ARKADIJ AWERTSCHENKO
Der Truthahn mit Kastanien
und andere Erzählungen
GOLDMANNS GELBE TASCHENBÜCHER
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ARKADIJ AWERTSCHENKO
Der Truthahn mit Kastanien
und andere Erzählungen
GOLDMANNS GELBE TASCHENBÜCHER
Zu diesem Buch ark adij timofejewitsch awertschenko, Schriftsteller und Journalist, Herausgeber des Witzblattes Satirikon, wurde 1881 geboren und starb am 13. März 1925 in Prag. Die unter dem Titel Der Truthahn mit Kastanien zusammengefaßten Erzählungen dieses Bandes zeigen die Situation des Rußland um die Jahrhundertwende, das, selbstgefällig und satt, den kritischen Geist des Autors herausgefordert hat. Ein scharfer Verstand deckt menschliche Schwächen auf und geißelt sie mit beißendem Zynismus. Diese kritische Betrachtung der Dinge aber ist getragen von Melancholie und einer schmerzlich-zarten Liebe zum Menschen, die diesen kleinen Erzählungen den Hauch des Poetischen verleihen. So entstehen grotesk-verspielte Figuren, wie der ›tumbe Tor ‹ Stepa und das unbegreifliche Zauberwesen Soja und skurril-eigenwillige Bilder wie die einseitige Freundschaft mit einer Fliege, die kein Verständnis für ihren Mitgefangenen hat, und die Geschichte vom Hai, der eigentlich ein Mensch war. In seiner Anklage wird Awertschenko zum Moralisten, in der Form seiner Aussage zum Poeten.
goldmann verlag münchen 1961 made in germany umschlagentwurf von herbert lorenz. druck : presse-druck- und verlags-gmbh. augsburg.
ARK ADIJ AWERTSCHENKO
Der Truthahn mit Kastanien und andere Erzählungen Aus dem Russischen übertragen von august albert
münchen wilhelm goldmann verlag
Inhalt Kunst und Publikum 9 Dschiu-Dschitsu 15 Der Krieg 24 Die Regatta 31 Ein verhängnisvoller Gewinn 39 Der Goldfaden 52 So sind die Frauen 62 Das Ewig-Weibliche 71 Der Falter 80 Die Blinzler 90 Der Pechvogel 100 Der Truthahn mit Kastanien 107 Der Schatz 117
Neureiche 123 Die lieben Verwandten 131 Die Haie 140 Foxtrott 145 Die Fliege 150 Lehrreiche historische Erzählungen 156 Exekutor Buratschkow 168 Ein weißer Rabe 180 Die höhere Gerechtigkeit 189 Der Elefantenjäger 197 Anmerkungen 202
Kunst und Publikum An Stelle eines Vorwortes
I
hr – Schriftsteller, Schauspieler und Maler! Ihr alle (und auch ich) schreibt, spielt und malt für das vielköpfige, geheimnisvolle Ungeheuer, genannt »Publikum«. Was ist das für ein geheimnisvolles Ungeheuer? Ist es schon jemandem eingefallen, das mittlere kulturelle und ästhetische Niveau dieses »Ungeheuers« mathematisch genau zu errechnen? Seht, jene, die wir im Alltagsleben treffen, mit denen wir uns in Gesellschaft unterhalten, jene, die unsere Werke kennen und über sie sprechen: Alle diese Leute sind letzten Endes – nicht das Publikum. Sie sind, dank ihres nahen Verhältnisses zu uns, schon geprüft, schon ein wenig vergiftet durch das süße Verständnis für das feine Gift, genannt »Kunst«. Aber was ist mit den übrigen? Diese Marja Kondratewna, die Ihnen applaudiert, Schaljapin, jener Ignat Sacharitsch, der Ihre Heldengestalten in der Zeitschrift »Blauer Vogel« betrachtet, jener Semën Semënitsch, der meine Erzählungen liest … Geheimnisvolle nahe Unbekannte – wer seid ihr? Es ist noch nicht lange her, da saß ich in einem Symphoniekonzert und hörte hinter mir den Dialog zweier Stuhlnachbarn (der Dialog bestand aus elf Worten). »Sagen Sie, ist das Grieg?« 9
»Verzeihen Sie, ich bin hier fremd.« Dieses Zwiegespräch aus elf Worten brachte mir ein anderes in Erinnerung, das ich vor zwölf Jahren gehört hatte. Lüftet es nicht ein wenig den Schleier, hinter dem sich das geheimnisvolle »vielköpfige Ungeheuer« verbirgt? Vor zwölf Jahren saß ich im Saal des Adelsklubs auf einem roten Plüschdiwan und hörte das Konzert eines Symphonieorchesters, das der achtjährige Willy Ferrero ¹ dirigierte. Ich bin kein Stenograph, aber ich habe ein gutes Gedächtnis. Daher bemühe ich mich, mit stenographischer Genauigkeit das Gespräch wiederzugeben, das hinter mir von zwei Zuhörern geführt wurde, die ebenfalls auf roten Plüschsesseln saßen. »Hören Sie«, fragte ein Herr seinen Bekannten, der dem genialen Vortrag eines genialen Dirigenten von »Anitras Tanz« zuhörte. »Wie erklären Sie sich das?« »Was?« »Eben das, daß er so hervorragend dirigiert.« »Sehr einfach. Er ist ein Zwerg.« »Das heißt – was wollen Sie damit sagen?« »Ich sage – dieser Ferrero ist ein Zwerg. Er wird etwa vierzig Jahre alt sein. Dreißig Jahre lang hat man ihn ständig gedrillt, und jetzt eben – hat man ihn losgelassen.« »Das ist ja unmöglich! Was wollen Sie denn! Sehen Sie doch sein Gesicht an! Die Zwerge haben runzlige Gesichter mit altem Ausdruck, dieser Willy aber hat das typische Gesicht eines achtjährigen Lausbuben mit zartem Oval und runden Kinderlippen.« »Dann ist es Hypnose.« 10
»Wieso Hypnose?« »Wissen Sie, eine, die einschläfert. Sie haben den Knaben hypnotisiert und dann losgelassen. Schwinge, mein Junge, das Stöckchen.« »Aber erlauben Sie! Die ganze Wissenschaft lehrt, daß ein Mensch unter der Hypnose nur das macht, was er auch im normalen Leben tun kann. So kann man zum Beispiel unter der Hypnose ein Mädchen veranlassen, einen in der Nähe befindlichen Mann zu küssen, aber niemals englisch zu sprechen, wenn sie diese Sprache vorher nicht gekannt hat.« »Wirklich?« »Na, natürlich!« »Dann ist das alles sehr merkwürdig.« »Darum handelt es sich ja. Und deshalb frage ich auch: Wie erklären Sie das?« »Vielleicht hat man ihn gequält.« »Wie gequält?« »Ja, wissen Sie, wie die kleinen Akrobaten. Man sagt, daß man ihnen die Knochen bricht und sie sogar in Milch kocht, damit die Knochen weicher werden.« »Jetzt hören Sie aber auf! Wann hat man jemals gehört, daß ein Dirigent in Milch gekocht worden ist?« »Ich meine nicht im buchstäblichen Sinne in Milch. Vielleicht hat man ihn einfach gefoltert. Man packt ihn an den Haaren, zupft und brüllt: ›Dirigiere, du Grindiger! ‹ Der Knabe weint, aber er dirigiert. Manchmal verhungert auch einer.« 11
»Was soll das heißen? Was soll hier die Folter? Sehen Sie, sogar die Clowns, die dressierte Hähne und Ratten vorführen, erreichen das nur mit Zärtlichkeit.« »Gehen Sie mir doch mit der Zärtlichkeit! Wenn auch damit etwas erreicht wird, so sind es Kleinigkeiten – daß einmal ein Hahn an einer Schnur zieht und eine Pistole abschießt oder eine Ratte in der Uniform eines Bahnvorstandes daherkommt. Das ist Ihre ganze Zärtlichkeit! Aber hier! Ein kleiner Knabe dirigiert ein Symphonieorchester! Da ist mit Zärtlichkeit nichts zu erreichen.« »Das heißt also, daß ihn nach Ihrer Auffassung seine Eltern gequält haben. Eine merkwürdige Hypothese!« Er zuckte gekränkt mit den Schultern. »Nach Ihrer Meinung geht demnach die Sache so vor sich: Wir nehmen einen gewöhnlichen, gut aussehenden Knaben und fangen an, ihn zu quälen, prügeln ihn mit allem, was uns gerade in die Hände fällt, und über ein oder zwei Jahre dirigiert er ein Symphonieorchester so, daß alles in Entzücken gerät?! Sie sehen die Sache doch sehr einfach an.« »Entschuldigen Sie! Sie fragen mich die ganze Zeit: erkläre, ja erklären. Aber wie erklären Sie es selber?« »Was? Willy Ferrero?« »Ja.»Wenn es überhaupt eine Erklärung gibt, dann ist sie viel komplizierter. Die höchste Vollendung optischer Technik …« »Sic denken … mit Hilfe eines Spiegels?« »Wie meinen Sie?« 12
»Wissen Sie, in einer bestimmten Ecke ist ein Spiegel … Die Zauberkünstler erzielen damit, daß …« »Nein, das hat keinen Sinn. Ich habe im Sommer im »Aquarium ‹ einen mechanischen Zeichner gesehen. Einen kleinen Menschen, der eigenhändig Porträts aus dem Publikum zeichnete. Denken Sie sich, ich habe erfahren, wie das vor sich geht: Er ist an einer elektrischen Schnur mit einem wirklichen Maler verbunden, der hinter den Kulissen sitzt und auf ein anderes Papier zeichnet. Und was glauben Sie! Die Sache ist so gemacht, daß der kleine Zeichner genial genau alle seine Bewegungen wiederholt und sehr ähnlich zeichnet.« »Gestatten Sie! Einen mechanischen Menschen kann man mit Elektrizität bewegen – aber dieser Ferrero ist doch ein lebendiger Knabe! Ihn haben sogar Professoren untersucht!« »Hm! Vielleicht. Ja, wenn es sich so verhält – dann kann ich es nicht verstehen, wie sich das zusammenreimt!« Ich konnte diese Unterhaltung nicht mehr mitanhören. »Hören Sie, meine Herren. Alles, was Sie gesprochen haben, ist ja vielleicht sehr schön, aber warum soll ich Ihnen nicht etwas viel Einfacheres vorschlagen als eine elektrische Schnur oder das System des Spiegels …?« »Und das wäre?« »Das wäre, daß der Knabe einfach ein kleines Genie ist!« »Entschuldigen Sie schon«, sagte der alte Herr, der Erfinder der Quältheorie. »Diese Erklärung ist wirklich viel zu einfach!« 13
Bedenken Sie nur: Auf dem roten Diwan hinter mir saßen die Leute, für die wir Gedichte und Romane schreiben, für die wir Bilder malen, für die Schaljapin singt und die Pawlowa tanzt. Wäre es nicht für uns alle besser, für die Tänzerinnen, Sänger und Schriftsteller, mit Schaljapin und der Pawlowa an der Spitze, einen Großhandel mit Ochsenhäuten anzufangen? Ich kenne einige Buchhalter – bei ihnen werde ich Unterricht in der Buchführung nehmen. Und Willy Ferrero wird bei uns Laufbursche – er muß den Kunden die Rechnungen bringen … Wie?
14
Dschiu-Dschitsu
U
nser guter Freund und Kamerad, Sascha Kuwrikow, trat ins Zimmer, sah sich herablassend nach allen Seiten um und rief mit frischer Stimme: »He, ihr Regenwürmer! Was hockt ihr da herum, seid ihr Zöpfe geworden? Man muß frisch, fröhlich, frei sein! Sport treiben, heißt es!« Das war etwas Neues. Alle erhoben die Köpfe und schauten neugierig auf Sascha. »Seit wann bist du denn Sportsmann geworden?« erkundigte sich der lange Kunstmaler Batschkin. »Ich? Mich, ihr Brüder, hat es schon lange dahin gezogen. Was gibt es Besseres als einen harmonisch entwickelten Körper. Und jetzt … Wißt, mir ist es gerade, als ob ich zum zweiten Male auf Gottes Welt geboren wäre …« »Um Gottes willen! Noch einmal! Wir haben von dir schon mit dem ersten Mal genug.« Der Schauspieler Tscheljabinski zog sein glattrasiertes Gesicht in tausend Falten und bat: »Wenn du das dritte Mal geboren wirst, dann sag es uns vorher; darin gehen wir aus dem Zimmer.« »Ihr – Rösser! Versteht doch, daß ich, seitdem ich angefangen habe, Dschiu-Dschitsu zu lernen, auf eine neue Art gehe, atme und spreche.« »Waaas?« »Was – Was?« 15
»Wie hast du gesagt, was für ein Wort?« »Dschiu-Dschitsu, der japanische Kampf.« »Aha! Sehr angenehm! Nehmen Sie Platz!« »Ach ihr, mit euren Holzhirnen! Ihr könnt bloß immer spötteln und euch über alles lustig machen, dabei wißt ihr nicht, daß Dschiu-Dschitsu eine solche Kampfesart ist, daß ein kleiner gebrechlicher Mensch drei Klötze von Männern umschmeißen kann.« »Was sagst du, Sascha?« – »Wirklich, Sascha?« »Aber was rede ich euch lange vor! Ich führe euch einfach zu Gankok!« »Gut, daß es nicht weiter ist.« »Wer ist denn dieser wunderbare Gankok?« »Gankok? Das ist ein Mann, Brüder! Er hat das ganze große historische Material über Dschiu-Dschitsu geordnet und in ein System gebracht.« Da ertönten freudige Rufe: »Was für ein Held!« »So ist es auch.« »Ich werde unbedingt seinen Namen zur freundlichen Erinnerung aufschreiben.« »Ach Gott, was seid ihr abscheulich in eurem selbstsüchtigen Stumpfsinn! Ich erzähle euch etwas Ernstes, ich dekke vor euch einen der wertvollsten Schätze des japanischen Volkes auf, und ihr grunzt wie die melanesischen Wilden vor einem Grammophon!« »Gott sei Dank! Endlich ist Kuwrikow aus sich herausgegangen!« 16
»Es ist doch wahr! Vielleicht habe ich früher auch so gedacht wie ihr, aber seitdem ich Unterricht im DschiuDschitsu nehme, neige ich andächtig mein Haupt.« »Nun, red keinen Unsinn, sonderbarer Kerl! Erzähl uns lieber, um was es sich hier handelt.« »Ihr müßt verstehen, daß dabei alles auf dem Studium der Muskeln und Nervenzentren des menschlichen Körpers aufgebaut ist. Mit einem Druck auf eine bestimmte Stelle des Handrückens kann man zum Beispiel den ganzen Arm lähmen und einen Menschen vollkommen wehrlos machen.« »Ah! Das mußt du uns zeigen!« »Gut. Wolodja, gib deine Hand her. Nu, hab keine Angst, Tropf! Dschiu-Dschitsu ist auch deshalb so gut, weil es ohne bösen Willen gar keine Körperverletzung geben kann. Gib deine Hand her, Wolodja, du brauchst keine Angst zu haben.« »Ich fürchte mich nicht«, sagte Wolodja gutmütig und streckte die Hand aus. »Nun, also … Seht ihr diese Stelle? Hier, zwischen den beiden Gelenken. Jetzt, also – ich drücke auf diese Stelle … Tut’s weh?« »Nein, gar nicht. Du darfst nur nicht mit dem Nagel drücken.« »Tue ich auch nicht, Gott bewahre mich davor. Tut’s weh? Merkst du, wie der Arm immer stumpfer wird?« »Nein, ich merke gar nichts.« »Warte … ach so. Ich habe nicht die richtige Hand genommen. Gib die andere her.« 17
»Hier.« »Nun, jetzt, tut’s weh?« »Ja, eher schon ein bißchen«, sagte der gute Kerl Wolodja aus Mitleid mit dem schnaufenden und sich abmühenden Kuwrikow. »Das ist Nummer eins. Aber das ist noch gar nichts. Es gibt noch ein viel stärkeres Stück: Wenn man mit der Kante der Hand schräg zuschlägt, kann man den Arm abschlagen.« »Wem?« fragte einer schüchtern. »Selbstverständlich einem Fremden. Was ist das für eine blöde Frage. Aber kennt ihr zum Beispiel die beste Art, einen Gegner unschädlich zu machen, ohne ihn mit einem Finger zu berühren?« »Nein, nein, Sascha! Zeig!« »Also gut, sagen wir, nehmen wir Batschkin. Da geh her, Batschkin. Also, sagen wir, Batschkin geht auf mich los und will mich überfallen. Geh her, Batschkin, in der Absicht, mich zu überfallen.« »Nun, so geh doch, Batschkin«, rief aufmunternd die ganze interessierte Gesellschaft. »Geh, hab keine Angst.« »Hingehen soll ich mit der Absicht, ihn zu überfallen?« fragte der gewissenhafte Batschkin zurück. »Ja doch!« Batschkin riß die Augen auf wie ein Verbrecher, breitete die Arme aus und ging brüllend auf Kuwrikow los, der ihn männlich erwartete. »Also, jetzt schaut, meine Herrschaften! Er kommt heran, ich fasse ihn an den Lätzen seines Kittels, ziehe sie nach 18
unten und … Wart, zum Teufel! Was steigst du denn? Wo sind denn bei dir die Lätze? Wo ist der Kittel …?« »Ja, braucht man dazu einen Kittel?« fragte Batschkin bestürzt. »Entschuldige bitte, ich habe meine Arbeitsbluse an.« »So geht’s nicht, meine Herren. Hat der Mensch eine Bluse an und kommt zum Dschiu-Dschitsu hierher! Gib ihm einer einen Kittel über die Bluse. So! Zieh ihn an, Batschkin. Schleich dich jetzt heran mit der Absicht, mich zu überfallen.« »So, jetzt schaut. Wart … die Arme darfst du aber nicht aufheben, halte sie so, herunterhängend. Jetzt schaut: Eins! Zwei! Drei!« Kuwrikow packte Batschkin an den Lätzen des Kittels und zog sie abwärts. Der Kittel rutschte von den Schultern bis zur Mitte herunter. Tatsächlich schien es, als ob die Arme durch den herabgerutschten Kittel eingeklammert wären, was alle in Freude versetzte. Man klatschte Beifall. Kuwrikow hielt Batschkin krampfhaft an den Lätzen fest. »Und was weiter?« fragte Batschkin kurz. »Weiter nichts. Ich habe dich unschädlich gemacht.« »Aber schau, du mußt mich ja die ganze Zeit so halten.« »Warum?!« »Sobald du meinen Kragen ausläßt, falle ich über dich her.« »Tu es nicht«, sagte jemand einsichtsvoll. 19
»Paßt auf«, sagte Kuwrikow. »Wenn er mich angreift, habe ich ein anderes Mittel. Jetzt also, ich laß dich los, pack an.« Batschkin erhob die Arme und packte Kuwrikow unentschlossen bei der Gurgel. »Wart, wart … So geht’s nicht. Laß los! Schau her, du mußt beide Arme hochnehmen und auf mich losgehen. Nun geh los! Ich aber gehe in die Hocke, tauche unter deine ausgestreckten Arme, packe mit einer Hand das nächste Knie und … das Weitere habe ich, scheint mir, vergessen … Laß los … Warte! Ich will nachsehen, was zu tun ist.« Kuwrikow kroch unter dem langen Batschkin hervor, holte ein Büchlein mit ziegelrotem Einband aus der Tasche und begann eifrig zu blättern. »Da, hier: › Der Angreifer wird oft auf folgende Weise erledigt: Man springt aufgerichtet nach vorwärts, geht sofort unter den ausgestreckten Armen des Gegners in die Hocke, packt mit einer Hand das zunächstliegende Knie und versetzt ihm mit der anderen möglichst hoch einen Schlag. Während des Zuschlagens muß man das gepackte Knie nach vorn oder zur Seite ziehen, und dem Gegner, der bereit war, seinen Angriff von oben her durchzuführen, bleibt nur die Wahl, entweder auf den Rücken oder auf die Seite zu fallen. ‹ Also, fangen wir an! Greif an! Hände hoch! Möglichst hoch, um Gottes willen! Hopp! Hopp! Warum fällst du nicht?« »Ja, muß ich denn umfallen?« fragte Batschkin verwundert. »Natürlich! Ist das ein Idiot! Ich zerre an seinem Knie 20
und schlage ihn auf den Bauch, und er bleibt stehen wie der Glockenturm vom Iwan WeÜki!“ „So heißt es doch in dem Büchlein?“ „Es heißt einfach: ,Dem Gegner bleibt nur die Wahl, entweder auf den Rücken oder auf die Seite zu fallen.‘ Aber du fällst ja nicht!“ „Batschkin ist eben ein talentloser Dummkopf“, sagte Wo-lodja. „Wenn er Dschiu-Dschitsu gelernt hätte, wüßte er, wann man umfallen muß. Mit solchen Leuten kämpfst du gern, Kuwrikow.“ „Du lachst da, Wolodja, aber bei Gott, letzten Endes ist Dschiu-Dschitsu doch etwas ganz Hervorragendes. Kennt ihr, meine Herren, den berühmten Handgriff mit dem Druck auf das Hauptgelenk des Daumens?“ „Nein .. . Woher sollen wir das wissen?“ „Wir sind unwissende Leute.“ „Er ist wunderbar, dieser sogenannte ,Gentleman-Handgriff‘. Ihr braucht bloß den Gegner mit einer halben Drehung gegen euch niederzuwerfen, seine Hand zu packen und ihn mit dem Druck eurer zwei Finger auf das obere Daumengelenk vollständig unschädlich zu machen. Wolodja, gib die Hand her.“ „Hier! Guten Tag, wie geht es dir?“ „Scherze nicht. Es wird dir gleich nicht mehr zum Scherzen sein. Also jetzt. Seht ihr?.Ich drücke auf dein Gelenk. Jetzt!“ schrie Kuwrikow triumphierend. „Schlag mich, wohin du willst: auf den Kopf, in den Nacken, auf die Brust - du wirst sehen, wie dir das bekommt!“ 21
„Erlaube“, sagte Wolodja und versetzte Kuwrikow einen kräftigen Hieb in den Nacken. „Warte, ich habe, scheint mir, nicht das richtige Gelenk erwischt. Aha, gib dieses her! Nun? Jetzt versuch es! Au! Das ist ja eine Schweinerei! Ich führe es dir doch nur vor, und du machst ernst! Der Kerl schlägt aus Leibeskräften zu!“ „Ja, du‘hast doch gesagt, daß man nicht mehr zuschlagen kann?“ „Natürlich nicht. Da, hier in meinem Buch heißt es: ,In dieser Lage kann der Gegner auf keinen Fall irgendeinen Körperteil des Angreifers berühren/ Verstanden! Auf keinen Fall.“ „Gut, entschuldige. Gibt es da noch andere Methoden?“ „Ja, natürlich gibt es noch andere Handgriffe. Das ist doch ein ausgezeichneter Kampf. Schon die alten Samurais kämpften so.“ „Möge ihnen die Erde leicht sein“, sagte andächtig der Maler Batschkin. Da sprang der Schauspieler Tscheljabinskij voll Elastizität auf den Tisch und sagte mit der Miene und dem Tonfall eines vorlesenden Professors: „Meine sehr verehrten Damen und meine sehr verehrten Herren! Die Kunst des japanischen Kampfes Dschiu-Dschitsu ist eine sehr komplizierte und schwere Kunst. Nur ein ganz klein wenig hat uns unser berühmter junger Champion Kuwrikow mit diesem Kampf bekannt gemacht. Dschiu-Dschitsu verlangt viel. Erstens muß der Feind beim Angriff einen Kittel 22
anhaben; wenn er keinen anhat, muß er nach Hause gehen oder zu einem Freund oder in einen Kleiderladen und sich dort einen solchen anschaffen. Zweitens muß der Gegner höflich sein, und wenn ihr behauptet, daß sein Arm durch euren Handgriff gelähmt ist, muß er das unbedingt zugeben, sonst ist er ein Knecht und Zöllner. Drittens, wenn nach einem eurer Handgriffe der Gegner auf dem Boden liegen muß, so muß er sich auch hinlegen und darf nicht wie ein Glockenturm stehenbleiben. Und endlich, viertens, wenn dich jemand auf das Gelenk drückt, so erlaube dir nicht zuzuschlagen, nachdem man dir versichert hat, daß du auf keinen Fall den Körper des Gegners berühren kannst! Wenn ich alles oben Gesagte zusammenfasse und sozusagen die Summe daraus ziehe, so muß ich sagen, daß der japanische Kampf Dschiu-Dschitsu ein ausgezeichneter Kampf ist, der uns unschätzbare Vorteile bietet, aber nur, wenn nicht wir ihn gelernt haben, sondern unser Gegner … Auf das Wohl des Samurai Kuwrikow! Hurra!« Alle nahmen eine gerührte Miene an und wischten sich mit den Taschentüchern die trockenen Augen. »Botokuden vor Raffael«, brummte Kuwrikow, steckte das Büchlein mit dem ziegelroten Einband sorgfältig in die Tasche und schickte sich an, fortzugehen.
23
Der Krieg
E
s vergehen noch zwanzig Jahre. Wir alle, die wir jetzt leben, werden alt … Der Weltkrieg geht in die Blätter der Geschichte ein. Man wird von ihm als von etwas längst Vergangenem sprechen, wie von etwas Legendärem. Wenn dann unsere Enkel am warmen Kamin um uns herumstehen und mit ihren Fragen über unsere Teilnahme am Weltkrieg kommen – so stelle ich mir vor, wie dann wir, die Alten, zu lügen anfangen! … Das heißt, lügen werden die anderen Alten, aber ich nicht. Ich bin kein solcher. Was soll ich den Enkeln erzählen? Womit ihre ungeheure Neugier sättigen? War ich im Krieg? Ja! Als was? Als Soldat, Offizier oder General? Als nichts! Der Teufel hat mich in den Krieg getrieben, obwohl mich niemand dazu eingeladen hat. Als ich während der Aushebung zur Musterung kam, untersuchte man mich und sagte: »Untauglich!« Ich war beleidigt. »Warum das, sagen Sie, um Gottes willen?!« »Sie haben schlechte Augen.« »Erlauben Sie, was wird von Ihnen im Krieg verlangt? Feinde töten? Nun, das ist kein Kunststück. Führen Sie mir einen Feind so nahe heran, daß ich ihn sehe, und er kommt von mir nicht mehr weg!« 24
»Sie werden eher ein Dutzend eigener Leute erschießen, ehe Sie einen Fremden treffen …« Beleidigt verließ ich diese bürokratische Einrichtung und schlug die Tür zu. Ich beschloß, als Kriegsberichter in den Krieg zu ziehen. Ein bekannter Jude redete mir lange zu, ich sollte nicht gehen. »Wozu wollen Sie gehen?! Ich verstehe Sie nicht. Was ist das für eine Art? Wo zwei Mächte kämpfen – können Sie gerade in die Mitte kommen!« Ich ging aber doch und kam natürlich, wie dieser weise Jude prophezeit hatte, genau in die Mitte … In den Stellungen, bei Dwinsk, hatte man sich an mich gewöhnt wie an ein unvermeidliches Übel. Einige hatten mich wegen meiner Sanftmut und wegen meines Humors sogar gern. Eines Tages setzte ich mich zu den Soldaten in den Graben. Wir unterhielten uns friedlich, und ich bewirtete sie mit Zigaretten. Auf einmal verstärkte sich das Feuer, man hörte Schreie, Kommandos – ich hatte vor lauter Unterhaltung gerade nicht verstanden, was kommandiert worden war. Alle schrien »Hurra!« sprangen aus dem Graben und rannten vorwärts. Der Gesellschaft halber rief auch ich »Hurra!« sprang ebenfalls aus dem Graben und fing auch an zu rennen. Irgendwer schlug, prügelte sich irgendwo. 25
Ich aber drehte mich nach allen Seiten, denn ich verstand trotz meiner Einfalt, daß ich die anderen nur stören würde. Die Leute taten hier etwas Ernstes, und ich kroch zwischen ihren Beinen herum. Dann rannte jemand von jemandem weg. Ob wir vor den Deutschen oder die Deutschen vor uns – ich weiß es nicht. Ich bin überhaupt der Meinung, daß man bei einem gewöhnlichen Handgemenge nicht feststellen kann, wer wen verprügelt hat, und wer vor wem weggelaufen ist. Das stellen dann schon die kundigen Leute vom Generalstab fest. Ich lief lange – ob vom Feinde weg oder hinter ihm her, das weiß ich bis heute nicht. Vielleicht hätte man mir als einem unerschrockenen Helden einen Orden verliehen, vielleicht mich als einen Feigling erschießen müssen. Ich lief lange – so lange, daß, als ich mich umsah, kein Mensch mehr in meiner Nähe war. Nur ein Deutscher – offenbar einer von ebenso unbestimmtem Charakter wie ich – trippelte fast unmittelbar neben mir her. »Gefangen!« schrie ich triumphierend. Statt einer Antwort ging er mit dem Bajonett auf mich los. Ich schlug die Hände zusammen und schrie voll Zorn: »Bist du verrückt?! So kannst du mich ja umbringen!« Er war durch mein Gebrüll so überrascht, daß er das Bajonett sinken ließ. »Ich will dich aber umbringen!« »Warum? Habe ich dir vielleicht deine geliebte Frau entführt oder dir Geld gestohlen?! Idiot, du!« 26
Ein entschlossener Ton wirkt auf die größten Dickköpfe erfrischend. »Ja«, sagte er verwirrt und stocherte mit dem Bajonett im Boden herum. »Aber schau, wir haben doch jetzt Krieg!« »Ich verstehe schon, daß Krieg ist, aber deshalb darf man doch nicht einem unbekannten Menschen mir nichts, dir nidits das Bajonett in den Bauch rennen!« Wir schwiegen. Auf jeden Fall, dachte ich, ist er mein Gefangener, und ich werde ihn lebend in unser Lager bringen. – Ich stellte mir vor, wie alle staunen würden. – Da habt ihr eure »schlechten Augen«! Vielleicht gibt man mir gar noch einen Orden … »Auf jeden Fall«, sagte der Deutsche, »bist du mein Gefangener, und ich …« Das war doch die höchste Frechheit! »Was?! Ich dein Gefangener? Nein, Bruder, ich habe dich gefangengenommen, und jetzt kommst du mir nicht mehr aus!« »Waaas? Ich bin hinter dir hergejagt, und da soll ich dein Gefangener sein?« »Ich bin mit Absicht vor dir hergelaufen, um dich fortzulocken und dann zu packen – ich habe eine sogenannte Kriegslist angewandt.« »Ja, du hast mich ja gar nicht gefaßt!« »Das ist Nebensache. Gehen wir.« »Gehen wir«, sagte nachdenklich mein damit einverstandener Feind. – »Aber drehe dich nur nicht um! Ich führe dich wie einen Gefangenen.* 27
»Das wäre etwas Neues! Das gefällt mir! Du mich führen! Ich führe dich, aber nicht du mich!« Wir packten einer den anderen am Arm und zogen uns, hin und her schimpfend, vorwärts. Nach einer Stunde planlosen Umherwanderns auf dem nackten Feld kamen wir beide zu dem traurigen Schluß, daß wir uns verirrt hatten. Der Hunger machte sich bemerkbar, und ich war sehr erfreut, als aus dem Tornister des Deutschen Brot und eine Büchse Fleischkonserven zum Vorschein kamen. »Da«, sagte der Feind und gab mir die Hälfte davon. »Da du mein Gefangener bist, habe ich die Pflicht, dich zu füttern.« »Nein«, entgegnete ich. »Da du mein Gefangener bist, so gehört alles, was du hast, mir! Ich habe sozusagen deinen ganzen Troß gefaßt.« Wir aßen, unter einem Baum sitzend, und tranken dann Kognak aus meiner Flasche. »Ich möchte schlafen«, sagte ich gähnend. »Man wird müde bei diesem Kämpfen und Gefangennehmen.« »Schlaf du nur, aber ich darf nicht«, seufzte der Deutsche. »Warum?« »Ich muß dich bewachen, damit du nicht davonläufst.« Daraufhin konnte ich mich auch nicht zum Einschlafen entschließen, denn ich fürchtete, daß der Deutsche meinen Schlaf benutzen könnte, um auszureißen, aber der Deutsche war störrisch wie ein Esel. … Ich streckte mich unter dem Baum aus. Gegen Abend erwachte ich. 28
»Bist du noch da?« fragte ich. »Ja«, antwortete er schläfrig. »Jetzt kannst du einschlafen, wenn du willst; ich werde dich bewachen.« »Ja, und auf einmal läufst du mir davon?« »Na, was denn? Wer läuft denn vor einem Gefangenen weg?« Der Deutsche zuckte mit den Achseln und schlief ein. Am fernen wolkenlosen Horizont ging die Sonne unter, und ihre letzten Strahlen beleuchteten das Gesicht meines Feindes mit zartem rotem Licht … Was ist dabei, wenn ich fortgehe, dachte ich. Ich habe es satt, mich mit ihm herumzuschlagen. Außerdem hat sich eine ganz unerträgliche Lage ergeben: Ich betrachte ihn als meinen Gefangenen und er mich als den seinigen. Wenn wir uns also voneinander frei machen, so ist das nichts anderes als ein Gefangenenaustausch! Ich stand auf, bemühte mich, kein Geräusch zu machen, und ging nach rückwärts. Aber ehe ich mich entfernte, legte ich, um meinen Feind für den Verlust des Gefangenen zu entschädigen, meine Flasche Kognak in seine ausgestreckte Hand. Er schlief wie ein großer Junge, dem man einen Schnuller in die Hand gelegt hatte und der beim Aufwachen weinen wird, wenn er sieht, daß die Amme weggegangen ist. Das war mein Erlebnis auf dem Kriegstheater. Wie soll ich aber das meinen Enkeln erzählen, wenn nicht geklärt werden kann: ob wir gesiegt haben oder der Feind, ob wir vom Feind weggerannt sind oder er von uns, 29
ob ich den Deutschen gefangengenommen habe oder er mich? Jetzt, da ich noch jung bin, habe ich alles wahrheitsgemäß erzählt. Wenn ich alt bin – werde ich den Enkeln etwas vorlügen müssen.
