WISSENSWERTES Das „Tal der Steinernen Gespenster“ im Staate Utah gehört bis auf den heutigen Tag zu den unerforschteste...
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WISSENSWERTES Das „Tal der Steinernen Gespenster“ im Staate Utah gehört bis auf den heutigen Tag zu den unerforschtesten Gebieten der Vereinigten Staaten. Touristen wagen sich nur selten in diesen zwischen Hanksville und Greenriver gelegenen südöstlichen Landstrich vor; denn verheerende Sandstürme und blitzartige Unwetter bringen leicht die Gefahr mit sich, daß man nicht mehr lebend aus dieser Steinwüste und dem Labyrinth unzähliger schmaler und tiefer Canyons herausfindet. Nördlich der Straße von Hanksville nach Greenriver erhebt sich ein mächtiger, aus der Wüste steil aufsteigender Tafelfelsen, der in der Gegend als das „Wilde Pferd“ bekannt ist. Von diesem Massiv aus kann man nur noch zu Fuß oder hoch zu Roß weiter in das „Tal der Steinernen Gespenster“ vordringen. Demjenigen, der die Mühen und Gefahren einer Durchwanderung des Tales nicht scheut, bieten sich allerdings ungewöhnliche landschaftliche Schönheiten. Die Sandsteinfelsen leuchten in allen Schattierungen des Gelb und Rot, und dort, wo das Gelände zu einem sandigen Tal abfällt, erhebt sich eine unübersehbare Menge steinerner Gestalten, die aussehen wie kleine dicke Gnomen mit grotesken Gesichtern oder wie bösartige Giganten mit von riesigen Hüten beschatteten Rübezahlköpfen. Diese Figuren, von einer launigen Natur in jahrtausendelangem Zusammenwirken von Regen und Wind geschaffen, gewinnen besonders durch ihre wechselnde Farbe an Lebendigkeit. Die oberen Teile sind überwiegend hell, fast weiß, während nach unten zu rotbraune Töne vorherrschen. Das Ganze wirkt auf den unbefangen Beschauer beinahe wie ein Urweltpanoptikum, das nicht durch blinde physikalische Kräfte wie Wind, Frost und Regen, sondern von einem spielerisch veranlagten Dämonen geschaffen wurde.
TOM PROX ABENTEUER AUS DEM WILDEN WESTEN
Heft 243 Der singende Felsen erzählt von Frank Dalton
UTA-VERLAG • BAD GODESBERG-MEHLEM
1. Kapitel Sie ritten schweigend nebeneinander, um nach diesem abenteuerlichen Ritt den Heimweg zur Ranch anzutreten. Das Mädchen hatten sie vorsorglich in die Mitte genommen. Tom Prox sagte kein Wort; aber Snuffy hielt es nicht mehr aus. „Miß Susan“, begann er vorwurfsvoll. „Sie müssen doch zugeben, daß ein Girl, welches sich so seltsam benimmt wie Sie, Mißtrauen erweckt! Wer ist dieser ekelhafte Gent in der komischen Villa? Er ist mir unsympathisch, schon allein seiner Hunde wegen.“ „Vielleicht ist er – mein Bräutigam!“ erwiderte Susan Markham mit betontem Nachdruck. „Wie?“ staunte Snuffy. „Ich könnte mir ein Zusammentreffen zwischen Braut und Bräutigam ein wenig anders vorstellen als das heutige.“ „Ich sagte vielleicht, das heißt, er möchte mich schon gern heiraten, aber ich konnte mich bisher noch nicht dazu entschließen.“ „Ich will hoffen, daß sie einen solchen Schritt nie tun werden!“ rief Snuffy beschwörend. „Darf ich nun endlich erfahren, was Ihr heimlicher Besuch zu bedeuten hatte? Er sah verdammt nach einem Einbruch aus!“ „Natürlich dürfen Sie fragen“, erwiderte Susan mit der unschuldigsten Miene. „Ob ich aber antworten werde, steht auf einem anderen Blatt!“ „Wir sind doch Freunde, Miß!“ drang Snuffy in sie. „Sind Sie auch der Meinung, Mr. Prox, daß es notwendig ist, Ihnen eine lange Geschichte zu erzählen?“ wandte sie sich an den Ghostchef. Der lachte. „Das halten Sie nur so, wie Sie es wollen, Susan!“ 5
Nun lachte auch das Girl. „Es gibt Dinge, die von den Beteiligten furchtbar ernst genommen werden, Fremde jedoch nichts angehen“, erklärte es. „In zwei, vielleicht drei Tagen reiten Sie weiter und haben uns bald vergessen – warum wollen Sie sich beide mit meiner Privatangelegenheit belasten?“ „Wer ist der Mann in diesem seltsamen Haus?“ wollte Tom Prox jetzt wissen. „Das Gebäude heißt das spanische Haus“, gab Susan Auskunft. „Er selbst ist Mexikaner. Señor Juarez Navarro. Einer der reichsten Männer unserer Gegend. Kam vor drei Jahren hierher, ließ sich nieder und handelte mit allem, was Gewinn einbrachte. – In den Bergen besitzt er sogar eine Silbermine, die SwandeanMine am ‚singenden Felsen’. Seltsam – der Felsen singt tatsächlich oder es hört sich wenigstens so an! Es schaudert einen, wenn man die Töne zum erstenmal hört. Aber um auf Señor Navarro zurückzukommen: er ist ein sehr geachteter Mann im Distrikt! Ich wäre die einflußreichste Frau unserer Gegend, wenn ich ihn heiraten würde. Und unsere kleine, verschuldete Bayliss-Ranch – nun, Mutter wäre mit einem Schlage aus allen Sorgen heraus.“ „Warum heiraten Sie ihn dann nicht?“ Susan lachte. „Nachdem Sie mich jetzt mit der schwarzen Maske gesehen haben, halten sie mich wahrscheinlich für eine sehr abenteuerlich veranlagte junge Dame. In Wirklichkeit bin ich aber ein äußerst nüchtern denkendes Mädchen und bilde mir ein, daß zu einer Heirat auch Liebe gehört.“ „Yea – die Liebe!“ seufzte Smiffy und verdrehte dabei die Augen. „Würde es Ihnen etwas ausmachen, so leise wie möglich auf Ihr Zimmer zu gehen?“ fragte Susan, als sie sich der Ranch näherten. „Mutter weiß nichts von meinem nächtlichen Ausflug, und sie braucht auch nichts davon zu erfahren.“ „Stets zu Diensten, Miß!“ versicherte Snuffy galant, hielt je6
doch plötzlich inne und blickte vieldeutig Tom an. „Was war das?“ fragte er überrascht. „Ein Pferd, das wiehern wollte“, entgegnete Tom lächelnd. „Aber ehe es dazu kam, hielt man ihm das Maul zu.“ Er glitt aus dem Sattel und warf Snuffy den Zügel zu. „Vielleicht stattet Ihnen Señor Navarro aus dem spanischen Haus schon einen Gegenbesuch ab, Susan!“ „Meinen Sie, daß er ahnt, wer der Einbrecher war?“ fragte sie ängstlich. Tom zuckte die Achseln, und ehe noch jemand etwas sagen konnte, war er verschwunden. Fünfhundert Schritt von ihnen entfernt lag ein kleines Gebüsch. Wenn sich tatsächlich Menschen in der Nähe befanden, konnten sie sich nur dort verbergen. Wenige Augenblicke später drang er vorsichtig von der Rückseite in dieses Wäldchen ein. Was er bald darauf zu sehen bekam, interessierte ihn sehr. Da stand ein Gaul, der eifrig scharrte, und dicht daneben saß eine junge Dame, gegen den nächsten Baumstamm gelehnt, und war gerade dabei, ihren linken Arm sachkundig zu verbinden. Tom verhielt einen Augenblick; dann rief er sehr erfreut: „Hallo, Ellen! Kleine Überraschung zu nächtlicher Stunde! Unverhofftes Zusammentreffen finde ich immer am amüsantesten.“ Die junge Dame schaute auf. In ihren Augen stand zunächst ungläubiges Staunen; dann fuhr sie hastig auf, und schon puffte sie Tom Prox energisch in die Seite. Der puffte zurück. „Habe nie im Leben damit gerechnet, dich hier zu treffen!“ zwitscherte die Frau aufatmend. „Ich müßte eigentlich schon daran gewöhnt sein, dir immer dort zu begegnen, wo man dich am wenigsten brauchen kann“, erwiderte Tom schalkhaft. „Worum geht’s denn diesmal? Wenn 7
du allein durch die Gegend reitest, bist du doch auf dem Kriegspfad, Ellen – für den ‚Texas-Star’ natürlich! Was ist denn wieder faul in unserem geliebten Wilden Westen?“ „Dieses Mal ausnahmsweise nichts, Tom!“ erwiderte Ellen zufrieden. „Auch die eifrigste Reporterin muß ja mal Ferien machen – oder?“ „Wer jagte dir aber die Kugel durch den Arm, Barry?“ „Keine Kugel!“, versicherte sie erschrocken. „Wurde von der Nacht überrascht, das Tor der Bayliss-Ranch war schon geschlossen – also beschloß ich, in diesem Wäldchen zu übernachten. Schlief bereits ein paar Stunden ganz ausgezeichnet, dann wurde ich durch irgendein Geräusch geweckt, fuhr herum, hatte Pech, verletzte mich dabei an einem Ast –“ Tom griff nach ihrem Arm. „Du Lügen-Girl!“ schimpfte er gleich darauf. „Erstens rührt das tatsächlich von einer Kugel her, und zweitens ist die Wunde mindestens schon acht Stunden alt! Beichte, Mädchen!“ „Komisch, daß ich kein Geheimnis vor dir haben kann!“ seufzte sie ergeben. „Also – vor ungefähr vierzehn Tagen gingen Gerüchte über reiche Silberfunde in den hiesigen Bergen durch das Land.“ „Nichts davon gehört .“ „Möglich, es war auch nur so ein Flüstern. Irgendwo hier in den Bergen liegt der ‚singende Felsen’, und dort gibt es eine kleine Mine.“ „Weiß ich“, entgegnete Tom, „gehört Señor Navarro, der im spanischen Haus am Ortseingang von Eltonville wohnt.“ „In dieser Mine soll plötzlich eine überraschend ergiebige Ader angeschlagen worden sein. Natürlich hat der /Texas-Star’ ein Interesse daran, herauszubekommen, ob die Geschichte wahr ist. Also machte ich mich auf den Weg.“ „Und die beiden Gents, denen du dich dann anschlössest, versuchten unterwegs, dich auszuplündern, wie?“ 8
„Es bekam ihnen aber schlecht. Ich hatte meine Colts ebenso rasch heraus wie sie. Dann türmten diese Helden. Leider brachte mir die Sache diesen kleinen Durchschuß ein.“ Tom verband ihren Arm und nahm sie mit zur Straße. „Ist Snuffy bei dir?“ erkundigte sich Ellen verwundert, als sie dort die beiden wartenden Reiter erblickte. „Wieder eine Staatsaktion?“ „Vielleicht machen auch wir nur Ferien“, meinte Tom so nebenbei. „Da ich jedoch weiß, daß du beharrlicher als eine Fliege bist, die den Kuhschwanz umschwirrt – hast du schon einmal etwas von den Steeds gehört?“ „Wüste Burschen! Schwere Raubüberfälle und, wenn ich mich recht erinnere, auch ein paar Morde!“ überlegte Ellen. „Wir bekamen sie in San Francisco zu fassen. Sie brachen aber wieder aus. Zwei unserer besten Leute legten sie dabei um. Snuffy und ich mußten hinter ihnen her. Sie sollen sich irgendwo hier herum verkrochen haben. Aber ich weiß nichts Genaues. Wir kamen erst gestern in Eltonville an.“ „Prima“, stellte Ellen fest. „Dann komme ich gleich mit zwei Stories zum ‚Texas-Star’ zurück: Silbermine und Brüder Steeds!“ – Snuffy und Susan machten verblüffte Gesichter, als Tom in weiblicher Begleitung auftauchte. Aber sie lud die junge Reporterin sehr liebenswürdig ein, mit auf die Ranch zu kommen. * Als sie am nächsten Morgen im Hof standen, fragte Snuffy als ordnungsliebender Mensch, was nun eigentlich mit den Tauben geschehen solle, die die Reporterin den beiden Ganoven abgenommen hatte. „Ich hab sie in eines der Vorratshäuser gestellt, aber ewig können sie nicht in ihrem Korb bleiben. Sehr muntere Tierchen, und ich bin auch der Meinung, sie müßten doch mal 9
gefüttert werden.“ „Seltsame Kerle“, überlegte Ellen. „Zuerst erbieten sie sich, mich zu der Swandean-Mine zu bringen, dann versuchen sie, mich auszurauben! Wir sollten uns für sie interessieren, Tom! Entweder gehören sie zu den Steeds, und dann sind sie etwas für dich; oder sie gehören zur Mine am singenden Felsen, dann gehen sie mich etwas an! Man schleppt doch nicht Brieftauben durch die Gegend, wenn man nicht die Absicht hat, Nachrichten damit zu versenden, meine ich.“ Snuffy platze beinahe vor Eifer. „Oh, Tom! Lassen wir doch ein Täubchen einfach fliegen, und ich reite hinterher –“ Tom Prox lachte. „Glaubst du wirklich, daß dein Gaul so schnell ist wie eine Taube?“ „So geht das nicht“, stimmte Ellen ihm bei. „Wenn wir aber eine Nachricht abschicken würden – daß sich ein Mann an einer ganz bestimmten Stelle einfinden soll? Wenn wir den Kerl dann abfingen und aushorchten .“ „Und wenn die Tiere einem ganz harmlosen Taubenzüchter gehören und die beiden sie nur gestohlen haben?“ fragte Tom. „Das glaubst du doch selber nicht, old fellow!“ schaltete sich Snuffy ein. „Wir bestellen den Mann hier nach der BaylissRanch!“ Sie entschieden sich für eine als Wahrzeichen am Fuße des Gebirges stehende riesige Rottanne, schrieben die Botschaft, schoben sie in eines der Aluminiumröhrchen, die sie in einer Schachtel im Korb fanden, und ließen das Tierchen fliegen. „Wie weit ist’s bis zum singenden Felsen, Ellen?“ fragte Tom dann die Reporterin vom Texas-Star. Miß Simson hob die Schultern. „Kam nicht bis hin. Der Überfall stieg bereits auf halbem Wege. Nehme aber an, wir könnten die Mine in einem Tagesritt erreichen.“ „Schauen wir uns die Gegend an?“ schlug Tom vor. „Ich 10
weiß nicht, wohin die Taube fliegt; aber vierundzwanzig Stunden dauert es bestimmt, bis der angeforderte Mann an der Rottanne eintrifft – wenn überhaupt jemand kommt!“ Tom ließ die Pferde zurechtmachen und Proviant einpacken. Snuffy sollte inzwischen die Rottanne nicht aus den Augen lassen. „Ich lasse euch nur ungern allein“, versicherte er. „Ihr seid immer so unbesonnen und stürzt euch leicht in Gefahren, wenn niemand ein wachsames Auge auf euch hält!“ Eine halbe Stunde später ritten Tom und Ellen los, während Snuffy sich resigniert nach der Küche begab, um festzustellen, was ihn zum Mittagessen trösten könnte. – Die Rancherin hantierte eifrig mit Töpfen und Pfannen, und als kluger Mann wußte er, wie er es anzufangen hatte. „Sie sind doch eine Frau in den besten Jahren, Mrs. Markham“, leitete er die Unterhaltung ein wenig ungeschickt ein und schielte dabei nach einem Stück Schinken, „und wie ich bereits feststellen konnte, noch ziemlich knusprig! Ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, wieder zu heiraten?“ Die Frau sah ihn etwas komisch von der Seite an; sie tippte daneben, als sie würdevoll erklärte: „Junger Mann, Ihr könntet mein Sohn sein! Aber falls Ihr es auf die Ranch abgesehen haben solltet: es liegen allerhand Schulden darauf!“ „Und wenn sich jemand tüchtig in die Arbeit hineinkniete –?“ „Glaubt Ihr, daß ich das nicht tue, junger Mann?“ „Natürlich! Ich will auch keine Kritik in Ihren Fähigkeiten üben, Madam! Aber immerhin –.“ Die Rancherin wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Wenn die Schulden nicht wären!“ entgegnete sie bedrückt. „Achtzigtausend Dollar sind viel Geld und wollen aus einem so kleinen Betrieb herausgewirtschaftet sein!“ „Achtzigtausend blanke Eierchen?!“ staunte Snuffy. „Wie kommen Sie denn zu so viel Schulden, Madam?“ 11
„Keine Ahnung!“ erwiderte sie achselzuckend. „Was, Sie wissen das nicht?“ „Als mein Mann vor drei Monaten verunglückte, waren die Schulden einfach da“, erklärte sie. „Ich fiel aus allen Wolken, als mir Señor Navarro die Schuldverschreibung, von meinem Mann ausgestellt, unter die Nase hielt!“ „Achtzigtausend – wie konnte Ihr Mann bloß eine solche Menge Schulden machen?“ fragte Snuffy erstaunt. „Spielte er denn?“ „Er rührte in seinem ganzen Leben keine Karte an!“ „Aber dann begreife ich nicht –!“ „Ich begriff es zunächst auch nicht, aber Señor Navarro erklärte es mir. Mißwuchs, Viehsterben, schlechte Rinderpreise – da passiert dergleichen wohl schon mal. Nun müssen die Schulden abgezahlt werden, so schwer es mir auch fällt.“ „Und wenn Susan diesen Señor Navarro heiratet?“ „Was wißt Ihr davon?“ fragte Mrs. Markham argwöhnisch. „Wer hat Euch diesen Floh ins Ohr gesetzt?“ „Susan“, behauptete Snuffy bescheiden. „Merkte bisher nichts davon, daß sie ein besonderes Interesse für Señor Navarro zeigte“, staunte die Rancherin. „Eigentlich ist mir mein Girl zu schade für ihn.“ „Er ist reich, Mrs. Markham, und die Achtzigtausend würden Euch in diesem Falle nicht mehr drücken!“ „Trotzdem – er ist für meinen Geschmack zu sehr hinter den Weibern her! Immer hat er irgendwelchen Besuch in seinem spanischen Hause. Alles Nichten, sagt er. Man kennt das schon –.“ * Sie brauchten viele Stunden, um ins Gebirge hinaufzukommen. Sie hatten nur sehr unklare Vorstellungen von der Gegend, in welcher Navarros Silbermine lag. Es handelte sich allem Anschein nach nur um einen Zwergbetrieb; wahrscheinlich um ein 12
altes Indianerbergwerk. Sie waren ungefähr fünfhundert Meter hoch gekommen, als die Nacht hereinbrach. Bald hatten sie einen geeigneten Platz zum Rasten entdeckt. Tom holte Wasser; die Pferde wurden getränkt und sich dann selbst überlassen. Wenig später hielten sie die geöffneten Konservenbüchsen in den Händen und stärkten sich ebenfalls. Sie lagerten an einem sanftgeneigten Abhang; nach der Gebirgsseite zu war nicht viel zu sehen, weil ansteigende Felsen die Aussicht versperrten; ins Tal hinunter reichte jedoch der Blick ziemlich weit. Es dauerte nicht lange, bis Tom die Stelle gefunden, auf die es ihm ankam. Sie lag ungefähr eine halbe Meile von ihrem Rastplatz entfernt. Vor dem dunklen Hintergrund eines dichten Gebüsches standen drei Tannen; unter ihnen glaubte er zwei Gestalten wahrzunehmen. „Ich glaube, Ellen, wir sind nicht allein in dieser Landschaft!“ Er reichte ihr das Glas. „Zwei Männer“, bestätigte sie. „Sie waren so schlau wie wir – auch kein Feuer anzuzünden!“ „Ich gehe mal hinüber, um nachzusehen.“ Tom glitt lautlos davon. Er schlug einen weiten Bogen, um in den Rücken der Lagernden zu kommen. Er brauchte eine knappe Stunde, bis er das Gebüsch erreichte, und eine weitere halbe, sich nahe genug an die beiden heranzupirschen. Sie rauchten aus alten, halbverbrannten Pfeifen und sprachen nur einzelne, unzusammenhängende Worte. Dann zog der eine von ihnen seine Streichhölzer hervor, um die ausgegangene Pfeife wieder anzustecken. Die kleine Flamme beleuchtete die Gesichter der beiden so hell, daß man sie erkennen konnte. Es waren die beiden mit den Brieftauben! In diesem Augenblick wieherte ein Pferd; man konnte es sehr deutlich hören. Die Männer blickten sich überrascht an. 13
„Vielleicht die Lady, die durchaus nach der Mine wollte“ meinte der eine. „Man kann da oben aber keine Besucher brauchen! Sollten mal nach dem Rechten sehen!“ „Geh allein hin!“ erwiderte der andere Lustlos. Damit war für ihn die Angelegenheit erledigt. Er streckte sich lang ins Gras aus. Sein Gefährte erhob sich seufzend und machte sich auf den Weg. Tom Prox folgte ihm. Eine Stunde später hatte er Ellens Lager erreicht. Sie lag im Schlafsack und schlief. Der Mann hockte sich hinter einen Busch, spähte zu der Schlafenden hinüber und kroch geräuschlos auf sie zu. Aber das Mädchen selbst interessierte ihn nicht; er durchsuchte nur ihr Gepäck und steckte sich ein, was er gebrauchen konnte. Als der Mann seine Taschen vollgepackt hatte, sagte eine Damenstimme hinter seinem Rücken: „Ich würde an deiner Stelle alles wieder auspacken, Kleiner! Ist es anständig, einer jungen Lady nächtlicherweise einen Besuch zu machen?“ Der Dieb fuhr überrascht herum; Ellen hatte Gott weiß was in ihren Schlafsack gestopft, um den Anschein zu erwecken, er sei belegt. Sie selber saß unter einem Strauch, keine drei Schritte von Tom Prox entfernt. „Keine Lippe riskiert, Madam!“ sagte der Mann angriffslustig. „Wir sind hier oben allein, und wenn Ihr Euch mausig macht, haben die Geier morgen früh eine ausgezeichnete Mahlzeit!“ Der Kerl duckte sich. Tom wußte, was kommen mußte, und hielt sich bereit. „Auspacken!“ verlangte Ellen erneut sehr energisch. Der Mann kam nun näher; in derselben Sekunde aber zuckte ein Feuerstrahl auf. Das Echo des Schusses brach sich tausendfältig an den Bergen. Der Mann hüpfte entsetzt in die Höhe; die Kugel war dicht vor seinen Füßen in den Boden gefahren. „Manche Menschen scheinen Vergnügen daran zu finden, 14
bei Nacht auf einsamen Bergeshöhen zu tanzen“, meinte Ellen mit aufreizender Ruhe. „Ich kann mit der Linken nachladen und gleichzeitig mit der Rechten schießen: Fürchte, Euch geht der Atem schneller aus als mir!“ Der Mann kramte alles, was er eingepackt, hastig wieder aus und legte es säuberlich ins Gras. „Kann ich jetzt gehen?“ fragte er dann böse. Ellen erlaubte es großmütig. „Hoffentlich lauft Ihr mir nicht noch einmal über den Weg!“ Der Mann tat, als habe er die Absicht, sich seitlich davonzuschleichen; im nächsten Moment sprang er jedoch mit einem raschen Satz auf das Mädchen los. Er war sehr verblüfft, als er mitten in Toms Faust hineinfiel. Als er wieder denken konnte, saß er auf dem Erdboden und massierte seine Kinnlade. „Noch alle Zähne beisammen?“ fragte der Ghostchef liebenswürdig. „Dann können wir ja mit unserer Unterhaltung beginnen.“ „Was wollt Ihr von mir?“ fragte der Mann halb boshaft, halb ängstlich. „Immerhin lebt Ihr noch! Aber der alte Queens ist seit der letzten Nacht tot.“ „Kenne keinen Gent, der so heißt!“ Er blickte Tom prüfend an, und dann wurde ihm recht ungemütlich zumut. „Wo habt Ihr Euer Messer gelassen, mein Junge?“ fragte der Ghostchef mit eisiger Stimme weiter. „Trage nie ein Messer bei mir, will nicht gern in Versuchung kommen.“ „Der Alte in Adams Loch“, drückte Tom nach. „Wieviel habt Ihr in seiner Hütte erbeutet?“ Der Mann änderte jetzt seine Taktik. Er nickte die Achseln. „Lohnte nicht – fünf Dollar sechzig!“ erklärte er frech. „Wenn Ihr aber meint, ich hätte ihn erstochen, irrt Ihr! Das Messer 15
steckte bereits in seiner Brust, als wir ihn fanden.“ „Glaube es nicht. Und was tut Ihr nun hier oben?“ „Sind schließlich in einem freien Land – oder?“ „Yeah“, erwiderte Tom verächtlich. „Und damit ich ebenso deutlich verstanden werde: Ich wünsche Euch nicht mehr dort zu sehen, wo ich mich gerade aufhalte.“ Mehr brauchte er nicht zu sagen; der Mann war schon fort. „Wir hätten ihn nicht gehen lassen sollen“, überlegte Ellen, als sie wieder allein waren. Tom Lachte. „Streng dein Köpfchen mal an, Girl! Wohin wollen die beiden Nachtgespenster? Nach der Mine! Sie kennen den Weg, wir aber nicht. Ist es da nicht klug, sich von ihnen führen zu lassen? Wenn sie morgen früh losziehen, folgen wir ihnen!“ * Ungefähr fünf bis sechs Stunden vorher war in den Schlag eines Hauses, das zu Singerset, fünfzehn Meilen westlich von Eltonville, gehörte, eine Taube eingeflogen. Das Haus stand außerhalb der Ortschaft; der Alte, der es bewohnte, war erstaunt, das Tier schon so zeitig in den Schlag schlüpfen zu sehen. Er schloß die Klappe, kletterte in den Schlag hinauf und holte das Aluminiumröhrchen unter dem Flügel hervor. Er war nicht neugierig; er schaute nur nach der Uhr, stopfte seine Pfeife und setzte sich dann auf die Bank vor der Haustür, um zu warten. Es war fast schon dunkel, als ein Auto die Straße entlangkam; ein alter, klappriger Ford, dessen Motor ab und zu wie explodierendes Dynamit knallte. Genau vor dem Tor des Häuschens knallte er zum letzten Male, und der alte Karren stand. Sein Besitzer stieg aus, besah sein Auto von allen Seiten, betrachtete den Kühler, nickte und ging auf den pfeiferauchenden 16
Alten zu. „Könnt Ihr mir mit einem Eimer Wasser aushelfen, Nachbar?“ fragte er. „Mein Kühler kocht.“ „Autos sind Teufelszeug“, erwiderte der Mann auf der Bank bedächtig, „solltet Euch lieber ein gutes Pferd anschaffen, Stranger! Im übrigen ist die erste bereits da.“ „Vielen Dank, Sir“, erwiderte der Fahrer. „Wie, zum Teufel, kann denn das Vieh schon angekommen sein?“ Der andere wies nach rückwärts; dort stand ein alter Ziehbrunnen. „Thanks“, sagte der Automann, schleppte einen Eimer Wasser herbei und füllte seinen Kühler auf. Dann kramte er einen Dollar aus seiner Tasche und drückte ihn dem Alten in die Hand. „Für Eure Freundlichkeit!“ „Werde mir Tabak dafür kaufen.“ Während der Dollar den Besitzer wechselte, erging es dem Aluminiumröhrchen ebenso. * Auf der von Eltonville heranführenden Straße näherte sich dem Anwesen eine seltsame Kavalkade. Vornweg ritten zwei Cowboys in ihrem besten Sonntagsstaat; alles an ihnen blitzte und blinkte. Dann kam ein Herr, der in seiner Übereleganz beinahe lächerlich wirkte: Er trug ein grellfarbenes, buntseidenes Hemd, seine Hosen waren von feinstem Wildleder, die Stiefel gelackt und der Gürtel silbergestickt. In den Coltholftern steckten mit Silber beschlagene und mit Perlmutt ausgelegte Revolver. Unter dem Rand seines riesenhaften Stetsons ringelte sich pomadisiertes, glänzendes Schwarzhaar hervor. Den Schluß der Kavalkade bildeten zwei Boys, ebenso festlich aufgemacht wie die Spitzenreiter. Anthony Markham sah diesen Zug zuerst ankommen, und die Sache gefiel ihm nicht. Er lief ins Haus. Seine Mutter stand 17
wie gewöhnlich am Küchenherd. „Señor Navarro ist im Anzug, Mammy! Schon wieder eine Zinsrate fällig? Der Kerl frißt uns mit seinen ewigen Forderungen noch auf.“ Mrs. Markham fuhr mit der Hand über die Stirn. „Keine Ahnung, was er will, Anthony. Die letzte Rate ist pünktlich bezahlt und die nächste erst im Oktober fällig.“ Señor Navarro hatte mit seinen Begleitern inzwischen das Ranchtor erreicht; Anthony kam gerade zurecht, ihm zu öffnen. Die Kavalkade ritt ein. In diesem Augenblick erschien Susan auf dem Hof. Es war sonst nicht ihre Aufgabe, sich um die Schweineställe zu kümmern; ausgerechnet jetzt hatte sie es getan. Sie sah schandbar aus; das Haar hing ihr wirr ins Gesicht, sie hatte nackte Füße, und der Stallschmutz stand ihr bis an die Knie. Sie roch, wie sonst junge Damen auch bei der Arbeit nicht zu riechen pflegen. Señor Navarro rümpfte die Nase. Sie merkte es nicht: lachend reichte sie ihm die schmutzige Hand. „Nanu?“ wunderte sie sich. „Heute keinen Handkuß, Señor Navarro? Gerade der gefällt mir immer so gut an Ihnen!“ „Ist es denn wirklich nötig, daß Sie eine so schmutzige Arbeit verrichten, Susan?“ fragte Navarro entsetzt. „Auf der Bayliss-Ranch schon“, entgegnete das Mädchen lachend, „und ich denke, Sie wissen warum!“ „Es kostet Ihnen nur ein Wort, und die Dinge ändern sich.“ Susan ging auf diese Anspielung nicht ein. „Wollen Sie nicht näher treten?“ fragte sie. „Mutter würde sich sicher freuen. Mich aber müssen Sie entschuldigen, ich bin mit den Schweinen noch nicht fertig.“ „Meine ergebenste Empfehlung Ihrer vortrefflichen Mutter!“ rief Señor Navarro emphatisch. „Aber ich bin in Eile! Will meine Mine am singenden Felsen besuchen! Machte nur einen Umweg, um zu sehen, wie es Ihnen geht.“ Er kramte in der Satteltasche. „Kleines Angebinde für Sie, Susan!“ Dabei über18
