DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN - MAGAZIN
Hausmitteilung 10. Januar 2011
Betr.: Titel, Migranten, Fußball
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AKG / VG BILD-KUNST, BONN 2011
in Gerücht nährt sich aus zutreffenden oder falschen Informationen – ist es erst einmal in Umlauf, kann es Verheerendes bewirken. Kaum jemand hat das Wesen der mehr oder weniger üblen Nachrede so treffend dargestellt wie der Maler und Zeichner Andreas Paul Weber (1893 bis 1980) mit seiner Lithografie „Das Gerücht“. Das Titelbildressort des SPIEGEL ließ sich nun von Webers Werk inspirieren, denn im Internet können Gerüchte heute eine ganz andere Dimension entfalten. Titelautor Manfred Dworschak, 51, beschreibt, wie Datenjäger das Treiben der Nutzer im Netz protokollieren, aus diesen Informationen Persönlichkeitsprofile zusammensetzen und sie an die Werbewirtschaft verkaufen. Wohin die Datensammelwut führen kann, lässt sich in den USA studieren: Dort werten Firmen bereits Internetforen und soziale Netzwerke wie Facebook aus, um politische Profile von Nutzern zu erstellen – oder sie durchforsten systematisch die E-Mail-Server von Unternehmen, um nach unloyalen oder korrupten Mitarbeitern zu fahnden. Erfasst wird dabei alles, auch das Weber-Lithografie „Das Gerücht“ Gerücht (Seite 114).
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lüchtlinge aus Nordafrika und dem Nahen Osten hatten das Schlupfloch an der griechisch-türkischen Grenze entdeckt. Bis zu 300 Menschen strömten voriges Jahr täglich durch den Maritza-Fluss in die EU. SPIEGEL-Redakteur Manfred Ertel, 60, begleitete Polizisten der europäischen Grenzschutztruppe Frontex auf ihren Patrouillengängen. Sein Kollege Walter Mayr, 50, recherchierte in der Türkei, wie Schleuser Migranten für bis zu 10 000 Euro nach Griechenland schaffen. Das Risiko, bei der Flucht zu sterben, ist hoch, im vergangenen Jahr wurden allein am griechischen Ufer der Maritza mehr als 40 Tote angespült. Der SPIEGEL-Mann erfuhr auch die Geschichte von Senait Ariaya, 28. Sie hatte seit vier Jahren versucht, in einen EU-Staat zu kommen, jetzt war sie auf dem dünnen Eis des Flusses eingebrochen und ertrunken. „Der Traum von einem Leben in Europa endet für manche Afrikaner in einer Tragödie“, sagt Mayr (Seite 80).
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MAGDALENA SCHIERLING / DER SPIEGEL
istanz zum Geschehen und zu den handelnden Personen zu halten ist eine vornehme journalistische Tugend. Mitunter allerdings fordert sie eine fast übermenschliche Kraftanstrengung. SPIEGEL-Reporter Jürgen Dahlkamp, 45, ging es so, als er das Erfolgsgeheimnis von Borussia Dortmund recherchierte: Seit 34 Jahren ist er Fan des Vereins, schon als Elfjähriger trötete er auf der Südtribüne. Er feierte drei Meisterschaften mit und litt schwer, als der jetzige Herbstmeister der Bundesliga vor sechs Jahren vor dem finanziellen Ende stand. Dahlkamp ist davon beeindruckt, wie Trainer Jürgen Klopp, 43, mit einer Mannschaft „aus billigen und willigen Spielern ein Spitzenteam geformt hat“. Seine Distanz ist dennoch groß genug, um die Gesetzmäßigkeiten der Liga zu erkennen. „In der Regel“ würden Vereine wie Bayern München Meister, „weil Geld und Erfolg eng miteinander verbunden sind“. Diese Saison, sagt Dahlkamp, „könnte Dahlkamp eine der wenigen Ausnahmen sein“ (Seite 92). Im Internet: www.spiegel.de
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In diesem Heft Titel Google, Facebook & Co. – das Milliardengeschäft mit den Kundendaten .......................................... 114
Gesellschaft Szene: Buch über das Leben eines Deutschen unter Türken / Tigerverbrennung in Indien ... 39 Eine Meldung und ihre Geschichte – über einen Kanadier, der sich zur Werbefläche machte ......................... 40 Politikbetrieb: Wie der wachsende Stress Regierende und Parlamentarier überfordert ... 42 Ortstermin: In Freiburg will ein Verleger mit Kinderbüchern Integrationsprobleme lindern ... 55
Wirtschaft Trends: Modelabel Wunderkind in der Krise / Klage gegen Porsche / CSUMinister Markus Söder will die ärztliche Selbstverwaltung reformieren ........................ 56 Affären: Wie ein Ex-BayernLB-Vorstand zu 50 Millionen Dollar kam ........................... 58 Geldanlage: Niedrige Zinsen gefährden das Geschäftsmodell der Lebensversicherer ... 62 Ökonomie: SPIEGEL-Gespräch mit dem amerikanischen Wirtschaftsexperten Nouriel Roubini über die Probleme der USA und Deutschlands Verantwortung bei der Rettung europäischer Pleiteländer ................. 64
WOLFGANG KUMM / PICTURE ALLIANCE / DPA
Deutschland Panorama: Deutschland und Frankreich wollen Portugal unter den Euro-Rettungsschirm drängen / Geißler kritisiert geplante Einschränkung von Mitsprache bei Großprojekten / Bund soll Bahn-Gewinne investieren ............................. 13 Linke: Ohne Programm und mit einer desolaten Führung zieht die Partei ins Superwahljahr ........................... 18 SPD: Sigmar Gabriel und Frank-Walter Steinmeier ringen um die Kanzlerkandidatur ................................... 22 Finanzen: Die Kabinettskollegen Schäuble und Brüderle beharken sich im Streit um Steuersenkungen ....................... 24 Essay: Warum Deutschland so gut gegen Krisen gerüstet ist ................................ 26 Strafrecht: Wird die Sicherungsverwahrung erneut vom Europäischen Menschenrechtsgerichtshof für rechtswidrig erklärt? ..... 28 Zeitgeschichte: Bei den Todesmärschen kurz vor Kriegsende wurden viele KZ-Häftlinge von Zivilisten ermordet ............ 29 Hauptstadt: Das Berliner S-Bahn-Chaos – ein Kollaps mit Ansage .................................. 30 Landwirtschaft: Die kriminellen Machenschaften der Futtermittelindustrie ...... 32 Schicksale: Was wurde aus dem Kind, das vor 25 Jahren drei Monate lang entführt und missbraucht worden war? ........................ 36
Linker Fehlstart
Seite 18
Nach dem Kommunismusbekenntnis der Vorsitzenden Gesine Lötzsch zieht Die Linke angeschlagen ins Superwahljahr. Im Westen gibt es erste Anzeichen für einen Zerfall – enttäuschte Funktionäre verlassen die Partei. Lötzsch, Gregor Gysi
Der Bayern-Banker und die Formel 1
50 Millionen Dollar soll ein Ex-Banker der BayernLB für zweifelhafte Beratungsleistungen rund um einen Formel-1-Deal kassiert haben. Die Spuren führen nach Salzburg, in mehrere Steueroasen – und ins Boxenluder-Business.
SPD: Wer wird Kanzlerkandidat?
Seite 22
Zwischen den Lagern von SPD-Chef Gabriel und Fraktionschef Steinmeier haben sich die Fronten verhärtet. Das gegenseitige Misstrauen hat vor allem einen Grund: Bereits jetzt wird um die Kanzlerkandidatur gerungen.
Apo-Opa im RTL-Dschungel
Medien BOKELBERG / STERN
Trends: Interview mit ARD-Talker Reinhold Beckmann über die vielen Plauderrunden im Ersten / WAZ-Chef Bodo Hombach kritisiert EU-Desinteresse an Pressefreiheit .................. 67 Karrieren: Weshalb der Altkommunarde Rainer Langhans Ende der Woche ins RTL-Dschungelcamp umziehen möchte ... 68 Journalisten: Interview mit dem iranischen Außenminister Ali Akbar Salehi über das Los der inhaftierten deutschen Reporter ............... 71
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Seite 58
Er war der berühmteste Bewohner der Kommune 1 und teilte das Bett mit dem Fotomodell Uschi Obermaier. Jetzt geht die 68er-Ikone Rainer Langhans für die RTL-Show „Ich bin ein Star – holt mich hier raus!“ in den australischen Urwald. Langhans sieht in dem TV-Format eine Variante der Kommune. Seine Apo-Gefährten sind fassungslos. Obermaier, Langhans 1969
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Seite 68
Ausland Panorama: China baut Tarnkappenjet / Historische Irland-Reise der Queen? .............. 73 Christen: Schutzlos vor den Angriffen islamistischer Extremisten .............................. 74 Politiker und Kirchenführer verlangen Solidarität mit den Opfern ............................. 78 Flüchtlinge: Aufrüstung an der griechisch-türkischen Grenze ......................... 80 China: Wie Vize-Premier Li seine Landsleute zum Konsum erziehen will ............................ 83 Haiti: Das vergeudete Jahr ............................. 85 Atomwaffen: Der Chef der Wiener Atomenergiebehörde Yukiya Amano über den Konflikt mit Iran und die Bedrohung aus Nordkorea ................ 88 Global Village: Rom verprellt seine Touristen ............................................... 90
Die Trauer der Christen
Seite 74
Anschlagsspuren in Alexandria
Teheran tadelt und verspricht Milde
AMR ABDALLAH DALSH / REUTERS
Nach dem Anschlag in Ägypten bangt der Westen um die Christen im Orient. Doch selbst wenn sie wollten – die morschen Regime der islamischen Welt können ihre Minderheiten nicht mehr schützen.
Sport
Seite 71
Seite 128
Der New Yorker Neurologe Oliver Sacks berichtet im SPIEGEL-Gespräch über Patienten, die nicht mehr lesen, aber noch schreiben können, über Blinde, die sich eine eigene Welt erschaffen, und über seine eigene Sehstörung.
Wissenschaft · Technik
Die Mär von der Widerständlerin
Seite 100
Prisma: Haie fressen Spechte und Singvögel / Zweifel am Nutzen der Suche nach Fingerabdrücken ................................... 113 Medizin: Rätselhafte Kranke – wie US-Ärzte nach unbekannten Erbleiden fahnden .......... 126 Hirnforschung: SPIEGEL-Gespräch mit dem New Yorker Neurologen Oliver Sacks über seinen Augentumor und die faszinierende Welt des Sehens ......... 128 Umwelt: Das „Auto der Zukunft“ kommt aus Japan .......................................... 131 SUEDDEUTSCHER VERLAG
Sie war eine der prominentesten Schriftstellerinnen Deutschlands, auch weil sie den Eindruck erweckte, aktiv Widerstand gegen die Nazis geleistet zu haben. Die Grünen nominierten Luise Rinser 1984 sogar als Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten. Doch Recherchen des Autors Michael Kleeberg zeigen: Rinsers biografische Selbstinszenierung täuscht, die Geschichte von der Widerständlerin ist nicht zu halten.
Kultur Szene: Der Fälschungsskandal um die Sammlung Jägers weitet sich aus / Martin Suters neue Krimi-Serie ..................... 98 Lebensläufe: Wie sich die Schriftstellerin Luise Rinser zur Widerständlerin stilisierte ............................. 100 Bestseller ..................................................... 106 Zensur: Der ungarische Autor György Konrád über das neue Mediengesetz in seinem Land .............. 107 Emanzipation: SPIEGEL-Gespräch mit der Essayistin Silvia Bovenschen über die Grenzen des Feminismus, Familienministerin Kristina Schröder und den Undank junger Frauen .................... 108 Kino: „Love and Other Drugs“, ein Melodram über die Erlebnisse eines amerikanischen Viagra-Vertreters ................. 110 Literaturkritik: E. L. Doctorows Roman „Homer & Langley“ über die Geschichte zweier Brüder aus New York ........................ 112
Irans Außenminister Ali Akbar Salehi will den Fall der inhaftierten deutschen Reporter „im Einklang mit unserer Gesetzgebung und der im Islam verwurzelten Güte“ lösen. Der Springer-Verlag solle jedoch „einen Fehler“ eingestehen.
Wunder des Sehens
Szene: Interview mit Andreas Biermann, Ex-Profi beim FC St. Pauli, über Spielsucht unter Fußballern ................... 91 Fußball: Vom Pleiteverein zum Titelfavoriten – wie Borussia Dortmund an die Tabellenspitze stürmte ......................... 92
Rinser, Richard von Weizsäcker 1984
Briefe ............................................................... 6 Impressum, Leserservice .............................. 132 Register ........................................................ 134 Personalien ................................................... 136 Hohlspiegel / Rückspiegel ............................. 138 Titelbild: Illustration Greg Bridges für den SPIEGEL
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Briefe Nicht nur zerstörten feindliche Mächte den Sommerpalast in Peking, Kolonialherren haben dem stolzen chinesischen Volk mehr als ein Jahrhundert lang ungezählte Demütigungen zugefügt. Mir fällt es nicht schwer zu verstehen, dass die Menschen in diesem vielschichtigen Land gemeinsam stolz sind auf die unglaublichen wirtschaftlichen Erfolge innerhalb von nur 30 Jahren und jetzt auch mal die Muskeln spielen lassen.
„Mit den Artikeln über China und 100 Jahre Traumfabrik Hollywood hat man den derzeitigen Stand der Weltgeschichte bestens kommentiert. Beide Artikel kombiniert ergeben einen Abgesang am Beginn des neuen Jahrzehnts.“ SPIEGEL-Titel 1/2011
Nr. 1/2011, Titel: Chinas Welt – Was will die neue Supermacht?
Ist es nicht legitim, dass China als größtes Volk der Erde wirtschaftlich, politisch und militärisch an die Weltspitze aufrückt? Indien wird sich in den nächsten Jahrzehnten ähnlich orientieren. Die westliche Welt muss sich damit abfinden. Wir als Hightech-Nation sollten uns damit beschäftigen, wie wir langfristig vom Wachstum in Asien profitieren können, und aufhören, das Streben nach Wohlstand dieser Länder schlechtzureden.
WILLICH (NRDRH.-WESTF.)
REINER KLIETZ
Für China gilt offenbar: Es gibt Wege, aber kein Ziel. Das großartige Land sieht sich lediglich als großes Land, scheint blind der Ideologie des Wachstums verfallen und verwechselt Fortschritt mit Übergewicht. PROF. DR. BERNHARD TAURECK
Von der Kulturrevolution bis 1991 hatte ich das Privileg, im Rahmen eines Konzerns das Geschäft in China zu führen. Dort pflegte ich Kontakt zu führenden Persönlichkeiten dieses Landes. Ich war immer wieder sehr angetan von der Ausgewogenheit der Einstellung dieser Führungsebene. Chinesen haben eine bescheidene Art, Probleme zu lösen. Wir sollten Geduld mit China haben. BERLIN
SHENG LI / REUTERS
Probe für 60-Jahr-Feier der Volksrepublik
Es gibt Wege, aber kein Ziel
Es war letztlich die Gier westlicher Verbraucher nach immer billigeren Produkten und die Kurzsichtigkeit westlicher Unternehmer, die China – wie zuvor schon Japan – nur als Markt und nicht als lernfähigen künftigen Konkurrenten sehen wollten. Das ermöglichte China den dialektischen Sprung von der kommunistischen Hungerleiderwirtschaft zur zentralistisch gelenkten wirtschaftlichen Supermacht. Nun haben wir den Salat und sollten ihn mit Anstand essen. STUTTGART
MARIA ARENZ
BERLIN
LIRUI HUANG
Sicher, China hat hohe Zuwachsraten. In Sachen Wissenschaft und Technologie aber ist das Land den USA (und auch Deutschland) meilenweit unterlegen. Die USA sind seit bald 70 Jahren die Supermacht (dazu gehört nicht nur die Wirtschaft), und es könnte auch sein, dass dies noch lange so bleibt! INGOLSTADT
PROF. DR.-ING. BERTRAM REINHOLD
Beim Lesen Ihrer Titelstory kam mir ein Bild von Ex-Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger hoch. 1969 stand er beim Dortmunder Wahlkonvent der CDU am Rednerpult und rief: „Ich sage nur China, China, China!“ Damals noch verlacht, erscheint er im Nachhinein als Visionär. OTTERSBERG (NIEDERS.)
Diskutieren Sie auf SPIEGEL ONLINE ‣ Internet Wie kann man sich vor der Datengier der Konzerne schützen? www.spiegel.de/forum/Daten ‣ Christenverfolgung Ist der Islam unfähig zur Toleranz? www.spiegel.de/forum/Christen ‣ Demokratie Zerbricht die Linkspartei an innerem Streit? www.spiegel.de/forum/DieLinke D E R
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THOMAS HELD
Demokratie nach westlichem Vorbild ist für die derzeitige rasante Entwicklungsphase in China ein Luxus, der der wirtschaftlichen Effizienz nicht unbedingt nützen würde. Der immer größer werdende Abstand zwischen der größten Demokratie der Welt, Indien, und der größten Autokratie der Welt, China, ist das beste Beispiel. Für die nationalen Interessen Deutschlands sollten die deutschen Medien und politischen Eliten Chinas unaufhaltsamen Aufstieg eher pragmatisch als ideologisch betrachten.
BRUNO MELLINGER
DR. ROBERT BICHARA
China hat früh erkannt, dass der Status Weltmacht immer mehr durch Wirtschaft 6
ZAMOŚĆ (POLEN)
TODOR IVANOV
Bei dem heutigen China-Bild und dem uns bekannten Verhalten chinesischer Politiker werden wir uns vielleicht eine Weltmacht USA mit deren zahlreichen Fehlern und Verfehlungen zurückwünschen. Eine klare Einschätzung über das China der Zukunft und die daraus resultierenden Auswirkungen auf Deutschland und den Rest der Welt ist Ihnen mit diesem Artikel leider nicht gelungen.
HANNOVER
definiert wird und immer weniger durch Militär. Zudem interpretiert es Menschenrechte eigenwillig im Sinne seiner Staatswirtschaft und beteiligt sich auch nicht am europäischen Wettrüsten zum Klimaschutz. PRIEN (BAYERN)
WERNER STILZ
Denke ich an China in der Nacht … dann sehe ich eine riesige Kolonie roter Waldameisen, die sich in alle Richtungen ausbreiten. Hochintelligent, perfekt organisiert, zielgerichtet, unermüdlich, unaufhaltbar. Denke ich an China in der Nacht … dann wird mir unheimlich.
Georg Eret aus Loeben in Österreich zum Titel „Chinas Welt – Was will die neue Supermacht?“
Den Salat mit Anstand essen
KÖLN
WALDBRONN (BAD.-WÜRTT.)
RAINER KIND
Briefe
Löcher ins Boot bohren Nr. 52/2010, Euro: Die Gegner der Gemeinschaftswährung formieren sich
BREMEN
STEFAN SOBOTTA / DER SPIEGEL
Obwohl ich Verständnis für die Gegner des Euro habe, bin ich gegen seine Abschaffung. Wer sich als Europäer fühlt, wird auch ertragen können, dass Europa mindestens zeitweilig eine Transfergemeinschaft sein wird wie die deutschen Bundesländer. Was einige Länder und vor allem Deutschland als stärkster Partner jetzt an solidarischer Leistung zu tragen haben, das ist eine Investition in die Zukunft, die sich lohnt. DR. WILFRIED OTTERSTEDT
Eine stabile Währung erfüllt die Funktion als Wertaufbewahrungsmittel. Millionen privater Sparer setzen auf diese Funktion des Euro. Solange die Zentralbank kein überzeugendes Konzept besitzt, wie sie die von ihr entfachte Geldschwemme wieder unter Kontrolle bringt, wird der Euro an Attraktivität verlieren.
Stromtrassen-Gegner in Gandersheim
Wasserstoff als Lösung?
Atomklo der Republik Nr. 52/2010, Strom: Kein Bundesland ist von der geplanten Energiewende so sehr betroffen wie Niedersachsen
Leute mit unterschiedlichsten Einkünften bilden eine WG, werfen alle Löhne in einen Topf und teilen dann. Da würden die Bessergestellten wohl kaum mitmachen. Beim Euro wird uns das gleiche Prinzip schöngeredet. Jetzt wundert man sich, dass den Hauptverdienern weniger bleibt und die armen Schlucker das Geld zum Fenster hinauswerfen.
Bei der aktuellen Diskussion um den vermeintlich erforderlichen Ausbau der Stromnetze ist zu berücksichtigen, dass dies nur notwendig ist, da die bisher gebauten Wind- und Solaranlagen die Netze überfordern und durch ihre Frequenzinstabilität „stören“. Werden diese Probleme mit geeigneter Technik behoben, können auch endlich die konventionellen Kraftwerke in ihrer Leistung zurückgefahren werden, wenn genug regenerative Energie erzeugt wird.
MÜNCHEN
GLASAU (SCHL.-HOLST.)
BAD KROZINGEN (BAD.-WÜRTT.) DR. GEORG BLEILE
ERIK DOFFEK
GERNOT VON SCHMIDT
Ich habe kein Problem damit, wenn andere ihr Geld für wertloses Zeug ausgeben. Aber ich habe ein Problem, wenn die EZB mein Geld (Steuern) für wertlose Staatsanleihen ausgibt. Ich bekomme dabei für meine Arbeitsleistung keinen adäquaten Gegenwert, sie wird also gegen mein Einverständnis entwertet. Aus dem Euro als Gemeinschaftswährung auszusteigen ist keine Lösung. Wir sitzen alle in einem Boot. Aber man muss einige dumme Leute daran hindern, Löcher in den Bootsboden zu bohren.
So so, Niedersachsen hat also Pech, Atomklo der Bundesrepublik zu sein, weil die Region sich geologisch besser für unterirdische Atommüllkippen eigne als andere. Damit vertritt der Verfasser genau den unhaltbaren Standpunkt süddeutscher Landespolitiker, die sich standhaft weigern, Alternativen in geologisch wahrscheinlich noch geeigneteren Gesteinsschichten in ihren Bundesländern erforschen zu lassen.
KÖLN
Immer wenn ich einen Artikel über Höchstspannungsleitungen lese, frage ich mich, wann endlich Wissenschaft und Politik das Thema Wasserstoff als Lösung aufnehmen. Warum werden nicht Windkraftwerke und auch große Solarkraftwerke benutzt, um am Ort der Produktion preiswerter als bisher Wasserstoff herzustellen? Dieser Wasserstoff kann dann benutzt werden, um andernorts Strom zu erzeugen, um Autotreibstoff für Tankstellen und sonstige Energie zur Verfügung zu stellen. Nebenbei werden die Probleme der Bevorratung von Energie gelöst.
CLAUDIO HILS / AGENTUR FOCUS
BERND GLASS
Euro-Druckplatten
Verlust an Attraktivität 8
BRAUNSCHWEIG
BAD KREUZNACH (RHLD.-PF.) D E R
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MARTIN DYCZKA
WERNER PROBST
Briefe
Was sehe ich denn hier? Nr. 52/2010, Hausmitteilung: Der SPIEGEL hat den Preis von 3,80 auf 4 Euro erhöht
Als ich heute wie immer den SPIEGEL kaufen wollte, sprang mir direkt die Titelschlagzeile entgegen: „Im nächsten Jahr wird alles besser“. Im selben Moment sagt mir der Verkäufer: „Die haben den Preis erhöht. Kostet jetzt vier Euro.“ Das passt doch wunderbar zusammen. DÜSSELDORF
BERNHARD DIENST
Der SPIEGEL hat das passende Weihnachtsgeschenk gefunden: eine Preiserhöhung von 20 Cent. Dafür bekommt der Leser in der sonst so mauen Adventszeit eine ungewöhnlich dicke Ausgabe von 184 Seiten. Doch grübel, grübel und studier, was sehe ich denn hier? Auf Seite 76 folgt Seite 109. Dazwischen eine Werbebeilage einer mir unbekannten Möbelfirma. Ist das schon eine Mogelpackung? BERLIN
JENS MICHAEL HAFEMANN
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Qualitätsjournalismus soll und darf ruhig etwas kosten, allerdings sollte man Preissteigerungen zumindest begründen. DUISBURG
REINHOLD DREIER
Notwendige Gewissensbefragung Nr. 52/2010, Bundeswehr: Interview mit General a. D. Egon Ramms über das Desinteresse der Politik an militärischen Fragen
Mit vielem hat der General recht, jedoch nicht mit der Aussage, das Militär sei generell unpopulär. Als Nation sollte man sich immer „wehren“ können. Unpopulär ist und bleibt der Einsatz in Afghanistan. Mit dem Geld könnte man viele notwendige und sinnvolle Aufbauprojekte in Deutschland finanzieren. In Afghanistan verhöhnt der Provinzgouverneur unsere Soldaten. Das haben sie nicht verdient. MÜNCHEN
ANDREAS BARTELS
Wir nähern uns den Gründen, warum für uns in Afghanistan alles noch lange so weitergehen dürfte. Die Soldaten gehen
Korrekturen zu Heft 51/2010 Seite 95, „Der Marktplatz der Muslime“: In der Grafik ist der muslimische Bevölkerungsanteil Finnlands falsch dargestellt. Er liegt unter zehn Prozent. zu Heft 1/2011 Seite 137, „Personalien“: Nicht das polnische Fotomodell Anna Jagodzinska ist abgebildet, sondern die Weißrussin Maryna Linchuk. 10
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wegen der hohen Zulagen dorthin, junge Offiziere sehen die Einsätze als erste Sprosse ihrer Karriereleiter. Die Generäle fordern ihrer Natur nach sowieso immer Verstärkung, und der Bevölkerung ist das mehrheitlich alles wurscht oder lästig. Da die Regierung uns nicht die ganze Wahrheit sagt, die parlamentarische Kontrolle ungenügend bleibt und die Bevölkerung desinteressiert ist, bleibt alles, wie es ist. Daher muss jeder sein eigenes Gewissen befragen, ob es richtig ist, was er tut. HAMBURG
Was jetzt in Ungarn passiert, macht einem schlichtweg Angst. Wenn die vierte Gewalt im Staat derart unter staatliche Kontrolle gebracht wird, muss man sich wirklich fragen, wie man einem solchen Europa Vertrauen schenken kann. Ungarn war zweimal ein gutes Beispiel. Ich hoffe, dass der Ratsvorsitz des Landes jetzt nicht zum gefährlichen Signal für die anderen osteuropäischen EU-Mitglieder wird. KAUFBEUREN (BAYERN)
MICHAEL LINDNER OBERSTLEUTNANT D. R.
MIKA ATES
Beförderung vor Rendite! Nr. 52/2010, Bahn: Das Schneechaos traf den Staatskonzern nicht unvorbereitet
Gefährliches Signal Nr. 52/2010, Europa: Ungarns gelenkte Demokratie
Ich bin über das neue Mediengesetz der Orbán-Regierung entsetzt. Es verstößt gegen die Prinzipien einer Demokratie in der Europäischen Union. Orbáns FideszPartei verdankt ihre Zweidrittelmehrheit
Die geschmähte „Behördenbahn“ konnte es einfach besser und fuhr auch bei Eis und Schnee zuverlässig und pünktlich. Damals saßen allerdings an den entscheidenden Stellen noch Fachleute, die den Bahnbetrieb von der Pike auf kannten, und keine branchenfremden Seiteneinsteiger, die von manchem eine Ahnung haben mögen, nur nicht davon, wie man Züge zuverlässig ans Ziel bringt.
FERENC ISZA / AFP
SCHWANDORF (BAYERN)
HEINRICH BECHER
Ich bin am 23. 12. von Bonn nach Stuttgart und am 26. 12. zurückgereist. Kein Zug war pünktlich, aber dank der Hilfestellung der Bahn und ein bisschen eigenem Engagement bin ich jeweils fast pünktlich angekommen. In der Enge habe ich wunderbare Gespräche mit überwiegend ganz entspannten Reisenden geführt. Es mag zwar etwas unbequemer gewesen sein, aber dafür sehr viel anregender als sonst. BONN
FLORIAN KASTL
Politiker Orbán (l.), Kollegen
Ein Jammer, dass die EU nicht protestiert
IMAGO
nur der Unfähigkeit der Vorgängerregierung, die sehr viele Ungarn dazu brachte, überhaupt nicht zur Wahl zu gehen. Es ist ein Jammer, dass die EU nicht laut protestiert. Schlechte Zeiten für Europa. WIESENBACH (BAD.-WÜRTT.) PROF. DR. GÉZA ALFÖLDY
Verschneite Elektrolok
Die deutschsprachige Presse begreift nur langsam, dass die eigentliche Ursache der geistigen Krise die ungarischen „Sozialisten“ sind, die das Land in den vergangenen acht Jahren geschwächt haben. Orbán ist weder Rechtsradikaler noch Antisemit und nicht populistischer als der durchschnittliche Politiker. Seine Partei Fidesz steht für den notwendigen nationalen Zusammenhalt, und sie meistert die schwierige Konsolidierung des Haushalts. Einen Waschlappen kann man in dieser Situation nicht gebrauchen. Orbáns Fehler sind die Kommunikation und eine gewisse Selbstherrlichkeit. BUDAPEST
DOMINIK ROHDE D E R
Sehnsucht nach der „Behördenbahn“
Die Situation bei der Bahn kann sich nur verbessern, wenn das Betriebsziel, die sichere Beförderung von Menschen und Gütern, wieder Vorrang gegenüber der Erwirtschaftung von Rendite hat. COTTBUS (BRANDENB.) DR.-ING. FALK EISERMANN Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt und auch elektronisch zu veröffentlichen. Die E-Mail-Anschrift lautet:
[email protected]
In dieser SPIEGEL-Ausgabe befindet sich im Mittelbund ein achtseitiger Beihefter der Firma 1&1 Internet, Montabaur.
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Deutschland
ABACA PRESS / ACTION PRESS
Panorama
Schäuble, Lagarde EURO-KRISE
Pleite-Kandidat Portugal D
eutschland und Frankreich wollen Portugal drängen, möglichst bald unter den Euro-Rettungsschirm zu schlüpfen. Das finanziell angeschlagene Land werde nicht mehr lange Kredite am Kapitalmarkt aufnehmen können, vermuten Experten beider Regierungen. Als Alarmsignal werten sie, dass Portugal in der vergangenen Woche beim Verkauf von Anleihen 3,69 Prozent Zinsen für eine halbjährige Laufzeit bieten musste. Zum Vergleich: Am selben Tag brachte Deutschland eine Anleihe mit einer Laufzeit von zehn Jahren für 2,87 Prozent an den Markt. Portugal müsse nun schnell die Hilfe des Rettungsschirms in Anspruch nehmen, heißt es in Berlin. Nur so lasse sich verhindern, dass die Krise auf weitere
TERRORISMUS
Richter zeigt BKA-Präsidenten an
Länder, etwa Spanien oder Belgien, überspringe. Zeitgleich mit der Hilfe für Lissabon sollten die Mitgliedsländer der Euro-Zone ankündigen, bei Bedarf alle notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen, um die Währungsunion zu retten. Die Maßnahme liefe darauf hinaus, dem bislang mit 750 Milliarden Euro ausgestatteten Rettungsschirm notfalls unbegrenzt weiteres Geld zu geben. Vergangenen Freitagabend trafen sich Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) und seine französische Amtskollegin Christine Lagarde in Straßburg, auch um über die Lage des Euro zu beraten. Beide wissen, dass es mit Portugal nicht so einfach wird wie mit Irland, das auf Druck der Mitgliedsländer und der Europäischen Zentralbank (EZB) Hilfszahlungen schließlich zustimmte. Der Vizepräsident der EZB ist Portugiese, EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso ebenfalls. Die Regierung in Lissabon widersetzt sich ohnehin, weil sie Sparauflagen fürchtet, die mit Unterstützungszahlungen verbunden sind.
Sicherheitsbehörden im Vorfeld des Drohnenangriffs Informationen an die USA weitergegeben haben, die zu dem tödlichen Schlag führten. Am 4. Oktober war ein von Islamisten ge-
m Fall des durch eine US-Drohne getöteten deutschen Islamisten Bünyamin E. gerät die Bundesregierung in Bedrängnis. Thomas Schulte-Kellinghaus, Richter am Oberlandesgericht Karlsruhe, hat Strafanzeige gegen den Präsidenten des Bundeskriminalamts (BKA), Jörg Ziercke, gestellt. Vom Verdacht der Beihilfe zum Mord an Bünyamin E. betroffen seien unter Umständen auch die Verantwortlichen der Verfassungsschutzämter und des Bundesnachrichtendienstes. Die Strafanzeige soll klären helfen, ob deutsche
DAVID BATHGATE / CORBIS
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US-Drohne in Afghanistan D E R
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nutztes Haus in der pakistanischen Stadt Mir Ali von den Amerikanern beschossen worden. Dabei starben mehrere Männer, darunter Bünyamin E. (SPIEGEL 41/2010). Auf Fragen des Links-Abgeordneten Wolfgang Nešković nach einer Beteiligung „deutscher Stellen“ hat der zuständige Innenstaatssekretär Klaus-Dieter Fritsche bislang nur vage geantwortet: Aus „strafprozessualen Maßnahmen“ seien keine Informationen an die USA gegangen. Über mögliche andere Erkenntnisse sagte er nichts. „Diese ausweichende Antwort und die Indizienlage lassen keinen anderen Schluss zu, als dass geheimdienstliche Informationen an die US-amerikanische Seite weitergegeben wurden“, mutmaßt der ehemalige Bundesrichter Nešković. 13
Panorama GROSSPROJEKTE
Geißler warnt vor „Basta-Politik“
Fünf maritime Weisheiten für FDP-Steuermann Guido Westerwelle
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bsichten von Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU), die Planungsverfahren für Großprojekte zu beschleunigen, stoßen parteiübergreifend auf Widerstand. „Das ist ein Rückfall in die Basta-Politik“, sagt der ehemalige CDU-Generalsekretär und Stuttgart-21-Vermittler Heiner Geißler. „Diese Art von Politik führt dazu, dass die Bürger den Konsens verweigern, weil über ihre Köpfe hinweg entschieden wird“, so Geißler. „Das ist das Gegenteil dessen, was man heute machen muss.“ Der Streit in Stuttgart habe ge-
(„Ich verlasse das Deck nicht, wenn es stürmt.“) „Wie glücklich man an Land war, merkt man erst, wenn das Schiff untergeht.“ (Seneca)
zeigt, dass den Bürgern mehr Gelegenheit zur Mitsprache eingeräumt werden müsse. Auch bei SPD und Grünen sorgt das Vorhaben des Innenministers für Empörung. Der saarländische SPDVorsitzende Heiko Maas nennt es bürgerfeindlich. „Das wäre ein klarer Rückschritt im Bemühen, die Bürger bei der Planung von Projekten mitzunehmen und einzubinden“, sagte er. „Großprojekte haben nur dann eine Chance auf Realisierung, wenn sie bei den Bürgern auf Akzeptanz stoßen.“ Ähnlich äußert sich der Fraktionschef der Grünen im Bundestag, Jürgen Trittin. Er spricht von einem „Programm zur Produktion von noch mehr Politikverdrossenheit“. De Maizières Gesetzentwurf zur „Vereinheitlichung und Beschleunigung von Planfeststellungsverfahren“ sieht vor, dass Behörden künftig darauf verzichten können, bei Großprojekten öffentliche Anhörungen abzuhalten. Sein Ministerium verwahrt sich gegen den Eindruck, dadurch würde das Mitspracherecht der Bürger beschnitten. Bundestag und Bundesrat hätten es bereits 2006 beauftragt, Planfeststellungsverfahren zu vereinheitlichen. 14
„Es gibt kaum einen menschlichen Beruf, der so alles Untüchtige ausstößt wie der des Seemanns.“ (Heinrich von Treitschke)
IRENEUS STOSIK / ACTION PRESS
Geißler in Stuttgart
„Die Ratte, die das sinkende Schiff verlässt, ist klüger als der Kapitän, der damit untergeht.“ (Jonathan Swift)
„Wenn man lange genug wartet, wird jedes Wetter schön.“ (Anonym)
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Drohanruf aus Zagreb
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rmittlungen der Bundesanwaltschaft gegen frühere Offiziere jugoslawischer Geheimdienste zu Morden an Exilkroaten in den siebziger und achtziger Jahren in Westdeutschland sorgen in Kroatien für Unruhe. Der einflussreiche Politiker Andrija Hebrang hat seine Regierung in Zagreb aufgefordert, die Arbeit der Deutschen zu unterstützen. Die Bundesanwaltschaft hat sieben Personen international zur Fahndung ausschreiben lassen, die unbehelligt in ihrer Heimat leben (SPIEGEL 49/2010). Sie sind offenbar heute noch in der Lage, unter Kroaten Angst zu verbreiten, die in Deutschland Bosnjak D E R
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wohnen und die Verbrechen von damals aufklären wollen. So wurde Gojko Bosnjak, der Anfang der siebziger Jahre einen Mordanschlag überlebte, nach Erscheinen des SPIEGELBerichts telefonisch bedroht. Der Anrufer habe sich dabei als ehemaliger Mitarbeiter eines der beschuldigten Geheimdienstoffiziere vorgestellt. Er soll geraten haben, die alten Geschichten ruhen zu lassen, sonst werde man Bosnjak das Genick brechen. Bosnjak hat Bundespräsident Christian Wulff aufgefordert, dem 1980 verstorbenen Staatspräsidenten Jugoslawiens, Josip Broz Tito, einen hohen Orden abzuerkennen. Tito hatte die Mordaufträge abgesegnet. Der Aberkennungsantrag liegt dem Bundespräsidialamt vor. ANDREAS WASSERMANN / DER SPIEGEL
JÖRG EBERL / ACTION PRESS
„Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern.“ (Schlager aus dem Film „Paradies der Junggesellen“)
Deutschland S P I O N AG E S AT E L L I T E N
Berlin will „Hiros“ nicht finanzieren
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WOLFGANG KUMM / DPA
ie Bundesregierung will das Projekt eines deutsch-amerikanischen hochauflösenden Satellitennetzwerks namens „Hiros“ nicht mit der dafür notwendigen dreistelligen Millionensumme unterstützen. Die Entscheidung sei bereits im vorigen Sommer gefallen, heißt es in Regierungskreisen. Nach den ursprünglichen Vorstellungen hätten Deutschland und die USA jeweils drei Satelliten in den Orbit geschickt, die aus rund 500 Kilometer Höhe die Erdoberfläche so detailliert abbilden könnten, dass selbst Objekte von 50 Zentimeter Größe deutlich zu erkennen wären. Neben kommerziellen Anwendungen und Einsätzen im Katastrophenschutz hätte Hiros auch Spionagezwecken dienen sollen, wie US-Botschaftsdepeschen aus dem WikiLeaks-Bestand belegen. Demnach hatte der Bundesnachrichtendienst (BND) großes Interesse an den hochauflösenden Spähern im All, um bestimmte
Aufklärungslücken zu schließen. In den Unterlagen ist vom BND als „Hauptkunden“ die Rede, der etwa 30 Prozent der geplanten Kapazitäten benötige. Mit dem US-Partnerdienst NGA hatte sich der BND über diese Pläne bereits ausgetauscht. Die Entscheidung gegen eine Finanzierung erspart der Bundesregierung Ärger mit den Franzosen, die mit einem eigenen System den Markt beliefern wollen. Projektbeteiligte hatten sich den WikiLeaks-Unterlagen zufolge nach der Bundestagswahl von der schwarz-gelben Koalition mehr erhofft: Kanzlerin Merkel werde möglicherweise 100 bis 200 Millionen Euro lockermachen, wird ein Mitarbeiter in einem US-Botschaftsbericht aus dem Februar 2010 zitiert. Das beim Vorhaben federführende Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt will die Hoffnung nicht aufgeben. „In der Raumfahrt hatten wir viele Projekte, die nicht auf Anhieb funktionierten“, so Sprecher Andreas Schütz. „Die optischen HirosSatelliten wären eine ideale Ergänzung für unsere Radarkapazitäten, deshalb suchen wir weiter nach Möglichkeiten, das Projekt zu realisieren.“
Polizisten vor dem Berliner Reichstag POLIZEIREFORM
Kleine Lösung
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egen des massiven Widerstands aus den Ländern wird die geplante Reform der Bundes-Polizeibehörden möglicherweise abgespeckt. Statt einer Fusion des Wiesbadener Bundeskriminalamts (BKA) mit der Bundespolizei sei auch eine kleine Lösung denkbar, heißt es in Kreisen der Berliner Regierungskoalition. Dabei würde lediglich die Aufsicht über beide Behörden im Bundesinnenministerium D E R
zusammengefasst. Das beträfe die Abteilung Öffentliche Sicherheit, die für das BKA zuständig ist, und die entsprechende Abteilung für die Angelegenheiten der Bundespolizei. Außerdem könnten die beiden Polizeibehörden Zuständigkeiten tauschen. So wünscht sich das Bundeskriminalamt seit langem mehr Befugnisse bei der Verbrechensbekämpfung; die Bundespolizei könnte hingegen den Schutz von Spitzenpolitikern wie der Kanzlerin und Bundesministern sowie des Bundespräsidenten übernehmen. Im Übrigen blieben beide Behörden selbständig.
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Deutschland
Panorama
BAHN
Gewinne investieren
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ULLSTEIN BILDERDIENST
ach dem Winterchaos bei der Bahn erwartet Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) eine unangenehme Debatte. Anders als in den vergangenen Jahren soll er darauf verzichten, Gewinne des Unternehmens in Höhe von 500 Millionen Euro an den Bund auszuschütten. Eine entsprechende Vorlage will der nordrheinwestfälische Verkehrsminister Harry Voigtsberger (SPD) an diesem Montag bei einer Sondersitzung der Länderkollegen mit Ramsauer einbringen. Die Bahn solle das Geld künftig „in den Bereichen der Infrastruktur, der Fahrzeuge, der Werkstätten und des Personals“ investieren, heißt es in dem Papier weiter. Eine Aufstockung der
Augstein 1963 ZEITGESCHICHTE
Bedingt aufklärungsbereit PAUL LANGROCK / AGENTUR ZENIT
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Finanzreserven für diese Zwecke trüge „erheblich“ dazu bei, „Zugverspätungen und -ausfällen vorzubeugen“. Die „Qualitätsmängel“ seien bei den extremen Witterungsbedingungen der vergangenen Wochen erneut „über das normale Maß weit hinausgegangen“ und „systemimmanenter Art“.
RAUC H E N
Leuchtendes Kamel
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ie Drogenbeauftragte der Bundesregierung Mechthild Dyckmans (FDP) unterstützt erstmals das „Forum Rauchfrei“ im Kampf gegen verbotene Tabakwerbung. Die Berliner Organisation hatte den zuständigen Behörden in den vergangenen eineinhalb Jahren rund drei Dutzend vermeintliche Ge16
ls erstes Ministerium hat das Auswärtige Amt (AA) bislang geheime Akten zur SPIEGEL-Affäre 1962 veröffentlicht*. Danach glaubten Beamte im AA – wie auch Kanzler Konrad Adenauer und Verteidigungsminister Franz Josef Strauß –, der SPIEGEL habe mit der Titelgeschichte „Bedingt abwehrbereit“ Verrat von Staatsgeheimnissen begangen. Die Diplomaten erregte vor allem ein Passus, dem zufolge Offiziere im Verteidigungsministerium dafür plädierten, die Nato solle einen sowjetischen Überfall nicht erst abwarten, sondern, wenn dieser sich abzeichnete, zuerst und mit Atombomben angreifen. Die Veröffentlichung solcher Überlegungen sei „außenpolitisch besonders heikel“, notierte am 23. Oktober 1962 Ministerialdirektor Herbert Müller-Roschach. Als wenige Tage später der damalige SPIEGEL-Vizechefredakteur Conrad Ahlers im Spanienurlaub festgenommen wurde, halfen Mitarbeiter der Botschaft in Madrid, insbesondere Militärattaché Oberst Achim Oster. Strauß erteilte Oster am Telefon den „dienstlichen Befehl“, Ahlers „so schnell wie möglich“ von der spanischen Polizei festsetzen zu lassen. Der CSU-Minister leugnete später sein rechtswidriges Vorgehen und musste zurücktreten. Die Vorwürfe gegen den SPIEGEL erwiesen sich als gegenstandslos. Das Verteidigungsministerium hält bis heute das Gutachten geheim, aufgrund dessen die Bundesanwaltschaft das Ermittlungsverfahren wegen Landesverrats gegen Herausgeber Rudolf Augstein und andere SPIEGEL-Journalisten einleitete und die Hamburger Redaktion durchsuchen ließ. * Institut für Zeitgeschichte (Hg.): „Akten zur Auswärtigen Politik 1962“. Oldenbourg Verlag, München.
setzesverstöße der Tabakindustrie gemeldet. In fast allen Fällen blieben die Anzeigen ohne Folgen. Auch die Bundesregierung reagierte bisher zurückhaltend auf die Aktivitäten des Forums. Anlass für das Eingreifen von Dyckmans ist jetzt eine Zigarettenwerbung der Marke Camel, auf der ein Junge zu sehen ist, der mit einer Leuchtspur ein Kamel zeichnet. Das Forum Rauchfrei sieht darin einen besonders krassen Verstoß gegen das Tabakgesetz. Dieser D E R
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Einschätzung hat sich die Drogenbeauftragte angeschlossen und den Deutschen Zigarettenverband aufgefordert, den Fall zu überprüfen. Forum-Sprecher Johannes Spatz hält diese Reaktion der Politik „für längst überfällig“, da die Tabakindustrie ihre freiwilligen Selbstverpflichtungen nicht einhalte, keine Werbung mit Jugendlichen zu betreiben. Zudem seien die Behörden in den Kommunen bei der Überwachung der Werbung überfordert.
Deutschland
LINKE
Not ohne Lösung Mit einem desolaten Führungsduo und ohne Programm zieht die Linke in das Superwahljahr 2011. Die pragmatischen Landeschefs im Osten planen längst die Zeit danach, während im Westen engagierte Funktionäre davonlaufen – und mögliche Bündnispartner sich abwenden.
Rivalen Gysi, Ernst, Lötzsch: „Wir predigen nicht nur Wein, wir trinken ihn auch“
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ie Show ist für den Nachmittag angesetzt. Um 15 Uhr werden sich die Linken im Berliner Congress Center am Alexanderplatz treffen und so tun, als wäre alles gut. „Wir wollen gemeinsam den Startschuss geben in ein Jahr, in dem die Linke Motor politischer Veränderungen sein will – und sein wird“, heißt es in der Einladung zum „politischen Jahresauftakt“ der Partei an diesem Montag, gezeichnet „mit solidarischen Grüßen“: Gesine Lötzsch, Klaus Ernst und Gregor Gysi. Pech für die Zuschauer, dass sie einen wesentlichen Teil der Show schon verpasst haben. Die schönste Aufführung fand in den vergangenen Tagen und Wochen im Off statt, im Berliner Karl-Liebknecht-Haus. Dort, im vierten Stock der Parteizentrale, sitzen die Mitarbeiter der beiden Vorsitzenden Lötzsch und Ernst und belauern sich. So wie ihre Chefs. Wer soll bei der Berliner Veranstaltung zuerst reden? Lötzsch oder Ernst? Worüber und vor allem wie lange? Mails gingen hin und her, Anrufe, wieder Mails. Vordergründig wurde um die Aufteilung von 60 Minuten Redezeit gerungen, tatsächlich ging es um die Macht. Die beiden Parteichefs trauen sich nicht über den Weg, aber noch weniger trauen sie dem Mann, der wenige Kilometer weiter westlich in seinem Bundestagsbüro sitzt. War Gysi als Hauptredner zu verhindern? Er würde sie locker an die Wand spielen.
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Aber Gysi, der letzte Star der Partei, ließ sich nichts vorschreiben. Nicht von Lötzsch und Ernst, denen er das Amt nicht zugetraut und die er doch installiert hatte. Früher hat er die Augen verdreht: Gesine („na ja“) und der Klaus, „der ist glücklich, wenn er auch mal in einer Talkshow sitzen darf“. So hat er über sie geredet. Schließlich gab es einen Vorschlag. 60 durch 3, also je 20 Minuten. Lötzsch eröffnet, dann Gysi Hauptredner, zum Schluss Ernst. Die Parteichefs murrten. Schon wieder Gysi als Hauptredner. Würde er sich wenigstens an die Redezeit halten? Kaum vorstellbar, doch am Ende mussten sie abnicken, was Gysis Leute diktierten. Die Show vor der Show zeigt exemplarisch, was falsch läuft bei der Linken. Sie ist eine Partei ohne Führung. Im vergangenen Mai wurden die Ost-Berlinerin Lötzsch und der Bayer Ernst an die Spitze gewählt, weil sich Patriarch Oskar Lafontaine zurückzog und sein Co-Chef Lothar Bisky nicht mehr mochte. Alle hatten gewusst, dass es eine Notlösung war, aber sie hatten nicht geahnt, dass von Lösung bald nicht mehr die Rede sein würde. Nur noch von Not. Selten lagen in der bundesdeutschen Parteiengeschichte Aufstieg und Fall so nah beieinander. Als die ostdeutsche PDS und die westdeutsche WASG 2005 ein Bündnis bildeten, als Populist Lafontaine D E R
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zum Rachefeldzug gegen die SPD ansetzte, schien nichts mehr ausgeschlossen. Lafontaine träumte davon, aus der Linken einen bundesdeutschen Machtfaktor zu machen. Bald war er knapp davor. Mit großer Geste bot er 2007 dem damaligen SPD-Chef Kurt Beck an, ihn nach einem Bruch der Großen Koalition zum Kanzler zu machen. Ein rot-rotes Bündnis im Bund schien greifbar nahe, eine Frage der Zeit. Ein Jahr später erklärte Lafontaine: „Die Linke regiert aus der Opposition heraus. Wir bestimmen die politische Agenda.“ Seine Genossen tönten: „Wir bringen die Verhältnisse zum Tanzen.“ Und heute? Immer noch liegt die Partei in den Umfragen erstaunlich stabil bei acht bis zehn Prozent, bundesweit. Und immer noch malt FDP-Chef Guido Westerwelle ein rot-rot-grünes Linksbündnis als Schreckgespenst an die Wand. Tatsächlich dürfte auch er wissen, dass die Linke nur noch als Popanz taugt. Kopflos geht die Partei in das Superwahljahr 2011, in dem sieben neue Landtage gewählt werden. Mit Argwohn beobachten die pragmatischen Ost-Linken, wie die Sektierer im Westen den Ton angeben. Gleichzeitig stockt die bislang scheinbar so erfolgreiche Westausdehnung der Partei. Die Mitgliederzahl sinkt. Die Bundespartei ist nur noch ein Torso ohne Programm. Was will die Linke? Eine Rückkehr des Kommunismus oder
SIMONE M. NEUMAN
den demokratischen Sozialismus? Will sie mete sie sich Plänen für den Umbau der Vorsitzenden („Wege zum KommunisVolkspartei sein wie in Ostdeutschland Parteizentrale. In baulicher Hinsicht. mus“) im Links-Blättchen „Junge Welt“, oder Polit-Sekte wie im Westen? Will sie In der vergangenen Woche nun de- mit dem sich Lötzsch offenbar bei den Reformen oder „revolutionäre Realpoli- monstrierte Lötzsch, dass auch sie für die Sektierern in ihrer Partei und dem linkstik“, wie es Lötzsch nun fordert? Will sie eine oder andere Schlagzeile gut ist. Aus- radikalen Umfeld anbiedern wollte. Sie das System überwinden oder ja sagen löser war ein Bericht von SPIEGEL ON- hatte zugesagt, mit einer Ex-Terroristin zum Grundgesetz? LINE über einen obskuren Traktat der und einer DKP-Funktionärin aufzutreten. Die Vorsitzenden haben Kaum wurde sie für ihre nicht die Autorität, diese FraKommunismusthesen öffentMecklenburggen zu klären. Der eine, der lich kritisiert, schoss sie gegen Vorpommern altgediente Gewerkschaftsden Überbringer der Nach22 % Hamburg funktionär Ernst, ist vor allem richt: „Der wutschnaubende Infratest dimap, Mai 2009 8% damit beschäftigt, mit immer Verriss meines ,Junge Welt‘Trend Research, Dez. 2010 neuen Peinlichkeiten für Beitrages durch den SPIEGEL Bremen Berlin Schlagzeilen zu sorgen. zeigt, wie verunsichert das 8,5% 15% Mal witzelte er über eine Establishment ist, wenn es um Konkret Marktforschung, Forsa, Dezember 2010 langgediente Ostgenossin, die Alternativen zum kapitalistiDezember 2010 8 er für eine Sekretärin hielt. Mal schen System geht.“ Sachsen-Anhalt 13 sorgte er mit seinem bürgerBeunruhigt beobachten die 30% lichen Lebensstil („Porschemächtigen Ostlandesfürsten Infratest dimap, September 2010 Klaus“) für Aufregung oder fiel der Partei das Treiben an der auf, weil er bei Partei und Spitze. Bodo Ramelow aus Fraktion kassierte und zur Thüringen, Wulf Gallert aus RheinlandProgrammdebatte allenfalls Sachsen-Anhalt, Thomas Nord Pfalz Jüngste Prognosen für Die Linke Plattheiten beizutragen hatte aus Brandenburg und Steffen 4% bei den Landtagswahlen 2011 („Wir predigen nicht nur Wein, Bockhahn aus Schwerin siEmnid, Dezember 2010 wir trinken ihn auch“). chern ihre Realo-Reservate, BadenAls ruhender Pol der beiden schreiben Konzepte für RegieWürttemberg Parteichefs galt bislang die rungsbeteiligungen. Nach au4% erfahrene Haushaltpolitikerin ßen hin signalisieren PragmaEmnid, Dezember 2010 aus dem Bundestag, Lötzsch. tiker aus den Ländern lauwarDie gute Nachricht: Sie schaffte me Unterstützung, doch soes, nicht negativ aufzufallen. bald die Mikrofone abgeschalDie schlechte: Sie fiel übertet sind, fallen harte Worte. haupt nicht auf. Zuletzt wid„Unfassbar“ sei das alles, die
Linke in den Ländern
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Deutschland
CHRISTIAN DITSCH / VERSION
Die Saarländer hatten ihre Satzung um einen Strafkatalog wegen „parteischädigenden Verhaltens“ ergänzt, der böse Erinnerungen weckt. Das sei ja wie in der SED, protestierte der frühere Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch. Berlin intervenierte und bat die Saarländer, „auf die Aufhebung dieses Beschlusses hinzuwirken“. Das gab es noch nie. Ohnehin fällt Lafontaines Landesverband vor allem durch Streit, Intrigen und gegenseitige Beschuldigungen auf. Wenn am 15. Januar die Bundesschiedskommission zusammenkommt, stehen gleich sieben Verfahren aus dem Saarland auf der Tagesordnung. Es geht um Parteiausschlüsse, um angebliche Durchstechereien, Täuschungsvorwürfe. Und das Saarland ist kein Einzelfall. In vielen Westverbänden ist die Lage desolat. Fast jeder Parteitag wird zum Scheidende Parteiführer Lafontaine, Bisky*: Rückkehr zum Kommunismus oder Reformpolitik? Sonderparteitag. In Bremen etwa stritten die gewöhnlich sobeiden seien „unfähig“, „sie können es Es ist eine Spitze gegen Bries früheren zial eingestellten Genossen um Zeitvernicht“. Freund Gysi, der das Duo ins Amt ge- träge ihrer eigenen Mitarbeiter. In Bayern In vertraulichen Runden diskutieren hievt hatte. zog sich der Landesschatzmeister zurück, sie ein Szenario: Gestärkt durch WahlerTatsächlich ist Gysi derzeit die letzte nachdem er der Parteiführung Manipulafolge in Sachsen-Anhalt, Mecklenburg- Führungspersönlichkeit der Partei im tionen vorgeworfen hatte. Vorpommern und Berlin, wollen die Rea- Bund. Doch sein Charisma verblasst, sein In Nordrhein-Westfalen versemmelte los verlorene Bastionen in der Partei und Ansehen ist gesunken, sein Charakter die Linke die bislang wichtigste Abstimder Bundesspitze zurückerobern. Der habe sich geändert, sagen Weggefährten. mung im Düsseldorfer Landtag seit der Name Ramelow fällt immer wieder. Aus dem launigen Gesellen sei ein Ein- Wahl im vergangenen Mai. Die Partei, Dem schlagfertigen Fraktionschef in zelgänger geworden, dem es nur noch um die sich zuvor auf Enthaltung festgelegt Thüringen trauen viele den Parteivorsitz sich und seine Rolle im Geschichtsbuch hatte, stimmte dem rot-grünen Nachtragszu. Ironisch hatte er vergangene Woche gehe. Die Krise der Linken ist auch eine haushalt dann doch mehrheitlich zu – die Lötzsch dafür gedankt, endlich die Pro- Gysi-Krise und die einer Partei, die von beiden Fraktionsvorsitzenden hatten im grammdebatte angestoßen zu haben. ihm seit 20 Jahren abhängig ist. Lange Verlauf der Abstimmung die OrientieNicht ohne hinzuzufügen, dass er den auf Gedeih, nun auf Verderb. rung verloren. Kommunismusbegriff für untauglich halGysis alter Verbündeter Lafontaine hat Kaum eine Woche vergeht, in der nicht te: „Ich hätte ihn nicht verwendet.“ sich aus der Führung zurückgezogen, of- irgendwo im Westen der Republik eine Auch Gysi, berichten Vertraute, sei ent- fiziell ist er nur noch FraktionsParteiflucht zu vermelden ist. nervt. Erst beklagte er die „Selbstbeschäf- chef im Saarland. Doch PatriUnd es sind nicht nur einfache „Führung?“, Mitglieder, die gehen, auch tigung“ der Partei, nun distanzierte er arch bleibt Patriarch. Mit Ulrich fragt André sich von Lötzschs Papier. Andere würden Maurer hat er einen seiner Mandatsträger wenden sich ab. unter dem Begriff Kommunismus Stalin Getreuen in der Parteispitze Brie, „das ist Die Begründungen ähneln sich verstehen und an die Mauer denken. Ex- platziert. Telefonisch gibt allenfalls eine meist: ideologischer Streit, Chef Lothar Bisky urteilt ironisch, man Lafontaine Ratschläge, jetzt Druck von oben, interner Form von trete „erfolgreich auf der Stelle“. drängt er wieder Richtung Verwaltung.“ Zwist. In Gelsenkirchen löste sich Der frühere Parteistratege André Brie Kameras. „Der Oberlimberg die linke Ratsfraktion am 20. ist einer der wenigen, die offen ausspre- spricht“, spotten Genossen chen, was viele Genossen denken. „Füh- dann in Anspielung auf den Wohnort des Dezember durch einen einstimmigen Beschluss auf und gründete sich am Tag darrung?“, fragt er, als wüsste er nicht, wer Saarländers. Vor allem Ernst gilt als Lafontaine-hörig. auf als Bürger-Bündnis-Gelsenkirchen gemeint ist. „Das ist allenfalls eine Form von Verwaltung, unprofessionell, unin- Seine Aussagen über den politischen Geg- neu. „Ich war die ständigen Streitereien, spiriert, unintellektuell und, wie sich jetzt ner („die Hartz-IV-Parteien“) klingen ver- Intrigen und Schiedskommissionen leid zeigt, unhistorisch.“ Das Lötzsch-Be- dächtig nach dem Saarländer. Doch Lafon- und dass man von den eigenen Leuten kenntnis zum Kommunismus lasse ihn taines Macht lässt nach. Sein Versuch, die vorgeführt wird“, sagt einer der ViererPragmatiker des rot-roten Berliner Senats gruppe, der Maler Ralf Herrmann, 48: „Im „resignieren“. Allerdings: Die Führung sei doch nie zu disziplinieren, scheiterte. Vor wenigen vergangenen Jahr ist mir klargeworden, installiert worden, um wirklich zu führen. Wochen kam es zum ersten Mal zu einem dass ich auf dem falschen Dampfer gelanharten Konflikt zwischen Lafontaines Lan- det bin.“ Seine Mitstreiterin Marion Stroh* Beim Parteitag der Linken in Rostock am 15. Mai 2010. desverband und der Bundesspitze. meier, 61, glaubt, dass die Partei nicht 20
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mehr lange auf dem Markt sein werde. Die Leute liefen ja scharenweise davon. In Köln verlor die Linke im April 2010 an einem Tag 56 Mitglieder. Der Zustand der Linken in der Stadt und auf Landesebene sei „unheilbar desolat“, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung. Der Kreisverband habe sich zu einer „unkontrollierbaren Gruppe entwickelt“, dessen Mitglieder so unterschiedliche Ansichten besäßen, dass in der Partei keine glaubwürdige politische Arbeit mehr möglich sei. In Bremen trat Sirvan Cakici, 30, aus der Linkspartei aus und Ende November 2010 in die SPD ein. Die sozial- und migrationspolitische Sprecherin der Linken sagt, sie „bereue es, Mitglied in der Linkspartei geworden zu sein. Es waren vier Jahre Alptraum, und wenn ich könnte, würde ich die Zeit wieder zurückdrehen“. In Saarbrücken verließ Jessica Zeyer, 34, Anfang September 2010 die Partei, behielt aber ihr Mandat im Stadtrat und wechselte wenig später in die SPD. „In der Linkspartei werden nicht gern Leute gesehen, die eine eigene Meinung haben“, sagt sie, „diese Führungsclique um Gysi und Lafontaine ist nicht bereit, etwas von ihrer Macht abzugeben. Sie ist nicht bereit, junge Leute aufzubauen, die sich systemkritisch mit der Partei auseinandersetzen.“ Austritte, Querelen, Richtungsstreit – bislang gehörte zu dem Phänomen der Linkspartei auch der erstaunliche Umstand, dass die Umfragewerte stabil blieben. Während sich FDP-Wähler durch Negativschlagzeilen erschüttern lassen, sind Linken-Anhänger offenbar resistent. Ein anderes „Mediennutzungsverhalten“ attestieren die Experten dem roten Anhang. Negativschlagzeilen in den „bürgerlichen Medien“ würden die Wähler eher bestärken als abschrecken. Doch die Absetzbewegung von der Linken könnten diesmal an die Substanz gehen. Nicht nur einzelne Mitglieder gehen. Nicht nur die Presselage ist schlecht. Auch sicher geglaubte Verbündete rücken ab. In vertraulichen Gesprächen mit Sozialdemokraten haben Gewerkschaftsbosse bereits ihren Flirt mit der Linken bedauert. Die Sozialdemokraten genießen jedenfalls das Leiden des ewigen Widerparts. Im rot-roten Bruderzwist wird ein neues Kapitel aufgeschlagen, so glauben sie. Parteichef Sigmar Gabriel lud via „Süddeutsche Zeitung“ diejenigen Linken, die den „Unsinn“ leid seien, in die SPD ein. „Die DDR ist tot, der Kommunismus ist mausetot“, sagt Brandenburgs sozialdemokratischer Ministerpräsident Matthias Platzeck. Draufschlagen will er nicht. Er weiß nur zu gut, was die Genossen zusammenschweißt. Denn auch in der SPD kennen sie einen Lieblingssatz des Saarländers Erich Honecker: Totgesagte leben länger. STEFAN BERG, SARAH PANCUR D E R
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Deutschland
SPD
Aus dem Ruder gelaufen Die Lager von Parteichef Sigmar Gabriel und Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier belauern und misstrauen einander. Schon jetzt geht es um die Kanzlerkandidatur.
in Zukunft zu tun gedenkt mit diesem Land. Außerdem hat sie sieben Landtagswahlen zu bestehen. Das ist eigentlich genug. Und die Frage ist, ob den Grabenkampf überhaupt jemand gewinnen kann. Vor der Weihnachtspause trafen sich ehemalige Mitarbeiter von SPD-Ministern aus der Großen Koalition zu einer geselligen Runde. Es wurde viel geredet an diesem Abend, es ging auch um Gabriel, einer aus der Runde äußerte sich besonders
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MAURICE WEISS / DER SPIEGEL
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s wird in dieser Woche sehr gerecht zugehen bei der SPD, das ist schon mal gut, Gerechtigkeit ist das Wichtigste in dieser Partei. Zwei Tage lang ist Sigmar Gabriel der Chef von Frank-Walter Steinmeier, dann ist Steinmeier zwei Tage lang der Chef von Gabriel. Alles könnte ganz einfach sein, aber das ist es nicht, weil die Kategorie „einfach“ in der SPD längst nicht so wichtig ist wie die Kategorie „gerecht“. In der SPD von heute ist nie etwas einfach. Es ist die Woche der Klausurtagungen, am Montag und Dienstag leitet SPD-Chef Gabriel in Potsdam-Hermannswerder die Sitzung des Parteivorstands samt Gästen, am Donnerstag und Freitag kommt in Magdeburg die Bundestagsfraktion unter Leitung ihres Chefs Steinmeier zusammen. Man wird über große Entwürfe reden, über Arbeitsprogramme, die Linien für dieses Jahr. Doch man wird noch über etwas anderes reden. Oder eher tuscheln. Das ist das Problem für die SPD, die in der Opposition so gern eine einträchtige Partei geworden wäre. Wer von beiden macht die bessere Figur, was ist hinter diesem Vorschlag und jenem Akzent zu vermuten, wer patzt oder zeigt sich unsicher, wem schadet oder nützt diese oder jene Debatte? Das sind die Fragen, die mitschwingen werden. Die große Frage dahinter lautet: Wer ist der bessere Kanzlerkandidat? Es dauert noch zwei Jahre, bis die Frage entschieden werden muss, doch schon jetzt hat sich in der SPD ein Stellungskampf entwickelt, zwischen Steinmeier und Gabriel, genauer: zwischen dem Lager Steinmeiers und dem Lager Gabriels. Zu diesen Lagern zählen jeweils enge Berater und solche, die sich dafür halten, auch Leute, die noch etwas werden wollen. Solche Lager haben ihre Funktion im Politikbetrieb, es ist der Job solcher Leute, ihre Chefs gut dastehen zu lassen. Doch im Fall von Steinmeier und Gabriel ist die Sache inzwischen etwas aus dem Ruder gelaufen. Seit längerer Zeit beäugen sie sich, in den vergangenen Wochen ist das Misstrauen nochmals gewachsen. Es geht vor allem von Gabriel und seinen Leuten aus, sie vermuten inzwischen hinter jeder bösen Geschichte über ihren Chef das andere Lager als Stichwortlieferanten. Ihr Chef wird sein Sponti-Image
Sozialdemokraten Gabriel, Steinmeier: Wer macht die bessere Figur?
nicht los – aus ihrer Sicht sind daran die anderen schuld. Steinmeiers Anhänger schauen sich genüsslich an, wenn der Parteichef mal wieder über die Stränge schlägt und beispielsweise erklärt, die TV-Blondine Katzenberger hätte doch das Ehepaar Guttenberg nach Afghanistan begleiten können. Ihr Chef schwebt mit seinen Popularitätswerten weit über Gabriel – aus ihrer Sicht sind die anderen selbst daran schuld. Gabriels Leute fürchten, dass der gescheiterte Kandidat Steinmeier auf seine zweite Chance lauern könnte. Steinmeiers Leute verweisen gern darauf, dass der Parteichef sich die Kandidatur jederzeit greifen könne – wenn er sie sich zutraue. Die SPD muss in diesem Jahr einiges leisten. Sie muss sich endlich von den Debatten um ihre Regierungszeit lösen und den Leuten stattdessen erklären, was sie D E R
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skeptisch über dessen sprunghaften Führungsstil. Die Runde ging spät auseinander, und am nächsten Tag hatte der Skeptiker einen Vertrauten des Parteichefs am Telefon, bestens über die Gespräche vom Vorabend informiert: Warum der Mann denn solche Dinge über Gabriel erzähle? Es war Ende Oktober, die Rückkehr von Frank-Walter Steinmeier nach der Nierenspende an seine Frau stand bevor, als SPIEGEL ONLINE das Comeback in einem Artikel ankündigte. Viele in der Partei hofften, Steinmeier werde wieder ein Korrektiv bilden zum „Aus-der-Hüfte-Schießer Sigmar Gabriel“. Gabriel las den Artikel, griff zum Telefon und rief bei Steinmeier an: Was haben deine Leute da wieder über mich verbreitet? Vor einigen Monaten, wieder war ein kritischer Gabriel-Artikel erschienen: Auf einem WC des Willy-Brandt-Hauses, so
Als Steinmeier nach seiner Auszeit zurückkehrte, setzte er sich mit Gabriel vor die Bundespressekonferenz. Ein Jahr schwarz-gelbe Bundesregierung, darum sollte es gehen, aber natürlich war das Comeback das eigentliche Ereignis. Steinmeier hatte abgenommen, er sah gut aus, erholt, Gabriel hatte unter anderem die Sarrazin-Debatte hinter sich. Steinmeier bedankte sich bei den Pressevertretern, dass sie die Privatsphäre seiner
RONALD SAWATZKI
wird die Geschichte jedenfalls in der Parteizentrale erzählt, traf Gabriel zufällig einen von Steinmeiers Leuten. Und knöpfte sich den Mann vor: Er sei es doch, der mit Journalisten über ihn geredet habe. „Misstrauen“ ist da eher noch ein schwaches Wort. Gabriels Umfeld besteht wie bei jedem Parteichef aus seinem Sprecher und seinem Büroleiter, ebenfalls eng angebunden sind Martin Schulz, Fraktionschef der So-
Parteivize Scholz: Plötzlich wären neue Namen im Spiel
zialdemokraten im Europaparlament, und Familie respektiert hätten, dann nahm er Thüringens Wirtschaftsminister Matthias sich die Regierung vor, er redete knapp Machnig. Dazu kommen externe Berater. 20 Minuten. Danach war Gabriel dran, er Steinmeiers Umfeld besteht ebenfalls redete gut 11 Minuten. Es folgte die Fraaus seinem Sprecher und seinem Bürolei- gerunde, Steinmeier bekam die leichteren, ter, eng angebunden sind Teile der Frak- angenehmeren Fragen. Gabriel sollte das tionsspitze. Auch er hat externe Berater. Abrücken von der Rente mit 67 erklären Beide Kreise sind nicht gerade klein. und dann auch noch begründen, warum Was Gabriel nervt: Der Wahlverlierer seine Partei in den Bundesländern eigentSteinmeier gibt den Gralshüter der um- lich partout keine Juniorpartnerschaft mit strittenen Reformpolitik aus den Regie- den Grünen eingehen wolle. rungsjahren, lässt sich in den Medien als Anfangs lachte er noch, dann lag die Garant der Vernunft feiern und unter- Stirn in Falten, schließlich raunzte er eine nimmt nichts gegen die Stänkereien sei- Fragestellerin an, sie solle sich doch nicht ner „Steinmeierei“. So nennt man in Ga- selbst mit derlei Fragen „intellektuell unbriels Lager gern das Steinmeier-Lager. terbewerten“. Steinmeier saß daneben und Was Steinmeier nervt: Der Instinktpo- lächelte unergründlich. Gabriel blaffte: litiker Gabriel bläst eine Idee nach der „Wenn Sie von mir intelligente Antworten anderen in die Welt, ohne sich um die haben wollen, unterfordern Sie mich nicht.“ Danach war die Stimmung gut bei Folgen zu kümmern, und prescht schon Steinmeier, seine Rückkehr war gelungen vor, wenn Steinmeier noch grübelt. D E R
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inszeniert. Bei Gabriel war die Stimmung nicht so gut. Man hatte ihn mal wieder ziemlich ungerecht behandelt. Für Steinmeier ist das vergangene Jahr hervorragend gelaufen. Vom Mann, dem viele die Oppositionsführung nicht zutrauten, wurde er in der öffentlichen Meinung zum unumstrittenen Fraktionschef. Für Gabriel ist es dumm gelaufen. Vom Mann, der mit seiner Bewerbungsrede für den Parteivorsitz riesige Hoffnungen weckte, wurde er in der Öffentlichkeit zum personifizierten Risikofaktor. So wie die Comeback-Pressekonferenz wird intern mittlerweile beinahe jede Sachentscheidung betrachtet. Immer wird auch auf den Geländegewinn geschaut oder den Verlust. Beide Seiten versuchen, ihren Mann nach vorn zu schieben, Gabriel hat es dabei deutlich schwerer. Als sich Frank-Walter Steinmeier neulich beim Thema Euro-Bonds verrannte und sie in einem Zeitungsinterview erst ausschloss, um sie dann, auf der Linie Gabriels, doch zum tauglichen Mittel gegen die Krise zu erklären, fiel das kaum jemandem auf. Sigmar Gabriel wäre wahrscheinlich mangelnde Sachkenntnis angekreidet worden. Dabei hat Steinmeier nach seiner Rückkehr inhaltlich keinen einzigen Impuls gesetzt. Man belauert sich, und dieser Argwohn belastet die Partei. Eine der wichtigsten Aufgaben dieses Jahres wird es deshalb sein, neues Vertrauen aufzubauen zwischen der Spitze des Willy-Brandt-Hauses und der Führung der Bundestagsfraktion. Gelingt das nicht, wird es in der SPD einen weiteren ständig schwelenden Konfliktherd geben. Sie hat davon schon immer mehr als genug gehabt. Für Gabriel als Kanzlerkandidaten spricht, dass er polarisieren kann wie kaum ein anderer, mit Reden begeistern, dass er Ideen auch mal jenseits aller Konventionen hat. Gegen ihn spricht sein Image mitsamt schlechten Umfragewerten. Für Steinmeier spricht seine Beliebtheit, sein seriöses Image. Gegen ihn spricht, dass ihm die Zuspitzung noch immer schwerfällt, dass er solide reden, aber nicht begeistern kann und dass er das schlechteste Wahlergebnis in der Geschichte der SPD eingefahren hat. Aber da gibt es ja auch noch ein paar andere. Parteivize Olaf Scholz steuert in Hamburg als Spitzenkandidat auf einen strahlenden Wahlsieg zu, seine Kollegin Hannelore Kraft wartet in NordrheinWestfalen auf den richtigen Augenblick, um sich ihre rot-grüne Minderheitsregierung vom Wähler mit einer stabilen Mehrheit ausstatten zu lassen. Gelingt beides, wären plötzlich zwei neue Namen im Spiel, wenn es um die Frage geht, wer 2013 für die SPD um das Kanzleramt kämpfen soll. Gabriel und Steinmeier wären dann nur noch zwei CHRISTOPH HICKMANN unter mehreren. 23
Deutschland FINANZEN
Koalition des kleinen Karos Die schwarz-gelbe Regierung startet mit ihrer Lieblingsbeschäftigung ins neue Jahr: Sie streitet, ob, wann und wie die Steuern gesenkt werden sollen.
