Freder van Holk Der singende Gaucho
SUN KOH-Taschenbuch erscheint vierwöchentlich
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Freder van Holk Der singende Gaucho
SUN KOH-Taschenbuch erscheint vierwöchentlich
im Erich Pabel Verlag KG, Pabelhaus, 7550 Rastatt
Neu bearbeitet von Heinz Reck
Copyright © 1980 beim Autor und Erich Pabel Verlag, Rastatt
Agentur Transgalaxis
Titelbild: Nikolai Lutohin
Alle Rechte vorbehalten
Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck
Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG
Verkaufspreis inkl. gesetzl. MwSt.
Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen
und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden;
der Wiederverkauf ist verboten.
Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich:
Pressegroßvertrieb Salzburg, Niederalm 300
A-5081 Anif
Abonnements und Einzelbestellungen an
PABEL VERLAG KG, Postfach 1780, 7550 RASTATT,
Telefon (0 72 22) 13 - 2 41
NACHDRUCKDIENST:
Edith Wöhlbier, Burchardstraße 11, 2000 Hamburg 1,
Telefon (0 40) 3 01 96 29, Telex 02 161 024
Printed in Germany
März 1980
Scan by Brrazo 04/2006
1.
Zwischen Paraguay und Parana zieht sich von der Grenze des Staates Paraguay aus das Bergland nach Norden, fünfhundert Kilometer weit und ebenso breit. Es leitet zum Mato Grosso über, einem Hoch plateau, das sich über tausend Kilometer erstreckt und dann allmählich in das flachere Hügelland des brasilianischen Berglandes übergeht. Im Südzipfel des Mato Grosso, wo das endlose Sumpfgebiet des Paraguay in das Bergland ein schneidet, stieg träge eine dünne bläuliche Rauch fahne zum Himmel. Sie stammte von einem Lager feuer, das auf einer kleinen natürlichen Lichtung in mitten der endlosen Wälder brannte. Am Feuer hockte Nimba und drehte mit Andacht ein Stück Hirsch auf dem Holzspieß. Er lächelte da bei genießerisch. Ein Stück abseits im Schatten eines Baumes lag Hal Mervin. Er starrte düster auf seinen linken Fuß, der eingebunden im Gras ruhte. Mit dem Fuß war er ge stern, als er zu baden versucht hatte, in eine Araja hin eingetreten, die unsichtbar und tellerflach auf dem Grund gelegen hatte. Eine der Stacheln, die diese Tiere am Schwanz tragen, war in seinen Fuß eingedrungen. Den Stachel hatte er herausgerissen, aber die Wunde war geblieben. Und sie sah böse aus und schmerzte. 5
Sun Koh kam heran. Auch sein kühnes Gesicht, dessen Bräune in prachtvollem Gegensatz zu dem lichten Haar stand, verriet mehr den Ernst Hals als die heitere Lebensfreude Nimbas. Er machte sich Sorgen wegen der Wunde des Jungen und suchte vergeblich nach einem Mittel, um drohendem Brand oder Blutvergiftung vorzubeugen. Einen Arzt gab es auf tausend Kilometer im Umkreis nicht. »Bald fertig«, meldete Nimba. »Na, wenn schon«, sagte Hal verdrossen. Nimba hob die Brauen. »Keinen Hunger? Schlechtes Zeichen. Ich kannte einen, der brachte vor Schmerzen keinen Bissen mehr über die Lippen. Zwei Tage später war er dann tot. Ja, die Schmerzen…« »Halt den Mund!« zischte Hal wütend. Nimba schüttelte den Kopf. »Wie kann man nur so empfindlich sein. Ich habe da mal eine Statistik über Todesfälle gesehen, wo nach in jeder Minute…« Er brach ab und duckte sich. Hals linker Stiefel sauste dicht über seinen Kopf hinweg. Bevor Nimba sich wieder aufrichten konnte, schickte Hal zwei Schüsse hinterher. Das war zuviel für Nimba. »Bist du verrückt geworden? Dir ist wohl die Blut vergiftung in den Kopf gestiegen. Schießt einfach auf…« 6
Hal kniete schon längst mit schußbereiten Waffen. »Beweg’ dich gefälligst einige Meter zur Seite, Nimba«, wies er kühl an. »Du stehst mir gerade in der Schußrichtung. Und gib acht, daß du keine Blut vergiftung von einem Indianerpfeil bekommst.« »Au verflixt!« hauchte Nimba und preßte sich an die Erde. Sun Koh hatte den knienden Hal erreicht. »Was ist?« »Ein Indianer ist dort drüben, Sir. Ich hatte den Eindruck, daß er uns ein bißchen als Zielscheibe be nutzen wollte.« »Getroffen?« »Wohl kaum. Mir kam es auf einen Schreckschuß an.« Sun Koh schritt mit der Waffe in der Hand auf den Waldrand zu und untersuchte die Stelle, die Hal ihm wies. »Hier hat ein Indianer gestanden«, bestätigte er. »Vielleicht hat er keine feindlichen Absichten, aber wir werden jedenfalls in Zukunft unsere Umgebung sorgfältiger beobachten. Die Gebiete der wilden In dianer liegen nicht besonders weit entfernt.« Nimba reichte Hal feierlich die Hand. »Ich betrachte dich als meinen Lebensretter.« Hal tippte sich an die Stirn. »Danksagungen werden bei uns nur in der Zeitung veröffentlicht.« 7
Nimba nickte ernsthaft. »Gut, ich werde bei nächster Gelegenheit daran denken.« Etwa eine Stunde später rumpelten knarrend und ächzend zwei hochrädrige Planwagen auf die Lich tung. Mehr als ein halbes Dutzend Männer ritten ne ben den Wagen her. Sie trugen weite Hosen und brei te Hüte und waren mit älteren Gewehren, langläufi gen Pistolen und Säbeln bewaffnet. Einer der beiden Vorreiter hob den Arm und brachte dadurch den Zug zum Stehen. Er war offen bar der Anführer. Haltung, Sprache und nicht zuletzt das Gesicht mit dem grauen Spitzbart drückten eine gewisse Würde aus. »Halt, Carreteiros!« rief er zurück. »Legen wir ei ne Rast ein!« Während sich die anderen Männer zunächst um Wagen und Pferde kümmerten, schwangen sich die beiden Vorreiter aus dem Sattel und kamen auf Sun Koh zu. Der Mann mit dem Spitzbart schwenkte sei nen Hut und machte sich in höflicher Form als Kaufmann Roncao bekannt, der mit frischer Han delsware nach seinem Wohnort Valdina unterwegs sei. Sun Koh gab über sich und seine Begleiter kurz Auskunft. Erst als er danach den zweiten Mann, an dem ihm mancherlei auffiel, fragend anblickte, sagte der kurz: »Ich heiße Borroud.« 8
Er sagte das in einem Ton, als ärgere er sich etwas. Auch seine Haltung und sein Gesicht drückten klar aus, daß er sich aus irgendwelchen Gründen seiner Umgebung völlig überlegen fühlte und eine Aner kennung dieser Überlegenheit als selbstverständlich voraussetzte. Das Gesicht wirkte außerordentlich fin ster. Dieser Borroud war sicher ebenso verwegen, zäh und hart, wie er außergewöhnlich stark und ge wandt war. Zu diesen Eigenschaften traten Roheit, Gefühllosigkeit und einige andere Eigenschaften, die zur Drohung wurden. Sun Koh spürte Widerwillen in sich aufsteigen. Die beiden Männer tauschten einen Blick und wuß ten, daß sie Feinde waren. Übrigens unterschieden sich Borrouds Bewaff nung und Kleidung wesentlich von der des Kauf manns. Die Kleidung bestand durchgängig aus wei chem Wildleder, und Gewehr und Pistolen gehörten zu den neuesten Modellen. Sun Koh nahm Borrouds Art gelassen hin, aber Hal ärgerte sich. »In Ihrem Alter müßten Sie sich daran gewöhnt haben«, meinte er spöttisch vom Boden her. Borroud begriff nicht recht. Er warf Hal einen scharfen Blick zu und knurrte: »Wieso?« »Weil Sie sich so anstrengen müssen, um den Mund aufzukriegen«, gab Hal Auskunft. Borroud machte eine schnelle Bewegung, die Sun 9
Koh mehr verriet als viele Worte. Seine Hand zuckte zur Pistole, aber er wandte sich mit einer Verwün schung ab und ging langsam zu dem in der Nähe lie genden Fluß hin. »Donnerwetter«, murmelte Hal etwas blaß hinter ihm her, »der ist aber mit dem Schießeisen schnell bei der Hand. Scheint ja eine ganz besondere Num mer zu sein.« »Er ist Bugerjäger«, teilte Roncao, den der flüch tige Zwischenfall sichtlich bestürzt hatte, gedämpft mit. »Was ist das?« fragte Sun Koh. »Oh, Sie wissen nicht – verzeihen Sie bitte einen Augenblick.« »Setzt euch, Compadres, wir haben noch viel Licht vor uns und können eine Stunde rasten. Die Herren sind Fremde, die zu ihrem Vergnügen durch das Land reisen, um es kennenzulernen. Unsere Ge sellschaft ist ihnen willkommen.« Die Männer nickten, ließen sich schweigend in der Runde nieder und machten sich über das mitgebrach te Brot und Fleisch her. Es waren durchweg jüngere kräftige Gestalten. Sie zollten offenbar ihrem Anfüh rer eine gewisse Ehrerbietung. »Compadres?« wunderte sich Nimba, als sich der Kaufmann zurückdrehte. »Sie haben aber eine Men ge Gevattern.« »Es sind keine Verwandten von mir«, sagte Ron 10
cao lächelnd. »Wir bezeichnen hier jeden Bekannten als Compadre.« »Ach so.« Sun Koh lud zum Sitzen ein. Roncao entdeckte das verbundene Bein Hals und erkundigte sich danach. Er erfuhr von dem Stachel der Araja und versicherte, daß eine solche Wunde zwar schwer heile, aber niemals lebensgefährlich sei. Dann kam er wieder auf Borroud zu sprechen, der jetzt am Fluß hockte. »Er ist ein seltsamer Mensch, Senhores«, berichte te er leise, »und ich muß gestehen, daß es viele Leute gibt, denen ein Schauer über den Rücken geht, wenn er sich in der Nähe befindet. Es gibt auch viele, die ihn hassen, weil er sich mehr erlaubt, als andere dür fen. Aber es ist nicht gut, sich mit ihm anzubinden, und mancher hat es schon bereut. Man muß ihm eben vieles nachsehen, weil er Bugerjäger ist.« »Und was ist ein Bugerjäger?« »Ein Indianerjäger, Herr. Wir leben in einem Land, in dem es noch wilde Indianer gibt. Nicht weit von hier beginnen die Sumpfwälder, in denen sie noch zu vielen Tausenden wohnen. In die Dörfer wagen sie sich nicht mehr, aber wenn sie eine Gele genheit finden, eine einzelne Siedlung zu überfallen, dann tun sie es. Der Bugerjäger ist der Mann, der solche Überfälle rächt.« »Warum tun das die benachbarten Siedler nicht selbst?« 11
»Sie sind Bauern, aber keine Jäger und Fährtenle ser. Die Indianer sind geschickt und schlau, es ist schwer, sie im Sumpf und Urwald zu finden. Nur der Bugerjäger kann das. Er geht den Spuren nach, die für die Siedler nicht zu sehen sind, er dringt, natür lich begleitet von den jungen Männern der Umge bung, in die Wildnis vor und folgt den Spuren, bis er die Indianer gestellt hat. Dann rottet er sie aus.« »Sollte man nicht meinen, daß diese Indianer zahl reichere Möglichkeiten finden, sich zu verstecken und zu fliehen, als der Bugerjäger sie zu stellen?« Roncao strich über seinen Bart. »Gewiß, das ist wohl richtig. Der Bugerjäger und seine Begleiter können auch selten Indianer töten. Aber die Kinder und Frauen der Indianer sind behin dert. Sie sind es, die der Rache zum Opfer fallen.« »Pfui Deibel«, entfuhr es Hal. »So denkt der Fremde, aber unser Land ist hart, und es gibt kaum ein anderes Mittel, um die Indianer zurückzuschrecken. Der Stamm, der Frauen und Kinder verloren hat, unternimmt so leicht keinen zweiten Überfall. Die Männer müssen in die Wildnis zurück, um neue Frauen zu suchen. Und die Kinder sind zukünftige Feinde, deren Tod spätere Überfälle verhütet.« »Die Frauen und Mädchen werden sicher keine Siedlung überfallen.« »Gewiß«, gab Roncao zu. »Es gibt auch Bugerjä 12
ger die nur die Knaben töten, Frauen und Mädchen aber verschonen. Borroud jedoch macht keine Aus nahme. Er haßt die Indianer und tötet meist mit eige ner Hand die Wehrlosen. Er ist ein schrecklicher Mann. Aber wir brauchen ihn.« Sie schwiegen eine Weile, dann sagte Sun Koh nachdenklich: »Dieser Bugerjäger ist also eine Abart des früheren nordamerikanischen Pfadfinders. Zwei fellos ist seine Tätigkeit von größter Bedeutung für die Siedlungen im Land. Das Lebensrecht des Sied lers wird auch weitgehend Härten im Kampf gegen die Indianer entschuldigen. Wenn aber ein solcher Bugerjäger Frauen und Mädchen niedermetzelt, dann handelt er nicht mehr aus dem sittlichen Bewußtsein seiner großen Aufgabe heraus. Wohnt Borroud in Valdina?« »Nein, er ist gerufen worden, weil nicht weit von Valdina ein Überfall stattgefunden hat. Er wohnt viele Tagesreisen entfernt. Es gibt nur wenige Bugerjä ger im Land, jeder einzelne hat ein großes Gebiet für sich. Die Überfälle sind immerhin seltener gewor den.« »Geben Sie nur acht, daß man nicht Ihre Wagen ausplündert«, riet Hal. Roncao lächelte. »Wir sind zu viele Bewaffnete. So dreist sind die Indianer doch nicht. Außerdem haben sie dieses Ge biet schon längst aufgegeben.« 13
»Vor einer Stunde haben wir noch am Waldrand einen Indianer bemerkt«, teilte Sun Koh mit. Der Kaufmann war sehr überrascht. »Einen Indianer am Pfad? Das ist aber erstaunlich. Sollten sie etwa versuchen wollen, dem Bugerjäger aufzulauern? Das muß ich…« Er erhob sich und rief Borroud, der mit einer für seine Körpergröße geradezu erstaunlichen Ge schmeidigkeit herankam. Sein Gesicht war so finster wie vorher. Der Kaufmann teilte ihm mit, daß die Fremden einen Indianer bemerkt hätten. Über das Gesicht des Bugerjägers glitt daraufhin offene Geringschätzung. »Ein Indianer am Pfad?« sagte er. »Die Fremden haben sich durch einen Ast oder einige Blätter täu schen lassen.« »Sie halten uns wohl für stockblind?« rief Hal ent rüstet. »Ich habe den Indianer gesehen, wenn es auch nur flüchtig war. Sicher, zur Not könnten auch Sie es gewesen sein, denn Sie sehen ein bißchen indianisch aus, aber…« Hal dachte sich nichts bei diesem Vergleich. Er war noch nicht einmal auf die Vermutung gekom men, daß dieser Bugerjäger etwa einen Schuß India nerblut in den Adern haben könnte, und daß er durch eine derartige Anspielung Borrouds empfindlichste Stelle traf. Die Wirkung auf Borroud war erstaunlich. Das 14
dunkle Gesicht färbte sich noch dunkler, ein zischender Fluch, ein Sprung nach vorn, und Hals Körper schlug unter einem Tritt zur Seite. Eine Kleinigkeit zu spät schnellte Sun Koh hoch. Er konnte den Tritt nicht mehr verhindern, aber seine Faust schlug in das haßvolle Gesicht hinein, so daß der Bugerjäger ebenso schnell zurückflog, wie er vorgekommen war. Ringsum sprangen die Männer auf. »Du Bastard!« schrillte Hal, vergaß Wunde und Schmerzen und wollte sich auf den Bugerjäger stür zen. Aber ein Griff von Sun Koh hielt ihn zurück. Borroud war zum Stand gekommen. Halb zurück gebogen und halb wieder im Sprung verharrte er mit hängenden Armen. Die Ohren hörten förmlich schon den peitschenden Knall von Pistolenschüssen. »Greifen Sie lieber nicht zur Waffe«, warnte Sun Koh in einem Tonfall, dessen völlige Kälte den ande ren mehr warnen mußte als die Worte selbst. »Ich schieße von der Hüfte aus.« Der Bugerjäger kam mit zwei ziehenden Schritten heran. »Sie haben mich geschlagen«, sagte er heiser, »und…« »Und Sie haben es verdient«, fiel Sun Koh ein. »Wenn der Junge Sie durch seine Bemerkung ver letzte, dann geschah das unabsichtlich. Dieser Tritt war gemein und roh.« 15
»Und das ist meine Antwort!« fauchte Borroud plötzlich wild auf und warf sich auf Sun Koh, wobei seine Faust mit Wucht vorstieß. Sie fuhr aber nur über den Kopf hin ins Leere. Sun Koh hatte sich blitzschnell geduckt. Borrouds Magengrube lag un gedeckt vor ihm. Der Bugerjäger stöhnte scharf auf, knickte zusammen und taumelte nach vorn an Sun Koh vorbei. Er fiel nicht, sondern hielt sich auf den Füßen. Das war ein erstaunlicher Beweis für seine Härte im Neh men. Sun Koh beobachtete jeden Atemzug. Der Buger jäger hatte sich wieder erholt und bereitete sich auf einen neuen Angriff vor. Die Augen verrieten es. Jetzt wandte sich Borroud vollends seinem Gegner zu. Seine ganze Haltung verriet, daß er jetzt ernsthaft auf einen Kampf ausging. Die Arme waren leicht angebogen, zu Schlag und Abwehr bereit. Am gefährlichsten war, daß er sich trotz der bei den Schläge und trotz seiner haßvollen Wut zu be herrschen verstand. Er hielt sich zurück, wollte Sun Koh den ersten Schlag lassen. Und da Sun Koh sich nicht rührte, versuchte er ihn herauszulocken. »Nun«, höhnte er leise, »wollen Sie nicht mit mir kämpfen? Ist Ihnen der Mut vergangen?« Sun Koh hob nur flüchtig die Schultern. Er erriet, was sein Gegner beabsichtigt. Borroud fuhr sofort schärfer fort: »Also doch, der Herr kneift und hofft 16
im stillen, daß ich ihm nichts tue, was? Merkwürdig, was so ein fremder Tagedieb sich einbildet. Kommt ins Land und…« »Sie strengen sich unnötig an«, unterbrach Sun Koh. »Den Tritt habe ich Ihnen heimgezahlt. Sollten Sie weitere Auseinandersetzungen wünschen, würde ich wenigstens empfehlen, die Gürtel mit den Waffen abzulegen. Gewisse Bewegungen könnten leicht zu Mißverständnissen führen.« »Einverstanden!« stieß Borroud heraus. Sun Koh löste sofort die Koppelschnalle. Da er dazu beide Hände benötigte, befand er sich für eine Sekunde in einer Lage, die für einen Angreifer uner hört günstig war. Borroud erkannte das, bevor er sei ne Hände überhaupt noch an den eigenen Gürtel brachte. Und die Gemeinheit seines Charakters ließ es zu, daß er sich über alle Regeln eines fairen Kampfes hinwegsetzte. Mit einem Triumphruf schnellte er seinen Körper vor und stieß so unerwartet vor, daß Sun Koh die Arme nicht mehr zur Abwehr hochbringen konnte. Er konnte sich gerade noch so weit zur Seite werfen, daß die harte Faust des Bugerjägers nur seine Schläfe streifte. Der Schlag wirkte trotzdem kräftig genug, um ihn taumeln zu lassen. Borroud setzte sofort nach, aber Sun Koh wich ge schickt aus, kam auf die Füße und sprang zurück. Sein Gesicht war bleich vor Zorn. 17
»Mir scheint«, sagte er, »der Junge hat in seiner Ahnungslosigkeit richtig vermutet. So handelt kein Weißer, höchstens ein Mischling. Mit Menschen Ih rer Art sollte man nicht kämpfen, sondern man sollte sie züchtigen.« Lachen der Überlegenheit und Wut über die Worte verzerrten das Gesicht des Bugerjägers. Er sprang vor und schlug von neuem zu. Aber diesmal kam ihm Sun Koh auf halbem Weg entgegen. Borrouds Schlag rutschte über die Schulter. Er versuchte es nun mit einem Scheinschlag, dem er einen furchtbaren linken Schwinger folgen ließ. Aber Sun Koh stoppte ab und schmetterte einen Hieb auf das Kinn, der hundert an dere umgelegt hätte. Der Bugerjäger versuchte eine Zeitlang, in den Clinch zu kommen und seinen Gegner durch seine scheinbar überlegene Kraft zu erdrücken. Als ihm das nicht gelang, versuchte er mit Tiefschlägen und allen möglichen Tricks zum Ziel zu kommen. Dieser Kampf glich schon nach kurzer Zeit mehr einem Durcheinander von allerlei Kampfarten. Aber Borroud steckte die schärfsten Schläge ein, ohne merklich erschüttert zu werden. Die Minuten vergingen. Borroud steckte alles ein, und Sun Koh wehrte alle Angriffe ab. Und dann war die Entscheidung doch schneller da, als der Verlauf des Kampfes hatte vermuten lassen. Der Bugerjäger versuchte es mit einem Tritt gegen den Unterleib. 18
Sun Koh federte ausweichend hoch und rammte bei de Fäuste zugleich in den Leib Borrouds. Es sah ganz harmlos aus, aber plötzlich lag Borroud auf dem Bo den und rührte sich nicht mehr. Es dauerte eine Weile, bevor Borroud wieder zu sich kam. Er richtete sich schwerfällig auf, starrte sekundenlang düster auf Sun Koh und wandte sich dann ab. Wortlos schwang er sich auf sein Pferd, riß hart am Zügel, so daß es wiehernd stieg. Dann ver schwand er im Wald. * Einen Tag später erschien ein einzelner Mann auf der Lichtung. Sein Pferd sah ganz stattlich aus, aber der Reiter selbst trug mehr Lumpen als Kleider auf dem Leib. Er mußte sich lange in der Wildnis aufgehalten ha ben. Der größte Teil des Gesichts wurde von einem wuchernden Vollbart bedeckt, der sicher seit Mona ten weder Kamm noch Schere gesehen hatte. Mit dem Kopfhaar war es nicht anders. Der Mann sah verwildert aus, aber sein Blick war ruhig und frei. Dieser Fremde, der sich Geraldo nannte, stieg zu nächst nicht ab, sondern unterhielt sich vom Pferd aus. Er erkundigte sich wegen der frischen Wagen spuren und verriet, daß er Roncao wie auch Valdina kenne, da er dort beheimatet sei. Dabei prüften seine 19