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Die Regatta
W
enn irgend jemand von euch zufällig an das finnische Gestade des Baltischen Meeres kommt und dort in das Dörfchen Merrikarw hineinschlendert – die Finnen meinen, es sei eine Stadt –, so erinnert niemals an meinen Namen … Dem Namen Arkadij Awertschenko bringen die Einwohner dieses Dörfchens (Stadt?) nicht die schuldige Hochachtung entgegen, sondern sie schimpfen wahrscheinlich darüber. Die Streitfrage, ist Merrikarw ein Dörfchen oder eine Stadt, wird nach meiner Überzeugung immer zu meinen Gunsten entschieden werden. Die Finnen haben den Größenwahn. Es macht ihnen gar nichts aus, aus einem Dörfchen eine Stadt zu machen. Diese Umwandlung geht ganz einfach vor sich: Sie ziehen zwischen den Häusern des Lehnsmannes und des Pastors eine Telefonleitung, und dann heißt der ganze Platz Stadt und die Leitung selber – Telefonnetz. Auf diese einfache, einem Russen völlig unverständliche Art, erfolgt auch die Gründung von Bibliotheken. Da liest ein Sommerfrischler beim Spaziergang durch die Felder ein Buch und ein paar Zeitungen, die er in der Tasche hatte. Aus Gewohnheit und Faulheit und um sich nicht mit einer doppelten Last abzuschleppen – das Buch in der Hand und das Buch im Kopf –, wirft er das ausgelesene Buch und die Zeitungen auf die Erde und geht heim. 31
Auf die von dem Sommerfrischler weggeworfenen Kostbarkeiten stürzen sich die Finnen. Sofort beginnt die Arbeit: Um die Bücher und Zeitungen entstehen Wände, darüber schließt sich ein Dach und über der Tür steht geschrieben: öffentliche Bibliothek der Stadt (des Dörfchens?!) Merrikarw. Am nächsten Sonntag raucht schon die ganze Bevölkerung in dieser seltsamen Gründung ihre Pfeifen. Zunächst hatte ich überhaupt keine Ahnung von der Existenz Merrikarws, denn ich wohnte dreißig Werst davon entfernt in dem Dörfchen Kuomiaki. Wir waren zu zweit: ich und eine kleine Jacht, auf der ich hin und wieder kurze Spazierfahrten machte. Drei Tage nach meiner Ankunft in Kuomiaki erfuhr ich, daß die unverbesserlichen Finnen die Stufen, neben denen meine Jacht lag, »Jachtklub« und mich den Präsidenten des Klubs nannten. Ich wollte diesen Ehrentitel zuerst ablehnen, da ich ihn ja gar nicht verdient hatte, aber dann nahm ich ihn doch an; denn wenn ein Telefondraht bei ihnen Netz heißt, warum sollte dann ich, ein bescheidener Schriftsteller, nicht Präsident sein können? Wie dem auch sein mochte, der Ruhm des Jachtklubs von Kuomiaki und von mir als seinem Präsidenten verbreitete sich weit in der Umgebung und erreichte auch das unglückliche Merrikarw. Ich fühlte mich in keiner Weise schuldig – angefangen haben nämlich zuerst sie … * 32
Eines Tages erhielt ich folgendes Schreiben auf einem vorgedruckten Formular: Merrikarwische Gesellschaft zur Förderung des Sports und der physischen Gesundheit . An den Herrn Präsidenten des Kuomiakischen Jachtklubs Arkadij Awertschenko. Sehr geehrter Herr! Zum Ansporn und zur Förderung des Wassersports schlägt die Gesellschaft von Merrikarw Ihrem Jachtklub vor, eine Regatta zu veranstalten. Als Ziel des Rennens wurde unsere Stadt Merrikarw gewählt. Zur Hebung des Wetteifers der H. H. Teilnehmer schlägt die genannte Merrikarwische Gesellschaft ihrerseits folgende Preise vor: Dem, der als Erster unseren Hafen erreicht, einen Ehrenbecher und eine goldene Medaille; dem Zweiten und Dritten Ehrendiplome. Die Regatta soll am kommenden Sonntag um 2 Uhr mittags vom Start aus beginnen. Von Ihrem Einverständnis wollen Sie uns gefälligst benachrichtigen. Mit Hochachtung, der Vorsitzende Mutonen. Ich setzte mich sofort hin und schrieb folgende Antwort: 33
Jachtklub Kuomiaki. An den Herrn Präsidenten der Merrikarwischen Gesellschaft zur Förderung des Sports und der physischen Gesundheit – Mutonen. Sehr geehrter Herr! Der Jachtklub von Kuomiaki hat in einer außerordentlichen Sitzung Ihre Einladung geprüft, dankt Ihnen für dieselbe und nimmt sie einstimmig an. Indem ich in gleicher Weise den Dank für die von Ihnen ausgesetzten Aneiferungspreise zum Ausdruck bringe, habe ich die Ehre mitzuteilen, daß die Regatta vom Start aus am kommenden Sonntag um 2 Uhr mittags beginnen wird. Mit Hochachtung, der 1. Präsident Arkardij Awertschenko Der »nächste Sonntag« war herangekommen. Ich frühstückte in aller Ruhe, zog mich gegen zwei Uhr an, begab mich zu meiner Jacht, setzte Segel und bewegte mich ohne Eile in der Richtung auf die rätselhafte, mir unbekannte Stadt Merrikarw zu. Es war eine sehr liebliche, stille Fahrt. Da ich es in keiner Weise eilig hatte, pfiff ich lustig, rauchte eine Zigarre und sann über die Größe des Schöpfers und die weise Einrichtung alles Bestehenden nach. 34
Als ich einen Fischerkahn traf, rief ich hinüber und fragte die Fischer, ob es noch weit zur Stadt Merrikarw sei. »Ahe«, antworteten mir die guten Leute. »Wei oder rei Werst.« Die Finnen sind ein merkwürdiges Volk: In ihrem gewöhnlichen Leben sind sie sehr ehrlich und benehmen sich einem Fremden gegenüber mit hervorragender Höflichkeit. Sobald aber ein Finne in die Lage kommt, russisch zu sprechen, so zieht er unbedingt von jedem Wort einen Buchstaben ab. Fragen Sie ihn – warum muß er das tun? Indem ich den drei Worten die ihnen weggenommenen Buchstaben wieder hinzusetzte, brachte ich leicht heraus, daß es nach Merrikarw ›zwei oder drei Werst‹ seien. In der Tat, nach zehn Minuten zeichnete sich am Strand ein riesiger Granitfelsen ab, hinter ihm ein langer sandiger Strand und noch weiter eine Gruppe von Häuschen und ein kleiner Hafen, der voller Leute und mit einem Triumphbogen aus Grün verziert war. Ich warf mich auf die Segel, steuerte die Jacht gerade auf den Hafen zu, hielt an der Seite an und – Dutzende von Armen warfen mich in die Luft … Die Damen überschütteten mich mit Blumen. An und für sich sind die Finnen sehr phlegmatisch und nachdenklich, aber es befanden sich unter ihnen einige skrofulöse Petersburger Sommerfrischler, die durch ihr lautes Wesen Verwirrung anstifteten und dadurch die ruhigen Bürger von Merrikarw aufpeitschten. »Hurra!« brüllten Dutzende von Stimmen! 35
»Gruß Awertschenko, dem ersten Jachtmann und Sieger! Hurra!« Mein Herz hüpfte vor Stolz und Freude. Ich fühlte mich als Held, und unwillkürlich erhob sich mein Haupt, meine Augen glänzten. Oh, mein armes, weit entferntes Mütterchen! Warum bist du nicht hier? Warum kannst du dich nicht am Triumph des geliebten Sohnes ergötzen, den endlich die kalte, gleichgültige Masse schätzen gelernt hat? »Aber die anderen … Sind sie noch weit weg?« fragte mich ein Sommerfrischler, nachdem sich die Freude ein wenig gelegt hatte. »Ich weiß es wirklich nicht«, sagte ich aufrichtig. »Ich habe niemanden gesehen.« »Hurra!« schrien Stimmen aus verdoppelter Freude. Ein Mädchen überreichte mir ein Bukett Rosen und fragte schüchtern: »Sie sind wahrscheinlich wie ein Pfeil dahingeflogen?« – »O nein, meine Dame … Ich bin langsam gefahren, habe mich nicht beeilt.« Kein Mensch wollte das glauben. »Geben wir ihm gleich den Preis!« schlug ein ekstatischer Sommerfrischler vor. »Wozu auf die anderen warten? Wer weiß, wann die kommen.« Ich versuchte, sanft zu protestieren, und wies darauf hin, daß eine solche Voreiligkeit gegen die sportlichen Gesetze sei, die begeisterte Menge wollte mich nicht hören. »Gebt ihm sofort die Medaille und den Becher!« brüllte irgendeine laute Stimme. »Gebt sie ihm! Kommt, wir wollen ihn schaukeln!« 36
Gleichzeitig schauten alle auf das Meer, und da sie am Horizont keine Spur von anderen Jachten sahen, stieg ihre Begeisterung immer höher. Bei mir stellte sich aber im Gegenteil eine leichte Unruhe ein, ich trippelte auf der Stelle herum und winkte den Vorsitzenden Mutonen herbei. »Hören Sie«, flüsterte ich schüchtern. »Ich muß – hm, heimfahren. Ich habe allerhand zu tun, der Haushalt, wissen Sie … Hm.« »Nein!« schrie der Vorstand und umarmte mich – alle schrien »Hurra!« – »So lassen wir Sie nicht fort. Ob es nun gegen die Sportsregel ist oder nicht, vor der Abfahrt bekommen Sie das, was Sie verdient haben.« Er nahm den in ein grünes Tuch eingewickelten Ehrenbecher und die Medaille vom Tisch und überreichte sie mir mit folgender Ansprache: »Lieber Präsident und Sieger! In einem gesunden Leib ist eine gesunde Seele … Wir sehen an Ihnen das eine und das andere. Sie sind stark, männlich und bescheiden. Ihr heutiger Sieg wird in unseren Herzen fortleben wie nur irgendein starker Schritt zur Eroberung der stürmischen Elemente des Meeres. – Sie – der Erste! Empfangen Sie nun die bescheidenen Zeichen, die auch für alle Zukunft in Ihnen den Geist edlen Wetteifers erhalten sollen … Hurra!« Ich nahm die Preise, versenkte sie in meine Tasche und dachte mir dabei: So oder so – aber bin ich denn nicht der Erste gewesen?! Nachdem ich einmal der Erste war, wäre es doch sonderbar gewesen, wenn ich die Gutherzigkeit und Liebenswürdigkeit der Sportsleute von Merrikarw zu37
rückgewiesen hätte. Von Rechts wegen hätte ich ja auch den zweiten Preis bekommen müssen, da ich mich auch als den Zweiten bezeichnen konnte, aber jetzt sei schon Gott mit ihnen. Unter Abschiedsrufen, Küssen und Ovationen kam ich zu meiner Jacht, ließ die Segel fallen und fuhr heimwärts. Die Sportsleute und Bürger von Merrikarw aber setzten sich auf die Bänke, ließen sich auf den Stufen des Hafens nieder, baumelten mit den Beinen im Wasser und begannen geduldig meine Konkurrenten zu erwarten, gespannt auf das weite, leere Meer hinausblickend. Wenn einer von den Lesern zufällig einmal an das Ufer des Baltischen Meeres kommt und auf einen Haufen Häuschen mit dem Namen Merrikarw zuschlendert und dort die Mitglieder des »Merrikarwischen Vereins zur Förderung des Sports und der physischen Gesundheit« in erwartungsvoller Stellung am Hafen sitzen sieht, so soll er ihnen sagen, daß sie umsonst warten. Sie sollen lieber nach Hause gehen und sich ihren Geschäften zuwenden. Wozu so dasitzen …
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Ein verhängnisvoller Gewinn
A
m meisten ärgert es mich, wenn irgendein bärbeißiger Leser, der die folgende Erzählung liest, eine ablehnende Grimasse zieht und in einem keinen Einspruch duldenden Ton sagt: »Ein solcher Vorfall kann im Leben nicht möglich sein!« Und ich sage Ihnen, daß ein solcher Vorfall im Leben möglich sein kann! Der befähigte Leser fragt natürlich: »Wie wollen Sie das beweisen?« Wie ich das beweisen werde? Wie ich beweisen werde, daß ein solcher Vorfall möglich ist? Oh, du mein Gott! Furchtbar einfach: Ein solcher Vorfall ist deshalb möglich, weil er tatsächlich vorgekommen ist. Ich hoffe, daß kein anderer Beweis verlangt wird? Ich schaue gerade und ehrlich in die Augen des Lesers und erkläre kategorisch: Ein solcher Vorfall hat sich in Wirklichkeit im Monat August in einem kleinen Städtchen des Südens ereignet! Nun? Ja, und was ist hier so Ungewöhnliches? Werden auf den öffentlichen Rummelplätzen und in den Stadtgärten Lotterien veranstaltet? Ja. Wird bei diesen Lotterien als Hauptgewinn eine lebendige Kuh ausgelost? Ja. Kann irgendein beliebiger Mensch, der um fünfundzwanzig Kopeken ein Los kauft, diese Kuh gewinnen? Er kann! Das ist alles. Die Kuh ist der Schlüssel zu dem Musikstück. Selbstverständlich, daß sich nach diesem Schlüssel 39
auch das ganze Stück abspielt – oder weder ich noch der Leser verstehen etwas von Musik. In einem Stadtgarten, der sich an einem breiten Fluß hinstreckte, veranstaltete man aus Anlaß der Kirchweih ein »großes Volksfest mit zwei Musikkapellen und einem Geschicklichkeitswettbewerb (Sacklaufen, Eierlaufen und so weiter). Ebenso wird die Aufmerksamkeit des anwesenden Publikums auf eine Lotterie-Allegri gelenkt, mit der Möglichkeit grandioser Preise: darunter eine lebendige Kuh und ein Samowar aus Neusilber«. Das Volksfest hatte einen rauschenden Erfolg, und der Glückshafen bot alles, was das Herz begehrte. Der Schreiber vom Kontor der Stärkefabrik, Enja Plintusow, und die Genossin seines hungerleiderischen, elenden Lebens, Nastja Semerich, kamen in den Garten, als es dort gerade am lustigsten zuging. Schon zogen an ihnen einige Narren aus der Stadt vorüber, mit den Beinen in Mehlsäcke verwickelt, die man ihnen über der Hüfte zusammengebunden hatte, was allgemein – aus Eifer für den Zweig des edlen Sportes – als Sacklaufen bezeichnet werden mußte. Schon kam auch eine andere Gruppe von Narren aus der Stadt an ihnen vorbei, die mit verbundenen Augen einen Löffel in der Hand trugen, auf dem ein rohes Ei lag (ein anderer Sportzweig: Eierlaufen), schon wurde ein prächtiges Feuerwerk abgebrannt, und schon war die Hälfte der Lotterielose verkauft …, Auf einmal stieß Nastja mit ihrem Ellenbogen an den ihres Begleiters und sagte: »Was, Enja, ob wir nicht unser 40
Glück bei der Lotterie versuchen? Vielleicht gewinnen wir etwas!« Der Ritter Enja sagte nicht nein. »Nastja«, antwortete er, »Ihr Wunsch ist mir förmlich Gesetz!« Und sie stürmten zum Glücksrad. Mit der Miene eines Rothschild warf er einen halben Rubel hin, drehte und zog zwei in Röhrchen eingehüllte Lose heraus. Er reichte sie ihr und sagte: »Wählen Sie. Eines ist für Sie, das andere für mich.« Nach langem Besinnen wählte Nastja eines, drehte es auf und murmelte enttäuscht: »Leer!« Dann warf sie es auf den Boden. Enja Plintusow dagegen tat einen freudigen Schrei: »Ich habe gewonnen!« Sofort flüsterte er, Nastja mit verliebten Augen ansehend »Wenn es ein Spiegel oder Parfüm ist, schenke ich es Ihnen!« Dann wandte er sich zu dem Kiosk und fragte: »Fräulein, Nummer vierzehn – was ist das?« »Vierzehn? Gestatten Sie … Das ist die Kuh! Sie haben di< Kuh gewonnen.« Alles gratulierte dem glücklichen Enja, der jetzt fühlte, daß es wirklich im menschlichen Leben Momente gibt, die unvergeßlich sind und die noch lange nachher wie ein heller, schöner Leuchtturm den finsteren, traurigen Lebensweg des Menscher verschönern. Ein starkes Empfinden von Reichtum und Glück durchströmte ihn. Sogar Nastja wurde in seinen Augen ganz ver dunkelt, und es kam ihm in den Sinn, daß ein anderes Mädchen – besser als Nastja – sein üppiges Leben verschönern könnte. 41
»Sagen Sie«, fragte Enja, nachdem der Sturm der Freude und des allgemeinen Neides sich gelegt hatte, »kann ich meine Kuh gleich mitnehmen?« »Bitte. Vielleicht wollen Sie sie verkaufen? Wir würden sie für fünfundzwanzig Rubel zurücknehmen.« Enja lachte giftig. »So, so! Sie selber schreiben, daß die Kuh mehr als hundertfünfzig Rubel wert sei, und jetzt bieten Sie fünfundzwanzig an? Nein, wissen Sie … Geben Sie mir meine Kuh, jedes weitere Wort ist überflüssig!« Den Strick, der um die Hörner der Kuh gewunden war, nahm er in die eine Hand, die andere schob er unter den Ellenbogen von Nastja und sagte strahlend und taumelnd vor Freude: »Gehen wir heim, Nastja, hier haben wir nichts mehr verloren …« Die Gesellschaft der nachdenklichen Kuh war Nastja etwas lästig, und sie bemerkte schüchtern: »Sie wollen doch mit ihr nicht so – herumziehen?« »Aber warum denn nicht? Ein Wesen ist wie das andere; und übrigens, wozu soll ich sie hier lassen?!« Enja Plintusow besaß auch nicht eine Spur von Humor. Deshalb empfand er keine Minute lang die ganze Lächerlichkeit der Gruppe, die da den Garten verließ: Enja, Nastja, die Kuh. Im Gegenteil – weite, verlockende Perspektiven des Reichtums taten sich vor ihm auf, und das Bild Nastjas wurde immer trüber. 42
Mit zusammengezogenen Augenbrauen schaute Nastja neugierig auf Enja, und ihre Unterlippe zitterte. »Hören Sie, Enja … Sie begleiten mich also nicht nach Hause?« »Doch, doch. Warum soll ich Sie nicht begleiten?« »Aber – die Kuh?« »Was stört uns denn die Kuh?« »Ja bilden Sie sich denn ein, daß ich durch die ganze Stadt mit einer solchen Leichenprozession ziehe? Meine Bekannten lachen alle, und die Buben in unserer Straße lassen mich nicht durch!!« »Also gut«, antwortete nach einigem Besinnen Enja, »setzen wir uns in eine Droschke. Ich habe noch dreißig Kopeken.« »Und die Kuh?« »Die Kuh binden wir hinten an.« Nastja brauste auf: »Ich weiß wirklich nicht, wofür Sie mich halten? Sie könnten mir ja auch vorschlagen, ich soll auf der Kuh reiten!« »Meinen Sie, daß das sehr scharfsinnig ist?« fragte Enja stolz. »Überhaupt wundere ich mich: Ihr Vater hat vier Kühe, und Sie fürchten eine einzige wie den Teufel.« »Hätten Sie denn die Kuh nicht bis morgen im Garten stehenlassen können? Hätte man sie etwa gestohlen? Man möchte schon meinen, diese Kuh sei ein besonders wertvoller Schatz.« »Wie’s beliebt«, sagte Enja achselzuckcnd, innerlich tief gekränkt. »Das heißt also, Sie begleiten mich nicht?« 43
»Wo soll ich denn die Kuh hintun? Ich kann sie doch nicht in der Tasche verstecken!« »Ach so? Ist auch nicht nötig. Ich gehe allein. Aber kommen Sie ja morgen nicht zu uns.« »Bitte«, sagte Enja beleidigt und machte einen Kratzfuß. »Ich komme auch übermorgen nicht zu Ihnen und kann überhaupt nicht mehr kommen, wenn Sie so …« »Zum Glück haben Sie ja jetzt eine zu Ihnen passende Gesellschaft gefunden!« Nachdem sie Enja mit diesem tödlichen Sarkasmus niedergeschlagen hatte, ging das arme Mädchen gesenkten Hauptes ihren Weg weiter in dem Gefühl, daß ihr Herz für immer gebrochen sei. Enja sah einige Augenblicke der sich entfernenden Nastja nach. Dann kam er zur Besinnung. »He, du, Kuh … Auf! Weiter!« Solange Enja und die Kuh auf der dunklen, in den Garten mündenden Straße gingen, war alles in Ordnung, aber kaum waren sie auf die beleuchtete und belebte Dworanska gekommen, empfand Enja doch einige Verlegenheit. Die Passanten betrachteten ihn mit Verwunderung, aber ein Bube kam in solches Entzücken, daß er wild auffuhr und über die ganze Straße hinbrüllte: »Der Sohn der Kuh führt die Mutter ins Bett.« »Ich werde dir gleich eines aufs Maul geben, damit du es weißt«, sagte Enja grob. »Ah, gib! Du bekommst so viel zurück, daß du fragen wirst, wer dich von mir befreit.« Das war natürlich reine Prahlerei, aber der Bube riskierte dabei nichts; denn Enja 44
konnte den Strick nicht auslassen, und die Kuh ging äußerst langsam vorwärts. Auf der Mitte der Dworanskajastraße konnte Enja die bestürzten Blicke der Passanten nicht mehr ertragen. Er kam auf einen Gedanken: Er ließ den Strick fallen und brachte die Kuh mit einem Fußtritt in Bewegung. Die Kuh trottete für sich dahin, Enja aber ging mit zerstreuter Miene an ihrer Seite und suchte den Eindruck zu erwekken, als sei er ein gewöhnlicher Passant, der mit der Kuh nicht das geringste zu tun hätte. Wenn die Kuh nicht mehr gehen wollte und sie friedlich vor irgendwelchen Fenstern stehenblieb, gab Enja ihr verstohlen einen Tritt, und die Kuh trottete ergeben weiter. Jetzt kam die Straße, wo Enja wohnte. Da war auch das Haus, wo Enja bei einem Tischler ein Zimmer gemietet hatte. Plötzlich erleuchtete, wie ein Blitz in der Finsternis, Enja der Gedanke: Aber wo schaffe ich jetzt die Kuh hin? Ein Stall war für sie nicht da. Wenn man sie im Hof anbindet, kann sie gestohlen werden, um so mehr, als man das Pförtchen nicht zusperren kann. »Ich weiß, was ich tue«, sagte Enja nach langem, angestrengtem Nachdenken entschlossen. »Sie kann ruhig eine Nacht im Zimmer stehen …« Leise öffnete der glückliche Besitzer der Kuh die Haustür und zog vorsichtig das melancholische Tier hinter sich her: »He, du! Da geh her, was denn … Lei-ser! – Teu-fel! Die Hausleute schlafen, und sie stampft mit den Hufen wie ein Roß.« 45
Vielleicht hätte die ganze Welt sich über dieses Vorgehen von Enja gewundert und es unsinnig und unbegreiflich gefunden. Die ganze Welt außer Enja und vielleicht der Kuh: Weil Enja sich sagte, daß es keinen anderen Ausweg gäbe und die Kuh vollständig gleichmütig dem Wechsel ihres Schicksals und ihrer neuen Behausung gegenüberstand. Nachdem sie ins Zimmer geführt war, stand sie apathisch vor dem Bett Enjas und begann sofort an der Ecke des Kopfkissens zu kauen. »Ksch!! Ah, du verdammte – sie zerbeißt das Kopfkissen! Was du … Willst du vielleicht fressen? Oder trinken?« Enja goß Wasser in ein kleines Becken und hielt es der Kuh unter das Maul. Dann ging er heimlich auf den Hof, brach einige Zweige von einem Baum und versenkte sie sorgfältig in das Becken … »Na, du! Wie ist dir jetzt …? Waska! Friß! Ruhe!« Die Kuh steckte das Maul in das Becken, packte mit der Zunge einen Zweig, hob den Kopf und brüllte dumpf und laut. »Tss! Verdammte!« ächzte Enja außer sich. »Schweig, daß dich …! Ist das ein verdammtes Biest!« Hinter dem Rücken Enjas knarrte leise die Tür. Ein ausgekleideter Mann, in ein Bettlaken gehüllt, schaute ins Zimmer, und als er sah, was dort vor sich ging, wich er mit einem leisen Ruf des Entsetzens zurück. »Sind Sic es, Iwan Nasaritsch?« flüsterte Enja. »Kommen Sie herein, nur keine Angst … Ich habe eine Kuh.« »Enja, sind Sie verrückt geworden, was? Woher ist sie?« »In der Lotterie gewonnen. Friß, Waska! Friß, Tubo!« 46
»Ja, wie kann man denn nur eine Kuh im Zimmer halten?« bemerkte der Mieter unzufrieden und setzte sich aufs Bett. »Wenn das die Hauswirte erfahren, die jagen Sie aus der Wohnung hinaus.« »Es ist ja nur bis morgen. Sie übernachtet, dann machen wir schon etwas mit ihr.« »M-m-mu-u!« brüllte die Kuh, als ob sie mit ihrem Besitzer einverstanden wäre. »Kannst du keine Ruhe geben, Verfluchte!! Tss! Geben Sie die Decke her, Iwan Nasaritsch, ich wickle ihr den Kopf ein. Warte, he du! Was soll ich mit ihr anfangen – sie frißt die Decke auf! Weg, weg! Teufel!« Enja warf die Decke weg und versetzte der Kuh mit aller Gewalt einen Faustschlag zwischen die Augen. »M-mmu-u-u!« »Bei Gott«, sagte der Zimmernachbar, »gleich werden die Hausleute kommen und Sie mitsamt der Kuh hinausjagen.« »Aber was soll ich denn machen?« stöhnte Enja, der allmählich in Bestürzung geriet. »Geben Sie mir doch einen Rat.« »Was gibt’s da zu raten? Auf einmal brüllt sie die ganze Nacht. Wissen Sie was? Man könnte sie schlachten.« »Das heißt … Wie soll man sie schlachten?« »Sehr einfach. Und morgen kann man dem Metzger das Fleisch verkaufen.« Man konnte mit Überzeugung sagen, daß die Intelligenz des Besuchers bestenfalls auf dem gleichen Niveau stand wie die des Zimmerbewohners. 47
Enja schaute stumpfsinnig auf den Nachbarn und sagte nach einigem Schwanken: »Und was nehme ich dabei ein?« »Wie denn? Die Kuh wiegt zwanzig Pud … Wenn Sie das Pud für fünf Rubel verkaufen, so sind das hundert Rubel. Dann ist noch die Haut da und dies und jenes. Für die lebendige bekommen Sie auch nicht mehr.« »Wirklich? Aber mit was soll ich sie schlachten? Ich habe nur ein Tischmesser, und das ist stumpf. Eine Schere ist noch da – sonst nichts.« »Wie wäre es, wenn man ihr die Schere ins Auge stößt, daß sie bis ins Hirn dringt?« »Auf einmal fängt sie dann an, sich zu wehren – erhebt ein Gebrüll … »Richtig, das ist wahr. Man könnte sie vergiften, wenn …« »Nun, Sie sagen es ebenfalls. Man könnte ihr auch ein Schlafpulver hinunterdrücken, daß sie einschläft, aber woher jetzt nehmen?« »Mu-u-u«, brüllte die Kuh und schaute mit ihren runden dummen Augen auf die Zimmerdecke. Hinter der Wand hörte man Lärm. Irgend jemand, der aus dem Schlaf aufgerüttelt worden war, schimpfte und schrie. Dann hörte man das Schlürfen von nackten Füßen, die Tür zu Enjas Zimmer öffnete sich, und vor dem verwirrten Enja stand der verschlafene, zerzauste Hauswirt. Er schaute auf die Kuh, auf Enja, knirschte mit den Zähnen, und ohne irgendeine Frage brüllte er laut und kurz: »Hinaus!« 48
»Erlauben Sit mir, Ihnen … zu … erklären, Alexej Fo mitsch …« »Hinaus! Aus meinen Augen! Ich werde Ihnen beibringen, solche Schweinereien zu machen!« »Ich habe es Ihnen ja gesagt«, meinte der Zimmernachbar in einem Ton, als ob jetzt alles so geordnet wäre, wie es sich gehörte; er hüllte sich in seine Decke und ging schlafen. Es war eine dumpfe finstere Sommernacht, als Enja mit seiner Kuh, seinem Koffer, der Bettdecke und dem Kopfkissen auf die Straße trat. Er hatte alles der Kuh aufgeladen – der erste greifbare Nutzen, den Enja von seinem Unglücksgewinn hatte. »He du, Verdammte!« sagte Enja mit verschlafener Stimme. »Mach, daß du weiterkommst! Hier gibt’s kein Stehenbleiben.« Langsam trotteten sie dahin. Die kleinen Häuser am Rande der Stadt gingen zu Ende, und es breitete sich die Leere der Steppe aus. Da stand auf einer Seite etwas wie ein geflochtener Zaun. »Eigentlich ist es ja warm«, murmelte Enja, der das Gefühl hatte, daß er vor Müdigkeit umsinken möchte. »Ich werde hier schlafen und die Kuh an meinen Arm anbinden.« Und Enja, dieses wunderliche Spielzeug des erfinderischen Schicksals, schlief ein. »He, Herr!« hörte er über sich eine Stimme. 49
Es war heller sonniger Morgen. Enja öffnete die Augen und streckte sich. »Herr!« sagte ein Bäuerlein und berührte ihn an der Spitze seines Schuhs. »Wie ist es denn möglich, daß Ihr Arm an dem Baum angebunden ist? Warum das?« Enja fuhr zusammen, sprang wie von einer Biene gestochen auf und stieß einen krankhaften Schrei aus: Das andere Ende des um seinen Arm gewundenen Strickes war fest an einen niederen astreichen Baum geknüpft. Ein Abergläubischer hätte vielleicht angenommen, daß sich die Kuh über Nacht in einen Baum verwandelt habe, unser Enja aber war ein einfältig-praktischer Jüngling. Er schluchzte und brüllte: »Gestohlen …!«
»Warten Sie«, sagte der Revierpolizeibeamte. »Nach dem, was Sie mir sagen, ist gestohlen worden, ja gestohlen, eine Kuh, ja eine Kuh … Aber welche Kuh?« »Wie welche? Eine gewöhnliche.« »Von welcher Farbe?« »So eine, wissen Sie – zimtfarbene. Natürlich hat sie auch weiße Flecken.« »Wo?« »Das Maul ist, scheint mir, weiß. Oder nein! An der Seite weiß … Am Rücken auch … Der Schwanz ebenso – weiß. Überhaupt, wissen Sie, wie eben die Kühe gewöhnlich sind.« »Nein!« sagte der Beamte entschieden und schob sein Papier weg. »Mit so verwirrten Angaben kann ich keine 50
Untersuchung machen. Als ob es nur ein paar Kühe auf der Welt gäbe!« Der arme Enja trottete in seine Stärkefabrik. Sein ganzer Körper war von dem unbequemen Nachtlager wie zerschlagen, und überdies standen ihm noch die Vorwürfe des Buchhalters bevor, denn es war schon ein Uhr mittags. Enja sann über die Eitelkeit alles Irdischen nach: Gestern noch hatte er alles: eine Kuh, eine Wohnung, ein liebes Mädchen, und heute war alles verloren: die Kuh, die Wohnung und das liebe Mädchen. Seltsame Scherze treibt das Leben mit uns, aber wir alle sind seine blinden, ergebenen Knechte.
