ich landete, machte ich die Luke zur Luftschleuse auf, und du kamst her ein, und ...« Sie brach ab und schlug die Hände vor ihr Gesicht. »Mein Gott, Hugh! Was sollen wir Satos Mädchen sagen?« Er antwortete nicht. Langsam näherten sie sich dem Mutterschiff, legten an und sahen, wie sich die großen Klappen im Bauch der »Traveler« öffneten, um das kleinere Schiff auf zunehmen. Eine Richtungsänderung während des Manövers brachte die Erde noch einmal in ihr Ge
sichtsfeld. Darkington blickte den Planeten lange an, bevor er leise sagte: »Leb wohl. Viel Glück.« Frederika wischte sich die Augen. Ihre Hände hin terließen Schmutzspuren im Gesicht. »Glaubst du, wir werden sie jemals wiedersehen?« fragte sie leise. »Nein«, antwortete er. »Sie gehört uns nicht mehr.«
Eva mal vier
Arsang redete ununterbrochen. »Es ist tatsächlich ein Jammer«, sagte er, »obwohl natürlich längst vorhersehbar durch die Verschie denheit der Proteinstrukturen und die konsequente Entwicklung giftiger Biochemikalien – ganz zu schweigen von den grundsätzlichen Variationen der stellaren und planetarischen Typen – es ist, sagte ich, bedauerlich, daß der Prozentsatz der für jede gegebe ne Spezies bewohnbaren Planeten so gering ist. Und dann wird dieser Prozentsatz noch durch jene Plane ten verringert, die bereits eigenständige, intelligente Spezies entwickelt haben. Diese würden fremde Ko lonisten wohl kaum willkommen heißen.« Teresina Fabri blickte verzweifelt aus dem Fenster, das eine ganze Seite des Gesellschaftsraums bildete. Der Raum glitzerte mit Myriaden von Sonnen, aber sie mußte in diesem fast sichtbaren Nebel aus Platt heiten sitzen, und es gab kein Entkommen. Wie konnte sie nur in so unerträgliche Gesellschaft gera ten? Weil sie nett zu Arsang gewesen war, dachte sie; weil sie ihn nicht gleich das erste Mal abgeschüttelt hatte, als seine Finger ihren Arm umklammert und seine Stimme zu schrillen begonnen hatte. Aber wo her hätte sie es wissen sollen? Dies war ihre erste wirkliche Weltraumfahrt. Erfahrenere Passagiere, die längst wußten, daß jedes Schiff seinen langweiligen Schwätzer hat, hatten die Gefahr sogleich erkannt und machten seither einen weiten Bogen um Arsang. »So sind die Kolonien, die von jeder gegebenen Rasse, wie zum Beispiel von Ihrer eigenen, gegründet
worden sind, äußerst dünn über den kleinen Teil der Milchstraße verteilt, den wir kennen«, fuhr er fort, genauso selbstgefällig, wie er vorher erraten hatte, daß sie eine Mathematikstudentin war, die sich im Rahmen eines Austauschprogramms zu einem ande ren, von Menschen besiedelten Planeten begab. »Die Entfernung zwischen Erde und Xenophon, etwa hundertvierundfünfzig Lichtjahre, ist für ein Schiff dieser Bauart ein gewöhnlicher Hopser. Aber die Rundreise, zu der sich die meisten unserer Mitpassa giere eingeschifft haben, führt zu so vielen Sonnensy stemen, daß Abstecher zu den am Weg liegenden weniger wichtigen Orten einfach unmöglich sind. Wer möchte schon eine ganze Woche Fahrzeit zu sätzlich in Kauf nehmen, nur um einen Tag lang den großen Schlammberg auf Ganymed zu besichtigen, den Doppelplaneten Holmes-Gontscharow anzu schauen oder um einen flüchtigen Blick in die Krater von Jotunheim zu werfen, selbst wenn dies alles er dähnliche Planeten mit menschlichen Kolonien sind, die nicht sehr weit von unserer Route entfernt liegen? Sehen Sie, es sind so neue Kolonien: auf jedem Pla neten eine kleine Siedlung, die wenig oder keine Un terhaltung zu bieten hat, und überall sonst eine fast unerforschte Wildnis. Was würden unsere Touristen am Abend anfangen, nachdem sie die eine große At traktion gesehen haben? Wogegen Xenophon, wo Sie aussteigen, oder Tau Ceti II, wo das Schiff auf der Rückreise Station machen wird, und wo ich von mei nen Kollegen vom diplomatischen Dienst seiner Ma jestät Pipps des Sechsten, des Herrschers der verei nigten Reiche von Korlaband erwartet werde ...« Der mit hoher Fistelstimme gehaltene Vortrag
wirkte einschläfernd. Teresina, schon halb eingenickt, hatte die traumhafte Vision, sie stünde im Vorraum der Ewigkeit und hörte einen Vorsänger oder Priester endlose Huldigungszeremonien abhalten. Nach einiger Zeit merkte sie, daß ein anderer Mensch den Gesellschaftsraum betreten hatte. Einen Augenblick lang schlug ihr Herz in der Hoffnung auf Erlösung schneller. Selbst wenn es John Jacob Ne whouse wäre – die Abwehr seiner Annäherungsver suche war immer noch amüsanter als dieses durchaus einseitige Gespräch mit Arsang dem Dreiundzwan zigsten, erstem Gongschläger am erlauchten Hof sei ner Majestät Pipps des Sechsten – alles wäre besser. Sie litt unter dem Schicksal, das ihr diesen bösen Streich gespielt hatte, umso mehr, als sie für ihre Ge duld keine Belohnung zu erwarten hatte – weder ein Haus noch Juwelen oder Geld. Der 3. Maat verhielt einen Augenblick. Er war ein gutaussehender junger Mann mit dunklem, gewell tem Haar und regelmäßigen Zügen. Seine schmucke blaue und weiße Uniform unterstrich seine stattliche Erscheinung, und er war sich seiner Vorzüge stets bewußt. Seine Augen schenkten ihr einen Blick, der offene Bewunderung ausdrückte. Teresina war groß, geschmeidig, mit langen blon den Haaren, großen blauen Augen, einer etwas klein geratenen Nase und vollen Lippen. Ihr schwarzes Kittelkleid wirkte ein wenig kindlich und war die ge eignete Tarnung für ein schüchternes Mädchen, das nicht recht wußte, was es zu tun hatte, wenn ein Mann zu ihr in einer anderen Sprache als der der Mathematik sprach. Aber Newhouse hatte mit Ken nerblick entdeckt, daß die schlichte Aufmachung be
achtenswerte Proportionen verbarg. Aber dann hatte Arsang sie mit Beschlag belegt, und Arsang konnte es mit jeder spanischen Gouver nante aufnehmen. Nicht, daß dieser Bewohner von Tau Ceti II wenig anziehend gewesen wäre. Er hatte etwas Elfenartiges, einen großen runden Kopf auf ei nem zierlichen Rumpf, der von vier spinnenartigen Beinen getragen wurde. Zwei dünne Arme begleite ten seine Wortkaskaden mit temperamentvollen Ge sten, und er hatte eine haarlose, blaßgoldene Haut. Sein Gesicht mit den großen grünen Augen war men schenähnlich, die Kleidung aus zarten, schleierartigen Geweben. Seine Größe – er maß nicht ganz einen Meter – verstärkte den Charme des Ungewöhnlichen. »Ah, Fräulein Fabri«, sagte Newhouse, während er sich näherte. »Ich hoffe, Sie unterhalten sich gut?« Teresina knirschte mit den Zähnen. »Ja, danke.« Newhouse hob die rechte Augenbraue, zwinkerte ihr unverschämt zu und setzte seinen Weg fort. Tere sina starrte ihm aufgebracht nach. Ein unmöglicher Mensch! Nicht daß sie kalt oder – oder so etwas war – natürlich wollte sie eines Tages heiraten und so wei ter (hier errötete sie und lenkte ihre Aufmerksamkeit sogar vorübergehend zu Arsang zurück) ... aber diese Szene auf dem Promenadendeck, kurz nach Beginn der Reise ... Ein anständiger Mann würde niemals die erste Vorstellung dazu benützen, ein Mädchen in Verlegenheit zu bringen! Mit Vergnügen sah Teresina, wie Hedwig Trumbull hastig von ihrem Cocktail aufstand und den Maat am Ärmel festhielt. Sie konnte die Worte nicht verstehen, aber zweifellos waren es diese: »Ah, lieber Mr. Ne whouse – oder darf ich Sie vielleicht Jack nennen ...?«
– Aber der Maat schien ihr klarzumachen, daß er dringende Geschäfte zu erledigen habe, denn Hedwig Trumbull kehrte zu ihrem Cocktail zurück, und er verließ den Gesellschaftsraum durch die hintere Tür. »Ich glaube«, sagte Teresina verzweifelt, »ich wer de vor dem Essen noch einen Aperitif nehmen.« »Aber selbstverständlich«, sagte Arsang. Ihre ge ringe Hoffnung verflüchtigte sich, als er mit ihr auf stand und sie begleitete, wobei er seinen Monolog keinen Augenblick unterbrach. Jetzt ging es um seine diplomatische Mission bei der Erdregierung, die dem Abschluß eines Handelsvertrags zur Regelung der Einfuhr von Harfen gedient hatte. Sie dachte daran, ihm zu sagen, er solle sie in Ruhe lassen, er langweile sie ... aber nein. Sie war solcher Grobheiten unfähig. Später würde sie sich immer schämen, daß sie ein so einsames Wesen vor den Kopf gestoßen hatte, um sich selbst ein paar angenehme Tage zu machen. Sie setzte sich an die Theke und starrte auf die Knöpfe und Wählscheiben des Getränkeautomaten. Schließlich entschied sie sich für einen Picon. Sogar Arsang hörte auf zu sprechen, als die Alarm klingel durch den Raum schrillte. Eine Frau an einem der Tische im Hintergrund schrie auf und kuschelte sich schutzsuchend an ihren Begleiter. Eine Lautsprecherstimme dröhnte: »Alle Passagiere Achtung! Alle Passagiere Achtung! Hier spricht der Erste Maat Levkowic. Es folgt eine Durchsage des Kapitäns. Bitte verhalten Sie sich ruhig.« Im Laut sprecher knackte es, dann kam ein Geflüster: »Wa chen Sie auf, Käpt'n, um Gottes willen«, und ein »Aah, oh, uuf, was?« als Antwort, bevor die Alarm glocke wieder eingeschaltet wurde.
»Was soll dieser empörende Lärm?« quietschte Arsang. »Ich glaube ...« Teresina befeuchtete ihre Lippen. »Ich glaube, es ist das Signal, zu den Rettungsbooten zu gehen.« »Ja, Rettungsboote; ja, das ist es: Rettungsboote«, röhrte eine schlaftrunkene Stimme aus dem Lautspre cher. »Rettungsboote. Sie alle erinnern sich an Ihre Übungen, nehme ich an ... ahhh-hooo! Äh, hier spricht Kapitän Eisenschläger, meine Damen und Herrschaften. Kein Grund, alarmiert zu sein. Das heißt, natürlich sind Sie alarmiert worden, von den Alarmglocken, meine ich. Dazu sind sie ja schließlich da, nicht wahr? Aber was ich sagen wollte: Haben Sie keine Angst. Haben Sie Zutrauen. Kein Grund zur Panik. Irgendwelche kleinen Schwierigkeiten, der automatische Alarm ist losgegangen. Wir haben die Quelle noch nicht entdeckt, aber wir werden ... Einstweilen bewahren Sie bitte Ruhe. Äh, sagte ich Ihnen schon, daß hier Kapitän Eisenschläger spricht? Ich hoffe, daß Sie mich alle hören können. Alle Besat zungsmitglieder haben sich auf die Notstationen zu begeben. Dies ist nur ein automatischer Alarm. Viel leicht ist die Strahlungsabschirmung vorübergehend undicht geworden, jedenfalls gehen Sie bitte zu Ihren Rettungsbootstationen, denen jeder von Ihnen zuge wiesen ist. Sobald wir den Schaden gefunden und behoben haben – das heißt, es ist sozusagen nur eine Vorsichtsmaßnahme, und ...« Der Lautsprecher ver stummte zugunsten neuer Alarmsignale. »Ich bin in Vierzehn«, sagte Teresina. Sie sprang auf. »Bis später, Herr Arsang.« »Oh, ich komme mit Ihnen«, sagte Arsang.