Augen unablässig Sun Koh und seine Begleiter. Das Mißtrauen in seinen Augen schwand allmählich. Als ihm Sun Koh erklärte, warum Hal den Fuß verbun den hatte, stieg er vom Pferd und sah sich die Wunde an. »Es gibt ein sicheres Mittel, die Wunde in zwei Tagen heilen zu lassen«, meinte er danach. »Man muß sie mit gewissen Blättern umwickeln, die alles herausziehen. Wenn Sie nichts dagegen haben, will ich mich gern danach umsehen.« »Wir wären Ihnen dankbar.« Geraldo verließ die Lichtung. Nach einiger Zeit tauchte er wieder auf. Er brachte eine Handvoll bräunlicher Blätter mit, die er sorgsam um Hals Wunde band. »Morgen wird sie schon sehr viel besser ausse hen«, versprach er, als er fertig war, »und übermor gen kann er den Stiefel überziehen. Es genügt, mor gen noch einmal frische Blätter aufzulegen.« »Wir werden sie kaum finden.« »Ich will sie Ihnen zeigen. Oder – wenn Sie nichts dagegen haben, bleibe ich über Nacht am Feuer. Der Tag ist ohnehin weit vorgeschritten. Heute erreiche ich Valdina nicht mehr.« »Sie sind uns ein willkommener Gast«, versicherte Sun Koh freundlich. Geraldo wurde schnell zutraulicher. »Ich habe Sie hoffentlich nicht durch mein anfäng 20
liches Mißtrauen verletzt?« fragte er später. »Es ist für einen einzelnen Mann immer besser, vorsichtig zu sein.« »Ist das Land so unsicher?« fragte Sun Koh. Geraldo hob die Schultern. »Sie wundern sich vielleicht, daß ein Mann in meinem Aufzug solche Sorgen hat? Nun, die Klei dung will nicht viel besagen. Es kommt mancher aus der Wildnis, der reicher ist als andere.« Die dunklen Andeutungen reizten zu mancher Frage, aber Geraldos Tonfall war so, daß Sun Koh ablenkte. Im Laufe des Abends erfuhr Geraldo von dem Zu sammenstoß mit dem Bugerjäger. Er war merklich befriedigt davon, daß Borroud den kürzeren gezogen hatte. »Ich gönne ihm die Abfuhr von Herzen«, meinte er. »Dieses Halbblut – denn das ist er – platzt bald vor Einbildung und Anmaßung.« »Er besitzt aber auch einige Eigenschaften, die ihn herausheben. Und man muß auch berücksichtigen, daß er sich uneigennützig für das Gemeinwohl ein setzt.« Geraldo blickte erstaunt. »Wieso uneigennützig? Er bekommt doch seine Tätigkeit bezahlt, sehr gut bezahlt sogar.« »Das wußte ich nicht.« »Tja«, lachte der andere kurz auf, »da haben Sie 21
Borroud natürlich bedeutend überschätzt. Er wäre der letzte, der etwas umsonst macht. Er ist sogar aus gesprochen habgierig.« Geraldo blieb über Nacht. Am Morgen ging er mit Sun Koh in den Wald und zeigte ihm die Blätter, die die Araja-Wunde heilten. Auf dem Weg zur Lichtung sagte Sun Koh: »Sie haben mir einen großen Dienst erwiesen, indem Sie dem Jungen halfen. Kann ich mich irgendwie erkenntlich zeigen?« »Nein. Es war doch selbstverständlich, daß ich Ih nen die Blätter brachte. Ich habe dafür die Nacht hindurch ruhig unter Ihrem Schutz geschlafen, damit bin ich schon in Ihrer Schuld.« »Darüber sind wir verschiedener Meinung«, wi dersprach Sun Koh. »Ich hoffe, Sie werden wenig stens diese Scheine annehmen. Es liegt mir fern, Sie bezahlen zu wollen…« Geraldo schob die Hand, die ihm die Scheine bot, entschieden zurück. Sein Gesicht hatte dabei einen merkwürdigen Ausdruck. »Danke«, sagte er langsam. »Vor einigen Monaten hätte ich wahrscheinlich mit beiden Händen zuge griffen, aber heute?« Er lachte plötzlich auf. »Wahr haftig, das Leben ist eine seltsame Sache. Wenn ei ner einmal Geld hat, dann kommt es von allen Sei ten. Nein, Senhor, ich freue mich, daß Sie meine kleine Gefälligkeit so hoch einschätzen. Vielleicht bin ich reicher als Sie.« 22
Sun Koh blickte ihn fragend an. Geraldo lachte still in sich hinein, griff in seine Tasche und brachte ein Beutelchen zum Vorschein. Er löste die Schnur, mit der es zugebunden war, und schüttelte etwas von dem Inhalt auf die Hand. Es waren unscheinbare Steine, die meisten unter Erbsengröße. Einige zeigten freie gläserne Stellen. In diesen mündete sprühend das Sonnenlicht. Stolz reckte Geraldo die Hand hin. »Wissen Sie, was das ist?« »Diamanten«, erriet Sun Koh sofort. »Ja. Chibius sind es, kleine Diamanten. Aber sie sind ihr Geld wert, zumal wenn man viele davon be sitzt. Und ich weiß eine Stelle, wo man sie findet.« Sun Koh prüfte einige der Steine und legte sie wieder zurück. »Offenbar reine Steine. Dieses Säckchen voll macht Sie zu einem reichen Mann. Gibt es denn Diamanten in diesem Land?« Geraldo nickte. »Im nördlichen Matto Grosso werden schon seit Jahrzehnten Diamanten gewaschen. Hier in diesem Gebiet vermutet man keine, aber ich hörte bereits als Kind von einem sagenhaften Fluß, an dem man die Diamanten bloß mit den Händen aufzulesen braucht. Damals sind Leute durch das Land gezogen, die so viele Diamanten bei sich führten, wie sie nur tragen konnten. Es waren zwei Männer, und sie erzählten 23
von jenem Fluß, ohne seine Lage zu verraten. Sie wurden überfallen und starben. Vor zwei Jahren zog ein Mann durch Valdina, der trug Diamanten bei sich und tat so, als habe er einen Diamantenfluß gefun den. Durch Zufall fand man nach einigen Tagen sei ne Leiche im Wald. Er war ermordet worden. Der Mörder blieb unbekannt. Aber in Valdina sind die Diamanten nicht aufgetaucht, und der einzige Frem de, der sich zu jener Zeit bei uns aufhielt, war der Bugerjäger.« »Sie halten ihn für den Mörder?« Geraldo hob die Schultern. »Ich will ihn nicht verdächtigen, aber er war wirk lich der einzige, der die Steine verwerten konnte. Je denfalls ließen mir die Andeutungen jenes Mannes keine Ruhe mehr, und ich träumte immer wieder von dem Fluß, an dem die Diamanten haufenweise liegen sollten. Also zog ich vor einigen Monaten los, Und ich glaube, ich habe den Diamantenfluß gefunden. Es sind nur kleine Steine, aber weiter oben am Fluß lie gen sicher auch größere. Ich habe nicht weiter ge sucht. Aber wenn man dann mit Menschen zusam mentrifft und trägt die Taschen voll Diamanten, wird man plötzlich mißtrauisch und argwöhnisch. Verste hen Sie das?« »Natürlich«, erwiderte Sun Koh. »Wahrscheinlich sind Sie noch lange nicht vorsichtig genug. Sie ken nen mich zu wenig, um…« 24
»Oh«, wehrte Geraldo ab, »ein bißchen verstehe ich schon die Menschen einzuschätzen. Und ich bin doch seit gestern mit Ihnen zusammen. Ich habe mir offen gestanden schon überlegt, ob ich Sie zu mei nem Partner machen soll, bevor ich in Valdina über die Sache spreche. Aber ich dachte dann, das könnte ich allemal noch tun, weil Sie doch nach Valdina nachkommen. Ich habe aber kein Geld mehr bei mir. Könnten Sie mir nicht einige von den Steinen abkau fen?« »Ich stelle Ihnen das Geld auch so zur Verfü gung.« Davon wollte Geraldo nichts wissen. Er drängte Sun Koh einige Steine auf. Dann kehrten sie zur Lichtung zurück. Etwas später verabschiedete sich Geraldo und ritt nordwärts. * Am nächsten Morgen war die Wunde zu einer unbe deutenden verheilenden Verletzung geworden. Hal fühlte sich gesund und brachte mühelos seinen Stie fel über den Fuß. Sie brachen auf. Nach Roncaos Mitteilungen ge nügte ein bequemer Tagesritt, um die Ortschaft Val dina zu erreichen. Nach drei Stunden stießen sie auf ein totes Pferd, das am Pfad lag. Es war durch einen Schuß in den 25
Kopf getötet worden. Der rechte Vorderfuß war ge brochen. »Das ist doch Geraldos Pferd.« »Geraldo selbst muß es erschossen haben, um es nicht leiden zu lassen.« »Es hat sich den Fuß gebrochen. Dort ist das Loch, in das es hineingeriet.« »Und Geraldo?« »Er hat seinen Weg zu Fuß fortgesetzt. Dort sind seine Spuren.« »Dann hat er Valdina aber gestern nicht mehr er reicht.« »Wohl kaum.« Sie ritten weiter. Am Spätnachmittag hörten sie vor sich einen Schuß. Sie fanden nichts dabei, da sie die Ortschaft bereits in der Nähe vermuten mußten. Irgendwer hat te auf ein Wild geschossen. Doch einige hundert Meter weiter verhielten sie scharf die Pferde. Auf dem Pfad lag ein Toter. Geraldo. Aus der Herzwunde sickerte noch das Blut. Das Hemd war gewaltsam aufgerissen worden. Das Fut ter der Innentasche an der verschlissenen Jacke war nach außen gestülpt. Der Beutel mit den Diamanten, den Sun Koh ge sehen hatte, fehlte. »Raubmord«, sagte Sun Koh ernst. 26
»Dort sind Fußspuren«, meldete Nimba. »Hier auch«, rief Hal. »Bleib hier, Nimba«, ordnete Sun Koh an. »Wir wollen sehen, ob wir die Spur weiter verfolgen kön nen. Der Mörder muß sich noch in der Nähe aufhal ten.« Die Spur war zunächst deutlich lesbar. Sie führte in den Wald hinein. Dort wurde sie bald schwächer und konnte schließlich nicht weiter verfolgt werden. Der Mörder mußte es verstehen, durch den Wald zu gehen, ohne Spuren zu hinterlassen. Nimba blieb geduldig neben dem Toten stehen, als Sun Koh und Hal im Wald verschwanden. Er bückte sich erst, als er etwas im Gras glitzern sah. Zwei unscheinbare, erbsengroße Steine lagen da nebeneinander. Von dem einen war ein Eckchen ab geschlagen, die glänzende Stelle war unter einem Sonnenstrahl aufgeglüht. Das konnten nur zwei von Geraldos Diamanten sein. Während Nimba sie aufklaubte, entdeckte er noch einen dritten Stein unmittelbar neben dem Toten. Er bemühte sich auch um diesen. Plötzlich schreckte er hoch. »Dort!« rief jemand. Dreißig Meter entfernt standen an der Krümmung des Pfades zwei Männer, von denen der eine auf Nimba wies. Jetzt kamen die beiden angelaufen. Sie zogen dabei ihre Pistolen, richteten sie auf Nimba 27
und forderten ihn drohend auf, die Hände zu heben. Die beiden, ein älterer und ein jüngerer Mann, wirkten überhaupt nicht als Räuber, so daß Nimba keine Gefahr vermutete. Sie sahen wie Bauern aus, die eben von ihrer Feldarbeit weggelaufen sind. Nimba schüttelte den Kopf, während er sich auf richtete. »Keine Aufregung, Senhores. Der eine Tote hier genügt gerade. Kommen Sie von Valdina?« »Ja – Jesus, Maria…« »Ein Ermordeter!« schrie der Jüngere auf. »Und – ist das nicht…« »Francisco?« sagte dumpf der Ältere. »Das ist doch Francisco Geraldo.« »Es ist Geraldo«, bestätigte hastig der Jüngere. »Und man hat ihn ermordet.« Die Blicke der beiden hefteten sich auf Nimba. »Ich nicht«, wehrte dieser trocken ab. »Wir hörten den Schuß von weitem. Sie müssen wissen, daß wir zu dritt sind. Dort stehen unsere Pferde. Die beiden anderen verfolgen den Mörder.« »Hm, Sie sind zu dritt?« murmelte der Ältere be denklich und schielte in die Runde. Es fiel ihm wohl plötzlich ein, daß seine Lage nicht gerade günstig war, falls er wirklich dem Mörder gegenüberstand. »Keine Angst«, beruhigte Nimba. »Wir haben mit dem Mord nichts zu tun. Ein anderer ist es gewesen, vielleicht einer, den Sie gesehen haben. Er muß doch 28
von Valdina her gekommen sein?« »Von Valdina ist den ganzen Tag über niemand gekommen«, behauptete der Jüngere bestimmt. »Deshalb wunderten wir uns doch, daß im Wald ein Schuß fiel.« Nimba hob die Schultern. »Dann ist er eben aus einer anderen Richtung ge kommen. Ich hoffe, daß Sie mich nicht ernstlich für den Mörder halten wollen.« Die beiden blickten ihn und sich dann gegenseitig an. Ihre Gesichter wurden freundlicher. »Eigentlich nicht«, meinte der Jüngere endlich. »Es ist nur – irgend jemand muß doch Geraldo er schossen haben. Und warum…« »Durchsuchten Sie seine Sachen?« forschte der Ältere. »Nein«, erwiderte Nimba und spielte dabei gedan kenlos mit den Steinchen. »Das hat der Mörder schon getan.« »Was haben Sie denn da?« fragte der Ältere. »Diamanten. Ich habe sie hier gefunden. Der Tote hatte sie bei sich, und der Mörder hat ihn ausgeplün dert. Wahrscheinlich hat er in der Eile einige verlo ren.« Schnell stieß der Jüngere zu. »Woher wußten Sie denn, daß Geraldo Diamanten bei sich trug?« »Er hat es erzählt.« 29
»Ah.« Riesengroß stand wieder das Mißtrauen über der Gruppe. Nimba fühlte es und wollte es beseitigen. Bevor er es konnte, kamen Sun Koh und Hal zurück. Die beiden Männer aus Valdina griffen zu ihren Waffen, aber Nimba schlug ihre Arme weg und fauchte sie an: »Lassen Sie den Unfug!« »Was ist denn los?« erkundigte sich Sun Koh. »Die beiden Leute sind von Valdina gekommen«, berichtete Nimba. »Sie halten uns glatt für die Mör der, besonders weil ich diese Steine im Gras entdeckt habe.« »Wir halten niemand für den Mörder«, meinte der Ältere ausweichend. »Der Mörder ist in den Wald geflohen«, erwiderte Sun Koh sachlich. »Wegen der Steine brauchen Sie sich nicht zu wundern. Geraldo besaß eine Menge davon. Er hat sie mir gestern, als er an unserem Feu er übernachtete, selbst gezeigt und mir auch einige gegeben. Hier sind sie. Er behauptete, den sagenhaf ten Diamantenfluß entdeckt zu haben. Wahrschein lich ist er seinem Mörder gegenüber nicht vorsichtig genug gewesen.« Die beiden schwiegen. Ihre Gesichter verrieten wei terhin starkes Mißtrauen, aber sie äußerten es nicht. »Wir können ihn hier nicht liegen lassen«, mur melte der Jüngere. »Wir wollen ihn nach Valdina tragen.« 30
»Ich werde ihn aufs Pferd nehmen«, schlug Sun Koh vor. »Seine Angehörigen leben in Valdina?« »Seine Mutter, sein Bruder und einige entfernte Verwandte.« »Es wäre gut, wenn wenigstens die Mutter schonend vorbereitet würde. Wollen Sie das übernehmen?« »Wir wollen gern vorauseilen«, sagten die Männer und trabten bereits los. Ihre Erleichterung war so offensichtlich, daß Nim ba besorgt sagte: »Sir, die beiden halten uns sicher für die Mörder. Sie werden uns in ein schlechtes Licht bringen.« »Der wahre Mörder wird sich finden lassen«, gab Sun Koh kurz zurück. Sie ritten langsam nach Valdina hinein. Sun Koh trug den Toten vor sich auf dem Pferd. Das Gerücht mußte sehr schnell durch den Ort gelaufen sein, der aus einigen Dutzend Gehöften bestand. Auf den Straßen standen neugierig Männer und Frauen. Nach ihrem Aussehen zu urteilen, setzte sich die Bevölke rung aus spanischen und nordeuropäischen Siedlern zusammen. Es gab nur eine einzige Straße, und sie führte un mittelbar auf einen freien Platz, auf dem rechts eine schlichte Kirche, links die Venda, der Kaufladen, stand. Am Laden trat Roncao den Ankommenden entge gen. 31
»Willkommen, Senhores«, rief er laut und mit be tonter Freundlichkeit. »Ich freue mich, Sie in Valdi na zu sehen, und hoffe, daß Sie mir die Ehre geben werden, meine Gäste zu sein.« »Ich nehme Ihr Anerbieten mit Dank an«, sagte Sun Koh zu ihm. »Wo finde ich das Haus Geraldos?« »Es ist das viertletzte Haus auf der linken Seite der Straße. Man erwartet Sie bereits.« So war es. Vor dem Gehöft stand eine Gruppe von Männern, die den Toten in Empfang nahmen und ins Haus trugen. Sie schwiegen, deshalb ritten Sun Koh und seine Begleiter zur Venda zurück. Roncao wies seinen Gästen ein sauberes Zimmer an und kümmerte sich um ihr Wohlbefinden. Als sie sich erfrischt und gestärkt hatten, erschien der Vor steher von Valdina, ein schwerer ruhiger Mann, der Mustertyp eines norddeutschen Bauern. Er hieß Marhus, Roncao redete ihn jedoch mit Pedro an. »Ich möchte mit Ihnen einige Worte sprechen«, sagte er zu Sun Koh. »Es handelt sich um den Toten, den Sie gefunden haben. Man sagt, daß Sie ihn er mordet hätten.« »Unmöglich!« rief Roncao hitzig. »Ich bürge für die Herren. Sie sind keine Mörder.« Marhus wischte seinen Zwischenruf mit einer Handbewegung weg. »Laß den Herrn sprechen. Ich wollte ihm nur sa gen, was gegen ihn vorliegt.« 32
Sun Koh berichtete ruhig und sachlich, was er über und von Geraldo wußte und wie sich alle Erei gnisse abgespielt hatten. Marhus hörte aufmerksam und ohne zu unterbrechen zu. Zum Schluß nickte er. »Das klingt vernünftig, und ich will es den Leuten so sagen. Aber andererseits dürfte es nicht leicht sein, einen Mann zu finden, der außer Ihnen den Mord begangen haben könnte. Unsere Gemeinschaft ist nicht groß, wir werden von jedem einzelnen ge nau feststellen können, wo er sich aufgehalten hat. Und Fremde gibt es hier nicht.« »Borroud«, erinnerte Roncao. »Er ist seit heute früh mit der Mannschaft unter wegs, um die Indianer zu jagen«, wehrte Marhus ab. »Wir müssen natürlich abwarten, ob er oder ein an derer den Trupp verlassen hat.« Er erhob sich und verabschiedete sich kurz. »Es tut mir sehr leid«, erklärte Roncao verlegen, als er zurückkehrte. »Natürlich ist es sinnlos, daß man Sie für Mörder hält. Sie sind Fremde, und Fremden traut man am ehesten alles zu.« »Es ist verständlich«, meinte Sun Koh. »Wir wer den uns jedenfalls bemühen, den Mörder zu finden. Wird man irgendwelche Schritte gegen uns unter nehmen?« »Aber nein.« Der Kaufmann schüttelte den Kopf. »Marhus ist ein ruhiger Mann. Ohne klare Beweise unternimmt er nichts. Es ist bloß…« 33
»Ja?« Roncao zögerte, entschloß sich dann aber doch zu sprechen. »Sehen Sie, die Sitten sind bei uns vielleicht ei gentümlicher als woanders. Wenn irgendwo im Land ein Verbrechen geschieht, dann rufen wir nur selten die Gesetze an, sondern helfen uns selbst. Die Sippe des Ermordeten bestimmt einen Rächer, der den Mord zu sühnen hat, indem er den Mörder tötet. Ich fürchte, daß die Sippe Geraldos von Ihrer Täterschaft überzeugt ist und schon jetzt berät, wer der Capanga, der Rächer sein soll. Und wenn dessen Name einmal gefallen ist, dann wird er versuchen, seine Aufgabe so schnell wie möglich zu erledigen.« »Also eine Art Blutrache?« erwiderte Sun Koh verwundert. »Sie meinen, daß man ernstlich den Ver such machen wird, uns drei zu töten?« »Einen von Ihnen, den, den man für den Schuldi gen hält. Der Capanga muß die abgeschnittenen Oh ren als Zeichen der vollzogenen Rache mitbringen.« 2. Zum Abendessen erschien Maria, die Tochter Ron caos, die bis zum Abend den häufig besuchten Laden versorgt hatte. Sie war jung und bildhübsch, aber sehr befangen und aus irgendeinem Grund ziemlich verstört. Bemerkenswert war der große Respekt vor 34
ihrem Vater, doch der war in diesem Landstrich üb lich. Als Roncao einmal hinausgegangen war, wandte sich das junge Mädchen hastig an Sun Koh. »Verzeihen Sie bitte, Herr«, flüsterte sie verlegen, »ich möchte – würden Sie mir erlauben, Sie nachher einmal allein zu sprechen?« »Gewiß – aber ich bin fremd hier und…« »Mein Vater besucht nachher einen Freund«, flü sterte sie. »Ich warte im Garten auf Sie. Aber, bitte, sagen Sie nichts meinem Vater. Es ist sehr wichtig und handelt sich…« »Sie können es mir dann erzählen«, unterbrach Sun Koh freundlich, und unterhielt sich mit Hal wei ter, um dem Mädchen Gelegenheit zu geben, sich zu fassen. Zwei Stunden später traf Sun Koh Maria Roncao in dem Garten hinter dem Haus. »Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind«, flü sterte sie und begann zu weinen. »Bitte, beruhigen Sie sich, Senhorita. Sie wollten mir etwas anvertrauen?« Sie schluchzte noch einige Male, dann begann sie. »Es handelt sich um José. Er kann doch nichts da für, aber er muß es tun. Wenn Sie den Bugerjäger sogar besiegt haben, wie Vater erzählte, wie soll er es dann fertigbringen? Sie werden ihn töten und…« »Wer ist José?« 35
»José Geraldo«, schluchzte sie. »Er ist der Bruder von Francisco.« »Jetzt verstehe ich schon eher«, sagte Sun Koh lä chelnd. »Sie sind mit ihm verlobt?« Maria Roncao schüttelte den Kopf. »Nein, Vater weiß nichts davon. Aber – aber – wir sehen uns gern.« »Hm, und wie kommen Sie auf die Vermutung, daß ich ihn töten werde?« »Sie werden es tun. Sie sind stärker als er. Und Sie sind zu dritt. Sie werden sich wehren.« Sun Koh ahnte zwar, worauf diese dunklen An deutungen hinausgingen, aber er tastete vorsichtig weiter. »Sie meinen, daß ich mich gegen Ihren José zur Wehr setzen müßte und ihn dabei töten könnte? Das setzt doch wohl voraus, daß er mich angreift, nicht wahr?« Sie nickte. »Das muß er doch tun!« »Warum?« »Weil er zum Capanga, zum Rächer, bestimmt worden ist. Die Geraldos haben bereits neben dem Toten beraten. Man hat Sie als den Mörder bezeich net, und José soll der Capanga sein.« »Sehr nett«, erwiderte Sun Koh belustigt. »Sie hal ten mich also für einen Mörder?« Erschreckt bog sie den Kopf zurück. »Ich? Nein, ich nicht! Aber die Geraldos tun es, 36