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Der Goldfaden
A
ngeklagter Schischkin! Warum haben Sie in der Dunkelheit mit dem Stock auf den Beleidigten Miron Sajawkin eingeschlagen?« »Weil er, Herr Richter, sich über meine Frau unehrerbietig geäußert hat.« »Wie hat er sich denn geäußert?« »Er hat sie ›weibisch‹ genannt.« »Ja, erlauben Sie! Ist denn das eine Beleidigung für eine Frau, wenn man sie weibisch nennt?!« »Ja was, ist das Ihrer Meinung nach vielleicht ein Kompliment?« »Nach meiner Auffassung ist es ein Kompliment.« »Ich danke Ihnen für diese juristische Feststellung. Aber ich finde, daß es eine Beleidigung ist – eine Frau weibisch zu nennen.« »Warum denn?« »Weil weibisch – darunter verstehe ich – was es letzten Endes heißt … Das heißt: Närrin.« Diese harte Begriffsbestimmung könnte gewissermaßen als Titel über meine Erzählung gesetzt werden, aber ich will das nicht tun, weil es nicht zu meinen Grundsätzen gehört, die Frauen zu beleidigen. Besser und richtiger wird es sein, wenn ich einfach, aufrichtig und ohne Umstände alles das erzähle, was ich von den Beziehungen zwischen Sofja Grigorewna und Mathilde Leonidowna weiß. 52
Meine erste Bekanntschaft erfolgte bei den Perewosows. Man führte mich zu einer malerischen Gruppe, die aus zwei Frauen bestand, in der eine Brünette ihren Kopf auf die Schulter einer Blondhaarigen gelegt hatte, und die Blondhaarige die schmale schöne Hand der Brünetten in ihren weichen Händchen hielt. Es war viel Weibisches an ihnen, an diesen beiden bezaubernden Püppchen. »Sehr angenehm«, sagte ich zärtlich. »Ich sehe, daß Sie beide sehr befreundet sind.« »Oh – oh!« lachte die Blondine auf. »Wenn ich erfahre, daß Sie Sofja Grigorewna beleidigt haben, beiße ich Ihnen die Nase ab.« »Wenn Sie es wagen würden, auch nur mit einem Blick, Mathilde Leonidowna vor mir zu kränken«, fügte die Brünette, ihre Freundin auf den Hals küssend, hinzu, »würde ich Ihnen mit meiner Hutnadel beide Augen ausstechen.« »Nun, ich sehe schon, daß es sich nicht lohnt, mit Ihnen zu streiten. Lassen Sie uns lieber Freunde sein!« Die beiden brachen in ein perlendes Lachen aus: »Das wollen wir. Wir lieben so einfache junge Leute wie Sie.« Ich antwortete nicht weniger höflich: »Mädchen wie Sie waren meinem gequälten Herzen immer nahegestanden.« »Wir sind keine Mädchen. Wir sind Damen.« »Sind Sie schon soweit?« sagte ich verwundert. »Und wer treibt Sie so, das verstehe ich nicht? Sind Ihre Männer wenigstens gut, oder wie?« »Sonjitschka hat einen guten Mann«, sagte Mathilde Leonidowna, »der meinige ist mittelmäßig.« 53
»Tilly! Schämst du dich nicht, so von deinem Mann zu sprechen? Glauben Sie ihr nicht, sie hat auch einen guten Mann.« »Nein, ich werde schon das Richtige glauben. Da Mathilde Leonidowna sagt, ihr Mann sei ›mittelmäßig ‹, so werde ich von diesem Moment an anfangen, ihr den Hof zu machen, ha, ha!« »Sonja«, wandte sich Mathilde mit ihrem Gesichtchen, das so rosig war wie ein Sonnenuntergang im Frühling, an die Freundin, »darf er mir den Hof machen?« »Er kann«, stimmte Sofja Grigorewna gnädig zu. Wir reichten uns alle drei die Hände, und seit dieser Zeit klebte ich mit ganzem Herzen an diesen lieben, gutherzigen Nichtstuerinnen. Schon nach einer Woche war ich der Diener von Mathilde Leonidowna, ich beschäftigte mich mit ihrem kleinen Töchterlein, besorgte die Theaterkarten, und wenn ich sie nicht jeden Tag traf, so plauderten wir durchs Telefon, morgens, mittags und abends. Eines Tages rufe ich an: »Hallo! Sind Sie es, Mathilde Leonidowna?« »Ich? Wer spricht?« »Der Direktor des Instituts. Bei uns ist ein Platz frei geworden … Wollen Sie Ihre Tochter hierhergeben?« »Daß Sie doch unter die Traufe kämen! Ohne Dummheiten geht’s bei Ihnen nicht. Guten Tag. Hören Sie. Ich bin schlechter Laune und langweile mich.« »Ihre Langeweile wird heute zerstreut, in Fetzen zerrissen und vom Winde weggeweht werden. Ich habe eine 54
Loge im Zirkus – wollen Sie?« – »Das ist eine Idee«, antwortete Mathilde Leonidowna freudig. »Wer geht mit?« »Außer uns? Sofja Grigorewna nehme ich mit und den Bruder Perewosows.« Kleine Pause. »Ach so? Ja – ja … Da wird es aber zu viert in der Loge sehr eng werden. Nein, gehen Sie lieber ohne mich hin.« »Aber es ist doch eine Loge für vier Personen!« »Ja-a. Für vier. Nun, nehmen Sie irgend jemand als vierten, vielleicht Madame Perewosow.« »Aber Sie wollten doch kommen.« »Ich wollte, aber jetzt habe ich es mir anders überlegt.« »Warum?« »Hören Sie auf. Wenn Sie wüßten, wie ich an allen genug habe …« Krach. Schlag. Sonderbar. Ich rief eine andere Nummer an: »Ist dort Sofja Grigorewna?« »Ja. Wer spricht?« »Ein Agent der Untersuchungsabteilung. Hören Sie, Sofja Grigorewna, was hat Sie veranlaßt, den Ridicule der Kaufmannswitwe Taldykin zu zerreißen? Geben Sie es zu?« »W-a-a-as? Pfui, wie gewandt Sie Ihre Stimme verstellen können! Guten Tag. Was treiben Sie denn?« »Ich sitze zu Hause und trinke Tee. Soeben habe ich mit Ihrer Freundin geplaudert.« »Mit wem?« »Ja, mit Mathilde Leonidowna!« 55
»A-ach. Sind Sie immer noch ihr treuer Ritter? Ich wundere mich, daß Sie Ihnen erlaubte, mich anzurufen.« »Tantchen, was haben Sie denn? Warum solche Redensarten? Mathilde Leonidowna liebt Sie doch so sehr …« »Ach, hören Sie, tun Sie doch nicht wie ein kleiner Knabe! Liebt, liebt! Ich war ebenso dumm wie Sie und habe das alles heilig geglaubt, aber …!« »Nun?« »Wie kann ich zu einem Menschen gute Beziehungen pflegen, der bereit wäre, mich in einem Löffel Wasser zu ertränken?« »Sofja Grigorewna! Liebe Freundin! Ich traue ja meinen Ohren nicht! Mathilde Leonidowna ist ein so guter, weichherziger Bursche.« »Nun gut, küssen Sie sich mit Ihrem weichherzigen Burschen, aber ich …« Das Telefon klirrt. Tödliches Schweigen. Ich schaue in keinen Spiegel, aber ich spüre auch so, daß ich ein dummes Gesicht mache. Am Abend erfuhr ich genaueres: Erst gestern war ein heftiger Streit darüber entstanden, wer auf einem Wohltätigkeitsabend Blumen und wer Programme verkaufen sollte. Offenbar wollte Mathilde »auf den Programmen« sitzen und Sofja »auf den Blumen« oder umgekehrt; ich konnte das nicht genau erfahren. Also, sie stritten hin und her. Schade, aber wenn sie auch miteinander zanken, so ist auf alle Fälle jede einzelne so lieb, daß ich meine Freundschaft bei jeder weiterpflegen kann. 56
Aber wie, frage ich mich, kann ich am besten die Freundschaft mit einer Frau fortsetzen? Sehr einfach: über ihre Freundin schimpfen. Das ist, wie es scheint, etwas unehrlich, aber warum soll man einem netten Menschen nichts Angenehmes tun? Ich bin ein guter Kerl. Bei Sofja Grigorewna war ich zum Mittagessen. Ich setzte mich auf den Stuhl, und ihre erste Frage war: »Kommen Sie noch mit Mathilde Leonidowna zusammen?« »Sie fragen nach dieser rosafarbenen unausgebackenen Semmel? Nein, offen gestanden, ich habe diese Hopfenstange zwei Tage nicht gesehen.« Auf das Gesicht von Sofja Grigorewna trat Bestürzung: »Haben Sie sich mit ihr gezankt?« »Nein«, sagte ich leicht verwundert. »Sie haben doch mit ihr gestritten.« »Aber Sie stehen zu ihr, wie es scheint, in den gleich guten Beziehungen wie vorher?« »Ja-aaa. Und was folgt daraus?« »Und Sie schämen sich nicht, so über die arme Tilly zu sprechen?! Da heißt es, die Frauen hätten böse Zungen. Was sollen wir mit Ihnen anfangen! Warten Sie, gleich kommt Tilly, und ich werde ihr erzählen, wie Sie .. .« »Wohin kommt sie?« »Zum Mittagessen. Zu mir. Warum werden Sie so unruhig?« »Aber Ihr – gegenseitiger Haß?!« »Sie sagen auch noch Haß? Tilly ist im Grunde genommen ein sehr guter Mensch, nur zu aufbrausend. 57
Pulver! Da ist sie ja.« Da standen sie vor mir in zärtlich liebevoller Umarmung: Die Blondine ruhte sanft an der Schulter der Brünetten, und die Hand der Brünetten umfing zärtlich die volle Taille der Blonden. »Ach, Herrschaften!« sagte ich freudig. »Heute ist für mich Ostern. Ich bin so froh …! So soll es lange bleiben, ihr, meine lieben, entzückenden Mädchen. Wenn ich anderen Geschlechtes wäre, hätte ich euch gerade auf eure Mäulchen geküßt.« »Zum Teufel mit Ihnen, küssen Sie.« Wieviel süß Intimes, ewig Weibliches war nicht in diesem groben Ausdruck! Auf einer Gemäldeausstellung traf ich Sofja Grigorewna. »Guten Tag, Sofja, was auf griechisch Weisheit heißt. Wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht gesehen. Drei Tage lang habe ich Ihr Näschen nicht geküßt.« »Lauter Schwindel. Sie haben es auch früher nicht geküßt.« »Ganz gleich, ich hätte es gern getan.« Sie schaute zur Seite und fragte: »Kommen Sie mit Mathilde Leonidowna zusammen?« »Gestern. Flüchtig. Sie bat mich, Ihnen tausend Grüße zu überbringen.« »Sie hat mir Grüße gesandt?« fragte Sofja Grigorewna mit fremdartiger, zitternder Stimme. »Mhm … Ja«, behauptete ich, nicht ganz überzeugend. Ich hatte für alle Fälle von Grüßen gesprochen. Tatsächlich 58
hatte ich Mathilde Leonidowna nur flüchtig gesehen und nicht einmal gehört, was sie mir aus ihrem Wagen zurief. »Ja, sie – sie hat Sie grüßen lassen.« »Nun, wissen Sie, das ist schon eine Frechheit«, brauste Sofja Grigorewna plötzlich auf. »Nach dem, was sie sich mir gegenüber erlaubt hat, noch Grüße zu schicken: Das betrachte ich als reinen Hohn.« »Habt ihr gestritten?« stöhnte ich auf. »Ach, und das wissen Sie nicht? Sind Sie erst heute auf die Welt gekommen?! Die ganze Stadt hat sich über ihr niederträchtiges Benehmen mir gegenüber auf der Versteigerung geärgert … Es ist doch unmöglich, daß Sie sie noch nicht durchschaut haben!« »Ja«, sagte ich träge. »Sie ist wirklich ein schwieriger Mensch. Sie hat etwas, wie soll ich sagen: Schlangenhaftes!« »Aha, Sie haben es auch gemerkt.« »Ja, ja«, fuhr ich langsam fort. »Ihr Temperament reißt sie immer zu grellem, das Trommelfell zerreißendem Kreischen hin. Sie kreischt, kreischt, aber was ist der Sinn?« Ich fuhr zu Mathilde Leonidowna, um ein Glas Tee zu trinken und zur Bekräftigung der Freundschaft auf Sofja Grigorewna zu schimpfen. Das mußte nach meiner Meinung die bestehende Atmosphäre sehr erhellen. Schon in der Diele rief ich freudig: »Guten Tag, Blümchen! Geht es euch allen gut? Vor kurzem habe ich diese Fischotter, Sonka, gesehen … Gott, wie sie abgefallen ist. Schwarz, fürchterlich.« 59
»Nach Ihnen ist sie also eine Fischotter?!« lachte Mathilde Leonidowna. »Nun, wir werden sie gleich selber fragen … Sonetschka! Bist du vielleicht einer Fischotter ähnlich? Gib eine Nadel her, wir werden ihm gleich die Zunge durchbohren … Mein Gott, ist das ein Frechling! Dich nennt er eine Fischotter, mich eine Schlange, bei der das Temperament zu ohrenzerreißendem Gekreisch umschlägt. Nett!« »Sonetschka«, die aus einem anderen Zimmer herauskam, umfaßte mit der Hand die Taille der Hausfrau, und diese legte ihr Goldköpfchen auf ihre Schulter. Die beiden vereinigten sich zu einer prächtigen Gruppe von Weiblichkeit, daß jeder andere an meiner Stelle darüber entzückt gewesen wäre. Ich aber ließ mich kraftlos in einen Sessel nieder und sagte leise: »Wieviel Weiblichkeit ist doch an euch … Ihr seid von dieser Weiblichkeit so vollgestopft, daß sie aus den Augen, aus dem Mund und aus den Ohren herausquillt … Etwas weniger davon, wie wäre es? Das wäre gut, prächtig! Aber wenn ihr schon so weibisch seid, dann laßt wenigstens mich in Ruhe oder stellt mich so, daß ich nicht immer dazwischen bin … Denkt daran, daß ich nicht gewandt genug bin, um den Windungen, Drehungen und Sprüngen eurer Launen von einem Extrem ins andere nachzujagen. Ich bitte, ja ich verlange endlich, daß die Perioden des Zankes durch ein äußeres Zeichen kenntlich gemacht werden: Bindet ein schwarzes Bändchen um den Hals oder hängt eine Flagge auf dem Dach eurer Häuser auf, damit 60
ich ohne Schaden mit euch verkehren kann. So geht’s nicht weiter – verstanden?« Sie standen vor mir, glänzend in Schönheit, Jugend und Weiblichkeit, liebevoll aneinandergeschmiegt und sahen mich neugierig und verwundert an. »Ja … Er wird doch nicht denken«, meinte die Schwarze, »daß wir uns jetzt noch irgendeinmal zanken werden?!« »Dafür, daß Sie so ungut sind, müssen Sie uns zwei Karten für den ›Don Quichotte‹ besorgen.« »Zu Befehl! Wollen Sie nebeneinander oder an verschiedenen Plätzen sitzen?« »Warum auseinander? Ist der dumm!« »So dumm ist das gar nicht. Vergessen Sie nicht, daß der letzte Spektakel erst vor drei Tagen …«
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So sind die Frauen
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ie Frau hieß Soja. Ein leichter, gewichtsloser Name, goldfarbig, durch und durch mit gelben Sonnenstrahlen bestickt. Er ruft den Gedanken an helle, kurzgeschnittene Locken, eine Atlashaut mit blauen Äderchen, rosige Lippen, ein kleines Naschen und ein Stimmchen wie ein Silberfaden hervor. Das sind die Vorstellungen, die der Name »Soja« in mir hervorruft. Vielleicht ist das alles deshalb so, weil die Besitzerin des Namens Soja ihrer äußeren Erscheinung nach wirklich so war. Wir lebten zusammen, und ich kann nicht sagen, daß wir schlecht lebten. Ich konnte mich aber auf keine Weise von dem Gedanken befreien, daß sie kein wirklicher Mensch sei. Im geheimen sah ich auf sie wie auf ein liebliches Spielzeug. Eines Tages sagte sie mir nachdrücklich mit gerunzelter Stirn: »Sag, schätzest du mich?« Ich fiel von der Ottomane auf den Teppich und wand mich vor Lachen, das teils übertrieben, teils echt war. »Ein sonderbares Menschenkind bist du, Weibchen«, antwortete ich ihr, nachdem ich mich beruhigt hatte. »Was hast du denn von meiner Hochachtung? Du würdest vor Pein und Langeweile heulen, wenn ich dich schätzen würde. Weshalb soll ich dich schätzen, sag, um Himmels willen?« »Weshalb?« 62
Sie kam ein bißchen in Verwirrung. »Wie, weshalb? Nun deshalb, weil ich … Hm! Weil ich ein ordentlicher Mensch bin. Deshalb, weil ich mit dir gut bin. Deshalb, weil ich – dir gefalle.« »Du bist ein merkwürdiges Weibchen! Schätzt man etwa deshalb einen Menschen? Deshalb liebt man ihn!« »Also liebst du mich?« »Ja, natürlich.« »Also bin ich besser als alle anderen.« »Aber ich bitte dich, wie solltest du besser sein als alle anderen? Das verhüte Gott, daß du besser bist als alle anderen. Dann würden sich alle Männer in dich verlieben, und ich könnte auf keinen Fall zu deinem Herzen vordringen … Nein. Natürlich gibt es auf der Welt Frauen, die besser sind als du.« Sie wurde traurig. Sie senkte den Kopf und sagte, während sie mit dem Finger an einer Naht des Sofakissens auf und ab strich: »Sieh mal, das hätte ich von dir nicht erwartet.« Ich aber sah sie ganz nahe an, wie ein Naturforscher ein seltenes Tierchen, und mir war zum Lachen, zum Lachen. »Urteile doch selber, meine Goldtaube: Es ist ja nicht möglich, daß du besser bist als alle. Gibt es bessere Frauen als dich? Ja! Schönere? Ja! Bezauberndere? Ja!« Sie lächelte schief. »Gut, wenn es so ist, dann bin ich glücklicher als du: Für mich bist du der Klügste, Schönste und Bezauberndste …« »Meinst du das? Nach meiner Meinung ist es so: Ich bin ein Mann von fünfunddreißig Jahren, wankelmütig, 63
mit angenehmem Gesicht, ohne besondere Kennzeichen, Verstand nicht überragend, aber genügend für den Hausgebrauch. Was aber das Bezaubernde betrifft, so frage ich, warum, beim Teufel, umgeben mich dann Dutzende von Frauen, denen es gar nicht einfällt, von mir geneigt Notiz zu nehmen.« »Ach, du guter Gott, was der Mensch da für einen Unsinn daherbringt! Weißt du, was für einer du bist? Ich werde dich beschreiben: Bei dir brennen die Augen wie zwei Sternchen, dein Lächeln verwirrt den Kopf, aber deine Stimme dringt mitten ins Herz und dreht es um. Weißt du, wem du ähnlich bist? Einem silbernen Tiger, jawohl.« »Ich habe noch keinen gesehen. Tragen diese silbernen Tiger auch einen Besuchsanzug, eine dunkle Krawatte und gehen sie auch an den Wochentagen zum Dienst?« »Du bist dumm.« »Das will ich nicht sagen. Vielleicht nicht weit weg davon, aber dumm – das ist schon das Äußerste.« »Höre«, flüsterte sie, sich an mich schmiegend, mir ins Ohr: »Ich habe dir gesagt, was du für einer bist?« »Nun?« »Jetzt sagst du mir, wie bin ich?« »Du? Du heißest Soja, du bist kleiner als mittelgroße Frauen, hast sehr schöne Haare, die Brust ist etwas voller, als es sich gehörte, und die Beine sind etwas kürzer, als sie bei einer gutgewachsenen Frau sein sollten. Aber das eine wie das andere ist eine Folge deines Wuchses. Das ist bei allen kleinen Frauen so. Die Augen sind schön, aber das eine steht näher beim anderen, als es sich gehört. Die 64
Hände sind schön, klein, aber die Nägel dürften schmäler sein.« Sie stand auf und wankte von mir weg. Ihre Augen hatten sich weit geöffnet und sahen starr drein. »Warte! Und du hast die Kühnheit zu sagen, daß du mich liebst?! Mich, mit der großen Brust, mit den kurzen Beinen und den breiten Fingernägeln – du sagst, daß du mich liebst?! « Sie fiel auf den Diwan, und Tränen strömten aus ihren Augen wie die Bergwasser im Frühling. Ich aber saß da, stützte das Kinn nachdenklich auf meine ruhige, kalte Hand und sah aufmerksam auf die weinende Frau. Ich dachte: Eine Frau ist leicht zu verstehen, aber schwer zu erklären. Was ist das für ein übermenschliches, von einer glühenden Phantasie ausgedachtes Wesen! Was kann es zwischen ihr und mir Gemeinsames geben außer der physischen Annäherung und primitiven häuslichen Interessen? Sie aber heulte, verging schier in Tränen und ließ den Kopf hin und wieder auf ihre auf der Rückenlehne des Diwans liegenden Hände fallen. »Und ich Törin habe immer geglaubt, daß wir zueinander gehören! Noch gestern, als es Gebackenes zum Tee gab und du nur das Gesalzene genommen hast, habe ich mir gedacht: Gott, wieviel Gemeinsames wir miteinander haben, chmm … chmm.« »Zwischen uns – Gemeinsames? Was sagst du da für eine Ketzerei? Inwiefern sind wir einander ähnlich? Ich 65
bin ein großer, starker Mann, du eine kleine, zerbrechliche Frau in Spitzentüchlein und Bändchen eingehüllt. Ich rauche Zigaretten wie ein Fabrikschlot. Du erstickst von diesem Rauch wie eine Motte im Naphthalin. Veruche einmal, mir das anzuziehen, was ihr tragt: Pantoffeln mit hohen Absätzen, hauchdünne Höschen, Musselinjäckchen, ein Korsett. Ich mache einige Schritte und die Folge: Ich falle, erkälte mich auf den Tod und ersticke durch das Korsett; mit einem Wort – ich bin verloren. Nun, was ist da Gemeinsames zwischen uns? Versuch doch einmal, einer gutgebauten Frau Männerkleider anzuziehen – von vorne und hinten wird das geschmacklos und unästhetisch aussehen … Es ist wahr, magere Frauen können einen Männeranzug anziehen, aber nur dann, wenn sie keine Brust und kein Becken haben, das heißt, wenn sie einem Mann ähnlich sind.« Sie erhob ihre schmerzerfüllten, tränenvollen Augen zu mir. »Das sind alles Kleinigkeiten, alles nichtssagende Äußerlichkeiten, aber ich spreche von der seelischen Harmonie.« »Ach, wo ist denn diese? Der Mann ist fast immer der Frau an Geist und Verstand überlegen.« Ihre Augen blitzten: »So? Meinst du? Aber was dann, wenn ich dir sage, daß bei uns in Kiew ein Mann und eine Frau Tinjakow waren, und weißt du was? Sie hat auf der Universität studiert und ist Rechtsanwältin gewesen, er aber hat eine Fischhandlung gehabt. Da hast du es!« »Du bist mein unvernünftiges Kind«, lachte ich zärtlich und setzte sie wie einen Jungen auf meine Knie. »Schau, 66
jetzt hast du selber den Unterschied zwischen uns unterstrichen. Merke, daß ich als Mann immer von der Regel spreche, aber du – unlogisch wie alle Frauen – kommst mir sofort mit einer Ausnahme daher. Armes Köpfchen! Alle Menschen haben zehn Finger an den Händen, und davon rede ich. Aber du hast im Panoptikum einen Knaben mit zwölf Fingern gesehen und denkst, daß in diesem Knaben die Widerlegung meiner Theorie von den zehn Fingern enthalten ist.« »Natürlich«, sagte sie verwundert. »Wie kann man davon reden, daß zehn Finger die Regel sind, wenn es – wie du selber sagst – Leute mit zwölf Fingern gibt.« Nachdem sie das gesagt hatte, lief sie geschäftig im Zimmer herum. Sie hatte ihre bitteren Tränen schon vergessen und stellte Porzellanfiguren und Blumen in Vasen dahin und dorthin. In ihren Pantöffelchen mit den hohen Absätzen, mit ihrem überirdischen Peignoir aus Spitzen und Bändchen, mit ihrem goldfarbigen, kurzgeschnittenen Lockenköpfchen und den noch tränennassen Augen, durch den schutzheischenden Ton, mit dem sie die letzten Worte ausgesprochen hatte, mit all diesem wandte sie, die keine Ahnung von dem heraufziehenden Gewitter meiner Gleichgültigkeit ihr gegenüber hatte, wie im Sturm, ganz unerwartet, mein Herz um. Es brach irgendein Damm, und Mitleid mit ihr, ein starkes und nicht zu überwindendes Mitleid, das stärker ist als die Liebe, überschwemmte mich vollkommen. Eben hatte ich noch im Geiste entschieden, daß ich sie nicht 67
liebe und von mir wegschicken werde. Aber wohin sollte es gehen, dieses törichte, klägliche, abgeschmackte Vögelchen, das in meinen Augen Sterne sieht und mich für einen in der Natur gar nicht existierenden silbernen Tiger hält. Was weiß sie? Welchen Gott außer mir kann sie anbeten? Sie, die mich gestern ihren blauen strahlenden Prinzen genannt hat – auch diesen Rang gibt es nicht, verzeih es ihr Gott. Sie aber ging mit ihren Stöckeln klappernd auf mich zu, klopfte mit ihrer Handfläche zärtlich an meine Stirn und sagte: »Aha, hast du dich besonnen! Habe ich dich überzeugt? So groß – und so leicht läßt du dich widerlegen.« Mitleid, Mitleid, unendliches Mitleid mit ihr leckte wie mit feurigen Zungen an meinem harten, erstarrten Herzen. Ich zog sie an mich heran und küßte sie. Nie habe ich sie zärtlicher und glühender geküßt. »Au, hör auf«, sagte sie auf einmal leise stöhnend. »Du tust mir weh!« »Was gibt’s?« »Siehst du, was für ein großer Dummer du bist! Ich wollte dir eine Überraschung bereiten, aber du … Nun ja! Was schaust du so? In sieben Monaten werden wir zu dritt sein … Bist du zufrieden?« Ich konnte lange nicht zur Besinnung kommen. Dann setzte ich sie zärtlich zu mir auf meinen Schoß, sah ihr mit dem gleichen gespannten Interesse ins Gesicht, wie ein Vivisektor ein Kaninchen betrachtet, und fragte mißtrauisch: »Höre, hast du keine Angst?« 68
»Vor was?« »Vor diesem – Kind! Schau, Geburten sind im allgemeinen eine gefährliche Angelegenheit.« »Wegen deines Kindes soll ich mich fürchten?« sagte sie mit ungewöhnlich weichem Lächeln. »Höre … Man kann das noch alles in Ordnung bringen.« »Niemals!« Das pfiff heraus wie ein Pfeil. Die folgenden Worte waren weicher, scherzhafter: »Du hast recht: Zwischen Mann und Frau ist ein großer Unterschied.« »Inwiefern?« »Ich meine so: Wenn nicht die Frauen, sondern die Männer die Kinder gebären müßten – sie würden vor den Frauen weglaufen wie vor der Pest.« »Nein«, widersprach ich ernst. »Wir würden natürlich von den Frauen nicht weglaufen. Aber Kinder würden wir keine bekommen, das ist sicher.« »Oh, ich weiß. Wir Frauen sind viel tapferer und männlicher als ihr. Und weißt du, das wird sehr lustig sein: Wir waren zu zweit – und dann werden wir auf einmal drei.« Dann sah sie mich lange forschend an: »Sag, du wirst mich nicht fortschicken!« Ich geriet in Verwirrung. »Wie kommst du darauf? Habe ich vielleicht von so etwas zu dir gesprochen?« »Du sagst es nicht, aber du hast daran gedacht. Ich habe das gefühlt.« »Wann?« 69
»Wie ich die Blumen umgestellt habe, bist du auf der Ottomane gesessen und hast nachgedacht. Du hast gedacht: Wozu brauche ich sie? Ich schicke sie weg.« Ich schwieg und dachte bei mir: »Der Teufel weiß, wer sie ausgedacht hat, solche … Im Geist ist sie überzeugt, daß Leute mit zwölf Fingern die Regel sind, aber aus dem Gefühl heraus weiß sie, was eine Sekunde lang in den dunklen Tiefen meines Gehirns vorbeigeflitzt ist.« »Jetzt hast du wieder nachgedacht, aber dieses Mal etwas Gutes. Jetzt bist du gutgesinnt.« Sie strich meinen Schnurrbart glatt, küßte die Spitzen und sagte nachdenklich: »Vielleicht bist du eher einem Hasen ähnlich. Du hast ein kleines Bärtchen.« »Nein, verzeih schon, der silberne Tiger liegt mir eher.« »Nun, nur nicht weinen«, antwortete sie und klopfte mir begütigend auf die Schulter. »Natürlich bist du ein silberner Tiger, aber die Bartspitzen sind aus Gold und Brillanten.« Ich sah sie an und dachte: Wer kann ein solches Wesen brauchen? Nein, ich darf sie nicht fortschicken. Sie soll nur mit mir beisammen bleiben. Unterdessen zauste sie mich zärtlich und sagte: »Höre mal … Urteile selbst: Ist das nicht lustig? Jetzt sind wir zwei, und in sieben Monaten werden wir drei sein. Wie?« Aber hier irrte sie, wie sie in vielem geirrt hatte: Nach sieben Monaten waren wir wie früher zwei – ich und mein Sohn. Sie war bei der Geburt gestorben. Es tut mir sehr leid um sie. 70
Das Ewig-Weibliche
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er Abend begann sehr gemütlich: Ich saß bei Wera Nikolajewna, und wir plauderten lebhaft über Literatur, von der Liebe, vom Meer, von den Vorzügen gebratener Pasteten über gebackene, von der Kunst, Parfüms zu mischen, von groben Leuten, die einen auf der Straße belästigen, und von der absoluten Möglichkeit eines jenseitigen Lebens. Die Flurglocke unterbrach meine Erklärung darüber, daß gepreßte Ikra ² mit Sardinen und Zitronensaft auf keinen Fall mit Zwetschgenmarmelade zu vergleichen sei. »Hm … Es läutet … Das ist wahrscheinlich meine Schulfreundin. Ich habe sie zwölf Jahre nicht gesehen.« Wenn sie nur der Teufel holte, dachte ich. Und laut fuhr ich fort: »Ich kannte sogar Leute, welche sie mit Schnittlauch und Petersilie überstreuten.« »Die Freundin?« fragte die Hausfrau verwundert. »Die Ikra!« »Welche?« fragte die Hausfrau zerstreut wieder zuhörend. »Die gepreßte!« Ich stellte eifersüchtig fest, daß ihre Aufmerksamkeit schon nicht mehr mir galt, sondern dem Flurzimmer, von wo man das Geräusch vom Ablegen der Überschuhe und das Rascheln vom Abnehmen eines Mantels hörte. »Nun also, da ist sie ja!« sagte die Hausfrau, vor Freude strahlend. »Ach, du mein Gott … Zwölf Jahre! Wir waren 71
doch noch Mädchen, als wir auseinandergingen. Von der siebten Klasse …« Zuerst kam etwas Dunkel-Zimtfarbenes in das Zimmer geflogen, dann bewegte sich etwas Grünlich-Blaues darauf zu, dann vereinigten sich diese beiden wirbelnden Wasserhosen, flossen ineinander und bildeten eine wilde, sich stürmisch um die eigene Achse drehende Wasserhose, an der man außer huschenden Händen, Gewinsel und Schmatzen nichts feststellen konnte: Ein abstoßendes Schauspiel! Bei den Küssen war der Anlauf so lebhaft, daß das Beharrungsvermögen noch lange nicht aufhören konnte. Aber in der dritten Minute tat die Freundin das, was man in der Sprache des Rennstallbesitzers »ausbrechen« nennt, und blieb bei einem Tempo zurück: Die Hausfrau aber schmatzte zu derselben Zeit, da sich die Wangen der Freundin von ihren Lippen losgelöst hatten, und um die Hausfrau für diesen blinden Luftkuß zu entschädigen, gab die Freundin den Kuß eifrig zurück, aber in diesem Moment hatte sich die Wange der Hausfrau ihrerseits schon wieder von den Lippen der Freundin zurückgezogen und wieder entluden sich die Küsse, wie Petarden, unschädlich in der Luft. Endlich floß die Wasserhose wieder in ihre Grundfarben auseinander: dunkel-zimtfarben und grünlich-blau. Die Freundinnen schnaubten und pusteten wie Rennpferde. Wie auf ein Kommando nahmen sie dann aus ihren Täschchen rote Stifte, malten sich die Lippen, puderten die Nasen und tauschten nochmals freudige Blicke. Erst dann wandte sich ihre Aufmerksamkeit mir zu, dem Beschei72
denen, Vergessenen, der von dem Lärm und Krach schier blind und taub geworden war. »Njura, darf ich dir meinen guten Freund vorstellen!« Die Freundin sah mich mit einem zerstreuten Blick kurz an und warf mir, wie einem Hund den Knochen, hin: »Sehr angenehm.« »Ich danke!« kicherte ich selbstzufrieden und froh darüber, daß sie überhaupt von mir Notiz genommen hatten. »Was haben Sie gesagt?« »Ich sage, daß Wera Nikolajewna mir schon viel von Ihnen erzählt hat.« Das war gelogen. Ich log deshalb, damit sie mir wenigstens ein bißchen Aufmerksamkeit schenkten. Es gibt kein gräßlicheres Schauspiel, als wenn sich zwei Freundinnen nach langer Trennung wieder treffen. Bei einem solchen Anblick erstarrt einem das Blut, und das Hirn dreht sich selbst bei dem standhaftesten Menschen. Sie setzten sich zu beiden Seiten von mir auf den Diwan, und von diesem Augenblick an verwandelte ich mich in ein Nichts, in ein Diwankissen, über das hinweg man sich unterhalten kann, ohne daß man es überhaupt bemerkt. Sie starrten sich entzückt an, ihre Hände vereinigten sich über mir und ruhten dann friedlich auf meinen sanften Knien. »Das ist sie also, kennst du sie nicht?« girrte die Hausfrau. »Ja-a.« »Erinnerst du dich an Kusik?« Die beiden lachten einmütig. 73
»Und ob! Mes dames, bemühen Sie sich. Ha-ha ! Aber wo ist Lily jetzt?« »Aber weißt du denn das nicht? Sie hat doch Sawoss Brykin geheiratet.« »Was sagst du? Das hätte ich nicht gedacht. Und Schuschutotschka?« »Er ist nach Wladiwostok weggefahren. Alik ist im Krieg gefallen.« »Erinnerst du dich an Mika im Kasten?« »Ha-ha-ha!« »Welchen Mika?« fragte ich mit gespieltem Interesse. »Ach, das brauchen Sie nicht zu wissen. Es ist nicht ganz anständig. Kostja Limontschik ist so interessant geworden, daß du ihn nicht wiedererkennst. Er spielt Violoncello.« »Was sagen Sie?« stöhnte ich, als hätte ich ein brennendes Interesse an dem unsichtbaren Virtuosen Kostja. »Wirklich, er spielt Cello? Wer hätte das gedacht? Ei-ei!« »Kennen Sie ihn denn?« »Mm … Nein.« »Gut, dann mischen Sie sich auch nicht in unsere Angelegenheiten. Wo ist Grigorij Kusmytsch jetzt?« »Er wohnt immer noch auf der Poststraße 82.« Unbekannte Namen, Familien und Adressen zogen an mir vorüber, als ob ich neben einem Stier stünde, der beim Lesen eines alten Telefonbuches wütend geworden war. Von mir nahmen sie überhaupt keine Notiz mehr. Die Gesichter glühten, die Augen funkelten, und von den Lippen kamen, abwechselnd mit Gelächter, Dutzende von Alikows, Schuschutotscheks und Grigorij Kusmytschs. Aber 74
ich bin nicht der Mann, der eine Vernachlässigung der Aufmerksamkeit, die seiner hohen Persönlichkeit zukommt, ruhig hinnimmt. Ich langweilte mich, man ignorierte mich – aber gleich wird es lustig werden, und man wird mich mit fieberhafter Aufmerksamkeit beehren! Ich schlich mich innerlich heran und lauerte auf die geeignete Sekunde zum Sprung. »Wo ist denn jetzt der Student, der dir – erinnerst du dich? den Hof gemacht hat?« »Adja Berss?!« »Adja Berss?!« schrie ich dazwischen. »Ist es denn möglich, daß Sie von ihm nichts wissen?« »Kennen Sie ihn?« »Und ob! Wir waren doch Freunde! Er tut mir so leid, daß ich es unmöglich erzählen kann.« »Was ist mit ihm?« »Was? Er hat sich verbrüht. In Seife.« »In welcher Seife?« »Das ist ein ganzer Roman. Kennen Sie Kostja Drjapkin?« »Nein.« »Kein Wunder. Also, dieser Kostja hatte eine Seifenfabrik …« »Ziehen Sie die Geschichte nicht in die Länge, mein Gott!« »Einmal sah er mit Adja den Kessel an, wo die Seife kochte. Adja bekam unverhofft das Übergewicht, fiel nach unten! Plumps! Ich bin bis heute noch nicht von diesem Alpdruck losgekommen. Sobald ich mich wasche, sehe ich 75