»Wie?« rief Teresina entsetzt. »Aber Sie sind doch nicht – es ist doch nicht ... Ich erinnere mich genau an unsere Übungen, und Ihre Station ist ...« »Ich weiß, ich weiß«, erklärte Arsang. »Aber woher soll ich wissen, welche Nummer man mir zugeteilt hat? Erwartet man von mir, dem ersten Gongschläger seiner Majestät Pipps des Sechsten und diplomati schem Repräsentanten der vereinigten Reiche von Korlaband, daß ich mich an irgendeiner lächerlichen Rettungsbootausbildung beteilige? Kommen Sie! Kommen Sie mit.« Er nahm ihren Arm und zog sie mit bemerkenswerter Kraft weiter. »Unfähigkeit!« schrillte er dabei. »Unentschuldbares Versagen! Ich werde mich bei der Gesellschaft beschweren!« Die Durchgänge waren mit aufgeregt plappernden Touristen und heroisch kämpfenden Stewards vollge stopft. Gelegentlich brach sich eine im Raumanzug vermummte Gestalt durch das Chaos Bahn, um auf ihren Posten zu gelangen. Teresina wurde vom Strom um eine Ecke getrieben und sah Fred vom Planeten Gombar vor sich. Plötzlich erinnerte sie sich, daß er in der gleichen Sektion war wie sie. »Herr Fred!« rief sie. »Können Sie mir helfen? Ich komme in diesem Ge dränge nicht vorwärts!« »Aber natürlich, Fräulein Fabri; es ist mir eine Eh re«, sagte die milde Baßstimme, einen Meter über ihr. Ein gewaltiger, abgewinkelter Arm beugte sich einla dend zu ihr herunter. Teresina sprang auf und setzte sich zurecht. Freds ungeschlachter, blauer, rhinoze rosähnlicher Körper pflügte vorwärts, und sein zen taurischer Torso schob eine richtiggehende Bugwelle menschlicher Leiber vor sich her. Arsang folgte kei fend nach.
Teresina reckte sich zu einem der fächerförmigen Ohren empor und sagte durch den Lärm: »Glauben Sie, daß es etwas Ernstes ist, Herr Fred?« »Ich denke nicht«, erwiderte der andere. »Ich hoffe es wirklich nicht. Ich habe mich so darauf gefreut, unsere Kolonie auf Xenophon zu besuchen.« Er senkte den Kopf, um einer Lampe auszuweichen. Seine kleinen schwarzen Augen glitzerten. »Ich muß bekennen, daß mich mein Aufenthalt auf der Erde enttäuscht hat. Er hat mir keine poetischen Inspira tionen gegeben. Überhaupt keine. Aber glauben Sie nicht, daß ich Ihre Spezies dafür verantwortlich ma chen will, Fräulein Fabri. Jedermann war nett und gastfreundlich zu mir. Aber sehen Sie, ich kam als enthusiastischer Bewunderer Baudelaires, über den ich schon viel veröffentlicht habe. Ich wollte die Stät ten kennenlernen, wo er gelebt hat, wollte sein Leben gewissermaßen teilen; um ihn voll zu verstehen. Aber niemand auf der Erde scheint sich heute noch mit der spätromantischen Dichtung zu befassen.« Seine me terbreiten Schultern zuckten; für Teresina war es wie ein Erdbeben. »Nur noch ein paar Literaturprofesso ren. Es wird höchste Zeit, die großartige Dichtung des neunzehnten Jahrhunderts wiederzuentdecken, bevor sie ganz in Vergessenheit versinkt.« Teresina fragte sich, ob sie etwa vom Regen in die Traufe geraten sei. Dann waren sie am Rettungsboot, traten durch die Luftschleuse und nahmen im Passagierraum Platz. Das Miniaturraumschiff war eigentlich für zehn Men schen berechnet, aber da Fred ihm zugeteilt worden war, hatten sich nur vier andere Passagiere eingefun den. Teresina schnallte sich an den Sitz neben der
Stewardeß, einer gewissen Marie Quesnay. Durch diesen nicht sehr feinen Trick gelang es Teresina, Arsang loszuwerden. »Was ist nach Ihrer Meinung die Ursache des Alarms gewesen?« erkundigte sie sich ängstlich. Marie hob beide Hände, die Handflächen nach au ßen. Sie war zierlich, brünett und lebhaft. Die blaue Jacke und der rote Rock ihrer Uniform spannten sich über volle Rundungen. »Oh, das kann ich Ihnen nicht sagen. Wie der Kapitän bekanntgab, eine kleine Stö rung. Diese Alarme sind nicht ungewöhnlich. Im Raum muß man sehr vorsichtig sein. Wir werden eine oder zwei Stunden hier sitzen, dann wird alles vorbei sein, und man wird uns wieder zurückgehen lassen. Und morgen bekommen alle Passagiere zur Wieder gutmachung ein freies Essen mit Champagner.« »Ah.« Teresina lehnte sich beruhigt zurück. Sie grüßte schüchtern zu den beiden anderen menschli chen Passagieren hinüber, die den kleinen Raum mit ihnen teilten, Kamala Chatterji und Hedwig Trum bull. Die letztere stieß dampfpfeifenähnliche Geräu sche durch die Nase aus, um ihrer Empörung Aus druck zu verleihen. Kamala versuchte sie mit Rat schlägen zu beruhigen, die auf eine Bekehrung zur kontemplativen Lebensauffassung hinausliefen. Teresina erinnerte sich, daß die Singhalesin aus Ceylon zum Planeten Xenophon unterwegs war, um dort an einer buddhistischen Schule zu lehren. Sie war auf eine exotische Weise schön; ihr orangegelber Sari umhüllte eine schlanke, graziöse Gestalt. Hedwig Trumbull war die einzige Frau in diesem Rettungs boot, die nicht besser aussah als der normale irdische Durchschnitt. Teresina fiel ein, daß Hedwig ihren
Platz mit einer atemberaubenden Rothaarigen ver tauscht hatte, wahrscheinlich in der Hoffnung, an den Maat heranzukommen, der diesem Boot zugeteilt war, und der kein anderer war als ... Metallische Fußtritte erklangen in der Luftschleuse. Newhouse schlenderte herein, wippte auf seinen Ab sätzen und grinste über eine lässig zwischen den Lip pen hängende Zigarette in die Runde. »Alles in Ord nung?« fragte er. »Wo ist unser Pilot?« erkundigte sich die Trumbull. Newhouse lächelte schwach in ihre Richtung, bis seine Augen auf ihrer ungleich dekorativeren Nach barin ruhten. »Eine kleine Umorganisation«, sagte er. »Wir hatten Grund zu der Annahme, daß die Behe bung des Schadens elektronische Arbeiten erfordert, daher gab ich Herrn Manfred Anweisung, in der Werkstatt zu bleiben. Er ist für diese Dinge zuständig, wissen Sie. Und dann mußte ich natürlich hier für ihn einspringen.« Hedwig lächelte einfältig. Sie war modisch geklei det und hatte grün gefärbte Haare, wie sie von den besseren Frauenzeitschriften als der letzte Schrei pro pagiert wurden. Sie war außerdem unverheiratet, was sie in stillen Stunden oft an sich und der Welt verzweifeln ließ. »Oh, ich finde das alles so aufregend!« trillerte sie. »Der innere Friede ist alles«, sagte Kamala. »Auf der untersten Ebene beginnt man mit Entspannungs übungen.« »... der gegenwärtige Stand des Harfenhandels wird natürlich von verschiedenen Faktoren beein flußt«, schrillte Arsangs Stimme dazwischen. Marie Quesnay warf Newhouse einen mißtraui
schen Blick zu. »Und welche Gründe hatten Sie zu dieser Aktion, Mr. Newhouse?« forschte sie. »Ich bin hier der Bootskommandant, Mademoiselle Quesnay«, wies Newhouse sie zurecht. Dann ver beugte er sich rasch und galant. »Obwohl ich noch nie eine so charmante Stewardeß unter meinem Be fehl gehabt habe.« Sein Blick wanderte zu Arsang. »He da! Was machen Sie ...« Teresina schloß die Augen. Etwas summte laut. Newhouse fuhr herum. »Gott sei uns gnädig!« rief er und raste nach vorn. Die Tür zur Pilotenkabine fiel hinter ihm ins Schloß. Sekunden später fühlte sich Teresina wie von der Faust eines Riesen in ihren Sitz gepreßt. Sie hörte hal berstickte Schreie. Das Rettungsboot schien um seine Achse zu rotieren. Dann wurde es ruhig. Die künstliche Schwerkraft schuf ein Oben und ein Unten. Die Tür zur Pilotenka bine ging wieder auf, und Teresina blickte durch die Fenster in den leeren Raum. Für einen Augenblick kam der riesenhafte glänzende Umriß des Raum schiffs in Sicht. Er verschwand, bevor sie ein zweites Mal Luft holen konnte. Newhouse betrat wieder den Passagierraum. Die Reisenden starrten ihn in entsetztem Schweigen an. Er hielt einen kleinen Gegenstand in die Höhe. Tere sina erkannte elektrische Widerstände, einen Zeit schalter. »Das ist es«, sagte er grimmig. »Das ist was? Drücken Sie sich genauer aus!« sagte Arsang und verdarb den dramatischen Effekt. »Geduld, Geduld«, besänftigte ihn Fred. »Lassen Sie den Herrn Maat Newhouse mit seinen eigenen Worten erklären, was er sagen möchte.«
»Ruhe!« brüllte Newhouse. Leiser: »Ich bitte Sie, meine Herrschaften. Die Situation ist ernst. Wir be finden uns in Lebensgefahr.« Hedwig kreischte, sprang von ihrem Sitz und warf sich Newhouse an die Brust. Er verlor das Gleichge wicht, und sie fielen zusammen zu Boden. »Retten Sie mich! Retten Sie mich!« jammerte sie. Kamala zupfte an ihrem Sari. Fred versuchte zu helfen, aber der Durchgang war zu eng für ihn. Marie Quesnay murmelte etwas wie: »Va t' faire foutre, vi eille vache!« und versetzte Hedwigs Hinterteil einige kräftige Schläge mit der flachen Hand. Während Wirrwarr und Aufregung sich allmählich legten, kau erte sich Teresina in ihren Sitz. Großer Gauß, dachte sie mit Schrecken, in welche unmögliche Lage bin ich geraten? Arsang zupfte an ihrem Ärmel. »Ich sehe, daß Sie vernünftig genug sind, sich aus diesem Durcheinan der herauszuhalten«, sagte er. »Meinen Glückwunsch zu dieser besonnenen Haltung, die eines Numaners würdig wäre. Numa ist, wie Sie sich denken können, der einheimische Name meines Planeten, Tau Ceti II. Ich will nicht sagen ...« Er wurde von Newhouse unterbrochen, der alle anderen niederbrüllte. Nun glättete er sein Haar, ge wann seine Würde zurück und sagte mit militärisch knapper Stimme: »Dieses Zeug fand ich in den Kontrollkreis des Ausstoßmechanismus eingebaut. Offensichtlich Sa botage. Ohne Zweifel ist auch mit der Alarmanlage des Schiffes Unfug getrieben worden, um uns zu dem Zeitpunkt an Bord dieses Rettungsbootes zu bringen, der für den Abwurf vorgesehen war. Der Kontroll
kreis des Schiffs ist geschlossen worden. Das bedeu tet, daß unsere Trennung vom Schiff nirgendwo regi striert wurde. Sie wissen nicht, daß wir im Raum trei ben. Da ich um diese Zeit normalerweise nicht im Dienst bin, werden sie es wahrscheinlich erst nach Stunden merken.« »Ich würde sagen«, erklärte Kamala Chatterji fast gelangweilt, »daß wir dem Schiff folgen sollten.« »Natürlich können wir das versuchen«, erwiderte Newhouse düster. »Aber die Höchstgeschwindigkeit dieses Bootes liegt bei ungefähr fünfhundert Licht. Das Schiff reist mit annähernd zweitausend Licht. Wir sind nicht mehr in seinem Antriebsfeld und ha ben daher keine Chance, es auf seinem genauen Kurs zu verfolgen. Stellen Sie sich vor, daß wir nur um zehn Prozent davon abweichen, was eine eher kon servative Schätzung ist. Stellen Sie sich vor, das Schiff kehrt um, wenn unser Fehlen bemerkt wird. Sie kön nen sich selbst ausrechnen, welche ungeheuren Räu me bei diesen Geschwindigkeiten abgesucht werden müßten. Es ist hoffnungslos.« Hedwig Trumbull schnaufte. »Ein sehr kindischer Scherz, muß ich sagen! Ich bin überzeugt, daß die Ge sellschaft für dieses Versagen verantwortlich zu ma chen ist. Jetzt müssen wir uns zu irgendeinem elen den Kolonialplaneten schleichen und wochenlang warten, bis ...« Newhouse zog sein Gesicht in düstere Falten. »Ich fürchte, wir haben es wirklich mit Sabotage zu tun«, sagte er langsam. »Mit Sabotage, die keinen anderen Zweck verfolgt als den, uns zu töten.« »Nein!« flüsterte Teresina. »Das ist doch unmög lich. Niemand würde ...«