und José muß ausführen, was ihm aufgetragen wor den ist, sonst wird er ausgestoßen.« »Ach so«, sagte Sun Koh, »er ist schließlich ge bunden. Eine sehr unangenehme Aufgabe ist es schon. Wie dachten Sie sich denn, daß ich ihm und Ihnen helfen könnte? Erwarten Sie, daß wir uns wi derstandslos töten lassen?« »Nein, das können Sie natürlich nicht. Aber es ge nügt, wenn Sie noch heute nacht fortreiten. Wenn José Ihre Spur nicht mehr finden kann, muß er heim kehren, und dann wird es ihm niemand übelnehmen. Ja, das würde gehen. Ich will Ihnen genügend Vorrä te einpacken, daß…« »Es hat noch Zeit«, unterbrach Sun Koh ihren Ei fer. »Der Vorschlag ist nicht schlecht, wenigstens nicht für Ihren José, aber er hat einen großen Nach teil.« »Ja?« »Da weder ich noch meine Begleiter Francisco Geraldo ermordet haben, würden wir ganz unschul dig den Ruf von Mördern übernehmen. Der wirkliche Mörder aber könnte sich ungestraft über seine Tat freuen. Ich kann nicht fort, solange der Mörder nicht gestellt ist.« Sie preßte die Hände vor der Brust zusammen. »Aber es ist doch viel wichtiger, daß José nicht stirbt!« »Ich töte so leicht nicht, selbst wenn man mich an 37
greift. Ich verspreche Ihnen, daß ich alles tun werde, um ihm keinen Schaden zuzufügen. Wird er mit dem Messer oder mit der Pistole kommen?« »Das weiß ich nicht. Der Capanga kann es halten, wie er will.« »Er kann also auch von hinten schießen?« »Ja, aber José wird das nicht tun. Er ist sehr mu tig.« »Um so besser«, meinte Sun Koh. »Was sehen denn Ihre Sitten für den Fall vor, daß ich ihn ent waffne und ihn zu meinem Gefangenen mache?« Sie schüttelte wieder den Kopf. »Das gibt es doch gar nicht! Der Capanga tötet den Mörder, oder er wird getötet.« »Aber was würde die Einwohnerschaft von Valdi na dazu sagen?« »Nichts«, antwortete sie verwundert. »Wenn es sich um eine Rache handelt, mischt sich niemand ein. Das ist streng verboten.« »Aber die Polizei?« »Es gibt keine Polizei bei uns!« »Dann könnte ich José also fesseln und hier ins Haus als Gefangenen bringen, die Erlaubnis Ihres Vaters vorausgesetzt?« »Ja. Meinen Vater dürfen Sie aber nicht fragen. Er muß so tun, als ob er von nichts wüßte. Nur die Fa milie wird sich darum kümmern. Sie wird von neuem beraten und vielleicht einen anderen Capanga ernen 38
nen. Aber die Geraldos können das nicht mehr, weil eine Frau nicht Capanga sein darf. Und die anderen Männer sind zu alt.« »Ausgezeichnet«, meinte Sun Koh. »Dann hoffe ich, daß ich Ihren José bald Ihrer Pflege anvertrauen darf.« * Am nächsten Vormittag schlenderte Sun Koh allein durch die langgezogene Hauptstraße des Ortes. Er wollte José Geraldo eine Gelegenheit geben. Hinter ihm tuschelten die Menschen, aber niemand machte eine laute Bemerkung. Sun Koh hatte den Kirchplatz schon fast erreicht, als er eilende Schritte hinter sich hörte. Ein junger Mann kam hinter ihm hergestürmt. Das mußte wohl José Geraldo sein. Sun Koh schritt nach einer flüchtigen Kopfwen dung weiter. Jetzt kam wenige Meter hinter ihm der Anruf. »Halt, Fremder!« Sun Koh wandte sich um. Er bemerkte einige Neugierige, die sich an den Toreinfahrten der Gehöf te eingefunden hatten und die Hälse reckten. José Geraldo war bleich vor Erregung. Viel älter als zwanzig konnte er nicht sein. Er machte einen angenehmen Eindruck. 39
»Halt!« wiederholte José ganz unnötig. »Ich bin José Geraldo. Sie haben meinen Bruder ermordet. Sein Blut…« »Einen Augenblick!« unterbrach Sun Koh mit ei ner Schärfe, die Josés Bewegung unterbrach. »Man nennt einen Mann erst dann einen Mörder, wenn man es beweisen kann. Ihr Bruder war mein Freund, er ist nicht durch mich oder meine Begleiter gestorben!« José Geraldo lachte höhnisch auf. »Das sagt jeder Mörder, wenn der Rächer vor ihm steht.« Der junge Mann war nicht mehr aufzuhalten. Er riß seine Pistole heraus. Sun Koh schoß von der Hüfte aus. Geraldos Pisto le flog weg. Unsäglich verwundert brachte José die Hand, die etwas von dem harten Schlag abbekom men hatte, halb hoch. Doch dann kam er wieder in Bewegung. Mit einem Aufschrei riß er sein Messer aus dem Gürtel und stürzte sich auf Sun Koh. Sun Koh fing den Stoß mit dem Arm auf, José be schrieb einen Kreis um seine eigene Achse, während das Messer wegflog und sein Arm auf den Rücken wanderte. Bevor sich José noch von seiner Überra schung erholen konnte, hakte sich schon Sun Koh in seinen anderen Arm ein und drückte ihm das Hand gelenk herum, so daß José vor Schmerz stöhnte. »Kommen Sie mit!« befahl Sun Koh kurz. »Ich hoffe, Sie sehen ein, daß Sie sich völlig in meiner 40
Gewalt befinden und daß Ihnen ein Widerstand höchstens das Handgelenk kostet.« Wenn José es auch nicht einsah, so fühlte er es doch deutlich. Er ging mit. Sein Gesicht war von Wut, Scham und Enttäuschung verzerrt, aber es blieb ihm nun einmal nichts anderes übrig, als zu gehor chen. José zuckte nur einmal zurück, als nämlich Sun Koh unmittelbar auf die Venda zuhielt. Der Wider stand verschwand jedoch sofort. José ließ sich in das Haus führen. Oben standen Hal und Nimba mit Stricken bereit. »Du lieber Gott«, wunderte sich Hal, als er den Gefangenen sah, »das wäre doch der reinste Kinder mord gewesen.« »Er hat sich wie ein Mann benommen«, zollte Sun Koh dem Gegner Anerkennung. José schwieg. Er leistete keinen Widerstand, als die beiden ihn fesselten. Als Hal und Nimba fertig waren, schickte Sun Koh sie hinaus und setzte José auf einen Stuhl. »José Geraldo«, begann Sun Koh schließlich be hutsam, »glauben Sie nicht, daß ich Sie vorhin hätte töten können?« »Ja«, stieß José trotzig hervor. »Warum haben Sie mich nicht getötet?« »Warum wohl?« gab Sun Koh die Frage zurück. »Warum töte ich Sie jetzt nicht? Wäre es nicht tö 41
richt von mir, Sie am Leben zu lassen, wenn ich der Mörder Ihres Bruders wäre?« José wußte keine Antwort. Seine Augen drückten Unsicherheit aus. »Es gibt nur einen Grund, Sie zu schonen«, fuhr Sun Koh fort. »Wäre ich der Mörder, hätte ich Sie getötet. Ich bin aber nicht der Mörder Ihres Bruders, deshalb ließ ich Sie am Leben. Begreifen Sie das?« »Nein«, preßte José über die Lippen. »Sie haben meinen Bruder getötet. Die Familie weiß es.« »Die Familie irrt sich«, widersprach Sun Koh ru hig. »Sie weiß nicht mehr als das, was zwei aufge regte Männer verbreitet haben. Der wirkliche Mörder ist noch unbekannt. Ich hoffe, ihn ermitteln zu kön nen, aber dazu werde ich Zeit brauchen. Sobald der Mörder erkannt ist, wird Ihre Familie ihr Urteil be richtigen können. Dann will ich Sie wieder freilas sen. Bis dahin müssen Sie mein Gefangener sein.« José nahm keine Stellung. Er begriff offenbar nicht ganz. »Ich kann Sie so in Fesseln lassen, wie Sie jetzt sind«, sprach Sun Koh weiter. »Es widerstrebt mir jedoch. Wenn Sie mir versprechen, in diesem Zim mer zu bleiben und nichts gegen uns zu unterneh men, will ich Ihnen wenigstens die körperliche Frei heit zurückgeben.« Jetzt schüttelte José den Kopf. »Ich – ich verstehe Sie nicht«, gab er zögernd zu 42
rück, »aber ich kann ein solches Versprechen nicht geben. Ich darf es nicht. Wenn Sie mich losbinden, muß ich Sie wieder angreifen. Es ist schlimm für ei nen Capanga, wenn er gefangen wird, aber es ist noch schlimmer, wenn er seinen Auftrag vergißt.« Sun Koh nickte. »Gut, dann bleiben Sie also gefesselt und bewacht. Maria Roncao wird es allerdings etwas schwer ha ben, Sie zu verpflegen.« »Maria?« »Sie wird mich vielleicht dann darum bitten, für Sie sorgen zu dürfen. Aber ich muß es ihr wohl ab schlagen, denn sie könnte leicht in Versuchung kommen, Ihre Fessel aufzuschneiden.« »Das wird nicht geschehen«, behauptete er stolz. »Maria Roncao weiß, daß sie sich nicht um diese Angelegenheit kümmern darf, wenn sie mich nicht beleidigen will. Und ich würde mich selbst be schimpfen, wenn ich eine Frau mit dem betrauen würde, was eines Capanga eigene Sache ist.« Sun Koh lächelte. »Die Sitten dieses Landes haben also auch ihre Vorteile. Maria Roncao wird mich nicht vergeblich bitten.« Er hob José vom Stuhl und legte ihn auf eins der Lager an der Wand. Dann ging er die Fesseln nach und änderte manches, so daß der Gefangene nicht zu unbequem lag. 43
Als er sich erhob, reckte José den Kopf und sagte nachdenklich: »Sie sind sehr seltsam, Senhor. Wenn es meine Familie nicht gesagt hätte, würde ich daran zweifeln, daß Sie der Mörder meines Bruders sind.« * Etwas später hatte Sun Koh eine Unterhaltung mit Roncao. Der Kaufmann zeigte dabei erheblich mehr Anteilnahme und Verständnis, als die Andeutungen seiner Tochter hatten vermuten lassen. Er erklärte sich auf jeden Fall mit jeder Maßnahme seiner Gäste einverstanden. Dann kam Marhus. Er erkundigte sich ohne Um schweife nach José Geraldo. Sun Koh gab auch ihm Auskunft. »Damit kann ich mich einverstanden erklären«, sagte Marhus. »Die ganze Lage ist etwas seltsam, aber wir leben hier nun einmal unter besonderen Verhältnissen. Ich bin Norddeutscher und halte wie meine Landsleute im Ort nicht sehr viel von dieser Blutrache, bei der Unschuldige hineingezogen und oft genug getötet werden, aber es ist wenig dagegen zu machen. Die Geraldos hätten aber abwarten sol len, bis die anderen Männer zurückgekehrt sind und sich die Dinge besser überschauen ließen.« »Ja, sie waren mit dem Urteil sehr schnell fertig. Sagen Sie, gibt es bei Ihnen überhaupt keine polizei 44
lichen Einrichtungen?« »Doch, schon. Für leichte Angelegenheiten bin ich zuständig, und schwere Fälle können vor der Ver sammlung aller Männer besprochen werden. Wollen Sie sich dem Urteil des Ortsgerichts unterwerfen?« »Vielleicht! Haben Sie schon festgestellt, ob je mand aus dem Dorf unterwegs war?« »Es war niemand unterwegs. Man hat auch nir gends in der letzten Zeit einen Fremden bemerkt.« »Dann könnte sich der Mörder nur unter dem Trupp befinden, der hinter den Indianern her ist. Die Beweise für seine Täterschaft muß er bei sich tragen, wenn er sie nicht draußen versteckt hat. Könnten Sie nicht unmittelbar nach der Rückkehr dieser Leute eine Sitzung anberaumen?« »Möglich wäre das, doch es läßt sich nicht ver meiden, daß die Männer erst ihre Häuser aufsuchen. Was für Beweise hoffen Sie zu finden?« »Diamanten. Außerdem übergab ich ja Geraldo einige Banknoten. Von einer fehlt eine Ecke, eine zweite trägt am Rand einen eigentümlichen Schnör kel, der von einem Vorbesitzer mit Tintenstift gezo gen wurde. So sieht er aus.« Sun Koh zeichnete den Schnörkel auf. »Das wird so leicht bei keinem zweiten Schein zu finden sein«, meinte Marhus. »Wenn wir den Schein bei jemandem entdecken, werden wir wohl den Mör der haben.« 45
Zwei Tage später führte Sun Koh noch ein drittes Gespräch in dieser Angelegenheit. Er erhielt dabei eine Mitteilung, die ihm außerordentlich wichtig war. Am sechsten Tag kamen die abwesenden Männer mit dem Bugerjäger wieder im Dorf an. Sie sahen abgerissen, schmutzig und erschöpft aus. Ihre Ge sichter waren ernst und finster. Noch am gleichen Abend versammelten sie sich mit den anderen Männern des Orts vor der Kirche. Sun Koh brachte außer seinen beiden Begleitern auch José Geraldo mit. Dieser hatte versprochen, für die Dauer der Verhandlung Ruhe zu bewahren, und war deshalb ungefesselt. Der Bugerjäger stand mit abweisendem Gesicht zwischen den Männern. Er nahm nur auf ausdrückli chen Wunsch von Marhus mit teil. Sun Koh richtete es so ein, daß er ziemlich in seine Nähe kam. Marhus eröffnete mit einigen steifen Redensarten die Sitzung, dann kam er zur Sache. »Francisco Geraldo ist an dem Tag, an dem ihr ausgezogen seid, nicht weit vom Ort entfernt ermor det und beraubt worden. Die Tat hat keine Zeugen gehabt. Zwei von uns haben drei Fremde kurz nach dem tödlichen Schuß bei der Leiche getroffen. Sie sollen zuerst berichten.« Der ältere der beiden Männer, die Nimba bei der Leiche gefunden hatten, trat vor und schilderte seine Erlebnisse. Er tat es zwar ohne Gehässigkeit, aber so 46
überzeugt und so einseitig, daß sein Bericht eine ein zige Anklage gegen Sun Koh und seine Begleiter war. Als er geendet hatte, ergriff Marhus das Wort. »Ihr habt es gehört. Nun wollen wir die Fremden selbst sprechen lassen.« Sun Koh trat vor und gab seinen Bericht. Die Wir kung war nicht ganz eindeutig. Auf den Gesichtern stand Nachdenken, auch Wohlwollen, meist aber Zweifel. Wieder sprach Marhus. »Wort steht gegen Wort, meine Freunde. Man kann die Fremden für schuldig halten oder auch nicht. Wir sind verpflichtet, weiter zu forschen. Ich habe nachgeprüft, ob einer der Dorfbewohner zu je ner Zeit im Wald gewesen sein konnte. Von einem anderen Fremden, der etwa um den Ort streifte, ist uns nichts bekannt. Wenn Geraldo nicht von diesem ermordet wurde, dann muß sich der Täter bei dem Trupp befinden, der heute zurückgekehrt ist.« Dumpfe Erregung und Entrüstung ging durch die Menge. Marhus ließ sie abklingen, dann fuhr er fort: »Ich frage euch, ob einer von euch an jenem ersten Tag eurer Streife den Trupp verlassen hat, und ob ihr einen nennen könnt, der nicht den ganzen Tag über bei euch war?« »Wir sind immer zusammengeblieben«, rief ein voreiliger Hitzkopf. 47
Betretenes Schweigen folgte. Dieser Ausruf war zugleich ein Urteil. Doch nun regte sich ein älterer Mann. »Nicht ganz, es stimmt nicht ganz«, berichtigte er. »Der Bugerjäger war nicht bei uns. Er hat allein den Wald durchstreift und ist erst am späten Abend zu uns gestoßen.« Borroud funkelte ihn zornig an. »Soll das eine Beschuldigung sein? Ich habe den ganzen Tag die Spur der Indianer gesucht.« »Ich wollte Sie nicht beschuldigen«, erklärte der andere. »Ich hielt es nur für meine Pflicht, es zu sa gen.« »Du hast recht getan«, sagte Marhus zu ihm. »Au ßer den Fremden könnte also auch Senhor Borroud den Mord begangen haben. Beherrschen Sie sich, Senhor, wenn wir die Schuld untersuchen wollen, müssen wir offen sprechen.« Sun Koh meldete sich und erhielt das Wort. »Die Streife ritt nach Nordwest. Ich frage Senhor Borroud, was er im Süden der Siedlung zu suchen hatte und ob er zur Stunde des Mordes dort ebenfalls Indianer suchte.« Die Frage löste starke Erregung aus, nicht zuletzt bei Borroud. »Was soll diese Frage?« brauste er auf. »Ich bin überhaupt nicht wieder in die Nähe des Ortes ge kommen.« 48
»Darüber gibt es zwei Meinungen«, erwiderte Sun Koh. »Zunächst darf ich Sie wohl darauf aufmerk sam machen, daß Sie gut daran tun, dieses fortwäh rende Zucken nach der Pistole zu unterlassen. Ich sagte Ihnen schon einmal, daß ich von der Hüfte aus schieße. Und nun…« Er gab einem der Männer ein Zeichen. Dieser trat vor. Er war der Besitzer eines Gehöfts, das ein gan zes Stück vom Ort entfernt in einem Tal lag. »Ich habe Borroud an jenem Tag gesehen«, erklär te er. »Er schlich durch den Wald um mein Grund stück herum. Und er kam von Osten her.« »Das ist eine Lüge!« »Ich habe keinen Grund zu lügen.« Die Erregung flutete über den Platz. Unmerklich wichen die Männer in der Nähe des Bugerjägers zu rück. Der stand wie ein gestelltes Raubtier. Bei aller äußeren Ruhe drückte seine Haltung schärfste Span nung aus. Die ruhige Stimme von Marhus dämpfte die Erre gung. »Wiederum steht Wort gegen Wort. Wir wollen al so weiter suchen. Francisco Geraldo wurde beraubt. Nach der Aussage der Fremden trug er mindestens ein Säckchen voll Chibius bei sich. Er hatte Diamanten gefunden. Falls der Mörder nicht Gelegenheit gefun den hat, sie zu verstecken, muß er sie bei sich tragen. Weiterhin besaß Francisco Geraldo einige größere 49
Scheine, die er von diesem Fremden gegen Diaman ten eintauschte. Die Scheine sind gezeichnet. Der Mörder müßte sie besitzen. Ich frage die Männer der Streife, ob sie bereit sind, sich untersuchen zu lassen. Ich frage insbesondere Senhor Borroud, gegen den eine Aussage besteht, ob er dazu bereit ist.« »Ihr seid verrückt!« zischte der Bugerjäger wü tend. »Ist das der Dank dafür, daß ich euch die rote Pest vom Hals schaffe? Haltet euch doch an diese Fremden, die bei dem Toten angetroffen wurden.« »Wir tun es«, erwiderte Marhus ruhig, »aber wir sind es ihnen schuldig zu prüfen, was sie entlasten könnte. Niemand von uns will einen Unschuldigen als Mörder verurteilen, deshalb wird jeder freiwillig tun, was zu tun nötig ist. Ich wiederhole meine Fra ge. Senhor Borroud.« »Nein!« schrie dieser. »Ich lasse mich nicht wegen dieser hergelaufenen Fremden beleidigen. Verhan delt allein, ich…« »Bleiben Sie!« befahl Sun Koh. »Sie haben nicht das Recht, sich zu entfernen. Ich halte Sie für den Mörder Francisco Geraldos. Wenn Sie sich nicht freiwillig untersuchen lassen wollen, werde ich Sie dazu zwingen.« Hinter den beiden Männern bildete sich blitz schnell eine breite Gasse. Sun Koh ging auf den Bugerjäger zu. Der sah kei nen Ausweg mehr. Er griff zur Waffe. 50
Sun Koh schoß von der Hüfte aus, wie er voraus gesagt hatte. Er schoß nicht auf den Mann, sondern auf die Hand, so daß die Pistole auf die Erde fiel. Während Borroud noch zu begreifen suchte, warf sich Sun Koh auf ihn und umklammerte seinen Kör per. Borroud setzte sich zur Wehr und versuchte, sei nen Gegner abzuschütteln. Aber seine Arme lagen fest. Sun Kohs Arme preßten sich wie Stahlklam mern an seinen Körper. Während sich der Bugerjäger wand und krümmte, ging Hal mit schnellen Fingern an die Arbeit. Unter allgemeiner Spannung leerte er Borrouds Taschen aus. Mit Triumpfgeschrei hielt er ein Säckchen hoch und gab es an Marhus weiter. Marhus öffnete es so fort und zeigte eine Handvoll Chibius herum. Kurz darauf brachte Hal ein zweites Säckchen zum Vor schein. »Das Geld, Sir!« Sun Koh drückte den Bugerjäger, der sich immer noch wie eine gefangene Wildkatze wehrte, langsam zwischen seinen Armen herum, so daß die Brust frei wurde. Hal zerrte den Poncho zur Seite, riß das Hemd auf und zog einen Halsbeutel heraus. Marhus fand darin die Scheine, deren Kennzei chen Sun Koh ihm beschrieben hatte. »Das genügt!« rief er laut. »Dieser Mann ist der Mörder, die drei Fremden sind unschuldig!« 51
Sun Koh ließ den Bugerjäger los. Halb zusam mengeduckt blieb dieser stehen und schaute sich lau ernd um. Da brach José Geraldo durch den Ring. Er war oh ne Waffen, aber so erregt, daß er sich trotzdem auf den Bugerjäger warf. »Das Blut meines Bruder…« begann er schreiend. Sun Koh wollte ihn zurückreißen, aber da schnell te der Bugerjäger schon hoch. In seiner Hand blinkte das Messer, das ihm niemand abgenommen hatte. Sun Koh konnte nicht schießen, weil José im Weg stand. Bevor er den Arm mit dem Messer erreichte, stieß dieser schon zu. Es blieb unklar, ob Borroud den jungen Rächer oder Sun Koh hatte treffen wollen. Wahrscheinlich hatte der Angriff Sun Koh gegolten, und José war nur unglücklicherweise dazwischen gesprungen. José stürzte nieder, dann fiel das Messer hinterher. Sun Koh und der Bugerjäger rollten eng umschlun gen ein Stück weiter. Staub hüllte sie ein, sekunden lang sah niemand recht, was geschah. Hal sprang wie verrückt mit der Pistole herum und schimpfte in allen Tonarten. Eingreifen wollte er nicht, aber Borroud sollte einen Trick auch nicht zur Flucht ausnützen können. Es war Sun Koh, der sich erhob. Der Bugerjäger blieb wie betäubt liegen. »Fesseln, Hal!« befahl Sun Koh. 52
Es erwies sich als überflüssig. Einige Männer hiel ten schon Stricke in der Hand und bemühten sich um Borroud. Die Versammlung war damit zu Ende. José Geral do hatte Glück gehabt. Borroud hatte ziemlich plan los zugestoßen und ihm nur eine verhältnismäßig harmlose Wunde zugefügt, die in ein oder zwei Wo chen verheilt sein konnte. Marhus schüttelte Sun Koh die Hand. »Ich freue mich, daß es gelang, Borroud zu stel len.« »Was wird mit ihm geschehen?« Marhus hob die Schultern. »Das Urteil steht wohl fest. Wir müssen uns nach einem anderen Bugerjäger umsehen.« »Wollen Sie ihn der Behörde übergeben?« Der Alte lächelte. »Die Behörde sind wir selbst. Wir werden ihn morgen zum Tode verurteilen. Darüber wird noch einmal verhandelt und ein Protokoll angefertigt. Das hat Zeit bis morgen. Für heute werden wir ihn ein sperren und bewachen.« Sun Koh, der die Fähigkeiten des Bugerjagers am eigenen Leib gespürt hatte, wollte eine Warnung aus sprechen, behielt sie aber für sich. Und am Morgen war der Bugerjäger verschwun den. Die beiden Wächter lagen erstochen neben der Tür. Und in dem Haus von Marhus war eingebrochen 53