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dem der Steuersatz mit steigendem Einkommen stetig wächst, soll durch einen Tarif mit einigen wenigen Stufen abgelöst werden: ganz so, wie es einst im FDPWahlprogramm stand. Das Ideen-Recycling aus dem Hause Brüderle bringt nun Finanzminister Schäuble in Rage. Er hält das Vorhaben nach wie vor für nicht finanzierbar. Deshalb hat er seine Beamten angewiesen, bei der Abstimmung des Berichts alle weitreichenden Ankündigungen zu tilgen. Schäuble bekommt Rückendeckung von höchster Stelle. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) ist ziemlich verstimmt über die Wiederauflage der Steuerdebatte. Die Diskussion gehöre in den Koalitionsausschuss und nicht in den Jahreswirtschaftsbericht, findet sie. Auch bei der Frage, wann die Steuervereinfachungen in Kraft treten sollen, schlägt sich Merkel auf Schäubles Seite. Der Termin für die Anhebung des Arbeitnehmerpauschbetrags und der anderen
THOMAS GRABKA
olfgang Schäuble und Rainer Brüderle ergaben sich ganz der besinnlichen Feststimmung. Der Koalitionsausschuss hatte nur kurz getagt, da erschienen der Bundesfinanzminister und sein Kabinettskollege aus dem Wirtschaftsressort vor den Kameras. Die Koalition lege „auf den Gabentisch der Bürger und der kleinen und mittelständi-
Was ein kleines Signal der Entlastung für die Bürger sein sollte, verschwindet nun im Schlachtennebel. Angestachelt von guten Konjunkturdaten und miserablen Umfragewerten drängt vor allem die FDP, die Erleichterungen schon dieses Jahr wirken zu lassen. Wo immer es zu schaffen sei, werde die Koalition „möglichst schnell mit Rückwirkung zum 1. Januar zu steuerlichen Vereinfachungen und Entlastungen kommen“, verspricht Brüderle. So sei es mit Schäuble vereinbart. Der beruft sich in seinem Abwehrkampf auf Beschlüsse, die ebenfalls an jenem Dezember-Abend vereinbart wurden. Danach tritt alles, was Geld kostet, erst Anfang 2012 in Kraft. Nun ist der Steuerstreit wieder in der Welt, und alle Beteiligten mühen sich redlich, ihn anzufachen. Die Unionsfraktion zum Beispiel macht Front gegen den eigenen Finanzminister und stellt sich auf die Seite Brüderles. Die Pläne Schäubles, die Steuerzahler erst nächstes Jahr zu ent-
Kabinettskollegen Brüderle, Schäuble: Ideen-Recycling contra Sparwille
schen Unternehmen ein schönes Paket“, schwärmte Brüderle. „Dies ist ein wichtiger Schritt zu einem einfacheren Steuersystem“, rühmte Schäuble den Beschluss. Keine vier Wochen später ist von der vorweihnachtlichen Harmonie nicht viel geblieben. Die Koalition zetert schon wieder über die Steuern, nur Lautstärke und Sensibilität der Streithähne haben sich verändert: 2010 ging es um eine Großreform mit einem Volumen in zweistelliger Milliardenhöhe, jetzt reicht bereits eine Lappalie als Anlass für neuen Krach. Die Koalition präsentiert sich kleinkariert. Anfang Dezember hatte Schwarz-Gelb vereinbart, den Bürgern das Steuerzahlen ein wenig zu erleichtern. Geplant war eine Serie von Mini-Maßnahmen im Umfang von insgesamt knapp 600 Millionen Euro. Die Werbungskostenpauschale für Arbeitnehmer etwa wird von 920 auf 1000 Euro erhöht. Auch die Kosten für die Kinderbetreuung sollen Eltern leichter steuerlich geltend machen dürfen. 24
lasten, hätten „politisch verheerende Wirkung“, heißt es in einem internen Vermerk für die Fraktionsspitze. Die CSU ist schon weiter und wärmt ihre Entlastungsideen in Milliardenhöhe vom Oktober wieder auf (SPIEGEL 43/2010). Die Liberalen sehen erst recht keinen Grund, auf Schäuble Rücksicht zu nehmen. Im Gegenteil: Sie wittern eine günstige Gelegenheit, die Debatte um Steuersenkungen im Großformat, ihr Lieblingsthema, wiederzubeleben. Erste Schritte dafür hat Brüderle in die Wege geleitet. Im Entwurf für seinen neuen Jahreswirtschaftsbericht plädiert er schon wieder für großzügige Steuerrabatte noch in dieser Legislaturperiode – als hätte es den monatelangen Streit der Koalitionäre im vergangenen Jahr nie gegeben. Besonders untere und mittlere Einkommen müssten noch vor 2013 entlastet werden, schreiben Brüderles Beamte. Wie das am besten zu erreichen sei, wissen sie auch schon: Das heutige System, bei D E R
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Maßnahmen sei für 2012 festgelegt, dabei soll es bleiben. Basta. Merkel scheut auch den bürokratischen Aufwand für die Betriebe, wenn die Steuervereinfachungen schon dieses Jahr in Kraft treten. Die Lohnbuchhaltungen der Unternehmen müssten die Erhöhung dann rückwirkend bei der Gehaltsabrechnung berücksichtigen. Das sei der Wirtschaft nicht zuzumuten. Unternehmensverbände können die Argumentation des MerkelSchäuble-Lagers jedoch nur bedingt nachvollziehen. „Mit moderner Software ist die Umstellung für die Arbeitgeber ohne großen Aufwand möglich“, heißt es beim Bundesverband der Deutschen Industrie. Und auch der Verband der Familienunternehmer fordert rasche Vereinfachungen: „Jede rückwirkende Steuerrechtsänderung bedeutet zwar bürokratischen Ärger“, sagt dessen Vorsitzender Patrick Adenauer. „Den nehmen wir aber gern für unsere Mitarbeiter in Kauf.“ Es kostet sie ja sonst nichts. PETER MÜLLER, CHRISTIAN REIERMANN
Deutschland
E S S AY
C OM EBACK DES SU P ER S TA RS DEUTSCH LA N D U N D EU ROPA KÖN N E N POL I T I S CH E N MODE N S OU V E RÄN T ROT Z E N. VON C H RI S TOPH S CHW E N N I CK E
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MICHAEL JUNG / PICTURE-ALLIANCE / DPA
eulich war Helmut Kohl in Berlin. Er verfügte über eine neuen System profitiert. Die Risiken haben das neue System vergleichsweise feste Stimme und äußerte klare, wie- inzwischen eingeholt und seine Apologeten im Zuge der Fiwohl streitbare Gedanken. Der Kanzler aus einem frü- nanzkrise mit in den Abgrund gerissen. Hans Martin Bury wurheren Jahrhundert ermahnte seine CDU zu deren 20-jähriger de erst Schröders rechte Hand im Kanzleramt und stürzte dann Ost-West-Vereinigung, politischen Modeerscheinungen stärker als Investmentbanker mit Lehman Brothers ab, jener Bank, dezu trotzen und vermeintlich schicken Trends weniger hinter- ren Pleite die Finanzkrise auslöste. Die privaten Krankenversiherzulaufen. Das geht – „wenn man denn will“. Er wählte kon- cherer stehen vor den exakt gleichen Problemen – Überalterung, kret das etwas unglückliche Beispiel der Wehrpflicht, aber sein Finanznot – wie ihre gesetzliche Konkurrenz: weil zum einen Appell ging im Subtext darüber hinaus: Die Wehrpflicht, die ihre handverlesene, junge, gesunde und dynamische Klientel staatliche Infrastruktur, die soziaälter und krankheitsanfälliger gelen Sicherungssysteme sind nicht worden ist – und weil zum andezu behandeln wie Jeans, die man ren die Rendite ihrer Rücklagen den einen Sommer eng anliegend stagniert. Kapitaldeckung – das und im nächsten wieder auslaSystem frisst seine Kinder, was dend trägt. Seid vorsichtig, so nebenbei bemerkt jeder im KleiKohls Rat, wenn das Festhalten nen nachvollziehen kann, der in an einer Idee als altmodisch difdieser Modewelle einen privaten famiert wird, als nicht mehr zeitKredit mit dem angeblichen gemäß. Hinterfragt die Motive, Wundermittel Lebensversicheaus denen heraus der Versuch unrung gegenfinanzierte. Der Bankternommen wird, ganze Systeme berater macht heute ein betreteauf den Kopf zu stellen. nes Gesicht, wenn die Rede auf Kohl hat mit dieser Methode seine Empfehlung von damals seine Erfahrungen gemacht. Der kommt. ganze Wahlkampf seines HerausDer Staat kann eure Rente forderers Gerhard Schröder war nicht sichern, das können nur darauf aufgebaut. War schon in private Finanzdienstleister, inOrdnung, Helmut, aber jetzt bist sinuierte Gerhard Schröder den du nicht mehr der Richtige, old Bürgern, und zu wenige hinterPolitiker Kohl, Schröder 1998 school, der Dreck in der Düse fragten diese Behauptung hinreiDeutschlands. Gemeinsam mit chend. Es war nicht das Motiv, Die Kapitaldeckung schien die Lösung. der Großen Sozialkoalition aus aber das Ergebnis, dass FinanzAber das System frisst seine Kinder. Norbert Blüm („Die Rente ist siunternehmer wie Schröders alter cher“) und Rudolf Dreßler stand Bekannter, der AWD-Gründer Kohl für die Verkarstung Deutschlands. Schröder gewann die Carsten Maschmeyer, gut daran verdient haben, die Probleme Wahl 1998 souverän. der sozialen Sicherungssysteme aber weiter ungelöst sind. Die Das Problem in der Folge war, dass man zwar zu Recht Blüms Politik und die Öffentlichkeit waren den Versprechungen einer These von der sicheren Staatsrente verlacht hat, darüber aber Finanzindustrie erlegen, die von diesen Neuerungen profitierte. vergaß, das Alternativkonzept kritisch zu überprüfen. Keiner Der kritische Blick auf die Jahresauszüge der Riester-Rente hinterfragte die Zauberformel der Schröder-Jünger Hans Martin und der Rentenversicherung erweist: Ohne Zweifel ist die staatBury und anderer, die bedeutsam von „Kapitaldeckung“ und liche Rente eine traurige Veranstaltung mit einem kärglichen Privatisierung redeten. Es war très chic, es versprach die Lösung, Verhältnis von Investition und Ertrag. Aber auch die Riesterund wer es in Frage stellte, der war sehr démodé. Rente bleibt weit hinter den Versprechungen zurück. Ihre EinKapitaldeckung hat sich mittlerweile als einer der schlimms- führung vor zehn Jahren bedeutete den Offenbarungseid für ten Schleierbegriffe der letzten 20 Jahre erwiesen, denn ge- das staatliche System. Ein Jahrzehnt später muss die kapitalgedeckt ist da oft gar nichts. Er gaukelte vor, dass man die sozia- deckte Riester-Rente ihrerseits den Offenbarungseid ablegen. len Sicherungssysteme nur dem staatlichen Würgegriff enter gesunde Menschenverstand steuert inzwischen gegen. ziehen, den Beitragszahlern dafür die Freiheit geben müsse, Viele Menschen lösen ihre Riester-Verträge vorzeitig ihr Vorsorgegeld von Finanzdienstleistern am Kapitalmarkt auf, nehmen lieber Verluste in Kauf, als weiter ein Fass anlegen zu lassen, und schon sind alle Probleme dieser Syszu füllen, das ebenfalls lecken kann. Denn die Riester-Rente teme gelöst. Der Schleierbegriff kaschierte dreierlei: erstens, dass die Bei- erweist sich als genauso labil wie die Staatsrente. Bei der Pfletragszahler frisches, eigenes Geld aufbringen müssen für diese geversicherung liebäugelt man in der Not dennoch wieder mit zweite Säule. Zweitens das Risiko, das dem Kapitalmarkt inne- der Kapitaldeckung. Den Versicherungsvertretern läuft schon wohnt. Und drittens die Frage, wer in jedem Fall von diesem das Wasser im Munde zusammen.
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MARTIN LEISSL
Mit der Mode der Kapitaldeckung ging die Mode der Priva- banken: Nur ein Staat und kein noch so großes Investorenkontisierung einher. „Privatize it!“, war der Schlachtruf der Refor- sortium hat am Ende die Kraft und den Atem, eine Krise zu mer, die den Staat als geldverschlingenden Moloch stigmati- bewältigen, wie wir sie seit dem Crash 2008 erleben. Und, noch sierten und glauben machten, man müsse alles nur den freien wichtiger: Nur der Staat handelt demokratisch legitimiert. Kräften des Marktes überlassen, dann sei es günstiger zu haben. Schließlich, am wichtigsten: Nur der Staat hat die Fähigkeit, Diesem Sirenengesang sind Kommunen und Städte erlegen mit sich über Partikularinteressen zu erheben und das Gemeinwohl ihren Straßenbahnen und Müllverbrennungsanlagen. „Cross- im Blick zu behalten. Border Leasing“ nannte man dieses windige Geschäft, an dessen Das Staats-Bashing aus eigennützig-ökonomischen Motiven Ende es nur einen Gewinner gab, und das waren nicht die Kom- war erfolgreich und kann nicht ungeschehen gemacht werden. munen. Metropolen wie Berlin brachte die nackte Armut auf Jetzt ist daher zweierlei gefragt: die Größe, sich einzugestehen, den scheinbar sexy Gedanken, sogar ihre Wasserbetriebe teil- einer Mode erlegen zu sein. Und die Stärke, dem nächsten Moweise zu privatisieren. Mit freier Marktwirtschaft hatte das detrend zu widerstehen, der sich auf einer übergeordneten Ebenichts zu tun, eher mit Planwirtschaft, weil ruchbar wurde, ne abzeichnet. Dieser Trend besteht darin, den Euro mürbedass Berlin dem privaten Käufer in einer Vertragsklausel eine und Europa herunterzureden. Das ist Unfug. Die FundamenWasserpreiserhöhung zubilligte und hohe Renditen garantierte. taldaten Europas sind trotz aller krisengeschüttelten Mitglieder Dass die Bahn derzeit vor dem Winter kapituliert, liegt am weit besser als jene der USA. Der Euro ist immer härter geworWahn ihres vormaligen Vorstandsvorsitzenden, den Staatsbe- den und hat den Dollar in den Wechselkursen hinter sich gelastrieb an die Börse zu bringen und selbst Chef eines Dax-30-Un- sen. Und die Zeit wird wieder kommen, da werden „die Märkte“ ternehmens zu werden. Hartmut Mehdorn sparte die Bahn für versuchen, statt gegen den Euro gegen den Dollar zu wetten dieses Ziel in die partielle Betriebsunfähigkeit. Wer noch daran und auf dessen Kosten Reibach zu machen. glaubt, dass eine private Bahn besser funktioniert als eine staatDie Lehre aus der aktuellen Erfahrung kann nicht weniger liche, der soll nur einmal in England eine Bahnreise unterneh- Europa sein, sondern mehr Europa, ein integraleres Europa, men und sodann eine in der Schweiz. Schon ist die Sache geklärt. mit wetterfesten Institutionen wie einem Europäischen WähDie Bahn, öffentlicher Nahverrungsfonds, einer gemeinsamen kehr und Wasser sind in StaatsWirtschafts- und Sozialpolitik, händen besser aufgehoben. In und – wenn es sein muss – gediesem Bereich ist ein Staatsmomeinsamen Anleihen. Europa nopol immer das kleinere Übel. hat mehr zu bieten und mehr zu Nein, es war Mode, es war Maverlieren als nur eine gemeinsasche, und viele haben sich daran me Währung. Es ist mehr als ein gesundgestoßen, der Politik diegroßer Handelsraum. Kontinensen Floh ins Ohr zu setzen. Das taleuropa ist ein Kulturraum mit ist alles nicht mehr rückgängig zu dem weltweit vorbildlichsten machen, aber ein beginnendes politischen Wertesystem. Wer es Jahr ist geeignet dazu, gute Vorangreift oder schlechtredet, versätze zu fassen. Und einer wäre, folgt ein Interesse. Ein ökonomidie Lehre aus dieser Erfahrung sches oder ein hegemoniales. Das zu ziehen und politischem Modesollte man sich bewusstmachen. geschwätz, das allzu oft von GeSelbst wenn Deutschland immer schäftsinteressen gesteuert ist, vermeintlich draufzahlt für nicht mehr leichterdings zu erlieEuropa, die Investition ist richtig. gen. Deutschland erweist sich in Denn es liegt nicht an Europa, diesen Zeiten eben nicht als der wenn Griechenland lahmt und IrEuro-Skulptur vor der EZB in Frankfurt am Main abgestürzte Superstar, als der es land schwächelt. Der immer lein Bestsellern beschrieben wurde. senswerte Philip Stephens schrieb Es liegt nicht an Europa, wenn GriechenUnd die neue Supermacht China in der „Financial Times“, es sei land lahmt und Irland schwächelt. bezieht ihre Kraft auch nicht aus für das angelsächsische Modell einem entfesselten Neoliberalisnicht die Zeit, sich über das konmus, sondern aus einem rigorosen postsozialistischen Neo-Eta- tinentaleuropäische Modell zu erheben. „Ireland’s propertytismus, der in Europa zu Recht an demokratische Grenzen stößt. boom-turned-banking-bust“ habe wenig zu tun mit Irlands Mitgliedschaft im Euroraum. Viel mehr Parallelen gebe es, „ich ieso steht der angeblich abgestürzte Superstar Deutsch- wage das so zu sagen“, mit Island und Großbritannien – zwei land denn so gut da in der größten Wirtschaftskrise Nicht-Euro-Ländern und Mitgliedern des angelsächsischen der Nachkriegszeit? Weil er in seinem industriellen Boom-bust-Systems. Island ist schon gescheitert, Großbritannien Mix solider geblieben ist und sich zugleich zukunftsfester ge- könnte daran ebenso scheitern. Der kluge Artikel von Stephens macht hat als das angelsächsische Modell, das den Modetrend hat hierzulande weit weniger Aufsehen erregt als das reißerische der letzten 30 Jahre vorgegeben hatte und mitleidig-arrogant Stück auf der gleichen Seite darunter, in dem Gideon Rachman auf Deutschland herabblickte. Weil hier weiter Schlote rauchen darüber räsonierte, wie Deutschland den Euro zugrunde richtet. und Förderbänder laufen, weil hier nicht in erster Linie FinanzRachmans Stück war modisch und grell, Stephens’ Stück war produkte bis zur Unkenntlichkeit verpackt werden, sondern klug und selbstkritisch. Die politische Debatte braucht mehr reale Produkte. Stephens und weniger Rachman. Sie braucht Leute, die sich Gott sei Dank ist Deutschland der politischen Modeerschei- trauen, auch gegen den Mainstream zu sagen: Moment mal. nung des Neoliberalismus nur teilweise erlegen und nicht kom- Diese Wachsamkeit ist dringend geboten nach den Erfahrungen plett umgebaut worden wie das einstmals große Vorbild Groß- mit einem „völlig falsch verstandenen Freiheitsverständnis“, britannien. Denn nun erweist sich, dass ein neuer Etatismus das Angela Merkel in ihrer Rede zu Norbert Blüms 75. Gehermuss, es erweist sich, dass nichts so standhaft ist wie ein burtstag unlängst als Ursache des globalen Crashs ausmachte. starker, ein solventer Staat. Für genau den gleichen Gedanken wurde der Jubilar Blüm Denn auch wenn er Schwächen hat und sich besser nicht als auf Merkels Leipziger Reformparteitag 2003 mit eisigem SchweiInvestmentbanker aufspielt wie im Falle der unseligen Landes- gen bedacht.
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Deutschland STRAFRECHT
Angst vor der Lücke Kaum ist die Reform der Sicherungsverwahrung in Kraft, drohen der Bundesrepublik neue Urteile aus Straßburg. Kommen weitere Gewalttäter frei?
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weil sie sich in der Praxis als „kontraproduktiv“ erwiesen habe. Doch Albert H. ist ein Altfall – und seine nachträgliche Verwahrung wohl eine Menschenrechtsverletzung. Der Straßburger Spruch dürfte deshalb weit über die Causa H. hinaus Bedeutung erlangen. Bemerkenswert ist schon, dass der EGMR bei seiner Fallschilderung nicht nur die Argumente der Verfassungsrichtermehrheit, sondern auch die Kritik der drei unterlegenen Richter ausführlich wiedergegeben hat. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Straßburg dieses vogelwilde Urteil sangund klanglos hinnehmen wird“, meint H.s Anwalt Johannes Driendl. Auch bei den Berliner Reformern wird das Urteil mit Spannung erwartet. „Für den Fall, dass sich der EGMR ausdrücklich zur Zulässigkeit des Instruments der nachträglichen Sicherungsverwahrung äußern sollte“, heißt es schon in der Begründung des neuen schwarz-gelben Gesetzes, ergäbe sich „weiterer Prüfbedarf“.
ZENTRIXX / IMAGO (L.); STEFAN BONESS / IPON (R.)
in Hirnschaden, Folge eines Motorradunfalls in jungen Jahren, ist wohl der Grund dafür, dass Albert H. in seinem Sexualtrieb keine Grenzen kannte. Wiederholt missbrauchte der heute 76-Jährige die Töchter seiner Lebensgefährtin, eines der Mädchen vergewaltigte er sogar. Selbst als gebrechlicher Greis im Altersheim bedrängte er noch
Erneut dürften die Europarichter den deutschen Rechtsschutz als ungenügend geißeln. Das wäre schon deshalb peinlich, weil es auch bei H. um eine Karlsruher Grundsatzentscheidung geht, wie schon beim ersten Urteil des EGMR zur Sicherungsverwahrung vor gut einem Jahr. Damals brachten die Straßburger Richter die deutsche Politik und Justiz schwer in Bedrängnis: Sie attestierten der auf ihr Grundgesetz so stolzen Bundesrepublik, dass sie beim Versuch, die Bevölkerung vor Rückfalltätern zu schützen, deren Menschenrechte verletzt: 1998 hatte der Gesetzgeber die bis dahin geltende Höchstdauer der Sicherungsverwahrung von zehn Jahren gestrichen, und zwar nicht nur für künftige, sondern auch für bereits begangene Taten. Die Bundesverfassungsrichter hatten dies mehrheitlich gebilligt, doch ihre Kollegen in Straßburg sahen einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Inzwischen hat der Bundestag das „Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Si-
Bundesverfassungsgericht*, Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger: Schutz der Bevölkerung vor Rückfalltätern
demenzkranke Mitbewohnerinnen. Der Fall schrieb Rechtsgeschichte. Albert H. war der erste Wiederholungstäter, gegen den 2002 nach bayerischem Recht nachträglich Sicherungsverwahrung angeordnet wurde. Auf seine Beschwerde hin erklärte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe das Landesrecht im Februar 2004 zwar für verfassungswidrig und verlangte eine Regelung durch den Bund. Dennoch ordneten die Richter mit fünf zu drei Stimmen an, dass H. bis dahin wegen seiner Gefährlichkeit in Verwahrung blieb. Diese Woche wird Albert H. wieder in die Schlagzeilen kommen: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) will am Donnerstag seine Urteile über vier Beschwerden von deutschen Sicherungsverwahrten bekanntgeben, darunter über die des Bayern. * Bei der Verkündung des Urteils im Fall Albert H. am 10. Februar 2004.
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cherungsverwahrung“ verabschiedet, seit Wenn der EGMR wie befürchtet entJahreswechsel ist die Reform in Kraft. scheidet, käme auf die Koalition ein neuDen selbstauferlegten Anspruch, den es Problem zu. Die „Lücke“ im Schutz „europarechtlichen Vorgaben Rechnung der Bevölkerung, die selbst die liberale zu tragen“, hat der Gesetzgeber indes nur Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger bedingt erfüllt. ohne diese Altfall-Regelung sieht, wäre Zwar wurden vor allem auf Betreiben wohl wieder offen. Und unter Richtern von Bundesjustizministerin Sabine Leut- wie Politikern präge „die Angst vor der heusser-Schnarrenberger (FDP) einige Pa- ,Bild‘-Zeitung“ den Umgang mit der ragrafen angepasst. So kann Sicherungs- Sicherungsverwahrung, sagt die SPDverwahrung nur noch bei Gewalt- und Rechtsexpertin Anke Pörksen: „Kein Sexualdelikten sowie weiteren schweren Politiker oder Richter will bei einem nie Delikten wie Brandstiftung verhängt wer- ganz auszuschließenden Rückfall als Verden – nicht mehr aber für Einbruch oder antwortlicher angeprangert werden.“ An die 20 Wiederholungstäter, meist GeHeiratsschwindel; sogar wer bisher wegen solcher Delikte in Verwahrung ist, kann walt- und Sexualverbrecher, sind derzeit, vergleichbar mit Albert H., in nachträglinun Freilassung verlangen. Auch die 2004 – nach dem Karlsruher cher Sicherungsverwahrung; bei einem entUrteil im Fall H. – auf Bundesebene ein- sprechenden Straßburger Spruch könnten geführte nachträgliche Sicherungsverwah- auch sie ihre Freilassung verlangen. Für Albert H. dürfte dies allerdings rung für diejenigen Täter, deren Rückfallgefahr sich erst in der Strafhaft zeigt, wur- nicht gelten: Er sitzt inzwischen in der de für künftige Fälle wieder abgeschafft, geschlossenen Psychiatrie. DIETMAR HIPP D E R
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ZEITGESCHICHTE
Jagd an der Heimatfront Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs starben über 250 000 KZ-Häftlinge auf Todesmärschen. Eine Studie belegt, in welchem Ausmaß Zivilisten mitmordeten.
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as Ende war absehbar, die alliierten Truppen standen vor der Stadt. Und doch wurden etliche Bürger von Celle am 8. April 1945 noch zu Mördern. Sie machten mit bei der Jagd auf Hunderte KZ-Häftlinge, die während eines Angriffs amerikanischer Bomber auf die Stadt und ihren Bahnhof aus den zum Teil brennenden Güterwaggons ihres Transports geflohen waren. In einem Waldstück exekutierten Polizisten, Wachmänner, Volkssturm-Kämpfer und Hitlerjungen ihre Opfer. Wie „Tiere“ seien die Häftlinge „erlegt worden“, stellte ein Bericht der Briten fest, viele durch Genickschuss. Bis zu 300 Menschen kamen bei dem Massaker ums Leben. Mehr als 20 hatte allein der Führer einer Gruppe der Celler Hitlerjugend ermordet. Vier Tage später nahmen alliierte Soldaten die Stadt ein. Der Gewaltausbruch in der niedersächsischen Provinz ist detailliert in einem Buch von Daniel Blatman beschrieben, das diese Woche in deutscher Übersetzung erscheint**. Sein Thema: Die Todesmärsche von KZ-Häftlingen in den letzten Kriegsmonaten 1944/45. Der Befund des Historikers von der Hebrew University in Jerusalem über die letzte Phase des NS-Massenmords verstört: „Je mehr sich der Krieg seinem Ende zuneigte und je unübersehbarer die Präsenz der Häftlinge inmitten der deutschen Bevölkerung wurde, desto regelmäßiger beteiligten sich deutsche Zivilisten daran.“ Zivilisten, das waren Funktionäre und lokale Amtsträger, NSDAP-Mitglieder, Hitlerjungen oder auch nur Anwohner. Sie misshandelten oder töteten in großer Zahl jene Menschen, die auf der letzten Etappe ihres Leidenswegs zu Gewaltmärschen und tagelangen Zugfahrten in überfüllten Waggons quer durch Deutschland gezwungen worden waren. Mindestens 250 000 ehemalige Häftlinge starben zwischen Januar und Mai 1945 auf Todesmärschen. Ihre Gräber säumen Straßen in Niedersachsen, Bayern oder Mecklenburg, fast überall, wo die Nazis Lager errichtet hatten. Das Inferno der Todeskolonnen begann im besetzten Polen, wo die SS die
Konfrontation von Zivilisten mit getöteten Gefangenen in Bayern 1945*: Kollektive Hatz
großen Lager wie Majdanek, Groß-Rosen oder Auschwitz in Eile räumen ließ, als die Front näher rückte – vielen Häftlingen blieb nicht einmal Zeit, ihre spärliche Habe einzupacken. Oft nur in Lumpen gehüllt, mit Holzschuhen an den Füßen, taumelten sie bei bitterer Kälte auf die überfüllten Chausseen. Die mussten sie sich teilen mit Wehrmachtsoldaten auf dem Rückzug und mit Zivilisten, die vor den Rotarmisten flohen. Und so entlud sich die Panik der Massen nicht selten gegen die schwächsten Konkurrenten auf der Straße. Den Ton gab die SS vor, deren Wachmänner hemmungslos mordeten, etwa in Palmnicken, 50 Kilometer von Königsberg entfernt. Dort trieben die Häscher über 3000 Häftlinge des Lagers Stutthof nach tagelangem Marsch auf den Strand und die gefrorene Ostsee, um sie mit Maschinengewehrsalven niederzumähen. Wenige Wochen später führten die Todesrouten mitten durchs Reichsgebiet, etwa aus dem Lager Hessental bei Schwäbisch Hall in Richtung Bayern. Nach dem Krieg legten Ermittler der französischen Besatzer an mehreren Stationen des Zuges Massengräber frei, 17 Leichen in Sulzdorf, 36 in Ellwangen, 42 in einem Dorf namens Zöbingen. Aus Dachau gingen Todesmärsche durch Poing bei München, durch Wolfratshausen bis nach Bad Tölz. Aus Flossenbürg zogen Häftlingsgruppen kreuz und quer durch Bayern. Dabei dehnte sich der Kreis der Täter immer weiter aus, der Historiker Blatman schätzt, dass Tausende, womöglich Zehntausende zu späten Komplizen des mordenden Regimes wurden. In Lüneburg etwa wiederholte sich am 11. April 1945 D E R
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das Szenario von Celle: Bürger und Polizisten fingen entlaufene Gefangene wieder ein, die aus einem bombardierten Zug entkommen waren. Sie wurden später am Bahnhof von Marinesoldaten erschossen. Einen Befehl von ganz oben zur Abwicklung der Lager, etwa von Hitler oder SS-Chef Heinrich Himmler, kennt die Geschichtsschreibung nicht. Administrative Auflösungserscheinungen prägten die letzten Wochen des Krieges. Für die herumirrenden Kolonnen wurden in rascher Abfolge wechselnde Stellen zuständig, die eigenmächtig entschieden, wie mit ihren Gefangenen zu verfahren sei. Doch warum handelten viele Verantwortliche so grausam, ließen sich gewöhnliche Zivilisten mitreißen, wo der „Endsieg“ doch längst Utopie war? Blatman nennt als Antwort zunächst das Vorbild der Wachmänner – eine Kaste, die über Jahre zu Sadismus und Mitleidslosigkeit erzogen worden war. Die Aufseher verstanden sich als Frontkämpfer gegen den Feind im Innern, als Verteidiger der arischen Rasse und der überlegenen Nation. Außerhalb der Lager setzten sie ihre Mission fort, nun losgelöst von vorgegebenen Routinen. Zudem wollten sie sich nicht von den Soldaten der Alliierten mit einer Schar wandelnder Skelette erwischen lassen und brachten mögliche Zeugen lieber gleich um. Ähnliche Motive machten auch viele Menschen an der Heimatfront zu – eher zufälligen – Mördern, wenn ein Zug mit * US-Soldaten führen die Bewohner von Neunburg vorm Wald an ermordeten Häftlingen des Lagers Flossenbürg vorbei. ** Daniel Blatman: „Die Todesmärsche 1944/45. Das letzte Kapitel des nationalsozialistischen Massenmords“. Rowohlt Verlag, Reinbek; 864 Seiten; 34,95 Euro.
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Gefangenen plötzlich ihren Ort erreichte. Bürgermeister, Parteifunktionäre und Volkssturm-Männer wollten demnach unbedingt vermeiden, dass ausgerechnet vor ihrer Haustür geschundene KZ-Insassen die Befreiung erleben und sich für erlittenes Unrecht rächen könnten. Sie glaubten deshalb, für Wohl und Sicherheit ihrer Mitbürger zu handeln, wenn sie die fremden Gestalten in ihren gestreiften Häftlingsuniformen töteten. In der kollektiven Hatz entfaltete ein Jahrzehnt der Indoktrination seine Wirkung, eine „genozidäre Mentalität“ (Blatman), die Juden und Slawen systematisch entmenschlicht hatte. Wie selbstverständlich griffen häufig halbwüchsige Hitlerjungen zum Gewehr. Freilich gab es auch Bauern, die den Hungernden Brot oder Kartoffeln reichten oder die sie versteckten. Ebenso sind Fälle überliefert, bei denen lokale Honoratioren größere Trupps retteten, etwa ein Ortsgruppenleiter und ein angesehener Rechtsanwalt in Burgstall in der Altmark. Doch viele der Märsche mündeten in einer Katastrophe, wie in der Stadt Gardelegen, wo US-Soldaten Mitte April 1945 Hunderte verkohlter und zerfetzter Leichen in einer Scheune entdeckten: Häftlinge diverser Lager, die bis hierhin getrieben worden waren. Für deren Bewachung, so wurde später bekannt, hatten sich Freiwillige gemeldet, „auch ganz gewöhnliche Zivilisten, zuweilen mit Jagdgewehren bewaffnet, die aus eigenem Antrieb zu Aufsehern mutierten“ (Blatman). Schon beim Marsch zur leeren Kavallerieschule in Gardelegen, wo die Häftlinge zunächst untergebracht worden waren, kam es zu Massakern. Jugendliche prahlten voreinander: „Wir gehen auf Jagd, um die Zebras abzuschießen.“ Volkssturm-Männer, Polizisten, Soldaten aus einer nahen Fallschirmjägerkaserne, Wachmänner und Zivilisten halfen mit, die Todgeweihten in die Scheune zu treiben. Die Häscher schlossen die Tore, entzündeten das mit Benzin getränkte Stroh auf dem Boden und warfen Handgranaten. Wer versuchte, dem Inferno zu entkommen, lief ins Gewehrfeuer. 25 Häftlinge überlebten, rund 1000 starben. Wenige Tage später erhielten die Opfer ein Begräbnis mit militärischen Ehren: Die Amerikaner ließen dazu die Einwohner von Gardelegen antreten. „Einige werden sagen, die Nazis seien für dieses Verbrechen verantwortlich“, eröffnete ihnen Oberst George P. Lynch, Stabschef der 102. US-Infanteriedivision. „Andere werden auf die Gestapo verweisen. Aber die Verantwortung liegt bei keinem von beiden – es ist die Verantwortung des gesamten deutschen JAN FRIEDMANN Volkes.“
Störungsmitteilung der S-Bahn in Berlin: Außenbezirke über Tage abgeknipst H AU P T S TA D T
Tote Gleise Für das S-Bahn-Chaos in Berlin ist auch der rot-rote Senat verantwortlich – dabei gibt es schon längst ein fertiges Konzept für eine Modernisierung wichtiger Linien.
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ie Zukunft der Berliner S-Bahn erledigten die Manager der Deutschen Bahn (DB) mit einem Knopfdruck. Mehrmals pro Jahr bestellten sie den Projektleiter der zur DB gehörenden S-Bahn in den Bahn-Tower am Potsdamer Platz. Mit dem Fahrstuhl ging es oft bis zur 21. Etage, in den Sitzungssaal „Fliegender Hamburger“. An einem Tisch warteten gut ein Dutzend hohe Konzern-Manager. Genau 20 Minuten lang durfte der S-Bahner vortragen, wie es mit den Sparmaßnahmen voranging. Weitere 20 Minuten lang wurden Nachfragen gestellt. Dann nahmen die Herren ein kleines Gerät vom Tisch. Wer mit den Vorschlägen der S-Bahn einverstanden war, drückte auf ein grünes Knöpfchen. Unzufriedene konnten auf Gelb oder Rot drücken. Der S-Bahn-Projektplaner saß zwar dabei, aber wer wie abgestimmt hatte, erfuhr er nicht. Am Ende warf ein Beamer das Ergebnis an die Wand, dann musste der S-Bahner den Raum verlassen. Die Sparmaßnahmen, heißt es, bekamen nach anfänglichem Gelb eine grüne Ampel. So wurden seit 2005 Millionen Euro wegrationalisiert, und mit jedem Knopfdruck fuhr die S-Bahn tiefer in die Krise. Einsparpolitik, Missmanagement und das Versagen der Politik haben zur größten Katastrophe im öffentlichen Nahverkehr geführt, die Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten erlebt hat. In der ersten Woche des neuen Jahres waren D E R
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ganze Stadtteile von der S-Bahn abgeknipst worden. Von 562 Zügen konnte der Fahrdienst nur noch 213 auf die Gleise bringen, vier Strecken mussten ganz eingestellt werden. Wer Spandau oder Wartenberg mit der S-Bahn verlassen wollte, stieß auf tote Gleise. Die Boulevardblätter tauften Schöneberg in „Stöhneberg“, das Ostkreuz in „Rostkreuz“ um. Aus dem Botanischen Garten wurde das „Botanische Warten“. Wie eine zu schnell gewachsene Stadt in Osteuropa wirkt Berlin in diesen Tagen, unfähig, mit den Fährnissen eines strengen Winters umzugehen – und das im Wahljahr 2011, in dem der amtsmüde Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) um seine politische Zukunft kämpfen muss. Es ist ein Kollaps mit Ansage. Seit über einem Jahr beobachten die Berliner den Niedergang eines der ältesten und größten Nahverkehrssysteme der Republik. Bei Kälte fallen die technisch mangelhaften Wagen aus; Bremsen versagen, Radscheiben reißen, bei Schnee macht auch der Antrieb nicht mehr mit. Ersatz gibt es nicht, weil das einzigartige Berliner Streckennetz technisch nicht kompatibel mit anderen Systemen ist. Ein Notfahrplan jagt den nächsten, und das wird noch jahrelang so weitergehen. Diese Woche muss sich Bahnchef Rüdiger Grube vor dem Berliner Verkehrsausschuss verantworten. „Ich erwarte, dass er Verantwortung übernimmt“, sagt die Berliner Verkehrssenatorin Ingeborg
Junge-Reyer (SPD). Grube habe ihr erst nes Spardiktat, bei dem die Manager im vor wenigen Wochen versprochen, „alles Bahn-Tower regelmäßig auf den Knopf Geld der Welt“ für einen funktionieren- drücken mussten. „Das Projekt OSB sollden Betrieb einzusetzen. Doch für den te die Mindereinnahmen aus einem neugeplanten Börsengang der DB seien der en Verkehrsvertrag in Berlin in Höhe von S-Bahn systematisch Millionen entzogen 70 Mio. € p.a. kompensieren“, heißt es worden. „Es rächt sich jetzt, dass Wagen in einem Schreiben der Deutschen Bahn. mangelhaft gewartet und Werkstätten ge- Die S-Bahn sollte fit gemacht werden für schlossen wurden“, sagt Junge-Reyer. eine mögliche Neuausschreibung, die Das stimmt zwar, ist aber nur ein Teil Rendite hoch gehalten werden. der Wahrheit. Denn der Berliner Senat Die nächste reguläre Chance, dem Drahat früh die Chance vertan, sich vom Mo- ma ein Ende zu setzen, bietet sich erst nopol der Deutschen Bahn zu befreien. 2017, wenn der alte Verkehrsvertrag aus2003 hatte die rot-rote Koalition einen läuft. Dann wird der Betrieb des gesamneuen Nahverkehrsvertrag mit der DB ten S-Bahn-Netzes neu vergeben. ausgehandelt, der den reibungslosen BeWie die Entscheidung für 2017 aussetrieb und guten Service der S-Bahn bis hen könnte, zeigt ein Plan, den die Fach2017 regeln sollte. abteilung von Verkehrssenatorin JungeDas vertrauliche Vertragswerk, das Reyer ausgearbeitet hat. Er sieht die Ausdem SPIEGEL vorliegt, enthält in Para- schreibung der sogenannten Ringbahn graf 5 eine Option: Ab 2013 hätte das vor, die den Berliner Stadtkern umLand ein Drittel des S-Bahn-Verkehrs neu schließt und deren 37-Kilometer-Strecke ausschreiben können. Doch im Januar von Touristen gern zu Stadtrundfahrten 2008 verzichtete der Senat auf diese Op- genutzt wird. Sie ist das Herzstück der tion, obwohl schon damals die ersten Pan- Berliner S-Bahn, vor der Krise fuhren die nen der S-Bahn bekannt wurden. Im Ge- Züge auf dem Ring im Dreieinhalbminugenzug sicherte die DB die Anbindung tentakt und beförderten pro Werktag des geplanten Großflughafens Schönefeld 400 000 Fahrgäste. ans S-Bahn-Netz zu und begrub einen Voraussetzung wäre die Bestellung von Streit um Trassenentgelte. 194 neuen S-Bahn-Doppeltriebwagen, soBei den Bahn-Managern führte der genannten Viertelzügen, die eigens neu Wegfall der Option zu großer Erleichte- entwickelt werden müssten. Kosten: rund rung. Der Konzernspitze war bewusst, eine halbe Milliarde Euro. Das Land würdass die S-Bahn für den Kampf gegen Wettbewerber schlecht gerüstet war. Zu viel Personal, marode Züge, ineffiziente Werkstätten: Hätte der Senat 2013 neu ausgeschrieben, wäre die Bahn in Probleme geraten. Dazu kam, dass der Verkehrsvertrag von 2003 für die DB geringere Einnahmen von 70 Millionen Euro pro Jahr vorsah. Die Konzernzentrale beschloss daraufhin ein Sanierungsprogramm mit dem Namen „Optimierung S-Bahnen“ (OSB) – je- Partner Grube, Wowereit: Monopol der Bahn sichern D E R
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Stillgelegte Züge: Kollaps mit Ansage
de für die Summe bürgen, heißt es im Hause von Junge-Reyer. Mit dieser Sicherheit im Rücken könnten sich auch DB-Konkurrenzunternehmen um die vier Linien auf der Ringbahn bewerben. Erste Gespräche mit Wettbewerbern liefen bereits. Der Rest des Netzes würde wie bisher von der Bahn betrieben, denn nur das bundeseigene Unternehmen hat die entsprechende Fahrzeugkapazität. Allerdings würde die DB mit Konkurrenten auf der Ringbahn ihr Monopol verlieren. Die Entscheidung müsste schnell fallen. Eine Chance auf Wettbewerb im Jahre 2017 besteht nur, wenn der Senat in den nächsten Wochen grünes Licht für die Bestellung neuer Schienenfahrzeuge gibt. Wegen der Besonderheiten des Berliner S-Bahn-Systems dürfte die Entwicklung einer modernen Baureihe mindestens fünf Jahre beanspruchen. Die rot-rote Koalition gefiel sich bislang in der Rolle, die Verantwortung der Deutschen Bahn zuzuschieben – und ansonsten nichts zu tun. Schon im vergangenen Februar, als die Situation ähnlich kritisch war, präsentierte eine Senatsvorlage vier mögliche Szenarien, darunter auch die Kündigung des Vertrags mit der DB (SPIEGEL 08/2010). Seither prüft eine Arbeitsgruppe im Senat eine Neuausschreibung für 2017. Bisher ohne Entscheidung. Der Regierende Bürgermeister Wowereit, heißt es in der Koalition, wolle Gewerkschafter, Freunde der Deutschen Bahn und Privatisierungsgegner in der SPD nicht verprellen. Gut möglich, dass der Senat die Entscheidung bis zur Wahl im September verschleppt. Hinzu kommt, dass die Deutsche Bahn hinter den Kulissen erfolgreich Lobbyarbeit macht. Zwar fordert Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU), dass das Land Berlin „sich mit der SBahn, der DB AG und den Herstellern zusammensetzt, um so zügig wie möglich für technisch einwandfreies Material zu sorgen“. Aber gleichzeitig verständigte sich sein Staatssekretär Klaus-Dieter Scheurle vergangenen Donnerstag mit Bahn-Chef Grube auf ein Vorgehen, das darauf hinauslaufen dürfte, das DB-Monopol bei der Berliner S-Bahn zu erhalten. Wenn die Deutsche Bahn ihre marode S-Bahn-Flotte ersetzt, müsste sie Planungssicherheit haben. Zwar trete der Bund für „Vergabefreiheit“ ein, sagte Scheurle nach dem Treffen, aber: „Die Bahn investiert nicht zwei Milliarden, um die Strecken dann nach zwei Jahren abzugeben.“ SVEN BECKER, PETER MÜLLER, ANDREAS WASSERMANN, PETER WENSIERSKI
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Legehennen in niedersächsischem Großbetrieb: „Wir haben uns hauptsächlich mit Lebensmitteln beschäftigt, nicht mit Futtermitteln“ LANDWIRTSCHAFT
Schmierige Geschäfte Wieder einmal bedroht vergiftetes Tierfutter die Gesundheit der Verbraucher. Das Kontrollsystem ist zu lasch, die Informationspolitik ein Desaster. Der jüngste Dioxin-Fall zeigt, dass die Verantwortlichen aus den Lebensmittelskandalen der Vergangenheit wenig gelernt haben.
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elgien, Frühjahr 1999: Kontrolleure finden in Eiern unter anderem hohe Dosen Dioxin. Ein Fetthändler hatte einem Futtermittelhersteller hochbelastete Rohstoffe geliefert. Das Gift gelangte in Hühner, Schweine und Rinder – und schließlich in den Magen deutscher Verbraucher. Der Schaden ging in die Milliarden. Die Bundesgesundheitsministerin empörte sich über die Belgier, die Europäische Union kündigte drastische Veränderungen an. Deutschland, Winter 2011: Eier bleiben in Regalen liegen. Mütter fragen sich, ob sie ihren Kindern noch Kuhmilch zu trinken geben können. Behörden sperren fast 5000 Höfe und lassen Hunderttausende Eier vernichten. Ein Hersteller in Uetersen bei Hamburg hat mit Dioxin kontaminiertes Fett geliefert – und damit 150 000 Tonnen Futtermittel verseucht. Die Bundesministerin für Verbraucherschutz Ilse Aigner (CSU) findet es „wirklich schade, dass eine ganze Branche durch einzelne Übeltäter in Mitleidenschaft gezogen wird“. Sie kündigt Gespräche mit den Ländern an, die künftig für besseren Schutz sorgen sollen. 32
Wie sich die Bilder gleichen. Die Klagen. Die Beschwörungen. Deutschland hat einen neuen Lebensmittelskandal. Und wieder soll es ein Einzelfall sein? Die bedauerliche Entgleisung eines Unternehmers? Insider halten diese Ansicht Aigners für naiv. Zu viel spricht für Fehler im System. Die angestrebte Agrarwende, 2001 von der damaligen Verbraucherschutzministerin Renate Künast (Die Grünen) mit großer Leidenschaft gefordert, ist längst vergessen. Die Lebensmittelbranche arbeitet heute genauso arbeitsteilig wie die Industrie. Was zählt, ist der Preis. Und um die Eier, Schnitzel und Hühnerbrüste spottbillig ins Discounter-Regal zu bringen, wird vor allem beim Rohstoff gespart: der Nahrung für die Tiere. Teile der Futtermittelzunft sind dabei nicht zimperlich. Willkommen ist alles, was mehr Gewinn bringt – Vorschriften sind dabei nur lästig. In Berlin will kaum jemand den wirtschaftlichen Erfolg der deutschen Lebensmittelindustrie gefährden. Es ist der viertgrößte Wirtschaftszweig der Republik. Ein Viertel der 150 Milliarden Euro, die D E R
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er jedes Jahr umsetzt, wird inzwischen im Ausland verdient. Wer will da die Preise deutscher Produzenten in die Höhe treiben, durch schärfere Gesetze, durch mehr Kontrollen? Der jüngste Fettmischer-Skandal zeigt deutlich, wie nachlässig die Behörden mit einer Branche umgehen, deren Ruf durch unzählige Vergehen ramponiert ist. „Wir haben uns bislang hauptsächlich mit Lebensmitteln beschäftigt, nicht mit Futtermitteln“, gibt Eberhard Haunhorst zu, Chef des niedersächsischen Landesamts für Verbraucherschutz. 2500 Stichproben nahmen seine Mitarbeiter im vergangenen Jahr – bei 3600 gewerblichen Futterhandelsunternehmen. Und in der übrigen Republik sieht es nicht besser aus: 14 557-mal rückten Kontrolleure aus. Das ist genauso häufig, wie die überschaubare Zahl deutscher Spitzensportler von Dopingfahndern aufgesucht wird. Wegen ihres Personalmangels setzen die Behörden auf Eigenkontrollen der betroffenen Unternehmen. Jede Firma müsse selbst dafür Sorge tragen, dass nur un-
Deutschland bedenkliche Ware in den Handel komme, heißt es in den Vorschriften schwammig. Was die Futtermischer konkret untersuchen müssen, so Haunhorst, stehe nirgends. So hätten viele Betriebe zwar eine eigene Qualitätssicherung eingeführt. Doch bindend sei das alles nicht – und regelmäßige Untersuchungen auf Dioxin seien nicht explizit vorgeschrieben. Johannes Remmel, der grüne Umweltund Verbraucherschutzminister in Nordrhein-Westfalen, fordert seine Kollegen in den anderen Bundesländern nun mit Gesetzesvorschlägen heraus, die die Lebensmittelproduzenten stärker als bisher in die Pflicht nehmen sollen. Traditionelle Agrarländer wie Niedersachsen und Bayern wollen indes an der jetzigen Praxis nicht allzu viel ändern. Sie erwarten, dass der forsche Kollege angesichts des Gegenwinds schon bald wieder einlenken werde. Wohin jedoch der lasche Umgang mit den Herstellern unserer Nahrung geführt hat, dafür kann der Fettmischer von Uetersen als Paradebeispiel herangezogen werden. Als Siegfried Sievert, Chef der Firma Harles und Jentzsch, mit den ersten Dioxin-Ergebnissen konfrontiert wurde, reagierte er zunächst routiniert abwiegelnd, so wie es üblich ist in der Branche, wenn mal Unappetitliches nach außen dringt. Sogenannte technische Fette seien in seinem Betrieb ins Futterfett geraten. Das sei ein bedauerlicher Fehler. Ein Versehen, mehr nicht. Erstaunlich nur, dass ein Futtermittelzulieferer überhaupt mit sogenanntem technischen Fett hantiert, das nicht für die Nahrungskette bestimmt ist. Siebert erklärte dazu, sein Unternehmen habe „eine Parallelproduktion für die Papierindustrie“. Zur Frage, warum die nicht auf seiner Homepage erscheine, antwortete er dem SPIEGEL: „Das kann ich im Moment schwer sagen.“
Wolfgang N. ist seit über 15 Jahren in der Futtermittelindustrie tätig. Er kennt die Firma aus Uetersen und all die anderen Betriebe dieser Branche, und er kennt ihre Machenschaften. Es sei durchaus kein Zufall, sagt er, dass dieses 15-MannUnternehmen jetzt aufgefallen sei. Viele kleinere und mittlere Betriebe tricksten und tarnten. Die Großen dagegen könnten sich Eingangskontrollen für die Rohstoffe leisten. Sie täten dies, um nicht in einen geschäftsschädigenden Skandal verwickelt zu werden. Aber selbst diese umsatzstarken Marktführer prüften längst nicht jede Lieferung. Die Tests – etwa auf Dioxin – sind aufwendig, sie kosten 400 Euro, und sie dauern einige Wochen. Ein möglicher Weg,
um nicht aufzufallen, sei es, zweifelhafte Fette mit anderen Lieferungen so weit zu strecken, dass das Endprodukt auf jeden Fall unter den Grenzwerten bleibt. Als kritisch gilt unter Experten wie N. auch, dass viele Fettmischer zugleich Sondermüllhändler seien. So überrascht es nicht, dass kaum eine andere Branche das Recycling von Ausschuss derart ausreizt wie die Futtermittelindustrie. Aus Müll macht sie Mahlzeiten, und Tiere degradiert sie zu Abfalleimern. Da können auch mal zermahlene Federn und Sägespäne als Füllmasse dienen. Schamgrenzen gibt es nicht. Auch Klärschlamm kam schon ins Futter, mit Gülle und Gerbereiabwässern wurde experimentiert. Seinen Anfang nahm der aktuelle Skandal ausgerechnet bei einem Unternehmen, das die Antwort auf die DioxinVerseuchungen zur Jahrtausendwende sein sollte: Die Firma Petrotec Biodiesel ist darauf spezialisiert, aus alten Speisefetten umweltfreundlichen Kraftstoff zu gewinnen. Seit 2000 betreibt das Unternehmen eine moderne Raffinerie in Emden. Schon in den neunziger Jahren bot das Geschäft eine saubere Alternative zur bisherigen Praxis, die ranzigen Rückstände aus der Gastronomie im Tierfutter zu entsorgen. Richtig in Schwung kam das Geschäft, als 2002 die Entsorgung der Fette im Futter europaweit verboten wurde. Dass die anfallenden Nebenprodukte des Raffineriebetriebs „nichts im Futter verloren“ hätten, sagt Roger Boeing, bis zum vergangenen Jahr Petrotec-Chef, sei immer klar gewesen. Schließlich könne niemand eine Verschmutzung der angelieferten Altfette ausschließen. Und getestet werde bei Petrotec nicht, weil Dioxin-Spuren im Biodiesel belanglos seien. Firmen wie Petrotec beziehen ihren Rohstoff aus aller Welt. Da wird auch mal
CHRISTIAN CHARISIUS / REUTERS
Dioxine
Fettfabrik Harles und Jentzsch D E R
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sind eine Gruppe von rund 75 auf Benzol und Chlor basierenden chemischen Verbindungen. Einige von ihnen sind schon in geringsten Mengen hochgiftig. Als Dioxin wird umgangssprachlich meist das Tetrachlordibenzo-pdioxin (TCDD) bezeichnet – das „Seveso-Gift“, das beim Chemieunfall 1976 in Norditalien die Umwelt verseuchte. Dioxine entstehen als Abfallprodukte der Industrie, zum Beispiel bei Müllverbrennung oder der Aufarbeitung von Altölen. Unter hohen Temperaturen, etwa bei Waldbränden, kann sich ebenfalls Dioxin bilden, auch Zigarettenrauch enthält den Schadstoff. TCDD ist eines der stärksten synthetischen Gifte. Eine akute Vergiftung äußert sich oft in der sogenannten Chlorakne; das Gift schädigt zudem Immun- und Nervensystem, die Leber und den Hormonhaushalt. Langfristig kann es Krebs erzeugen. Dioxin reichert sich im Fettgewebe an und ist erst nach Jahren wieder vollständig abgebaut. Eine Dioxin-Belastung der Mutter schädigt über die Plazenta ein ungeborenes Kind. Über die Muttermilch kann das Gift zu Organschäden führen.
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Deutschland men. Doch der kommissarische Landwirt- ließ sich nicht mehr mit einem Bedieschaftsminister Hans-Heinrich Sander nungsfehler erklären. war nicht greifbar. Erst Remmels Anruf „Dahinter kann man nur hohe kriminelle bei McAllister wirkte offenbar – sieben Energie vermuten“, urteilt Hans-Michael Tage nach der ersten Dioxin-Meldung Goldmann (FDP), Vorsitzender des Buntrafen die Lieferlisten endlich in NRW destags-Ausschusses für Verbraucherschutz, ein. „dabei dachte ich, dass die Zeit vorbei ist, Ursprünglich ins Rollen gebracht hat- in der Abfall in Futter entsorgt wird.“ Der ten die Lawine nicht staatliche Kontroll- Profit für Panscher: Technische Fette sind instanzen und nicht der Uetersener um rund ein Drittel billiger als Futterfette. Fettmischer Harles und Jentzsch. Ein Immerhin, so rühmt sich nun der DeutKunde war es, der den Dioxin-Fund mel- sche Verband für Tiernahrung, hätten „Eidete. In zwei Partien ihres Legehennen- genkontrollen und Sicherheitsmaßnahfutters entdeckte das Kontrolllabor der men“ den Fall aufgedeckt. Das System Firma Wulfa-Mast deutlich erhöhte funktioniere doch. Werte, so das LandwirtschaftsministeNicht ganz: Harles und Jentzsch hat rium Hannover. Noch am 23. Dezember im vergangenen Jahr dreimal seine Fettschloss das Land Niedersachsen Hühner- säuren kontrolliert. Und bei allen diesen farmen, die mit der Ware beliefert wor- Eigenkontrollen war der zulässige Dioxinden waren. Wert (0,75 Nanogramm pro Kilo) deutlich Kontrolleure fuhren anschließend zu überschritten: Am 19. März lag er bei 1,60, einem Depot von Harles und Jentzsch im am 21. Juni bei 1,40 und am 7. Oktober
JOERN POLLEX / GETTY IMAGES (L.); INA FASSBENDER / REUTERS (R.)
eine Schiffsladung aus den USA in Deutschland verarbeitet. Und weil Fett hin und her verschoben wird, kann es beim Transport leicht zu Verunreinigungen kommen. Branchenkenner Wolfgang N. behauptet, dass Spediteure Fässer und Tanks zwischen zwei Fuhren nicht regelmäßig reinigen, um Kosten zu sparen. Woher das Dioxin stammt, das nun Tausenden deutschen Bauern das Geschäft verhagelt, ist noch unklar. Als die Experten des Chemischen und Veterinäruntersuchungsamts in Münster die Proben begutachteten, gerieten sie ins Staunen: „Dieses spezielle Muster haben wir noch nie gesehen“, sagt Institutsleiter Axel Preuß. Mit hoher Wahrscheinlichkeit sei das Gift nicht während der Bearbeitung bei Petrotec entstanden. Um die Herkunft des Dioxin aufzuklären, will NRW jetzt ein Gutachten in Auftrag geben.
Polizeiliche Durchsuchung bei Harles und Jentzsch in Uetersen, Dioxin-Kontrolle von Eiern: „Hohe kriminelle Energie“
Womöglich kann das Rätsel nie gelöst werden. Dennoch debattieren die Politiker nun öffentlich darüber, was unbedingt geändert werden müsse. Dabei haben manche das Ausmaß der Pansch-Affäre anfangs völlig unterschätzt. Mehreren Ministerien der betroffenen Bundesländer war schon vor Weihnachten bekannt, dass ein neuer Dioxin-Skandal heraufzog. Sogar das Bundeslandwirtschaftsministerium war eingeweiht – doch man hielt still, auch die zuständige Stelle der EU wurde zunächst nicht informiert. Und so saß der niedersächsische Regierungschef David McAllister (CDU) am Tag vor Silvester gerade in einem Fernsehstudio des NDR und wurde für die Aufzeichnung seiner Neujahrsansprache gepudert, als ihn ein Anruf aus Düsseldorf ereilte: NRW-Umweltminister Remmel bat nach Dioxin-Funden dringend darum, ihm vollständige Lieferlisten der verdächtigen Mischfutterfirmen aus Niedersachsen zu übermitteln. Tagelang hatte er versucht, wichtige Informationen aus Hannover zu bekom34
niedersächsischen Bösel. Dort hatten die Mitarbeiter eine einfache Erklärung für das Problem. Auf dem Gelände würden auch technische Fette gelagert, versehentlich sei wohl bei einer Mischung am 11. November der Schieber an Tank 11 falsch bedient worden. Menschliches Versagen, das komme vor. So habe man das technische Fett mit dem Futterfett vermischt. Es seien noch sechs weitere Futterhersteller mit der verseuchten Ware beliefert worden. Eigentlich hätten die Behörden einschreiten sollen, doch ein Taschenrechner rettete erst mal die Ruhe. Die Beamten kalkulierten einen so geringen Fettanteil der Futterchargen, dass trotz des DioxinFetts die gesetzliche Höchstgrenze wohl nicht überschritten worden sei. Am 29. Dezember suchten die niedersächsischen Kontrolleure das Zwischenlager in Bösel wieder auf – und stellten nun fest, dass auch in anderen FutterfettTanks ungeeignete technische Fettsäure dümpelte. In der Uetersener Firmenzentrale bot sich das gleiche Bild: Vier Tanks waren mit vergifteter Ware gefüllt. Das D E R
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bei 1,44 Ng. Doch in keinem Fall hat das Unternehmen die Behörden informiert, niemals die Kunden unterrichtet, niemals seine Ware gesperrt. Als am 28. Juli staatliche Kontrolleure bei Harles und Jentzsch vorbeischauten, bekamen sie diese Testergebnisse offenbar nicht zu sehen. Eigene Proben der Behörde auf Dioxin ergaben angeblich keine Auffälligkeiten. Selbst Lieferscheine mit dem Hinweis, die eingekauften Fettsäuren seien nicht für Futtermittel geeignet, machten die Prüfer nicht stutzig. Es seien ja auch Fette an die Papierindustrie verkauft worden, heißt es nun zur Erklärung. Das Unternehmen genoss bei den Behörden offenbar Vertrauen. Weil Personal abgebaut worden ist, arbeiten die Prüfer in Schleswig-Holstein „risikoorientiert“, das heißt: Auffällige Unternehmen werden häufiger kontrolliert, unauffällige seltener. So kam es, dass Harles und Jentzsch zuletzt nur noch mit einer Prüfung pro Jahr rechnen musste, obwohl die Firma fast alle norddeutschen Mischfutterwerke beliefert. Nach der Visite im
MICHAEL FRÖHLINGSDORF, NILS KLAWITTER, JULIA KOCH, MICHAEL LOECKX, UDO LUDWIG
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ANDREAS VARNHORN / DER SPIEGEL
Juli konnte sie folglich ziemlich unbesorgt weiterpanschen. Dass die Affäre bislang trotzdem ziemlich glimpflich für die Gesundheit der Konsumenten ausgegangen ist, hat mit den Eigenschaften des Dioxins zu tun. Obwohl der Stoff als hochgefährlich gilt, geht von den verseuchten Eiern und kontaminierten Schnitzeln keine konkrete Gefahr aus. „Die festgestellten Konzentrationen sind so gering“, sagt Helmut Schafft, zuständig für Futtermittel beim Bundesinstitut für Risikobewertung in Berlin, „dass nur bei einem regelmäßigen Verzehr über einen längeren Zeitraum ein Problem entstehen kann.“ Ohnehin wurde der EU-Grenzwert von 3 Pikogramm Dioxin pro Gramm Fett im Ei nur in wenigen Fällen überschritten, und selbst diese Schwelle gilt bei Experten als umstritten. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) etwa hält es für „duldbar“, dass ein Mensch täglich vier Pikogramm pro Kilogramm Körpergewicht aufnimmt. Eine 75 Kilogramm schwere Person müsste demnach eine Tagesdosis von 300 Pikogramm problemlos verkraften können – das sind jede Menge der jetzt belasteten Dioxin-Eier, aber nur wenige Mahlzeiten von oft hochbelasteten Fischen wie Aal oder Lachs. „Dioxine sind überall“, relativiert deshalb Wissenschaftler Schafft, „jeder Mensch nimmt täglich ganz automatisch winzige Mengen auf.“ Selbst Bio-Eier, zu denen nun etliche Verbraucher greifen, sind streng genommen kontraproduktiv, wenn die Hühner auf kontaminierten Böden scharren. „Eier von den Mistkratzern, die bei Oma hinterm Haus laufen, haben sowieso fünf Pikogramm“, räumt Rudolf Joost-Meyer zu Bakum ein, der Vorsitzende der Gesellschaft für Ökologische Tierernährung. Und das natürlichste aller Nahrungsmittel, das besonders gesund ist, müsste verboten werden, wenn man allein den DioxinStandard der Weltgesundheitsorganisation zum Maßstab macht: Muttermilch übersteigt diesen WHO-Grenzwert um das Mehrfache. Zu allem Übel machen es die Behörden dem Konsumenten auch noch schwer, sein Risiko selbst zu bestimmen. Die Namen der Betriebe und die Codes auf ihren Eiern müssten „sofort auf den Tisch“, fordert Günther Hörmann, Chef der Hamburger Verbraucherzentrale. In Skandinavien sei das selbstverständlich, und auch nach dem deutschen Gesetz sei dies möglich. „Aber hier befragen zittrige Beamte erst lange ihre Rechtsabteilung“, klagt Hörmann. Fast drei Wochen nach Bekanntwerden des Skandals sind bisher erst die Eier-Codes von zehn betroffenen Betrieben veröffentlicht. ANDREA BRANDT,
Entführungsopfer Buzmann: „Ich dachte, ich würde hier noch mehr entdecken“ SCHICKSALE
Die verlorene Kindheit Drei Monate lang war ein heute 34-Jähriger als Kind in der Gewalt eines Entführers. Als der Junge befreit wurde, hatten Eltern und Polizei die Hoffnung fast aufgegeben. Von Bruno Schrep
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as also ist der Ort, an dem einst alles geschah. Aufgeplatzte Müllsäcke, leere Kisten, verrostete Eisenteile, ein undurchdringliches Dickicht aus Gestrüpp, Reste eines Zauns, umgeknickte Bäume. Und nebenan die Schnellstraße. „Genau hier stand der Wohnwagen“, ruft der Mann in schwarzer Lederjacke, der sich durch Dornen und Stacheldraht D E R
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bis zur Mitte des Geländes gekämpft hat. Sascha Buzmann zeigt auf die verkohlten Überreste eines Reifens, auf Bruchstücke einer Achse. Er ist enttäuscht: „Ich dachte, ich würde hier noch mehr von früher entdecken.“ „Früher“ – das sind für Buzmann die 86 Tage zwischen dem 10. Januar und dem 5. April 1986. Damals war er neun Jahre alt und fast drei Monate lang hier,
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Während Sascha still seine Gefangenschaft erträgt, läuft draußen eine beispiellose Fahndungsaktion an. Beamte einer Sonderkommission befragen Hunderte Zeugen, Freiwillige verteilen Tausende Flugblätter, Radio- und TV-Sender berichten fast pausenlos, es wird eine Belohnung von 20 000 Mark ausgesetzt. Doch nichts hilft. „Ein Polizist erklärte uns, nach acht Tagen könnten wir die Hoffnung begraben“, erinnert sich Saschas Mutter, „da wollte ich mich aus dem Fenster stürzen.“ Sie kann nicht mehr schlafen, nichts mehr essen und magert immer mehr ab. Der Vater wird verdächtigt, selbst etwas mit der Entführung zu tun zu haben. Sein Auto wird nach Spuren durchsucht, sein Alibi überprüft. Er wird arbeitsunfähig. In einem offenen Brief appellieren die Eltern, ihnen endlich Gewissheit zu verschaffen. Egal, ob Sascha noch lebt oder nicht. Der Junge und sein Entführer bekommen von alldem nichts mit. Adam G. kümmert sich nicht um das Leben jenseits seines Stacheldrahtzauns, er liest keine Zeitungen und geht nur aus, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Allmählich ändert sich das Verhältnis zwischen Täter und Opfer. Die sexuellen Belästigungen werden weniger, der ruppige Mann will reden. Er erzählt Sascha von seiner Kindheit, vom Vater, der ihn ständig verprügelte, von den Hänseleien in der Schule, in der er wegen seiner zerlumpten Kleidung verspottet wurde. „Ich spürte plötzlich, wie zerstört und einsam der Mann war“, sagt Sascha Buzmann, „heute weiß ich, dass er eine Beziehung suchte.“ Der Neunjährige entwickelt trotz seiner ständigen Angst eine diffuse Nähe zu dem Kidnapper, ist froh, dass ihn der kräftige Kerl wenigstens nicht schlägt, und dankbar, dass er sich um Verpflegung kümmert. Adam G. besorgt seinem Gefangenen Süßigkeiten, kauft ihm Comic-Hefte, bringt ihm bei, wie man Saurier zeichnet. Er treibt einen alten Fernsehapparat auf und sieht mit Sascha abends „James Bond“- und Ritterfilme. Manchmal behandelt er ihn wie einen gleichaltrigen Kumpel, den er in der Realität nie hatte. Er will nicht wahrhaben, dass sich Sascha nur eines wünscht: zurückzukehren zu den Eltern und den Geschwistern. Wenn der Junge zaghaft darum bittet, wird er barsch auf später vertröstet. Der Entführer will Sascha nie mehr hergeben. Eines Tages stehen zwei Polizisten vor dem Wohnwagen. Sie wollen Adam G. HEIKE LYDING / BILD ZEITUNG
in Mainz-Kastel, eingesperrt in einem herNiemand kümmert sich um Adam G., untergekommenen Schaustellerwagen. und er kümmert sich auch um niemanden. Keine Möglichkeit, sich zu waschen, kein Seit dem Tod seiner Eltern lebt er allein Klo, kein Kontakt zur Außenwelt. Immer auf einem abgelegenen Grundstück, das wieder sexuell missbraucht von einem mit Stacheldraht umgeben ist, und haust Entführer und ohne Chance, ihm zu ent- dort in dem Wohnwagen, in dem er schon kommen. geboren wurde. Der Fall Buzmann ist einzigartig in der Hierhin verschleppt er sein Opfer. Wenn bundesdeutschen Kriminalgeschichte. Adam G. das Grundstück verlässt, muss Niemals zuvor und niemals danach ist Sascha anfangs in eine winzige, mit schwewohl ein Junge so lange von einem Ent- ren Pflastersteinen beschwerte Holzkiste führer gefangen gehalten worden. Sascha kriechen, damit er nicht fliehen kann. Späwar spurlos verschwunden, es gab kein ter wird der Junge in solchen Situationen Lebenszeichen. Als er schließlich befreit stundenlang in einen angebauten Verwurde, hatten die Behörden und die Angehörigen die Hoffnung fast aufgegeben. Die Rettung wurde deshalb wie ein Wunder gefeiert. An die Folgen dachte zunächst niemand. Das Schicksal von Sascha Buzmann zeigt, wie ein Kind außergewöhnliche körperliche und seelische Torturen aushalten kann, ohne daran vollkommen zu zerbrechen. Und es zeigt den Preis, den es dafür sein Leben lang zahlen muss. Als Buzmann befreit wurde, war seine Kindheit vorbei. „Ich habe erfahren, dass die Welt ganz anders ist, als man sie mit neun Jahren erleben sollte“, sagt er heute, „das prägt mich noch immer.“ Am 10. Januar 1986 herrscht dichtes Schneetreiben, gegen 17 Uhr ist es schon dunkel. Sascha, der mit Freunden Rollschuh gelaufen ist, kann schon die beleuchteten Fenster seines Elternhauses in Wiesbaden-Delkenheim sehen, als er von hinten gepackt wird. „Plötzlich war ich im Schwitzkasten“, erinnert er sich, „ich dachte erst an einen Scherz.“ Doch der große Mann mit dem wilden Vollbart schleift ihn grob hinter sich her und herrscht ihn an, Sohn Sascha, Eltern 1986: „Er war sehr verändert“ nur ja keinen Mucks von sich zu geben oder sich umzudrehen. Stundenlang schlag gesperrt, selbst bei Eiseskälte. Doch zerrt der Entführer Sascha über einsame, das ist nicht das Schlimmste. verschneite Felder. Längst hat der Junge Adam G., der bislang keine sexuellen die Orientierung verloren. Er weint leise, Erfahrungen gemacht hat, missbraucht hofft auf Hilfe von Gott, zu dem er jeden Sascha in den ersten Tagen immer wieder. Abend betet, denkt an seine vier älteren Der Junge kann die ungestümen AnnäGeschwister. Und er fragt sich: warum ich? herungen des ungepflegten Mannes nicht Die Antwort ist banal. Adam G., da- begreifen. „Ich habe das damals als eine mals 34, hält den zarten Jungen mit den Art Bestrafung empfunden“, erinnert er weichen Gesichtszügen für ein Mädchen. sich, „ich wusste nur nicht, wofür.“ Und beschließt im Bus, als er den schräg Das Kind vermeidet alles, was seinen gegenüber sitzenden Sascha beobachtet, Entführer reizen könnte. Es gehorcht ihm das vermeintliche Mädchen in seine Ge- aufs Wort, es schreit nicht um Hilfe, es walt zu bringen. Als er die Verwechslung versucht nicht zu fliehen, es klagt nicht bemerkt, ist er verblüfft und enttäuscht. über Dreck oder Gestank. Es lässt sich seiDer Mann gilt bis dahin als harmloser ne Angst vor den Ratten nicht anmerken, Sonderling. Er hat weder Freunde noch die nachts in den Wohnwagen eindringen. Verwandte, besitzt kaum Kontakt zur Au- Ein Gutachter wird diese Passivität später ßenwelt, lebt von Gelegenheitsarbeiten als „Emotionslähmung“ bezeichnen; verund Stütze. Mal ist er beim Klauen er- mutlich ein unbewusstes Verhalten, um wischt worden, mal beim Schwarzfahren. die Entführung lebend zu überstehen.
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Depressionen lässt er sich freiwillig in eine als Kinderschänder verachteten Häftling psychiatrische Klinik einweisen. In der bedrohen, wird er in einer Einzelzelle Therapie spricht er erstmals seit vielen weggesperrt, am Hofgang oder anderen Jahren offen über seine Erlebnisse als Ent- Freizeitaktivitäten nimmt er nicht teil. führungsopfer, lernt mühsam, dass Ver- Vor seiner Freilassung urteilt ein Psychiaschweigen und Verdrängen nicht helfen, ter, von Adam G. gehe keine Gefahr aus die quälenden Erinnerungen loszuwerden. – eine verheerende Fehleinschätzung. Schließlich ist er sogar bereit, seinem Der entwurzelte Mann, mit ein paar Entführer gegenüberzutreten. Er will als Tipps und ein paar Telefonnummern zur Erwachsener einmal dem Mann in die Au- Wohnungssuche entlassen, übernachtet gen sehen, der ihn als Kind drei Monate anfangs in Hotels, später in einer leerin seiner Gewalt hatte. Doch ein Treffen stehenden Halle, schließlich zieht es ihn kommt nie zustande. wieder auf das elterliche GartengrundBeim Prozess gegen Adam G. wegen stück in Mainz-Kastel, seine eigentliche Kindesentziehung, Freiheitsberaubung Heimat. Weil wütende Bürger den Wohnund sexuellen Missbrauchs wird schnell wagen niedergebrannt haben, richtet er klar, dass der Einzelgänger unfähig ist, ir- sich mit seinen Habseligkeiten in einem zwei Meter tiefen Brunnenschacht ein. Fünf Monate nach seiner Entlassung entführt er in Mainz einen 13-jährigen Jungen, verschleppt ihn auf das Grundstück, zwingt ihn in das Brunnenloch. Er lebt mit seinem Opfer bei strenger Kälte mehrere Tage und Nächte auf einer Fläche von wenig mehr als einem Quadratmeter zusammen. Wie bei Sascha Buzmann missbraucht er sein Opfer. Nach zehn Tagen lässt er den Schüler frei. Das Landgericht Mainz, das Adam G. zu acht Jahren Gefängnis verurteilt, ordnet zugleich seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Dort wird der Mann, der inzwischen 59 ist, wohl für immer bleiben. Sascha Buzmann, sein erstes Opfer, glaubt inzwischen fest, dass er die Spätfolgen endgültig überwunden hat. Er lebt allein in einer Wohnung im Taunus, kellnert zeitweise Tag und Nacht in verschiedenen Gaststätten und hat sich vorgenommen, Serviceleiter in einem Spitzenrestaurant zu werden. Die Meldungen über die Entführung von Mirco S. aus dem niederrheinischen Grefrath, der seit dem 3. September verschwunden ist, verfolgt er mit einer Mischung aus Mitgefühl und Abwehr. Ob der Junge gerade ein ähnliches Befreiter Sascha 1986 Schicksal erdulden muss wie damals SaVom Entführer mit Mädchen verwechselt scha Buzmann, weiß niemand. Wie damals Sascha kam auch Mirco gendetwas außerhalb seiner bizarren, nur nach einem Treffen mit Freunden nicht auf sich bezogenen Welt wahrzunehmen, nach Hause. Und wie damals blieben bisEmpfindungen seiner Mitmenschen etwa. lang selbst aufwendigste FahndungsmeDie Angst seines Opfers bemerkte er thoden ergebnislos: der Einsatz von Hunkaum, über die Qualen der Eltern dachte destaffeln, von Tauchern, von tausend er nie nach. Polizisten, sogar von „Tornado“-Jets mit „In dem Jungen hatte ich endlich einen Infrarotkameras. kleinen Kameraden“, gesteht er bei der Weil nahe dem Tatort ein Passat-Kombi Hauptverhandlung. Und auf die Frage, gesehen wurde, wird nach dem Halter geob er denn nie ein anderes menschliches sucht. Über 1000 von rund 4000 PassatWesen gern gehabt habe, antwortet der Besitzern aus dem Großraum Niederrhein damals 35-Jährige: „Ich hatte noch keine wurden bereits überprüft, die meisten gaGelegenheit dazu.“ ben auch freiwillig eine Speichelprobe ab. Die sieben Jahre Freiheitsentzug bleiUnter den mehr als 8000 Hinweisen ben ungenutzt. Adam G. muss an keiner aus der Bevölkerung, darunter auch ViSozialtherapie teilnehmen, Angebote zu sionen und Vermutungen von Hellsehern, Gruppengesprächen lehnt der menschen- Kartenlegern und Wünschelrutengängern, scheue Mann ab. Weil Mitgefangene den war bislang keine heiße Spur. POLIZEI
festnehmen, weil er wegen Zechprellerei angeklagt ist. Der Entführer behauptet, der Junge sei ein entfernter Verwandter, doch die Beamten werden misstrauisch. Als Sascha seinen Namen nennt, verliert einer der Fahnder die Fassung und haut sich an die Stirn: „Das darf doch nicht wahr sein.“ Die Eltern können ihr Glück kaum fassen, doch Sascha plagen Schuldgefühle gegenüber dem Entführer. Er fühlt sich als Verräter, weil er sich nicht vor den Polizisten versteckte. Auch sein Zustand ist ihm unangenehm: „Entschuldigt, dass ich so schmutzig bin.“ Das zweite Leben des Sascha Buzmann beginnt in der elterlichen Badewanne. Der Dreck von drei Monaten geht ab, doch die inneren Verwüstungen bleiben zunächst verborgen. „Wir haben gefragt und gefragt“, sagt Saschas Mutter, „aber fast nichts erfahren.“ Der Junge, der früher so gern drauflosplapperte, bleibt weitgehend stumm. Oder behauptet, er habe alles vergessen. „Er war sehr verändert“, berichtet die Mutter. Ein Psychiater, der bei Sascha „massive Ängste“ feststellt, erstellt eine pessimistische Prognose. Die Schädigungen könnten sich später negativ auf die körperliche und seelische Entwicklung auswirken, die Zukunft des Jungen sei mit einer schweren Hypothek belastet. Die düsteren Prophezeiungen erfüllen sich aber zunächst nicht. Zwar muss Sascha ein Schuljahr wiederholen, doch dann bringt er meist gute Noten nach Hause. Der Junge wächst auch normal, übt im Judoverein, wie man sich selbst verteidigt, und scheint sich kaum von Gleichaltrigen zu unterscheiden. Doch dann verlässt Sascha die Gesamtschule ohne Abschluss, wirkt plötzlich antriebslos und zeigt kaum noch Eigeninitiative. Eltern und Lehrer beklagen, dass sich der begabte Junge allzu leicht von anderen beeinflussen lässt und zu schnell aufgibt, wenn es darum geht, den eigenen Willen durchzusetzen. Später wird Sascha Buzmann zwar das Fachabitur und zwei Berufsabschlüsse als Kaufmann und als Kellner schaffen. Doch nach gelegentlichen Hochs stürzt er immer wieder ab. Er gründet zunächst erfolgreich ein Unternehmen, geht aber dann doch pleite. Er nimmt Drogen, wird mehrfach mit Cannabis am Steuer erwischt und verliert für Jahre den Führerschein. Mehrere Beziehungen zu meist älteren Frauen scheitern. Die Freundinnen halten es nicht aus, dass er seine Gefühle nicht zeigen kann, und reagieren mit Ablehnung und Wut. Sie können nicht verstehen, dass seine als kalt empfundene Distanz womöglich eine instinktive Schutzreaktion auf ein frühes Trauma darstellt. Buzmann hält es auch immer weniger mit sich selbst aus. Wegen fortdauernder
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Was war da los, Herr Janne?
TÜRKEN
„Wir werden ein anderes Land erleben“ Der Journalist Werner Felten, 51, über seine Integrationsprobleme SPIEGEL: Herr Felten, Sie arbeiteten acht Jahre lang als einziger Deutscher unter Türken, als Programmdirektor des türkischsprachigen Radiosenders Metropol FM in Berlin. Nun haben Sie ein Buch über Ihre Erfahrungen geschrieben. Waren Sie gut integriert bei den Türken? Felten: Am Anfang habe ich einen Kulturschock bekommen. Vor allem was Pünktlichkeit betrifft, musste ich mich auf den Rhythmus einstellen. Ich bin dann gelassener geworden. SPIEGEL: Undisziplinierter? Felten: Das ist nicht der richtige Ausdruck. Meine türkischen Kollegen haben gut gearbeitet, aber manches hat ein bisschen länger gedauert. SPIEGEL: Türkçe konuşabiliyormusunuz? Felten: Ja, ich spreche ein wenig Türkisch. Aber meine Kollegen haben
Janne
Felten: Es geht nie um die Frauen ohne
auf der Arbeit alle deutsch gesprochen. SPIEGEL: Warum haben Sie dann Türkisch gelernt? Felten: Weil ich das Programm verstehen wollte. Und ich wollte wissen, wie das ist, wenn man mit 40 Jahren eine Sprache lernt. Es ist hart. Das sollte man bei der Integration bedenken. SPIEGEL: Wie erleben Sie die Integrationsdebatte?