»Jedes Raumfahrzeug ist mit einem Pilotenhand buch ausgerüstet, das alle Navigationstabellen ent hält«, unterbrach Newhouse. »Unseres fehlt.« »Was?« brüllte Freds Baßstimme. Newhouse deutete zur Pilotenkabine, durch deren offene Tür man den schwärzen Sternenhimmel vor den Sichtfenstern ausmachen konnte. »Sehen Sie sich alle diese Sterne an«, sagte er. »Dieses Boot ist mit Vorräten für etwa sechs Monate ausgerüstet. In dieser Zeit kann es eine Distanz von etwa zweihundertfünf zig Lichtjahren zurücklegen. Wissen Sie, wie viele Sterne in diesem Umkreis liegen? Etwa hunderttau send, nach vorsichtiger Schätzung. Kein Mensch kann die Koordinaten derjenigen Sterne im Kopf haben, die bisher besucht, geschweige denn erforscht oder kolo nisiert worden sind. Ich kann ein paar Riesensterne wie Rigel und Beteigeuze identifizieren, aber sie sind viel zu weit von uns entfernt, als daß wir in ihre Nähe gelangen könnten. In dieser kaum bekannten, spär lich besiedelten Wildnis ist man völlig von den Navi gationstabellen abhängig. Und unsere fehlen.« Für eine Weile schwieg sogar Arsang. »Wir könnten suchen ...«, meinte Teresina endlich. »Von Stern zu Stern? Das ist genau, was wir tun müssen«, sagte Newhouse. »Aber machen Sie sich keine zu großen Hoffnungen. Wir werden alle Son nen vom Typ G ansteuern, die in erreichbarer Nähe liegen, aber die Wahrscheinlichkeit, eine zu finden, die in ihrem System besiedelte Planeten besitzt, ist so gering, daß wir uns alle diesbezüglichen Erwartun gen aus dem Kopf schlagen sollten.« »Aber doch wenigstens einen Planeten, der be wohnbar ist?« fragte Marie Quesnay. »Ich würde
schon mit so einem zufrieden sein, glaube ich.« Newhouse zuckte die Achseln. »Wenn Sie an einen Gott glauben«, sagte er, »empfehle ich Ihnen, zu be ten.« * Newhouse beschäftigte sich mit den Instrumenten, zu denen auch ein Spektroskop und Geräte zur chemi schen Atmosphärebestimmung waren. Nach einiger Zeit änderte er den Kurs und beschleunigte das Boot auf volle Geschwindigkeit. »Ich habe aufs Geratewohl eine Sonne ausgesucht«, verkündete er. »Sie ist vom Typ unserer Sonne und nicht zu weit entfernt. In dieser Gegend haben bisher nur die Menschen Forschungen durchgeführt, und sie würden sich für einen solchen Stern entscheiden. Wenn wir keine Siedler, dafür aber einen angeneh men Planeten finden sollten, werden sicher auch un sere nichtmenschlichen Freunde hier Gefallen daran finden, obwohl das Sonnenlicht vielleicht eine ihnen ungewohnte Farbe haben mag. Ich vermute, daß wir unser erstes Ziel in etwa zehn Erdtagen erreichen dürften. Bis dahin können wir uns entspannen und das automatische Navigationsgerät die Arbeit tun lassen.« »Könnte es nicht einer der kolonisierten Sterne sein?« fragte Kamala. »Natürlich nicht!« schrillte Arsang. »Wer hat je von einem kolonisierten Stern gehört? Die Ungenauig keiten dieser niedrigeren Rassen! Könnte der Stern einen kolonisierten Planeten haben, Newhouse?« »Ich sagte schon, das kann man nicht wissen«, er
widerte der andere. »Die Chancen sind allerdings sehr gering. Günstiger sieht es aus, wenn wir uns auf die Frage nach der Bewohnbarkeit beschränken. Es ist denkbar, daß wir einen Planeten finden, der sogar schon einmal besucht worden und in den For schungsregistern verzeichnet ist. Aber wenn dort noch keine Siedlung existiert, ist es ohne weiteres möglich, daß der nächste Besuch erst in hundert oder zweihundert Jahren stattfindet.« Er lächelte. »In der Kabine ist es ein wenig eng, aber wenn Sie nachein ander zu mir hereinkommen wollen, kann ich Ihnen unser Ziel zeigen. Äh – mit Ausnahme von Ihnen, Fred.« Marie nahm die Einladung an. Die Tür schloß sich hinter ihr und Newhouse. Man hörte scharrende Fü ße, ein Klatschen, dann kam Marie wieder zum Vor schein und sprudelte einen zornigen Wortschwall. Newhouse rieb sich die Wange, grinste verlegen und sagte: »Der Nächste, bitte.« Sein Grinsen verlor sich, als Hedwig Trumbull durch den Gang nach vorn eilte. Diesmal ließ er vor sichtshalber die Tür offen. Hedwig schloß sie. Wieder scharrten Füße, und Newhouse kam gleich darauf zum Vorschein, einen gehetzten Ausdruck im Ge sicht. »Bitte, hören Sie alle zu!« quietschte Arsang. Seine großen grünen Augen wanderten von einem zum anderen, dann sagte er ärgerlich: »Wir haben noch nicht festgestellt, wer für diese Ungeheuerlichkeit verantwortlich, ist. In einem Augenblick, wo der erste Gongschläger am erlauchten Hof seiner Majestät ent führt, ja, ich möchte sogar sagen: geshanghait worden ist, und zwar mit mörderischer Absicht, in einem sol
chen Augenblick sollten wir etwas anderes tun, als unbedeutende Sterne anstarren!« »Ich kann mich nicht erinnern, daß Sie diesem Boot zugeteilt waren«, schnappte Newhouse. »Das hat damit nichts zu tun!« gellte Arsang und wurde safrangelb. Teresina überwand ihre Scheu und sagte: »Ja, es ist seltsam. Jemand muß die Absicht haben, einen von uns aus dem Weg zu räumen. Ich meine, ist das nicht ein naheliegender Gedanke?« Newhouse verbeugte sich. »Es ist unmöglich, daß jemand den Wunsch haben sollte, Sie aus dem Weg zu räumen, Fräulein Fabri«, schnurrte er. »Augenblick«, sagte Kamala Chatterji. Ihre Stimme und das dunkle aristokratische Gesicht schienen plötzlich ihre Weltabgewandtheit verloren zu haben. »Der Gedanke ist wert, verfolgt zu werden«, erklärte sie. »Es erscheint in der Tat absurd, daß jemand einen solchen Sabotageakt begehen sollte, wenn nicht in der Absicht, einen der hier Anwesenden oder einen, des sen Anwesenheit in diesem Rettungsboot vorgesehen war, zu eliminieren. Das schließt meines Erachtens die Herren Arsang und Newhouse als vorgesehene Opfer aus; beide kamen unplanmäßig an Bord.« »Meinetwegen ist dies wohl kaum geschehen«, sagte Marie Quesnay. »Niemand würde auf eine klei ne Stewardeß so böse sein, n'est ce pas? Aber wenn es doch so wäre – ich erinnere mich an einen gewissen Raoul in Marseille; das war eine Zeit der Aufregung! Aber er würde sicher nicht so kaltblütige Mittel an wenden.« Sie nickte Teresina zu. »Sind Sie nicht in ei ner ähnlichen Situation?« Teresina nickte schüchtern zurück. »Ganz gewiß.
Ich wüßte wirklich nicht, wer mir nach dem Leben trachten sollte. Ich habe noch nie einen Mann ge kannt, der ...« »Und Miss Trumbull?« fragte Marie weiter. »Nun«, sagte Hedwig mit stolzgeschwellter Brust. »Ich will nicht behaupten, daß es keinen Mann gege ben hätte, der vielleicht ...« »Aber sicher hätte er ein einfacheres Mittel ge wählt, als unschuldige Menschen durch Sabotage in Gefahr zu bringen«, sagte Newhouse grimmig. Alle Augen richteten sich nun auf Fred, der dunkel anlief und murmelte: »Aber, aber!« »Ich glaube nicht, daß ich mich an Ihren Namen erinnere«, sagte Hedwig spitz. »Fred.« »Was?« »Fred. Der Name reicht völlig aus. Warum sollte er nicht? Ich bin ein Bürger des Planeten Gombar, und dort unter dem Namen Kefflach bekannt.« »Und befanden Sie sich auf einer wichtigen Missi on?« forschte Newhouse. »Oh, ganz gewiß!« Freds rüsselartige Nase zuckte. »Ich habe die irdische Dichtung studiert.« »Äh.« »Sie verstehen nicht. Bei unseren letzten Wahlen hat die Dichterpartei einen klaren Sieg errungen. Die Prosaisten haben kaum ein Dutzend Sitze behalten.« »Nun gut ...« Newhouse blickte lächelnd zu Ka mala. »Damit scheinen nur Sie übrigzubleiben, Fräu lein Chatterji.« »Ich kann in dieser Andeutung keinen Sinn fin den«, sagte sie. »Meine Familie in Colombo hat zwar Geld, aber was könnte es außer als Lösegeld für einen
Nutzen haben? Ich bin als Missionarin unterwegs, aber das kann eigentlich keine fanatische Gegner schaft auslösen, denn wir glauben an die Gleichheit aller denkenden Wesen.« »Aber es muß doch einen Grund geben«, fing Ma rie wieder an. »Natürlich«, fuhr Kamala unbeirrt fort, »ist das al lein irrelevant. Es kommt uns auf die universalen Werte an, die allen Wesen gemeinsam sind, so zum Beispiel auf den Glauben an Hilfsbereitschaft, Näch stenliebe und Frieden mit sich selbst. Wir kennen das oft mißverstandene Konzept des Nirwana, und weil unser Ideal des Einswerdens mit der höheren Wirk lichkeit durchaus nicht in einem unüberbrückbaren Widerspruch zur christlichen und mohammedani schen Eschatologie steht und vieles mit der konfuzia nischen ...« »Ich verstehe«, unterbrach Newhouse ungeduldig. »... Ethik gemeinsam hat, sollte es für niemanden einen Grund geben, sich der Beschäftigung mit der buddhistischen Glaubenslehre zu widersetzen. Sie verstehen das ganz gewiß nicht, Herr Newhouse, und da es, wie Sie sagen, noch Tage dauern wird, bis wir unser Ziel erreicht haben werden, bietet sich Ihnen allen eine unvergleichliche Gelegenheit, sich mit dem Gedankengut des Buddhismus vertraut zu machen. Nun, um mit den einfachsten und grundlegendsten Prinzipien anzufangen ...« * Der Stern war zu einer feurigen Sonne geworden,
und Newhouse leitete das Bremsmanöver ein. Er
schloß sich in die Pilotenkabine ein und verbat sich jegliche Störung, obwohl es noch Stunden dauern mußte, bis sie den wahrscheinlich erdähnlichen Pla neten erreichen würde, den die Instrumente ausge macht hatten. Teresina lehnte sich zurück und starrte auf die lee re Wand. Es waren zehn schlimme Tage gewesen. In der Erinnerung verdichteten sie sich zu einem einzi gen Alptraum aus Monotonie und kleinlichem Ge zänk. Wenn nicht Marie gewesen wäre, die immer für Abwechslung gesorgt hatte – Gott allein wußte, was dann geschehen wäre. Aber nun hatte die allgemeine Spannung zur Stille geführt, und Stille war ein Segen, den sie früher nie richtig zu schätzen gewußt hatte. Nicht einmal Arsang war so schlimm wie dieses un aufhörliche weibliche Geschnatter. Freds Bass und Newhouses Tenor waren so erleichternd gewesen, daß Teresina manchmal vom bloßen Zuhören dem Weinen nahe gewesen war. Es war wunderbar, dachte sie, daß Männer tiefe Stimmen hatten. An dernfalls wäre die menschliche Rasse längst ausge storben ... Sie würgte den Gedankengang eilig ab, vollführte einen Gedankensprung in die Jahre ihrer Kindheit (nein, das ging auch nicht, es brachte die Tränen zu nahe an die Oberfläche), ihrer Universi tätszeit und dem Rausch des fieberhaften Lernens, in die Zeit, wo sie nächtelang bei Bier oder Wein geses sen und die Probleme des Universums gelöst hatten, und schließlich zu dem Tag, als man ihr mitgeteilt hatte, sie könne für ein Jahr als Austauschstudentin die Universität des Planeten Xenophon besuchen ... Aber was nun? Der Stern vor ihnen hatte zweifellos Planeten. Die Wahrscheinlichkeit war nicht gering,