reichte er ihr ein Schächtelchen. „Bye, bye, meine Lieben!“ Die Kavalkade setzte sich wieder in Bewegung und zog davon. „War das wirklich nötig?“ fragte Anthony und betrachtete seine Schwester mißbilligend. „Es war nötig“, versicherte sie, „und wenn ich mehr Zeit gehabt hätte, würde ich mich sogar noch über den Düngerhaufen gewälzt haben.“ Sie öffnete Navarros Schächtelchen, fand ein Fläschchen teuren Parfüms darin, krauste die Nase und warf es verächtlich gegen die Mauer. 2. Kapitel Der Tag graute schon, als Tom seine Gefährtin aus dem Schlafsack trieb. Aber die beiden Gauner ließen sich Zeit. Die Sonne stand längst über den Bergspitzen, als sie endlich losritten. Tom und Ellen folgten ihnen in weitem Abstand; es war kaum zu fürchten, daß sie sie aus den Augen verloren. Es gab hier oben nur diesen einen Weg, der sich in unzähligen Windungen immer höher in die Berge hinaufschlängelte. Dieser Weg wurde nur ab und zu von einsamen Grenzreitern benutzt, die es vorzogen, ohne Paß und unter Umgehung der Kontrollstellen aus einem Staat in den anderen hinüberzuwechseln. Der Pfad war uneben und von Geröll durchsetzt. Sie hatten bereits vier Stunden schweigend hinter sich gebracht, als Tom plötzlich warnend den Finger auf den Mund legte und sein Pferd anhielt. „Sie reiten nicht mehr“, erklärte er, „wahrscheinlich machen sie Rast. Wir dürfen jetzt nicht weiter, sonst hören sie uns.“ Es dauerte ziemlich lange, bis die Verfolgten wieder losritten. Nach einer kurzen Reitstunde hörte das Hufgeklapper vor 19
ihnen erneut auf. Tom schwang sich aus dem Sattel. „Wahrscheinlich sind sie vom Weg abgebogen. Ich sehe rasch mal nach, – bleib bitte bei den Pferden!“ Ellen mußte lange warten, ehe er wieder erschien. „Wir befinden uns ganz in der Nähe der Mine. Die beiden betraten ein Blockhaus, das anscheinend zum Betrieb gehört.“ „Was nun?“ erkundigte sich Ellen. „Du weißt, daß ich ergründen will, was es mit dieser Mine auf sich hat! Ein unbedeutendes, kleines Bergwerk, von dem das Gerücht geht, es seien dort plötzlich reiche Silberfunde gemacht worden, ist immerhin interessant.“ „Ich schlage vor, wir suchen uns zunächst einen Unterschlupf, ein Plätzchen, an dem wir es ein paar Tage aushalten, ohne entdeckt zu werden.“ Sie schritten vorsichtig weiter, die Pferde am Zügel. Nach kurzer Zeit gelangten sie an einen Bachlauf, der den Weg überquerte. Sein Wasser floß so unregelmäßig, wie sie es noch nie am anderen Bächen beobachtet hatten. Es kam in gleichmäßigen Abständen – so genau, daß man sie nach der Uhr messen konnte – in einem riesigen Schwall angeflossen. Dann hörte der Stoß auf, und während das Wasser abfloß, lag das Bachbett beinahe trocken. Das dauerte eine Zeitlang, und dann kam ein neuer Stoß. „Der Swandean“, erklärte Tom. „Die Mine hat ihren Namen von ihm.“ „Woher dieses ewige Anschwellen und Versiegen wohl kommen mag?“ wunderte sich Ellen. „Ich könnte mir vorstellen, daß irgend etwas im Bachbett den Lauf des Wassers hemmt. Der Bach staut sich, bis der Druck des Wassers stärker ist als das Hindernis. Dieses gibt dann nach, das Wasser fließt ab, bis die hemmende Gewalt des Hindernisses wieder in Aktion treten kann, und die Sache kann von neuem beginnen. So kann es sein! Wir wollen dem Bach folgen! Wir kommen dann von der Straße herunter und haben den 20
Vorteil, unbemerkt zu bleiben.“ Es war nicht einfach, den Bach als Weg zu benutzen; sie mußten zunächst einmal eine ziemliche Strecke in seinem Bett dahinwaten, so dicht traten Gehölz und Büsche an seine Ufer. Nach fünfzig bis sechzig Metern wurde es rechts und links etwas freier; sie kamen aus dem Wasser heraus. Nach weiteren zweihundert bis dreihundert Metern – der Bach wurde jetzt von einer schmalen Grasfläche begleitet, in der verstreut Felsbrocken lagen – türmte sich plötzlich eine hohe Felswand vor ihnen auf. Der Bach verschwand unter einem Gebüsch mit starkbelaubten, überhängenden Zweigen. Tom bog diese behutsam auseinander und stellte fest, daß er aus einer breiten, höhlenartigen Felsspalte herkam, die weit in den Felsen hineinzureichen schien. Der Spalt war so breit, daß sie mit ihren Pferden hindurch konnten. „Interessiert mich, wie es da drinnen aussieht. Bleib hier! Mache nur schnell einen kleinen Ausflug in den Bauch der Erde.“ Er ließ sein Pferd zurück und verschwand in dem Spalt. Ungefähr zwanzig Meter weit watete er im Wasser; dann schoben sich die Felswände auseinander; der Riß verbreiterte sich zur Höhle. Während er sich umsah, wurde er durch ein seltsames Geräusch überrascht: Er vernahm einen zunächst leise beginnenden, dann immer stärker anwachsenden singenden Ton, der sich anhörte, als käme er aus den Eingeweiden der Erde. Als der Ton seine höchste Lautstärke erreicht hatte, ging er in ein so furchtbar gurgelndes Stöhnen über, daß es einem kalt den Rücken hinunterlaufen konnte. Dann klang er in einen langgezogenen, nicht endenwollenden Seufzer aus – und wenige Augenblicke später kam die Flut. Tom mußte an den Namen „der singende Felsen“ denken. Es handelte sich um eine mehr oder weniger seltene Naturerscheinung; auf jeden Fall standen Wasser und Geräusch in ursächlichem Zusammenhang. Nun hatte er den singenden Felsen zum 21
erstenmal gehört; er sollte seine Musik noch öfters vernehmen. Tom überlegte: Zwar würde der Lärm sie stören, aber sie konnten hier drinnen Quartier beziehen und waren wundervoll geschützt; sie mußten nur vermeiden, die Sträucher, die den Eingang verdeckten, zu beschädigen. Auch ihre Pferde konnten sie hier unterbringen, und wenn sie für genügend Gras sorgten, besaßen sie einen Unterschlupf für Tage und Wochen. Er kehrte zu Ellen zurück. Sie schafften ihre Gäule in das Versteck, holten eine größere Menge Gras von der Wiese am Bach, und eine Stunde später hatten sie es sich an der breitesten Stelle der Höhlung bequem gemacht. „Nun aus auf Erkundung!“ verlangte die unverwüstliche Miß Simson, als sie gegessen und ein wenig ausgeruht hatten. Sie kehrten wieder auf den Weg zurück und verfolgten ihn weiter. Nach einstündigem Marsch erreichten sie einen Platz, an dem jede Vegetation erstorben schien. Es ging über eine mittelgroße Hochfläche, die von Felsen und Gesteinsbrocken übersät war. Weder Baum noch Strauch wuchsen hier. Rechts des Weges erhob sich eine steil in den Himmel ragende Felswand, zerklüftet, mit höhlenartigen Eingängen, die viele Meter hoch über dem Plateau lagen. Um diese Felswand herum wand sich der Weg in einem beinahe rechtwinkligen Knick. Als sie diesen überwunden, schienen sie die Mine erreicht zu haben. Sie nahmen hinter einem Gesteinsblock Deckung, obwohl weit und breit kein Mensch zu sehen war. Minen sahen im allgemeinen anders aus als das, was sie hier erblickten: Ein kleines Blockhaus, uralt; die Stämme, aus denen es erbaut war, über und über mit Moos bedeckt; die beiden Fensterluken, die es besaß, mit trockenem Gras verstopft. Die Tür schien verschlossen. Aus dem altersschwachen Schornstein drang kein Rauch. Ungefähr zwanzig Meter von dieser Hütte entfernt, stand, an den Fels geklebt, ein größeres, langgestrecktes Blockhaus von 22
neuerem Aussehen; sogar die Fenster waren hier verglast. Es hatte zwei Türen, eine davon so breit, daß man mit einem Wagen hineinfahren konnte. In der Mitte ragte ein breiter, steinerner Kamin aus dem Dach; auch aus ihm drang kein Rauch in die klare Luft. Dicht neben dem Blockhaus öffnete sich ein riesiger, höhlenartiger Eingang, der in den Fels hineinführte. „Eine seltsame Angelegenheit!“ flüsterte Ellen verwundert. „Ich habe mir eine Silbermine wesentlich anders vorgestellt! Ausgeschlossen, daß hier noch Silber gefördert wird!“ In diesem Augenblick öffnete sich die Tür des kleinen, von Moos überzogenen Blockhauses, und ein Mann trat ins Freie. Er war schlampig gekleidet; auf dem Kopf trug er einen übermäßig breiten, uralten Sombrero. In seinem Mund steckte eine kalte Pfeife. Mit wiegenden Schritten ging er zum Felseingang hinüber und verschwand darin. „Also doch keine Totenstadt!“ stellte Tom Prox fest. „Bleib hier in Deckung, will mich ein wenig näher heranarbeiten.“ Er machte sich unauffällig an das kleine Blockhaus heran und versuchte hineinzuspähen; aber er hätte das Heu aus den Fensterlöchern rupfen müssen, um einen Blick in das Innere werfen zu können. Einige Augenblicke horchte er an der Tür, vernahm jedoch nichts. Er öffnete sie einen Spalt und spähte hinein. Viel gab es hier nicht zu sehen. Ein Tisch, drei Stühle, ein Schrank ohne Tür, zwei übereinander angebrachte Schlafkästen, das war alles. Tom huschte weiter auf das größere Blockhaus zu. Er klebte sich dicht an die Wand und spähte durch eines der fünf Fenster, die es besaß. Was er hier sah, befriedigte ihn sehr: Da gab es einen großen, aus Felssteinen gebauten Schmelzofen; der Kamin, der durch das Fenster führte, gehörte dazu. Zwei oder drei Arbeitsplätze waren vorhanden, im Augenblick jedoch verlassen; eine Menge Arbeitsgerät lag herum. Ellen erwartete ihn schon voller Neugier. „Nun?“ fragte sie. 23
„Bin gespannt wie ein Regenschirm! Was gibt es?“ „Ich weiß nicht, was ich daraus machen soll. Komischer Bergwerksbetrieb! Scheinbar arbeiten nur zwei Mann hier; es sind auch nur zwei Schlafplätze da. Größere Funde – ausgeschlossen! Sie machen bestimmt nicht mehr als fünfzig, höchstens sechzig Dollar die Woche. Wahrscheinlich ein altes Indianerbergwerk, heute noch genau so primitiv betrieben wie vor fünfhundert Jahren! Zwei Mann buddeln die Erze heraus und schmelzen sie selber ein – das scheint alles zu sein!“ „Das ist ein Bericht, mit dem ich den Lesern des Texas-Star nicht kommen kann“, entgegnete die Reporterin enttäuscht. „Woher dieses Gerücht von den reichen Silberfunden nur stammen mag?“ „Vielleicht von Señor Navarro?“ überlegte Tom. „Falls er sich in Geldschwierigkeiten befindet, könnte er ein solches Gerücht ausgestreut haben, um damit seinen Kredit zu heben; wenigstens so lange, bis die Seifenblase platzt.“ „Also – umkehren?“ fragte Ellen. Man sah ihr an, daß sie mit diesem Ergebnis nicht zufrieden war. „Wir bleiben heute nacht noch in unserem Versteck. Dieses Bergwerk muß genauer untersucht werden! Wenn wirklich nur zwei Mann hier oben sind, können sie keine Wachen ausstellen!“ Sie kehrten zu ihrem Schlupfwinkel zurück. Die Gäule empfingen sie mit freudigem Stampfen; das sich ewig wiederholende „Singen“ des Felsen schien sie nervös zu machen. Ihre Erkundung sollte in der Zeit zwischen ein und zwei Uhr nachts steigen; sie waren dann sicher, daß die Menschen, die in der seltsamen Mine arbeiteten, im tiefsten Schlaf lagen. Sie legten ihre Schlafsäcke aus und schickten sich an, hineinzukriechen, als die Pferde plötzlich noch unruhiger wurden. Sie lauschten; irgend etwas veränderte den Rhythmus, in dem der Felsen bisher gesungen hatte. Das Gurgeln wurde lauter; 24
es ließ jetzt auch in den Pausen nicht mehr nach. Sie hatten die Empfindung, daß die Regelmäßigkeit, die in dem Kommen und Gehen des Wassers lag, kräftig gestört sei. Das beunruhigte sie. Tom erhob sich. „Wir hätten doch lieber nachsehen sollen, woher der Bach kommt, so lange es noch hell war“, sagte er nachdenklich. Er griff nach seiner elektrischen Stablampe und machte sich auf den Weg. Nach ungefähr fünfzig Metern traten die Felswände wieder so dicht an den Wasserlauf heran, daß er nicht weiter konnte. Er mußte im Bach waten. Die Höhlung wurde immer enger und bald so niedrig, daß er schließlich nur noch gebückt vorwärts kam. Dann erreichte er den Ausgang des engen Tunnels, den der Bach benutzte, um durch den Felsen zu kommen. Die Einlauföffnung war noch kleiner und enger als die, durch die der Bach austrat; irgendein größerer Fremdkörper schien sie jetzt auch noch zusätzlich zu verstopfen. Er sah in der halben Dunkelheit, die draußen herrschte, wie ein alter, vermorschter Baumstamm aus und lag quer vor dem Einfluß. Langsam wurde er von dem Wasser hin und her geschaukelt. Tom wollte sich gerade zurückziehen, als er an dem Hindernis etwas aufblitzen sah. Er beugte sich und ließ seine Taschenlampe von neuem aufleuchten. Quer vor dem Bacheinfluß lag ein Mensch! Ein Toter, und in seiner Brust steckte ein Messer. Es war einer der beiden Gauner, die ihnen unbewußt den Weg zur Mine gewiesen hatten. * Der Körper folgte dem Zug der Strömung, segelte in den Felskanal hinein und schwamm dann rasch davon. Miß Simson schüttelte den Kopf, als sie davon erfuhr. „Streit 25
unter Brüdern?“ überlegte sie. „Scheint lustig in dieser Mine zuzugehen! Die beiden kommen kaum an, und schon hat einer von ihnen ein Messer in der Brust! Wahrscheinlich haben sie den anderen auch erledigt, weil sie so dumm waren, sich die Tauben abnehmen zu lassen?“ Sie legten die Coltholfter um, prüften, ob ihre Dolche am richtigen Platz saßen, und machten sich auf den Weg. Die Tatsache, daß der Tote am Wassereinlauf angeschwemmt worden war, bewies, daß der Bach irgendwo dicht an der Mine vorüberfließen mußte. Sie beschlossen daher, bachaufwärts zu gehen. Der Bach floß, bevor er in den Fels einlief, durch eine tiefe, rechts und links von hochragenden Felswänden umgrenzte Rinne. Sie schritten an seinem Rand dahin. Es war sehr dunkel; der Mond drang nicht bis auf den Grund der schmalen, langgestreckten Schlucht. Nach einigen hundert Metern ragte senkrecht vor ihnen eine neue Felswand in den Himmel; auch sie hatte einen Riß. Der Bach floß aus diesem hervor. Die beiden zwängten sich in die Höhlung, die bald breiter wurde. Sie schritten hintereinander her. Der Bachlauf wand sich steil bergan; später wurde der Boden ebener, und der Bach floß in beinah gerader Richtung dahin. Sie konnten jetzt ohne Beschwerden aufrecht gehen. Tom vermied es nunmehr, seine Lampe aufblitzen zu lassen; er tastete sich mit der Linken an der Felswand entlang. Rechts vor ihnen floß der Bach. Nach längerer Zeit griff seine Linke ins Leere. Sie blieben stehen und lauschten; es war jedoch nichts zu hören. Tom schaltete schließlich für einen kurzen Augenblick seine Lampe ein. „Ein Seitenstollen!“ sagte er verwundert. „Dieser Fels scheint durchlöchert zu sein wie eine Bienenwabe.“ „Wenn mich nicht alles täuscht, befinden wir uns bereits im Bergwerk“, entgegnete Ellen. „Sahst du die Zeichen an der 26
Gangwand?“ „Wie sahen die aus?“ „Sehr alt, wahrscheinlich vor Jahrhunderten von Indianern in den Fels gehauen – zur Orientierung!“ erwiderte sie. „Folgen wir nun dem Bachlauf, oder halten wir uns an den Gang, Tom?“ „Ich würde den Gang wählen“, entschied er. „Sicher gibt es hier eine Menge solcher Gänge, schon von Natur aus und nicht erst durch Menschenhand geschaffen. Sonst hätten es die Roten nicht nötig gehabt, sie zu zeichnen. Wenn wir ihnen folgen, kommen wir zum Stolleneingang.“ Dieser Gang war so breit, daß sie seine Wände mit ausgestreckten Armen erreichen konnten, und so hoch, daß sie nicht zu fürchten brauchten, sich den Kopf einzurennen. Der Boden war eben, so daß sie rasch vorankamen. Während Tom lauschte, um vor Überraschungen sicher zu sein, zählte Ellen die Schritte; es war wichtig, daß sie die Orientierung nicht verloren. Plötzlich wichen die Wände zurück, so daß sie glaubten, sich in einer größeren unterirdischen Halle zu befinden. Tom machte nur für zwei Sekunden Licht; aber das genügte! Die Reporterin war bleich geworden. Sie standen in einer großen, hohen, leeren Felshalle. Und – quer durch diese zog sich ein zwei Meter breiter Riß im Boden, dessen Tiefe man nur ahnen konnte! Die Überreste einer Brücke waren vermodert, und die Balken, aus denen sie bestand, vermorscht. Wenn sie weitergegangen wären, wären sie unweigerlich in die Tiefe gestürzt. „Was nun?“ fragte Ellen schaudernd. „Wir können nicht weiter!“ „Zurück. Wir nehmen den anderen Gang.“ Sie tasteten sich rückwärts, erreichten die Gabelung und schlugen den zweiten Weg ein. Er führte bergauf. Tom fühlte jeden Schritt, den sie taten, mit dem Fuß vor. Als sie eine Viertelstunde durch die undurchdringliche Fin27
sternis dieses geheimnisvollen Röhrensystems gewandert waren, erreichten sie eine Art von Stern, von dem nach den verschiedensten Richtungen hin Gänge abzweigten. Während sie noch überlegten, vernahmen sie aus einem der Gänge Geräusche. „Menschen!“ flüsterte Ellen erregt. Sie schritten voran, jetzt doppelt vorsichtig. Schließlich machte der Gang, dem sie nunmehr folgten, eine Krümmung. Mattes Licht schimmerte auf. Sie schlichen auf Zehenspitzen weiter und vermieden jedes Geräusch. Dann standen sie vor einer Bretterwand. Der Lichtschein, den sie gesehen, kam durch einzelne Ritzen im Holz. Sie versuchten, hindurchzuspähen. Was sie sahen, schien eine Art von Kammer; zwei Bettkästen standen darin, ein Tisch und einige Schemel. Zunächst war außer einem kratzenden Schaben nichts zu hören. Dann sagte eine rauhe, von Tabak und Alkohol gebeizte Stimme: „Nicht vor dem Beginn der nächsten Woche, das steht fest!“ „Dauert länger, als ich geglaubt“, erwiderte jemand ebenso unsympathisch. „Den genauen Tag konntest du nicht erfahren?“ „Sie wissen ihn selber nicht. Wir müssen vorher noch einmal hinüber.“ Der zweite ließ ein ärgerliches Knurren vernehmen. „Dieses ewige Wechseln über die Grenze paßt mir nicht.“ Ellen stieß Tom an. „Schmuggel!“ sagte sie, und man merkte, daß ihr die Lösung des Rätsels nicht behagte. „Wenn sie uns hören, ist unser Unternehmen im Eimer“, rügte Tom. „Das interessiert mich nicht mehr, seit ich we daß es sich um Schmuggel handelt“, flüsterte Ellen zurück. „Wegen Schmuggelei läßt man aber keine Leichen durch unterirdische Bachläufe segeln.“ Sie hörten neue Geräusche; Schritte näherten sich der Kam28
mer. Dann klappte eine Holztür. „Was gibt’s?“ fragte einer ungehalten. „Müßt ihr jetzt noch stören?“ „Der Boß ist da“, erwiderte der Neue. „Was kümmert das uns? Wir sind Arbeiter und haben unsere feste Arbeitszeit!“ „Aber es gibt Whisky, und nicht zu knapp. Es lohnt sich!“ „Dann allerdings! Hätte schon Appetit auf einen langen Zug! Wieviel Flaschen hat er sich’s denn kosten lassen?“ „Überzeugt euch selbst.“ Alle drei verließen dann den Raum. Man hörte ihre Schritte auf dem steinerne Boden verklingen. „Eine undurchsichtige Angelegenheit“, meinte Ellen. „Bisher wenigstens! Sieht aus, als sei auf Señor Navarros Mine alles in Ordnung. Daß der Besitzer seinen Leuten Whisky bringt, ist verständlich. Wahrscheinlich würde er sie sonst gar nicht hier oben in dieser Einsamkeit halten können. Und wenn die Minenarbeiter ihre Freizeit dazu benutzen, ein wenig zu schmuggeln – nicht weiter schlimm! Nur der Mann mit dem Dolch in der Brust paßt nicht ins Bild!“ Tom untersuchte die Bretterwand, hinter der sie standen. Jetzt zog er sein Messer. „Hoffe, die beiden plaudern ein Stündchen mit ihrem Boß – hier ist ein Brett morsch! Ich möchte gern in die Kammer hinein!“ „Riskant, Tom!“ warnte die Reporterin. „Nicht riskanter als andere Dinge.“ Dann krachte es leicht, und wenig später schlüpften sie durch die Öffnung, warfen einen raschen Blick in die Ecken’ und huschten sofort auf die Tür zu, die einen Gang freigab, der erleuchtet war. Sie mußten sich sehr vorsehen. In regelmäßigen Abständen durchbrachen hölzerne Türen seine Wände; sie schienen in ähnliche Kammern zu führen wie die, aus der sie gekommen. Tom öffnete eine von ihnen. Sie führte zu einem 29
Raum, der nur Werkzeug enthielt. Am Ende des Ganges stießen sie wieder auf eine Tür; auch durch ihre Spalten schimmerte Licht. Sie wurde gerade in dem Augenblick aufgerissen, als sie sie erreicht hatten. In ihrem Rahmen erschien ein Mann, der in jeder Hand einen Colt hielt. „Hands up, Herrschaften!“ verlangte er. „Gut gebrüllt!“ flötete Ellen und legte ihr bezauberndstes Lächeln um den Mund. „Aber warum so bärbeißig? Ihr müßt ja nicht gerade eine Kompanie Ehrenjungfrauen aufstellen, wenn der Texas-Star anmarschiert, um eine Reportage über die interessanteste Silbermine der Welt zu starten; aber einen anderen Empfang dürften wir wohl verdient haben, nicht wahr, Tom?“ „Bring sie herein!“ hörten sie einen Mann, den sie nicht sehen konnten. „Steck dein Schießeisen ein und verschwinde!“ „Na also!“ sagte Tom. „Wenn es erlaubt ist, einzutreten – wir bringen die herzlichsten Grüße vom Texas-Star!“ In dem Augenblick, als sie den Raum von der einen Seite betraten, verließen ihn zwei Männer nach der anderen Seite hin so rasch, daß sie sie sich nicht näher ansehen konnten. In dieser Nacht langweilte Snuffy Patterson sich zu Tode. Er bewachte die Rottanne; sein Pferd hatte er einige hundert Meter weiter weg in einem Wäldchen untergestellt. Die Gegend war übersichtlich; von der Tanne aus konnte man weit ins Land sahen. Als es dunkel wurde, stieg er auf den Baum, suchte sich in dem dichten Geäst einen geeigneten Platz, streckte die Beine aus, lehnte den Oberkörper gegen den Stamm, benutzte ein dichtes Tannenwedel als Kopfkissen und schlief ein. Gegen drei Uhr morgens hüpfte ein Eichhörnchen über ihn hinweg. Er wurde dadurch aufgeschreckt, und da er im Augenblick nicht daran dachte, wo er sich befand, verlor er das Gleichgewicht. Er konnte sich noch im allerletzten Moment 30
festhalten; mit den Armen an dem Aste hängend, auf dem er die Nacht zugebracht hatte, mit den Beinen in der Luft, hörte er unter sich eine Stimme: „Damn, ich wußte, daß etwas an dieser Sache nicht stimmt! So zeitig konnte die erste Botschaft nicht da sein.“ Mehr wurde nicht gesprochen, denn der Ast, an dem Snuffy mit dem Gewicht seines Körpers hing, knackte, dann brach er mit einem Knall ab, und der Lange segelte in die Tiefe. Snuffy brauchte zwei Sekunden, um sich zu sammeln. Dann setzte er seine liebenswürdigste Miene auf und flötete: „Hallo!“ Die beiden Männer unter dem Baum starrten ihn an, als sei er tatsächlich vom Himmel gefallen. Snuffy rappelte sich auf, tastete seine Glieder ab, lächelte zufrieden, als er feststellte, daß nichts gebrochen war, und sagte mit einem gewinnenden Lächeln: „Bitte Platz zu nehmen, Gents! Geniert euch nicht!“ „Wer seid ihr?“ fragte der eine mißtrauisch. „Und wo kommt Ihr her?“ „Kleine Liebhaberei von mir, ab und zu mal einen Höflichkeitsbesuch da oben abzustatten. Schließlich kann man ja nie wissen …“ „Wohl ’ne weiche Birne?“ fragte der andere erstaunt. „Mein Chef behauptet das zuweilen auch“, gab Snuffy mit ehrlicher Offenheit zu, „obwohl ich da anderer Meinung bin. Aber ich hüte mich, zu widersprechen. Man soll nicht mit Vorgesetzten streiten, das ist eine alte Weisheit.“ „Falls Ihr etwa die Absicht habt, Euch über uns lustig zu machen –“ begann der Mann wieder. „Dies sei fern von mir!“ schwor Snuffy entrüstet. „Es wäre nett, wenn ihr ein Fläschchen Whisky bei der Hand hättet. Vielleicht auch etwas Eßbares, Gents?“ „Redet Ihr immer so geschwollen?“ wunderte sich der eine. 31
„Und immer mit dieser Geschwindigkeit?“ „Beileibe!“ verwahrte sich Snuffy. „Dies ist gewissermaßen mein erster Gang. Wenn ich den vierten einschalte …“ „Total verrückt“, sagte der andere ungeduldig. „Jagen wir ihn doch davon!“ „Und wenn ich nun ausgerechnet der Mensch bin, auf den ihr wartet?“ fragte der Lange mit listigem Augenzwinkern. Die Männer blickten sich an; sie schienen sich nicht im klaren darüber zu sein, was sie tun sollten. Und Snuffy beschloß, weiterhin den Mann zu spielen, der nicht alle Tassen im Schrank hat. „Wie steht’s also mit dem Whisky? Wer erfolgreich mit mir verhandeln will, muß meinen Geistesflug mit Alkohol ankurbeln. Im übrigen sind Tauben liebe, treue Tierchen, Brüder!“ „Sagtet Ihr etwas von Tauben, Nachbar?“ tastete sich nun der eine der beiden vorsichtig vor. Sie ließen sich neben dem Langen auf dem Erdboden nieder, holten ihre Pfeifen vor und fuhren, ehe sie sie in Brand setzten, kratzend mit den Handrücken über ihre Stoppelkinne, tun gleich darauf mit den Zeigefingern die Augenbrauen zu glätten. Snuffy übersah diese seltsamen Bewegungen leider und versäumte es so, ebenfalls sein Kinn zu kratzen und die Augenbrauen glatt zu streichen. „Wir haben nicht viel Zeit, und Eure Nachricht kam reichlich früh!“ „Ich liebe Geschwindigkeit, Freunde“, erwiderte Snuffy ohne Arg. „Wie lange willst du dir dieses blöde Gequatsche noch anhören“, meinte der eine geringschätzig zu seinem Kumpanen und warf sich in der gleichen Sekunde auf Patterson. Dieser hatte einen solchen Überfall nicht erwartet; zwar versuchte er, sich noch rechtzeitig zur Seite zu rollen, aber es war schon zu spät. Ehe er es schaffte, traf ihn der Coltgriff des ande32