DARCHINGER.COM
„Ich habe Aniruddhas Käfig und sein Gehege putzen müssen, als er noch lebte. Ich hatte Angst vor Aniruddha, er war der größte der acht Königstiger hier im Assam Zoo in Guwahati. Ich dachte, er sei ein Menschenfresser, ich habe mich in Acht genommen. Aniruddha ist an Altersschwäche gestorben, wir fanden ihn tot in seinem Gehege, er wurde 19 Jahre alt. Ich wusste nicht genau, was ich denken sollte, als ich ihn verbrannt habe. Wir haben Holz aufgeschichtet und den Kadaver in die Mitte gesteckt. Wir haben ihn verbrannt, weil wir Angst hatten, dass Diebe den Tiger ausgraben würden, um die Überreste zu verkaufen. Der Handel mit toten Wildtieren ist in Indien verboten. Als ich das Feuer ansteckte, war ich traurig, weil ein schönes Tier tot war. Das Schöne ist: Ich muss beim Putzen nun weniger Angst haben.“
AFP
Der indische Putzmann Nalia Janne, 37, über brennende Tiger
Nationalflaggen in Berlin D E R
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Kopftuch, die Jungs ohne tiefergelegten BMW. Diese Menschen sprechen deutsch und sehen aus wie Spanier. Über die muss man auch diskutieren. SPIEGEL: Tut man doch. Felten: Ach was, es geht häufig nur um Integrationsverweigerer. Ich glaube, dass den Einwanderern jemand fehlt, der ihnen sagt, was Integration bedeutet. Viele Türken denken: „Was wollt ihr Deutschen eigentlich von uns?“ SPIEGEL: Entstehen deshalb Parallelgesellschaften? Felten: Ja, und weil wir unsere gemeinsamen Werte ignorieren. Zum Beispiel den hohen Stellenwert der Familie. SPIEGEL: Was fordern Sie von Türken, die in Deutschland leben? Felten: Wir haben ein Gesetz, an das sich die Menschen halten müssen, egal wo sie herkommen. SPIEGEL: Glauben Sie, Deutschland wird türkischer werden? Felten: Das Deutschland, das wir kennen, schafft sich ab. Die Menschen werden sich immer mehr vermischen und gemeinsam wachsen. Wir werden ein ganz anderes Land erleben. Werner Felten: „Allein unter Türken. Mitten drin statt von oben herab“. Südwest Verlag, München; 240 Seiten; 16,99 Euro.
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Szene
Haut zu verkaufen Wie ein Kanadier zur Werbefläche wurde
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n einem klaren Sommermornisation „Care Canada“. Vaillancourt gen im vergangenen Jahr berief ihn an in Haiti und erzählte ihm schloss Patrick Vaillancourt, von seiner Idee. ein reicher Mann zu werden. Er lag Er würde sich für Geld tätowieren im Bett in seinem Haus in Montreal lassen auf Rücken und Brust, er würde und dachte an die Menschen in Haiti, dafür kassieren, dass er sich die Interdie ihm nahe sind, weil Freunde von netadressen von Firmen mit Tinte in der Insel stammen. Er rechnete ein wedie Haut stechen lässt. Patrick Vaillannig im Kopf, und er wusste, er brauchcourt wollte eine Werbefläche werden. te Geld. Der Direktor fragte: Meinen Sie das Vaillancourt arbeitete als Programernst? Vaillancourt sagte: Ja. Der Dimierer ohne feste Anstellung, er war rektor sagte: Wow! mit der Miete im Rückstand. Seine Kreditkarte war überzogen, seine Ehe geschieden. Seinen achtjährigen Sohn durfte er an drei Tagen in der Woche sehen, und er hatte kein Geld, ihm Geschenke zu kaufen. Patrick Vaillancourt war 30 Jahre alt. Irgendwie hatte er mehr erwartet vom Leben. An diesem Tag im Sommer, so erzählt er es heute, schaute er an seinem Körper hinunter, auf Vaillancourt, tätowierte Internetadressen seinem Arm sah er einen grünen Zauberer, es war ein Tattoo. Vaillancourt mochte Tattoos, er hatte zu diesem Zeitpunkt fünf Stück, sein erstes Tattoo hatte er sich in die Wade stechen lassen, ein kleiner Drache, da war Vaillancourt 14 Jahre alt. Tattoos waren für ihn ein Stück Freiheit damals als Kind, der kleine Aus der „Berliner Zeitung“ Drache war seine Rebellion gegen die Eltern und gegen das ganze öde Fischerdorf, in dem er aufwuchs. Nun, Patrick Vaillancourt hatte bis zu diemit 30 Jahren, sollten Tattoos seisem Zeitpunkt in seinem Leben eine nem Leben so etwas wie einen Sinn überschaubare Anzahl von Wow!-Mogeben. menten erlebt. Als Kind hatte er ein Ihm ging durch den Kopf, wie er alpaar Rekorde aufgestellt auf seinem les miteinander verbinden könne: die Nintendo im Spiel „Final Fantasy“, Liebe zu seinem Sohn und die Leidenaber damals hatte niemand zugeschaft für Tattoos, den Mangel an Geld schaut. Als Erwachsener hatte er Anund das Leid in Haiti. wendungs-Software für Handys entwiEr vermutete, dass Firmen lieber für ckelt, mit der er zufrieden war und seiviele arme Menschen in der Karibik ne Kunden auch, sagt er. Wow! hatten spenden als für einen armen Mendie Firmenvertreter allerdings selten schen in Kanada. Vaillancourt googelgesagt. te nach einer Hilfsorganisation, mit Im November ging Vaillancourt in der er zusammenarbeiten könnte. Auf ein Tattoo-Studio in Montreal und ließ einer Internetseite fand er die Numsich die ersten Adressen stechen. Der mer des Direktors von der HilfsorgaTätowierer nahm die feinste Nadel 40
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und schrieb die Buchstaben etwa einen Quadratmillimeter groß, er wollte Platz sparen. Auf Vaillancourts Rücken standen nun die Internetadressen von Reisebüros für Kroatien-Reisen, der Name einer Autowerkstatt und einer Partnerbörse, so klein, dass man sie kaum lesen konnte. Weil die Firmennamen auf seinem Rücken so winzig sind, zeigt Vaillancourt sie auch auf seiner Internetseite. Dort steht, er garantiere den Kunden, dass die Seite mindestens zehn Jahre online sein werde. So lange sollen auch die Tattoos auf Vaillancourts Haut bleiben. Später will er sie mit einem Laser entfernen lassen, sagt er. 35 Kanadische Dollar kostet ein Tattoo auf Vaillancourts Körper. Über tausend Firmen haben sich bereits in seinen Rücken stechen lassen, so sagt er. Neulich hat ihn ein Mann aus der Marketing-Abteilung eines Casinos angerufen, er wollte wissen, was es kosten würde, wenn sich Vaillancourt den Namen des Casinos auf die Stirn tätowieren lässt. Vaillancourt antwortete, seine Stirn sei unverkäuflich, aber auf seinem Rücken sei genug Platz. Will er für jeden und alles werben, für Pornoseiten, für Atomkraft, für Sarah Palin? Vaillancourt sagt: Pornoseiten, nein. Atomkraft, warum nicht? Sarah Palin, wer ist das? Vaillancourt will nach den ersten 10 000 Tattoos die Preise erhöhen. Er geht davon aus, dass er ungefähr 1,5 Millionen Kanadische Dollar einnehmen wird mit seinem Projekt. Er muss davon den Tätowierer bezahlen, und er will einen großen Teil des Geldes nach Haiti schicken, die Hälfte seiner Einnahmen. Nach Abzug der Steuern, damit rechnet Vaillancourt, blieben ihm etwa 350 000 Dollar, das sind rund 260 000 Euro. In Montreal sprechen ihn mittlerweile Passanten an und fragen, ob er der volltätowierte Entwicklungshelfer sei. Er war auch schon im Fernsehen. Vor kurzem hat Vaillancourts Sohn am Kiosk Klebetattoos besorgt, sich auf den Arm geklebt und seinem Vater gesagt, dass er stolz auf ihn sei. Vaillancourt hat seinem Sohn zu Weihnachten einen Computer gekauft, mit passendem Tisch. Als der Sohn das Geschenk auspackte, TAKIS WÜRGER hat er wow! gesagt. BENOIT AQUIN / POLARIS (L.); CLEMENT SABOURIN / AFP (R.)
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE
Gesellschaft
POLITIKBETRIEB
Die zerhackte Zeit
WOLFGANG RATTAY / REUTERS
Eine SMS jagt die nächste, Gipfel reiht sich an Gipfel, eine Reform folgt der anderen – die Politik beschleunigt und verdichtet sich. Kann unter diesen Bedingungen vernünftig regiert werden? Von Markus Feldenkirchen und Dirk Kurbjuweit
Bundeskanzlerin Merkel
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CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL
s ist 23 Uhr New Yorker Zeit, 5 Uhr Jetzt geht es weiter mit Pflege, mit Ge- Auto zum Hotel und schaltet ihr Telefon deutscher Zeit, als die Bundeskanz- sundheit, mit dem Euro … ein, es sucht nach einem koreanischen lerin und ihr Tross anfangen, sich Sie war in Riga, in Vilnius, in Brüssel, Mobilfunkanbieter, es sucht lange. Merseltsam zu benehmen. Sie sitzen in ei- in New York, in Seoul, in Lissabon, in kel wird ungeduldig, sie schaut ihren nem Konferenzraum des Palace Hotel Cluj, in Sofia, in Deauville und an vielen Sprecher Steffen Seibert an, der neben an der Madison Avenue und reden mit anderen Orten. Demnächst kommen Zy- ihr sitzt. Seibert kann nicht helfen. Sein Journalisten. Der Jetlag hat Angela Mer- pern, Malta, Brüssel … Handy ist ihm in Berlin auf der Fahrt zum kel um halb fünf aus dem Schlaf gerissen, Wer die Kanzlerin in dieser Zeit häufig Flughafen unbemerkt aus der Hosensie ist jetzt seit 18 Stunden auf den Bei- begleitet hat, sah sie fast immer in Eile, tasche gerutscht. nen. Es ist der 20. September, Merkel be- gehetzt von einer gnadenlosen Uhr, bei Sie sitzen schweigend im Wagen, warsucht die Uno-Vollversammlung in New ihr ist es ein Modell mit schwarzem Le- ten, dann fluchen sie über das koreaniYork. derarmband und rechteckigem Ziffern- sche Mobilfunknetz. Plötzlich, berichtet „Nach diesem Tag voller Ereignisse blatt. Ihre Zeit war und ist prall gefüllt, Seibert später, fällt ihnen selbst auf, wie und Begegnungen kommt nun der 27. und so ist es mit der Zeit aller Spitzenpo- unruhig sie die Situation macht, wie hilfProgrammpunkt“, so hat Regierungsspre- litiker wie auch der von Spitzenmanagern. los und abgeschnitten sie sich fühlen. Erst cher Steffen Seibert das Gespräch mit Das Leben hat sich beschleunigt, hat nach einer Stunde hat Merkel wieder den Journalisten eröffnet. Seitdem ist un- sich verdichtet. Mehr Ereignisse denn je Empfang. Seibert besorgt sich im Hotel gefähr eine Stunde vergangen, nun re- verlangen nach Aufmerksamkeit, jede umgehend ein koreanisches Handy. Er giert die Müdigkeit. Seibert hält sich sein Stunde, jeden Tag, jede Woche. Dafür ruft in Deutschland an und lässt sich eine Mikrofon vor den Mund und trompetet lautlos hinein. Merkels außenpolitischer Berater Christoph Heusgen ist auf seinem Stuhl eingeschlafen. Die Bundeskanzlerin zieht Grimassen. Sie muss ständig gähnen, aber sie will nicht, dass jemand sieht, dass sie gähnt. Sie hält den Mund gewaltsam geschlossen, was zu schweren Konvulsionen ihrer Gesichtsmuskulatur führt. Es sieht aus, als würde ihr Kopf von einem inneren Gewitter erschüttert. Um 23.17 Uhr, 5.17 Uhr deutscher Zeit, schaut sie verstohlen auf ihre Armbanduhr. Ihre Frisur ist zusammengesackt, sie sieht ein bisschen aus wie früher. Es kommen immer noch Fragen. Sie stützt das Kinn auf ihr Mikrofon. Wenn ein Blick würgen könnte, hätte der Mann, der sich Abgeordnete im Bundestag: „Ausgeprägte Leidenschaft für Vergleichzeitigung“ gerade umständlich zu einer Frage schlängelt, schwere Atemnot. Es gibt es im Bereich der Politik drei Gründe: Rufumleitung einrichten, auch die Mails geht um Tadschikistan, Usbekistan, Kir- Es geht um neue Kommunikationstech- werden jetzt auf sein neues Gerät geleitet. gisien. nologien wie Internet und Handy. Es geht „Ich bin wieder angeschlossen“, sagt er Seibert hat sich inzwischen eine ganze um eine verschärfte Globalisierung bei erleichtert. Ohne Handy fühlt sich ein Politiker Symphonie zusammentrompetet, Heus- gleichzeitiger Hysterisierung der nationagen war kurz wach, schläft aber wieder. len Politik. Es geht um einen gewachse- noch hilfloser als ein anderer Mensch. Für Angela Merkel sind vor allem SMS Immer noch Tadschikistan. Um 23.29 Uhr, nen Reformbedarf. 5.29 Uhr deutscher Zeit, hält es Merkel Das alles zerhackt die Zeit und frisst zu einem Steuerungsinstrument gewornicht mehr aus und beendet das Hinter- die Energien der Politiker. Auch ein Kon- den. Sie ist Junkie, manchmal sieht man, grundgespräch. rad Adenauer hatte oft einen vollen Tag, wie sie im Bundestag verstohlen auf ihr Politik ist anstrengend, Politik macht aber er hatte die Muße, sich um seine Ro- Handy blickt. Wenn ihr etwas einfällt, müde. Das galt immer, aber heute gilt es sen zu kümmern, ein Sinnbild für träge, schreibt sie rasch eine Meldung. Ihre Vermehr denn je. Denn das Tempo der Poli- gedehnte Stunden. Heute sind fast alle trauten antworten sofort. So wird mit tik hat zugelegt, die Ereignisse überschla- Stunden verstopft. Politik ist ein Beruf dem ersten Gedanken Politik gemacht, gen sich. Jede Minute eine neue SMS, am Rande der ständigen Überforderung die Zeit des Nachdenkens, des Besinnens jede Stunde eine neue Schlagzeile, jeden geworden. Das kann die Regierten durch- fällt oft weg. Anwesenheit wird mehr denn je zu eiTag ein neues Thema, alle zwei, drei Wo- aus beunruhigen. nem diffusen Begriff. Wenn das Präsidichen ein neues Land. So sah Angela MerDie rasante Technik um der CDU tagt, tippen manche auf ihr kels Alltag seit der Sommerpause aus. Sie war mit der Kernkraft befasst, mit Am 10. November reist Merkel zum G-20- Handy ein, während ein Kollege redet. Hartz IV, mit der Wehrpflicht, mit dem Gipfel nach Seoul. Elf Stunden dauert der Sie sind „Simultanten“, wie Karlheinz Euro, mit der Präimplantationsdiagnostik Flug, elf Stunden ohne Handy-Empfang. Geißler diesen Typus in dem Buch „Diund mit Dutzenden anderer Themen. Nach der Landung in Korea sitzt sie im ven, Hacker, Spekulanten – Sozialfiguren D E R
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UFFE KONGSTED / SIPA PRESS
der Gegenwart“ nennt. Simultanten, Interview ab, die Bildungsministerin von Erfolgskontrolle, da jeder Klick gezählt schreibt Geißler, zielten „auf ein weiter Rheinland-Pfalz. wird. Also reizen sie ihre Leser in kurzen zunehmendes Tempo mit den Mitteln der Als Denkler den Berliner Politikern vor Frequenzen mit Zuspitzungen, so dass Zeitverdichtung“. Sie hätten eine „aus- zehn Jahren erzählte, er arbeite für „On- der Politikbetrieb wirkt wie ein reißender geprägte Leidenschaft für die Vergleich- line“, dachten manche, er wolle ihnen ei- Fluss mit vielen Wirbeln und Stromzeitigung“. Halbwegs zuhören und eine nen Telefonanschluss verkaufen. Heute schnellen. Die Hysterisierung, die schon SMS schreiben – das ist der typische Si- sei das völlig anders, sagt er. „Die meisten durch Fernsehen und Printmedien angemultanakt der modernen Politik. Politiker sind always on.“ Als er auf der facht wird, nimmt weiter zu. Und die Zudem befriedigt das internetfähige Pressetribüne im Kunduz-Untersuchungs- Politiker stopfen sich mit all dem voll, Handy die Gier der Politiker nach Nach- ausschuss einen Live-Ticker zur Befra- auch die Bundeskanzlerin. richten. Ein Mensch, der diese Gier stillen gung schrieb, bekam er von Mitgliedern, Der Mann, der Merkel und ihre Regiesoll, ist Thorsten Denkler. die seinen Ticker während der Sitzung rung rund um die Uhr auf dem Laufenden An einem Vormittag im Dezember auf ihrem Telefon verfolgten, Kommen- hält, heißt Andreas Brücher, ein freundwollen Bildungsministerin Annette Scha- tare per Mail und SMS zugeschickt. licher Herr mit Stoppelbart und zurückvan und zwei Wissenschaftler in Berlin die Ergebnisse der neuesten Pisa-Studie vorstellen. Im Saal der Bundespressekonferenz sitzen gut 50 Journalisten mit gezücktem Stift und aufgeklapptem Block. Thorsten Denkler braucht keinen Block, er hat einen aufgeklappten Laptop auf den Knien. „Deutschland ist aufgestiegen“, sagt ein Experte vorn auf dem Podium. „Von der Champions League sind wir aber noch weit entfernt.“ Denkler tippt den Satz direkt in seinen Laptop, er schreibt meistens an Ort und Stelle, er schreibt gewissermaßen „live“. Zwischendurch googelt er schnell, wie man „League“ schreibt. An seinem Laptop klemmt ein VodafoneStick mit UMTS-Verbindung. Denkler ist eigentlich immer online. Vor zehn Jahren war er einer der ersten Online-Korrespondenten in der Hauptstadt. An diesem Morgen soll er einen kommentierenden Bericht zur Pisa-Studie schreiben. Einige Kollegen gucken streng, wenn Denkler zu laut in die Tasten haut. Während er schreibt, erreichen ihn per E-Mail und Gipfel-Teilnehmer Sarkozy und Merkel, Nachrichtenmanager Brücher: Täglich bis zu 70 Schüsse aus der Skype Anfragen aus seiner Redaktion, manche beantwortet er gleich, Denkler, ein kluger, reflektierter Jour- gekämmten Haaren. Brücher ist der Leiter zwischendurch summt in seiner Jacken- nalist, macht sich viele Gedanken zu sei- des Referats 201 des Bundespresseamtes, tasche das Handy. Dann stellt Denkler nem Job. Der Online-Journalismus, sagt genannt „Lagezentrum“, er sitzt am Ende eine Frage an die Experten auf dem er, zwinge zu schnellen, provokanten Ur- eines langen Raums mit 13 Schreibtischen, Podium, die Antwort fließt umgehend in teilen. „Nur mit steilen Thesen bekommt vielen Fernsehmonitoren und Computerseinen Text ein. man hier Aufmerksamkeit.“ Die ausge- bildschirmen. An der Wand hängen vier Um 12.05 Uhr, die Pressekonferenz ruhte politische Analyse funktioniere im Digitaluhren mit den Ortszeiten von Berläuft noch, drückt Denkler auf „Senden“, Netz einfach nicht. Wer nichts Aufregen- lin, New York, Tokio, Moskau und ein roim Anhang sein Text, in der Betreffzeile des zu bieten habe, werde gar nicht erst tes Schild mit dem Aufdruck: „Die hoch„Pisa, der Kommentar. Best, Thorsten“. angeklickt, die Konkurrenz im Internet moderne Nachrichtenzentrale“. Kurze Zeit später erscheint der Text auf sei zu groß. Unter diesen Bedingungen Brücher und seine zwölf Mitarbeiter sueddeutsche.de. arbeiten auch andere Online-Medien, werten täglich zehn NachrichtenagenAls die Pressekonferenz beendet ist, auch SPIEGEL ONLINE. turen aus, dazu die wichtigsten Fernsehhastet Denkler ins Atrium der BundesEine Tageszeitung muss den Lesern und Radiosendungen, Tageszeitungen pressekonferenz, baut ein Stativ auf, be- täglich etwas Neues bieten, ein Nachrich- und Internetseiten. Allein 4000 Agenturfestigt eine Kamera in der Größe eines tenportal mindestens stündlich. Und die meldungen erreichen das Team täglich. Handys und fängt Doris Ahnen für ein Online-Journalisten stehen unter scharfer „Ich muss immer am Puls der Zeit sein“, 44
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Brücher. Andererseits werde es nun mal so gewünscht. Mit den Jahren habe er ein gutes Gespür für das Informationsbedürfnis des jeweiligen Kanzlers und seiner Regierungssprecher entwickelt. Bei Merkel sei das sehr stark ausgeprägt. Wenn längere Zeit keine SMS verschickt wurde, kommt es vor, dass Merkel oder andere Mitglieder der Regierung im Nachrichtenzentrum anrufen und fragen, ob denn gar nichts los sei. Brüchers Leute sehen deshalb zu, dass sie in regelmäßigen Abständen etwas verschicken – auch dann, wenn es eigentlich
des Gipfels, danach 20 Minuten mit Nicolas Sarkozy, Frankreich, der seine Gattin und seinen Sohn mitgebracht hat, Küsschen links, Küsschen rechts, es folgt ein Zweiergespräch mit Nguyen Minh Triet, Vietnam, dann eine Podiumsdiskussion zu Fragen der Entwicklungshilfe, von dort hetzt sie zu einem Mittagessen mit afrikanischen Staats- und Regierungschefs, dabei sind unter anderem Hifikepunye Pohamba, Namibia, und Bethuel Pakalitha Mosisili, Lesotho, wonach Merkel zu einem Einzelgespräch Jigme Yoezer Thinley, Bhutan, trifft, anschließend Mohammed VI., Marokko, immer eine halbe Stunde, von der die Hälfte durch Übersetzungen verlorengeht, jeweils in kleinen Verschlägen, die anfangs zu bersten drohen, wenn sich die Kamerateams hineindrängen, es ist warm, laut, ein paar Leute verlieren die Nerven, brüllen, stoßen, Merkel schaut kurz in Kladden, die ihr sagen, was sie sagen soll, Themen Bhutans, Themen Marokkos, nicht zu verwechseln, bloß nicht. Sie muss pünktlich weg, es warten die Staats- und Regierungschefs kleiner Inselstaaten, darunter Anote Tong, Kiribati, und Ralph Gonsalves, St. Vincent und die Grenadinen, die alle besorgt sind, weil der Klimawandel die Meere ansteigen lässt; nach einer Stunde für die absaufenden Inseln muss sie gehen, jetzt gibt sie einen Empfang in einem anderen Saal des Palace Hotel. Der Saal ist voll, Fingerfood, Sekt, Wein, es wird warm, Schweiß unter den Kleidern und Anzügen, es ist laut, man brüllt einander diplomatische Floskeln ins Ohr, nickt Unverstandenes freundlich ab. Merkel ist da, wo das Gewühle ist, sie hält ein Glas Wein in der Hand, sprach vorhin Deutsch, danach Englisch, spricht gerade Russisch, weil sich Emomali Rachmon, Tadschikistan, zu ihr durchgearbeitet hat, ein paar Minuten für ihn, ein paar Minuten für Albert II., Monaco, für Mswati III., Swasiland, für Micheil Saakaschwili, Georgien, viele Minuten für Melinda Gates, USA, die Gattin von Bill Gates, Merkel schluckt ein erstes Gähnen weg. Gegen 22 Uhr kommt Merkel zu dem Pressegespräch, bei dem sie und ihr Tross sich bald seltsam benehmen, aber immerhin sind die Gesichter vertraut, die Namen beherrschbar, Matthias Geis, Nikolaus Blome, beide Deutschland, was am MAURICE WEISS / DER SPIEGEL
sagt Brücher, sein Lagezentrum ist jeden Tag 24 Stunden besetzt. Sie böten ihren Kunden unterschiedliche „Produkte“, sagt Brücher. Ab sieben Uhr morgens steht der „Pressespiegel“ mit einer Auswertung der Tageszeitungen und Magazine digital bereit. „Den schätzt die Kanzlerin sehr“, sagt Brücher. „Sie liest den in aller Frühe auf ihrem iPad.“ Zudem gibt es einen Online-Ticker für alle Mitglieder der Bundesregierung, der täglich rund 300 Meldungen ausspuckt. Da gehe Frau Merkel auch gern rein. Zusätzlich hat Brücher noch seinen „VIP-
„SMS-Schleuder“
Service“ im Angebot, einen SMS-Service allein für die Kanzlerin, den Regierungssprecher und einige wenige Minister. Es ist 12.38 Uhr, gerade ist die 40. SMS des Tages an Merkels Handy verschickt worden: „Westerwelle ,sehr besorgt‘ über Eskalation an koreanischer Grenze“. Die erste SMS des Tages erreichte ihr Handy um 4.03 Uhr: „Lenihan lehnt Erhöhung der irischen Unternehmensteuersätze ab“. Vor fünf Jahren, als der VIP-Dienst eingerichtet wurde, habe man vielleicht 5 SMS pro Tag rausgeschickt, sagt Brücher. Heute schieße man aus der „SMSSchleuder“ bis zu 70 Meldungen raus. „Natürlich tragen wir zur Beschleunigung des politischen Betriebs bei“, sagt
nichts Wesentliches zu vermelden gibt. „Damit die Leute nicht denken, dass wir faul sind“, sagt er. „Und damit sie nicht unruhig werden.“ An manchen Tagen denke er sich, dass es vielleicht besser wäre, sich mal in Ruhe zurückzulehnen. Nicht auf jede Meldung zu reagieren. Zu entschleunigen. Nicht diese Hektik. Brücher fuchtelt wild mit den Händen in der Luft. Aber dann traue man sich das doch nicht.
Die vernetzte Welt 20. September, New York, Merkel besucht die Uno-Versammlung in New York, es geht vor allem um Entwicklungshilfe. Ihr Programm beginnt um 9 Uhr, Eröffnung D E R
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Gesellschaft folgenden Tag anders sein wird, wenn sie, die Müdigkeit hat noch zugenommen, aufpassen muss, Gurbanguly Berdymuchammedow, Turkmenistan, nicht als Faure Essozimna Gnassingbé, Togo, anzusprechen und umgekehrt. Beide trifft sie nacheinander zu Gesprächen in den Verschlägen, dann redet sie vor der Vollversammlung, trifft Jens Stoltenberg, Norwegen, und Mahmud Abbas, Palästina, tafelt mit asiatischen Staats- und Regierungschefs, darunter Rosa Otunbajewa, Kirgisien, und Edward Natapei, Vanuatu, dann noch Hamid Karzai, Afghanistan, im Einzelgespräch, dann nimmt sie die Leo-Baeck-Medaille für Verdienste um die deutsch-jüdische Aussöhnung entgegen, und dann ist es 17.05 Uhr, und die Bundeskanzlerin beginnt ihre Rückreise, nachdem sie mit un-
Trotzdem ist Merkel auch geografisch ein Simultant. Wenn sie verreist, gilt der alte Schlager von Trude Herr: „Niemals geht man so ganz.“ Deutschland ist für Merkel immer präsent. Im November ist sie nach Korea gereist, auch 20 Journalisten aus Deutschland sind dabei. Eigentlich soll in Seoul beraten werden, wie sich die Welt besser vor den Gefahren der Finanzmärkte schützen kann. Doch gleich in die erste Gipfelnacht platzt in die Delegation eine Nachricht aus Düsseldorf, die der Reise ein anderes Thema geben wird. Das „Handelsblatt“, meldet das Lagezentrum in Berlin, werde am nächsten Morgen mit folgender Schlagzeile erscheinen: „Merkel plant Befreiungsschlag“. Dem Bericht zufolge will die Kanzlerin ihren mitgereisten Finanzminister Wolf-
Seibert, der hinter Merkel steht, lässt zu diesem Zeitpunkt schon auf allen Kanälen verbreiten, die Nachricht sei „frei erfunden“. Trotzdem gibt es später im Internationalen Pressezentrum von Seoul nur ein Thema unter den Journalisten aus Deutschland. Die meisten Korrespondenten schicken Berichte in die Heimat, in denen es um eine Kabinettsumbildung geht, die gar nicht stattfindet. Der Gipfel spielt nur eine Nebenrolle. Zwar hat sich die Politik stark globalisiert, nicht aber das Interesse der Medien. Die alte Regel, dass im Ausland nicht über innenpolitische Themen geredet wird, gilt nicht mehr. Selbst bei ihren Pressekonferenzen mit den Regierungschefs der Länder, die sie besucht, muss Merkel Fragen nach deutscher Politik beantworten. Wenn sie in Riga ist, ist sie auch in Berlin. Überall und ständig muss sie alle deutschen Themen präsent haben. Das ist die stärkste Verdichtung ihres Lebens: Sie muss sich mehr um globale Politik kümmern als ihre Vorgänger, bei gewachsener Hysterisierung des nationalen politischen Betriebs.
MAURICE WEISS / DER SPIEGEL
Die ewige Reformhatz
Online-Journalist Denkler: Klicks nur bei steilen Thesen
gefähr hundert Leuten aus buchstäblich aller Welt gesprochen hat. Merkel hat ständig solche Gipfeltreffen, Uno, EU, G 8, G 20, Europa–Asean, Europa – Südamerika und so weiter und so fort. Dazu kommen die Besuche anderer Länder, seit der Sommerpause hat sie 14 Reisen gemacht. Sie hat Hunderte Themen besprochen, alles flüchtig, alles in Eile, internationale Politik ist wie Speeddating. Man kommt, redet kurz, zieht weiter zum nächsten. Gründlichkeit ist nicht möglich. Aber die internationale Verflechtung macht dieses Tempo nötig. Ob Wirtschaftsbeziehungen, Klimawandel oder Wanderungsbewegungen – was der eine tut, wird für den anderen spürbar. Der Anteil rein nationaler Politik ist klein geworden. 46
gang Schäuble austauschen. Es ist vier Uhr Ortszeit, 20 Uhr deutscher Zeit, an Schlaf ist nicht mehr zu denken. Seibert sucht auf seinem iPad auf der Internetseite des „Handelsblatts“, findet aber nichts. Später bekommt er die Titelseite per E-Paper zugeschickt. Am Freitagmorgen gegen 8.30 Uhr Ortszeit, 0.30 Uhr deutscher Zeit, kommt es im Frühstücksraum des Hotels Ritz-Carlton in Seoul zu einer bizarren Szene. Die Kanzlerin durchkreuzt den Saal und bleibt am Tisch einiger Journalisten stehen. Wie es bitte schön zu so einem „Scheiß“ kommen könne, will Merkel wissen. Die Journalisten zucken mit den Schultern – keiner von ihnen arbeitet für das „Handelsblatt“. Von einer Kabinettsumbildung müsse sie als Kanzlerin ja eigentlich etwas wissen. Sie wisse aber nichts davon. D E R
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An einem verregneten Dienstagmorgen stürzt der Abgeordnete Karl Lauterbach (SPD) um 7.33 Uhr aus einem Hauseingang am Prenzlauer Berg, hinein in einen pickepackevollen Tag. „Heute wird Angriff gespielt“, sagt Lauterbach; „Angriff mit Terminhetze.“ Das Taxi wartet auf der anderen Straßenseite. Auf der Rückbank zieht Lauterbach sein iPad aus der Tasche und schaltet es ein. Am Vortag habe er seinen „Pressetag“ gehabt, sagt er. Er hat unzählige Journalisten angerufen, um ihnen seine Sicht auf das neue Arzneimittelgesetz von Gesundheitsminister Rösler zu schildern. Heute sollen die Fraktionen und Gremien über das Vorhaben beraten. „Mein Spin war: Pharmaindustrie setzt sich erneut gegen Rösler durch.“ Lauterbach drückt den Einschaltknopf seines iPad. „Mal schauen, ob es gezündet hat.“ Er hat einen Google Alert eingerichtet, die Suchmaschine informiert ihn, sobald sie Berichte zu seinen Themen gefunden hat. Er nickt zufrieden. Viele Artikel, fast alle haben den Spin übernommen. Das Taxi ist auf Höhe Friedrichstraße/ Unter den Linden angelangt. Das iPad noch auf den Knien, zieht Lauterbach nun sein iPhone aus der Jackentasche. „Ich muss mal den Vorsitzenden kontaktieren.“ Sigmar Gabriel nimmt an diesem Vormittag an einer Veranstaltung des Deutschen Gewerkschaftsbundes teil, Lauterbach will ihm vorher noch eine Botschaft zur Gesundheitspolitik zukommen lassen. Er tippt eine SMS. Zwei Minuten später hat Gabriel geantwortet. In seinem Büro im Jakob-Kaiser-Haus angekommen, lässt sich Lauterbach „vom
Gesellschaft
MAURICE WEISS / DER SPIEGEL
Olaf“, seinem Mitarbeiter, im Türrahmen chen Zeit, wenn das sauber erarbeitet die Gesetze anzupassen. China und Ineine dicke Mappe in die Hand drücken: sein soll. Wir schaffen das leider nicht dien wachsen rasant und beschleunigen „Hier ist dein ganzer Tag drin, Karl.“ mehr, den Grünen zuvorzukommen.“ den Klimawandel. Die Politik muss es In seinem Büro stehen ein Fitness- Dann entschuldigt er sich, er müsse los, richten. Im Internet hat sich eine Öffentergometer und ein Gerät zum Training der nächste Termin. „Immer wird der lichkeit gebildet, die keine Grenzen akder Koordination, eine Platte, unter der Schnellschuss gewünscht“, klagt Lauter- zeptieren will. Die Politik muss sich drum sich eine Kugel befindet. „Sie sind dann bach vor der Tür. „Der Druck zur Schnel- kümmern. Die Finanzindustrie entwickelt gut, wenn Sie auf dieser Platte auf einem ligkeit steigt. Leider.“ ständig neue Produkte, die hohe Risiken Bein stehend balancieren können, Ihrem Drei Besprechungen, eine Fraktions- bergen. Die Politik muss auf der Hut sein. Gegner in die Augen sehen und dabei sitzung, eine Podiumsdiskussion und ein Es ist der Findungsgeist des Menschen, gleichzeitig treten und schlagen können“, Treffen der NRW-Landesgruppe später gepaart mit ökonomischer Gier, der den sagt Lauterbach. Es ist die hohe Kunst sitzt er wieder im Taxi, auf dem Weg zu Politikern das Tempo diktiert. des Multitasking, es klingt wie das An- seiner Wohnung. Es sei ein guter Tag geEr sei skeptisch, ob das Zeitalter der forderungsprofil an einen modernen wesen, sagt er. „Viel Arbeit nach innen Demokratie den Herausforderungen der Politiker, der vieles gleichzeitig machen heute.“ Kommuniziert habe er vergleichs- modernen Welt zeitlich noch gewachmuss. Lauterbach steigt auf die Platte, weise wenig. Er befragt sein iPhone für sen sei, sagt der Zeitforscher Hartmut fixiert sein Gegenüber, tritt Rosa, der mehrere Bücher und schlägt in die Luft, steigt über das Phänomen der ab und klatscht in die Hände. Beschleunigung geschrieben „Funktioniert noch.“ Die Behat. „Demokratische Willenssprechung kann beginnen. bildung scheint per se zu Im Restaurant des Bundeslangsam zu sein, um mit der tags warten sechs Genossen Dynamisierung gesellschaftauf Lauterbach, die Sprecher licher Verhältnisse Schritt zu des Bereichs Sozialpolitik. halten.“ Sie wollen sich abstimmen, Rosa erkennt eine Dynagemeinsame Sprachregelunmisierung aller Lebensbereigen finden. Danach hastet er che. Dazu gehöre auch die hinüber in die Parlamentari„Repositionierung des Wähsche Gesellschaft. Er soll ein lers“, also dessen viel schnelReferat über Röslers Pläne ler schwankende Meinungen halten, eingeladen hat die und Präferenzen. So hechle Parlamentarische Linke, die der Politiker von heute gleich linken Abgeordneten in der zwei Phänomenen hinterher: SPD-Fraktion. Die meisten den rasenden globalen Entkommen noch später als Lauwicklungen und der Sprungterbach, die Tür springt auf haftigkeit derer, die ihn und zu, während er vorträgt, wählen sollen. Die Politik es herrscht Unruhe im Saal. müsse heutzutage ständig auf Dabei soll die Veranstaltung Stimmungsschwankungen eine der wenigen Inseln der und neue Empörungswellen Konzentration im parlamender Bevölkerung reagieren. tarischen Alltag sein. Statt „Diese Wellen kommen imzuzuhören, spielen die meismer dichter aufeinander“, ten auf oder unter dem Tisch sagt Rosa. mit ihrem Handy. Die Demokratie ist mehr Nach Lauterbachs Vortrag und mehr zu einem System geworden, das von seinen Aksagt Ernst Dieter Rossmann, teuren übermenschliche Ander Chef der Parlamentaristrengungen verlangt. Eine schen Linken: „Ich muss geAlternative gibt es allerdings stehen, bei der Gesundheit Gesundheitspolitiker Lauterbach: Auf einem Bein balancieren nicht. Man kann ja nicht die bin ich nicht sprechfähig. Ich weiß nicht, ob es euch auch so geht, aber die Bilanz. 20 Leuten hat er eine SMS ge- Diktatur einführen, um der Beschleunigung und Verdichtung zu entkommen. mir ist das irgendwie zu kompliziert.“ Er schickt, dazu 32 Telefonate. schaut in die Runde, viele nicken. „Karl, Als Gesundheitspolitiker ist Lauterwir bräuchten zwei bis drei Fälle, um das, bach einem besonders hohen Tempo aus- Der überforderte Mensch was der Rösler macht, konkret zu skan- gesetzt. Wenn eine Gesundheitsreform Als Hans-Jochen Vogel noch große Politik dalisieren, um zu zeigen, dass das un- abgeschlossen ist, beginnt schon das machte, gab es keine Handys, keine Esozial ist.“ Lauterbach verspricht, in den Nachdenken über die nächste. Die Ge- Mails, nicht mal das Internet. „Wir vernächsten Tagen ein Papier zu verschi- sundheitspolitik ist getrieben von der fügten über einen Fernschreiber und ein cken. „Mit schönen Beispielen für euch.“ technologischen Entwicklung. Ständig Festnetztelefon“, sagt Vogel. „Das funkWann denn eigentlich das neue Ge- werden neue Medikamente und Apparate tionierte wunderbar.“ Vogel war in den siebziger Jahren Bunsundheitskonzept der SPD endlich fertig erfunden, die alles teurer machen, wähsei, will eine Abgeordnete wissen. Sie rend gleichzeitig die Bevölkerung älter desjustizminister unter Kanzler Helmut habe nämlich gehört, dass die Grünen und damit krankheitsanfälliger wird. Des- Schmidt, später viele Jahre Partei- und schon bald mit ihrem eigenen Konzept halb muss es häufig neue Regeln geben, Fraktionschef der SPD. Er sitzt im Speisesaal der Münchner rauskommen würden. damit das System finanzierbar bleibt. Das Grünen-Konzept sei ein SchnellDie Welt dreht sich immer schneller, Seniorenresidenz „Augustinum“, vor sich schuss, antwortet Lauterbach. „Wir brau- und die Politik kommt kaum nach damit, einen Cappuccino. Vor fast fünf Jahren 48
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Gesellschaft Die Medienlandschaft war zu Vogels Zeiten ebenfalls eine andere. Man hatte drei Fernsehprogramme, das Erste, das Zweite und das Dritte. Dazu Tageszeitungen, ein paar Magazine. Auch er reagierte hin und wieder, wenn er fand, dass Helmut Kohl etwas Unsinniges von sich gegeben habe. Aber er tat es nicht innerhalb weniger Minuten, er wartete bis zum nächsten Tag und schrieb eine Pressemeldung. Es sei ein Wahnsinn, in welchem Tempo die Politiker heute Entschlüsse wie zum Euro-Rettungsschirm fassen müssten, sagt er. „Früher wäre das ein Prozess von Monaten, vielleicht Jahren gewesen.“ Sind die Politiker von heute deshalb überfordert mit ihren Aufgaben? Das ist eine Frage an Gerhard Roth. Er ist Hirnforscher an der Universität
denke, dessen Großhirnrinde verbrauche ungeheuer viel Zucker und Sauerstoff. „Deshalb versucht unser Hirn, möglichst wenig nachzudenken und alles Mögliche zu automatisieren. Das ist billiger.“ Es gebe einen entscheidenden Faktor dafür, ob der Mensch gute oder schlechte Entscheidungen treffe, sagt Roth: Wurde die Entscheidung unter Zeitdruck gefällt oder nicht? Entscheidungen unter Zeitdruck seien nur dann gut, wenn es sich um Routineentscheidungen handle. Entscheidungen, die Nachdenken und Kreativität erforderten, gingen unter Zeitdruck „fast immer in die Hose“. Die besten Entscheider in Politik und Wirtschaft seien jene, die selbst in Stresssituationen ruhig Blut bewahrten. Hirnforscher Roth rät Politikern, sich Zeit zum Denken zu nehmen, egal wie stressig die
WOLFGANG KUMM / PICTURE ALLIANCE / DPA
MARTIN ATHENSTÄDT / PICTURE-ALLIANCE/ DPA
ist er mit seiner Frau hierher gezogen. Von den Nachbartischen nicken andere Senioren herüber, freundlich die meisten, manche ehrfürchtig. Vogel, kurze graue Haare, ist der bestgekleidete Mann im Saal, er trägt Hemd, Krawatte, Sakko. Vogel hat bis heute kein Internet, kein Handy, hat noch nie eine E-Mail geschrieben. Er hat einen Festanschluss der Deutschen Telekom und ein Faxgerät. Wenn er jemandem etwas schriftlich mitteilen möchte, diktiert er den Inhalt des Schreibens auf ein Band, schickt das Band zu seiner Sekretärin nach Bonn, die es abtippt und als Brief an den Empfänger schickt. Er habe damals auch 15 bis 16 Stunden am Tag gearbeitet, sagt Vogel, man sei ja nicht faul gewesen. Und trotzdem sei es etwas anderes gewesen, Politik zu machen. „Es war alles weniger hek-
Aktenbearbeiter Vogel 1983, iPad-Nutzerin Merkel: „Die muss doch leiden“
tisch. Es war geordneter.“ Vogel war immer ein Freund der Ordnung, er war berühmt für seine Klarsichthüllen. „Schon der Gedanke, dass jemand eine Sitzung kurz verlässt, um draußen ein Telefonat zu führen, war mir befremdlich“, sagt Vogel. „Dass die Leute heutzutage, wie zu lesen war, sogar aus den Sitzungen heraus E-Mails und SMS schreiben, ist für mich unfassbar. Das zerstreut doch jede Aufmerksamkeit.“ Das Wort „unfassbar“ ist ihm ein wenig laut geraten, vom Nebentisch blicken die Senioren herüber. „Wenn ich heute noch einem solchen Gremium vorsäße, müsste jeder sein Handy und seine SMS ausschalten. Wie soll man sonst miteinander beraten?“ Wenn er lese, dass die Bundeskanzlerin unter dem Tisch SMS lese und schreibe, könne er das nicht verstehen. „Die muss doch leiden, sie muss reden, zuhören, simsen, und all das gleichzeitig. Das geht doch nicht, das ist doch furchtbar.“
Bremen, einer der renommiertesten in Deutschland. Herrsche Zeitdruck, sagt Roth, werde im Hirn Noradrenalin ausgeschüttet. Dieses Hormon aktiviert die Muskeltätigkeit, erhöht die Wachsamkeit und sorgt dafür, dass das Denken ausgeschaltet wird. Für wilde Tiere in der freien Wildbahn ist dies das richtige, lebensrettende Programm. Aber für Spitzenpolitiker? Wie das gestresste Tier reagiere auch der gestresste Mensch mit Wegrennen, Zuschlagen oder Erstarren. Letzteres, das Nichtstun, sei die typischste Reaktion auf Überforderung. Als der Diktator Josef Stalin im Juni 1941 vom Überfall HitlerDeutschlands überrascht wurde, verschwand er für ein paar Wochen in der Versenkung. „Unser Gehirn scheut das Denken, weil es eine wahnsinnig energieraubende Tätigkeit ist“, sagt Roth, ein Mann mit Dreitagebart und dunklem Anzug. Wer nachD E R
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Situation sei, und sei es nur für 30 Sekunden. Ebenso problematisch für die Arbeit des Gehirns sei es, wenn es mit ständig neuen Reizen konfrontiert werde, in schneller Abfolge oder gar gleichzeitig. „Wir Menschen können nicht mehr als einem Gedanken gleichzeitig nachgehen“, sagt Roth. Ein Politiker, der in dichter Abfolge oder zeitgleich mit immer neuen Anliegen, Gesprächen, Nachrichten oder Informationen konfrontiert werde, könne kein guter Politiker sein. „Wenn zu viel auf einmal auf ein Gehirn einwirkt, muss sein Besitzer komprimieren und entschleunigen“, sagt Roth. „Sonst gibt es einen Gehirnstau. Eine Denkblockade.“ Auch die Gleichzeitigkeit von kleineren Problemen, eine gewisse Grundnervosität also, könne Menschen in Panik versetzen und das Ausschütten von Noradrenalin im Hirn bewirken, jenem 51
Gesellschaft urlaub gesehnt hat. Die Genauigkeit ging verloren, Merkel winkte manches durch, von dem sie schon wusste, dass es nicht richtig ist, zum Beispiel die Hotelsache. So wurde der Koalitionsvertrag, das grundlegende Werk der Regierungspolitik, zu einer Ausgeburt der Müdigkeit. Der Herbst 2010 war ebenfalls eine Zeit der Pannen. Die Bundesregierung präsentierte den Kompromiss zur Kernkraft so schlampig, dass der Eindruck aufkam, er sei von zahlreichen Geheimabsprachen begleitet. Dann schaffte die Bundesregierung die Wehrpflicht praktisch ab, auch um Geld zu sparen, musste bald aber feststellen, dass dadurch viel weniger gespart wird als erwartet. Man kann durchaus den Eindruck haben, dass hier Unausgeschlafene am Werk waren. Hat Merkel überhaupt einmal Zeit und Muße nachzudenken? An Weihnachten, sagt sie, oder an Ostern, ganz selten mal am Wochenende, dann könne sie auch mal was lesen. Aber nach diesen kurzen Zeiten der Besinnung mahlt schon wieder die rasende Mühle der Politik. Es sei denn, das Handy hat keinen Empfang. Dann gibt es plötzlich etwas ganz Rares, Kostbares: Muße. Als Merkel und Seibert abgeschnitten von der Welt durch Seoul fuhren, konnten sie nichts anderes machen, als aus dem Fenster zu schauen. „War auch mal interessant“, sagt Seibert.
JOHN THYS / AFP
JÖRG SARBACH
Stoff, der das Denken ausschaltet. Das klingt nicht gut. Das klingt, als sei die Politik in den Zeiten von Beschleunigung und Verdichtung schlechter, als sie sein müsste. Aber wie kommt man da raus? Das Tempo diktiert nicht die Politik, sondern die Technologie. Weniger aufs Handy schauen? Angela Merkel findet nicht, dass das gehe. Sie könne es sich als Bundeskanzlerin nicht leisten, die vielen Nachrichten, die auf sie einströmten, zu ignorieren, sagt die Kanzlerin. Sie müsse den ganzen Tag rea- Hirnforscher Roth: Der Mensch scheut das Denken gieren. Es gebe in der Politik die kurzfristigen Ausschläge der Erre- wieder hervor und stricke die nächsten gung, Merkels Hand malt zackige Linien Maschen. Man dürfe bei aller Hektik nur in die Luft, wie eine Herzfrequenzkurve. nicht vergessen, dass es da noch ein langDie Ausschläge würden mit der Zeit im- fristiges Projekt in der Schublade gebe. mer drastischer, immer verrückter, so Aber diese Hektik hat Folgen. Zum komme es ihr jedenfalls vor. Beispiel war Angela Merkel zu müde für Dazu gebe es die langen Linien in der gute Politik, als sie Ende 2009 den KoaliPolitik, die langfristigen Ziele – ihre Hand tionsvertrag aushandelte. Dieser Vertrag malt jetzt eine seicht ansteigende Schrä- war die Grundlage für das Regierungsge. Wenn man ständig auf etwas ver- desaster, das folgte. Er enthielt absurde meintlich Bedeutendes reagieren müsse, Vorhaben, zum Beispiel den ermäßigfalle es leider schwerer, an den großen ten Mehrwertsteuersatz für Hotels, und politischen Vorhaben zu arbeiten. er enthielt so viel Unausgegorenes, Sie denkt kurz nach, sagt dann: Es sei, Schwammiges, dass sich danach Union als wolle sie einen Pullover stricken. Sie und FDP tief zerstritten, zum Beispiel fange an, stricke ein paar Maschen, dann über die Steuerpolitik. komme irgendetwas Aktuelles dazwiMerkel hat Anfang 2010 selbst gesagt, schen, in ihrem Fall eine beunruhigende dass dieser Koalitionsvertrag kein MeisNachricht, ein Krisengipfel, eine Medien- terwerk war. Sie hat auch gesagt, dass sie hysterie. Dann lande das Strickzeug in müde war, erschöpft nach einem harten der Schublade. Irgendwann hole sie es Jahr, dass sie sich nach ihrem Weihnachts-
Politikerin Merkel, Journalisten: Regieren ist wie Stricken
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Der liebe Muslim Ortstermin: In Freiburg will ein Verleger Deutschlands Integrationsprobleme mit Kinderbüchern lindern.
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er wollte ein gründlicher Kritiker sein. Sein Bauch krampfte beim Lesen, sagt er, er legt seine Hände auf seine Weste, in Magenhöhe. Mich gibt es ja gar nicht in diesem Buch, sagt er. In Kabul leitete sein Vater die deutschafghanische Schule, seine Mutter war Zahnärztin, besonders religiös war die Familie nicht. Nicht religiös genug für die Mudschahidin. Milad Karimi war 13, als die Familie floh, über Indien, Moskau, Kasachstan, er war 15, als sie in Deutschland ankam. Asylbewerber waren sie jetzt, zogen von Heim zu Heim. Milad ging auf die Hauptschule, die Berufsfachschule, die Realschule, machte Abitur und bekam ein Stipendium von der Studienstiftung des deutschen Volkes. Er studierte Mathematik und Philosophie, zog nach Freiburg, „wegen Heidegger“. Mit dem Islam hatte er nicht viel zu tun, auf der Flucht war sein Glaube schwach geworden. Am 11. September 2001 fand er zum Glauben zurück. Karimi war auf einer Tagung der Studienstiftung, es ging um die Ästhetik des Koran. Die Anschläge in New York verstand er so wenig wie die anderen Studenten, aber er sollte ihnen erklären, was er fühlte, als die Türme einstürzten. Lesen, lernen, so lief Karimis Integration, manchmal wundert er sich darüber, dass alles so glattging, es klingt, als könne das jedes Kind schaffen. Es klingt ziemlich deutsch. „Das Kind muss zum Buch!“, ruft Karimi quer durch sein Büro. Dann läuft er aus dem Verlag, Freiburg liegt dunkel und still, von Bergen umgeben, wie Kabul, sagt Karimi. Am Bahnhof zeigt eine Tafel die Belastung der Luft mit Schadstoffen, fast alle Werte stehen auf null. Karimi lebt in einem deutschen Idyll, grün regiert. Die Frage ist, wie seine Bücher zu den Kindern kommen, die sie brauchen, nach Berlin-Neukölln, nach Hamburg-Wilhelmsburg, zu den türkischen Eltern, die kaum lesen, schon gar nicht auf Deutsch. Er plant, eine Tour zu machen, um für die Bücher zu werben, von Dönerbude WIEBKE HOLLERSEN zu Dönerbude. FOTOS: ANDREE KAISER / DER SPIEGEL
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hmad Milad Karimi singt, er steht komme bei den Eltern besonders gut an. in seinem Büro in Freiburg, mit Auf dem Cover schaut ein Junge in einem geschlossenen Augen, seine linke hochgeknöpftem Hemd unter einem ReHand springt vor seinem Oberkörper auf genbogen hervor, im Buch fragt Hassan und ab, er singt „la-la-la-na, la-la-la-na“ den Mond, warum seine Eltern nach Mekim Rhythmus des Koran, im Rhythmus ka reisen. Es ist ein braves Buch, Hassans einer Sure, „klingt fast wie HipHop, Mutter backt, der Vater geht in die Mooder?“, fragt Karimi. schee, Hassan spielt mit Peter. Er hat die Augen wieder geöffnet. HipEine Deutsche, die zum Islam übergeHop ist ein Wort, das nicht zu Karimi treten ist, habe das Buch geschrieben, passt. Karimi trägt Anzughose, eine Weste über dem Hemd, Sakko und Krawattenschal, alles sitzt exakt. Auf seinem Schreibtisch: 20 weiße Bücher, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, die Theorie-Werkausgabe von Suhrkamp. An der Wand stehen Kisten mit anderen, mit bunten Büchern, sie heißen „Der kleine Hassan“ oder „Arabisch lernen mit Simsim“. Karimi gibt Kinderbücher heraus. Die Bücher sind die ersten Titel des Salam-Verlags, Salam wie Frieden, den Karimi gegründet hat. Die Bücher erklären Kindern den Islam in deutscher Sprache oder das arabische Alphabet. Karimi ist 31, er kam als Flüchtlingskind aus Afghanistan. Jetzt arbeitet er an seiner Promotion, er hat den Koran in poetisches Deutsch übersetzt, und er schreibt Gedichte. Im Herbst war Karimi auf der Buchmesse in Frankfurt, um seinen Verlag vorzustellen, auf der Messe sah er Thilo Sarrazin, dessen Buch gerade erschienen war. Wie Sarrazin hatte auch Karimi seit einiger Zeit das Gefühl, dass es um die Integration der Muslime in Deutsch- Verlagsleiter Karimi: „Das Kind muss zum Buch“ land nicht zum Besten steht, wie Sarrazin interessiert sich auch Karimi vor sagt Karimi. Andere Salam-Bücher seien wilder. Demnächst soll es Bücher für allem für die Kinder der Muslime. Für Sarrazin sind diese Kinder ein Pro- Mädchen geben. Karimi verteidigt sich, blem. Für Karimi sind sie ein Schatz. Sar- bevor man ihn angreifen kann. Bevor er razin möchte, dass nicht mehr so viele das erste Buch produzierte, berief er eimuslimische Kinder in Deutschland ge- nen Verlagsbeirat: Rafik Schami ist dabei, boren werden. Karimi möchte, dass die deutscher Schriftsteller aus Syrien, „ein Kinder ihre Religion verstehen, den Islam, Christ, wie Sie wissen“, ein Islamwissenund ihre Sprache, Deutsch. Er glaubt, schaftler, ein Menschenrechtler aus Wien dass sie dann keine Probleme machen. und eine Deutsch-Marokkanerin, die ein Karimi wünscht sich auch Imame, die Ril- multikulturelles Frauenmagazin herauske und Hegel gelesen haben, aber er ahnt, gibt. Es wirkt ein wenig, als wolle er sich absichern gegen Vorwürfe. dass das noch dauern wird. Karimi las das Buch von Sarrazin, das Er stapelt die bunten Bücher auf dem Besprechungstisch. „Der kleine Hassan“ ganze Buch, für eine Podiumsdiskussion,
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Trends KONZE RNE
Neue Klage gegen Porsche D
CHRISTIAN JABLINSKI / KEYSTONE
ie versuchte Übernahme des VWKonzerns hat für Porsche ein weiteres juristisches Nachspiel: Christoph von Arnim von der Berliner Anwaltskanzlei FPS hat beim Landgericht Stuttgart Klage gegen Porsche und die Maple Bank eingereicht. Die Maple Bank hatte für Porsche während der Übernahme VW-Aktienoptionen geund verkauft. Der Anwalt fordert für einen Mandanten Schadensersatz in Höhe von 3,1 Millionen Euro. So viel Geld habe sein Klient im Jahr 2008 durch den Kauf und Verkauf von VWAktienoptionen verloren. Der Anleger war wie viele Analysten davon ausgegangen, die VW-Aktie sei über- Porsche-Produktion in Stuttgart bewertet. Er habe, heißt es in der Klage, auch auf die öffentlichen Erklärungen von Porsche ver- getäuscht“. Ein Versuch, sich außergerichtlich mit Porsche traut, dass der Sportwagenhersteller nicht 75 Prozent von zu einigen, war zuvor gescheitert. Porsche betont, das UnVW erwerben wolle, und auf sinkende VW-Kurse gesetzt. ternehmen habe seine Entscheidungen zur VW-Übernahme Porsche habe ihn „bewusst über die Übernahmeabsichten stets korrekt kommuniziert.
Wunderkind am Scheideweg
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eim Potsdamer Mode-Label Wunderkind musste in den vergangenen Wochen ein Teil der Belegschaft gehen, nun soll eine neue Firmenstrategie die Wende bringen: Man wolle „das klassische Fashion-System verlassen“, heißt es intern. Künftig sollen die Kollektionen nur noch in eigenen Boutiquen verkauft werden. Darauf einigten sich am Freitag die beiden Wunderkind-Gesellschafter, der Designer Wolfgang Joop und das Investoren-Ehepaar Hans-Joachim und Gisa Sander, die dem Vernehmen nach aktuell je 50 Prozent der Anteile halten. Zuletzt war es immer wieder zu Verstimmungen gekommen. Joop mahnte vereinbarte Investitionen an, die Wella-Miterben Sander schauten vor allem auf Umsätze und Renditen. Nach Ansicht von Firmen-Insidern ist „das Schicksal der Firma völlig offen und wird sich erst in den nächsten Monaten entscheiden“, eine Abwicklung stehe aktuell nicht zur Diskussion. Immerhin gebe es eine Reihe von Investoren aus dem In- und Ausland, die als 56
dritter Partner bei der Marke einsteigen wollen. Der Designer selbst will sich bei Wunderkind künftig noch stärker auf seine künstlerische Arbeit konzentrieren. Aufgrund der internen Streitigkeiten dürfte es im Frühjahr keine große Fashionshow mehr geben. Neue Wunderkind-Roben gehen nur noch an die eigenen Geschäfte. Der Firmensitz wird von Potsdam nach Berlin verlegt.
PHARMA-INDUSTRIE
Personalabbau und Chefwechsel bei Abbott
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KLAUS PRIMKE / ACTION PRESS
MODE
Joop mit Mannequins D E R
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er Pharmakonzern Abbott steht in Deutschland vor großen Änderungen: Dieses Jahr will das Unternehmen mehr als zehn Prozent seiner rund 5000 Jobs abbauen. Rund 270 Stellen fallen am Standort Rangendingen bei Tübingen weg, der geschlossen werden soll. Weitere 290 Stellen sollen bei der im vergangenen Jahr von Solvay übernommenen Pharmasparte abgebaut werden. Das bestätigte eine Abbott-Sprecherin auf Anfrage. In diesen Tagen wechselt zudem der bisherige Geschäftsführer von Abbott Deutschland, Wulff-Erik von Borcke, als Manager zum US-Mutterkonzern nach Chicago. Als neuer Chef kommt Alexander Würfel aus Schweden nach Deutschland. Erfolgreich ist Abbott vor allem mit dem Rheumamedikament Humira, das in Deutschland auf Platz eins der umsatzstärksten Medikamente steht. Die Krankenkassen gaben allein dafür 2009 mehr als 400 Millionen Euro aus – in Schweden ist das Präparat übrigens 40 Prozent billiger.
Wirtschaft „Völlig verkorkst“ Markus Söder, 44, bayerischer Gesundheitsminister (CSU), über das Versagen der ärztlichen Selbstverwaltung
FRANK HOERMANN / SVEN SIMON / DPA
SPIEGEL: Sie sind unzufrieden mit der Arbeit der Kassenärztlichen Vereinigungen, also der Selbstverwaltung der niedergelassenen Mediziner. Warum? Söder: Die Selbstverwaltung stößt bei ihren wichtigsten Aufgaben immer wieder an Grenzen. Vor allem die selbstgemachten Honorarreformen haben den Unmut an der Basis der Ärzteschaft geschürt. Zu Recht. Deshalb brauchen wir da endlich eine Neuausrichtung. SPIEGEL: Wie soll die aussehen? Söder: Die Bundesregierung sollte die Rahmenbedingungen für Honorare durch Rechtsverordnung festlegen können. Dabei würden natürlich die verschiedenen Arztgruppen gehört.
Söder
EURO-KRISE
Trichet blitzt bei CSU ab
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ie CSU hält auch nach dem Auftritt des Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB) Jean-Claude Trichet in Wildbad Kreuth an ihrer Kritik am Aufkauf von Staatsanleihen durch die Notenbank fest. „Herr Trichet hat unsere Bedenken nicht ausräumen können“, sagt CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt. Trichet sah sich bei dem internen Treff der CSU-Landesgruppe am vergangenen Freitag zum Teil heftiger Kritik ausgesetzt. Um den Druck der Finanzmärkte auf Krisenstaaten wie Griechenland und Irland zu lindern, hatte die EZB seit Mai Staatsanleihen in Höhe von 73,5 Milliarden Euro aufgekauft. Kritiker geißeln dies als indirekte Finanzierung für Staaten mit maroden Haushalten. Mehrere CSU-Abgeordnete, darunter Peter Gauweiler, bezweifelten gegenüber Trichet zudem, dass es für den umstrittenen Ankauf eine D E R
SPIEGEL: Warum sollte der Staat das besser können als die Ärzte selbst? Söder: Bei der privaten Krankenversicherung funktioniert es ja auch. Im Gegensatz zu den letzten Honorarreformen, die von der Selbstverwaltung völlig verkorkst wurden. Es kam zu totalen Verwerfungen innerhalb der Ärzteschaft, zum Beispiel wurden die Orthopäden benachteiligt. SPIEGEL: Sind die Funktionäre bei den Kassenärztlichen Vereinigungen nicht kompetent genug? Söder: Viele Vorstände in der Selbstverwaltung sind hervorragende Mediziner, aber besitzen wenig Erfahrung und Rechtskenntnis im Management von großen Institutionen. Wer sich für ein Vorstandsamt bewirbt, sollte im Zuge einer Ausschreibung ausreichende Management- und Verwaltungserfahrung nachweisen. Viele Entscheidungen in den Kassenärztlichen Vereinigungen sind zudem zu intransparent und werden häufig nicht verstanden. SPIEGEL: Konkreter bitte! Söder: Es darf zum Beispiel nicht sein, dass Vorstandsmitglieder zusätzliche Honorare für Sonderaufgaben erhalten, ohne dass diese Beträge veröffentlicht werden. Da braucht es mehr Transparenz. Die niedergelassenen Ärzte überweisen jeden Monat ihre Beiträge an die Selbstverwaltung. Dieses Geld sollte in erster Linie auch der Basis der Ärzteschaft zugute kommen.
Rechtsgrundlage gebe. Trichet verteidigte das Vorgehen der Zentralbank. Es gebe keinen direkten Kauf von Staatsanleihen, die Bank erwerbe diese vielmehr auf dem Zweitmarkt. Der EZB-Rat sei dabei seinen eigenen Überzeugungen gefolgt, es habe keine Beeinflussung seitens der Politik gegeben. Er wisse gar nicht, wie die CSU darauf käme, dass Druck auf die Bank ausgeübt worden sei, sagte Trichet.
CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL
GESUNDHEIT
Trichet
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Wirtschaft
BayernLB-Vorstand Gribkowsky, Rennsport-Manager Ecclestone beim Grand Prix von Ungarn 2005 „Die Formel 1 bin ich“
ARTHUR THILL / ATP
A F FÄ R E N
Bernies Peanuts Ein ehemaliger bayerischer Staatsbanker soll eine dubiose Prämie von 50 Millionen Dollar kassiert haben. Ein Fall von Steuerhinterziehung oder gar Korruption im großen Stil? Der Skandal wirft vor allem ein Schlaglicht auf die undurchsichtigste Sportbranche der Welt: die Formel 1.
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s dürfte nur wenige Geschichten geben, in denen zugleich Adolf Hitler und ein kleiner britischer Despot, ein ehemaliger bayerischer Bankenvorstand, Boxenluder aus der Formel 1 und eine geheimnisvolle 50-Millionen-DollarÜberweisung mitspielen. Vielleicht ist dies hier überhaupt die einzige. Am Mittwoch vergangener Woche wurde Gerhard Gribkowsky, ein ehemaliger Vorstand der Bayerischen Landesbank, 58
verhaftet. Von Weggefährten wird der jungen Freundinnen. Er lebt in einer Villa 52-Jährige als hochintelligent beschrie- im Münchner Vorort Grünwald. Nun sitzt ben, als selbstbewusst, als ein Mann, der er allerdings in der Justizvollzugsanstalt andere gern spüren lässt, wie weit er sich Stadelheim ein. ihnen überlegen fühlt. Es geht um 50 Millionen Dollar, die aus Der Jurist hat Karriere bei der Deut- den Steuersparparadiesen British Virgin schen Bank gemacht, war Risikovorstand Islands und Mauritius in zwei Tranchen der BayernLB und machte sich Hoffnun- den Weg zu einer österreichischen Privatgen auf den Chefposten dort. Ein Lebe- stiftung namens „Sonnenschein“ in Salzmann soll Gribkowsky sein mit einem ge- burg gefunden haben. Deren Zweck ist wissen Hang zu Havanna-Zigarren und „die Versorgung des Stifters und der BeD E R
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BayernLB-Zentrale in München
SCHULZ / IMAGO
Durch Zufall in den Motorsport geraten
Milliardenzirkus Formel 1 Gesamtumsatz 2009, in Mio. Dollar Team-Betreiber, -Sponsoren ...... 1900
Holding Delta Topco Anteilseigner:
Ticketverkauf* ........................... 483 Fernsehrechte ........................... 450 Antrittsgelder ........................... 448 Öffentliche Subventionen*......... 300 Werbung an der Rennstrecke* ... 266
CVC
Ecclestone
Finanzinvestor
63,4 %
VIP-Club .................................... 130
und
13,8 % Familienholding
18,4% Banken
Andere ....................................... 700
4,7
* von 2008
Gesamt: Mrd. Dollar
günstigten“. Stifter ist der Banker Gribkowsky. Doch von wem und wofür hat er all das Geld erhalten? Gribkowsky und sein Anwalt wollen die Frage nicht beantworten. Die Staatsanwaltschaft München glaubt allerdings, das Geld sei im Zusammenhang mit einem ganz besonderen Firmenverkauf geflossen. Die BayernLB war eher durch Zufall Mehrheitseigentümer des globalen Multimilliardenspektakels Formel 1 geworden (siehe Grafik). Sie hatte dem Medienunternehmer Leo Kirch Milliardenkredite auch für dessen Engagement in der Rennserie gewährt. Die Formel-1-Beteiligung galt als Sicherheit. Nach Kirchs Pleite sollte Vorstand Gribkowsky das Paket verkaufen. Und er wurde das Formel-1-Geschäft 2005 auch los. Allerdings, so die Staatsanwälte, „ohne eine aktuelle Bewertung der Anteile“ vorgenommen zu haben. Für dieses „Entgegenkommen erhielt der Beschuldigte getarnt über zwei Beraterverträge ins-
4,4% Andere Quelle: Formula Money
gesamt 50 Millionen“. Glaubt die Staatsanwaltschaft. 50 Millionen Dollar – das ist „die mit Abstand höchste Summe, die jemals ein deutscher Manager mit fragwürdigen, wenn nicht gar kriminellen Geschäften eingesteckt hat“, schreibt die „Süddeutsche Zeitung“, die den Geldtransfer aufdeckte. Doch ist es wirklich einer der größten Korruptionsfälle der jüngeren deutschen Wirtschaftsgeschichte? Oder doch nur einer der größten Fälle von Steuerhinterziehung? Man traut Bankmanagern inzwischen alles Schlechte zu. Aber dass ein Vorstand ein Unternehmen zu billig verkauft, um sich von den Käufern anschließend mit 50 Millionen Dollar belohnen zu lassen, überstieg bislang die Vorstellungskraft selbst scharfer Branchenkritiker. Freunde Gribkowskys bezweifeln diese Version jedenfalls. Sie erzählen, dass der Manager ihnen gegenüber schon früher offen über seine Salzburger Stiftung gesprochen habe. Auch darüber, dass er darin Geld aus Beraterverträgen mit der ForD E R
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mel 1 investiert habe. Die Summe habe Gribkowsky zwar nicht genannt. Aber wenn es Geld aus schmutzigen Geschäften gewesen wäre, hätte er das ganze Konstrukt doch geheim halten müssen. „Das passt so alles nicht zusammen“, sagt ein Freund des Inhaftierten. Die Angelegenheit ist wohl auch deshalb so mysteriös, weil neben Gribkowsky eine besonders glamouröse Managerfigur eine entscheidende Rolle spielt: Bernie Ecclestone. Der 80-jährige Formel-1-Boss gilt als einer der geheimnisvollsten und durchtriebensten Sportmanager der Welt. Als Kind hat Ecclestone vor Schulbeginn alle Backwaren in der näheren Umgebung gekauft, um sie dann mit Monopolaufschlag weiterzuveräußern. Später machte er mit Gebrauchtwagen, Glücksspielen und Immobiliengeschäften ein Vermögen, um schließlich den Formel-1-Zirkus zu einem – zu seinem – Milliardengeschäft auszubauen. Ecclestone betreibt seine Geschäfte in einem Dickicht von Firmen, Tochterfirmen und Sub-Sub-Unternehmen, von denen viele in Steueroasen wie der britischen Kanalinsel Jersey residieren. Bei der BayernLB in München benötigte ein Team von vier Mitarbeitern rund ein Jahr, um Ecclestones gesamtes Beteiligungsgeflecht einigermaßen zu durchdringen. Nach Erhebungen des Branchendienstes „Formula Money“ sind Ecclestones Aktivitäten weltweit auf 32 Gesellschaften verteilt. Sein Vermögen schätzt die US-Zeitschrift „Forbes“ auf vier Milliarden Dollar. Es war gewiss schon mal mehr, aber die Scheidung von seiner Frau Slavica nach 24 Ehejahren war teuer – oder, in Ecclestones Verständnis: ein schmerzhaftes Minusgeschäft. Doch allzu oft hat er bisher nicht draufgezahlt. Sein Reichtum ist das Ergebnis einer fast 40-jährigen Diktatur über das Boliden-Theater Formel 1. Er selbst ist davon überzeugt, dass es anders gar nicht möglich gewesen wäre, die Rennserie zur effizientesten Image- und Werbebühne der Welt zu entwickeln. Ecclestone vermarktete zuerst das Starterfeld, dann die TV-Rechte, die Streckenwerbung und schließlich die VIP-Zelte. „Die Formel 1 bin ich“, sagt Ecclestone, der die Rennställe mit nicht mal der Hälfte der Erlöse abspeiste. Selbst Konzerne wie Daimler, Renault oder Honda unterwarfen sich dem Regime des knapp 1,60 Meter kleinen Briten. Sie alle wollten bei dem weltumspannenden Medienereignis unbedingt dabei sein und nahmen dafür viel in Kauf. Rennstallbesitzer waren irritiert darüber, dass Ecclestones Leibkoch Gäste 59
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KERIM OKTEN / DPA
WOLFGANG MARIA WEBER / DER SPIEGEL
Formel-1-Rennen 2005 auf dem Nürburgring: Boxenluder und Champagnersausen
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schon mal mit einem lässigen „Heil Hitler“ begrüßte. Und als Ecclestone den Nazi-Führer auch noch öffentlich lobte, rümpften die sonst so auf ihr seriöses Image bedachten Automanager kurz die Nase, Ecclestone entschuldigte sich, und alles lief weiter wie zuvor. Auf dem Höhepunkt der New-Economy-Hysterie rund um die Jahrtausendwende wollte er dann das ganz große Geld machen. Er verkaufte insgesamt 75 Prozent der Formel-1-Vermarktungsgesellschaft SLEC für 2,7 Milliarden Dollar. Die Anteile landeten schließlich bei dem Medienunternehmer Kirch, der mit den Fernsehbildern der Grand-Prix-Rennen sein erfolgloses Bezahlfernsehen Premiere in Schwung bringen wollte. Die großen Autohersteller waren nicht begeistert. Firmen wie Ferrari oder Toyota gaben für ihre Rennerei zwischen 400 und 500 Millionen Dollar jährlich aus – und wussten nicht, wer sich mit den Gewinnen aus der Vermarktung die Taschen füllte. Sie forderten Transparenz, Mitbestimmung und eine gerechtere Verteilung der Einnahmen. Sie drohten Ecclestone mit einer eigenen Rennserie, der Grand Prix World Championship. Denn der Brite regierte das Formel-1-Geschäft trotz des Teilverkaufs an Kirch weiter. An Fahrt gewann die Auseinandersetzung, als das Kirch-Imperium pleiteging und dessen 75-Prozent-Anteil an der Formel-1-Holding SLEC in die Hände der Gläubigerbanken fiel. Als größter Kreditgeber musste sich die Bayerische Landesbank um die Formel-1-Beteiligung kümmern. Bis dahin war der Motorsport für die Bayern-Banker ein unbekanntes Terrain. Aber es war genau die richtige Spielwiese für Risikovorstand Gribkowsky. Der damalige Bankchef Werner Schmidt betraute ihn damit, die Kirch-Hinterlassenschaft zu Geld zu machen. Der Spezialauftrag führte den Banker in eine Welt, die weit weg war von den Büroetagen seiner freistaatlichen Landesbank, eine Welt voller Boxenluder, Champagnersausen und halbseidener Geschäftsleute. Gribkowsky war plötzlich wichtig, denn seiner Bank gehörte nun ein Teil dieser Welt. Prompt stand er bei den Rennen, die er besuchte, im Kreis der Mächtigen, zwischen Rennstallbesitzern und Autobossen. Das hinderte ihn freilich nicht, mit dem Formel-1-Herrscher Ecclestone einen Streit um die Vormachtstellung in dem Rennimperium anzuzetteln. Der deutsche Jurist ließ Ecclestone verklagen und erreichte, dass die Mehrheitseigentümer drei Viertel der Sitze im Direktorium besetzen konnten. Der BayernLB-Vorstand sagte damals im SPIEGEL (52/2004): „Weder große Finanzinstitutionen noch Automobilkonzerne können es sich erlau-
BayernLB-Chef Schmidt 2005, Gribkowsky-Villa bei München: Von Grünwald nach Stadelheim
ben, ein Management mit Zahlungen aus der Hosentasche zu betreiben.“ Die in der Formel 1 engagierten Autokonzerne waren angenehm überrascht. Sie hatten bereits eine Gesellschaft gegründet und mit Rennstrecken verhandelt, um eine eigene Konkurrenzveranstaltung aufzubauen. Sie wollten das Geschäft selbst in die Hand nehmen und nicht mehr abhängig sein von dem Despoten Ecclestone. Und nun hatten sie mit dem Bayern-Banker einen auf ihrer Seite, der offenbar das Format hatte, Ecclestone die Stirn zu bieten. Doch dann kam alles ganz anders. Der vermeintliche Verbündete Gribkowsky verkaufte das Formel-1-Paket der BayernLB an die britische Finanzgruppe CVC Capital Partners, eine Gesellschaft, die Ecclestone sehr nahesteht. Und CVC signalisierte sofort, dass Ecclestone das Geschäft weiterführen werde. „Wir konnten uns den Kurswechsel nicht erklären“, sagt ein ehemaliger Autoboss. Haben also jene 50 Millionen Dollar, die dem Banker Gribkowsky später D E R
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zuflossen, dessen plötzlichen Positionswechsel befördert? Die Münchner Oberstaatsanwältin Hildegard Bäumler-Hösl prüft jetzt, ob der ehemalige Bankvorstand den Firmenanteil zu billig verkaufte und sich genau dafür anschließend bezahlen ließ. Dies wäre tatsächlich der größte Schmiergeldfall des Landes. Vertraute des Pleitiers Leo Kirch vermuten seit langem, dass die BayernLB Sicherheiten für Kirch-Kredite viel zu billig veräußert habe. Die Staatsanwälte begründen ihren Verdacht auch damit, dass die Bank vor dem Verkauf keine gesonderte Bewertung des Formel-1-Pakets vorgenommen haben soll. Ein solches Gutachten aber, argumentiert ein früherer hochrangiger BayernLB-Manager, sei gar nicht nötig gewesen. Man habe den Formel-1-Anteil bereits bewertet, als das Institut die Beteiligung nach der Kirch-Pleite in ihre Bücher nahm. Knapp eine Milliarde Dollar soll die Bank für ihr Paket erhalten haben. Die Summe muss deutlich über dem Buch-
Wirtschaft wert der Beteiligung gelegen haben. schließt indes nicht aus, dass es später, Denn für das Geschäftsjahr 2006 weist nach dem Kauf, Zahlungen an den Bandie BayernLB in ihrer Bilanz ein Bewer- ker gegeben hat. tungsergebnis von 328 Millionen Euro aus. Für diese Variante spricht auch, dass Der Verkauf der Anteile an der Formel 1 das Geld wohl zuerst an die Firma GG habe „maßgeblich zu dem positiven Er- Consulting in Salzburg floss. Gerhard gebnis beigetragen“. Gribkowsky selbst hatte die Firma gegrünDie These, Gribkowsky habe die An- det. Doch warum sollte er ein Unternehteile zu billig verkauft, wird dadurch nicht men mit seinen Initialen G. G. als Empgerade unterstützt. Der Banker forderte fänger der 50 Millionen Dollar auswählen, für den Deal damals sogar einen Bonus wenn er den Geldfluss tarnen wollte? vom Verwaltungsrat der Bank. Agiert so Als Banker musste Gribkowsky auch ein Manager, der zuvor Schmiergeldzu- wissen, dass die Überweisung einer solsagen dafür versprochen bekam, dass er chen Summe einen Geldwäscheverdacht das Motorsportpaket besonders billig ver- auslöst. Und tatsächlich erstattete der ramscht? Raiffeisenverband Salzburg schon im Jahr Wenn es um persönliche 2006 Anzeige. Die dortige Gier geht, kann bei Bankern inStaatsanwaltschaft ermittelte, Versteuert zwischen zwar fast nichts mehr stellte die Nachforschungen ausgeschlossen werden. Aber wurden die Mil- aber wieder ein. Offenbar möglicherweise gibt es ja eine lionen in Öster- konnte Gribkowsky glaubhaft andere Erklärung für die Mil- reich, wieder machen, dass er das Geld tatlionenzahlung. angelegt teil- sächlich für eine BeratungstäFür Gribkowsky war sein erhalten habe. weise am Prenz- tigkeit Versteuert hat Gribkowsky Engagement im Formel-1-Gelauer Berg. das Geld in Österreich. Angelegt schäft mit dem Ausstieg der hat er es zumindest in Teilen wieBayernLB noch nicht beendet. Der Formel-1-Investor, die Beteiligungs- der in Deutschland. In Berlin, am Prenzgesellschaft CVC, gründete eine neue Ge- lauer Berg, gehört einem Unternehmen der sellschaft namens Alpha Prema. In den „Privatstiftung Sonnenschein“ ein HäuserAufsichtsrat rückte neben einem Eccle- block mit mehr als 170 Wohnungen. Doch auch wenn dies die 50-Millionenstone-Vertrauten jemand ein, mit dem niemand gerechnet hatte: BayernLB-Vor- Dollar-Zahlung erklären sollte, bleiben für Gribkowsky unangenehme Fragen. Vor alstand Gribkowsky. Diese Nebentätigkeit hatte er sich zu lem: Warum hat er als deutscher StaatsbürHause in München von seiner Bank ge- ger mit Hauptwohnsitz München die Einnehmigen lassen. Er solle „für Kontinuität nahmen nicht auch hierzulande dem Fiskus sorgen“ und die schwierigen Gespräche gemeldet? Er hätte dann über 40 Prozent mit den Autoherstellern und Teams über an den Staat abführen müssen. In Österdie Zukunft der Rennsportserie führen, reich wurden nur 25 Prozent Steuer fällig. Gribkowskys Anwälte beantworteten hieß es. Denn Ecclestone und CVC hatten nun zwar die Vermarktungsrechte der bis Ende vergangener Woche keine FraFormel 1. Doch die größte Gefahr war gen zu ihrem Mandanten. Münchner Staatsanwälte rechnen nicht noch nicht abgewendet: Wenn die Autokonzerne eine eigene Rennserie starteten, damit, dass sich die Affäre für den Banker würde ihr Milliardengeschäft über Nacht schnell in Wohlgefallen auflöst. Sie ermitteln noch in einem anderen Fall gegen wertlos. Es ging um alles. Der neugegründeten Formel-1-Firma, ehemalige Vorstände der BayernLB, darin deren Kontrollgremium Gribkowsky unter auch wieder Gribkowsky. In diesem Fall geht es um den gegensaß, gelang es dann, die Autohersteller wieder mit Ecclestone zu versöhnen. Fer- teiligen Vorwurf: Die Bank habe eine anrari, BMW, Daimler, Honda und die an- dere Bank zu teuer gekauft, die Hypo deren gaben ihre Pläne einer eigenen Group Alpe Adria. Der frühere LandesRennserie auf. Im Gegenzug erhielten die bank-Chef Werner Schmidt und mögTeams von Ecclestone einen größeren An- licherweise auch Gribkowsky müssen deshalb mit einer Anklage rechnen. teil an den Vermarktungserlösen. Nur einer wird die Affäre um die 50Jetzt erst war das Milliardengeschäft für Ecclestone und CVC gerettet. Dass Millionen-Dollar-Zahlung wohl unbeschader Brite dem Bayern dafür 50 Millionen det überstehen: Ecclestone. Er hat sein Dollar überwiesen haben könnte, scheint Firmengeflecht inzwischen weiter verdurchaus vorstellbar. Ein Rennstallbesit- schachtelt. Das Formel-1-Geschäft läuft zer sagt: „50 Millionen sind für Bernie jetzt unter der Holding Delta Topco. Aber sonst ist alles beim Alten. Bernie Peanuts, da lacht er drüber.“ Von Ecclestone war dazu keine Stel- ist der Boss. Seine Lebenserfahrung fasste lungnahme zu erhalten. Der Finanzinves- er einmal so zusammen: „Erst musst du tor CVC teilte mit, er wisse nichts von auf die Beine kommen, dann wirst du Zahlungen an Gribkowsky „im Zusam- reich und danach ehrlich.“ DINAH DECKSTEIN, DETLEF HACKE, DIETMAR menhang mit dem Kauf der Formel 1 HAWRANEK, JÖRG SCHMITT, ALFRED WEINZIERL durch CVC“. Die filigrane Formulierung D E R
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Wirtschaft
GE L DA N LAGE
Allgemeine Verunsicherung Das Geschäftsmodell der Lebensversicherer wackelt. Ihre Kunden werden im Alter weit weniger Geld bekommen, als ihnen einst in Aussicht gestellt wurde.