daß einer von ihnen in einer mehr oder weniger er dähnlichen Strahlungszone liegen würde. (Aber eine Abweichung von nur wenigen Graden, gemessen an den irdischen Durchschnittstemperaturen, konnte ei nen Aufenthalt gefährlich oder wenigstens unbehag lich machen.) Es mochte sogar sein, daß der Planet ungefähr die gleiche Masse wie die Erde haben wür de. (Jedenfalls war es nicht erfreulich, die Auswir kungen einer Schwerkraft oder eines Luftdrucks zu erwägen, die sich von denen auf der Erde um mehr als fünfundzwanzig Prozent unterschieden.) Und wenn diese Voraussetzungen einmal gegeben waren, durfte man auch mit dem Vorhandensein eines Le bens rechnen, das auf der Photosynthese aufbaute und für eine Sauerstoff-Stickstoffatmosphäre sorgte. Konnte man von solchen biochemischen Verhältnis sen ausgehen, war es wiederum, wenn auch nicht wahrscheinlich, so doch denkbar, daß sie den irdi schen Verhältnissen soweit glichen, daß man frei her umgehen und sich aus einheimischen Quellen ernäh ren konnte. Nach Betrachtung dieser Möglichkeiten und unter Zuhilfenahme der Wahrscheinlichkeitstheorie kam Teresina zu dem deprimierenden Resultat, daß die Chancen, auf Anhieb einen solchen idealen Planeten zu finden, etwa eins zu hundert standen. Nun, dann mußten sie nach einer kurzen Überprü fung eben Weiterreisen und einen neuen Stern aufsu chen. Danach womöglich noch einen, und so fort; und schließlich wären alle Vorräte aufgebraucht und sie alle längst verrückt geworden ... Ich will nicht daran denken! Teresina schob ihr klei nes, festes Kinn vor und begann sich entschlossen in
ein Problem der Integralrechnung zu vertiefen. Und die Stunden vergingen. Teresina war über ih ren geistigen Anstrengungen eingenickt, als Ne whouses Stimme aus dem Bordlautsprecher drang und sie auffahren ließ. »Wir sind dem Planeten sehr nahe – nein, bleiben Sie alle, wo Sie sind. Die Manö ver sind kompliziert, ich kann mich dabei nicht stören lassen. Ich mache jetzt ein paar Umkreisungen und nehme dabei die nötigen Messungen vor. Machen Sie sich nicht zu viele Hoffnungen, aber der Planet ist fraglos von erdähnlicher Beschaffenheit. Masse, at mosphärischer Druck. Luftzusammensetzung sind durchaus in Ordnung. Die Gesamtdurchschnittstem peratur scheint ein wenig höher zu liegen, aber die subarktischen Gebiete müßten ideal sein ...« »Ich möchte es sehen!« Hedwig sprang auf. »Nein, sage ich!« schrie Newhouse. »Da stimmt etwas nicht mit meinen Skalen, die Zeiger schlagen aus. Ich wollte Sie damit nicht ängstigen, aber es ist so. Ich bin kein Ingenieur, um die Ursache feststellen zu können – ich werde jetzt landen. Bitte anschnallen. Nach der nächsten Umkreisung gehen wir nieder. Wir können es uns nicht leisten, mit ausgebrannten Bremsraketen in der Umlaufbahn hängenzubleiben.« »Ist der Planet zivilisiert?« fragte Arsang. »Ich will sagen, sehen Sie irgendwelche Spuren intelligenten Lebens auf der Oberfläche?« »Keine interstellaren Kolonisten«, erwiderte Ne whouse. »Der Neutrinodetektor würde ihre Atom kraftanlage registrieren, wenn das der Fall wäre. Ich habe auch auf dem Radarschirm nichts erkannt – kei ne Spuren einer Eingeborenenkultur. Unser Weg wird uns um den ganzen Globus führen, und ich
halte weiterhin Ausschau. Aber ich fürchte, es sieht nicht nach hochentwickelten Bewohnern aus.« »Wenn wir wenigstens landen können«, flüsterte Teresina, »und hier herauskommen!« »Und wir werden immer noch dieses Boot haben«, fügte Marie munter hinzu. »Nachdem wir hier eine Basis gefunden haben, können wir Expeditionen zu anderen Sternen unternehmen und vielleicht einen kolonisierten Planeten finden ...« »Wenn das Boot zusammenhält!« Newhouses Stimme klang heiser. »Ich will Sie nicht ängstigen, aber je tiefer wir in das Schwerefeld dieses Planeten eindringen, umso wilder schlagen die Zeiger der In strumente aus. Vielleicht war unser Saboteur noch gründlicher, als ich angenommen hatte.« »Oh! Wie schrecklich!« kreischte Hedwig. »Bleiben Sie ruhig«, sagte Kamala. »Wie kann un ser Pilot den nötigen inneren Frieden haben, den er für eine erfolgreiche Landung braucht, wenn Sie kein Vertrauen zu ihm zeigen?« »Oh, ich vertraue ihm genug, meine Liebe«, blub berte Hedwig. »Es ist die Maschinerie, zu der ich kein Zutrauen habe.« Kamala runzelte die Stirn. »Es ist wahr«, gab sie zu. »Man hat noch kein Mittel gefunden, Maschinen psy chisch zu beeinflussen.« Kurz darauf erfüllte ein leises Zischen den Raum. Es wurde zum Gebrüll, und Teresina fühlte, wie die Reibungshitze der Atmosphäre die isolierte Wand neben ihr erwärmte. Das Boot wurde unruhig, und die Passagiere fielen in ihren Sicherheitsgurten von einer Seite zur anderen. »Ich weiß, es wird eine lausige Landung!« rief Ne
whouse einmal, ziemlich kleinlaut. »Aber unserer er ste Antriebsstufe geht zum Teufel! Ich habe keine Kontrolle mehr über die Phasen.« Und endlich gab es einen Aufprall, der die Zähne zusammenschlagen ließ, ein gedämpftes Aufbrüllen, einen verbrannten Geruch und völlige Stille. * Ein weites grünes Tal, wo Blumen ihre Köpfe aus dem hohen Gras steckten, Bäume in der leichten Brise rauschten und Blütenduft schwer und süß die Luft er füllte, zog sich an einem Flußlauf entlang zu bewal deten Hügeln. Die Sonne hing wie eine große goldene Scheibe tief im blauen Himmel, weiße Wolken glitten dahin, und bunte Vögel zogen ihre Kreise. In der Fer ne sah man eine Herde schlanker, brennendroter Tie re mit stolzen Geweihen. Teresina seufzte. »Das könnte beinahe die Heimat sein!« Sie schüttelte ihre blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Ich weiß«, sagte sie schnell, »ich sollte mich traurig oder bekümmert fühlen, und wenn auch nur meinen Eltern zuliebe. Aber ich bin glücklich!« Und nach einem Moment entschied sie: »Ich glaube, wir alle brauchen ein bißchen Bewegung in frischer Luft.« Sie wanderten zum Hügelkamm hinauf und sahen das kleine Raumschiff weit hinter sich metallisch in der Sonne glänzen. John Jacob Newhouse kam ihnen entgegengeeilt, als das Mädchen und Fred schon wieder auf dem Abstieg waren. Sein Haar war zer wühlt, sein Hemd mit Öl verschmiert. »Wo waren Sie so lange?« schnaufte er. »Ich war schon im Begriff, ei
ne Suchmannschaft aufzustellen. Ich dachte, Sie wür den nur ein bißchen Spazierengehen.« »Das haben wir getan«, sagte Teresina. »Es ist un glaublich schön hier. Und auch fruchtbar. Wenn die Dinge eßbar sind, haben wir mehr Nüsse und Beeren und Wild und Früchte als ...« »Sie sind eßbar. Ich habe sie mit den Apparaten, die wir für Notlandungen und Überlebensfälle mit führen, schon analysiert. Natürlich müssen wir jede einzelne Sorte prüfen, bevor wir sie zum Genuß frei geben. Aber es ist jedenfalls klar, daß die biochemi schen Verhältnisse hier die gleichen sind wie auf un serer Erde.« Fred rollte seine kleinen Augen. »Ein Wunder«, sagte er ergriffen. Newhouse faßte Teresinas Hände. »Aber Sie waren so lange fort!« protestierte er. »Wirklich?« Sie war verwirrt. »Ich hatte keine Uhr. Nein, das kann nicht sein! Die Sonne hat sich kaum von der Stelle bewegt.« »2 Grad, 36 Minuten und 14 Sekunden«, sagte Fred. Newhouse blickte verdutzt. »Was? Können Sie es so genau abschätzen?« »Wieso, natürlich«, sagte Fred erstaunt. »Kann das nicht jeder?« »Sie sind länger als vier Stunden fort gewesen«, sagte Newhouse, der sich wieder dem Mädchen zu gewandt hatte. »Mein Gott! Ich muß ...« Teresina merkte, daß Ne whouse immer noch ihre Hände hielt. Sie riß sich los und sagte ärgerlich: »Ich wüßte nicht, was Ihnen dar an liegen sollte.« »Oh, viel, liebes Kind.« Der Mann lächelte und fiel
neben ihr in Schritt. »Wir müssen jetzt alle zusam menhalten. Eng zusammenhalten.« »Ich bin überzeugt, daß Fred mit jeder Gefahr fer tiggeworden wäre.« »Sehr wahrscheinlich.« Newhouse ließ seinen be wundernden Blick über den gigantischen Körper des Zentauren gehen. »Wir werden uns noch freuen, daß Herr Fred bei uns ist. Seine Kräfte werden für uns alle nützlich sein.« »Was wollen Sie damit ...« Teresina blieb wie an gewurzelt stehen. Das Blut wich aus ihrem Gesicht. »Wollen Sie etwa sagen, daß das Boot ...« »Reparaturunfähig«, seufzte Newhouse. »Die zen trale Polyphase der ersten Antriebsstufe ist derart durcheinander, daß wir von Glück sagen können, überhaupt heruntergekommen zu sein, bevor uns das ganze Ding um die Ohren flog. Wir haben keine Werkzeuge und Ersatzteile zum Auswechseln, selbst wenn einer von uns wüßte, wie es gemacht wird.« »Aber – ich meine – die zweite Antriebsstufe ...« »Die ist in Ordnung, aber was soll sie uns nützen? Wir können eine Masse wie dieses Boot nicht mit ei ner Kraft abschießen, die für mehrfache Lichtge schwindigkeit berechnet ist, während wir hier eine Atmosphäre und ein Schwerefeld um uns haben. Nicht, solange wir keine Selbstmörder sind. Ohne die erste Antriebsstufe kommen wir nicht sicher vom Bo den weg und in den freien Raum.« Newhouse machte eine kurze Pause, dann sagte er: »Auch das Radio funktioniert nicht.« »Aber – warum?« »Wahrscheinlich auch hier Sabotage. Wer immer einen von uns loswerden wollte, hat als zusätzliche