worden. Borrouds Brustbeutel, in dem die Geld scheine gesteckt hatten, war fort mitsamt dem Geld. Niemand hatte etwas gehört. Jetzt erinnerten sich Marhus und Sun Koh, daß sich in dem Beutel auch ein Stück Leder befunden hatte, in das eine Zeichnung eingeritzt war. Wenn diese Zeichnung die Lage jenes Diamantenflusses angab, erklärte das eher als die Geldscheine, warum Borroud noch das Wagnis dieses Einbruchs auf sich genommen hatte. »Ein verwegener Bursche«, sagte Sun Koh nach denklich. »Es wird schwerfallen, ihn ein zweites Mal zu stellen.« 3. Borroud war Meister in der Kunst, eine Fährte zu verwischen. Er konnte durch den Wald gehen, ohne Spuren zu hinterlassen. Einmal hatte er sich gerühmt, daß ihn bei zehn Meter Vorsprung niemand mehr finden könne, und dabei hatte er nicht zuviel behaup tet. Es wäre für Borroud ein leichtes gewesen, nach seiner Flucht aus Valdina im Gran Chaco oder im Bergland spurlos zu verschwinden. Es wäre ihm auch nicht schwergefallen, unbehelligt den Diamantenfluß aufzusuchen, der auf der geraubten Zeichnung ange geben war. 54
Warum tat er es nicht? Nun, Borroud war einfach nicht mehr ganz zurech nungsfähig. Er hatte sich selbst verloren und traute nicht einmal mehr seinen Instinkten. Niemand schoß schneller als Borroud, niemand war stärker und gewandter als er, niemand wagte seiner Meinung zu trotzen. Das war Jahre hindurch der Angelpunkt von Borrouds Lebensauffassung ge wesen. Und nun war er mit einem Mann zusammengetrof fen, der ihn wie ein Kind behandelt hatte, mit einem Mann, der schneller schoß, stärker und gewandter war als er. Zweimal hatte ihn dieser Mann niederge schlagen, hatte ihn zum Schwächling gemacht und außerdem um ein Haar an den Baum gebracht. Weil seine Seele auf körperlichen Fähigkeiten be ruhte, brachte die Niederlage eine Verwirrung mit sich, deren der Bugerjäger nicht wieder Herr wurde. Er war unsicher und fürchtete diesen Jüngling, der ihn besiegt hatte, ebenso sehr, wie er ihn haßte. Zu dem übernahm dieser Mann nun das Amt des Rä chers. Und Sun Koh war eben der Mann, den Bor roud hassen und fürchten gelernt hatte, zugleich der einzige Mann, der als Verfolger für Borroud eine ernsthafte Gefahr bedeutete. *
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Über der Hochfläche des Mato Grosso, die sich im Herzen Südamerikas über mehrere hunderttausend Quadratkilometer ausdehnte, ging die Sonne unter. Blutrot flammte das nackte Gestein auf. Sun Koh ritt mit seinen Begleitern nach Osten. Die Pferde ließen die Köpfe hängen, die Hufe klappten unsicher bald auf weichen Sandstein, bald auf harten Basalt. Die Reiter waren müde von der Hitze und der Anstrengung des Tages und ließen die Gäule trotten. Sun Koh wies voraus. »Eine Stunde noch, dann haben wir den Wald er reicht.« »Ein Stunde noch«, seufzte Nimba auf. »Das Le ben ist nicht einfach. Halt, dort vorn bewegt sich was!« »Ein Mensch«, stellte Sun Koh fest. »Wir wollen uns etwas mehr rechts halten.« »Schon verschwunden.« »Ja, dort muß sich eine Senke befinden, wenn er sich nicht einfach hingelegt hat.« »War es der Bugerjäger?« fragte Nimba. »Das konnte ich nicht erkennen.« Der Mann, den Sun Koh gesehen hatte, tauchte nicht wieder auf. Die drei erreichten jedoch nach ei ner guten halben Stunde den Anfang einer Talsenke, die sich in die aufsteigenden Berge hineinzog. Genau genommen war es zunächst eine Schlucht, die spitz und steil ansetzte und die Hochebene zerriß, 56
eine Art Canon, dessen Grund mit Bäumen und Ge strüpp angefüllt war. Er verbreitete sich aber bald zu einem ansehnlichen Hochtal, dessen Umrisse im Dunst versanken. Die senkrechten Wände wurden zu allmählich aufsteigenden Hängen mit dichtem Wald bestand. Der Wald zog sich auch in den viele Kilo meter breiten Grund des Tals hinein bis an einen Bach, der durch das Tal floß. Im Mittelstück und weiter hinten waren jedoch weite Flächen ohne Bäume. Hellere und dunklere Felder hoben sich ab. Letztes Sonnenlicht glitt schmeichelnd über verein zelte weiße Häuser mit spitzen Dächern. Eine Ortschaft. »Ich habe schon seit acht Tagen Zwangsvorstel lungen von weichen Betten gehabt«, gestand Nimba aufatmend. Es dauerte eine Stunde, bevor sie das erste der kleinen sauberen Gehöfte inmitten sorgfältig bestell ter Felder erreicht hatten. Die Nacht hatte sich inzwi schen vollends über das Tal gesenkt. Der Weg, der durch die Felder führte, war jedoch nicht zu verfeh len, außerdem zeigten die aufblinkenden Lichter die Richtung an. Ihre Ankunft war bemerkt worden. Kurz vor dem ersten Haus stellten sich einige Männer in den Weg, von denen sich einer nach Ziel und Herkunft erkun digte. »Wir befinden uns auf der Suche nach einem Mör 57
der«, gab Sun Koh Auskunft, »und bitten um ein La ger für diese Nacht.« Der Mann hob eine Laterne und leuchtete damit die Gesichter der drei an. Das Ergebnis schien ihn zu be friedigen, denn er sagte: »Es ist gut. Folgen Sie mir.« Er führte die Ankömmlinge zum übernächsten Ge höft. Nachdem die Pferde versorgt waren und sich die drei am Brunnen notdürftig gewaschen hatten, lernten sie in der geräumigen, aber niedrigen Bauern stube die ganze Familie kennen. Gottheit Weland war ein breitschultriger, schwerer Mann mit grauen Haaren. Seine Frau besaß viel Ähn lichkeit mit ihm, wenn sie auch insgesamt weicher und gemütlicher wirkte. Außer den beiden saßen noch fünf Kinder am Tisch, von denen das älteste schon erwachsen war. Es fiel Sun Koh auch hier wie schon in Valdina auf, in welch hohem Maße Achtung und Zucht das Familienleben beherrschten. Die Kinder sprachen ihre Eltern als Herr und Herrin an, das Ehepaar unter sich als Gebieter und Gebieterin. Das klang für die Fremden wie aus vergangenen Jahrhunderten, war der Familie aber selbstverständlich. Die Kinder zogen sich bald zurück, die Frau arbei tete in der Küche. Weland unterhielt sich mit seinen Gästen. Da Sun Koh und Hal die deutsche Sprache beherrschten, betrachtete er sie als Landsleute und ging aus sich heraus. 58
Heimtal hieß die Siedlung, wie er berichtete, weil seine Vorfahren nach langer Wanderung im Tal eine neue Heimat gefunden hatten. Drei Familien hatten sich damals angesiedelt, jetzt waren es sechzehn. Zu zug war niemals gekommen. Besucher gab es kaum, höchstens alle zehn Jahre einmal. Aber neuerdings schien es recht lebhaft in der Gegend zuzugehen. Sun Koh horchte auf. »Sind in der letzten Zeit mehr Fremde durch das Tal gekommen?« erkundigte er sich. Weland nickte. »Gestern kamen vier Männer. Ich habe sie selbst beherbergt. Sie verließen den Ort eine halbe Stunde vor Ihrer Ankunft.« »Seit wann verläßt man ein gastliches Haus bei an brechender Nacht?« Weland zwinkerte humorvoll. »Und warum fürchten sich diese Leute vor Ih nen?« »Wenn Sie mir die Namen sagen, kann ich Ihnen vielleicht Auskunft geben«, erwiderte Sun Koh. »Der Sie fürchtet, hieß Borroud.« Sun Koh atmete auf. »Also haben wir doch wieder seine Spur gefunden. Borroud ermordete einen Mann, ich verfolge ihn des halb. Doch ich dachte, er sei allein. Es ist das erste mal, daß ich von drei Männern höre, die ihn beglei ten.« Weland nickte. 59
»Ich glaube, er hat sie erst kurz vor dem Tal ge troffen. Sie versicherten ihm wiederholt, daß er sich auf sie verlassen könne. Sie hoffen wohl, durch ihn Reichtümer zu finden.« »Er wird sie ihnen versprochen haben. Der Mann, der von Borroud ermordet wurde, trug Diamanten bei sich. Er hat irgendwo einen Fluß entdeckt, der Dia manten führt. Borroud stahl die Zeichnung, auf der die Lage beschrieben war. Er wird versuchen, den Fluß zu finden. Vielleicht befindet er sich nicht all zuweit von hier.« »Wie hieß der Mann, der ermordet wurde?« »Francisco Geraldo aus Valdina.« »Ich kenne ihn. Er hat sich vor Wochen hier für eine Nacht aufgehalten.« »Dann hält Borroud also weiterhin seine Richtung. Haben Sie etwas darüber gehört, wohin er ziehen wollte?« »Er verließ das Tal nach Osten zu. Gestern fragte er nach einem Berg, der wie ein Kopf geformt ist.« »Gibt es einen derartigen Berg in der Nähe?« »Einige Stunden von hier im Nordosten. Man sieht ihn vom oberen Talrand aus, wenn klares Wetter ist.« »Das genügt«, sagte Sun Koh befriedigt. »Borroud hat uns seinen Weg gewiesen.« *
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Sun Koh war sich völlig im klaren darüber, daß Bor roud sich nicht mit den drei Fremden zusammenge tan hatte, um seine Funde mit ihnen zu teilen. Bor roud fühlte sich einfach seinen Verfolgern nicht ge wachsen. Er hatte die drei gedungen, um an ihnen Schutz und Hilfe zu haben. Und zweifellos hatte er ihnen als erste Aufgabe gestellt, die drei Verfolger unschädlich zu machen. In der Nacht konnte Borroud nicht weit gekom men sein. Er beobachtete möglicherweise das Tal und bereitete den Hinterhalt vor. Sun Koh war nicht so töricht, Borroud den Gefal len zu tun. Er verließ seinen Gastgeber bereits eine Stunde vor Sonnenaufgang. Als sich der Grund des Tals erhellte, befand er sich mit seinen Begleitern bereits wieder auf der Hochebene und ritt nach Nor den. Borroud wollte den Berg mit der charakteristi schen Gipfelbildung erreichen. Sun Koh hatte die gleiche Absicht. Er wählte aber nicht den geraden Weg, der durch einen Hinterhalt führen mußte, son dern schlug einen weiten Bogen, so daß er nicht von Südwest, sondern von Nordost herankam. Zwei Tage lang ritten die drei durch unbekanntes, immer stärker aufsteigendes Gelände, ohne von Bor roud etwas zu bemerken. Am dritten Tag sahen sie den gesuchten Berg vor sich. Der »Kopf« – bei einiger Mühe und sehr viel 61
Phantasie konnte man den Gipfel so sehen – be herrschte ein ganzes Bergmassiv. Eine Reihe von Kuppen lagerten sich um ihn herum, unterbrochen durch Täler und Schluchten, die an einigen Stellen den ganzen Bergstock auseinanderzuschneiden schienen. Genaueres ließ sich jedoch noch nicht sa gen. Sie ritten nun in einen Grund hinein, der nach weitläufiger Krümmung ziemlich genau auf den Hauptgipfel zuführte. Von oben her waren die Entfernungen gering er schienen, aber nun dehnte sich der Weg doch be trächtlich. Der Boden, der aus nacktem Fels und ge legentlichem Kiesgeröll bestand, stieg nur allmählich an. Bei dem geringen Baumbestand war es ein Glück, daß die steilen und sehr hohen Wände die Sonnenstrahlen abfingen. Der Grund blieb schattig und kühl. Das Wasser, das in vielfach verästelten Rinnsalen, manchmal auch in engem Felsenbett, tal wärts floß, war eiskalt. Zweimal öffneten sich schmale Seitenschluchten mit dichten Baumbestän den. Erst gegen Abend erreichten sie das Ende des Tal grundes, wo sie die Nacht verbrachten. Am nächsten Morgen ließen sie die Pferde zurück und stiegen über die Schrägwand nach oben. Das war ein hartes Stück Arbeit, das erst am Spätnachmittag endete, als sie in den nächsten Grund hinabsehen 62
konnten. Er zog sich fast ohne Brechung nach Osten zu, viele Kilometer weit, aber nichts in ihm verriet, daß er von Borroud und seinen Begleitern betreten worden war. Ein neuer Tag brachte wieder Kletterarbeit über unwegsames Felsgelände, über scharfe Quergrate und durch tiefe Wasserschluchten. Nun erst erhielt das Gebirge sein richtiges Gesicht. Die beiden lang gestreckten Hochtäler, die unmittelbar auf das Mas siv zuführten, waren Ausnahmen gewesen. Der neue Tag zeigte das Gebirge als ein verschachteltes, völlig unübersichtliches Durcheinander verschiedener Bergstöcke, zwischen denen die Täler und Schluch ten in allen Richtungen und in allen Höhenlagen lie fen. Der nächste Tag brachte so wenig Ereignisse wie die vorhergehenden. »Ich habe mich geirrt«, erklärte Sun Koh am Ende dieses Tages. »Wir sind über den Sektor, auf dem Borroud anmarschieren könnte, bereits hinaus. Zwei fellos befindet er sich irgendwo dort unten. Wir müs sen deshalb am Eingang des Gebirges nach seiner Spur suchen.« »Wir steigen von hier aus ab?« »Ja. Es macht nichts aus, wenn wir von der entge gengesetzten Richtung aus auf Borrouds Spur tref fen.« Zwei Tage später rutschten und sprangen sie über 63
schräge Hänge in ein Tal hinunter, das bereits zwi schen den flacheren Vorbergen lag. Von hier aus hofften sie, am nächsten Tag die Ebene zu erreichen. Die Zeit drängte, denn die Vorräte, die sie mitge nommen hatten, gingen zu Ende. Es war dunkel, als sie den Grund erreichten. Sie setzten ihren Weg deshalb nicht fort, sondern ver zehrten die letzten Reste und legten sich schlafen. Hal übernahm die Morgenwache. Als Nimba erwachte, sah er die beiden anderen vor sich. »Schauen Sie sich das mal an«, sagte Hal gerade, griff in die Tasche und hielt Sun Koh eine ganze Handvoll Steine hin. »Was sagen Sie dazu, Sir? Sind das Diamanten oder nicht?« Sun Koh beugte sich überrascht vor und prüfte die Steine. »Diamanten«, urteilte er nach einer Weile. »Dieser hier hat gut seine fünfzig Karat.« »Natürlich sind es Diamanten«, seufzte Nimba. »Ich habe schon lange gewußt, daß wir die Diaman ten finden werden. Seit ich Geld habe, rennt dieses verrückte Weibsbild von Glücksgöttin hinter mir her.« »Kein Wunder bei soviel Schönheit.« »Wo hast du sie gefunden?« erkundigte sich Sun Koh. Hal wies zum Wasser. 64
»Hier wimmelt’s von Diamanten. Und dort auf der anderen Seite, wo der Fels überhängt, sind die Reste einer ausgewaschenen Tonbank. Es ist Blauton, Sir. Das Wasser muß wohl zur Regenzeit viel höher flie ßen als jetzt und mehr Kraft haben. Es hat sich auch sicher im Laufe der Jahrtausende heruntergesägt. Je denfalls sieht es ganz so aus, als hätte das Wasser die Tonbank allmählich ausgespült. Die Diamanten sind natürlich auf den Grund gesunken, weil sie schwer sind. Und weiter unten liegt so etwas wie eine Barre, die hat alles aufgehalten.« Als sie zu dritt am Wasser entlangschritten, fanden sie alle Angaben bestätigt. Die Barre war eine quer liegende Klippe, eine härtere Ader, die dem Wasser größeren Widerstand leistete. Jenseits von ihr rann das Wasser einige Meter tief in den Grund, der dort tiefer lag und sich stark senkte. Die Fülle der Diamanten auf dem kurzen Stück bis zu der Barre war geradezu erstaunlich. Man fand oh ne große Sucharbeit mal hier, mal dort zwischen dem nur dünn vom Wasser überrieselten Geröll die wert vollen Steine in allen Größen. Und vor der Barre hat te sich ein ganzes Nest von großen Edelsteinen ange sammelt, denen gegenüber Hals Steine nicht mehr als unbedeutende Splitter waren. Ungeschliffene, rohe Diamanten sind nicht schö ner als Kieselsteine. Es war das Bewußtsein, welche Werte hier im Geröll lagen, das die drei wie ein 65
leichtes Fieber ergriff. Immer von neuem bückten sie sich und holten diesen oder jenen Stein heraus. Ohne daß sie es recht merkten, füllten sie ihre Taschen bis obenan. Sun Koh schüttelte als erster die Erregung, die bei anderen leicht zu starken Ausbrüchen hätte führen können, von sich ab. »Schluß!« gebot er. »Leert eure Taschen aus. Es ist sinnlos, die Steine jetzt mit herumzuschleppen. Wir brauchen Bewegungsfreiheit, solange Borroud noch jede Stunde auftauchen kann. Später werden wir mit den Pferden zurückkehren und sie mit den Steinen beladen.« Nimba und Hal leerten ihre Taschen. »Glauben Sie, daß Geraldo hier gewesen ist?« er kundigte sich Hal. »Das ist wenig wahrscheinlich, denn dann hätte er die größeren Steine mitgenommen.« »Dann müßte es zwei Diamantenflüsse in dieser Gegend geben?« »Möglich, aber nicht unbedingt. Ein Teil der klei nen und deshalb leichten Steine ist weiter hinunter geschwemmt worden. Geraldo kann sie gefunden haben. Es ist allerdings unklar, warum er das Wasser nicht aufwärts verfolgte.« »Wieso befinden sich denn hier überhaupt soviel Diamanten, Sir?« fragte Nimba. »Das gibt’s doch sonst nicht. In Südafrika muß man sie zum Beispiel 66
mit großen Maschinenanlagen aus der Erde holen.« »Auch in Kimberley fand man sie einst lose im Flußsand. In Südbrasilien werden sie aus dem Kies gewaschen, im nördlichen Matto Grosso gräbt man weitab vom Fluß die blaue Erde auf. Jeder Fundort hat seine Eigentümlichkeit.« »Aber keiner ist so reich wie dieser!« »Das gilt vielleicht für den Augenblick. Über diese Fundstelle sind noch nie Menschen gegangen, sie befindet sich gewissermaßen noch im Urzustand.« Sie stiegen an der Barre hinunter und wanderten flußabwärts. Gelegentlich entdeckten sie wieder Dia manten, aber es handelte sich nur um vereinzelte und recht kleine Stücke. Nach einer knappen Stunde standen sie vor einem zwanzig Meter hohen Steilabfall, über den der Was serfaden schäumend und verstäubend in die Tiefe stürzte. Er fand unten seine Fortsetzung in einem Rinnsal, das dicht am Felsen entlanglief. Sun Koh und seine Begleiter blickten in ein weites Tal hinein, das sich nach der Hochebene zu öffnete. Der Boden war stellenweise kahl und steinig, sonst aber von niedrigem, halb verbranntem Graswuchs bedeckt. Eine Gruppe von Zedern stand in Sichtrich tung vor der jenseitigen Talwand. »Dort unten könnte Geraldo sein Chibius, seine kleinen Diamanten, gefunden haben«, sagte Sun Koh und wies auf den verschwindenden Wasserfaden. 67
»Bei stärkerem Wasser ist sicher eine ganze Menge leichter Steine hinuntergeschwemmt worden.« »Und dieser senkrechte Absturz erklärt, warum er nicht zum Oberlauf kam«, sagte Hal. »Wahrschein lich war er kein besonderer Kletterer. Ich glaube, wir müssen einen Umweg machen, wenn wir hinunter wollen.« Sun Koh prüfte die Umgebung, dann stieg er in die schräg zurückweichende rechte Wand ein. Seine bei den Begleiter folgten. Es ging zunächst fünfzig Me ter aufwärts und dann ganz allmählich in schräger Bahn in die Tiefe, so daß die Talsohle einige hundert Meter oberhalb erreicht wurde. Sie befanden sich in einem Waldstück, das sich, wie sie von oben gesehen hatten, fast bis zur Mitte des Tals hinzog. Über der Feststellung, daß es in ihm Waldhühner gab, vergaßen sie sogar die Diamanten. Der Körper forderte bereits eine kräftige Nahrung. Sie trennten sich gleich an der Wand und zogen ein zeln durch das Holz, Nach zehn Minuten trafen sich Hal und Nimba auf der anderen Seite, wo der Wald an einen schmalen Flußlauf grenzte. Jeder reckte ein erlegtes Waldhuhn in die Höhe. »Vollfett und saftig!« rief Nimba strahlend. »Das wird ein Braten. Wo ist Sun Koh?« »Er hat zweimal geschossen. Sir?« »Hierher!« rief Sun Koh von oberhalb. 68
Sie fanden ihn an einer Stelle, an der die Bäume vom Ufer etwas zurückwichen. Neben ihm lagen zwei Waldhühner. Vor ihm befand sich ein dunkler Haufen von Asche und verbranntem und verkohltem Holz. »Eine Feuerstelle?« »Vier Männer haben hier gelagert«, sagte Sun Koh. »Sie kamen am anderen Ufer herauf, setzten hier über und blieben wenigstens eine Nacht. Ihre Pferde hatten sie dort unter den Bäumen angebunden. Offenbar sind schon einige Tage darüber vergangen. Es kann sich nur um Borroud und seine Begleiter handeln.« »Dann sind sie vor uns in diesem Grund?« »Wahrscheinlich. Bisher habe ich keine Spur ge funden, die herausführt. Aber darüber müssen wir erst Gewißheit haben. Nimba, du kümmerst dich wohl um die Hühner?« »Mit Wonne, Sir!« »Du übernimmst das Feuer, Hal. Ohne Rauch.« »Klar, Sir!« Während die beiden an die Arbeit gingen, suchte Sun Koh nach Spuren. Er fand keine außer denen, die er schon festgestellt hatte. Borroud mußte sich also zwischen der Feuerstelle und dem Gebirgsstock befinden, dessen eigenartig geformter Hauptgipfel jenseits einer fernen Querschwelle aus dem Dunst herausleuchtete. 69
4.