N
eun Lebensversicherungen haben aussichtliche Auszahlungsbetrag immer Maximilian Zimmerer und seine mehr schrumpft. Frau abgeschlossen. Der Chef der Der Versicherungsmathematiker Axel Allianz Leben ist überzeugt, dass sich das Kleinlein hat für den SPIEGEL ein Fallnicht nur für sein Unternehmen, sondern beispiel eines 50-Jährigen berechnet, der auch für ihn persönlich lohnt. seit dem Jahr 2000 für 20 Jahre bei einem Die Performance der deutschen Le- Durchschnittsversicherer monatlich 100 bensversicherer sei in den letzten Jahren Euro einbezahlt. Als er seinen Vertrag sehr viel besser gewesen als die von Ak- unterschrieb, konnte er im Alter mit einer tien- und Rentenfonds, sagt Zimmerer, Auszahlung in Höhe von 48 391 Euro rech52. „Wir haben uns sehr gut geschlagen.“ nen. Heute, elf Jahre später, sind es nur Viele Anleger, die in diesen Tagen Post noch 33 031 Euro. von ihrem Versicherer bekommen, dürfDie düsteren Aussichten betreffen, staten das anders sehen. 44 von 69 Anbie- tistisch gesehen, jeden Deutschen. Jeder, tern wollen 2011 die laufende Verzinsung vom Baby bis zum Greis, hat im Schnitt bei ihren Lebens- und Rentenversicherun- mehr als eine kapitalbildende Lebensgen erneut senken. In den vergangenen oder Rentenversicherung, 91,5 Millionen zehn Jahren haben sich die Zinsen damit sind es nach Angaben des Branchenverfast halbiert. bands GDV insgesamt. Sie gilt als der Zudem will die BundesKlassiker unter den Geldregierung ab Juli für Neuver- Kapitalanlagen der anlagen, verspricht sie doch träge den garantierten Min- Lebensversicherer eine bequeme und sichere destzins von 2,25 auf 1,75 Anteile Ende Juni 2010 Art der Altersvorsorge. Prozent reduzieren. Er soll BeteiKritiker bemängelten auch in turbulenten Zeiten ligungen: Immobilien: schon immer, dass die Ren3,4% diten dürftig seien, weil zu unter allen Umständen be- 2,4% zahlt werden. Für künftige viel Geld in die Verwaltung Sonstige: Aktien: Kunden bedeutet das: weni- 3,1% 3,6% und in die Provisionen für ger Sicherheit. Sie müssen die Vermittler fließt. Zudem damit rechnen, im Alter im kommen die Erträge nicht schlimmsten Fall inflationsnur den Versicherten, sonbereinigt sogar weniger Geld dern auch den Aktionären zu bekommen, als sie in ihre der Versicherungen zugute. Festverzinsliche Lebensversicherung einbeDoch jetzt wackelt das Wertpapiere zahlt haben. ganze Geschäftsmodell der 87,5 % Schon jetzt ist die Enttäu- Quelle: Branche. Denn die VersicheGDV schung vieler Versicherter rer erwirtschaften mit den groß. Als sie vor Jahren ihre Kundengeldern an den KaVerträge unterzeichneten, wurden ihnen pitalmärkten immer weniger. Gleichzeitig für das Alter Auszahlungsbeträge in Aus- lasten hohe Zinsversprechen aus der Versicht gestellt, die jetzt als unrealistisch gangenheit auf den Konzernen. Und der gelten. Finanzbedarf wächst: Ab 2013 sollen sie Kaum einem Versicherten ist klar, dass nach den Plänen der EU ihr Eigenkapital der Betrag, den er am Ende der Vertrags- kräftig aufstocken, die Branche rechnet laufzeit tatsächlich erhält, eine Summe mit Mehrbelastungen in zweistelliger Milaus vielen Unbekannten ist. Verzinst wird liardenhöhe. Es sind die Spätfolgen der Finanzkrise, nur der Sparbeitrag, der nach Abzug aller Kosten übrig bleibt. Diese können je nach die den Versicherungen nun zu schaffen machen – obwohl sie selbst die Krise bisher Versicherer stark schwanken. Die Auszahlungen hängen außerdem relativ unbeschadet und ohne große Skanvom Zeitpunkt des Vertragsabschlusses dale überstanden haben. Sie haben sich ab, vom laufenden Geschäft, von den Kos- weder im großen Stil mit hochriskanten ten, den Gewinnen und stillen Reserven Finanzinstrumenten verspekuliert, noch sitzen sie auf großen Mengen unsicherer der Versicherungen. Diese Faktoren können im Zeitablauf Staatsanleihen strauchelnder Euro-Staaten. Die Unternehmen stecken vielmehr in ebenfalls stark schwanken – und in Zeiten wie diesen führt das dazu, dass der vor- einer Art Sicherheitsdilemma. 62
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Allianz-Hauptversammlung 2010 in München: „Es
Fast 90 Prozent der Kundengelder haben Versicherer in festverzinsliche Papiere angelegt: Kredite und Schuldverschreibungen von zumeist soliden Unternehmen und Staaten. Weil die Notenbanken in aller Welt das Zinsniveau an den Kapitalmärkten aber niedrig halten, werfen diese Anlagen nur geringe Erträge ab. Die Rendite für zehnjährige Bundesanleihen etwa sackte 2010 zwischenzeitlich auf ein historisches Tief von 2,09 Prozent. Anfang 2008 lag sie noch bei mehr als 4 Prozent. Jeder Prozentpunkt weniger bedeutet für die Versicherer, die jährlich 140 Milliarden Euro an Geldern neu anlegen müssen, gigantische Einbußen. Kreativeren Anlagestrategien aber sind schon gesetzlich enge Grenzen gesetzt. Von exzessiven Börsenexperimenten haben viele Anbieter überdies genug. Der Zusammenbruch des Neuen Marktes zu Beginn des Jahrtausends hatte tiefe Löcher in die Bilanzen gerissen, auch infolge der Finanzkrise musste einiges abgeschrieben werden. In den vergangenen Jahren haben die Unternehmen deshalb ihre Aktienquote drastisch reduziert – im Branchenschnitt auf rund drei Prozent. Erlaubt wäre ein Vielfaches. Die Folgen der Vorsicht: „Der Aufschwung am Aktienmarkt im vergangenen Jahr ist an den Versicherern fast vollständig vorbeigegangen“, sagt Carsten Zielke, Versicherungsexperte bei der Société Générale.
SVEN SIMON / IMAGO (L.); UTE GRABOWSKY (U.)
erwartete Steuer- und Gebühreneinnahmen verbriefen – und an die Allianz verkaufen. Selbst Autobahnkonzessionen würde er sich anschauen. „Aber bislang gibt es relativ wenig passende Angebote.“ Das Grundproblem der Branche werden solche Ideen ohnehin nicht lösen. „Niedrigzinszeiten sind schlechte Zeiten für Versicherer, das liegt in der Natur der Sache“, sagt Johannes Lörper, Vorstand bei der Ergo Lebensversicherung. Dadurch werde es auch zunehmend schwierig, Kunden von langlaufenden Verträgen zu überzeugen. „Es fehlt die Magie der großen Zahlen.“ Allianz-Chef Zimmerer ist überzeugt, dass das Leiden begrenzt ist und die Zinsen bald wieder steigen werden. „Der Ankauf von EU-Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank im großen Stil war der Sündenfall“, sagt er. Diese Strategie müsse „so bald wie möglich gestoppt werden“. Eine Branchenkrise will er nicht sehen. Dabei leben viele Unternehmen kaum noch vom Kerngeschäft. Fast acht von zwölf Milliarden Euro Überschuss erwirtschaftete die Branche 2009 nur durch Kosteneinsparungen und sogenannte Risikogewinne. Sie entstehen etwa, wenn Rentenversicherte früher sterben als kalkuliert. Die Anbieter verlieren langsam das Infehlt die Magie der großen Zahlen“ teresse an ihrem margenschwachen Produktklassiker. Es gibt lukrativere GeZimmerers Allianz Leben, die immer- stecken. Sogar in Parkuhren in Chicago schäfte, zum Beispiel den Verkauf fondshin rund acht Prozent der Gelder in Ak- hat der Versicherer schon investiert: Die gebundener Versicherungen, bei denen tien investiert hat, gilt da schon als ver- Stadt hat ihm die künftigen Gebühren- der Anleger das Risiko trägt. Aus Sicht gleichsweise wagemutig. Er kann sich einnahmen verkauft. der Aktionäre seien Lebensversicherundank milliardenschwerer Kapitalpolster Zimmerer spricht darüber nicht gern, gen mit Garantie „problematisch“, sagt Experimente in begrenztem Umfang leis- die Begeisterung der Bürger Chicagos über Nikolaus von Bomhard, Chef der Versiten. So ging die Allianz Leben indirekte den deutschen Parkgeldempfänger hält cherungsgruppe Munich Re, zu der auch Beteiligungen an Windenergieanlagen ein sich wohl in Grenzen. Aber er findet die der Versicherer Ergo gehört. und will wieder mehr Geld in Immobilien Idee charmant, dass Staaten und Städte Erste Anbieter, etwa die Delta Lloyd, haben schon aufgegeben und ihr Neugeschäft in Deutschland beendet. „Wenn Verzinsungen die Zinsen dauerhaft niedrig bleiben, der größten könnten weitere Anbieter folgen“, sagt Versicherer Laufende Verzinsungen von Lebensver2011* Société-Générale-Chef Zielke. sicherern; Marktdurchschnitte in Prozent Der Leidtragende ist am Ende der Ver6,12 4,30 Debeka sicherte. Der Ehrgeiz solcher Unterneh6 men, ihren übrig gebliebenen Kunden AachenMünchener 4,20 noch über Jahrzehnte hinweg attraktive Allianz Zinsen zu bieten, dürfte begrenzt sein. 4,10 Bei der Delta Lloyd sackte die laufende R+V AG 4,10 Verzinsung schon 2010 von 4 auf 3,25 Pro5 zent ab. Branchendurchschnitt 4,08 Weitermachen werden wohl Branchengrößen wie die Allianz Leben. Deren 4,00 Ergo Leben 4,24 Chef Zimmerer rechnet oft vor, dass die 4,08 Generali Lebensversicherung ihren Ruf als wenig 4,00 lukrative und intransparente Geldanlage 4 4,00 Nürnberger Leben seiner Ansicht nach zu Unrecht trägt. 4,1 Prozent Rendite habe die Branche 3,80 Bayern-Versicherung bei Laufzeiten von zwölf Jahren für die Kunden erwirtschaftet. Inflationsberei3,70 Zurich Deutscher Herold nigt, wie er betont. Das sei angesichts der Quelle: 3,50 Assekurata schwierigen Zeiten ein gutes Geschäft. Württembergische Rentnerpaar „Da brauchen wir auch ein Stück neue *vorläufig 2002 2006 2011* Düstere Aussichten ANNE SEITH Bescheidenheit.“
Ausschüttung minimiert
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Wirtschaft
SPI EGEL-GESPRÄCH
„Pure Verschwendung“ Der amerikanische Ökonom Nouriel Roubini über die Gefahr neuer Rückschläge für die US-Konjunktur, Deutschlands Verantwortung für die Rettung europäischer Pleiteländer und die Frage, wie China und Amerika einen Währungskrieg vermeiden können Roubini, 52, wurde als Sohn iranischer Juden in Istanbul geboren, wuchs in Italien auf und lehrt heute Ökonomie an der New York University. Seit 2004 hatte er vor der US-Immobilienblase gewarnt, wofür er früh den Spitznamen „Dr. Doom“ (Dr. Untergang) erhielt. für 5,5 Millionen Dollar ein neues Penthouse in Manhattan zugelegt haben, wurde dies auf beiden Seiten des Atlantiks als Zeichen gewertet: Der Mann, der die Finanzkrise prophezeite, hat wieder Zuversicht in den amerikanischen Immobilienmarkt und die US-Wirtschaft gefasst. Roubini: Es gibt eine gute Nachricht – und viele schlechte. Die amerikanische Wirtschaft wird 2011 wohl um 2,7 Prozent wachsen. Dieses Wachstum ist solide. Die Gefahr eines zweiten Einbruchs ist deutlich gesunken. Die Politik der Notenbank Fed, Staatsanleihen zu kaufen, sowie der Steuerstimulus der Regierung von Barack Obama für die Mittelschicht zeigen Wirkung. SPIEGEL: Und die schlechten Nachrichten? Roubini: Die anhaltende Immobilienkrise, die damit einhergehende Sorge um den finanziellen Zustand der Banken und vor allem die hohe Staatsverschuldung sowie das Defizit auf der Bundesebene wie in den Bundesstaaten. Die USA befinden sich in einem Zwiespalt. Mittelfristig führt an der Konsolidierung des Haushalts kein Weg vorbei, sonst droht dem Land eine Schuldenkrise, wie sie Europa derzeit erlebt. Trotzdem müssen die USA angesichts der schwachen Erholung aktuell alles tun, um ihr Wirtschaftswachstum anzukurbeln. SPIEGEL: US-Präsident Obama hat darauf verzichtet, die aus der Ära seines Vorgängers George W. Bush stammenden Steuersenkungen für Superreiche zurückzunehmen. Das sorgt kaum für Wachstum. Roubini: Genau da liegt das Problem. Der Plan ist pure Verschwendung. Er vergrößert das Defizit und trägt nichts dazu bei, dass die Wirtschaft anspringt. Leider sehe ich vor den nächsten Präsidentschaftswahlen 2013 keinerlei Chance, dass sich daran grundlegend etwas ändert. Das Weiße Haus und die republikanische Mehrheit im Kongress blockieren sich gegenseitig, parteiübergreifendes Krisen-
MARTIN ADOLFSSON
SPIEGEL: Herr Roubini, als Sie sich jüngst
Wirtschaftsexperte Roubini
„Ein Staat, der spart, kann nicht investieren“
Schuldenlast
Staatsverschuldung in Prozent des BIP Quelle: EU-Kommission
DEUTSCHLAND
75,7
75,9
EURO-ZONE
84,1
86,5
92,2
98,4
Prognosen
2010 2011
Haushaltsdefizit in Prozent des BIP
–3,7
–2,7 –4,6 –6,3
–8,9 –11,3
Das Gespräch führte der Redakteur Peter Müller.
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USA
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management bleibt ein Fremdwort, finanzpolitisch herrscht ein Patt. Ich bin mir sicher: Die Märkte werden in den nächsten Jahren irgendwann sehr nervös werden angesichts der US-Staatsverschuldung. SPIEGEL: Obwohl die Lage in der Euro-Zone eigentlich besser aussieht, ist der Euro Ziel von Attacken – nicht der Dollar. Roubini: Die Situation der überschuldeten Staaten am Rande der Euro-Zone ähnelt jener der überschuldeten US-Bundesstaaten von Kalifornien bis Illinois. Aber es gibt deutliche Unterschiede: Selbst wenn Kalifornien pleite ist, glaubt niemand, dass die US-Währungsunion deshalb zerbrechen würde. Die Schuldenprobleme Griechenlands und Irlands können dagegen tatsächlich zu einem Zusammenbruch der Euro-Zone führen. Außerdem können die USA ihr Defizit noch immer dadurch finanzieren, dass sie Geld drucken. Griechenland oder Irland dagegen sind darauf angewiesen, dass die Europäische Zentralbank EZB gegen den Widerstand Deutschlands ihre Geldpolitik lockert. In der Euro-Zone gibt es einfach mehr Streit als Übereinstimmung. SPIEGEL: In der Frage, wie die Wirtschaft nach der Krise wieder Tritt fassen kann, sind Amerikaner und Deutsche grundlegend anderer Auffassung. Während die USA die Wirtschaft mit Anleihenkäufen durch die Fed und Steuersenkungen ankurbeln wollen, setzt Deutschland auf einen strengen Sparkurs. Roubini: Der Sparkurs, die zurückhaltende Geldpolitik der EZB, der gegenwärtig hohe Wert des Euro – all das passt ausgezeichnet für Deutschland und den Kern der EU. Doch was Deutschland nutzt, muss für die Länder am Rande der Gemeinschaft noch lange nicht gut sein. Die Wirtschaftsleistung Griechenlands, Irlands und Spaniens schrumpft, auch in Portugal und Italien gibt es kaum Wachstum. Um zur Genesung dieser Länder beizutragen, müsste die EZB ähnlich wie die Fed mehr Geld in Umlauf bringen und so für Wachstum sorgen. SPIEGEL: Die Verschuldung von Mitgliedern wie Griechenland oder Portugal ist doch gerade die Ursache der Euro-Krise. Warum sollte Deutschland seinen Sparkurs jetzt aufgeben? Roubini: Um ein ungeordnetes Auseinanderbrechen der Euro-Zone zu verhindern,
Autoverladung im Hafen von Emden: „Deutschlands Wirtschaft hängt zu stark vom Export ab“
braucht Europa Wachstum. Die strengen Sparmaßnahmen, die EU und Internationaler Währungsfonds Ländern wie Griechenland und Irland abverlangen, sind im Kern richtig, um die Verschuldung in den Griff zu kriegen. Sie würgen aber die Konjunktur ab: Höhere Steuern führen dazu, dass die Menschen weniger ausgeben können. Wenn der Staat spart, kann er nicht investieren, um die Wirtschaft anzukurbeln. Das bringt die betroffenen Regierungen in Schwierigkeiten. Wo die Menschen kein Licht am Ende des Tunnels sehen, bröckelt der Rückhalt für Reformen. Im europäischen Interesse sollte Deutschland daher alles tun, um das Wachstum zu stärken – im eigenen Land und in Europa. Deutschland sollte seinen strengen Sparkurs aufschieben. SPIEGEL: Die hiesige Wirtschaft ist im vergangenen Jahr um beinahe vier Prozent gewachsen, was vor allem dem Export geschuldet war. Daran üben die USA und Frankreich harsche Kritik: Deutschland solle seine Handelsbilanzüberschüsse zurückfahren. Wird die Bundesrepublik dafür bestraft, dass ihre Unternehmen besonders wettbewerbsfähig sind? Roubini: Das deutsche Wachstumsmodell funktioniert mittelfristig weder für Deutschland noch für Europa. Deutschlands Wirtschaft hängt zu stark vom Ex-
port ab. Zu Beginn der Finanzkrise war der Einbruch Deutschlands höher als in den USA, dem Ausgangspunkt der Krise. Auch wenn die Binnennachfrage sich jetzt belebt, muss Deutschland dafür noch mehr tun, etwa durch eine Liberalisierung des Dienstleistungssektors und das Ankurbeln des Konsums. Damit schlägt es zwei Fliegen mit einer Klappe: Es reduziert seine Abhängigkeit vom Export sowie seine Handelsbilanzüberschüsse, die dazu führen, dass andere Teile Europas immer stärker in die roten Zahlen geraten. SPIEGEL: Sie werfen den Deutschen vor, egoistisch zum Nachteil anderer Europäer zu agieren. Diese Kritik wurde auch laut, als Deutschland jüngst auf eine Beteiligung privater Gläubiger im Rahmen eines künftigen Krisenmechanismus für die Euro-Zone bestand. Zu Recht? Roubini: Zunächst ist das Prinzip, dass Privatgläubiger beteiligt werden sollen, richtig. Trotzdem haben die Deutschen mit ihrer Idee und dem Timing die Krise verschlimmert. Ich habe mich jahrelang mit dem Thema Umschuldung beschäftigt und kann nicht erkennen, dass irgendeiner der deutschen Vorschläge wirklich brauchbar ist, um Ländern wie Griechenland oder Portugal aus der Schuldenfalle zu helfen. Die Idee einer internationalen Insolvenzordnung ist, mit Verlaub, abD E R
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CHRISTIAN CHARISIUS / REUTERS
surd, weil für die Umschuldung von Staatsschulden kein neuer rechtlicher Rahmen geschaffen werden muss. SPIEGEL: Warum sollen Staatsanleihen künftig nicht Klauseln enthalten, in denen für den Ernstfall bereits ein Verfahren festgeschrieben ist, an dessen Ende Privatgläubiger auf einen Teil ihrer Forderung verzichten? Roubini: Nehmen wir Griechenland: Im besten Fall wird das Land in zwei Jahren – also nach dem jetzigen Sparprogramm – noch immer mit 160 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts verschuldet sein. Wer soll dem Land unter solchen Bedingungen 2013 neues Geld leihen, wenn er damit rechnen muss, dass er im Falle einer Pleite einen Teil sicher verliert? Griechenland wird an einer Umschuldung in keinem Fall vorbeikommen. SPIEGEL: Der permanente Krisenmechanismus, auf den sich die Euro-Staaten bei ihrem Gipfel im Dezember für das Jahr 2013 verständigt hatten, sieht zwingend die Beteiligung privater Gläubiger vor. Roubini: Was die Euro-Länder für 2013 beschließen, ist doch völlig egal. Vergesst 2013! Wichtig ist, was in den nächsten drei Monaten geschieht, in Portugal, in Spanien, in Italien und Frankreich. Es ist mir ein Rätsel, wie die EU-Mitglieder einen Gipfel abhalten können, der sich da65
Wirtschaft nie gegeben. Eher würden Portugal, Italien, Spanien oder Griechenland zu nationalen Währungen zurückkehren. Die Schuldenprobleme der schwachen Länder würden durch eine Aufspaltung der Währung zusätzlich verstärkt. Die schwachen Länder müssten einen Großteil ihrer Schulden weiter mit harten Euro zurückzahlen, während ihre neuen eigenen Währungen gleichzeitig stark an Wert verlieren würden. Das könnten sie kaum stemmen. Eine Finanzkrise und Zah-
BROOKS KRAFT/CORBIS
mit beschäftigt, was nach Ende des gegenwärtigen Rettungsschirms passieren soll, ohne ein Wort darüber zu verlieren, wie sie Portugal oder Spanien jetzt helfen wollen. SPIEGEL: Der Gipfel hat immerhin die Bereitschaft signalisiert, den gegenwärtigen Rettungsschirm mit seinen 750 Milliarden Euro zu vergrößern. Roubini: Europa muss mehr Geld bereitstellen, um seine Währung zu verteidigen und Staaten, in denen die Situation ange-
US-Präsident Obama in Washingtoner Suppenküche: „Die Märkte werden sehr nervös“
spannt ist, beizustehen. Die Instrumente, die es dazu einsetzt, sind zweitrangig. Natürlich kann die EU weiter darauf setzen, dass die EZB die Drecksarbeit erledigt und Staatsanleihen von Problemstaaten aufkauft. Besser wäre aber, die Politik würde aktiv und vergrößerte den Rettungsfonds, führte Euro-Anleihen ein oder meinetwegen einen europäischen Währungsfonds. Allen Lösungen ist eines gemeinsam: Letztlich wird das Geld des deutschen Steuerzahlers dazu genutzt, die Schuldenkrise in anderen Ländern zu beenden. Anstelle der Deutschen würde ich die Aufstockung des Schirms vorziehen … SPIEGEL: … der schon dann nicht mehr reichen wird, wenn Spanien Hilfe braucht. Roubini: Allein die Tatsache, dass dies jeder weiß, erhöht die Gefahr eines Sturms auf spanische Banken. Wenn der Rettungsschirm nicht bald vergrößert wird, muss die EZB spanische Staatsanleihen kaufen. Auch dafür muss am Ende der deutsche Steuerzahler geradestehen, da die EZB mehr Kapital brauchen wird. SPIEGEL: Die Deutschen wollen aber nicht länger der Zahlmeister der Europäer sein. Könnten sie der Last der Pleiteländer durch eine Aufspaltung in einen Nordund einen Süd-Euro entgehen? Roubini: Nein. Eine Währungsunion nur mit schwachen Mitgliedern hat es noch 66
lungsausfälle wären sicher, deutsche Gläubiger hätten schwere Verluste. SPIEGEL: Aus diesen Gründen scheitert auch eine Rückkehr zur D-Mark. Roubini: Auch dann müssten die schwächeren Staaten eine Abwertung ihrer Währung hinnehmen, auch dann gäbe es das Problem mit der Rückzahlung ihrer Schulden in D-Mark. Griechenland und Portugal können ihre Schulden schon innerhalb der Währungsunion nicht zurückzahlen, sie könnten es erst recht nicht, wenn die Währungsunion zerbräche. SPIEGEL: Wenn der Austritt aus der Währungsunion keine gangbare Alternative ist, wäre dann stärkere Integration die richtige Antwort? Braucht die Euro-Zone eine gemeinsame Wirtschaftsregierung? Roubini: Im Grunde geht es um einen Deal: Wenn die Deutschen einer Lockerung der EZB-Geldpolitik zustimmen, wenn sie mehr Geld zur Verteidigung des Euro und schwächerer Mitglieder bereitstellen, dann sollten sie im Gegenzug ein Regelwerk erhalten, das Defizitsünder automatisch mit Strafe belegt. Schuldenstaaten müssen einen Verlust ihrer Autonomie in Finanzfragen hinnehmen. Dieser Deal wäre haarig, könnte aber den Untergang der Euro-Zone verhindern. SPIEGEL: Auch für deutsche Staatsanleihen sind die Aufschläge zuletzt gestiegen. D E R
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Roubini: Ich kann die Sorgen der Deutschen verstehen, dass ihre Unterstützung anderer Europäer letztlich auch ihre eigene Kreditwürdigkeit beeinträchtigen könnte. Daher sollten alle zusätzlichen Mittel für Rettungsaktionen an die strikte Vorgabe für die betroffenen Länder geknüpft werden, ihre Haushalte in Ordnung zu bringen. Deutschland haushaltet sehr diszipliniert, daher gibt es kein Risiko für einen Zahlungsausfall des Landes. SPIEGEL: Die Probleme der Euro-Zone und die lockere Geldpolitik der USA führen zu großen Kapitalzuflüssen in den Schwellenländern. Entsteht dort die nächste gefährliche Blase? Roubini: In entwickelten Volkswirtschaften liegen die Zinsen bei nahezu null Prozent, und es gibt Sorgen um die Stabilität der Währungen. In der Folge werden Schwellenländer wie Brasilien von Liquidität überflutet. Das Geld sucht Anlagemöglichkeiten, selbst da, wo sich gar keine guten Geschäfte machen lassen. Für die Schwellenländer ist es schwierig, diese Liquiditätsflut aufzuhalten. Wenn sie ihre Währung aufwerten lassen, verlieren sie an Wettbewerbsfähigkeit. SPIEGEL: Für Streit sorgt vor allem der chinesische Yuan. Die USA werfen China vor, den Wert ihrer Währung künstlich niedrig zu halten, um sich Vorteile auf den Exportmärkten zu sichern. Ein Währungskrieg könnte drohen. Roubini: Ich würde nicht von Krieg sprechen, aber es gibt Spannungen. Um das globale Wachstum besser auszutarieren, führt kein Weg daran vorbei, den Dollar zu schwächen und den Yuan aufzuwerten. Niemand verlangt von China, den Wert seiner Währung auf einen Schlag um 20 Prozent zu erhöhen. Die 2 Prozent, zu denen sich die Chinesen in den vergangenen Monaten durchringen konnten, sind jedoch auch zu wenig. Dazwischen ließe sich ein Mittelwert finden – etwa 6 Prozent wie 2008 –, der alle Seiten befriedigt. SPIEGEL: Nicht jeder kann sich wie Sie ein Apartment in Manhattan leisten – wozu raten Sie Anlegern? Sind Rohstoffpapiere eine gute Investition angesichts steigender Preise für Öl und Gold? Roubini: Mein Rat ist simpel: Diversifizieren Sie! Kaufen Sie nichts, was überteuert ist! Die Weltwirtschaft ist auf einem guten Weg, aber es ist ein Weg mit Risiken. In der Euro-Zone hängt das Wachstum noch immer von dem der USA ab, Fehler der Politik in China oder den Schwellenländern können das Wachstum ersticken. Dazu kommt ein Ölpreis, der für die Industrie womöglich bald nicht mehr tragbar ist. Nordkorea und Iran bleiben gefährliche Krisenherde. Auch wenn der globale Wirtschaftsausblick besser wird, wird 2011 ein riskantes Jahr für Investoren. SPIEGEL: Herr Roubini, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Medien
Trends
MARKO GREITSCHUS / AGENCY PEOPLE IMAGE
Beckmann, Lindenberg
TA L K S H O W S
„Wir haben das letzte Wort“ SPIEGEL: Weil die ARD jetzt fünf Talk-
shows pro Woche hat, muss Ihre Sendung vom Montag auf den Donnerstag ausweichen. Ärgert Sie das? Beckmann: Wir haben elf Jahre lang am Montag die Woche eröffnet. Künftig werden wir sie am Donnerstag abschließen. Es ist auch mal schön, das letzte Wort zu haben.
SPIEGEL: Sie müssen dann gegen die
ZDF-Konkurrenz „Maybrit Illner“ ansenden. Beckmann: Das ist nur eine halbe Stunde, zudem sind wir in der Darbietung sehr unterschiedlich. Unsere Zuschauer erwarten ausführliche Gespräche und ungewöhnliche Begegnungen wie Hans Küng, der mit Thomas Gottschalk diskutiert. Politik ist bei uns mehr als nur Tagesgeschäft. SPIEGEL: Unter ARD-Chefredakteuren heißt es, dass Ihr Talk künftig weniger Politiker zu Gast haben soll.
PRESSEFREIHEIT
M U LT I M E D I A
WAZ-Chef kritisiert Europarat
„Tagesschau“-App startet erfolgreich
B
odo Hombach, Chef der Essener Zeitungsgruppe WAZ, wirft dem Europarat vor, sich seit Jahren nicht mehr für die Pressefreiheit in Südosteuropa einzusetzen. „Europa verschließt schon lange die Augen davor, dass die Lage der Medien gerade in Südosteuropa katastrophal ist“, sagt Hombach. Derzeit herrsche zu Recht Aufklärungsbedarf über die neue Mediengesetzgebung der ungarischen Regierung. Dort wacht jetzt eine Behörde darüber, was Journalisten berichten. Nicht nur in Ungarn sei die Freiheit der Presse bedroht, sondern vor allem in Serbien und Rumänien. „Leider interessiert das offenbar weder den Europarat noch die OSZE“, so Hombach. Die WAZ habe den Generalsekretär des Europarats bereits vor eineinhalb Jahren detailliert über die Lage in diesen Ländern informiert, doch der habe ausweichend reagiert. „Auch die OSZE kümmert sich seit Jahren nicht mehr um diese Fragen. Ich finde diesen Zustand deprimierend.“ Der WAZ gehören mehrere Zeitungen in Ungarn. Aus Rumänien hat sich der Konzern mittlerweile zurückgezogen. Für Serbien ist der Abschied geplant. D E R
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ie umstrittene „Tagesschau“-App, eine Mini-Anwendung für internetfähige Handys und Tablet-Computer, ist seit dem Start kurz vor Weihnachten hunderttausendfach heruntergeladen worden. „Tagesschau“-Chefredakteur Kai Gniffke sagte, bis Freitagvormittag vergangener Woche hätten 740 000 Nutzer das kostenlose Angebot auf ihrem Gerät gespeichert. Das sei „erfreulich“, besonders, da viele Nutzer schrieben, dass sie für ein solches Angebot gern Rundfunkgebühren zahlten. Die neue ARDVorsitzende Monika Piel hatte vergangene Woche mit dem Gedanken gespielt, für die „Tagesschau“-App zusätzlich zu den Rundfunkgebühren künftig ein weiteres „Tagesschau“-App Entgelt zu verlangen.
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JOCHEN LÜBKE / DPA
TV-Talker Reinhold Beckmann, 54, über den neuen Sendeplatz seiner Show und den Film „Die Akte Lindenberg“ (ARD, Donnerstag, 23.30 Uhr)
Beckmann: Bei uns wird sich in dieser Sache nichts ändern. Ich werde weiter Politiker einladen, wenn sie etwas zu sagen haben, ebenso wie Menschen mit spannenden Lebensgeschichten. SPIEGEL: Wie Udo Lindenberg, über dessen einzigen DDR-Auftritt 1983 Sie diese Woche in der ARD den Film „Die Akte Lindenberg“ zeigen? Beckmann: Ich war bei diesem Konzert vor ausgewähltem FDJ-Publikum damals als Kameraassistent für eine WDR-Doku dabei. Es war für mich eine spannende Arbeit, anhand von Stasi-Akten und Interviews mit damals Beteiligten heute nachzeichnen zu können, welch großes Politikum dieser Auftritt sechs Jahre vor der Wende darstellte. SPIEGEL: Sie zeigen auch, wie das Ränkespiel um den DDR-Auftritt Biografien verändert hat. Beckmann: Ja, es hat sogar Lebenswege zerstört. Lindenberg-Fans sind verhaftet und eingesperrt worden. Der Kulturfunktionär, der am stärksten für die zugesagte spätere Lindenberg-Tournee gekämpft hatte, wurde gezwungen, den Absagebrief gegen seinen Willen zu unterschreiben. Das hat ihn bis heute nicht losgelassen. SPIEGEL: Sieht man im Nachhinein, dass die DDR bereits 1983 bröckelte? Beckmann: Damals hat das ja keiner geahnt. Aber wenn man jetzt sieht, wie ängstlich Honecker und Co. waren und mit welcher Schlichtheit das alles innerhalb des Apparats gemanagt wurde, ist man doch sehr überrascht.
Medien
KARRI EREN
Der Busch-Trommler
MARTIN HANGEN / THOMAS & THOMAS
Der 68er-Kommunarde Rainer Langhans will Ende der Woche für RTL ins Dschungelcamp einziehen. Seine einstigen Apo-Weggefährten reagieren mit Spott und Häme. Doch für den 70-Jährigen ist der Schritt ins Trash-Fernsehen eher ein Höhepunkt.
Lebenskünstler Langhans in seiner 29-Quadratmeter-Wohnung
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icht alle Ikonen können einen frühen Tod sterben. So wie Jimi Hendrix, Che Guevara oder Rudi Dutschke, die damit ihr Ticket zur Unsterblichkeit zogen. Ein paar von ihnen müssen hier unten bleiben, alt werden und weiterstrampeln, so mühsam das auch ist. Rainer Langhans war kein Rock’n’Roller und auch nicht der größte Weltrevoluzzer, aber 1968 schon so etwas wie ein Popstar. Es gab in Deutschland ja sonst kaum einen, den junge Leute toll finden konnten, es sei denn, sie standen auf Roy Black. Langhans hatte Locken und ein Mädchengesicht mit Nickelbrille. Im Arm hielt er mal einen Sitar, mal Uschi Obermaier, das Groupie der Apo. 68
Im Januar 2010 fährt der nunmehr 70jährige Langhans auf einem klapprigen Fahrrad durch den Münchner Schnee. Wuschelhaar, Jacke, Leinenhose, alles in Weiß. Passantenblicke. Die Älteren sehen ein Stück Zeitgeschichte an sich vorbeiradeln, den schönen Rainer aus der Kommune 1, Deutschlands erster WG. Mitverfasser der Kaufhausbrand-Flugblätter, beteiligt an der Vorbereitung des Pudding-Attentats, das dann doch ausfiel. Die Nachgeborenen erkennen ihn als den komischen Zausel, der sich Ende der Woche als einer von zehn Kandidaten ins RTL-Dschungelcamp begeben will. 50 000 Euro erhalte er für den gut zweiwöchigen Ausflug in den australischen Busch und ins Trash-Fernsehen, heißt es. D E R
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Langhans, eine Erscheinung von jesusmäßiger Sanftmut, sagt, er wisse nicht, wie viel RTL ihm zahle und was er damit mache. Geld sei nicht wichtig. Als ehemaliger Zeitsoldat bezieht er 207 Euro Rente. Er gibt kaum etwas aus, schreibt Bücher, wird zu Diskussionen oder für Vorträge eingeladen. Irgendwas geht immer, auch wenn die anderen 68er-Helden mehr Publicity bekommen haben. Über Uschi Obermaier gab es einen Kinofilm, für den „Stern“ zog sich die 60-Jährige dazu noch einmal aus. Das ZDF zeigte das Doku-Drama „Dutschke“. Fritz Teufel, der Kommunenkasper, sorgte postum ein letztes Mal für Gaudi, als vorigen Sommer seine Urne verschwand und an Dutschkes Grab wieder auftauch-
RTL
te. Langhans lief zuletzt so nebenher, meiden. Alles Körperliche hindert, der Beispiel, wo Prominente auf WG-Taugeine Art Sidekick der Bewegung. Mensch ist ein geistiges Wesen. lichkeit getestet werden. Wollte Langhans Jüngst stellte der Online-Schuhhändler Sehr körperlich hingegen will Lang- immer mal hin, aber die wollten ihn nicht. Zalando ihn in einem Werbespot als spin- hans am Freitag dieser Woche mit neun Auch der Container von „Big Brother“ nerten Guru dar. Langhans drohte mit weiteren Zeitgenossen für „Ich bin ein blieb für ihn verschlossen. dem Anwalt, man einigte sich. Am Frei- Star – Holt mich hier raus!“ in das Lager Er machte dann sein eigenes Ding, es tag vergangener Woche drehten sie in im australischen Urwald eingesperrt hieß „Kommune“ und lief auf den LokalBerlin einen Spot, in dem er sich nun werden. Die Prominenz der anderen lässt sendern TV München und TV Berlin: Er selbst spielen durfte. sich daran ablesen, dass Indira, Ex- und fünf Frauen in einer Wohnung, eine Selbst als ’68 vierzig wurde, bekam Sängerin der Ex-Band Bro’Sis, schon zu Woche lang rund um die Uhr von KameLanghans nur Häppchen vom Ruhm ab. den Bekannteren gehört. Dazu wird es ras begleitet. Mochte keiner sehen. „Ich wurde in keine einzige Talkshow hämische Kommentare der RTL-ModeSeine letzte mediale Mini-WG war eingeladen. Das hat mich schon gewun- ratoren Sonja Zietlow und Dirk Bach ge- „Das perfekte Promi Dinner“ auf Vox, dert.“ ben und Top-Quoten. War bisher im- 5000 Euro gab es dafür. Da saß er neben Jetzt, da er in den Dschungel aufbricht, mer so. zwei Moderatorinnen und einem Darstelrufen sie plötzlich an. „Zeit“, „TagesspieEine Anfrage für die vorige Staffel ler aus der ZDF-Serie „Die Rosenheimgel“, „Bild“, bei Markus Lanz war er auch habe er abgelehnt, sagt Langhans, weil Cops“. Dass er Möhren knabberte und schon. Langhans sagt: „Ich rede mit je- die Produktionsfirma darauf gepocht Rote-Bete-Saft trank, fanden sie okay. dem. Wenn wir nicht miteinander reden, habe, dass er wie alle damit rechnen müs- Dass er seinen Teller vorm ersten Bissen gibt es Krieg. Kommunikation ist Liebe.“ se, in einer Mutprobe Maden oder Kaker- lange betrachtete, um eine Beziehung Schon in der Kommune waren sie scharf laken aufgetischt zu bekommen. Als Ve- zum Essen herzustellen, störte nicht. auf Presse, jede Zeile über sich rissen sie ganer hätte er das nie verantworten kön- Nachdem er aber eine Rindsroulade nach aus und steckten sie in ihre Ordner. „Bild“ einem Rezept der Rosenheimlasen sie täglich. Cop-Mama als „Mist“ tituliert Eine Event-Agentur aus Österreich hat hatte, war die Stimmung im Eisich nun gemeldet. „Wir vertreten auch mer. Als Langhans dran war, die die Lugner-Mausi und den Lugner-Mörandern zu bewirten, mussten sie tel.“ Sie wollen Langhans für Auftritte in Teller und Besteck mitbringen. Er österreichischen Diskotheken gewinnen. besitzt alles nur einmal. Er sagt, das komme für ihn dann vielDas RTL-Ferienstraflager dürfleicht doch nicht in Frage. te nun der Tiefpunkt seines StreifEr will jetzt erst mal den ganzen fremzugs durch die Niederungen des den Menschen freundlich antworten, die deutschen Fernsehens werden. seine Handy-Nummer oder Mail-Adresse Für ihn jedoch ist es ein Höheaufgetan haben und bei ihm ihre Enttäupunkt: „Das Dschungelcamp ist schung abladen: „Kannst gleich im die Urzelle der Kommune. Eine dschungel bleiben und die 50 000 mit den isolierte, auf Psychodynamik ausratten teilen. So einen clown will doch gerichtete Situation. Kommune gar keiner sehen. Für geld fresst ihr alle heißt: Wir müssen gut miteinaneure eigene kacke.“ der leben.“ Oder: „Bitte, tun Sie es nicht.“ Oder: Aber ging es den Kommunar„Hoffe, Ihnen beißt ein Skorpion in die den damals nicht darum, eine Eier!“ Oder auch: „Warum zur Hölle bist neue Lebensform zu finden? Weil du im Dschungel? Was ist da passiert?“ sie mit der auf den Trümmern Es ist die falsche Frage. Nazi-Deutschlands errichteten Die richtige lautet: Warum erst jetzt? Wirtschaftswunder-Gesellschaft Denn sein Drang in die Öffentlichkeit nicht zu Rande kamen? scheint ausgeprägter als bei Dieter Boh„Wer in den Dschungel geht, len und Daniela Katzenberger zusammen. kommt mit der Welt genauso weLanghans liegt im Bett. Besuch empnig klar“, sagt Langhans. „Es sind fängt er immer so. Kissen im Rücken, die Moderatoren Bach, Zietlow: „Was ist da passiert?“ ja immer diese abgehalfterten Decke hochgezogen, Spitzwegs armer Showtypen, so stellt sich das zuPoet, bloß ohne Zipfelmütze und Schirm. nen. Nach langem Hin und Her haben sie mindest von außen dar. Leute, die keiner Es ist kalt, aber auf der Gästematratze ihn vom Ekeltiere-Essen befreit. mehr sehen will. Wahrscheinlich zähle gibt es auch eine Gästedecke. Langhans Langhans liegt in seiner Matratzen- ich auch dazu. Die kriegen eine zweite riecht ein wenig nach Reformhaus. gruft, nimmt die Brille ab, schließt die Chance, wieder mit den Menschen in 29 Quadratmeter in Schwabing für 300 Augen und redet. Er doziert über die Ge- Kontakt zu treten. Und sind hinterher Euro Miete. Nur für ein paar Wochen burt des Internets aus der Vision der 68er: womöglich wieder gefragt. Sogar alte wollte er einst hier einziehen, die Kom- „Wir wollten damals schon Freund sein Frauen wie Ingrid van Bergen.“ mune in Berlin war da längst Geschichte mit der ganzen Welt.“ „Ick kenn die Sendung nich – aber dit und die Sache mit Uschi auch. Jetzt haust Langhans twittert auch. Auf Facebook is Schwachsinn“, berlinert Bommi Bauer seit 34 Jahren hier. hat er 190 Freunde. Eine davon ist Gret- mann, 62, einst Mitglied der Bewegung 2. Der Balkon als Kühlschrank. Im Bad chen Klotz, Dutschkes Frau. Der Rainer Juni, verantwortlich für Brand- und Spinnweben. Ein Zimmer. Die Wände im Dschungel? Da lacht sie laut ins Tele- Sprengstoffanschläge, kurze Zeit Bewohkahl, in der Ecke auf Fußhöhe das einzige fon: „Wie witzig! Das will ich sehen! ner der Kommune 1. „Damals ging es um Bild: Kirpal Singh, sein indischer Meister, Wann läuft das?“ eine Idee. Heute geht es nur um Rainer nach dessen Lehre er lebt. Täglich zweiDie Welt werde zur Kommune, erklärt Langhans.“ einhalb Stunden meditieren, vegan essen, Langhans, das Fernsehen vorneweg. Bernd Rabehl, 72, seinerzeit tonankein Alkohol, Samenergüsse sind zu ver- „Zimmer frei!“ mit Götz Alsmann zum gebend im Sozialistischen Deutschen StuD E R
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Medien
Berliner Kommune 1 mit Langhans (l.) und Obermaier (2. v. l.) 1968: „Er muss sich verkaufen wie eine alte Prostituierte“
dentenbund, heute politisch rechtsaußen gestrandet, schimpft: „Die Kommune hat die Medien vorgeführt. Jetzt führen die Medien Langhans vor. Er jagt seinem eigenen Schatten hinterher, muss sich verkaufen wie eine alte Prostituierte.“ Ulrich Enzensberger, 66, Dichterbruder und Kommunen-Mitbegründer, wünscht ihm spöttisch „viel Glück und dass er heil wiederkommt“. Dieter Kunzelmann, 71, einst der Boss der Kommune, will gar nicht über Langhans reden. Sie möchten nichts mehr von ihm wissen. Bei Fritz Teufels Beerdigung hätten sie ihn alle geschnitten, klagt Langhans. Als er wenig später in einem Interview darüber plauderte, dass womöglich die alte linke Clique hinter dem Spaß mit Teufels Urne stecke, dessen letzten Willen erfüllend, war er endgültig unten durch. Dabei gingen die Vorstellungen über die Gestaltung der Welt schon zu Kommune-Zeiten weit auseinander. Für seine Uschi würde er jede Revolution verraten, posaunte Langhans. Das konnten sie nicht gut finden. Er und die Obermaier waren wie eine deutsche Ausgabe von John Lennon und Yoko Ono, das Verhältnis zwischen Uschi und seinen Kumpels war so warmherzig wie das von Yoko zu den Beatles. Aber letztlich war das mit Uschi ja auch nix. Dass er vor ihren Augen mit anderen Frauen schlief, war für die Beziehung wenig förderlich. „Sex ist eine grobe Hampelei“, sagt Langhans heute. Und Obermaier, inzwischen Schmuckdesignerin in Los Angeles, teilt mit, sein Gastspiel im Urwald sei ihr „ziemlich wurscht“: „Jetzt hat er endlich die Medienaufmerksamkeit, die er sich die ganze Zeit so verzweifelt gewünscht hat.“ Langhans liebt das Fernsehen, besonders zwei Serien. „Smallville“, die Supermans Jugend erzählt. Und „Merlin“ auf 70
Super RTL, der große Zauberer als junger Mann. In beiden Sendungen geht es um Heranwachsende, die spüren, dass sie nicht von dieser Welt sind. Sie müssen sich in einer Gesellschaft beweisen, die mit ihnen nichts anzufangen weiß. Seine eigene Kindheit und Jugend seien eine Qual gewesen, sagt Langhans. Er konnte mit seiner Umwelt nichts anfangen und sie nichts mit ihm. Einmal sagte sein Vater: Wenn alle rechts gehen, gehst du links. Ja, antwortete er. Beim Bund schlug er vor, den Feind moralisch zu zermürben anstatt mit Waffen. Im Jurastudium fühlte er sich genauso deplatziert wie in der psychologischen Fakultät. 1968 war seine große Zeit, die er auf eine wunderbare Formel bringt: „Plötzlich erkannte ich: Nicht ich war bekloppt – die andern waren es! Als ’68 vorbei war, war ich wieder der Irre.“ Nachdem die Kommune auseinandergefallen war, ging es ihm elend. Dann wurde er esoterisch. Irgendwann fand er seine heutige Lebensform: seinen Harem. Ein Langhans, vier Frauen. Christa Ritter, Filmemacherin. Brigitte Streubel, früher Model. Und die Zwillinge Gisela Getty und Jutta Winkelmann, die in jungen Jahren mit Dennis Hopper rummachten und sich um Bob Dylan stritten. Vor ein paar Jahren ließ das Damenkränzchen sich nackt mit Langhans fotografieren. Es war mehr ein PR-Gag, und Harem verspricht Wilderes, als die Schwabinger Realität dann hält. Jede Dame hat ihre eigene Wohnung. Sie gehen gemeinsam spazieren und meditieren, beraten mit Langhans, wie sich ihr Leben verbessern ließe. Manchmal sagen sie ihm auch nur, dass sein Hemd mal wieder gewaschen werden sollte. Er klärt sie dann auf, wie unwichtig Materie sei – für ein geistiges Wesen wie den Menschen. D E R
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Mittagessen beim Veganer, Langhans und drei seiner Frauen. Es gibt AlgenShake als Aperitif. „Rainer ist der Spiegel für uns selbst“, sagt Jutta. „Manchmal denke ich, er ist eine Projektion, eine Erfindung von uns.“ Aber Rainer sei nicht der ideale Mann, sagt Christa. Doch, sagt Jutta. „Er wird etwas Gutes machen aus dem Dschungelcamp“, sagt dann wieder Christa. „Er wird das Niveau der Sendung heben.“ Jutta findet, sie sollten Rainer nicht so unter Leistungsdruck setzen. Aber sie glaube auch, dass er die Zuschauer berühren werde. „Und provozieren“, sagt Brigitte. Jutta sagt, vielleicht besetzen sie Rainer als skurrilen Alten. Vielleicht aber mögen sie ihn auch, weil Rainer so natürlich sei. So wie Lena Meyer-Landrut. Das Interesse an ihm bringt Langhans selbst ins Grübeln. „Warum wird einer wie ich plötzlich für unterhaltsam befunden? Wollen sie einen Außenseiter-Trottel durch den Kakao ziehen? Oder möchten sie doch mehr wissen von mir und meiner Art zu leben?“ Bei der Party eines Schönheitschirurgen hat er neulich Giulia Siegel getroffen, die vor zwei Jahren im RTL-Dschungel saß und innerhalb weniger Tage den Ruf der Busch-Natter weghatte. Sag dort so wenig wie möglich, habe sie ihm geraten, damit nichts gegen dich verwendet werden kann. Länger gebrütet hat er über der Frage, welche zwei Besitztümer er mit in den Dschungel nehmen solle, wie RTL es den Kandidaten erlaubt. Langhans hat sich für einen Wickelrock entschieden. Und sein Kopfstandbänkchen. In seiner Wohnung macht er gleich mal einen vor. Aus seiner Sicht steht die Welt ALEXANDER KÜHN jetzt kopf.
JOURNALISTEN
OSMAN ORSAL / REUTERS
„Ich lade Westerwelle ein“ Der iranische Außenminister Ali Akbar Salehi über das Schicksal der inhaftierten deutschen Reporter und die angespannten Beziehungen zwischen Teheran und Berlin Salehi, 61, iranischer Vizepräsident und einer der engsten Vertrauten von Staatschef Mahmud Ahmadinedschad, hat an der American University in Beirut Physik studiert, seinen Doktortitel erwarb er am Massachusetts Institute of Technology in den USA. In Wien vertrat er als Botschafter sein Land bei der Internationalen Atomenergiebehörde, 2009 stieg er zum Chef des iranischen Nuklearprogramms auf. Seit dem vergangenen Dezember amtiert er als Außenminister – seine Bestätigung durch das Parlament steht noch aus.
* Und dem deutschen Botschafter in Teheran, Bernd Erbel (M.), am 28. Dezember.
üben wollen. Dafür sind sie bereit, unsere Gesetze zu brechen, statt mit Arbeitsvisa einzureisen. SPIEGEL: Solche Visa sind rar. Journalisten, die trotzdem einreisen, mögen gegen Bestimmungen verstoßen, aber sie begehen doch kein Verbrechen. Salehi: Es ist eine Missachtung unserer Gesetze. So etwas müssen unsere Gerichte ahnden. Hinzu kommt, dass der Verdacht besteht, sie seien von Leuten geschickt worden, die unseren Staat terroristisch bekämpfen. SPIEGEL: Finden Sie es wirklich angemessen, wenn die beiden Deutschen deswegen über viele Wochen in eine Zelle gesperrt sind, ohne Fenster, permanent angestrahlt von Neonlicht? Salehi: Ich weise das in aller Form zurück. Den beiden geht es gut, sie sind gesund und in guter Verfassung. Sie durften sogar ihre Angehörigen sehen. Vergleichen Sie
IMAGO
SPIEGEL: Herr Außenminister, seit jetzt fast hundert Tagen sind zwei Reporter des Axel-Springer-Verlags in Täbris inhaftiert, nur weil sie ein Interview führen wollten. Dieses Vorgehen ist nicht nur vollkommen unangemessen, es ist inhuman. Salehi: Es ist traurig, dass es zu dieser Geschichte gekommen ist. Aber vergessen
Sie doch nicht, was wirklich passiert ist: Hier sind zwei Deutsche mit einem Touristenvisum eingereist und haben bewusst unsere Gesetze verletzt. Sie sind nach Täbris gefahren, um als Reporter über den Fall der Sakine Mohammadi Aschtiani zu berichten … SPIEGEL: … die zum Tod durch Steinigung verurteilt ist wegen einer außerehelichen Beziehung … Salehi: … was nach Auffassung unserer Rechtsexperten ein Verbrechen ist. Aber sie hat auch andere Taten begangen und war mitbeteiligt an der Ermordung ihres Mannes. Sie ist eine Kriminelle wie viele andere auf der Welt. Warum kümmert man sich bei Ihnen so sehr um diese Frau? Weil bestimmte Kreise mit der Berichterstattung politischen Druck auf Iran aus-
Inhaftierte deutsche Reporter mit Verwandter in Täbris*: „Gesund und in guter Verfassung“ D E R
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Medien mal unsere Gefängnisse mit anderen in dieser Region, dann sehen Sie, dass wir uns um einen humanen Strafvollzug bemühen. SPIEGEL: Hundert prominente Deutsche – Kabinettsmitglieder wie Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, Top-Manager wie Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann und Intellektuelle wie Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller – verlangen die sofortige Freilassung der Reporter. Beeindruckt Sie das gar nicht? Salehi: Unabhängig von dieser Aktion haben wir zugesagt, im Einklang mit unserer Gesetzgebung und der im Islam verwurzelten Güte zu handeln. Seien Sie sicher, die beiden Deutschen werden fair behandelt, das verspreche ich. Unsere Justiz hat sich bisher sehr kooperativ gezeigt.
Ost-Aserbaidschan hat immerhin den Vorwurf erhoben, dass „diese beiden Deutschen gekommen sind, um zu spionieren“. Salehi: Von dem Sprecher unserer Justiz in Teheran ist das so nie gesagt worden. Messen Sie nicht jeder Äußerung Bedeutung bei. SPIEGEL: Solche Äußerungen verstärken den Eindruck, dass Hardliner die Journalisten als Faustpfand einsetzen wollen, als politische Verhandlungsmasse. Salehi: Wir spielen nicht mit Menschenleben. SPIEGEL: Wenn Sie Reporter wegen eines Visa-Vergehens über Monate festhalten, kann dieser Eindruck schon entstehen. Die beiden sind ja nicht die Ersten aus dem Westen, die als Angeklagte in Iran für internationales Aufsehen sorgen. Salehi: Ich will Ihnen sagen, was bei uns Aufsehen erregt: wenn die Amerikaner
DPA
Wir tun unser Bestes, um den Fall schnell zu lösen. SPIEGEL: Vor Weihnachten sah es schon so aus, als könnten die Deutschen bald freikommen. Stattdessen klappte nicht einmal eine Familienzusammenführung am Heiligen Abend. Was ist schiefgelaufen? Salehi: Letztlich hat es ja doch geklappt, wenngleich nicht in Teheran, so doch in Täbris. Das war eine humanitäre Geste unserer Justiz. SPIEGEL: Die Hoffnung war, dass die Reporter mit der Überstellung nach Teheran auf freien Fuß kommen und als Gäste der deutschen Botschaft auf ihren Prozess warten können. Salehi: Wir im Außenministerium versuchen, Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die zu Verzögerungen und Schwierigkeiten führen könnten. SPIEGEL: Was kann die deutsche Seite tun? Salehi: Es könnte beispielsweise eine hilfreiche Geste sein, wenn Verlag und Chefredaktion einräumen würden, dass sie einen Fehler gemacht haben. Und sich dafür entschuldigen, statt die Geschichte zu verzerren. Und dafür Sorge tragen, dass sich so etwas nicht wiederholt. SPIEGEL: Haben Sie besondere Erwartungen an die Berliner Politik? Salehi: Mein Kollege Westerwelle und ich haben in dieser Sache schon mindestens fünfmal miteinander telefoniert. Er hat sich beim letzten Mal für meinen Einsatz bedankt. Ich möchte Pressekonferenz der zum Tode verurteilten Sakine Aschtiani: „Faires Vorgehen unserer Justiz“ Herrn Westerwelle über den SPIEGEL herzlich nach SPIEGEL: Außenminister Westerwelle sieht im Irak iranische Diplomaten verhaften, Teheran einladen. Wir sollten unsere Bedas offensichtlich nicht so. Auch er hat wenn in Deutschland ein junger Iraner ziehungen mit aller Kraft ausbauen. Wir den „Antrag der 100“ unterzeichnet. verhaftet und an die USA ausgewiesen sollten über alles sprechen, auch über dieSalehi: Wissen Sie, dass mein deutscher wird, nur weil er nach Teheran Pumpen sen Fall – mit gegenseitigem Respekt. Kollege der Erste war, der mir zur Ernen- verkaufen wollte, von denen Amerika SPIEGEL: Wann sehen Sie den Fall gelöst: nung gratuliert hat? Dabei hat er auch behauptet, sie könnten auch für Atom- in Monaten, Wochen oder Tagen? gesagt: Ich erwarte im Fall der beiden Deut- anlagen eingesetzt werden. Dort darf ihn Salehi: Wenn es nach mir ginge, in Sekunden. Aber versprechen kann ich nur, schen keine festen Versprechungen Ihrer- nicht einmal seine Familie besuchen. seits. Für dieses Verständnis meiner Positi- SPIEGEL: Sie können diese Fälle mit dem alles für ein faires und schnelles Vorgehen on habe ich mich bedankt und ihm gesagt, unserer Kollegen nicht ernsthaft verglei- unserer Justiz zu tun. dass ich mich gerade deshalb besonders chen. Vor einigen Tagen kam es mit Hilfe SPIEGEL: Der Koran fordert von den Gläueinsetzen werde – etwa, um den Besuch Ihrer Justiz zu einer bizarren Veranstal- bigen Barmherzigkeit. Deshalb können der Verwandten in der Weihnachtszeit zu tung: Die Todeskandidatin Aschtiani auch wir im Namen des Heiligen Buchs ermöglichen. Ich bin froh, dass das mit Hilfe drohte auf einer Pressekonferenz die der Muslime die Freilassung unserer Koldeutschen Reporter verklagen zu wol- legen fordern. unserer Justiz geklappt hat. SPIEGEL: Ihre guten Absichten in Ehren. len – sie hätten „Schande über mich und Salehi: Die Islamische Republik befolgt Tatsächlich aber wurden die Reporter im mein Land“ gebracht. den Koran und zeigt Barmherzigkeit geiranischen Staatsfernsehen wie politische Salehi: Diesen Auftritt habe ich nicht ver- genüber allen Lebewesen. Unser verehrfolgt. Aber ich kenne viele scharfmache- ter iranischer Dichter Ferdausi sagt: Quäle Geiseln vorgeführt und gedemütigt. Salehi: Wenn dieser Eindruck entstanden rische Äußerungen aus Deutschland. Ich keine Ameise, denn auch sie hat eine Seeist, bedauere ich das. Aber er ist falsch. kann nur alle Beteiligten davor warnen, le und bedarf unseres Schutzes. Bitte geSPIEGEL: Alles Missverständnisse? Der den Fall zuzuspitzen. Unterlassen Sie be- ben Sie die Hoffnung nicht auf. INTERVIEW: DIETER BEDNARZ, ERICH FOLLATH Chef der Justiz in der zuständigen Provinz leidigende Worte und Interpretationen. 72
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Ausland
Panorama G R O S S B R I TA N N I E N
J-20-Prototyp
Heikle Reise
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REX FEATURES
CH INA
Der China-Bomber E
r ist grau und sieht aus wie ein gefährliches Insekt: der Prototyp eines chinesischen Tarnkappenjagdbombers J-20, den Peking im südwestchinesischen Chengdu vorstellte. Ein Erstflug soll für vergangenen Freitag geplant gewesen sein, wurde aber wegen schlechten Wetters verschoben. Tarnkappenflieger können den Gegner angreifen, ohne dass dieser den Jet auf dem Radar entdeckt. Wie weit die Chinesen bei ihrer Entwicklung wirklich sind, lässt sich kaum sagen, meint Gareth Jennings, Experte beim britischen Fachmagazin „Jane’s Defence Weekly“: „Die äußere Form ist nur eines der Probleme der StealthTechnologie.“ Besonders die Triebwerke – bisher sind sie noch aus russischer Produktion – dürften den Fachleuten Kopfzerbrechen bereiten. Auch die Außenhaut fordert die Ingenieure heraus: Sie muss aus Karbon-Verbundstoffen bestehen und Radarstrahlen absorbieren. Die amerikanische F-22 „Raptor“ dürfte das Vorbild des chinesischen Jets gewesen sein. Sie kostet mehr als 150 Millionen Dollar pro Stück. Die Regierung Obama will deshalb weniger F-22-Maschinen anschaffen als geplant. Die Flieger werden nur selten gebraucht – im Irak und in Afghanistan waren sie nicht ein einziges Mal im Einsatz. Die F-22 sei ein „Jagdflugzeug ohne real existierenden Gegner“, glaubten Kritiker bisher – das könnte sich durch die Premiere von Chengdu allerdings geändert haben.
SPIEGEL: Könnte eine militärische Inter-
ELFENBEINKÜSTE
„Gbagbo will keinen Dialog“ ISSOUF SANOGO / AFP
Issa Koné, Berater des rechtmäßigen Präsidenten Alassane Ouattara, über den Machtkampf in der Elfenbeinküste SPIEGEL: Sie haben sich seit sechs
Wochen mit der Mannschaft des Präsidenten im Golf-Hotel in Abidjan verschanzt, wie ist die Situation? Koné: Uns geht es so weit gut. Die Versorgungslage hat sich verbessert, seitdem die Uno-Mission eine Luftbrücke eingerichtet hat. Wie ich sind die meisten von uns seit Ende November nicht mehr draußen gewesen. Gemeinsam mit dem gewählten Präsidenten Alassane Ouattara warten wir darauf, dass der abgewählte Präsident Laurent Gbagbo endlich aufgibt und wir übernehmen können.
KYODO / REUTERS
er Buckingham-Palast prüft, ob Königin Elizabeth II., 84, noch in diesem Frühjahr zu einer historischen Reise nach Irland aufbrechen soll. Mehr als hundert Staaten hat die Queen besucht, aber noch nie hat sie den Abstecher nach Dublin gewagt. Seit 1922, als sich die Iren von britischer Herrschaft freikämpften, hat kein britischer Monarch seinen Fuß ins Nachbarland gesetzt. Doch weil nun Frieden in Nordirland herrscht, haben sich die Beziehungen zwischen beiden Ländern verbessert. In London hat sich David Cameron als erster Premier für den Blutsonntag von 1972 entschuldigt. Damals hatten britische Soldaten im nordirischen Derry 13 unbewaffnete Demonstranten getötet. Lange galt eine Reise der Queen nach Irland als zu gefährlich: Die irische Terrororganisation IRA hatte 1979 den Onkel ihres Gatten, Lord Louis Mountbatten, während eines Irlandurlaubs ermordet. Die Nationalisten der Sinn-Fein-Partei wollen gegen den Besuch protestieren. Sie sehen in der Queen nur „die Oberkommandierende der britiElizabeth II. schen Streitkräfte“.
Belagertes Golf-Hotel in Abidjan SPIEGEL: Glauben Sie noch an eine
Lösung auf dem Verhandlungsweg? Koné: Gbagbo hat ein ums andere Mal
gezeigt, dass er keinen ernsthaften Dialog will. Auch jetzt haben wir keinen Grund zur Annahme, dass er mehr als nur die üblichen Täuschungsmanöver plant. Wir im Hotel bereiten uns jedenfalls darauf vor, den Abgang von Gbagbo zu erzwingen. D E R
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vention, zum Beispiel durch die westafrikanische Staatengemeinschaft Ecowas, die Lösung bringen? Koné: Präsident Ouattara hat die westafrikanische Staatengemeinschaft bereits aufgerufen, Truppen zu schicken. Soweit wir wissen, haben die Planungen dafür begonnen; wir glauben fest daran, dass uns die Nachbarländer zu Hilfe kommen. Es wäre katastrophal für die gesamte Afrikanische Union, wenn jemand wie Gbagbo mit seiner Taktik durchkäme. SPIEGEL: Fürchten Sie nicht Tag und Nacht eine Attacke der Gbagbo-Anhänger, die alle Zufahrten zum Hotel blockieren? Koné: Gbagbo ist zu schwach, um uns zu attackieren. Zudem werden wir ja nicht nur von 800 Uno-Blauhelmen geschützt, sondern haben auch eigene Soldaten – in Abidjan, aber auch ein paar hundert Kilometer weiter nördlich. Wir werden Gbagbo bald los sein, vermutlich schon Ende des Monats. 73
AFP
Ausland
Gemeinsamer Protest von Kopten und Muslimen in Kairo: „Liebt eure Feinde, und betet für die, die euch verfolgen“
CHRISTEN
Mörder und Märtyrer In Ägypten werden 23 Kopten getötet, in Pakistan bringt ein Leibwächter einen Politiker um, der sich für die Begnadigung einer Christin eingesetzt hat. Viele Regime der islamischen Welt haben den Willen und die Kraft verloren, ihre religiösen Minderheiten zu schützen.
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ie Chalil-Hamada-Straße ist 20 Meter breit, auf der einen Seite steht die „Kirche der Zwei Heiligen“, auf der anderen die Moschee. Die Kirche wurde zuerst gebaut, aber nur ein paar Jahre später die Moschee, und als die Christen einen neuen Trakt anbauten, erweiterten auch die Muslime. Das Minarett überragt den Kirchturm inzwischen deutlich. Fünfmal am Tag füllt sich mit dem Ruf des Muezzins die Moschee. Nur zweimal die Woche läuten die Kirchenglocken. „Himmel und Erde sind erfüllt mit himmlischem Frieden“, singt die Gemeinde in der Neujahrsnacht, es ist das Letzte, was Mariam Fakri hört, als sie mit ihrer Schwester Martina, ihrer Mutter und ihrer Tante als eine der Ersten aus der Kirche tritt. Sie hat den ganzen Tag lang gekocht, jetzt wollen sie nach Hause, das Fasten mit einem Festmahl brechen. Mariam ist 74
21 Jahre alt, in ein paar Tagen will sie sich verloben. Sie studiert, nebenbei unterrichtet sie Jugendliche in der Sonntagsschule der Kirche. Sie ist fröhlich, unbeschwert, sie hat viele Muslime zu Freunden. Bevor sie in den Gottesdienst aufbrach, hat sie noch auf Facebook geschrieben: „2010 ist vorbei, ich habe es genossen, dieses Jahr zu erleben. Ich habe so viele Wünsche. Bitte, Gott, sei an meiner Seite & mach, dass sie sich erfüllen.“ Dann reißt die Explosion Mariam Fakri nieder, sie stirbt in der Chalil-HamadaStraße, unter einem Bild des Apostels Markus, der eine Kirche in der Hand trägt. Auch die anderen drei Frauen werden von Schrauben, Muttern und Kugellagerteilen zerfetzt, mit denen die Täter ihre Bombe gespickt haben. Als Einziger aus der Familie überlebt der Vater, der ein Stück hinter ihnen geht. Er muss MaD E R
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riam am nächsten Tag identifizieren. Sie ist so stark verbrannt, dass er sie kaum erkennt. Danach werden die 4 Frauen im koptischen Minas-Kloster beerdigt, zusammen mit 17 weiteren Opfern, 2 kommen später noch dazu. Das Kloster liegt 60 Kilometer außerhalb von Alexandria. Hier beerdigt zu werden ist eine Ehre. Es ist aber auch eine letzte Demütigung. Die Behörden, heißt es, hätten aus Sicherheitsgründen auf die Beerdigung außerhalb der Stadt bestanden. So hat die Christin Mariam Fakri auch im Tod noch Rücksicht zu nehmen auf den Staat, der sie nicht schützen konnte. Es ist nicht der einzige islamische Staat, der seine Minderheiten und die, die ihnen zu Hilfe kommen, alleinlässt. Drei Tage nach dem Anschlag von Alexandria verlässt, gut 4000 Kilometer
REUTERS DPA
Attentäter Qadri nach seiner Festnahme: „Was er getan hat, macht jeden Muslim stolz“
Verurteilte Christin, Gouverneur Taseer
„Ich bin voller Optimismus“
östlich, ein elegant gekleideter Mann ein Kaffeehaus in Islamabad. Salman Taseer, 66, der Gouverneur der Provinz Punjab, hat einen Freund getroffen, er will nach Hause in seine Villa im Nordosten der pakistanischen Hauptstadt. Bevor Taseer sich bückt, um in seinen Wagen einzusteigen, löst sich ein stämmiger Mann aus der Gruppe seiner Leibwächter, zieht eine Waffe und schießt auf den Gouverneur. Als seine Kollegen, die zunächst untätig stehen geblieben sind, ihn schließlich überwältigen, reckt er das Kinn und lächelt. Auf dem Boden vor dem Gloria Jean’s Café liegt, von mehr als 20 Kugeln getroffen, ein Mann, der sich mit mächtigen Gegnern angelegt hat, der Bigotterie, dem Hetzertum, dem militanten Islamismus. Auch er hat zum neuen Jahr im Internet gepostet: „Ich war unter riesigem Druck,
in der Blasphemie-Geschichte in die Knie zu gehen. Abgelehnt. Und wenn ich der Letzte bin, der aufrecht steht“, hat er getwittert. „Friede, Wohlstand & Glück im neuen Jahr. Ich bin voller Optimismus.“ Auch den Muslim Taseer verfolgt die Angst, die seine Feinde verbreiten, bis über den Tod hinaus. Als die Familie ihn am Tag darauf nach islamischem Ritus beerdigen will, weigert sich selbst der staatliche Vorbeter, ihm die erste Sure zu sprechen. Am Ende nimmt ein Prediger von Taseers Partei die Pflicht auf sich. Sein Freund, der Staatspräsident, kommt nicht zum Begräbnis. Sicherheitsgründe. So wenig der Mord in Islamabad und der Massenmord in Alexandria sonst miteinander zu tun haben mögen – eines verbindet sie. Sie läuten das erste Jahrzehnt nach den Anschlägen vom 11. September 2001 mit einer Gewissheit ein: Der „Kampf der Kulturen“ – im Westen eher eine geschichtsphilosophische Denkfigur – ist für die Christen des Orients blutige Wirklichkeit. In acht der zehn Staaten, die den aktuellen „Weltverfolgungsindex“ der christlichen Organisation „Open Doors“ anführen, ist der Islam die Religion der Mehrheit. In sieben dieser Staaten habe sich die Lage der Christen 2010 sogar verschlechtert. Nicht nur der Papst, nicht nur Bischöfe und Patriarchen rufen dringender denn je zum Schutz der Christen auf. Auch eine wachsende Zahl von Politikern, von D E R
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US-Präsident Barack Obama bis zu CDUFraktionschef Volker Kauder, verschärfen ihre Warnungen. „Wir sind über das Stadium hinaus, in dem man nur seine Bestürzung oder seine Trauer äußert“, beklagt Frankreichs Außenministerin Michèle Alliot-Marie. Sie hat die EU zu einem koordinierten Vorgehen zum Schutz der Christen im Nahen Osten aufgefordert; das Thema solle am 31. Januar auf die Tagesordnung des EU-Außenministertreffens gesetzt werden. Doch Appelle werden nicht reichen. Die Lage ist ernster, als sie es noch vor wenigen Monaten war. Die beiden Anschläge in Ägypten und Pakistan haben beispielhaft vorgeführt, wie schwach die Regime der islamischen Welt sind, die den Schutz der religiösen Minderheiten zwar in ihren Verfassungen verankert, aber längst die Kraft verloren haben, ihre Christen und die anderen Minderheiten zu schützen. Selbst die Eliten, die dies wollen – sie können es nicht mehr. „Ihr seid frei“, hatte Pakistans Staatsgründer Mohammed Ali Jinnah 1947 in seiner Rede an die verfassunggebende Versammlung ausgerufen. „Ihr seid frei, in eure Tempel zu gehen, ihr seid frei, eure Moscheen oder jede andere Gebetsstätte aufzusuchen in diesem Staate Pakistan.“ Es war eine Vision religiöser Toleranz, ein heiliges Versprechen. Der neue Staat übernahm aus BritischIndien vier Paragrafen in sein Strafgesetz75
Ausland islamistischen Diktator in Pakistan kein zum Tode verurteilte Christin im GefängProblem. nis und machte sich im Internet über die Der Missbrauch des Rechts hat aber ge- Mullahs lustig, die ihn dafür hassten. Der nau damals begonnen: Es reicht, wenn eine, twitterte Taseer, habe „transplanein „glaubwürdiger“ Muslim den ver- tiertes Haar“ auf dem Kopf, der andere meintlichen Gesetzesbruch vor einem „eine verschimmelte Perücke“. Es war muslimischen Richter bezeugt, zu bele- sein Todesurteil. gen braucht er den Wortlaut der BeleidiDass ein polizeibekannter Fanatiker gung nicht, allein das gälte ja schon als wie sein Mörder Malik Mumtaz Qadri unBlasphemie. Auch wenn der Staat bislang ter diesen Umständen bis in Taseers Leibnoch keines der Todesurteile vollzogen wache vordringen konnte, zeigt, wie isohat, sind mittlerweile rund tausend Pa- liert Pakistans säkulare Elite inzwischen kistaner auf Grundlage der beiden neuen dasteht, wie weit ihr der Dschihadismus Paragrafen angeklagt worden – zuletzt buchstäblich auf den Leib gerückt ist. Als wurde im November eine christliche Qadri nach dem Mord einem Richter vorBäuerin, eine Analphabetin namens Asia geführt werden sollte, überschütteten AnBibi, verurteilt. Sie soll im Streit mit ihren wälte ihn mit Rosenblättern; einige rissen Nachbarinnen den Propheten verun- sich darum, ihn kostenlos zu verteidigen. glimpft haben. Eine Vereinigung von 500 SchriftgelehrGegen dieses Urteil und gegen die Blas- ten, darunter viele, die bislang als gemäphemie-Paragrafen wandte sich in diesem ßigt galten, pries den Mörder und warnte Winter Punjabs Gouverneur, der Liberale jeden davor, an der Beerdigung des OpSalman Taseer. Er berief sich auf den fers teilzunehmen: „Wer einen Frevler unStaatsgründer Jinnah, er besuchte die terstützt, ist selbst ein Frevler. Was Qadri getan hat, macht jeden Muslim stolz.“ Pakistans führender Intellektueller Ahmed Rashid, der trotzdem zu Taseers Beerdigung ging, klagt: „Niemand außer dem Mörder selbst ist festgenommen worden. Die Regierung schreckt davor zurück, auch nur irgendetwas zu tun.“ Das mache den Liberalen Angst, denn während der Extremismus sich immer weiter ausbreite, türmten sich die wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Probleme. „Wir haben eine sehr, sehr ernste Polarisierung im Land.“ Es ist der bis in die Wortwahl hinein gleiche Befund, den auch der christlicharabische Denker Rami Khouri nach dem Attentat von Alexandria stellt: Die brutalen Angriffe auf Christen in Ägypten und im Irak bezeugten eine „stetig voranschreitende Polarisierung und Abschottung innerhalb der arabischen Gesellschaft. Ihre Segmente, ob es nun Christen, Gottesdienst in einem Assyrer, Schiiten oder Sunniten sind, lechristlichen Ghetto in Islamabad ben immer mehr unter ihresgleichen, anstatt sich zu vermischen“. Drei Generationen seien in der modernen arabischen Welt daran gescheitert, tragfähige, integrative Staaten aufzubauen – und vor allem daran, die „Verwüstungen“ zu unterbinden, die ihre extremistischen Ränder anrichteten. Die schwersten dieser Verwüstungen richtet die sunnitische Qaida-Filiale im Irak an. Seit Jahren versucht sie, entlang den konfessionellen Bruchlinien des Nahen Ostens Bürgerkriege anzuzetteln, auch über den Irak hinaus. Seit Monaten droht sie den Kopten in Ägypten und den anderen Christen der Region. Von der Rhetorik angestachelt, mit der die US-Regierung einst in den Krieg gegen den Terror zog, stellen die Terroristen die Christen des Orients als Verbündete der „Kreuzfahrer“ in einer Weltverschwörung gegen den Islam dar. Vorige Woche legten MICHELE BORZONI / TERRA PROJECT / AGENTUR FOCUS (L.); ASIF HASSAN / AFP (R.)
buch, die 1860 noch von den Kolonialherren verfasst worden waren und die bis heute gelten: Sie stellen die Schändung heiliger Stätten, die Störung religiöser Versammlungen, die Entweihung von Friedhöfen und die bewusste Verletzung religiöser Empfindungen unter Strafe – mit bis zu zehn Jahren Gefängnis. Nur fünf Urteile wurden von 1947 bis 1986 unter Berufung auf diese Paragrafen gefällt. In den achtziger Jahren aber verschärfte Pakistans islamistischer Putschgeneral Zia ul-Haq das Gesetz. Er stellte die Missachtung des Korans und jede „Verunglimpfung“ des Propheten unter Strafe. Aus den vier Paragrafen, die alle Religionen schützten, gingen zwei neue Blasphemie-Paragrafen hervor, die nur mehr den Islam betreffen, der eine mit lebenslanger Haft, der andere mit der Todesstrafe bewehrt. Der Westen ließ Zia gewähren. Solange die Sowjetarmee, der kommunistische Feind, im Nachbarland Afghanistan stand, hatten die Amerikaner mit einem
Gefährdete Gläubige Länder, in denen Christen laut der Organisation Open Doors besonders verfolgt werden. Erfasst werden Berichte über Tötung und Folterung von Christen sowie Gefängnisstrafen, aber auch Repressionen wie Vertreibungen, Entzug der materiellen Grundlagen oder die Einschränkung von Ausbildungsmöglichkeiten. Rangplätze 1 bis 10 Nordkorea, Iran, Afghanistan, Saudi-Arabien, Somalia, Malediven, Jemen, Irak, Usbekistan, Laos
Rangplätze 11 bis 50 Quelle: www.opendoors-de.org
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Muslim-Demonstration gegen liberalen Gouverneur Taseer in Karatschi im November: „Eine sehr, sehr ernste Polarisierung“
sie per Tonband nach: Ägyptens Kopten, griffen, jetzt die Kopten, das Prinzip ist ein Zeichen der Trauer vielleicht, ein paar so behaupten sie seit längerem, hielten dasselbe“, sagt Awad. Der Fundamenta- mitfühlende Worte. Bei der Arbeit sprach Christinnen in ihren Klöstern fest, die zum lismus gewinne, weil der Staat gescheitert ihn niemand auf den Anschlag an. Das Islam konvertiert seien. „Wenn ihr eure sei. „Die Regierung hat versagt: Demo- Schweigen entsetzt ihn. Kirchen zu Gefängnissen macht, werden kratie, Menschenrechte, Wohnungsbau, Etwa zehn Prozent der Ägypter sind wir sie zu Gräbern für euch machen.“ Dienstleistungen. Das Gesundheitssystem Kopten. Doch es gibt fast 95 000 MoDie Strategie ist einfach und perfide: funktioniert nicht, die hygienischen Ver- scheen im Land und nur 2000 Kirchen. Anders als etwa die Schiiten im Irak ha- hältnisse sind katastrophal. Ägypten, mit „Demnächst“, sagt Religionsminister ben die Christen in der islamischen Welt all seiner Macht und Stärke, schafft es Hamdi Saksuk, einer derer, die noch das keine Milizen. Sie sind verwundbar. Hät- nicht, die Grundbedürfnisse der Bevölke- Prinzip eines säkularen Staats vertreten, ten al-Qaida und die pakistanischen Tali- rung zu befriedigen.“ „wird ein Gesetz in Kraft gesetzt, um auch ban, die sich am Donnerstag zunächst Jetzt stehe Präsident Husni Mubarak den Kirchenbau zu regulieren. Das wird zum Anschlag auf Taseer bekannten, Er- nach 30 Jahren an der Macht als einer da, den Kopten helfen.“ Derzeit dauert es folg, würde sich ein Konflikt entzünden, der seine Bürger nicht schützen kann. Jahre, bis die Kopten eine Genehmigung der nicht nur die Christen, sondern die „Das ist kein Konflikt zwischen Muslimen bekommen, eine Kirche zu bauen, klagt Regime selbst bedroht – und es sind eini- und Christen, sondern zwischen dem Makar. „Und wenn es so weit ist, dürfen ge, die dieses Schicksal noch ereilen könn- Staat und den Fundamentalisten“, sagt die Muslime dafür nebenan eine Moschee te: den Irak, wo in den letzten Jahren Awad. bauen.“ 2000 Christen ermordet wurden und Der Kopte Girgis al-Makar, 33, widerDer Bombenanschlag ist der HöheHunderttausende geflohen sind, Syrien, spricht und bittet, seinen wahren Namen punkt eines lange gärenden Konflikts. wo, bislang unbehelligt, drei Millionen nicht zu drucken: „Ägypten hat eine lan- Seit den siebziger Jahren sind rund 200 Christen leben, den Libanon, Jordanien, ge Geschichte der Christenverfolgung, Kopten ermordet worden, vor allem in selbst die Golfstaaten, wo sich Millionen nicht umsonst wird unsere Gemeinschaft Oberägypten. Klöster, christliche Dörfer christlicher Gastarbeiter überwiegend aus ,Kirche der Märtyrer‘ genannt.“ Er kann und Geschäfte wurden von Muslimen anAsien aufhalten. sich erinnern, wie er in der Schule von gegriffen, Mönche entführt, gefoltert oder Vor allem aber Ägypten, das Land mit anderen Kindern beschimpft wurde und zum Übertritt zum Islam gezwungen. der größten christlichen Gemeinde des bei gleicher Leistung schlechtere Noten Täglich protestieren nun die Kopten, Nahen Ostens, etwa sieben Millionen bekam. Dann hat er Ägyptologie, islami- in Kairo warfen sie vor der Sankt-MarKopten. Der Muslim Mohammed Awad sche Archäologie und Geschichte studiert, kus-Kathedrale mit Steinen nach einem ist ein namhafter Intellektueller in Alex- sechs Jahre davon in Heidelberg. Einen Minister, der dem koptischen Papst Scheandria, sein Büro befindet sich in der neu- Job an der Alexandrina hat er trotzdem nuda III. einen Kondolenzbesuch abstaten Bibliotheca Alexandrina, einem küh- nicht bekommen. „Ich habe als Christ kei- tete. Das ist neu. Bislang haben nur die nen Beton-und-Glas-Bau am alten Hafen. ne Beziehungen“, sagt er. Auch Moham- Muslime demonstriert. Für ihn sind nicht die Kopten das Ziel med Awad habe ihn damals abgelehnt, Kein Thema erregt deren Gemüter so des Anschlags, sondern der säkulare jetzt arbeitet der hochqualifizierte Ägyp- sehr wie die Konversion zum ChristenStaat. tologe als Deutschlehrer. tum. Ein Priester, der, wie er sagt, fast „In den neunziger Jahren haben sie TouEr hat nach dem Anschlag von nieman- täglich Neu-Christen tauft, will seinen Naristen und muslimische Aufklärer ange- dem eine Entschuldigung erwartet, aber men deshalb ebenfalls nicht gedruckt seD E R
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„Sie brauchen unsere Hilfe“ Nach dem Terroranschlag auf die Kopten regt sich in Deutschland Protest gegen die weltweite Christenverfolgung.