die Seife an – ob ich nicht etwa einen Knopf oder ein Büschel Haare finde.« »Wie schrecklich! Ich kann mir den Schmerz seiner Schwester Ludmilotschka vorstellen.« »Ihr macht das nichts mehr«, sagte ich mit schmerzlichem Kopfnicken. »Sie ist zerquetscht worden.« » ??!!« »Von einer Heumähmaschine. Auf dem Gute des Grafen Keller. In betrunkenem Zustand.« »Was, Unsinn! Hat Ljuda etwa getrunken?«»Wie ein Pferd. Alkoholismus. Vererbung. Zusammen mit Schuschutotschek hat sie getrunken.« »Kennen Sie auch Schuschutotschek?« »Wie meine fünf Finger. Er ist in Charbin gehenkt worden. Hatte dort einen Aufstand der Tschungusen organisiert. In einer Opiumhöhle nahm man ihn gefangen. Er hat sich gewehrt wie ein Löwe. Sieben Mann.« Ich hatte erreicht, was ich wollte. Die Aufmerksamkeit der Freundinnen war ausschließlich mir zugewandt. Ihre Mäulchen hatten sich infolge ihrer gespannten Aufmerksamkeit zutraulich geschlossen, und ihr Atem ging stürmisch. Die Trauer und Tragik, mit denen die letzten Minuten einer ganzen Reihe von alten Bekannten der beiden Freundinnen umgeben waren, wurden bis zu einem gewissen Grade durch das packende Interesse an der Romantik der Fabeln abgelöst. Es ging auch nicht ohne leichtsinnige Elemente ab: Auf der Szene erschien eine Milja in einem Café chantant, die 76
jetzt mit ihrem Partner, einem Neger, Twostep tanzt. Ich wurde die Seele der kleinen Gesellschaft: Alles wußte ich, über alle urteilte ich, als ob ich ihr bester Freund und Vertrauensmann wäre. So herrschte ich etwa eine halbe Stunde lang. Nach einer Pause, die dem letzten Opfer, dem auf tragische Weise bei dem Brand eines Kinos untergegangenen Lehrer der deutschen Sprache, Kusik, gewidmet war, seufzte die Hausfrau und fragte: »Erinnerst du dich noch, Katina, an Lipowka! Was ist mit ihm?« »Ich weiß es«, fiel ich sofort ein. »Er hat eine Zigeunerin aus dem Schischkinschen Chor geheiratet, und diese hat ihn aus Eifersucht vergiftet. Erst dieser Tage. Mit Quecksilber. Sie hat es ihm als Pulver verabreicht. Mit Kohl. Wie schrecklich! Das gibt einen Sensationsprozeß!« Die beiden Freundinnen sahen mich aufmerksam an. »Wen«, fragten sie einstimmig. »Wer – Wen?« »Wen hat man vergiftet?« »Da diesen … Lipowka, wie Sie ihn – hm – nannten. Katinow Lipowka hat man vergiftet. Einen solchen Menschen vergiften, was? Er war ein Bild von Gesundheit. Und gesungen hat er — wie eine Grasmücke.« »Wer?« »Dieser da, mein Gott … Lipowka!« Jetzt stand die Hausfrau vom Diwan auf, mit einer Miene, die für mich nichts Gutes und Freudiges versprach. »Wissen Sie, was Lipowka ist?« 77
»Das … Er … So ein … Lipowka war sein Beiname. So ein Brünetter.« »Hören Sie, Sie! So ein Frechling sind Sie! Lipowka, das ist das Gut von Katina, und das konnte keine Zigeunerin aus dem Chor heiraten, und man konnte es nicht vergiften! Wie eine Grasmücke hat er gesungen, daß Sie doch gleich verschwinden möchten! Ich habe schon lange bemerkt, daß Sie alle so leicht ins Jenseits befördern. Jetzt verstehe ich …« »Jag ihn fort«, rief die Freundin wütend. »Er soll schauen, daß er weiter kommt!« »Wann fährst du wieder weg, Njura?« fragte die Hausfrau. »In zehn Tagen.« »Also, Sie gewandter junger Mann! Gehen Sie fort und lassen Sie sich vor Ablauf von zehn Tagen nicht mehr sehen. Ich verurteile Sie zu dieser Verbannung.« Ich lachte zynisch, warf den Damen eine Kußhand zu und mit dem Ruf: »Grüße von mir an Schuschutok«, ging ich in die Diele. Als ich meinen Mantel anzog, hörte ich: »Ist das ein frecher Mensch! Ohne ihn werden wir uns jetzt endlich aussprechen können. Höre, wo ist jetzt Dinotschka Kaplan?« »In Kursk. Sie hat schon vier Kinder. Ha-ha-ha! Erinnerst du dich an das Apfelgelee beim Picknick .. .?« »Erinnerst du dich . . .?« »Erinnerst du dich . . .?« Die plumpe, große Maschine der Erinnerung puffte und stampfte und führte die entzückten Freundinnen in nebli78
ge Fernen. »Ach, so ist unser Leben!« Lauter Kleinigkeiten, alles Verwesung, lieber Leser …
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Der Falter
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or acht Jahren saß ich gerade über einem riesigen Hauptbuch, da erhielt ich folgendes Billett: »Lieber Sergej Iwanowitsch! Ich bitte Sie bei allen Heiligen – kommen Sie sofort zu mir. Vielleicht werden Sie mir nicht zürnen, wenn Sie erfahren, daß ich Sie zum letzten Male von Ihren Geschäften wegziehe. Ihre Freundin Polina Tscherkessowa.« Es war zwölf Uhr mittags. Herrgott – dachte ich unzufrieden – was will denn diese Närrin von mir? Ich muß wohl hingehen. Als der Buchhalter mein Ersuchen um »ein Stündchen« Urlaub hörte, zerbiß er eine unsichtbare Zitrone und machte die entsprechende Miene dazu, dann sagte er trocken: »Wozu müssen Sie jetzt mitten unter der Arbeit weglaufen? Gehen Sie, aber um ein Uhr müssen Sie unter allen Umständen wieder dasein. Sie wissen doch selbst, daß man sich vor lauter Arbeit nicht mehr auskennt.«
Polina Tscherkessowa hatte ein winziges Quartier in der Tiefe eines großen Mietshauses gemietet und wohnte vollkommen allein in zwei Zimmern. »Guten Tag«, sagte ich grüßend. »Was für ein Erdbeben hat sich bei Ihnen ereignet?« Sie lächelte blaß und ließ mich auf einer kleinen Ottomane niedersitzen. Sie setzte sich mir gegenüber, schaute auf ihre Hände herunter und sagte: »Ich habe Sie auf 80
eine Minute hergebeten. Ich weiß, daß Sie immer gut zu mir gewesen sind, und ich denke, Sie werden es nicht als Aufdringlichkeit ansehen, wenn ich Sie im stillen meinen Freund nenne. Wie Sie wissen, habe ich überhaupt keine Freunde … Also. Ich wollte zum letzten Male das Gesicht eines Freundes sehen.« »Wie? Zum letzten Male?« fragte ich verwundert. »So ist es. In wenigen Minuten, wenn Sie weggegangen sind, werde ich schon nicht mehr auf der Welt sein.« Ich sprang auf und packte sie bei der Hand. »Sind Sie denn noch bei Sinnen?!« Sie lächelte still vor sich hin, nickte mit dem Kopf und zeigte auf eine Schublade ihres Schreibtisches. »Das Gläschen ist schon hergerichtet … Ich hoffe, Sie werden mir nicht abreden oder mich hindern wollen. Mein Entschluß ist kein plötzlicher, sondern ich habe ihn schon seit langer Zeit gefaßt.« »Ja, warum denn?« schrie ich erzürnt. »Was für ein Unsinn? Was ist denn vorgefallen?« »Nichts Besonderes. Schwermut, Einsamkeit vor allem. Ich denke an den Tod wie an eine Erlösung. Und dann, wissen Sie was? Wir wollen die letzten Minuten nicht mit faden, leeren Überredungsversuchen und Streitereien vergiften. Mir ist jetzt so gut und leicht.« Da steht ein Mensch am Ufer eines stillen Flusses, atmet den Duft des Grüns, ergötzt sich ruhig am Anblick der vom Sonnenlicht übergossenen Flur und eines am Horizont auftauchenden blaugrünen Waldes. Auf einmal schleicht sich ein anderer von hinten heran, holt aus und schlägt den 81
Betrachter mit einem Stock in den Nacken … Momentan war ich ungefähr in der Lage dieses aus dem Gleis geworfenen Betrachters des Lebens. »Lassen Sie es gut sein!« sagte ich unentschlossen. »Sie sind einfach jetzt in schlechter Stimmung, aber das wird vergehen, und alles wird wieder gut werden. Ein gesundes, interessantes, junges Mädchen – und auf einmal solche Kümmernisse. Daß Sie sich nicht schämen?! Wollen Sie – gehen wir heute abend ins Theater?« Sie lächelte. »Theater … Ach, wie Sie mich auch gar nicht verstehen! Jetzt sind Theater, Menschen und alles Menschliche so weit, weit weg von mir. Stellen Sie sich vor, mich interessiert schon ein wenig – was dort ist.« Ich wußte ganz und gar nicht, welchen Ton ich anschlagen sollte. Abreden. Sie antwortete auf solche Versuche nur mit nachsichtigem Kopfnicken. Alles für Scherz nehmen und nach einer Plauderei von fünf Minuten über Kleinigkeiten weggehen – und auf einmal begeht sie letzten Endes nach meinem Weggang eine nicht wieder gutzumachende Dummheit! Es ging mir sogar der unbestimmte, formlose Gedanke im Kopf herum, auf die Polizei zu gehen und den Revieraufseher von allem zu unterrichten. »Genug!« schrie ich grob. »Das sind alles Dummheiten! Wir werden sie gleich erledigen.« Ich sprang zum Schreibtisch, riß die Schublade heraus, packte ein Fläschchen, welches das Etikett einer Apotheke 82
trug, und warf es durch das offene Fenster auf das Pflaster des Hofes. »Was tun Sie?« rief sie erschrocken, beruhigte sich aber sofort wieder und sagte: »Ach, Sie Kindskopf! Sie werden doch nicht glauben, daß es von diesem Fläschchen abhängt. In zehn Minuten habe ich ein anderes – es sind ja nur ein paar Schritte zur Apotheke.« »Ich werde in die Apotheke gehen und dort sagen, daß man Ihnen nichts geben soll.« »Alle Apotheken werden Sie nicht ablaufen können!« Leicht und kampflos machte das Mitleid in meinem Herzen dem Zorn und der Abneigung gegen diese Frau Platz. Mein Herz wurde hart wie Stein. Ich verstehe diese Menschen nicht, dachte ich. Wenn du dich vergiften willst, so tue das ohne Spektakel, ohne Benachrichtigung und ohne bengalische Beleuchtung. Nein, sie muß unbedingt vor dieser Tat noch Zicken machen und die Freunde und Bekannten benachrichtigen – Hätte sie doch gleich Kärtchen mit Goldrand herumgeschickt: Polina Wladimirowna Tscherkessowa bittet Freunde und Bekannte zur Soiree aus Anlaß ihres bevorstehenden Selbstmordes durch Vergiftung. Sie saß wie vorher da, den Kopf nachdenklich auf die Hände gestützt und schaute auf die Wand. Weggehen, ging es mir durch den Kopf. Aber wie? In einem gewöhnlichen Fall bereitet das gar keine Schwierigkeiten. Man sitzt eine Weile da, dann rührt man 83
sich, sieht beunruhigt auf die Uhr, steht auf und sagt: »So, jetzt gehe ich« oder »Nun, treten wir an, damit …« »Wohin wollen Sie?« sagt der Hausherr. »Bleiben Sie noch da.« »Nein, ich muß. Ich sitze sowieso schon zu lange hier herum. Morgen, hoffe ich, sehen wir uns im Klub oder im Theater … Ja?« Du stehst zufrieden auf, und das Unangenehme der Trennung ist durch die Aussicht auf das morgige Wiedersehen gemildert. Aufseufzend ging ich zu Polina hin. »Nun, versprechen Sie mir, bis zum Abend zu warten? Geben Sie mir Ihr Ehrenwort?« »Das Ehrenwort muß man halten«, sagte sie achselzukkend. »Aber ich traue mich nicht, es zu geben. Wozu diese Aufschübe. Kein Mensch in der Welt kann mich von meinem Plan abbringen. Erlauben Sie … Sie haben es vielleicht eilig ins Geschäft? So gehen Sie. Wir verabschieden uns, und ich gebe Sie frei.« »Verabschieden wir uns«, echote mein Herz. »Nein, ich war nie ein Mörder! Ich kann sie nicht allein lassen.« ›Auch das noch ‹, zischte die giftige Stimme des Buchhalters. ›Das Debitorenverzeichnis kann also warten? Soll es vielleicht der Direktor machen? Oder gar der Schweizer? Wenn es Ihnen so unendlich schwer ist, Dienst zu tun, warum zwingen Sie sich dazu? Es wäre viel ehrenhafter, wegzugehen und das Geschäft nicht zu schädigen. ‹ Zwei, drei, vier Minuten vergingen in peinlichem durch die Seele ziehendem Schweigen. 84
Ach, ich muß etwas sagen, um diese Närrin abzulenken! »Haben Sie Pragin wieder einmal gesehen?« fragte ich. »Was? Pragin? Schon lange nicht. Er scheint weggefahren zu sein. Man sagt, daß es mit seiner Frau nicht ganz stimmt. Er war wieder jeden Tag bei dieser Deutschen. Ist er etwa mit ihr abgereist? Oder allein?« Ich antwortete mit überflüssiger Bereitwilligkeit: »Ich weiß es nicht, aber ich kann es erfahren. Wollen Sie, daß ich mich morgen erkundige und es Ihnen mitteile? Einverstanden?« »Nein, wozu auch … Ich brauche das nicht. Und dann -morgen!« Sie lächelte ironisch. »Sie scheinen zu denken, daß ich die ganze Zeit über gescherzt habe?« »Ach, reden Sie mir nicht davon!« Ich schaute mit bekümmerten Blicken im Zimmer herum und wandte meine Aufmerksamkeit einem feuchten Fleck zu, der in der Ecke der Wand an den Tapeten zum Vorschein kam. Soll ich sie darauf aufmerksam machen und ihr einen Wohnungswechsel anraten? Sie wird natürlich wieder ihr verdammtes Lächeln aufsetzen und sagen: »Wozu?« Die Wanduhr schlug halb drei. Es war ein grausamer Gedanke, aber er ging mir durch den Kopf: »Du hast es gut: Du hast beschlossen, dich zu vergiften, und bist ruhig! Du sitzest da … Du brauchst nirgendwohin zu eilen, und kein Mensch wird dir etwa« sagen oder einen Skandal machen … Ich aber sitze immerhin mit meinem Kopf in diesem verfluchten Leben, und 85
morgen wird mir für mein heutiges Fehlen dieser Kopf so gewaschen, daß mir graust, wenn ich daran denke.« »Seien Sie doch nicht so traurig«, sagte die werdende Selbstmörderin zärtlich. »Wollen Sie Tee? Der Samowar steht angeheizt da.« »Ach, Tee wollen Sie mir geben!« schrie ich nervös. »Warum? Tee ist immerhin etwas Gutes.« Sie ging in das andere Zimmer und kam mit zwei Gläsern Tee zurück. Mir gingen nur harte, rein mechanische Gedanken durch den Kopf. Sie selber will sich vergiften, sie hat sich zum Sterben bereitgemacht und trinkt Tee. Und ich habe mich im Geschäft schon so verspätet, daß es sich gar nicht mehr lohnt, hinzugehen! Ich bekomme da für meine Verspätung eine Mordsgeschichte, und du vergiftest dich vielleicht überhaupt nicht. Das ist doch merkwürdig. Ein Selbstmord ist eine so intime Angelegenheit, daß es mindestens eine Dummheit und Taktlosigkeit ist, in dieser Stunde Gäste einzuladen und sich mit Teetrinken zu beschäftigen! Überdies wäre es am Platz gewesen, wenigstens die elementarste Einsicht und vor allem Takt zu haben. Nachdem ich sie gebeten hatte, bis zum Abend zu warten, könnte sie mir das doch versprechen, damit ich beruhigt mit reinem Gewissen fortgehen kann. Wenn du dann dein Wort nicht hältst, so ist das deine Sache. Aber, zum Teufel, mich durftest du doch nicht in eine solche Lage bringen, daß ich unmöglich weggehen kann und das Dasitzen vollkommen aussichtslos ist. 86
»Polina Wladimirowna!« sagte ich leise und eindringlich. »Sie sind grausam. Denken Sie außer an sich selbst doch auch an mich. In welche Lage bringen Sie mich? Was haben Sie von mir erwartet? Sie konnten doch unmöglich denken, daß ich nach Kenntnisnahme von Ihrem Entschluß kaltblütig mit dem Kopf nicken und sagen werde: ›Ach so? Nun, was ist da zu machen? Nachdem die Sache einmal beschlossen ist, soll es auch dabei bleiben. Vergiften Sie sich, aber ich habe Eile ins Geschäft zu kommen, der Buchhalter wartet auf mich. Ich küsse Ihr Händchen, mache einen Kratzfuß und gehe, indem ich Sie zurücklasse und Sie sich in Ihr Glas irgendein tödliches Gift eingießen. ‹ Ich kann das nicht tun!« »Verzeihen Sie, um Gottes willen! Ich weiß, daß Sie das aufregt, aber ist denn mein letzter Wunsch, vor dem Sterben das Gesicht eines Freundes zu sehen, für Sie so schwer? Auf Ihr Gewissen kommt ja nichts, da ich doch schon entschlossen bin, es zu tun. Ich habe Sie jetzt gesehen und mit Ihnen gesprochen – jetzt können Sie ruhig fortgehen in der Überzeugung, daß Sie einem Ihnen nahestehenden Menschen die letzten Minuten verschönt haben.« Ist das ein Klotz, dachte ich in giftiger Wut. Sie senkte den Kopf und wischte ein Stäubchen von ihrem Rock ab; dann breitete sie auf den Knien ihr Taschentuch aus und begann es aufmerksam und sorgfältig glatt zu streichen. »Wozu streichst du dein Taschentuch glatt, warum putzt du dein Kleid, wenn du die Absicht hast, zu sterben? Was sind das für Eitelkeiten?« 87
Ich muß gehen, beschloß ich innerlich. Es fiel mir nichts ein, womit ich zur Tagesordnung übergehen konnte. Also, ich gehe. Das ist öde und entspricht nicht dem Augenblick. ›Nun, leben Sie wohl, möge Ihnen das Himmelreich beschieden sein? ‹ Das wäre der logischste Wunsch gewesen, aber wer spricht so? »Also«, sagte ich aufstehend. »Ich gehe, ich gehe in der festen Überzeugung, daß Sie sich anders besinnen und diesen Gedanken verwerfen. Auf Wiedersehen.« »Leben Sie wohl!« sagte sie nicht weniger bedeutungsvoll. »Warten Sie, ich will Ihnen ein Andenken an mich geben. Da, vielleicht diesen Ring. Er wird an Ihren kleinen Finger passen. Immerhin werden Sie manchmal an mich denken …« Ich schmiß den Ring auf den Boden, griff mir an den Kopf und stürmte laut stöhnend auf den Gang: »Ich kann nicht! Gehen Sie verloren, gehen Sie zugrunde mit Ihren Dummheiten, mit Ihren Ringen – ich kann nicht mehr! Ich bin erledigt!« Als ich auf die Straße gerannt war, ging ich langsamer. Beim Gehen dachte ich: Hätte ich etwas anderes tun können? Und wenn ich bis zum Abend dagesessen hätte; es hätte keinen Sinn gehabt. Nachdem sie der Sache so ruhig gegenübersteht, warum soll ich leiden und mich Unannehmlichkeiten aussetzen? Eine Unannehmlichkeit kommt: ›Natürlich, ich habe es ja gewußt. Sie haben um eine Stunde gebeten und sind vier fortgeblieben. Ich denke, Sie bleiben noch bis Ende des Monats, aber dann …‹ 88
Unmerklich glitt ich mit dem Kopf in die Tiefe kleinlicher irdischer Gedanken und Rätsel über das mich erwartende Getümmel. Das war vor acht Jahren. Gestern aber teilte mir ein Freund unter anderem in einem langen Briefe mit: »Erinnerst du dich an unsere gemeinsame Bekannte Polina Tscherkessowa? Sie hat sich vor zwei Wochen vergiftet. Man hat sie tot aufgefunden …«
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Die Blinzler
O
bwohl Kurzsichtigkeit ein physischer Mangel ist und Scherze darüber als unangenehm empfunden werden, denke ich doch, daß ich über die Kurzsichtigkeit einige Worte sagen darf. Ich werde bemüht sein, nicht zu kichern und über die Unglücklichen, von der Natur Benachteiligten nicht zu witzeln, um so mehr, als ich selber sehr kurzsichtig bin und deshalb schon viele Unannehmlichkeiten und Kränkungen erdulden mußte, von denen die Weitsichtigen keine Ahnung haben. Überhaupt können sich die Weitsichtigen nicht vorstellen, was Kurzsichtigkeit ist. Die Kurzsichtigen aber schauen auf die Weitsichtigen wie auf etwas Wunderbares, Unverständliches, Rätselhaftes. Eines Tages hörte ich so nebenbei folgendes Gespräch: »Sehen Sie die Katze dort auf dem Dach? Was macht sie denn an der Dachrinne?« »Eine Katze? Ich sehe nicht einmal ein Dach!« »Das sehen Sie nicht? Da, dieses große, rote.« »Ich sehe irgend etwas Rötliches, aber ich hielt es, offen gestanden, für eine Flagge.« »Flagge?! Sie tun wahrscheinlich nur so. Sie halten mich einfach zum besten.« »Und ich bin, offen gesagt, überzeugt, daß Sie sich über mich lustig machen. Auf keinen Fall kann ich verstehen, wie es möglich ist, auf eine solche Entfernung eine Katze zu sehen!« 90
»Ja? Und wenn Sie mich totschlagen, ich kann es nicht verstehen, wie man auf diese Entfernung eine Katze nicht sehen kann. Sie ist da, das ist ganz klar. Sehen Sie, sie kratzt irgend etwas mit der Pfote …« »Ha, ha! Vielleicht hat sie einen Floh gefangen? Sehen Sie den Floh nicht? Geben Sie jetzt zu, daß Sie die Katze erfunden haben?« So redeten sie lange in verschiedenen Sprachen. Oft haben die Kurzsichtigen die merkwürdige Eigenschaft, daß sie ihren Mangel sorgfältig verbergen wollen. Daraus entstehen viele Mißverständnisse, und sie kommen oft in eine peinliche Lage. Sie sitzen in einem Restaurant und bemerken auf einmal irgendeinen neuen Gast, der soeben das Lokal betreten hat. Sie sind nicht sicher, ob Sie ihn kennen oder nicht. Sein Gesicht zerfließt in der Ferne in einen weißen Nebelfleck, auf dem undeutlich ein Auge und so etwas wie eine schwarze Binde quer über dem Gesicht erscheint. Jetzt geht das qualvolle Überlegen an: »Kenne ich ihn oder nicht?« Der Zweifel klärt sich: Der Ankömmling hat Ihnen mit der Hand grüßend zugewinkt, und Sie ändern in dem Gefühl, daß er gerade auf Sie hinschaut, gedankenlos Ihren Gesichtsausdruck in einen freundlich-freudigen, springen von Ihrem Platz auf und gehen auf ihn zu. Je näher Sie aber dem Herrn kommen, um so mehr bemerken Sie, daß auf seinem nebeligen, wie platt geschlagenen Gesicht ein zweites, vorher nicht bemerkbares Auge erscheint und daß die schwarze tragische Binde, die Ihnen 91
als das Resultat irgendeiner Körperverletzung erschienen war, in Wirklichkeit ein dichter schwarzer Schnurrbart ist. Auf zwei Schritt Entfernung von ihm fangen Sie schon an zu zweifeln, ob Sie ihn kennen, und nach einem weiteren Schritt sind Sie davon überzeugt, ihn das erste Mal im Leben zu sehen. Auf Ihrem Gesicht steht aber noch das freundlich-freudige Lächeln von vorher, und Sie sind nicht dazu gekommen, es zu vertreiben. Der Unbekannte hat indessen Ihre Haltung schon bemerkt, besonders Ihr durch seine Zwecklosigkeit einfältig-freudiges Lächeln, und er schaut auf Sie mit dem Gefühl des Erstaunens und des Nichtverstehens. Um irgendwie dieser schwierigen und dummen Situation zu entkommen, schauen Sie, immer das gleiche blöde Lächeln auf dem Gesicht, ziellos in die Ferne und winken irgendeinem grüßend zu, obwohl außer der Vortüre niemand in der Nähe ist. Sie gleiten an dem Unbekannten vorüber, und in Ihrer Verwirrung trinken Sie am Büfett ein Glas Wodka, das nach dem Gebäck mit Schlagsahne, das Sie soeben gegessen haben, abscheulich schmeckt. Noch schwieriger wird die Situation für Sie, wenn Sie in ein Restaurant gehen, das gedrängt voll ist. Während Sie durch die langen Stuhlreihen gehen, wo Leute ohne Augen, Wangen und Nasen sitzen, sehen Sie, daß einzelne von ihnen sich bewegen und Sie grüßen. Um nicht unhöflich zu erscheinen und nicht in eine schiefe Lage zu kommen, nicken Sie leicht mit dem Kopf, Sie machen ein Zwischending zwischen einem Gruß und dem Abschütteln einer Fliege, die sich auf Ihre Lippe gesetzt hat. 92
Auf dem Gesicht aber gleitet nach wie vor dieses gedankenlose, unbestimmte Lächeln umher, und Sie möchten so schnell wie möglich an diesem verfluchten Publikum mit seinen gewaschenen weißen Flecken an Stelle der Gesichter vorbeikommen, um so mehr, als Sie hinter sich eine befreundete Stimme hören, die Sie beim Namen ruft. Sie wollen entwischen, aber dieselbe Stimme ruft Sie nochmals laut und eindringlich und – jetzt kommt der tragischste Moment: Sie wenden sich um und schauen mit blödem Lächeln auf die ineinanderfließenden Stuhlreihen und überlegen – von welchem Tisch ist der Ruf gekommen? Für jeden Fall nicken Sie mit dem Kopf freundschaftlich einem dicken Brünetten zu, der gerade etwas wie einen gelben Fleck zum Munde führt (Wein, Pfannkuchen, Taschentuch?). Zu derselben Zeit hält man Sie am Rockschoß fest und sagt: »Hier sind wir, hier! Ist das ein sonderbarer Kauz. Siehst du uns denn nicht? Komm zu uns!« »Siehst du uns denn nicht?« Natürlich sehe ich nicht! O Gott … Sicher haben schon viele das Gefühl kennengelernt, das man empfindet, wenn einem der Zwicker auf den Boden fällt und man in die Lage eines Menschen versetzt wird, dem die Augen verbunden sind. Ein Mensch, dem der Zwicker heruntergefallen ist, springt, wie von einer Biene gestochen, sofort von diesem Platz weg, weil er fürchtet, den Zwicker zu zertreten. Er geht in die äußerste Ecke des Zimmers, kniet nieder und fängt an, vorsichtig zu kriechen, wobei er mit den Hän93
den auf dem schmutzigen Boden herumkratzt. Er würde sich beim Suchen leichter tun, wenn er seinen Zwicker auf der Nase hätte, aber zuerst muß er ihn finden. Aber einen Zwicker zu finden, wenn man ihn nicht auf der Nase hat – ist äußerst mühsam und kompliziert. Gut ist es, wenn ein Weitsichtiger zugegen ist. Er findet den Zwicker mit blitzartiger Schnelligkeit, dafür läßt er sich aber die Gelegenheit nicht entgehen, seinen Freund und Bruder – einen Menschen wie er selbst –, mit dem Gift herablassender Verachtung zu begießen und Mitleid zu heucheln: »Ja, wo suchst du denn! Hier ist er! Ach du! Blindes Huhn!« Ich habe oft bemerkt, daß die Weitsichtigen uns verachten, auch bei Gelegenheit nicht abgeneigt sind, ihren Scherz mit uns zu treiben und uns auszulachen. Ein Bekannter schleifte mich ins Theater und machte mich zum Ziel der erbärmlichsten Scherze und Mystifikationen. Und ich habe es nicht einmal gemerkt. Anfangs wußte er nicht, daß ich kurzsichtig bin, und kam nur durch einen einfachen Vorfall darauf. In der Pause nach dem ersten Akt standen wir in der Loge des ersten Ranges, und mein Bekannter sah auf das Publikum im Parterre hinunter. Ich stand neben ihm und suchte mit meinen Augen gleichmütig den trüben weißen Fleck von Gesichtern einzufangen, der unruhig an uns vorüberfloß. »Sehen Sie«, sagte mein Bekannter und packte mich am Arm. »Da ist der neue französische Gesandte!« – »Wo?« »Da, sehen Sie – unten, in der Nähe der Loge, wo die dekolletierte Dame in der ersten Reihe sitzt.« 94
Ich wollte schon gestehen, daß ich weder die Dame noch die Loge sähe, aber die Furcht vor taktlosen Bemerkungen und Gesprächen hielt mich davor zurück. Ich lehnte mich über die Barriere, warf gedankenlos meinen Blick auf den herabgelassenen Vorhang und rief mit gespielter Lebhaftigkeit: »Ah, ich sehe, ich sehe, da ist er!« »Aber doch nicht da! Sie schauen ja gar nicht dorthin! Links, in der Nähe der zweiten Loge!« Ich wandte ergeben meinen Kopf nach links und bemüht, mein zielloses Schauen vor ihm zu verbergen, sagte ich: »Aha, da ist er. Jetzt habe ich ihn erkannt.« »Merkwürdig! Er ist eben auf den Gang hinaus verschwunden. Wie haben Sie ihn da erkennen können?« »Von wem sprechen Sie denn?« fragte ich gequält. »Von dem Großen mit den weißen Hosen, der in der Nähe des Orchesters steht?« »In weißen Hosen?« ächzte mein Nachbar. »Reiben Sie sich doch die Augen aus! Dort steht ein Herr, aber die Farbe seiner Hosen kann ich nicht sehen, weil ihn eine Dame mit einem weißen Kleid verdeckt. Hören Sie! Sie sind verdammt kurzsichtig!« Ich bestritt das ganz energisch, und meine Grobheit überzeugte ihn. Er schwieg. Nach einer Minute schaute er auf die unten brodelnde Menge und sagte: »Da geht Ihr Bekannter Petruchin. Er grüßt Sie. Warum antworten Sie ihm denn nicht?« 95
Ich beugte mich über die Barriere, nickte unbestimmt mit dem Kopf, grüßte, lächelte. »Schauen Sie« – mein Bekannter klopfte mir auf die Schulter – »die Witwe Muraschkin mit ihren Töchtern, da, sehen Sie, in der Loge. Sie sagt etwas über Sie … Warum droht sie Ihnen vorwurfsvoll mit dem Finger?« Wahrscheinlich, dachte ich, habe ich sie nicht gegrüßt. Die Muraschkins verzeihen Gleichgültigkeit oder Hochmut nie. Ich grüßte auch die Muraschkins, obwohl ich sie nicht sah. An diesem Abend rührte mich mein Freund durch seine Sorgsamkeit: Unablässig schaute er nach Leuten aus, die nach seiner Behauptung mir grüßend zuwinkten und freundschaftlich lächelten. Ich antwortete ihnen nach allen Seiten, grüßte, lächelte und benahm mich dabei so, als ob ich sie alle auch ohne die Anweisung meines Bekannten gesehen hätte. Als wir aber das Theater verlassen hatten, da fing dieser nichtsnutzige Hohlkopf plötzlich an zu lachen und erklärte mir, er habe alles erfunden: Kein einziger meiner Bekannten war im Theater gewesen, und ich hatte auf seine Anweisung hin all mein Lächeln, meine Grüße und Höflichkeiten, weiß der Teufel, wem zugewandt – entweder Unbekannten oder den Gipsfiguren an den Wänden des Theaters. Ich nannte diesen Spaßmacher einen Nichtsnutz, und seitdem hört kein Mensch mehr von mir ein gutes Wort über ihn. Er ist ein Frechling, wie es wenige gibt. Überhaupt habe ich seit einem Vorfall Angst vor den Theatern: Eines Tages kam ich zu spät, erst am Anfang 96
des zweiten Aktes. Ich warf dem Diener an der Garderobe eiligst meinen Mantel hin und rannte zur Tür. Der Logendiener aber brauste auf wie ein Besessener, warf meinen Mantel auf den Boden, holte mich ein und packte mich beim Kragen. »Wie können Sie es wagen, zum Teufel?« brüllte er. Er entpuppte sich als ein Oberst vom Generalstab, der eine Minute vor mir gekommen war und soeben in der Garderobe abgelegt hatte. Wir fingen an zu schimpfen wie die Schuster. Ich erklärte, daß ich sofort zum Revieraufseher gehen und ein Protokoll aufnehmen lassen werde. Dann rannte ich auf irgendeinen Gang, wo ich nach langem Suchen den Polizeibeamten fand, zu dem ich keuchend sagte: »Man hat mich beleidigt, Herr Polizeiaufseher! Ich bitte um die Aufnahme eines Protokolls.« »Scheren Sie sich zum Teufel!« schrie er mich an. »Bin ich etwa für Sie ein Polizeiaufseher?!« Als ich ihn näher ansah, war es wieder der Oberst vom Generalstab, auf den ich im Halbdunkel losgegangen war. Fluchend sauste ich wieder davon, fand den Polizeiaufseher – jetzt den richtigen –, führte ihn zum Kampfplatz, zeigte auf den an der Garderobe stehenden Oberst und sagte: »Das ist er. Er hat mich beschimpft, beleidigt. Verhaften Sie ihn!« Jetzt ging ein fürchterliches Schreien und Fluchen los. Der Offizier hieß mich schließlich einen Idioten, und ich stritt nicht mehr mit ihm, weil sich nach einem Schimpfduell von zehn Minuten herausgestellt hatte, daß er ein 97
ganz anderer Offizier war, während der erste sich längst entfernt hatte. Alle schimpften auf mich ein: der Offizier, der Polizist, der Garderobier … Das war peinlich und sehr unangenehm. Eines Tages wechselte ich meine Gesinnung. Als Progressist vertrete ich im allgemeinen die Auffassung, daß man sich den Hausangestellten gegenüber, wenn auch höflich, so doch streng verhalten solle, ohne einen Schatten von Familiarität. Sonst werden die Hausangestellten verdorben. An einem regnerischen Abend ging ich zu Bekannten. Freudig kamen sie mir in großer Zahl in der Diele entgegen, und ich fing an, alle zu begrüßen. Den siebten Händedruck wollte ich mit einem jungen Fräulein in kokettem Schürzchen tauschen, aber kaum hatte ich ihr die Hand hingestreckt, da verbarg sie die ihre hinter ihrem Rücken, wollte um keinen Preis den Gruß mit mir tauschen und kicherte nur verlegen. Unvernünftigerweise begriff ich das nicht und suchte beharrlich ihre Hand. Die Gastgeber aber lachten, unangenehm berührt, auf und erklärten mir, daß es das Dienstmädchen sei. Es entstand eine Minute peinlicher Stille und Verlegenheit. Ich wußte nicht mehr, wo aus und wo ein und sagte: »Ganz egal. Ich will ihr trotzdem guten Tag sagen. Sie ist genauso ein Mensch wie wir, und es ist wirklich längst an der Zeit, mit diesen Standesunterschieden aufzuräumen.« Da ich darauf bestand, streckte mir das Dienstmädchen die Hand hin, aber gleich darauf lief sie weinend davon. 98
Jetzt gelte ich bei meinen Bekannten als Sonderling, Tolstoi-Anhänger, Demokrat. Wenn ich in das Haus komme, wo es mir passierte, mit dem Dienstmädchen den Händedruck zu tauschen, tue ich das zur großen Verwunderung der neuen Gäste immer wieder, aber auch mit den Lakaien und dem Schweizer. Zuweilen plaudere ich im Vorzimmer mit dem Kutscher, der dort auf Befehle wartet. Ich tausche mit ihm einen Händedruck. Was soll ich machen …? »Ach, er ist ein Original«, sagen die Hausleute von mir. So sagen sie, die Weitsichtigen. Nie werden sie einen Kurzsichtigen verstehen! Wir Unglücklichen!