ren so hart, daß funkelnde Sterne vor seinen Augen zu tanzen begannen. Er wehrte sich mannhaft gegen die Dunkelheit, die über ihn hereinbrechen wollte, aber der Coltgriff war stärker als sein Wille. „Narr!“ hörte er den Mann, der zugeschlagen hatte, noch sagen. Dann war es aus mit ihm. „Wie kam der Kerl bloß in den Besitz der Tauben?“ „Mag sich der Boß den Kopf darüber zerbrechen. Was machen wir mit ihm? Hier liegenlassen?“ „Zu gefährlich. Wer nicht mehr sprechen kann, verrät auch nichts.“ „Tote Menschen schreien oft noch lauter als lebendige“, entgegnete sein Kumpan. „Wie wär’s mit der Hütte?“ „Verdammt weit bis dahin!“ „Wir sind noch vor Hellwerden dort und wieder zurück“, rechnete der zweite schnell aus und schritt davon. Als er einige Minuten später zurückkehrte, brachte er ihre Pferde mit. Sie machten keine großen Umstände; einige Riemenstücke genügten, ihm Hände und Füße zu fesseln. Einer der beiden nahm ihn auf sein Pferd, und sie ritten davon. Sie erreichten einen kleinen, von hohen Wänden umgebenen Felskessel. Hier stand eine einsame, seit Jahren verlassene Blockhütte. Sie schleppten Snuffy hinein und ließen ihn unsanft zu Boden fallen. Die Hütte besaß kein Fenster. Nachdem der Lange versorgt war, verschlossen sie die Tür, die sich nach außen öffnete, mit einem breiten, hölzernen Riegel, und wälzten vorsichtshalber noch einen großen Stein davor. Dann verließen sie den Kessel an der einzigen Stelle, an der man hinein und heraus konnte. Sergeant Patterson bemühte sich krampfhaft, seiner Fesseln ledig zu werden. Er hatte lange gebraucht, wieder zu sich zu kommen. Er wußte nicht, wie lange er schon in dieser Hütte lag; als er erwachte, war es schon heller Tag; es mußte sich also um Stunden gehandelt handelt haben. 33
Seine Handgelenke waren wund, die Füße abgestorben, die Zunge klebte am Gaumen, das Rückgrat schmerzte. Er wußte nicht, wo er sich befand. Dann hörte er plötzlich Geräusche vor der Hütte. Waren das Pferdehufe? Er unterschied zwei Reiter, die sich dem Blockhaus näherten. – Das Getrappel kam ganz, nahe; die Tiere hielten, zwei Reiter sprangen aus den Sätteln, traten an die Hüttentür, wälzten den Stein fort und schoben den Riegel zurück. Snuffy drehte den Kopf zur Tür. Als er sie erkannte, sank das Barometer seiner Hoffnung auf Null: Das waren doch die beiden, denen er in der Nacht ins Garn gegangen war! Die Männer betrachteten ihn; einer stieß ihn unsanft mit dem Fuß an. „Aufgewacht, Mann?“ rief er spöttisch. „Interessierst du dich immer noch für Täubchen?“ Sein Komplice untersuchte die Fesseln; als er sah, daß sie noch in Ordnung waren, nickte er zufrieden. Dann verließen sie die Hütte, und als sie kurz danach erneut eintraten, schleppten sie einen ganzen Sack Lebensmittel herein, die sie im Hüttenschrank verstauten. Während sie auspackten, lief Snuffy das Wasser im Munde zusammen. Da gab es Speck, Eier, Brot, Schinken, Whisky – und alles in rauhen Mengen! Er stöhnte vor Wonne und Qual. Die Männer lachten. „Hunger?“ fragte der eine. „Hunger ist gar kein Ausdruck dafür“, entgegnete Snuffy kläglich. „In meinem Magen hat sich eine Musikkapelle einquartiert und konzertiert.“ Während sie Brot, Schinken und Speck schnitten und genießerisch zu essen begannen, wälzte sich der Lange unruhig auf seinem Platze hin und her. Doch die Männer schmatzten weiter. Sie säbelten an ihren Vorräten herum, als hätten sie eine Woche lang nichts mehr gegessen. Dann wurde es plötzlich draußen bei den Pferden 34
unruhig. Sie gingen hinaus, um nachzusehen. Kaum waren sie draußen, als Snuffy lebendig wurde. Die beiden Männer hatten ihre Messer auf dem Tisch liegen lassen! Eines davon lag so nahe an der Kante, daß es möglich sein mußte, es herunterzuangeln. Snuffy schob sich zum Tisch hin, ruckte einige Male rasch mit dem Rücken gegen die Tischbeine. Jetzt mußte es. jetzt – und dann fiel das Messer tatsächlich! Snuffy stieß es mit dem Ellenbogen an den Platz, auf dem er gelegen hatte. Dann rollte er seinen Körper nach und legte sich darauf. In der nächsten Sekunde traten die Banditen wieder ein. Sie waren jetzt zu dreien. Der dritte – Patterson hatte diesen bisher noch nicht gesehen – warf einen kurzen Blick auf den Gefangenen und lachte. Ohne sich noch einmal umzuwenden, schritten die Männer aus der Tür, schoben den Holzriegel wieder von außen vor und wälzten den Stein an seinen alten Platz. Snuffy wartete, bis er nichts mehr hörte. Dann machte er sich ans Werk. Das, was auf dem Tisch stand, erfüllte ihn mit ungeheuerem Tatendrang. Es kostete ihn trotz des Messers viel Mühe und eine Anzahl Wunden, bis er endlich frei war. Aber nach zwei Stunden war er seine Fesseln los. Sobald sein Blut wieder richtig zirkulierte, setzte er sich an den Tisch. Er schwor, nicht eher aufzustehen, als bis der letzte Bissen Brot, das letzte Stück Speck, das letzte Ei verzehrt und der letzte Tropfen Whisky getrunken war. Und er schaffte es in Rekordzeit. Nun besaß die Welt wieder Reiz für ihn. Er untersuchte die Tür, doch der Riegel hinderte ihn daran, das Blockhaus zu verlassen. Er rückte den Bettkasten zur Seite; dann spielte er eine Stunde lang Maulwurf.. Als er fertig war, hatte er unter der Blockhauswand ein Loch gebuddelt, durch das er hindurchkriechen konnte. Zwei Minuten darauf stand er im Freien, ein gesät35
tigter, sehr zufriedener Patterson. 3. Kapitel An dem Tisch in der Mitte des Raumes saß ein Gent. Eine von der Decke herabhängende Petroleumlampe paßte in die Umgebung wie die Faust aufs Auge. Überelegant gekleidet, sah er aus wie ein „Ladykiller“ im Film. Seine Gesichtszüge waren mexikanisch; auf der Stirn klebte eine Pomadenlocke. Tom Prox erkannte ihn wieder; er hatte ihn im spanischen Hause in Eltonville bereits gesehen. „Wir bitten um Entschuldigung, Mr. – hm – Unbekannt“, begann Tom mit allem Schmelz, den er in seine Kehle zu legen vermochte. Der Mann am Tisch verneigte sich. Seine Stimme war so ölig wie seine Stirnlocke. „Juarez Navarre von Eltonville, Herr des spanischen Hauses, wenn Ihnen das etwas besagt“, stellte er sich vor. „Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Heiße Tom Smith. Bin Redaktionsvolontär das Texas-Star – will lernen, wie man ein tüchtiger Reporter wird! Meine Lehrmeisterin hat mir allerdings versichert, ich würde es nie lernen.“ Er machte eine weitausladende Handbewegung. „Gestatten Sie, dies hier ist Miß Simson – Miß Ellen Simson! Eine der schönsten Frauen der Staaten und die begabteste Reporterin der Welt. Wir sind glücklich, Sie kennenzulernen, Mr. Navarro!“ „Sehr glücklich!“ pflichtete Ellen bei und schoß einen feurigen Blitz aus ihren schönen Augen zu dem Mexikaner hinüber. Señor Navarro legte die Hand aufs Herz. „Ich hatte bisher nicht viel für die Presse übrig“, erwiderte er schmalzig, „aber wenn sie in solcher Gestalt zu mir kommt –!“ Er legte Daumen- und Zeigefingerspitzen zusammen, hauchte einen Kuß darauf und betrachtete Ellen andächtig. Dann klatschte er in 36
die Hände. Der Mann, der sie empfangen hatte, schien hinter der Tür gewartet zu haben; T trat sofort ein. „Dies ist mein guter Alfonso“, erklärte Señor Navarro leutselig. „Er ist meine rechte Hand hier oben! Alfonso, einen Begrüßungsschluck!“ befahl er, und der Mann mit den Kanonen zog sich wieder zurück. „Darf ich fragen, wie Sie hier hereingekommen sind, Señorita? Natürlich öffnen sich vor solch erhabener Schönheit alle Türen von selber, aber –“ Er sprach nicht weiter; ein neuer Glutpfeil aus Ellens Augen schien ihn zu verwirren. „Beinahe hätten wir uns verirrt“, gestand die Reporterin mit kindlichem Augenaufschlag. „Sie haben keine Ahnung, wie ich mich fürchtete, Señor Navarro!“ „Kein Wunder, daß Sie niemandem begegneten“, erklärte der Mexikaner. „Ich beschäftige hier oben ja überhaupt nur drei Kräfte. Mehr trägt das Geschäft nicht. Die Mine wurde von den Indianern beinahe ausgebeutet. Wir fördern nur noch den Rest. Sonderbar, daß sich der Texas-Star für mein Bergwerk interessiert!“ „Sie sollen in letzter Zeit auf sehr ergiebige neue Adern gestoßen sein, Señor! Ihre Mine hat über Nacht Berühmtheit erlangt!“ Wieder blitzte es verlockend aus Ellens Augen. Der gute Alfonso kam wieder, brachte drei Gläser herbei und balancierte auf einem kostbaren Tablett zwei Flaschen, eine Whiskybuddel und eine, die irgendeinen giftigbunten Likör mit unaussprechlichem Namen enthielt. Navarro schenkte ein. Ellen wehrte ab, als sie das klebrige Zeug sah, und bat um einen Whisky. Sie nahmen einen tiefen Schluck, und dann sagte der Minenbesitzer unvermittelt: „Zweihundert Dollar für Sie, Señorita, und fünfzig für Ihren Gehilfen – ist das ein Wort. .?“ Ellen war verblüfft. „Ich war der Meinung, wir hätten eben angefangen, einander zu verstehen, Señor Navarro?“ hauchte 37
sie mit schmelzender Stimme. Der Mexikaner lachte. „Oh – Sie werden mich gleich verstehen! Aber wollen wir nicht vorher noch ein Gläschen trinken?“ Tom Prox lächelte. Glaubte Navarro, sie unter den Tisch trinken zu können? Der Mexikaner hatte jedoch andere Pläne. „Ich hoffe, Sie sind frei von Vorurteilen und einem kleinen Geschäft nicht abgeneigt, Señorita?“ Ellen ging auf sein Spiel ein, obwohl sie nicht recht wußte, wohin es führen würde. „Größere Geschäfte sind mir lieber als kleine“, erwiderte sie, „aber wenn große nicht zu haben sind, bin ich auch mit kleinen zufrieden!“ „Mehr als die angebotenen zweihundertfünfzig Dollar trägt die Sache nicht“, stellte der Mexikaner sachlich fest. „Nun lassen Sie die Katze aus dem Sack!“ „Sie erwähnen ein Gerücht von plötzlichen Silberfunden in meiner Mine?“ „Es stammt doch von Ihnen selber?“ Señor Navarro blickte sie mit offenem Munde an. „Woher wissen Sie denn das? Ich glaubte, die Sache sehr geschickt gemanagt zu haben!“ „Ich vermutete es“, lächelte die Reporterin. „Sie sind die klügste Frau der Staaten“, erklärte Navarro begeistert. „Sie haben recht, ich setzte dieses Gerücht selber in die Welt. Ein Schachzug, Señorita, und wie ich hoffe, ein kluger!“ Er holte fünf Fünfzigdollarnoten aus der Brieftasche und legte sie gefächert auf den Tisch. „Vier für Sie, einen für Ihren Volontär, Señorita!“ Dann flüsterte er gewichtig. „Die SwandeanMine brachte nie viel ein, und in letzter Zeit arbeitet sie sogar mit Verlust. Natürlich könnte ich sie stillegen, aber wer trägt dann die Kosten? Da dachte ich, wenn ich dieses Märchen von den Silberfunden in die Welt setzte, fände ich vielleicht einen Käufer, der dumm genug ist, mir einen Batzen Gold dafür zu 38
zahlen.“ „Und warum dies da?“ Ellen wies auf die fünf sorgfältig gefächerten Scheine. „Sie haben es doch längst erraten! Der Texas-Star schickte Sie hierher, um festzustellen, was an den Gerüchten wahr ist. Wenn Sie nun schreiben, daß tatsächlich eine reiche Ader entdeckt wurde – Sie brauchen es nur anzudeuten – kann ich mich vor Kauflustigen nicht retten!“ Tom angelte nach einem der Fünfziger. „Lassen Sie mich bitte den Artikel schreiben, Miß Simson! Wenn ich beim TexasStar hinausfliege, ist’s nicht so schlimm.“ „Sie werden sicher noch einen oder zwei Tage hier oben bleiben und sich in der Gegend umsehen wollen, Miß Simson? Ich muß leider nach Eltonville zurück; meine Geschäfte zwingen mich dazu. Und wenn Sie in einigen Tagen auch nach dort kommen, würde ich mich freuen, Sie im spanischen Haus begrüßen zu dürfen!“ Er verabschiedete sich mit einem feurigen Handkuß von Ellen und mit einem hochnäsigen Nicken von Tom Smith und ritt davon. – „Was tun wir nun?“ fragte die Reporterin, als Señor Navarro fort war. „Zurück in unsern Schlupfwinkel?“ Da trat Alfonso in den Raum. „Señor Navarro gab die Anweisung, Sie zu behandeln, als ob Sie Besitzer dieser Mine wären, Miß Simson! Wenn Sie einmal hier hineinschauen wollen –“ Er öffnete eine Tür zu einem wohnlich eingerichteten Zimmer mit allem Komfort. Ein Bett und eine diwanähnliche Ruhestatt standen darin. „Señor Navarro pflegt hier zu wohnen, wenn er oben ist“, erklärte er. „Leider kommt das nur selten vor. Sie sind sicher müde! Sobald es hell ist, führe ich Sie durch das Bergwerk. Sie können sich aber auch ohne Begleitung umsehen. Die Gänge sind gekennzeichnet. Das haben schon die Indianer getan.“ 39
„Ich bin müde, Miß Simson“, erklärte Tom Prox gähnend, „würde gern ein Weilchen schlafen. Schließlich muß mir ja der Texas-Star die notwendige Ruhe gestatten –“ Alfonso zog sich zurück. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, fragte Ellen leise: „Was hältst du von dieser Geschichte, Tom?“ Der legte den Finger auf den Mund, trat an die Tür und lauschte. Er hörte nichts. Eine zweite Tür war abgeschlossen; der Schlüssel steckte aber. Er öffnete sie. Sie führte in einen Bergwerksgang. „Etwas ist hier bestimmt nicht in Ordnung“, gab sie zu verstehen. „Die Kerle aus der Kammer bekamen wir nicht wieder zu sehen – das gibt mir zu denken!“ „Zu müde, um noch auf Erkundung auszugehen?“ fragte Tom. „Dafür bin ich nie zu müde!“ lachte sie vergnügt. Der Gang, in den sie kamen, war nicht lang; er mündete in den sternförmigen Verteiler, den sie bereits kannten. Sie beschlossen, alle Gänge, die von hier abzweigten, zu erforschen. Sie begannen mit dem ersten zu ihrer Linken. Nach ungefähr dreißig Schritten endete er plötzlich. Es handelte sich wohl um einen Luftschacht, denn an seinem Auslauf klaffte ein Felsriß senkrecht in die Höhe; als sie nach oben blickten, sahen sie in den Himmel. Sie kehrten zum Stern zurück, um den nächsten Gang zu untersuchen. Sie kannten ihn schon; die Gerätekammer und der Raum, in dem die beiden verschwundenen Männer hausten, lagen darin. Sie machten also wieder kehrt und durchsuchten den dritten Gang. Dieser schien sehr lang zu sein; sie wanderten schon wesentlich länger als in den beiden anderen und sahen kein Ende. Plötzlich faßte Tom Ellen beim Arm und hielt sie zurück. „Was ist los?“ „Es schleicht jemand hinter uns her! Möchte wissen, wer!“ 40
„Wir sollten ihn ruhig herankommen lassen! Schließlich haben wir ja von Navarro die ausdrückliche Erlaubnis, uns hier umzusehen.“ „Es scheint kein menschliches Wesen zu sein. Ich hörte ein kratzendes Wetzen oder wie ich es nennen soll. – Wenn wir gehen, geht es auch, und wenn wir stehenbleiben, steht es!“ „Es kann eigentlich doch nur ein Mensch sein.“ Tom bückte sich, suchte auf dem Felsboden herum, nahm einen Steinbrocken und warf ihn in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Polternd fiel er zu Boden. „Das gibt einen Lärm, als bräche ein Erdbeben los“, warnte Ellen. Dann hörten sie es beide. Ein scharrendes Kratzen, nicht übermäßig laut, für ungeübte Ohren kaum wahrnehmbar. „Mein Gott!“ Die Reporterin griff unwillkürlich nach Toms Arm. „Das sind ja mindestens acht Füße und keine Menschenfüße!“ „Hunde!“ erwiderte Tom. „Halbe Wölfe! Navarro scheint solche Tiere zu lieben. In seinem spanischen Haus gibt es sie auch.“ „Was sollen Hunde hier? Wenn seine Mine wirklich so wenig einbringt, wie er uns erzählte, gibt es doch nichts zu bewachen.“ „W e n n!“ erwiderte Tom. „Laß uns weitergehen! Wollen sehen, was dann geschieht.“ Es war immer das gleiche: Solange sie gingen, hörten, sie die schleichenden Schritte hinter sich, sobald sie hielten, wurde es still. Zu sehen aber war nichts. Schließlich wurden die Geräusche lauter; und dann sahen sie vier dunkelgrüne, phosphoreszierende Lichter, in gleichem Abstand voneinander, ungefähr achtzig Zentimeter über dem Boden Ellen zitterte leicht. „Wahrscheinlich darauf dressiert, dem ersten Menschen, dem sie begegnen, an die Kehle zu springen!“ „Schließlich haben wir Ja unsere Colts. Zwei Schüsse zwi41
schen zwei Lichter gesetzt, und der Spuk ist vorüber.“ Sie schritten weiter. „Die Colts heraus!“ zischte auf einmal der Ghostchef seiner Begleiterin zu. „Schießen!“ Gleich darauf krachte der erste Schuß. Ein Feuerblitz fuhr aus seiner Waffe. Die unheimlichen Lichter verloschen für eine Sekunde, glimmten jedoch sofort wieder auf. Der Schuß war vorbeigegangen. Ellen trat zwei Schritte zurück. Plötzlich schrie sie auf. „Holz, Tom!“ Aus ihrer Stimme klang Entsetzen. „Eine Falltür oder etwas Ähnliches! Sie gibt nach!“ Es krachte und splitterte in der gleichen Sekunde. Tom sprang auf Ellen zu, um sie festzuhalten. Auch er trat auf Holz. Alte, vermorschte Bretter brachen auseinander. Und in den wenigen Sekunden, die dieses Zwischenspiel dauerte, waren die Wächter mit den grünlich schillernden Augen sehr nahe aufgerückt. „Schießen!“ flüsterte Tom erneut und jagte einen zweiten Schuß hinaus. Ellen aber schrie gellend auf. Das Brett unter ihr brach endgültig auseinander. Auch er verlor den Halt. Er sah noch, daß zwei grüne Lichter erloschen, und vernahm ein langgezogenes Jaulen. Dann flog etwas über ihn hinweg. Er stürzte in die Tiefe. Unten schlug er hart auf. Sein Kopf dröhnte; sein Körper schien auseinanderbrechen zu wollen. Aber er lebte noch. Ein großer, schwerer Körper fiel auf ihn herab. Er spürte einen heißen Atem, hörte es keuchen, vernahm das scharrende Geräusch harter Krallen. Tom arbeitete sich hoch. Jetzt stand er wieder auf den Beinen. Er griff zu und bekam eine zottige Kehle zu fassen. Er spürte Krallen, die sich gegen seine Brust stemmten und drückte zu. „Tom!“ erklang in diesem Augenblick Ellens verzweifelte 42
Stimme. Er bog sich zurück, zog sein Messer und stach zu. Das Tier streckte sich und sackte zu Boden. Tom griff nach seiner Lampe; gleich darauf tastete ihr grellweißer Lichtschein den Raum ab, in den sie gestürzt waren. Er war nicht groß; es handelte sich um einen senkrechten, von der Natur geschaffenen Schacht, der ungefähr vier Meter unter dem Niveau des Ganges, von dem sie abgestürzt waren, endete. Vor Jahrhunderten mit Holz abgedeckt, seitdem nie wieder benutzt, war die Holzbrücke, die darüber gelegen hatte, mit der Zeit morsch geworden. Ellen hockte in einer Ecke ihres Verlieses und schaute mit angstvollen Augen auf Tom. „Alles noch einmal gut gegangen!“ tröstete dieser. „Sämtliche Knochen noch heil, Girl?“ „Sieht so aus!“ entgegnete sie, der der Schreck immer noch in den Gliedern saß. „Wie kommen wir nur aus diesem Gefängnis heraus?“ „Wollen erst abwarten, ob man noch weitere Überraschungen für uns bereit hat! Die Leute, die hier leben, kennen den Gang und seine morsche Brücke, und die Hunde laufen wahrscheinlich bei Nacht frei in den unterirdischen Gängen herum – als billige Wache sozusagen. Versuch aufzustellen! Ich möchte aus dieser Falle raus, ehe es Tag wird.“ „Wir haben weder eine Leiter noch die notwendigen Stricke“, wandte Ellen ein. „Laß mich nur machen! Zunächst werde ich mich an die Felswand stellen, und du kletterst an mir in die Höhe – bis auf meinen Kopf! Ungefähr vier Meter hoch ist der Schacht – höher, als wir beide zusammen groß sind! Aber wenn du die Arme ausstreckst, erreichst du vielleicht den oberen Rand. Falls es dir gelingt, dich hochzuziehen, muß es klappen.“ Ellen blickte zweifelnd nach oben. „Ich hab das Gefühl, als ob ich doch noch eine Story für den Texas-Star zusammenbe43
komme, altes Mädchen!“ sprach sie sich selber Mut zu. Tom stellte sich mit dem Rücken gegen die Felswand und legte die Hände ineinander; gleich darauf schwang sich Ellen auf seine Schultern. Wenig später schon stand sie auf seinem Kopf. Dann erklärte sie erleichtert: „Es geht, Tom! Wenn du noch etwas nachhelfen kannst, schaffe ich es!“ Er stemmte seine Hände unter ihre Füße und schob sie so nach oben. Bald darauf spürte er, daß das Gewicht des Mädchens nicht mehr auf ihm lastete. „Der erste Teil der Arbeit ist geschafft!“ ertönte ihre Stimme zu ihm herunter. „Ich liege auf dem Bauch und strecke meine Hände zu dir hinab! Ich fürchte nur, du wirst sie nicht fassen können.“ Es ging tatsächlich nicht. „Wir müssen es anders anfangen, Baby“, erklärte Tom schließlich. „Schleich zu den Werkzeugkammern! Sieh zu, daß du einen Strick auftreibst!“ „Laß dir die Zeit nicht zu lang werden, Boy! In einer Viertelstunde bin ich wieder zurück. So long!“ Ellen lief zu dem Stern zurück. Der Stollen, in dem die Magazinkammern lagen, war der zweite gewesen, den sie durchwandert hatten … aber in der Dunkelheit sah alles ganz anders aus. Wo befand sie sich? Mit welchen Zeichen war der Gang versehen, in den sie hinein mußte? Ja, hier … war dies der Gang? Natürlich! Ellen atmete erleichtert auf. Da begannen ja schon die Kammertüren! Hatten die nicht, als sie das erstemal hier waren, erst später begonnen? Sie versuchte die erste Tür, an die sie geriet. Abgeschlossen! Sollte sie tatsächlich in den falschen Gang geraten sein? Vorhin waren die Türen nicht verschlossen gewesen. Da – war endlich eine, an der kein Schloß hing! Sie öffnete. Vorsichtig trat sie in den Raum. Er war stockfinster. Sie tastete sich an der Wand entlang. Irgendwo mußte sie doch auf Gerät44
schaften stoßen. Und jetzt … jetzt legte sich ihre Hand auf die eines anderen Menschen! Sie fuhr zurück, versuchte, mit einem raschen Sprung die Tür zu erreichen! Aber sie war in der Zwischenzeit geschlossen worden! Was bedeutete das? Ellen lehnte sich, starr vor Entsetzen, mit dem Rücken gegen die geschlossene Tür. Sie biß die Zähne zusammen. Wenn sie sich von ihrer Furcht überwältigen ließ, war sie verloren! Nein, sie durfte ihre Furcht nicht über sich Herr werden lassen! Sie mußte … Nun glaubte sie, wieder vollkommen ruhig zu sein. Sie hielt den Atem an, um festzustellen, wo der andere steckte. Da legten sich zwei Hände mit lautloser Plötzlichkeit um ihren Hals! Es ging ums Leben! Sie hielt ihren Colt in der Linken; hatte ihn die ganze Zeit über darin gehabt. Jetzt riß sie die Waffe hoch und bohrte sie dem Mann, der sie zu würgen versuchte, in die Rippen. „Ich würde an deiner Stelle deine dreckigen Finger von Ellens Hals nehmen!“ sagte sie kalt. „Du riechst nach schlechtem Whisky, und diesen Geruch vertrage ich nicht! Hände weg und zurück an die gegenüberliegende Wand!“ Der Mann, der sie gepackt hielt, verlor den Mut, als er den Revolverlauf spürte. Er tat einen gewaltigen Satz nach rückwärts und ließ sich zu Boden fallen. Das Lachen verging ihr jedoch im gleichen Augenblick; sie fühlte sich plötzlich von der Seite her gepackt. Es waren also zwei Männer im Raum! Eine Hand griff nach ihrem Colt und drehte die Laufmündung nach unten. Sie ließ los und sprang beiseite. Ihr Vorgehen überraschte den zweiten Kerl. Er versuchte, mit den Händen nach ihr zu greifen. Sie duckte sich und schlüpfte unter seinen ausgestreckten Armen hindurch. Aber 45
das Katze-und-Maus-Spiel dauerte nicht lange. Diesmal wurde sie von vier Händen zugleich gepackt. Man zwang ihr die Arme auf den Rücken. Sie trat mit den Füßen um sich, aber die einzige Genugtuung, die sie hatte, war, die Männer, die sie hielten, fluchen zu hören. Sich loszumachen, gelang ihr nicht. Mit dem Mut der Verzweiflung bückte sie sich, so tief sie konnte, und biß um sich. Der Kerl schrie laut auf, ließ aber nicht los; der Schmerz verdoppelte seine Wut, und er schlug hart zu. Ellen bekam seine Faust zu spüren. Ein unsinniger Schmerz durchfuhr ihren Kopf, sie taumelte. Ein Streichholz flammte auf. Dann wurde eine Talgkerze angesteckt. Nun fesselten die beiden Männer, die sie überwältigt hatten, sie fest an Händen und Füßen, daß sie nicht einmal den kleinen Finger mehr zu rühren vermochte. Sie biß sich, zornig über ihre Niederlage, die Lippen wund. „Verdammtes Weibsbild!“ knurrte der Mann, den sie gebissen, erbost. „Was veranlaßt sie und ihren blöden Gehilfen dazu, hier herumzuschnüffeln? Señor Navarro ließ sich natürlich von ihnen einwickeln, und –“ „Warum regst du dich so auf?“ fragte sein Gefährte erstaunt. „Wir haben sie doch! Sie kann uns nicht mehr gefährlich werden.“ „Aber er lungert noch irgendwo herum – der Lehrling! Wo wollen wir sie übrigens hinschaffen?“ „Hier lassen! In dieser Kammer ist sie gut untergebracht! Wir hängen eines der dicken Schlösser von außen vor, und wenn’s ihr Spaß macht, kann sie ja schreien – es hört niemand!“ „Machte mich stutzig, daß die Hunde nicht wiederkamen!“ Sein Genosse kratzte sich den Kopf. „Schlage vor, wir suchen alle Stollen der Reihe nach ab! Irgendwo werden wir den ande46