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JOCHEN LÜBKE / DPA
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Bischof Damian, Ministerpräsident McAllister
Zeichen der Solidarität
„Die Chancen in Deutschland sind gleich null“, rügt Fouad Ibrahim, emeritierter Professor für Sozialgeografie an der Universität Bayreuth und Kopte. Vor allem das erklärt, warum Asylanträge koptischer Christen aus Ägypten so selten sind. Das saarländische Oberverwaltungsgericht stellte schon 2004 fest, dass
„christliche Kopten in Ägypten keiner politischen Verfolgung im asylrechtlichen Verständnis“ unterlägen. Wer von seinen Glaubensbrüdern und -schwestern fliehen wolle, versuche es deshalb lieber gleich in Schweden oder in Kanada und den USA; dort seien die Behörden nicht so strikt wie die deutschen, sagt Ibrahim. Selbst bei Konvertiten, in denen Muslime Verräter an Gott sehen, entscheiden deutsche Richter nicht einheitlich zugunsten der Flüchtlinge. Im Mai 2009 stellte das Verwaltungsgericht Minden immerhin fest, dass eine Ägypterin bleiben dürfe, die 2005 nach Deutschland gekommen war. Die Frau war zwei Jahre zuvor zum koptischen Glauben übergetreten. Als ihr Ex-Mann das erfuhr, versuchte er, ihr die beiden Söhne wegzunehmen; die Frau verließ Ägypten gerade noch rechtzeitig mit den Kindern.
SEAN GALLUP / GETTY IMAGES
s ist vermutlich nicht ganz leicht, als Gesandter einer kirchlichen Splittergruppe mit nur 6000 Gläubigen einen Termin bei einem deutschen Spitzenpolitiker zu bekommen. Normalerweise. Am vergangenen Mittwoch öffneten sich die Türen für Bischof Anba Damian dann aber wie von allein. Niedersachsens Landesvater David McAllister hatte den Oberhirten der Kopten in Deutschland in seine Staatskanzlei eingeladen und empfing ihn mit herzlichen Worten: „Unsere Solidarität ist mit denen, die aufgrund ihres Glaubens verfolgt werden.“ Tags darauf schützte ein Polizeiaufgebot koptische Weihnachtsgottesdienste in Lehrte und Frankfurt, in Düsseldorf und Berlin: Reaktion auf Anschlagsdrohungen, die auf zwei islamistischen Hetzseiten im Internet erschienen waren. So wie McAllister hatte auch Bundeskanzlerin Angela Merkel nach dem Aufruf im Netz Solidarität mit den Kopten verlangt. „Wir alle sind verpflichtet, für Religionsfreiheit einzutreten“, sagte sie am Wochenende in ihrem regelmäßigen Video-Podcast; kurz vorher hatte sie in einer Rede zum Dreikönigstag in Neubrandenburg gefordert, „dass Christenverfolgung bekämpft wird, wo immer sie stattfindet“. Auch Unionsfraktionschef Volker Kauder fand starke Worte: „Es ist eine traurige Wahrheit, dass Christen vor allem in Ländern verfolgt werden, wo Muslime die Mehrheit haben.“ Geht es nach Kauder, soll künftig die Entwicklungshilfe „gezielt zur Förderung von christlichen Projekten in Ländern eingesetzt werden, in denen Christen unter Druck stehen“. Aus dem Urlaub heraus kündigte er an, als „Zeichen der Solidarität“ schnellstens nach Ägypten zu reisen: „Sie brauchen unsere Hilfe.“ Allerdings: Wenn es in der Vergangenheit darum ging, verfolgten Christen Asyl zu geben, hielten sich deutsche Politiker lieber zurück. Nur bei irakischen Christen leistete sich die Bundesrepublik in den vergangenen beiden Jahren ein Aufnahmeprogramm für gerade mal 2500 Flüchtlinge. Für verfolgte Kopten war Deutschland dagegen noch nie eine einfache Zufluchtsstätte.
Koptischer Gottesdienst in Berlin: „Abstimmung mit den Füßen“
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RALF BESTE, JÜRGEN DAHLKAMP, PETER WENSIERSKI
IMAGO
Solche Fälle sind auch der Bundesregierung bekannt, doch bislang prangerten in Deutschland nur Kirchen und Menschenrechtsorganisationen die Christenverfolgung immer wieder an. Die Katholiken betreiben dazu eigens eine Initiative „Solidarität mit verfolgten und bedrängten Christen in unserer Zeit“; der Trierer Bischof Stephan Ackermann reist diese Woche nach Jerusalem, um die Lage der Christen in Israel und den Palästinensergebieten zu erkunden. Zu den ständigen Mahnerinnen auf protestantischer Seite gehört die frühere EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann. Als Gast der CSU in Wildbad Kreuth beklagte sie in der vergangenen Woche erneut, vielen in Deutschland sei nicht bewusst, „dass Christen die weltweit am meisten verfolgte Religionsgruppe sind“. Beide Kirchen beließen es auch jetzt nicht bei Solidaritätsadressen, sondern schickten ranghohe Vertreter in die koptischen Weihnachtsmessen. Besonders dramatisch ist die Lage der Christen im Irak. Von den 1,2 Millionen Christen, die im Jahr 2003 noch dort gelebt haben sollen, haben sich mittlerweile 900 000 vor muslimischem Mob und Killerkommandos ins Ausland in Sicherheit gebracht. Die evangelische wie die katholische Kirche haben bisher vergebens gehofft, dass Deutschland statt der 2500 Flüchtlinge mindestens 30 000 aufnehmen würde. Immerhin forderte Berlins Innensenator Ehrhart Körting (SPD) am vergangenen Mittwoch in einem Brief an den Bundesinnenminister Thomas de Maizière ein neues Aufnahmeprogramm. Die „Abstimmung mit den Füßen“ irakischer Christen gehe weiter. „Wenn Syrien und Jordanien jeweils in der Lage sind, Flüchtlinge von einer Million oder mehr aufzunehmen, dann sollten wir unsere Bereitschaft, religiöse Minderheiten aus dem Irak aufzunehmen, von 2500 auf 25 000 erhöhen.“ In seinem jüngsten, vertraulichen Lagebericht kommt auch das Auswärtige Amt zu der Einschätzung, dass die Massenflucht aus dem Irak anhalte und „nur schwer aufzuhalten“ sei. Der irakische Staat, so das Ministerium, sei gegen die Gewaltattacken weitgehend ohnmächtig. Die anhaltende Christenverfolgung in aller Welt ist denn auch für Matthias Kopp, den Sprecher der Deutschen Bischofskonferenz, eine allzu vertraute Erfahrung: „Wir müssen mittlerweile alle paar Tage kondolieren, weil es eine Kette von Gewalttaten gegen Christen über mehrere Kontinente hinweg gibt.“
Mahnwache für koptische Terroropfer in Kairo: „Erfüllt vom himmlischen Frieden“
hen. Auch seine Gemeinde steht auf der boten. „Es sind jedenfalls so viele, dass Todesliste, welche die Qaida veröffent- wir eine Warteliste führen“, sagt er. licht hat. Trotzdem wachen am WeihNoch ist Ägypten nicht wie Pakistan, nachtstag nur zwei Polizisten vor seiner noch hat nach dem Anschlag auf die KopKirche, Kontrollen gibt es keine. ten keiner gejubelt und kein Anwalt sich Der Priester, ein alter Mann mit tiefen aufgedrängt, einen der Hintermänner zu Augenringen, sagt, er sei kein Missionar. verteidigen – sollte je einer gefunden werEr helfe nur, wenn ihn Muslime mit Fra- den. Stattdessen haben der Präsident, der gen zum Christentum aufsuchten. Wer Scheich der Azhar-Universität, der wichernsthaft glaube, den bereite er auf die tigsten Stätte sunnitischer Gelehrsamkeit, Taufe vor. und selbst der Murschid al-Aam, der Alles muss geheim bleiben, der Bibel- „rechtgeleitete Führer“ der fundamentaunterricht, die Taufe selbst, die Identität listischen Muslimbruderschaft, das Attender Gläubigen. „Bekehrte Frauen tragen tat scharf verurteilt. Zu tief ist der Abweiterhin den Schleier, damit sie nicht grund, in den sie alle am Neujahrstag geauffallen“, sagt der Priester. Trotz aller blickt haben. Tarnung wissen die Männer vom GeheimAls sich die Gläubigen fünf Tage nach dienst natürlich, was er tut. Ab und zu dem Anschlag zum koptischen Weihschicken sie ihm Textnachrichten. Er soll nachtsfest wieder in der „Kirche der Zwei wissen, dass sie ihn beobachten. Heiligen“ versammeln, sind doppelt so Der Priester darf nicht ins Ausland viele Christen gekommen wie sonst, im reisen, der Staat betrachtet ihn als eine Innenhof drängen sich die Leute. Helfer Gefahr für die nationale Sicherheit. verteilen weiße Armbinden, auf denen Manchmal schickt ihm die Geheimpolizei eine Bitte aus dem Matthäus-Evangelium auch Lockvögel. Daher testet er die steht, Kapitel 5, Vers 44: „Liebt eure FeinNeulinge erst, fragt sie nach der „heiligen de, und betet für die, die euch verfolgen.“ Dreifaltigkeit“ und nach dem Leben Jesu. Ein blutverschmiertes Laken hängt „Einmal machte mir eine Frau Avancen, über einem Holzkreuz. Und jemand hat vermutlich, damit der Geheimdienst ein Poster ausgerollt, es zeigt Jesus und etwas gegen mich in der Hand hat“, er- seine Apostel im Paradies. Auf die Köpfe zählt er. Ein andermal wurde ein Kon- der Jünger Jesu wurden die Köpfe der vertit festgenommen, als er aus Ägypten Gestorbenen montiert, auch Mariam ist fliehen wollte, und gezwungen, den abgebildet. „Ich bin froh“, sagt einer der Priester auszuspionieren. „Sie haben ihm Gläubigen. „Unsere Märtyrer sind jetzt einen Stift gegeben, in dem ein Abhör- bei Jesus, es geht ihnen gut.“ gerät versteckt war, danach haben sie Wieder singen sie, wieder sind Himmel es so manipuliert, dass es jetzt klingt, als und Erde erfüllt vom himmlischen Frieob ich den Islam beleidige.“ Er ist sicher, den. Diesmal bleibt alles ruhig. Und als dass sie das Tonband aufheben und es die Christen die Kirche verlassen, stehen im rechten Moment veröffentlichen hinter der Polizeikette ein paar Dutzend werden. Muslime mit brennenden Kerzen und saWie viele Muslime zum Christentum gen leise: „Frohe Weihnachten“. HASNAIN KAZIM, JULIANE VON MITTELSTAEDT, konvertieren, mag er nicht sagen. Die BeYASSIN MUSHARBASH, DANIEL STEINVORTH, kehrung von Muslimen ist in Ägypten VOLKHARD WINDFUHR, BERNHARD ZAND wie in anderen islamischen Ländern verD E R
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Ausland Grenzpatrouille im türkischen Dorf Doyran
FLÜCHTLINGE
Hintertür zur Festung Europa Durch einen Sperrzaun an der türkischen Grenze will Griechenland sich gegen Zuwanderer schützen. Doch die Fluchthelfer aus der Türkei sind skrupellos: Im Geschäft mit dem Traum von Freiheit und Wohlstand nehmen sie Umwege und Todesopfer in Kauf. Von Manfred Ertel und Walter Mayr AGATA SKOWRONEK / DER SPIEGEL
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auch Hani vor. Nur will er, anders als von Platz finden, in sieben Schlafsälen. Tatden Behörden gefordert, nicht zurück in sächlich seien zurzeit doppelt so viele da, seine Heimat Marokko, sondern nach sagt ein Wachmann, und fügt hinzu: Westeuropa. Wie die meisten, die es hier- „Willkommen in Griechenlands Guanher verschlägt. tanamo.“ Filakio, im Nordosten Griechenlands Hinter dem doppelten Stacheldrahtverdicht an der Grenze zur Türkei und zu hau, an dessen Fuß sich eine stinkende Bulgarien gelegen, ist Europas derzeit be- Kloake gebildet hat, quellen Müllcontairüchtigtstes Sammellager für Flüchtlinge. ner über, Dutzende offener Plastiksäcke 372 Gestrandete sollten hier ursprünglich und lose Wäschehaufen türmen sich daneben, Ratten huschen über den Hof. BULPolizisten betreten die Gebäude bisweiGARIE N len mit Mundschutz; die seltenen BesuMaritza Edirne cher werden von Lagerinsassen mit Klageplanter gen bestürmt. Grenzzaun Nea Vissa 1500 Quadratmeter Wohnfläche bietet Doyran das Lager, ein Schlafsaal ist für Frauen Filakio reserviert, einer für Minderjährige, fünf Elçili Orestiada für Männer. Acht Duschen und acht ToiTÜRKEI letten gibt es pro Saal, dazu wird dreimal am Tag Essen von draußen geliefert. Doch wenn Filakio mit fast 800 Flüchtlingen belegt ist – und an besonders schlimBULGARI EN men Tagen sind es auch mehr –, dann werden die Zustände unerträglich, dann GRIECHENquetschen sich die Menschen in den lanTÜRK EI LAND gen Reihen mit Doppelstockbetten. Viele GRIECHENLAND müssen auch auf dem Boden schlafen, die Toiletten sind häufig verstopft und in den Gängen steht das Wasser. 20 km In den Brennpunkt internationalen InÄgäis teresses rückte Filakio erst, als bekannt Ma
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ls der Bus Richtung Athen schließlich abfährt, sieht es vor dem Auffanglager Filakio aus wie nach einer Massenpanik: Herrenlose Sandalen, Pullover und Rucksäcke, alles liegt am Boden, in größter Eile zurückgelassen. Zitternd vor Kälte haben die Flüchtlinge kurz zuvor noch bei drei Grad minus auf Strümpfen im Matsch gestanden und sich stadtfein gemacht – frische Jeans angezogen, Turnschuhe, Wildlederjacke: Galal Hani und die anderen aus dem griechischen Lager. Nun sind sie unterwegs in ihr neues Leben. Hani, 30 Jahre alt, Marokkaner, ist mit einem Billigflieger von Casablanca nach Istanbul gereist, erzählt er. Dort hat er den Bus in die türkische Provinzmetropole Edirne genommen und dann zu Fuß die grüne Grenze überwunden. Aus dem Flüchtlingslager Filakio entlassen, will der junge Mann jetzt über Athen weiter nach Italien, wo angeblich schon die Ex-Freundin mit dem gemeinsamen Kind wartet. Seine Papiere sind auf der Flucht angeblich verlorengegangen. Er trägt nichts bei sich als eine Bescheinigung aus dem Auffanglager. Dieser Freifahrtschein ins Nirgendwo beglaubigt amtlich, dass der Flüchtling „abgeschoben“ sei und Griechenland binnen 30 Tagen zu verlassen habe. Das hat
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Flüchtlinge vor dem Lager Filakio
MANFRED ERTEL / DER SPIEGEL
Freifahrtschein ins Nirgendwo
wurde, dass Griechenland die nahegele- mehr Flüchtlinge auf dem Landweg nach gene Grenze zur Türkei künftig mit Osten aus. Seit die Türkei Visafreiheit für einem Sperrzaun absichern will: Entlang die Maghreb-Staaten eingeführt habe, jenes gut zwölf Kilometer langen Land- sagt Salamangas, sei eine weitere Veränstreifens, der unter Fluchtwilligen aus der derung spürbar: Neben Afghanen, Irahalben Welt inzwischen als Highway kern und Palästinensern kämen nun in hinein ins EU-Gebiet bekannt ist – weil der Mehrzahl Menschen aus Marokko, Alnur hier, wo der Fluss Maritza einen gerien und Tunesien. „Die kannten wir Knick macht, die türkische Nordgrenze bisher gar nicht“, sagt Salamangas. über Land verläuft und der Marsch auf Dem schnauzbärtigen griechischen Podie Festung Europa trockenen Fußes mög- lizeidirektor liegt daran zu beweisen, dass lich ist. ihm das Schicksal der Flüchtlinge nicht Diese Hintertür soll nun geschlossen gleichgültig ist. Auch er habe mit angewerden. Rund 27 000 illegale Grenzüber- packt, als im vergangenen Juni 16 Leichen tritte allein in diesem Abschnitt registrier- aus dem Fluss geborgen werden mussten ten die Griechen im vergangenen Jahr. – sie waren in der reißenden Maritza erWie viele es wirklich waren, weiß nie- trunken. mand, die Dunkelziffer ist hoch. 12 000 Die Maritza fließt dem Marmara-Meer weitere Flüchtlinge schafften es an ande- entgegen, in der Flussmitte Griechenland ren, weniger bequemen Stellen schwim- von der Türkei trennend, den Orient vom mend, watend, im Boot oder auf dem Eis Okzident, die Europäische Union von ihüber die Maritza – türkisch: Meriç, grie- rem Hinterland. chisch: Evros. Neun von zehn illegalen Die Frau, die am vergangenen MittEinwanderern kommen derzeit über Grie- woch nachts auf türkischer Seite geborchenland in die EU, die meisten davon in gen wird, ist dunkelhäutig, etwa einsder Region, für die Georgios Salamangas siebzig groß und trägt das Haar zu einer verantwortlich ist. Rastafrisur geflochten. „Somalierin ver„Hier herrscht Kriegszustand“, sagt der mutlich“, sagt ein dabeistehender Arzt, Chef der Polizeidirektion in Orestiada. er sieht ein solches Opfer nicht zum ersWeil im gesamten Mittelmeerbereich zwi- ten Mal. schen Gibraltar und der Ägäis die KonSie muss eine Weile tot im Wasser getrollen verschärft wurden, wichen immer legen haben. Die Gesichtszüge sind, so D E R
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wie die Frau da nun angeliefert wird im Hinterhof eines Krankenhauses der türkischen Provinzhauptstadt Edirne, nicht mehr vollständig auszumachen. Der leblose Körper wird in eine weiße Plastikhülle gesteckt und in einem gekachelten Zimmer abgestellt. Mehr als 40 Tote sind der EU-Grenzmission Frontex zufolge im vergangenen Jahr allein am griechischen Ufer der Maritza angespült worden. Vergleichbare Angaben von türkischer Seite fehlen. Nur Kurzmeldungen tauchten auf in Tageszeitungen: 18 Leichen in den ersten Tagen des vergangenen Jahres; 4 tot Geborgene, vermutlich Palästinenser, dann im April; ein weiterer beim Dorf Elçili im September. Wer aber war die Tote mit der Rastafrisur? Wie und mit wem kam sie in dieser eisigen Januarnacht ans Maritza-Ufer? Die Behörden an der türkisch-griechischen Grenze stehen vor Rätseln, die selbst mit bestem Willen schwer zu lösen sind. Professionelle Schlepper nehmen Fluchtwilligen in der Regel, ehe es ernst wird, persönliche Habe, Pässe und Mobiltelefone ab – alles, was ihre Herkunft verraten und ihre spätere Abschiebung aus der EU erleichtern könnte. Die Tote mit der Rastafrisur wird 15 Tage lang in der Pathologie aufbewahrt werden. So lange haben Verwandte oder Freunde Gelegenheit, die Leiche zu identifizieren und eine Überführung in die Heimat zu beantragen. Weil die Zeit drängt, zählt nun jede Spur. Und so schart sich im „Kringel-Palast“, einem Café im von Zuwanderern geprägten Istanbuler Stadtteil Aksaray, schon am Tag nach der Bergung der Toten eine Handvoll Hilfswilliger um zwei elegante dunkelhäutige Frauen, die vier Tage zuvor beim Versuch, die Maritza zu überqueren, gescheitert sind. Zwei Fluchtgefährten, ein Mann und eine Frau, so sagen sie, seien auf dünnem Eis eingebrochen und ums Leben gekommen. Die Frau soll Senait Ariaya geheißen haben, 28 Jahre alt, geboren in Eritrea. Sie trug eine Rastafrisur, wie die Tote vom Hinterhof des Krankenhauses in Edirne. Auch sie war um die einssiebzig groß und schlank. Senait, sagen die Überlebenden der Tragödie, sei schon seit vier Jahren auf der Flucht in Richtung Europa gewesen – auf Irrwegen über den Sudan nach Ägypten, über Dubai nach Istanbul und von dort weiter zur griechischen Grenze. Senaits Fluchtgefährtinnen, selbst dem Tod entronnen, wissen nicht, wo sie Auskunft erbitten könnten. Untergetaucht in Istanbul, rechtlos vor dem türkischen Staat, ratlos in ihrem Schmerz, haben sie mit sich selbst zu schaffen. Wer aus 81
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Provinzchef Sözer
Schmunzeln über die christliche Sanftmut
MANFRED ERTEL / DER SPIEGEL
Eritrea fliehe, träume nicht von Reichtum, sondern von Freiheit, sagen sie noch. Dann schieben sie ihre Teetassen von sich, verlassen den „Kringel-Palast“ und verschwinden im abendlichen Gewühl auf den Straßen und Gassen von Aksaray. Wer es bis Aksaray geschafft hat, ist keine drei Autostunden mehr von der EUGrenze entfernt. Und einen Großteil seines Ersparten oder Geborgten schon los. Sagt der Schlepper. Er ist ein freundlicher, muskulöser Mann von Ende dreißig und soll hier Ekrem genannt werden. Zum Treffen mit ihm bitten zwei seiner Mitarbeiter in ein karges Büro hinter der Selimiye-Moschee im Herzen Edirnes. Wenn Istanbul der Umschlag- und Finanzplatz im Geschäft mit den Fluchtwilligen ist, dann dient Edirne als Außenposten. Die alte Hauptstadt des Osmanischen Reichs, von jeher Schnittpunkt der Kulturen und Religionen, Durchgangsstation für Eroberer und Geschlagene, ist unverändert ein Fixpunkt für Menschen auf der Flucht. Aus der Türkei vertriebene Griechen kamen nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs durch Edirne; kurz vor Ende des Kalten Kriegs waren es Zehntausende Türken, die aus Bulgarien hierher flohen; und neuerdings sind es Menschen von der Schattenseite der globalisierten Welt, die hinter blickdichten Fensterscheiben großräumiger Fahrzeuge nachts durch Edirne Richtung MaritzaFluss gebracht werden. Es muss nicht der drohende Hungertod sein, der sie treibt. „Die Sache ist so“, sagt Ekrem, der Schlepper: „Das ganze Paket kostet für meine Kunden bis zu 10 000 Euro, abhängig davon, woher der Flüchtling kommt. Viele Klienten werden aus dem Irak in die Türkei gebracht. Von der Grenze an geht es im Bus oder Lkw nach Istanbul. Eine Eskorte fährt zwei Kilometer voraus, um vor möglichen Kontrollen zu warnen. Am Bosporus werden sie dann abgeladen, im Stadtteil Aksaray oder Umgebung.“ Der Weitertransport werde erst in der Folge organisiert, sagt Ekrem, das Geschäft mit den Flüchtlingen sei „ein freier Markt“, in dem Kurden eine führende Rolle spielten: „Viele von ihnen kommen aus dem äußersten Südosten und wurden deshalb zum Militärdienst in die entgegengesetzte Richtung, nach Edirne versetzt. Sie kennen also das Terrain.“ Zur griechischen Grenze geht es in Kleinbussen mit ausgebauten Sitzen im Fond: „25 Leute drin, gestapelt wie Tomatenkisten“, sagt Ekrem. Entscheidend fürs Signal zum Aufbruch sei nicht der Wetterbericht, sondern der Dienstplan in den grenznahen Kasernen der türkischen Miliz: „Die Offiziere dort sind zu anspruchsvoll, zu teuer; wir arbeiten
AGATA SKOWRONEK / DER SPIEGEL
Ausland
Frontex-Hauptkommissar Weiser
„Das Problem soll in der Türkei bleiben“
mit den unteren Dienstgraden; sie teilen uns mit, wer wann wo auf Patrouille geht.“ Die Zusammenarbeit mit der Miliz sei gut; einfache Soldaten würden mit kostenlosen Handykarten, 400 Euro pro Aktion und dazu dem türkischen Restgeld der Flüchtlinge dafür entschädigt, dass sie die Augen zudrücken, sagt Ekrem. So komme jeder auf seine Kosten: „Nur Allah kann es sich manchmal erlauben, zu nehmen und nichts dafür zu geben.“ 200 Euro pro Flüchtling für die einfache Bootspassage über den Fluss berechnet Ekrem selbst, und 600 Euro für die Luxusversion: Absetzen an einem bestimmten Kilometerstein entlang der griechischen Schnellstraße und Organisation des Weitertransports. D E R
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In seiner besten Nacht, sagt der Schlepper, habe er 650 Flüchtlinge in Booten nach Griechenland gebracht. Nicht weit, aber doch weit genug entfernt von jenem Streifen Land, den die Griechen nun mit ihrem Zaun abriegeln wollen. Doch auch mit einer solchen Grenzsperre sei das „große Loch“ nicht zu stopfen, räumt Hauptkommissar Gennaro di Bello, Chef des deutschen Kontingents der EU-Grenzmission Frontex ein. Von Nutzen könnte das Bauwerk trotzdem sein: „Ein Zaun wäre eine Abschreckung und gäbe uns mehr Zeit zu reagieren.“ Di Bello und seine Kollegen aus sämtlichen Staaten der Europäischen Union sind seit dem 1. November auf griechische Bitte hin an der türkischen Grenze stationiert und haben die Zahl der Flüchtlinge senken können. Den wichtigsten Punkt seines Auftrags benennt der Görlitzer Hauptkommissar Marco Weiser ohne Umschweife: Die Frontex-Leute sollen dafür sorgen, dass „das Problem in der Türkei bleibt“. „Das Problem“, das sind Menschen wie jene, die am vergangenen Dienstag, früh um halb sieben, bei klirrender Kälte in Nea Vissa ankommen, nur wenige hundert Meter hinter der Grenze, zitternd im Frost und einige sogar barfuß und in zerlumpten Kleidern. Was tun mit ihnen – zurückschicken in die Türkei? Gewalt und Waffeneinsatz ist den Frontex-Leuten, ausgenommen zur Selbstverteidigung, strikt untersagt. Und so warten die Flüchtlinge, sobald sie griechischen Boden unter den Füßen haben, geradezu demonstrativ auf das Eintreffen der EUGrenzer: „Wenn wir Flüchtlinge verfolgen“, sagt Hauptkommissar di Bello in entwaffnender Offenheit, „dann, damit ihnen nichts passiert.“ Drüben in Edirne, wo nachts im Scheinwerferlicht die Sülemiye-Moschee mit ihren vier Minaretten erstrahlt, schmunzeln sie über die Sanftmut der christlichen Nachbarn und rühmen sich rauerer Gangart. „Frontex, was ist das? Die haben einen Hubschrauber und dazu ein paar Leute, die nur beobachten“, sagt Gökhen Sözer, als Vali der höchste Verwaltungsbeamte in der Provinz. Das Büro des Provinzchefs, der in Anzug, Krawatte und blankpolierten Budapester Schuhen empfängt, hat die Ausmaße einer der Großraumzellen für Abschiebehäftlinge in Edirne. „Wir haben im vergangenen Jahr 11 400 Flüchtlinge geschnappt“, sagt der Vali. „Mit dem Bau des Zauns wollen die Griechen uns nur schlecht dastehen lassen vor der EU.“ Das sei eine Ungerechtigkeit, kein Zweifel, der Vali ist bereit, das zu beweisen. An der berüchtigten Fluchtstelle, wo noch auf türkischem Boden eine Brücke über die Maritza führt und sich von da aus ein freies Feld Richtung Griechenland
CH INA
Kollektiv im Kaufrausch In Europa verteilt Vize-Premier Li großzügig Aufträge und investiert in Staatsanleihen. Zu Hause will er seine Landsleute vor allem zum Konsum erziehen.
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ie Massen drängen heran, Uniformierte stehen Spalier in schwarzen Anzügen. Das Schauspiel flankiert nicht einen Parteitag der Kommunistischen Partei, sondern nur die Eröffnung der ersten offiziellen Gap-Boutique auf chinesischem Boden. Schon morgens um zehn Uhr schieben sich immer mehr Kunden in den Laden in Shanghai. Ein paar Häuser weiter star-
tete kürzlich auch Media Markt sein erstes Elektronikgeschäft in der Volksrepublik. Bis Ende 2015 will der federführende Metro-Konzern mit über hundert weiteren Filialen expandieren. Die Ankunft der westlichen LifestyleKetten symbolisiert den Beginn von Chinas nächster Revolution, und zumindest im Wohlstandsgürtel der Ostküste von Peking über Shanghai bis ins südliche
ROBERT KAH / IMAGETRUST
erstreckt, sei ein Kontrollposten eingerichtet. Er selbst habe verfügt, dass dort nun rund um die Uhr Posten stünden. Man möge sich davon überzeugen. Es ist die Nacht zum Mittwoch. Die Nacht, in der die Frau mit der Rastafrisur ein Stück flussabwärts am Ufer entdeckt wird. Über die Lausanne-Straße donnern neben Privatwagen Kleinbusse und Lieferautos ungehindert in Richtung griechischer Grenze. Der Kontrollpunkt ist besetzt, es sind auch vier Beamte am Ort, allerdings, dem Frost Tribut zollend, im beheizten Wageninneren. Immerhin, Selvan Topçu, der Presseoffizier, ist bereits eingetroffen und gibt augenblicklich mittels Mobiltelefon Befehle in verschiedene Richtungen. Binnen Minuten entfesselt er so ein Spektakel von orientalischer Pracht: vier weitere Beamte treffen ein, insgesamt acht Grenzer trotzen nun im Freien dem Frost, reißen mannhaft die Türen von Kraftwagen und Bussen auf oder fordern Ausweispapiere. Ergebnis: nichts. Keine Illegalen. Erst später in der Nacht, das Blaulicht ist längst ausgeschaltet und das Großaufgebot an Beamten abgezogen, fließt der Verkehr über die Maritza-Brücke wieder wie immer. Wer hat sie zuletzt gesehen vor ihrem Tod, die Frau mit der Rastafrisur? Im türkischen Dorf Doyran an der Maritza muss es gewesen sein. Dort ist sie gefunden worden. Ein gottverlassenes Nest, 30 Kilometer südlich von Edirne gelegen, ist dieses Doyran. 350 Häuser, jede Menge streunende Hunde. Reis und Melonen bauen sie hier an, und hinter den letzten Gehöften, wo schon der Fluss die Ebene zerschneidet, herrscht ab sechs Uhr abends Totenstille: militärisches Sperrgebiet. In hellerleuchteten Kaffeehäusern sitzen die Männer beim Domino, blicken kurz auf und schütteln den Kopf. Nein, nichts gesehen, nichts gehört. Wenig später verständigt einer die Miliz. Fremde, die zu viel fragen, sind in Doyran ein Fall für die Ordnungskräfte. Fremde hingegen, die verschwinden, sind in dieser Gegend ein Fall für die Verwandten – selbst wenn die Fremden von weither gekommen sind. Sollte sich niemand melden, wird allerdings die in Doyran geborgene Tote mit der Rastafrisur in wenigen Tagen den Weg nehmen, den hier schon viele vor ihr genommen haben. Er führt hinunter zu einem Friedhof bei der Zigeunersiedlung in der Nähe von Edirne. Dort betten sie dann, unter aufgetürmter lehmiger Erde, die Namenlosen aus dem Maritza-Fluss zur letzten Ruhe – fern der Heimat, aber nah am Ziel. Luftlinie zehn Kilometer weiter beginnt die Europäische Union.
Einkaufsstraße in Shanghai: Völker, an die Regale! D E R
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Großeinkauf
RAINER JENSEN / DPA
Shenzhen hat der kollektive Kaufrausch gierung die Inflation unter Kontrolle be1941* der aufstrebenden Mittelschicht bereits kommt, auch wenn sich wohlhabende begonnen. Großstädter wie Zhang und seine Frau Private Konsumausgaben Die Parteispitze macht es vor – im Gro- in China, in Mrd. Dollar Xu von höheren Preisen kaum beirren 1773 1750 ßen: Vergangene Woche tourte Vize-Pre- Laufende Preise; Quelle: IWF lassen. mier Li Keqiang durch Europa. In Berlin *Prognose; Quelle: EIU Als nächste Anschaffung wäre für das lobte er deutschen Fleiß und Disziplin Paar ein Auto fällig. Seit Ausbruch der 1500 und die Qualität von Waren made in Gerglobalen Finanzkrise fördert die Regiemany. Drei Tage war er allein in Deutschrung den Kauf von Fahrzeugen durch Senland unterwegs. Bundeswirtschaftsminis1250 kung der Verbrauchsteuern. Allein der ter Rainer Brüderle kann sich über AufVW-Konzern hat im vergangenen Jahr träge im Gesamtwert von 8,7 Milliarden mehr als 1,9 Millionen Autos in China Euro für Volkswagen, Daimler und ande1000 verkauft, 37 Prozent mehr als im Vorjahre Konzerne freuen. reszeitraum. Dass die Pekinger StadtreEin Top-Kommunist kauft (sich) ein. gierung gerade die Zahl der Zulassungen Kurz davor hatte er schon den Spaniern beschränken will, ist allenfalls ein kleiner 750 versprochen, für sechs Milliarden Euro 554 Rückschlag im großen Konsumplan. deren Staatsanleihen zu übernehmen. Das eigene Auto ist für viele Chinesen Am Freitag gab’s dann ein „Kennenlerndas wichtigste Statussymbol neben dem 500 treffen“ mit Kanzlerin Angela Merkel. Li Kauf eines Apartments. „Ich möchte liegilt als kommender starker Mann in Pe- 2000 ber in einem BMW weinen, als auf einem 2005 2010 kings Nomenklatura. Fahrrad lächeln“ – so beschrieb kürzlich Die Volksrepublik sitzt auf Devisenre- zehn größten Einkaufszentren der Welt die Kandidatin einer beliebten TV-Daserven von über 2,6 Billionen Dollar, die stehen bereits auf chinesischem Boden. tingshow, wie sie sich ihren Mann fürs angelegt werden wollen. Li ist quasi der „Beim Einkaufen sind bekannte Mar- Leben vorstellt. Im Internet wird dieser oberste Shopper seines Landes, das er zu ken für uns sehr wichtig“, sagt Zhang, Typ der materialistischen Chinesin seiteinem Reich des Konsums ausbauen will. „sie stehen für Qualität.“ Statt wie die dem oft als „BMW-Frau“ bezeichnet. China samt Hongkong beherbergt mitt- Generation ihrer Eltern als ArbeitssklaZhang kennt indes seine Grenzen: „Solerweile schon mehr als hundert Dollar- ven für westliche Konsumenten Billig- bald wir ein Kind bekommen, müssen Milliardäre, viermal so viele wie Japan. ware zu produzieren, wollen sie den wir anfangen, eisern zu sparen“, sagt er. Die Millionärsmesse, eine jährliche Lu- Wohlstand nun selbst genießen. Ein Zu- Denn für die Erziehung ihres Nachwuchxusgüter-Show in Shanghai, nehmen neu- kunftsmarkt für westliche Konzerne, ses geben die Shanghaier am meisten aus. reiche Chinesen inzwischen wichtiger als zumal sie von den staatlichen WirtschaftsIn den ländlichen Regionen gibt es dertraditionelle Militärparaden. Protz wird planern offen empfangen werden: Mas- weil ganz andere Probleme: Dort leben zum Parteiprogramm, denn er soll den senkonsum wird zum Dienst am Vater- rund 700 Millionen Menschen. Um für wichtigen Binnenkonsum befeuern – zur land überhöht. Die Geschichte lehre, „dass Krankheitsfälle und Alter vorzusorgen, spaFreude der westlichen Markenfirmen. der Entwicklungsprozess jeder Großmacht ren sie bisher zwar den größten Teil ihrer „Jetzt ist genau der richtige Zeitpunkt von der Binnennachfrage angeführt wer- Einkommen. Doch mit Kampagnen zum für uns, nach China vorzustoßen“, sagt den muss“, mahnt Vize-Premier Li. Kauf von Fernsehern, Kühlschränken und Redmond Yeung, China-Chef von Gap. Um die Kaufkraft zu stärken, duldete Computern versucht die Partei selbst dort, Fast zeitgleich eröffnet er in Shanghai ein die Pekinger Führung auch, dass sich chi- die Bauern zu Verbrauchern zu erziehen. weiteres Geschäft und in Peking noch nesische Arbeiter in vielen Betrieben Gleichsam als Tempel der neuen Kaufzwei Läden. Konkurrenten wie H&M nach der Selbstmordserie bei Apple-Zu- religion fördert die Obrigkeit im ganzen oder C&A sind bereits vor Ort. lieferer Foxconn höhere Löhne erstreik- Land den Bau gigantischer EinkaufsAll diese Modeketten geben sich in Chi- ten. Im nächsten Fünfjahresplan will Pe- zentren, die aussehen wie Freizeitparks. na ein sehr viel vornehmeres Image als king erstmals dem Konsum höchste Prio- Auch die Neunmillionenstadt Wuhan hat in ihren Heimatländern – eine Jeans bei rität als Wachstumsmotor einräumen. den Ehrgeiz, mit ihren Malls an die WeltGap in limitierter Auflage kostet 1969 Ob die Strategie aufgeht, hängt aller- spitze aufzurücken. Der edelste dieser Yuan (rund 225 Euro), fast doppelt so viel, dings auch davon ab, inwieweit die Re- Komplexe nennt sich Wuhan Interwie ein Arbeiter in Shanghai national Plaza, liegt an der im Monat verdient. Die neue Großen Straße der Befreiung Mittelschicht ist bereit, für und ragt wie eine Verheißung ausländische Marken sogar aus dem Smog, der fast ganzmehr zu zahlen als Verbraujährig die Eisen- und Stahlcher im Westen. stadt einhüllt. Das gilt auch für Zhang „Viele Bürger unserer Stadt Lizhong, 29, und seine drei können sich die ausgestellte Jahre jüngere Frau Xu BingWare noch nicht leisten – ich qin. Es ist Samstagmorgen in selbst auch nicht“, sagt eine Shanghai, die Angestellten der Verkäuferinnen und lacht einer Consulting-Firma sitzen verlegen. Die meisten Kunauf dem Sofa ihrer Eigenden seien hohe Funktionäre tumswohnung, er tippt in oder Firmenbosse, „wenn die sein Smartphone, sie holt ihr einkaufen, dann kaufen sie iPad. Das Paar plant sein gleich für 10 000 Yuan oder Wochenende – mit Shoppen mehr auf einmal ein.“ und Essengehen, den beiDas ist mehr, als die Verden beliebtesten Freizeitankäuferin verdient – im gesamWIELAND WAGNER geboten in China. Vier der Minister Brüderle, Vize-Premier Li: Lob für deutsche Qualität ten Jahr. 84
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Polizist Calas, zerstörter Präsidentenpalast
HAITI
Im Niemandsland Ein Jahr nach dem Erdbeben sind die Zustände in Haiti noch immer katastrophal. Trotz Milliardenspenden verschärft sich die Krise, der Wiederaufbau hat noch nicht einmal begonnen. Von Marc Hujer
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ie Bürgersteige von Pétionville waren einst der ganze Stolz des Polizisten Jean Calas, ein letzter Rest Ordnung in einem Leben, das schon damals im Chaos versank. Es gab klare Regeln für diese Bürgersteige, sie waren nur für Fußgänger da, so Calas, für niemanden sonst. Und bevor das Erdbeben kam, hielten sich die Leute daran; sie achteten die Regeln, sie achteten ihn. Calas biegt in die Rue Lambert ein, vor dem Beben eine Straße mit exklusiven Geschäften, die Fifth Avenue von Portau-Prince, sagt er. Aber nun sind hier die Bürgersteige voll von Straßenverkäufern, den Marktschreiern der Armen. Sie haben nicht nur ihre Häuser, sondern auch ihre Märkte verloren, ganze Armenviertel sind versunken im Schutt, jetzt sind sie hier, auf den öffentlichen Plätzen von Pétionville, vor der Polizeistation, im Parc Sainte Thérèse und auf der Rue Lambert.
FOTOS: ANDREW LICHTENSTEIN / POLARIS / DER SPIEGEL
„Ein Jahr der verpassten Chancen“
Die Zerstörung hat sie in das Viertel der Reichen getrieben. Calas greift zur Trillerpfeife. Auf der Brust trägt er seine Dienstnummer, die 00708, und auf der Schulter vier goldene Streifen, seinen Dienstgrad. Er wäre gern „Monsieur l’Inspecteur“, er ist schon 42 und hatte sich mehr vorgestellt, gerade jetzt, mit den neuen Problemen, mit denen ein Polizist in Haiti zu tun hat. Es gibt heute mehr Diebe und mehr Entführungen, weil viele Haitianer glauben, dass die Spendengelder aus Amerika und Europa einige Menschen hier zu Millionären gemacht haben und dass diese Menschen in den Villen von Pétionville leben. Es gibt auch immer mehr Vergewaltigungen: Bewaffnete und maskierte Männer überfallen nachts Frauen und Mädchen in den überfüllten Zeltlagern. Täglich nehmen Calas’ Kollegen Meldungen solcher Übergriffe entgegen, und tägD E R
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lich sagen sie den Opfern, sie könnten leider nichts dagegen tun. Wie sollen sie auch die Lager schützen, ohne genügend Beamte, ohne Ausrüstung? In der Polizeistation von Pétionville fehlt es an allem: Die Beamten haben keine Computer, keinen Festnetzanschluss, keine Kopiermaschine, sie haben nicht einmal saubere Toiletten oder eine verlässliche Stromversorgung. Pro Woche erhalten sie vier Patronen Munition, und keine Kugel mehr. Wer sich sicherer fühlen will, muss sich selbst welche kaufen. Und so führt Calas erst einmal den Kampf um die Bürgersteige. Er hupt, er trillert, er nimmt das Megafon, und als sich niemand bewegt, steuert er auf die Auslagen zu, um sie mit seinem Polizeiwagen plattzufahren. „Aus dem Weg“, ruft er, „déplacez-vous“, aber niemand hört ihm zu. Der Staat, seine Institutionen und seine Vertreter, hat sich, so scheint es, am 12. Januar 2010 aus dem öffentlichen Leben in Haiti verabschiedet. Als das Erdbeben rund 300 000 Menschen unter Schutt begrub, darunter 18 000 Beamte. Als der Präsidentenpalast, das Finanz-, das Justiz- und das Innenministerium einstürzten und als weitere 180 Regierungsgebäude in sich zusammenbrachen. Seither haben Hilfsorganisationen die staatliche Führung durch eine Republik der NGOs, der Nichtregierungsorganisationen, ersetzt. Noch immer liegt überall in Port-auPrince Schutt auf den Straßen. Noch immer leben mindestens eine Million Menschen in den Zelten der Hilfsorganisationen, auf den Plätzen der Stadt, auf dem Champ de Mars, in Carrefour und in Mariani, dem Viertel am Meer. Die Welt hat begonnen, sich an dieses Bild zu gewöhnen, an die Idee von Haiti als Dauerpatienten. „2010 war ein Jahr der verpassten Chancen für den Wiederaufbau Haitis“, sagt Roland Van Hauwermeiren, Länderdirektor der Hilfsorganisation Oxfam. In vielen Bereichen müsse aber dringend gehandelt werden: bei der Trümmerbeseitigung, der Instandsetzung von Häusern, der Landzuteilung. Trotz der aktuellen politischen Schwierigkeiten müsse der Prozess des Neuaufbaus jetzt begonnen und unterstützt werden. Das Problem ist nur, dass sich die auf den 16. Januar angesetzte Wahl des neuen Präsidenten wegen Unregelmäßigkeiten verzögert bis mindestens Ende Februar, dass die Amtszeit des jetzigen Präsidenten, René Préval, aber am 7. Februar endet und dass es noch immer kein offizielles Endergebnis des umstrittenen ersten Wahlgangs vom November gibt. Wen 85
Ausland er glaubte, von nun an könne alles nur besser werden. Aber nur fünf Prozent des Schutts wurden seither weggeräumt, nur 15 Prozent der Häuser wieder aufgebaut, und der Präsidentenpalast, das Weiße Haus Haitis, steht noch immer schief da wie am Tag nach dem Beben. Niemand hat sich die Mühe gemacht, den Palast wenigstens auszuräumen, die zerborstenen Möbel zu entsorgen, die alten Einladungskarten aufzusammeln. Überall liegen zerfetzte Gemälde herum, im Gesellschaftszimmer steht noch der Flügel, der nur gestimmt werden müsste. Im Festsaal hängen goldene Vorhänge von Weihnachten 2009, an der Seite stehen vier Engel, von denen nur der gläserne Kopf und ein Stahlgerippe übrig
EDUARDO MUNOZ / REUTERS
soll die internationale Gemeinschaft dann unterstützen? Großes wurde nach der Katastrophe im Januar vor einem Jahr versprochen, Rekordsummen wurden zugesagt, fast 1000 Dollar für jeden Haitianer. Aber nach Angaben der Vereinten Nationen sind erst 42 Prozent der für den Wiederaufbau Haitis versprochenen Mittel eingegangen. Noch immer leisten die internationalen NGOs vor allem Soforthilfe. „Wir haben parallele Strukturen geschaffen“, sagt der Leiter der Uno-Mission in Haiti, Edmond Mulet, „im Bildungsund Gesundheitswesen, in allen möglichen Bereichen, in denen die Haitianer selbst die Verantwortung übernehmen müssten.“ Man müsse diese Arbeitsweise
Zeltstadt in Port-au-Prince: Ein Land als Dauerpatient, eine Republik der NGOs
ändern, das Land brauche einen starken Staat. Aber niemand dachte in den Monaten nach dem Beben daran, den Staat zu stärken. Es fehlte ein Plan. Es sei wie mit einem Kind, sagt Pierre Duquesne vom französischen Außenministerium: „Wenn man nicht daran glaubt, dass es einmal erwachsen wird, wird es das auch nie werden.“ Am Tag des Erdbebens ist Polizist Calas heimgelaufen zu seiner Familie ins Viertel Delmas. Es war Stau auf der Straße, ein Stau, wie ihn selbst Haiti noch nie erlebt hat. Fünf Stunden brauchte er bis Delmas, wo er mit Frau und Tochter lebt. Es war dunkel, als er ankam, fünf Stunden war er durch die Innenstadt, die in Schutt lag, marschiert, vorbei am Präsidentenpalast, der zusammengestürzt war. Und natürlich dachte er, seine Familie sei tot. Als er zu Hause ankam, stand sein Haus noch, und seine Familie lebte, und 86
geblieben sind, im Innenhof wächst Farn über den Schutt. Ein Staat im Aufbruch sieht anders aus. Haiti gilt seit je als eines der korruptesten Länder der Erde. Genehmigungsverfahren für die Anmeldung eines Unternehmens dauerten im Schnitt 195 Tage, Anwälte sind rar und schlecht ausgebildet, Richter bestechlich, und nicht einmal ein Zehntel aller Lehrer beherrscht die Grundrechenarten. Mangel herrscht in allen Bereichen, auch bei der Polizei. Es fängt schon damit an, dass jeder Polizist nur zwei Uniformen bekommt und zwei Hemden, die an einem Tag durchgeschwitzt sind. Jean Calas ärgert sich darüber. Nicht adäquat ausgestattet zu sein heißt für ihn, nicht ernst genommen zu werden. Es kann Stunden dauern, wenn sein Vorgesetzter bei der zentralen Polizeistelle Auskunft über Vorstrafen eines Verhafteten erfahD E R
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ren will, so lange, dass er es im Zweifel lieber auf sich beruhen lässt. Und wenn er Beweise bekommt, Tatwaffen, gestohlenen Schmuck, dann fehlt ihm das Material, sie fachgerecht aufzubewahren. Dann nimmt ein Helfer ein weißes Papier, wickelt alles ein, schreibt mit Kugelschreiber drauf, was es ist, und tackert es mit Heftklammern zu. Einmal, erzählt Calas, haben die Amerikaner der Polizeistation einen Jeep geschenkt, einen Benzinschlucker, wie es sie nur in Amerika gibt. Aber sie konnten sich den Unterhalt nicht leisten, und so ließen sie das Auto einfach stehen. Es dient heute, mit platten Reifen, als ein Außenposten an einer Straßenecke. Im Hinterzimmer von Calas’ Polizeistation sitzt die Uno. Sie hilft bei den Patrouillen, eigentlich ist sie der Garant für Sicherheit. Die Uno hat Computer, die die Polizisten nicht haben, sie hat so viel Munition, wie sie will, und wenn sie loszieht, checkt sie das Einsatzgebiet erst einmal auf Google Earth. „Wir brauchen kein Geld“, sagte Präsidentschaftskandidat Michel Martelly kürzlich in einem Interview. „Wir sind so korrupt, wir wissen gar nicht, wie wir mit Tonnen von Geld umgehen sollen.“ Patrick Moynihan, US-Missionar in Port-au-Prince, hingegen glaubt, dass die Spenden falsch eingesetzt wurden und den Aufbau einer Parallelregierung beförderten: Über 10 000 NGOs sollen heute in Haiti vertreten sein, so viele wie in keinem anderen Land. Ihre Erfolge werden in Litern von Wasser gemessen, in Tonnen von Seife, in Arztbesuchen, in der Anzahl installierter Duschen und verteilter Hygiene-Sets, aber nicht an der Stärke des Staates. „Sie sind Meister der Soforthilfe, der Zeltlager“, sagt Moynihan. „Sie versorgen die Menschen gut. Aber sie haben keinen Plan, wann und wie sie je das Land wieder verlassen können.“ Es geht deshalb um viel, wenn Haiti seinen nächsten Präsidenten wählt. Noch ist nicht klar, wer es in den zweiten Wahlgang geschafft hat, ob nur zwei Kandidaten, die ehemalige First Lady Mirlande Manigat und der Protegé des jetzigen Präsidenten, Jude Célestin, oder auch Martelly, der populäre Sänger. Viel wichtiger ist, dass es diesmal glaubwürdige Wahlen werden, dass sich niemand betrogen fühlt und es nicht wieder Unruhen gibt, wie im Dezember, als die Wahlkommission vorläufige Ergebnisse veröffentlichte und tagelang Reifen in Port-auPrince brannten. Der Wiederaufbau beginne nicht bei null, sondern unter null, hatte der Chef der Uno-Mission, Edmond Mulet, wenige Wochen nach dem Beben gesagt. Vor kurzem gab er eine neue Einschätzung zur Lage: Es könne durchaus 100 Jahre dauern, bis Haiti wieder auf die Beine komme, vielleicht auch 200 Jahre.
TEYMOOR / SIPA PRESS
REINER RIEDLER / DER SPIEGEL
Oberinspektor Amano, Präsident Ahmadinedschad beim Besuch der Nuklearanlage bei Natans: „Iran muss Klarheit schaffen“ Amano: Das ist nicht meine Wortwahl. Ich
A T O M WA F F E N
„Ich will alles wissen“ Der Chef der IAEA-Nuklearwaffenkontrolleure Yukiya Amano über den Konflikt mit Iran, die Bedrohung durch Nordkorea und seine Hoffnung auf finanzielle Hilfe aus Berlin Amano, 63, gilt seit Jahrzehnten als Japans Experte für die Nichtverbreitung von Atomwaffen. Von 2005 an diente der Jurist seinem Land als Botschafter bei der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien, bis er Ende 2009 die Nachfolge des Ägypters Mohamed ElBaradei antrat. SPIEGEL: Herr Generaldirektor, in den von WikiLeaks veröffentlichten Dokumenten konnten Sie nachlesen, dass US-Diplomaten aus Wien Ihre Wahl als eigenen „Sieg“ darstellen, als „Stärkung unseres Einflusses“ auf die Agentur. War Ihnen das unangenehm? Amano: Meine einstimmige Ernennung … SPIEGEL: … nach vier vorherigen Wahlgängen … Amano: … war ein Sieg für alle Mitgliedsländer. Außerdem muss es doch kein Nachteil sein, wenn die USA glauben, dass sich meine Wahl mit ihren Interessen deckt. Es ist meine Aufgabe, die Interessen aller unserer Mitglieder zu vertreten, ob das nun China ist, Russland oder Nigeria. SPIEGEL: Auch die Irans? Amano: Natürlich vertrete ich auch die Interessen Irans, solange es um die zivile Nutzung der Kernenergie geht und Teherans Ambitionen friedlichen Zielen dienen. SPIEGEL: Tun sie das? Die Berichte der amerikanischen Botschafter belegen das große Misstrauen beispielsweise der ara-
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bischen Nachbarstaaten, die fürchten, dass Teheran heimlich an der Atombombe baut. Amano: Das zu verhindern ist meine Aufgabe. Doch Iran ist ein schwieriger Fall. Wir wissen noch immer zu wenig über Teherans nukleare Aktivitäten. Es stehen weiterhin Antworten auf unsere Fragen aus. Deshalb sagen wir deutlich: Teheran muss mit uns besser kooperieren. SPIEGEL: Also sind die Sorgen berechtigt? Amano: Ich will nicht über Sorgen anderer spekulieren. Wir beklagen, dass Iran uns nicht rechtzeitig informiert. Von der bei Ghom geplanten Anreicherungsanlage für Uran haben wir erst erfahren, als 2009 Satellitenaufnahmen publik wurden. Die Errichtung weiterer Nuklearfabriken wurde nicht rechtzeitig mit uns abgesprochen, sondern einfach beschlossen und verkündet. Bis heute haben wir dazu keine umfassenden Informationen. Die aber brauchen wir, wenn wir Vertrauen aufbauen sollen. Die Forderungen des UnoSicherheitsrats nach einem Stopp der Urananreicherung sind noch immer nicht erfüllt. SPIEGEL: Nach jüngsten Schätzungen soll Iran nur noch ein Jahr vom Bau der Bombe entfernt sein. Amano: Das weiß ich nicht. Trotz aller offenen Fragen können wir nicht sagen: Iran betreibt ein Nuklearwaffenprogramm. SPIEGEL: Weil Ihnen dazu der schlüssige Beweis fehlt, die „smoking gun“? D E R
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spreche von offenen Fragen: Wozu dienen Komponenten für ein hochexplosives Zündsystem? Wofür werden Neutronenzünder gebraucht? Gibt es nukleare Entwicklungen, die auf einen militärischen Hintergrund schließen lassen? In diesen Punkten muss Iran Klarheit schaffen. Darum geht es. SPIEGEL: Auch wenn Sie Ihre Unvoreingenommenheit betonen: Das Verhältnis zwischen der IAEA und Iran ist überaus angespannt. Ihre Inspektoren werden von Regierungsmitgliedern in Teheran als „Spione“ beschimpft. Der bisherige Chef der iranischen Atomenergiebehörde und neue Außenminister, Ali Akbar Salehi, hat Ihnen jüngst in einem SPIEGELInterview vorgeworfen, dass Sie durch „Parteinahme für eine bestimmte Politik“ Ihre „Legitimität“ verlieren. Amano: Unsere Inspektoren in Iran, zurzeit sind es zwei, haben sich nichts zuschulden kommen lassen. Wir überprüfen und forschen nach, alles in Absprache mit den zuständigen Stellen in Teheran. Mit Herrn Salehi habe ich inzwischen ein persönliches Gespräch geführt, mit dem iranischen IAEA-Botschafter stehe ich in regem Kontakt. Zum Thema Iran vermeide ich bewusst einen scharfen Ton. Aber ich benenne die Missstände. SPIEGEL: Mit Ihrem damaligen Chefinspektor Olli Heinonen, der seit kurzem in Harvard lehrt, sollen Sie aber gleich bei Ihrem Amtsantritt ein langes Gespräch darüber geführt haben, dass der Ton in den Iran-Reports schärfer werden müsse. Amano: Ich diskutiere nicht über Tonlagen. Mir geht es um Fakten. Auch bin ich weder ein Hardliner noch ein Softliner. Aber wenn ich Bedenken habe oder Zweifel, dann halte ich damit nicht zurück. Ich will alles wissen, ich will Klarheit – egal, welche Seite Druck ausübt. So ist der Ton nicht härter geworden, aber, bei aller Höflichkeit, direkter.
Ausland SPIEGEL: Das Treffen zwischen Iran und den Vertretern der Weltgemeinschaft Anfang Dezember in Genf war nicht gerade ermutigend. Außer der Vereinbarung einer weiteren Gesprächsrunde hat es nicht viel gebracht. Amano: Wir müssen aufeinander zugehen, um die Vertrauenslücke zu schließen. Jeder Schritt ist dabei wichtig. Wenn wir über die Genfer Gespräche bei den Problemen mit dem Forschungsreaktor eine Lösung finden, können wir uns vielleicht auch auf anderen Konfliktfeldern nähern. SPIEGEL: Währenddessen reichern die Iraner trotz vier Sanktionsrunden im Weltsicherheitsrat weiter Uran an – auf 3,5 oder, für den Forschungsreaktor, sogar auf 20 Prozent. Amano: Ja, das tun sie, entgegen allen Uno-Resolutionen. Beim niedrig angereicherten Uran verfügt Iran jetzt über
Amano: Syrien lässt unsere Inspektoren
nicht ins Land, um diesen Ort näher zu untersuchen. Ich habe mich im November mit einem Brief an den syrischen Außenminister gewandt und die Kooperation seines Landes angemahnt. Wir brauchen auch in diesem Fall Fortschritte. Und wir haben noch ein zweites Problem mit Syrien: Der Forschungsreaktor in Damaskus steht unter Aufsicht der IAEA, wir führen dort Routineuntersuchungen durch. Dabei sind nun Spuren von Uran gefunden worden, dessen Herkunft uns unbekannt ist. Auch dazu wollen wir mehr wissen. Bislang haben wir zwar Erklärungen bekommen, aber die reichen uns nicht. Auch wenn es nur wenige Gramm sind, wollen wir erfahren, woher sie kommen und warum sie da sind. SPIEGEL: Sie sind der fünfte Generaldirektor der IAEA seit Gründung der Agentur
3103 Kilogramm, bei dem höher angereicherten sind es 33 Kilogramm. Zumindest steht beides unter unserer vollen Kontrolle. SPIEGEL: Sie selbst waren aber noch nicht in Teheran. Amano: Ich reise sehr gern nach Teheran, aber nicht, um dort nur hallo zu sagen. Für den Besuch müsste es schon einen guten Grund geben. Wenn ich nach Teheran fahre, will ich Fortschritte sehen. SPIEGEL: Israel, das sich von Präsident Mahmud Ahmadinedschad besonders bedroht sieht, hat zuletzt im September 2007 gezeigt, dass es einen Militärschlag nicht scheut. In Syrien, einem Verbündeten Irans, ließ Israel einen Gebäudekomplex zerstören, in dem mutmaßlich Plutonium hergestellt wurde. Haben Sie neue Erkenntnisse zu Nuklearplänen von Staatschef Baschar al-Assad?
1957 und der erste Asiat im Amt. Im japanischen Außenministerium galten Sie als Experte für Nordkorea. Wie gefährlich ist Diktator Kim Jong Il? Amano: Nordkorea ist ein sehr ernster Fall. Ich komme aus der Region und bin dankbar, wenn nicht nur über Iran gesprochen wird. Anders als Teheran besitzt Pjöngjang Nuklearwaffen, hat bereits zweimal, 2006 und 2008, demonstrativ Bomben getestet. Es gibt keine Inspektoren dort. Seit unsere Leute im Frühjahr 2009 ausgewiesen wurden, erhalten wir keine direkten Informationen mehr. SPIEGEL: Auf wie viele Atomwaffen schätzen Sie das Arsenal der Nordkoreaner? Ein halbes Dutzend Bomben oder doppelt so viele? Amano: Meine Aufgabe ist es, die Nuklearprogramme zu überwachen, vorausgeD E R
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setzt, man lässt uns ins Land. Dazu ist Pjöngjang nicht bereit. An Mutmaßungen beteilige ich mich nicht. SPIEGEL: Liegt Ihre Zurückhaltung vielleicht auch daran, dass Sie zu wenig wissen? Ihre Agentur ist auf die Zuarbeit ihrer Mitgliedstaaten angewiesen – die ja mitunter auch sehr eigennützig handeln. Amano: Die Kooperation unserer Mitglieder ist unsere größte Stütze. Aber natürlich würde ich gern über mehr Möglichkeiten verfügen. Wir brauchen bessere Überwachungs- und Kommunikationsmöglichkeiten. Aber das ist eine Frage des Geldes. Wie viel ist einem Staat unsere Arbeit wert? SPIEGEL: Die Bundesregierung leistet mit knapp 30 Millionen Euro jährlich einen sehr großen Beitrag und ist nach den USA und Japan drittgrößter Geber. Aber mehr will Berlin nicht zahlen.
Amano: Ich hoffe sehr, dass die Bundes-
republik und auch andere Länder einer moderaten Erhöhung doch noch zustimmen. Denn wir haben viel mehr Aufgaben als die Überwachung der Atomprogramme. Wir sind auf dem weiten Feld der Nuklearmedizin engagiert und leisten im Wortsinne lebenswichtige Arbeit. Ihr Geld ist bei uns gut investiert. SPIEGEL: Vielleicht müssen Sie bald hilflos mitansehen, wie Pakistans Atomwaffen in die Hände der Taliban fallen. Wird es doch noch zu einer nuklearen Katastrophe kommen, weil Atombomben in die Hände von Extremisten gelangen könnten? Amano: Ich komme aus dem Land, auf das zwei Atombomben abgeworfen wurden. Ich werde alles tun, damit sich Hiroshima und Nagasaki nicht wiederholen. Deswegen werde ich sehr wachsam sein. INTERVIEW: DIETER BEDNARZ
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Ausland
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Der römische Patient Global Village: Wie die Ewige Stadt ihre Pilgerscharen ausnimmt
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PIERPAOLO SCAVUZZO / PICTURE ALLIANCE / DPA
r kommt nicht, der Doppeldecker- man heftig, einen Tag vor Weihnachten Er kam vor zwölf Jahren nach Rom, als bus der Linie 110. Die Heizung ist wurde sie eher klammheimlich beschlos- ausgebildeter Bariton. Er fand keine Ardefekt, der Wagen muss ausge- sen. Mehr als 80 Millionen Euro sollen so beit an der Oper, der Kulturbetrieb lag datauscht werden, an der Haltestelle am jährlich in die kommunale Kasse fließen, nieder. Seither ist es nur noch schlimmer Bahnhof frieren die Touristen und flu- Roms Schuldenberg beträgt zurzeit mehr geworden. Der einzige Job, den man ihm chen. Endlich rollt ein Ersatzbus heran, als 9,6 Milliarden Euro. Florenz hat die anbot, war Fremdenführer. Das ist besser sie steigen aufs Oberdeck, setzen ihre Steuer jetzt auch beantragt, Mailand war- als gar nichts. Die Steuereinnahmen solKopfhörer auf und lauschen dem Audio- tet noch. len der Stadt zugutekommen, heißt es, führer in sieben Sprachen. Busfahrer Pino bremst vor dem „Mund der baufälligen Metro, der Sicherheit auf Die Besucher sind gelassen, auch jetzt der Wahrheit“ an der Kirche Santa Maria den Straßen. Aber was, bitte schön, hätten noch, in der ersten Januarwoche, wo so in Cosmedin. Zwanzig Koreaner eilen Touristen davon, fragt Herr Min, die kävieles teurer geworden ist in Rom und vom Deck, sie wollen diese steinerne Frat- men doch nur einmal im Leben. Um zu sparen, schläft seine Gruppe im gar nichts besser. Sie finden es albern, ze mit ihrem klaffenden Schlund sehen, das neue Gesetz, und zweifeln am Sinn die man nicht belügen soll, sonst, so die Flughafenhotel. Es liegt vor den Toren dieser Art Kurtaxe, die die Stadt seit Fama, beißt sie einem die Hand ab. Rei- Roms, dort gilt das Gesetz nicht. Morgen 1. Januar erhebt. Ein Schweizer blättert seführer Min hat seinen Koreanern am fahren sie nach Pompeji, wo ein Monument nach dem anderen einin einem Reiseführer, er stürzt, weil niemand für die liest, dass im berühmten Erhaltung der kostbaren Caffè Greco der CappucciRuinen sorgt. Die Steuer no acht Euro kostet, er könne Italien retten, sagt fragt: „Wen jucken da ein Min, wenn man sie klug einpaar Euro mehr?“ Eine Däsetze – und nicht wie immer nin mit Pudelmütze sagt: versickern lässt. „Der römische Patient ist Der Bus der Linie 110 hält halt schwach auf der Brust, jetzt am Vatikan. Gegenwer soll den aufpäppeln, über, am alten Pilgerweg, wenn nicht wir aus dem greift der Leiter des deutNorden?“ schen Pilgerzentrums zum Busfahrer Pino, der einziTelefon. Auch Don Antonio ge Römer an Bord, hört Tedesco weiß nichts von der zum ersten Mal von diesem Steuer. Er fragt nach beim Gesetz. Er verlangt noch Nonnenheim. Es stimmt, den alten Preis, dabei sind auch die Pilger müssen zahauch Stadtrundfahrten mit len. Die Nonnen klangen Touristenbussen teurer geworden, sie kosten jetzt 16 Touristinnen vor der Spanischen Treppe: „Früher gab es Dolce Vita hier“ panisch, seufzt Don Antonio, sie wissen nicht, wie Euro. Pino sagt, nach Rom pilgern jährlich Abend zuvor den Rom-Film „Ein Herz man die Steuer quittieren soll, wer sie zehn Millionen Touristen. Eine Plage sei und eine Krone“ gezeigt. Audrey Hep- eintreibe und wofür. Warum können wir das, aber eine, von der man gut leben burn und Gregory Peck düsen auf einer das nicht besser organisieren? Wie will könne. Er kurvt mit seinem Bus um die Vespa durch die Stadt, lügen am Mund Italien, das Land mit dem höchsten SchulSchlaglöcher in den Altstadtgassen her- der Wahrheit und küssen sich am Tiber. denberg Europas, 25 Milliarden Euro einum, flankiert von Vespa-Schwärmen, be- Herr Min steht vor dem Mund, legt die sparen in den nächsten zwei Jahren? Am Trevi-Brunnen verlässt Familie hindert von den Blaulicht-Limousinen Hand hinein und lässt sich knipsen. „Wie der Mächtigen. romantisch“, schwärmen die Koreaner. Bandel aus dem hessischen Vogelsberg Im Kolosseum, sagt der Audioguide, „Der Film stammt aus den fünfziger Jah- den Bus. Dort, wo der Barbier im Film kämpften Gladiatoren vor 30 000 Zu- ren“, doziert Herr Min, „früher gab es Audrey Hepburn einen flotten Kurzhaarschnitt verpasst, verkaufen Bangladescher schauern. In der Zeitung steht, die Römer Dolce Vita hier, lang ist das her.“ hätten nun Angst, dass ihnen das zahlenMin weiß, seine Kunden kommen, um China-Nippes, und Touristen aus aller de Publikum abhandenkomme, weil die das antike Rom zu erleben, das mächtig Welt werfen Geldstücke ins Wasser, damit Ewige Stadt derzeit „brutta figura“ ma- war und wohlhabend und einst die ganze sie, so die Legende, zurückkehren werden che, ihr hässliches Gesicht zeige. Welt beherrschte. Das heutige Rom fän- nach Rom. Vorhin im Hotel rannte den Die neue Bettensteuer für Besucher den sie enttäuschend, sagt Herr Min. Kei- Bandels, vier Erwachsene, drei Kinder, sieht vor, dass jeder Tourist zwei Euro ne Parkbänke, aber Dreck, Stau und Cha- der Portier hinterher, ob sie von der neupro Nacht zahlen muss und drei im Lu- os auf den Straßen. Wie erklärt man sei- en Steuer gehört hätten, er hätte das Geld xushotel, auch städtische Museen und Ti- nen Kunden, warum jemand „Weg mit gern in bar. Die Bandels rechnen mit insberboote erhöhen wie die Busse ihre Prei- den pädophilen Priestern“ an Kirchenfas- gesamt 100 Euro. Sie werfen keine Münze se. Bürgermeister Gianni Alemanno hatte saden gesprüht hat? Ihm sei das peinlich, in den Brunnen, sie wissen nicht, ob sie FIONA EHLERS wiederkommen wollen. die Steuer gefordert, monatelang stritt sagt Herr Min. 90
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NADINE RUPP / WITTERS (L.); VALERIA WITTERS / WITTERS (U.)
Szene
Profi Schnitzler 2007
SPORTWETTEN
„Irgendwas ging immer“ Andreas Biermann, 30, von 2008 bis 2010 Profi beim FC St. Pauli, über Spielsucht unter Fußballern und den Fall seines ehemaligen Teamkameraden René Schnitzler, der Geld von der Wettmafia kassierte SPIEGEL: Herr Biermann, Ihren früheren Mannschaftskollegen beim FC St. Pauli, René Schnitzler, hat die Spielsucht in die Fänge der Wettmafia getrieben. Auch Sie haben während Ihrer Zeit als Profi exzessiv gepokert. In Ihrer Biografie, an der Sie derzeit arbeiten, ist dem Thema ein ganzes Kapitel gewidmet. Ist Glücksspiel verbreitet unter Fußballern? Biermann: Ich kann nur aus meiner Erfahrung reden: Bei den Vereinen, bei denen ich war, wurde generell sehr, sehr viel gespielt, teilweise Poker, es wurde aber auch viel Geld bei Sportwetten gesetzt. Irgendwas ging immer. SPIEGEL: Warum werden Profis zu Zockern? Biermann: Es liegt wohl in der Natur eines Fußballers. Man ist gewohnt, mit einem Spiel sein Geld zu verdienen.