Weiter oben im Grund, wo die drohend aufragenden Bergmassen die Sonnenstrahlen abhielten, schwelte ein Feuer. Oberhalb zupften vier Pferde gelangweilt an dür rem Gras, unterhalb lagen drei Männer an einem verkrüppelten Baum. Der eine hatte die Arme unter dem Kopf verschränkt und starrte unverwandt in die tiefe Bläue des Himmels. Der zweite hockte mit an gezogenen Knien, um die er die Arme geschlungen hatte, und sog dann und wann an einer Zigarette. Der dritte beschäftigte sich damit, von Zeit zu Zeit ein Steinchen nach seinen Stiefelspitzen zu werfen. Paolo, der dunkelhaarige Brasilianer, summte leise ein Liedchen und ließ dabei weich und langsam den zusammengehockten Körper mitwiegen. Hermann, der blonde Deutsche, fiel ein, ohne den verträumten Blick vom Himmel zu lösen. Mac, der brandrote Engländer, behielt das letzte Steinchen in der Hand, wendete es zwischen den Fin gerspitzen und brummte es gedankenverloren an. Die seltsam gelöste Stimmung zerriß jäh, als Paolo heftig den glimmenden Stummel wegspie. »Was waren wir doch für Narren, als wir diesem Borroud auf den Leim gingen! Der Mann denkt gar nicht daran, uns Diamanten zu zeigen.« Mac warf 70
heftig den Stein nach seinem Fuß. »Natürlich nicht, weil er selbst keine Ahnung hat, wo es Diamanten gibt. Sein Plan taugt einen Dreck. Wir hätten uns nicht darauf einlassen sollen.« Hermann wälzte sich auf die Seite. »So gescheit waren wir schon am ersten Tag. Wir waren uns doch einig, daß eine ganze Masse Wahr scheinlichkeit für einen Schwindel vorliegen mußte.« »Wenn einer so bestimmt redet und auch noch ei nen Plan vorweist«, meinte Mac, »nimmt man doch an, daß es sich lohnt. Ich schätze aber, er hat uns an der Nase herumgeführt. Seine ganze Geschichte, die er uns erzählt hat, war ausgemachter Schwindel.« »War es«, bestätigte Paolo. »Dieser alte Diaman tensucher, der ihm in seiner Todesstunde den Plan vermacht hat, erinnert an ein Märchen aus einem Sonntagsblättchen. Und das andere mit den Verbre chern, die ihm den Plan wieder abnehmen wollen, klingt ganz ähnlich. Aber irgend etwas muß schon stimmen, denn wir haben uns ja davon überzeugt, daß er von den drei Männern verfolgt wurde.« »Es gibt eine ganze Menge Gründe, um einen Mann zu verfolgen«, meinte der Deutsche. Mac warf einen neuen Stein und richtete sich dann halb auf. »Mich wundert nur, daß Borroud überhaupt vor den dreien ausgerissen ist. Habt ihr ihn schießen se hen? Der nimmt’s zur Not auch mit dreien auf.« 71
»Vielleicht schießen die anderen besser«, murmel te Paolo. »Oder«, erwog Hermann bedächtig, »es nützt ihm nichts, wenn er die wirklich besiegt, weil hinter de nen andere stehen. Habt ihr euch schon einmal über legt, daß Borroud ein Verbrecher sein kann? Viel leicht verfolgen ihn die drei im Namen des Geset zes.« Paolo drehte sich schnell herum. »Genau das habe ich mir schon gedacht, Hermann. Dieser Borroud sieht aus wie ein Mörder.« »Dann wären wir die größten Idioten zwischen At lantik und Pazifik«, brummte Mac. »Das kann nur uns passieren, daß wir einem Mörder behilflich sind.« Der Deutsche lachte. »Ach, der Schaden ist noch nicht groß. Aber je mehr ich mir Gedanken über Borroud mache, um so weniger Lust habe ich weiter mit ihm zusammenzu bleiben.« »Der Mann ist kein Umgang für uns«, stimmte Mac bei. »Wir haben uns in den zwei Jahren, die wir zusammen sind, nichts vorzuwerfen gehabt, und da bei soll es bleiben. Wir werden ihm aufkündigen, sobald er zurückkommt.« »Und unsere Diamanten auf eigene Faust suchen«, ergänzte Paolo. »Vorausgesetzt, daß er einverstanden ist«, gab 72
Hermann zu bedenken. »Es kann uns passieren, daß er sich auch weiterhin an uns halten will. Mindestens hat er so viel erfaßt, daß wir einiges von der Diaman tensuche verstehen.« Paolo drehte sich eine neue Zigarette. »Hermann hat recht«, meinte er dabei nach länge rer Pause. »Wir müssen schon etwas vorsichtig sein. Borroud ist gefährlich. Übrigens kommt er dort.« Nach einer Viertelstunde war Borroud bei den Männern angelangt. Man spürte ihm förmlich an, daß er mit seiner stundenlangen Suche in den Wänden nichts erreicht hatte. »Nun«, fragte Paolo, »etwas gefunden?« Mehr noch als über die Frage ärgerte sich Borroud über die beschauliche Ruhe der drei Männer. »Nein«, gab er gereizt zurück. »Kein Wunder, wenn ich allein gehen muß, während ihr drei euch auf die faule Haut legt.« »Zeigen Sie uns die Steine«, grollte Mac. »Sie ha ben uns versprochen, uns zu Diamanten zu führen. Sie haben uns die Hälfte dafür versprochen, daß wir sie Ihnen ausgraben und Sie gegen Ihre Verfolger schützen. Nun buddeln wir schon seit einer Woche hier am Fluß herum und bekommen nichts als Kie selsteine unter die Hände. So steht die Sache. Und nun werden wir keinen Finger mehr für Sie rühren, bevor wir es nicht glitzern sehen, verstanden?« Borroud beugte sich leicht vor. Wütend fragte er: 73
»Aha, Sie haben wohl Gelegenheit gehabt, sich un tereinander auszusprechen, was? Sie haben wohl keine Lust mehr und wollen den Vertrag brechen, den wir geschlossen haben?« Mac lachte ihm furchtlos ins Gesicht. »Vertrag brechen? Wo bleiben denn Ihre Verspre chungen? Denken Sie etwa, wir graben monatelang im Gebirge herum, um Ihnen dann die Hälfte der Diamanten abzugeben, die wir auch ohne Sie finden? Sie haben uns zum Narren gehalten. Und nun wollen wir mit Ihnen nichts mehr zu schaffen haben.« Borroud sah wirklich gefährlich aus. Vielleicht hätte er auch geschossen, wenn nicht der seitlich sit zende Paolo rechtzeitig den Hahn seiner Pistole hätte schnappen lassen. Das brachte Borroud zur Besin nung. Er trat zurück, warf Paolo einen tückischen Blick zu und lachte heiser auf: »Na schön, ich habe nichts dagegen. Suchen Sie getrost die Diamanten auf eigene Faust. Sie haben hoffentlich nichts dage gen, wenn ich auf Viertelanteil mitsuche?« »Wir haben schon einiges dagegen«, erwiderte der Deutsche ruhig und erhob sich. »Wir wollen uns dar über nicht weiter unterhalten, Senhor Borroud, jeden falls sind wir es gewöhnt, zu dritt zu arbeiten, so be halten Sie nur alle Anteile. Wir gehen morgen von hier fort und suchen auf unsere Weise und ohne Sie.« »Sie wollen…« setzte Borroud an, aber Hermann unterbrach gleich wieder. 74
»Es hat keinen Zweck, wenn wir uns streiten, Sen hor. Sie haben uns Versprechungen gemacht und nicht gehalten. Gut, wir tragen Ihnen das nicht weiter nach, weil wir es gewöhnt sind, eine Enttäuschung einzustecken. Wir haben eingesehen, daß wir uns ebenso geirrt haben wie Sie. Damit trennen sich un sere Wege. Ich hoffe, daß es ohne gegenseitigen Groll geschieht.« Die besänftigenden Worte verfehlten völlig ihre Wirkung. In Borroud hatte sich in all den Tagen so viel Wut, Enttäuschung und Zorn aufgestaut, daß er Hermanns Worte einfach überging. »Sie wollen mich abschieben, was? Sie haben wohl eine Ahnung, wo sich die Diamanten befinden könnten? Sie wollen mich um meinen Anteil betrü gen? Sie wollen…« »Senhor Borroud dürfte kaum imstande sein, unse re höfliche Zurückhaltung zu würdigen«, bemerkte Paolo lässig von der Seite her. »Wir wollen es ihm getrost deutlich sagen, daß wir keine Lust haben, mit einem Mörder zusammenzuarbeiten.« Borroud fuhr wild herum. Der Anblick der schuß bereiten Waffe ließ ihn seine Hände beherrschen. »Ein Mörder?« zischte er, unterdrückte dann aber die Worte, die ihm offenbar auf den Lippen lagen. Peinliches Schweigen stand sekundenlang zwi schen den Männer, bevor Borroud leise und lauernd fragte: »Wieso wollen Sie behaupten, daß ich ein 75
Mörder bin?« Paolo zuckte mit den Schultern. »Vielleicht nur eine Vermutung! Ein Mann stirbt selten so schnell, ohne zu einem wichtigen Papier wie Ihrem Plan wenigstens das Notwendigste zu sa gen. Außerdem hat man Verfolger meistens nur dann zu fürchten, wenn die Polizei hinter einem her ist.« Wieder entstand eine Pause, dann sagte Borroud, der offenbar seine Ruhe völlig wiedergefunden hatte: »Das ist natürlich Unsinn. Die Geschichte hat sich so abgespielt, wie ich sie Ihnen erzählte. Doch lassen wir das. Mir liegt selbst nichts an einem Streit. Ich hatte mich geärgert, weil wir nun schon so lange ver geblich suchen. Der Plan ist eben falsch. Selbstver ständlich werde ich mich Ihren Entschlüssen fügen. Wenn Sie allein weitersuchen wollen, kehre ich mor gen um.« Die drei trauten dem Umschwung nicht recht, doch andererseits war es ihnen auch nicht unlieb, daß es ohne ernsthafte Auseinandersetzungen abging. Sie lenkten deshalb willig ein, und Paolo steckte seine Waffe weg. Nach zehn Minuten dachten die drei Männer kaum mehr an den Streit. Aber Borroud vergaß ihn nicht. Die drei standen wie vom Donner gerührt, als Bor roud plötzlich seine beiden Pistolen auf sie anschlug und sie anschrie: »Und nun schnell die Hände hoch, Burschen, sonst…« 76
Sie hoben mechanisch die Arme, dann erst begrif fen sie. »Was soll der Unsinn!« fragte Hermann und woll te die Arme sinken lassen, hob sie aber wieder, als Borroud einen warnenden Laut ausstieß und mit der einen Hand etwas herumschwenkte. »Jetzt habe ich euch«, zischte Borroud grinsend. »Ich werde euch beibringen, mir die Pistole unter die Nase zu halten und mich abzuschieben. Dachtet ihr etwa, ihr könnt mich betrügen? Ihr werdet mir schon noch erzählen, wo ihr die Diamanten gefunden habt.« »Sie sind wohl übergeschnappt, was?« rief Mac. »Das werde ich dir dann erzählen«, versprach Bor roud drohend. »Nimm die rechte Hand herunter und zieh deine Pistole mit zwei Fingern. Vorsichtig, sonst…« »Augenblick!« unterbrach der Deutsche. »Sie ha ben uns zwar in Ihrer Gewalt und können das Spiel noch ein Stück weiter treiben. Halten Sie es aber nicht für vernünftiger, wenn Sie darauf verzichten? Drei Mann bleiben immerhin drei Mann, selbst ohne Waffen. Oder haben Sie etwa die Absicht, uns in Ketten zu legen und an die Bäume zu binden? Viel leicht sind Sie tatsächlich ein bißchen überge schnappt, dann nützt meine Rederei natürlich nichts. Aber wenn Sie einen Funken von Verstand im Kopf haben, dann machen Sie sich lieber nicht drei Män 77
ner zu Feinden, die Tag und Nacht um Sie sind. Es gibt Dinge, die sich nicht wieder einrenken lassen.« »Schön gesprochen«, höhnte Borroud. »Weil ihr es seid, will ich euch genau verraten, was euch blüht. Ich werde euch arbeiten lassen, daß ihr nicht mehr aus den Augen sehen könnt. Hier am Fluß gibt es keine Diamanten, das wissen wir nun. Mein Plan stimmt nicht ganz, das wissen wir auch. Aber der Mann, der ihn besessen hat, trug ein Vermögen an Diamanten bei sich. Und er kam aus dieser Gegend. Diamanten gibt es also hier, wenn nicht an diesem Fluß, dann vielleicht am nächsten. Ihr habt mich für so dumm gehalten, daß ich euch allein suchen lasse, was? Nun, das ist eure Sache. Ich habe jedenfalls keine Lust, morgen zuzusehen, wie ihr auf die richti ge Stelle trefft und die Diamanten einscheffelt. Wir werden weiterhin gemeinsam suchen, und wenn wir einige Monate in diesem Gebirge bleiben sollten. Ihr werdet die Wasserläufe durcharbeiten, und ich werde dafür sorgen, daß euch nichts geschieht. Früher oder später müssen wir die Diamanten finden. Dann kön nen wir uns immer noch unterhalten, wie wir unsere Angelegenheit regeln.« »Schuft!« brüllte Mac. »Sklaventreiber will er…« »Zurück!« Mac wollte zuspringen. Hermann sah die Gefahr für seinen Freund und die günstige Gelegenheit für sich, warf sich mit einem schnellen Satz nach vorn 78
und versuchte, Borroud zu fassen. Aber Borroud sprang rechtzeitig zurück, ein Feuerstrahl schoß an den Augen des Deutschen vorbei, ein Schlag häm merte gegen seine Schulter, er stolperte nach vorn und brach zusammen. Borroud war durch sein Ausweichen Herr der La ge geblieben. Es wäre Selbstmord für die beiden an deren gewesen, den Angriff auszuführen, zu dem sie schon angesetzt hatten. »Noch einer?« fragte Borroud lauernd. Mac fluchte wie ein Rasender. Paolo beherrschte sich und sagte verkrampft: »Das sieht dir ähnlich, Mensch, einen Mann niederzuschießen, der mit blo ßen Händen angreift. Gib acht, daß du zum zweiten mal rechtzeitig schießen kannst!« Er ging langsam mit der Hand herunter, zog mit zwei Fingern seine Pistole und ließ sie fallen. Dann schritt er auf den gestürzten Kameraden zu, als sei Borroud nicht da. Borroud unternahm nichts. Er wandte auch nichts ein, als Mac Paolos Beispiel folgte. Der Deutsche hatte einen Schulterschuß abbekom men. Die Kugel war durch das Schlüsselbein abge lenkt worden und schräg durch die Schultermuskula tur hindurchgegangen. Wenn die Lunge nicht ge streift worden war, hatte die Wunde nicht allzuviel auf sich. Paolo und Mac stillten die Blutung, legten einen 79
Verband an und trugen ihren Kameraden unter den einzelnen Baum. Als Hermann zu sich kam, tausch ten sie leise Worte mit ihm. Borroud kümmerte sich nicht darum. Er beschäf tigte sich ein Stück abseits damit, die Pistolen und Gewehre der drei unbrauchbar zu machen. Als Mac das Feuer wieder anblies, kam Borroud auf ihn zu und knurrte: »Hoffentlich seid ihr jetzt vernünftig geworden. Sobald einer von euch auf muckt, geht’s euch wie dem dort. Und nun koche Essen, ich habe Hunger!« »Erstick an deinem eigenen Atem«, fauchte Mac. »Schießen kannst du, aber denke ja nicht, daß ich mich davor fürchte. Komm mir nur mal etwas näher und versuche mich zu etwas zu zwingen, Halunke. Schieß nur drauflos und such dir deine Diamanten selber. Wer so wenig davon versteht wie du, kann hundert Jahre suchen und daran vorbeilaufen, ohne etwas zu finden.« Borroud wußte nicht, daß der Verwundete seinen Kameraden empfohlen hatte, so schnell wie möglich auf die Diamanten anzuspielen. Der Deutsche durch schaute Borroud und wußte, daß es ihm vor allem auf die Diamanten ankam. Der Verwundete hatte richtig gerechnet. Borrouds Verhalten entsprach den Erwartungen. Er steckte ein, was Mac ihm austeilte, und beschränkte sich darauf zu erwidern: »Wenn du dein Maul zu weit aufreißt, 80
werde ich dir auch einmal ohne Pistole zeigen, wer der Stärkere von uns beiden ist. Jetzt mach das Essen zurecht.« »Mir fehlt noch das Huhn zur Suppe. Solltest du zufällig eins schießen, koche ich deinen Teil mit. Sonst mach dein Feuer gefälligst an einer anderen Stelle an.« Borroud ging schulterzuckend weg auf den nahen Wald zu. Später hörten die Männer einen Schuß, und dann kam Borroud wirklich mit einem Waldhuhn zu rück und warf es Mac vor die Füße. Als die Nacht kam, zog sich Borroud an den Rand des Waldes zurück. Die drei wußten, daß er dort schlafen, aber beim geringsten verdächtigen Ge räusch erwachen würde. Sie hatten Gelegenheit in diesen Tagen gehabt, die Schärfe seiner Sinne zu prüfen. Es war so gut wie ausgeschlossen, daß sie an ihm vorbei talabwärts schleichen konnten. Noch hoffnungsloser war es, in der Nacht einen Angriff auf ihn zu versuchen. * Sun Koh warf sich flach auf den Boden und winkte zurück, worauf Hal und Nimba auf Ellenbögen und Knien nachgerutscht kamen. »Haben Sie was gesehen, Sir?« flüsterte Hal er regt. 81
»Dort vorn hinter der Waldecke steigt Rauch auf.« »Das sind sie.« »Sicher. Wir müssen uns jetzt trennen. Ich will versuchen, von der Seite her durch den Wald zu kommen. Ihr bleibt hier liegen. In einer halben Stun de rückt ihr langsam auf. Sorgt aber für Deckung, damit ihr euch nicht unnötig einer Gefahr aussetzt.« »Wir sollen absperren, daß sie nicht fliehen kön nen?« »Ja. Sie haben den Spuren nach die Pferde bei sich. Borroud wird notfalls versuchen zu fliehen. Vergeßt nicht, daß er ein ausgezeichneter Schütze ist.« »Sie wollen gegen vier Mann angehen?« fragte Hal. »Ich hoffe, sie auf den ersten Anruf hin unschäd lich machen zu können.« »Ich würde erst Borroud erschießen und dann ru fen«, murmelte Nimba. »Der Kerl ist mir nicht ge heuer.« »Ich werde ihm noch weniger geheuer vorkom men«, sagte Sun Koh. »Die Überraschung dürfte je denfalls auf meiner Seite sein. Also wartet zu nächst.« Die beiden blieben liegen. Sun Koh eilte geduckt auf die Talwand zu und strebte dann zu dem Wald stück hin. Wenn er es erreichte, war viel gewonnen, denn dann konnte er unbemerkt bis an die Feuerstelle 82
herankommen. Wurde er aber vorher entdeckt, würde ein Kampf der Gewehre entbrennen, dessen Ausgang erheblich unsicherer war. Borroud und seine Beglei ter fanden dann genügend Möglichkeiten, um sich wirksam zu verteidigen. Sun Koh erreichte das Waldstück. Seine Hoff nung, an die Feuerstelle anschleichen zu können, er füllte sich aber nicht. Fünfzig Meter vorher war der Wald zu Ende. Die Feuerstelle lag auf kahlem Ge lände in der Nähe eines vereinzelten Baums. Immerhin war der Gewinn nicht zu unterschätzen. Ohne selbst gesehen zu werden, konnte Sun Koh in Ruhe alles beobachten, was dort vorging. Als erstes fiel ihm auf, daß Borroud allein Waffen trug, dann entdeckte er, daß einer seiner Begleiter verwundet unter dem Baum lag, und schließlich ent ging ihm auch nicht die Feindschaft zwischen Bor roud und den anderen. Es gab Streit dort drüben. Borroud trat einem, der ihm den Rücken zuwandte, in die Seite, so daß er über das Feuer hinwegtaumelte. »Den Mund sollst du halten!« schrie er ihn an. Der Mann kam hoch und stieß wie ein Stier auf Borroud zu, aber dieser wich geschickt zur Seite und ließ seine Faust vorschnellen. Sie traf, und der Mann taumelte zum zweitenmal. »Noch mehr?« fragte Borroud zynisch. »Kommt nur alle beide her. Ich werde euch schon zeigen, daß 83
ihr mir zu gehorchen habt, auch wenn ich nicht schieße. Ich werde…« Sun Koh trat aus dem Schutz der Bäume heraus und schritt über das freie Gelände auf Borroud zu. Der entdeckte ihn, bevor er noch drei Schritte getan hatte. Deshalb blieb er plötzlich stehen. Die Entfernung betrug fünfzig Meter, aber Sun Koh sah deutlich, wie sich das Gesicht des Indianer jägers verzerrte. Sekunden verstrichen. Sun Koh näherte sich un aufhaltsam. Borroud stand wie erstarrt. Er wußte, was das Auf tauchen dieses Gegners für ihn bedeutete. Jetzt sam melte sich alles in ihm zur entscheidenden Ausein andersetzung. Paolo, der von Borroud niedergeschlagen worden war, erfaßte nur einen Teil von dem, was vorging. Er sah Sun Koh, als er hochkam, er begriff, daß es der Verfolger war, den Borroud fürchtete, er spürte daß Borrouds Aufmerksamkeit nur noch dem anderen galt. Da schrie er auf und warf sich von der Seite her auf den Gegner, klammerte sich wie eine wilde Kat ze an ihn und griff mit beiden Händen um seinen Hals. Borroud war auf diesen Angriff nicht gefaßt und wehrte ihn nicht schnell genug ab, weil er alle Auf merksamkeit für den gefährlichen Gegner brauchte. 84
Paolo kam an ihn heran und zwang Borroud, Sun Koh außer acht zu lassen. Borroud versuchte verzweifelt, Paolo von sich ab zuschütteln. So leicht gelang ihm das aber nicht, au ßerdem stürzte Mac heran, um zu helfen. Da begann Sun Koh zu laufen. »Zurück von dem Mann!« rief er hinüber. »Zu rück!« Dann stand Borroud frei. »Ziehen Sie, Borroud!« rief Sun Koh, der bis auf wenige Meter herangekommen war. »Ziehen Sie und denken Sie an Francisco Geraldo, den Sie ermordet haben!« Panische Angst befiel Borroud, und die Erinne rung an die beiden Zusammenstöße mit Sun Koh, bei denen er unterlegen war. Er wandte sich mit einem heiseren Schrei um und hetzte mit erstaunlicher Ge schwindigkeit auf die Pferde zu. Das war es, was Borroud erfaßt hatte, als Sun Koh seinen ersten Ruf ausstieß: Sein Gegner wollte ihm gleiche Bedingungen geben, er wollte sich keinen Vorteil zunutze machen. Dieser Gegner würde einem fliehenden Mann nicht in den Rücken schießen. Borroud floh. Sun Koh hetzte hinter ihm her, konnte aber nicht mehr verhindern, daß sich der überaus gewandte Halbindianer auf ein Pferd warf und auf dem Tier, das nicht einmal angekoppelt war, davonjagte. 85
Aber Borroud floh auf das Bergmassiv zu. Er wag te nicht, dem Gegner sein Gesicht zu zeigen. Sun Koh verzichtete darauf, ein Pferd zu nehmen. Er lief zu Fuß hinterher. Fünf Minuten dauerte die Jagd, dann sprang Bor roud vom Pferd und begann an der Felswand auf wärts zu klettern. Dreißig Meter kam er hoch, dann stand Sun Koh unter ihm. »Kommen Sie herunter, Borroud, stellen Sie sich zum Kampf!« Borroud antwortete nicht, sondern hastete weiter. Sun Koh folgte. Bis auf zehn Meter Abstand holte er auf, dann rollte sich Borroud über die Kante und verschwand. Jetzt zog Sun Koh die Pistole, blickte nach oben und tastete sich behutsam weiter. Borroud hatte augenblicklich beträchtliche Vorteile. Es war leicht möglich, daß er sie ausnützen wollte. Er brauchte sich nur zur Seite zu schleichen und zu war ten, bis der Kopf des Gegners hochkam. Oben rührte sich nichts. Drei Meter bis zur Kante. * Hal und Nimba hatten zwar eine halbe Stunde gewar tet, dann waren sie von Ungeduld und Sorge vor wärtsgetrieben worden. Sie rannten so, daß sie das 86
Lagerfeuer bereits sahen, als sich Borroud eben zur Flucht wandte. Sie mißverstanden aber die Lage. »Vorwärts!« schrie Hal. »Borroud reißt aus. Wir müssen Sun Koh den Rücken decken.« Hal war schon ein Stück voraus und jagte auf Mac und Paolo zu. Er war entschlossen zu schießen, sobald einer der beiden Männer eine Waffe auf Sun Koh richtete. Doch die beiden dachten nicht daran. Mac starrte erst hinter Borroud und Sun Koh her, dann half er dem schwer angeschlagenen Paolo auf die Beine. »Hände hoch!« fuhr Hal sie an, als er weit genug herangekommen war. Mac hob die linke Hand, während er mit der rech ten weiterhin den noch schwankenden Paolo stützte. »Wir haben keine Waffen!« »Macht keine Flausen, sonst…« Mac schüttelte den Kopf. »Sie verkennen die Lage. Borroud ist genauso un ser Feind wie der Ihre. Er hat uns die Waffen abge nommen.« »Ach nee. Und deswegen haben Sie ihm wohl eben geholfen, daß er ausreißen konnte?« »Wieso geholfen?« murmelte Mac verblüfft. Paolo begriff schneller als Mac. »Borroud hat mich niedergeschlagen«, stöhnte er mühsam. »Ich wollte die Gelegenheit nutzen und ihn überwältigen.« 87