ren auch finden.“ Sie legten Ellen an die hintere Felswand, verließen die Kammer, schlossen von außen ab und gingen davon. „Viel zu groß, dieses Ganglabyrinth“, knurrte der Mann mit der Laterne. „Man hätte die überflüssigen Stollen längst mit Brettern zunageln sollen! Kein Mensch kennt sich hier unten noch aus.“ „Alfonso ist ein fauler Kerl“, entgegnete der andere verächtlich. „Er tut bloß, was ihm befohlen wird. Wir sollten –“ „Gar nichts sollten wir! Je weniger die Leute wissen, desto besser!“ Sie schritten einen Gang nach dem anderen ab, bis sie schließlich auf den Hund stießen, den Tom erschossen hatte. Er lag längs der Felswand, alle viere von sich gestreckt. Ein Stück weiter hielten sie plötzlich – vor ihren Füßen gähnte ein Abgrund; morsches, zersplittertes Holz lag herum. Sie brauchten eine Zeit, um sich über die Situation klar zu werden. Schließlich wurden sie eifrig. „Der Kerl liegt wahrscheinlich da unten“, meinte der erste zufrieden. „Sagte ich nicht, man müßte diese alten, unbenutzten Gänge zusperren? Das hätte auch uns passieren können!“ Sie stießen die Bretterreste fort, dann legten sie sich flach auf den Bauch. Sie hielten den Atem an und lauschten. Sie hatten die Laterne einige Schritte hinter sich abgestellt. Vorsichtig brachten sie sie nun mit ausgestrecktem Arm über den Abgrund; als längere Zeit nichts erfolgte, wagten sie, auch ihre Köpfe über den Felsrand zu schieben. Dicht an der unebenen Steinwand lag ein Mensch auf dem Rücken; seine halbgeöffneten Augen starrten zu ihnen empor. Er war sonderbar verkrümmt; er mußte sofort tot gewesen sein, als er unten aufschlug. – Dann hatte der erste der beiden den Hund gesehen, der an der entgegengesetzten Felsmauer lag. „Auch der zweite ist hin!“ knurrte er erbost. „Schade! Die Tiere 47
waren ihr Gewicht in Gold wert, wenn es darauf ankam!“ „Was machen wir mit dem Toten?“ „Wir werden ihn wegschaffen müssen“, überlegte sein Kumpan. „Die Luft hier unten ist nicht gut .“ „Der Bach wird’s auch tun! – Hat er sich nun für das Bergwerk interessiert oder für uns?“ „Wir können ihn nicht mehr fragen!“ „Aber das Girl lebt, und ich werde es schon aus ihr herausquetschen!“ „Red nicht so viel! Schaffen wir ihn lieber weg! Wäre mir lieber, wir hätten die Sache erledigt, ehe Alfonso aufwacht und an die Arbeit geht. Der Kerl schnüffelt mir ein wenig zu viel herum.“ Tom wartete, bis ihre Schritte nicht mehr zu hören waren, dann brachte er seinen Körper in eine bequemere Lage. Verdammt anstrengend, einen Mann mit einem gebrochenen Rückgrat zu spielen! Wo aber steckte Ellen? Irgend etwas war schiefgegangen! Das Girl war losgegangen, um nach Stricken zu suchen, und an ihrer Stelle waren zwei Männer erschienen. Es dauerte keine zehn Minuten, da erschien die Laterne von neuem über dem Felsrand. Jemand spähte in die Tiefe, verschwand, und dann wurde oben eifrig hantiert. Bald darauf schlängelte sich ein starkes Seil herab. Dann schwang sich oben einer der beiden über den Felsrand und kletterte in die Tiefe. Die Laterne hing ihm am Gürtel, um seine Schultern lagen einige Seile. Ehe er sich dem „Toten“ zuwandte, der den ganzen Vorgang aufmerksam beobachtet hatte, warf er einen raschen Blick auf den Hund, um sich davon zu überzeugen, daß er auch wirklich tot war. Dann kniete er nieder. In diesem Augenblick fuhr der Ghost hoch; seine Rechte traf ihn haarscharf an der Kinnspitze. Es war ein harter Schlag. Der Bandit verdrehte die Augen, schwankte und glitt zu Boden. 48
Tom schob den Bewußtlosen zur Mauer und brachte ihn in die gleiche Stellung, in der er selbst gelegen hatte. Dann erhob er sich und zog am Seil. „Fertig?“ fragte der Mann oben, als er den Zug verspürte. Tom rief etwas Unverständliches und kletterte sofort los. Als er oben ankam, warf er einen Blick in den Gang. Der zweite Mann stand in einer Entfernung von drei Metern, wandte dem Loch den Rücken zu und hielt das Ende des Seiles mit beiden Händen fest. Tom schwang sich in den Gang, setzte kurz auf und flog mit einem gewaltigen Satz auf den nichtsahnenden Wächter zu. Er traf ihn mit solcher Gewalt, daß der Kerl das Gleichgewicht verlor und. vornüber stürzte. Er hielt es nicht für ratsam, den Überwältigten im Gang liegen zu lassen; er fesselte ihn an Händen und Füßen, band den Mann fest an das Seil und ließ ihn in die Tiefe hinab. Darauf kletterte er noch einmal nach unten, um ihn loszubinden. Als er endlich wieder oben stand, holte er das Tau ein und ging davon. Es dauerte nicht lange, bis er den Raum entdeckt hatte, in dem sich Ellen befand. Unterdrücktes Stöhnen wies ihm den Weg. In einer unverschlossenen Kammer versorgte er sich mit einer eisernen Stange. Mit ihrer Hilfe sprengte er das Schloß auf, das ihr Gefängnis sicherte. „Sag mal, hast du die Steeds schon einmal gesehen?“ fragte er sie sogleich. „Noch nie“, erwiderte Ellen. „Meinst du, daß die beiden es sein könnten?“ „Warum nicht?“ entgegnete Tom nachdenklich. „Ich kenne sie nicht persönlich, aber wenn ich mir von den Bildern, die ich im Gedächtnis habe, die Bärte wegdenke, könnte ich mir vorstellen, wie sie ohne Bart aussehen würden.“ „So etwas ist schwer“, wandte Ellen sofort ein. „Wer kann sagen, wie ein Igel aussehen würde, wenn er keine Stacheln 49
hätte? Aber etwas anderes – die Tätowierungen!“ „Welche?“ wunderte sich Tom. „Sind sie denn tätowiert? In dem Steckbrief, den ich auswendig kenne, ist nichts darüber erwähnt.“ „In den Informationen, die der Texas-Star bekam, war davon die Rede. Sie sollen auf dem linken Arm einen kleinen, tätowierten Ring tragen, mit einer Zahl drin. Was diese zu bedeuten hat, weiß ich nicht. Sie wurde auch nur von einem einzigen Menschen erwähnt, einem alten, versoffenen Individuum, das behauptete, sie von Kind an zu kennen. Wenn wir noch einmal in den Schacht hinabstiegen und uns die Arme der beiden ansehen würden?“ Sie kamen jedoch nicht dazu, diesen Gedanken auszuführen; denn gleich darauf erschien Alfonso; er war sehr verwundert, Señor Navarros Gäste hier zu finden. „Wir sind unterwegs, uns die Mine anzusehen“, erklärte Tom. „Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen!“ „Etwas passiert?“ fragte Alfonso besorgt. „Täte mir leid, wenn Ihnen hier unten etwas zustoßen würde! Nachdem Señor Navarro Sie so liebenswürdig empfing, fühle ich mich für Ihr Wohlergehen verantwortlich.“ Tom warf Ellen einen warnenden Blick zu. „Verdammte Unordnung hier“, knurrte Alfonso. „Das waren Jim und Taffy – die sind von einer Liederlichkeit, die zum Himmel stinkt, aber gute Arbeiter – wenn sie nicht gerade besoffen sind.“ „Wie lange haben Sie die beiden schon hier oben?“ erkundigte sich Tom. „Zwei Jahre. Ich weiß noch, wie sie heraufkamen, zerlumpt und halb verhungert. Zufällig war Señor Navarro gerade oben und stellte sie ein.“ Ellen war enttäuscht. Wenn die beiden schon seit zwei Jahren hier waren, konnten es nicht die Steeds sein. „Erzählen Sie uns bitte etwas über die Mine!“ bat Tom. „Sie 50
wissen doch, daß wir im Texas-Star darüber schreiben sollen.“ „Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich bin so lange hier, wie Señor Navarro die Mine besitzt. Zuerst arbeitete ich allein mit einem gewissen Jose. Der ist aber tot; ein herabkommender Felsblock hat ihn erschlagen.“ „Wieviel Leute beschäftigen Sie im Augenblick?“ „Fünf“, berichtete der Mex bereitwillig. Tom horchte auf. „Señor Navarro hat aber immer nur von dreien gesprochen! Was ist’s mit den anderen?“ „Da sind also Jim und Taffy, die ich schon erwähnte. Schade, daß sie so saufen! Sie liegen manchmal tagelang betrunken in ihren Kammern.“ „Und dann?“ „Ben und Joe“, zählte Alfonso weiter auf. „Etwas wüst, aber ganz brauchbar.“ „Seit wann bei euch?“ „Seit anderthalb Jahren.“ „Und wie arbeiten Sie hier?“ „Wir hauen von Montag bis Freitag Erz aus den Adern; am Samstag schmelzen wir ein, was wir im Laufe der Woche gefördert. Das gibt einen Barren oder, wenn’s hochkommt, zwei. Ich werde Ihnen nachher auch einen zeigen. Gutes Silber, aber zu wenig. Der Fels gibt nichts mehr her. Zwei ineinander verschlungene Ringe mit den Buchstaben J N sind unser eingetragenes Schmelzzeichen.“ Alfonso begann, in der Kammer Ordnung zu schaffen. Er krempelte dazu die Hemdsärmel hoch. Ellen stockte der Atem. Er trug auf dem linken Unterarm eine Tätowierung: einen Kreis, in dem die Zahl sechzehn stand! „Hast du das gesehen?“ fragte Ellen verblüfft, als sie die Kammer verlassen hatten. „Ausgeschlossen, daß Alfonso einer der Steeds ist! Aber – wie kommt er zu der Tätowierung?“ „Diese Mine birgt viele Geheimnisse.“ 51
In diesem Augenblick kamen ihnen zwei Männer entgegen; beide untersetzt und kräftig. Sie hatten sie noch nicht gesehen. Ihre Gesichter waren verwüstet, die Augen glasig und vom Alkohol umnebelt. Sie trugen Spitzhacken und blickten verwundert auf, als sie die Besucher sahen, sagten jedoch kein Wort. „Das müssen Jim und Taffy sein“, überlegte Tom. „Sie scheinen ihren letzten Rausch ausgeschlafen zu haben und wieder arbeiten zu wollen.“ Beide hatten die Ärmel hochgekrempelt, und beide trugen eine Tätowierung auf dem linken Ann: einen Kreis, in dem die Zahl sechzehn stand! „By gosh“, stammelte Ellen verwirrt, „wieviel Steeds gibt es denn eigentlich?“ „Señor Navarro würde untröstlich sein, wenn ich ihm gestehen müßte, Sie ohne Frühstück fortgelassen zu haben!“ sagte der gute Alfonso, als man sich wieder in dem Privatzimmer des Minenbesitzers befand. Sie setzten sich zu Tisch. Das Frühstück war ausgezeichnet. Nachdem sie gegessen, trug Alfonso eine große, bauchige Flasche dunkelroten mexikanischen Weines auf; er schmeckte wie die Sünde und ging ihnen wie Öl ein. Aber sie wurden schnell müde davon, und ehe sie wußten, wie es kam, sanken ihre Köpfe auf die Tischplatte. Zwar wehrten sie sich verzweifelt gegen den Schlaf, der sie überfiel, doch der Kampf war aussichtslos. Eine knappe halbe Stunde später kam Alfonso zurück. Er machte ein erstauntes Gesicht, als er sie so vorfand. Dann legte er Ellen auf Señor Navarros Bett. Tom dagegen ließ er einfach auf den Fußboden gleiten und dort liegen. 4. Kapitel Als Tom aus dem Schlaf erwachte, merkte er, daß er gefesselt 52
war. Er entdeckte dann auch den Mann, der auf einem Stuhl dicht bei der Tür saß. Der Kerl fuhr liebkosend mit den Fingern über den Lauf des Colts, den er im Schoß liegen hatte, als er den Ghost wieder lebendig werden sah. „Wünsche wohl geruht zu haben! Freue mich, Euch begrüßen zu können, Mr. Smith! So war doch der Name, den Ihr Señor Navarro nanntet? – Daß manche Menschen so leichtgläubig sind! Mir kam Smith gleich ein wenig komisch vor. Sollte ich nicht lieber Prox sagen?“ Tom lachte über das ganze Gesicht. „Erwartet Ihr nun ein Kompliment? Ich bin ausnehmend guter Stimmung und nicht abgeneigt, es auszusprechen .“ „Die gute Laune wird Euch gleich vergehen!“ „Mein Ihr wirklich? Je kräftiger man mich gefesselt hat, desto besser ist im allgemeinen meine Laune.“ „Ratten pfeifen immer dann am lautesten, wenn’s ihnen ans Leben geht! Hierherkommen, den Dummen spielen! Wenn Ihr so etwas tun wollt, dürft Ihr Eure Ausweise nicht mit Euch herumtragen! Garn, das Euch gelegt wird –“ „Ihr sitzt ja schon lange im Garn, Ghost Squad – Und geht in das erste Steeds!“ grinste Tom. „Der Unterschied ist nur der, daß Ihr es bisher noch gar nicht gemerkt habt.“ Der Mann auf dem Stuhl zuckte leicht zusammen; dann schüttelte er den Kopf. „Was nützt Euch das, Ghost?“ fragte er siegessicher. „Ehe Ihr dazu kommt, Euer Wissen zu verwerten, ist es aus mit Euch! Allerdings hatte ich gemeint, wir würden nicht so leicht zu erkennen sein.“ „Miß Simson hat eine ganz ausgezeichnete Spürnase. Sie schlug vor, ich sollte einmal versuchen, mir einen Igel ohne Stacheln vorzustellen. Das tat ich denn auch, und den Erfolg seht Ihr.“ „Nur nützt Euch das nichts mehr!“ Der Mann trat neben Tom, untersuchte sorgfältig seine Fesseln, nickte, wandte sich 53
nach der Tür und brüllte in den Gang hinaus: „Ben!“ Der zweite Steeds trat ein. Einen Augenblick weidete sich auch dieser an Toms Hilflosigkeit; dann sagte er grinsend; „Eins zu Null für uns, Ghost! Und damit ist das Spiel entschieden. Denn – es gibt diesmal keine zweite Halbzeit.“ „Soll ich euch einen guten Rat geben?“ erwiderte Tom Prox gelangweilt. „Kann Leute nicht leiden, die sich eines vermeintlichen Erfolges wegen aufblasen wie der Frosch, bevor er platzt. Begleitet mich nach Eltonville hinunter! Wir machen einen kleinen Besuch bei Sheriff Heydon. Ihr erspart mir dann Arbeit und euch viel Kummer.“ Die beiden lachten wie über einen guten Witz. „Yea“, überlegte Tom, „und für eine kleine Aufklärung wäre ich euch auch verbunden: Man berichtete mir, ihr wärt an einer Tätowierung am Unterarm zu erkennen – ein kleiner Kreis, in dem die Zahl sechzehn steht.“ „Der Mensch, der das verriet, lebt nicht mehr.“ „Und warum trägt Alfonso, warum tragen Jim und Taffy das gleiche Zeichen?“ „Es laufen noch mehr herum, die mit dem Kreis und der Zahl geschmückt sind. Als wir nämlich wußten, daß unser Erkennungszeichen verraten worden war, sorgten wir dafür, daß es mehr als nur zwei Menschen gibt, die dieses Zeichen tragen. Ihr habt ja keine Ahnung, wie viele sich für fünf Dollar so ’n Ding in den Arm stechen ließen! Mehr, als wir brauchten.“ „Thanks“, entgegnete Tom. „Das ist alles, was ich wissen wollte. Schließlich sieht man gern klar, ehe man jemanden dem Henker überliefert.“ Die Steeds packten den Ghost und schleppten ihn aus dem Raum. Er gab verteufelt acht, wohin es ging, denn es lag ihm daran, die Orientierung nicht zu verlieren. Sie schleiften ihn bis zum Stern und suchten dort nach dem richtigen Gang. Für Tom stand fest, daß Alfonso gelogen hatte, als er behauptete, die 54
beiden seien schon zwei Jahre hier oben. Dann ging es weiter; endlich schienen die Brüder am Ziel zu sein. An der Stelle, an der sie hielten, öffnete sich der Stollen zu einer Höhle mit niedriger Felsdecke. In einer Ecke des Raumes gab es eine tiefe Nische. Diese erwies sich als die Öffnung eines Schachtes, der in eine unbekannte Tiefe führte. Sie banden Tom ein Tau um den Leib und seilten ihn ab. Es ging ungefähr fünf bis sechs Meter hinunter; dann schlug er auf rauhem Felsboden auf. Tom hörte Schritte, die sich entfernten. Wollte man ihn hier verhungern lassen? Aufmerksam lauschte er durch die Stille. Nach einiger Zeit hörte er das Gluckern von Wasser. Er lag also irgendwo in der Nähe des Baches, der den Felsen singen ließ! Hatte das eine besondere Bedeutung? Seine Fesseln machten ihm keine Sorge: er war überzeugt, daß er sie bald los sein würde. Zwanzig Minuten später vernahm er, hoch über sich, Schritte. Die Brüder kamen zurück! Dann wurde ein Strick in die Tiefe gelassen, an dessen Ende eine schwerfällige Last pendelte. Diese legte sich ihm, als sie den Grund des Schachtes erreichte, quer über die Brust. Er wußte, daß es Miß Simson war. Gleich darauf kamen die Steeds unten an. Sie nahmen den Ghost wieder auf; und je weiter sie kamen, desto lauter wurde das Rauschen des Wassers. Endlich waren sie am Ziel. Es war jetzt nicht mehr völlig finster; die niedrige Höhlung, in der sie sich befanden, bekam durch einen Felsriß, der durch den ganzen Berg ging, von oben her Licht. Mitten hindurch floß der Bach. „Gerade die richtige Zeit!“ sagte Joe zufrieden, nachdem er einen Blick auf den Wasserlauf geworfen hatte. „Auch für uns die richtige Zeit“, erwiderte Ben. „In einer halben Stunde müssen wir an Ort und Stelle sein.“ 55
Sie nahmen den Ghost von neuem auf, legten ihn in eine kleine Steinmulde dicht neben dem Bachlauf. Dann verschwanden sie, um auch das Girl zu holen. Sie legten Miß Simson neben ihn und banden sie aneinander. „Unnütze Arbeit, die ihr euch da gemacht habt“, meinte Tom gelassen. „Wäre einfacher gewesen, mit mir nach Eltonville zu kommen.“ Das Arrangement, das die Brüder getroffen hatten, mußte einen ganz bestimmten Zweck haben; diesen herauszubekommen, bedeutete halb gewonnenes Spiel. „Kann sein, daß Ihr sie für unnütz haltet“, lachte Ben hämisch. „Ihr werdet aber bald merken, wozu das alles notwendig ist.“ „Erzähl’s ihm!“ feixte Joe. „Es wird ihm die letzten Stunden erleichtern, Ihm und der jungen Dame, die glaubte, es sei ein Kinderspiel, die Steeds zu fangen.“ „Dieser Bach arbeitet für uns!“ erklärte Ben schadenfroh. „Dunkel ist der Rede Sinn!“ erwiderte Tom. „Daß ihr eure Köpfe so anstrengt, nur um mir eine Freude zu bereiten, ist rührend! Im übrigen haben schon klügere als ihr versucht, einen Prox ins Jenseits zu befördern. Ich habe nämlich die unangenehme Eigenschaft, immer wieder von den Toten aufzuerstehen, und ich fürchte, ihr werdet das zu euerm Schaden recht bald merken.“ „Siehst du den Felsblock dort, wo der Bach die Höhle verläßt? Er ist nicht fest. Er versperrt dem Wasser den Durchlauf – staut es, der Bach tritt aus seinem Bett und füllt die Höhle – nicht ganz, aber so lange, bis der Wasserdruck stärker ist als der Widerstand, den der Stein leistet. Dann kippt das Ding um, und das Wasser fließt wieder ab. Wenn der Druck vorüber ist, schwingt der Stein in seine alte Lage zurück, und das Spiel beginnt von neuem. Nun weißt du Bescheid, und wir können euch jetzt allein lassen.“ Sie lachten beide ein sehr häßliches Lachen, aber der Ghost 56
schwieg. „Hat dir’s die Sprache verschlagen?“ spottete Ben. „Ich stelle mir gerade vor, wie euch der Henker die Seilschlingen um den Hals legt“, erwiderte Tom in aller Seelenruhe. „Und ich habe das Gefühl, es wird nicht mehr lange dauern, bis es so weit ist.“ „Damn!“ knurrte Joe. Seine Hand fuhr unwillkürlich nach dem Hals. „Laß ihn schwätzen!“ erwiderte Ben sorglos. – „Na, dann auf Wiedersehen in der Hölle, Ghost!“ Die beiden gingen. Tom Prox wartete, bis nichts mehr von ihnen zu hören war; dann machte er sich an die Arbeit. Interessant, diese Sache mit dem Felsblock, der nicht fest liegt und doch das Wasser staut; das also war das Geheimnis des singenden Felsens! Zwei Stunden – nicht viel Zeit, aber immerhin ließ sich in einhundertzwanzig Minuten allerhand schaffen. Schade, daß Ellen immer noch schlief! Tom warf sich hin und her; die flache Mulde, in der sie lagen, wies viele harte und scharfe Felskanten auf. Wenn er eine Kante fand, scharf genug, seine Fesseln daran durchzuwetzen. .? Seine Zähne waren gut. Während er sich mit Ellens Fesseln abmühte, gluckerte das Wasser in ewig gleichförmiger Melodie gegen den Stein. Vorläufig schien noch keine Gefahr zu bestehen; wahrscheinlich staute es sich zunächst einmal in Höhe des Felsens, der ihm den Weg versperrte. Später allerdings würde die Sache schneller gehen . . Der Strick war alt und wahrscheinlich schon oft mit Öl in Berührung gekommen, stellte er seufzend fest. . Es verging eine halbe Stunde, es verging eine ganze. dann merkte er plötzlich, daß sie sich zu rühren begann. Es dauerte noch eine Weile, bis sie endgültig erwachte und begriff, was vor sich ging. 57
Unverdrossen arbeiteten sie nun zu zweit. Die Zeit verging rasch, und das Gluckern des Wassers wurde immer lauter. Wieviel mochte von den, zwei Stunden schon vergangen sein? Dann hörte das Glucksen auf; ein Plätschern setzte ein, das sie beunruhigte. Das Wasser fing an, aus dem Bachlauf überzutreten und die Höhle zu füllen! „Ich schätze, wir haben nur noch eine knappe halbe Stunde Zeit“, überlegte Tom. „Dann läuft das Wasser in unsere Mulde; da sie nur flach ist, dürfte es zwanzig Minuten später so weit sein –“ „Und immer noch keine Aussicht auf einen greifbaren Erfolg!“ stöhnte Ellen. – Das Wasser war in der letzten halben Stunde rascher gestiegen, als die beiden vermutet hatten; obwohl Tom Ellens Fesseln bereits an drei Stellen gesprengt hatte, waren sie verloren, wenn es dem Mädchen nicht bald gelang, wenigstens eine Hand frei zu bekommen. Sie trug ein Messer im Stiefelschaft. Dann hatte das Wasser den Rand der Mulde erreicht. Ellen wurde nervös. „Nun wird’s aber höchste Zeit!“ Sie arbeiteten mit dreifachem Eifer; dann rief sie plötzlich erfreut: „Die Stricke dehnen sich! Noch eine kräftige Anstrengung – so ist’s recht, Tom!“ Nach einigen Minuten flüsterte sie erlöst: „Geschafft! Meine linke Hand ist los. Alles andere ist jetzt ein Kinderspiel – sobald ich das Messer aus dem Stiefel habe!“ „Gib acht, daß es dir nicht aus den Fingern rutscht!“ mahnte Tom. Vorsichtig holte sie das Messer heraus. Bald darauf fielen seine Fesseln. Der Ghostchef sprang mit einem Satz aus der Mulde. Ihr unterer Teil war schon voll Wasser gelaufen. Er schnitt Ellens Fesseln durch und riß sie hoch. Einen Augenblick lang sahen sie sich wortlos an. „Das war Rettung in letzter Minute!“ sagte sie aufatmend. „Nun aber raus aus diesem Hexen58
kessel!“ „Warten wir lieber, bis der Felsen singt“, erklärte Tom. Dann war es so weit. Ellen klammerte sich entsetzt an Tom. Das Wasser hatte seinen Höchststand erreicht, der Druck gegen den Stein war stark genug geworden. Das schwere, klobige Felsstück begann zu schwingen. Das Wasser gurgelte, röhrte, tobte und brauste; es war ein Höllenkonzert. Dann strömten die Fluten mit gewaltiger Macht aus der Höhle. Das Orgeln, Tönen und Rauschen wurde zum Orkan. Langsam ebbte es wieder ab, und als das Wasser abgeflossen war, schwang der Steinblock in seine alte Lage zurück. Das Spiel konnte von neuem beginnen. „Nun aber rasch nach oben, Baby! Die Steeds werden wahrscheinlich annehmen, daß wir ertrunken sind. Vielleicht kommen sie nach unten, um sich anzusehen, was von uns übriggeblieben ist. Ich möchte lieber oben mit ihnen zusammentreffen als hier.“ „Hoffentlich verirren wir uns nicht im Bauch des Felsens.“ „Ausgeschlossen. Nachdem wir dieses überstanden haben, kann uns nichts mehr passieren!“ Der Strick, an dem sie in die Tiefe hinabgelassen worden waren, hing noch. Sie kletterten daran hoch, eilten durch den Gang, und kurze Zeit darauf hatten sie den Stern erreicht. „Vorsicht!“ warnte Tom, als sie auf den Minenausgang zuschlichen. Sie kamen gerade zurecht, die beiden Steeds abreiten zu sehen! Sonderbarerweise nahmen sie nicht den Weg ins Tal hinunter; sie strebten weiter ins Gebirge hinauf, der Grenze zu. 5. Kapitel Dicht hinter dem Grenzübergang fand Tom ein Plätzchen, das abseits des Weges lag und nicht eingesehen werden konnte. 59
„Hier wollen wir Rast machen.“ „Wozu das? Ist es wirklich nötig?“ „Ich reite lieber hinter den Steeds her als vor ihnen.“ Sie führten die Pferde ein Stück abseits, und da sie nicht riskieren wollten, durch Schnauben oder Wiehern verraten zu werden, banden sie ihnen die Mäuler zu. Dann lagerten sie sich. Bald hörten sie zwei Reiter. Sie kamen rasch näher. „Da kommt noch jemand!“ stellte Ellen überrascht fest, „und zwar von der Mine her!“ Tom lauschte. Dann nickte er. „Auch zwei! Wäre sonderbar, wenn auf diesem sonst völlig unbenutzten Weg gleich vier Mann auf einmal unterwegs wären!“ Tom bat die Reporterin, zurückzubleiben; er selbst schlängelte sich vorsichtig an den Wegrand. Schon nach zehn Minuten kamen die Steeds heran. Sie hatten es offenbar sehr eilig. Ihre Pferde dampften. Die Brüder sprachen nicht miteinander. Sie ritten in Gedanken versunken nebeneinander her. Inzwischen wurden auch die Hufschläge der anderen immer lauter. Nach Toms Berechnungen mußten die vier nur wenige Meter von dem Platz entfernt zusammentreffen, an dem er lag. Die Steeds blickten sich verblüfft an; dann nickten sie sich zu. Gleich darauf sprangen sie aus den Sätteln. Sie brachten ihre Gäule in einer Tannengruppe unter und verbargen sich hinter einem Felsblock. Tom rechnete mit allem. Dann staunte er: Die Reiter, die von der amerikanischen Seite herkamen, waren ja sein Sergeant und Miß Markham von der Bayliss-Ranch! Wie kamen die beiden hierher und warum ritten sie zusammen? Was hatte der Lange da wieder ausgeheckt? Die beiden taten so unbesorgt, als gäbe es außer ihnen keinen anderen Menschen auf der Welt. Snuffys Mund stand nicht still. Er raspelte Süßholz, und dem Mädel schien das zu 60
gefallen. Nun hatten sie den Felsblock, hinter dem die Steeds lagen, erreicht. Im nächsten Augenblick klang Snuffys Stimme vorwurfsvoll durch den taufrischen Morgen: „Nicht nett von euch, Gents. Wenn zwei Liebesleute herankommen, guckt man weg. Ihr aber macht Stielaugen; gebt acht, daß sie euch nicht aus dem Gesicht fallen!“ Er hielt und blickte mit einem so einfältigen Gesicht auf die Männer hinter dem Felsblock, daß Tom an sich halten mußte, um nicht laut loszulachen. Aber die Steeds rührten sich nicht. Wenn Snuffy erst einmal zu reden angefangen hatte, war er nicht leicht zu bremsen. „Kommt hervor, ihr lieblichen Vöglein“, forderte er liebenswürdig. „Ich habe eine kleine Abneigung gegen Leute, die sich hinter Felsbrocken verstecken und dabei ihre Colts in den Händchen halten. Falls ihr uns aber zum Frühstück einladen wolltet –“ „Der Kerl scheint leicht angeknackt zu sein“, meinte Joe Steeds unwillig. „Gibt seltsame Tiere auf Gottes schöner Welt!“ Er erhob sich. Snuffy war guter Laune. „Wenn ihr uns einen Gefallen tun wollt, Nachbarn: Zwei Reisende gesehen? Einen Gent und eine Dame – nicht so verliebt wie wir!“ Er gab eine ausführliche Beschreibung des Ghostchefs und der Reporterin. Die Steeds hörten gelangweilt zu, dann wurden sie aufmerksam, und zum Schluß waren sie sehr interessiert. „Hättet schon nach den ersten drei Sätzen aufhören können, Mann“ erklärte Ben, als Snuffy schwieg, „wir haben die beiden getroffen!“ „Fein! Wenn ihr mir nun noch sagen wolltet, wo – wäre ich euch äußerst dankbar!“ „Das war schon gestern abend. Wir sprachen mit ihnen. Nach 61