Man ist daher eher bereit, auch auf andere Art um Geld zu spielen. Wenn man auf dem Platz gewinnt, bekommt man eine Prämie – und beim Pokern ist es ja eigentlich auch so. Außerdem hat ein Profi sehr viel Freizeit. Man kann sich dem Glücksspiel, wenn man will, ausführlich widmen. SPIEGEL: Wie fing es bei Ihnen an? Biermann: Es gibt Gesprächsthemen innerhalb einer Mannschaft, und Poker war bei all meinen Vereinen ein Gesprächsthema. Da kann man dann mitreden oder eben nicht. Als neuer Spieler bekommt man schnell mit, wer im Team pokert. Man kommt ganz schnell da rein. Ich hab immer Anerkennung gesucht, und durchs Pokern habe ich sie bekommen. Ich hatte ein paar Erfolge, und das hat mich dazu gebracht weiterzumachen. Ich war leider auch oft verletzt und hatte dadurch noch mehr Zeit zum Pokern. SPIEGEL: Um welche Beträge ging es? Biermann: Ich habe mal ein Online-Poker-Turnier gewonnen, das war erst morgens um vier Uhr zu Ende, da waren auch zwei, drei Mitspieler vom FC St. Pauli dabei, die mich unterstützt haben. Ich hatte 300 Dollar investiert D E R
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und kassierte 73 000 Dollar Preisgeld. Das war mein größter Gewinn, einen Großteil hab ich allerdings in den nächsten Wochen wieder verloren. SPIEGEL: Wussten Sie um die Spielsucht ihres Clubkameraden René Schnitzler? Biermann: Seine Undiszipliniertheiten hat er regelmäßig gehabt. Das war kein Geheimnis. Er hat auch erzählt, wenn er gezockt hat. Auch wenn er verloren hat. Teilweise habe ich gedacht: Gott, oh Gott. Das hatte schon Dimensionen, die man nicht gewohnt war. Ich habe mir aber nicht angemaßt, ihn zu belehren. SPIEGEL: Warum ist der Verein nicht eingeschritten? Biermann: Es gab einige intensive Gespräche mit ihm. Unser Trainer Holger Stanislawski war für persönliche Probleme von Spielern sehr feinfühlig. Man darf aber auch nicht vergessen: Bwin-Poker war in der Saison 2008/2009 Sponsor von St. Pauli. Das Geld vom Wettanbieter hat der Verein gern genommen. Es wurden auch regelmäßig Spieler auf offizielle Sponsorentermine zum Pokern geschickt, auch ich und Schnitzler. Da kann der Verein sich nicht aus der Verantwortung herausziehen und behaupten, man habe nichts gewusst. SPIEGEL: Schnitzler hat mit der Wettmafia zusammengearbeitet. Er kassierte 100 000 Euro von einem Wettpaten, um Spiele zu manipulieren. Waren Sie eingeweiht? Biermann: Dazu möchte ich mich nicht äußern. SPIEGEL: Sie sollen Schnitzler zu einem Treffen mit dem Wettpaten nach Holland begleitet haben. Die Staatsanwaltschaft hat deswegen Kontakt zu Ihnen aufgenommen. Sie gelten als Mitwisser? Biermann: Auch dazu möchte ich nichts sagen. SPIEGEL: Was haben Sie gegen Ihre Spielsucht unternommen? Biermann: Man braucht professionelle Hilfe. Ich habe anonym eine Therapie gemacht. Das hat aus dem Fußball keiner gewusst. SPIEGEL: Warum haben Sie die Behandlung verheimlicht? Biermann: Private Probleme haben in der Mannschaft nichts zu suchen. Man macht sich angreifbar, deshalb spricht man darüber besser nicht. Es ist ein hartes Geschäft, für Gerechtigkeit oder Menschlichkeit ist da kein Platz. Mein Fall zeigt das ja auch: Ich habe öffentlich meine Depressionen eingestanden, seitdem gelte ich den Clubs als nicht vermittelbar. Meinem Berater wurde das ganz deutlich gesagt. Wer eine Schwäche hat, ist weniger wert. 91
Sport
FUSSBALL
Zwölf Freunde Vom Pleiteverein zum Titelfavoriten: Nach Jahren des Prassens zeigt ausgerechnet Borussia Dortmund, dass im Profi-Fußball nicht immer nur das Geld zählt. Doch der Versuch, die Gesetze des Geschäfts auf Dauer außer Kraft zu setzen, dürfte nicht lange gutgehen.
RALF POLLACK / CONTRAST
Von Jürgen Dahlkamp
Herbstmeister Borussia Dortmund, BVB-Anhänger auf der Südtribüne
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bens. Dass sich danach kaum noch etwas so echt, so pur, so gut anfühlen wird. Und dass man ihnen auch nirgendwo dankbarer ist für diesen Moment des Glücks als in einem Verein, der lange das glatte Gegenteil von pur und echt und gut war. In dem Geld alles war. Und am Ende, ohne Geld, vom Verein fast nichts mehr übrig.
Die Krise Neulich: Jahreshauptversammlung, es gab Erbsensuppe mit Bockwurst. Mit. Watzke hatte vorher gefragt, Bockwurst kostete 50 Cent extra, und Watzke beschloss, dass die Jahre ohne vorbei sein sollten. Die Jahre ohne Wurst, ohne alles, in denen der Verein bezahlte für seine großen Zeiten, die gleichzeitig die Zeiten des Größenwahns waren. Die besten und die schlimmsten der Vereinsgeschichte. Niebaums Zeit. Gerd Niebaum. Er hatte 1966 in einem Auto am Westhofener Kreuz gewartet, um den Spielern zuzuwinken, die aus Glasgow zurückkamen, vom ersten Europapokalsieg einer deutschen Mannschaft. Es war das Ende einer Ära mit drei Meisterschaften; in den Jahren danach war für Borussenfans eine Autobahn nur noch eine Autobahn, keine Paradestraße mehr. Aber als Niebaum ins Präsidentenamt kam, nach dem Sieg über Fortuna Köln, wollte er das alles zurück: die großen Erfolge. Die Triumphfahrten. Und seine Jugend. 1993 machte der Uefa-Pokal aus dem Verein der Malocher einen Verein von Neureichen. Die anderen deutschen Clubs schieden früh aus, Dortmund kam ins Finale; eine irrwitzige Regelung, die kurz danach abgeändert wurde, sorgte dafür, dass der BVB den Topf mit den Fernsehgeldern fast allein ausleeren durfte. 24 Millionen Mark, der Jackpot. Dann gingen Niebaum und sein Manager Michael Meier einkaufen, nur die Besten, die Teuersten. Sie kauften das Meisterteam von 1995 zusammen, das von 1996, kauften Extraklasse und Extravaganz, Feinmotoriker wie den Portugiesen Paolo Sousa, der seinen eigenen „preparatore atletico“ zum Warmmachen mitbrachte und Trainer Ottmar Hitzfeld schon mal erklärte, natürlich wolle er spielen. Aber nur, wenn er hinten nicht absichern und vorn nicht in die Spitze gehen müsse, und bitte nicht so weit rechts oder links. Also eher in der Mitte. Die Millionen hatten die Mannschaft verändert, in eine Interessengemeinschaft von Spitzenkönnern, hatten den Verein verändert, in einen Wirtschaftskonzern. Aber auch die Fans. Sie fingen an, nicht nur Siege zu bejubeln, sondern auch das Geld, das die Siege einbrachten. Für noch mehr Siege, noch mehr Geld. 1994, beim TIM GROOTHUIS / WITTERS
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s war an einem Tag im Mai, als Der BVB hat aus der Not eine Jugend Hans-Joachim Watzke zum ersten gemacht. Er hat auf Spieler unter 23 geMal Gewissheit hatte, dass es ein setzt, weil sie weniger kosten. Spieler aus Leben nach dem Tod gibt. Er stand auf dem eigenen Verein. Von der Ersatzbank der Südtribüne, 26 Jahre alt, Borussen- anderer Clubs. Aus der zweiten Liga. Und Fan, und der Tod, oder was er dafür hielt, wenn es sein musste, aus der zweiten Liga war in der 14. Spielminute eingetreten. in Japan, wo sonst noch keiner gesucht 1:0 für Fortuna Köln. Nach dem verlore- hat. Die meisten im Team sind noch nen Hinspiel fehlten den Dortmundern „Jungs“, wie Klopp sie nennt, sie haben in der Relegation noch drei Tore. Gegen noch nichts erreicht, sind deshalb noch Köln, den Abstieg, für das Überleben in erreichbar. Sie brennen und sie rennen, der Bundesliga. und zumindest in der Hinrunde war diese Die Halbzeitpause auf der Südtribüne: Mischung aus Charakter, Können, Koneine Totenandacht, „es war die komplette dition so gut wie unschlagbar. Zusammen haben sie nicht nur „wahnHoffnungslosigkeit“, sagt Watzke. Dann kam: der Ausgleich. Die Führung. Und sinnsschönen“ Fußball gespielt, wie Wolfdann die 92. Minute. Der letzte Angriff. gang Holzhäuser schwärmt, der GeschäftsNoch 28 Sekunden. Flanke Storck, An- führer von Verfolger Leverkusen. Sie haderbrügge von links, und in der Mitte: ben dem Profi-Geschäft auch für ein halbes Wegmann. Wegmann! Stolpernd, sto- Jahr die Romantik zurückgegeben, wenigstens die Illusion davon. Dass sich Klasse chernd. Ins Tor. Der 19. Mai 1986: Bei den meisten im Stadion hätte der Schiedsrichter 20 Sekunden später auch das Leben abpfeifen können; sie hätten nicht mehr das Gefühl gehabt, noch etwas zu verpassen. Es war ein Tag für den Rest aller Tage. Ein Spiel, das nur 92 Minuten dauerte, aber in Zehntausenden Köpfen fortdauert. Und für Watzke, der sich selbst einen „totalen Fußballromantiker“ nennt, war es alles, was Fußball sein sollte. Nicht nur ein Ergebnis. Sondern eine Legende. Die vom Überleben. Und von Jürgen Wegmann, der durch dieses Tor zu den Unsterblichen des Vereins gehört. Auch wenn er später von Hartz IV lebte. Es wird jetzt wieder ein Tag im Mai sein, 2011, der letzte Spieltag der Saison, und gut möglich, dass Watzke 25 Jahre später noch einmal Trainer Klopp: Der Druck wird steigen Zeuge wird, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Diesmal nicht als Fan auf nicht auf Kasse reimen muss. Dass der der „Süd“, sondern als Geschäftsführer Teamgeist zählt, unbezahlbar ist. Dass elf des BVB. 2004 war der Verein so gut wie Freunde mehr Erfolg haben können als elf tot, nach drei Meisterschaften und einem Weltstars. Und dass der zwölfte Mann die Europapokalsieg stand er vor der Pleite, Fans auf der Südtribüne sind, der zwölfte dem Zwangsabstieg, schlimmstenfalls in Freund. So wichtig für das Team wie jeder die Kreisliga C. Er musste seine besten der elf, die spielen. Natürlich ist das alles viel zu gut, als Spieler verhökern, und als es weiterging, wenigstens das, kämpfte er gegen den dass es noch lange gutgehen kann. Der Abstieg. Murkste vor sich hin, ohne Mit- Druck steigt; die Ansprüche sind gewachsen, die eigenen, die von außen. Sie hatel, höchstens Mittelmaß. Aber nach zweieinhalb Jahren unter ben einen Vorsprung, also auch etwas zu dem neuen Trainer Jürgen Klopp, nach verlieren, jedes Unentschieden wird sich der zweitbesten Hinrunde, die je ein Bun- nach 14 Siegen wie eine Niederlage andesliga-Team gespielt hat, mit 14 Siegen, fühlen. Sollte die Mannschaft aber wirkmit 10 Punkten Vorsprung, hat eine neue lich den Titel holen, wird danach alles Borussen-Generation wieder die Chance, noch schwerer: so weiterzuspielen, „gieso eine Legende zu schreiben: die jüngste rig“, „gallig“, „geil“. Und sich einzuMeister-Mannschaft aller Zeiten. Vor den reden, dass Geld doch gar nicht so wichtig Bayern, den Wolfsburgern, den Reichen sei, nur der Spaß am Kicken. „Die meisten Jungs sind hochgradig inder Liga, die nach den Gesetzen des Geschäfts auch die Erfolgreichen sind. Wenn telligent“, sagt Watzke. Sie werden also die Dortmunder in der am Freitag star- wissen, dass diese Saison einzigartig sein kann, die vielleicht beste Zeit ihres Letenden Rückserie die Nerven behalten.
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Sport
FIRO / ULLSTEIN BILD
Auswärtsspiel, verhöhnten Kaiserslauterer Fans die Dortmunder Anhänger als „Scheiß Millionarios“. Die aber genossen den Neid, so war es ja auch den Bayern gegangen, und da wollten sie doch hin: wo die Bayern waren. Was für eine wunderbare Fügung also, dass 1997 das Champions-League-Finale zwischen Dortmund und Turin ausgerechnet im Münchner Olympiastadion stattfand und Dortmund sogar noch 3:1 gewann. Hinterher erzählten sie sich beim BVB, dass Bayerns Manager Uli Hoeneß auf der Tribüne beim Turiner Tor die Arme hochgerissen haben soll. Selbst wenn Hoeneß das bestritt, tratschte es jeder Schwarz-Gelbe weiter. Es war die größtmögliche Genugtuung, der Triumph der schnellen Mark über den Champions-League--Sieger 1997 alten Reichtum der Bayern, Lotto-Lothar gegen Kaiser-Franz-Adel. Auch Watzke wollte gern dabei sein. Er war inzwischen 10 42 und hatte eine Firma, als Niebaum ihn 2001 fragte, ob er Schatzmeister des Vereins werden wollte. Watzke war wie beBVB-Aktienkurs in Euro nebelt vor Stolz. Auch deshalb brauchte 8 er ein Jahr, um zu begreifen. Ein Jahr, in Veränderung dem er kaum einen Einblick hatte in jene seit Aktiengesellschaft, die mit dem Börsen1. Januar 2010: 6 gang im Jahr 2000 entstanden war, Niebaums Machtzentrum. +152% Dafür aber bekam Watzke Anrufe von Leuten, die dachten, der Vereinsschatz4 meister sei doch der mit dem Geld; warum denn ihre Rechnung nicht bezahlt worden sei. Wenn Watzke sich mal traute, im 2 eigenen Haus nachzufragen, hieß es: ein Missverständnis. Und wenn er noch mal nachhakte: Das verstehst du falsch. Aber Quelle: Thomson Reuters Datastream irgendwann verstand Watzke doch: die 0 148 Millionen vom Börsengang – längst 2000 02 04 06 08 10 verpulvert. Das Stadion – verkauft und zu Raten zurückgemietet, die den Verein Präsident Niebaum 1996: Die größten und die schlimmsten Jahre der Vereinsgeschichte erdrosselten. Die Einnahmen der nächsten Jahre – vorab kassiert und verprasst. wissen, der BVB liegt auf der Intensiv- ler aus der eigenen Jugend zu setzen, die „Über die Meisterschaft 2002 konnte station …“, und Blessing unterbrach ihn: nichts kosteten, oder von Vereinen, die ich mich schon nicht mehr richtig freuen“, „Tut mir leid, aber der BVB liegt im Vor- ihren Wert nicht erkannten. Dafür sagt Watzke. Aus Neureichen waren raum der Pathologie.“ Er bettelte bei Mi- brauchten sie aber einen Trainer, der viel Hochstapler geworden, Anfang 2005 kam nisterpräsident Peer Steinbrück; der sagte, von einem guten Erzieher haben musste: das Ende. Der BVB hatte sich nicht für da könne auch er nicht mehr viel machen. ein Kumpeltyp, nah dran an der Welt dieden Europapokal qualifiziert. In NieDer Verein überlebte dann doch. Er ser Jungs, trotzdem eine Autorität, als baums System bedeutete das: Untergang. verkaufte teuer seine Brust – an den Tri- Mensch und Fachmann. Thomas Doll, daWatzke bekam damals einen Anruf kotsponsor Evonik; verkaufte sein Herz – mals ihr Trainer, war nichts davon. Aber von Reinhard Rauball, Niebaums Nach- den Namen „Westfalenstadion“ an den in Mainz arbeitete einer, dem sie es zufolger. Die Chance, noch etwas zu retten, Versicherer Signal Iduna. Fuhr zu Aus- trauten. Jürgen Klopp. sei nicht groß, aber wenigstens müsse wärtsspielen mit dem Bus. Und kostete der BVB sauber abgewickelt werden. Am die ganze Tristesse einer Pokalpleite in Der Neuanfang 15. Februar übernahm Watzke die Aktien- Braunschweig aus, mit einer Übernach- „Ich weiß nicht, wie gut einer als Fußbalgesellschaft, zwei Tage später meldete er tung in einem Drei-Sterne-Hotel am ler sein müsste, dass ich dafür ertragen könnte, dass er ein Arschloch ist. Hab ich der Börse die drohende Pleite: 122 Mil- Hauptbahnhof. lionen Euro Schulden. Beim BVB dachten sie nur noch ans noch nicht erlebt.“ Sagt Klopp und klingt „So viel Glück, wie wir hatten, gibt’s Sparen, eines aber hatten sie nicht mehr: auch so, nach echt Klopp. Oder: „Wenn kein zweites Mal. Der nächste Club, der eine Idee, eine Linie, wie es sportlich wei- ich jeden Tag in die Kabine käme und das riskiert, wird es nicht überleben“, sagt tergehen sollte. Erst 2007 setzten sich die würde denken, boah, können die klasse Watzke heute. Er bettelte beim Com- beiden Überlebenden der Ära Niebaum kicken, aber was für Idioten. Würd ich merzbank-Vorstand Martin Blessing, da- zusammen, Watzke und Michael Zorc, nicht aushalten.“ Kein anderer Bundeslimit dessen Stadionfonds den BVB aus der Sportdirektor. Und sie legten fest, was gatrainer hat Klopps Talent zum starken dem Würgegriff ließ, „Herr Blessing, Sie die Not sowieso diktierte: auf junge Spie- Spruch, aber ein „echter Klopp“ sind seiLORENZ BAADER
Absturz und Aufschwung
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DAVID RAMOS / GETTY IMAGES
Dortmunder Profis Kagawa, Götze, Schmelzer, Barrios: Brennen und rennen
ne Sprüche nur, weil er kein Sprücheklopfer ist. Er macht, was er sagt. Und wenn er sagt, dass es für ihn bei Spielern zuerst auf „Charakter, Charakter“ ankomme – dann verlangt er von ihnen nur, was er von sich erwartet. Charakter. Vor Jahren, erzählen sie in Dortmund, hatte er mal ein Angebot von Wolfsburg; die schickten ihm einen fertigen Vertrag, nur die Stelle mit dem Gehalt war noch frei, er hätte die Zahl eintragen können. Aber Klopp stand bei Mainz unter Vertrag, zweite Liga, er hatte gerade verlängert. Und blieb. Dann Dortmund: Er hatte mal wieder in Mainz sein Wort gegeben – weiterzumachen, wenn Mainz aufsteigt. Aber Mainz stieg nicht auf. Erst als das klar war, schaute er sich die Anfragen an. Dortmund, Leverkusen, Köln. Nahm Dortmund. Klopp hatte hier in den Jahren, als Mainz Erstligist war, dreimal gastiert. „Dortmund-Spiele waren absolute Highlights“, ein großer Name, eine große
Geschichte, das größte Stadion, 80 000 Zuschauer. Echte Liebe. Dortmund also. Klopp ist, was Fußball angeht, ein Romantiker wie Watzke, er denkt in Kategorien wie Freundschaft und Vertrauen, er erwartet das nicht nur von Mannschaften, die er trainiert. Er hat eine Wärmestrahlung, die auch die krisenverkrampfte BVB-Führung entspannt hat: jenen Watzke, der früher oft so arrogant wirkte. Und selbst Zorc, den Sportdirektor. Der von sich sagt, dass er ja eher spröde sei, aber die Freundschaft mit Watzke und Klopp habe ihn lockerer gemacht. Auf jeden Fall besser. Shinji Kagawa etwa, mit acht Toren der gefährlichste Bundesliga-Mittelfeldspieler der Hinrunde, war nicht ganz so unauffindbar in der zweiten Japan-Liga versteckt, wie man meinen könnte. Sein Berater bot ihn nicht nur dem BVB an, sondern auch dem 1. FC Köln und in Holland. Er tat es außerdem mit einer DVD, deren Inhalt auch bei YouTube zu sehen war, Kagawas beste Szenen. D E R
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Köln beobachtete ihn nicht weiter, Zorc dagegen schickte seine Späher immer wieder nach Japan, um Kagawa auch nach dem Aufstieg seines Teams in die erste Liga zu sehen. Zum Saisonstart kam er für 350 000 Euro, und schon nach kurzer Zeit klingelte beim BVB das Telefon. Am Apparat: Mohamed Zidan, der Stammspieler auf der Kagawa-Position, der mit einer Knieverletzung in seiner ägyptischen Heimat festsaß. Besorgte Frage: Ist der neue Japaner denn wirklich so gut? Er ist es. Kagawas Marktwert heute: fünf Millionen. Inzwischen genauso viel wert: Mittelfeld-Renner Sven Bender, 21. Den hatte Zorc schon länger im Blick, aber er holte ihn erst, als sich 1860 München im Tausch den mäßig begabten Antonio Rukavina andrehen ließ. Keiner, sagt Klopp, habe einen besseren Spielcharakter als Bender. Werfe sich in jeden Ball und Gegner. Wieder: Charakter und noch mal Charakter. Zorc kauft Talente, Klopp bringt sie im Turbotempo voran, das ist die Regel, nicht die Ausnahme, und manchmal scheint es unerklärlich. Bei Kevin Großkreutz zum Beispiel. Stand noch vor drei Jahren bei Ahlen in der zweiten Liga auf dem Platz und samstags in Block 13 auf der Südtribüne. Wollte unbedingt zurück zum BVB, nachdem er mit 14 aus der CJugend geflogen war, „ich hätte auch für die zweite Mannschaft gespielt“. An viel mehr war eigentlich auch nicht gedacht, als sie ihn holten. Klopp aber sah einen Jungen, der für seinen Traum brannte, der in einem Spiel 13 Kilometer lief, heute ist Großkreutz Nationalspieler. Und dann war da noch der schüchterne Typ aus der zweiten Mannschaft. Als Klopp kam, fragte er, wen er eigentlich aufs Feld schicken könnte, wenn Dede mal verletzt wäre, sein Linksverteidiger. Wieso, der sei nie verletzt, hieß es. Und wer sollte dann beim Training im B-Team spielen, bei Elf gegen Elf? Na ja, da sei noch der Schmelzer von den Amateuren, aber der sei ja sogar dort ein Wackelkandidat. Auch Marcel Schmelzer hat inzwischen ein Länderspiel gemacht. Wenn Klopp von ihm spricht, krümmt er seinen Zeigefinger und lässt ihn dann langsam hochwachsen. „So hat sich der Schmelle verändert, vom ersten Tag, Selbstverständnis, Auftreten, Auge, alles, die größte Entwicklung, die ich je erlebt habe.“ Schmelzer, Bender, Großkreutz, gut möglich, dass sie ohne Klopp heute noch in der zweiten Liga oder zweiten Mannschaft spielen würden; in Klopps Spielsystem aber ist Wille das Wichtigste, der unbedingte und unbändige Wille, alles zu geben, sich für die Elf ganz zu verausgaben. Wer nicht schnell rennt, dauerrennt, gegen den Spielaufbau des Gegners, beim eigenen Ballgewinn, wer sich nicht in die Zweikämpfe stürzt und dem Zweikämpfer hinterherstürzt, zur Absicherung, kann in 95
seinem Team nicht spielen. Jeder für jeden, das Prinzip Freundschaft ist damit bei Klopp nicht nur Lebens-, sondern auch Spielprinzip. „Ich kann schon sagen, dass ich Freunde in der Mannschaft habe“, sagt Nuri Sahin, neben Bender die Schaltstelle in der Defensive. Und deshalb laufe eben einer für den anderen, solange es irgendwie geht, selbst wenn die Wege weh tun. Wie lange also noch? Die Hauptversammlung: Irgendwann kamen die Spieler, minutenlanger Applaus, ein Donner des Danks, „nie waren die Fans so glücklich wie mit dieser Mannschaft“, sollte Watzke später sagen. Nach den Jahren, in denen die Fans sich besoffen hatten an den Meisterschaften auf Pump, und nach den Jahren, in denen sie sich dafür schämen mussten, haben sie wieder ein Team, das alles vergessen lässt: Jungs, die sich 90 Minuten kaputtlaufen, aber mit einer Technik, die jederzeit fähig ist zu großen Momenten. Und deshalb dankte Watzke der Mannschaft, er wurde pathetisch und auch ein bisschen peinlich, aber was sollte er tun, er wollte es doch nur festhalten, das Glück. „Lasst euch jetzt in dieser Phase nicht den Kopf verdrehen, guckt mit 20, 21, 22 nicht auf die schnelle Mark, guckt,
DOMINIK ASBACH / DER SPIEGEL
Die Zukunft
BVB-Geschäftsführer Watzke
„Lasst euch nicht den Kopf verdrehen“
was dieser Club euch an Respekt, an Achtung, an Kameradschaft bieten kann.“ Watzke, der Romantiker, hofft auf den guten Charakter der Spieler, dass sie sich nicht von reicheren Vereinen abwerben lassen, sondern mit ihm seinen Traum leben. Den Traum von wunderbarem Fußball, der nicht Bankrott macht. Watzke will sich nicht untreu werden müssen. Er
hat sich geschworen: nie wieder neue Schulden; noch heute hat der Club nach seiner Rechnung 56 Millionen Euro davon. Watzke hätte vor der Saison Lucas Barrios, den besten Stürmer, gegen KlaasJan Huntelaar vom AC Mailand tauschen können, er sah nur Huntelaars Gehaltsforderung, angeblich 8,3 Millionen Euro im Jahr, damit war die Sache für ihn erledigt. Es soll nicht noch mal so kommen wie unter Niebaum. Oder so weit wie heute bei Schalke, dem hochverschuldeten Rivalen, der Huntelaar dann kaufte. Andererseits: Der russische Meister Rubin Kasan hätte Barrios für 20 Millionen Euro gekauft; Barrios, so heißt es, wollte unbedingt gehen. Es wären 20 Millionen weniger Schulden für den BVB gewesen. Aber Watzke ließ ihn nicht. Er will keinen Spieler teuer verkaufen, er will keinen teuren Spieler kaufen, warum kann nicht alles noch ein paar Jahre so bleiben, wie es ist? So perfekt? Ganz einfach: Weil sie in Dortmund eben doch nicht die Gesetze des Geschäfts außer Kraft setzen können, auch wenn sie genau das jetzt ständig beschwören. Spieler sind Spieler, auch die mit dem guten Charakter haben einen Berater, der davon lebt, den nächsten Vertrag zu machen. Einen besseren. Natürlich will angeblich keiner wechseln, wollen alle bleiben, sind glücklich in Dort-
Sport mund, elf Freunde, die sich nicht im Stich lassen. Sagen sie. Aber Roman Weidenfeller, der Torwart, pokert schon seit Wochen um einen neuen Vertrag. Sie bieten ihm rund 2,4 Millionen Euro, er will zum Spitzenverdiener aufschließen, zu Sebastian Kehl, knapp 3 Millionen im Jahr. Es geht so weit, dass der Verein Weidenfeller inzwischen eine Art Ultimatum gestellt hat: Wenn er bis Ende Januar nicht unterschreibt, soll er nach der Saison gehen. Die Sache ist ernst, der Fall Weidenfeller ist der Fall, bei dem der BVB ein Zeichen setzen will: bis hierher und nicht weiter. Aber wenn Weidenfeller hart bleibt, wird das Zeichen auch sagen, dass Dortmund einen der besten Keeper der Liga nicht mehr halten konnte. Ein Freund weniger. Oder Sahin. Der beteuert, wie wohl er sich in Dortmund fühle. Sahin hat nach allem, was man aus dem Verein hört, eine Ausstiegsklausel und darf den BVB im Sommer verlassen, für nur 6 Millionen Euro Ablöse. Bei einem Marktwert von 16 Millionen könnte er die Differenz, 10 Millionen, als Handgeld von einem neuen Club kassieren; dafür werden solche Klauseln schließlich gemacht. In Dortmund sagen sie, Sahin gehe es gar nicht so ums Geld. Ein guter Junge eben, und dass er bleibt, wenn sich das Team jetzt nur für die große Bühne qualifiziert, die Champions League. Aber: Auf der könn-
te er auch für andere Clubs spielen, und in Wahrheit werden alle Reserven für Sawie gut kann ein guter Junge sein, dass hin oder Hummels nicht reichen, wenn ihm zehn Millionen nicht wichtig sind? Inter Mailand oder auch nur der FC BayBei einem Bundesligisten heißt es jeden- ern kommt. Und deshalb bleibt die Dortfalls, Sahin sei ihm bereits angeboten wor- munder Fußballwelt nur heil, wenn der den, für einen Wechsel im Sommer. BVB immer wieder neue Hummels entEine ähnliche Klausel bei Mats Hum- deckt, neue Schmelzers in Nationalspieler mels, Abwehrchef; er soll den BVB 2012 verzaubert. Nur dass man sich darauf im für acht Millionen verlassen dürfen. Soll Fußball genauso wenig verlassen kann man ihn also halten, für mehr Geld? Oder wie auf den Erfolg. den Vertrag auslaufen lassen, mit dem ErDer Einzige, dem man wirklich zutraugebnis, dass Hummels 2012 weg ist? Oder en könnte, die Gesetze auszuhebeln, ihn schon nach dieser Saison verkaufen, wäre Klopp mit seinem Charisma. Er hat um mehr für ihn zu bekommen? seinen Vertrag bis 2014 verlängert, für Mit einer Reihe von jungen Spielern Watzke der wichtigste Vertrag von allen. hat der BVB hastig neue Langzeitverträge „Die Jungs sind 21, meine Fresse, sie wergemacht, etwa mit Mittelfeldtalent Mario den ja auch in Dortmund nicht mit ErdGötze. Doch wenn der Verein jetzt tat- nüssen beworfen, sondern gut bezahlt“, sächlich zahlen muss, was der Berater des sagt Klopp. Sollen sie doch bleiben, ihm 18-Jährigen bei anderen Clubs noch kurz glauben, dass keiner mehr aus ihnen hervorher verlangt hat, wird Watzkes Traum ausholt als dieser Trainer, dieser Verein, vom Traumfußball für wenig Geld in diese Mannschaft, in der es läuft und eizwei, drei Jahren zu Ende sein. Es ist das ner für den anderen läuft. „Das hier ist ewige Spiel, die ewige Spirale: mehr Er- der Verein, in dem sie zur Legende werfolg, mehr Gehalt, oder die Spieler sind den können“, sagt also Klopp. Er denkt weg. Bleibt dann der Erfolg aus, fehlt das an Jahre, eine Ära, aber vermutlich wird Geld, droht der Absturz. auch er sich damit abfinden müssen, dass Zwar gibt es im Moment noch Reser- es weniger sein wird und dann vorbei ist. ven: verdiente, gutverdienende Spieler, Wenn es gut läuft: ein Tag im Mai. Eine die ihren Stammplatz verloren haben und Meisterelf, Altersdurchschnitt 23. Ein von denen man sich trennen wird. Das Team, das es danach nie wieder geben bringt ein paar Millionen, um die steigen- wird. Aber das sie in Dortmund nicht verden Gehälter der Jungen zu zahlen. Aber gessen werden.
Szene KUNSTMARKT
VG BILDKUNST, BONN 2011
Millionen für einen falschen Derain?
Tuschezeichnung von Derain, 1905
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ie Affäre um gefälschte Bilder aus der fingierten Sammlung Werner Jägers (SPIEGEL 44/2010) erreicht eine neue Dimension. Das Berliner Landeskriminalamt hat ein weiteres, mutmaßlich gefälschtes Gemälde im Visier, das im Frühjahr 2006 zum Rekordpreis von rund 4,5 Millionen Euro verkauft wurde. Das Gemälde trägt den Titel „Matisse peignant à Collioure“ und soll angeblich 1905 oder 1906 von dem französischen Fauvisten André Derain (1880 bis 1954) gemalt worden sein. Es zeigt den Maler und Derain-Freund Henri Matisse bei
Zweifelhaftes Derain-Gemälde aus der Sammlung Jägers
der Arbeit und ähnelt verblüffend einer kleineren – echten – Tuschezeichnung Derains. Derzeit wird das Gemälde im Berliner Rathgen-Institut auf seine Echtheit untersucht. Eigentümer ist die Liechtensteiner Hilti Art Foundation, die dem SPIEGEL den Ankauf bestätigte, sich aber nicht zum genauen Preis äußern wollte. In der Stiftung war ein zweifelhaftes Etikett – „Sammlung Flechtheim“ – auf dem Keilrahmen aufgefallen. Es ist das gleiche, das auch auf anderen Bildern mit der dubiosen Provenienz Jägers klebte und dazu beitrug,
den Fälschungsskandal ans Licht zu bringen. Die Liechtensteiner Stiftung hatte das angebliche Derain-Werk, das ein Experte für echt erklärt hatte, vor fünf Jahren von einem Londoner Händler erworben. Sollte sich der Fälschungsverdacht bestätigen, wäre es das bislang teuerste Falsifikat aus der angeblichen Sammlung Jägers. Die höchste Verkaufssumme für eines der nachgemachten Gemälde lag bisher bei 2,9 Millionen Euro, den Preis zahlte eine Firma auf Malta für ein vermeintliches Bild von Heinrich Campendonk.
FERNSEHEN
Heilsames Patchwork
ERIKA HAURI / BR
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Schediwy, Riemann in „Die fremde Familie“ 98
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enn die Tochter Ira, so sorgenvoll konzentriert wie hier von Katja Riemann gespielt, ihren siechen Vater im Rollstuhl am drohenden Heim vorbei zu sich nach Hause schiebt, um ihn hinfort bei sich zu pflegen, dann zieht im Normal-Movie wunderbares Läuten durchs Gemüt. Ach, es gibt sie also doch noch, die familiäre Ehrfurcht vor dem Alter. Von Daniel Nocke (Buch) und Stefan Krohmer (Regie) darf man trotz einer solchen Szene derlei nicht erwarten. Schon der Titel des Films „Die fremde Familie“ (Mittwoch, 20.15 Uhr, ARD) verrät’s: In der durch Scheidung geprägten Patchworkfamilie läuft es anders. Der Vater (Fritz Schediwy) muckt gegen seine Kasernierung auf. Er konnte Ira, wie sich herausstellt, noch nie leiden. Der Invalide identifiziert den blonden Engel mit dem Grauen seiner ersten Ehe, aus der er geflohen ist. Einen in einer anderen Verbindung gezeugten Halbbruder Iras (Stephan Luca) findet der Alte dagegen umgänglicher. Dessen Leichtfüßigkeit imponiert bald auch der vaterfixierten Ira. Sie lernt loszulassen. Ohne Patchworkstruktur wäre das nicht geglückt. Wir sehen eine neue Ira, wie sie in voller Schönheit liebt, joggt und zu sich findet. Niemand wird die übliche Movie-Sentimentalität vermissen. Ein emotional überraschendes Fernsehstück.
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Kultur sicht und Geldverstand nie hätte zu arbeiten brauchen“. Doch Allmen junior hat das Erbe zügig verprasst. Um seine Schulden zu bezahlen, verscherbelt er Kunstschätze, zuerst seine eigenen, dann geklaute. Statt in der väterlichen Villa wohnt er jetzt im Gärtnerhaus dahinter. Das Glashaus, in dem früher Orchideen gezüchtet wurden, dient Allmen als Bibliothek und dem Autor Suter als Metapher. Allmen weiß, „dass Lesen die einfachste, wirksamste und schönste Art war, sich seiner Umgebung zu entziehen“. Seine Favoriten sind Honoré de Balzac, Georges Simenon und William Somerset Maugham, Klassiker, die, Zufall oder eher nicht, im gleichen Verlag erscheinen wie die Werke des Allmen-Erfinders. Martin Suter hat sein neues Buch zur „Hommage an den Serienkrimi“ erklärt, so dass man wohl nicht zu viel verrät mit der Enthüllung, dass Allmen, der sympathische Schluffi, die recht übersichtliche Handlung ohne große Blessuren übersteht. Zwei Fortsetzungen sind bereits fertig. Vielleicht entwickelt sich dann die Serie sogar noch zur echten Krimi-Reihe.
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Balzac im Glashaus
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ie Diebe hatten Geschmack: Fünf wertvolle Schalen mit Libellenmotiven und kostbare Vasen, entworfen vom Jugendstilkünstler Emile Gallé, ließen sie mitgehen, als sie im Oktober 2004 ins Château de Gingins im Schweizer Kanton Waadt einbrachen. Die Schalen sind bis heute verschwunden, trotz einer Belohnung von 400 000 Franken. Martin Suter, 62, der Schweizer Bestsellerautor („Der Koch“), hat sich von diesem echten Kriminalfall zu einem Roman inspirieren lassen. „Allmen und die Libellen“ ist eine federleichte Novelle, weniger Krimi als vielmehr eine Einführung in den Lebensstil der Oberschicht von Zürich. Suter erzählt von einem kultivierten Hochstapler Anfang vierzig, der – nach einem Umweg durch das Bett einer jungen Frau – in eine lebensgefährliche Affäre verstrickt wird. Es geht um alte Schalen und alte Rechnungen, zunächst aber vor allem um Rechnungen. Denn Johann Friedrich von Allmen, der Titelheld, hat von seinem Vater zwar einst ein Millionenvermögen geerbt, genug, dass er „bei etwas Um-
Martin Suter: „Allmen und die Libellen“. Diogenes Verlag, Zürich; 208 Seiten; 18,90 Euro.
Kino in Kürze „The Green Hornet“ geht auf eine
seinem ersten Film nach dem OscarGewinn für „Inglourious Basterds“ mit Selbstironie einen fiesen Gangsterboss spielt, läuft als Bösewicht über weite Strecken neben der Handlung her.
Hörspielserie aus den dreißiger Jahren zurück und erzählt von dem nichtsnutzigen Sohn eines Zeitungsmoguls, der sich zum Kämpfer gegen das Verbrechen aufschwingt. Regisseur Michel Gondry und Hauptdarsteller Seth Rogen machen aus dem Stoff eine entspannte Superheldenfilmparodie. Leider geht es dem Film wie seinem etwas zu entspannten Helden: Es fehlen ihm der rechte Antrieb und die nötige Zielstrebigkeit, um in Schwung zu kommen. Christoph Waltz, der in
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„We Want Sex“ heißt im britischen
Waltz in „The Green Hornet“ D E R
Original „Made in Dagenham“ – was viel besser passt, denn die Heldinnen in diesem nach einer wahren Geschichte von 1968 erzählten Erbauungsfilm von Nigel Cole („Kalender Girls“) fordern keine körperliche Zuwendung, sondern schlicht bessere Bezahlung. Als Autositzenäherinnen im englischen Dagenham schuften die Frauen so hart wie die Männer, bekommen aber nur einen Bruchteil des Lohns. Damit sich das ändert, lehnen sie sich mit viel Leidenschaft und Arbeiterin Rita (zum Liebhaben: Sally Hawkins) an der Spitze gegen das Management, die männliche Kollegenschaft und die Gewerkschaft auf. Eine erfrischende Mischung aus Sozialdrama und Komödie, gekrönt vom Sieg der Gerechtigkeit.
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ARCHIV FRIEDRICH / INTERFOTO
Kultur
Schriftstellerin Rinser um 1948
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RENATE VON MANGOLDT
Der Romancier Michael Kleeberg („Das amerikanische Hospital“) lernte Luise Rinser (1911 bis 2002) Anfang der achtziger Jahre kennen. Sie war damals eine der prominentesten Autorinnen der Bundesrepublik. In ihren Urteilen und politischen Neigungen unberechenbar, sympathisierte Luise Rinser einerseits mit dem Sozialdemokraten Willy Brandt, andererseits mit dem nordkoreanischen Diktator Kim Il Sung. Dennoch war sie für viele eine moralische Autorität. 1984 stellten die Grünen Luise Rinser als ihre Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten auf. Schon damals war bekannt, dass die Schriftstellerin in der Nazi-Zeit ein Huldigungsgedicht auf Adolf Hitler verfasst hatte. Michael Kleeberg, 51, hat sich intensiv mit Luise Rinsers Leben und Werk beschäftigt und kann nun, wenige Monate vor Rinsers 100. Geburtstag im April, detailliert belegen, wie geschickt sie ihre Biografie manipuliert hat.
L E B E N S LÄU F E
Luise Rinsers Vergesslichkeit Wie sich die prominente Nachkriegsautorin zur Widerständlerin stilisierte Von Michael Kleeberg
I
ch habe Luise Rinser gekannt, seit 1981, es war, soweit man das angesichts des Gefälles zwischen einer berühmten, alten Schriftstellerin und einem jungen Mann, der erst noch ein Schriftsteller werden will, so nennen kann, ein freundschaftliches Verhältnis. Bei unserer ersten Begegnung war sie, soeben aus Nordkorea zurückgekehrt, von einer atemnehmenden Selbstbezogenheit, die nur mit der bekannten Anekdote zu beschreiben ist, bei der die große Persönlichkeit ihren Gesprächspartner mahnt: „Nun reden wir die ganze Zeit von mir, sagen Sie doch auch mal etwas. Wie fanden Sie denn meinen neuen Roman?“ Man schwankte zwischen Befremden angesichts ihrer enthusiastischen, von keiner Realie erschütterten Naivität und Bewunderung angesichts ihrer Vitalität und ihres nicht nachlassenden Interesses am Menschen (wenn auch nicht am einzelnen). Am besten hat diesen Eindruck, wenn auch satirisch überspitzt, der Schriftsteller Christian Klippel eingefangen, der sie in seinem Roman „Barfuß nach Palermo“ so zu Wort kommen lässt: „Der Kim Il Sung is ja so a herzensguter Mann. Ich hab ja meinen Augen net traut. Da bauens alle Städte nach dem Norden, weil der Wind immer ausm Süden weht. I hab a Stadt gezeigt kriegt, Ya Wang Chi oder Chu, wie hats glei gheißen, na, is au egal, jedenfalls hams des abgerissen, weil im Süden a Fabrik war und der Wind immer die ganze dreckade Luft herübergeweht hat … und genauso auf der andern Seitn wieder aufbaut. Hams des gwußt, Sie, daß es in Nordkorea keinen Krebs gibt? Da staunen Sie! Die ganzen Krankheiten, so gut wie ausgerottet. Und womit? Gin-
sengwurzel … Jedenfalls … auf Nordko- dere schwieg sie. So zum Beispiel über rea laß i nix kommen, und ich laß mir den Jesuiten und konservativen Literanix vormachen, schon damals beim Hitler turkritiker Hubert Becher, den sie schon net, hams des gwußt, daß ich im Gefäng- im Krieg kannte, der die gesamten fünfnis war? Ich hab Erfahrungen mit Dikta- ziger Jahre als privater Vorlektor für sie toren, aber der Kim Il Sung, der wird ge- tätig war und ihr wahrscheinlich den Konliebt, des garantier ich Ihnen. Er ist ja takt zum berühmten katholischen Theoauch ein herzensguter Mensch …“ logen Karl Rahner ebnete, den sie dann Luise Rinser hat ihre Erfahrungen mit recht bald ebenso als kritischen FürspreDiktaturen und Diktatoren gemacht und cher zu instrumentalisieren suchte. darüber auf unterschiedlichste Art und Ihr Werk als Schriftstellerin ist umfasWeise geredet und geschwiegen. Die send: 13 Romane, 9 Erzählbände, 13 autoSchriftstellerin, die im März 2002 im 91. biografische Bücher, dazu Jugendbücher Lebensjahr verstarb, ist zeit ihres Lebens und mehr als 30 Reiseberichte, Gesprächsso streitbar wie umstritten gewesen. Vom und Essaysammlungen. Ihre Bücher wur1935 publizierten und immer verleugne- den Schullektüre und verkauften sich milten Huldigungsgedicht „Junge Genera- lionenfach. Sie schrieb über Frauenemantion“ auf Adolf Hitler bis zur Kandidatur zipation und über Therese von Konnersgegen Richard von Weizsäcker für das reuth, eine bayerische Magd, die in den Amt des deutschen Bundespräsidenten zwanziger Jahren zur Berühmtheit ge1984 auf Vorschlag der Grünen erlebte worden war, weil sie, angeblich stigmatisie Zeit- und Literaturgeschichte. siert, aus den Augen blutete. Im April 1911 in Oberbayern als LehSie schickte Huldigungsbriefe an den rerstochter geboren, wurde sie selbst Leh- verehrten Ernst Jünger ins besetzte Frankrerin, gab aber nach ihrer Heirat, zwei reich, flirtete mit Johannes R. Becher, Jahre vor dem Erscheinen ihres ersten dem späteren Kulturminister der DDR. Buchs, den Beruf auf. Sie saß gegen Sie hatte eine Affäre mit dem emigrierten Kriegsende in Untersuchungshaft und Verleger Fritz Landshoff, und der Nazimachte nach 1945 mit ihrem „Gefängnis- Regisseur Karl Ritter nannte sie seine tagebuch“ als antifaschistische Schriftstel- „kleine Freundin“. Hesse wie Hemingway lerin und Publizistin Karriere. Sie galt als zählte sie zu ihren literarischen Lehrmeis„Linkskatholikin“, als „Sympathisantin“ tern. Sie leitete ein Schulungslager der der Terroristen im Deutschen Herbst, als Nazi-Organisation „Bund Deutscher MäErbauungsschriftstellerin. del“ (BDM), pries Nordkorea als sozialisSie war mit dem Komponisten Carl tischen Musterstaat und galt als linkes GeOrff verheiratet, der Schauspieler Fritz wissen der Nation. Kortner machte ihr den Hof. Sie hatte Am 30. April würde sie 100 Jahre alt. merkwürdige, aus Erotik und geistigem Ihre Bücher verschwinden allmählich aus Austausch gespeiste Beziehungen zum den Buchhandlungen, aber ihr Verlag Dalai Lama und zu katholischen Geistli- S. Fischer plant für das Frühjahr eine grochen. Über manche schrieb sie, über an- ße Biografie. Ein schwieriges UnterfanD E R
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Kultur gen. Denn auch Luise Rinser gehört, wie „Herdfeuer“ erschienenen Hitler-Gedicht Zunächst wurde ich in Hans Hartogs Wolfgang Koeppen, Alfred Andersch, zu schreiben. Es enthielt Zeilen wie „Wir, Biografie über Heinrich Kaminski fündig. Walter Jens, Günter Eich oder Wolfdiet- des großen Führers gezeichnet Verschwo- Kaminski war ein Komponist und Lehrer rich Schnurre zu jener Generation von rene, / Ungeborgen in scharfen Morgen- von Rinsers Ehemann Schnell. In ihrer Literaten der Stunde null, die, wie sich stürmen, / Halten auf Türmen und Gipfeln Autobiografie „Den Wolf umarmen“ hatspät herausstellte, ein berufliches Vorle- klirrende Wacht … Wir jungen Deut- te sie Kaminsiki als Epigonen und Schnorben hatten und zu Gefangenen ihrer ver- schen, wir wachen, siegen oder sterben, rer abgekanzelt und ihren ersten Eheschwiegenen Vergangenheit wurden. denn wir sind treu!“ mann gleichzeitig als Widerständler und Luise Rinser ist ein interessanter Fall. Ich fand nichts Verwerfliches daran, politisch Verfolgten beschrieben, der in Und ein hochkomplexer. dass eine junge Frau wie so viele in einer Strafkompanie an die Front geSie strahlte in keiner Sekunde den Ein- jener Zeit kurz der spukhaften Faszi- schickt worden sei, als einen schwachen druck der katholischen Erbauungsoma nation dieser deutschen Revolutionäre Menschen, der sich in der Welt nicht beaus. Sie hatte überhaupt nichts von einer aufgesessen ist. Schließlich, so schrieb haupten konnte. Oma, ja nicht einmal etwas Mütterliches. ich ihr, beweise doch ihr späterer WiderDas alles stimmt vorn und hinten nicht. Sie war auch als alte Dame eine Frau von stand und ihre gesamte Literatur, dass In der Biografie über Kaminski taucht starker weiblicher Ausstrahlung, ich scheue ein solches Gedicht nur eine Jugendtor- Schnell als höchst begabter Kapellmeister mich, das eine erotische Ausstrahlung zu heit gewesen sei. Sie antwortete erbost, und Komponist auf, er komponierte in nennen, aber in jüngeren Jahren muss es wer ihr zutraue, so etwas jemals geschrie- seinem kurzen Leben sogar erstaunlich eine solche gewesen sein. Wachheit, Ko- ben zu haben, mit dem wolle sie nichts viel. Tatsächlich war Schnell eine angeseketterie, Eitelkeit, Launen, alles perfekt zu tun haben. hene, ehrgeizige und vom Regime geförkontrolliert, zugleich besaß derte Figur des damaligen sie so etwas wie eine Aura. Kulturlebens. Seine EinberuDas ist ein komisches Wort, fung zum Militär wurde lange aber man hatte zwischen all hinausgeschoben, und er erdem Bramarbasieren immer hielt noch postum 1943 den wieder den Eindruck, es mit Rostocker Musikpreis, dessen einer Erleuchteten zu tun zu Preisgeld seiner Witwe zugehaben. Natürlich war ihr darschickt wurde. an gelegen. Luise Rinser beDie Witwe war aber nicht, saß nämlich auch etwas von wie sie immer behauptet hat, einer Diva, die Stimmungen Luise Rinser. und Rollen zwischen IntimiDiese 1939 geschlossene tät und Schroffheit improviEhe war bereits Anfang 1941 sierte und der sich irgendzerrüttet, noch vor der Gewann die Grenzen zwischen burt des gemeinsamen zweiSelbstinszenierung und Reaten Kindes. Horst Günther lität verwischten. Schnell hatte über Luise RinDas Feuilleton bezeichneser die Schriftstellerin Hedte die musikalisch und theowig Rohde kennengelernt. logisch umfassend Gebildete Im Sommer 1941, noch vor als naiv, untalentiert und Nordkorea-Besucherin Rinser, Diktator Kim Il Sung 1986 der Geburt von Rinsers zweiein wenig lächerlich. In eitem Sohn, waren die beiden nem Erinnerungsband an die Das Fasziniertsein von und die Hinwendung zu ein Paar. 1942 wurde die Ehe Gruppe 47 durfte eines ihrer Führern zieht sich durch ihr gesamtes Leben. zwischen Schnell und Rinser Mitglieder, ein längst vergesgeschieden, Schnell heiratesener Schreiber, so abfällig te Rohde. Am 8. September über sie berichten, dass man förmlich Das Fasziniertsein von und die Hinwen- 1942 verbrachte er den ersten Tag in der sehen konnte, wie er sich dabei mit Bli- dung zu (geistigen) Führern zieht sich Kaserne. Im Februar 1943 fiel Schnell cken nach links und rechts des feixen- aber als roter Faden durch Rinsers gesam- und hinterließ die Witwe Hedwig Rohde den Einverständnisses seiner Kumpel in tes Leben. Offenbar hat Luise Rinser je- und den gemeinsamen Sohn Wolfgang diesem Männerbund mit Damenzutritt doch genau darauf geachtet, welche Ver- Amadeus. versicherte. sion ihres Lebens an die Öffentlichkeit Dieser Sohn lebt heute als Architekt Dass so viele kleine Leute in Deutsch- kam und welche nicht. und Stadtplaner in Berlin. Seinen Vater land sich so despektierlich über diese Daher war ich nur wenig erstaunt, als hat er nie kennengelernt, seine Mutter Künstlerin äußern konnten, denen es ganz ich im Lexikon „Literatur in Nazi-Deutsch- heiratete nach dem Krieg den Maler Rieinfach nicht zustand, hat mich immer ge- land“ von Hans Sarkowicz und Alf Ment- chard Oelze. Nach der Scheidung von reizt. Es ist ein Reflex, den Golo Mann zer eine Information fand, die allen ihren Oelze lebte Hedwig Rohde bis zu ihrem einmal, als wohlmeinende Freunde ihn Selbstzeugnissen diametral widerspricht: Tod als Literaturkritikerin des „Tagesspiefragten, warum er Leuten wie Filbinger nämlich dass ihre erste Ehe mit dem gels“ in Berlin. Ihr Sohn erinnert sich oder Strauß beisprang, so erklärte: Er sei Musiker Horst Günther Schnell, als dessen noch an gemeinsame Ferien mit seinen aus Prinzip für den Underdog. Wer das Witwe (er ist 1943 gefallen) sie sich immer beiden Halbbrüdern, den Kindern Luise jeweils sei, spiele keine Rolle, aber er sei bezeichnet hat, bereits 1942 geschieden Rinsers, bei den Großeltern. solidarisch mit dem, den die Meute hetzt. worden ist, dass, anders als sie stets beWarum, frage ich ihn, hat seine Mutter Und daher begann ich mich, als ich von hauptete, nie ein Publikationsverbot gegen Hedwig Rohde nie gegen die Vereinnahder geplanten Biografie hörte, wieder mit sie verhängt worden war, sondern dass sie mung ihres Mannes durch dessen erste ihr zu beschäftigen, diesmal weniger mit die gesamte Kriegszeit über schreiben und Frau protestiert? Schließlich existieren in ihren Büchern als mit ihrem Leben. veröffentlichen konnte. der durch Rinsers autobiografische Texte Ich hatte 1996 den Fehler begangen, ihr Ich begann also anhand dieser Infor- geprägten öffentlichen Wahrnehmung wezu ihrem in der Blut-und-Boden-Postille mationen zu recherchieren. der sie noch ihr Sohn. Offenbar, so erin102
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nert sich Schnell, scheute seine Mutter Dem wurde allerdings angesichts der Jungnationalsozialistin war. Unter dem vor einer Auseinandersetzung mit der Wohnungsnot nicht stattgegeben. Einfluss ihres ersten Mannes und des Kreivon ihr als prozesswütig gefürchteten beIn Klaus-Dieter Oelzes Dissertation ses um Kaminski scheint sie in eine eher rühmteren Autorin zurück. Und die Ein- „Das Feuilleton der Kölnischen Zeitung ästhetisch begründete Distanz zum Sysgeweihten wussten ja ohnehin Bescheid. im Dritten Reich“ wird die Mitarbeit Lui- tem gekommen zu sein. Nach ihrer ScheiLuise Rinser war also zu Beginn des se Rinsers (wie auch die zahlreicher an- dung allerdings war ihr natürlicherweise Jahres 1943 eine geschiedene Frau, sie derer Protagonisten der bundesdeutschen auch als alleinstehender Mutter mit zwei war keine Witwe eines Nazi-Opfers, und Nachkriegsliteratur) dokumentiert. Die kleinen Kindern die Karriere wichtiger sie war auch keineswegs eine verbotene „Kölnische Zeitung“ war kein Blut-und- als der Rahmen, in dem sie stattfand. Schriftstellerin, wie sie es später glauben Boden-Blättchen wie „Herdfeuer“, son- Gleich so vielen ihrer Kollegen war sie machte. Sie war eine höchst eifrig die dern eine bürgerliche Zeitung, die sich, eine klassische Mitläuferin. eigene junge Karriere vorantreibende wie das damals durchaus vorkam, ein Da die ganze Mär der Widerständlerin Schriftstellerin. Qualitätsfeuilleton leistete, natürlich un- Rinser und ihres ebenso widerständleriIhr 1941 publizierter Erstling „Die glä- ter Ausblendung bestimmter Mitarbeiter, schen Mannes keiner Nachprüfung standsernen Ringe“ wurde, anders als sie es Themen, Stilrichtungen und Meinungen, hält, sah ich zum ersten Mal auch die von darstellt, von niemandem als versteckte eines der Feigenblätter bürgerlicher Kon- ihr immer wieder erzählte Geschichte ihKritik des Systems gelesen, ganz einfach tinuität, die die Nazis, wie Hans Dieter rer Verfolgung, Denunziation, ihrer Haft, deshalb, weil er keine war. Schäfer es schildert, sich und der Bevöl- wie sie sie im Grundtext ihres SelbstbilDas Buch gehörte in die von Hans Die- kerung durchaus gönnten. In diesem des, dem „Gefängnistagebuch“, schilderter Schäfer in seinem Werk „Das gespal- Feuilleton veröffentlichte Rinser von 1939 te, mit fragenden Augen an: War sie wirktene Bewußtsein“ nachgelich jene aktive Antifaschiswiesene Strömung eines stitin gewesen, die mutig die listisch seit dem Ende der Folgen ihrer Handlungen in zwanziger Jahre in Mode geKauf nahm? kommenen Neoklassizismus Aufschluss über diese Zeit und zu einer breiten Reihe bietet der Nachlass des von Werken, die sich in der Schriftstellers Klaus HerrNazi-Zeit, um nicht anstößig mann. Er war Luise Rinsers zu sein, dem Land, der Kindzweiter Ehemann. heit, der regionalen Idylle zuHerrmanns Nachlass liegt wandten. in der Berliner StaatsbiblioVor dem Erscheinen der thek. In einem Notat berichErzählung hatte Luise Rinser tet er, zu einer Geburtstags1940 bei der Reichsschriftfeier 1942 „Luise“ mitgetumskammer angefragt, ob bracht zu haben: „An diees „nötig“ sei, dieser „beizusem Abend sorgte ich zum treten“, oder ob sie von der erstenmal für Luises politiMitgliedschaft befreit wersche Aufklärung … Hatte ich den könne. In einem Frageals Luises Liebhaber nicht bogen hatte sie ihre bisheridie Aufgabe, sie vor Irrtügen Veröffentlichungen auf- Gewählter Bundespräsident Weizsäcker, unterlegene Rinser 1984 mern zu bewahren? Ich begelistet, insgesamt etwa 13, sorgte es, so gründlich ich darunter auch „etwa 5“ Bei- Sie strahlte in keiner Sekunde den Eindruck konnte. Ich zählte die deutträge für die Zeitschrift der katholischen Erbauungsoma aus. schen Großindustriellen auf, „Herdfeuer“ aus den Jahren die Hitler finanziert hatten, „1933–1936“ (in Wahrheit bis ich nannte die Summen, die 1937), an die sie später nicht mehr erin- bis 1945 Rezensionen, Erzählungen, Be- er erhalten hatte … Ich erzählte ihr an nert werden wollte. Sie gab auch Aus- richte und Romanvorabdrucke, insgesamt diesem Abend alles, was sie zwei Jahre kunft über ihre Mitgliedschaft in der NS- 20 Texte. Ihr Roman „Hochebene“ wurde später einer Freundin wiedererzählte, deFrauenschaft, über ihre Tätigkeit als dort 1944 abgedruckt, im Dezember wur- ren Mann sie darauf der Gestapo anzeigBDM-Führerin und ihre beendete Mit- de der Abdruck mit dem Kommentar un- te. Aber darüber hat sie in ihrem Gefänggliedschaft im NS-Lehrerbund. terbrochen: „Fortsetzung folgt, sobald wir nistagebuch geschrieben.“ Die Reichsschrifttumskammer befreite den Schluß des Romanmanuskripts, das In ihrer Autobiografie „Den Wolf umarsie vorerst von der Mitgliedschaft wegen durch Feindeinwirkung verlorenging, wie- men“ erklärt Rinser, ihre Haftzeit, begonGeringfügigkeit der literarischen Beschäf- der beschafft haben.“ Anfang 1945 wurde nen im Oktober 1944, habe „im April 1945 tigung, erklärte aber, dass das keinerlei der Abdruck dann fortgesetzt. kurz vor dem Einmarsch der AmerikaEinschränkung ihrer künstlerischen Ar1943 arbeitete Luise Rinser als Dreh- ner“ geendet. beit bedeute. In den Jahren danach er- buchautorin für den Unterhaltungs- und In einer Einleitung zum „Gefängnishielt Luise Rinser regelmäßig Papierzu- Propagandafilmregisseur Karl Ritter, altes tagebuch“ schreibt sie: „Während meiner teilungen für ihre Arbeit. Sie wandte sich NSDAP-Mitglied, am Skript für den nie Haft lief am Volksgerichtshof Berlin unter auch mit weiteren Anfragen an die Kam- realisierten Film „Schule der Mädchen“ dem berüchtigten Freisler ein Prozeß gemer, so 1942 wegen eines Telefonanschlus- über den Reichsarbeitsdienst. Sie erhielt gen mich. Die Anklage lautete auf Hochses für ihr Haus in Kirchanschöring in dafür ein Honorar von 6000 Reichsmark verrat (Wehrkraftzersetzung und WiderBayern, wohin sie nach ihrer Scheidung und bezeichnete sich auch stets stolz als stand gegen das Dritte Reich) … Man zurückgekehrt war. Sie bat um Petroleum- „Autorin der Berlin-Film“. konnte mich aufgrund des vorliegenden lieferungen und protestierte sogar im Mai Was ist nun von alledem zu halten? Materials … zum Tode verurteilen.“ 1944 gegen die Noteinquartierung ihrer Ihre frühen Veröffentlichungen lassen Der letzte Eintrag aus dem Gefängnis Schwiegermutter, die ihr die notwendige wohl keinen anderen Schluss zu, als dass in dem Tagebuch stammt vom 21. DezemRuhe zur künstlerischen Arbeit raube. die Anfangszwanzigerin eine begeisterte ber 1944: „Heute sind plötzlich GefangeD E R
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zu diesem Zeitpunkt keine Anklage gab, und die Denunziation ihrer Freundin, die sie in Untersuchungshaft gebracht hatte, für eine längere Inhaftierung nicht ausreichte. Die Anklageschrift selbst erwähnt auch keinerlei vorherige Verfehlungen oder Verdächtigungen, sie beschränkt sich auf die Inhalte der Denunziation, also dass Luise Rinser gegenüber einer Freundin vom baldigen Ende des Kriegs gesprochen, die Russen als nicht so schlimm und ein Sich-Arrangieren mit ihnen als möglich bezeichnet habe, auch wenn das bedeute, seine Kinder aufgeben zu müssen, um die eigene Haut zu retten. Bürokratisch korrekt geht der Ankläger auch auf Rinsers Selbstverteidigung ein, ihre Denunziatin sei nicht bei klarem Verstand, und ordnet deren Untersuchung an.
ben Verlag publizierte, bis er in die DDR ging und sie nach München. Jedenfalls wurde dieser angeblich dem Regime so Verdächtige im Anklageschreiben von Ende März 1945 nur am Rande erwähnt. Er wurde auch nicht als Zeuge geladen. Er blieb unbehelligt. Wie gefährlich war die Verhaftung? In einem Brief von Freunden aus dem Jahr 1955 an Herrmann steht: „Unlängst lasen wir in dem sehr hübschen Literaturkalender des Langewiesche-Verlags Rinsers Autobiografie, wonach sie in der Nazizeit sogar ,vom Tode bedroht‘ war. Martchen und ich haben uns einigermaßen verdutzt angeschaut.“ Luise Rinser aber hat sich schon im Sommer 1945 beim Landrat ihre Haftzeit und „ein Verfahren wegen Wehrkraftzersetzung“ gegen sie schriftlich bestätigen
RAINER BINDER / ULLSTEIN BILD
ne entlassen worden … Jede wartet auf ihre Entlassung. Ich auch. Spät am Abend kam mein Anwalt und ließ mich rufen. Ich stürmte zu ihm. Nichts. Er meinte, das Gesuch sei abgelehnt worden … Gut – feiern wir Weihnachten im Gefängnis … Viele Kinder müssen ohne Vater und Mutter feiern. Und warum hatte ich Angst vor dem Tod? Ich bin noch nicht verurteilt …“ Tatsächlich aber war sie zu dieser Zeit nicht einmal angeklagt. Schon gar nicht wegen Hochverrats. Und Weihnachten im Gefängnis verbringen musste sie auch nicht. Weder gab es einen Prozess, noch war der Präsident des Volksgerichtshofs, Roland Freisler, irgendwie in ihren Fall involviert. In ihrem Nachlass in Marbach befindet sich ein offizielles Dokument des Landgerichtsgefängnisses Traunstein, das besagt, „Luise Herrmann geb. Rinser“ sei am 21. Dezember 1944 aus der Haft entlassen worden (also genau an dem Datum, an dem auch ihre Aufzeichnungen aus dem Gefängnis enden), und zwar zunächst bis zum 7. Januar. Sie bekam also sehr wohl Hafturlaub, und sie musste offenbar auch nicht wieder zurück in die U-Haft. Jedenfalls findet sich kein Dokument, das darauf hindeutet. Dafür stieß ich im Bundesarchiv in Berlin auf ein anderes. Und zwar auf die Anklageschrift des Oberreichsanwalts beim Volksgerichtshof. Aber sie lautet nicht auf Hochverrat, sondern auf Wehrkraftzersetzung. Und sie stammt vom 28. März 1945. Da war Luise Rinser bereits seit drei Monaten wieder auf freiem Fuß und der „berüchtigte Freisler“ seit beinahe zwei Monaten tot. Diese Anklageschrift bestätigt zum einen, dass Rinser „vom 12. Oktober bis Ende 1944 in Polizeihaft gewesen“ sei, zum zweiten, dass sie nicht vorbestraft, und zum dritten, dass sie bisher ohne Verteidiger gewesen sei: „Ich beantrage, gegen die Ehefrau Luise Hermann die Hauptverhandlung vor dem Volksgerichtshof anzuordnen und ihr einen Verteidiger zu bestellen.“ Dieses Dokument sollte am 11. und 12. April 1945 an verschiedene andere Stellen weitergeleitet und am 14. April mitsamt dem Haftbefehl nach München geschickt werden. Möglicherweise ist es dort in den Wirren der letzten Kriegstage nicht angekommen. Jedenfalls scheint kein Haftbefehl mehr an Luise Rinser vollstreckt worden zu sein. Ein Prozess gegen sie hat nie stattgefunden. Merkwürdig bleibt nach Ansicht von Fachleuten, warum Rinser Haftunterbrechung erhielt und auch nicht wieder ins Gefängnis zurückmusste. Vielleicht spielt hier der Nazi-Regisseur Karl Ritter eine Rolle, den sie selbst als ihren Helfer erwähnt, vielleicht die Tatsache, dass es
Schriftstellerin Rinser in ihrem Haus bei Rom 1971
Sie hatte merkwürdige, aus Erotik und geistigem Austausch gespeiste Beziehungen zum Dalai Lama und zu Geistlichen. Rinsers Ehemann Herrmann scheint weiter nicht behelligt worden zu sein. Das ist umso merkwürdiger, als Rinser immer behauptete, diese Ehe sei eine Scheinehe mit einem kommunistischen Homosexuellen gewesen, den sie durch Heirat vor der Verfolgung der Gestapo geschützt habe. Nun ist es nicht wirklich logisch, dass ein verfolgter Nazi-Gegner sich durch die Heirat mit einer ebenso notorischen Nazi-Gegnerin der Aufmerksamkeit des Regimes entziehen will. Logischer wäre die Heirat mit einer gut angesehenen, unverdächtigen Person gewesen. Ebenso unlogisch ist es, dass Rinser mit dem von ihr als unsympathisch und für ihr Leben unwichtig geschilderten Herrmann dann nicht gleich nach Kriegsende brach, sondern bis Anfang 1949 weiter in Kirchanschöring zusammenlebte und auch im selD E R
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lassen. Jürgen Zarusky vom Münchner Institut für Zeitgeschichte findet es „bemerkenswert“, dass Luise Rinser in der Einleitung zu ihrem „Gefängnistagebuch“ schreibt, „sie sei wegen Hochverrats angeklagt“ gewesen. „Dieser Straftatbestand war tatsächlich das justitielle Instrument der Widerstandsbekämpfung in der NS-Zeit.“ Es wurde angewandt auf zahllose Kommunisten, die Mitglieder der Weißen Rose und die Männer des 20. Juli. Allen war gemeinsam, dass sie das NSRegime stürzen wollten. Wehrkraftzersetzung, so Zarusky, sei dagegen ein Allerweltsdelikt gewesen, das keineswegs eine bewusste oppositionelle Haltung voraussetzte, aber nichtsdestoweniger mit Sanktionen bis hin zur Todesstrafe bedroht gewesen sei. Zarusky kommt zu dem Schluss: „Da Frau Rinser sich die Anklage
wegen Wehrkraftzersetzung amtlich hatte bestätigen lassen, vermute ich, dass es nicht so sehr um eine Verwechslung als vielmehr um eine Vertauschung der Straftatbestände geht.“ Was hat Luise Rinser also mit den Fakten rund um ihre Verfolgung und Verhaftung getan? Das, was ein Schriftsteller gemeinhin mit einem Stoff tut: Sie hat gerafft, zusammengezogen und dramatisiert. Nur dass der Stoff in diesem Fall kein Roman war, sondern ihr Leben, das sie auf gänzlich neue Füße stellte. So wurde Luise Rinser die amtlich bestätigte Nazi-Gegnerin von Anbeginn, die Witwe des in der Strafkompanie gefallenen Regimegegners, die Widerständlerin, legitimiert durch den „Prozess“ unter Freisler gegen sie, der nie stattgefunden hat. Nach und nach schuf sie eine Legende, auf der sie ihr gesamtes weiteres Leben und ihre Karriere aufbaute. In einer Arbeit über die „Erinnerungen an den Nationalsozialismus in den autobiographischen Schriften Luise Rinsers“ zeigt die Germanistin Sandra Schrei auf, wie sich mit jeder veröffentlichten Aufzeichnung über jene Jahre die Dramatik und die Gefahr und ihre aktive Widerstandsleistung vergrößern, nachdem sie 1946 im Vorwort zur Erstausgabe des „Gefängnistagebuchs“ ihre Erfahrungen noch recht bescheiden in die Gefangenengeschichten jener Epoche eingeordnet hatte. Man könnte nach der Lektüre Schreis sagen: Hätte Luise Rinser noch 20 Jahre länger gelebt und publiziert, hätte sie Hitler ganz allein besiegt. Die Wahrheit ist: Luise Rinser arbeitete an der Kultur des „Dritten Reichs“ mit wie viele ihrer Generationsgenossen. Die Schriftsteller, die, im Lande geblieben, sich tapferer verhielten, waren nicht sehr zahlreich. Einen Geschmack von Bitterkeit hinterlässt die Neuerschaffung ihrer Biografie nach der sogenannten Stunde null und vor allem die penetrante Weigerung, jemals ein Wort der Wahrheit über die Verführbarkeit junger Künstler unter dem Nationalsozialismus zu sagen oder wenigstens der Ambivalenz ihrer Position gerecht zu werden. Hans Dieter Schäfer schreibt zu diesem Phänomen: „Vermutlich kann man bei einem solchen Umgang mit der Vergangenheit nicht von einem bewußten Lügen sprechen, es handelt sich eher um einen psychopathologischen Reflex, mit dem aus Scham die Fakten mit erstaunlicher Leichtigkeit umgewertet wurden.“ Ich glaube, dass Menschen wie Luise Rinser, mögen sie es auch später verdrängt oder vergessen haben, in der Stunde null recht gut wussten, was sie von sich und voneinander zu halten hatten. Dafür spricht der rasche Zusammenschluss derjenigen Generationsgenossen, die das Nazi-Reich, sei es als junger Künstler, sei es als Soldat, von innen erlebt hatD E R
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ten, und ihre instinktive Abwehr der zurückkehrenden Emigranten, die nicht nur ein Generationenkrieg war. Ein weiterer Grund für die vielbeklagte Unfähigkeit unserer Intellektuellen, irgendwann ohne den Druck der Öffentlichkeit ein erklärendes Wort über ihre Jugend im Nationalsozialismus zu sagen, ist gewiss auch die mit jedem Jahr und jedem Jahrzehnt nach 1945 zunehmende Schwierigkeit jeder Nuancierung. Im Blick auf jene Jahre sind uns sukzessive Wille und Fähigkeit abhandengekommen, die Graustufen wahrzunehmen, in denen das menschliche Leben sich im Allgemeinen abspielt. Zwischen Tätern und Opfern, zwischen Gegnern und Mitläufern ist im Blick zurück kein Platz mehr, und in einer Zeit, in der quasi ein ganzes Volk geschlossen die Nationalsozialisten bekämpft, 65 Jahre nachdem es sie nicht mehr gibt, vielleicht weniger denn je. Es gibt ein schlagendes Beispiel für diese These, das ist das Schicksal von Carl Zuckmayers „Des Teufels General“. Als das Theaterstück kurz nach Kriegsende auf den deutschsprachigen Bühnen erschien, war die Begeisterung riesig. Das Publikum fand seine eigene Situation während der Kriegsjahre glaubhaft widergespiegelt, und alle Welt war verblüfft, wie seismografisch genau der Emigrant, der doch gar nicht dabei gewesen war, den Umgangston der Epoche getroffen hatte. Einige Jahre später kam der Vorwurf der Apologetik auf, dem Autor wurden politische Naivität und eine unklare Haltung zur Moral seiner Gestalten vorgeworfen. Das Stück verschwand aus den Spielplänen und tauchte auch später nur noch selten wieder auf. Im Klima des Entweder-oder, der moralisierenden Schwarzweißmalerei war kein Platz mehr, kein Verständnis für die saufenden Landsknechte, die halb für, halb gegen das System arbeiteten, die es verächtlich stützten oder unter Gewissensqualen verrieten. Schließlich glaubte niemand mehr, dass es tatsächlich so gewesen sein könnte. Auch deshalb wurden so viele deutsche Intellektuelle zu Gefangenen ihrer geschönten Entnazifizierungsdokumente. Irgendwann ab den sechziger Jahren war die Ambivalenz der Wahrheit offenbar nicht mehr zu vermitteln. Diese ambivalente Wahrheit im Leben Rinsers könnte ein exemplarischer deutscher Roman des 20. Jahrhunderts sein, den die Schriftstellerin allerdings nie geschrieben hat. Aber jede Beschäftigung mit ihrem Leben und Werk, jeder Versuch einer Einordnung Rinsers in die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts und in seine Sozial- und Sittengeschichte ist nur um den Preis möglich, Luise Rinser zuallererst als die große Mythomanin zu charakterisieren, die sie Zeit ihres Lebens gewesen ist.
Protestierende in Budapest BERNADETT SZABO / REUTERS (O.); ROBERT B. FISHMAN / PICTURE-ALLIANCE / DPA (U.)
„Erstickung der Pressefreiheit“
ZENSUR
Eine neuartige Diktatur György Konrád über das ungarische Mediengesetz Konrád, 77, ist einer der bekanntesten ungarischen Schriftsteller („Melinda und Dragoman“). Der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels und ehemalige Präsident des Internationalen PEN lebt in Budapest.
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as neue Gesetz wiegt schwer. Sein Gewicht lässt den Arm lahm werden. 180 Seiten. Und dann noch die sich daran anschließenden Erläuterungen. Auf Fragen und Kritik reagieren die Zuständigen nach dem Motto: „Solange Sie den gesamten Gesetzestext nicht gründlich gelesen haben, gibt es nichts, worüber wir uns unterhalten könnten.“ Da der Text des Mediengesetzes zunächst nur auf Ungarisch vorlag, wurden die Interessenten mit dem Hinweis auf die entstehende englische Übersetzung hingehalten. Schon jetzt wurde gegen einen Sünder ein Verfahren eingeleitet, gegen „Tilos Rádió“, das „Verbotene Radio“, weil es einen Song des US-Rappers Ice-T gesendet hatte, dessen Text angeblich für Jugendliche ungeeignet sei. Schlimmstenfalls kann sich der Sender nicht mehr neu um eine Frequenz bewerben. Die Verfasser, Kommentatoren und Hüter des Gesetzes tun so, als verstünden sie nicht, warum die Kritiker im In- und Ausland wegen einer derartigen Aggression gleichermaßen empört sind. Ich bekam die Kopie eines amtlichen Schreibens der neu eingerichteten Medienbehörde in die Hand, der Hauptabteilung Inhaltsüberwachung. So steht es
auf dem Briefkopf. Offenbar ist an eine große Aufsichtsbehörde mit verschiedenen Abteilungen gedacht. Die Beaufsichtigung eines Werks wird vermutlich einträglicher sein als dessen Verfassen. Stolzerfüllt kann Regierungschef Viktor Orbán dann auf die von ihm geführten Beamtenscharen herabblicken. Wer aufmuckt, wird gefeuert. Die Entlassung bedarf keiner Begründung. Wer dem Hinausgeflogenen Arbeit gibt, macht sich selbst verdächtig. Gegner ist auch der Freund des Gegners. Das Oberhaupt des Parteienstaats wird umgeben vom Strahlenkranz der Allmacht. Sakralisierung der Macht – eine uralte Geschichte. Wo es einen Oberbefehlshaber braucht, wenn man so will: einen Führer, dessen Meinung bei der Entscheidung jedweder Angelegenheit ausschlaggebend ist. Ein Amtsträger wäre im Interesse der Karriere nicht klug beraten, nach eigenem Gutdünken zu verfahren, ohne die Instruktion des Vorsitzenden abzuwarten. Jedenfalls besteht zwischen dem 1989 gestürzten Staatssozialismus und der neuen Rechten insofern eine große Ähnlichkeit, als beide Etatisten sind. So viel wie möglich wollen sie erneut verstaatlichen und zentralisieren. Der Staatssozialismus war eine politische Gesellschaft, in der es keine gesetzlichen, von der Regierung unabhängigen Kontrollmechanismen gab. Es ist gelungen, das Mediengesetz ausgerechnet an dem Tag zu verabschieden, an dem in der Sowjetunion Stalins Geburtstag gefeiert wurde. Den Schöpfern des Textes dürfte die Assoziation mit dem Sowjetführer nicht D E R
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angenehm sein, dessen Vermächtnis aber, staatliche Machtvollkommenheit, ist ihnen nicht fremd und nicht verhasst, es könnte sogar nostalgische Gefühle wecken. Freilich müssen sie sich die Frage stellen: Wie kann man einen Parteienstaat schaffen, der dennoch wie Demokratie aussieht und sich dazu geschickt in die Rahmenbedingungen der Europäischen Union einfügt? Wir sprechen von einem Mediengesetz, doch im Wesentlichen geht es um die Erstickung der Presse- und kulturellen Freiheit. Gestohlen wird uns das, was das Ziel und die Errungenschaft der öffentlichen und illegalen demokratischen Bewegung sowie das Wunder von 1989 war. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen und der Rundfunk unterliegen bereits einer strengen Zensur und gestalten sich zunehmend nichtssagend. Die Rede ist von einer neuartigen Diktatur. Ihre Neuartigkeit besteht darin, dass sie versucht, innerhalb der Europäischen Union zu existieren und zu wirken. Ungarn bietet auch den im Westen Europas existierenden Vorstellungen von einem starken Mann einen Stützpunkt. Das ungarische Regime wird der Union nicht feierlich den Rücken kehren, aber es trotzt ihr und will das skandalöse Gesetz nicht ändern. Mehrere Hundert meiner Schriftstellerkollegen, unter ihnen all diejenigen, deren Namen den deutschen Literaturfreunden vertraut sind, haben in der vergangenen Woche folgende Erklärung unterzeichnet und veröffentlicht: „Protest. Der Verband der Belletristen protestiert gegen das vom Parlament angenommene Mediengesetz. Das Gesetz verletzt grob das in internationalen Verträgen festgehaltene Grundrecht auf freie Meinungsäußerung. Unter Verwendung von Steuergeldern schafft es institutionelle Möglichkeiten, die Presse ständig zu beobachten und einzuschüchtern, den regierenden Parteien unangenehme Zeitungen zu beseitigen. Es stellt die Zensur wieder her, missachtet das Prinzip der Gewaltenteilung, widersetzt sich mit allen Mitteln den Grundprinzipien der Demokratie und dem Geist der Freiheit.“ Früher war der Samisdat, die im Untergrund entstandene konspirative Literatur, die Antwort des Papierzeitalters auf die Herausforderungen der Willkür. Das elektronische Zeitalter heute bietet neue Möglichkeiten, von denen die jungen Zeitgenossen Gebrauch machen können, noch dazu flinker als die Zensoren. Die Aufgebrachten werden nach gar nicht so langer Zeit eine eigene Sprache finden, mit der die Hochmütigen unrettbar der Lächerlichkeit – einem Synonym von Lähmung – preisgegeben werden. 107
Kultur
SPI EGEL-GESPRÄCH
„Kinder sind die Falle“ Die Schriftstellerin Silvia Bovenschen über das unendliche Projekt Emanzipation, den Undank junger Frauen und den fehlenden Feminismus der Familienministerin Frauenbewegung mitbegründet. Damals kämpften Sie gegen männliche Machtstrukturen. Heute gibt es eine Quote bei der CSU, und Angela Merkel ist seit fünf Jahren Bundeskanzlerin. Hat der Feminismus gewonnen? Bovenschen: Aus der Perspektive der Bundeskanzlerin und der Familienministerin mag das so sein. Man kann es aber auch anders sehen. Wenn man vergleicht, wie viele Frauen in der Wirtschaft Spitzenpositionen innehaben, liegt Deutschland ganz weit hinten – zusammen mit Indien, einem Land, das ein Kastensystem hat. SPIEGEL: Ärgert es Sie, wenn junge Frauen sich freuen, nicht als Feministin bezeichnet zu werden? Bovenschen: Nein, es geht ja um deren Zukunft. Feminismus ist für sie ein Schmuddelwort, Karrieregift, und anscheinend ist es ihnen wichtig, das bisschen Karriere lieber auf dem eigenen Konto zu verbuchen als auf dem einer modrigen Bewegung, die es mal gegeben haben mag. SPIEGEL: Wovor fürchten sich die jungen Frauen? Bovenschen: Sie wissen es nicht besser. Darf ich ein bisschen ausholen? Den Kampf der Geschlechter hat es immer gegeben. 411 vor Christi Geburt hat Aristophanes das Theaterstück „Lysistrata“ geschrieben, das Frauen zeigt, die entschlossen sind, ihren Männern Sex zu verweigern, solange diese nicht von ihrem kriegerischen Gemetzel ablassen. In der Französischen Revolution ist die Schriftstellerin Olympe de Gouges einen Kopf kürzer gemacht worden, weil sie Menschenrechte auch für Frauen einklagen wollte. Und die Suffragetten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts haben sich den Polizeipferden entgegengeworfen, weil sie das Wahlrecht haben wollten. Wir wussten von alldem nichts, als wir 1968 an der Uni begannen, uns mit dem Phänomen zu beschäftigen, dass immer nur die Männer die großen Reden hielten und die Frauen die Flugblätter tippten. Suffragette war in meiner Kindheit ein Schimpfwort. Wenn man das zu einer Frau sagte, war sie erotisch erledigt. SPIEGEL: Ein Wort, so schlimm wie heute Feministin? Das Gespräch führten die Redakteure Tobias Rapp und Claudia Voigt.