Vorsichtsmaßnahme das Radio durch Herausnehmen unentbehrlicher Teile unbrauchbar gemacht. Nach dem wir sicher auf einem Planeten gelandet sind, wo man leben kann – übrigens gegen alle Wahrschein lichkeit –, bleibt uns jetzt nur noch die schwache Hoffnung, daß eines Tages eine Suchexpedition vor beikommt. Wie gesagt, auch das ist nur eine schwa che Hoffnung. Niemand weiß, welche Richtung wir eingeschlagen haben. Unsere Überlebenschance ist so gering, daß man nicht viel Zeit mit Suchen verbrin gen wird. Wenn wir den Radiosender hätten, könnten wir den Raum abhorchen und antworten, sobald wir irgendein Signal hören würden, aber auch diese win zige Möglichkeit ist uns genommen. Nehmen wir einmal an, ein Suchschiff würde zufällig zu diesem Planeten gelangen. Wie hoch schätzen Sie die Wahr scheinlichkeit ein, daß es einen Fliegendreck wie un ser Lager durch visuelle Beobachtung entdecken würde?« Teresina schloß ihre Augen. Als sie sie wieder öff nete, blieb die Landschaft für einige Zeit ver schwommen. Fred, der phlegmatischer war als die meisten Men schen, solange es nicht um Dichtung und Literatur ging, brummte ruhig: »Gibt es keine Anzeichen, die auf eine Eingeborenenzivilisation hindeuten, Herr Newhouse?« »Auf dem Bildschirm habe ich nichts gesehen, das wie eine Straße, eine Stadt oder auch nur wie ein kul tiviertes Feld aussah«, erwiderte der Pilot. »Wenn et was Derartiges existiert, muß es sich auf einer niedri gen Stufe befinden, die uns nichts nützt. Wir sind auf uns selbst angewiesen.«
»Welche Lebensbedingungen können wir erwar ten?« »Günstige. Wir sind in einem Gebiet gelandet, des sen Klima unserer Lebensform gutes Gedeihen si chert. Wir haben jetzt den Sommer vor uns, aber da die Achse dieses Planeten nur um etwa zehn Grad geneigt ist, wird auch der Winter mild sein, wohl kaum mehr als eine Art Regenzeit. Wie sie schon ge sehen haben, rotiert dieser Planet sehr langsam, eine Umdrehung entspricht also etwa drei irdischen Wo chen. Aber die langen Nächte werden nicht so schrecklich dunkel sein, selbst wenn ein Mond fehlt. In dieser Himmelsregion befinden wir uns mitten in einem Sternhaufen. Überdies liegt unser Landeplatz im subarktischen Gebiet, der Planet besitzt ein starkes Magnetfeld, und er ist nicht so weit von seiner Sonne entfernt wie die Erde von der ihren. Wir können also das ganze Jahr hindurch brillante Nordlichter und ähnliche Erscheinungen erwarten. Kurzum, wir wer den auch nach Sonnenuntergang sehen können, was wir tun. Und wie ich sagte, mit der Nahrungsmittel beschaffung werden wir keine Sorgen haben. Wir werden Landwirtschaft betreiben, aber nicht übermä ßig hart arbeiten müssen.« »Haben wir denn Werkzeuge?« »Ja, ein ausreichendes Sortiment, darunter auch ein paar Gewehre. Sogar irdisches Saatgut in biostati schen Behältern. Diese Dinge gehören zur normalen Ausrüstung für Notlandungen und Havariefälle. Obwohl es meines Wissens noch nie vorgekommen ist, daß sie von Touristen gebraucht wurden.« Inzwischen hatten sie sich dem Boot genähert. Ne whouse winkte den anderen zu. Marie Quesnay, der
nörglerischen Unfähigkeit Hedwig Trumbulls und Arsangs überdrüssig, hatte sich eine Axt geholt und Holz gehackt. Kamala stand an einem kleinen Feuer, und der Duft aus einem darüber aufgehängten Kessel war verlockend. Plötzlich merkte Teresina, wie hung rig sie war. »Wir können im Schiff schlafen, solange es nötig ist«, erklärte Newhouse, »aber natürlich brauchen wir auf die Dauer mehr Platz und Bequemlichkeit. Mor gen – ich meine, später am Tage, nach lokaler Zeit – werde ich die Motorsäge aufstellen. Wir können zu nächst ein bequemes Blockhaus errichten, mit einem Privatzimmer für jeden von uns. Das wird nicht viel länger dauern als eine Woche oder so. Und wenn in drei Wochen die Sonne aufgeht, können wir mit der Landwirtschaft anfangen. In ein paar Monaten wer den wir alle wie die Könige leben!« »Was für Könige?« fragte Fred besorgt. »Ich weiß, daß es auf Gombar Könige gibt, die jedes Jahr nach Abschluß der Erntearbeiten von ihren Stämmen ge opfert werden.« »Oh«, sagte Newhouse, »es war nur eine ...« »Und der arme alte König Horrok von Jungar. Er hat immer Schulden, und es fällt ihm schwer, seine Krieger in den Kampf zu führen, wie man es von ihm erwartet. Und der teure Psychoanalytiker, den er von der Erde importiert hat, fing bald an, sich so für den Symbolismus der nomadischen Zivilisation zu inter essieren, daß ...« »... Redensart, weiter nichts. Machen Sie sich keine Sorgen.« »Ist es da ein Wunder, daß ich die Republik besin ge, ich, Fred, in allem enthalten und alles enthaltend,
ungewaschen wie der leibhaftige Pöbel?« Plötzlich mußte Teresina kichern. * Nach einer ausgedehnten Schlafpause sah das Leben hoffnungsvoller aus. Nach d e m Sonnenstand war im mer noch Spätnachmittag, die gleiche schwache Brise bewegte die Blätter der Bäume, und die gleichen klei nen Wolken wanderten über den Himmel, aber Kum mer, Zorn und Hysterie waren verflogen. Es war eine ruhige und fast ausgeglichene Gruppe, die sich nach dem Frühstück vor dem Raumschiff versammelte. Newhouse stellte sich auf die zweite Sprosse der Einstiegsleiter und blickte zu den anderen herunter, die im Gras saßen oder standen. Er machte eine ein drucksvolle Figur mit den windzerzausten Haaren, dem offenen Hemd und seiner hautengen Hose über blankgeputzten Stiefeln. Teresina vermutete, daß er mindestens eine halbe Stunde an sich gearbeitet hatte, bis dieser Effekt erreicht war. Anders konnte sie sich jedenfalls nicht erklären, wozu er auf einem pferdelo sen Planeten Reitstiefel trug. »Meine Damen, verehrte Herrschaften«, sagte Ne whouse mit kraftvoller Stimme. »Sie wissen jetzt, daß wir wahrscheinlich für den Rest unseres Lebens hier sind. Sie wissen auch, wie glücklich wir uns schätzen dürfen, einen solchen Garten Eden wie diesen gefun den zu haben. Es ist an uns, dieses Glück zu verdie nen, uns seiner und der menschlichen Rasse würdig zu erweisen.« »Und der Rasse der Numaner«, pfiff Arsang. »Natürlich«, sagte Newhouse irritiert. »Ich hätte
auch die Rasse von Gombar nicht unerwähnt gelas sen. Aber nun – wo waren wir stehengeblieben? Ach ja: Wir können auf diesem Planeten machen, was wir wollen. Im Moment bilden wir eine Gemeinschaft ohne feste Autorität, ohne klar umrissene Rechte und Gesetze, ohne – äh – ohne alles. Wir haben Arbeit zu tun. Sie wird uns nicht die Rücken brechen. Wir be sitzen die notwendigsten Werkzeuge, und die Kraft anlage des Schiffes wird uns mit der nötigen Energie versorgen. Aber es wird Arbeit geben. Eine Heraus forderung!« trompetete er. »Sie brauchen nicht so zu brüllen«, sagte Kamala. »Wir sind nicht taub.« Newhouse schaute verwirrt drein, fing sich aber schnell und fuhr fort: »Wir werden uns – wenn auch nicht auf eine regelrechte Verfassung, so doch auf ein paar grundsätzliche Regeln einigen müssen. Der An fang, den wir jetzt machen, wird die ganze zukünfti ge Gesellschaftsstruktur bestimmen. Unsere Nach kommen können uns segnen oder auch verfluchen ...« »Augenblick!« Marie sprang auf. »Was ist das, was Sie da sagen? Wessen Nachkommen?« Newhouse verschränkte seine Arme und lehnte sich an die Leiter. Er lächelte. »Unsere. Ihre und die der anderen Damen. Und meine.« »Ohhh!« quiekte Hedwig errötend. Auch Teresina sprang auf. »Nicht so eilig, Ne whouse!« schrie sie und brach ab, erschrocken über ihre eigene Kühnheit. »Sie kennen doch das Gesetz«, sagte der Offizier gelassen. »Welches Gesetz?« fragte Kamala, während alle anderen verblüfft schwiegen.
»Das Gesetz Nummer 84 der Vereinigten Welt raumbehörde, Paragraph 76«, sagte Newhouse. Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Davon habe ich noch nie gehört, und mein Vater hat seinen Sitz im Parlament seit ...« »Allgemein bekannt unter der Bezeichnung Fort pflanzungsgesetz.« »Nein, ich kann nicht sagen, daß ...« Teresina tauschte einen Blick mit Marie aus. Die Stewardeß zuckte die Achseln und zog ein Gesicht. Wer konnte alle Gesetze kennen, die es gab? »Nun, ich kann mir vorstellen, daß dieses Gesetz in Zivilistenkreisen weitgehend unbekannt ist«, sagte Newhouse. »Die Raumfahrer müssen über diese Din ge naturgemäß besser unterrichtet sein, obwohl selbst für sie die Frage der Anwendung höchst selten aktu ell wird. Nun, wie dem auch sei, das Gesetz schreibt vor, daß Erdenbürger, die auf einen fremden Planeten verschlagen werden, wo die Erhaltung der Rasse im Bereich des Möglichen liegt, sich fortzupflanzen ha ben. Dies hat in einer Weise zu geschehen, daß die größtmögliche Verbreitung aller vorhandenen ge sunden Erbanlagen gewährleistet ist.« Teresina wich erschrocken zurück, bis sie Freds vertrauenerweckende Masse hinter sich fühlte. Ne whouse betrachtete sie lächelnd. »Aber das ist unerhört!« kreischte Hedwig Trum bull. »Es ist unanständig!« »Die Verhältnisse im Raum gestatten nicht immer die Beibehaltung irdischer Maßstäbe«, sagte Ne whouse. »Dieses Gesetz verfolgt mehrere Zwecke. Er stens kann es sich bei notgelandeten Gruppen immer nur um kleine Personenkreise handeln, weshalb In
zucht soweit wie möglich verhindert werden muß. Andernfalls müßten die Abkömmlinge im Laufe der nächsten ein- oder zweihundert Jahre degenerieren. Die von den Umständen gegebene genetische Varia tionsbreite muß daher ausgenützt werden. Zweitens fördert das Gesetz die Verbreitung der Zivilisation in der ganzen Milchstraße, wobei auch Notsituationen wie diese hier für die ganze Menschheit einen Nutzen erbringen können. Zum Beispiel könnte hier schon eine blühende Kolonie existieren, wenn unser Planet später einmal entdeckt wird. Drittens dient das Ge setz unserem eigenen Schutz. Möchten Sie die letzten Überlebenden sein und alt werden, ohne jemanden zu haben, der für Sie sorgt?« »Aber frühere Ehen ...«, wandte Kamala ein. »Geltenautomatischalsdispensiert«,erwiderte New house schlagfertig, »während alle etwaigen Kinder der Schiffbrüchigen als legitimanerkannt werden müssen.« »Irgendwie«, warf Arsang ein, »entgeht mir die Logik dieser Bestimmung.« »Nun, von uns ist ohnedies niemand verheiratet«, meinte Newhouse achselzuckend. »Noch nicht.« »Ich werde es nicht tun!« explodierte Marie. »Sie – Sie Ziegenbock!« »Vorsätzliche Mißachtung der Gesetzesvorschrift ist strafbar«, erklärte Newhouse ernst. »Aber ich dachte, uns würde niemand retten«, sagte Teresina. »Wenn wir gerettet werden, kann Strafverfolgung beantragt werden. Außerdem ... nun, stellen wir uns doch den Tatsachen, wie sie sind, meine Damen. Ich bin der einzige Mann für Gott weiß wie lange – und im Umkreis von vielen Lichtjahren.« Newhouse po