dem, was sie sagten, sind sie hinter zwei schlimmen Verbrechern her! Nannten uns auch die Namen, aber wir haben sie leider vergessen. Ich glaube, wenn Ihr Euch beeilt, holt Ihr sie noch ein.“ „Ihr habt der Gerechtigkeit einen großen Dienst erwiesen“, dankte Snuffy überschwänglich. „Der Gerechtigkeit?“ fragte Ben. Es lag jetzt etwas Lauerndes in seiner Stimme. „Yea! Der Gent, den ich suche, ist Captain Prox von der Ghost Squad! Und ich bin der berühmte Snuffy Patterson. Sind hinter den Steeds her! Der Henker in San Francisco hat die Stricke für sie schon zurechtgelegt.“ Tom schüttelte den Kopf. War Snuffy denn völlig verrückt geworden? Der aber flüsterte Susan etwas zu; das Mädchen gab ihrem Pferd die Sporen und verschwand um die nächste Wegbiegung; er selbst wandte sich wieder den beiden Banditen zu: „Macht eure Futterklappen zu, Steeds, es könnten Fliegen hineinkommen!“ In der gleichen Sekunde war er aus dem Sattel. Die Colts der Steeds bellten. Snuffys Pferd stob davon, als werde es vom Teufel gejagt. Seine Stimme aber erklang von irgendwoher: „Nehmt die Hände brav in die Höhe und versucht die Wolken zu kitzeln. Vorher aber werft eure Colts weg, denn ich kann verdammt wild werden, wenn ich Waffen in den Händen anderer sehe. Wird’s bald?“ Noch ehe er ausgesprochen, fegte eine Serie von Schüssen auf die Stelle zu, von der seine Stimme kam. „Nicht doch! Ich vertrage solch eine Knallerei nicht!“ Die Steeds fuhren herum und ballerten von neuem los. Dann aber gab es eine Panne. Snuffys Gaul kam wider Erwarten zurück. Die Steeds warfen sich noch im letzten Augenblick zur Seite und landeten an der Stelle, an der der Lange sich im Augen62
blick befand. Die Steeds stießen ein Freudengeschrei aus und warfen sich auf ihn. Ein wüster Kampf begann. Tom hielt es nunmehr für an der Zeit, einzugreifen. Als die Brüder den Ghostchef erkannten, schienen sie plötzlich keinen Wert mehr auf die Fortsetzung des Kampfes zu legen. Sie sprangen ins nächste Gebüsch, und waren im gleichen Augenblick verschwunden. „Kannst du mir sagen, was du mit dieser verrückten Geschichte bezwecktest?“ fragte Tom seinen Sergeanten, als auch die beiden Frauen wieder zur Stelle waren. „Wir hätten unbarmherzig schießen sollen, Chef!“ meinte Snuffy. „Tot oder lebendig steht in ihren Steckbriefen!“ „Ich weiß, aber mir sind sie lebendig lieber – im Augenblick wenigstens! Wie kamst du überhaupt dazu, diese Komödie aufzuführen?“ „Ich habe eben auch Köpfchen!“ prahlte der Lange. „Und Augen! Ich erkannte sie auf den ersten Blick, wollte sie ganz allein erledigen – daß ihr in der Nähe wart, wußte ich nicht.“ „Leider hast du es nicht getan, mein Lieber.“ „Aber da war doch das Mädel, die Susan! Ich mußte sie erst in Sicherheit bringen. Wir reden noch später darüber! Zunächst muß ich ja erst einmal berichten, wie wir überhaupt hierher kommen! Als du so lange ausbliebst, bekam ich Angst um dich, Tom! Vielleicht saßest du irgendwo in einer Falle! Wir ritten also zur Mine hinauf; Susan war so freundlich, mir den Weg zu zeigen. Oben fanden wir dann den Verwalter gefesselt im Eingang; als wir uns umsahen, entdeckten wir zwei Arbeiter in einer der Kammern, so betrunken, daß sie nicht einmal durch Schüsse aufgeweckt werden konnten. Dann merkte ich, daß du den Weg ins Gebirge hinauf genommen hattest und beschloß, dir zu folgen. Das ist alles!“ „Einfach – aber nicht zweckmäßig! Du hast allerhand Porzel63
lan zerschlagen!“ „Ich?“ Snuffy tat entrüstet. „Bin auf meinem Weg keinem Porzellanladen begegnet, das kann ich beschwören.“ „Erstens wissen die Steeds nun, daß ich nicht allein bin, und zweitens, daß ich nicht ertrunken bin, und das ist das, was mich am meisten ärgert. Wäre so schön gewesen, wenn sie mich für tot gehalten hätten!“ „Ersoffen, Chef?“ staunte Snuffy. „Habt Ihr Euch da nicht wieder einmal auf ein Unternehmen eingelassen, das zu gefährlich war? Man darf Euch wirklich nicht allein lassen, Boß!“ In diesem Augenblick vernahm Tom ein verdächtiges Geräusch in der Nähe. Er konnte den anderen nur noch ein warnendes: „In Deckung!“ zurufen – dann knallte es auch schon. Sie warfen sich nieder, wo sie sich gerade befanden. Eine Reihe mehr oder weniger gut gezielter Schüsse fegte über sie hinweg. Snuffy hatte, seinen Colt längst in der Hand und spähte nach einer Gelegenheit aus, den ersten Schuß anzubringen. Gleich darauf stieß er die Waffe wieder ins Holfter zurück. „Da kriecht einer!“ Mit einem wilden Satz sprang er aus der Deckung und warf sich in das Gebüsch zu ihrer Rechten. „Dornen!“ rief er entsetzt. Und dann: „Kein Boden mehr unter den Füßen!“ Dann war alles still. Tom warf sich zur Seite; aber die Steeds schienen die Sache nunmehr endgültig aufgegeben zu haben. Hufgetrappel ertönte, ihre Pferde brachen aus dem Gebüsch, dann preschten sie ins Mexikanische hinüber. Tom lief noch ein Stück zu Fuß hinter ihnen her. Die Steeds holten zu gleicher Zeit ihre Colts hervor und wandten sich um – Dann knallte es. Die Steeds schossen gleichzeitig; sie jagten Schuß auf Schuß hinaus. Obwohl es nicht leicht ist, vom galoppierenden Pferd zu schießen – saß bereits der erste Schuß. Tom 64
taumelte; dann warf er plötzlich die Arme in die Höhe, drehte sich einmal um sich selber und brach zusammen. Er gab dabei nicht einen Laut von sich. „Tom!“ stöhnte Ellen fast unhörbar. Und aus Susans Augen sprach ein haltloses Entsetzen. „Tot!“ rief sie bebend. „Okay!“ antwortete der „Tote“ vom Erdboden her. „Ausgezeichnet! Wenn ihr könnt, bitte noch ein bißchen lauter! Vielleicht sähe es echter aus, wenn du weintest, Ellen!“ Ellens Augen weiteten sich. „Weitermachen, Girls!“ befahl Tom. Er lag auf der Erde, das Gesicht gegen den rissigen Fels gepreßt. „Bin sicher, daß die Steeds sich heranpirschen, um festzustellen, ob ich auch wirklich tot genug bin. Wo steckt der Lange?“ „Keine Ahnung.“ Ellen hatte sich sofort gefangen; sie war von Tom allerhand gewöhnt. „Seit er in den Dornbusch fiel, ist er verschwunden.“ Sie wandte sich Susan zu, blickte sie einen Augenblick verzweifelt an und fiel ihr dann um den Hals. „Er ist tot!“ klagte sie laut. „Sie haben ihn erschossen! Es ist schlimm, Mädel, wenn das Liebste stirbt, das man auf Erden hat –“ „Sehr ehrender Nachruf!“ kommentierte Tom. „Weiter im Text! Vielleicht entdeckt Susan auch einige gute Eigenschaften an mir.“ Susan wußte nicht, was sie tun sollte. „Was ist denn?“ stammelte sie verwirrt. „Warum müßt ihr dieses Theater aufführen?!“ „Drück auf die Tränendrüsen, Mädel!“ verlangte Ellen. „Vielleicht bringst du etwas Salzwasser heraus. Wenn nicht, mach’s wie ich – tu die Hände vors Gesicht, das sieht echt aus und wirkt Wunder.“ „Immer weiter so!“ drängte Tom. Man hörte Hufschläge; ein Reiter preschte heran. Es war Joe; für das, was festzustellen galt, genügte wohl einer. Er sah den reglosen Ranger auf den Steinen liegen, sah die beiden Frauen 65
mit den Händen vor den Gesichtern – mehr brauchte er nicht. „He!“ schrie er höhnisch. „Endlich erledigt! Hört auf zu heulen – Tote werden nicht mehr lebendig! Warum mischte er sich auch in unsere Geschäfte? Gibt noch viele Männer im Wilden Westen! Muß nicht grad jemand von der Ghost Squad sein – die ohnehin ihren Totenschein ständig bei sich tragen. Wir sind die Steeds! Aber wir gehen jetzt außer Landes. Haben die Erfahrung gemacht, daß die Kerle von der Ghost Squad wie die Wanzen sind: Sobald man eine zerquetscht, rücken die anderen sektionsweise nach.“ Er wendete sein Pferd und ritt davon. Tom blieb noch eine Zeitlang reglos liegen; die Steeds waren so gewitzte Burschen, daß man ihnen nicht über den Weg trauen konnte. Ellen stand, als sei sie zur Salzsäule erstarrt und lauschte. Dann huschte sie in die Büsche und war verschwunden. Sie brauchte gut zwanzig Minuten, bis sie wieder erschien. „Okay, Tom“, erklärte sie fröhlich, „du kannst jetzt von den Toten auferstehen! Sie sind fort, und diesmal sind sie es wirklich. Ich folgte ihren Spuren und hörte das Getrappel ihrer Pferde – sie sind jetzt mindestens schon eine Meile weit weg und gute hundert Meter tiefer als wir. Also keine Gefahr mehr!“ Tom erhob sich, streckte die Glieder und steckte sich eine Zigarette an. „Dann wollen wir uns um Snuffy kümmern! Die Kerle sprachen etwas von abstürzen. – Wenn’s nicht Snuffy wäre, würde ich in Sorge sein. Aber der Kerl hat einen Extraschutzengel. Macht die größten Dummheiten und kommt immer wieder mit heiler Haut davon. – Ich glaube, der Dornbusch dort war’s.“ Sie gingen hinüber. Es gab da einen Abgrund, der vom Wege aus nicht zu sehen war, da ihn Buschwerk und Sträucher verdeckten. Dicht dahinter fiel der Fels dreißig Meter senkrecht ab; ausgeschlossen, daß jemand, der dort hinunterstürzte, mit dem 66
Leben davonkam! „Hier hinunter?“ stammelte Susan und tat einen Blick in die Tiefe. „Würde es Ihnen ein wenig leid tun, Susan?“ fragte eine Stimme leise zu ihren Füßen. Sie erkannte sie am Klang und sprang entsetzt zurück. Schreckensbleich blickte sie Ellen an. „Was ist mit Ihnen los?“ entfuhr es Miß Simson besorgt. „Sie sehen aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen!“ „Ich sah keines“, entgegnete Susan, immer noch vollkommen verstört, „aber ich kann beschwören, daß ich eins hörte!“ Inzwischen war auch Tom herangetreten. „Er kann nicht abgestürzt sein, man müßte ihn sonst unten liegen sehen“, meinte er. „Keinen Nachruf für deinen lieben Snuffy, Tom. Ein kleines, stilles Gedenken in der Morgenstunde wäre vielleicht doch angebracht.“ „Wo steckst du denn?“ fragte dieser verblüfft. „Hast du die Absicht, uns zum besten zu halten? Unser Bedarf an Überraschungen ist nun aber gedeckt!“ „Dankbar wäre ich dir, wenn du nicht so nahe an den Abgrund herankommen wolltest, daß du mir auf die Finger trittst. Dann müßte ich die Strauchwurzel vielleicht doch noch loslassen –“ Tom Prox ließ sich auf die Knie nieder, und als er auch dann noch nichts sah, legte er sich flach auf den Bauch. Nun entdeckte er Snuffy; der Absturz wölbte sich in seinem obersten Teil nach innen und brachte so eine Art Hohlkehle zustande; die Wurzeln des Dornstrauches, der so dicht am Abgrund wuchs, daß er ihn zum Teil verdeckte, hingen an dieser Stelle frei in der Luft. Snuffy hatte Glück gehabt; es war ihm gelungen, sich im Sturz an einer von ihnen festzuhalten. Von selber wieder in die Höhe zu kommen, ging aber über seine Kräfte. „Wenn du mir deine Hand herunterreichen wolltest, Toni, du 67
könntest mich dann leicht hochhieven.“ Der Ghostchef streckte ihm eine Hand entgegen; mit der anderen mußte er sich an einem kräftigen Ast festhalten, um. selbst nicht in die Tiefe gerissen zu werden. Mit einiger Mühe gelang es, den Langen so weit in die Höhe zu bekommen, daß er selber nach dem Ast greifen konnte, und damit war es geschafft, als er auch schon losschimpfte. „Diese hinterlistigen Hunde! Einer von ihnen saß neben dem Strauch, ich weiß nur nicht genau, ob es Ben oder Joe war! Schließlich hab ich mit ihnen noch abzurechnen!“ Die beiden Mädchen mischten sich ins Gespräch. Snuffy wollte eine eingehende Schilderung der Gedanken und Gefühle vom Stapel lassen, die er hatte, während er an der Strauchwurzel hing, aber Tom schnitt ihm das Wort ab. „Die Äxte vom Sattelzeug geschnallt!“ befahl er. „Wir müssen eine Menge Stangen schlagen.“ „Stangen, Boß?“ staunte Snuffy. „Was wollen wir denn damit?“ „Tragen bauen.“ „Wozu Tragen? Wir sind doch gottlob alle heil.“ „Leider irrst du dich. Du und ich sind tot! Schon seit einer guten Stunde.“ Snuffy ging ein Licht auf; er grinste verständnisinnig. „Für die Damen wird’s aber etwas schwierig werden“, überlegte Tom. „Natürlich reiten wir den ersten Teil des Weges noch; sobald wir aber an die Mine kommen, müssen wir unsern Geist wieder aushauchen, was dir nicht schwerfallen wird, Snuffy.“ „Meinst du, ich hätte nichts auszuhauchen?“ empörte sich der. „Keine falschen Anschuldigungen, Chef! An dieser Stelle bin ich empfindlich.“ „Wenn wir in die Nähe der Mine kommen, legen wir uns auf die Tragen und spielen tot. Gib acht, daß du nicht ausge68
rechnet im falschen Moment niesen mußt, Langer! Die Mädchen machen kurze Rast, erzählen Alfonso ihr Leid und weinen – dann ziehen sie weiter ins Tal hinab. Nach der ersten Wegbiegung werden wir wieder lebendig – das heißt, nachdem wir uns davon überzeugt haben, daß man uns nicht folgt.“ 6. Kapitel Eine halbe Stunde, bevor sie die Mine erreichten, nahmen Tom und Snuffy ihre Plätze auf den Tragen ein. Alfonso befand sich im Freien, als der traurige Zug daherkam. Die Mädchen hielten, und verbrachten eine gute Viertelstunde damit, ihm eine rührende Geschichte zu erzählen. Er floß vor Mitgefühl über und bot seine Hilfe an. Ben und Joe waren zwar fort, und man konnte nicht annehmen, daß sie zurückkehren würden. Natürlich hatte er noch Jim und Taffy zur Verfügung, aber die beiden waren schon wieder so blau, daß sie von Gott und der Welt nichts wußten. Schließlich schlug er den Damen vor, die Toten in der Mine zu lassen und allein ins Tal hinunterzureiten; der Sheriff von Eltonville konnte sie am andern Tage abholen. Aber das wollten die Mädchen nicht. Nachdem sie noch ein wenig geweint, zogen sie weiter. Sie waren kaum um die nächste Wegbiegung verschwunden, als Snuffy von der Bahre sprang und einen Indianertanz aufführte mit der Begründung, es sei unumgänglich, seinen toten Gliedern etwas zu tun zu geben. „Ich denke, das Schauspiel, das wir bisher gaben, genügt. Du reitest jetzt mit Miß Susan zur Bayliss-Ranch hinunter; Ellen und ich bleiben hier oben. Ich will meine Stiefel ohne Pfeffer und Salz verschlingen, wenn die Steeds nicht bald wieder hier auftauchen! Alfonso wird ihnen von dem Trauerzug erzählen, und sie werden ihre Annahme, uns erledigt zu haben, bestätigt 69
finden.“ „Alfonso wird sie mit der Büchse in der Hand empfangen“, mutmaßte Snuffy. „Möglich“, erwiderte Tom leichthin. „Vielleicht auch nicht, wenn er klug ist. Sie sind nämlich zwei, und er ist allein. Auf die beiden Suffköpfe kann er sich nicht verlassen.“ „Willst du mir nicht deinen Schlupfwinkel zeigen, ehe ich mit Susan weiterreite?“ bat Snuffy. „Schließlich muß ich ja wieder nach oben kommen, um Bericht zu erstatten – nachdem ich mich in der Gegend umgehört habe, wie du so schön sagtest, Chef!“ Sie ritten nach der Höhle. Kurze Zeit später verabschiedeten sich Snuffy und Susan. Tom und die Reporterin blieben zurück. Während sie den Kaffee kochte, holte er die amtliche Karte des Gebietes hervor, die er mit sich führte, legte die Skizze, die er nach Bens Blatt angefertigt hatte, daneben und begann ein anstrengendes Studium. Er brauchte lange, bis es ihm gelang, die Skizze auf einen bestimmten Teil der Karte zu projizieren, und war sich zum Schluß trotzdem nicht völlig klar darüber, ob er sich nicht irrte. Ellen sah ihm zu. „Ich möchte zu gern wissen, was die Steeds hier oben für eine Teufelsbrühe kochen! Daß sie sich nicht nur deshalb hier aufhalten, weil die Swandean-Mine ein ausgezeichnetes Versteck ist, scheint mir klar. Was sie aber beabsichtigen, weißt auch du bisher nicht. Du hattest mehr als einmal Gelegenheit, sie auszulöschen, wolltest es aber nicht! Ich weiß auch, warum! Weil sie hinter einer neuen Sache her sind! Und da es wahrscheinlich das letzte Gastspiel ist, das sie hier geben, wird es besonders wüst ausfallen. Wie ich dich kenne, wirst du deine Hand erst in dem Augenblick auf sie legen, wenn sie glauben, den Erfolg schon in der Tasche zu haben. Stimmt’s, Tom?“ „Gut gebrüllt!“ lachte der Ranger. 70
Sie aßen, und danach schliefen sie etwas. Am Spätnachmittag machten sie sich auf den Weg nach der Mine. Sie benutzten wieder den Bachlauf und kamen in Jims und Taffys Kammer. Die beiden waren immer noch betrunken; sie lagen auf ihren Lagern und pennten. Am Eingang wären sie beinahe mit Alfonso zusammengestoßen. Sie trafen in einer Gangbiegung mit ihm zusammen und konnten sich noch im letzten Augenblick zur Seite drücken. Er war nicht allein; sie hörten Schritte, die ihm folgten. Ellen griff nach Toms Arm, als sie die beiden erkannte, die hinter Alfonso hergingen. Sie trugen Laternen in den Händen. Es waren die beiden Steeds, und sie schienen im besten Einvernehmen mit Alfonso! Die drei flüsterten eifrig miteinander. Trotzdem konnten Tarn und Ellen jedes Wort verstehen. Ben schien mit irgend etwas unzufrieden. „Hol mich der Teufel!“ knurrte er böse. „Wir sind da oben an der Grenze zu gutgläubig gewesen! Wir hätten uns nicht nur damit begnügen sollen. .“ „Unnütze Sorgen, Ben!“ widersprach Alfonso. „Die beiden sind tot. Sah sie selber. Sie brachten sie auf zwei Bahren herunter. Die Girls hatten allerhand Arbeit mit ihnen .“ „Die beiden?“ wunderte sich Ben. Sein Mißtrauen wuchs. „Devil!“ flüsterte Tom seiner Begleiterin zu. „Das war ein Fehler von uns! Snuffy fiel in den Abgrund, und wir brachten ihn als Leiche vorüber!“ Alfonso schien nichts an der Sache zu finden. „Warum nicht?“ sagte er achselzuckend. „Dreißig Meter bedeuten keine unüberwindliche Schwierigkeit. Wer überläßt einen Toten gern den Geiern? Sie haben ihre Lassos zusammengebunden, und eine von ihnen kletterte eben hinunter.“ Plötzlich fragte er geheimnisvoll: „Wann ist es wieder soweit?“ Ben und Joe spähten beide wie auf Kommando durch die 71
Gänge, ehe sie antworteten. „Dunham-Rees-Schlucht“, erklärte Ben so leise, daß Tom Mühe hatte, ihn zu verstehen. „Gutes Terrain. Welche Zeit?“ „Wie üblich: Sechs Uhr!“ „Dann könnt ihr also gegen Mittag wieder hier sein“, überlegte Alfonso. „Wenn’s gut geht!“ erwiderte Ben, und es lag ein sonderbarer Zweifel in seiner Stimme. Alfonso lachte auf. „Nanu? Warst doch sonst immer die Zuversicht selber!“ Ben lief plötzlich rot an. Er packte Alfonso’ mit der Linken an der Brust, während die Rechte mit dem Colt nach dem Herzen des Minenverwalters fuhr. Der schrak zusammen. „Was ist denn los mit dir?“ keuchte er entsetzt. „Mach keine Dummheiten!“ „Wenn du auch nur ein Wort über das verlauten läßt, was du jetzt gehört hast!“ „Du bist mit deinen Nerven wohl nicht mehr ganz in Ordnung“, zeterte Alfonso. „Ein Mensch mit Nerven ist eine Gefahr für seine Kameraden.“ Ben lachte verlegen, während er den Colt wieder ins Holfter zurückstieß. „Diese Prox-Geschichte macht mich noch ganz wild“, entschuldigte er sich. „Hab schließlich auch die andern Male dicht gehalten“, maulte Alfonso. „Ich muß ja wissen, für welche Zeit die Vorbereitungen zu treffen sind! Muß alles verteufelt schnell gehen; die Sache ist zu gefährlich.“ Tom wartete, bis ihre Schritte verhallt waren. Dann lachte er. „Okay“, erklärte er zufrieden. „Jetzt wissen wir, was wir wissen müssen! Die Ergebnisse meines. Kartenstudiums sind bestätigt. Gehen wir! Diese verdammte Mine kommt mir wie eine Rattenfalle vor; bin froh, wenn ich den blauen Himmel wieder über 72
mir habe.“ „Aber –“, wandte Ellen ein. „Dunham-Rees-Schlucht, die Skizze ist mir jetzt so klar wie dem Abc-Schützen die Fibel.“ Sie sollten nicht dazu kommen, sich einen freien Tag zu leisten. Am Nachmittag erschien Señor Navarro auf der BaylissRanch, wie üblich von seiner Eskorte aufgeputzter Cowboys begleitet. Tom Prox, der nichts riskieren wollte, verschwand gerade noch rechtzeitig; vorher schärfte er Ellen ein, ja nicht zu vergessen, die trauernde Hinterbliebene zu spielen. Snuffy und Susan befanden sich draußen; es war nicht anzunehmen, daß sie vor Abend zurückkamen. Trotzdem legte sich Tom vorsichtshalber auf die Lauer; er wollte sie abfangen, solange Señor Navarro auf der Ranch war. Der Mexikaner zeigte sich stark an den Vorgängen im Gebirge interessiert; er fragte Ellen nach allen Regeln der Kunst aus und war äußerst überrascht, als er erfuhr, wen er in den beiden Steeds für die Minenarbeit eingestellt hatte. „Daß sie allerhand auf dem Kerbholz haben, nahm ich an“, erklärte er offen, „ich gebe auch zu, daß mich dergleichen im allgemeinen nicht stört. Wenn ich von jedem, den ich oben einstelle, noch ein Leumundszeugnis verlangen wollte, würde ich überhaupt keine Arbeitskräfte bekommen. Aber daß es nun ausgerechnet die Steeds sind –“ Er schüttelte den Kopf. „Ich hätte nie und nimmer gedacht, daß zwei Mörder bei mir Unterschlupf fanden!“ „Sie sind ja nun fort“, tröstete ihn Miß Simson, „und ich glaube nicht, daß sie je wieder zurückkommen!“ Sie verschwieg, daß die Steeds längst da waren und mit Alfonso unter einer Decke steckten. – Warum sollte sie Señor Navarro unnütz aufregen? „Erinnern Sie sich an das, was wir miteinander absprachen?“ fragte der Mexikaner drängend, als sie für einen Augenblick 73
allein waren. „Es liegt mir viel daran, daß der Artikel über die Mine bald erscheint – ich mag sie nicht mehr haben, nach dem Vorgefallenen schon gar nicht! Meine anderen Besitzungen und meine Handelsbeziehungen bringen mir genügend ein.“ Er wandte sich an die Rancherin, die in diesem Augenblick wieder eintrat. „Schon mit Susan gesprochen, Mrs. Markham? Ich hege keinen größeren Wunsch, als eine Familie zu gründen und inmitten einer Schar lieber Kinder zu leben!“ – Zu der gleichen Zeit saß Patterson mit Susan auf dem oberen Rande eines Wassergrabens. Er wollte gerade eine längere Rede vom Stapel lassen, da tauchten plötzlich in der Ferne zwei Reiter auf. „Sieh einmal da hinüber, Mädel!“ flüsterte er Susan zu, „und dann wollen wir uns dünnmachen – die Kerle interessieren mich!“ „Das sind doch –“, staunte Susan. Snuffy wollte Susan von der Erhöhung ziehen, um nicht entdeckt zu werden, tat das aber ein wenig zu hastig; Susan verlor das Gleichgewicht und rutschte in den Graben. Die Gauner ritten sehr langsam; sie ließen sich Zeit. Nach einer Ewigkeit trauten sie sich endlich wieder nach oben. Die Reiter waren vorüber; die Bayliss-Ranch schien ihr Ziel zu sein. Snuffy wunderte sich. Snuffy und Susan folgten ihnen; sie huschten von Busch zu Busch und von Strauch zu Strauch, um von ihnen nicht gesehen zu werden. Die Reiter taten wie das verkörperte gute Gewissen. „Möchte wissen, was diese Stinktiere im Schilde führen. Wird Zeit, daß ich ein Wörtchen mit meinem Chef rede – sie haben es sicher auf die Ranch abgesehen!“ „Du jagst einem ja richtig Angst ein“, beklagte sich Susan. „Seit ihr da seid, kommen wir aus den Aufregungen nicht mehr heraus!“ Snuffy konnte darauf nicht mehr antworten. Als sie an einem Gebüsch vorüber wollten, klang ihnen ein leises, aber gebieteri74
sches „Stop!“ entgegen. Gleich darauf teilten sich die Zweige, und Toms lachendes Gesicht kam zum Vorschein. „Tut mir leid, Señor Navarro ist auf der Ranch, und da Tote nicht in Wassergräben fallen können, wirst du wohl oder übel warten müssen, bis er wieder fort ist.“ Snuffy berichtete über die beiden Gauner, die sie soeben gesehen, und Tom stieß einen erstaunten Pfiff aus. „Sie kehren ins Haus zurück, Susan.“ „Ich habe aber keine Sehnsucht, Señor Navarro zu begegnen. Darf ich nicht lieber mit Ihnen gehen?“ Tom schüttelte den Kopf. „Gehen Sie heimlich auf Ihr Zimmer. Bei unserer Unterhaltung mit den Gaunern sind Sie überflüssig.“ „Schließlich könnte es so etwas wie eine Prügelei geben, und es täte mir leid, wenn Ihre Verzierungen dabei Schaden litten“, ergänzte Snuffy. Susan bequemte sich endlich, ins Haus zurückzukehren. Die Ghosts machten einen Umweg, um die Stelle zu erreichen, an der Snuffy die Gauner zuletzt gesehen hatte. Die beiden hatten sich ausgezeichnet getarnt. Sie hockten hinter einem Strauch und hielten angestrengt Ausschau. Was sie interessierte, war das Tor der Bayliss-Ranch. „Könnte mir denken, daß sie die Absicht haben, zu stehlen“, ließ sich Snuffy vernehmen. „Gib acht, Chef – jetzt schleicht Susan ins Haus!“ Das Mädchen war bisher nicht zu sehen gewesen; nun tauchte sie aus dem Strauchwerk auf, schlüpfte durch das Tor und war verschwunden. Sie nahmen von dem Girl keine Notiz; um Susan schien es also nicht zu gehen. „Und jetzt wollen wir uns von hinten an die beiden heranpirschen, nicht, um sie zu massieren, wie du so schön sagtest, sondern um etwas von ihren Gesprächen mitzubekommen. Schließlich ist nicht jeder so wortkarg wie du.“ 75