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MAURICE WEISS / DER SPIEGEL
SPIEGEL: Frau Bovenschen, Sie haben die
Bovenschen in ihrer Wohnung in Berlin
Silvia Bovenschen studierte Ende der sechziger Jahre in Frankfurt am Main Literaturwissenschaften, Soziologie und Philosophie. Sie gehörte zu den Gründerinnen des ersten Weiberrats. Aus Gremien wie diesem entwickelte sich die feministische Bewegung der späten Sechziger. Bovenschen, 64, promovierte 1977 mit einer Arbeit über „Die imaginierte Weiblichkeit“ und machte sich einen Namen als Essayistin und Buchautorin. Ihr autobiografischer Bericht „Älter werden“ (2006) wurde ein Bestseller. Heute schreibt Bovenschen vor allem Belletristik. Im Februar erscheint im S. Fischer Verlag ihr neuer Roman „Wie geht es Georg Laub?“. Bovenschen: Ja, deshalb erzähle ich das.
Suffragetten galten als lustfeindliche Weiber, die gegen alles waren, was Freude macht. Sie waren damals der Lächerlichkeit preisgegeben. SPIEGEL: Dass Frauen, die für ihre Rechte kämpfen, die Attraktivität abgesprochen wird, kommt auch heute vor. Bovenschen: Ja, im Bannstrahl der Verhässlichung. Das ist wie ein großer historischer Schluckauf. SPIEGEL: Was kommt da wieder hoch? Bovenschen: Alles. Die Schmähungen, die Nöte, die Argumente. Die Unzufriedenheit der Frauen, die immer wieder an die alten Grenzen kommen. Die Rede von der Doppelbelastung. Gehen wir von einer günstigen Version aus: Die Frau hat einen guten Beruf, sie hat einen netten Mann, und sie möchte Kinder haben. Da merkt sie vielleicht schon, es D E R
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wird schwieriger. Das Problem sind nicht die neun Monate Schwangerschaft. Die Probleme fangen danach an. Die meisten Frauen fühlen sich stärker verpflichtet als die Männer. Frauen wollen Kinder haben, das ist ihr gutes Recht. Aber Kinder sind die Falle. SPIEGEL: Manche junge Mutter verzichtet für ihre Kinder gern auf ihren Beruf, dafür wird dann das Kind zu ihrem ehrgeizigen Projekt. Gefällt Ihnen das? Bovenschen: Dieses Projekt wird spätestens dann zum Problem, wenn das Kind keins mehr ist, wenn die Frau nach Jahren der finanziellen Abhängigkeit von ihrem Mann merkt, dass kein Weg zurück ins Berufsleben führt. Das haben viele Frauen vor Augen, wenn sie auf Kinder verzichten. Ich finde es wirklich empörend, dass nicht einmal der Geburtenrückgang den konservativen Widerstand gegen bessere
der sich hauptsächlich um die Jungs sorgt, die angeblich zu viele Frauen im Kindergarten um sich haben. Die Frage muss doch sein: Warum machen die Männer diese Jobs nicht? Weil diese Arbeit nicht gut bezahlt wird und sie keine Anerkennung dafür bekommen. Wenn Frau Schröder die Frauenbewegung darauf reduziert, dass angeblich ein paar Spinnerinnen die Forderung erhoben hätten, dass alle Frauen lesbisch werden sollten, so ist
MOODY MEYER / PICTURE PRESS
heit. Was wir damals an der Frankfurter Uni gemacht haben, war akademisch und in diesem Sinne elitär. SPIEGEL: Alice Schwarzer hält es für eine feministische Errungenschaft, dass Deutschland von einer Frau regiert wird. Bovenschen: Aber ist dadurch wirklich etwas gewonnen? SPIEGEL: Nicht? Bovenschen: Natürlich nicht. Nur weil jemand mit einem weiblichen Körper Regierungschef ist? Das hieße ja auch, Frauen sind naturgewollt besser als Männer. Feministischer Sarrazinismus. Ich könnte eine lange Liste von Schreckensherrscherinnen in der Geschichte erstellen, von deren Händen das Blut tropfte. Sehr viele Frauen, die sich an die Spitze der PolitHierarchien boxen, haben sich die Denkformen und Handlungsstrategien der Machtgewinnung viel kompromissloser zu eigen gemacht als die Männer. Und Mütter beim Babyschwimmen: „Es fehlt die Wut“ der Erfolg beweist das ja. Wen hat Angela Merkel nicht alles weggehackt? SPIEGEL: Mehr Frauen in Führungspositionen ist eine nicht per se richtige Forderung? Bovenschen: Ihre Formulierung trifft es: „nicht per se“. War Margaret Thatcher eine Heilsfigur der Geschichte? Ich bitte Sie. SPIEGEL: Ministerin Schröder hält die Quote für eine „Kapitulation der Politik“ und erwartet von Frauen, dass jede für sich kämpft, für die eigene GehaltserhöFeministin Schwarzer: „Mit Verve ins Kampfgetümmel“ hung. Frauen müssten „tougher werden“. das natürlich grober Unfug in jeder Rich- Bovenschen: Das ist das amerikanische Modell: Wie und warum auch immer ich in tung. SPIEGEL: Sollte Frau Schröder als Familien- der Scheiße sitze, es ist jedenfalls selbstministerin eine Feministin sein? verschuldet. Bovenschen: Wenn sie eine wäre, wäre sie SPIEGEL: Fehlt deshalb die Wut? nicht Ministerin. Jenseits dieser Utopie Bovenschen: Ja. Wenn ich glaube, dass ich wäre mit ein wenig Klugheit und etwas für alles selbst verantwortlich bin, kann ich keine Wut mehr haben. Immer wenn mehr Wissen schon viel gewonnen. SPIEGEL: Waren Sie mit Ursula von der ein Politiker von Eigenverantwortung Leyen zufriedener? spricht, muss man auf der Hut sein. Das Bovenschen: Sie war viel geschickter. ist die Verordnung eines strukturell unSPIEGEL: Von der Leyen hat Mittelschichts- politischen Denkens seitens der Politik. politik gemacht. Das Elterngeld wurde SPIEGEL: Soll das heißen, Eigenverantworvor allem eingeführt, weil Akademikerin- tung und Feminismus passen nicht zusammen? nen mehr Kinder bekommen sollten. Bovenschen: Natürlich. Für die mittellosen Bovenschen: Eigenverantwortung, was soll Frauen machen sich nur wenige stark. das überhaupt heißen? Wir können verSPIEGEL: Ist Feminismus ein Mittelklasse- einzelt nicht überleben. Man muss sich phänomen? zusammentun. Eigenverantwortung ist Bovenschen: Ein bisschen. Schon 68 war eine Metapher der gesellschaftlichen es zunächst eine studentische Angelegen- Grausamkeit. Ich übernehme gern die STEFAN GREGOROWIUS / ACTION PRESS
öffentliche Kinderbetreuung zu schwächen vermag. Es gibt immer wieder kleine Empörungen unter Frauen über diese Ungerechtigkeit, aber keine richtige Wut. Eine Bewegung braucht Wut. SPIEGEL: Vielleicht ist sie nicht mehr nötig. Was war in den Sechzigern anders? Bovenschen: Damals war alles getragen von der Dynamik eines weitreichenden Erneuerungswillens. Die Unaufhaltsamkeit der Ereignisse damals hat mich beeindruckt. Zu dieser Zeit habe ich mich mit einigen Frauen zusammengetan, weil wir von der politischen Bevormundung durch die männlichen Kommilitonen genug hatten. Sofort war die Empörung unter den Männern groß, sie versuchten, uns lächerlich zu machen. Deshalb haben wir sie unter Androhung körperlicher Gewalt hinausgeworfen. So kam es zur Gründung des ersten Weiberrats. Jede Bewegung muss schrill sein und übertreiben, um öffentlich zu wirken. SPIEGEL: Sind junge Frauen undankbar, wenn sie selbstverständlich hinnehmen, was Ihre Generation erreicht hat? Bovenschen: Ich habe mich sicherlich nicht im Hinblick auf kommende Generationen engagiert, ich habe das für mich und meinesgleichen getan. Ich sehe es mit Erheiterung, wenn meine Altersgenossinnen Dankbarkeit einfordern. SPIEGEL: Wie konnte aus dem Feminismus in Deutschland eine Alice-Schwarzer-Bewegung werden? Bovenschen: Da darf man nicht schimpfen. SPIEGEL: Wieso nicht? Bovenschen: Weil sich keine andere mit dieser Verve ins Kampfgetümmel der Öffentlichkeit geworfen hat wie Alice Schwarzer. Das hat sie bestimmt nicht nur aus hehren Gründen getan, aber politisch und publizistisch sehr geschickt. Wie sie über die Jahre beschimpft worden ist, das hätte ich nicht auf mich genommen. Gemessen an der Vielfalt der Meinungen und Strömungen, die diese Bewegung ausgemacht hat, gibt der Alleinvertretungsanspruch von Alice Schwarzer natürlich ein verzerrtes Bild. Aber solche Verzerrungen sind normal. Die Geschichte schreiben die Sieger. Und Alice Schwarzer hat es eben geschafft, sich da ganz groß einzutragen. Ich bin einen anderen Weg gegangen. Aber wissenschaftliche Abhandlungen und Essays finden eben nur eine kleinere Resonanz. Ich beklage mich nicht. Um Politik zu machen, darf man nicht kompliziert sein. SPIEGEL: Hinter vorgehaltener Hand beklagen sich viele Frauen Ihrer Generation über Alice Schwarzer, offen wagt es niemand. Warum? Bovenschen: Das ist keine Frage mangelnden Muts. Sie ist geschützt durch die Angst vor dem Beifall von der falschen Seite. Und wo sie recht hat, muss man ihr auch zustimmen. Es ist lächerlich, wenn Familienministerin Kristina Schrö-
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ROBERT GALLAGHER / DER SPIEGEL
Verantwortung für die meisten Bereiche meines Lebens, ich will auch gar nicht, dass mir das abgenommen wird. Aber viele Miseren, in die Menschen kommen, haben sie nicht verschuldet. Wenn ich arbeitslos bin, weil mein Betrieb wegen Missmanagements Pleite macht, dann habe ich das nicht verschuldet. Zuweilen gibt es auch keine Schuldigen. Ich kann darüber reden, ich bin eine mehrfach kranke Frau. Ich habe unter anderem Multiple Sklerose. Mir wäre es auch lieber, wenn Hitler oder Stalin für meine Krankheiten verantwortlich wären. Sind sie aber nicht. Krankheiten können kommen im Leben, bei jedem, in jedem Moment. Deshalb muss es Solidarität geben. Sonst haben wir die Barbarei. SPIEGEL: Die Solidarität unter den 30-jährigen Frauen beschränkt sich auf pragmatische Ziele: bessere Aufstiegschancen, bessere Kinderbetreuung. Ist das zu wenig? Bovenschen: Das werden sie dann schon sehen. Wenn man Ende 20 ist und am Anfang einer Berufslaufbahn steht, denkt man sich: Das mit dem Kind, das schaffe ich schon, es gibt ja auch noch die Großeltern, das kriege ich hin. Dann wird man 40, und es ist schon härter. Dann ist der Mann vielleicht gar nicht mehr da. In dem Alter kommen die Frauen oft ins Grübeln und werden nervös, da kann durchaus noch Kampfeswille entstehen. SPIEGEL: Vorausgesetzt, sie sind nicht zu erschöpft. Bovenschen: Ja, erschöpfte Menschen machen keine Revolution. SPIEGEL: Frauen wollen und sollen heute viele Rollenbilder erfüllen. Das Ideal ist die attraktive Karrieremutter mit großem Bekanntenkreis. Hat die Frauenbewegung den Frauen nicht auch eine Überforderung beschert? Bovenschen: Das Argument ist ja richtig klasse. Das sollten Sie mal auf dem nächsten CSU-Parteitag vortragen. Dass Sie die Überforderungsthese nur in Bezug auf die Mütter formulieren, zeigt schon, dass das Problem in unseren Köpfen zu suchen ist. SPIEGEL: Hat der Feminismus eine Zukunft? Bovenschen: Man kann, was die Interessen von Frauen angeht, nie von gesicherten Positionen ausgehen. Alles Erreichte kann etwa unter dem Druck einer wirtschaftlichen Krise wieder in Frage gestellt werden. Im Laufe der Geschichte sind ganze Zivilisationen versunken. Das Kolosseum im antiken Rom hatte einen Aufzug. Er verschwand, und es dauerte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, dass wieder Häuser mit Fahrstühlen gebaut wurden. Es gibt nichts, was gesichert ist. SPIEGEL: Frau Bovenschen, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Autor Reidy, Darsteller Hathaway, Gyllenhaal in „Love and Other Drugs“: „Wir hatten keine Ahnung, KINO
Der Verführer Er reiste als Pharma-Vertreter für Viagra durch Kalifornien, dann schrieb Jamie Reidy ein unterhaltsames Buch über diese aufregende Zeit. Hollywood hat es nun verfilmt – als Melodram.
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r betrachtet den Kugelschreiber in seiner Hand und legt ihn sanft auf die Tischplatte, als sei er zerbrechlich. Dabei ist der Stift aus Plastik. Doch für Jamie Reidy ist er wertvoll, denn er trägt den Schriftzug „Viagra“. Es ist ein Viagra-Stift der ersten Generation, von 1998, als das Potenzmittel auf den Markt kam. „Ich habe Tausende als Geschenk verteilt“, erzählt Jamie Reidy. „Heute wird dafür auf Ebay viel Geld geboten. Leider ist das einer meiner letzten.“ Reidy war nicht weitsichtig genug, die Stifte zu bunkern, aber die blaue Pille, die inzwischen etwa 50 Millionen Männer weltweit von ihren Erektionsproblemen befreite, hat ihm immerhin zu Wohlstand verholfen. Er wohnt in einem schmucken Haus in Manhattan Beach, einem vornehmen Stadtteil von Los Angeles. Fünf Jahre lang arbeitete Reidy, 40, als Vertreter für den Pharmakonzern Pfizer, der Viagra auf den Markt gebracht hat. Über seine Erlebnisse in diesem Job veröffentlichte er 2005 die amüsanten Memoiren „Hard Sell“. Unter dem Titel „Love and Other Drugs“ kommt die Verfilmung des Buchs diese Woche in die Kinos. In dem von Edward Zwick inszenierten Film wird Reidy von Jake Gyllenhaal geD E R
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spielt. In einer Praxis lernt der smarte Vertreter eine junge Frau kennen (Anne Hathaway), die an Parkinson leidet. Er verliebt sich in sie. Es ist die alte Geschichte eines großen, verspielten Jungen, der den Ernst des Lebens erkennt und plötzlich wahre, große Gefühle erlebt. Doch es ist ganz und gar nicht Jamie Reidys Geschichte. Man hätte aus seinem Buch ein Roadmovie machen können oder eine Sozialsatire wie etwa „Up in the Air“ mit George Clooney – aber ausgerechnet eine melodramatische Liebesgeschichte? „Love and Other Drugs“ hätte auch ein ehrlicher Film werden können über ältere Menschen, die wieder lernen, Spaß am Sex zu haben. Amerikanische Kritiker verglichen den Film, für den die wunderbare Anne Hathaway völlig zu Recht eine GoldenGlobe-Nominierung erhielt, mit einem Medikamentencocktail, zusammengemischt aus Omas Tablettenbox. Der Autor der Vorlage will über den Film nichts Schlechtes sagen, die Produzenten haben ihm offenbar einen höheren sechsstelligen Betrag gezahlt. Dafür, dass sie aus seinem Buch machen durften, was sie wollten. Wie ein Heiland fühlte sich Reidy damals, als er mit Viagra die Arztpraxen im
20TH CENTURY FOX
Kultur
wie groß das Ganze werden würde“
kalifornischen Fresno aufsuchte. Einmal begrüßte ihn ein Doktor im Wartezimmer und rief: „Das ist der V-Mann.“ Die Patienten, viele älter als siebzig, stemmten sich mühsam aus den Stühlen hoch und gaben dem Pharmavertreter stehend Ovationen. Ein Begriff wie stehende Ovationen allerdings war heikel. Pfizer hatte seinen Viagra-Vertretern eingebläut, Anzüglichkeiten und Zweideutigkeiten zu unterlassen. Adjektive wie „hart“ und „aufrecht“, Verben wie „kommen“ und „schießen“ oder Substantive wie „Höhepunkt“ waren zu meiden. „Hard Sell“ gerät mit Anekdoten wie dieser zum gutgelaunten Bericht eines kleinen Mannes, der Tätigkeit vortäuscht, Abrechnungen umdatiert, die eigene Firma austrickst und am Ende noch befördert wird. „Wenn ich mal einen schlechten Tag hatte“, erzählt Reidy, „konnte ich mich immer damit trösten, dass ich Antidepressiva für mehrere tausend Dollar im Kofferraum hatte.“ Denn es gab auch in seinem Leben eine Zeit vor Viagra, in der er mit unspektakulären Medikamenten gegen Allergien, Entzündungen und seelisches Unwohlsein die Arztpraxen abklapperte. Reidy, deutsch-irischer Abstammung, hatte in der U. S. Army gedient, bevor er 1995 bei Pfizer anfing und auf das Unternehmen eingeschworen wurde: „Es war wie Gehirnwäsche, am Ende warst du ganz und gar überzeugt, dass deine Firma die beste ist.“ Die Pharma-Vertreter wurden einer mehrwöchigen Grundausbildung unterzogen, in denen sie alle Tricks ihres Gewerbes lernten. „Wie gehe ich in eine Praxis hinein?“, fragte Gyllenhaal
einmal den Autor der Vorlage bei den Dreharbeiten. „Um Gottes Willen“, erwiderte Reidy. „Bloß nicht gehen! Du gleitest hinein, du schwebst, und dann schiebst du deinen Ellenbogen sanft über den Tresen, dringst langsam ein, ganz langsam, in die Intimsphäre der Frau am Tresen.“ Es ist die hohe Kunst der Verführung, die Reidy hier beschreibt, und sie funktionierte nicht nur bei den Sprechstundenhilfen am Empfang, sondern sogar bei den – überwiegend männlichen – Ärzten. „Manche von ihnen verhalten sich Vertretern gegenüber wie Frauen, die von einem Liebhaber betrogen wurden. Sie trauen keinem mehr über den Weg. Du musst sie zurückgewinnen.“ Zweieinhalb Jahre lang war Reidy durch den Bundesstaat Indiana gefahren, um Ärzte mit Proben von Antibiotika oder Antihistaminen zu versorgen und sie davon zu überzeugen, diese Medikamente ihren Patienten zu verschreiben. Dann kam Viagra und veränderte alles. Auf einmal musste Reidy nicht mehr die Ärzte mit Charme, Scharfsinn und Beharrlichkeit rumkriegen, auf einmal wollten sie etwas von ihm. Nur einen Tag nachdem Viagra von der US-Medikamentenbehörde freigegeben worden war, klingelte bei ihm ununterbrochen das Telefon. Ärzte, die bei ihm anriefen? Das war neu. „Wir hatten keine Ahnung“, sagt Reidy heute, „wie groß das Ganze werden würde.“ Tatsächlich war Viagra das Produkt eines Fehlschlags. Pfizer hatte ein Mittel gegen Angina pectoris entwickeln wollen, das nicht wie gewünscht wirkte. Doch eiD E R
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nige der Männer unter den Testpersonen verspürten eine angenehme Nebenwirkung: Sie bekamen eine Erektion. Das Mittel regte die Durchblutung an, aber nicht, wie geplant, im oberen Körperbereich, sondern im unteren. Der Name, eine Zusammensetzung aus dem lateinischen „vigor“ (Kraft) und „Niagara“, war von Pfizer schon zuvor erfunden worden – nun gab es auch das passende Medikament dazu. Reidy wurde in die Urologie-Abteilung versetzt, die „Elite-Division“ von Pfizer, er absolvierte einen Viagra-Crashkurs in Florida und wurde nach Kalifornien geschickt. „Wir fühlten uns wie Popstars“, sagt Reidy. „Wenn ich mich mit Freunden in einer Bar traf, zeigten sie mich voller Stolz rum wie einen bunten Hund.“ Es habe damals auch Viagra-Partys gegeben, erzählt er. Plötzlich tauchten Viagra-Probepackungen auf den Tischen auf. „Am Ende waren die Pillen weg. Wir hatten total unterschätzt, wie viele Männer Potenzprobleme haben und wie viele Männer und Frauen Viagra einfach mal ausprobieren wollten.“ Nun war es Reidy, der von den Ärzten zum Golf eingeladen wurde. Sie fragten ihn aus, wann sie die Pillen bekommen könnten. Das dauere noch, erwiderte er, aber es könne sein, dass jene Ärzte, die sich entschließen würden, Antibiotika von Pfizer zu verschreiben, bei den Viagra-Proben bevorzugt würden. Das Medikament habe die amerikanische Gesellschaft stark verändert, davon ist Reidy überzeugt. „Wir werden mit Sex wohl niemals so unverkrampft umgehen wie die Europäer, aber wenn es auf einmal Titelthema der Nachrichtenmagazine ist, wenn in TV-Shows offen darüber geredet wird, ist das sehr befreiend.“ Pfizer war von Reidys Ankündigung, ein Buch über seine Erlebnisse zu veröffentlichen, nicht begeistert. Er war 2000 aus der Firma ausgeschieden, arbeitete seitdem für den Konkurrenzkonzern Eli Lilly als Ausbilder von Vertretern. Als das Buch erschien, ließ Pfizer nur lapidar verlauten, man wisse nicht, ob es sich um eine wahrheitsgemäße Beschreibung oder um Fiktion handle. Eli Lilly entließ den neuen Mitarbeiter. Nun sitzt Reidy in Manhattan Beach, schreibt Bücher und Blogs für die linke Online-Zeitung „Huffington Post“ und wird immer wieder als Pharma-Experte befragt. Als die „Washington Post“ publik machte, dass der US-Geheimdienst in Afghanistan Viagra an alternde Warlords verteilte, um sie zur Kooperation zu bewegen, kommentierte er zweideutig: „Der Höhepunkt internationaler Diplomatie.“ Endlich durfte er wieder ungestraft „Höhepunkt“ sagen. LARS-OLAV BEIER
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Kultur
Der Müll, das Haus und die Brüder Literaturkritik: E. L. Doctorows Roman „Homer & Langley“ erzählt eine – fast – wahre Geschichte.
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ALESSANDRA BENEDETTI / CORBIS
ann stört es uns als Leser, dass werden nach und nach durch Automobile gen eines Senfgas-Angriffs an der Front. wir den Schluss einer Geschich- ersetzt, „und allmählich verlor die Luft Fast schleichend und von Homer in den te im Voraus kennen? Trübt es ihren organischen Geruch nach Fell und Folgen unterschätzt, beginnt sein Bruder den Lesegenuss, wenn wir schon vor der Leder“. damit, Zeitungen und Gegenstände zu Lektüre wissen, dass Werther sich am Das alles ereignet sich vor dem Ersten horten, zunehmend sinnlos und beliebig. Ende erschießt oder Anna Karenina sich Weltkrieg. Die Brüder leben mit ihren Mehr als ein Dutzend Klaviere – „vollvor einen Zug wirft? wohlhabenden Eltern in einem Haus im ständig oder in Teilen“ – zählt Homer Nein, bei einem gelungenen Erzähl- spätviktorianischen Stil an der Fifth Ave- schließlich. Und was soll das alte Auto, werk gewiss nicht. Und doch gibt es lite- nue: vier Stockwerke, Personal, beste ein Ford Modell T, im Speisezimmer? rarische Beispiele, bei denen es bedauer- Kontakte zur New Yorker Gesellschaft. „Ich zog die Möglichkeit in Betracht, lich ist, wenn man sich nicht unbeschwert Dann der große Bruch: Langley zieht dass mein Bruder wahnsinnig war“, das von Vorkenntnissen auf die Geschichte in den Krieg, wenig später sterben die ist das Äußerste, was Homer, den die einlassen kann. Eltern kurz hintereinander an der Spa- Verwahrlosung und Abschottung von der Der neue Roman „Homer Außenwelt ebenso betrifft, & Langley“ von E. L. Doctosich an brüderlicher Kritik row ist so ein Fall. Dass der erlaubt. Da leben die beiin New York lebende Schriftden längst ganz allein im steller, der in der vergangegroßen Haus. nen Woche 80 wurde, eine Der Schluss des Romans historische Begebenheit aus muss nun wohl doch wenigsseiner Heimatstadt schildert, tens skizziert werden: Der verhehlt er nicht, schon blinde und taube Homer durch die Wahl des Titels. In endet seinen Lebensbericht den USA kannte einst jedes damit, dass er auf seinen Kind die Geschichte von Bruder wartet. Angedeutet den Brüdern Homer und wird, dass er verdurstet, Langley Collyer – und wie nachdem Langley Opfer eifürchterlich es mit ihnen zu ner der überall im Haus geEnde ging. gen mögliche Diebe aufgeBei uns sind die Collyerstellten Fallen geworden ist Brüder, die in der ersten und vom eigenen Gerümpel Hälfte des 20. Jahrhunderts erschlagen wurde. In der Realität ging die Gelebten, kaum bekannt. Wer schichte noch spannend und also imstande ist, den KlapAutor Doctorow unter neugieriger Anteilnahpentext des Romans zu ignome der Bevölkerung weiter. rieren, wer nicht im Internet Wie im Frühjahr 1947 die herumsucht, der hätte die Leichen der Brüder im labyChance, sich ganz unvoreingenommen von dieser sanft-sachlichen nischen Grippe. Homer allein zu Haus. rinthisch vollgemüllten Haus gesucht und Erzählstimme gefangen nehmen zu las- Immerhin bleiben dem Blinden noch die gefunden werden, ist ein Roman für sich. Der Roman „Homer & Langley“ liest sen: „Ich bin Homer, der blinde Bruder.“ alte Köchin und zwei Hausmädchen – die Doctorows Homer ist im Jugendalter junge Julia, die aus Ungarn stammt, folgt sich anstrengungslos. Der Autor hat geerblindet. Er weiß noch genau, wie es im ihm sogar ins Bett. „Auch wenn sie mir genüber den historischen Fakten viele Denahen Central Park und vor allem daheim nachts bis zur Erschöpfung gefällig war, tails verändert. Vor allem lässt er seine aussieht, wo er jeden Gegenstand kennt. stand sie bei Tagesanbruch pünktlich auf Protagonisten noch die Zeit des VietnamNatürlich sei er traurig gewesen, erzählt und kehrte zu ihren Haushaltspflichten Kriegs erleben, was Langley die Gelegener, „aber zum Glück war ich damals noch zurück“, protokolliert Homer nüchtern. heit gibt, seinem Sammelsurium auch Doctorow lässt ihn sein Leben aus der noch einen kühlschrankgroßen Computer ganz jung und kam mir überhaupt nicht behindert vor“. Er habe eben sein Gehör Rückschau darstellen. Es sind kleine Er- einzuverleiben. Das Buch ist ein sympathisches Nebengeschärft oder, wie Langley, sein Bruder, zählblöcke, die den nicht besonders umes ausdrückt, Ohren „wie eine Fleder- fangreichen Roman strukturieren, jeweils werk von Doctorow, der mit seinen vernur wenige Seiten lang. Die Blöcke ver- filmten Romanen „Ragtime“ (1975) und maus“ ausgebildet. Die Veränderungen der Umwelt nimmt ketten sich beiläufig zu einer kurzen Ge- „Billy Bathgate“ (1989) zu internationaHomer hauptsächlich über Ohren und schichte des 20. Jahrhunderts, wahrge- lem Ruhm gelangte. Und doch geht HoNase wahr: Die Kutschen und Bierwagen nommen durch den Blinden, der am Ende mers Versuch zu Herzen, „wenigstens mit Worten zu sehen und zu hören, wenn ich auch noch sein Gehör verliert. sonst nichts habe“. Damit steht er am So ist Homer angewiesen auf Langley, E. L. Doctorow: „Homer & Langley“. Aus dem amerider mit körperlichen und seelischen Stö- Ende als Alter Ego des Schriftstellers da. kanischen Englisch von Gertraude Krueger. Verlag KieVOLKER HAGE penheuer & Witsch, Köln; 224 Seiten; 18,95 Euro. rungen aus dem Krieg zurückkommt, Fol112
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Wissenschaft · Technik
Prisma
MEERESTIERE
Hai frisst Specht Z
MOODBOARD / F1ONLINE
ugvögel stehen für gewöhnlich nicht auf dem Speiseplan von Haien. Umso überraschter waren Wissenschaftler des Dauphin Island Sea Lab im US-Bundesstaat Alabama, als sie jetzt den Mageninhalt diverser Tigerhaie untersuchten. Die Forscher fanden jeweils Federklumpen von der Größe einer Grapefruit im Magen der Raubfische. Zum Vorschein kamen die Überreste von Gelbbauch-Saftleckern – einer Spechtart – und eines Singvogels, der Scharlach-Tangare. Doch wie kamen die Haie an die ungewöhnliche Beute? Die Mitarbeiter des Sea Lab deuten die Funde als Bestätigung einer bislang kaum belegten These: Demnach stürzen die Specht- und Singvögel auf ihrem Weg in den wärmeren Süden über dem Golf von Mexiko ab, ertrinken und werden dann von den Meeresräubern gefressen. Schuld an der Misere seien Bohr- und Ölförderplattformen, vermuten die Experten. Irritiert durch die blinkenden Lichter fernab der Küste, umkreisen die Zugvögel die Anlagen offenbar so lange, bis sie erschöpft ins Meer fallen.
Tigerhai
KRIM INALISTI K
FORTPFLANZUNG
Nutzlose Spurensicherung
Gemüse macht Mädchen
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sst Maxima, die niederländische Prinzessin und Mutter dreier Töchter, womöglich am liebsten Obst und Gemüse? Nach Forschermeinung können Frauen durch den Verzehr von Grünzeug die Wahrscheinlichkeit wesentlich erhöhen, ein Mädchen zur Welt zu bringen. Dies will ein Team
MATYTSIN VALERY / ITAR-TASS / PICTURE-ALLIANCE/ DPA
issenschaftler des Lehrstuhls für Kriminologie und Polizeiwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum stellen die Effektivität polizeilicher Spurensicherung bei Einbruchdelikten in Frage. In einer jetzt veröffentlichten Studie untersuchten die Forscher am Beispiel einer Großstadt im Ruhrgebiet, bei wie vielen Wohnungseinbrüchen die Sicherung von Fingerabdrücken tatsächlich zur Aufklärung beigetragen hat. Ergebnis: Bei 2111 Einbrüchen im Jahr 2009 konnten nur in 5 Fällen die Spurenleger ermittelt werden – das entspricht einem Anteil von 0,2 Prozent. In lediglich 78 Fällen fanden die Ermittler überhaupt verwertbare Fingerabdrücke. „Die daktyloskopische Spurensuche, die beim Wohnungseinbruch zeitlich den absoluten Löwenanteil bei der Spurensuche ausmacht, erbringt kein vertretbares Ergebnis, das den Aufwand rechtfertigen würde“, resümieren die Verantwortlichen der Studie.
Neugeborenenstation in Russland D E R
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von Maximas Landsleuten um die Biologin Annet Noorlander herausgefunden haben. Den jetzt in dem Online-Magazin „Reproductive Biomedicine“ publizierten Erkenntnissen zufolge können Eltern das Geschlecht ihres Nachwuchses regelrecht steuern, wenn die Frau neun Wochen vor der Empfängnis mit einer an Kalzium und Magnesium reichen Kost beginnt und zudem den Geschlechtsverkehr genau terminiert. Eine Ursache für die Folgen einer solchen Diät können die Wissenschaftler noch nicht angeben. Doch in einer Kontrollgruppe von 32 Frauen, die ihren Speiseplan den Anweisungen der Forscher gemäß gestaltet hatten, gebaren 26 Frauen ihr Wunschkind: ein Mädchen. Das Procedere erfordert jedoch einige Entschlossenheit: „Es ist wichtig, dass sowohl die Ernährung als auch das Timing korrekt befolgt werden, was der Mutter viel Willenskraft und Akribie abverlangt“, konzedieren die Forscher. 113
Titel
Im Netz der Späher Das Internet ist zu einem Paradies für die Datensammler der Werbewirtschaft geworden. Auf Schritt und Tritt stehen die Netzbürger unter Beobachtung – Computer durchleuchten das digitale Ich, um seine Wünsche, Sorgen und Absichten zu ergründen. Ist die Privatsphäre noch zu retten?
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n jeder Sekunde, ticketitack, gewinnt Facebook sechs Mitglieder; am Ende jedes Tages sind, grob geschätzt, wieder eine halbe Million hinzugekommen. Und kaum einer von all den erwartungsfrohen Neubürgern ahnt, dass er bei dem sozialen Netzwerk nun gleichsam Schulden hat. Weil für Facebook jeder Nutzer 100 Dollar wert ist. Weil der Nutzer zum Wirtschaftsgut geworden ist und diese 100 Dollar einspielen muss. Er kann seine Geheimnisse, seine Sehnsüchte, seine Daten herausrücken, er muss sich offenbaren, er sollte nur den naiven Gedanken aufgeben, die Segnungen von Facebook seien kostenlos zu haben; denn er muss eine Menge abwerfen, damit sich das Projekt „Eine Welt voller Freunde“, das Lebenswerk des Mark Zuckerberg, auch rentiert. Doch wie sollte das möglich sein? Wer interessiert sich schon für einen Neuling, der in Kiel oder Münster oder New York oder San Francisco ein paar Informationen preisgibt, damit er alte Klassenkameraden oder die Jugendliebe wiederfinden kann? Nun, da wäre zum Beispiel Robert Mueller, Direktor des FBI. Neulich erst war er drüben im kalifornischen Palo Alto, platzte mitten in eine Besprechung
bei Facebook hinein, im Schlepp eine Schar von Deputies: Er hatte gerade in der Nähe zu tun, wollte mal eben hallo sagen, pleased to meet you. Facebook-Gründer Mark Zuckerberg plauderte ein Weilchen mit dem Polizeichef über Nichtigkeiten, dann eilte der Mann auch schon wieder davon – und hinterließ eine leicht verstörte Runde: Was war das eben? Zuckerberg gewöhnt sich langsam an Besuche der Bundespolizei. Die Beamten schauen öfter bei Facebook vorbei, und meist haben sie einen Gerichtsbeschluss dabei. Denn Facebook weiß nun mal mehr über seine Kunden als jeder Staat über seine Bürger: Facebook kennt ihre Freunde, den Aufenthaltsort, Facebook kennt sexuelle und sonstige Vorlieben, die ganzen, komplexen Lebensumstände. Und all die Daten und Lebensspuren der Netzbürger sind wertvoll in doppelter Hinsicht. Sie sind Informationen, manchmal Nachrichten, Facebook enthüllt viele Geheimnisse. Und sie sind Waren. Darum sind sie für die Jagd nach Verbrechern so nützlich wie für die Jagd auf Kunden, wie sie die Werbewirtschaft erträumt. Wer herausfindet, wonach den Leuten der
DAS DIGITALE SPIEGELBILD Freunde, Familie, Urlaub, Konsum, Freizeit, Krankheit, Geld, Liebe, Beruf – alles, was der Nutzer im Internet treibt, schlägt sich auch in seinem digitalen Spiegelbild im Netz nieder und schärft dessen Kontur. Denn viele Anbieter im Internet lassen sich ihre Dienste in einer unsichtbaren Währung bezahlen: Informationen über ihre Nutzer. Dabei bedienen sie sich zum Beispiel unauffälliger Marker auf den Computern ihrer Kunden, den Cookies.
Was ist ein Cookie? 734057 649390 662431
1. Das Cookie ist eine Textdatei mit einer Zeichenfolge. Beim Aufruf einer Web-Seite speichert deren Betreiber sie auf dem Computer des Kunden ab. Dessen Computer ist nun markiert. 2. Beim nächsten Besuch der Web-Seite kann der Betreiber den Kunden identifizieren und kennt dann zum Beispiel dessen frühere Interessen. 3. Er kann die Markierung aber auch, zusammen mit den gesammelten Daten, beliebig oft an andere Interessenten 12 90 verkaufen, die sie wiederum mit Informationen 31 anderer Betreiber verknüpfen – 7 0 es entsteht ein digitales Abbild 1 des Nutzers.
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Titel Sinn steht, was ihnen Sorgen oder Lust bereitet, kann mit den Befunden viel Geld verdienen. Kein Wunder also, dass das gesellige Treiben inzwischen aberwitzige Gewinnphantasien nährt. Sollen sie je in Erfüllung gehen, ist es mit der Gemütlichkeit des guten, alten Internets vorbei: Es beginnt die Zeit des großen Inkassos. Sagenhafte 450 Millionen Dollar zahlte vor wenigen Tagen die US-Bank Goldman Sachs für einen Anteil von gerade mal 0,8 Prozent an Facebook. Den Wert von Zuckerbergs Firma taxieren die Investmentbanker damit auf 50 Milliarden Dollar; Facebook hat rund 500 Millionen Mitglieder, so errechnen sich die 100 Dollar pro Kopf. Denn gerade bei dieser größten aller Freundeszentralen gewährt die Kundschaft besonders freigebig Einblick in ihr Dasein. Aber auch andere Giganten der Netzwelt, von Google bis Apple, bekommen immer feinere Aufschlüsse über die Lebensumstände ihrer Nutzer. Das halbe Internet hat sich binnen wenigen Jahren in einen Apparat des Erfassens und Protokollierens verwandelt. Eine wachsende Industrie steht bereit, mit raffinierter Technik das Verhalten der Netzbürger auszukundschaften, wo auch immer sie sich aufhalten mögen. Spezialfirmen spionieren aus, was sie lesen, wonach sie suchen und woran sie Interesse zeigen. All diese Daten sind nur der Rohstoff für komplexe Berechnungen. Sie werden verknüpft, mit bestehenden Datenbanken abgeglichen und in die Zukunft hochgerechnet: Was könnte der Kunde morgen, was übermorgen kaufen wollen? Je feiner gesponnen, je aktueller die Daten, desto teurer lassen sie sich verhökern.
Es ist wie im Goldrausch: Die Skrupellosen probieren, wie weit sie gehen können. Jüngst erst kam heraus, dass eine kalifornische Firma namens RapLeaf in großem Stil Verhaltensprofile ahnungsloser Netzbürger angelegt hat – mitsamt deren Namen und E-Mail-Adressen. RapLeaf rühmt sich eines Datenschatzes, der bereits eine Milliarde E-Mail-Adressen umfasst. Diese kaufte die Firma großteils von verschiedenen Web-Seiten zusammen, bei denen die Kunden sich mit Namen und E-Mail angemeldet hatten. Wer Name und E-Mail-Adresse kennt, hat einen Schlüssel, der viele Türen öffnet: Fast alles wird damit zugänglich, was das Internet über die Kundschaft weiß. Vor allem aber erlangt der Datensammler auch noch Zugriff auf das echte Leben diesseits der Netzwelt: auf Wohnanschrift und Telefonnummer. Eine ganze Reihe sinistrer Firmen hat sich auf das massenhafte Zusammenkratzen (Englisch: Scraping) persönlicher De116
tails aus Diskussionsforen verlegt. Im vergangenen Mai ließ sich sogar die angesehene Marktforschungsfirma Nielsen dabei erwischen, wie sie in dem Selbsthilfeportal PatientsLikeMe automatisch mitlas – dort tauschen sich Ratsuchende über Depressionen und Selbstverletzung aus. Nielsen gelobte flugs Besserung; so etwas werde nicht wieder vorkommen. Es geht zu wie im Goldrausch. Die Skrupellosen unter den Datenschürfern probieren, wie weit sie gehen können; und das Gesetz ist schwach. Zwar kann der Netzbürger inzwischen etlichen Spähfirmen auf ihren Web-Seiten per Häkchen die Erlaubnis zur weiteren Überwachung verweigern. In der Praxis aber ist ihm die Verfügung über sein digitales Ich bereits weitgehend entglitten. Im Netz verwandelt sich der Bürger in ein durch und durch maschinenlesbares Wesen – damit wird er zum ohnmächtigen Objekt von Neugierigen jeder Sorte. In den USA lassen Beratungsfirmen bereits massenhaft Beiträge in Web-Foren von schnellen Rechnern analysieren, um zu Wahlkampfzwecken die politische Haltung ihrer Urheber zu ergründen. Auch den Arbeitsplatz umlauern die Späher. Spezialfirmen durchforsten E-Mails und Telefonverbindungsdaten der Mitarbeiter nach Anzeichen von Korruption, Geheimnisverrat oder auch nur verdächtiger Klüngelbildung. Besonders entschlossen bahnt die Werbewirtschaft den Weg in die Zukunft der Rundumbeäugung. In ihrem Auftrag wird ein Großteil des Werkzeugs entwickelt und im netzumspannenden Zusammenspiel erprobt. Echte Schurkereien mögen bislang nur vereinzelt vorkommen; zermürbend wirkt aber vor allem der Normalfall. Unlängst erst prüfte das „Wall Street Journal“ 50 populäre Websites, darunter Yahoo, Ebay und MSN. Ein Testcomputer besuchte dafür der Reihe nach alle Adressen. Danach fanden sich insgesamt 3180 neue Spähdateien, zumeist „Cookies“, in seinem Speicher; so heißen die kleinen Textdateien, mit denen die Computer potentieller Kunden markiert werden. Zwei Drittel dieser Cookies stammten von Firmen, die darauf spezialisiert sind, die derart gestempelten Nutzer über diverse Adressen durchs Internet zu verfolgen. 131 solche Verfolger wurden im Speicher des Testrechners identifiziert; sie alle sind auf zahllosen Websites zugleich präsent. Nicht selten verlieren deren Betreiber selbst schon den Überblick darüber, mit wem sie alles kooperieren. Allein das Wörterbuchportal Dictionary.com markiert seine Besucher mit gleich 223 verschiedenen Verfolger-Cookies auf einmal. Nur eine der 50 untersuchten D E R
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SAMMLER UND JÄGER Die zahllosen digitalen Spuren im Internet sind der Rohstoff, auf dessen Verarbeitung sich eine Reihe junger Unternehmen spezialisiert haben. Sie verfolgen über Cookies die digitalen Wege der InternetGemeinde und kaufen Nutzerdaten von Web-SeitenBetreibern. Aus Unmengen von Informationen entstehen digitale Profile der Internetnutzer. Besonders skrupellose Firmen kratzen auch noch zusammen (Scraping), was Chatrooms, Foren und soziale Netze zu bieten haben.
Wie funktioniert Scraping? Beim Web-Scraping werden systematisch private Informationen über Einzelpersonen oft mit Hilfe präparierter Browser abgerufen und gesammelt. 1. Computer von Spezialfirmen melden sich automatisch unter Scheinnamen z. B. bei sozialen Netzen oder Foren an. So erlangen sie Zugang zu den geschützten Bereichen. 2. Dort durchforsten sie die Seiten und schaufeln massenhaft Profildaten, Freundeslisten, Chat- und Forenbeiträge auf die eigenen Festplatten. 3. Diese Informationen werden mit Hilfe riesiger Datenbanken strukturiert und analysiert.
Websites verzichtet ganz auf dieses Mittel: Wikipedia. Was für das Schaf die Ohrmarke, ist das Cookie für den Menschen. Es macht ihn identifizierbar. Wer ihm über Wochen oder gar Monate hinweg auf der Spur bleibt, erfährt immer mehr über seine Lebenslage, kann immer besser seine Absichten vorausberechnen – stets mit dem Ziel, dem erhofften Kunden die aussichtsreichste Werbung zuzuspielen. Quasi als blinkendes Pünktchen auf den Radarschirmen zahlloser Verfolger bewegt sich der Mensch, beständig beobachtet, markiert und anderswo wiedererkannt. Ein Cookie könnte nach einer Weile etwa verraten, dass an diesem Computer eine Frau zwischen 35 und 44 Jahren
sitzt – letzte Woche hat sie fünfmal im Immobilienmarkt nach einem Haus mit Garten gesucht, anderswo zwei Ratgeberartikel über Risikoschwangerschaften gelesen, beim Autoportal drei Stunden lang penibel geräumige Karossen verglichen und bei diversen Finanzdienstleistern Kreditrechner mit sechsstelligen Summen gefüttert. Damit lässt sich eine Menge anfangen. Ohne es zu wissen, hat die Unbekannte sich in ein lukratives Gut verwandelt, das wochenlang immer wieder verkauft wird – wer ihre Ohrmarke erwirbt, kann ihr Werbung für Windeln, Baudarlehen oder Jahreswagen zuspielen, wo auch immer sie sich im Netz gerade bewegt. Mittlerweile ersteigert die Werbewirtschaft interessante Kunden auch an spe-
ziellen Online-Börsen, wie sie etwa die US-Firma BlueKai betreibt. Datensammler bieten dort virtuelle Ohrmarken feil, automatisch gruppiert nach beobachtetem Verhalten und vermuteten Absichten: Das können 200 000 Gutverdiener sein, die Anzeichen von Nestbauverhalten zeigten. Oder 30 000 Reiselustige, die seit vorgestern nach Flügen ab Chicago fahndeten – bei Bedarf auch sortiert nach Reiseziel oder Abflugdatum. Solche Profile gibt es schon für umgerechnet einen halben Cent das Stück; ein guter Datensatz kann aber auch einen halben Euro oder mehr einbringen. Die jüngste Errungenschaft: Augenblicks-Auktionen. Der Mensch klickt irgendwo im Internet auf einen Link – D E R
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und in diesem Moment beginnt der Schacher darum, welche Anzeige er sogleich sehen wird. Das alles geschieht in Millisekunden: Rasend schnell taxieren die Rechner von BlueKai (Leitspruch: „Ihr Kunde ist ein bewegliches Ziel“) den Besucher: Gehört er zu einer der Zielgruppen, für die Gebote vorliegen? Und welcher Werber zahlt gerade den höchsten Preis? In diesem Tempo können nur Maschinen entscheiden – hier dealen Computer mit Computern. Auch die Rechner des Käufers, der an die Börse angeschlossen ist, müssen im Augenblick der Auktion eine Menge kalkulieren: Hat dieser Anzeigenplatz bereits gute Resultate gebracht? Hat 117
Titel der Besucher in der letzten Viertelstunde schon 30 Anzeigen gesehen, so dass er abzustumpfen droht? Je nachdem variieren die Computer der Agenturen ihre Gebote. Doch was ist eigentlich so verwerflich daran, wenn die Werbung immer besser zu den eigenen Bedürfnissen passt? Das Problem ist die Raffinesse der Technik. Einmal ausgereift, lässt sie sich ebenso gut für ungemütliche Zwecke einsetzen. „Als Nächstes könnte dann aus Ihrem Online-Verhalten zum Beispiel Ihre Kreditwürdigkeit herausgelesen werden“, sagt Thilo Weichert vom Unabhängigen Landeszentrum für Datenschutz in Kiel. Das Werkzeug der Verhaltensanalyse ist vielseitig wie das Leben selbst. Wer will, kann damit auch netzübergreifend Signale sinkender Zufriedenheit mit dem Beruf registrieren oder einen Hang zu politischer Widerborstigkeit. Es muss ja nicht gleich so weit kommen wie in Steven Spielbergs Zukunftsthriller „Minority Report“, in dem eine Spezialeinheit Verbrechen vorausahnt und unterbindet, bevor sie begangen werden. Die Werbewirtschaft müht sich bereits nach Kräften, in die Zukunft des Kunden zu spähen. Aus Daten wie Haushaltseinkommen, Wohngegend und Schulbildung erstellt sie ein Verhaltensmodell, eine Art digitale Simulation der Zielperson – der Rest ist mathematische Knobelei: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Mensch demnächst ein teures Fahrrad kauft? Wo könnte er seinen Urlaub verbringen wollen? Ist sein Verhalten typisch für jemanden, der Schwierigkeiten hat, ein Darlehen zurückzuzahlen? All diese Schlussfolgerungen gilt es dann zu verkaufen, solange sie heiß sind. Die Verhaltensprognose steckt noch in den Anfängen. „Bislang sind die Ergebnisse nicht besser als bei den anderen Methoden“, sagt Christoph Schäfer von der Hamburger Werbeagentur Performance Media. „Das braucht noch ein paar Jahre.“ Bei dem Tempo, mit dem die datengetriebene Werbung voranschreitet, beruhigt das wenig. „Allein in Deutschland“, sagt Schäfer, „werden schon jetzt Tag für Tag Dutzende Milliarden Cookies gesetzt.“ Das Goldfieber brach aus, weil derzeit zwei Dinge zusammentreffen: Zum einen ist die Infrastruktur des Erfassens inzwischen eingespielt und im Internet so gut wie überall verbreitet. Zum anderen lohnt es sich erst jetzt so richtig, sie auch einzusetzen: Das Publikum verbringt inzwischen sein halbes Leben mit Anschluss ans Netz. Es hinterlässt dort Tag für Tag Privatfotos und Kommentare, sucht Rat bei Blasenschwäche oder ein Hotel für den Seitensprung, tut seine politische Meinung in diversen Foren kund und versorgt den Bekanntenkreis mit Nachrichten über seinen Tageslauf. Ergiebig sind vor allem die sozialen Netzwerke, wo es auf Mitteilsamkeit ge118
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radezu ankommt. Die gut 500 Millionen Mitglieder von Facebook bringen mehr als 30 Milliarden Kommentare, Fotos und sonstige Bekundungen ihrer Existenz im Monat hervor – pro Nutzer 60 Stück. Auch überall sonst, wo die Leute nach Austausch und Gemeinschaft streben, steigt der Output. Allein die Nutzer des Dienstes Twitter veröffentlichen derzeit jeden Tag 95 Millionen Kurzmeldungen, genannt „Tweets“. All diese Neckereien und Fundsachen, Kurzweisheiten und launigen Sprüche bilden zusammen ein stets aktuelles Zentralregister der Stimmungen, Trends und Befindlichkeiten. Was auch immer der Mensch tagein, tagaus hinterlässt an Lebensspuren und anderen digitalen Abriebseln – es lagert sich in irgendwelchen Datenspeichern ab. Vor allem Facebook macht den Datenschützern Sorge. Die Firma erfindet immer neue Schikanen für die Privatsphäre. Zu den jüngsten Streichen zählt der „Gefällt mir“-Schaltknopf, mit dem die Mitglieder überall im Netz ihre Vorlieben
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kundtun können: den politischen Kommentar im Diskussionsforum, die tolle Stichsäge im Online-Baumarkt, das Handyfilmchen der Freundin beim Portal MyVideo. Jeder Klick erscheint auf der Profilseite des Nutzers – und wird zumeist auch dem Freundeskreis mitgeteilt. Erst im April 2010 wurde die kleine blaue Klickfläche eingeführt, und schon ist das Internet damit gepflastert: Mehrere hunderttausend Adressen bieten ihren Besuchern dieses bequeme Mittel, ihren Beifall zu äußern. Deren Betreiber hoffen auf Zutrieb durch die automatisierte Mundpropaganda per Mausklick. Den größeren Nutzen hat aber Facebook: Damit ist bald die halbe Netzwelt auf dem Radarschirm der Firma. Sie kann nun auch außerhalb des Dienstes intime Kenntnisse über die Vorlieben ihrer Mitglieder erlangen – oft genug wüssten selbst Ehegatten nicht so genau zu sagen, was dem jeweils anderen alles gefällt.
Für den Netzbürger wird es immer schwerer zu überblicken, wem er wo was genau verrät. „Es ist ein großes Problem, wenn Anbieter mit massiver Marktmacht auf Web-Seiten zugreifen, die gar nichts mit ihnen zu tun haben“, sagt Datenschützer Weichert. Auf eine Ruhepause ist nicht zu hoffen. Kaum war der „Gefällt mir“-Schalter etabliert, schickte Facebook sich an, die Mitglieder auch übers Netz hinaus ins echte Leben zu begleiten: Der neue Dienst „Facebook Orte“ erlaubt es dem Nutzer, jederzeit mitzuteilen, wo er sich gerade aufhält. Das sind heikle Daten. Werden die Leute lernen, damit sparsam umzugehen? Oder gewöhnen sie sich mit der Zeit daran, einer notorisch unberechenbaren Firma anzuvertrauen, wo sie arbeiten, leben und Urlaub machen? Bewegungsmuster gehören zu den sehr persönlichen Dingen; im mobilen Internet kommt dieser verlockende Schatz nun in die Reichweite der Datensammler. Jeder, der Zugang hat, könnte unschwer auf Namen und Adressen schließen.
Heutige Mobiltelefone wissen immer, wo sie sind; entweder haben sie die GPSSatellitenortung eingebaut, oder sie prüfen ihre Lage anhand der WLAN-Funknetze in der Umgebung, deren Kenndaten sie empfangen. Der Besitzer aber kann kaum kontrollieren, wer alles von seinem Aufenthaltsort erfährt, sobald er sein Handy einschaltet. Denn jedermann kann sich leicht Zugang zu solchen Ortsdaten erschleichen:
Die Hälfte der beliebtesten Apps auf dem iPhone verraten die Ortsdaten der Besitzer an Spähfirmen. Ein gutes Dutzend Firmen bieten in Deutschland beispielsweise die Ortung von Handys an – etwa für Eltern, die ihre Kinder im Blick behalten wollen. Die gleiche Technik erlaubt jedoch auch dem gewalttätigen Ehemann, unbemerkt seiner Frau nachzustellen. Zwar schicken die Dienste eine SMS mit einer Anfrage an das Gerät, denn das Gesetz verlangt die Einwilligung des Überwachten. Wer aber Zugang zu
GESCHÄFT MIT PROFIL Mit modernen Analyseverfahren stellen Spezialisten die gesammelten Profile zu passgenauen Zielgruppen zusammen. Wer plant demnächst eine Luxusreise, wessen Auto ist schon in die Jahre gekommen? Wer spricht besonders auf Schnäppchen an, und wer legt hohen Wert auf Qualität? Wirtschaftsunternehmen können mit diesem Wissen gezielt auf ihre Kunden zugehen und sind deshalb auch bereit, für diese Daten viel Geld auszugeben. Auch politische Parteien oder Interessengruppen können über das Internet Kampagnen entwickeln, die genau auf einzelne Nutzer zugeschnitten sind.
dem Telefon hat, kann die Nachricht umstandslos abfangen und beantworten. „Wir wissen, dass die Überwachung leicht zu aktivieren ist“, sagt Sabine Ungeheuer vom Frauenhaus in Limburg an der Lahn. „Wir raten deshalb den Frauen, sich eine neue Sim-Karte zu besorgen.“ Die Werbewirtschaft ist gewiss nicht auf Stalking aus, aber die Wege der Kundschaft sind auch für sie von hohem Wert. Das „Wall Street Journal“ überprüfte jüngst 101 beliebte Programme („Apps“) für das iPhone von Apple und andere Smartphones. Das Ergebnis: 47 Apps verrieten die Ortsdaten des Besitzers an Spähfirmen. Und ist sein Aufenthalt erst bekannt, fällt es oft nicht schwer, auch sein Ziel zu erahnen. Versuche mit anonymen Bewegungsdaten von Mobilfunkanbietern haben gezeigt: Die meisten Menschen pflegen im Alltag doch einen recht vorhersagbaren Trott. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Datensammler immer noch mehr erfahren wollen. Google-Chef Eric Schmidt stellt sich die Suchmaschine der Zukunft, wie er unlängst bekundete, als ein „allwissendes System“ vor: „Ich glaube, die meisten Leute wollen nicht, dass Google ihre Fragen beantwortet“, sagte er. „Sie wollen, dass Google ihnen sagt, was sie als Nächstes tun sollen.“ Dies ist nicht einfach nur die ulkige Vision eines zahlenvernarrten Technokraten. Es ist die Vision eines Managers, der maßgeblich mitbestimmt, in welche Richtung der Datenriese Google strebt. Und selbst wenn das Ziel abwegig klingen mag: Die Firma kann ihm nur näher kommen, indem sie mittels ihrer Algorithmen immer mehr in den Alltag und möglichst auch in die Gehirnwindungen ihrer Nutzer hineinzukriechen versucht. Die Beteuerung der Späher, es würden ja nur anonyme Daten verarbeitet, ist im Zweifelsfall wenig wert. „Von anonymisierten Daten sprechen wir schon lange nicht mehr“, sagt Datenschützer Weichert. „Es ist meist nur eine Frage des Aufwands, sie wieder zu personalisieren.“ Forscher haben mehrfach vorgeführt, wie man aus verstreuten Bruchstücken ganze Identitäten rekonstruiert. Die Informatiker Arvind Narayanan und Vitaly Shmatikov etwa zeigten, dass dafür oft schon die Kenntnis der Vorlieben bei Kinofilmen genügt. Sie nahmen 100 Millionen Filmbewertungen von 500 000 anonymen Kunden des Online-Filmverleihers Netflix – und in zwei Dritteln der Fälle bekamen sie die Urheber heraus, sofern diese Kunden sich schon anderswo im Netz namentlich zu ein paar Filmen geäußert hatten. Das Muster einiger Vorlieben ergibt bereits ein unverwechselbares Profil, das den Nutzer ziemlich zuverlässig auffindbar macht. Vielen entspannten Zeitgenossen bereitet all das wenig Sorgen. Sie warnen 119
Titel vor Hysterie in der laufenden Debatte um die Privatsphäre. Ihr Hauptargument: Was erfahren die schon? Warum soll nicht jeder wissen, dass ich morgen nach München fliege und gestern nach einem Leberknödelrezept gesucht habe? Mit einem Satz: Ich habe nichts zu verbergen. Dieser Standpunkt verkenne, was auf dem Spiel steht, meint der US-Jurist Daniel Solove. Es sei ein fundamentales Missverständnis, dass eine Privatsphäre nur brauche, wer etwas ausgefressen hat. Den Schutz vor dem Sammeln, Ausspähen und Überwachen aller Aktivitäten hält Solove auch gar nicht für entscheidend – tatsächlich wird ja zumeist nur Banales entdeckt. In seinem Buch „The Digital Person“ erläutert Solove, wo für ihn die echte Bedrohung beginnt: wenn das verstreute Sammelgut von unzugänglichen Instanzen verarbeitet wird, die niemandem Rechenschaft geben. Solove zieht zum Vergleich Franz Kafkas „Prozess“ heran. Ein Josef K. wird in diesem Roman eines Morgens verhaftet, ohne zu wissen, warum. Eine namenlose Behörde hat offenbar gegen ihn ermittelt, hat Daten ausgewertet und Anklage erhoben – nie aber erfährt K. auch nur, was gegen ihn vorliegt; folglich ist ihm auch keinerlei Verteidigung möglich. K. darf übrigens, während der Prozess läuft, sein normales Leben unbehelligt fortsetzen. Am Ende aber wird er von zwei Männern abgeholt und erstochen „wie ein Hund“. Dem Netzbürger ergeht es, vom Ausgang abgesehen, nicht ganz unähnlich: Winzige Details, die für sich nichts bedeuten mögen, werden verknüpft und verglichen, Schlüsse werden gezogen, Voraussagen hochgerechnet und Entscheidungen gefällt. Falsch oder richtig – der Bürger, Objekt unbekannter Analyseapparate, hat bei der fremdgesteuerten Biopsie seines Verhaltens nicht das Geringste mitzureden. Dieser Entzug der Verfügungsgewalt über die eigene Person verändert die Machtbalance zwischen Menschen und Unternehmen. Er könnte ein Gemeinwesen nachhaltiger entkräften, als es die grobschlächtige Gedankenpolizei aus George Orwells „1984“ vermocht hätte. Mit dem Staat ist zwar ebenfalls stets zu rechnen, wenn es um Überwachung geht – Stichwort Vorratsdatenspeicherung. Aber im Vergleich geht es da übersichtlich und nicht halb so verstörend zu: Man kennt die Akteure, und wenn sie ihr Spiel zu weit treiben, rafft man sich auf und geht demonstrieren oder zieht vor Gericht. Im chaotischen Ökotop der kommerziellen Datensammelei dagegen finden sich schon Fachleute nur mit Mühe zurecht. Dabei steht ein Medium auf dem Spiel, das inzwischen für viele lebenswichtig ist. Wer hat heute noch die Wahl, sich dem Internet konsequent zu entziehen? Nicht einmal die verräterischen 120
Cookies wird man so leicht los, denn dummerweise dienen sie zum Teil auch nützlichen Zwecken, etwa dem Speichern von Warenkörben in den Online-Shops. Wer sie pauschal aussperrt, kann viele Websites gar nicht mehr richtig nutzen. Weitaus stärker noch treibt sozialer Druck das Publikum in die Selbstentäußerung – auch der Nachbar ist neugierig. Wer sich nicht in einem sozialen Netzwerk präsentiert, ist fast schon der Eigenbrötelei verdächtig. Überall erwartet die Mitwelt, dass der Netzbürger offenherzig mittut; alle wollen einander finden, erreichen und bei Gelegenheit auch gern ein wenig ausspähen können. Das stundenlange Stöbern in anderer Leute Facebook-Profilen gehört zu den Tätigkeiten mit dem größten Suchtpotential. Und zwischendrin wird mal eben ein neuer Bekannter gegoogelt oder eine der speziellen Personensuchmaschinen wie Yasni.de angeworfen, die aus Hunderten Quellen zusammentragen, was das Internet über die Zielperson weiß. Auch „Street View“ gibt es nur, weil jeder gern in fremde Straßen guckt. Das Internet ist ein Paradies für die Neugier. Mark Zuckerberg, der Chef von
Facebook, glaubt gar, im Rausch der neuen Möglichkeiten habe sich unser Bedürfnis nach Privatsphäre weitgehend verflüchtigt. Als er das neulich in einem Interview etwas verquast auszudrücken versuchte, war die Aufregung groß – es hieß, er habe (was nicht ganz stimmt) vom „Ende der Privatheit“ gesprochen. Ist es tatsächlich schon so weit? Ist ein Mindestmaß unbehelligten Daseins nicht länger nötig – oder, wenn doch, leider nicht mehr zu retten? In Wahrheit ist das Problem eher, dass darüber im Moment ein paar Großunternehmen zu entscheiden scheinen, für die Fatalismus in dieser Sache von großem Vorteil wäre. Die Frage lautet also: Warum kann nicht jeder selbst bestimmen, wer wie viel Einblick in sein digitales Dasein bekommt? Warum erfahren die Ausgespähten zumeist noch nicht einmal, wo ihre Daten überall herumvagabundieren? Es geht nicht mehr nur um ein paar Spuren hie und da. Die eifrigsten Netzbürger werfen bereits einen sehr deutlichen digitalen Schatten – durchs Netz begleitet sie ein Doppelgänger, der seinem Urbild in vielen Details immer ähnlicher wird. Und dieses digitale Abbild beginnt
TRANSPARENTER KUNDE Technisch schon ausgereift, aber noch nicht im Einsatz sind moderne Methoden der Gesichtserkennung. Damit könnte zum Beispiel ein Verkäufer unbemerkt seinen Kunden identifizieren und wichtige Informationen beschaffen. Wie sieht es mit den finanziellen Möglichkeiten seines Gegenübers aus? Hat er sich schon bei der Konkurrenz umgeschaut?
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mit der Zeit ein beunruhigendes Eigenleben im Netz. Das digitale Ich hat heute zumeist bei Facebook oder einem anderen Sozialnetz seinen Hauptwohnsitz. Dort findet es eine Bühne vor, die bespielt werden will. Zum ersten Mal in der Geschichte hat der Privatmensch eine Ständige Vertretung in der Öffentlichkeit. Überraschend ehrlich geht es bei der Pflege der Profile in diesen Sozialnetzen zu, wie mehrere Studien gezeigt haben. Von kleineren Retuschen abgesehen, präsentieren die Leute sich weitgehend so, wie sie sind. Der Traum vom Internet als Maskenball der Identitäten begeistert nur noch die kleine Minderheit der Rollenspieler. Die „virtuelle Identität“ als pixeliger Avatar hat sich als der Flop des Jahrzehnts erwiesen. Ihr einst vielbestaunter Hauptschauplatz, die Online-Welt von „Second Life“, ist heute weithin verödet. Die Betreiberfirma entließ im Sommer ein Drittel der Angestellten. Das Internet ist längst nicht mehr das ganz andere, sondern ein Teil der Realität. Die Leute wollen sich nicht verstecken, sie wollen gefunden werden. Und wer etwas gelten will, tritt wie im echten
Wie funktioniert Gesichtserkennung? 1. Eine Kamera nimmt das Gesicht des Kunden auf. Der Computer erstellt anhand von Merkmalen wie der Gesichtsgeometrie oder dem Haaransatz ein digitales Profil. 2. Dieses wird dann mit den Profilen verglichen, die in großen Datenbanken gespeichert sind. 3. Ist der Kunde einmal identifiziert, kann der Verkäufer wichtige Hintergrundinformationen abrufen.
Leben meist mit Namen auf. Sogar die Rezensionen bei Amazon werden zunehmend namentlich gezeichnet; der OnlineVersender ermuntert ausdrücklich dazu. Der echte Name beglaubigt das Urteil – schlechte Zeiten für „katercarlo0815“ oder „nadelhexchen“. Dumm ist nur, dass dem Einzelnen leicht die Kontrolle darüber entgleitet, was die Netzwelt sich für ein Bild von ihm
„Nun ist das Schlimmste, was du getan hast, oft das Erste, das jeder von dir erfährt.“ macht. Das kommt, weil an diesem Bild jeder mitmalen darf: Scherzbolde, Neider und der böse Nachbar – jeder Pinselstrich, Geschmier inklusive, bleibt haften. Das Internet ist ein Zerrspiegel, es betont und vergrößert das Negative. Denn alles, was im Netz auf Widerspruch gestoßen ist, peinlich war oder einfach nur irgendjemandem nicht gepasst hat, wandert in den Trefferlisten der Suchmaschinen eher nach oben. Solche Sachen werden nun einmal, so sind die Menschen, häufiger verlinkt. „Nun ist das Schlimmste, was du getan hast, oft das Erste, das jeder von dir erfährt“, schreibt der USRechtswissenschaftler Jeffrey Rosen. Günther Oettinger ist einer von vielen, die das bestätigen können: Wer bei Google nach ihm sucht, bekommt schon auf der ersten Seite in gleich vier Fundstellen präsentiert, wie gründlich sich der gelernte CDU-Regionalfürst mit einem Auftritt als designierter EU-Kommissar auf Englisch blamierte – Video inklusive. Der Ökonom Alessandro Acquisti an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh erforscht gerade, wie sich die Verfallszeit von guten und schlechten Informationen unterscheiden. Seine ersten Ergebnisse sind ernüchternd: Das Gerücht, jemand habe einen Preis errungen, verflüchtigt sich schnell. Wird dagegen gemunkelt, er sei betrunken am Steuer erwischt worden, bleibt das hartnäckig in Umlauf. Das digitale Ich ist viel stärker ein soziales Produkt, als die Menschheit das bisher kannte. Was einer im Netz für eine Figur macht, unterliegt einem stetigen Plebiszit und gelegentlich auch den Launen des Mobs – wohl dem, der da gar nicht erst auffällt. Fatalerweise erweist sich das Publikum auch noch als erstaunlich leichtgläubig: Dem neuen Medium nimmt es fast alles unbesehen ab. Wer will, kann sich das zunutze machen. Michael Arrington zum Beispiel, Gründer des angesehenen Technik-Blogs „TechCrunch“, meldete sich spaßeshalber bei Facebook als Google-Chef Eric D E R
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Schmidt an. Binnen 24 Stunden gewann er dort zahlreiche „Freunde“; unter den ersten waren der Vizepräsident von Facebook und der Gründer des Videoportals YouTube. Der Kölner Journalist Boris Kartheuser betreibt das Identitäten-Hopping berufsmäßig. Er ist spezialisiert auf verdeckte Recherchen; dafür schlüpft er häufig in fiktive Rollen. Mal gibt er sich als PRMann aus, der sich auf eine dubiose Stellenanzeige bewirbt, mal als FDP-Funktionär mit Verbindungen zu Pharmakreisen. So eine Scheinidentität ist im Internet schnell gegründet: Eine schlichte Website, ein Profil beim Berufenetzwerk Xing, vielleicht noch eine Wohnungsanzeige bei ImmoScout.de – das genügt schon, um eine falsche Existenz zu beglaubigen. „Es ist erstaunlich, wie leicht das geht“, sagt Kartheuser. Mit seiner echten Identität geht der Mann umso vorsichtiger um: Er tritt auch außerhalb des Berufs unter wechselnden Pseudonymen auf, und für seine E-Mails bevorzugt er Wegwerfadressen. Im Internet bewegt er sich wie in Feindesland: von Deckung zu Deckung. „Allein schon über ein Pseudonym, das man aus Bequemlichkeit immer wieder nutzt, lässt sich ja schon sehr viel verknüpfen.“ In der Tat ist die Verknüpfbarkeit scheinbar weit verstreuter Details eines der größten Probleme: Früher konnte man kontrolliert kleinste Teile seiner Identität preisgeben: dem Kollegen die Handy-Nummer, der Freundin die Erzählung eines peinlichen Missgeschicks, einem Dritten die Urlaubspläne. Das alles war kein Problem, denn das Wissen befand sich in Streubesitz. Jeder wusste nur ein bisschen. Heute lassen sich Linien ziehen von Punkt zu Punkt. Computer verknüpfen alle maschinenlesbaren Spuren zu einem Bild, das einem Porträt immer ähnlicher wird. Es kann sogar Züge enthalten, von denen sonst niemand weiß – zum Beispiel, dass dieser Mensch zu OnlineGlücksspielen neigt oder dass er sehr leicht auf vermeintliche Schnäppchenangebote hereinfällt. Eine Online-Börse wie BlueKai etwa, die im Hauptgeschäft mit Nutzerdaten handelt, erfährt von Tausenden Web-Seiten, was die Besucher dort treiben – von Expedia.com zum Beispiel auch Reiseziele und gewünschte Flugdaten. BlueKai gibt an, jederzeit an die 200 Millionen Menschen mit genauer bestimmten Kaufabsichten im Angebot zu haben, unterscheidbar nach mehr als 30 000 Merkmalen. Über die Börse, heißt es, würden täglich mehr als 75 Millionen Anzeigenplätze versteigert. Nicht minder imposant sind die Zahlen der US-Firma AudienceScience: Sie registriert rund 270 Milliarden Aktionen von über 380 Millionen Internetnutzern 121
Titel täglich, von Seitenaufrufen bis hin zu Suchanfragen. Aus diesem Input lassen sich jederzeit für die Werbekunden Zielgruppen nach Maß zuschneiden – stets streng anonym, wie die Firma versichert. In New York sitzt ein Konkurrent namens Lotame, der ebenfalls eine reichhaltige „Taxonomie menschlichen Verhaltens“ bietet, aber noch einen Schritt weiter geht: Im Auftrag von Targeted Victory, einer Beratungsfirma, half Lotame jüngst den beiden republikanischen Senatskandidaten Dino Rossi und Marco Rubio im Wahlkampf. Die Firma analysierte etwa die Kommentare, die potentielle Wähler im Internet hinterließen, um deren Stimmungslage zu erkunden. Das versetzte die Wahlkämpfer in die Lage, Wechselwähler gezielt zu umgarnen oder überzeugte Multiplikatoren als Unterstützer zu mobilisieren. Das allgemeine Schlüsseziehen, so scheint es, hat begonnen. Einen Blick in die Zukunft der automatischen Verhaltensanalyse erlaubt das Beispiel der kleinen aufstrebenden Firma Cataphora aus Kalifornien, die für andere Unternehmen das Treiben der Mitarbeiter untersucht. Cataphora kann dafür alle erdenklichen digitalen Hinterlassenschaften auswerten: Telefonverbindungsdaten, Einträge in elektronischen Kalendern, vor allem aber gespeicherte E-Mails, deren Anzahl bei Großkunden leicht in die Millionen gehen kann. Diese Datenmassen durchpflügen die Rechner von Cataphora nach Mustern verdächtigen Verhaltens. Manchmal argwöhnt ein Unternehmen etwa, Mitarbeiter könnten Geschäftsgeheimnisse verkauft haben. Die Rasteranalyse könnte dann beispielsweise einen Klüngel von Kollegen zutage fördern, die häufig E-Mails austauschen, obwohl sie keineswegs eng zusammenarbeiten. Auffällig auch, wenn sie plötzlich häufiger zu Telefonaten überwechseln („Lasst uns das lieber am Telefon besprechen“). Und dann fliegt vielleicht auch noch ein Kollege aus dem E-Mail-Verteiler des Schattennetzwerks, die anderen verkehren nun hinter seinem Rücken. Wollen sie ihm nur eine Geburtstagsüberraschung bereiten? Oder fürchten sie einen potentiellen Verräter? „Was bei dieser Analyse auffällt, beweist noch nichts, aber es empfiehlt sich dann, genauer hinzusehen“, sagt Markus Morgenroth, bei Cataphora für den europäischen Markt zuständig. Die Rechner der Firma suchen dabei vor allem nach Schlüsselwörtern, Floskeln oder linguistischen Mustern. Damit lassen sich auch Sozialgefüge und Stimmungslagen innerhalb der Firma ergründen. Zum Beispiel: Wer verteilt Aufgaben immer nur weiter, übernimmt aber selbst wenig? Wer hat öfter mal Redewendungen gebraucht, die auf Frustration, Be122
sorgnis oder Geheimniskrämerei hindeuten? Wann, mit wem und worüber? Cataphora, seit acht Jahren im Geschäft, war ursprünglich spezialisiert auf Gerichtsverfahren gegen Unternehmen. In den USA müssen dabei oft Millionen E-Mails nach Indizien durchforstet werden. Der Jurist William Herr, lange Jahre als Spezialist für Schadensersatzklagen beim Chemieriesen Dow Chemical beschäftigt, hat öfter mit Cataphora zusammengearbeitet. „Die Firma ist in einem wachsenden Markt ganz vorn dabei“, sagt er. „Als ich zum ersten Mal sah, was die mit unseren alten E-Mails anstellen können, dachte ich mir, ich schreibe im Leben keine E-Mail mehr.“ Nach deutschem Recht ginge so ein Vorgehen nicht so einfach. Doch hiesige Firmen, die mit US-Unternehmen zusammenarbeiten, sind heute schon verpflichtet, ihre E-Mails aufzubewahren für den Fall, dass ihr Geschäftspartner einst vor einem US-Gericht angeklagt wird. Der neueste Streich von Cataphora ist eine kostenlose Software namens „Digital Mirror“, die es jedem erlaubt, die Verhaltensanalyse im Kleinen an sich selbst zu erproben. Das Programm durchforstet E-Mails und Kalender des Nutzers und zeigt ihm dann etwa an, auf welche Themen er ungehalten reagiert hat und welche Korrespondenzpartner er gern mit kurzen Antworten abbürstet oder mit langen Wartezeiten quält – Ziel: das Optimieren des eigenen Verhaltens.