Hal stieß einen Pfiff aus. »So steht die Sache? Na schön! Nimba, du bleibst hier und läßt die beiden nicht aus den Augen.« »Ist gemacht!« Hal hetzte weiter. Borroud war beritten und hatte die Felswand schon bald erreicht. Dort standen noch mehr Pferde. Hal schwang sich auf ein Pferd und ritt los. Die beiden Männer arbeiteten sich bereits an der Schrägwand aufwärts. Hal wußte, warum Sun Koh nicht schoß, er erfaßte aber auch, daß da ein gefährli cher Punkt kam. Zweihundert Meter war er noch entfernt, als Bor roud über die Kante kippte. Sun Koh konnte ihn nicht mehr sehen, aber Hal konnte noch jeder Bewe gung folgen. Hal sprang ab, zwang sich gewaltsam zu tiefem Atem und legte sein Gewehr an. Der Kerl dort oben duckte sich zur Seite und wollte wohl auf Sun Koh schießen, solange der noch in der Wand stand. Da knallte der Schuß. Borroud, in dessen unmit telbarer Nähe die Kugel aufgeschlagen sein mußte, ruckte erschreckt hoch und lief in die Deckung eini ger großer Blöcke hinein. Sun Koh wandte sich um. Hal schwenkte das Ge wehr. »Hinauf, Sir! Sie können hinauf!« Sun Koh verstand, wenig später schwang er sich 88
über die Kante, da verschwand Borroud hinter einer Felsnase. Patsch! Wie ein derber Stockschlag knallte der Schuß ge gen Sun Kohs linken Arm. Er warf sich in Deckung. Borroud war weiter geflohen, hatte sich aber fünf zig Meter entfernt hinter einen Block gelegt und ge schossen, als Sun Koh um die Felsnase herumkam. Jetzt rannte er weiter. Freies Gelände lag vor ihm. Sun Koh hakte den durchschossenen Arm in die Hemdöffnung ein und folgte. Borroud legte eine be trächtliche Geschwindigkeit vor. Er war ein guter Läufer, aber sein Verfolger war schneller. Er holte auf. Sie befanden sich in einem niedrigen Kessel. Rechts stand eine hohe Steilwand, aber sonst stiegen die zerklüfteten Wände nur zwanzig Meter hoch, dann ging es flach weiter. Borroud lief geradeaus auf die sperrende Wand zu. Sein Vorsprung genügte, um weit genug hochzukommen und oberhalb neue Stel lung zu beziehen, falls Sun Koh nicht die bisherige Rücksicht fallen ließ. Vierzig Meter vor der Wand blieb Sun Koh ste hen. Borroud befand sich schon auf halber Höhe. »Herunter, Borroud, sonst schieße ich!« Borroud kletterte weiter. Da schoß Sun Koh. Er zielte aber nicht auf den 89
Mann sondern einen halben Meter darüber auf den Fels. Steinsplitter spritzten. Borroud verharrte er schreckt. »Herunter, Borroud!« rief Sun Koh wieder. Ein zweiter Schuß folgte. Er schlug an der glei chen Stelle ein wie der erste. Da wandte Borroud den Kopf und sagte: »Ich er gebe mich!« Sun Koh kam langsam näher, während Borroud abstieg. Fünf Meter über dem Boden erreichte er ei nen Vorsprung, auf dem er bequem stehen konnte. Dort drehte er sich um. »Sie haben mich gestellt«, sagte er wie beifällig. »Sie irren sich aber, wenn Sie annehmen, daß ich Francisco Geraldos Mörder bin. Wenn Sie das Kol benschild der Pistole, die neben Ihren Füßen liegt, ablösen, werden Sie den Beweis für meine Unschuld finden.« Er drehte sich wieder um und bückte sich zu gleich, um den Abstieg fortzusetzen. Sun Koh mach te eine Bewegung nach Borrouds Waffe. Zwei Schüsse fielen gleichzeitig. Borroud brauchte eine günstige Gelegenheit, um die kleine Pistole zu benutzen, die er gewohnheits mäßig unter der Achselhöhle trug. Es schien ihm nicht ungünstig, in dem Augenblick zu schießen, in dem sich der Gegner bückte. Sun Koh wußte aber von Valdina her, daß Borroud 90
eine Waffe unter der Achselhöhle zu tragen pflegte. Er wußte, daß jener einen heimtückischen Angriff versuchen würde. Deshalb führte er seine Bewegung nur scheinbar aus und warf sich noch rechtzeitig zur Seite. Zwei Schüsse. Borroud taumelte, stürzte, schlug auf die harten Felskanten auf und rollte über das Geröll herunter. Reglos blieb er liegen: Sun Koh trat zu ihm und beugte sich über ihn. Herzschuß . Die Rache war vollzogen, das Urteil vollstreckt. * Die Nacht lag über dem Mato Grosso. Sun Koh saß mit Nimba, Hal und dem rothaarigen Mac um das zusammenfallende Feuer herum, dessen Schein noch rötlich gegen ihre Gesichter glühte. Der verwundete Hermann schlief weiter zurück unter ei nem Baum. Paolo Cortas sang. Er saß fünfzig Meter abseits im Dunkeln auf ei nem Felsblock und sang halblaut vor sich hin, als hätte er alle anderen vergessen. Manchmal summte er auch nur. Er besaß eine angenehme Stimme, und gerade deshalb ging wohl die Melancholie unter die Haut. 91
»Das kann ja einen Hund zum Heulen bringen«, murrte Hal. »Sein Tick«, murmelte der rothaarige Mac. »Ein guter Kamerad, aber er singt gern.« Sun Koh erhob sich und ging zu Paolo hinüber. Der Mann interessierte ihn. Paolo sah aus einiger Entfernung noch jung aus, aber er hatte bestimmt schon die Mitte der Dreißig erreicht. Sein gutge schnittenes Gesicht zeigte aus der Nähe nicht nur die lederne Verwitterung eines rauhen Lebens, sondern auch die scharfen Falten der Erfahrung. Trotz der ruhigen braunen Augen war es ein wachsames und zugleich verschlossenes Gesicht, das Gesicht eines Mannes, der auf sich selbst steht, mit Gefahr rechnet und gewöhnt ist, mit Gefahr umzugehen. Paolo verstummte, als Sun Koh neben ihm auf tauchte und sich auf einen anderen Felsblock setzte. Sie schwiegen eine Weile, dann sagte Sun Koh halb laut: »Sie singen gut, aber Sie singen, als ob Sie ein sam wären.« »Ich bin allein«, antwortete Paolo gleichmütig in die Dunkelheit hinein. »Sie haben Freunde.« »Kameraden«, berichtigte der andere. »Wir sind Kameraden wie die drei Beine eines Schemels. Jedes Bein ist für die anderen notwendig, aber alle drei zu sammen geben doch weiter nichts als eine Gelegen heit zum Sitzen. Wir haben uns vor zwei Jahren zu 92
sammengefunden, weil es zweckmäßig war, und ei nes Tages werden wir uns wieder trennen und uns vergessen.« »Sie sind Diamantensucher?« »Weder von Geburt noch als Beruf. Sie könnten uns ebensogut Abenteurer oder Landstreicher nen nen. Diamantensucher? Na gut, auch das ist ein Grund, kreuz und quer durch das Land zu reiten.« »Sie reiten gern?« Die Antwort kam mit einiger Verzögerung. »Ich war Gaucho. Reiten war mein Leben.« Sun Koh spürte, daß er an eine Wunde rührte, aber er stieß trotzdem weiter vor. »Und warum suchen Sie jetzt Diamanten?« Wieder blieb die Antwort eine Weile aus. »Warum sucht man Diamanten? Immerhin ist es eine Chance, reich zu werden, und es gibt wenig Menschen ohne die Einbildung, daß sie Reichtum gebrauchen können.« »Und was würden Sie tun, wenn Sie reich wären?« »Was ich tun würde? Ich weiß es nicht, Senhor – nicht mehr. Ich habe zehn Jahre lang davon geträumt, reich zu sein, und in den ersten Jahren war es schlimm mit solchen Träumen. Jetzt sind sie schal geworden. Zu spät! Ich habe einmal davon geträumt, in die Pampas zurückzukehren und mir eine Hazien da zu kaufen, größer als – nun, als andere, die ich kannte. Aber zehn Jahre sind eine lange Zeit. Wenn 93
ich jetzt reich wäre, würde ich wohl auch kaum et was anderes tun als bisher, nämlich durch das Land reiten, um zu reiten und nicht an einem Ort zu blei ben.« »Sie kennen das Land?« »Wer kennt es schon?« fragte Paolo zurück. »Süd amerika ist groß, und schon das Mato Grosso ist zu groß, um sich auszukennen. Aber es gibt wenige Ge biete, durch die ich nicht bereits geritten bin.« »Ich könnte einen landeskundigen Führer gebrau chen.« »Nach Cuyaba?« »Nein. Mir schwebt ein Ritt nach Villa Bella vor, und von dort quer durch Bolivien über Santa Cruz nach Süden in die argentinische Pampas.« »Nicht leicht, Senhor, nicht leicht und sogar ge fährlich. An der bolivianischen Grenze gibt es üble Räuberbanden. Immerhin – Sie könnten es schaffen.« »Wollen Sie die Führung übernehmen?« »Ich bin mit den anderen zusammen.« »Und wenn sich das regeln ließe?« »Nun, warum nicht? Wo wollen Sie hin?« »In die Nähe von Rioja.« »Rioja?« Der schnelle Ausruf war mit einer heftigen Bewe gung verbunden. Der Name mußte Paolo Cortas er schreckt haben. »Was ist?« fragte Sun Koh. 94
»Nichts!« riegelte Paolo schroff ab, stand auf und ging tiefer in die Dunkelheit hinein. Er kam erst zu rück, als sich die anderen bereits schlafen gelegt hat ten. Am Morgen ritten Nimba und Hal weg, um die Pferde zu holen. Sun Koh blieb aus Rücksicht auf seine Armwunde bei den drei Diamantensuchern, die wegen Hermanns Verwundung auch bleiben mußten. Sun Koh benutzte die Gelegenheit, um sich mit den drei Männern zu unterhalten und sie sich genau anzusehen. Sein erster Eindruck wurde bestätigt. Die Männer waren Abenteurer, die irgendwann einmal durch eine bittere Erfahrung aus einem geordneten Leben her ausgeworfen waren, aber sie besaßen bei aller Härte einen anständigen Charakter. Sie würden es nicht schlechter als viele andere ertragen, den Fund ihres Lebens zu machen. Sun Koh weihte sie ein, nachdem Nimba und Hal zurückgekehrt waren. Die drei Männer glaubten ihm nicht, wenn sie auch so höflich waren, mit ihrer Mei nung zurückzuhalten. Dafür gingen ihnen die Augen über, als sie am nächsten Tag vor der Fundstelle standen. Sie benahmen sich eine halbe Stunde lang wie verrückt, aber dann bekamen sie sich wieder in die Gewalt. Paolo Cortas war der erste, der seine Handvoll herausgelesener Steine vor Sun Kohs Füße legte und sich hinsetzte. Er brachte es sogar fertig zu 95
lächeln, wenn auch ziemlich melancholisch. »Ihre Steine, Senhor. Sie hätten uns das ersparen sollen. Die Fundstrecke ist viel zu kurz. Sie reicht nicht einmal für Ihre Begleiter. Für uns lohnt es sich kaum, weiter unten oder oben abzustecken. Das ist ein typisches Bassin, in dem praktisch alles hängen geblieben ist, was das Wasser aus der Tonbank her auswaschen konnte. Trotzdem meinen Glück wunsch.« »Danke«, sagte Sun Koh, während die beiden an deren näher kamen. »Meinen Glückwunsch auch. Ich möchte nämlich den Fund mit Ihnen teilen, falls Sie Ihren Anteil an Arbeit übernehmen. Ich denke, er reicht, um allen genug in die Satteltaschen zu brin gen, und mehr können wir doch nicht sichern. Das Land ist ziemlich wild, und eine Eintragung in Cuyaba wäre nicht nur mühsam, sondern würde auch durchsickern und mehr Männer in Bewegung setzen, als uns lieb sein kann. Ich halte es für das beste, un seren Anteil herauszuholen und den Rest zu verges sen.« »Was denn?« schnappte der rothaarige Mac. »Sie wollen im Ernst – verdammt noch mal!« Sie wehrten sich anfangs, aber es fiel nicht allzu schwer, sie zu überreden. Selbst Paolo Cortas wurde fiebrig, als er begriff, daß der Reichtum nun greifbar vor seinen Füßen lag. Er sang viel an diesem Abend, nachdem die Dun 96
kelheit hereingebrochen war. In seinen halblauten Liedern klang neben einer stärkeren Melancholie et was Neues, Unruhiges und Leidenschaftliches auf, das an einen wilden Ritt über die unendlichen Ebe nen der Pampas erinnern konnte. Sun Koh folgte ihm abermals in die Dunkelheit. »Sie können das nicht wagen, Senhor«, sagte Pao lo. »Sie können nicht mit den Satteltaschen voll Rohdiamanten über die Grenze nach Bolivien und nach Süden reiten. Es gibt unterwegs tausend erfah rene Augen, die schon am Gewicht oder an der Straf fung der Schnallen stutzen würden, und zehntausend Banditen, denen eine Handvoll Diamanten ein Men schenleben wert ist. Es wäre fahrlässig.« »Sie wollen uns nicht begleiten?« »Das habe ich nicht gesagt. Wenn Sie uns diese Steine lassen, bin ich reich, aber mir ist, als hätte sich doch nichts geändert. Im Augenblick bedeuten sie nicht mehr als Kieselsteine. Nur – es wäre eben leichtsinnig und fahrlässig.« »Ja«, bestätigte Sun Koh. »Wir werden mit leeren Satteltaschen reiten, falls Sie genügend Vertrauen in mich und in Ihre Kameraden aufbringen können.« »Das heißt?« »Nimba und Ihre beiden Kameraden werden mit allen Steinen nach Cuyaba reiten. Von dort aus gibt es eine Flugverbindung nach Cordoba oder auch Buenos Aires. Nimba wird Ihren Anteil deponieren, 97
wo es Ihnen recht ist. Er wird in Cordoba auf uns warten, bis wir dort eintreffen. Möglicherweise neh men wir von Santa Cruz aus auch ein Flugzeug.« »Sie haben viel Vertrauen zu Ihrem Diener.« »Natürlich.« Paolo Cortas schwieg lange. Endlich sagte er ge lassen: »Mir ist alles recht, Senhor. Wir können je derzeit reiten.« 5. »Das ist ein Leben!« stöhnte Hal aus tiefstem Beha gen heraus und wälzte sich faul auf die andere Seite. Die Sonne schien auf den rötlichen Felsen. In der Ferne verlor sich die weite Ebene in schwachem bläulichem Dunst. Auf den Grasstreifen, die sich zwischen Felsblöcken am Hang hinunterzogen, knabberten die Pferde mit genießerischer Andacht. Sun Koh lag auf dem Rücken und starrte in den Himmel, der mit reinem blassem Blau unwahrschein lich hoch über ihm stand. Paolo war beschäftigt. Er stand etwas abseits, die Beine breitgespreizt, den Oberkörper leicht vorge legt. Er trieb ein seltsames Spiel. Sekundenlang ver harrte er in völliger Reglosigkeit mit schlaff hängen den Armen. Plötzlich fuhr er mit der rechten Hand zum Pistolenhalfter, riß mit kaum zu verfolgenden Bewegungen die Pistole heraus, brachte sie hoch und 98
ließ den Hahn klicken. Dann schüttelte er den Kopf, steckte die Pistole wieder weg und begann das Spiel nach einigen Sekunden von neuem. Hal sah sich das eine Weile an, dann sagte er: »Was Sie da machen, ist glatte Aufschneiderei. Die berühmte Pampas, durch die wir nun schon einige Tage bummeln, ist das friedlichste Land der Erde. Bis jetzt haben wir nur kleine Rancher, Viehknechte und Händler getroffen. Pistolen tragen die Leute ja hier alle, aber wahrscheinlich doch nur, damit sie sich nicht den Blinddarm erkälten.« »Wir sind jetzt dicht an der Grenze, da könnten wir auch auf weniger friedliche Leute treffen. Hast du nicht gehört, was der Händler gestern abend erzählte?« Hal richtete sich etwas auf. »Sie meinen das von der Bande, die hier in den Bergen stecken und alle Rancher vertreiben soll? Pah, Sie sollten sich Ihre Freiübungen getrost sparen. Meinen Sie nicht auch, Sir?« Sun Koh wandte den Kopf etwas. »Laß doch Paolo sein Vergnügen. Es wäre aber besser, wenn er versuchte, von der Hüfte aus zu schießen.« »Sicher«, meinte Paolo eifrig. »Aber dazu gehört eine besondere Begabung. Ich habe überhaupt nur einen kennengelernt, der es konnte.« »Ich weiß«, sagte Sun Koh lächelnd und blickte wieder zum Himmel. 99
Nach einer Weile tauchten ein halbes Dutzend Reiter auf. Es waren offenbar Gauchos ohne Arbeit. Sie führten, an die Sättel angeschnallt, Bündel mit ihren Habseligkeiten mit sich. Der Trupp hielt an, als er die drei bemerkte. Einer der Gauchos ritt ein Stück vor. »Hallo?« rief er. »Ihr habt’s euch ja reichlich be quem gemacht. Seid ihr Weidereiter?« »Vielleicht«, sagte Paolo zurückhaltend. »Vielleicht?« wiederholte der andere und ließ et was Mißtrauen mitschwingen. »Nun, mir soll’s gleich sein. Ich dachte nur, ihr könntet vielleicht ei nen Rat gebrauchen, falls ihr nach Arbeit sucht.« »Einen guten Rat kann man immer gebrauchen«, sagte Paolo. »Kommt ihr von Cavarro?« »Ja, und wenn ihr dort unten etwa Beschäftigung suchen wollt, könnt ihr gleich wieder umkehren. Die Hazienderos nehmen keinen mehr an, sondern ent lassen ihre Leute.« Paolo hob die Brauen. »Ach! Halten die Hazienderos neuerdings ihre Herden selber zusammen?« Der Reiter lachte unlustig auf. »Da brauchen sie sich nicht mehr groß anzustren gen. Für die Herden haben andere zu gut gesorgt.« »Hm, es ist früher auch schon an der Grenze Vieh gestohlen worden. Aber die Weidereiter haben den Viehdieben noch immer das Handwerk gelegt!« 100
Das Gesicht des Weidereiters färbte sich dunkel. »Achten Sie auf das, was Sie sagen«, warnte er zornig. »Das wirkt wie eine Beleidigung. Wir haben das Unsere getan und einige Kameraden eingebüßt. Aber gegen diese Bande ist nichts zu machen. Und wenn der Haziendero aufgibt und seine Weidereiter entläßt, bleibt denen schon nichts anderes übrig, als weiterzuziehen.« »Ich wollte euch nicht beleidigen«, entschuldigte sich Paolo. »Greift denn die Regierung nicht ein?« »Schon, aber genutzt hat es nichts. Aber reitet nur nach Cavarro, dort werdet ihr mehr erfahren. Und macht euer Testament, falls ihr zufällig zur beritte nen Polizei gehören solltet. Ihr wäret nicht die ersten, die als Gauchos ins Land gekommen sind und später als Polizisten beerdigt wurden.« Der Trupp ritt weiter. Paolo blickte ihm nachdenk lich nach. Ungefähr eine Viertelstunde später näherten sich abermals Huf schlage. Ein einzelner Reiter erschien. Es war ein älterer Gaucho, der auf seinem hochbei nigen starken Pferd fast zierlich wirkte. Trotzdem hatte seine Erscheinung nichts Schwächliches an sich. Der Mann wirkte so sehnig und zäh, als ob er große Anstrengungen aushalten könne. Sein Gesicht hatte allerdings etwas Unruhiges. Auffällig waren einige große Zahnlücken, die sich beim Sprechen zeigten. 101
Der Reiter sprang gleich nach dem üblichen Zuruf ab und kam näher. »Hol mich der Teufel«, rief er, »wenn ich mir hät te träumen lassen, zwischen Cavarro und Santos noch einer Menschenseele zu begegnen. Man nennt mich Juan Alba. Kommt ihr von Santos her?« Paolo nickte und murmelte ebenfalls seinen Na men. Alba fuhr dann gleich schnell und geschwätzig fort: »Habe ich mir doch gedacht. Weidereiter, was? Seid wohl neu im Lande?« Paolo nickte abermals. »Habe ich mir auch gedacht«, sagte Alba grinsend. »Ich schätze, daß ihr von Osten her gekommen seid, dort trägt man solche Gürtel. Ihr habt auch das Sat telzeug etwas anders als hier üblich ist. Schöne Pfer de übrigens. Ich interessiere mich für Sättel und ähn liches Zeug. Man nennt mich den ›Närrischen Juan‹, weil ich solche ausgefallenen Sachen liebe. Wenn ihr nichts dagegen habt…« Er wartete gar nicht erst auf irgendwelche Einwän de, sondern schritt auf die Pferde zu, so daß Paolo und Hal nichts übrigblieb, als zu folgen. Auch Sun Koh erhob sich und kam nach. Alba trat zuerst an Sun Kohs Pferd heran und mu sterte den Sattel. Er redete dabei ohne Unterbrechung über die Vorzüge und Nachteile der Sättel aus den verschiedenen Landstrichen. Anscheinend verstand er wirklich eine ganze Menge davon. 102
Paolos Pferd und Sattel folgten, dann nahm sich Alba den Sattel Hals vor. Er hatte ihn kaum aus der Nähe betrachtet, als er abbrach. Das geschah mit ei ner Bewegung, die so viel Staunen und Überra schung verriet, daß Paolo fragte: »Na, was haben Sie denn?« Alba machte einen Schritt weiter vor und brachte seine Augen noch einmal dichter an den Sattel, dann wandte er sich langsam um. Sein Gesicht hatte jede Freundlichkeit und zugleich jede Unruhe verloren. Nur schärfere Spannung lag über ihm. »Nichts«, erwiderte er heiser. »Es ist nur – ich wußte ja, daß es was zu bedeuten hatte, als ich euch hier traf. Hände hoch!« Paolo, Hal und Sun Koh blickten sprachlos auf die beiden Waffen, die Alba hervorgezaubert hatte und auf sie richtete. Alle drei hoben die Arme. »Tut mir leid«, erklärte Alba, »aber ich denke, es wird mir nichts anderes übrigbleiben. Es geschieht euch nichts, solange ihr die Hände oben behaltet. Seid vorsichtig, ich habe noch nie danebengeschos sen. Ihr nehmt jetzt die rechte Hand langsam herun ter und zieht mit zwei Fingern eure Pistole. Laßt sie herunterfallen.« »So ängstlich?« fragte Sun Koh spöttisch. »Verdammt ängstlich«, sagte Alba. »Ich kannte einen, der sprach genauso kalt wie Sie, wenn er dicht 103
dabei war loszuschlagen. So, Arm wieder hoch. Nun das Baby.« Die letzte Pistole fiel. Alba befahl den dreien zu rückzutreten, dann las er die Waffen auf, ohne die Männer aus den Augen zu lassen. »So nun setzt euch hin«, befahl er dann. »Leute die sitzen, sind halb so gefährlich wie andere, die stehen. Ich werde jetzt eure Waffen und Pferde mit nehmen. Die Waffen findet ihr hundert Meter weiter auf dem Weg nach Cavarro. Die Pferde binde ich jenseits des Passes, etwa zwei Stunden Marsch von hier aus, an. Ihr werdet sie schon finden.« Er holte die Pferde, koppelte sie aneinander und schwang sich auf sein eigenes Pferd. Er hielt sich dabei aber immer die rechte Hand frei, so daß er je derzeit zur Pistole greifen konnte. Den dreien blieb nichts übrig, als alles geschehen zu lassen. Sie erhoben sich erst, als Alba mit den Pferden hinter den Felsen verschwand. »So ein Halunke«, stöhnte Paolo hinter ihm her. »Habe ich nicht gleich gesagt, daß in diesem Lande allerlei geschehen kann?« »Aber nicht solcher Quatsch!« brauste Hal auf. »Es muß sich um Hals Pferd oder Sattel handeln«, meinte Sun Koh nachdenklich. »Der Mann suchte et was, und an Hals Pferd hat er gefunden, was er such te.« »Aber…« 104
»Vorwärts! Wir marschieren hinterher. Erst müs sen wir wieder zu den Waffen und zu den Pferden kommen.« Hundert Meter weiter fanden sie alle Pistolen auf einem Haufen. Alba war nicht mehr zu sehen. Sie setzten ihren Weg nach Cavarro zu Fuß fort. Nach annähernd zwei Stunden fanden sie auch die Pferde am Rand eines Tannengehölzes. Aber Hals Sattel war verschwunden. Sein Pferd trug einen anderen Sattel, nämlich den, der sich vor hin auf Albas Pferd befunden hatte. »Der Kerl hat den Sattel gemaust«, stellte Hal er staunt fest. »Also doch der Sattel«, überlegte Sun Koh laut. »Was mag er an ihm so bemerkenswert gefunden haben? Wie steht’s mit dem Inhalt deiner Sattelta sche?« Hal wühlte. »Alles da, aber der Zettel hier ist dazugekom men.« Er reichte Sun Koh den Zettel. Es war ein schmie riges Stück Papier, auf dem einige Zeilen mit Blei stift geschrieben standen. »Fremde! Den einen Sattel habe ich an mich ge nommen. Ich lasse euch dafür meinen Sattel und werde euch später dafür entschädigen. Juan Alba.« Das war alles. Cavarro war eine ganz stattliche Ortschaft, soviel 105