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Der Pechvogel
D
a war eine kleine dämmrige Drogerie. Ein hagerer, langnasiger junger Mann mit einem Gesichtsausdruck, als ob die Trübsal in ihm eingefroren wäre, beugte sich über den Ladentisch und fragte: »Was wünschen Sie?« »Hustenbonbons!« Er nahm von der Stellage ein Gefäß, dachte nach und stellte ein anderes daneben hin. Nach einer Minute fügte er noch ein drittes hinzu. »Aus welchem Gefäß soll ich Ihnen geben?« murmelte er nachdenklich. »Ach, auf gut Glück! Ich gebe Ihnen aus dem zweiten.« Ich hatte noch nicht bezahlt, da trat ein starker Mann in den Laden mit einem Päckchen in der Hand. »Hier!« sagte er böse und warf das Päckchen auf den Ladentisch. »Das ist Ihr Fabrikat, nehmen Sie es!« Der mürrische Ladenbesitzer sah erschrocken auf den Käufer und machte das Päckchen auf. »Eine tote Maus«, sagte er, bitter lachend. »Warum ist sie krepiert?« »Das werden Sie besser wissen!« brüllte der Käufer. »Stellen Sie sich vor« – er wandte sich gegen mich –, »gestern habe ich bei diesem Spitzbuben ein Stück Toilettenseife gekauft. Abends habe ich es ausgepackt, da sehe ich, daß noch etwas von der alten da ist. Ich wusch mich mit diesem Rest, das neue Stück ließ ich unberührt und legte 100
mich schlafen. Heute nehme ich die Seife her – und was sehe ich? Die Spuren von Mäusezähnen, und an der Seite liegen zwei krepierte Mäuse. Eine davon habe ich als Beweisstück mitgebracht!« »Wozu regen Sie sich auf?« suchte ich ihn zu beruhigen. »Dafür haben Sie zwei Nager weniger im Haus.« »Zwei Mäuse! Aber wenn ich mich gestern mit dieser Seife gewaschen hätte, läge ich vielleicht an Stelle dieser Mäuse da!« Die Tür ging auf, und ein dritter Kunde trat ein. »Sagen Sie«, wandte er sich freundlich an den Verkäufer, »gibt es in dieser Straße keine größere Drogerie?« »Nein«, sagte der Ladenbesitzer stolz mit Nachdruck. »Meine ist die einzige.« »Das heißt also, daß ich bei Ihnen ein wunderbares Haarwuchsmittel gekauft habe?« »Bei mir, ja, bei mir«, erwiderte höflich lächelnd der Verkäufer. »Also wäre es noch zuwenig, dich totzuschlagen für dieses Mittel, du Schuft!« brüllte der Kunde und warf ihm eine Schachtel hin. »Der Teufel soll dich holen!« »Was ist denn? Wachsen etwa die Haare nicht?« ließ sich die dumpfe Stimme des Ladenbesitzers vernehmen, der sich vorsichtshalber unter den Ladentisch begeben hatte. »Sie wachsen! Und wie sie wachsen! Auf dem Grab deines Vaters sollen solche Haare wachsen!« »Was ist denn passiert?« fragte ich neugierig. »Was?! Ich bin grün! Statt des Kopfes habe ich eine smaragdene Wiese! Gestern sind mir die Schmetterlinge aus 101
zwei Stadtvierteln nachgeflogen! Ich wundere mich nicht, wenn sich in meinem Gras noch Grillen ansetzen. Da, schauen Sie!« Er riß die Mütze vom Kopf – und wirklich, nie habe ich eine schönere grüne Farbe gesehen. »Schuft!« schrie er. »Du hast mir eine Haarwuchspomade verkauft, und ich bin grün geworden! Du hast mir eine Schachtel Rattengift eingewickelt, und die Ratten fressen sie bei mir wie die Semmeln und werden immer dicker! Solchen Schwindlern muß man es zeigen!« Er griff mit der Hand unter den Ladentisch, zog den Verkäufer an den Haaren herauf und begann ihn rechts und links zu ohrfeigen. Der Käufer der Seife stieß zustimmende Pfiffe aus, streifte die Ärmel auf und tat dasselbe wie der grüne Mann. Sie prügelten den Ladenbesitzer nach Strich und Faden, so daß es mir weh tat, zuzusehen. »Nun genug«, sagte ich mit Nachdruck. »Ruht euch lieber aus.« Sie ließen den Ladenbesitzer los, setzten sich auf einen Diwan und zündeten sich Zigaretten an. »Ich habe ihn wegen der Haare verprügelt«, sagte der grüne Mann. »Aber warum haben Sie ihn geschlagen?« »Und ich wegen der Seife. Die Kanaille hat mir eine solche Toilettenseife gegeben, daß ich heute früh bei dieser Seife eine ganze Girlande von krepierten Mäusen fand.« »Wirklich?« sagte der Grüne voll Freude. »Aber mich, stellen Sie sich vor, fressen die Mäuse auf. Geben Sie mir Ihre Seife, und ich gebe Ihnen meine Haarwuchspomade.« 102
»Kann man damit Stoffe färben?« »Wunderbar! Ich habe sie mit einem Handtuch auf den Kopf gerieben. Das Handtuch ist wunderschön grün geworden. Wir haben es mit Seife gewaschen – die Farbe geht nicht heraus.« »Das ist eine Idee! Ich werde meine graue Hausjoppe in eine Jagdjoppe umfärben!« Nachdem sie diesen sonderbaren Handel abgeschlossen hatten, versetzte jeder dem Ladenbesitzer als Dreingabe noch eine Ohrfeige, und sie gingen Arm in Arm davon. Der Ladenbesitzer und ich blieben allein. Ich habe ein gutes Herz. Deshalb sagte ich: »Sie haben zwei blaue Flecken im Gesicht. Machen Sie einen Umschlag mit Bleiwasser!« »Ich traue mich nicht«, sagte er schüchtern. »Warum?« »Dort in der Ecke steht eine Flasche mit Bleiwasser. Aber ich traue mich nicht.« »Warum denn?« »Wenn ich mir eine Kompresse mache, wachsen mir auf einmal an der verletzten Stelle Haare oder Zähne.« Und er fügte unentschlossen hinzu: »Ob ich mir nicht einen Umschlag mit Zitronensäure oder mit einer Zahnpasta mache? Vielleicht hilft es.« Wir begannen uns zu unterhalten. »Ach, mir geht alles im Leben daneben«, sagte der Ladenbesitzer seufzend. »Da ist zum Beispiel folgender Fall: Eines Tages hungerte ich. Der Besitzer eines Panoptikums machte meine Bekanntschaft und stellte mich als ›berühm103
ten Hungerkünstler ‹ an. Ich war bereit, für eine anständige Summe in einem gläsernen Kasten vierzig Tage lang zu hungern. Der Mann hat eine gute Reklame gemacht. Vor dem Publikum wurde ich eingesiegelt und allein gelassen. Aber nachts bekam ich einen solchen Hunger, daß ich den Kasten zerschlug, herauskroch, in das Zimmer des Unternehmers ging und dort einen ganzen Schinken, eine Gans und zwanzig Eier aß. Dann machte er mit mir Reklame als einem ›berühmten Fresser ‹. Die Sache ließ sich gut an, aber ich fraß ihn arm, und er wurde bankrott. So ist es immer in meinem Leben. Du denkst dir was aus, tust das eine, und es kommt etwas anderes heraus. Ich habe eine Seife erfunden, da ist es ein Mittel gegen die Mäuse, ich habe ein Haarwuchsmittel erdacht, da zeigt sich, daß es die haltbarste Farbe der Welt ist! Und jetzt ist es wieder so: Ich habe ein Mädchen kennengelernt – jung, schön, so anständig, daß sie kein Stückchen Haut herzeigt. Kein Dekolleté, keine freien Reden. Eine prächtige Braut für mich, aber ich habe Angst!« »Wovor denn?« »Glauben Sir mir schon, es passiert irgend etwas.« »Was kann denn passieren?« »Irgendwas: Entweder stellt sich heraus, daß sie ein Mann ist oder daß sie vor mir zwei Männer geheiratet hat, die noch leben.« »Dummheiten! Im Gegenteil, eine solche Frau kann Sie vor vielem bewahren. Heiraten Sie, ehe andere junge Männer Ihnen zuvorkommen.« »Sie meinen … ?« 104
Wir schieden als Freunde. Zu Hause erinnerte ich mich an die gekauften Hustenpastillen. Sie waren klebrig und schmeckten schlecht. Ich sog eine Minute daran und spuckte sie voll Ekel auf den Boden. Beim Auf- und Abgehen im Zimmer dachte ich über das sonderbare Schicksal meines neuen Freundes nach. Ich machte einige Schritte, und auf einmal – ich war auf der Stelle festgewachsen! Es war gerade, als ob ein Bein in den Boden hineinwachsen wollte. Ich zog an, drehte mich auf der Stelle, warf mich von einer Seite auf die andere – alles war umsonst! Da setzte ich mich auf den Boden, schnürte den Stiefel auf und zog ihn vom Fuß. Ich betrachtete den angeleimten Stiefel – und wirklich, es war die Hustenpastille. Überhaupt erwiesen sich diese Pastillen als ein ausgezeichnetes Mittel: War eine Blumenvase bei mir zerbrochen oder ein Stuhlbein losgegangen, eine Pille leimte alles so fest zusammen, daß das Stück besser hielt als früher, wo es noch ganz war. Kürzlich, als ich am Laden meines Freundes vorbeiging, dachte ich an ihn und trat ein. »Guten Tag! Ich komme, um Sie darauf aufmerksam zu machen, daß Sie mehr Geld verdienen, wenn Sie Ihre Hustenpillen als Leim verkaufen.« »Hab ich’s doch gewußt!« Er rang schmerzvoll die Hände. »Irgend etwas Derartiges mußte passieren. Aber erinnern Sie sich, daß ich Ihnen von meiner Braut erzählt habe? Ich habe sie geheiratet!« 105
»Ah! Gratuliere! Und wie geht’s? Ist alles in Ordnung? Hat sie sich nicht als Mann erwiesen? Und hatte sie nicht noch zwei lebende Männer vor Ihnen?« Er lachte bitter auf: »Noch schlimmer!« »Wollen Sie mich erschrecken?« »Sie ist tätowiert! Und wie! Am ganzen Körper kein leerer Fleck! Ich kann sie nicht umarmen – es ist gerade, als ob man einen chinesischen Schirm mit lauter Drachen umarmt!« »Merkwürdig! Hören Sie! Sie hätten sie für Geld dem Publikum vorführen können.« »Das ist es ja! Statt das zu tun, habe ich sie geheiratet! Aber so ist es immer bei mir: Mache ich etwas, was nicht notwendig, aber gut wäre – so muß ich erfahren, daß es zu spät ist!«
106
Der Truthahn mit Kastanien
D
ie Frau spitzte in das Herrenzimmer hinein und sagte zu ihrem Mann: »Wassilij Nikolaitsch, da ist dein Neffe Stepa gekommen.« »Wozu?« » ›So‹, sagt er, er möchte gratulieren.« »Ach was, er soll sich zum Teufel scheren!« »Aber das geht doch nicht so, er ist doch dein Verwandter. Geh hinaus und beglückwünscht euch. Dann gibst du ihm drei Rubel, und alles ist in Ordnung.« »Kannst du ihn nicht an meiner Stelle empfangen?« »Habe die Ehre! Ich bin da, ich bin dort, ich renne dahin, ich renne dorthin, da heißt es, nach dem Truthahn sehen, soll ich auch noch deine Vettern empfangen?« »Wie steht’s eigentlich mit dem Truthahn?« »Das kannst du machen, wie du willst. Du hast für heute Gäste zum Truthahnessen eingeladen und für morgen auch! Wir haben aber nur einen. Man kann ihn doch nicht auseinanderreißen. Bring nur du das selber in Ordnung – ich mische mich da nicht ein!« »Kann man nicht heute die eine und morgen die andere Hälfte geben?« »Was fällt dir denn ein! Daß uns die ganze Stadt auslacht! Wer wird denn einen halben Truthahn auf den Tisch bringen?« »Hm … ja … das ist eine verzwickte Geschichte. Nun, wo ist er denn, dieser dein tappiger Stepa – bring ihn herein!« 107
»Wie, mein? Er ist doch dein Verwandter. In der Diele sitzt er. Soll ich ihn holen?« »Ja. Ich werde sehen, daß ich ihn weiterbringe, ehe die Gäste kommen.« Stepa trat ins Herrenzimmer: ein Wesen, das ganz und gar nicht an den weitverbreiteten Typ der leichtsinnigen, verschwenderischen, eleganten Neffen erinnerte, welche die verwandtschaftliche Güte des reichen Onkels ausnützen. Stepa war ein aufgeschossener junger Mann mit hervorstehenden Backenknochen, einem großen Mund mit ebenso großen Zähnen, suchenden, immer ängstlich schauenden Augen und mit einer so eingefallenen Brust, daß, wenn er nackt gewesen wäre, in dieser Mulde immer Wasser gestanden hätte. Die Arme Stepas traten aus den Ärmeln seiner Jacke und die Beine aus den Hosen um über fünfzehn Zentimeter weiter heraus, als dies bei einem leichtsinnigen Neffen aus einem berühmten Roman zulässig ist. Die Taschen seiner Jacke standen so weit ab, als ob er in jeder das ganze Jahr über eine große Wassermelone aus Astrachan herumtragen würde. An den Knien waren die Hosen ebenfalls ungeheuer aufgebläht, wie die Ringe bei einem indischen Bambus. Augenbrauen hatte Stepa überhaupt nicht. Dafür waren die Haare so weit in die Stirn hereingewachsen, daß man hätte vermuten können, die Augenbrauen seien in einer Periode des Erstaunens nach oben gekrochen und hätten sich dort ein für allemal mit den Kopfhaaren vermengt. In der Ritze zwischen der Wange und der Nase steckte 108
eine mächtige Warze. Sie war rötlich, gerade als ob sie über die glänzende Gesellschaft der haarigen Oberlippe und der breiten, übergroßen Nasenlöcher in Verlegenheit sei. So schaute dieser arme Verwandte Stepa aus. »Nun, guten Tag, Stepa«, begrüßte ihn der Onkel. »Wie geht’s?« »Danke, gut. Ich gratuliere zum Feiertag und wünsche alles, alles Gute.« »Schön, schön. Aber du, Stepa, davon … Hm! Wie soll ich sagen? Du, Stepa, könntest du mir nicht irgendwo einen Truthahn besorgen?« »Heute? Wo soll man denn heute einen herkriegen, Onkel? Heute ist doch der erste Weihnachtsfeiertag; da ist alles geschlossen.« »Aha, geschlossen. Hör, Bruder, da ist so eine Geschichte: Wir haben nur einen Truthahn, aber ich habe für heute und für morgen Gäste ausgerechnet zu einem Truthahn eingeladen. Hat mich da der Teufel gepackt, was?« »Ja, Ihre Lage ist eine sehr peinliche«, sagte Stepa höflich zustimmend. »Sagen Sie doch heute, Sie seien krank.« »Welcher Teufel wird das glauben, nachdem ich doch im Mittagsgottesdienst war?« »Dann sagen Sie, daß die Köchin den Truthahn verbrannt hat.« »Wenn sie aber dann aus Mitleid in die Küche kommen und nachsehen – was dann? Nein, man muß es so machen, daß sie den Truthahn zwar sehen, ihn aber nicht essen. Morgen wärmen wir ihn dann auf, und er wird wie ein frischer wieder aufgetischt.« 109
»Da könnte ja einer von den Gästen sagen, daß sie schon satt seien und der Truthahn nicht tranchiert zu werden brauche.« Der Onkel kniff die Oberlippe ein, sah seinen Neffen nachdenklich an und strahlte plötzlich vor Freude: »Stepa, Täubchen! Bleib zum Essen da! Du bist ja mein Neffe! Du gehörst zu mir! Du brauchst dich nicht zu genieren – mach mit, was? Erhebe du deine Stimme gegen den Truthahn!« »Ob das paßt, Onkelchcn? Ich bin doch nicht so … salonfähig.« »Ach was! Ich werde dich als meinen Ehrengast vorstellen und mich deiner sehr annehmen. Wenn dann am Schluß des Mittagessens der Truthahn serviert wird, dann sagst du ganz einfach: ,Ach, wozu soll man ihn unnütz tranchieren, er wird ja doch nicht mehr gegessen, es sind ja alle satt – tragt ihn weg. ‹« »Aber Onkelchen, sie werden mich im stillen einen Lümmel nennen.« »Was liegt schon dran? Gar nichts! Höchstens sagen sie: ein Original. Ich werde dich natürlich bitten und drängen, aber du bleibst hartnäckig und bestehst darauf, daß der Truthahn wegkommt, sonst läßt sich auf einmal doch einer verführen. Das ist in der Tat eine Nummer! Nun, was stehst du da, Stepa? Da, hock dich her! Setz dich doch, Stepanenka!« »Onkelchen, geben Sie mir heuer kein Geld«, sagte Stepa mit kritischem und offensichtlich verlegenem Blick auf seine abgetretenen Stiefel. »Geben Sie mir lieber ein Paar von Ihren Halbstiefeln. Sonst bin ich ganz und gar …« 110
»Aber natürlich, Stepan! Was gibt es da überhaupt zu reden? Ich werde dir, Stepandrias, prachtvolle Halbstiefel heraussuchen. Ha-ha! Aber du, Bruder, bist ein ganz gescheiter Kerl, Stepanadse … Daß ich das früher nicht bemerkt habe? Entschieden – kein dummer Kerl.« Als sich die Gäste zu Tisch gesetzt hatten, stellte Wassilij Nikolajewitsch Stepa vor: »Hier, meine Herrschaften, mein Neffe und Freund, Stefan Feodorowitsch! Ein großes Original, aber ein erfahrener Mann. Setzen Sie sich, Stefan Feodorowitsch. Wünschen Sie Wodka oder ein Likörchen?« Stepa lächelte angenehm, streckte einem nach dem anderen seine knochige Hand hin und goß ein Glas Wodka hinunter. »Ich kenne einen General«, sagte er überlaut, »der ißt zu Wodka immer einen Apfel.« »Was ist das für ein General?« fragte der Onkel interessiert. »Bei dessen Jungen Sie, Stefan Feodorowitsch, Taufpate gewesen sind?« »Nein, der nicht – das ist ein anderer. Das ist ein kleiner, ein einfacher Generalmajor … In Europa, müssen Sie wissen, gibt es überhaupt keine Generäle! Bei Gott! Wirklich!« »Waren Sie schon dort?« fragte sein Nachbar mit schiefem Blick. »Natürlich! Überhaupt jedes Jahr irgendwohin. In der Oper bin ich oft. Ich verstehe überhaupt nicht, wie man ohne Unterhaltung leben kann.« Zwei Gläschen und das Bewußtsein, daß ihn, was immer er auch sagen mochte, der Onkel nicht zerreißen wür111
de – dies brachte Stepa in angenehme Erregung. »Ja, meine Herrschaften«, sagte er, mit wilder Energie an einem mit gepreßtem Kaviar belegten Butterbrot kauend: »Überhaupt, wissen Sie, Mitjukow ist eine Persönlichkeit, die sich noch sehen lassen wird. Natürlich ist Mitjukow vielleicht nicht stattlich anzusehen, aber man muß Mitjukow kennen! Man muß sich vor Mitjukow in acht nehmen!« »Stefan Feodorowitsch«, sagte der Onkel zärtlich, »nehmen Sie doch noch Pastetchen zur Suppe.« »Danke sehr. In ganz England, zum Beispiel, ißt niemand Suppe. Aber nehmen Sie zum Beispiel an, Madame, sie geben Ihnen eins hinter die Ohren – sie kommen nicht mehr zur Tür hinaus. Auf Ehrenwort.« So hatte sich Stepa schlecht und recht der Unterhaltung bemächtigt. Er erzählte, wie dort auf dem Holzlager, wo er angestellt war, dem Geschäftsführer durch ein Brett der Fuß abgeschlagen wurde, wie sie auf der Straße einen Halunken gefangen hatten, wie sich die Tochter des Geschäftsinhabers in ihn verliebt habe und schloß sehr eindringlich: »Nein, was gibt es da zu reden! Man kennt Mitjukow noch nicht! Aber Mitjukow wird sich noch zeigen. Von Mitjukow wird man noch reden, und es wird manchen geben, dem Mitjukow die Suppe versalzen wird! Wozu davon reden! Natürlich hat Mitjukow seine Neider, aber – aber Mitjukow mit seinem Verstand tritt sie einfach nieder!« »Erlauben Sie, dieser Mitjukow da …«, begann eine Dame. 112
»Nun?« »Was ist denn das für ein Mann, dieser berühmte Mitjukow?« »Mitjukow? Das bin ich!« »A-a. Und ich dachte, wer weiß wer!« »Mitjukow ist schwer zu durchschauen, aber wenn Sie ihn schon durchschaut haben …« Da wurde auf einmal der Truthahn hereingebracht. Alle zogen gierig den pikanten Geruch in ihre Nasenlöcher, aber Stepa stand auf, klatschte in die Hände und sagte ganz vornehm: »Auch noch ein Truthahn! Nein, da kann man ja verrückt werden! Auf diese Art füttern Sie uns alle zu Tode! Es sind doch alle schon satt, nicht wahr, meine Herrschaften? Man braucht wirklich mit dem Truthahn nicht mehr anzufangen. Nicht wahr?« Alle murmelten etwas sehr Unverständliches vor sich hin. »Na, also!« schrie Stepa. »Das sage ich auch. Man braucht mit ihm nicht mehr anzufangen. Tragt ihn fort, bei Gott!« »Aber vielleicht nehmen Sie doch ein kleines Stückchen«, sagte der Hausherr zögernd und spielte dabei mit einem langen Messer. »Das Truthähnchen ist vorzüglich … mit Kastanien!« Da beugte sich der lange Stepa halb herunter und brachte sein Gesicht ganz nahe an den Truthahn heran. »Was sagen Sie? Mit Kastanien?« röchelte er befremdet. In seinem Munde lief plötzlich das Wasser zusammen, und seine Augen verdrehten sich in einer so hungrigen 113
hysterischen Gier, daß der Hausherr die Platte nahm und mit falschem Lächeln sagte: »Nun, wenn alle ablehnen, so muß man ihn eben wegtragen.« »Mit Kastanien!« stöhnte Stepa und kniff die Augen halb zu. »Nun, wenn er mit Kastanien gefüllt ist, dann – sage ich nicht nein und esse ein Stückchen.« Das Messer in der Hand des Hausherrn zitterte. Verhängnis über den Truthahn! Es bestand nur noch die schwache Hoffnung, daß Stepa sagen würde: »Nein, ich habe Spaß gemacht, tragt ihn fort!« Aber Stepa war nicht der Mann, im vorliegenden Falle zu scherzen. Er gab sich Mühe, seine Augen mit denen des Onkels nicht zu kreuzen, und kommandierte: »Mir bitte vom Brüstchen und dieses Beinchen.« »Bitte, bitte, seien Sie so gütig«, sagte der Hausherr mit bebender Stimme. »Wenn Sie schon anfangen, mir auch ein Stück«, fiel die Nachbarin Stepas ein, die nicht wußte, was mit Mitjukow los war. »Mir auch! Mir auch!« Als aber – nach zwei Minuten – nur mehr ein kläglicher Rest des Truthahns auf der Platte lag, stand der Hausherr auf und sagte in bestimmtem Ton zu Stepa: »Ach ja! Ich habe vergessen: Der General hat Sie ans Telefon gebeten. Gehen wir, ich zeige Ihnen das Telefon … Entschuldigen die Herrschaften.« Stcpa stand gehorsam auf, und wie ein zum Tode Verurteilter vor seinem Henker, so ging er folgsam, noch an dem Truthahnbeinchen kauend, hinter dem Onkel her. 114
Solange sie noch im Eßzimmer dahinschritten, redete der Hausherr ruhig und gelassen, sobald sich aber die Tür des Kabinetts hinter ihnen geschlossen hatte, änderte sich die Tonart. Es kam etwa folgendes heraus: «Ach, Stefan Feodorowitsch, dieser General kann ohne Sie nicht leben. Er liebt Sie offenbar sehr. Sie haben einen so feinen, durchgebildeten Verstand, daß … Was bist denn du für ein Luder, he? Du hast gesagt, du würdest ablehnen, statt dessen bist du als erster über den Truthahn hergefallen, he? Was soll denn das heißen? Habe ich dich nicht mit Fisch gefüttert? Habe ich dir nicht Suppe und Koteletts gegeben? Ich dachte, du seiest voll bis zum Halse, ich habe dich geehrt wie einen vornehmen Mann, aber was bist du für ein Schwein? Alle Gäste waren schon bereit zu verzichten, auf einmal kommst du daher, du Kanaille, he?« Stcpa ging hinter ihm her, drückte seine knochige Hand auf die Brust und sagte mit weinerlicher Stimme: »Onkelchen, Sie haben mich doch nicht darauf vorbereitet, daß es Truthahn mit Kastanien geben wird. Warum haben Sie geschwiegen? Ich habe diese Kastanien mit Truthahn noch nie gegessen. Verstehen Sie doch, Onkelchcn, daß nicht ich, sondern die Kastanien dem Truthahn den Untergang gebracht haben. Ich hatte ja schon ganz abgesagt, auf einmal höre ich: Kastanien, Kastanien!« – »Hinaus, du Nichtsnutz! Laß dich bei mir ja nicht mehr blicken!« Der Onkel riß Stepa den angenagten Knochen aus der Hand und klatschte damit boshaft an Stepas Hals: »Hinaus, ich kann dich nicht mehr riechen!« 115
»Onkel, Sie haben von Stiefeln gesprochen …« »Waaas?! Marina, führ den Herrn hinaus! Hilf ihm den Mantel anziehen!« Den Hals zwischen die Schultern eingezogen und bemüht, mit dem abgenutzten kurzen Kragen seines Herbstmantels seine großen, abstehenden Ohren zu schützen, ging Stepa auf der Straße dahin. Der Schnee, der bisher in dicken ruhigen Schichten dagelegen war, fing auf einmal an zu tanzen wie ein flinker Teufel und wirbelte um den traurigen Stepa herum … Die von den kurzen Ärmeln des Mantels nicht bedeckten Hände froren, es froren die Füße, es fror der Hals. Er ging dahin, die Nase auf die Brust gesenkt, wie ein Kranich, stieß die Vorübergehenden an und schwieg nachdenklich. An was er dachte, hat niemand erfahren.
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Der Schatz
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ugouchow sagte zu seinem Bekannten, einem jungen Mann namens Bytschkow: »Warum kommen Sie nie zu uns? Ich möchte Sie mit meiner Frau bekannt machen. Ich habe eine entzückende Frau! Eine Schönheit und sehr gescheit. Wir trinken Tee, und ich stelle Sie meiner Frau vor. Kommen Sie doch. Sie singt und spielt.« »Was doch die Männer für Dummköpfe sind«, dachte Bytschkow, auf Tugouchow einen mitleidigen Blick werfend. Dann sagte er laut: »Gut, ich komme.« »Danke. Sie ist gebildet und hat eine sehr gute Figur, gottvoll!« Ist das ein Trottel! Laut: »Danke. Morgen komme ich.«
Bytschkow saß bei den Tugouchows und bewunderte wie ein feiner Ästhet die weißen, flinken Händchen von Elena Iwanowna, die gewandt den Teekessel abrieben. »Entzückende Frau«, dachte er beifällig. »Ja«, bemerkte Tugouchow, gerade als hätte er seine Gedanken erraten: »Meine Frau ist ein wahrer Schatz. Aber ich muß jetzt gleich in eine Aktionärversammlung gehen und bedauere sehr, daß ich sie allein zu Hause lassen muß. Alionuschka, mein Schatz, wirst du dich nicht langweilen? Aber ich lasse zu deiner Unterhaltung Viktor Viktorowitsch da. Zerstreuen Sie meine Frau.« 117
»Mit Vergnügen!« versprach Bytschkow mit bebender Stimme. »Ich komme gegen elf Uhr zurück. Früher dürft ihr mich nicht erwarten. Leb wohl, mein Schatz! Auf Wiedersehen, mein junger Freund!« Es vergingen zwei Wochen. Wieder saß Bytschkow bei den Tugouchows – aber dieses Mal in dem großen geräumigen Gastzimmer. Er saß am Flügel neben Elena Iwanowna, während der Mann, über irgend etwas nachdenkend, mit großen Schritten auf und ab ging. Und weil er sich dem am Flügel sitzenden Pärchen einmal näherte und sich dann wieder bis zum entgegengesetzten Ende des riesigen Zimmers entfernte, verlief die Unterhaltung zwischen Elena Iwanowna und Bytschkow eigenartig und verwirrt. Sie sagte: »Warum bist du schon drei Tage nicht zu uns gekommen, du Abscheulicher? Ich habe mich so gegrämt …« Da ließen sich von rückwärts her die Schritte des Mannes vernehmen, und sie warf mit einem Ruck das Steuer des Gespräches herum: »Und dann gab es auf dem Gut meines Onkels, auf dem ich wohnte, eine Masse Erdbeeren. Ich mag Erdbeeren unendlich gern.« Die Schritte entfernten sich. » … aber dich liebe ich noch unendlich mehr! Ich war so traurig ohne deine Küsse, so vergrämt, daß (Schritte) ich mit meiner Schwester oft den ganzen Tag in den Erdbeersträuchern lag und aß, aß … Vielleicht hat sich 118
bei dir eine andere Frau eingenistet? Gib acht, ich bin so eifersüchtig … daß ich es niemals ansehen konnte, wenn meine Schwester mehr Erdbeeren aß als ich. Es kam vor, daß ich schrie … wenn ich etwas erfahre, schütte ich ihr Essigsäure ins Gesicht … Ja, Essenz. Man kann sie sehr gut mit dem Tee mischen, diese Erdbeeressenz!« So floß dieser Monolog lange friedlich dahin, bis endlich das Wort auf Bytschkow überging. »Gegen wen könnte ich dich hingeben, mein Schatz, mein Vögelchen …! Hm! Halb war es ein Kanarienvogel, halb ein Stieglitz, aber er sang wunderbar. Einmal vergaß ich, ihm Futter zu streuen, am anderen Tage … Bestimmt, morgen komme ich zu dir, wenn dein Mann sich in seine verteufelte Aktionärsitzung fortgeschert hat!« Aber an dieser Stelle hatte Bytschkow plötzlich den Rhythmus der Unterhaltung verfehlt. Als der Mann am anderen Ende des Zimmers war, erzählte er nämlich lässig von seinem Kanarienvogel, und als sich der Mann näherte, ging Bytschkow gerade zu dem Satz über: »Ich komme zu dir, wenn sich dein Mann fortschert.« »So, so«, ließ sich hinter dem Rücken der Plaudernden die sanfte Dulderstimme des Mannes vernehmen. »Sie haben ja mein Vertrauen gut ausgenützt, junger Mann! Was – ich kann mich »fortscheren‹? Ja, ich kann mich ganz fortscheren! Um die verliebten Täubchen nicht zu stören.« Mit einem Schrei des Schreckens streckte die Frau die Hände nach ihm aus, er aber ging still auf die Seite und nickte mit dem Kopf: »Es bedarf keiner Rechtfertigung, 119
keiner Erklärungen! Meine Augen sind mir geöffnet worden! Ich gehe. Allein und fern von euch werde ich dieses schwere Seelendrama überleben, und wenn ein Brief für mich eintrifft, dann bitte ich, ihn mir ins Hotel ›Bristol‹ nachzusenden.« Als der Mann eingepackt hatte und mit bekümmert gesenktem Haupt fortgegangen war, fing Elena Iwanowna an zu weinen und sank Bytschkow an die Brust. Aber dann wandte sie ihr Köpfchen zur Seite, wischte die Tränen ab und sagte ruhig: »Nun gut, der Teufel sei mit ihm. Wir werden herrlich zusammen leben, o du meine unvergängliche Sonne!« Es verging ein Monat. Bytschkow saß in einem Zimmer des Hotels »Bristol« bei Tugouchow und sagte zornig zu ihm: »Sie haben an mir niederträchtig, verräterisch gehandelt!« Tugouchow lächelte: »Ja, wieso denn? Ich bin fortgegangen, um euer Glück nicht zu stören.« »Lügen Sie nur weiter. Sie haben mir einfach Ihre Frau, derer Sie überdrüssig waren, hingeworfen, und ich Esel bin darauf hereingefallen.« »Sind Sie denn nicht zufrieden?« »Teufel noch einmal – zufrieden. Das ist kein Weib, sondern Essig. Böse, verlogen, eifersüchtig wie ein Teufel und so dumm, daß man sie manchmal prügeln möchte. Das wissen Sie alles selber sehr gut. Sie haben einen schönen Idioten aus mir gemacht!« 120
Tugouchow lag bequem auf dem Diwan und lächelte still vor sich hin. »Man kommt auch nicht von ihr weg, sie läßt einen nicht gehen! Sie droht mit einem Skandal!« »Das sieht ihr gleich«, sagte der Mann kurz zustimmend. »Iwan Fedosseitsch! Sie haben natürlich an mir niederträchtig gehandelt, aber ich verzeihe Ihnen und will alles vergessen, wenn Sie mir einen Rat geben – einen Ausweg finden! Ja, wo findet man ihn, einen solchen Idioten?« »Ich habe schon einen gefunden. Was heißt hier übrigens Idiot? Sie müssen doch zugeben, daß der erste Eindruck von ihr bezaubert. Den Frauen gelingt das.« »Iwan Fedosseitsch! Geben Sie mir einen Rat. Haben Sie vielleicht jemanden im Auge?« »Hm. Zugegeben, ich habe niederträchtig an Ihnen gehandelt, aber Sie sind ein sehr sympathischer Mensch. Wen könnte ich Ihnen empfehlen? Hören Sie! Da kommt gerade Artamanow! Er hat noch im Frühjahr seine Augen auf meinen ›Schatz‹ geworfen. »Artamanow? Hm! Sie denken?« In der Loge eines gemütlichen Restaurants saßen Artamanow und Bytschkow. Bytschkow schlug Artamanow aufs Knie und sagte lebhaft: »Hören Sie! Warum sieht man Sie schon lang nicht mehr? Kommen Sie doch zu uns. Ich bin zur Zeit mit Elena Iwanowna im Familienstand. Fabelhafte Frau: singt, spielt und dann – gebaut wie eine Göttin. Ein wahrer Schatz! 121
Sie müssen zum Tee zu uns kommen. Elena Iwanowna hat schon einige Male nach Ihnen gefragt. Werden Sie kommen?« Ist das ein Idiot, dachte Artamanow sarkastisch und sah Bytschkow mit verächtlichem Mitleid an. Dann antwortete er laut: »Ich komme bestimmt. Schon morgen.« Nach vier Wochen: Artamanow traf im Theater während der Pause mit Iwolgin zusammen und eilte mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu: »A-a! Was für ein Glück heute abend! Ich nehme Sie beim Wort, daß Sie mich besuchen. Ich lebe zur Zeit in einer Art Ehestand. Meine Frau Elena Iwanowna – ist bezaubernd. Kommen Sie, ich werde Sie vorstellen. Sie ist eine Schönheit, sehr gescheit und singt fabelhaft.« Iwolgin schob ihn gleichmütig weg. »Erlauben Sie, erlauben Sie – ist das nicht diese Elena Iwanowna, die früher mit Tugouchow verheiratet war?« »Ja … Ja … Aber … Was?« »Dann geben Sie sich keine Mühe: Ich war nämlich der erste, der sie Tugouchow aufgehängt hat! Also bemühen Sie sich nicht: Ich habe es satt bis zum Hals herauf!« Artamanow schwieg mürrisch. Der Kreis war geschlossen. 122
Neureiche
G
uten Tag, junger Vetter Unbekannt!« Es ist zum Lachen: Im Verlauf von zwei Tagen habe ich diesen Mann dreimal getroffen; dabei war er mir vollkommen fremd und unnütz! Da gibt es Leute, die man gern hat, mit denen man sich gern treffen würde – und man sieht sie jahrelang nicht. Das erste Zusammentreffen mit diesem Mann fand in einem großen Juwelierladen statt, wo ich eine Nadel als Geschenk aussuchte. Dort trat dieser Mann – ich weiß seinen Namen bis heute nicht – vor dem Ladentisch gedankenlos von einem Fuß auf den anderen, schnaubte traurig und knöpfte seinen prächtigen Pelzmantel mit einem Biberkragen auf und zu. »Haben Sie einen besonderen Wunsch?« fragte der geduldige Verkäufer. »Da, diese da zu kaufen … Nun, irgendwelche kostbare Steine.« »Und welche besonders?« »Diese weißen da – sind es Brillanten?« »Ja.« »Also Brillanten. Dann hätte ich noch gern blaue genommen – rote. Haben Sie keine gelben?« »Topase sind da.« »Sind die teuer?« »Nein, billig.« »Dann ist es nichts. Brillanten – sind das die teuersten? Wie, werden die stückweise verkauft?« 123
»Nein, nach dem Gewicht.« »Gut, dann wickeln Sie mir ein halbes Pfund ein.« »Ja, sehen Sie, so geht das eigentlich nicht. Die Brillanten werden nach Karat verkauft.« »Nach was?« »Nach Karat.« »Das ist langweilig. Ich verstehe das nicht. Dann lieber nach dem Stück.« »Soll ich Ihnen gefaßte zeigen?« »Was ist schicker?« »Ja, gefaßte kann man tragen, aber so, einzelne Steine -die werden bei Ihnen nur herumliegen.« »Dann lieber gefaßte.« »Soll ich Ihnen ein Kollier zeigen?« »Ja, gut … Ist es teuer?« »Hundertzwanzigtausend.« »Das macht nichts, das ist gut. Ist es das hier? Aber warum sind da nur lauter weiße Steine? Ich hätte gern ein bißchen was Grünes dabei gehabt.« »Da ist ein anderes, mit Smaragden.« »Das ist sympathisch, aber wie soll ich das anziehen?« »Verzeihung, das ist kein Schmuckstück für einen Herrn, sondern für eine Dame. Wenn Sie es Ihrer Frau schenken wollen …« Der Unbekannte kniff listig ein Auge zu: »Was sind Sie für ein komischer Mensch! Und wenn ich nicht verheiratet bin?« »Hm«, brummte der Verkäufer, bemüht, aus seinem Gesicht den Ausdruck des Ekels zu vertreiben. 124
»Sie wollten also für sich persönlich etwas aussuchen?« »Natürlich! Was haben Sie denn gedacht?« »Dann nehmen Sie einen Ring.« »Was kostet einer?« »Das kommt darauf an. Sehen Sie da her: welcher Ihnen gefällt.« »Dieser hier – wieviel? Der blaue.« »Zweitausendfünfhundert.« »Dreck. Ich will einen zu hundertfünfzig- oder zweihunderttausend.« »Dann nehmen Sie einen Brillantring. Hier, rein wie Wasser, siebzehntausendfünfhundert.« »Haben Sie keinen teureren?« »Nein. Aber Sie können ja drei nehmen!« »Das ist wahr. Wickeln Sie sie ein. Glauben Sie, daß sie schick genug sind?« »Aber bitte sehr! Monsieur!« »Sie müssen entschuldigen, aber ich verstehe nichts davon. Aber mit Papieren, da kenne ich mich sehr gut aus.« »Börsenpapiere?« »Was Börse! Ich rede von Zeitungspapier, Schreib-, Einwickelpapier – alles, was Sie wollen. Nehmen Sie das Geld für die Ringe. Schicken Sie sie mir mit einem Lehrling. Ich mag mich mit diesem Zeug nicht abschleppen. Oder ich stecke sie doch besser an die Finger. Was für prächtige Steine. Werden sie nicht herausfallen?« »Aber bitte …« »Wenn sie herausfallen, ist auch der Ring kaputt. Was soll man dann noch damit anfangen? An Stelle des Steins 125
ist ein Loch. Wie ein Fenster mit zerschlagener Scheibe. Leben Sie wohl.« Am Abend desselben Tages traf ich ihn in einem Möbelmagazin. »Hören Sie«, sagte er, »hören Sie zu, wenn Sie mir gesagt hätten: Ich möchte das beste Papier haben – so hätte ich geantwortet: Hier, das ist mein bestes. Aber Sie sagen mir nicht geradeheraus, was gut ist und was nicht. Sie sagen, dies ist ein Zimmer aus Rosenholz und dieses ein Louis XVI., nun? Welches ist das bessere?« »Was ihnen gefällt.« »Und welches ist teurer?« »Das aus Rosenholz. Sicbenunddreißigtausendzweihundert.« »Gut, verpacken Sie das. Weiter – was haben Sie noch für Zimmer?« »Salons, Schlafzimmer, Eßzimmer, Vorzimmer …« »Und weiter.« »Boudoirs haben wir noch.« »Das sind im ganzen sechs. Aber ich habe zehn Zimmer! Mit was, sagen Sie, soll ich sie möbilieren?« »Wer wird denn in Ihrer Wohnung noch sein?« »Ich bin allein!« »Hm . . .! Dann vielleicht eine Bibliothek.« »Das wären sieben! Und was noch?« »Dann wäre noch ein Zimmer im russischen Stil möglich. Dann, da … Richten Sie noch einen Salon ein. Einen zum Arbeiten, den anderen – so.« Beide waren vor lauter Anstrengung ganz gedankenlos geworden. Sie starrten einander an und dachten eifrig nach. 126
»Das sind neun. Aber was soll ich in das zehnte steilen?« »Ja, das zehnte … Geben Sie es an jemand ab. Zu was brauchen Sie allein zehn Zimmer? Geben Sie es her, es wird für Sie unterhaltender.« »Das ist ein Gedanke. Ich hätte das gern als Stilzimmer gehabt.« »In was für einem Stil, Monsieur?« »In einem guten. Nun, das wählen Sie selber aus. Ohoho … Jetzt rechnen Sie zusammen – was macht es?« Am anderen Tag aber traf ich ihn zu meiner und seiner Verwunderung – er begann schon, sich an mein Gesicht zu gewöhnen – in einer Gemäldeausstellung. Er hatte sich hinter mir aufgepflanzt, schaute über meine Schulter auf das Bild, vor dem ich stand, und fragte: »Ist das gut?« »Das Bild? Es geht so. Ein bißchen wenig Luft.« »Ja, man kann kaum atmen. Aber ich war schon drauf und dran, es zu kaufen. Ich habe gesehen, daß Sie es schon lange anschauen: das heißt, denke ich mir, es ist gut. Ich habe schon drei gekauft.« »Welche?« »Die, bei denen die Leute stehenbleiben. Ich denke mir so: die Bilder, bei denen die Leute stehenbleiben, sind gute Bilder.« Ich setzte eine ernste Geschäftsmiene auf. »Wieviel Leute müssen denn vor einem Bilde stehen, damit Sie es kaufen?« »Nicht weniger als zehn«, antwortete er ebenso ernst. »Nicht weniger. Drei, fünf, sechs, das ist schon zuwenig.« 127
»Sie sind ein – überlegender Mann.« »Ja, ich verstehe nur nichts von vielen Dingen. Aber ich habe meinen gesunden Menschenverstand. Wissen Sie, wie leicht ich ein Automobil gekauft habe? Ich verstehe ja nichts davon. Nun also, ich komme zu einem Autohändler, gehe dort hin und her, bummle. Da sehe ich, daß sich ein Herr ein Fahrzeug ausgesucht hat … Er hat es besichtigt, gelobt, ausgehandelt, und wie er schon bezahlt hatte, sagte ich: ›Treten Sie mir das Auto ab, ich zahle noch fünfhundert drauf. ‹ Er wunderte sich, aber er trat es ab. So ein Herr ist gut.« »Sie verfügen offenbar über reiche Mittel?« »Ach, reden wir nicht davon. Ich habe mich genug dafür geplagt … Gehen Sie schon weg? Kommen Sie, ich fahre Sie in meinem Auto. Sie wollen Spazierengehen? Gut, gehen wir zu Fuß.« Er nahm mich unter dem Arm und ging an meiner Seite. Dabei schaute er mir forschend in die Augen und kuschelte sich in seinen prachtvollen Pelz. »Sagen Sie, ein Pferd zu halten – ist das schick?« »Sehr.« »Dann muß ich eins kaufen. Wissen Sie was? Ich verstehe nichts von Pferden. Sie kaufen ein Pferd mit einem Wagen. Dann verkaufen Sie es mir mit einem Zuschlag. Sie verdienen – und ich bin dabei beruhigt.« »Nein, ich befasse mich nicht mit solchen Geschäften.« »Schade. Wen haben Sie jetzt so angesehen?« »Eine Dame ist da allein vorbeigegangen. Sehr schön.« »Im Ernst, schön?« 128
»Ja, sehr. Sie macht Eindruck!« »Hören Sie, wie wäre es, wenn ich sie als Mätresse nähme?« »Warum gerade sie?« »Ja, sehen Sie, ich verstehe nichts davon – aber Sie sagen, sie ist schön.. Ich werde sie als Mätresse nehmen, oder?« »Erlauben Sie! Vielleicht ist das eine anständige Frau?« »Nun, dann entschuldige ich mich. Sehr bedauerlich. Wieviel soll ich ihr anbieten, was meinen Sie?« »Bei Gott, ich habe Bedenken!« »Ich werde ihr dreitausend im Monat anbieten, zum Teufel mit Ihnen …« Er holte die Dame ein und ging an ihrer Seite. Er knüpfte ein Gespräch mit ihr an. Auf ihrem Gesicht kamen der Reihe nach Empörung, Verwunderung, Aufregung, Mißtrauen, Schwanken zum Ausdruck, und endlich übergoß Freude mit Rosenfarben ihre schönen Züge. Der Papierhändler hatte das gefunden, was er am nötigsten in seinem leeren Leben brauchte. Ich aber dachte mir: Jetzt hast du gelernt, auf vernünftige Weise Brillanten zu kaufen, Möbel im modernen Stil zu wählen, und Pferde wirst du nicht nur eines, sondern einundzwanzig haben, und nur solche Bilder sind gut, vor denen nicht jeweils zehn, sondern hundertweise Leute stehenbleiben, und von allem wirst du Sinn und Art verstehen … Und wenn du alles das verstehst, wie es sich gehört, wirst du kein Bild, kein Pferd und keine Brillanten mehr haben, denn es gibt eine Gerechtigkeit auf der Welt, und 129
es heißt: Von Erde bist du genommen und zur Erde wirst du zurückkehren.