Die amerikanische Personensuchmaschine Intelius wiederum bietet eine Anwendung namens „Date Check“, mit der sich der nette Unbekannte in der Bar rasch auf seinen Hintergrund abklopfen lässt. Für knapp 15 Dollar pro Anfrage ermittelt die Software übers Internet etwaige Vorstrafen, Haus- und Grundbesitz, die aktuelle Wohnsituation (noch bei Mutti gemeldet?) und die Interessenprofile aus den einschlägigen sozialen und beruflichen Netzwerken. Das Programm funktioniert nur auf dem US-Markt mit dem schwach ausgeprägten Datenschutz. Aber das wechselseitige Analysieren und Beurteilen von Privatleuten wird auch hierzulande zur Mode. Die Leute gewöhnen sich bereits daran, einander im Internet unentwegt zu bewerten – als Käufer bei Ebay, als Rezensenten bei Amazon, mit dem „Gefällt mir“-Schaltknopf bei Facebook. Speziell Lehrer und Ärzte wissen, wie es ist, im Internet als Gesamtperson benotet zu werden.
VERHALTENSPROGNOSE Verhaltensforscher begnügen sich nicht mit dem Sammeln und Kategorisieren von Informationen über Web-Nutzer. Sie versuchen, künftige Entscheidungen und Verhaltensweisen vorherzusagen. Dafür vergleichen sie den Kunden anhand seines Online-Verhaltens mit ähnlichen Nutzern, über die bereits mehr bekannt ist (Marktforschungsdaten, Wohngegend, Einkommen, Lebensstil). Daraus berechnen sie etwa die Wahrscheinlichkeit, ob ein Reiseveranstalter diesen Kunden zur Winterzeit eher zu einer Städtereise oder zum Faulenzen am Strand verlocken könnte.
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Unter der Adresse Honestly.com ist gerade ein umstrittenes Reputationsportal in Betrieb gegangen, wo jedermann seine Kollegen, Kunden oder Vorgesetzten bewerten darf. Angeblich der Ehrlichkeit halber sind die Urteile anonym; Kritiker befürchten Exzesse der Niedertracht. Die Firma dagegen setzt auf die Mechanismen der Selbstkorrektur: Auch die Bewertung darf – ebenfalls anonym – bewertet werden; bloße Lästereien sollten folglich mit der Zeit an Gewicht verlieren. In der Tat fallen die meisten Urteile bislang positiv und kollegial aus. Aber Bruno B., Programmierer bei Google, muss nun damit leben, dass ihm ein Anonymus in der Kategorie „Produktivität“ nur 2 von 10 Punkten zuerkannt hat. Noch härter traf es Richard S., Ex-Manager der Software-Firma VMWare. Ihm wird „Totalversagen“ attestiert; er habe seine Abteilung in den Abgrund geführt. Gut möglich also, dass der Privatmensch bald genötigt ist, seine öffentliche Erscheinung im Netz wie eine kostbare Ressource zu bewirtschaften. Soziologen sprechen von Reputationsmanagement. Es wird wichtiger in dem Maß, in dem wir uns immer häufiger im Internet übereinander informieren. Internetexperte Jonathan Zittrain vermutet deshalb, dass diese Aufgabe in Zukunft spezialisierte Vermittler, sogenannte Reputationsbroker, übernehmen werden. Die deutsche Personensuchmaschine Yasni.de strebt diese Rolle auf dem hiesigen Markt an. Schon jetzt kann dort jeder die Liste der Fundstellen zu seinem Namen neu arrangieren: erwünschte Links nach oben stellen, erklärungsbedürftige Funde kommentieren, Namensvettern aussondern. Versprochen ist eine aufgeräumte Repräsentanz im Internet. Die Mitmenschen dürfen sie dann als „glaubwürdig“ bewerten – Flunkerern wird so das Handwerk erschwert. „Schon über eine Million Nutzer haben ein solches ‚Exposé‘ bei uns angelegt“, sagt Yasni-Gründer Steffen Rühl. In der Tat gibt es Gründe, die persönliche Reputation nicht dem freien Spiel der Kräfte im Internet zu überlassen. Was irgendwelche Suchmaschinen auf Anfrage auswerfen, ist den Zufälligkeiten ihrer Algorithmen und den Launen der Netzwelt überlassen. Selten findet sich jemand durch die Ergebnislisten angemessen dargestellt. Eines der größten Probleme dabei ist, dass es im Internet vor der Vergangenheit kein Entrinnen gibt; es vergisst keinen Murks und keine Dummheit.
So gut wie alles, was der Mensch je gesagt und gezeigt, geblödelt und gemunkelt hat, ruht auf ewig im Speicher, frisch wie am ersten Tag. Der Urheber altert und reift, aber sein Ebenbild im Netz bleibt jung und dumm. Den kanadischen Psychotherapeuten Andrew Feldmar holte seine Vergangenheit im gesetzten Alter von 66 Jahren ein, und zwar ausgerechnet bei der Einreise
Mit eingebauter Gesichtserkennung wird die Kamera zum Ermittlungsorgan für jedermann. in die USA. Die Grenzer stoppten den Mann. Sie googelten nach „Andrew Feldmar“ und fanden heraus, dass er mal mit LSD experimentiert hatte – vor fast 40 Jahren. Feldmar darf nun nie wieder USBoden betreten. Alles Zusammenleben ist aber darauf eingerichtet, dass Erinnerungen mit der Zeit vergehen, verwittern, verbleichen. Selbst nach einem schweren Fehltritt darf jeder auf einen Neuanfang hoffen. Fürs digitale Ego jedoch ist das Leben ein immerwährendes Examen, und jede Tat geht ein in die Endnote. Wer begreift, was das bedeutet, wird leicht von einem kreatürlichen Erschrecken gerührt. Deshalb schalten sich jetzt auch die Politiker ein. Innenminister Thomas de Maizière warf das Recht auf einen „digitalen Radiergummi“ in die Debatte, der persönliche Daten nach einer Weile tilgt – freilich ohne zu sagen, wie sich so etwas verwirklichen ließe. Die originellste Anregung äußerte Google-Chef Schmidt in einem Interview: Junge Leute sollten künftig zum Eintritt ins Erwachsenenleben einfach eine neue Identität bekommen. Dann seien sie nicht mehr mit den Peinlichkeiten in Verbindung zu bringen, die sie in ihren sozialen Netzwerken hinterlassen haben. Es liefe darauf hinaus, die Jugend komplett in eine Art Zeugenschutzprogramm zu stecken. Hinterher wollte Schmidt das als Witz verstanden haben. Ohnehin hilft selbst ein neuer Name nichts, wenn dieser eines Tages gar nicht mehr nötig ist, um eine Identität festzustellen. Computer werden immer besser im Erkennen von Gesichtern – und die lassen sich nicht so einfach wechseln. Als Google vor gut einem Jahr die Software „Goggles“ für Mobiltelefone vorstellte, war die Aufregung groß: „Goggles“ verwandelt die eingebaute Kamera in ein Ermittlungsorgan. Was immer ihr vors Objektiv gerät, versucht sie zu identifizieren: den Protzbau mit der Glaskuppel als Berliner Reichstagsgebäude, die Flasche mit dem angeschimmelten Etikett als Château Pétrus von 1956 – und eines Tages vielleicht auch die kühle Fremde an der Bar als Beatrix, samt FacebookD E R
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Profil, den letzten Twitter-Botschaften und dem Eintrag im Telefonbuch. Die Kamera gleicht, was sie sieht, mit den Abermillionen Bildern ab, die in Googles Suchdatenbank lagern. Gesichter bleiben von der Erkennung zwar einstweilen ausgenommen, wie Google-Chef Eric Schmidt unlängst versicherte. Andere Pioniere aber treiben die Entwicklung umso beschwingter voran. Die Technik der Firma Viewdle in Kiew etwa, hervorgegangen aus einem Militärforschungsprojekt, kommt bereits bei der Nachrichtenagentur Reuters zum Einsatz: Sie markiert Prominente in Videos – der Betrachter kann direkt zu den Passagen springen, in denen sie erscheinen. Auch Facebook bietet seit Dezember – zunächst einem begrenzten Mitgliederkreis – Gesichtserkennung. Die Software sucht auf neuen Bildern nach Freunden und Bekannten der Nutzer und trägt automatisch deren Namen ein. Wenn sich die Technik bewährt, dürfte sie als allgemein durchgesetzt gelten. Denn Facebook ist inzwischen nebenbei auch noch die größte Fotoplattform der Welt – allein am Silvesterwochenende wurden 750 Millionen Schnappschüsse hochgeladen. Wohlweislich sind die Programme bislang beschränkt auf das erklärte Umfeld der Nutzer. Die Firmen betreten dieses Minenfeld mit großer Vorsicht. Früher oder später aber dürfte das große Erkennen in den Weiten des Internets beginnen – zu groß ist die Macht der Neugier. Auch der Werbewirtschaft käme die Technik gewiss nicht ungelegen. Das Gesicht des Kunden würde dann quasi als unlöschbares Cookie dienen, und die Kamera vorm Kaufhaus könnte ihn unbemerkt beim Vorbeischlendern erkennen. Spätestens dann stellt sich die Frage, ob es eines Tages schon als Übergriff zählen wird, Fotos anderer Leute irgendwo im Netz zu veröffentlichen. Der Informatiker Michael Backes an der Universität des Saarlandes will dem Netzbürger zumindest eine gewisse Kontrolle über die eigenen Bilder ermöglichen. Am Dienstag dieser Woche stellt er im Berliner Ministerium für Verbraucherschutz ein kleines Zusatzprogramm für den Webbrowser Firefox vor, das jedes Bild verschlüsselt, ehe der Anwender es bei Facebook, Picasa oder sonstwo hochlädt. Wer das Foto ansehen will, bekommt automatisch den Schlüssel zugespielt – aber nur, solange der Urheber das will. Dieser kann jederzeit für beliebige Bilder den Schlüssel zurückziehen. Die Technik namens X-pire funktioniert elegant und fast ohne Zutun des Nutzers; er könnte etwa die Laufzeit generell auf ein Jahr beschränken und nur ausgewählte Fotos auf Dauer ins Netz stellen. Die Entscheidung ist jederzeit revidierbar. Doch wirkt auch hier der Fluch des Digitalen: Suchmaschinen schaufeln be123
Titel kanntlich das ganze erreichbare Internet in ihre Speicher – dort wären auch die Fotos, die der Urheber bereits gesperrt hat, weiter problemlos abrufbar. Deshalb ist bei X-pire eine kleine Schikane eingebaut: Wer ein Bild sehen will, muss ein „Captcha“ entziffern, ein Bildchen aus krummen Buchstaben, die für Computer kaum zu lesen sind. So sollen die Suchmaschinen ferngehalten werden. Aber der kleine Umstand könnte auch menschliche Betrachter nerven. Wer das Bild beizeiten kopiert hat, kann damit ohnehin machen, was er will. „Gegen das Kopieren kann es technisch keinen Schutz geben“, sagt Backes. „Zur Not nimmt man eine Kamera und knipst das Bild auf dem Monitor.“ Dennoch hält der Forscher seine Software für einen guten Anfang: „Im Alltag genügt es ja meist, die Hürden zu erhöhen.“ Für die Zukunft sind gewiss radikalere Methoden gefragt. Jonathan Zittrain, Professor an der Harvard Law School, fordert das Recht auf eine Art Privatinsolvenz des digitalen Ich. Zittrain spricht von „Reputationsbankrott“. Etwa alle
nisch wäre das möglich. Aber ob es sich je durchsetzen lässt? Wenn das Vergessen so schwierig ist, liegt die Zukunft möglicherweise eher in einer allgemeinen Kultur des Verzeihens: Wo alle alles voneinander erfahren können, erschöpft sich vielleicht auch die Lust am Skandalisieren. In den Straßen von Holland gestatten bekanntlich oft große Fenster den freien Blick in die Wohnzim-
Wenn alle alles voneinander wissen, erschöpft sich vielleicht auch die Lust am Skandalisieren. mer – und kaum jemand guckt. Vorhänge gelten den Holländern als merkwürdig. Wäre also offensive Freizügigkeit nicht das beste Mittel, die Neugier der Mitwelt durch Überangebot zu zermürben? Die Datenschützer mögen sich damit nicht begnügen. Sie fordern stattdessen Härte ein: Die US-Sozialforscherin Danah Boyd, Expertin für soziale Netze, würde Facebook am liebsten wie einen öffentlichen Versorgungsbetrieb unter
ABWEHRSTRATEGIEN Im Netz zu surfen und sich gleichzeitig vor allen digitalen Spähern abzuschotten ist schier unmöglich. Dennoch gibt es einige Möglichkeiten, seine Privatspäre besser zu schützen. Spione ausschalten In jedem Browser kann sich der Nutzer die installierten Cookies anzeigen lassen und diejenigen entfernen, die ihm nicht geheuer sind. Es ist aber nicht ganz einfach, „gute“ Cookies, die für den Nutzer hilfreich sind, von den lästigen Spionen zu unterscheiden.
Anonyme Suchmaschinen verwenden Die Suchmaschine Ixquick etwa speichert keine Nutzerdaten; sie ist nach EU-Datenschutzrecht geprüft.
Wechselnde Anmeldenamen nutzen Wer sich bei Web-Foren, Online-Portalen und Internethändlern immer mit dem selben Pseudonym anmeldet, erleichtert es den Datensammlern, übergreifende Nutzerprofile zu erstellen.
Vorsicht mit Fotos Möglichst keine Fotos von sich selbst ins Netz stellen. Wer sich etwa daran stört, dass Freunde ihn auf ihren Fotos markiert („getaggt“) haben, sollte sie darauf aufmerksam machen. Es spricht sich langsam herum, dass Taggen ohne Rückfrage unhöflich ist.
Sicherheitseinstellungen bei Online-Diensten kontrollieren Google etwa bietet über die Option „Dashboard“ einen komfortablen Zugriff auf vieles, was über den jeweiligen Nutzer gespeichert ist. Auch andere Firmen folgen dem Beispiel. Allerdings muss der Kunde noch bei jeder Firma einzeln tätig werden.
zehn Jahre, meint der Jurist, solle jeder auf Wunsch kompromittierende Daten tilgen können. Zittrains Kollege Viktor Mayer-Schönberger, Professor in Oxford, hat in seinem Buch „Delete“ auch schon skizziert, wie sich ein solches Recht auf Vergessen umsetzen ließe: Alle Rechner müssten so konstruiert werden, dass die jeweiligen Daten zu einem vorgegebenen Verfallsdatum automatisch verlöschen – tech124
Aufsicht stellen. Und auch in Europa regt sich Widerstand gegen die Sammelwut der Internetkonzerne: EU-Kommissarin Viviane Reding will den Datenschutz neu regeln. Anfang November legte sie einen Entwurf vor, der ein „Recht vergessen zu werden“ enthält. Die Bürger sollen jederzeit das Tilgen ihrer Daten verlangen können. Die Privatsphäre, so fordern Datenschützer, soll als Regel gelten, nicht als D E R
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Ausnahme. Das allerdings ist politisch schwer durchzusetzen, zumal gegenüber Firmen im Ausland. Die Berliner Koalition hat das Thema immerhin erkannt, so wenig Handfestes daraus auch bisher erwachsen ist. Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner machte vor allem in der Debatte um „Street View“ mit aufgeregten Wortmeldungen auf sich aufmerksam – obwohl sie für den Datenschutz allenfalls am Rande zuständig ist. Innenminister de Maizière wiederum stellte im Dezember einen Gesetzentwurf vor, demzufolge private Unternehmen weiterhin nach Herzenslust Daten sammeln dürfen. Nur für das Veröffentlichen will er eine „rote Linie“ ziehen: „Je mehr Daten über Private gesammelt, miteinander verknüpft und veröffentlicht werden, desto größer ist die Gefahr von gravierenden Verletzungen des Persönlichkeitsrechts“, sagt de Maizière. „Wir benötigen hier eine Grenze, die mit klaren Sanktionen und Schmerzensgeld bewehrt ist.“ Zudem arbeite man an Regeln für das Sammeln von Aufenthaltsdaten, sagt Rainer Stentzel von der Projektgruppe Netzpolitik im Bundesinnenministerium. Auch die Gesichtserkennung per Software soll eingeschränkt werden. Ansonsten setzt de Maizière eher auf freiwillige Selbstverpflichtungen der Industrie. Der Hintergedanke: Wenn die Sorge um den Datenschutz um sich greift, könnten Firmen sich die Kundschaft durch klare Regeln gewogen machen. Ob der Bürger diese wirklich zu würdigen weiß, wird sich erweisen. Bisher zeigte er sich recht lernfaul. „Ich verstehe nicht, warum 90 Prozent zum Suchen noch Google nutzen“, sagt Datenschützer Weichert. „Es gibt schließlich längst sichere Suchmaschinen wie Ixquick, die keine Nutzerdaten speichern.“ Ein Feldversuch des US-Ökonomen Alessandro Acquisti ergab: Viel hängt davon ab, wie die Leute die allgemeine Lage beurteilen. Der Forscher verteilte in einem Einkaufszentrum Gutscheine über 10 Dollar. Dann bekamen die Beschenkten 12 Dollar zum Tausch geboten – sie mussten dafür allerdings Name und Adresse angeben. Nur jeder zweite Passant ließ sich so billig kaufen. Dann aber drehten die Forscher hinterlistig die Reihenfolge um. Sie verteilten erst die 12-Dollar-Gutscheine. Wer diese anschließend umtauschte gegen 10 Dollar, bekam dafür seine Daten zurück. Nun wollte nur noch einer von 10 Probanden seine Beute wieder hergeben. Offenbar lassen sich die Leute von der Ausgangssituation leiten: Haben sie den Eindruck, die Privatsphäre sei geschützt, so schätzen sie das hoch. Falls nicht, ist sie ihnen auch nichts mehr wert. MANFRED DWORSCHAK
LINDA SPILLERS / DER SPIEGEL
Wissenschaft
Mediziner Gahl (l.), Patientin Klodzinski: „Gibt es irgendwo auf der Welt einen Menschen, der das Gleiche hat wie ich?“ MEDIZIN
Klinik der letzten Hoffnung In einem einzigartigen Programm untersuchen US-Ärzte gezielt Patienten mit unerklärlichen Symptomen. Die Medizindetektive haben jetzt zum ersten Mal eine neue Krankheit entdeckt.
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Lippen. Er tastet ihre Wangen ab, danach durchleuchtet er ihren Kopf mit einem Kernspintomografen. Die Aufnahme offenbart weitere Merkwürdigkeiten: Links hat Kelly Klodzinski noch einen Milchzahn; rechts fehlt das Keilbein, ein Knochen der Schädelbasis. Das Gesicht ist nicht symmetrisch. „Die rechte Hälfte ist unterentwickelt“, murmelt Hart. „Was könnte das sein?“ Um das zu erfahren, nimmt Kelly an einem einzigartigen Projekt teil. Im Undiagnosed Diseases Program der NIH versuchen Mediziner, Krankheiten zu ent-
NIH
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elly war 16, als sie mit der Zunge einen Knoten in der linken Wange fühlte. Bald darauf verkrampfte sich das Gesicht der bis dahin unbeschwerten Jugendlichen aus dem US-Staat Louisiana. Seither kann sie den Mund nicht weiter öffnen als einen Fingerbreit. Später kamen weitere Symptome hinzu. Das Herz und die Lungen sind entzündet, so dass Kelly Steroide nimmt. Sie hat Schmerzen und bekämpft sie mit Morphin. Einen medizinischen Namen für ihre Verfassung gibt es bisher nicht. „Meine Krankheit greift mehr und mehr Teile meines Körpers an“, sagt Kelly Klodzinski, inzwischen 23. Sie ist hübsch, blond, verheiratet mit einem zwei Jahre älteren Mann. Gern würde sie mit ihm Kinder haben. Doch die Ärzte raten ab, schon weil sie so starke Medikamente nimmt. Soweit es ihr möglich war, hat sie in der Vergangenheit als Fliesenlegerin im Betrieb der Eltern geholfen. Jetzt steht Kelly in T-Shirt und Sporthose in einem fensterlosen Raum auf dem Campus der US-National Institutes of Health (NIH) in Bethesda, Maryland, und versucht – natürlich vergebens –, ihren Mund aufzusperren. Ihr gegenüber steht der Zahnarzt Thomas Hart und schaut erstaunt auf ihre
NIH-Campus im amerikanischen Bethesda
Zugriff auf 6000 Ärzte und Bioforscher D E R
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decken, die der Wissenschaft noch nicht bekannt sind. Für Kelly und die anderen Patienten, die einen der begehrten Plätze ergattern können, bedeutet es die letzte Hoffnung, vielleicht doch noch geheilt zu werden. Bronchoskopie, Elektrokardiogramm, Hautbiopsie, Hörtest – von sieben Uhr morgens bis in die Abendstunden läuft Kelly in einem riesigen Krankenhaus von einer Station zur nächsten. In all seinen Facetten hat sie in den vergangenen fünf Tagen das Geschäft der medizinischen Diagnostik kennengelernt. „Wir wollen das Entdecken neuer Krankheiten nicht mehr dem Zufall überlassen“, sagt William Gahl. Der Kinderarzt und Genetiker hat das Programm im Mai 2008 ins Leben gerufen; rund 20 Millionen US-Dollar hat er dafür eintreiben können. Von der Anreise im Flugzeug bis zur Unterbringung der Angehörigen in Hotels wird den Patienten alles spendiert. Eine Woche lang nehmen Mediziner unterschiedlichster Fachrichtungen jeweils einen erkrankten Menschen unter die Lupe und können sich dabei aller gängigen Ermittlungsmethoden bedienen. Dazu gehören die besten Diagnosegeräte aus dem NIH-Bestand ebenso wie der Zugriff auf jene 6000 Ärzte und Biowissenschaftler, die auf dem riesigen Campus forschen. Über ihre Befunde tauschen sich Kardiologen, Psychiater, Neurologen, Molekularbiologen und all die anderen Spezialisten auf Konferenzen untereinander aus. Ihr vereintes Wissen sollen sie gezielt auf jeweils einen Fall lenken. „Unsere Ausstattung ist so gut, dass keine Ausreden mehr gelten“, sagt Gahl. In Sakko und Schlips, den er unter den dritten Knopf ins Hemd gesteckt hat, läuft
er über den Nordwestflügel des Hospitals, „Zu hoch?“, fragt Kelly. quer durch sein medizinisches Kuriositä„Na ja, der Wert ist schon etwas ertenkabinett. „Niemand“, sagt er, „hat je höht, weil er die entzündlichen Vorgänge so einen Fall wie Kelly gesehen.“ widerspiegelt“, sagt Gahl und beginnt zu Der Andrang auf das Undiagnosed erklären: Normalerweise klingen inwenDiseases Program ist enorm. Mehr als dige Entzündungen irgendwann ab, und 2000 Mediziner aus der ganzen Welt ha- die betroffenen Organe vernarben. „Aber ben schon Patienten angemeldet, jeden in Ihrem Körper finden wir Hinweise auf Tag kommen neue Anfragen hinzu. Dut- beide Prozesse zur gleichen Zeit. Es ist, zende Krankenakten, einsortiert in brau- als wären Sie in der Mitte gefangen.“ ne Pappmappen, stapeln sich auf Gahls Tränen rollen über Kellys Wangen, sie Schreibtisch im 9. Stock. greift nach einem Taschentuch, ihr Mann Die Akten erzählen von Menschen, die drückt sie. jahrelang von Arzt zu Arzt gerannt sind. Gahl sortiert seine Unterlagen und Viele haben mehr als 20 Diagnosen be- sucht nach einem passenden Wort. „Ich kommen – die sich am Ende allesamt als wollte Sie nicht durcheinanderbringen“, falsch erwiesen. Aber die wenigsten Fälle sagt er. „Ihr Fall könnte für die wissenaus dem Stapel schaffen es ins Programm. schaftliche Gemeinde sehr aufschlussLassen die Unterlagen zum Beispiel eine reich sein.“ psychosomatische Erkrankung vermuten, „Es ist nur so“, sagt Kelly, „dass ich werden sie sofort aussortiert. Gahl und schon so oft gehört habe: ,Wir haben keiseine Kollegen picken sich jene Fälle her- ne Ahnung.‘“ aus, hinter denen sie unentdeckte PathoMeist führen die Untersuchungen auch logien vermuten. in diesem aufwendigsten aller ProgramBeispielsweise den einer Frau namens me zu keiner Diagnose – darauf weist Summer Stiers aus Oregon. Nach einer Gahl die kranken Menschen sogar schriftvöllig normalen Kindheit verfiel ihr Kör- lich hin, ehe er sie annimmt. Zudem könper. Mit 14 musste ein Auge ne es Monate dauern, bis alle entfernt werden; mit 18 bekam Daten ausgewertet seien. Ein Teil der sie Krämpfe; mit 25 streikten Für einige der Patienten ist Patientin lebt das zu lang. Summer Stiers die Nieren; und mit 31, als sie in der Kultur- zum Beispiel, die einäugige in das NIH-Programm kam, ging sie am Stock – warum nur? schale fort, da- Frau aus Oregon, ging irgendOder eben die Akte Klodzin- mit die Mensch- wann nicht mehr zur Dialyse. ski. Kellys Leidensweg begann dritten Tag war sie tot. heit erfährt, AmKurz „mit einer umfassenden Einvor ihrem Entschluss zu bindung der Kaumuskulatur in was ihr fehlte. sterben hat Stiers mit William einen entzündlichen Prozess“, Gahl telefoniert und ihm ernotierte ihr Arzt aus Louisiana. „Sie hatte laubt, sie nach ihrem Tod ein letztes Mal in den folgenden Jahren verschiedene zu untersuchen. Die Forscher haben die Operationen in der Mundchirurgie, damit Leiche obduziert und Zellen entnommen. sie ihren Mund öffnen kann.“ So lebt ein Teil von Summer Stiers in der Allein die Beschreibung der Symptome Kulturschale fort, damit die Menschheit füllt drei Seiten: wiederkehrende Entzün- vielleicht doch erfährt, was ihr fehlte. dungen des Herzbeutels und des BrustBeinahe jeder Arzt träumt davon, ein fells, eine Gewebemasse am Harnleiter, noch unbekanntes Leiden zu entdecken. Wassersackniere rechts, eine vergrößerte „Fehlschläge sind die Norm“, hat Gahl Leber, Knoten in den Lungen … nach den ersten 240 untersuchten Fällen „Es ist, als hätten sich alle Erkrankun- gesagt. Doch jetzt endlich zeichnet sich gen, die es in meiner Familie gibt, in mir ein erster Treffer ab, der zu einer neuarversammelt“, sagt Kelly und erzählt von tigen Therapie führen könnte. ihrer Zwillingsschwester – die sei völlig Gahl und sein Kollege Manfred Böhm normal. Kelly dagegen fühlt sich abartig. haben eine neue Krankheit entdeckt und „Ich frage mich“, sagt sie, „ob es irgend- wollen sie im Februar im „New England wo auf der Welt einen Menschen gibt, Journal of Medicine“ beschreiben. Es der das Gleiche hat wie ich.“ geht um eine Frau aus Kentucky, die sich Es ist Freitag, heute Abend soll Kelly mit absonderlichen Kalkablagerungen in entlassen werden. Sie sitzt im Schneider- Händen und Füßen vorgestellt hatte. Die sitz auf ihrem Bett und schiebt Weißbrot Forscher analysierten ihr Erbgut und fandurch den Mundspalt. William Gahl den schließlich ein mutiertes Gen auf dem klopft an die Tür, rückt einen Stuhl ans Chromosom 6. Das Gen gehört zu einem Bett und breitet Papiere aus: Notizen, Stoffwechselweg, der bisher offenbar Vermerke, Zahlen. Der Arzt hat die Da- noch gar nicht bekannt war. ten eingehend studiert – werden sie verDie Entdeckung macht die Patientin raten, was Kelly fehlt? aus Kentucky noch nicht gesund. Jedoch Gahl blättert und sagt: „Das Eisen ist bekommt ihr Leiden jetzt endlich einen gut, das Ferritin ist schön und hoch.“ Das Namen. „Arterielle Verkalkung durch Herz sei okay, der 24-Stunden-Harn ent- CD73-Enzymmangel“ haben die MediJÖRG BLECH halte 180 Milligramm Protein. zindetektive es getauft. D E R
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Wissenschaft
SPI EGEL-GESPRÄCH
„Seesterne, Blümchen, lila Formen“ SPIEGEL: Dr. Sacks, vor fünf Jahren wurde bei Ihnen ein Melanom im rechten Auge diagnostiziert. Sie dachten, dass Sie bald sterben würden. Was passierte dann? Sacks: Nun, wie Sie sehen, bin ich nicht gestorben. Zwar sagte man mir, dass ein Melanom im Auge gutartiger ist, als ich dachte. Aber in den ersten Wochen nach der Diagnose hatte ich trotzdem Angst, die ich mit schwarzem Humor bekämpft habe. Zum Glück ist diese Angst inzwischen weitgehend verschwunden – und die Zeit doppelt so kostbar geworden. SPIEGEL: Wie geht es Ihrem Auge heute? Sacks: Es ist mir ein bisschen peinlich, das Auge sieht so schlimm aus … SPIEGEL: … das tut es gar nicht! Sacks: Na ja, im Moment kann ich gar nichts mehr damit sehen, weil Blut ins Augeninnere gelaufen ist. Ob die Sehkraft jemals zurückkehren wird, weiß ich nicht. SPIEGEL: Hat der Tumor Ihre Wahrnehmung verändert? Sacks: Oh ja, zunächst merkte ich, wie ein Ausschnitt im Sehfeld meines rechten Auges verschwand. Ich habe immer den Ventilator da oben angeschaut, um meine Sehkraft zu überprüfen. In den drei Wochen, in denen ich auf die Augenoperation wartete, fixierte ich ihn immer wieder. Erst verschwand nur einer der vier Flügel aus meinem Sehfeld; am Ende sogar drei davon. Nach der OP erschien mir dann alles verzerrt. Menschen waren dünn und in die Länge gezogen, fast wie Insekten sahen sie aus. Und Gesichter hatten eigentümliche amöbenartige Auswüchse. Vor einer Weile gab es hier eine Francis-Bacon-Ausstellung, an die habe ich mich erinnert gefühlt. SPIEGEL: Haben Sie Dinge gesehen, die gar nicht existierten? Sacks: Sie meinen Halluzinationen? Die hatte und habe ich immer noch. Ich neige dazu, Dinge wie kleine Seesterne, Gänseblümchen oder schimmernde lila Formen zu sehen … Moment, ich hole Ihnen etwas … ich habe ein oder zwei Notizen gemacht … Hier, das ist mein Tagebuch aus dieser Zeit (kehrt mit einem riesigen Stapel Notizbücher zurück). SPIEGEL: In Ihrem neuen Buch beschreiben Sie den blinden Fleck in Ihrem rechten Auge als „klaffendes Nichts“ … * Oliver Sacks: „Das innere Auge“. Rowohlt Verlag, Hamburg; 288 Seiten; 19,95 Euro. Das Gespräch führten die Redakteure Philip Bethge und Rafaela von Bredow.
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JÜRGEN FRANK / DER SPIEGEL
Der New Yorker Neurologe und Autor Oliver Sacks über die Halluzinationen der Blinden, die Faszination der räumlichen Tiefe und ein klaffendes Nichts in seinem rechten Auge
Oliver Sacks erlangte Berühmtheit durch Bücher wie „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ oder „Awakenings: Zeit des Erwachens“. Der 77-jährige Brite schildert darin die Fallgeschichten seiner Patienten. Sie leiden an neurologischen Ausfällen und Gebrechen wie Parkinson, Autismus oder dem Tourette-Syndrom, sie kommen zu dem in Manhattan praktizierenden Arzt, weil sie nicht mehr lesen, aber noch schreiben können, oder weil sie zwar sehen, aber nichts mehr erkennen können. Jetzt hat Sacks ein neues Buch geschrieben, in dem es um die Paradoxien des Sehsinns geht*. Sacks: Warten Sie, ich zeige Ihnen, wie er aussieht, ich habe eine Zeichnung gemacht … Hier, mein blinder Fleck hat mehr oder weniger die Form von Australien. Er bereitet mir viel Ärger, zum Beispiel wenn er Menschen oder Laternenpfähle verdeckt und ich mit ihnen kollidiere. Aber er lässt mich auch manches Mal staunen. Einmal betrachtete ich mit meinem rechten Auge meinen Fuß, der blinde Fleck amputierte ihn praktisch am Knöchel. Als ich den Fuß dann ein bisschen bewegte, erschien an dem Stumpf ein durchscheinender rosa Auswuchs mit einem gespenstischen protoplasmatischen Schein. Ich wackelte weiter mit den Zehen. Und siehe da, die Form wurde immer deutlicher, bis ich nach etwa einer Minute D E R
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einen kompletten Phantomfuß vor mir hatte. SPIEGEL: Sie sind auf die Behandlung von Patienten mit neurologischen Erkrankungen spezialisiert – jetzt sind Sie selbst zur Fallstudie geworden … Sacks: Ja, eine dunkle Ironie des Schicksals. Dreidimensionales Sehen zum Beispiel, das nur mit zwei Augen wirklich möglich ist, war mir schon immer besonders wichtig. Seit ich zehn war, liebe ich 3-D-Fotografie und Stereogramme. Für viele Menschen mag das trivial klingen, vielleicht ist auch Ihnen Ihr dreidimensionales Sehen nicht so bewusst. Aber für mich ist dieser Verlust wirklich schlimm. SPIEGEL: Das Gehirn hat andere Möglichkeiten, Tiefe zu berechnen: anhand von Perspektive, Bewegung, Schatten. Menschen, die nur noch mit einem Auge sehen können, fahren sogar Motorrad. Sacks: Aber sie können Tiefe nicht wirklich erfahren! Und sie wissen nicht, was sie verpassen. Ich habe einmal eine schielende Bekannte von mir, Sue Barry, gefragt, ob sie sich dreidimensionales Sehen vorstellen könne. Sie sagte: „Natürlich kann ich das.“ Ein paar Jahre später lernte sie es tatsächlich: Sie bekam eine Spezialbrille, machte eine Sehtherapie – und fand sich in einer für sie wahrhaft spektakulären Welt wieder. Niemand ohne dreidimensionale Sehfähigkeit kann sich vorstellen, wie die Welt in 3-D aussieht – genauso wenig, wie sich ein Farbenblinder vorstellen kann, was Farbe ist. SPIEGEL: In all Ihren Fallstudien taucht ein gemeinsames Motiv auf: die bemerkenswerte Fähigkeit des Gehirns, Defekte auszugleichen und sich anzupassen. Wie gut klappt das bei Ihnen selbst? Sacks: Letztlich nicht sehr gut. Ich gehe jetzt mit einem Stock, weil zum Beispiel hohe Bordsteinkanten eine besondere Gefahr für mich darstellen – sie sehen für mich aus wie bloße Linien. In einem vollgestopften Zimmer sehe ich keine einzelnen Objekte, sondern sich überlappende Oberflächen. Ich wünschte, malen zu können, weil die Welt sich mir flach wie eine Leinwand präsentiert, bepinselt mit Farben und Formen. SPIEGEL: Wie viel kann ein Gehirn kompensieren, oder anders gefragt: Wie bunt kann die Welt eines Blinden sein? Sacks: Sogar sehr bunt! Zoltan Torey zum Beispiel, ein Australier, mit dem ich Kon-
Optische Illusionen lassen ahnen, wie das Gehirn aus den Projektionen, die sich auf die Netzhaut brennen, ein Bild der Welt zusammensetzt: Es verleiht dem Spiel von Licht und Schatten Sinn, indem es die Informationen verknüpft mit Erfahrung und Wissen – und dann seine Version der Wirklichkeit errechnet. Denn in der Evolution hat sich nicht der bewährt, der erkennen konnte, dass zwei Brauntöne identisch sind, wie in diesem Würfel. Es überlebte, wer erkennen konnte, wie dunkel etwa ein Raubtierfell im Schatten wirkt.
Ebenso wichtig ist es zu erkennen, welche Form Objekte im Raum tatsächlich haben. Wie diese vier Figuren: Zwar handelt es sich – auf der Zweidimensionalität des bedruckten Papiers – um rechte Winkel. Doch zusätzliche Informationen wie Schatten, Licht und Perspektive legen nahe, dass die Winkelarme im dreidimensionalen Raum unterschiedlich weit auseinanderklaffen.
FOTOS: R. BEAU LOTTO
Es ist kaum zu glauben: Zwar steht die rote Fläche quer zur grünen, ansonsten aber haben sie dieselben Maße, die gelbe und die blaue Linie verraten es. Doch das Gehirn deutet beide perspektivisch und erkennt deshalb zwei verschiedene Möbel: Der grüne Tisch wirkt rechteckig, der rote quadratisch.
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Wissenschaft takt habe und der mit 21 bei einem Ar- beschrieben: wie er eines Morgens in ei- Sacks: Vermutlich nicht. Obwohl ich bebeitsunfall erblindete, schockierte seine nem fremden Raum aufwacht und nicht merkt habe, dass Sie beide großgewachNachbarn damit, dass er nachts die Re- mehr weiß, wo er ist und wer er ist. „Er- sene Menschen sind – aber davon gibt es genrinnen am Dach seines Hauses erneu- innerung ist das Seil, heruntergelassen ja leider eine ganze Menge (lacht). erte. Derart detailliert kann er sich Dinge vom Himmel“, sagt er. Bei Lillian jedoch SPIEGEL: Warum ist es für das Gehirn so vorstellen, dass er so etwas hinkriegt! kommt die Erinnerung eben nicht mehr schwer, sich etwas aus der visuellen Welt zusammenzureimen? Wenn Sie mit Zoltan sprechen, haben Sie vom Himmel herab. nicht das Gefühl, dass er blind ist. Er malt SPIEGEL: Wie hat Ihnen Lillian Kallir ihre Sacks: Weil dafür die Orchestrierung von 40 oder 50 verschiedenen Gehirnarealen sich seine Gesprächspartner so gut aus, Erfahrungen geschildert? dass er sie tatsächlich anschaut. Aller- Sacks: Die gesamte visuelle Welt verwirrte notwendig ist, die mit Begrifflichkeit, Asdings wird er es natürlich nicht bemerken, sie. Einmal verwechselte sie meine Arzt- soziation und Emotion verknüpft sind. wenn man ihm unhörbar den Rücken zu- tasche mit ihrer eigenen Tasche, obwohl Glücklicherweise sind wir kein leeres beide völlig unterschiedlich aussahen. Aber Blatt, wenn wir geboren werden. Wir hakehrt. SPIEGEL: Er erschafft sich eine virtuelle Lillian fand Wege, damit zu leben. Zu Hau- ben bereits alle möglichen Potentiale, und Realität? se organisierte sie ihre Sachen nach Farbe diese müssen durch Erfahrung weiterentSacks: Nein. In seiner Welt gibt es wickelt werden. Mich fasziniert zum zum Beispiel nicht alle Details. VorBeispiel, dass wir lesen können, obstellungskraft kann nie so reichhaltig wohl die Evolution unser Hirn nicht sein wie die Wirklichkeit. Zoltan darauf hingetrimmt hat; das Lesen ist nutzt die Informationen, die ihm zur erst vor etwa 5000 Jahren erfunden Verfügung stehen – da er nicht von worden. Der Grund, warum wir es Geburt an blind ist, baut er auf seine doch lernen konnten, liegt in der uns visuellen Erinnerungen. innewohnenden Fähigkeit, Formen SPIEGEL: Kann also im Prinzip jeder, zu erkennen. SPIEGEL: Nehmen wir an, wir könnten der später im Leben erblindet, den die Prozesse der Wahrnehmung, der Sehverlust mit mehr oder weniger Sprache und des Denkens vollständig guter Imagination kompensieren? Sacks: Nicht unbedingt. John Hull, verstehen. Wären wir dann in der einer meiner Briefpartner, erblindete Lage, die innere Welt einer anderen als Mittvierziger. Er beschreibt seinen Person zu betreten und uns in deren Zustand als eine „tiefe Blindheit“ – Geist hineinzuversetzen? als das völlige Fehlen jeglicher Bilder. Sacks’ Notizen*: „Ein Nichts in der Form Australiens“ Sacks: Eine primitive Form des Gedankenlesens ist ja heute bereits mögZwei Jahre nach seiner Erblindung konnte er sich kein Bild mehr von seiner oder Position. So konnte sie viele Dinge lich – mit den bildgebenden Verfahren in Frau oder seinen Kindern machen. Er identifizieren, obwohl sie sie nicht mehr der Medizin. Wenn Menschen sich ein konnte nicht einmal mehr sagen, wie her- erkannte. Sie verfügte auch noch über gro- Musikstück oder eine Farbe vorstellen be Kategorien. Einmal zeigte ich ihr eine oder ein Gedicht im Kopf aufsagen, lässt um man die Ziffer Drei schreibt. SPIEGEL: Vermisst er die Bilder? kleine Tierfigur, einen Wolf. Sie erkannte sich Aktivität in ganz bestimmten GehirnSacks: Nein, er scheint seinen Zustand ihn nicht. Aber sie dachte, dass es sich um arealen nachweisen. Anspruchsvollere sogar zu genießen. Für ihn ist seine Welt ein Elefantenbaby handeln könnte. Ihr war Gedankenleserei wird allerdings niemals authentisch und autonom. Er beschreibt also klar, dass es ein Tier war. Realität werden, weil jeder Mensch neu SPIEGEL: Sie haben einmal gesagt, das Ge- und einzigartig ist. Das Gehirn jedes Einsie als „konzentriertes Menschsein“. SPIEGEL: Sind Sie überrascht, dass ver- hirn sei ein „Orchester, das sich selbst di- zelnen entwickelt sich auf ganz spezifischiedene Menschen so unterschiedlich rigiert, mit ständig wechselnder Partitur“. sche Weise. Selbst wenn man – theoreauf vergleichbare Umstände reagieren? Wie oft patzt dieses Orchester? tisch – die eigenen Gehirnzellen in den Sacks: Ursprünglich war ich tatsächlich Sacks: Ich glaube, dass die meisten von Kopf eines anderen übertragen könnte, perplex. Aber mir wurde klar, dass diese uns Fehler bei der Interpretation der Welt hätte dieser andere keine Ahnung, was er beiden Fälle – und ich kenne Dutzende machen. Ich zum Beispiel habe eine damit anfangen soll. Blinde – Extreme sind. Verschiedene Schwäche, die mich mit sehr vielen Men- SPIEGEL: Warum nicht? Menschen passen sich auf unterschiedli- schen verbindet: Ich finde es überaus Sacks: Weil die Sprache der Einzigartigche Weise an – zum Beispiel halluzinieren schwierig, Gesichter zu erkennen – eine keit und Subjektivität niemals durch die 10 bis 15 Prozent der Erblindeten, und ziemlich peinliche Sache. Man fürchtet Sprache der Physiologie ersetzt werden zwar in großem Stil: Gesichter, Szenen, ständig, dass die Leute denken, man habe wird. Wenn Sie zum Beispiel an einen Tiere. Andere Blinde dagegen halluzinie- kein Interesse oder man sei nicht auf- wundervollen Moment Ihres Lebens denren überhaupt nicht. merksam genug. Dabei hat das Erkennen ken – vielleicht als Sie 22 und verliebt SPIEGEL: Eine Ihrer Patientinnen, die Mu- von Gesichtern gar nichts mit Aufmerk- waren, der Mond an einem sternklaren sikerin Lillian Kallir, verlor die Fähigkeit, samkeit zu tun. Es geschieht im Unter- Himmel aufging und alles einfach fabelNoten zu lesen – und das, obwohl ihre bewussten. Wer gesichtsblind ist, muss haft war –, wie prägt sich ein solcher Augen gesund waren. Später konnte sie daher lernen, auf Kleinigkeiten zu achten; Moment ins Gehirn ein? Wir wissen es keine Worte mehr deuten und keine Ob- etwa darauf, wie Menschen gekleidet nicht. Unsere Methoden sind so grob. Es jekte identifizieren. Was geschieht, wenn sind, wie sie stehen, wie sie sich bewegen gibt Millionen und Abermillionen Neunicht das Auge, sondern der Geist die Fä- oder wie sich ihre Stimme anhört. ronen mit Zehntausenden Verbindungen SPIEGEL: Würden Sie uns erkennen, wenn zu anderen Neuronen. Unsere medizinihigkeit zu sehen verliert? Sacks: Als Lillian mir schrieb, war sie sehr Sie uns fünf Minuten nach diesem Ge- sche Bildgebung wird zwar immer besser. verwirrt. Sie fragte: „Warum kann ich spräch im Aufzug träfen? Aber ich glaube nicht, dass sie jemals gut winzige Buchstaben sehen, aber nicht genug werden kann, um dem Kosmos des „Filling in starts from the periphery“ („Das Ausfüllen deren Sinn verstehen?“ Das ist Wahrneh- *beginnt Gehirns gerecht zu werden. von außen“). Gemeint ist, wie das Gehirn den mung ohne Bedeutung. Ich glaube, jeder blinden Fleck mit einem Muster ausfüllt, das dem tat- SPIEGEL: Dr. Sacks, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. kennt dieses Gefühl. Proust hat es einmal sächlich in der Peripherie gesehenen gleicht. 130
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Technik U M W E LT
Barmherzige Juroren Der ADAC prämiert das „Auto der Zukunft“. Sieger ist ein Toyota. Zwei deutsche Modelle kamen unter die ersten fünf – aber nur dank einer Ausnahmeregelung.
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it gut 17 Millionen Mitgliedern ist der Allgemeine Deutsche Automobilclub (ADAC), nach der römisch-katholischen und der evangelischen Kirche, die drittgrößte Glaubensgemeinschaft Deutschlands. Als Trumpf setzt er auf seine zuverlässige Lebenshilfe, im Straßenwesen auch Pannendienst genannt. Zu Jahresbeginn verbreitet der größte Autofahrerverband Europas traditionell eine Art frohe Botschaft und bedient sich dabei ungeniert klerikaler Anleihen. Die Veranstaltung heißt „Gelber Engel“, Schauplatz ist die Allerheiligen-Hofkirche der Münchner Residenz.
tikers. Sein Technikleiter Kolke war früher beim Umweltbundesamt im Team des legendären Industrieschrecks Axel Friedrich. Die heimischen Hersteller zu hätscheln soll seine Mission nicht sein. Das „Auto der Zukunft“ ist ein Japaner. Der Preis wird an die Hybridversion des Toyota-Kompaktwagens Auris gehen, was nicht besonders originell, sachlich aber gut begründbar ist. Die Auslese erfolgte in einer Abfolge objektiver Kriterienraster, deren erstes ein sehr grobes Sieb war: In die Wahl kamen zunächst Autos, die ‣ im Handel erhältlich sind; ‣ über einen „alternativen Antrieb“ verfügen, womit alles gemeint ist, was mehr als ein konventioneller Benzinoder Dieselmotor ist; ‣ zumindest eine „Start-Stopp-Automatik“ haben, die den Motor abstellt, wenn das Auto steht. Diese Hürde nahmen 431 Autos. Es folgten weitere Anforderungen, die das Feld schrittweise dezimierten: Die Autos mussten den derzeit strengsten Schadstoffklassen Euro 5 und Euro 6 (für Diesel) entsprechen und einen Kohlendioxidausstoß von 120 Gramm pro Kilometer (entsprechend 5,2 Liter Benzinverbrauch pro 100 Kilometer) im europäischen Normtest nicht überschreiten.
Grün gewinnt
einziges nur von Batterien angetriebenes Fahrzeug erreichte das Finale. Das „Auto der Zukunft“ ist ein Fahrzeug mit Mischantrieb aus Benzin- und Elektromotor, wie Toyota ihn seit nunmehr gut einem Jahrzehnt anbietet, ausgereift, alltagstauglich, sparsam und nicht zu teuer. Der Auris Hybrid kostet 22 950 Euro, hat 136 PS, Platz für fünf Personen mit Gepäck und verbraucht im Normtest nur 3,8 Liter Benzin auf 100 Kilometer. Das zusammen ergab Note 2,33 – den mit Abstand besten Wert im Zukunftstest. Immerhin zwei deutsche Fabrikate schafften es unter die fünf ersten Ränge – allerdings nur dank eines gewissen Patriotismus der ADAC-Juroren, die den Bewertungsmodus ein wenig biegsam gestalteten. Auf Platz zwei setzt der ADAC einen VW Touran mit Erdgasmotor, danach folgt ein 3er BMW mit Dieselmotor und Start-Stopp-Automatik. Beide emittieren im Normtest über 120 Gramm Kohlendioxid pro Kilometer und kamen nur dank einer Ausnahmeregelung in die Wertung, nach der den Autos höherer Fahrzeugklassen größere Milde widerfährt. Überdies platzierte die Jury die Deutschen trotz schlechter Gesamtnoten von 5,0 (BMW) und 5,33 (VW) vor dem Honda-Hybridwagen Insight, der deutlich
2 VW Touran 1,4 TSI EcoFuel
3 BMW 320d BluePerformance
Erdgas/4,7 Kilogramm
Diesel/4,7 Liter
3 Fiat 500 TwinAir Start&Stopp
5 Honda Insight 1,3 Hybrid
Super/4,1 Liter
Super/4,4 Liter
Platzierungen* beim ADAC-Preis „Auto der Zukunft“ *Platz 3 wurde zweifach vergeben
1 Toyota Auris 1,8 Hybrid KKraftstoff: Super/ Verbrauch je 100 km: 3,8 Liter
Am Donnerstag dieser Woche wird der ADAC die Vorstände der Fahrzeugbranche wieder an diesen Ort bitten, um Autos für ihre „Qualität“, „Innovation“ oder „Persönlichkeit“ zu ehren. Diesmal allerdings erweitert der Club seine Kompetenz. Erstmals prämiert er ein „Auto der Zukunft“. Dieser Titel soll an jenes Fahrzeug vergeben werden, das im höchsten Maß „umweltfreundlich, nachhaltig und zukunftsfähig“ ist, sagt ADAC-Cheftechniker Reinhard Kolke. Der Verband will damit einen weltanschaulichen Wandel dokumentieren und so dem Image des Industrielobbyisten entfliehen, der einst „freie Fahrt für freie Bürger“ predigte und Front machte gegen den ökobeseelten Autofeind. Der ADAC übernimmt nun selbst die Rolle des Kri-
Hinzu kam die Zielsetzung, „keine Bastellösungen zu prämieren“ (Kolke). Die Autos mussten Mindestanforderungen an Sicherheit erfüllen, etwa Airbags und ESP haben; in Anschaffung und Betrieb mussten sie hinreichend wirtschaftlich sein, nach ADAC-Kostenberechnung mit einer besseren Note als 3,5 abschneiden. Und zuletzt galt es noch, zentrale Akzeptanzkriterien zu erfüllen: ausreichend Passagier- und Laderaum, akzeptable Reichweiten und Tank- oder Ladezeiten. An diesen Kriterien scheiterten sämtliche Elektroautos. Zwar meisterten zumindest der Mitsubishi i-MiEV und die baugleichen E-Mobile von Peugeot und Citroën, wenngleich nur haarscharf, die Wirtschaftlichkeitshürde. Doch flogen diese dann im Akzeptanztest raus. Kein D E R
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sparsamer ist und mit Note 3,33 eigentlich weit besser abschnitt. Die Bewertung, räumt Kolke ein, habe „auch politische Gründe“. Man sei bewusst nicht dem starren Punktesystem gefolgt, um etwa die Sparerfolge von BMW zu würdigen oder Volkswagens Festhalten am Erdgasauto. Dieses erlaube den Einsatz von Biomethan, was ökologisch weniger bedenklich ist als Ethanol oder Raps-Diesel. Die Zukunft ist ein weites Feld, und die heimische Industrie wird in der Hofkirche ein wenig christliche Barmherzigkeit von ihrem ADAC erfahren, gepaart mit etwas Wahrheit: „Die Importeure“, sagt Kolke, „sind den deutschen Herstellern bei alternativen Antrieben ein deutCHRISTIAN WÜST liches Stück voraus.“ 131
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Jeden Tag. 24 Stunden. MONTAG, 10. 1., 23.00 – 23.30 UHR | SAT.1 SPIEGEL TV REPORTAGE
Vom Schutzmann zum Hassobjekt, Teil 2
Respektlosigkeit, Beschimpfungen, Gewalt: All das begegnet Polizeibeamten bei ihrem Dienst auf den Straßen deutscher Großstädte. Knapp ein Drittel aller Polizisten wurde 2009 im Dienst getreten oder verletzt, häufig im Routineeinsatz. Gerade bei Jugendlichen hat der einstige „Freund und Helfer“ kaum noch Autorität. DIENSTAG, 11. 1., 22.15 – 23.00 UHR | ZDF 37 GRAD DARREN WHITESIDE / REUTERS
Immer mit Herzblut. Lehrer: mehr als ein Job
Orthodoxe Juden, Touristinnen in Jerusalem: Kontraste in der Heiligen Stadt
MULTIMEDIA | Gelobtes Land, zerrissenes Land In Ost-Jerusalem ringen Siedler und Palästinenser um Baugebiete, in Tel Aviv wird gefeiert: Der Nahe Osten pendelt zwischen Lebensfreude, alltäglicher Gewalt und politischer Dauerkrise. SPIEGEL-ONLINE-Videoreporter haben Israel und die besetzten Gebiete bereist. Ein Multimedia-Spezial.
PANORAMA | Preis des Übersinnlichen Eine Kartenlegerin versprach einem Mann Hilfe in einer schweren Lebenskrise. 35 000 Euro verdiente sie damit, weitere 6700 Euro wollte der Kunde nicht mehr zahlen. Haben Wahrsager und Hellseher Anspruch auf ein Honorar? Der Bundesgerichtshof entscheidet.
WIRTSCHAFT | Die Pflege-Nation Tagsüber arbeiten, morgens und abends die alte Mutter pflegen: Viele Beschäftigte kümmern sich neben dem Beruf um ihre Angehörigen. Ein SPIEGEL-ONLINE-Report zeigt, wie der demografische Wandel für Deutschland zur Mammutaufgabe wird.
45 000 fehlende Lehrkräfte, Belastungen durch die verkürzte Schulzeit bis zum Abitur, fast jeder 13. Schüler in Deutschland verlässt die Schule ohne Abschluss. Die Situation für die 700 000 Lehrer in Deutschland hat sich massiv verändert. SPIEGEL TV hat ein Jahr lang zwei Pädagogen begleitet, um zu erfahren, welchen Belastungen sie ausgesetzt sind. SAMSTAG, 15. 1., 23.20 – 1.10 UHR | VOX DIE SAMSTAGSDOKUMENTATION
„Schindlers Liste“ – eine wahre Geschichte
Die Figuren aus dem Film „Schindlers Liste“ von Regisseur Steven Spielberg entsprechen nur zum Teil den historischen Personen und ihren Schicksalen. In Israel führte SPIEGEL-TV-Autorin Kathrin Sänger In-
KULTUR | Exportschlager Waltz Für seine Rolle in „Inglourious Basterds“ erhielt er einen Oscar, nun kehrt Christoph Waltz als Bösewicht in der Comic-Verfilmung „The Green Hornet“ zurück. Im Interview spricht er über den Reiz der Schurkenrolle und seine Erfahrungen mit dem Hollywood-Betrieb.
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| In Erwartung des Todes Anfang 2009 kollidierte ein Airbus A320 in New York mit einem Schwarm Gänse, beide Triebwerke versagten – aber Flugkapitän Chesley Sullenberger gelang die Notwasserung auf dem Hudson River. Auf einestages.de erzählt einer der Passagiere von den bangsten Minuten seines Lebens.
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Schindlers Liste (Ausriss)
terviews mit Überlebenden. Sie konnte das titelgebende, noch erhaltene Originaldokument einsehen und hat sich in Polen auf die Suche nach der wahren Geschichte des Fabrikanten Oskar Schindler begeben, der im Zweiten Weltkrieg Juden vor der Ermordung durch die Nazis rettete. SONNTAG, 16. 1., 23.15 – 24.00 UHR | RTL SPIEGEL TV MAGAZIN
Hilfe, ich will hier raus! – Promis in der Schuldenfalle; Naturschutz contra Klimaschutz – der Kampf um die Windmühlen; Das Wundertier „Axolotl“ – neue
Hoffnung für Querschnittsgelähmte. 2 / 2 0 1 1
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LANGBEHN / ACTION PRESS
fang an „ein Bedürfnis nach Bejahung“ gehabt, hat sie von sich gesagt. Und so konnte die Schriftstellerin nicht nur mit dem DDR-Staat im Einvernehmen leben, sondern auch ihren naturverbundenen Gedichten einen lebensfreundlichen und versöhnlichen Ton einschreiben. Vornehmlich das Ostpublikum hat es ihr gedankt und sie zum Lyrikstar gemacht: Die Auflage ihrer Bücher beträgt bis heute mehr als zwei Millionen Exemplare. Zusammen mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Erwin Strittmatter („Der Laden“), bezog sie 1954 ein Anwesen im Dorf Schulzenhof im Landkreis Oberhavel (Brandenburg). Ihre erste Sammlung von Gedichten erschien erst 1973, unter dem Titel „Ich mach ein Lied aus Stille“. Neben zahlreichen weiteren Lyrikbänden veröffentlichte die Autorin auch Kinderbücher und in drei Bänden „Briefe aus Schulzenhof“. Eva Strittmatter starb am 3. Januar in Berlin. 134
SUNSHINE / ACTION PRESS
WALTER SCHMIDT / NOVUM
Eva Strittmatter, 80. Sie habe von An-
DAVID REDFERN / REDFERNS
Fritz Tobias, 98. Der Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 wurde dem umtriebigen und streitbaren Berliner zum Lebensthema. Adolf Hitler war wenige Wochen zuvor Reichskanzler geworden und hatte den Brand als Vorwand benutzt, um wesentliche Grundrechte außer Kraft zu setzen und den Rechtsstaat zu liquidieren. Viele Beobachter glaubten daher, die Nazis hätten das Gebäude angesteckt – und nicht der dafür verurteilte und 1934 hingerichtete holländische Anarchist Marinus van der Lubbe. Aus persönlichem Interesse durchforstete Tobias nach dem Krieg Akten und sprach mit Zeitzeugen, darunter den 1933 ermittelnden Beamten. Daraufhin gab es für den „Amateurhistoriker“ (Tobias über Tobias) keinen Zweifel an der Alleintäterschaft van der Lubbes. 1959/60 publizierte der beim Verfassungsschutz in Hannover tätige Tobias seine These in einer Serie im SPIEGEL und begründete damit einen erbittert ausgetragenen Historikerstreit, der bis heute andauert. Die führenden NS-Forscher teilten freilich seine Schlussfolgerungen. Fritz Tobias starb am 1. Januar.
Deutschland unterwegs – ein freier Geist, von der Diplomatenschule abgelehnt – der jeglichen Extremismus mit Spott zur wegen mangelnder Wirtschaftskenntnis- Strecke brachte. Wer ihm zuhörte, wurde se. Die erwarb er sich dann, als er 1955 heiter und klüger zugleich. Gad Granach eine Laufbahn bei der Deutschen Bank starb am 6. Januar in Jerusalem. einschlug. Der promovierte Jurist leitete später eine Filiale in seiner Heimatstadt Pete Postlethwaite, 64. Der britische Hamburg und rückte 1972 in den Vor- Schauspieler stellte oft Figuren dar, an stand der Frankfurter Zentrale auf. Van denen sich andere abarbeiten mussten. Hooven entwickelte als neuartiges Zah- Etwa den unerbittlichen Dirigenten eines lungsmittel den Euroscheck und die EC- Blasorchesters in dem Film „Brassed Off“ Karte mit und revolutionierte so den (1996). Eigentlich wollte Postlethwaite europäischen Zahlungsverkehr. Neben Priester werden und hätte in diesem dem Bankwesen war er der Politik eng Beruf womöglich viele Menschen zum verbunden. Gleich nach dem Zweiten Glauben gebracht. So aber spielte er Weltkrieg trat van Hooven 1945 in die Männer, die sich nicht abbringen ließen von ihrem Glaugerade erst entstehende CDU ein. Sehr ben an Gott oder an viel später, als Pensionär, kandidierte er die eigenen Vorsätze, für den Bundestag, wenn auch ohne Erwie etwa der Vater folg. Eckart van Hooven starb am 28. Deeines IRA-Aktivisten zember in Hamburg. im Nordirland-DraGerry Rafferty, 63. Glücklich schätzt sich ma „Im Namen des der Songwriter, dem ein Welthit gelingt. Vaters“ (1993). HatRafferty schaffte sogar anderthalb: „Baten seine Figuren keiker Street“ von 1978 war einer der Softne guten Absichten, rock-Superhits, der konnte Postlethwaite Song mit dem wohl ungemein gefährlich bekanntesten Saxo- aussehen. Im Thriller „Die üblichen Verfonsolo der Popge- dächtigen“ (1995) wirkte sein kantiges schichte. Vorher hatte Gesicht mit den prägnanten Wangener mit seiner Band knochen, als wäre es für die schlimmsStealers Wheel aber ten Alpträume gemacht. Der Regisseur schon „Stuck in the Steven Spielberg bezeichnete den ChaMiddle with You“ ver- rakterdarsteller, der vor kurzem noch öffentlicht, ebenfalls im Blockbuster „Inception“ zu sehen bis heute ein Radio- war, einmal als den „besten Schauspiehit. Der Musiker kam ler der Welt“. Pete Postlethwaite starb aus der schottischen Folkrock-Szene, dort am 2. Januar im englischen Bishop’s hatte er sein Handwerk gelernt. Doch der Castle. Erfolg hielt nicht an. Raffertys Solokarriere schwamm nach dem Triumph von Bobby Farrell, 61. Dass Popstars sich für „Baker Street“ im Alkohol davon. Gerry Plattenaufnahmen fremde Stimmkraft leiRafferty starb am 4. Januar in der Nähe hen, kommt durchaus gelegentlich vor. Dass jemand als Frontmann aber kaum von Bournemouth. einen Ton selbst einsang, war schon ungeGad Granach, 95. Man hielt ihn für den wöhnlich, zumal in den siebziger Jahren. besten Witze-Erzähler Jerusalems, und Tatsächlich war die erste Single von Boer wurde diesem Ruf bis zuletzt gerecht. ney M. schon fertig, bevor es die Gruppe 1936 wanderte der als Gerhard Granach gab. Der deutsche Produzent Frank Farian in Rheinsberg geborene Sohn des Schau- brauchte Darsteller für seinen Song „Baby, spielers Alexander Granach nach Paläs- Do You Wanna Bump“ und fand den aus tina aus und trug dort als Kibbuznik, als der Karibik stammenden Tänzer Bobby Lokführer und Traktorist, als Hilfspolizist Farrell. Von 1976 bis 1984 hatten Boney und als Leiter eines Kinderheims zum M. zahlreiche Hits, etwa „Daddy Cool“ Aufbau des Landes bei, das nicht ganz und „Rivers of Babylon“. Mitte der achtso wurde, wie er es sich wünschte: „Dieziger Jahre trennten ses Land zieht wie ein Magnet Verrückte sich Boney M., Farrell an. Wenn man ein Dach darüberziehen trat jedoch weiter unwürde, wäre es eine geschlossene Anter dem Namen auf, stalt“, heißt es in seiner fesselnden Autoobwohl Farian verbiografie „Heimat los!“. Granach, nach suchte, ihm das zu eigenem Bekunden entgegen philosemitiverbieten. Bobby Farschem Vorurteil „weder fleißig noch musirell starb am 30. Dekalisch“, war seit seiner Pensionierung als zember in einem Hoernstzunehmender komischer Entertaitelzimmer in St. Pener in Israel und immer wieder auch in tersburg. STEFAN WERMUTH / REUTERS
Eckart van Hooven, 85. Einst wurde er
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Minaj
Nicki Minaj, 26, neuer Stern am HipHopHimmel, träumt von einer HollywoodKarriere. Das sagte die als Onika Tanya Maraj in Trinidad geborene Musikerin dem amerikanischen Männermagazin „King“, für dessen nächste Ausgabe sie als Covergirl posiert. Minaj, die im vergangenen Jahr die US-Hitlisten stürmte, weiß auch schon, welche Rollen sie gern spielte: Für den exzentrischen Regisseur Tim Burton würde sie ausgefallene Kostüme tragen, dann eine Actionheldin à la Angelina Jolie geben und schließlich ein „ganz normales Mädchen“ mimen, eines, mit dem sich junge Frauen „auf der ganzen Welt“ identifizieren können. Was für sie „ganz normal“ bedeutet, ließ Minaj offen. Ihre privaten Bedürfnisse orientieren sich allerdings nicht an gängigen Normen. Nach ihrem Idealmann gefragt, antwortete die Rapperin: „Ich suche jemanden, der seine Frau achtet, aber auch fähig ist, den Freak in ihr herauszulocken.“ Um das zu erreichen, müsse ihr Traumtyp „einfach mal zum richtigen Zeitpunkt super aggressiv sein“. Valéry Giscard d’Estaing, 83, französischer Staatspräsident von 1974 bis 1981 und Hobby-Schriftsteller, blamierte sich bei der Académie française. D’Estaing, seit 2003 einer der 40 „Unsterblichen“, wie die Mitglieder der 1635 gegründeten Institution zur Pflege der französischen Sprache genannt werden, erregte Unmut bei der Präsentation seines neuen Romans („La victoire de la Grande Armée“). In dem Werk lässt er sein Idol Napoleon Bonaparte den Russlandfeldzug gewinnen und statt in der Verbannung auf Sankt Helena als „Kanzler Europas“ in Straßburg enden. Der Ex-Präsident schickte seinen Akademie-Kollegen je ein 136
sche Primaballerina und Erdbebenopfer, beeindruckt durch unerschütterlichen Optimismus. Anfang vergangenen Jahres hatte die Tänzerin durch Betontrümmer so schwere Quetschungen erlitten, dass ihr Bein unterhalb des rechten Knies amputiert werden musste. Nur Wochen später sagte Jean, alles, was sie wolle, sei, wieder tanzen zu können. Eine Hilfsorganisation kümmerte sich um die medizinische Versorgung der Künstlerin, die bis zu der Naturkatastrophe am Nationaltheater von Port-au-Prince auf der Bühne stand. Die junge Frau trägt heute eine Prothese und trainiert mehrmals in der Woche Ballettfiguren. In Kürze soll Jean eine Spezialanfertigung erhalten, mit der sie tatsächlich wieder tanzen könnte. Die Haitianerin ist dankbar – und realistisch: „Dass ich jemals wieder als Profitänzerin meinen Unterhalt verdiene, ist ausgeschlossen. Also muss ich mir etwas anderes überlegen.“ Eine Modeboutique zu eröffnen könne sie sich vorstellen – oder eine Tanzschule.
DAMON WINTER / REDUX / LAIF
CHRIS GORDON / CORBIS
Fabienne Jean, 32, ehemalige haitiani-
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Wladimir Tolstoi, 48, Ururenkel des russischen Literaten Leo Tolstoi, erlitt im Kampf um die kirchliche Rehabilitierung seines berühmten Ahnen einen erneuten Rückschlag. 1901 war sein Vorfahre, Autor des Jahrhundertwerks „Krieg und Frieden“, von der russisch-orthodoxen Kirche wegen Gotteslästerung exkommuniziert worden. Nachkomme Wladimir hatte bereits vor zehn Jahren vergebens darum gebeten, die Strafe aufzuheben – Leo Tolstoi galt schließlich als tief gläubiger Mann. Der Brief blieb ohne Reaktion. Vor kurzem schrieb der ehemalige russische Premierminister, Sergej Stepaschin,
JAMES HILL / LAIF
persönliches Exemplar mit Widmung. Beim Vergleich der Botschaften trauten die Beschenkten ihren Augen nicht: Der Romanautor hatte die Widmungen mit einer Stempelmaschine eintragen lassen; Inhalt wie Schriftbild waren in allen Büchern identisch. „Welch Rüpelhaftigkeit“, entfuhr es einem wütenden Angehörigen der ehrwürdigen Institution. Konsequenzen muss d’Estaing allerdings nicht fürchten: Die Mitglieder der Académie française sind auf Lebenszeit gewählt.
Tolstoi
an das Oberhaupt der orthodoxen Kirche und bat ebenfalls um Vergebung für den Nationaldichter. Er immerhin bekam eine Antwort, die als offener Brief in einer Moskauer Zeitung erschien. Darin war zu lesen, es sei Gläubigen zwar gestattet, den Schriftsteller in ihre Gebete einzuschließen und seine Werke zu lesen; eine Kerze für dessen Seelenheil im Gotteshaus anzuzünden bleibe indes verboten.
Dirk Niebel, 47, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit (FDP), leidet an Stil und Stimmung in der Politik. Früher habe er Rugby gespielt, „also Raufen nach Regeln“, und dabei gehe es „fairer zu als in der Politik“, sagte der Minister vergangene Woche am Rande des traditionellen Dreikönigstreffens der Liberalen in Stuttgart. Gefragt, welche Hoffnungen er für das neue Jahr hege, gab Niebel drei Wünsche preis. Die in Umfragen um fünf Prozent dahinsiechende FDP möge bei der anstehenden Wahl in Hamburg wieder in die Bürgerschaft einziehen und die deutsche Frauenfußball-Nationalmannschaft während der Weltmeisterschaft im eigenen Land „viele wunderschöne Tore schießen“. Außerdem drücke er der erneut für den European Song Contest antretenden Lena Meyer-Landrut die Daumen für einen weiteren Sieg. Denn Lena, so der Top-Liberale, habe „gute Stimmung gemacht“, und das sei „mit Geld nicht zu bezahlen“.
Yorker Nachtleben als Discjockey. Die Actiondarstellerin („Girlfight – Auf eigene Faust“, „Avatar“) tritt mit professioneller Ausstattung, einem Gitarristen und einem Violinisten in Clubs wie dem Chelsea Room auf. Stundenlang steht sie dann an ihrem Laptop, mixt Sounds und spielt ihre Lieblingssongs. Die dunkle Schönheit mit Knasterfahrung – wegen Verstößen gegen Bewährungsauflagen nach Alkoholfahrten musste Rodríguez mehrmals kurzzeitig ins Gefängnis – bevorzugt Musik aus den achtziger und neunziger Jahren. Einer, der es wissen muss, zeigte sich beeindruckt: Randy Jones von der kultigen DiscoBand Village People („Y.M.C.A.“, „In the Navy“) ließ es sich nicht nehmen, ihr im Chelsea Room seine Aufwartung am Mischpult zu machen.
BRIAN BOWEN SMITH / AUGUST
Thilo Sarrazin, 65, Auflagenmillionär („Deutschland schafft sich ab“), muss sich als Freizeitgolfer in Bescheidenheit üben. Der Golf- und Landclub BerlinWannsee will ihn auch in diesem Jahr nicht in seinen elitären Kreis aufnehmen. Dazu werde es derzeit „garantiert nicht kommen“, sagt Club-Chef Frank-Peter Muschiol, der am Dienstag mit seinen Kollegen über die Aufnahme von vier bis fünf neuen Mitgliedern entscheiden will. Eine mögliche Mitgliedschaft Sarrazins ist in dem prestigebewussten Club, dem unter anderen Außenminister Guido Westerwelle und Ex-Bundespräsident Horst Köhler angehören, seit langem umstritten. Als Berliner Finanzsenator hatte Sarrazin den Verein von Existenzsorgen befreit, indem er ihm im Alleingang staatseigene Ländereien in bester Wannsee-Lage für 99 Jahre zum Schnäppchenpreis von insgesamt gut drei Millionen Euro verpachtete. Ein anschließendes Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft wurde im November eingestellt, die Fahnder konnten keine Anhaltspunkte für Korruption finden. Die Zeit für ein Dankeschön des Vereins wäre also gekommen. Dass der unterschichtskritische Pensionär trotzdem nicht beitreten dürfe, habe seine Gründe, sagt Clubchef Muschiol, ohne sie zu nennen. Ein Trost bleibt Sarrazin, der im Herbst bereits bei den Golfenden Sozialdemokraten (GoSos) in Ungnade gefallen war: Er darf die Clubanlage als Gast ausprobieren.
Sylvie Vartan, 66, französische Sängerin, leidet auch nach fünf Jahrzehnten auf der Bühne noch unter Lampenfieber. Zwar habe die Lust an ihrer Arbeit nicht nachgelassen, doch werde die Angst vor Vartan den Auftritten „immer brutaler“. Womöglich müsse sie irgendwann sogar aufhören, fürchtet Vartan, die gerade ein neues Album herausgebracht hat („Soleil bleu“). Doch deshalb kürzertreten? Auf keinen Fall. „Ich habe über 20 Jahre bei 100 Kilometer pro Stunde gelebt. Mein Leben ist vorbeigebraust“, sagt sie, „das ist mein Temperament, meine DNA.“
FRED DUFOUR / AFP
Michelle Rodríguez, 32, US-amerikanische Schauspielerin, erobert das New
David Lynch, 64, amerikanischer Regisseur und bekennender Esoteriker, bietet seine Dienste der US-Armee an. Der Anhänger der umstrittenen „Transzendentalen Meditation“ (TM), einer Selbstbesinnungstechnik aus den fünfziger Jahren, will traumatisierten Soldaten helfen. Wissenschaftler gehen davon aus, dass mehr als ein Drittel der Irak- und AfghanistanKämpfer mit einer Störung nach Hause kommen. Lynchs Stiftung, die sich der Verbreitung und Lehre von TM widmet – und Spendengelder in Millionenhöhe einnimmt –, bietet nun 10 000 Veteranen kostenlose Kurse an. Normalerweise sind die TM-Entspannungskurse teuer. Das Grundprogramm, inklusive vier Stunden Meditation, kostet bis zu 700 Euro. Der Filmemacher („Blue Velvet“), der auf einer Welttournee bereits dafür warb, „Unbesiegbarkeits-Universitäten“ zu bauen, hat sein höchstes Ziel noch nicht erreicht: nur durch Willenskraft im Lotussitz zu schweben. „Im Moment“, gibt Lynch zu, „ist es mehr ein Hüpfen, kein Fliegen.“ 137
Hohlspiegel
Rückspiegel
Aus der „Hausbesitzer Zeitung“: „Die Kappung eines gesunden Baumes stellt im Gegensatz zu an der Psychologie des Baumes orientierten Rückschnittsmaßnahmen keine Maßnahme ordnungsgemäßer Verwaltung dar (AG Düsseldorf vom 7. September 2009 – 290 a C 6777/08).“
Zitate
Überschrift im „Göttinger Tageblatt“ Die Münchner „Bild“ über die Gefahr bei Waldspaziergängen: „Auf den Kronen der Bäume liegt nasser, schwerer Schnee. Die Folge: Ärzte krachen runter, Bäume stürzen um.“ Aus dem Katalog „Terranova Reisen 2011“: „Was den Deutschen die Festspiele in Bayreuth, sind den Franken das Mozartfest in Würzburg.“
Aus der „Allgäuer Zeitung“ Die „Welt“ über den Autoboom in China: „Jedes verfügbare Auto in der Volksrepublik ging in den vergangenen Monaten über den Ladentisch.“ Die „Kieler Nachrichten“ über den mangel an Dessous-Verkäuferinnen in Dschidda: „Im islamischen Königreich werden die Kundinnen in den Shops vor allem von Männern mit Korsagen, Höschen und Strümpfen bedient.“
Die „Oberösterreichischen Nachrichten“ über ein Sozialprojekt mit Schafen Aus dem SPIEGEL: „Das Strafgesetzbuch finde ‚für beiliegende und verleumderische Aussagen auch im Internet Anwendung‘.“ 138
Die „Süddeutsche Zeitung“ zum SPIEGEL-Essay „Die Wutbürger“ (Nr. 41/2010): Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ ist wohl das am meisten verkaufte und am wenigsten gelesene politische Buch seit Adolf Hitlers „Mein Kampf“. Die Leute, die das Buch kaufen oder verschenken, sind „Wutbürger“ getauft worden. Angeblich, so meint der SPIEGEL über seine Wortschöpfung, erwerben sie das Buch, weil sie so wütend sind über die deutsche Ausländerpolitik. Das Wort Wut trifft es aber nicht. Es ist eine Angst vor dem Fremden und vor der Veränderung des gewohnten Alltags. Es ist eine Angst davor, dass ihnen das entgleitet, was für sie Heimat ist. Das Buch ist eine Art Einwickelpapier für solche Ängste. Fidel Castro in seinem Internetblog über den SPIEGEL-Titel „Enthüllt – Wie Amerika die Welt sieht. Die Geheimberichte des US-Außenministeriums“ (Nr. 48/2010): Der Gegenschlag der US-Regierung gegen WikiLeaks war so hart, dass nach Meinungsumfragen … zwei von drei USBürgern wollen, dass Assange wegen der Verbreitung jener Dokumente in den Vereinigten Staaten vor Gericht gestellt wird. Aber niemand hat sich getraut, die enthaltenen Wahrheiten zu bestreiten. Es sind keine Details über den von den Strategen von WikiLeaks ausgearbeiteten Plan bekannt. Man weiß nur, dass Assange eine große Menge Mitteilungen an fünf große Medientransnationale gegeben hat, die heutzutage das Nachrichtenmonopol besitzen. Einige dieser Transnationalen sind extrem söldnerisch, reaktionär und profaschistisch wie die „Prisa“ aus Spanien und der SPIEGEL aus Deutschland, die man benutzt, um die revolutionärsten Länder anzugreifen. Die „Stuttgarter Zeitung“ zum Ergebnis des „Zitate-Ranking 2010“ der Presse-Monitor GmbH: Das Nachrichten-Magazin SPIEGEL wurde im vergangenen Jahr so oft zitiert wie kein anderes Medium. Mit Abstand folgen die „New York Times“ und die „Bild“ auf den Plätzen zwei und drei, wie die PMG Presse-Monitor GmbH mitteilte. Das Unternehmen der deutschen Zeitungs- und Zeitschriftenverlage hat für das „Zitate-Ranking 2010“ untersucht, wie häufig ein in- oder ausländisches Medium in 41 deutschen „Meinungsführermedien“ zitiert wurde. Der SPIEGEL kommt dabei auf 2790 Nennungen in anderen Printmedien, die „New York Times“ auf 2013, die „Bild“ auf 1826. D E R
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