„Wenn das etwa eine Spitze gegen mich sein soll –“, begann Snuffy empört, aber er verschluckte den Rest; Tom war bereits fort. Bald darauf lagen sie so dicht hinter ihnen, daß sie jedes Wort hätten verstehen können, wenn die beiden geredet hätten. – Ungefähr nach zehn Minuten begann es im Hof der Ranch lebendig zu werden. Señor Navarro machte sich auf den Rückweg. Seine Boys brachten die Pferde herbei; Mrs. Markham und Ellen geleiteten den Besucher ans Tor. Was hatten die Gauner vor? Navarro und seine Kavalkade mußten an dem Platz vorüber, an dem sie auf der Lauer lagen. Beabsichtigten sie, ihn zu überfallen? Glaubten sie wirklich, es mit fünf Mann aufnehmen zu können? Navarro kam ihrem Versteck immer näher. Schließlich holten sie ihre Colts hervor und machten sie schußfertig. Es gab keinen Zweifel mehr – das sollte ein Überfall werden! Die beiden Gauner erhoben sich plötzlich halb aus dem Gras und knallten durch die Gegend, als hätten sie vor, eine Schlacht zu entfesseln. Die Reiter stutzten, ihre Pferde wurden unruhig, und schließlich zogen sie es vor, das Hasenpanier zu ergreifen. Sie ritten davon, als sei der Teufel hinter ihnen her, und ließen ihren Boß allein. Der Mexikaner stutzte einen Augenblick; dann bewies er, daß er mehr Mut besaß als seine Untergebenen. Er beugte sich auf den Hals des Pferdes nieder, zerrte den Colt aus dem Holfter – aber er sah kein Ziel mehr. Da setzte er die Sporen ein und preschte seinen Leuten nach, auf Eltonville zu. Als er den Busch passierte, fielen die Banditen dem Pferd in die Zügel. Der Gaul ging auf der Hinterhand hoch. Navarro vergaß, daß er eine Waffe besaß, und schrie um Hilfe. Die Kerle zerrten ihn vom Pferd, warfen ihn auf den Boden, und während der eine von ihnen den Überraschten festhielt, griff der andere nach dem Tier. Aber der erschreckte Gaul keilte aus und raste davon. 76
Dann machten sie sich daran, den Überwältigten zu fesseln. Navarro keuchte; das Grasbüschel in seinem Munde machte ihm erhebliche Schwierigkeiten. Schließlich war er ja keine Kuh, die gewohnt ist, Gras im Maul zu mahlen. „Ich hatte mir’s schwieriger vorgestellt“, sagte der eine zufrieden. „Tausend Eierchen muß er ausspucken!“ „Okay“, sagte Tom Prox gemütlich, „und wieviel kriegen mein Freund und ich davon ab?“ Die beiden fuhren herum; verblüfft starrten sie die Ghosts an. Snuffy grinste über das ganze Gesicht. „Mit welchem soll ich anfangen?“ fragte er. „In wieviel Teile darf ich ihn zerlegen?“ Der mutigere der beiden warf sich ihm an den Hals. Der andere versuchte, es mit Tom aufzunehmen, aber es bekam ihm schlecht. Der Ghost empfing ihn mit einem so ausgezeichneten Schwinger, daß er einen Salto rückwärts fabrizierte. Geduckt versuchte er, den Gegner von neuem anzugehen. Tom Prox aber machte kurzen Prozeß, packte ihn beim Hemd und drehte es ihm über der Brust so stark zusammen, daß er den Mund aufriß wie ein Karpfen, der unversehens aufs Trockene geraten ist. Tom hob ihn in die Höhe, ließ ihn ein Weilchen in der Luft zappeln, setzte ihn unsanft wieder auf den Boden und schlug erneut zu. Er traf haargenau die Kinnspitze, und der Mann wurde weich wie Butter. Er konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten und sackte zu Boden. Tom sah sich nach Snuffy um. Der kniete seinem Gegner auf der Brust und glich einem Hammerwerk auf Hochtouren. „Brauchst du Hilfe?“ fragte Tom. „No, Chef! Ich kitzele ihn nur ein wenig, damit er auch einen Genuß davon hat!“ Sie benutzten dann die Stricke, die eigentlich für Señor Navarro bestimmt waren. Dieser war völlig benommen; er lag immer noch an der gleichen Stelle, kaute und würgte an seinem 77
Grasbüschel und schaute ängstlich um sich. Snuffy zerrte ihm den Knebel aus dem Mund; dann packte er den arg Mitgenommenen beim Genick und stellte ihn auf die Beine. Señor Navarro brauchte eine Zeitlang, bis er wieder klar denken konnte. Er starrte die überwältigten Gauner an und schüttelte den Kopf. „Was soll das bedeuten?“ flüsterte er verblüfft. „Einen Überfall auf mich –?“ „Ich hörte etwas von Lösegeld“, meinte Snuffy. „Aber der Sinn danach wird denen da inzwischen wohl vergangen sein.“ Navarro kam erst jetzt dazu, seine Retter genauer zu betrachten. Er erkannte Tom. „Sie sind doch dieser Smith von jener Zeitung!“ meinte er verblüfft. „Aber Sie sind ja gar nicht tot! Eure Chefin sitzt auf der Bayliss-Ranch und trauert um Euch! Diese beiden Steeds – wie konnte ich nur nichtsahnend zwei steckbrieflich gesuchte Verbrecher auf meiner Mine beschäftigen! Señorita Simson erzählte mir, sie hätten Ihnen eine Bohne mitten durch den Kopf geschossen!“ Er blickte Snuffy an und erkannte ihn nun ebenfalls. „Und Sie sah ich doch auch schon!“ behauptete er. „Sie sind –“ Er kam nicht auf den Namen. „Snuffy Patterson! Der berühmte Patterson, wenn Ihnen der Name ein Begriff ist!“ „Noch nichts davon gehört.“ Navarro dachte nach. „Aber immerhin – man erzählte mir, Sie seien in einen Abgrund gestürzt und hätten sich das Genick gebrochen!“ „Ich konnte es gottlob wieder flicken“, grinste Snuffy. „Und was meinen Freund anbelangt, so besitzt er die Gewohnheit, immer wieder von den Toten aufzuerstehen, wenn man ihn zufällig mal erwischt hat. Machen Sie sich keine Sorgen deswegen, Señor!“ Navarro schien die Sache nicht zu begreifen; schließlich sagte er: „Sie sollten dann aber schnellstens zur Bayliss-Ranch reiten! Schon, damit die Damen aus ihren Sorgen herauskom78
men.“ „Tun wir! Zum Abendbrot sind wir bestimmt dort!“ Tom lachte. Dann fragte er kurz, indem er auf die Gefesselten wies: „Kennen Sie diese beiden, Señor Navarro?“ „Noch nie gesehen!“ erklärte der Mexikaner, nachdem er sie genau angesehen hatte. „Sind nicht aus unserer Gegend! Wahrscheinlich haben sie erfahren, daß ich der reichste Mann hier herum bin, und gedacht, sie können mich ein wenig schröpfen. Was tun wir mit ihnen? Wir können sie doch nicht hier liegenlassen.“ „Schätze, der Sheriff von Eltonville wird sich freuen. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, schaffen wir sie dorthin. Habe sowieso ein Wörtchen mit Mr. Heydon zu reden.“ „Bin Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir diese Sorge abnehmen!“ Navarro griff nach seiner Brieftasche, schlug sie auf und zerrte an den Geldscheinen herum. Dabei murmelte er etwas von Erkenntlichkeit. Tom Prox winkte ab. „Sind nicht scharf auf solche Scheinchen, Señor“, erklärte er. „Vielleicht schenken Sie sie jemandem, der sie nötiger hat – wird wohl auch in Eltonville Leute geben, die arm wie die Kirchenmäuse sind.“ Der Mexikaner blickte ihn verblüfft an; dann steckte er die Brieftasche wieder weg. „Leute mit solcher Gesinnung sind selten“, sagte er anerkennend. „Sicher halten Sie sich noch einige Zeit hier in der Gegend auf; die liebenswürdige Miß Simson deutete so etwas an. Besuchen Sie mich doch mal! Das spanische Haus in Eltonville – jedes Kind weiß Bescheid. .“ Tom nickte; dann machten sie sich auf den Weg zur Ranch. Navarro mußte sich einen Gaul leihen. Die Gauner ließen sie hinter dem Strauch liegen; sie waren gut gefesselt. Sie wollten sie mit einem Ranchwagen nach Eltonville schaffen. Als sie eine halbe Stunde später zurückkehrten, waren die beiden Gauner spurlos verschwunden. Tom betrachtete interessiert die Enden der Stricke, mit denen sie gefesselt waren. Sie 79
waren mit einem scharfen Messer durchgeschnitten worden. Er wurde sehr nachdenklich. Sie ritten nach Eltonville, da er einiges mit dem Sheriff zu besprechen hatte. Heydon war Junggeselle und lebte allein in dem Hause. Sie fanden ihn in einem recht sonderbaren Zustand vor: Er saß auf seinem Schreibtischstuhl, und wenn man nicht genau hinsah, konnte man meinen, er arbeitete. In Wirklichkeit war er festgebunden, und damit er nicht schreien konnte, hatte man ihn auch noch geknebelt. Seine Augen leuchteten dankbar auf, als die Ghosts eintraten. 7. Kapitel „Gottsdonner!“ schimpfte Sheriff Heydon. „Auf so eine blöde Art habe ich mich noch nie hereinlegen lassen! Ich könnte mich ohrfeigen! Kommen da zwei ganz vertrauenswürdig aussehende Gents wie das verkörperte gute Gewissen an –“ „Stop!“ unterbrach der Ghostchef. „Wie sahen sie aus? Besondere Kennzeichen?“ Der Sheriff gab eine eingehende Beschreibung. „Die beiden Steeds also!“ sagte Tom Prox keineswegs überrascht. „No“, widersprach der Sheriff energisch. „Nicht die Steeds! Die hätte1 ich nach dem Steckbrief auf den ersten Blick erkannt. Die Steeds tragen Bärte! Die Gentlemen, die mich heimsuchten, hatten keine.“ „Schließlich kann man in jedem Generalstore Rasiermesser kaufen, so viel man will“, erklärte Tom spöttisch. Der Sheriff blickte ihn verblüfft an. „Zum Teufel, Sie haben recht! An diese Möglichkeit habe ich nicht gedacht. Die Kerle kommen also zu mir herein, tun sehr liebenswürdig, entschuldigen sich höflich, daß sie gezwungen sind, meine kostbare Zeit 80
in Anspruch zu nehmen, und fragen nach einer Familie Austin, die in meinem Bezirk wohnen soll. Austin, von Frisco zugezogen. Es sei da etwas mit einer Erbschaft, und sie wollten den Austins die gute Nachricht bringen, daß auch für sie einige Tausender abfallen würden. Austins aber gibt’s im ganzen Distrikt nicht. Sie unterhalten sich also ganz freundschaftlich mit mir, und ich trete an die Wandkarte, um ihnen zu zeigen, wo die einzelnen Ranches hier herum liegen. Sie gucken mir interessiert über die Schulter. Plötzlich nimmt mich der eine von hinten her beim Hals. Ehe ich begreife, zwingt er mir mit einem verteufelten Trick die Kinnbacken auseinander und schiebt mir einen dreckigen Lappen in den Rachen. Natürlich wehre ich mich. Aber außer einer Menge Beulen und blauer Flecke brachte es mir nichts ein. Sie schleiften mich zum Schreibtisch, banden mich auf den Stuhl, holten mir in aller Seelenruhe das Schlüsselbund aus der Tasche, schlossen die Gefängniszellen auf, ließen zwei kleine Gauner, die außer ein wenig Landstreicherei nichts weiter auf dem Kerbholz haben, laufen, holten ihre beiden Freunde heraus, und – besaßen auch noch die Frechheit, meinen Schrank zu durchkramen! Sie fanden eine frische Flasche Whisky und meine Zigarrenkiste, setzten sich hierher – an meinen Schreibtisch, tranken meinen Whisky, rauchten meine Zigarren und sparten nicht mit spöttischen Reden über die Dummheit der Sheriffs im allgemeinen und meine eigene im besonderen. – Ich könnte mir ein Monogramm in den Allerwertesten beißen! Leider bin ich dazu nicht gelenkig genug.“ „Die Sache ist nun mal nicht mehr zu ändern“, beruhigte ihn der Ghost. „Und wenn wir die Steeds haben, bekommen sie genau das, was sie verdienen!“ „Aber wir müssen sie erst haben!“ stöhnte Mr. Heydon. „In spätestens acht Tagen sitzen sie, und vier Wochen darauf 81
sind sie gehängt.“ „Es wär zu schön, um wahr zu sein!“ entgegnete Heydon ungläubig. – Sie ritten zur Bayliss-Ranch zurück. Tom Prox hatte noch eine sehr ernste Unterredung mit der Rancherstochter; dann zog er sich mit Ellen zurück. Sie studierten Karten und Pläne und zogen dabei immer wieder die Skizze zu Rate. Sie gingen zeitig schlafen. Bereits um elf wurden sie geweckt, und zwar durch ein Geräusch, das sie aus ihren Betten hochfahren ließ: Jemand hatte ein Steinchen gegen ihr Fenster geworfen. Snuffy huschte an die Scheiben und spähte in den Hof. Draußen schien der Mond; sein milchigweißes Licht badete die Gebäude in silbrigglänzenden Schimmer. Snuffy bemerkte sofort die schlanke Gestalt, die, völlig in Schwarz gekleidet, im Schatten eines der Vorratshäuser stand. „Das scheint Susan zu sein, Chef!“ brummte er verwundert. „Wie damals in Schwarz, mit dem Lappen vor dem Gesicht.“ „Wirklich?“ fragte Tom verblüfft. „Ich sprach doch am Abend noch mit ihr. Das will mir nicht in den Kopf –“ „Jetzt hat sie mich gesehen! Sie winkt!“ „Steig durchs Fenster und frag, was sie will. Ich benutze inzwischen die Haustür und mache einen kleinen Umweg, damit ich euch den Rücken decken kaum.“ Snuffy schwang sich über die Fensterbrüstung. Er wollte quer über den Hof auf Susan zu, aber das Mädchen deutete ihm durch Gesten, im Schatten zu bleiben. Also schlich er an der Hauswand entlang, wechselte später zur Mauer hinüber, huschte an ihr entlang und eilte auf das Vorratshaus zu. Freudig bewegt lief er auf Susan zu, die sich völlig im Schatten des Vorratshauses hielt. Sie legte den Finger auf die Lippen und wies nach dem Türchen, das den Durchgang vom Hof zum Hauskorral bildete. Ohne darauf zu achten, ob er ihr folgte, 82
huschte sie hinaus. Snuffy tappte bedenkenlos hinter ihr her. Während er das Türchen passierte, wuchs plötzlich hinter seinem Rücken ein Schatten auf. Dieser hielt einen alten Sack in den Händen, und ehe Snuffy wußte, was geschah, war ihm dieser über den Kopf gestülpt worden. Er roch ekelhaft nach jungen Schweinchen. Snuffy wollte schreien; da griffen zwei kräftige Hände zu. Der Lange geriet in unbändige Wut. Was beabsichtigte diese falsche Kröte? Er riß sich mit Gewalt aus den Händen, die ihn hielten. Gleichzeitig stieß er den rechten Fuß nach hinten. Er hörte einen wütenden Fluch; jemand sprang wie wild auf einem Bein hin und her. Er wiederholte das Experiment, traf diesmal jedoch ins Leere. Da hielt er es für geraten, daß er davonkam, und lief los. Aber es läuft sich nicht gut mit verbundenen Augen; nach den ersten Schritten schon rannte er mit solcher Vehemenz gegen die Ecke des Vorratshauses, daß er ein ganzes Milchstraßensystem von Sternen sah. Er prallte zurück und stürzte rücklings zu Boden. Zwar versuchte er, sich sofort wieder aufzurappeln, aber ehe er stehen konnte, hatten sich jetzt gleich zwei Mann über ihn geworfen. Er schlug wild um sich, aber es nützte nichts. Gleich darauf wurde er hochgehoben und weggeschleppt. – Als Tom endlich den Hof erreicht hatte, war weder von Susan noch von Snuffy etwas zu sehen. Die Tür nach dem Hauskorral stand offen. Die Gäule zeigten sich sehr unruhig. Tom setzte mit einer Flanke über den hinteren Zaun, wo sich die Hausweiden anschlossen, die von niedrigem Gebüsch begrenzt wurden. Er hatte die Grasfläche noch nicht zur Hälfte geschafft, als aus dem Gebüsch ein Schatten auftauchte, ganz in Schwarz gekleidet, und mit einer schwarzen Maske vor dem Gesicht. Su83
san! Der Schatten winkte hastig. Er hatte noch keine dreißig Meter hinter sich, als plötzlich jemand nach seinen Füßen griff; nach beiden zugleich. Tom schlug vornüber. Zwei Männer sprangen in die Höhe und warfen sich auf ihn. Tom rollte herum, so daß er auf den Rücken zu liegen kam. „Susan?“ rief er; dann hatte er sich auf einmal gegen vier zu wehren. Er stand auf, stieß den ersten mit dem Fuß beiseite, packte den zweiten beim Genick und versuchte, den dritten mit einem Ellenbogenstoß abzuwehren – währenddessen schlug der schwarze Reiter mit dem Coltgriff zu. Tom sprang einen Schritt zur Seite, um im Gleichgewicht zu bleiben, trat auf ein im Gras verborgenes Erdhügelchen und versank bis über die Knöchel in der kleinen Höhlung, die darunter lag. Es war aus mit ihm, wenigstens für eine gewisse Zeit. – Als er wieder erwachte, lag er auf einem flachen Wagen, der sich mit beträchtlicher Geschwindigkeit über sehr holpriges Gelände bewegte. Er sah nichts; auch seine Hände und Füße waren gefesselt. Bei einer Erschütterung rollte er vom Platz und stieß gegen ein zweites Bündel, genau so hilflos wie er selbst. Dieses Bündel stöhnte. „Oh, Boy, oh, Boy!“ Sie fuhren ungefähr eine halbe Stunde; dann stand das Gefährt. Es gab Geräusche, unterdrückte Flüche, und zum Schluß wurden sie vom Wagen gehoben. Es ging nicht weit; Tom merkte bald am Widerhall der Schritte, daß sie in ein Gebäude gebracht wurden. Er glaubte feststellen zu können, daß sie sich in einem gewölbten Raum befanden, nicht übermäßig groß. Im übrigen schien er auf einer Kiste oder etwas Ähnlichem zu liegen. Füße scharrten und trapsten davon. Die Männer verließen offenbar den Raum; dann wurde es totenstill. Etwa zehn Minuten vergingen; dann begann es zu plätschern. Es handelte sich unbestreitbar um Wasser, und der Schwall 84
schoß in dickem Strahl in ihr Gefängnis. Snuffy warf sich auf seinem Lager hin und her. Tom lächelte. „Hallo, Langer!“ rief er, so laut er konnte. „Wenn du so weitermachst, bricht das Holzgestell unter dir zusammen, und du machst sofort mit dem Wasser Bekanntschaft!“ Es ging noch eine ganze Weile so weiter; dann war Snuffys Stimme plötzlich klar und deutlich. „Uff, Chef!“ rief er zufrieden. „So weit wären wir!“ „Wie wurdest du den Sack los?“ „Aus der Kiste, auf der ich liege, ragt ein, Nagel hervor! Ich bohrte ihn durch meinen Sack und fing an, zu ziehen. Mein Gesicht brennt wie Feuer; hab mir anscheinend einen Kratzer quer über die Visage geholt. Ich bin jetzt aber wenigstens den Ferkelgeruch los! Der Sack ist aufgeschlitzt und der Kopf frei. Nun brauche ich nur noch mit Hilfe des Nagels meine Fesseln durchzuwetzen, und wir sind alle beide gerettet.“ „Blöde Falle, in die wir da tapsten!“ „Fieses Weibsbild!“ schimpfte Snuffy plötzlich los. „Wäre es nicht schöner, wir Männer lebten allein auf der Welt? Und für diese Susan hätte ich meine Hand ins Feuer gelegt! Daß sie mit den Steeds unter einer Decke steckt, hätten wir wissen müssen, als wir sie das erstemal in ihrer lächerlichen Maskerade sahen! Einbruch bei dem reichen Señor Navarro – sagte das nicht genug?“ Dann krachte die Kiste, auf der Snuffy lag, in allen Fugen. Dann gab es ein gewaltiges Poltern, dem ein Plätschern folgte. „Gemeinheit, das Ding ist jetzt auseinandergebrochen! Ich liege mit meinem Allerwertesten im Wasser, der schöne Nagel, mit dem ich meine Fesseln durchwetzen wollte, ist futsch! Na, diese Susan soll mir büßen!“ Tom lachte. „Etwas hast du mir nun wenigstens voraus, Langer. Wenn du Durst hast, kannst du trinken. Ich noch lange 85
nicht.“ Dann machte er sich selber an die Arbeit. Die Fesseln saßen dicht über den Handgelenken. Er krümmte sich zusammen, um mit den Zähnen an die Hände zu kommen. Gleich darauf begann er, den Strick, der seine Hände hielt, Millimeter für Millimeter nach oben zu schieben. Endlich saßen die Fesseln so hoch, daß er die Hände im Gelenk bewegen konnte. Nun hatte er ein wenig Spielraum bekommen. Die Knoten saßen unten an den Beinen in halber Höhe der Wade. Er wurde zum Fragezeichen, der Schweiß rann ihm vom Körper. Es wollte und wollte nicht gelingen. Aber schließlich ließen sich die Knoten lockern und dann endgültig lösen. Nun glitt er vorsichtig von der Kiste. Von Snuffy hatte er außer Schnaufen und Stöhnen nichts mehr gehört; sein sonst so geschwätziger Mitarbeiter war ganz still geworden. Jetzt band er sich das Tuch vom Gesicht, um endlich wieder sehen zu können. Es war dunkel; der Keller besaß kein Fenster. Schwache Lichtstrahlen drangen durch die Ritzen der Tür; das war alles. „Snuffy!“ rief er mit unterdrückter Stimme. „Ja, Chef!“ kam es in kläglichen Tönen zur Antwort. Tom griff in die Tasche. Seine kleine elektrische Lampe war noch vorhanden; er schickte ihren Lichtstrahl durch das Gewölbe, um zu sehen, wie die Dinge standen. Snuffy saß da wie ein Häuflein Unglück, den Rücken gegen die Wand gelehnt. Er war damit beschäftigt, seine Fesseln an einer Mauerkante zu zerreiben. „Wollen sehen, daß wir bald ins Freie kommen! Die Zeit drängt! Wir müssen zur richtigen Stunde in der Dunham-ReesSchlucht sein, sonst hatte das ganze Theater keinen Zweck.“ Er trat an die Tür, ohne sich um Snuffy zu kümmern. Ben Steeds hatte sie abgeschlossen, ehe er ging. Tom prüfte das Holz; ein verächtliches Lächeln legte sich um seinen Mund. 86
Er trat einen Schritt zurück. Gleich darauf warf er sich mit der Schulter gegen das Hindernis. Es krachte und splitterte, aber er mußte das gleiche Manöver mehrere Male wiederholen, ehe die Tür aufsprang. Dann taumelte er in einen Gang hinaus, der ebenfalls unter Wasser stand. Am Ende führte eine sechsstiegige Treppe nach oben. Er sprang die Stufen hinauf und stand vor einer zweiten Tür, die unverschlossen war. Er kam in einen Hof, der ihm bekannt vorkam. In einer Ecke lag ein Hauklotz; darin steckte eine Axt. Er eilte mit ihr in den Keller zurück. „Vorsicht, Snuffy!“ mahnte er. „Stillhalten!“ Wenige Minuten später waren seine Fesseln durchgesäbelt. Er dehnte seine Glieder. „Wo sind wir denn eigentlich, Tom?“ „Im spanischen Haus, alter Knabe!“ „Dann bin ich neugierig, was die Kerle mit Señor Navarro angefangen haben! Wahrscheinlich kamen sie hierher, weil es das einzige Haus in Eltonville ist, das eine Wasserleitung hat! Daß es die Steeds immer mit dem Wasser haben müssen? Scheint ein Komplex zu sein, den sie seit ihrer Jugendzeit mit sich herumschleppen! Wahrscheinlich wurden sie mal als Kinder zu kalt gebadet.“ „Du redest schon wieder zuviel, Snuffy. Soll ich dir den Sack von neuem über den Kopf ziehen? Möchte wissen, wo Señor Navarro steckt – denn daß sie dies in seiner Anwesenheit wagten, will mir nicht in den Kopf.“ Sie stiegen nach oben und betraten dann das Haus durch die Hintertür. Das Gebäude machte einen völlig verlassenen Eindruck. Sie eilten von Zimmer zu Zimmer. Vor einem vernahmen sie leises Stöhnen. „Sieh zu, daß du den Lichtschalter findest, Langer!“ Es knackte; eine stark abgeschirmte Schreibtischlampe flammte auf. Ihr Lichtschein genügte, um erkennen zu lassen, was sich hier abgespielt hatte. Das Zimmer sah furchtbar aus; 87
Navarro lag zwischen dem Gerümpel, das seine kostbaren Möbel jetzt darstellte, auf dem Fußboden. Er war an Händen und Füßen gefesselt. Auf sein Gesicht hatte man ein großes Kissen gelegt. Snuffy riß es herunter und blickte in das rot aufgedunsene Gesicht des Mexikaners. Tom eilte an den Schreibtisch, fand einen Dolch, der als Brieföffner diente, und schnitt Navarros Fesseln damit durch. Der Mann erhob sich stöhnend. „Diese Schufte!“ schimpfte er, nach Luft japsend. „Nachmittags den Überfall auf offener Straße, und nun, mitten in der Nacht, diese zweite Gewalttat –“ Tom hatte es mit einmal sehr eilig. „Wie geschah es?“ fragte er. „Wo sind Ihre Leute? Befinden Sie sich tatsächlich allein im Hause?“ „Ganz allein!“ gab er verlegen zu. „Wieviel Personal halten Sie?“ „Die vier Männer, die mich auf meinem Ritt nach der Bayliss-Ranch begleiteten, und eine Köchin. Aber die Männer habe ich noch gestern abend aus dem Hause gejagt.“ „Warum das?“ „Ist das eine Art für Bedienstete? Als ich überfallen wurde, ritten sie Hals über Kopf davon und ließen mich in den Händen, der Banditen! Bezahle ich meine Leute dafür? Am Abend kamen sie wieder, verlegen und schuldbewußt, wollten sich ins Haus drücken, als ob nichts geschehen sei – da übermannte mich der Zorn! Hatte vor, mich morgen nach neuen, zuverlässigeren Leuten umzusehen!“ „Und die Köchin?“ „Müßte eigentlich im Haus sein. Sie schläft in einem kleinen Zimmer dicht neben der Küche.“ „Sieh schnell nach, Snuffy! – Berichten Sie weiter, Señor Navarro!“ „Ich wollte gerade zu Bett gehen, als der Überfall hier erfolg88
te. Die Hunde schlugen nicht an. Ich merkte nichts, bis die Kerle vor mir standen – in diesem Zimmer! Sie trugen Masken vor den Gesichtern.“ „Wieviel Mann?“ „Vier. Sie fielen gleich über mich her. Natürlich setzte ich mich zur Wehr, doch sie überwältigten mich, banden mich, warfen mich auf den Fußboden und preßten mir das Kissen aufs Gesicht, weil ich zu schreien versuchte. Eine Zeitlang hörte ich sie noch im Hause herumfuhrwerken. Wahrscheinlich ließen sie alles mitgehen, was von Wert ist. – Wie aber kommen Sie hierher, Señor?“ „Die Köchin ist da“, berichtete Snuffy. „Sie überfielen sie im Schlaf, fesselten sie und banden sie auf ihrem Bett fest. Sie ist halbtot vor Angst und Aufregung.“ „Ich hoffe, du hast sie losgemacht?“ „Natürlich!“ erklärte Snuffy. „Was denkst du von mir?“ Er wandte sich an den Hausherrn. „Haben Sie vielleicht einen anständigen Whisky im Hause, Señor Navarro? Die Köchin könnte gut etwas davon brauchen. .“ Der Mexikaner wies auf einen kleinen Wandschrank. Snuffy war begeistert, als er die Batterie Flaschen sah. „Besitzen Sie auch Waffen?“ fragte Tom. „Und Pferde?“ „Sie können Colts haben, so viel Sie wollen, und meine Pferde sind ihrer Güte wegen in der ganzen Gegend bekannt“, erwiderte Navarro mit Stolz. „Wenn Sie mir folgen wollen –?“ Sie traten ins Wohnzimmer, einen großen Raum mit sieben Fenstern. In einer Ecke stand ein reichgeschnitzter Waffenschrank. Navarro öffnete ihn. „Bitte sich zu bedienen!“ Die Ghosts wählten je zwei Colts und ein Messer. Nachdem sie sich auch mit Munition versehen hatten, führte sie Navarro in den Stall. Die Gäule waren rasch ausgesucht, und nun konnte es eigentlich fortgehen – aber in diesem Augenblick zog von der Küche her der Duft frischgekochten Kaffees durch das 89
Haus. Snuffys Gesicht glänzte vor Seligkeit. „Frühstück, Chef!“ flüsterte er andächtig. „Wie wär’s, wenn wir erst einmal tüchtig futterten?“ Tom sah nach der Uhr. Eine Viertelstunde genehmigte er. Sie aßen in der Küche, und auch Señor Navarro schien durch das Frühstück mutig zu werden. „Nehmen Sie mich mit!“ bat er plötzlich. „Wenn es darum geht, die Steeds zu fangen, bin ich dabei! Schließlich hielten sie sich nicht umsonst; drei Wochen lang in meiner Mine verborgen!“ Tom überlegte kurz; dann nickte er. Snuffy war überrascht, sagte jedoch nichts. Eine Viertelstunde später ritten sie davon. Navarro hatte seinen Gürtel mit Waffen gespickt, die für eine ganze Abteilung Grenzreiter ausgereicht hätten. Der Weg war weit; Tom ritt voran. Er hatte die Karte eingehend studiert und einen Weg gefunden, der sie nach der auf der Skizze angegebenen Stelle bringen mußte, ohne daß sie an der Mine vorüberkamen. Dieser Weg war wesentlich kürzer als der, den sie das erstemal genommen. Sie ritten an himmelhoch ragenden Felswänden vorüber und kamen an Felsabstürzen vorbei, die schroff in unheimliche Tiefen gingen. Morgens gegen vier Uhr langten sie an dem Ort an, den die Skizze bezeichnete. Sie befanden sich in einem langgestreckten, schluchtartigen Tal, nicht sehr breit, rechts und links von hohen Felszügen eingeschlossen, die in ihrem unteren Teil bewaldet waren. Auf dem Grunde der Schlucht floß ein Wasser, schmal, aber sehr reißend; und neben diesem wand sich ein Weg, der alle Krümmungen des Flußlaufes mitmachte. Baum- und Strauchwerk machten die Schlucht unübersichtlich. „Wir sind am Ziel!“ stellte Tom fest, als sie eine Viertelmeile weit in die Schlucht eingedrungen waren. „Nun kommt es darauf an, den geeigneten Platz zu finden.“ „Noch nie hier gewesen!“ staunte Navarro. „Was gedenken 90