lierte seine Fingernägel am Hemd, betrachtete sie kri tisch und lächelte wieder. »Es ist einfach unerhört!« Hedwig watschelte auf ihn zu und schüttelte die Fäuste. »Es ist unanständig, sage ich, unmoralisch, unziemlich! Wann wollen Sie anfangen?« Newhouses Selbstsicherheit bekam einen Sprung. »Oh«, sagte er. Hedwig lockerte ihr grünes Haar, wobei ergrauen de Haarwurzeln sichtbar wurden. »Ich möchte mit aller Deutlichkeit sagen, daß ich mich diesem – die sem Gesetz nur unter Protest beuge«, erklärte sie. »Und außerdem, falls wir gerettet werden sollten, müssen Sie eine anständige Frau aus mir ...« »Nun«, unterbrach Newhouse hastig und sprang von der Leiter, »wir wollen doch nichts übereilen. Ich, äh, ich wollte Sie, meine Damen, keineswegs in Ver legenheit bringen. Ich weiß, daß Sie Zeit brauchen wer den, um sich daran zu gewöhnen. Ich meine, an den Gedanken. Wir können später einzeln darüber spre chen.« »Denken Sie nicht, daß ich Angst habe«, sagte Hedwig. »Ich bin bereit, meine Pflichten gegenüber der Zivilisation zu erfüllen, mögen sie auch noch so widerwärtig sein.« »Fred«, stammelte Newhouse, »wir – wir sollten anfangen, die Werkzeuge zu entladen. Jetzt gleich.« * Da es in der Nachbarschaft keine Gefahren zu geben
schien, bekam Teresina nur ein leichtes Gewehr und
einen Korb für Proben etwaiger eßbarer Früchte, die
noch analysiert werden mußten. Sie war einige Stun den unterwegs und für das Alleinsein dankbarer, als sie sich selbst einzugestehen wagte. Als sie auf dem Rückweg durch ein kleines Wäld chen mit Vogelgezwitscher, Sonnenkringeln und wei chem Laub am Boden kam, fühlte sie sich müde ge nug, um in ihrer Wachsamkeit ein wenig nachzulas sen. Sie hatte viele Proben gesammelt, und es war nicht nötig, die Augen nach weiteren offenzuhalten. Aber das, so stellte sich bald heraus, war ein Fehler: sie begann über ihre eigene Situation nachzudenken. Sie sah düster genug aus. Man konnte diesen Pla neten so idyllisch finden, wie man wollte, er war trotzdem ein Gefängnis. Teresina hatte sich selbst immer für kontaktarm gehalten, nicht unfreundlich oder ablehnend zu anderen, aber mehr als die mei sten übrigen Menschen dazu geneigt, die stillen Abende zu Hause mit einem Buch zu verbringen. Erst jetzt kam ihr zu Bewußtsein, wie sehr sie Teil der menschlichen Gesellschaft war – angefangen mit den gewohnten Plaudereien in der Universitätsmensa und nächtelangen Diskussionen mit Kommilitonen, bis zu Verwandten, Freunden und dem Gewimmel auf den Straßen. Sie hatte plötzlich Sehnsucht ... Zelten und Fußwanderungen und so weiter, dachte sie unzufrieden, waren als Liebhaberei eine feine Sa che. Aber als Lebensinhalt besaßen sie keinen son derlichen Reiz. Ein Rascheln voraus ließ sie nach der Flinte greifen. »Habe ich Sie erschreckt?« Newhouse kam grinsend aus einem Gebüsch hervor und auf sie zu. »Wir haben Feierabend gemacht«, sagte er und schob sich an ihre Seite. »Also dachte ich, ich könnte
einen kleinen Spaziergang machen und sehen, ob ich Sie finde.« Teresinas Gesicht brannte. »Es ist ein großes Ge biet. Die Wahrscheinlichkeit, daß Sie mich finden würden, war nicht groß.« »Wenn es darum geht, der Wahrscheinlichkeit ein Schnippchen zu schlagen, bin ich großartig«, schmunzelte Newhouse. Er klopfte an ein kleines In strument an seinem Gürtel. »Sie tragen einen Ener giekompaß, der die ständige schwache Ausstrahlung des Raumschiffkonverters auffängt. Ich habe diesen hier einfach auf den Ihren eingestellt. Ähem! Und weil wir gerade vom Finden sprechen ...« »Warum – Was ...« »Warum? Sie selbst sind die Antwort darauf.« Ne whouse ließ einen Arm um ihre Mitte gleiten. Teresina riß sich los. »Lassen Sie das!« Er lachte laut, nicht im geringsten verlegen. »Also schön, ich werde nicht den bösen großen Wolf spie len. Noch nicht. Obwohl, wenn ich es wollte, könnten Sie nicht viel dagegen machen, nicht wahr?« »Was wollen Sie damit sagen?« »Nun, wie ich schon vorhin angedeutet habe, ich bin der einzige Mann weit und breit. Und Sie sehen nicht wie ein Mädchen aus, das sich gegen das Gesetz auflehnen würde.« »Oh.« Teresina blickte zur Seite. »Das Gesetz.« Newhouse näherte sich ihr erneut. »Seien Sie nicht verbittert. Bin ich denn so fürchterlich abstoßend?« Teresina rang nach Worten. Sie blickte immer noch von ihm weg, als sie endlich herausbrachte: »Nein.« »Ah«, sagte Newhouse und legte seine Hände um ihre Taille.
Teresina stammelte: »Es – es ist – es hat keine per sönlichen Gründen. Nicht so sehr. Es ist die – die ganze Idee ...« »Aber nicht doch«, schnurrte Newhouse und schmiegte sein Gesicht in ihr Haar, wobei er mit der Nase an ihrem Ohr rieb. »Machen Sie sich selbst nichts vor, Teresina. Ich kenne die Frauen ganz gut, wenn ich so sagen darf, und ich wußte sofort, daß Sie nicht kalt sind. Reserviert, der intellektuelle Typ, ge wiß, aber das verdeckt nur alles andere. Darunter sind Sie sehr weiblich, sehr viel Frau ...« Teresina starrte durch die sich sanft im Wind wie genden Zweige. »Ich habe immer gedacht, daß ich einmal heiraten würde«, sagte sie. Sie konnte nur daran denken, wie schwer es ihr fiel, zu einem fast Fremden über so persönliche Dinge zu sprechen. »Ja, natürlich. Aber ich meinte wirklich: heiraten.« »Wenn Sie sich deswegen Sorgen machen, ich habe das Gesetz doch schon erläutert ...« »Ja, und von allen dummen und gemeinen Geset zen ist dies das dümmste und gemeinste. Es interes siert mich nicht, was irgendeine Raumfahrtbehörde sagt. Ich habe über Heirat gesprochen. Über eine Be ziehung zwischen mir und einem Mann, für das gan ze Leben. Etwas, das uns allein gehört. Ich will damit nicht sagen, daß ich einen Menschen zu meinem Ei gentum machen möchte, ich hoffe wenigstens, daß ich nicht so bin. Aber – kurzum, ich bin eben mono gam veranlagt.« »Immerhin, da die Dinge sich nun einmal anders entwickelt haben ...« Newhouse drückte sie fest an sich. »Was hat George Bernard Shaw einmal ge schrieben, schon vor Jahrhunderten?« sagte er selbst
gefällig. »Eine Frau würde lieber Teil an einem über legenen Mann haben als einen unterlegenen für sich allein.« »Was?« »Da ich der einzige Mann hier bin, denke ich, daß ich mich ruhig überlegen nennen darf. Glauben Sie mir, ich wäre viel lieber mit Ihnen allein hier gestran det. Aber wir könnten uns auch so ziemlich isolieren, wir zwei ...« Teresina merkte erst jetzt, wie er sie an sich gepreßt hielt. Sie versuchte sich loszureißen. Newhouse lachte wieder und hielt sie noch fester. Sie konnte sich nicht aus seiner Umklammerung befreien. Plötzlich drehte er sie schnell herum und beugte sein Gesicht über das ihre, um sie zu küssen. Sie schlug ihre Stirn heftig gegen seine Nase. Er ließ sie fahren und wankte mit einem schmerzlichen Auf stöhnen zurück. Sie nahm die Flinte herunter und hielt sie in Hüfthöhe. »Ich will Sie nicht erschießen«, würgte sie hervor. »Bitte zwingen Sie mich nicht dazu.« Newhouse hatte sein Taschentuch gezogen und betupfte sich damit die Nase. Ein paar Blutstropfen sprenkelten den weißen Stoff. »Tun Sie das Ding weg«, knurrte er. »Wollen Sie einen Mord begehen?« »Welche alten Weiber in Hosen auch immer dieses Gesetz gemacht haben mögen«, sagte Teresina, »sie müssen sehr weltfremd gewesen sein, weil ihnen an scheinend nicht in den Sinn gekommen ist, daß das Überleben nicht jeden Preis wert ist. Genug jetzt. Ge hen Sie!« Sie hob die Flinte. Newhouse setzte sich in Bewe gung. Nach etwa zehn Schritten blieb er wieder ste hen. »Was haben Sie jetzt vor?« fragte er unsicher.
»Ich werde ins Lager zurückkehren«, sagte Teresi na. »Es ist nicht nötig, über diese Episode weitere Worte zu verlieren.« Newhouse zog nachdenklich die Stirn in Falten. »Bitte, entschuldigen Sie«, sagte er dann. »Ich ver stand Sie offenbar nicht so gut, wie ich dachte.« »Ich schlage Ihnen vor, auch bei den anderen we niger zuversichtlich zu sein, daß Sie sie verstehen.« »Aber da ist doch das Gesetz. Und unsere Gruppe ist schließlich keine Bande von Gesetzesbrechern. Sie werden doch keine Bestrafung wegen Verschwörung gegen das Gesetz riskieren, wenn wir tatsächlich ge rettet werden. Und das ist es, dessen Sie sich schuldig machen würden.« Teresina war so aufgebracht, daß sie erst später Zeit hatte, die Intelligenz ihrer Antwort zu bewun dern. »Darüber können wir uns später unterhalten«, gab sie zurück. »Das Gesetz sagt, daß diese Gruppe sich fortzupflanzen hat. In Ordnung. Es sagt aber nichts über die Reihenfolge, die wir dabei einzuhalten haben. Es wäre ja in der Tat unvernünftig, wenn alle Frauen gleichzeitig schwanger wären. Sehr gut, Herr Newhouse, Sie können anderswo anfangen. Wenn das erste Kind erst einmal ein paar Monate unterwegs ist, wird sich für uns andere die Frage stellen.« Sein Mund stand offen. »Anderswo?« »Ich schlage Hedwig Trumbull vor«, spottete Tere sina. »Sie scheint durchaus bereit zu sein, alles für den weiteren Bestand dieser Kolonie zu tun.« Damit kehrte sie Newhouse den Rücken und mar schierte davon. *
Der allmähliche Sonnenuntergang kam während der nächsten Arbeitsperiode. Stundenlang erglühte der Himmel in roten, goldenen und lila Tönen. Aber während Teresina das rasche Verblassen solcher Schönheit auf Erden stets bedauert hatte, fand sie die se Pracht ziemlich langweilig, wo sie sich über fast einen ganzen Arbeitstag hinzog. Und als endlich das blaue Zwielicht einsetzte und die ersten Sterne am Himmel aufblinkten, war ihr die Veränderung durchaus willkommen. Die Gruppe saß im Freien unter einigen Lampen, die neben dem Bauplatz ihres geplanten Hauses auf gehängt worden waren. Man unterhielt sich. Meistens handelte es sich um Erinnerungen, bis Hedwig zu schluchzen begann. Dann leitete Marie zu praktische ren Problemen über. Die Arbeit könnte auch während der langen Nacht fortgesetzt werden, aber es wäre wohl richtiger, die Jagd und das Sammeln von Früchten einzustellen. Immerhin wäre es nicht ver kehrt, die umliegenden Wälder ein wenig zu erfor schen, um in Erfahrung zu bringen, was man dort nach Beginn der Dunkelheit zu erwarten habe. Fred und Newhouse könnten ... nein, Newhouse dürfe nicht in Gefahr gebracht werden ... Fred erklärte sich bereit, allein Nachforschungen anzustellen. Er hatte wenig zu fürchten. Teresina erbot sich, ihn zu begleiten. Newhouse legte sein Veto ein: sie dürfe ihre potentiellen Mutterfunktionen nicht unnötig gefährden. Teresina erregte sich, sprach von ihren Rechten als Individuum und war bestürzt, als die anderen für Newhouse Partei ergriffen. Nur Arsang stimmte ihr zu, und das hauptsächlich aus Ge hässigkeit gegen die übrigen. Man hatte ihn vorher