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Die lieben Verwandten
E
s fällt mir nicht leicht, buchstäbliche Wahrheiten auszusprechen, aber ich muß es. Ein Verwandter an und für sich kann ein Mensch nicht sein. Er muß mit jemandem verwandt sein. Wenn auf der Straße ein Mann geht, und man macht Sie auf ihn aufmerksam: »Da geht ein Verwandter«, so fragen Sie selbstverständlich: »Wessen Verwandter?« Wahrscheinlich gibt es auf der ganzen Welt keinen Menschen, der eine Sache für sich ist. Unbedingt ist er ein Verwandter von irgend jemand. Das ist kein Beruf, keine Beschäftigung, aber wir alle sind mehr oder weniger damit beladen. Gleichzeitig gibt es aber in der Verwandtschaft viele Schattierungen und Abstufungen. Wohlgemerkt! Je unbedeutender ein Mensch ist, desto häufiger nennt man ihn einen »Verwandten«. Wenn ihr in euren jungen Jahren A. S. Puschkin gesehen und euch bei eurem Bekannten erkundigt hättet: »Wer ist das?«, so hätte der Bekannte kaum geantwortet: »Das ist ein Verwandter von den Gontscharows.« Er hätte kurz und ruppig gesagt: »Puschkin.« Wenn ihr aber an derselben Stelle einen unbekannten, jungen, schüchternen Mann mit roten Händen und einem hängenden, mit rötlichem Flaum bedeckten Kopf getroffen hättet, dann hättet ihr auf die Frage »Wer ist das?«, sicher die unbestimmte Antwort bekommen: »Ein Ver131
wandter von den Kalamejews.« Weiter nichts. Keinerlei Bestimmung. Wohlgemerkt, wenn ihr zuerst Kalamejew gesehen und dann gefragt hättet: »Wer ist das?« so würdet ihr nie die Antwort bekommen haben: »Ein Verwandter von diesem flaumigen, rothändigen Herrn.« Nein. Kalamejew, das ist eine Sache für sich. Aber warum? Ja, sehr einfach: Kalamejew ist anziehender als dieser Rothändige, und schon – seht ihr, seht ihr? Er hat sich über ihn emporgeschwungen und ihn durch die Bedeutung seiner Persönlichkeit erdrückt. Ihr dürft überzeugt sein, daß der rothändige Jüngling niemals Amerika entdeckt hat, eben deshalb, weil er keine Sache für sich, sondern ein Verwandter der Kalamejews ist. Er erfindet keine Flugmaschine, er glänzt nicht durch lichte, geistreiche Gespräche, ja er fängt nicht einmal einen lauten, ohrenzerreißenden Skandal an. Wohin mit ihm? Ist er vielleicht ein Mensch mit besonderem Namen und eine Persönlichkeit? Er ist einfach ein Verwandter der Kalamejews. Wie soll er auch, dieser schüchterne, schweigsame Schwachkopf, eine Flugmaschine erfinden. Er kann still im Besuchszimmer sitzen, laut schmatzend Tee trinken und Dutzende von billigen, übelriechenden, erstickenden Zigaretten rauchen. »Wer ist das?«, fragt man die Hausfrau. »Dieser junge Mann, der da so schweigsam am Tisch sitzt?« »Ah, das ist ein Verwandter. Ein entfernter Verwandter von meinem Mann.« 132
Da hast du die Flugmaschine. Mein Leser! Wenn Sie eine unnütze, schwachköpfige Nichtigkeit sind – es wird kaum welche unter den Lesern geben –, so wird man Ihnen das nie ins Gesicht sagen. Über Ihre Nichtigkeit können Sie nur flüchtig und gelegentlich etwas erfahren, besonders dann, wenn man Sie irgend jemandem vorstellt. »Darf ich vorstellen, ein Verwandter der Pomidorows.« Schluß. Finsternis. Wenn in Ihnen noch nicht alles Menschliche erloschen ist, dann müssen Sie die Arme erheben, Ihren Beleidiger prügeln, der Sie einen Verwandten geheißen hat, und in die ganze Welt hinausschreien: »Ich bin kein Verwandter! Sie lügen! Ich bin eine Persönlichkeit für mich! Ich bin Nikolaj Utjutow, das reiben Sie sich unter die Nase!« Nur auf diese nicht gerade elegante Art kann man seine schwierige Lage meistern. Wenn Sie aber geschwiegen haben, dann sind Sie erledigt. Sie bleiben für immer ein »Verwandter«. Nachdem wir also jetzt klargelegt haben, was ein »Verwandter« ist, so steht fest, daß das keine familiäre Beziehung einer Person zu einer Gruppe anderer, sondern einfach eine sehr fatale gesellschaftliche Situation ist. Es ist eine in jeder Hinsicht abgesonderte, abgegrenzte Klasse – und wir können den Verwandten auf folgende Arten betrachten: woher er gekommen ist, wovon er lebt und welches seine Interessen und Bestrebungen sind. Woher kommen die Verwandten? Ihr Erscheinen ist ein ganz zufälliges. 133
Sie heiraten. Während der Zeremonie der Trauung zieht Ihre Auserwählte aus dem Haufen der Gäste einen schweigsamen Rothändigen mit einem langen, aderigen Hals, der in einem Papierkragen steckt, und stellt ihn Ihnen vor: »Da«, mein Lieber, ist unser Verwandter Werbljudjakin ³. Er wird jetzt auch dein Verwandter. Und das hier ist seine Frau, Madame Werbljudjakina. Küßt euch, meine Lieben. Ihr gehört ja jetzt zu uns.« Einfach? Nur deshalb, weil man Sie mit einem bekannten Mädchen getraut hat, darf Werbljudjakin in Ihr Leben eintreten, sich zu dem Ihren machen. Er kann zu Ihnen kommen, wann es ihm gerade paßt, und Sie müssen ihn vor alle Gäste hinschieben – manchmal kluge, interessante Leute – und sie, statt sie mit einem Fortschritt zu erfreuen, mit Werbljudjakin belasten. »Mein Verwandter.« Schwachköpfe sind sie alle, diese Werbljudjakins, sie erzählen nichts Ergötzliches, sie tanzen nicht, sie singen kein Couplet mit Klavierbegleitung. Nun, deswegen Gott mit ihm, aber er wirkt auch auf die anderen drückend und erkältend. Nehmen wir an, unter Ihren Gästen sitzt Dostojewskij selber oder Turgenjew – der Verwandte erwärmt sich deshalb auch nicht, wird nicht durch ein starkes Licht erhellt … Trübe schaut er auf Dostojewskij hin und fragt, eine miserable Zigarette qualmend: »Sagen Sie, sind Sie es, der die ›Brüder Karamasow ‹ geschrieben hat?« 134
«Ja.« »Gut geschrieben. Meine Frau und ich haben es gelesen. Und wie Sie alle Namen der handelnden Personen im Gedächtnis haben. Nirgends ein Fehler. Ich habe extra darauf geachtet.« »Ja, ich habe das damals auch verfolgt«, sagt achselzukkend Dostojewskij. »Aber wie – schreiben Sie auch?« »Nein, was denken Sie! Ich bin ein Verwandter des Hausherrn.« Sehr solid und geschäftig geht er zu Lermontow. »Hören Sie, wie können Sie das so machen: ein Oberleutnant und Gedichte verfassen? Ist es möglich, daß da das Kommando durch die Finger sieht? Aber Sie haben nette Gedichte gemacht. Bei Gott. Und wie ebenmäßig und rhythmisch alles herauskommt.« Nun ist Lermontow schon verwelkt und verfault und der griesgrämige Turgenjew mit kalter Asche bedeckt, aber das macht dem Verwandten keinen Kummer. Er kommt heim, nimmt vor dem Schlafengehen seinen Papierkragen ab und erzählt seiner Frau: »Da habe ich den Lermontow kennengelernt. Turgenjew war auch da. Ich meinte, das wäre etwas Besonderes, aber sie sind nichts. Lermontow hat sogar Tee mit Zitrone getrunken. Auch Cervantes war da, so ein Spanier oder was – jedenfalls kein Hiesiger. Ich habe versucht, mich mit ihm zu unterhalten, aber er ist so etwas Sonderbares: ,A-ba ba, da ge le le ‹, aber was ›gelele ‹ ist, weiß er selber nicht. Sage morgen Marfuscha, sie soll an meinen Überrock einen Knopf annähen. Hast du verstanden?« 135
Warum gehen die Verwandten auf Einladungen? Man bemüht sich doch, ihnen außer Tee nichts zu geben. Gibt es bei ihnen zu Hause vielleicht keinen Tee? Nein, es handelt sich hier gar nicht um den Tee. Vermutlich sagt der Verwandte, wenn er mit seiner Frau beim Mittagessen sitzt, in besorgtem Tone: »Bei den Peregudows sind wir schon lange nicht gewesen. Das ist keine Art. Sie werden sich beleidigt fühlen, daß wir sie vergessen haben. Es sind immerhin Verwandte. Wir werden heute hingehen müssen.« Verwandter! Mein Schatz! Sitze daheim und rühr dich nicht. Bei Gott! Die Peregudows sind dir nicht böse, und wenn du ihnen drei Jahre lang deine Nase nicht zeigst. Kommst du ihnen nicht wie ein Teufel vor, diesen unglücklichen Peregudows? Sie haben ihre Sorgen, Besuche und Bekannten auch ohne dich in Menge. Und was für Bekannte! Bei ihnen verkehrt der Abgeordnete der kaiserlichen Duma, Rewjakin, der Schriftsteller Olotzkij und der berühmte Rechtsanwalt Mühlstein – lauter interessante, anziehende Leute –, wen wirst du da erfreuen mit deinen roten Händen, deinem aderigen Hals und deinem Papierkragen? »Ja, es ist peinlich«, antwortet die Frau des Verwandten ihm. »Wir müssen hingehen. Sonst vergessen wir sie noch ganz. Oletschka Peregudowa hat mich dieser Tage in der Trambahn getroffen und mich ganz hartnäckig gefragt: ›Was ist denn das ‹, sagte sie, ›daß ihr euch so lange nicht sehen laßt? ‹ Ja, ja. Heute gehen wir hin. Sie sind sonst gekränkt.« 136
Sie nennen das: besuchen. »Guten Tag, guten Tag. Wir hatten uns schon lange vorgenommen, euch zu besuchen, aber Kolenka war die ganze Zeit nicht frei. Jetzt haben wir uns mit knapper Not zu einem Besuch aufgerafft. Wir erwarten euch jetzt bei uns. Ihr kommt irgendwie uns besuchen.« Das sagen die Verwandten noch auf der Diele, indem sie ihre verwandtschaftlichen Körper enthüllen. Sie nehmen akkurat ihre hohen Galoschen ab und küssen verwandtschaftlich den Hausherrn Peter Mardarytsch, Olga Nikanorowna, Petenka, Oletschka und Mussi. Dann gehen sie ins Besuchszimmer. »Nun, wie geht’s, seid ihr alle gesund?« fragt der Verwandte und reibt dabei seine angelaufene Brille ab. »Gottlob, alle. Wie steht ‹s bei euch?« »Ah, gut. Kommen Kiburdins manchmal zu euch?« »Sie waren schon lange nicht mehr da.« »Was ist mit ihnen los? Ich nehme mir immer vor, sie zu besuchen. Wir sind ja mit ihnen verwandt. Der Bruder von Anna Grigorewna ist nämlich mit der Kusine von Kiburdin verheiratet …« So zieht sich das Gespräch hin. Es entsteht der Eindruck, als ob man ihnen eine Zuckerzange in den Bauch gestoßen und ein Stückchen Darm damit gefaßt hätte und jetzt anfange, es langsam und beständig ans Tageslicht zu ziehen. Je mehr von dem Darm herausgezogen und je länger er wird, desto schlechter, finsterer und dahinsiechender wird der Besitzer des aufgestochenen Bauches. »Wünscht ihr Tee?« 137
»Wieviel Uhr ist es denn? Nun, anderthalb Stunden können wir noch bleiben. Was schreibt Wanja?« »Wir haben schon lange keinen Brief mehr bekommen.« Das ist natürlich alles seicht, bedeutungslos. Alle diese Verwandtengespräche, die zähe Teetrinkerei: Alles das sind Kleinigkeiten und gleichzeitig – was für ein Schrekken – erfaßt viele ein trüber, dunkler, sumpfiger Schlamm, zuweilen sogar gute, kluge, gebildete Menschen. »Die Verwandten sind auf Besuch gekommen …« Sollte man sie nicht lieber so empfangen: »Guten Tag. Was wünschen Sie?« »Wir sind gekommen, euch zu besuchen. Der Verwandtschaft halber.« »Das ist alles überflüssig. Geht, geht, Herrschaften. Bei uns ist alles in Ordnung, die Kiburdins kommen nicht, von Witetschkij haben wir einen Brief bekommen, und jetzt geht. Hier gibt’s nichts zum Abkühlen. Wir müssen arbeiten und kein leeres Stroh dreschen.« Kurz. Lieb. Verständig. Und diese rothändigen, langhalsigen Gänse werden nicht mehr kommen. Sie schnattern irgend etwas Mißfälliges in ihrer dumpfen Gänsesprache, kehren um und gehen watschelnd davon. Und wenn sie dann auch in ihrer Gänsesprache sagen: »Diese Peregudows sind Schweine. Wir wollten sie verwandtschaftlich besuchen, und sie haben uns lümmelhaft aufgenommen. Schweine!« Dann sind sie eben Schweine. Sieh, es heißt doch deutlich: Die Gans ist kein Kamerad des Schweins. 138
Zuweilen gibt es besonders fürchterliche Zeiten. Es kommen die Weihnachts- oder Osterfeiertage, und dann kriechen Haufen, Legionen von rothändigen Verwandten aus allen Ritzen; es kommen sogar die zum Vorschein, die sich das ganze Jahr nicht sehen ließen und es jetzt für nötig halten, Sie zu »besuchen«, Leser, weil Sie sonst nach ihrer Meinung beleidigt sind, daß man Sie vergessen hat. Jagen Sie sich alle vom Halse, Leser, schlagen Sie zu, beleidigen Sie sie, spucken Sie auf sie, vernichten Sie sie und quälen Sie sie durch Kälte zu Tode – sie sollen sich besinnen, die Rothändigen, und aufhören, Verwandte zu sein. Für Sie ist das gut, und Sie werden dabei nur gewinnen.
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Die Haie
B
örse auf der Promenade Auf der Promenade am Flußufer hatte sich ein Häuflein Menschen angesammelt. Alle hielten die Hände wie Schilder vor die Augen und schauten angestrengt in die Ferne. »Oh, ein Fisch«, sagte einer aufgeregt. »Oh, nein«, wirft ein anderer ein. »Ach, du lieber Gott! Ich sehe ja sein Gesicht so gut wie das Ihrige.« »Haben Sie denn bei einem Fisch schon einmal ein Gesicht gefunden?« »Was hat dann ein Fisch?« »Ein Maul.« »Merci. Also, ganz gleich, ich sehe ein Maul. Es schwimmt gerade auf uns zu. Man kann es fangen. Sobald es nahe genug am Ufer ist – her und mit den Händen gepackt.« »Wirklich? Sagen Sie mir: Kann man die Art bestimmen, oder ist es nicht zu sehen?« »Ich denke – das ist nichts anderes als ein großer Wels.« »Was sagen Sie? Wie steht heute der Preis für Welsfleisch?« »Ein Rubel fünfundzwanzig Kopeken.« »Können Sie mir annähernd das Gewicht angeben?« »Von dem Fisch? Fünfzehn Pud.« »Das macht also zum En-gros-Preis rund fünfhundert Rubel.« 140
Eine Stimme von hinten: »Ich nehme ihn.« »Was nehmen Sie?« »Den ganzen Fisch. Zu achtzig das Pud. Ohne Schwanz und Kiemen.« »Ich gebe neunzig mit Schwanz.« Eine Stimme von der Seite: »Ich biete fünfundachtzig ohne Schwanz.« »Kein dummes Gerede! Herrschaften! Ich gebe neunzig ohne Schwanz.« »Hören Sie, Tschawkin, warum steigern Sie hinauf? Das ist doch gewissenlos.« »Was denn? Geschäft ist Geschäft. Ich halte ihn im Kühlraum und werfe ihn dann für anderthalb Rubel auf den Markt.« »Sie selber sollte man für solche Scherze hinwerfen! Ich gebe sechsundachtzig.« »Mit Schwanz?« »Was hat da der Schwanz zu bedeuten? Von mir aus soll er einen Schwanz haben. Sechsundachtzig Kopeken mit Schwanz.« »Ich nehme achtundneunzig.« »Ich gebe sie.« »Was? Was geben Sie? Ist das vielleicht Ihr Fisch? Haben Sie ihn schon in den Händen? Fangen Sie ihn doch zuerst!« »Tue ich auch. Da ist schon was dabei! Die Hauptsache ist, zuerst einen festen Preis auszumachen, das Fangen ist eine Kleinigkeit.« »Ja, da erlauben die Herren … Ist das ein Fisch? Jetzt 141
schwimmt er näher heran, aber es scheint kein Fisch zu sein.« »Lassen Sie mich vor, ich will schauen … Natürlich! Was für ein Idiot hat da gesagt, daß ein Fisch herschwimmt? Ein ganz gewöhnlicher Balken ist es.« »Ich nehme ihn.« »Was?« »Das da – den gewöhnlichen zehnzölligen Balken.« »Gut. Ja. Achteinhalb.« »Für sieben nehme ich ihn.« »Bleiben Sie stehen. Und Sie, junger Mann, was bieten Sie?« »Ich – gebe acht. Franko Lager.« »Sie haben leicht reden. Die Fracht von hier kostet jetzt nicht weniger als fünf Rubel.« »Ich gebe neun franko Lager.« »Sie sind klug, junger Mann, aber ein Trottel. Ich gebe acht ab hier.« »Angenommen.« »Steigern Sie wieder?« »Was heißt da steigern? Ich werde ihn um neuneinhalb verkaufen. Wollen Sie sich beteiligen? Herrschaften, ein ganz gut trockener Balken neuneinhalb!« »Was sagen Sie da – trocken, wenn er im Wasser schwimmt?« »Innen ist er trocken. Außen reibt man ihn mit einem Handtuch ab und fertig. Also, nehmen Sie ihn?« »Ja.« »Gut.« 142
»Höre, warum hast du ihm den Balken überlassen?« »Dummer Tropf, ich werde ihn gleich heruntersteigern. Um fünf Rubel, dann kaufe ich ihn.« »Geben Sie ihn her?« »Was? Aufs Maul gebe ich Ihnen eine! Was für ein Balken? Woher ein Balken? Wachsen vielleicht auf einem Balken Haare? Hat vielleicht ein Balken Beine? Teufel! Sie handeln mit einem Ertrinkenden!« »Ah, wirklich, das ist ein Mensch!« »Und anscheinend gut angezogen.« »Genommen!« »Was nehmen Sie?« »Den Anzug.« »Ich gebe ihn für dreißig.« »Ich nehme ihn für fünfundzwanzig ohne die Stiefel.« »Treibst du schon wieder? Tschawkin, was soll denn diese Agiotage?« »Ich nehme Stiefel und Anzug für fünfundvierzig.« »Gemacht. Meine Herren! Ich gebe das Bruttogewicht ohne Verpackung – zehn Rubel!« »Bruttogewicht? Was soll das heißen? Willst du eine Suppe damit kochen, was?« »Erlauben Sie! Wie können Sie mir den Anzug anbieten, wenn er schwimmt und mit den Armen herumschlägt?« »Was, der Anzug?« »Nicht der Anzug, aber das, was drinnen ist. Das ist doch eine Frechheit! Der Anzug von einem lebenden Menschen – ist das eine Spekulation?« »Er schwimmt her!« 143
»Teufel noch einmal! Er ertrinkt! Helft ihm! Zieht ihn heraus!« »Warum herausziehen? Ist das ein Fisch oder ein Balken?« »Trottel seid ihr – Trottel! Vielleicht kann er zehn Rubel nachlassen, wenn man ihn herauszieht. Das Geld liegt auf der Straße, aber ihr hebt es in seinem Dunst nicht auf.« »Ah, wirklich!« Einer aus der Menge stürzt sich ins Wasser, zerteilt mit seinen Armen die Wogen und ruft laut: »Hören Sie, wie man Sie … einen Ertrinkenden! Ich gebe fünfzig Rubel für siebzig! Nehmen Sie an?« »Ersaufen Sie mit ihnen«, röchelt der Ertrinkende, der schon Wasser geschluckt hat. »Ich habe selber hundert; wie Blei sind sie gesunken.« »Dann behalt’s, sagt atemschöpfend der enttäuschte Retter und kehrt zum Ufer zurück.
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Foxtrott
E
ssen Sie gern Käse?« hat man einen Mucker gefragt. »Jawohl, ich finde Geschmack an ihm«, hat er darauf gesagt. Und einen anderen Mucker fragte man in Prosa: »Haben Sie den Foxtrott gern?« »O ja«, antwortete er. »Ein wunderbarer Tanz. Was für ein Feuer in ihm ist – welche Grazie. Welche Gedankentiefe.« Die Menschheit ist auf einmal gänzlich verblödet. Jede Epoche überhaupt, aber besonders die Epoche der Dummheit muß ihre Tänze haben. Und meine »kopfkranken« Zeitgenossen haben den Foxtrott erfunden. Die Epochen des Verstandes, der Schönheit, der Eleganz und des wirklichen Glanzes waren wie folgt gekennzeichnet: durch das Menuett, die Mazurka, die erhabene Polonaise, den Wiener Walzer, sogar durch den Cancan, bei dem man sich die Füße abstieß. Unser armes Zeitalter ist charakterisiert durch den Foxtrott. »Foxtrott« – ist die englische Bezeichnung. Auf französisch heißt dieser Tanz »danse des imbéciles«, aber in der ehrlichen, gradlinigen russischen Sprache heißt er »Narrentanz«. In allen Singspielhäusern und Tanzlokalen der Welt vollzieht sich nach Schluß des Programms ein und derselbe Vorgang: In der Mitte des Saales werden Tische und Stühle 145
weggeräumt, und es erscheint irgendwoher ein sonderbares Orchester, das offensichtlich eigens zu dem obengenannten Tanz zusammengestellt ist. Zwei, drei Nichtstuer beginnen auf einem Banjo zu zupfen, der Pianist hält inzwischen Abrechnung mit seinem hilflosen Klavier, irgendeiner dudelt, aber die Hauptsache, das Hauptglück ist ein Gentleman mit schwarzem Gesicht und weißen Zähnen, der sich ganz als Spaßmacher einführt: Er ist umgeben von Trommeln, Tellern, Löffeln und Gabeln – einem ganzen Tischgedeck. Aber das bedeutet noch nichts: Eine sonderbare Maschine, die neben ihm steht, ist mit allem behangen, was man in einem Haushalt an nützlichen Gebrauchsgegenständen finden kann: leeren Flaschen, alten Bratpfannen, Kleiderbürsten, zerbrochenen Autoteilen und Teesieben. Auf all diese Hausgeräte fängt der Schwarzhäutige auf einmal wild mit seinem Trommelschlegel zu hämmern an, pfeift, schluckt und ruft »oho, oho« dazu. Er flötet, piepst, stöhnt, läutet, schlägt mit dem Schlegel auf den Stuhl, auf den Boden, an die Flaschen, an die Teesiebe und damit auch auf das sich dort spiegelnde Antlitz seines Ahnen. Unter den Klängen dieser Musik seiner Väter, die schon zu Zeiten von Livingstone ertönte, wenn sie in Kesseln ihre armen gefangenen Feinde kochten, nachdem sie ihnen bei lebendigem Leibe die Köpfe wie Krautköpfe abgeschlagen hatten – unter den Klängen dieser Musik beginnt der Foxtrott. Träge und mit gelangweilter Miene kommt eine Dame auf die Mitte zu. Hinter ihr windet sich ein Kavalier daher, 146
auf dessen Gesicht aber, statt der Freude auf den bevorstehenden Tanz, alles Unheil geschrieben steht, das ihn seit dem Morgen verfolgt hat: die nichtbezahlte Wohnung, das kalte Zimmer, die zerrissenen Stiefel und der bevorstehende Heimweg bei schlechtem Wetter. Mürrisch umfaßt er mit seiner roten Hand die magere Taille der Dame und fängt an zu treten, wobei er mit verlorenem Blick auf eine Ecke der Saaldecke stiert. Er hat getreten. Er hat die Schultern geschüttelt. Auch die Dame hat mit den Schultern gewackelt. Er hat krampfhaft mit.den Hüften gezittert. Auch die Dame hat das gemacht. Dann verwickelten sich seine Beine wie gekochte Makkaroni, eins ins andere. Sie entwickelten sich wieder, und er fängt von neuem an zu treten. Eine schwere, langweilige Arbeit! Aber sie muß sein! Ach, du Kanaille, du stampfst da umher, als ob du Weintrauben austreten würdest. Wärst du doch besser zu Hause geblieben! Hättest du ein Buch gelesen! Vielleicht hast du von Dostojewskij oder Dickens überhaupt noch nie etwas gehört, von Oscar Wilde hast du keine Ahnung, aber hierher, auf das weltmännische Leben hast du dich geworfen: Ich nämlich drehe mich in dem weltmännischen Wirbel! Man kann jene Gentlemen und Ladies noch verstehen, die für diesen mühsamen Tanz pro Abend je zwei oder drei Dollar erhalten: Es ist ja die gleiche langweilige Arbeit wie das Führen von Büchern oder das Stopfen von Zigaretten. Aber wie soll man in die Geheimnisse der Psychologie derjenigen Freiwilligen eindringen, die ohne jede Verpflichtung und Nutzen ebenfalls in die Mitte gehen mit 147
Gesichtern, als wären sie eben zu langjährigem Gefängnis verurteilt worden, und unter dem Gepolter der Bratpfannen mürrisch, mit erstarrtem Gesichtsausdruck herumtrippeln und sich nicht getrauen, zur Seite zu sehen, vollkommen uninteressiert: Was ist das für ein wunderschönes Mädchen, das sich da vor mir krampfhaft herumschlängelt, sich schüttelt und stolpert … Vielleicht ist das die Schönheitskönigin, und vielleicht tobt unter dem Feuer ihrer Augen prachtvolles Blut und schlägt süß das Herz?! Teufel noch einmal! Er drückt ihr nicht einmal die Hand nach dem Tanz: Die Musik, die zum Schluß in ein wildes Chaos von Tönen ausartete, schweigt, und der Puppentanz ist zu Ende. Die geheime Feder ist eingeschnappt, und die beiden Puppen gehen mit schläfrigen Gesichtern auseinander. »Brüder! Ihr seid doch die Herren der Schöpfung! Was ist das für ein Benehmen?« Eines Tages war ich mit einem Freund in einem Café chantant, und dort gefiel uns ein Foxtrottist besser als ein heller Falke. Es war ein Bursche mit dem Gesicht eines Azteken und dem Kopf eines Mikrokephalen … Auf dem Kopfwirbel stand sein Haar in dichten Büscheln wie Gesträuch, die Nase nahm in seinem Gesicht eine solche Kommandostellung ein, daß Mund und Augen nicht wußten, wo ein und aus. Blendend kurze Hosen zeigten ein Paar dürre Foxtrotter-Beine – oh, wie uns dieses Bürschchen mit dem Äußeren eines davongejagten Ladenschwengels gefiel! 148
Er machte an diesem Abend seine fünfzehn Werst, das Verwickeln der Beine, das Schütteln der Schultern und der Hüften nicht eingerechnet. Er merkte auch, daß er uns auffiel; das brachte etwas Leben in den armen Teufel, und diese arme weggeworfene Blüte erschloß sich vollkommen. Zum Schluß machte er uns zu Ehren sogar zwei, drei Kunststückchen mit den Beinen, indem er sie wie eine Schere auseinanderspreizte und dann mit kunstvollem Sprung wieder schloß. Von fünfzehn tretenden Kavalieren war er der einzige, der einige Lebenszeichen in diesem Reich der Anabiosen von sich gab. Wenn ich jetzt in der Pose eines Betrachters in dem Tanzlokal sitze und mein Augenmerk auf das bekannte Haardickicht am Kopfwirbel und die kurzen Hosen richte, die um die dürren Beine herumschlenkern, dann beleben sich die Gesichter von uns beiden im stillen: Er sieht in mir nur den Kunstkenner, den Meister und Sachverständigen. Ich aber sehe in ihm den ehrlichen Arbeiter, den größten Trottel unter den Foxtrottisten und den besten Foxtrottisten unter den Idioten. Leb wohl, lieber mikrokephaler Aztek! Möge dir die Erde leicht sein, wenn du deine Kringel, Scheren und Makkaroni zu Ende genascht hast…
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Die Fliege I. Aufzeichnungen eines Gefangenen
A
lso – ich bin im Gefängnis. Gott, welche Langeweile … Kein Ton dringt zu mir herein, ich sehe kein lebendes Wesen. Oh, Gott! Was ist das dort? An der Wand … Nicht möglich? Welches Glück! In der Tat: An der traurigen Wand meiner Gefängniszelle sah ich eine gewöhnliche Fliege. Sie saß da und rieb mit den Vorderbeinen an ihrem Köpfchen. Liebe Fliege! Du wirst mein Kamerad sein. Du wirst meine Einsamkeit verschönern. Ich fürchte sehr, daß sie aus Ärger über den Mangel an Abwechslung in der Nahrung von mir fortfliegt. Ich werde ihr ein Abendessen bereiten. Ich nehme ein Stück Zucker, feuchte es mit Wasser an und lege es neben einige Bröckchen gekochten Fleisches hin – ich weiß nicht, vielleicht essen die Fliegen auch Fleisch. Dann fange ich an, meinen kleinen Kameraden zu beobachten. Die Fliege fliegt in der Zelle herum, setzt sich an die Wand, auf meine armselige Koje und summt … Von meinen Bemühungen merkt sie aber nichts. Flieglein, schau doch hierher! Ich stehe von meiner Koje auf und beginne vorsichtig mit den Händen zu winken in dem Bestreben, sie zum Tisch hinzujagen. Hab keine Angst, du Arme! Ich tue dir nichts Böses: Sind wir doch beide Unglückliche und Einsame. 150
Aha! Endlich hat sie sich auf den Tisch gesetzt. Beinahe hätte ich mich nicht zurückgehalten und ihr zugerufen: »Guten Appetit!« In der Zelle ist es kalt. Meine Fliege, mein teurer Kamerad, sitzt in einer Art sonderbarer Erstarrung an der Wand. Sie wird doch nicht sterben! Nein! »He, ihr Aufseher! Solange ich allein war, habt ihr mich frieren lassen können, aber jetzt … Gebt uns Wärme! Gebt Feuer!« Niemand hört mein Rufen und Klopfen. Das Gefängnis bleibt stumm. Die Fliege sitzt nach wie vor erstarrt da. Was für ein Glück! Man hat den Kessel mit heißem Tee gebracht. »Lieber Freund! Sofort wird es auch dir warm werden.« Vorsichtig trage ich den Teekessel zu der Wand, wo die Fliege sitzt, und halte ihn lange so, in der Nähe der Fliege; ringsum breitet sich belebende Wärme aus. Die Fliege hat sich bewegt. Sie ist aufgeflogen … Endlich! Wir müssen einander helfen, teurer Kamerad, nicht wahr, ha, ha! Heute konnte ich die ganze Nacht nicht einschlafen. Die ganze Nacht beunruhigte mich der Gedanke, daß die Fliege zu fliegen anfängt, wenn ich eingeschlafen bin. Womöglich setzt sie sich dann in meine Koje, und ich erdrücke sie durch eine unvorsichtige Bewegung, meine arme, 151
vertraute Freundin! Nein! Ich glaube, ich würde ihren Tod nicht überstehen. Auf dem Tisch brennt die Lampe … Ich liege da mit offenen Augen. Macht nichts! Ich kann am Tag ausschlafen. Welch ein Schrecken! Beinahe wäre meine Fliege in einem Spinnennetz untergegangen! Ich hatte dieses verdammte Gewebe gar nicht bemerkt. Wirklich, eine Spinne habe ich nirgends gefunden, aber das Gewebe! Ich zitterte nicht wenig, als an mein Ohr ein kaum vernehmbares Summen drang. Wie von einer Vorahnung beunruhigt sprang ich auf! Es ist wirklich so! Sie wandert am äußersten Rande des Spinnengewebes umher. »Lieber Kamerad! Ich bin auch in ein mir gestelltes Netz gefallen, und ich werde dich vor einer Wiederholung dieses schrecklichen Schrittes behüten. Ksch! Ksch …!« Ich winke mit den Armen und schreie laut, damit die Fliege erschrecken soll. Sobald sie mich bemerkt, bewegt sich die Fliege zur Seite – und fällt natürlich in das Spinnennetz. Siehst du, du hast eine Dummheit gemacht! Ich nehme mit der Hand das ganze Spinnennetz herunter und wickle die Fliege vorsichtig heraus. Oh, wenn nur jemand mein Gefängnis ebenso öffnen und mich befreien würde! * 152
Heute kann ich nicht essen und trinken. Ich liege in meiner Koje und starre auf einen Punkt … Die Fliege ist verschwunden! Sie ist fortgeflogen, hat mich im Stich gelassen – das egoistische, selbstzufriedene Geschöpf! Ist es dir vielleicht schlecht gegangen? War ich dir vielleicht kein treuer, ergebener Freund, auf dessen starke Hand du dich stützen konntest? Sie ist fortgeflogen!