Sie hier zu tun?“ „Irgend etwas wird passieren“, lachte Tom Prox „Was es ist. weiß ich auch nicht. Auf jeden Fall geht’s um die Steeds! Und da wir zunächst nur beobachten wollen, erfahren wir es schon zur rechten Zeit. Ich hätte die Gauner schon vorgestern bekommen können. Aber ich wollte noch herausbekommen, was sie im Augenblick planen.“ „Wie lange dauert’s noch, Chef?“ erkundigte sich Snuffy. „Sechs Uhr, stand auf der Skizze.“ „Dann haben wir noch reichlich Zeit.“ „Die brauchen wir auch, um die Schlucht zu erkunden und den geeigneten Unterschlupf für uns zu finden.“ Sie benötigten eine halbe Stunde, biß sie den Schluchtausgang erreichten. Der Fluß der Weg an seiner Seite, breit genug, einem Wagen Platz zu bieten, rechts und links hochragende Felswände, viel Gesträuch und eine Menge Bäume – das war alles. Die Schlucht mündete in einen steil aufwärts führenden Weg. „Kennen Sie sich nun aus?“ fragte Tom den Mexikaner. „Wohin führt diese Straße?“ „Völlig unbekannte Gegend für mich“, entgegnete Navarro. Snuffy sah zu den hochstrebenden Bergwänden empor. „Wir müßten uns irgendwo da oben, einen Platz suchen.“ „Suche ihn! Weiter Ausblick und die Möglichkeit, rasch nach unten zu gelangen!“ Sie ritten zurück und hielten dabei den Flußlauf, den Weg und die Felswände im Auge. Die Sonne ging eben auf, hüllte das Gestein in ein seltsam rotes Licht. Plötzlich faßte Snuffy seinen Chef beim Arm. „Dort oben!“ flüsterte er aufgeregt. „Irgend etwas blitzte da im Sonnenlicht! Sah mir verdammt nach einem blanken Lauf aus!“ Tom besah sich die Stelle eingehend. „Vielleicht narrte dich 91
nur ein aus dem Gestein gesprengtes Stück Quarz, Snuffy!“ Er sprang aus dem Sattel, arbeitete sich durch Buschwerk und Gestrüpp und erreichte die Felswand. Snuffy und Navarro blieben auf dem Wege. Es war einfacher, hier heraufzukommen, als es aussah. Das Gestein war zerklüftet und voll von Vorsprüngen, Auswaschungen und Kanten. Tom kam rasch und zügig voran. Nach zehn Minuten erreichte er die Stelle, an der Snuffy den Coltlauf gesehen haben wollte. Ein Felsblock zog sich wie eine Barriere drei Meter lang an dem Hauptfelsen entlang; dahinter gab es einen um einen Meter tiefer gelegenen Steinstreifen von der gleichen Länge. Das Ganze sah aus wie ein etwas klobiger Balkon. Von hier aus hätte man einen großen Teil des Schluchtgrundes ausgezeichnet überblicken können, doch der Platz war bereits besetzt. Als Tom sich aber die Brüstung schwang, blickte er in zwei Coltmündungen, die auf ihn gerichtet waren. „Stop!“ sagte eine zu allem entschlossene Stimme. „Noch eine Bewegung, und ich drücke ab!“ „Seit wann so blutdürstig?“ entgegnete der Ghost vergnügt. „Hast mich doch sonst ganz gern an deiner Seite! Wie kommst du übrigens hierher?“ „Tom!“ freute sich die Reporterin des Texas-Star. „Wie ich hierherkomme? Wir hatten doch verabredet, zusammen zu reiten! Als du zur vereinbarten Zeit nicht aufstandest, wollte ich dich wecken. Aber weder du noch Snuffy waren da! Ich konnte mir die Sache nicht recht erklären! Was lag näher, als daß ich mich allein aufmachte? Den Weg hatten wir ja eingehend besprochen!“ „Das beste Plätzchen, das es geben kann!“ „Habe auch lange suchen müssen, bis ich es fand.“ „Weißt du, wir kommen alle hier herauf.“ „Alle? Wer ist denn außer Snuffy noch bei dir?“ 92
„Señor Navarro.“ „Ausgerechnet der?“ erwiderte sie. „Dieser geschniegelte Geck ist mir verdammt unsympathisch.“ „Erzähle dir später, wie’s dazu kam. Komme gleich wieder.“ Er schwang sich über die Felsbrüstung und kletterte nach unten. Navarro blickte furchtsam zu der Stelle hinauf, an der das Girl hockte, und zuckte die Achseln. „Will hoffen, daß ich hinaufkomme, ohne mir das Genick zu brechen“, murmelte er skeptisch. Da hörten sie Hufschläge! Jemand kam den Schluchtweg entlang. „Ist doch noch viel zu früh!“ wunderte sich Snuffy. „Herunter von der Straße. Hinter den Büschen unsichtbar gemacht!“ Sie waren im nächsten Augenblick verschwunden. Wenige Minuten später erschien ein Reiter auf dem Plan. Snuffy machte ein sehr dummes Gesicht, als er ihn erkannte. Das war. . Susan Markham! Sie trug die übliche schwarze Maskerade, nur der Tuchlappen hing nicht vor ihrem Gesicht. Tom Prox trat aus seiner Deckung heraus. „Morning, Susan!“ rief er und schwenkte seinen Stetson. 8. Kapitel Susan erschrak; sie brauchte aber nur wenige Sekunden, dann hatte sie sich wieder gefaßt. Ein Lächeln flog über ihr Gesicht. „Sie sind’s, Mr. Prox!“ rief sie erleichtert. „Nun bin ich wenigstens nicht mehr allein – in den letzten Stunden war’s doch recht einsam, und ich begann schon, mich zu fürchten. Noch jemand bei Ihnen?“ „Sie sind mir ein ganz abgefeimtes Frauenzimmer“, schimpfte Snuffy los. „Bin froh, Sie rechtzeitig erkannt zu haben! Aber nun reiße ich Ihnen schonungslos die Maske vom Gesicht!“ 93
„Ich trage sie ja gar nicht!“ lachte Susan. „Ich meine nicht Ihren Stoffetzen, sondern die Maske, die Sie vor Ihrer schwarzen Seele tragen! Sie haben mich schwer enttäuscht, Susan!“ „Ich verstehe Sie nicht“, stammelte sie verwirrt. „Hör auf, Snuffy“, warnte Tom Prox. „Du lockst ja alle Wölfe im Umkreis von zwölf Meilen an.“ „Sie lockte! Und ich dummer Kerl falle darauf herein, springe aus dem Fenster, folge ihr, denke an ein nettes Plauderstündchen, – und was passiert? Man stülpt mir einen stinkenden Sack über den Kopf und fesselt mich! Sie sollten sich schämen, Mädchen! Meine Gefühle sind keine Ziehharmonika, auf der man nach Belieben spielen kann!“ Tom legte ihm die Hand auf den Mund. Susan war blutrot; sie vermochte kein Wort mehr zu sagen. Fragend blickte sie von dem Langen zum Ghostchef hinüber. „Er hat nicht unrecht“, meinte dieser. „Auch ich wurde überwältigt und gefesselt.“ „Ich weiß nicht, was Sie wollen, Mr. Prox!“ „Sie warfen doch in der letzten Nacht Steinchen an unser Fenster und winkten uns ins Freie?“ „Ich …?“ Susans Verwunderung schien echt; wenn sie tatsächlich heuchelte, war sie eine ganz ausgezeichnete Schauspielerin. „Ja, Sie!“ erboste sich Snuffy. „Und wenn Sie jetzt noch so unschuldig tun –!“ „Ich schlief die ganze Nacht über“, behauptete sie. „Ich war nicht im Hof, und in diesem schwarzen Zeug schon gar nicht!“ In diesem Augenblick trat Señor Navarro aus seinem Versteck. Das Mädchen fuhr zusammen; das plötzliche Zusammentreffen mit dem Mexikaner war ihr sehr peinlich! „Susan!“ stammelte Navarro. „Das damals – im spanischen Haus – nachts – das waren Sie doch?“ 94
„Yea, das war ich!“ erwiderte sie störrisch. „Finden Sie das schlimm? Andere Männer sind froh, wenn ihnen ihre Braut einen heimlichen Besuch abstattet!“ „Sie haben bis jetzt aber stets vermieden, ja zu sagen.“ Navarro wußte jetzt überhaupt nicht mehr, woran er war. „Mädchen lassen ihre Verehrer gern ein wenig zappeln“, erklärte Susan. „Ich hätte mich schon zur rechten Zeit zu erkennen gegeben! Aber Sie hatten ja gleich den Colt in der Hand, und im Hof hetzten Sie Ihre Hunde hinter mich her!“ Diese Unterhaltung wurde durch den Ruf eines Sperbers unterbrochen, der von der Höhe der Felsen zu ihnen herunterscholl. Er klang sehr echt, aber Tom wußte, worum es sich handelte, und schaute zu der steinernen Kanzel hinauf. Ellen Simson winkte aufgeregt mit den Armen. „Ich glaube, es geht los!“ sagte Tom. „Wir müssen uns beeilen.“ „Was geht los?“ fragte Navarro nervös. Er sehnte sich offensichtlich in sein spanisches Haus zurück und bereute schon, mitgekommen zu sein. „Hinauf! Oder haben Sie Lust, das zu verpatzen, weswegen wir hierher kamen?“ Sie eilten auf die Felswand zu und stiegen hoch. Susann kletterte wie eine Katze, während Navarro furchtbare Ängste ausstand und stöhnte, als sei sein Tod bereits eine feststehende Tatsache. Ellen hockte hinter der Barriere, hielt Toms Feldstecher vor den Augen und spähte zum jenseitigen Ende der Schlucht hinüber. Als der Ghostchef sich neben ihr niederkniete, reichte sie ihm wortlos das Glas. Er warf einen raschen Blick hindurch und stutzte. Schließlich gab er das Glas an Snuffy weiter. „Ein Planwagen“, meldete er, „vier Pferde davor! Irgendeine Firma auf der Plane, aber bei dieser Entfernung ist nichts zu entziffern. Vier Mann Bewachung! Auch der Kutscher ist mit Waffen garniert wie ein Kuchen mit Mandeln. – Ob wirklich 95
die Steeds im Wagen sitzen?“ „Die Steeds?“ fragte Susan spöttisch. „Begleitmannschaft und Kutscher – da ist keiner der Steeds dabei!“ „Woher kennen Sie die so genau?“ erkundigte sich Tom argwöhnisch. „Ihre Steckbriefe sind schließlich überall angeschlagen. Beschämend, daß ich bessere Augen hab als dieser Ghost da!“ Sie warf einen spöttischen Seitenblick auf den Langen. Snuffy kochte vor Wut, ließ aber die Augen nicht vom Glas. „Sie kommen in die Schlucht! Die Begleitmannschaften formieren sich. Zwei reiten jetzt vor dem Wagen her, die beiden anderen nehmen die Nachhut. Es wird eine kleine halbe Stunde dauern, bis sie hier sind.“ Tom nahm seinem Freund das Glas ab und spähte durch die Schlucht. „Wollen Sie mir nicht erklären, was das Ganze bedeutet?“ fragte Navarro. „Ich finde das alles so sinnlos!“ „Ich weiß leider auch nicht mehr als Sie“, entgegnete Tom Prox. Endlich erreichte das Gefährt den Eingang der Schlucht und kroch nun den schmalen, geschlängelten Weg entlang, der längs des Flußlaufes verlief. „Eigentlich könnten wir beide jetzt nach unten steigen“, meinte Tom zu Snuffy. Gleich darauf kletterten sie zum Schluchtgrund hinunter. Sie waren noch gar nicht unten, da klang der Schrei eines Hähers hinter ihnen her. „Den Weg entlang – dem Wagen entgegen!“ befahl Tom. „Jede Deckungsmöglichkeit ausnutzen!“ Sie hielten sich am Wegrand, immer durch das dichte Buschwerk gedeckt. Sie arbeiteten sich rasch voran; trotzdem kamen sie zu spät. Sie mochten ungefähr noch dreihundert Meter von dem Wa96
gen entfernt sein – eine Wegbiegung entzog ihn ihren Blicken – da verstummte plötzlich das knirschende Rollen, mit dem die schweren Räder über den Weg polterten. Zwei Sekunden blieb es still; dann schrie eine Männerstimme um Hilfe. Gleich darauf bellten zwei Schüsse auf. Danach war es wieder still. Die Ghosts liefen, so rasch sie konnten, und legten keinen Wert mehr darauf, in Deckung zu bleiben. Als sie dann um die Wegbiegung herumkamen, sahen sie, was passiert war. Die beiden Vorreiter lagen auf der Straße und rührten sich nicht. Ihre Pferde rannten, scheu geworden, davon. Die Ghosts sprangen beiseite, um nicht zertrampelt zu werden. Der Kutscher stand auf dem Wagen, Angst und Entsetzen im Blick. Er hieb wild auf seine Gäule ein, um möglichst schnell aus der Gefahrenzone zu kommen. Die Nachreiter waren bei den ersten Schüssen aus den Sätteln gesprungen und in Deckung gegangen. Von denen, die geschossen hatten, war nichts zu sehen. Nach einigen Minuten knallte es völlig unvermutet ein drittes Mal. Der Kutscher ließ Peitsche und Zügel fahren, griff mit der Hand nach dem Herzen, drehte sich um sich selbst, brach in die Knie und stürzte vom Wagen. Die Pferde, nun völlig nervös, stiegen auf die Hinterhand. Die Wagendeichsel brach. Die Tiere rannten wild drauflos. Der Wagen begann zu schwanken, und kurze Zeit darauf stürzte das Gefährt um. „Wie lange warten wir eigentlich noch?“ fragte Snuffy. „Woher kam der Schuß, der den Fahrer erledigte?“ „Nichts gesehen. Der Schütze sitzt so gut versteckt, daß nicht einmal das Mündungsfeuer zu erkennen war.“ „Anscheinend befindet sich eine Erdmulde hinter dem Strauch da drüben!“ „Du von rechts und ich von links!“ erwiderte Snuffy begeistert. „Wir nehmen sie von hinten aus, ehe sie wissen, was los 97
ist! Ob es die Steeds sind?“ „Verlaß dich drauf! Aber vergiß die beiden Nachreiter nicht! Sie halten uns für Gegner, falls sie uns zu sehen bekommen.“ Tom Prox drang in das Gebüsch ein und arbeitete sich in flachem Halbkreis auf die Erdmulde zu. Auf halbem Wege hielt er inne – der zweite Teil des Angriffs schien zu beginnen. Ein Mann kroch aus der Senkung hervor und bewegte sich so geschickt, daß man ihn kaum sah. In schnurgerader Richtung kam er auf die Stelle zu, an der Tom hockte. Da der andere nichts von seiner Anwesenheit wußte, mußte dieses Manöver einen ganz bestimmten Zweck haben. Auf halbem Weg machte er halt, lag, geschützt durch einen niedrigen Ginsterbusch, flach auf dem Bauch, zerrte seinen Colt aus dem Holfter und wartete ab. In der gleichen Sekunde begann von der Mulde her ein wüstes Geschieße. Die Straße wurde unter Feuer genommen. Bald darauf war alles wieder still. Die Nachreiter arbeiteten sich durch den flachen Graben, der die Straße auf der dem Fluß abgewandten Seite begleitete, kletterten die Grabenböschung hinauf und erwiderten das Feuer. Der Ghost wußte Bescheid. Die Schüsse sollten die Nachreiter von dem Mann ablenken, der zwischen ihm und der Straße lag! Nach den ersten Schüssen kroch der Kerl ein Stück näher heran. Die Nachreiter bemerkten in ihrem Eifer die von seitwärts kommenden Schüsse nicht; das Geböller aus der Mulde übertönte ihr Bellen. Es wurde ein sinnloses Feuergefecht; jeder schoß aufs Geratewohl; keiner sah den andern. Das Schießen zwischen Straße und Mulde setzte plötzlich aus, beide Parteien luden nach. Der Mann, den Tom beobachtete, kroch unentwegt weiter. Endlich hatte er den richtigen Platz gefunden. Sein Oberkörper hob sich; er streckte den rechten 98
Arm vor. Ehe er durchkrümmte, fuhr Toms Kugel aus dem Lauf. Der Kerl schrie auf, als sich sein Revolver plötzlich selbständig machte und davonsegelte. Der Mann betrachtete verwundert seine rechte Hand; dann schlenkerte er sie wütend und holte schließlich sein Taschentuch hervor, um die angekratzten Finger zu verbinden. Wütend riß er den zweiten Colt aus dem Holfter und schoß mit der Linken weiter. Tom Prox wartete, bis er seine Trommel leergeschossen hatte. Als der Colt schwieg, sprang er auf. Drei Meter trennten sie nun noch; Tom hatte bereits erkannt, daß er es mit Ben Steeds zu tun hatte. Er sah jetzt, wie dieser sein Messer zwischen die Zähne nahm und mit der Linken nach dem davongeflogenen Colt zu angeln versuchte. Dabei ließ er ihn keine Sekunde aus den Augen. „Ergib dich!“ forderte der Ranger. „Einmal muß auch ein Steeds einsehen, daß sein Spiel verloren ist!“ „Noch lange nicht!“ schrie Ben blindwütend. Völlig unvermutet riß er sein Messer aus dem Mund und schleuderte es auf Tom. Gefährlich zischend fuhr die blanke Klinge durch die Luft. Der Ghost rollte sich blitzschnell beiseite; dicht neben ihm fuhr der Stahl in den Erdboden. In der gleichen Sekunde sprang er hoch und nahm die Entfernung zwischen sich und dem Gegner mit zwei gewaltigen Sprüngen. Sie trafen hart aufeinander. Tom hatte die größere Wucht in seinen Sprung gelegt; er riß Ben zu Boden und kam auf ihm zu liegen. Die Nachreiter hatten inzwischen gemerkt, was vor sich ging, und wollten herbeilaufen, mußten jedoch sofort wieder zu Boden gehen. Joe nahm sie von der Mulde her unter mörderisches Feuer. Es wurde ein erbittertes Ringen. Für Ben ging es um Tod oder Leben. Wenn er unterlag, wartete die Schlinge des Henkers auf ihn. 99
Tom Prox hatte nun den Feind unter sich gebracht und versuchte, ihm die Arme auf dem Rücken zusammenzupressen, um ihn zu fesseln. Plötzlich riß Ben die Rechte, ungeachtet der Verwundung, los, und fuhr damit nach seinem Bein. Er trug für den äußersten Fall stets einen Dolch im Stiefel. Den zerrte er heraus, um ihn dem Gegner von unten her in den Leib zu stoßen. Tom erkannte die drohende Gefahr, ließ Ben los, rollte ein Stück weiter, so daß der Stoß ins Leere ging, und war in der nächsten Sekunde wieder über ihm. Er kannte jetzt keine Schonung mehr, schlug unbarmherzig zu und schickte ihn in den Schlaf. Ben streckte sich lautlos. Das Schießen von der Mulde hörte plötzlich mitten in einer Serie auf; statt dessen war ein lauter, triumphierender Schrei zu hören. Tom erkannte die Stimme: Das war Patterson! Er hatte die Mulde erreicht und sich auf den Schützen gestürzt. In langen Sätzen hetzte Tom auf die Mulde zu, um Snuffy zu helfen, falls das nötig werden sollte. Auch die Nachreiter sprangen auf. Als er eintraf, war die schönste Rauferei im Gange. Snuffy hatte Joes Colt am Lauf gefaßt, ihm das Ding aus der Hand gerissen, es in weitem Bogen fortgeworfen und sich dann auf seine Fäuste verlassen. Jeder seiner Schläge saß! Nun packte Tom Joe von hinten beim Genick, riß ihn zu sich herum und versetzte ihm einen seiner gefürchteten Kinnhaken. Joe wurde weich in den Knien und sank zu Boden. „Bind ihn und bring ihn dann nach der Straße. Ich will mich inzwischen um den Transport kümmern! Vielleicht kann dem Kutscher noch geholfen werden.“ Tom wandte’ sich an die Nachreiter, die eben herankamen. „Mitkommen!“ sagte er, ohne sich auf weitere Erklärungen einzulassen. Sie liefen zur Straße hinunter. Der Kutscher hing halb über der Flußböschung; er stöhnte und war noch bei Bewußtsein. Seine Verletzung schien ernst; 100
vielleicht konnte er noch gerettet werden. Während die Nachreiter sich mühten, den Verletzten vorsichtig aus seiner gefährlichen Lage zu befreien und auf die Straße zu betten, peitschten plötzlich erneut Schüsse durch die Luft. Was bedeutete das .? Von dem Felsen her, der die Kanzel trug, kam in raschem Lauf Señor Navarro, den Colt in der Hand, sehr erregt, mit rollenden Augen und knirschenden Zähnen. Er sah Ben Steeds nicht. Der war rascher wieder ins Bewußtsein zurückgekehrt, als Tom angenommen hatte, und arbeitete sich mühsam wieder auf. In dem Augenblick, als Tom Señor Navarro eine Warnung zurief, fuhr der erste Schuß aus seinem Rohr. Der Mexikaner warf sich geistesgegenwärtig zu Boden, und nun antwortete er mit seinem Colt. Mitten im Kugelregen fuhr Ben unvermittelt mit der Hand nach dem Herzen und kippte zur Seite. Navarro jedoch schoß weiter, obwohl sein Gegner nicht mehr zu sehen war. Als der Colt des Mexikaners nichts mehr hergab, rannte Tom auf ihn zu. Navarro war blaurot im Gesicht, und murmelte Flüche vor sich hin. Der Ghost rüttelte ihn tüchtig bei den Schultern. „Wohl schwache Nerven? Kann Leute nicht gebrauchen, die sofort einen Koller bekommen, wenn es knallt.“ Der Mexikaner starrte ihn verblüfft an; dann kam er zu sich. Es sah aus, als erwache er aus einem wüsten Traum. „Excuse!“ bat er unsicher. „Ich bin völlig durcheinander. So lange ich lebe, hat noch niemand nach mir geschossen! Ich wußte nicht mehr, was ich tat –“ „Stecken Sie Ihre Kanone ein“, unterbrach ihn Tom ernst. „Wäre nicht nötig gewesen, daß Ben Steeds starb! Wären Sie doch nur oben in der Kanzel geblieben! Jetzt gehen Sie nach der Mulde hinüber und helfen Sie Mr. Patterson. Ich muß nach dem Kutscher sehen. Sein Leben hängt an einem seidenen Fa101
den.“ Navarro schwieg und ging los. Er warf einen scheuen Blick auf Ben Steeds. der, von seiner Kugel getroffen, in sonderbarer Verkrümmung im Gras lag; sein Gesicht zeigte einen Ausdruck ungläubigen Staunens, so, als begriffe er auch jetzt noch nicht, daß es ihn hatte treffen können. Tom blickte ihm kopfschüttelnd nach; dann lief er zur Straße hinunter. Die Nachreiter hatten inzwischen getan, was sich tun ließ; der Mann mußte auf dem schnellsten Wege in die Hände eines Arztes. Sie mußten den Wagen entladen, wenn sie ihn wieder auf die Räder bringen wollten, und das nahm einige Zeit in Anspruch. Mitten in der Arbeit tönte von der Mulde her ein sonderbares Geschrei zu ihnen. Wenig später hörte man Snuffy lästerlich schimpfen. Dazwischen wurden Geräusche laut, wie sie bei einem Kampf entstehen. Schließlich schrie Señor Navarro zwei- bis dreimal mörderisch auf. Dann war alles still. Tom Prox setzte sich in Lauf. Er hatte den Weg zur Mulde knapp zur Hälfte zurückgelegt – da wurde der Lange oben sichtbar. Er winkte aufgeregt. Als Tom oben ankam, war der Sergeant gerade dabei, Navarro zu binden und neben Joe Steeds zu legen. Er kochte vor Zorn. „Was stellst du denn nun wieder an?“ fragte der Ghostchef mißtrauisch, als er seinen Freund sah. „Der Kerl ist verrückt geworden! Hat verdammt dünne Nerven. – Diese kleine Knallerei brachte ihn um sein bißchen Verstand. Solche Leute gehören nicht in den Westen!“ „Kannst du nicht in ein paar klaren Worten sagen, was los ißt?“ „Scheint von Anfang an nicht alle Tassen im Schrank gehabt zu haben, der Kerl!“ berichtete Snuffy erbost. „Kommt herauf102
gestürmt wie ein Wilder, sieht Joe, rollt die Augen, knurrt wie ein Kettenhund, zieht den Colt und drückt ab, ehe ich es verhindern kann. Will den wehrlosen Joe tatsächlich kalt machen! Zum Glück ist seine Trommel leer. Da brüllt er wie ein Auerochse, zerrt das Messer aus dem Gürtel und will es Joe in die Brust stoßen. Man kann doch einen Menschen nicht auslöschen, der sich nicht wehren kann!“ Navarro zerrte wie ein Wahnsinniger an seinen Fesseln und murmelte sinnloses Zeug vor sich hin. Er schien tatsächlich nicht mehr bei Verstand zu sein. Jetzt kam Ellen Simson von der Felskanzel heruntergeturnt und lief auf die Mulde zu. „Ich hoffe, du hast alles beobachten können“, rief ihr der Ghostchef entgegen. „Sonst entbehrt dein Bericht im Texas-Star der nötigen Frische!“ „Susan ist fort!“ erwiderte Ellen aufgeregt. „Wie das?“ „Dieses Weibsbild!“ schimpfte Snuffy stöhnend. „Dieses schamlose Weibsbild! Sie ist die Seele des Ganzen – leider haben wir das zu spät erkannt!“ „Das Mädel hielt brav bei uns aus, bis Navarro herunterkletterte, um euch zu Hilfe zu eilen, wie er behauptete“, berichtete Ellen weiter. „Kaum war er fort, da wurde Susan verrückt, schwang sich über die Felsbarriere und stieg ebenfalls in die Tiefe. Als sie den Schluchtgrund erreicht hatte, schwang sie sich auf ihren Gaul und preschte davon, als sei der Leibhaftige hinter ihr her.“ „Wohin?“ fragte Tom kurz. „Richtung Eltonville!“ Er pfiff durch die Zähne; dann lächelte er plötzlich. „Lassen wir sie reiten! Kann mir denken, was sie beabsichtigt! Wenn die Geschichte hier erledigt ist, wollen wir uns um sie kümmern. 103
Wichtig ist zunächst, festzustellen, ob der Wagen tatsächlich das geladen hat, was ich vermutete. Snuffy kann die beiden Gefesselten herunterbringen.“ Die Nachreiter hatten das Gefährt wieder auf die Räder gebracht. Ellen kümmerte sich um den Kutscher, der noch immer reglos, aber bei Bewußtsein, auf der Straße lag. Sie untersuchte seine Wunde, konnte jedoch auch nicht viel tun. „Sobald wir den Wagen völlig klar haben, kann er in vier Stunden auf dem Operationstisch liegen“, erklärte einer der Nachreiter. „Wir fahren auf dem kürzesten Wege zurück.“ „Woher stammt ihr?“ fragte Tom Prox. „Las Casas Federation Mine.“ „Ihr hattet Silber geladen?“ Der Nachreiter nickte. „Zweihundert Barren.“ „Wohin sollte der Transport?“ „Bahnstation Santa Philippo. Wir fahren diese Transporte seit fünf Jahren, und es ist noch nie etwas passiert. In letzter Zeit allerdings gab es bei Transporten von anderen Minen erhebliche Aufregung. Vor drei Wochen zum Beispiel wurde ein Wagen der States Mine San Lorenzo überfallen. Wir hätten uns eigentlich mehr vorsehen sollen. Aber die Minendirektion spart gern mit Begleitmannschaften!“ „Merkst du was, Ellen?“ fragte Tom seine Begleiterin. Snuffy kam von der Mulde zur Straße herunter. „Ich schaff die beiden zu den Pferden, Chef. Dort können sie liegen, bis wir mit den anderen Arbeiten fertig sind. Dieser komische Mex scheint übrigens wieder vernünftig geworden zu sein.“ Navarro machte einen kläglichen Eindruck. Sein Gesicht war eingefallen; tiefe Schatten lagen unter seinen Augen. Es sah aus, als sei er eben aus einem Rausch erwacht. „Bindet mich los!“ bat er beschämt. „Ich gestehe, mich unmöglich benommen zu haben! Aber es soll nicht wieder vorkommen!“ „Zu den Pferden!“ befahl Tom. „Binde ihn los, wenn ihr dort 104