zum Beerensammeln geschickt, und das hielt er mit der Würde eines ersten königlichen Gongschlägers für unvereinbar. Kurz darauf legten sich alle schlafen. Teresina stellte mit boshafter Befriedigung fest, daß Newhouse immer noch allein in seiner Koje im Raumschiff schlief. Hedwig machte eine andeutende Bemerkung, aber er drückte sich ziemlich hastig an ihr vorbei, und gleich darauf hörte man die Tür zum Pilotenraum ins Schloß fallen. Arsang und Hedwig gingen in den Pas sagierraum, die anderen zogen es vor, ihre Schlafsäk ke im Freien auszubreiten, denn die Nacht war mild. Alle bis auf Fred, versteht sich: sie konnten nicht mehr für ihn tun, als seinen mächtigen Körper mit Decken zu behängen. Teresina konnte nicht einschlafen. Nach ein oder zwei ruhelosen Stunden stand sie auf, zog Kleid und Sandalen an und wanderte zum Rand des Lagers hinaus. Die eigentliche Nacht begann jetzt. Der Himmel über ihr war blauschwarz, nur dort, wo die Sonne untergegangen war, hielten sich hellere Töne; ein samtiges Lila, orangerote Wolken. Die Sterne erfüll ten den Nachthimmel zu Myriaden. Ein Geräusch in ihrer Nähe ließ Teresina erschrok ken herumfahren. Im unbestimmten Licht erkannte sie zwei Gestalten und starrte in gelähmtem Entset zen auf die bizarren Umrisse. Dann entpuppten sie sich als Marie Quesnay und Kamala Chatterji, die sich ihre Decken umgehängt hatten. »Hallo«, sagte Teresina etwas zittrig. Die Dunkel heit schien alle Stimmen in ein Flüstern zu verwan deln. »Sie können also auch nicht schlafen?«
»Wieso, leiden Sie an Schlaflosigkeit?« fragte Ka mala. »Ich bin nur gekommen, um die Aussicht zu genießen. Es ist wahr, daß man den echten inneren Frieden nicht so leicht gewinnen kann. Aber ich wür de Ihnen gern ein paar einfache Entspannungsme thoden zeigen, mit denen ...« »Darum geht es nicht«, unterbrach Marie. »Auch ich lag wach, und als ich Sie gehen sah, Kamala, stand ich schnell auf und begleitete Sie. Dann ent deckten wir Sie, Teresina.« »Sie brauchen nur damit zu beginnen«, sagte die Inderin, »tief Luft zu holen ...« »Ich möchte ja gar nicht ...« »... und dasselbe elfmal zu wiederholen, während Sie auf den Zehenspitzen stehen; dann setzen Sie sich nieder, stecken Ihren Kopf zwischen Ihre Knie, kreu zen die Füße ...« »Ich will nicht schlafen!« rief Marie. »Ich habe nachzudenken.« »Gut, dann möchte ich Sie nicht länger stören«, sagte Kamala. »Gute Nacht.« »Nein, bleiben Sie. Und auch Sie, Teresina. Wir alle haben nachzudenken, und geradeso gut können wir uns jetzt darüber unterhalten. Einverstanden?« Die kühle Brise liebkoste Teresinas heißes Gesicht. Sie sagte lahm: »Sie meinen das Problem mit ...« »... diesem Schwein Newhouse, jawohl«, ergänzte Marie aufgebracht. »Er hat sich auch an Sie herange macht, nicht wahr?« »Nein – ich meine, ja. Aber ich hatte ein Gewehr bei mir, und ...« »Und ich kenne ein paar Judotricks«, sagte Marie. »Bei meiner Arbeit ist das immer nützlich. Hat er Sie
allein überrascht, Kamala?« »Ja«, antwortete die Inderin einfach. »Ich habe ihm von den drei Prinzipien erzählt, auf denen sich die Religionsphilosophie des Buddhismus gründet. Dann sagte er, wir sollten lieber zum Lager zurückgehen.« Marie kicherte. »Das ist ein leichter Ausweg.« »Ich habe ihm gesagt«, meinte Teresina, froh, daß die Dunkelheit ihre Verlegenheit verbarg, »daß er, äh, nun, daß er mit einer anfangen solle, die willig sei.« Marie nickte heftig. »Ich auch. Ich glaube, wir ha ben ihm beide dieselbe Person vorgeschlagen, nicht? Da sein Interesse an ihr – sagen wir einmal: nicht sehr groß ist, hat er bisher noch nichts unternommen.« Sie zuckte die Achseln. »Aber das wird nicht lange vor halten, mes amies. Er ist ein gesunder junger Mann, in mancher Hinsicht vielleicht gesünder als andere. Es wird nicht lange dauern, bis er unserem Vorschlag folgt. Und dann, ein paar Monate später, wird er ei nen Anspruch auf eine von uns haben.« »Soll er es nur wagen!« fuhr Teresina auf. Kamala sagte freundlich: »Er wird Herrn Arsang und Herrn Fred auf seiner Seite haben. Sie haben ganz gewiß den Wunsch, daß hier eine große Ge meinde entsteht, besonders als Vorsorge für ihre alten Tage. Und dann ist da noch die Frage des Gesetzes, dem wir verpflichtet sind.« »Verpflichtet! Gesetz!« Teresina blickte zum Fluß. Ihre Stimme klang heiser. »Ist Ihnen noch nicht aufge fallen, wie schlecht und dumm dieses Gesetz ist? Er stens ist es ein grober Eingriff in die persönliche Frei heit. Jedermann hat das verfassungsmäßige Recht, zu entscheiden, was er mit seinem Leben anfangen will. Eine erzwungene Heirat ist ungültig. Zweitens ist
diese Situation hier so ungewöhnlich und selten, daß es gar keinen Grund gibt, warum sie durch ein Gesetz geregelt sein sollte.« »Nun«, sagte Kamala milde, »dieses Gesetz scheint in der Tat unnötig zu sein, wie Sie ganz richtig her vorheben. Aber so etwas ist doch nichts Neues. Ich habe zum Beispiel gehört, daß es in manchen ameri kanischen Staaten illegal ist, am Sonntagmorgen in der Nähe einer Straße zu baden. Es gibt viele solche Bestimmungen, die einem vernünftigen Menschen absurd vorkommen. Ein Gesetz, das das Verhalten Schiffbrüchiger regelt, erscheint mir also daher nicht so überaus abwegig, obwohl ich noch nie gehört ha be, daß es schon einmal eine Situation wie die unsere gegeben hat.« »Na schön«, sagte Teresina. »Zugegeben. Das Ge setz soll also garantieren, daß Schiffbrüchige beider Geschlechter sich fortpflanzen, wenn die Bedingun gen der Umwelt es erlauben. Glauben Sie wirklich, daß so etwas erzwungen werden muß? Außerdem soll das Gesetz dazu dienen, durch weitestgehende Vermischung der Erbanlagen Degenerationserschei nungen zu verhindern. Na und? Wenn eine Gruppe Menschen so dumm ist, daß sie nicht von selbst dar auf kommt, ist es nicht schade um sie, wenn sie dege neriert! Die Leute brauchen deshalb nicht gleich in der ersten Generation der Promiskuität zu verfallen. Sie brauchen nur zu bestimmen, wen ihre Kinder und Enkel heiraten und zwischen den Familien entspre chende Vereinbarungen zu treffen. So oder ähnlich ist es in der ganzen menschlichen Geschichte gehand habt worden. Unsere moderne Gewohnheit, diese Entscheidung ganz allein dem Individuum zu über
lassen, ist, statistisch gesehen, eine Abnormität.« »Hm, ja«, sagte Marie. »Angenommen, es wären mehrere Paare zusammen schiffbrüchig, und man würde von ihnen verlangen, ständig die Partner zu wechseln – ja, die emotionellen Spannungen, die da bei entstehen würden, könnten gefährlicher werden als alle genetischen Probleme.« »Und dann dieser Unsinn über die Verbreitung der Zivilisation!« zürnte Teresina. »Wenn ein Planet keine intelligenten Eingeborenen hat, kann er warten, bis er auf normale Weise entdeckt wird. Und wenn er Ein geborene hat, können Sie sich vorstellen, wie viele Schwierigkeiten eine Bande wildfremder Wesen wie wir machen würde, die das Land der Eingeborenen mit ihren Nachkommen bevölkern? Mord und Tot schlag würde es geben! Tatsächlich, das Gesetz sollte die Fortpflanzung Schiffbrüchiger verbieten, bis sie sich überzeugt haben, daß der Planet, auf den es sie verschlagen hat, keine intelligenten Bewohner be sitzt!« Sie schwieg erschöpft. Eine Weile hörte man nur den Wind in den Blättern rauschen. »Sie haben recht, meine Liebe«, sagte Kamala end lich. »Da ist ein lächerliches Gesetz, und wenn ich je mals wieder heimkomme, werde ich meinen Vater dazu bringen, daß er einen Antrag auf Gesetzesände rung ausarbeitet. Aber einstweilen ...« »Einstweilen«, sagte Maie, den Faden aufnehmend, »haben wir die Situation, wie sie ist. Vergessen Sie das Gesetz, Teresina. Wir sind vier Frauen, haben ei nen Mann und keine Aussicht auf Rettung. Ich fürchte, wir werden uns seinen Wünschen fügen müssen, denn, wie Sie sehr richtig sagten, ein Gesetz
ist dazu überhaupt nicht notwendig.« »Aber wir müssen doch nicht!« rief Teresina. Marie zuckte wieder die Achseln. »Dieser Mon sieur Newhouse gefällt mir nicht sehr. Ich werde ihm nicht sofort in die Arme sinken. Aber früher oder später, eh bien, ich bin auch ein gesundes Tier mit In stinkten. Und dasselbe gilt auch für Sie beide.« Teresina stampfte auf. »Ich bin es nicht.« Kamala lachte. Teresina sagte unbeholfen: »Nun, ich meine, ich habe etwas Selbstdisziplin.« »Die haben wir jetzt alle«, versetzte Marie. »Aber wie wird es in einem Jahr aussehen? In zwei Jahren, in fünf Jahren? Ich kenne das Leben vielleicht ein biß chen besser als Sie, Teresina. Wenn Sie schon sonst nichts dazu treibt, werden Sie sich wenigstens keine eigenen Kinder versagen wollen. Und es ist wahr: In fünfzig Jahren wird unsere Gemeinschaft diese Kin der brauchen. Sie dürfen nicht selbstsüchtig sein.« »Sie können das Unausweichliche für einige Mo nate verschieben«, sagte Kamala. »In dieser Zeit wer de ich Sie in der inneren Reform unterweisen. Danach werden Ihnen solche Dinge weit weniger wichtig er scheinen.« »Ist es Ihnen denn ganz gleich?« würgte Teresina hervor. Kamala zögerte. »Gewiß nicht. In Colombo kannte ich einen jungen Mann ... Nein! Warum sollten wir uns Selbsttäuschungen hingeben? Diese Dinge sind vorbei.« Teresina biß sich auf die Lippen. »Wenn Sie nur ein bißchen Willenskraft hätten, würden Sie mir helfen, das Schiff zu übernehmen! Wir könnten nach einer menschlichen Siedlung Ausschau halten. Lieber bei
dem Versuch sterben, als sich mit diesem, diesem langweiligen Planeten abfinden!« »Sie vergessen«, sagte Marie, »daß die erste An triebsstufe sabotiert ist.« »Könnten wir sie nicht reparieren?« »Newhouse sagt nein. Ich verstehe selber nichts von diesen Dingen. Ich könnte das Schiff in der At mosphäre fliegen, aber ich würde mich damit nicht in den Raum hinaustrauen.« »Was Newhouse sagt!« schnarrte Teresina. »Wie weit würden Sie glauben, was dieser, dieser ...« »Diese unintegrierte Person«, schlug Kamala vor. »Na schön. Was dieser Kerl, dieser Bock sagt?« »Wir können ihm geradeso gut trauen«, sagte Ma rie. »Soviel Glück wie er hat kein anderer. Und mir ist ein Glückspilz lieber als ein kluger Mann.« »Glück ...« Teresina stand wie vom Donner gerührt. Das Verstehen überkam sie so plötzlich, daß sie keine Worte fand. »Alle Unwahrscheinlichkeiten scheinen sich zu sei nen Gunsten ausgewirkt zu haben«, pflichtete Ka mala bei. »Das legt die Vermutung nahe, daß unter seiner Oberflächlichkeit eine tief unbewußte Harmo nie mit dem All verborgen liegt. Ja ... ja, vielleicht war ich ungerecht zu ihm. Ich muß ihn besser kennenler nen ...« Teresina ergriff Maries Hände. »Sagten Sie, daß Sie das Schiff fliegen können?« schrie sie. »Ja, ein bißchen«, sagte die Stewardeß. »Aber was wollen Sie – Sie können doch nicht ...« »Und ob ich kann!« Teresina machte kehrt und lief zum Lager zurück. »Kommen Sie!« Marie blickte ihr mit offenem Mund nach, dann