II. Aufzeichnungen der Fliege
I
ch bin aus reiner Neugierde hierhergeflogen. Auf einmal sehe ich, daß ich eine Dummheit gemacht habe. Tödliche Langeweile! Kaum setze ich mich an die Wand, um mich in Ordnung zu bringen und ein Schläfchen zu machen, da fahre ich zusammen und fühle den Blick von irgend jemandem auf mir. Ein Mann! Was will er? Er reißt die Augen nach mir auf, daß es eine Schande ist. Hat er etwa die Absicht, mich zu erschlagen? Ich sehe, jetzt heißt es auf das Ausruhen verzichten. Ich fliege in der Zelle umher. Ätsch! Warum belästigt er mich? Er hat auf dem Tisch irgendeinen süßen Dreck und gekochtes Fleisch zusammengerafft und jagt mich händeklatschend in der Zelle herum. 153
Was für ein lächerlicher, abgeschmackter Anblick: ein Mensch, der jede Würde verloren hat und wie ein Kalb herumspringt … Ich muß mich auf den Tisch setzen und sein Mischfutter probieren. Brr …! Was schreit er denn da? Wie er sich nur nicht schämt. Und das will noch ein Mensch sein. Keine Minute Ruhe! Kaum habe ich die Augen zugemacht und bin ein bißchen eingenickt, da fängt er zu schreien an, hämmert mit den Fäusten an die Tür, so lange, bis man ihm einen Teekessel mit kochendem Wasser bringt. Was hat er im Sinn? So was ist doch noch nicht dagewesen! Er stößt mich mit dem heißen Teekessel gerade in die Seite … Vorsichtiger, du Teufel! Jetzt hab ich’s: Er hat mir einen Flügel versengt. Ich versuche zu fliegen … Ungemein lächerlich: Ich fliege, und er rennt mit dem Teekessel hinter mir her. Ein Bild, über das sich die geliebte Fliege krank lachen kann. Draußen ist es Nacht, ich bin unheimlich müde, aber er hat die Lampe angezündet, liegt da und starrt auf mich. Alles hat seine Grenzen! Meine Nerven sind so gereizt, und ich bin so müde, daß ich es nicht erwarten kann, bis ich von diesem Verrückten fortkomme. Nachts kann ich nicht schlafen, und morgen früh wird er wahrscheinlich gleich wieder anfangen, mit dem heißen 154
Teekessel hinter mir herzuspringen … Alles hat eine Grenze! Dieser Mensch hätte mich beinahe ins Grab gebracht! Heute ging ich auf ein Spinnennetz zu – die Spinne ist schon lange fort, und ich wollte mir nur diesen verrückten Aufbau ansehen. Und was meint ihr! Wie immer ist dieser Mensch gleich wieder da. Er fuchtelt mit den Armen herum, brüllt etwas mit wilder Stimme und erschreckte mich so, daß ich mich auf die Seite wandte und in das Spinnennetz verwickelt wurde. Warte! Hör auf! Ich helfe mir schon selbst! Ich wickle mich selber heraus …! So hör doch auf! Du hast mir einen Flügel zerbrochen, du Bär. Mein Bein, mein Bein! Vorsichtiger, mein Bein! Pfui! Ne-ein, mein Lieber, jetzt ist’s genug. Was ist das? Signal zum Mittagessen? Was für ein Glück! Die Tür geht auf, und ich – addio! Jetzt werde ich nicht mehr so dumm sein. Ich werde meinen Rüssel hier nicht mehr zeigen und die Kameraden warnen: »Kameraden-Fliegen! Haltet euch weit von den Gefängniszellen weg! Hütet euch vor der Inquisition!«
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Lehrreiche historische Erzählungen Wie Dido Karthago gründete
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enn ein Spitzbube und ein Dummer zusammenkommen, so ist eines klar: Bei dieser Kombination verliert immer der Dumme. Die Schwester des grausamen Königs Pygmalion hatte sich seinen Verfolgungen entzogen und kam mit ihrem Gefolge nach Afrika. Sie sah sich bei den Eingeborenen um, machte sich mit ihnen bekannt und überredete sie, folgenden Handel einzugehen: »Ich zahle euch diese kleine Summe, wenn ihr mir so viel Land verkauft, wie ich mit einer Ochsenhaut einfassen kann.« Die Afrikaner kratzten sich hinter den Ohren und sagten zueinander: »Ganz klar, ein dummes Weib. Wir haben Land, soviel man will – also soll sie dieses Stückchen nehmen. Dadurch werden wir wirklich nicht ärmer.« »Nun, wie steht’s«, drängte Dido. »Gut! Abgemacht!« »Abgemacht, also abgemacht«, murmelte Dido. Unmittelbar darauf zerschnitt sie eine Ochsenhaut in lauter schmale Streifen und umgab damit ein so großes Stück Land, wie man eben mit einer Ochsenhaut einfassen kann. Wieder kratzten sich die Afrikaner hinter den Ohrenaber es war zu spät. Daher kommt die Redensart: »Wir sind ein finsteres Volk.« Bekanntlich sind die Afrikaner schwarz. 156
Das ist die Gründung Karthagos. Hört, liebe Kinder. Wenn ihr einen Grundstückskauf macht, müßt ihr immer eine Ochsenhaut in der Tasche haben. Und wenn dieses Mittel nicht hilft, so könnt ihr auch auf andere Art Spitzbübereien treiben.
Verbrecherische Faulheit
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er midische König Astvages hatte am Abend Spanferkel mit Meerrettich gegessen, und es träumte ihm, daß aus dem Bauch seiner Tochter ein dichtbelaubter Baum wachse, der mit seinem Schatten ganz Asien bedeckte. Die über diese Erscheinung befragten Magier sagten: »Die Sache ist klar. Cyrus wird geboren.« Selbstverständlich erschrak Astvages vor seinem schattigen, dichtbelaubten Verwandten. Er ließ seinen Magnaten Harpagon kommen und sagte zu ihm: »Mein liebster Harpagon. Dort bei meiner Tochter ist Cyrus geboren worden, also du mußt ihn … Nun, das brauche ich dich nicht zu lehren. Hast du verstanden?« »Erschlagen?« »Natürlich!« Harpagon verabschiedete sich, aber aus Faulheit übertrug er den Auftrag einem Hirten. Der war auch keiner von den Fleißigen und bat seine Frau, die Sache zu erledigen. Die Frau machte natürlich schlapp, und statt mit dem 157
Knaben gemäß dem königlichen Befehl umzugehen, versteckte sie ihn. So wuchs Cyrus heran. Kinder! Beauftragt nie andere mit Sachen, die euch selber aufgegeben sind!
O Solon! Solon! Solon!
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er persische König Cyrus besiegte den lydischen König Krösus, der wirklich so reich war wie Krösus. Als Krösus gefangengenommen war, sagte Cyrus gnädig: »Heute ist es ein bißchen kalt. Unser Gefangener friert. Wärmt ihn mit einem Teppich.« Als Krösus in einen Teppich eingehüllt war, erhob er die Augen zum Himmel und weinte wie ein Kind: »O Solon, Solon, Solon!« »Möchtest du Pökelfleisch ⁴?« erkundigte sich Cyrus, der schlecht Lydisch verstand. »Nein, Herr Kollege«, antwortete Krösus. »Ich habe mich nur an den griechischen Weisen Solon erinnert, vor dem ich mich einmal mit meinem Reichtum gebrüstet habe. ›Ist es richtig‹, fragte ich, ›daß man mich den glücklichsten aller Menschen nennen kann?‹ – ›Nein ‹, sagte Solon, ›vor seinem Ende kann sich niemand glücklich nennen.‹« »Sieh mal an«, sagte Cyrus und befahl, Krösus abzuführen. 158
Diese Geschichte, Kinder, lehrt euch, Unterhaltungen mit Weisen und nicht mit Dummköpfen zu führen, mit denen man, wie es heißt, immer nur hereinfallen kann.
Der Ring des Polykrates oder Der Mensch kann seinem Schicksal nicht entgehen
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s war einmal ein Tyrann namens Polykrates. Ihm ging alles so gut hinaus, daß jedermann sich wunderte. Um den Neid der Götter zu versöhnen, beschloß Polykrates, ein übriges zu tun: Er fuhr auf das offene Meer hinaus und warf seinen kostbarsten Ring ins Wasser. Alles ging wie am Schnürchen weiter. Ein Fischer fing einen großen Fisch und schenkte ihn – auch das glückte – dem Polykrates. Polykrates briet ihn, und als er zu essen anfing, hätte er sich beinahe einen Zahn zerbrochen – immerhin, er zerbrach nicht; auch das glückte! Warum, so fragt man, hätte er sich beinahe einen Zahn zerbrochen? Ja, sehr einfach: In dem Fisch war der Ring, den er ins Meer geworfen hatte – der seltenste Glücksfall. Es ist zu ergänzen, daß bald darauf Polykrates von einem persischen Satrapen gefangengenommen und mit allen seinem hohen Rang zukommenden Ehren gehenkt wurde. 159
Das ist die Geschichte von dem Ring. Das ist die Geschichte von dem Glück. Seit dieser Zeit ist der Preis für Fische so in die Höhe gegangen, daß man heute das Pfund Stör unter drei Rubel nicht mehr kaufen kann. Schade nur, daß die Fische vollständig aufgehört haben, sich von Ringen zu nähren.
Von dem talentierten Dichter
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er athenische Dichter Phronich schrieb eine Tragödie »Die Eroberung von Milet«. Bei der Vorstellung konnten die Zuschauer sich des Weinens nicht enthalten, und der Dichter wurde wegen solch lebhafter Erinnerung an dieses traurige Ereignis zu einer Strafe von tausend Drachmen verurteilt. Oh, Kinder! Wie glücklich wären wir, wenn das Gesetz auch jetzt noch auf die Autoren von Kriegsstücken und -erzählungen angewendet würde! Besser sie weinen um ihr Geld als der Leser.
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Das gepeitschte Meer
D
er König Xerxes wollte mit seiner Armee über das Meer. Aber es erhob sich ein Sturm und zerstörte die von ihm gebaute Brücke. Da befahl Xerxes, das Meer zu peitschen. Wegen dieses unmenschlichen Vorgehens nannten ihn seine Zeitgenossen einen Kreter. Kinder! Wenn ihr auf eurem Wege an ein unüberschreitbares Meer kommt, so behandelt es nicht wie Xerxes. Trinkt lieber Wein – dann wird das Meer sich euch zu Füßen legen, und ihr geht leicht darüber.
Was in einem Faß Gutes sein kann
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ekanntlich wohnte Diogenes in einem Faß, weshalb ihn viele gutgläubige Leute für einen Weisen hielten. Wir sind damit nicht einverstanden. Zum Beispiel: Eines Tages besuchte ( ?) ihn Alexander von Makedonien. Diogenes saß wie ein Trottel in seinem Fasse. »Diogenes«, sagte Alexander, »soll ich dir irgendeine Gnade erweisen?« »Ja«, antwortete Diogenes grob. »Welche?« 161
»Geh weg, du verdeckst mir die Sonne.« Ist das scharfsinnig, Kinder? Kein bißchen. Ein hochgestellter Mann wendet sich an dich wie ein gewöhnlicher Sterblicher und will dir etwas Gutes tun, aber du? Wie antwortest du ihm? Wo hat man dich solche Antworten gelehrt? Bist du ein Weiser? Ein Sackträger bist du, aber kein Weiser! Für seine grobe Antwort mußte Diogenes bekanntlich immer mit einer Laterne gehen. Kinder! Werdet anständig!
Wo bei einem Mann die Steine sein müssen
D
er Redner Demosthenes, der in seiner Jugend ein Stotterer war, begann seine Laufbahn als Redner so, wie viele zeitgenössische Redner anfangen, fortfahren und aufhören: Man pfiff ihn aus. Aber das kümmerte ihn nicht: Er füllte seinen Mund mit Steinen und hielt eine so gewaltige Rede gegen Philipp, daß seine erstaunten Zeitgenossen sie die Philippische nannten. Es ist sehr zu bedauern, daß die gegenwärtigen Redner dem Demosthenes nicht ähnlich sind. Sie haben keine Steine, sondern Grütze im Mund. 162
Die Steine haben sie gewöhnlich im Busen und schmeißen sie ohne jedes Besinnen in fremde Gärten.
Eine vornehme Geste Alexanders von Makedonien
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lexander von Makedonien geriet einst mit seinem ganzen Heer in eine Wüstenei, wo es keinen Tropfen Wasser gab. Plötzlich fand ein eifriger Krieger eine kleine Pfütze, schöpfte mit dem Helm Wasser heraus und brachte es Alexander. Alexander schaute in den Helm und sagte: »Wie soll ich jetzt Wasser trinken, da meine Krieger vor Durst schier umkommen?« Und er goß das Wasser auf die Erde. Das ist natürlich eine schöne Geste, aber hier, Kinder, ist die Erklärung dazu: Vor dem Trinken schaute Alexander in den Helm – und was sah er da? Ein bißchen flüssigen Brei aus Schutt und Dreck, in dem eine krepierte Ratte herumschwamm. Kinder, was für Gesten machte er? Erstens: eine hygienische. Zweitens: eine schöne. Drittens: eine historische. 163
Kinder! Denkt daran, daß auch ihr schöne historische Gesten machen könnt, besonders dann, wenn es keinen anderen Ausweg gibt.
Die Verbrennung des Mucius à la Scaevola
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er junge Römer Mucius Scaevola drang in das feindliche Lager, in der Absicht, den Porsenna zu erschlagen. Aber aus Kurzsichtigkeit oder einem anderen Grunde tötete er einen fremden, gänzlich uninteressanten Mann. Als man ihn gefangengenommen hatte, sagte Porsenna: »Ich werde dich bei lebendigem Leib verbrennen.« Da legte Mucius eine Hand in das glühendheiße Feuer und sagte: »Ich niese auf deine Drohungen. Siehst du – ich kann mich selber verbrennen, soviel ich will.« Der Historiker sagt, daß der über so viel Heroismus verwunderte Porsenna den Mucius Scaevola begnadigte und sich beeilte ( ?), Frieden zu schließen. Kinder! Habt ihr jemals einen praktischeren jungen Mann getroffen als Scaevola? Er hat es sofort erfaßt, daß besser eine Hand verbrennt, als er selber mit Händen, Füßen und Kopf, wenn die Henker Porsennas anfangen, ihn zu brennen. Aber selbst wenn der Trick mit der Hand keinen Eindruck gemacht hätte, was hätte er riskiert? So oder so – man 164
hätte ihn ganz verbrannt. Wenn ihn aber der König, ergriffen durch seine Geste, begnadigt, so kann man die Hand wieder heilen: Man macht einen Umschlag mit Kartoffelmehl, oder man schmiert die verbrannte Stelle mit Tinte ein. Das hilft auch. Kinder! Werdet praktisch! Verbrennt euch niemals am Feuer und geht im Wasser nicht unter!
Ein Unglück besonderer Art
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er Römer Duilius besiegte die Karthager. Aus Dankbarkeit hierfür ordneten die Römer an, daß hinter ihm immer ein auf seinem Instrument blasender Flötenspieler und ein Mann mit einer Fackel einhergehen sollten. Bekanntlich hatte Duilius ein heimliches Verhältnis mit einer hohen Patrizierin – und was geschah? Dieser Sieger und Held kam in eine ganz unerträgliclie Lage: Sobald er sich zu seiner Geliebten begeben wollte, um sie heimlich zu besuchen, lief eine ganze Prozession hinter ihm her – voraus der Flötenspieler, dann der Fackelträger und dahinter eine Masse Neugieriger. »Wohin bringt man da unseren Duilius?« »Zu dieser, wißt – er hurt mit ihr schon das zweite Jahr.« »Aber, was sagt der Mann?« 165
»Ja, diese Männer … Wenn man einem mit der Fackel leuchtet und die Flöte bläst, sieht und hört er vielleicht da noch etwas?« Der Historiker sagt, daß Duilius, dem die Geduld ausging, eines Tages dem Flötenspieler die Flöte aus der Hand riß, ihm damit den Schädel einschlug und mit der Fackel den Fackelträger und sich selber anzündete. So ging dieser wunderbare, berühmte Mann zugrunde. Kinder! Merkt euch: Zum Erfolg im Leben braucht man keine großen Heldentaten zu vollbringen. Lebt still für euch, ruhig, ehret das Alter, grüßt die Obrigkeit, und nicht eine eurer Handlungen wird durch Fackellicht erhellt, und keine eurer Handlungen wird ein Flötist in alle Welt hinausblasen.
Stampfe nicht unnütz
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er römische Feldherr Pompejus beschloß, gegen Julius Cäsar Krieg zu führen, weil sich dieser dem Willen des Senats nicht unterwarf. Pompejus hatte kein Heer, aber das machte ihm keine Sorgen. Oft sagte er zu seinen Freunden: »Ich brauche nur mit dem Fuß zu stampfen, und es kommen Legionen aus dem Boden.« 166
Unterdessen hatte Cäsar den Rubikon überschritten und fiel über den sorglosen Pompejus her. Da beschloß Pompejus, auf den Boden zu stampfen, damit die Legionen daraus hervorkämen. Er stampfte einmal, zweimal – niemand erschien aus dem Boden. Nicht ein Hund. Er stampfte und stampfte, bis er endlich voll Kopfzerbrechen von Cäsar wegstampfen mußte, so weit das Auge reichte. Und womit endete dieses Gestampfe? Er wurde in Ägypten getötet – wie weit doch dieser Mensch gekommen ist! – und damit Schluß. Merkt euch, liebe Kinder: Es ist leicht, historische Phrasen auszusprechen, aber schwer, ein Versprechen zu erfüllen. Darum – stampft nicht unnütz.
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Exekutor Buratschkow
W
ir waren nur wenige in der spiritistischen Sitzung, aber lauter erfahrene Leute: der General Sytschewoij, der Leiter eines Beerdigungsinstituts, Sinjawkin, die Brüder Saussailow, die Inhaberin der Wohnung, wo die Sitzung stattfand, das alte Fräulein Tschmokin, das Medium und ich. Es war nicht das erste Mal, daß wir in dieser Zusammensetzung beieinander waren, und am Anfang brachte die Sitzung kein bemerkenswertes Ergebnis: Als das Medium eingeschlafen war, begann Klopfen, Herumwerfen von Streichholzschachteln und das gewöhnliche, ziemlich unmusikalische Gezupf einer Gitarre. »Das ist alles langweilig«, sagte gähnend Sinjawkin. »Heute, am Abend vor Weihnachten, sollte man irgend etwas Besseres erwarten dürfen. Nicht wahr, Fräulein Medium?« Da dies eine Unterbrechung bedeutete und das weibliche Medium schon aus seinem Mediumschlaf erwacht war, fuhr es schüchtern zusammen und sagte in entschuldigendem Tone: »Man kann ein Tischtuch auf den Boden legen! Der Geist hebt es auf.« »Da ist schon was dabei! Das haben wir in der letzten und in der vorletzten Sitzung schon gehabt … Nein, zeigen Sie uns was Fixeres!« »Was kann ich schon«, sagte Fanny Jakowlewna – so hieß das Medium. »Sie wissen doch selber, daß das nicht von mir abhängt!« 168
»Freilich ist es so«, sagte Sinjawkin gedehnt. »Nun, machen wir weiter.« Sie löschten das Licht aus, Fanny Jakowlewna seufzte tief und krampfhaft auf und schlief fast sofort ein. Drei Minuten lang saßen wir in tiefem Schweigen da. Endlich fragte der General Sytschewoij mit tiefer, heiserer Stimme: »Geist, bist du da?« Der Geist antwortete mit einem Klopfen: »Ja.« »Wer bist du?« Der Geist verlangte das Alphabet. Fräulein Tschmokina begann monoton: »A, b, c, d, e …« Mehrere Klopfzeichen – und wir wußten nicht nur den Namen, sondern auch den Beruf des Geistes. »Exekutor Buratschkow.« »Ein neuer Geist«, flüsterte die Tschmokina. »Ein solcher war noch nicht da.« »Warum bist du hier, Geist?« erkundigte sich Sinjawkin. »Was für eine Frage? Man hat mich gerufen. Ihr selber habt mich gerufen.« »Aber dich haben wir nicht gerufen. Zu uns kommt für gewöhnlich der Geist der Tänzerin Ida …« Der Geist schwieg beleidigt. »Geist, bist du da?« Der Geist klopfte schwach. »Er ist noch schwächlich«, sagte zärtlich der Bruder Saussalow. »Quält ihn jetzt nicht. Seht, wie das Medium zittert.« Und er fuhr noch weicher, zärtlicher fort: »Bist du noch recht schwächlich, Buratschkow? Macht nichts, macht 169
nichts. Du wirst schon stärker werden, mein Täubchen, sammle nur Kraft. Dann machst du uns irgend etwas vor … Tust du es, Buratschkow, was?« – »Ja«, klopfte der Geist. »Sieh da, du bist ein gescheiter … Wir haben keine Eile, wir warten – Wirst du schon stärker, wie?« »Ich werde stärker«, antwortete der Geist lauter und deutlicher. »Das ist ja ausgezeichnet. Das ist angenehm. Wirst du dich uns zeigen?« »Ich bemühe mich.« »Das ist gut, mein Lieber. Trachte, gib dir Mühe. Gott liebt die Mühen. Du heißt Buratschkow?« »Buratschkow.« »So, so. Das ist gut. Wir lieben dich schon, Buratschkow.« Einem Menschen, der nicht in die Tiefen des Spiritismus hineingeleuchtet hat, mag eine solche erbarmungslose Bestechung eines Geistes, eine solche Schmeichelei und eine so grobe, vollkommen unbegründete Kriecherei merkwürdig vorkommen. Aber es handelt sich darum, daß nach dem Vorfall mit dem Senator K., dem der Geist die Gitarre um den Kopf geschlagen hatte, wir alle bei unseren Gesprächen mit den Geistern äußerst vorsichtig geworden waren und uns bemühten, sie immer mit Olivenöl zu salben. Das kostete uns nichts, und die Geister wurden weicher. »Könntest du dich uns vielleicht zeigen, Buratschkow?« girrte Tschmokina. »Natürlich nur, wenn es dir nicht schwerfällt.« 170
Bei dem schwachen Licht konnte man sehen, wie irgend etwas Nebliges, Weißes in der Ecke neben dem Flügel auftauchte, hin und her schwankte und sich allmählich verdichtete. »Geist, was tust du?« fragte der General. Der Geist klopfte deutlich: »Ich verkörpere mich.« »Nun, nun verkörpere dich, mein Lieber. Das ist gut. Das hast du dir fein ausgedacht. Verkörpere dich, wie es sich gehört – das wird für dich angenehm sein und für uns eine Wonne, dich zu betrachten.« »Wollen wir nicht das Licht anzünden?« schlug der jüngere Saussailow vor, der am ganzen Leibe zitterte. »Herr Buratschkow … Kann man das Licht anzünden?« »Freilich, was denn … Soll ich im Dunkeln sitzen, was?« Der Schalter schnappte. Fanny Jakowlewna zog mit den Nasenflügeln kräftig Luft ein und erwachte. Alle Blicke wandten sich dem entfernten Eck beim Flügel zu … Dort saß in gekrümmter Haltung ein Mensch mit ungesunder erdiger Gesichtsfarbe. Er hatte einen blauen abgetragenen Frack und karierte Nankinghosen mit Biesen an. Ein hoher Kragen mit einem schwarzen Halstuch umhüllte den Hals. Dieser Mann war nicht unheimlich. Alle standen von ihren Plätzen auf und bewegten sich, ängstlich zu einem Haufen zusammengedrängt, auf ihn zu. 171
»Ihr Familienname ist Buratschkow«, fragte Saussailow zaghaft. Buratschkow erhob sein gequältes Auge zu unserer Gesellschaft und röchelte, von Husten unterbrochen: »Ja doch! Was denn sonst? Ich bin selber Exekutor.« »Wissen Sie, woher Sie gekommen sind?« »Nein. Was? Irgendwie bin ich hier plötzlich erschienen, aber warum – ich weiß es einfach nicht. Kalt ist es hier und unruhig.« Gequält schauten alle auf diese traurige Figur undschwiegen. »Worüber soll man mit ihm reden?« fragte Sinjawkin unzufrieden. »Wie soll ein Gespräch möglich sein, wenn er sich an nichts erinnert …« »Immerhin ist es großartig, was wir da gemacht haben«, sagte Saussailow, der vor freudiger Erregung am ganzen Körper zitterte. »Natürlich großartig«, sagte der jüngere zustimmend. »Eine solche Materialisation! Andere Kreise würden sie uns aus den Händen reißen.« Er nahm sich den Mut und näherte sich von der Seite her Buratschkow mit der Frage: »Wo waren Sie früher – erinnern Sie sich?« »Nein«, sagte Buratschkow träge und langsam. »Mir ist heute der Kopf so schwer.« »Ein großartiges Ereignis«, sagte die Tschmokina voll Freude. »Ein absolut lebender Mensch. Hören Sie … Wo wohnen Sie?« 172
»Hier«, sagte Buratschkow müde. »Wieso – hier?! Das ist meine Wohnung!« »Ihre?« »Freilich. Aber wo wohnen Sie?« »Ich weiß es nicht. Ich glaube, daß ich hier wohne. Ich bin hier, also wohne ich auch hier. Ich möchte schlafen.« Wir setzten uns alle wieder auf unsere Plätze und ergötzten uns an der durch unsere Hände ins Leben gerufenen Erscheinung. »Herrschaften« – fragte der ältere Saussailow, »kann er sich dematerialisieren?« »Ich denke«, meinte Tschmokina zweifelnd. »Was soll er denn hier tun?« »Verstand hat er wenig«, bemerkte Sinjawkin skeptisch. »Rufen – wir haben ihn gerufen, aber er erzählt nichts davon, was dort ist. Aber auch er nennt sich einen Geist.« »Er erinnert sich nicht«, sagte ich beruhigend. »Letzten Endes tut er mir leid. Seht nur, wie er zusammengekauert dasitzt und vor Kälte zittert. Man sollte ihn wieder zurückschicken.« »Soll man ihn nicht lassen, wie er ist – im Interesse der Forschung?« »Aber, was gibt es da für Interessen der Forschung? Der Mensch erinnert sich an nichts, der Geist kann kein Wort reden. Der Teufel sei mit ihm. Dematerialisieren wir ihn und damit Schluß!« Alle hatten ein merkwürdiges, unerklärliches, drückendes Gefühl und das heimliche Verlangen, diese im Übermaß fleischgewordene Erscheinung loszuwerden. 173
»Löscht das Licht aus«, kommandierte Sytschewoij. »Das Medium soll einschlafen.« »Richtig«, fügte Saussailow hinzu. »Ich denke, daß es sündhaft ist, was wir da tun. Tatsächlich: Wir haben einen Mann gerufen und wissen selber nicht, warum.« »Beruhigen Sie sich jetzt: Wir schicken ihn zurück!« sagte Sytschewoij gereizt. »Löscht das Licht aus. Medium, schlafen Sie ein!« Alle versanken in gespanntes Schweigen. Man hörte nichts als das geräuschvolle Atmen des Mediums. »Geist, bist du hier?« fragte die Tschmokina zaghaft. Die Antwort war Schweigen. »Bist du da, Geist?!« Schweigen. »Nun, Gott sei Dank, er ist fort. Macht Licht, es ist sowieso Zeit, heimzugehen. Ich bin nicht mehr in Stimmung.« Der Schalter schnappte. »Ja«, sagte Sytschewoij unzufrieden, »er ist weg. Teufel noch einmal, verschwunden? Er sitzt ja noch am gleichen Platz.« Sinjawkin stand als erster auf, streckte sich und sagte: »Meinetwegen tut jeder, was er will, ich gehe schlafen. Ich bin müde, und spät ist es auch schon.« »Erlauben Sie!« sagte Fräulein Tschmokina stöhnend. »Was soll dann mit ihm werden? Er sitzt doch noch da!« »Ja, wirklich«, sagte Sytschewoi und biß sich in seinen graumelierten Schnurrbart, »er sitzt! Hm! Na, wissen Sie was, Aglaja Vikentejewna …? Mag er bis morgen früh dasitzen, dann werden wir schon sehen!« 174
»Wieso? Was soll das heißen?« sagte die Tschmokina mit weinerlicher Stimme. »Ich will das nicht! Ich – bin ein Mädchen, vergessen Sie das nicht! Und außerdem fürchte ich mich allein.« »Sie sind doch nicht allein!« suchte der alte Saussailow sie zu beruhigen. »Er bleibt ja auch hier.« »Ich danke Ihnen für eine solche Gesellschaft! Bleiben Sie doch selber mit ihm da!« »Das ist wirklich nicht das Richtige so«, sagte der ältere Saussailow nachdenklich. »Er muß fort. Hören Sie, Sie … Wie heißen Sie? Buratschkow! Gehen Sie heim.« Buratschkow erhob seine kranken Dulderaugen zu ihm und stöhnte kläglich: »Wohin soll ich gehen? Ich weiß nicht, wo mein Haus ist. Dieses hier ist wahrscheinlich mein Haus. Mich friert.« »Wir husten darauf, daß Sie frieren. Sich in fremden Häusern herumzudrücken, ist auch keine Manier!« brauste Sytschewoij auf. »Was wollen Sie denn überhaupt?« Buratschkow sah erschrocken auf den zornigen General und zuckte zusammen. »Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll! Ich kann nirgends hingehen.« »Da hast du es! Da haben wir uns was Schönes eingebrockt!« sagte Sinjawkin gereizt. »Aber die Saussailows mit ihrem ewigen: Täubchen, verkörperst du dich? Verkörpere dich doch! Verkörpere dich! Jetzt hat er sich hier verkörpert, Versucht es und klaubt ihn auseinander!« »Warum sind Sie hier?« wandte sich jetzt der jüngere Saussailow erzürnt an die Erscheinung. »Was wollen Sie? Ist das Ihre Wohnung? Das ist ein fremdes Quartier! Wollen 175
Sie, daß wir die Polizei holen? Sie wird Ihnen zeigen, wie man sich verkörpert!« Buratschkow schwieg und sah nur alle verängstigt und stirnrunzelnd an. »Medium«, sagte der General plötzlich voll Grimm. »Was schauen Sie?! Ihre Sache ist es, uns von ihm zu befreien. Sie haben ihn gerufen, jetzt sehen Sie auch zu, daß Sie ihn weiterbringen.« »Ich habe es schon versucht«, sagte Fanny Jakowlewna hilflos. »Es kommt nichts dabei heraus. Offenbar ist er zu sehr verkörpert. Sie haben ihn doch selber verlangt!« Im Hintergrund des Zimmers weinte Fräulein Tschmokin leise wie ein beleidigtes Kind. Ihr schien es, daß Buratschkow überhaupt nicht mehr von hier fortgehen und ihr ganzes zukünftiges Leben in Staub zerfallen werde. Der General konnte keine Weibertränen sehen. Er ging ganz nahe zu dem Verkörperten hin und brüllte ihm wütend ins Gesicht: »Hinaus!!« Buratschkow lächelte nur gramvoll und flüsterte: »Ja, wohin soll ich denn gehen, um Gottes willen?« Die Lage wurde unerträglich. Alle standen da, traten von einem Bein aufs andere und wußten nicht: Sollten sie fortgehen und die Hausherrin Tschmokina dem Willen des Schicksals überlassen oder bis zum Morgen bei ihr bleiben. »Ob man nicht die Polizei holen soll?« fragte Sinjawkin. »Das kann Unannehmlichkeiten geben. Er hat ja keinen Paß. Da gibt es Vermutungen und alle möglichen Verdächtigungen.« 176
»Ja, ohne Paß – das ist nicht in Ordnung. Wenn du eine Erscheinung bist, können sie dir durch die Finger sehen, aber wenn du schon verkörpert bist – dann gibt es nichts, worauf sie nicht achten würden. Einsteigen in den grünen Wagen!« Ich beugte mich näher zu Buratschkow hin und fing sehr diplomatisch an: »Sagen Sie, Herr Buratschkow, haben Sie hier in der Stadt keine Bekannten? Strengen Sie Ihr Gedächtnis an.« »Erlauben Sie«, sagte nachdenklich der vollkommen erschöpfte Buratschkow. »Ja freilich, habe ich! Der Bürovorstand vom dritten Meldeamt Adrian Ignatewitsch Kokussow … Kennen Sie ihn nicht?« »Kokussow?« sagte ich diplomatisch und zwinkerte meiner Gesellschaft mit den Augen zu. »Ich glaube, ich kenne ihn. Was ist es für ein Kokussow? Adrian Ignatitsch?« »Freilich, ja«, sagte er lebhafter. »Das ist mein bester Freund. Er wohnte auf der Wosnessenskoje im Hause Nummer 7.« »Da gratuliere ich Ihnen«, sagte ich falsch und lachte. »Er wohnt auch jetzt noch dort. Ich weiß es ganz genau.« »Wirklich?« Er war leichtgläubig wie ein kleiner Junge. »Aber natürlich. Er ist doch verheiratet?« »Das will ich meinen. 1832 hat er sich mit Elena Petrowna Gwosdnikowa verheiratet.« »So ist es! Ich kenne ihn«, schrie ich auf. »Er hat schon oft zu mir gesagt: ,Ich habe Sehnsucht ‹, sagte er, ,nach Buratschkow. Wenn ich ihn nur wieder einmal sehen könnte. ‹ Er wird sich über Sie sehr freuen.« 177