man nach Anbruch der Dunkelheit davon sehen konnte. Sun Koh und seine Begleiter hielten vor dem Gast haus, einem zweistöckigen Bau, an und schwangen sich aus den Sätteln. Drinnen ging es allem Anschein nach hoch her. Laute Stimmen schallten heraus, an den Pflöcken stand eine lange Reihe von Pferden an gebunden. Sun Koh prallte fast zurück, als er vor den beiden anderen als erster in das Gastzimmer trat. Eine er stickende Wolke von Rauch, Ausdünstung und Al kohol schlug ihm entgegen. Mehr als zwei Dutzend lärmende Männer befanden sich in dem nicht gerade großen Raum. Er war dicht daran umzukehren, aber inzwischen hatte sein Eintreten schon Aufsehen erregt, so daß seine Umkehr als Flucht gewertet worden wäre. »Hallo!« rief einer der Männer und stieß dabei sei nen Nachbar an, so daß dieser torkelte. »Was kom men denn dort für Vögel? Du hast dich wohl verlau fen, Fremder.« Sun Koh antwortete nicht auf die dreiste Frage. Er trat an den Schanktisch und winkte den Wirt heran. »Können wir bei Ihnen schlafen?« Der Wirt nickte und beugte sich vor. »Ja, gehen Sie aber zur Hintertür, ich lasse Sie ein. Hier kann ich Sie jetzt nicht bewirten. Ich…« Sun Koh hörte ihm schon nicht mehr zu, sondern 106
wandte sich zur Gaststube um. Die Meute brüllte, Zurufe und Bemerkungen na gelten durch die Luft. Paolo stand weiß vor Zorn im Raum. Dann sah er in seiner Nähe einen Mann. Seine Faust schoß vor, der Mann überschlug sich, und schon brodelte die Hölle auf. »Ruhe!« rief Sun Koh. Der Lärm riß jäh ab. Aber es war nicht Sun Kohs Ruf allein, der das bewirkte. Ein anderer Mann hatte gleichzeitig mit ihm gerufen. Dieser Mann schob jetzt seine Kameraden beiseite und trat mit schweren Schritten vor. Er war groß und stark, sein grobge schnittenes Gesicht ließ einen Schuß Negerblut in seinen Adern vermuten. »Ruhe!« wiederholte er mit weniger Stimmenauf wand. »Seid ihr denn verrückt, soviel Lärm zu ma chen? Die Herren müssen ja daran zweifeln, daß ihr guterzogene Leute seid? Was sollen sie zum Beispiel über euch denken, wenn sie zufällig von der Regie rung ausgeschickt sind? Wollt ihr etwa Polizisten, die wegen der Viehdiebstähle hierher gekommen sind, mitten in Cavarro über den Haufen schießen, he?« Mehr noch als Wortlaut und Tonfall zeigten die Gesichter der Männer, daß der Mann mehr sagte, als seine Sätze hergaben. Die Leute blickten sich gegen seitig an und sahen mit neuem Interesse auf Sun Koh und seine Begleiter. »Danke«, sagte Sun Koh ruhig. »Wir sind zwar 107
nicht von der Polizei, aber es ist auch uns angeneh mer, nicht in den ersten drei Minuten in eine Schlä gerei verwickelt zu werden.« »Bitte sehr«, knurrte der andere ironisch. »Die Männer der Hazienda Arribo sind immer die besten Freunde der Polizei gewesen. Sie sind doch von der Polizei, nicht wahr?« »Ich sagte Ihnen schon, daß wir mit der Polizei nichts zu tun haben. Wir sind – Weidereiter, die Be schäftigung suchen.« Der andere kniff das linke Auge zusammen. »Was? Weidereiter, die in Cavarro Beschäftigung suchen?« Er lachte laut und schallend auf, und die anderen lachten mit. »Gibt es dabei etwas Lächerliches?« erkundigte Sun Koh sich scharf. »Natürlich. Nur ein Polizist kann so dumm sein, als Weidereiter ausgerechnet nach Cavarro zu gehen. Aber die Herren von der Polizei sind unsere besonde ren Freunde. Sie haben bei uns nichts zu befürchten. Jim wird seinen Schlag einstecken und ein Glas mit Ihnen trinken.« »Verdammt will ich sein«, murmelte Jim aus dem Hintergrund. »Vielleicht sind sie gar nicht von der Polizei?« »Sind wir auch nicht«, sagte Sun Koh. »Macht das einen Unterschied?« 108
Der Wortführer wiegte den Kopf hin und her. »Hm, nicht viel, Fremder. Nur, daß wir sonst unse re Meinungsverschiedenheiten auszutragen pflegen, wie es unter Männern üblich ist.« »Das ist ein Wort!« stöhnte Paolo befriedigt. »Wo ist das Bürschchen, das mich beschimpft hat?« »Von mir aus können die beiden ihren Streit aus tragen«, erklärte Sun Koh. Die Umstehenden drängten etwas zurück, so daß für die beiden Kampfhähne freier Platz entstand. Jim sprang Paolo wie eine Wildkatze an. Doch Paolo war bedeutend stärker. Der Kampf war von vornherein entschieden. Paolo schüttelte den Mann von sich ab, spielte ein bißchen mit ihm und versetzte ihm dann einen Kinnhaken, der den Weidereiter hinlegte. Soweit ging alles in Ordnung. Zwei Männer hatten ihre Meinungsverschiedenheiten ausgetragen. Aber nun wurde das Publikum unruhig. Schimpf worte und gehässige Bemerkungen flogen durch den Raum, ein paar Stimmen hetzten, man möge die Fremden hinauswerfen. Der Wortführer war von dem Ausgang offenbar auch wenig befriedigt. »Kunststück«, brummte er verächtlich zu Sun Koh hin. »Ihr Mann hat sich gerade den Schwächsten aus gesucht. Wenn ich nicht der Vormann Mollogon und Sie nicht einer von den Berittenen wären, würde ich dem Bastard schon zeigen, was ich…« 109
»Bleiben Sie vernünftig«, mahnte Sun Koh. »Für eine allgemeine Schlägerei liegt kein Grund vor.« Mollogon schielte mit tückisch blinzelnden Au gen. »Eine allgemeine Schlägerei? Nee, Fremder, wenn ihr nicht von der Polizei seid, dann gibt es höchstens einen Hinauswurf für euch.« Ganz überraschend mischte sich der Wirt ein. Er beugte sich weit über den Schanktisch, so daß sein Mund fast das Ohr des Vormanns erreichte. »Mollogon, sie sind von der Polizei. Ich habe sie schon in Villa Bella gesehen.« Mollogon riß sich sofort zusammen. »So, also doch«, murmelte er und winkte seine Leute zurück. »Nun, Fremder, an uns soll’s nicht lie gen. Wir sind rauhe, aber anständige Burschen, die lieber einem Streit aus dem Weg gehen. Aber dieser Mann da hat mich persönlich beleidigt. Ich denke, es ist nur recht und billig, wenn wir unseren Streit aus tragen.« »Nein«, lehnte Sun Koh ab. »Ebensogut könnte ich sagen, daß Sie mich beleidigt haben, denn Sie haben meinen Begleiter beschimpft. Sie müssen sich schon an mich wenden, wenn Sie weitere Auseinan dersetzungen wünschen.« »Ist mir auch recht«, sagte Mollogon grinsend. »Ich habe mir schon lange einen anständigen Box kampf gewünscht.« 110
Sun Koh schüttelte den Kopf. Es lag etwas Sinnlo ses in diesem ganzen Auftritt. Selbst wenn es nicht zum Ausbruch kam, so blieb eigentlich nichts übrig, als das Feld zu räumen. »Es ist sinnlos«, sagte er nachdenklich. »Ich habe keine Lust, Mollogon, mich mit Ihnen herumzu schlagen.« Der Vormann sah aus, als wollte er spucken. »Ah, Sie kneifen?« Sun Koh sah die höhnischen Gesichter ringsum und verstand plötzlich. Mollogon rechnete gar nicht ernstlich mit einem Kampf, weil er sich viel zu über legen fühlte. Es lag ihm offenbar auch nichts an ei nem Kampf, wohl aber viel daran, die vermeintlichen Polizisten zu demütigen. Was hier geschah, würde morgen die ganze Umgebung wissen. Und ein Poli zist, der sich feige gezeigt hat, durfte kaum auf Un terstützung rechnen. Das war es. Mollogon wollte diese Polizisten von Anfang an isolieren, wollte den Hazienderos und Weidereitern von vornherein die Lust nehmen, bei ihnen eine Stütze zu suchen. Den Kampf ausschlagen hieße sich freiwillig verfemen. Mollogon war schlau. Aber warum? Hatte er Gründe, sich bei der Polizei anzubiedern und sie doch zugleich entscheidend zu schädigen? »Sie irren sich«, erwiderte Sun Koh ruhig. »Ich schlage den Kampf nicht aus, ich finde nur, daß er 111
sinnlos ist und sich vermeiden läßt.« Mollogon lachte spöttisch. »Gut gesagt. Ist es in der Gegend, aus der Sie kommen, üblich, daß man sich Feigheit vorwerfen läßt, ohne mit der Wimper zu zucken?« Die Frage bestätigte alle Annahmen Sun Kohs. Mollogon wollte ihn bloßstellen. Die Genugtuung sollte er jedoch nicht haben. »Gut«, sagte er, wobei er seinen Gürtel löste. »Sie sollen Ihren Kampf haben. Aber ich mache zur Be dingung, daß Sie und Ihre Leute sofort den Gasthof verlassen, wenn Sie verlieren.« »Darauf können Sie sich verlassen. Zurück, Kame raden, der Herr will gegen mich antreten.« Zurufe bewiesen, daß niemand an seiner Überle genheit zweifelte. Die Männer drängten zurück, so daß einige Quadratmeter frei wurden. Mollogon und Sun Koh traten vom Schanktisch weg und stellten sich gegenüber. Mollogon leicht geduckt, Sun Koh straff und ohne Kampfhaltung wie vorher. »Na los, kommen Sie an«, hetzte Mollogon zum Angriff. Sun Koh hob nur die Schultern. Der Wille zum Kampf fehlte ihm immer noch. »Immer noch feige?« höhnte Mollogon. »Sie hof fen wohl, daß ich ihnen nichts tue, wenn Sie sich ein fach hinstellen? Eine kleine Probe gefällig?« Er schlug zu. Sun Koh wich aus, aber Mollogon 112
kam sofort mit der anderen Faust nach, und diesmal konnte Sun Koh nicht genügend ausweichen. Der Schlag traf ihn. Und nun trat plötzlich die Verwandlung ein. Die Männer ringsum waren Feinde. Wie ein Vulkan, der durch ewiges Eis hindurchbricht, schlug die Glut durch Sun Kohs starre eisige Zurückhaltung. Seine Haltung veränderte sich, seine Füße begannen zu spielen, die Faust schoß vor… Mollogon stieß einen dumpfen Laut der Überra schung und der Wut aus, als er getroffen wurde. Da mit begann erst der Kampf. Die Zuschauer hielten den Atem an, als die beiden Männer aufeinanderprallten. Mollogon war kein schlechter Boxer, verfügte über beträchtliche Kräfte und kämpfte mit der Wildheit eines Naturmenschen. Sun Koh setzte einen unbezähmbaren Willen zum Sieg, große Schnelligkeit und überlegene Technik dagegen. Er ließ sich nicht mehr treffen, obwohl es Mollogon auch mit Tiefschlägen versuchte, dafür traf er jedoch unbarmherzig mit genau angesetzten Schlägen, die die Deckung des Gegners durchbra chen. Mollogon war äußerst hart im Nehmen, aber da er immer nur einstecken mußte, wurde er doch schnell mürbe. Er schlug bald unsicher und blind zu, ging zu Boden, riß sich wieder hoch, kippte nach kurzem Schlagwechsel abermals zurück und kam taumelnd auf die Beine. Sun Koh ließ ihm Spiel 113
raum, um sich zu erholen. Als Mollogon aber nach einem Scheinangriff einen Tritt gegen den Unterleib versuchte, hieb Sun Koh noch einmal mit voller Kraft zu. Mollogon blieb liegen. Sun Koh stand eine Weile über ihm gebeugt, dann trat er zurück. »Hinaus!« Die Gauchos blickten sich unsicher an. »Nein«, brummte einer, »wir lassen uns doch nicht…« Sun Koh riß mit schneller Bewegung seine Pistole hoch. »Hinaus mit euch! Oder hat einer Lust festzustel len, wie ich schieße?« Die Männer blickten an ihm vorbei und schoben sich zur Tür. Dieser hellhaarige Fremde war ihnen doch nicht geheuer. Seine Augen sahen gefährlich aus, und die Hand, die eben Mollogon niedergeboxt hatte, zitterte jetzt nicht einmal. Sun Koh wies auf zwei Leute. »Ihr beide nehmt Mollogon mit. Gebt ihm kaltes Wasser, dann wird er bald zu sich kommen.« Die beiden packten zu und trugen ihren Vormann hinaus. Hinter ihnen verließen die letzten Weiderei ter den Raum. Hal hielt mit beiden Händen den Gürtel hin. Seine Augen leuchteten. »Sir, das war ein Kampf. Dem haben Sie’s aber gegeben!« 114
»Donnerwetter«, brummte Paolo ehrfürchtig. »Donnerwetter!« Der Wirt schwankte wie benommen hinter seinem Schanktisch vor. Seine Hand zitterte, als er sie Sun Koh hinstreckte. »Ihre Hand, Fremder«, sagte er zwischen Scheu und Dankbarkeit. »Seit zwei Jahren warte ich auf den Tag, an dem einmal ein Mann diese Bande aus mei nem Haus wirft!« Sun Koh atmete tief auf und gewann damit seine gewohnte Haltung zurück. »Ich hatte eher befürchtet, Ihr Geschäft zu schädi gen«, erwiderte er mit einem Anflug von Lächeln. »Können wir hier schlafen und etwas zu essen be kommen?« Der Wirt nickte gleich zehnmal. Dann erfuhr Sun Koh seine Geschichte. Sein Gasthof hatte einen guten Ruf genossen, bis es der Mannschaft von Arribo eingefallen war, öfter zu er scheinen. Es hatte Rauferei und Schießerei gegeben, so daß die anständigen Weidereiter allmählich aus blieben. »Dieser Mollogon schien aber großen Wert auf gute Beziehungen zur Polizei zu legen«, sagte Sun Koh. »Alles Heuchelei«, ereiferte sich der Wirt. »Der Kerl ist so durchtrieben wie stark. Offen gestanden, ich fürchtete das Schlimmste für Sie, deshalb be 115
hauptete ich, Sie wären von der Polizei. Mollogon ist nämlich zu klug, um öffentlich einen Polizisten nie derzuschießen. Das besorgt er heimlich und ohne Zeugen. Man kann ihm nur nichts nachweisen. Diese Leute sind keine Weidereiter, sondern Verbrecher. Und leider Gottes halten sie die ganze Gegend unter Druck. Jeder ist überzeugt, daß sie zu den Viehdie ben gehören, aber niemand konnte sie bisher stel len.« »Werden die Herden nicht bewacht?« »Doch, aber…« Der Wirt trat an den Tisch heran und begann mit dem Finger zu malen. »Ich will Ihnen die Verhältnisse erklären. Sehen Sie, das sind die Cavarroberge, ein kahles zerrissenes Felsmassiv. Es zieht sich fast genau von Norden nach Süden. Die Grenze schneidet rechtwinklig. Das Stück, das auf einer Seite an die Grenze, auf der an deren an die Berge stößt, ist die Hazienda Arribo. Auf der anderen Seite der Grenze liegt unmittelbar anstoßend die Sonora-Hazienda. Die gehört einem gewissen Satillo, der in Hermosillo sitzen soll. Die Mannschaft der Sonora-Hazienda ist von genau der gleichen Sorte wie die von der Arribo-Hazienda. Au ßerdem gibt es noch die Cavarro-Bande, die irgendwo in den Bergen steckt und von einem gewissen Laramie angeführt wird. Diese drei arbeiten Hand in Hand. Hüben wie drüben verschwinden die Herden. 116
Die Arribo-Mannschaft arbeitet drüben, die SonoraMannschaft bei uns, und die Cavarro-Bande vertreibt das Vieh. Und bezahlt werden die Kerle vermutlich alle aus einer Hand. Es steht schlimm um Cavarro. Beamte waren natürlich hier, aber soweit sie nicht verschwanden, mußten sie bestätigen, daß die Arri bo-Mannschaft zu Hause war, während hier gestoh len wurde. Ja«, er nickte trübe, »aussichtslos. Ja, wenn die Grenze nicht wäre! Und selbst dann. Das ganze Treiben geht von der Cavarro-Bande aus, und die ist zu gut versteckt. Man kommt nicht an sie her an.« Sun Koh ließ sich noch manches über die Verhält nisse erzählen, dann fragte er: »Kennen Sie einen gewissen Alba?« »Den närrischen Juan?« fragte der Wirt erstaunt zurück. »Ja, den kenne ich allerdings. Haben Sie ihn getroffen?« »Flüchtig, aber der Mann interessiert mich.« »Er ist ein komischer Kauz«, erzählte der Wirt be reitwillig, »aber eine grundanständige Haut. Er hat Pech gehabt und ist darüber wohl seitdem etwas selt sam geworden. Aber man darf ihn nicht unterschät zen. Hier wagt es keiner, ihm zu nahe zu treten, noch nicht einmal die Leute von Arribo. Juan war früher berühmt dafür, daß er seine Pistole schneller zog als jeder andere. Und er ist heute bestimmt nicht lang samer. Das wäre der richtige Mann, um mit der Ca 117
varro-Bande aufzuräumen, aber leider ist er eben in den zehn Jahren komisch geworden. Er hat nämlich zehn Jahre abgebüßt.« »Wofür?« »Mord«, sagte der Wirt kurz. »Man fand ihn bei einem Toten, und es gab drei Leute, die bezeugten, Alba habe den Mann von hinten niedergeschossen. Das war nicht hier, sondern weiter im Norden. Aber ich wette meinen Kopf, daß die drei einen Meineid geleistet haben.« »Er machte keinen schlechten Eindruck, aber of fenbar hat er eine Vorliebe für fremde Sättel.« »Dafür ist er berühmt. Er kann keinen Sattel se hen, ohne ihn von allen Seiten zu untersuchen. Des halb bezeichnet man ihn ja eben als närrisch.« »Wissen Sie, wo er sich jetzt aufhält?« »Er ritt heute morgen auf Santos zu. Aber er muß wieder umgekehrt sein. Einer der Weidereiter erzähl te, daß er ihn auf den Zwillingsberg habe zureiten sehen.« »Der Zwillingsberg?« »Er hat zwei Kuppen und gehört schon zu den Ca varrobergen.« »Ist es nicht gefährlich für Alba, in die Berge zu reiten?« Der Wirt hob die Schultern. »Vielleicht – vielleicht auch nicht. Die Bande weiß jedenfalls von seiner Narrheit und wird ihn 118
nicht für gefährlich halten, wenn er nicht gerade auf das Versteck der Leute zureitet.« Sun Koh stellte keine Fragen mehr. Er hatte sich bereits entschlossen, Alba zu folgen, um Aufklärung über den seltsamen Sattelaustausch zu erhalten. 6. Gegen Mittag des nächsten Tages befand Sun Koh sich mit seinen beiden Begleitern bereits inmitten der Berge. Sie waren früh aus Cavarro hinausgeritten, ohne viel von ihren Absichten zu verraten. Trotzdem entging es nur wenigen Leuten in Cavarro, in welche Richtung sie ritten. Die Kunde von den Ereignissen im Gasthof hatte noch am Abend die Runde durch den Ort gemacht. Sun Koh ritt voran. Seine Augen prüften aufmerk sam das Gelände. Viel Hoffnung hatte er jedoch nicht, auf diesem felsigen Boden Albas Spur zu fin den. Es war gegen Mittag, als sie ihre Pferde scharf an hielten. Ein Schuß war gefallen. Er hatte nicht ihnen gegolten, sondern war in größerer Ferne abgefeuert worden. Sekunden später folgte ein zweiter Schuß. »Gewehrschüsse«, murmelte Paolo. Sun Koh wies nach vorn links. »Dort zweigt eine Seitenschlucht ab, in ihr wird geschossen. Vorwärts!« 119
Der Knall zweier neuer Schüsse rollte an ihre Oh ren. Die Pferde griffen aus. Immer wieder peitschten Schüsse auf. Sie klangen jetzt gefährlich nahe, aber von den Schützen war nichts zu sehen. Erst als eine Kugel dicht an Sun Koh vorbeipfiff, entdeckte er ein Stück vor sich Alba. Sein Pferd stand hinter einem mächtigen Felsblock und knabberte unbekümmert an einem harten Busch. Alba selbst lag etwas seitlich hinter einem Geröll haufen und schoß in die Schlucht hinein. Er hatte die drei wohl schon kommen sehen, denn er wandte sich ohne jedes Zeichen von Überraschung um, winkte freundlich und rief: »Es ist besser, ihr nehmt Deckung. Es ist schon mancher an einer Ku gel gestorben, die ihm nicht gegolten hat. Ich schät ze, daß es mit dem, was ihr mir zu sagen habt, nicht ganz so sehr eilt. Erst muß ich noch diesen Kerl von der Cavarro-Bande, der dort vorn liegt, in…« Er vollendete nicht, sondern ruckte plötzlich auf, drehte sich halb auf die Seite und sank dann schlaff hin. Sein Gegner hatte gut gezielt. Sun Koh schwang sich vom Pferd und lief auf Al ba zu. Ein Schuß, der dicht an seinem Kopf vorbei sauste, belehrte ihn, daß es nicht ratsam war, lange so ungedeckt zu bleiben. Also hob er Alba kurz ent schlossen hoch und rannte mit ihm hinter den hohen Block, hinter dem die Schüsse keinen Schaden an richten konnten. 120
Alba lebte noch, aber es stand schlecht um ihn. Der Einschuß befand sich dicht hinter dem Schlüs selbein. Die Kugel mußte irgendwo in der Nähe des Herzens stecken. Es blieb wenig Hoffnung, daß Alba die Augen noch einmal aufschlagen würde. Doch er kam zu sich. Seine Augen blickten erst etwas irr, dann leuchtete das Verständnis in ihnen auf. »Teufel noch mal«, murmelte er, »hat mich der Kerl doch erwischt!« Sun Koh hielt behutsam die Schulter fest. »Sie dürfen sich nicht bewegen. Ruhe und Pflege werden Sie wieder hochbringen.« »Kommt mir anders vor. Mir ist, als würgt mich was von innen ab. Wird wohl der Tod sein. Seien Sie ehrlich.« »Es wird nicht mehr lange dauern, Alba.« Alba schien es nicht schwer zu nehmen. »Gut«, flüsterte er, »genau das habe ich mir ge dacht. Dann hören Sie zu und unterbrechen Sie mich nicht. In meiner linken Tasche finden Sie einen Zet tel. Ich habe ihn aus dem Sattel, den ich Ihnen weg nahm, herausgeholt. Es ist eine Zeichnung drauf. Sie werden sich schon zurechtfinden. Diese Schlucht ist mit aufgemalt. Wenn Sie die alte Hütte finden, gra ben Sie den Boden auf. Sie werden genügend Gold finden. Nehmen Sie’s als Ihr Eigentum, es hat nie mand Anspruch darauf. Passen Sie aber auf, daß es 121
Ihnen nicht so ergeht wie mir.« Er machte eine Pause, dann fuhr er fort: »Das war das Wichtigste. Das mit dem Zettel ist eine alte Ge schichte. Vor über zehn Jahren traf ich einen Mann, mit dem ich früher geritten war. Ein paar Verbrecher hatten ihn von hinten niedergeschossen. Er starb in meinen Armen, aber vorher erzählte er mir noch, daß er hier unten Gold gefunden habe, und wo es vergra ben sei. Der Plan steckte im Polster seines Sattels. Er war kaum gestorben, als man mich bei dem Toten fand. Die Kerle, die den Mord auf dem Gewissen haben, brachten mich durch falsche Aussage für zehn Jahre ins Gefängnis. Seit ich wieder frei bin, suche ich den Sattel. Ich wußte nicht mehr von ihm, als daß er eine gekreuzte Naht auf einem alten Riß neben der linken Tasche besaß. Gestern fand ich ihn endlich. Es war vielleicht dumm von mir, damit abzuhauen, aber ich wollte es nicht darauf ankommen lassen, Sie erst neugierig zu machen.« Er hatte immer leiser gesprochen. Jetzt setzte er völlig aus. Er schloß die Augen. Als ein Schuß über die Steine spritzte, öffnete er sie wieder. »Seid vorsichtig«, hauchte er unter Anstrengung. »Ich schätze, die Hütte befindet sich im Bereich der Cavarro-Bande.« Dann schwieg er wieder. »Wollen wir uns die Knallerei noch lange gefallen 122
lassen?« murrte Paolo. »Ich glaube, jetzt schießen sie schon zu zweit.« Sun Koh hob den Kopf. »Behaltet einstweilen Deckung, wir müssen erst feststellen, wen wir vor uns haben.« Er beugte sich wieder über Alba, fuhr aber sofort wieder hoch. Hal stieß einen Schrei der Verwunde rung und des Schreckens aus und griff nach seiner rechten Schulter. Dann schlug er lang hin. Sun Koh und Paolo waren gleichzeitig bei ihm. »Was ist?« Sun Koh schob das Hemd zurück. »Schuß durch die rechte Schulter«, sagte er düster. »Die Lunge ist anscheinend unverletzt. Verbands zeug, Paolo!« In den nächsten Minuten waren beide mit dem Jungen beschäftigt. Als Sun Koh wieder an Alba dachte und nach ihm sah, fand er einen Toten. »Alba ist tot«, verständigte er Paolo, während er aus der linken Tasche des Erschossenen einen Zettel herausnahm, einen flüchtigen Blick darauf warf und ihn dann einsteckte. »Wir müssen ihn begraben, so gut es geht. Und Hal muß nach Cavarro zurückge bracht werden. Doch zuerst will ich diese schießwü tigen Kerle zur Vernunft bringen.« Sun Koh sprach ruhig, aber Paolo kannte ihn be reits gut genug, um zu wissen, wie es in ihm arbeite te. Er nickte daher nur. 123