folgte sie. »Helfen Sie mir, Kamala, sie muß einen Koller haben!« Fred, der vom Lärm wach geworden war, kam den Mädchen schwerfällig entgegen. »Was ist passiert?« dröhnte er. »Ist etwas nicht in Ordnung, meine Klei nen?« »Fred – Fred!« Teresina warf sich zitternd an seine enorme Brust. »Sie – Sie wollen doch nicht hierblei ben, oder?« »Nein. Natürlich nicht. Gewiß, es ist ein friedliches Leben in einer schönen Umgebung, aber ich verspüre wachsende Sehnsucht nach meiner eigenen Spezies.« »Gut, dann kommen Sie mit!« rief Teresina. Kamala erreichte sie und zupfte an ihrem Ärmel. »Friede«, sagte sie. »Beruhigen Sie sich, Teresina. Holen Sie tief Luft.« Marie faßte ihren anderen Arm. »Kann ich Ihnen mit einem Beruhigungsmittel aushelfen?« »Ich habe die Mikrofilmbibliothek an Bord durch gesehen«, erzählte Fred, »und einen Band mit Ge dichten von Jacques Prevert gefunden.« Schritte klapperten in der Luftschleuse. Newhouse erschien, eine Pistole in der Hand. Hinter ihm waren Hedwig und Arsang. »Was ist los?« rief der Maat. »Ich fürchte, die arme Teresina hat ihre Selbstkon trolle verloren«, sagte Marie. »Was?« Newhouse eilte die Leiter herunter. Nach kurzem Zögern folgten ihm Arsang und Hedwig. Newhouse schritt auf die Gruppe zu. »So, nun er zählen Sie mal. Was ist passiert?« »Sie fing plötzlich an zu schreien und zu rufen und rannte fort«, antwortete Kamala. »Das Kind ist über reizt. Lassen Sie mich allein mit ihr sprechen, und
nach einer Weile werde ich sie wieder ...« »Das ist es nicht!« schrie Teresina. Sie zitterte am ganzen Körper. Ihr eigener Herzschlag hämmerte in ihren Ohren. »Das Schiff! Sie haben uns angelogen! Das Schiff ist überhaupt nicht beschädigt!« »Was?« Newhouse starrte sie offenen Mundes an. »So hören Sie doch«, babbelte Teresina. »Hören Sie mir doch nur eine Minute zu!« Newhouse hob seine Pistole. »Ich glaube, sie hat einen hysterischen Anfall«, sagte er. Sein Gesicht war plötzlich hart und kantig. »Ich werde sie ein bißchen spazierenführen und mich mit ihr unterhalten. Ich weiß, wie man solche Fälle behandelt.« »Nein, ich bin dafür ausgebildet«, widersprach Ma rie. »Ich bin der Kommandant hier!« schnappte Ne whouse. Teresina blickte auf die Pistole in seiner Faust. Die Mündung zeigte direkt auf ihre Mitte. »Beruhigen Sie sich, Kindchen«, sagte Newhouse. »Entspannen Sie sich. Es gibt gar keinen Grund zur Aufregung.« »Was ist das mit dem Schiff?« fragte Fred. »Nichts«, sagte Newhouse. »Reiner Unsinn. Sie hat den Kopf verloren. Es ist überhaupt nichts. Habe ich recht?« Er und seine Pistolenmündung starrten Tere sina an. Sie wußte nicht, woher sie den Mut und die Ent schlossenheit nahm. Sie stieß nach oben. Ihr Fuß traf seine Hand, und die Pistole flog in hohem Bogen durch die Luft. Newhouse fluchte und stürzte ihr nach. Teresina rannte zum Schiff. »Kommt mit!« kreischte sie.
Newhouse krabbelte auf Händen und Knien durch das hohe Gras. Marie warf ihm einen einzigen Blick zu, dann sprang sie die Leiter hinauf. »Fred!« rief Teresina. Der Zentaur nahm Kamala in seine Arme und war mit zwei Sätzen in der Luftschleuse. Teresina war die letzte. Sie sah, wie Newhouse sich aufrichte te. Die Pistole glitzerte in seiner Hand. Sie wußte nicht, ob er die Waffe benützen würde oder nicht, aber in ihr wurde plötzlich etwas kalt und schlaff. Dann kam Freds Arm um sie und zog sie hinauf. Die Ausstiegsluke fiel mit metallischem Klang hinter ihr zu. Sie lag einen Augenblick keuchend und schluch zend am Boden, bevor sie zu Marie sagen konnte: »Gut ... Gehen Sie in die Pilotenkabine ... Starten Sie das Ding.« Die Stewardeß blickte auf die geschlossene Luke, als könnte sie die Szene draußen beobachten. »Aber Hedwig und Arsang«, sagte sie zweifelnd. »Allein mit ihm ...?« »Er wird nicht wagen, ihnen etwas zu tun.« Teresi na setzte sich auf und legte beide Arme um ihre an gezogenen Knie. »Sie haben alle Lebensmittel und Werkzeuge. Es wird ihnen nicht weh tun, eine Weile zu warten.« Kamala lachte. Es kam für alle unerwartet. »Ich könnte mir keine drei Personen vorstellen, die ich lie ber als Schiffbrüchige zusammen sähe«, sagte sie. * Sir John Baskerville, Bürgermeister, Chefchemiker,
Hilfsarzt und Polizeioberhaupt von Irene, der einzi
gen Siedlung auf dem Planeten Holmes, starrte ver blüfft auf das hübsche blonde Mädchen vor seinem Schreibtisch. »Das ist ja eine abenteuerliche, um nicht zu sagen, phantastische Geschichte!« rief er aus. »Wie sind Sie zu der Folgerung gekommen, daß das alles ein aus gemachter Schwindel war?« »Oh, durch vieles«, antwortete Teresina Fabri. »Ich meine, diese ganze Sabotageaffäre kam mir so un wahrscheinlich vor. Niemand konnte sich einen ein leuchtenden Grund dafür vorstellen. Und das Ganze war so kompliziert und doch ungeschickt! Für den Attentäter wäre es doch viel einfacher gewesen, wenn er eine Bombe mit Zeitzünder in das Rettungsboot geschmuggelt hätte, nicht wahr? Und dann erschien es mir reichlich merkwürdig, daß wir auf Anhieb ei nen so guten Planeten wie diesen fanden.« Sir John Baskerville verbeugte sich. »Danke sehr. Offen gesagt, wir auf Holmes sind der gleichen Mei nung, obwohl unsere Nachbarn und freundschaftli chen Rivalen auf Gontscharow ... Aber fahren Sie fort, Fräulein Fabri.« »Newhouse konnte auf Grund seiner Stellung die Zusammensetzung der Passagierliste für das Ret tungsboot innerhalb gewisser Grenzen manipulie ren«, sagte Teresina. »So bestand die Passagierliste für Nummer vierzehn aus vier jungen Damen, die alle ohne Anhang waren, und, nun, wenigstens hielt er sie für attraktiv. Und dann war noch Fred mit von der Partie, dessen Kräfte von Nutzen sein konnten und von dem keine Rivalität zu befürchten war. Nun, Newhouses Pläne wurden ein bißchen durcheinan dergebracht. Zuerst tauschte Miss Hedwig Trumbull
den Platz mit einer sehr hübschen Rothaarigen, die Newhouse für unser Boot vorgesehen hatte. Dann drängte sich Arsang an Bord. Aber das war nicht so schlimm. Newhouse führte sein Vorhaben durch. Es konnte ihm nicht schwergefallen sein, ein Uhrwerk in den Alarmkreis des Schiffes einzubauen, eins, das die Alarmklingeln betätigte, wann er wollte. Natürlich mußte er die Navigationsunterlagen beiseite schaffen. Andernfalls hätte es keinen Vorwand gegeben, ir gendwo in der Wildnis zu landen. Wahrscheinlich hatte er sich die Koordinaten dieses Sterns und die Umlaufbahn dieses Planeten schon vorher einge prägt. Er brauchte also nur noch das Radio und den Neutrinodetektor außer Betrieb zu setzen, in der Ihrer Siedlung entgegengesetzten Hemisphäre zu landen und so zu tun, als befänden wir uns auf einem un entdeckten Planeten.« »Wußten Sie, wo Sie waren, bevor Sie zu dieser Seite herumkamen und Gontscharow am Himmel sa hen?« fragte Sir John Baskerville. Teresina nickte. »Ich war ziemlich sicher. Nachdem ich mißtrauisch geworden war und hinter der ganzen Sache einen faulen Trick gewittert hatte, fiel mir ein, daß ich einmal von einem Doppelplaneten in dieser Himmelsgegend gehört hatte. Und ein Zwillingspla net von etwa gleicher Masse ist das einzige, was die Umdrehung eines so relativ jungen Gestirns derartig verlangsamen kann. Ich dachte mir natürlich, daß die beiden Zwillinge einander immer dieselben Seiten zukehren und als Ganzes rotieren. So konnte ich mir die langen Tage und Nächte erklären, und natürlich bestärkte es mich auch in meinem Verdacht.
Nun, aus alledem folgerte ich, daß das Rettungs boot überhaupt nicht sabotiert worden war. Und ich konnte nicht glauben, daß Newhouse wirklich die Absicht hatte, sein ganzes Leben lang Robinson Cru soe zu spielen. Nach einem Jahr oder zwei oder drei, sobald es ihm langweilig geworden wäre, hätte er wahrscheinlich so getan, als wäre es ihm gelungen, die erste Antriebsstufe zu reparieren. Und dann hätte er mit großer Verwunderung entdeckt, daß es hier die ganze Zeit eine Kolonie gab, von der wir nie etwas gewußt hatten.« »Oder er hätte Sie alle mit auf die Suche nach ei nem ›kolonisierten‹ Planeten genommen und ›ganz zufällig‹ einen gefunden«, fügte Sir John Baskerville hinzu. »Jotunheim ist nicht sehr weit entfernt. Oder er wäre einfach allein gestartet und hätte Sie in der Wildnis zurückgelassen.« Er schüttelte den Kopf. »Ein richtiger Wüstling, Miss! Wir werden dafür sor gen, daß er bestraft wird, wenn wir ihn finden. Ich fürchte allerdings, daß es Wochen dauern wird, bis wir das Lager wiederentdecken. Der Planet ist groß, und unsere Polizeistreitmacht besteht aus nur fünf Männern.« Teresina lächelte. »Das macht nichts. Er kann blei ben, wo er ist. Ich hoffe, er genießt jede Minute seines Aufenthalts.« »Das hätte er wohl getan, wenn Sie nicht so schnell begriffen und gehandelt hätten, Miss.« Teresina errötete. »Ja. Das war ja seine ganze Ab sicht. Wie ein Sultan zu leben, solange er es wünsch te. Und noch dazu ganz legal.« »Wieso, was meinen Sie damit?« Teresina errötete noch tiefer. »Sie wissen doch, die
ses dumme Gesetz, daß Schiffbrüchige sich – nun, daß sie Kinder haben müssen.« »Gott im Himmel!« Sir John Baskerville lachte laut auf. »Was reden Sie da? Ich darf wohl sagen, daß ich mit den Statuten und Gesetzen, die sich mit der Er forschung des Weltraums befassen, recht gut vertraut bin, und ich kann Ihnen versichern, daß es ein solches Gesetz nicht gibt und noch nie gegeben hat!« – Ende –
Als TERRA-TASCHENBUCH Nr. 104 erscheint:
200 Millionen Jahre später von A. E. van VOGT Seine Kräfte waren grenzenlos. Er ermüdete nicht, und er kannte keine Furcht – er war der Gott Ptath. Gegen seinen Willen war es zurückgekehrt. Ineznia, seine erbitterte Rivalin, hatte ihm eine Falle gestellt. Jetzt befand er sich im Körper eines Sterblichen aus unserer Zeit – versetzt in eine Welt der allerfernsten Zukunft ... A. E. van Vogts Romane und Stories gehören seit zwei Jahrzehnten zu den Bestsellern überhaupt auf dem utopischen Gebiet. Hier schrieb er eines seiner kühnsten Raum-Zeit-Abenteuer überhaupt.