»Natürlich, natürlich«, sagte Buratschkow lebhaft, »wir sind doch Freunde. Ich bin bei seinem Wanetschka Taufpate gewesen.« »Ja, Wanetschka ist schon groß geworden. Ein ganzer Mann. Alle fragen nach Ihnen. Sie müssen sie besuchen.« »Also, ich gehe«, sagte er, nickte mir gutmütig zu und stand von seinem Platz auf. »Also, dann gehe ich. Wird das eine Freude sein. Ganz gewiß! Adrian Ignatitsch … Wir kennen uns doch von Kind auf!« Er wankte auf den Gang, setzte die Lammfellmütze von irgend jemandem auf, warf einen alten Mantel, den ich ihm reichte und der unbenutzt im Gang gehangen hatte, über und stieg hinkend und hustend langsam die Treppe hinab. Wir standen am Fenster und sahen triumphierend auf diesen vorsintflutlichen, naiven, leichtgläubigen Sonderling, der sich so leicht hatte einseifen lassen. Am anderen Tage rief mich Fräulein Tschmokina an: »Hören Sie! Wissen Sie schon? Er ist heute früh zu mir gekommen. Gott sei Dank war ich nicht zu Hause und die Wohnung verschlossen. Ich habe dem Schweizer gesagt, er solle ihn nicht hereinlassen, wenn er wiederkommt.« »Natürlich«, sagte ich zustimmend. »Jagen Sie ihn ohne Umstände fort.« »Das meine ich auch. Aber erzählen Sie niemand von dem, was geschehen ist. Wir haben uns verabredet zu schweigen. Sonst kommt noch, Gott weiß was, heraus.« Notiz aus der Zeitungschronik der Tagesereignisse: »Gestern wurde in Lessno am Rand des Gehölzes ein an 178
einem Baume hängender Mann bemerkt. Er trug die typische Uniform eines Beamten der vierziger Jahre. Wahrscheinlich einer der erfolglosen Schauspieler eines Miniaturtheaters, die jetzt wie die Pilze aus dem Boden schießen und die Schauspieler halb verhungern lassen. Es ist anzunehmen, daß der arme Tropf nach dem Schauspiel weggelaufen ist und sich erhängt hat, ohne sich zum Umkleiden Zeit zu nehmen … Papiere wurden bei ihm nicht gefunden. Die Leiche wurde in das Obuchowsche Krankenhaus gebracht.«
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Ein weißer Rabe
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r studierte Kristallographie. Weder vor ihm noch nach ihm habe ich einen lebenden Menschen gesehen, der sich mit Kristallographie beschäftigt hat. Daher fällt es mir schwer, darüber zu urteilen, ob von vornherein eine Verbindung zwischen seinen Charaktereigenschaften und der Kristallographie bestand, oder ob diese Eigenschaften unter dem Einfluß des von ihm gewählten Berufes standen. Er war ein breitschultriger junger Mann mit blonden Haaren und so durchsichtigen klaren Augen, daß es fast peinlich war, in sie hineinzuschauen: Es war gerade, als ob man in die Fenster einer fremden Wohnung hineinsähe, wo alle Lebensvorgänge sich bei vollem Tageslicht vollziehen. Man konnte ihn über was auch immer fragen – er hatte keine Geheimnisse, keinen dunklen Fleck in seinem Leben. Keinen von den Flecken, die wie ein Leopardenfell die ganze sündige Menschheit bedecken. Ich hielt ihn für einen Sonderling, und deshalb entwikkelte sich auch unsere Bekanntschaft nach Art von Sonderlingen: Eines Abends saß ich in meinem Zimmer – die Wohnung bestand aus einer Reihe von Zimmern, die ein betrügerischer Hauswirt vermietet hatte. Ich saß friedlich da und studierte, auf einmal hörte ich hinter der Wand das Stampfen von Fiißen, Rufen, Heulen und Stöhnen … Ich hatte das Gefühl, daß hinter der Wand irgend etwas Furchtbares vor sich ging. Mein Herz zitterte, ich sprang 180
auf, rannte aus dem Zimmer und stieß die Nachbartür auf. Mitten in dem Zimmer stand der breitschultrige Jüngling, in eine rote Decke eingehüllt, ein Diwankissen auf den Kopf gedrückt, und stampfte mit den Füßen, stieß heulende Laute aus, tanzte und wand sich auf die seltsamste Weise. Beim Geräusch des Türöffnens wandte er sich mir zu, machte ein geheimnisvolles Gesicht und warnte: »Kommen Sie nicht näher heran. Es ist an mich gewöhnt, aber vor Ihnen könnte es erschrecken. Es hat auf dem ganzen Weg geweint, aber jetzt hat es sich beruhigt.« Mit stolzem Selbstvertrauen fügte er hinzu: »Das kommt daher, weil ich das richtige Mittel gefunden habe, es aufzuheitern. Es schaut und ist ruhig.« »Wer ist ›es ‹?« fragte ich ängstlich. »Ein kleines Kind. Ich habe es auf der Straße gefunden und mit heimgenommen.« In der Tat, auf dem Diwan lag, mit Kissen bedeckt, ein winziges Wesen und schaute mit großen starren Augen auf seinen Entführer. »Was ist das für ein Unsinn? Wo haben Sie ihn gefunden? Warum nennen Sie ein gewöhnliches Menschenkind ›Es ‹?!« »Ich weiß ja noch nicht, ob es ein Knabe oder ein Mädchen ist. Ich habe es hier an einer Straßenecke gefunden, wo keine Menschenseele ist. Es brüllte, als ob man es umbringen würde. Da habe ich es mitgenommen.« »Da hätten Sie aber besser getan, es auf dem Polizeirevier abzuliefern.« 181
»Aber wieso denn? Was hat es getan? Hat es etwa jemand umgebracht? Ein sehr nettes Kind! Wie? Finden Sie das nicht?« Er schaute mich mit der Unruhe des liebevollen Vaters an. Inzwischen hatte das Kind den Mund geöffnet und brüllte aus vollen Lungen. Sein Beschützer begann wieder mit den Füßen zu stampfen, tanzte, schlenkerte die Decke herum und vollführte die sonderbarsten Verdrehungen. Endlich blieb er müde stehen und sagte schnaufend: »Meinen Sie nicht, daß er hungrig ist? Was essen ›solche ‹?« »Sieh mal, ›solche ‹? Ich glaube, daß ihr ganzes Menü aus Muttermilch besteht.« »Hm! Dumme Geschichte. Aber woher nehmen? Das ist die Frage. Diese Milch?« Einer sah den andern unschlüssig an, aber unser Nachsinnen wurde plötzlich durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen. Herein kam ein sehr hübsches Mädchen, das mich von der Seite ansah und sagte: »Aljescha, ich habe Ihnen ein Buch gebracht, das Sie mir geliehen haben. Es sind die Vorlesungen von Profess… Ja, was ist denn das?« »Ein kleines Kind. Ich habe es auf der Straße gefunden. Lieb, nicht wahr?« Das Mädchen nahm an dem Kind tätigen Anteil: Es küßte es, brachte die Windeln in Ordnung und richtete einen fragenden Blick auf Aljoscha. »Warum schreit er?« fragte sie streng. 182
»Ich weiß es nicht. Ich habe ihn durch nichts beleidigt. Wahrscheinlich ist er hungrig.« »Warum unternehmen Sie denn nichts?« »Was kann ich denn unternehmen? Dieser Herr da – er scheint sich in solchen Dingen auszukennen – rät, ihn mit der Brust zu nähren. Wir aber können das mit ihm nicht machen, das müssen Sie zugeben.« Inzwischen war sein Blick auf die junge, offensichtlich erst in diesem Frühling erblühte Brust des Mädchens gefallen, und sein Gesicht glänzte vor Freude. »Hören Sie, Natascha. Könnten Sie nicht … Wie?« »Was?« fragte das Mädchen verwundert. »Würden Sie ihn nicht – mit der Brust füttern können? Wir würden inzwischen in das Nachbarzimmer gehen. Wir werden nicht zusehen.« Natascha errötete bis zu den Haarwurzeln und sagte zornig: »Hören Sie, jeder Scherz hat seine Grenzen. Das hätte ich von Ihnen nicht erwartet.« »Ich verstehe nicht, was da Beleidigendes ist«, sagte Aljoscha verwundert. »Das Kind braucht die Brust einer Frau, und da dachte ich …« »Entweder sind Sie ein Narr oder ein Frechling«, sagte das Mädchen, das dem Weinen nahe war, ging zur Wand hin und versteckte ihr Gesicht in einer Ecke. »Warum schimpft sie?« fragte mich Aljoscha verwundert. »Sie da – Sie sind ein erfahrener Mann. Was ist da Beleidigendes dran, wenn ein Mädchen nährt?« Ich sprang in die andere Ecke, verbarg mein Gesicht in einem Taschentuch und schüttelte mich. 183
Dann rief ich ihn her: »Kommen Sie zu mir. Sagen Sie, wie alt sind Sie?« »Zweiundzwanzig. Warum?« »Was studieren Sie?« »Kristallographie.« »Und Sie meinen, daß dieses Mädchen ein Kind stillen kann?« »Ja, was macht es ihr aus …? Tut sie es nicht gern, oder was?« Das Schütteln meiner Schultern wurde so deutlich, daß sich das junge Pärchen beleidigt fühlen konnte. Ich winkte mit der Hand, schlüpfte aus dem Zimmer und rannte in das meinige. Dort fiel ich aufs Bett, bedeckte meinen Kopf mit einem Kissen und öffnete eiligst alle Schleusen meiner Lachsucht. Sonst hätte es mich zerrissen wie einen Kinderballon, an den man eine brennende Zigarette hält. Hinter der Wand war ein lautes Zwiegespräch zu hören. Dann wurde es ganz still, die Tür fiel zu und auf dem Gang hörte man die Schritte von zwei Paar Füßen. Offenbar hatten der Hausherr und sein weiblicher Gast Frieden geschlossen und gingen irgendwohin, um ihren Schatz in mehr Erfolg versprechende Arme zu legen. Zum zweiten Male sah ich Aljoscha nach vierzehn Tagen. Er kam sehr aufgeregt zu mir. »Ich bin gekommen, um mir bei Ihnen Rat zu holen.« »Ist etwas passiert?« fragte ich, von seiner bekümmerten Miene angesteckt. »Ja! Sagen Sie, was hätten Sie getan, wenn Sie eine fremde Dame geküßt hätte?« 184
»Ist sie schön?« fragte ich mit dem der Erfahrung eigenen Zynismus. »Sie ist schön, aber ich meine, daß das im vorliegenden Fall keine Rolle spielt.« »Natürlich ist das ein Detail«, sagte ich zustimmend und hielt das Lächeln zurück. »Aber in solchen Fällen ist manchmal das ganz nebensächlich scheinende Detail wichtiger als die Hauptsache!« »Nun – ja! Aber in meinem Falle ist das Wichtigste auch das Schrecklichste. Es hat sich herausgestellt, daß sie verheiratet ist!« Ich pfiff vor mich hin: »Das heißt, Sie haben sich geküßt, und der Mann hat es gesehen?« »Nein, so ist das nicht. Erstens haben nicht wir uns geküßt, sondern sie hat mich geküßt. Zweitens, der Mann weiß nichts davon.« »Was beunruhigt Sie dann?« »Sehen Sie … Das ist in meinem Leben der erste Vorfall. Und ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Sie heiraten – unmöglich. Den Mann zum Duell fordern – warum? Woran ist er schuld? Ach! Das ist mir das erste Mal im Leben passiert. Verwirrend und unangenehm. Und dann – wenn sie verheiratet ist –, was hat die Fremde zu küssen?« »Aljoscha!« »Und?« »Womit haben Sie sich Ihr ganzes Leben lang befaßt?« »Ich habe es Ihnen schon gesagt: Mit Kristallographie.« 185
»Hier haben Sie meinen freundschaftlichen Rat: Studieren Sie doch Botanik. Das wird Ihren Gesichtskreis wenigstens ein bißchen erweitern. Sonst – Kristallographie … sie ist tatsächlich …« »Sie scherzen, aber mir ist diese ganze Geschichte so unangenehm.« »Hm …! Aber mit Natascha haben Sie sich ausgesöhnt?« »Ja«, flüsterte er errötend. »Sie hat mich aufgeklärt, und ich habe eingesehen, was für ein Dummkopf ich bin.« »Aljoschenka, Lieber«, stöhnte ich auf. »Darf ich Sie küssen?« Er lächelte schüchtern und wahrscheinlich durch Assoziation an die obenerwähnte Dame erinnert, sagte er: »Sie dürfen.« Ich küßte ihn, beruhigte ihn, so gut ich konnte, und er ging in Frieden weg. Einige Tage nach diesem Zwiegespräch kam er schüchtern zu mir: »Wie wirkt Flieder auf Sie?« fragte er. Ich war schon an die geheimnisvollen Windungen seiner frischen, duftenden Gedanken gewöhnt. Deshalb sagte ich ohne ein Zeichen der Verwunderung: »Ich liebe Flieder. Dieses vieljährige Gewächs wirkt auf mich wohltuend.« »Wenn es keinen Flieder gäbe, wäre etwas Derartiges nicht passiert«, murmelte er mit niedergeschlagenen Augen. »Dieses ›vieljährige ‹ Gewächs – wie Sie es nennen – ist schrecklich!« »Was denn?« 186
»Wir saßen auf einer Bank im Garten. Unterhielten uns. Ich erklärte ihr den Unterschied zwischen Stalaktiten und Stalagmiten, und auf einmal – habe ich sie geküßt!« »Aljoscha! Kommen Sie zur Besinnung! Sie? Sie haben geküßt? Wen?« »Natascha.« Und, sich entschuldigend, fügte er hinzu: »Der Flieder duftete sehr stark. In meinem Kopf drehte sich alles. Ich kannte die Eigenschaft dieses ›vieljährigen ‹ Gewächses nicht und kann sogar nicht einmal feststellen: Ist er schuld oder nicht. Das ist es, und ich möchte Ihre Meinung darüber wissen.« »Wann ist die Hochzeit?« fragte ich lakonisch. »In einem Monat. Aber wie konnten Sie das erraten?! Sie … liebt mich!« »Ja, was Sie nicht sagen?! Welch ein Zusammentreffen?! Aber erinnern Sie sich, ich habe Ihnen das letzte Mal gesagt, daß die Botanik immerhin höher steht als die Kristallographie. Von Zoologie und Physiologie rede ich schon gar nicht.« »Ja«, sagte er nachdenklich und sah mit hellem, reinem Blick durchs Fenster. »Wenn der Flieder nicht gewesen wäre, hätte ich niemals erfahren, daß sie mich liebt.« Nachdenklich saß er da, vertieft in sein neues, so fremdartiges und süßes Erlebnis. Ich aber betrachtete ihn und Gedanken – die Gedanken eines weisen Zynikers gingen in meinem Kopf herum. »Ja, Brüderchen … Jetzt lernst du das Leben kennen. Du erfährst, wie und warum die Frauen küssen. Du erfährst 187
an deinen eigenen Kindern, wie sie genährt werden müssen, und endlich erfährst du vielleicht, warum die Frauen nicht nur ihre Männer, sondern auch andere junge Männer küssen. Friede deiner Asche, weißer Rabe!«
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Die höhere Gerechtigkeit
A
ls Raskatow ins Arbeitszimmer Kirillows trat, brummte dieser unzufrieden: »Das hat noch gefehlt, daß dich die Teufel hierherführen. Hier arbeitet ein Mensch, und du bummelst ganz zwecklos daher und störst nur.« Raskatow nahm keinerlei Notiz von dem Unwillen des Hausherrn, ließ sich lässig der Länge nach auf den Diwan fallen, klatschte mit seinen Handschuhen auf die Knie und pfiff vor sich hin. »Du arbeitest? Um so schlechter für dich! Ihr seid doch alle solche Arbeiter: Während du dich hier in langweilige, blödsinnige Akten vertiefst, fließt das lebendige Leben an deiner Nase vorbei!« Der Hausherr schwieg mürrisch, in der Hoffnung, daß der Gast nach einem so unfreundlichen Empfang beleidigt fortgehen würde; aber Raskatow war ein Mann von anderem Schlag: Er räkelte sich, pfiff eine Melodie aus »Carmen« und fing auf einmal an, laut aufzulachen. »Was hast du denn?« fragte der Hausherr Kirillow, ihn schief ansehend. »Kennst du die Frau von Simonow?« »Sonderbare Frage: Er ist doch unser lieber Freund.« »Das ist es eben, daß er unser Freund ist! Es wäre interessant, zu sehen, was er jetzt für ein Gesicht macht.« Kirillow fragte mit trägem Interesse: »Was ist denn mit Simonow passiert?« 189
»Oh, ich kann nicht schweigen! Bei Gott, ich muß es erzählen! Aber … ich hoffe, daß es unter uns bleibt?« Kirillow murmelte etwas Unverständliches, etwas in der Mitte zwischen: »Nun, von mir aus …« und »ersticke doch im Sumpf mit deinen Geheimnissen.« Aber Raskatow brannte von einem so glühenden Wunsch, zu erzählen, daß er dieses undeutliche Gemurmel als eine freundliche Einladung annahm: »Nun gut, höre! Nicht wahr, die Frau Simonows, Olga Michailowna, ist doch ein bezauberndes Wesen?« »Hm … Nehmen wir das einmal an! Was folgt daraus? Wir beneiden Simonow, das ist alles.« »Nein, Bruder, hör auf! Heute ist nicht mehr Simonow zu beneiden, sondern ich!« Kirillow sprang von seinem Sitz auf: »Was soll das heißen?!« »Wie ich es sage. Siehst du, sie hat mir schon lang gefallen. Das heißt natürlich, eine besondere Verliebtheit bestand bei mir nicht, aber so … Bloß ein bißchen Naschhaftigkeit. Ich habe ihr ein wenig den Hof gemacht, ganz träge, und dachte nie, was daraus entstehen könnte. Aber heute traf ich sie auf der Straße, und auf einmal kommt mir der verrückte Gedanke in den Kopf, energischere Schritte zu unternehmen. Nun gut, wir unterhielten uns. Ich schwindelte ihr vor, daß heute mein Geburtstag sei, und lud sie ein, aus diesem Anlaß mit mir eine Flasche Wein zu trinken. Im Restaurant gab ich dem Ober ein Zeichen, er solle uns ein Separee geben, und da … Mit unschuldigen Küssen fing es an und endete … ha-ha-ha! So ein armer Teufel, 190
dieser Simonow. Es wäre doch interessant, ihn daraufhin anzuschauen, wie lang die Gesichter von betrogenen Männern werden?« Kirillow rannte unwillig und aufgeregt im Zimmer hin und her. »Hör mal, Raskatow! Das ist ja ungeheuerlich! Simonow ist doch dein Freund!« »Täubchen! Was hat das zu sagen? Freundschaft ist eins, aber eine sehr schöne Frau ist was ganz anderes …« »Aber du hast seinen häuslichen Herd beschmutzt!« »Philosophie. Rosenwässerchen nach Turgenjew.« »Du hast seine Freundschaft, sein Vertrauen betrogen!« »Oh – oh! Rosiges Hirtchen, das weiße Schäfchen auf grünem Rasen weidet. Hör auf! Du bist ja höllisch sentimental, Kirillow! Sieh mal, das habe ich bei dir gar nicht vermutet! Das Leben kennt heutzutage keine Gnade. Der allgemeine Wahlspruch heißt: ›Nimm, was dir in die Hände fällt! ‹« Kirillow schwieg; er schien über etwas nachzudenken. Dann fragte er mit fremdartiger, zitternder Stimme: »Das heißt also, es bedeutet für dich nichts, dem besten Freund die angetraute Frau abspenstig zu machen?« »Was ist da zu machen, Brüderchen! Heute denkt jeder nur an sich.« Kirillow sprang plötzlich auf, ergriff die Hand Raskatows und drückte sie fest. »Danke, liebster Freund!! Wenn du wüßtest, wenn du nur ahnen könntest, wie sehr du mir mein Gewissen erleichtert hast!« Raskatow war äußerst verwundert. »Ja, was hast du denn? Was willst du damit sagen?« 191
»Oh, Raskatow. Wenn du eine Ahnung hättest, was ich in der letzten Zeit gelitten habe. Wie schwer es mir war, wie unerträglich schwer und hart, dir gerade ins Auge zu schauen … Aber dein Geständnis hat mir natürlich einen Stein vom Herzen genommen.« »Was der Mensch da für einen Unsinn herschwätzt! Ja, was ist denn eigentlich passiert?« Kirillows Stimme klang begeistert, fast ekstatisch: »Höre, Raskatow! Welch ein Glück, daß ich dir jetzt alles eingestehen kann! So wisse denn, oh, Raskatow, daß ich dir das gleiche angetan habe wie du Simonow.« Raskatow blieb wie angefroren auf seinem Platz stehen und streckte die Hände aus, als ob er sich vor etwas beschützen wollte. »Du … Du … Halt!« flüsterte er mit zitternden, weißen Lippen. »Du willst doch nicht sagen, daß meine Frau, Katja … »Ja! Ich tue Buße. Aber es war ein Augenblick gekommen, wo mich der Wirbel erfaßte und schwindlig machte. Schau, deine Frau ist doch eine Schönheit …« Raskatow stöhnte wie ein verwundetes Tier und sank kraftlos auf den Diwan. »Und du, du brachtest es fertig, so gegen mich zu handeln! Gegen deinen besten Freund?« »Aber sieh doch, du hast es ja bei Simonow genauso gemacht …« »Was da, ›Simonow, Simonow‹. Jetzt reden wir von mir und nicht von Simonow! O Gott, o Gott, was für eine Niedertracht!« 192
»Warum?« fragte Kirillow kaltblütig. »Du hast dich doch eben erst über deinen Sieg gefreut, laß doch mir auch meine Freude darüber.« »Sei verflucht! Du hast mein Familienleben zerstört!« »Hör auf! Turgenjewsches Rosenwässerchen.« »Und du wagst es noch, du – mein nächster Freund!« »Rosige Lämmchen auf grünem Rasen. Das Leben, Bruder, ist eine grausame Angelegenheit. Heute ist die Zeit einfach so: Nimm, was dir unter die Hände kommt. Das ist doch deine Philosophie, Bruder.« Raskatow erhob sich plötzlich vom Diwan; sein sonst so rosig rot übergossenes Gesicht war ganz verändert grau geworden … Nur mit Mühe brachte er die Worte heraus, und als ob er einen im Hals steckengebliebenen Brocken verschlucken wollte, sagte er mit heiserer Stimme: »Gut, jetzt höre mich an, Freund! Alles, was ich dir über Olga Michailowna erzählt habe, ist Erfindung. Nichts ist zwischen uns geschehen! Ich wollte mich bloß mit einem persönlichen Sieg großtun. Sie ist für mich ebenso unantastbar wie für dich. Nun? Was sagst du jetzt?!« Er schluckte mit Mühe das Wasser hinunter, das ihm im Munde zusammenlief. Das Gesicht Kirillows erhellte sich, er sprang auf Raskatow zu, packte ihn energisch bei der Hand und schüttelte sie dankerfüllt. »Du, sagst du die Wahrheit? Es ist nichts zwischen euch vorgefallen? Gott sei Dank, Gott sei Dank!« »Ja …«, nickte mürrisch Raskatow. »Zwischen mir und Madame Simonowa ist nichts gewesen! Ich gebe es zu! Ich 193
habe gelogen. Aber du! Du? Du bist in mein Haus geschlichen wie eine Schlange, hast meiner Frau den Kopf verdreht und mein Vertrauen betrogen.« Kirillow lachte strahlend und lustig. Er legte seine Hände auf die Schultern von Raskatow und sagte: »Es ist ja doch auch zwischen mir und deiner Frau nichts vorgefallen! Ich schwöre es dir. Ich wollte dich bloß für deine Niedertracht gegenüber Simonow bestrafen. Da erfand ich das gleiche für Katharina Georgewina – möge sie mir diesen Unsinn verzeihen!« Auf dem Gesicht von Raskatow erschien wieder ein helles, lebendiges Rot, das mit einem Male sein eingefallenes Gesicht verschönte. »Oh? Wirklich?« sagte er mit freudiger Eindringlichkeit. »Im Ernst? Im Ernst, zwischen dir und Katja ist nichts vorgefallen? Du kannst das beschwören?« »Ich schwöre es bei meiner Mutter«, sagte ernsthaft und ehrlich Kirillow und sah dabei offen in die Augen seines Gastes. Der Gast blühte ganz auf, und Rosen spielten wieder auf seinen Wangen und Lippen. So verschönert die aufgehende Sonne augenblicklich die graue Landschaft, die bisher im Dunkeln lag. Zwei Minuten betrachtete er den Hausherrn, dann zuckten seine Mundwinkel, und er brach in solches Gelächter aus, daß er sich niederbeugen und am Stuhlrücken festhalten mußte. »Was ist mit dir los?« sagte der Hausherr ganz erschrokken. »Ja, sieh … Oh – oh, ich kann nicht mehr. Sieh, ich habe dich wieder angeschwindelt, bezüglich der Frau von 194
Simonow. Es ist wahr, mein Täubchen, alles ist wahr! Ich wollte dich bloß prüfen – ach, ich kann nicht mehr, ich sterbe vor Lachen-, dich prüfen, wegen meiner Frau Katja! Aber nachdem bei mir zu Hause alles in Ordnung ist, was kümmere ich mich dann um dich? Ich habe mit der Simonitschka Wein getrunken! Ich habe mich mit Simonitschka geküßt und sonst noch was. Aber du hast mir geschworen! Sieh mal, du kleiner Schelm! Er wollte seinen Freund erschrecken!« Von seiner vorherigen Unruhe und Angst war auch keine Spur mehr zu merken. Sein Gesicht glänzte, und die Augen leuchteten sieghaft, triumphierend. »Weißt du was?« sagte Kirillow angeekelt, »geh fort! Du störst mich mit deinem Unsinn nur beim Arbeiten. Verschwinde!« »Oh, ich gehe! Ich gehe, mein Lieber. Du hast dich über mich lustig gemacht.« Er nahm seinen Hut, klopfte dem Hausherrn freundschaftlich auf die Schulter und ging fort. Allein geblieben, horchte Krillow noch auf das Zuschlagen der Wohnungstür, dann nahm er den Hörer des Telefons zur Hand. »9214! Wohnung Raskatow? Sind Sie es, Katharina Georgewina? Ja, ich bin’s, Kirillow. Am letzten Mittwoch haben Sie mir gesagt, Sie würden nur dann die Meinige werden, wenn Ihr Mann Sie betrüge. Er hat Sie betrogen. Wie? Ja! Soeben war er bei mir und hat mir alles erzählt. Also – ich denke, die Einzelheiten werden wir persönlich besprechen? Kommen Sie. Ich warte.« 195
Der Hörer, der wieder in die Gabel gehängt wurde, klirrte gerade, als ob er einen Punkt unter diese Offenbarung höherer Gerechtigkeit setzen wollte.
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Der Elefantenjäger
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ch saß in einem Café auf einem Diwan mit hoher Rükkenlehne. Da hörte ich, wie hinter mir auf der anderen Seite des Diwans eine der bedeutungsvollsten Phrasen vorgetragen wurde, die jemals auf unserer altersschwachen Erde erklungen sind: »Als ich in Amerika auf Elefanten jagte, da …« Ich schaute über den Rücken des Diwans: Ein schlaffer Jüngling mit weißen Augenbrauen hatte sich zu zwei sehr hübschen Damen vorgebeugt, die ihm gegenübersaßen, und erzählte ihnen. Beide hörten ihm mit leuchtenden Augen und halboffenen, rosigen Mündchen zu. »Ich muß Ihnen sagen, daß sich die amerikanischen Elefanten durch besondere Wildheit auszeichnen …« Mein Ehrenwort, mir fing das Herz in der Brust an stürmisch zu schlagen, ich konnte es nicht mehr aushalten. Ich stand auf, trat zu den sich Unterhaltenden, entschuldigte mich gentlemanlike bei den Damen und beugte mich zu dem oben beschriebenen Burschen nieder: »Sie lügen«, sagte ich und sah ihn fest an. »Ich kann es nicht vertragen, wenn man lügt.« Der junge Mann sprang auf, und seine trüben Augen begannen zu funkeln. »Verehrter Herr! Das werden Sie zu verantworten haben!« »Das ist eine andere Frage. Aber Sie haben diese Damen eben angeschwindelt.« 197
»Er hat uns nur erzählt«, bemerkte eine der Damen dazwischen, »wie er in Amerika auf Elefanten gejagt hat.« »Meine Damen! Ich verstehe durchaus Ihr selbstverständliches sportliches Interesse, aber es handelt sich darum, daß es in Amerika keine Elefanten gibt! Elefanten gibt es nur in Afrika und in Asien.« »Was sagen Sie? Aber er hat uns doch erzählt, daß er in . Amerika zwei Elefanten getötet hat?« »Sehr einfach, er hat geschwindelt.« »Verehrter Herr!« rief der Jüngling mit den weißen Augenbrauen in verzweifelter Tapferkeit. »Dafür werden Sie mir Genugtuung geben!« »Wann, wo und wie es Ihnen paßt. Aber davon werden in Amerika keine Elefanten entstehen.« Eine der Damen fing plötzlich an zu lachen. Das brachte ihren Kavalier so in Harnisch, daß er, aufbrausend wie eine Fabrikpfeife am Morgen, sich zu mir wandte: »Ich hoffe, Sie werden von selber verstehen …« »Was? Ein Duell? Bitte sehr! Geben Sie mir Ihre Karte.« Er riß mit finsterer Miene seine Brieftasche heraus und streckte mir mit der Geste eines hartnäckigen Raufboldes seine Karte hin. Wir grüßten einander zeremoniell, und ich ging weg. Ich bin kein Feigling, aber Duell ist Duell. Ich pflege solche Sachen ernst zu nehmen. Es gab eine Reihe der üblichen Dinge zu regeln: Sekundanten und einen Arzt zu finden, für jeden Fall den Verwandten Abschiedsbriefe zu 198
schreiben. Erst am Abend des nächsten Tages war alles fertig. Um diese Zeit kamen die Sekundanten mit der Antwort: «Alles in Ordnung! Morgen früh um sieben Uhr. Im Eichenwäldchen. Auf Pistolen.« »Hat er nicht gekniffen? Hat er sich nicht feig benommen?« »Stellen Sie sich vor, nein. Sehr männlich. Er war sofort einverstanden.« Um drei Viertel sieben war ich schon mit meinen Sekundanten und dem Arzt zur Stelle. Zehn Minuten später erschien das Automobil meines Gegners. Meine Sekundanten traten zu ihm, besprachen sich mit seinen Sekundanten, maßen den Abstand ab und überreichten uns die Pistolen. Wie das immer so ist, wir beide gaben uns Mühe, vor dem Schuß einander nicht zu bemerken. Man macht das gewöhnlich halb aus Delikatesse, halb aus Verachtung des Gegners. Wir standen an der Barriere. Ich erhob meine Pistole, richtete sie auf den Gegner und – plötzlich sank sie vor Erstaunen herunter und hing schlaff in meiner Hand. »Hören Sie!« rief ich meinen Sekundanten verwundert zu. »Was zum Teufel soll das heißen? Ist er das selber?« »Wer?« »Da, dieser Gegner? Der, bei dem Sie gestern gewesen sind?« »Selbstverständlich, wer soll es denn sein? Wir haben uns an die Adresse gewandt, ihm die Forderung übergeben und alles genauso gemacht, wie Sie es gewünscht haben.« 199
»Der ist ja brünett! Aber der, der mich gefordert hat, ist blond!« Fast die gleiche Unterhaltung ging auf der anderen Seite vor sich, wo mein Gegner stand. »Ja, zum Teufel!« schrie er so laut, daß wir es hören mußten. »Was ist das für ein Herr dort mit der Pistole? Ich sehe ihn zum erstenmal!« Meine Sekundanten gerieten in Verwirrung. »Erlauben Sie! Wir waren doch gestern abend gerade bei Ihnen. Und Sie waren mit allem einverstanden!« Unter heftigem Gestikulieren traten beide Gruppen zueinander. »Ja, ich war damit einverstanden, weil ich dachte, Sie kämen eben von dem Herrn, den ich gefordert habe. Aber gegen diesen Herrn habe ich nicht das geringste. Er scheint mir sogar sehr sympathisch zu sein. Guten Tag! Wie geht es Ihnen?« »Meine Hochachtung!« Ich reichte ihm freundschaftlich die Hand. »Sagen Sie, ist das Ihre Visitenkarte?« »Ja. Ich habe sie diesem Nichtsnutz mit den weißen Augenbrauen gegeben, der …« »Halten Sie ein!« schrie ich voll Freude, »so ein saftloser Blondling mit Fischaugen, der lügt, daß einem die Haare zu Berg stehen?« »Freilich, der ist es! Er hat vor mir den Leuten weisgemacht, daß er mit Sarah Bernhardt verheiratet gewesen sei und daß sie sich seinetwegen einen Fuß gebrochen habe. Aus Eifersucht. Da habe ich ihn beim Kragen gepackt und … deshalb …« 200
»Bei mir ging es um die Elefanten. Er hat erzählt, wie er in Amerika Elefanten getötet hat. Welche?« So unterhielten wir uns miteinander und kehrten als Freunde gemeinsam in die Stadt zurück. Wir aßen zusammen. Nach dem Mittagessen beschlossen wir, in der Stadt einen Bummel zu machen. Mein neuer Freund packte mich am Ärmel. »Hören Sie! Da ist er!« »Wer?« »Der Mann von Sarah Bernhardt und amerikanische Elefantenjäger. Er geht mit einer Dame vor uns.« Wir holten ihn ein und hörten, wie er sagte: »Ja, wissen Sie, meine Gnädigste, Duelle sind für mich nichts Neues. Aber die Männer sind solche Feiglinge geworden, daß es fürchterlich ist. Sehen Sie, zum Beispiel in den letzten drei Tagen habe ich drei Forderungen zum Duell gehabt – und was geschah? Weder der eine noch ein anderer hat mir seine Sekundanten geschickt! Ha, ha! Und ich naiver Mensch sitze in diesen Tagen zu Hause und warte. Was, denke ich mir, noch ein paar Schüsse in hungrige Zähne. Ich schwärme überhaupt für starke Aufregungen. Als ich in Schottland über den Niagara schwimmen mußte …« Da fingen wir beide an laut zu lachen und kehrten um.
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Anmerkungen [1] Willy Ferrero: Dieser winzige, geniale Knabe reiste mit ungeheurem Erfolg als Dirigent eines riesigen Orchesters in den Jahren 1911–1913 durch ganz Rußland. Der Eindruck seiner Konzerte war erschütternd. Wenige Jahre später starb Philipp Ferrero. [2] Ikra: Kaviar [3] Werbljudjakin: Kleines Kamel [4] Solono: Pökelfleisch (russ.)
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