seid, Snuffy! Er soll nicht sagen können, wir hätten ihn schlecht behandelt. Aber Ellen geht mit! Während du auf dem schnellsten Weg zurückkommst, bleibt sie bei Navarro und den Steeds. Ich will nicht riskieren, daß der Mexikaner noch einmal überschnappt und neuen Schaden anrichtet.“ Er machte sich mit den Nachreitern sofort wieder an seine Arbeit. Ein Teil der Silberbarren war in den Fluß gefallen und mußte aus dem Wasser geholt werden. Nach einer Stunde stand der Wagen wieder auf der Straße, beladen und fahrbereit. Sie spannten die Pferde vor, hoben den Kutscher behutsam in das Gefährt und betteten ihn so weich, wie das möglich war. „Fahrt vorsichtig und trotzdem so rasch es geht!“ gab Tom den Reitern als letzte Ermahnung mit auf den Weg. Die Ghosts setzten sich an den Straßenrand und rauchten. „Ich zerbreche mir den Kopf, was das Ganze bedeutet!“ unterbrach der Lange bald das Schweigen. „Warum überfielen die Steeds den Silbertransport? Wenn sie Silber haben wollten: auf der Mine am singenden Felsen gibt es doch welches!“ „Silber ja, aber nicht genug! Navarros Mine bringt eben nicht viel ein. Da kamen die Kerle auf die Idee, die Transporte, welche die Minen auf der mexikanischen Seite von Zeit zu Zeit zur Bahn schicken, zu berauben.“ „Aber es handelt sich doch um eingeschmolzenes und in die üblichen Barren gebrachtes Silber!“ staunte Snuffy. „Jeder Barren trägt das Zeichen der Mine, von der er stammt! Sobald sie anfangen, diese Barren zu verkaufen, muß herauskommen, wer die Räuber sind.“ „Du vergißt, daß es auf der Swandean-Mine einen Schmelzofen gibt.“ Über Snuffys Gesicht flog ein verstehendes Grinsen. „Diese Schufte! Alfonso wird Augen machen, wenn er hört, was passiert ist. Wahrscheinlich heizt er seinen Schmelzofen jetzt schon tüchtig an, denn wenn die Steeds mit ihrem Rauh an105
kommen, muß unverzüglich ans Werk gegangen werden! Einige Stunden Arbeit, und aus den Barren mit dem Zeichen der Las Casas Mine sind Barren mit dem Zeichen der Swandean-Mine geworden! Schlau! Sehr schlau!“ Tom schwieg. „Wahrscheinlich hat dieser Mexikaner aber doch etwas gemerkt“, überlegte Snuffy weiter. „Deshalb mußte er unschädlich gemacht werden! Darum der Überfall auf dem Weg von der Bayliss-Ranch nach Eltonville, und deshalb die Vorgänge in seinem spanischen Hause! Nur gut, daß wir dazwischen kamen! Noch zwei, drei Transporte, und sie hätten für ihr ganzes Leben genug gehabt!“ Er unterbrach sich; ihm war plötzlich ein ganz neuer Gedanke gekommen. „Wo steht Susan in diesem Spiel?“ fragte er stockend. „Ich muß sagen, daß ich mich eine Zeitlang sehr für diese Katze interessierte. Aber jetzt hat natürlich mein gesunder Menschenverstand wieder die Oberhand!“ „Verschieben wir die Unterhaltung über Susan auf später“, schlug Tom vor. „Gehen wir zu den Pferden! Ellen wird sich langweilen, und schließlich müssen wir ja wieder nach der amerikanischen Seite hinüber. Vergiß nicht, daß wir ohne Paß sind.“ Als sie die Stelle erreichten, an der sie die Pferde zurückgelassen hatten, erlebten sie eine neue Überraschung. Es war niemand mehr dal Ellen, Navarro, Joe, die Pferde – alles war weg. Snuffy starrte seinen „Chef“ entgeistert an. „Könnt Ihr Euch das erklären?“ fragte er verblüfft. „Das geht über meinen Horizont!“ Er spähte aufgeregt die Straße entlang, als erwarte er, Ellen jeden Augenblick auftauchen zu sehen; aber die Gegend war und blieb leer. „Böse Geschichte!“ überlegte Tom. „Weniger, daß sie weg 106
sind – aber sie haben unsere Pferde mitgenommen!“ „Nun verstehe ich nichts mehr.“ „Wäre es nicht gut, zunächst einmal zu versuchen, aus ihren Spuren herauszulesen, was sich abspielte?“ Snuffy stürzte sich sofort ins Gras und kroch auf allen vieren herum. „Ich lese wie in einem aufgeschlagenen Buch: Hier ist der Boden zertreten wie nach einem wüsten Kampf – und gerade dies ist die Stelle, an der ich Joe niederlegte! Und dort – die geknickten Zweige –“ Er sprang mit einem gewaltigen Satz auf einen Strauch zu, der etwas abseits stand. „Eine Botschaft, Tom, ein Zettel ist an den Zweig gespießt! Sicher von Ellen!“ Er nahm das Blatt Papier vom Zweig. „Aus einem dreckigen Notizbuch! Und keineswegs die Schrift von Ellen! Das ist – mein Gott. Tom, da steht tatsächlich Joe Steeds darunter!“ „Würdest du nicht lieber vorlesen, was der Kerl uns mitzuteilen hat?“ Tom konnte sich ungefähr denken, was vorgegangen war. „Wenn ihr mich durchaus bewachen laßt, dürft ihr das nie mehr durch einen Hasenfuß wie Navarro tun“, entzifferte Snuffy. „Es war eine Kleinigkeit, ihn zu übertölpeln. Ich nahm den Mexikaner und das Girl mit – als Geiseln. Es empfiehlt sich nicht, mir zu folgen, wenn euch das Leben der beiden lieb ist. Also: mich selber gegen meine Gefangenen! Sobald ich sicher bin und nichts mehr zu befürchten habe, lasse ich sie laufen. Bis dahin – dem Satan empfohlen! Joe Steeds.“ Sie untersuchten die Spuren eingehender, Joe Steeds hatte mit seinen Gefangenen die Richtung genommen, aus der sie am Morgen in die Schlucht eingeritten waren. Sie konnten Eltonville aber nicht vor Abend erreichen, und es gab unterwegs kein Haus, in dem sie versuchen konnten, Pferde zu leihen. Sie schritten wacker aus. Zwar war der Weg so hart, daß er die Spuren nicht gehalten hatte, aber Joe hatte seine Gefange107
nen gezwungen, neben ihm her zu reiten, und so war es nicht ausgeblieben, daß die Reiter immer wieder Äste und Blattwerk am Wegrand abgeknickt hatten. Natürlich mußte, weil die Verfolger zu Fuß waren, Joes Vorsprung immer größer werden. Aber Tom glaubte, annehmen zu können, daß der Bandit die Swandean-Mine anreiten würde, um den Silbervorrat, den er dort gehortet hatte, mitzunehmen. Nach vier Meilen kamen sie an eine Stelle, die durch eine größere Menge geknickten Strauchwerks auffiel. Zwischen Straße und Felsen stand ein dichtes Gebüsch, das aussah, als hätten sich dort mit Gewalt Menschen und Pferde hindurchgezwängt. „Möglich, daß es hier einen Seitenweg gibt, der die Straße abkürzt“, überlegte Tom. „Wollen mal sehen, was sich hinter den Sträuchern verbirgt.“ „Die Felsen“, erwiderte Snuffy ungnädig. Er war schlechter Laune, weil er laufen mußte. „Die Sträucher stehen bis dicht ans Gestein heran.“ Tom zwängte sich durch; als er die Felswand erreichte, pfiff er überrascht vor sich hin. „Sieh dir das hier mal an, Snuffy!“ Einige Meter seitwärts des Knicks führte ein Pfad in die Felsen hinein und ziemlich steil aufwärts. Er war nicht viel breiter als einen Meter; es konnte keinen halsbrecherischeren Weg geben. „Nur für Selbstmörder brauchbar!“ erklärte Snuffy. „Ausgeschlossen, daß man ein Pferd dazu bringt, seinen Reiter hier hinaufzutragen.“ „Und wenn er es zu Fuß tat?“ schlug Tom vor. „Mit zwei Gefangenen, die sich womöglich sträuben?“ wunderte sich Snuffy. „Navarro ist sicher halbtot vor Angst, und Ellen macht Joe keine Schwierigkeiten – wenigstens so lange nicht, bis sie ganz genau weiß, daß sie die Situation meistert!“ erwiderte Tom. 108
„Wird eine verdammte Kraxelei geben, doch was mich tröstet, ist die Tatsache, daß er jetzt genau so zu Fuß gehen muß wie wir! Zudem kommt er mit vier Pferden und zwei Gefangenen weniger schnell vorwärts als wir – unsere Chancen steigen!“ Spuren waren nicht mehr zu entdecken. Aber da es keine Abzweigung gab, mußte Joe vor ihnen sein! Ab und zu blieben sie stehen und lauschten. Schließlich wurde der Weg noch schmaler; rechts stieg die Felswand, an die er sich lehnte, jetzt senkrecht in die Höhe, links aber tat sich ein Abgrund auf, der hundert Fuß in die Tiefe stürzte. Das Felsband, auf dem sie dahinschritten, war nicht länger als fünfzig Mete, r; dann nahm sie ein kurzer, steinerner Tunnel auf. Als sie diesen hinter sich hatten, blickten sie über eine Geröllhalde, die sich ungefähr hundert Meter tief senkte. Unten floß ein Bach – nicht in stetigem Fluß, wie das Wasserläufe sonst zu tun pflegen – seine Flut kam in gewaltigem Schwung daher, ließ nach, bis das Bachbett beinahe trocken lag; dann gab es einen neuen Wasserguß. „Der Swandean!“ staunte Snuffy. „Wir brauchen nun nur stromaufwärts zu halten, um die Mine zu erreichen! Ich freue mich über das überraschte Gesicht, das Joe macht, wenn wir ihm einen guten Morgen wünschen.“ „Guten Morgen?“ lachte Tom. „Es ist inzwischen Mittag geworden, und bis wir die Mine erreichen, haben wir Abend! Auf jeden Fall haben sie diesen Weg genommen und sind durch das Geröll hinunter! Siehst du die Spuren, welche die gleitenden Pferde hinterließen?“ „Wir müssen doch ganz schön aufgeholt haben! Vielleicht bekommen wir ihn schon in der nächsten Stunde zu fassen!“ Sie verließen den Tunnel und machten sich an den Abstieg. Es wurde eine gefährliche Angelegenheit. Das Geröll gab oft nach; sie kamen mehr als einmal in Gefahr, zu stürzen. 109
Da hörten sie einen Knall. Sie spähten angestrengt aus; das Gebüsch, auf das sie zuhielten, war ein Wäldchen von nicht übermäßiger Ausdehnung; irgend etwas bewegte sich darin. Anscheinend hatte Joe seine Gefangenen und die Pferde darin untergebracht. Er selber konnte sich dort nicht befinden; so weit hätte sein Colt nicht getragen. „Nimm den Hut hoch, Snuffy! Schieb ihn vorsichtig über den Felsen! Hoffentlich läßt sich Joe dadurch verleiten, zu schießen! So bekommen wir heraus, wo er steckt.“ Snuffy setzte seinen Hut auf den Lauf eines seiner beiden Revolver und hob ihn in die Höhe. Gleich darauf knallte es. Der Sombrero segelte davon. „In dem verkrüppelten Strauch am andern Bachufer“, erklärte Tom. „Er sieht aus wie eine schlafende Eule. Und da wir hier nicht liegenbleiben können, werde ich versuchen, dorthin zu gelangen.“ Er sprang mit einem Panthersatz aus seiner Deckung. Als der Mann hinter dem Eulenstrauch schießen konnte, lag er bereits wieder im Schatten eines Steinblocks. Joe jagte drei oder vier Schüsse hinaus, traf jedoch nicht. Tom sprang zum drittenmal. Er näherte sich dem Bach nur langsam, aber der Mann hinter dem Strauch wurde immer nervöser. Seine Schüsse wurden rasch und unsicher. Snuffy freute sich schon. Da – nur fünfzig Schritt vom Bachlauf entfernt – glitt der Ghostchef aus, schlug mitten im ungeschützten, offenen Gelände hart zu Boden. Der Mann im Busch stieß einen Triumphschrei aus, der Snuffys Wut erneut anstachelte. Joe jagte Schuß auf Schuß aus seinem Colt. Rechts und links von Tom wirbelten Staubwölkchen auf und verzischten. Er versuchte mehrere Male, hochzukommen. Da warf er sich seitwärts herum und ließ sich, mit Händen und Füßen steuernd, den restlichen Teil des Abhanges hinunterrollen. 110
Vom Wäldchen her kam jetzt ein Mensch auf allen vieren; Snuffy konnte nicht erkennen, wer es war. Allem Anschein nach handelte es sich um Ellen oder Navarro. Wahrscheinlich war es einem der beiden gelungen, sich zu befreien, und nun versuchte er, Joe von hinten anzugreifen. In diesem Augenblick hatte Tom Prox den Bach erreicht. Mit lautem Aufklatschen versank er im Wasser. Snuffy sprang hinter seiner, Deckung hervor und rannte den Abhang hinunter. Was er tat, war zwar unüberlegt und impulsiv, aber es entschied den Kampf. Joe wurde aufmerksam und richtete sein Feuer nunmehr auf den Langen. Tom sprang in der gleichen Sekunde aus dem Bach auf den Busch zu. Er warf sich ins Gestrüpp, griff hinein, und faßte Joe von vorn um den Leib und stieß ihn beiseite. So konnte er ihn im letzten Augenblick vor dem Messer retten, das ihm zugedacht war. Hochaufgereckt hinter Joe stand nämlich Señor Navarro, das Gesicht in sinnloser Wut verzerrt, zum Letzten entschlossen. In der erhobenen Rechten hielt er den Dolch. Er schrie auf wie ein Raubtier, das sich um seine Beute betrogen fühlt. Und als ihm Joe entgangen war, warf er sich auf Tom, der inzwischen durch den Busch gebrochen war, dann strauchelte und versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Im letzten Augenblick jedoch stand er und setzte dem Angreifer die Faust unter das Kinn. Navarro fiel bewußtlos zu Boden. Snuffy hatte inzwischen den Bach erreicht und ihn durchwatet. In diesem Augenblick fuhr eine Kugel so dicht vor seinen Füßen in den Boden, daß er erschreckt zurücksprang. Joe Steeds war der Schütze. Er hatte sich, als er sah, daß der Ghost mit Navarro aneinandergeraten war, davongemacht, um einigen Abstand zwischen sich und den Gegner zu legen. Als er weit genug war, schickte er sich an, die Sache auf seine Art schnell 111
zu erledigen. Snuffy erwiderte das Feuer, ehe es Joe gelang, hinter einem der Felsblöcke, die auch auf dieser Seite des Baches lagen, in Deckung zu gehen. Joe knickte in den Knien ein und stürzte zu Boden. Snuffy rannte auf den Banditen zu, stürzte sich auf ihn und trat ihm den Colt aus der Hand. Dann schlug er zu. Joe streckte sich, stöhnte noch eine Weile und war dann still. Snuffy schaute sich jetzt nach Tom um, der Navarro inzwischen unschädlich gemacht hatte. „Kleinen Moment!“ rief er. „Laufe nur rasch mal zu den Pferden, um ein Lasso zu holen, damit ich den Kerl auch gut verpacken kann!“ „Bring einen zweiten Lasso mit!“ rief ihm Tom noch nach. Der Lange kam in verhältnismäßig kurzer Zeit wieder. Es dauerte keine Viertelstunde, dann lagen Joe und Navarro verschnürt so weit voneinander am Bachufer, daß keiner dem anderen helfen konnte, falls es ihnen einfallen sollte, früher zu erwachen, als es den Freunden lieb war. „Schnell ins Wäldchen hinüber, Snuffy! Schätze, daß Ellen dort liegt.“ Sie brauchten nicht lange zu suchen, um sie zu finden. Als sie sie losbanden, stellten sie fest, daß sie bewußtlos war. Sie trugen sie zum Bach hinunter. Als sie dort ankamen, war Navarro gerade dabei, wieder zu erwachen. Er blickte sich verwundert um; dann erinnerte er sich an das, was geschehen war. „Glaube, ich werde meinen Wohnsitz in diesem Lande aufgeben und nach der Stadt ziehen“, sagte er zerknirscht. „Dies hier ist nichts für meine Nerven! Sobald ich schießen höre, übermannt es mich – ich kann mir nicht helfen!“ Sein Blick fiel auf Ellen. „Miß Simson ist – sie ist doch – nicht – tot?“ fragte er schaudernd. „Keine Sorge!“ erwiderte Tom grimmig. „Sie ist nur bewußtlos.“ 112
„Ich fürchtete –“, stammelte Navarro. „Natürlich hatten Sie recht, als Sie mich fesselten, Gents! Die einzige Möglichkeit, mich davor zu bewahren, noch mehr Unheil anzurichten! Aber es ist schon wieder vorüber. Ich bin nun völlig normal und verspreche Ihnen –“ Tom lachte spöttisch. Snuffy blickte seinen Chef an. „Habt recht, wollen es nicht riskieren, ihn von neuem Unfug treiben zu lassen! Bis nach Eltonville hinunter wird er es sich schon gefallen lassen müssen, gefesselt zu bleiben.“ „Und ein ganzes Ende über Eltonville hinaus!“ erwiderte Tom. „Bis er in einer festen Zelle sitzt, aus der es keine Möglichkeit gibt, auszubrechen!“ Snuffy starrte Tom mit offenem Munde an. Der Ghostchef nickte. „Es ist sehr unwahrscheinlich, daß solche Dinge wie auf der Swandean-Mine ohne Wissen des Besitzers geschehen können!“ erklärte er. „Ich meine, Snuffy, daß Navarro von Anfang an wußte, wen er auf seiner Mine beherbergte! Daß er mit beiden Steeds zusammen den Plan ausheckte, die Transporte auf der mexikanischen Seite des Gebirges zu berauben und das umgeschmolzene Silber als in seiner Mine gefördert auszugeben! Sie bildeten ein wunderbares vierblättriges Kleeblatt: Navarro, die Steeds und der gute Alfonso! Sie wollten Geld scheffeln, alles andere war ihnen gleich.“ Navarro wurde weiß. Er setzte mehrere Male zum Sprechen an, ehe es ihm gelang, ein Wort herauszubringen. Dann aber schrie er: „Das sind Lügen, Mr. Prox, und dem, der sie ausspricht, sollen sie im Hals stecken bleiben! Ich schwöre: Ich wußte nichts von alledem! Die Steeds knobelten es allein aus und führten es hinter meinem Rücken durch! Sie müssen mir glauben! Ich selbst bin ja auch zweimal überfallen worden! Beide Male kamen Sie dazu und retteten mich!“ Tom lachte. 113
„Je feiner ein Netz gesponnen ist, desto eher zerreißt es“, erwiderte er spöttisch. „Gerade diese beiden Überfälle gaben mir das richtige Bild, Navarro! Kam schließlich schon öfter mal vor, daß jemand, der den Verdacht von sich ablenken wollte, einen Überfall auf sich selber in die Wege leitete, um diejenigen, die den Verdacht hatten, irrezuführen! Spart Eure Reden, Navarro! Erzählt den Gerichten, was Ihr sonst noch an Lügen aufzutischen habt! Für uns ist die Sache erledigt, sobald wir Euch und Joe Steeds abgeliefert und Alfonso von oben abgeholt und ebenfalls auf Nummer Sicher gebracht haben! Daß Ihr zum Schluß versuchtet, die Steeds zu töten, weil Ihr fürchtetet, sie könnten Eure Mittäterschaft verraten, bricht Euch den Hals!“ Navarro trat der Schweiß aus allen Poren. Er fuhr mit der Hand nach der Kehle, als spüre er bereits den Strick des Henkers. In diesem Augenblick ertönte Ellens Stimme. „Ich höre Wasser rauschen und habe einen Riesendurst“, sagte sie vorwurfsvoll, „aber keiner von euch kommt auf den Gedanken, mir etwas zu trinken zu geben!“ Tom wandte sich der Reporterin zu, während Snuffy an den Bach sprang, um seinen Hut mit Wasser zu füllen. „Wo ist – Navarro?“ fragte Ellen, als sie getrunken hatte. „Gefesselt“, erwiderte Tom lächelnd. „Mach dir keine Sorgen mehr! Auch Joe Steeds haben wir.“ „Der Kerl führte uns von Anfang an an der Nase herum“, erklärte Ellen aufgeregt. „Als wir bei den Pferden waren, glaubte er, seine Chance sei gekommen! Ihr arbeitetet am Wagen, und ich war so einfältig, ihm einen Augenblick den Rücken zu kehren – da schlug er mich nieder! Dann befreite er Joe. Sie zogen los und nahmen mich mit. Ich sollte als Geisel dienen – für den Fall, daß ihr ihnen so rasch aufs Fell rücktet .“ * 114
Sie brauchten fünf Stunden, um nach Eltonville zu kommen; Sheriff Heydon war sehr überrascht, als der Ghostchef seine Gefangenen ablieferte. Heydon machte sich sofort auf den Weg nach der Swandean-Mine, um Alfonso zu holen. Er hatte Glück: Auf der Mine konnte er auch die kleinen Gauner festnehmen, die Zwischenträger- und Handlangerdienste für Navarro geleistet hatten. – Tom Prox, Snuffy Patterson und Ellen Simson ritten wieder aus Eltonville hinaus. „Wohin, Chef?“ fragte Snuffy ahnungsvoll, als er merkte, daß sein Freund Richtung auf das spanische Haus nahm. „Susan!“ gab dieser das Stichwort. „Was meinst du, ob sie wirklich mit diesem Navarro und den Steeds unter einer Decke steckte? Daß sie türmte, als sie sah, wie schlecht die Sache stand, belastet sie eigentlich am meisten.“ „Bist du überzeugt davon, daß sie wirklich türmte?“ Snuffy zuckte die Achseln. Als sie das spanische Haus erreichten, erlebten sie eine letzte Überraschung. Navarros Köchin war in der Küche festgebunden, in seinem Arbeitszimmer jedoch saß Susan auf dem Fußboden und war eifrig damit beschäftigt, die Papiere des Mexikaners einer eingehenden Durchsicht zu unterziehen. Sie hatte den Geldschrank aufgebrochen – der Himmel mochte wissen, wie ihr das gelungen war! – und alles herausgeholt, was sich an Schriftstücken darin befand. Als die Ghosts ins Zimmer traten, sprang sie erschrocken auf. Snuffy wunderte sich, daß sie kein Zeichen von Schuldbewußtsein zeigte. „Mr. Prox!“ rief sie erfreut. „Ich hab’s! Jetzt kann ich beweisen, was ich bisher nur vermutete! Schon dreimal versuchte ich, bei diesem Kerl einzubrechen, aber immer ging es daneben!“ 115
Sie breitete einige Schriftstücke vor ihnen aus. „Das ist es! Dieser Navarro ist ein Mörder! Daß mein Vater starb, war kein Unglücksfall, sondern ein Mord! Er hatte es so fein eingefädelt, daß es wie ein Unglück aussah. – Es kamen übrigens in letzter Zeit mehrere Rancher hier in der Gegend dadurch ums Leben, daß sie verunglückten! Niemandem fiel es auf. Aber daß jedesmal nach dem Unglücksfall Mr. Navarro mit einem Schuldschein bei der Witwe auftauchte und behauptete, der Verstorbene schulde ihm Geld, gab mir zu denken!“ – Am nächsten Tage waren sie reisefertig. „Susan machte eigentlich recht traurige Augen, als sie erfuhr, daß wir reiten“, neckte Tom seinen Sergeanten. Dieser blickte unentschlossen vor sich hin. „Eine Zeitlang spielte ich tatsächlich mit dem Gedanken, meinen Job bei der Ghost Squad aufzugeben“, gestand er. „Ich dachte es mir sehr nett, Rancher zu werden. Aber die letzten Ereignisse bewiesen mir, daß ich ja eigentlich schon verheiratet bin – mit der Ghost Squad, die ich Susans wegen aufgeben wollte!“ – Ende –
1960 Uta-Verlag Bad Godesberg (Mitglied des Remagener Kreises e. V.) Alle Rechte vorbehalten Druck: Druck- und Verlagshaus Erich Pabel Rastatt (Baden) Auslieferung: UTA-VERLAG, Bad Godesberg-Mehlem, Postfach 90-48 Printed in Germany Scan by Brrazo 10/2010 Das Heft darf in Lesezirkeln und Leihbüchereien nicht geführt werden
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Ihr guter Geschmack ist für uns eine Verpflichtung, den Inhalt der Serien
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UTA-ROMANE eine Auslese bester Liebes-, Heimat- und Gesellschaftsromane
Billy Jenkins Wildwest-Erzählungen
Tom Prox Wildwest-Abenteuer
Die andere Seite wahrheitsgetreue Schilderungen als Gegenstück zu den Erlebnissen deutscher Soldaten
Pete Jugenderzählungen und lustige Streiche auch weiterhin lebensnahe, flott, tatenreich und milieuecht zu gestalten. Wir bringen nur Originalarbeiten von besten, gerngelesenen Schriftstellern, die mit Land, Leuten, Sitten und Gebräuchen gut vertraut sind. Diese Serien erhalten Sie an jedem Kiosk und können auch direkt bezogen werden vom UTA-VERLAG Bad Godesberg-Mehlem Rüdigerstraße 39
Die unsichtbare Fessel ein faszinierender Kriminal-Roman von Joachim Rennau 265 Seiten Umfang Halbleinen-Einband Sonderpreis für unsere Heftleser nur DM 3.– Inhaltsübersicht: Der an den internationalen Varietes auftretende Zauberkünstler Garvin wird von seinen Berufskollegen gemieden. Zu seinen Experimenten gehört es, daß seine jeweiligen Assistentinnen in Tiefenhypnose versetzt werden. Die jungen Frauen und Mädchen, mit denen Garvin zusammenarbeitet, gehen daran zugrunde, landen im Irrenhaus oder begehen Selbstmord. Die Polizei beobachtet seit langem das Treiben Garvins, findet aber keine Handhabe gegen ihn. Wieder will Garvin einem Manne die Frau wegnehmen. Die Mauer des Hasses um den aalglatten Magier wächst – dann bricht sie über ihm zusammen. Lassen die Motive auf Mord schließen, oder verübte er Selbstmord auf hypnotischen Befehl eines anderen? – Der Roman lüftet das Geheimnis um diese außerordentlich interessanten Zusammenhänge. UTA-VERLAG. Bad Godesberg – Mehlem, Rüdigerstrasse 39
UNSER KLEINES Wild-West-Lexikon 9. Folge Colt = Amerikanischer Ingenieur; Erfinder des Revolvers. Jeder Revolver hat eine Trommel, die sich bei jedem Abschuß weiterdreht (lateinisch: revolvere = sich drehen). Jede andere Handfeuerwaffe wird als Pistole bezeichnet. Der ColtRevolver ist eine große, schwere Waffe, deren Hahn (mit einer Spitze versehener Hammer) in das Zündhütchen der Patrone hineinschlägt. Die Trommel faßt 6, bei anderen Typen 8 Patronen. Die Colt-Waffenwerke stellen heute auch automatische Pistolen her (neunschüssig). Die Cowboys ziehen den schweren, langläufigen Colt-Revolver Kaliber 45 den modernen Pistolen vor. Erstens ist die Handhabung denkbar einfach: Durch den Druck auf den Abzugshebel wird der Hammer nach hinten gedrückt. Hat er einen bestimmten Punkt erreicht, reißt eine Feder den Hammer wieder nach vorn; die Spitze des Hammers schlägt in das Zündhütchen, und der Schuß geht los. Gleichzeitig dreht sich die Trommel, so daß beim nächsten Abdrücken eine neue Patrone vor dem Hammer liegt. Große Revolverhelden feilen den Abzug ab und ziehen den Hammer mit dem Daumen zurück. Sie brauchen nur den Daumen zu heben, so schnellt der Hammer nach vorn. Das erfordert natürlich große Übung, ermöglicht aber ein schnelleres Schießen. Ist die Trommel leergeschossen, so schiebt der Schütze mit geschicktem Griff sechs oder acht Patronen fast gleichzeitig in die Trommelkammern ein, wobei er die Trommel mit der haltenden Hand dreht. Ge-
schossen wird von der Hüfte aus; ein gutes Augenmaß gestattet dem Schützen, seines Schusses unbedingt sicher zu sein. Nur bei weiter entfernten Zielen schießt der Cowboy mit ausgestrecktem Arm, wobei er die Waffe von oben nach unten führt und in Augenhöhe abdrückt. Manche Revolverhelden, denen es nur auf den Zweikampf ankommt, nehmen sogar die Feder aus dem Colt heraus, so daß der Hammer lose ist. Mit einem geschickten Griff reißen sie den Colt so aus dem Futteral, daß der locker sitzende schwere Hammer nach hinten fliegt. Dann schlagen sie die Hand mit der Waffe gegen den angewinkelten linken Vorderarm. Durch diesen plötzlichen Ruck saust der Hammer, durch sein Eigengewicht getrieben, nach vorn, und der Schuß kracht. Diese Art zu schießen hat aber auch ihre Nachteile. Manche Schützen ziehen den Colt nicht erst aus dem Futteral, sondern schießen gleich durch das Futteral hindurch. Zu diesem Zweck haben sie besonders gearbeitete Futterale, aus denen der Revolverlauf unten frei heraushängt. – Der Hauptgrund für die Bevorzugung des robust gebauten Colt-Revolvers ist der feine Staub in den Prärien, Savannen und Wüsten der Viehzuchtgebiete. Dieser Staub dringt in die feinen Teile der automatischen Pistolen ein und verursacht Ladehemmungen. Der Cowboy muß sich im entscheidenden Augenblick auf seine Waffe verlassen können, und der Colt-Revolver funktioniert immer. Como (spanisch) = Wie.