Von dem Felsblock aus konnte man nicht gut schießen. Sun Koh wartete einen Schuß ab und sprang dann seitwärts hinter einige niedrige Blöcke, die ihn deckten, ihm aber nicht zugleich die Sicht raubten. Die Leute dort oben mußten Vergnügen am Schie ßen finden. Sie ballerten einfach drauflos, selbst wenn sie nichts vom Gegner sahen. Sun Koh stellte in geduldiger Beobachtung fest, daß zwei Leute oben in den Hängen lagen. Sie befanden sich etwa ein Dutzend Schritte weit auseinander. Beide waren gut, wenn nicht vollkommen gedeckt. Sie fühlten sich offenbar ziemlich sicher, da so lange keine Antwort erfolgt war. Jetzt näherten sie sich sogar. Zweimal ließ Sun Koh die beiden aufspringen und ein Stück weiter vorn Deckung finden. Beim dritten mal schoß er. Die beiden erreichten die neue Dek kung nicht, sondern blieben auf halber Strecke lie gen. Sun Koh erhob sich und sprang aus seiner Dek kung hervor. »Ich denke, wir werden vorläufig Ruhe haben. Jetzt wollen wir Hal nach Cavarro schaffen.« »Es sind einige Stunden Ritt. Die Erschütterung wird ihm nicht guttun.« »Hier können wir kaum bleiben. Ich will ihn vor mich auf den Sattel nehmen. Alba binden wir auf sein Pferd. Er kann im Tal begraben werden.« 124
Eine knappe Viertelstunde später reichte Paolo den verwundeten Jungen zu Sun Koh hinauf, der Hal quer vor sich setzte und seinen Oberkörper mit dem Arm umschlang, so daß er die unvermeidlichen Er schütterungen durch seinen Körper ausgleichen konnte. Dann ritten sie langsam und vorsichtig zu rück, Sun Koh voran, hinter ihm Paolo, der das Pferd mit dem Toten und Hals Pferd mitführte. Kurz vor dem Ausgang des Seitentals hörten sie ferne Hufschläge. Sun Koh bog sofort in das Tan nengehölz ab, das die schluchtähnliche Mündung besetzte. Da bog der Reitertrupp auch schon ein. Es waren fünf Leute. Einen erkannte Sun Koh ganz genau. Das war Mollogon, der Vormann. Die geschwollenen und dunklen Stellen in seinem Gesicht zeugten noch von dem gestrigen Kampf. Die anderen vier glaubte er gestern auch gesehen zu haben. Mit Bestimmtheit konnte er es nicht sagen, doch offenbar handelte es sich ebenfalls um Leute der Arribo-Hazienda. »…so leicht niemand abbiegen«, sagte einer gera de. »Hoffentlich«, brummte ein anderer. »Wenn ein mal jemand aus Versehen den Tunnel findet, ist es gleich aus mit unserer Herrlichkeit.« Ein dritter lachte. »Du vergißt unsere Wachen. Es sind ja schon zwei drin gewesen, aber sie haben ihr Wissen nicht mit 125
nach Hause nehmen können. Und darauf kommt’s an.« »Stimmt schon«, sagte der erste. »Aber noch wichtiger ist, daß niemand erfährt, daß Laramie, Jef ferson und Satillo ein und derselbe Mann ist und daß er in Wirklichkeit als hochbezahlter Ortsrichter von…« »Schweig!« fuhr Mollogon ihn an. »Mußt du dir immer das Maul zerreißen über Dinge, von denen nicht gesprochen werden soll? Wenn dich jemand hört, dann…« »Ach, hier können wir schreien, ohne daß uns je mand hört.« »Schadet trotzdem nichts, wenn du den Mund hältst!« Der andere schwieg. Die Hufe klapperten, die Reiter verschwanden. »Da haben wir ja allerhand gehört«, brummte Pao lo. »Die Leute von der Arribo-Hazienda gehören also zu den Viehdieben. Die Einwohner von Cavarro werden staunen, wenn wir ihnen das erzählen.« »Sie erfahren damit nichts Neues. Beweisen muß man es«, erwiderte Sun Koh. »Und das, was wir ge hört haben, genügt noch lange nicht, als Beweis. Ich denke aber, man muß sich den Ortsrichter von Cavar ro einmal ansehen. Aber jetzt müssen wir weiter. In einer halben Stunde oder mehr wissen die Leute, daß es einen Kampf gegeben hat. Sie werden uns suchen!« 126
»Ich werde zurückbleiben und decken.« »Jetzt noch nicht, erst später. Die Verengung des Haupttals erreichen wir sicher noch.« Sie ritten los. Es gehörte viel Mut dazu, mit der drohenden Gefahr im Rücken langsam und schonend Schritt zu halten. Mollogon würde sicher alles daran setzen, sie nicht aus den Bergen herauskommen zu lassen, wenn er einmal wußte, was vorgefallen war. Sun Kohs Voraussage traf zu. Sie erreichten eine Stelle, an der die Talwände sich stark einander nä herten, so daß man von hier aus das Tal beherrschen konnte. Von Mollogon und seinen Leuten war zu dieser Zeit noch nichts zu sehen. »Hier ist die richtige Stelle«, sagte Paolo. »Lange werden sie wohl nicht mehr auf sich warten lassen.« »Hängen Sie die Führungsleine an meinen Sattel knopf. Ich nehme die beiden Pferde mit.« »Gut, dann kann ich unbehindert reiten, wenn es darauf ankommt.« Sun Koh streckte ihm die Hand hin. »Alles Gute, Paolo. Ich hoffe, wir sehen uns noch heute abend in Cavarro wieder.« Paolo nickte ernst. »Darauf können Sie sich verlassen!« Sun Koh ritt langsam weiter. Er hätte selbst gern Paolos Aufgabe übernommen, aber Hals Leben, für das er sich verantwortlich fühlte, ging jetzt über al les. Paolo war ein guter Schütze und ein noch besse 127
rer Reiter, er würde seine Aufgabe lösen. Als es Abend wurde, ritt Sun Koh in Cavarro ein. Er erregte mächtiges Aufsehen mit dem Verwunde ten und dem Toten. Die Männer liefen zusammen und folgten ihm bis zum Gasthof, vor dem Sun Koh anhielt. Er wollte Hal eigentlich in einem der Zimmer des Wirts unterbringen, aber nach einer kurzen Rück sprache mit dem Wirt brachte er ihn lieber zu dessen Schwager. Dort war es ruhiger, außerdem befanden sich Töchter im Haus, die die Pflege übernehmen konnten. Hal war kaum zu Bett gebracht worden, als Paolo eintraf. Er brachte einen harmlosen Streifschuß und viel Schmutz mit, war aber bester Laune. »Ich glaube, die Kerle liegen jetzt noch hinter ih ren Steinblöcken«, flüsterte er Sun Koh zu. »Sie ha ben geschossen wie die Wilden, aber nachdem ich einen getroffen hatte, waren sie so vorsichtig, daß ich kein Ziel mehr fand. Mollogon ist sicher schwarz vor Wut geworden. Wie geht es Hal?« »Keine Verschlimmerung. Er wird sich wohl in einigen Tagen wieder besser fühlen.« »Bleiben wir hier?« »Hal ist gut aufgehoben. Wir schlafen im Gasthof. Es ist besser so. Wahrscheinlich werden wir uns bald noch mit Mollogon auseinandersetzen müssen.« »Das vermute ich auch.« 128
Sie irrten sich beide. In den nächsten zwei Tagen ließ sich Mollogon ebenso wenig blicken wie einer der Reiter von der Arribo-Hazienda. Es schien, als sollte der Zwischenfall in den Bergen einfach ver gessen werden. Der Frieden des Ortes wurde durch nichts gestört. Alba wurde begraben. Sun Koh lernte verschiedene kleine Haziendas kennen, die ihm schon wegen seines Kampfes gegen Mollogon herz lich entgegenkamen. Tagsüber verbrachte er die mei ste Zeit mit Paolo zusammen an Hals Lager, der nach wie vor im schweren Wundfieber lag und niemand erkannte. In der Mittagssonne des dritten Tages saßen Sun Koh und Paolo als einzige Gäste in der Gaststube und unterhielten sich nach der Mahlzeit mit dem Wirt. Sun Koh brachte das Gespräch auf den Richter von Cavarro. »Nichols ist einer der größten Hazienderos von Cavarro«, erzählte der Wirt. »Er ist reich, gilt aber als geizig.« »Hat er nicht auch unter den Viehdiebstählen ge litten?« »Etwas, aber nicht viel. Seine Hazienda liegt am weitesten von der Grenze weg. Es ist schwer, das Vieh von dort ungesehen wegzutreiben. Er hat auch ziemlich viele Weidereiter.« »Mich wundert, daß ich ihn noch nie gesehen ha be.« 129
»Er kommt selten in den Ort und hält sich meist auf seiner Hazienda auf, befindet sich aber auch öfter auf Reisen. Nichols ist kein Mann, der viel Umgang liebt. Er ist verschlossen.« »Aber sein Ruf ist gut.« »Gewiß, dafür ist er ja Ortsrichter. Wenn einer hinter den Viehdieben her ist, dann er. Seine Mann schaft ist stets voran, wenn irgendwo Vieh gestohlen wurde. Es ist nicht seine Schuld, daß die Viehdiebe noch nicht gestellt wurden.« »Sicher beschäftigt er sehr tüchtige Leute?« Der Wirt hob die Schultern. »Tüchtig sind sie sicher. Aber ich kenne sie kaum.« Sun Koh fühlte, daß der Wirt nicht aus sich he rausgehen wollte. Die Tür ging auf. Ein Mann trat ein, an dem vor allem die bunte Tracht auffiel, die zu der nüchternen Kleidung der Bewohner von Cavarro in scharfem Gegensatz stand. Sie stammte von den großen Radsporen bis zu dem silbergestickten Gürtel zwei fellos aus Bolivien. Auf den zweiten Blick wurde man sich der ge schmeidigen, sehnigen Bewegungen bewußt. Der Fremde war schlank, gut gebaut und mußte seinen Körper gut in Schuß haben, um sich bei aller beton ten Lässigkeit so gut bewegen zu können. Sein Ge sicht gab die nötige Ergänzung. Es war dunkel, 130
schmal und scharfkantig. Um die schmalen Lippen lag ein spöttischer Zug, außerdem einige böse Falten, die den guten Eindruck seiner sonstigen Erscheinung zunichte machten. »Hallo!« grüßte der Fremde und musterte unbe kümmert die drei am Tisch. »Ich dachte, ich könnte hier in Ruhe mein Essen einnehmen.« Die Stimme war glatt, aber aufreizend und feind lich. Der Wirt sprang auf. Auch Sun Koh erhob sich. Ein unangenehmes Gefühl warnte ihn. So konnte nur ein Mann sprechen, der Streit suchte. »Natürlich«, versicherte der Wirt diensteifrig. »Die beiden Herren werden gewiß nicht stören.« »Schon gut«, murmelte der Fremde. »Machen Sie mir ein paar Eier mit Speck fertig, aber schnell!« Der Wirt ging hinaus. Der Fremde trat zwei Schritte weiter an Sun Koh heran und zischte leise: »Es wäre mir verdammt lieber, wenn ihr verschwin den würdet. Mir schmeckt das Essen gewöhnlich nicht, wenn ich ein paar Kerle von eurer Sorte in der Nähe sehe.« Sun Koh lächelte spöttisch. »Sie hätten draußen bleiben sollen«, gab er kalt zurück. »Uns geht es nämlich ganz ähnlich. Ich kann Gaunergesichter von Ihrer Art auch nicht ausstehen.« Der andere kniff überrascht die Augen zusammen. »Ah, Sie wollen mich beschimpfen? Na, dann 131
brauche ich Ihnen wohl nichts zu sagen. Ziehen Sie!« »Nach Ihnen!« lehnte Sun Koh ab. »Ich bleibe gern in der Verteidigung, besonders dann, wenn ich den Richter für nicht ganz vorurteilsfrei halte.« Der Oberkörper des anderen krümmte sich un merklich. »Sie wissen zuviel. Ziehen Sie endlich.« »Ich will Sie nicht hindern, den Raum zu verlas sen. Bestellen Sie Mollogon und dem Richter mit den vier Namen, daß…« »Verdammt…« Die Hand des Fremden zuckte zur Waffe. Einen Sekundenbruchteil später bewegte sich auch Sun Kohs Hand. Aber der Fremde wollte seine Waffe erst hochbringen, um zu schießen. Sun Koh dagegen drückte nach einer Kippbewegung von der Hüfte aus ab. Beide Schüsse knallten, doch der des Fremden fuhr in das Holz. Sekundenlang starrte der Mann verwundert, dann fiel er polternd um. »Gott sei Dank«, keuchte der Wirt von der Tür har. »Die Geschichte kam mir gleich verdächtig vor. Wissen Sie, wer das ist? Perdez heißt er. Er gehört auf die Sonora-Hazienda und ist als der beste Schüt ze jenseits der Grenze berühmt und berüchtigt. Bei Gott, ich hätte nicht gedacht, daß ein Mensch schnel ler schießen kann als er.« Sun Koh trat zu dem Gegner. 132
»Er ist tot«, sagte er. »Ich habe schlecht gezielt, ich wollte ihn nur verwunden.« Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. »Das war Mord«, erklärte eine harte Stimme, wäh rend ein gutgekleideter großer Mann mit finsteren Gesichtszügen eintrat. »Glatter Mord, dafür bin ich Zeuge.« Sun Koh schaute auf. »Wer sind Sie?« »Nichols, der Ortsrichter von Cavarro. Halten Sie Ihre Hände ruhig, ich bin nicht allein. He, kommt herein. Wer sind Sie denn überhaupt?« Hinter Nichols erschienen drei Männer mit nicht gerade angenehmen, aber recht entschlossenen Ge sichtern. Sun Koh zwang sich zur Ruhe. »Ich heiße Sun Koh«, antwortete er. »Dieser Mann ist von mir einwandfrei in Notwehr getötet worden. Wie kommen Sie zu Ihrer Behauptung?« Nichols lächelte. »Ihr Leugnen wird Ihnen nichts nützen. Ich habe den ganzen Auftritt von Anfang bis Ende vom Fen ster aus beobachtet. Und meine drei Leute haben auch alles gesehen. Ich erkannte Perdez, als er hier eintrat. Da ich neugierig war, was er auf dieser Seite der Grenze zu suchen hatte, stieg ich ab und trat ans Fenster. Da sah ich alles. Und ich kann beschwören, daß Sie den armen Kerl niedergeschossen haben wie 133
einen Hund, während er ahnungslos dastand.« »Dann schwören Sie einen Meineid«, gab Sun Koh scharf zurück. »Hier stehen außer mir noch zwei Männer, die die Wahrheit bezeugen können.« Nichols winkte mit einer Handbewegung ab. »Neben mir stehen noch drei, die meine Aussagen bestätigen werden. Und ich bin der Ortsrichter von Cavarro, während Sie ein hergelaufener Fremder sind. Außerdem stehen Sie ohnehin in Verdacht, Al ba erschossen zu haben.« Hinter den Weidereitern drängten sich jetzt die er sten Einwohner von Cavarro in den Schankraum. »Hüten Sie Ihre Zunge!« warnte Sun Koh mit auf steigendem Zorn. »Es hat schon mancher Richter versucht, die Wahrheit zu verdrehen, und hat dabei nur gezeigt, wer er in Wirklichkeit ist. Dieser Fremde hat Streit begonnen und seine Pistole früher gezogen. Wenn Sie am Fenster gestanden haben, wissen Sie das so gut wie ich.« »Ich weiß genau, was ich am Fenster gesehen ha be«, erklärte Nichols. »Und was ich gesehen habe, wird Sie zehn Jahre mindestens kosten!« »Sie lügen ja, Nichols!« mischte sich jetzt der Wirt ebenso erstaunt wie entrüstet ein. »Ich habe doch an der Tür gestanden und alles genau verfolgt. Perdez hatte es auf einen Streit angelegt und minde stens eine halbe Sekunde früher gezogen, darauf werde ich einen Eid ablegen.« 134
»Halten Sie den Mund«, fuhr der Richter ihn är gerlich an. »Mischen Sie sich nicht in Sachen, von denen Sie nichts verstehen. Jeder weiß, daß Perdez der schnellste Pistolenschütze war. Er hatte seine Pi stole noch nicht einmal richtig hochgebracht, das ist wohl der beste Beweis dafür, daß er ungewarnt an gegriffen wurde. Oder wollen Sie etwa behaupten, daß dieser Fremde schneller als Perdez ziehen kann?« »Genau das«, beharrte der Wirt. »Ich habe es ge sehen. Er hat von der Hüfte aus geschossen. Es war einwandfrei Notwehr.« Nichols blickte ihn düster an. »Ich möchte Sie warnen, weiter so zu lügen. Man kommt auf diese Weise leicht in den Verdacht, daß man selbst in die Geschichte verwickelt ist. Ich will Sie nicht gerade fragen, wieviel Sie bekommen ha ben, aber…« »Nichols!« fuhr der Wirt hoch. »Ich bin zeit mei nes Lebens ein ehrlicher Mann gewesen und lasse mich nicht von Ihnen beschimpfen. Wenn Sie etwas anderes behaupten als ich, dann lügen Sie und die Frage, die Sie nicht an mich stellen wollen, werde ich dann vor aller Öffentlichkeit an Sie stellen.« Dieser draufgängerische Ton war Nichols sichtlich unangenehm, zumal im Hintergrund einige Männer beifällig raunten. Er gab nach. »Ereifern Sie sich nicht so. Ich habe Ihnen ja keine 135
Vorwürfe gemacht, sondern wollte Ihnen nur sagen, daß sich auch der beste Mann irren kann. Jedenfalls haben wir zu viert einwandfrei gesehen, daß Perdez ermordet wurde, und ich denke, es wird Zeit, diese beiden Fremden zur Polizei zu bringen. Die Untersu chung wird dann alles Weitere ergeben.« »Sehr fein ausgedacht«, erklärte Sun Koh mit bei ßender Ironie. »Wir werden trotz völliger Unschuld eingesperrt und später aufgrund von vier Zeugenaus sagen verurteilt. Der Wirt dürfte vielleicht im ent scheidenden Augenblick nicht mehr in der Lage sein, für uns zu zeugen. Ein feiner Richter, das muß ich sagen. Heißen Sie eigentlich Jefferson oder Satillo oder Laramie?« Der Richter wurde fahl. »Was – was?« würgte er. »Sie – Sie… Führt die beiden zur Polizei, Jungens!« Sun Koh lachte ihm ins Gesicht. Paolo trat dro hend vor. »Was wollen Sie von mir? Haben Sie etwa auch mich schießen sehen, Sie dreckiger Lügner?« Nichols schluckte einige Male, dann gab er beson nener zu: »Sie haben recht, gegen Sie ist nichts ein zuwenden. Ich hatte mich nur versprochen.« »Hoffentlich haben Sie sich auch nur versprochen, als Sie mich beschuldigten«, spottete Sun Koh. »Nein«, fuhr Nichols ihn haßvoll an. »Sie haben den Mord begangen.« 136
Die Weidereiter drängten vor, aber Sun Koh hob abwehrend die Hand. »Bleibt stehen! Wenn ihr durch das Fenster ge schaut habt, dann wißt ihr hoffentlich genau, wie ich schieße. Ihr seid keine Hilfsbeamten und habt keiner lei Recht, jemanden festzunehmen.« »Dann holt die Polizei!« fauchte Nichols, dem die Zurückhaltung seiner Leute nicht einging. »Holt sie selber, Richter«, knurrte ein Mann aus dem Hintergrund. »Ich habe den Wirt stets für einen ehrlichen Mann gehalten und glaube aufs Wort, was er sagt. Vielleicht hat die Fensterscheibe gespiegelt, und Sie haben sich selbst gesehen.« Ein paar lachten. Nichols gab einem seiner Leute ein Zeichen, der sich zur Tür durchdrängte. Paolo trat wieder an Sun Koh heran. »Sie müssen fort, Sir«, flüsterte er. »Wir sind zwar im Recht, aber die Polizei wird selbst beim besten Willen nicht anders können, als Sie einzusperren. Und wenn dann die vier Leute vor Gericht schwören, könnte Ihre Untersuchungshaft leicht zum Gefängnis werden!« Sun Koh nickte. »Sie halten sich weiter in Cavarro auf und küm mern sich um Hal.« »Jawohl, Sir.« »Gut, dann gehen Sie unauffällig hinaus. Das Pferd gesattelt an die Hintertür, genügend Munition 137
und einigen Proviant. Später kommen Sie wieder herein und halten die Leute auf. Verstanden?« »Alles klar!« Paolo wartete eine Weile, dann schlenderte er durch die Vordertür hinaus. Die Männer machten ihm bereitwillig Platz. Das Interesse galt Sun Koh. Nach einiger Zeit trat der Ortspolizist ein. Er war ein ruhiger, zum Fettansatz neigender Mann ohne besondere Bedeutung. Sun Koh merkte bald, daß er mehr Werkzeug als Vertreter des Gesetzes und des eigenen Willens war. Er beugte sich allzugern dem Einfluß des Richters. »Was ist los, Leute?« erkundigte er sich. »Macht doch Platz, Ah, Senhor Nichols. Ich sehe, Sie sind diesmal schneller gewesen als ich.« Er schüttelte dem Richter die Hand, dann begann er mit seinem Verhör. Genau genommen erkundigte er sich bei Nichols, an dessen Unparteilichkeit er nicht die Spur zu zweifeln schien, was sich ereignet hatte. Nichols gab ihm entsprechend Bescheid. »Ich wurde zufällig Zeuge eines Mordes, Serge ant«, erzählte er bieder. »Perdez von der SonoraHazienda stieg hier ab. Ich wollte mit ihm sprechen. Als ich an die Tür kam, hörte ich einen Wortwechsel und blickte daraufhin erst einmal durch das Fenster. Nun, was ich sah, war klar genug. Perdez stand am Tisch und wollte sich gerade setzen, als dieser Frem de plötzlich seine Pistole zog und Perdez ohne War 138
nung über den Haufen schoß. Perdez bemerkte es zu spät, weil er nicht weiter auf den Fremden achtete. Sie wissen ja, wie gut Perdez schoß. Unter gewöhnli chen Umständen hätte ihm gar nichts passieren kön nen. Aber so kam er gerade noch dazu, die Pistole herauszureißen, dann fiel er schon um. Es war ein glatter Mord, so wahr ich hier stehe. Und meine drei Weidereiter, die mit mir durch das Fenster geschaut haben, werden das gleiche bezeugen können. Der Mann muß festgenommen und eingeliefert werden.« »Selbstverständlich«, sagte der Polizist bereitwil lig. »Wenn die Sache so steht, ist wohl alles klar.« »Sie steht aber nicht so«, widersprach der Wirt hit zig. »Der Richter lügt, weiß Gott aus welchem Grund. Ich habe an der Tür gestanden, als alles ge schah. Perdez kam herein und begann sofort einen Streit. Der Fremde ging jedoch nicht darauf ein und zog seine Waffe nicht, obwohl Perdez ihn dazu reiz te. Darauf zog Perdez, der es auf Mord abgesehen hatte, zuerst. Der Fremde zog erst eine halbe Sekun de später. So war die Sache und nicht anders!« Der Polizist blickte vom Wirt auf Nichols und wieder zurück. Man sah ihm deutlich an, daß die Ge gensätzlichkeit dieser beiden Darstellungen über sein Begriffsvermögen ging. »Ja, aber…«, setzte er an. »Was haben Sie zu sa gen, Fremder?« Sun Koh tauschte zunächst einen Blick mit Paolo, 139
der gerade wieder eintrat, dann antwortete er: »Ich habe der Darstellung des Wirts nichts hinzuzufügen. Er hat die Angelegenheit so geschildert, wie sie sich abgespielt hat. Ich habe in Notwehr geschossen. Falls man mir nicht glaubt, daß ich schneller schießen kann als dieser Perdez, so bin ich bereit, den Beweis dafür abzulegen.« »Durch einen neuen Mord?« fragte Nichols grin send. »Alba hat wohl auch erfahren müssen, wie gut Sie schießen können?« Sun Koh blieb kalt. »Darüber werden Ihnen die beiden Leute mehr er zählen können, die Ihre Leute verwundet oder tot in den Bergen gefunden haben. Und wenn Sie Beschäf tigung für die Polizei brauchen, dann können Sie ihr vielleicht einmal eine Beichte ablegen. Man schreit es in den Bergen herum, daß der Bandenführer La ramie und der Richter Nichols ein und dieselbe Per son sind!« »Das ist ein Lüge!« knurrte Nichols wild. Der Polizist warf sich in die Brust. »Was erdreisten Sie sich, Fremder? Erst begehen Sie einen Mord, und dann wagen Sie es noch, unse ren Richter zu beleidigen? Wahrhaftig, ich glaube, man muß Ihren Fall genau untersuchen. Geben Sie Ihre Pistolen her und folgen Sie mir!« Sun Koh hielt ihn mit dem Blick in Schach. »Bleiben Sie stehen, wir sind noch nicht so weit. 140
Ich denke nicht daran, Ihnen und Nichols zuliebe ins Gefängnis zu gehen. Jeder bleibt auf seinem Platz!« Paolo trat an ihn heran. »Alles bereit, Sir!« »Mach’s gut, Paolo. Und sorgen Sie gut für Hal.« »Er will flüchten!« kreischte der Polizist auf. »Auch schon gemerkt?« sagte Sun Koh spöttisch. »Vorsicht, ich schieße!« Niemand bewegte sich. Die Einwohner von Cavar ro waren noch viel zu wenig von seiner Schuld über zeugt, und Nichols stand mit seinen Leuten zu sehr in der Schußlinie. Sie wußten genau, wie gefährlich ei ne falsche Bewegung sein konnte. Sun Koh schritt ruhig bis zur Tür zurück, trat dann blitzschnell hinaus und schlug sie hinter sich zu. »Fangt ihn!« schrie jetzt Nichols. »Haltet ihn auf!« hetzte der Polizist. Doch Sun Koh war längst aus dem Ort hinaus, als sich die Verfolger auf die Pferde warfen. Er ritt in schnellstem Tempo in die Berge hinein, verfemt durch falsches Zeugnis, aber entschlossen, dagegen anzukämpfen und seinen Ruf wiederherzustellen. 7. Paolo saß gebückt, die Ellenbogen auf die Knie ge stützt, als laste die schwere Balkendecke des Hauses unmittelbar auf ihm. Das niedrige Fenster stand of 141
fen, und der Abendwind fächelte mild in den Raum, aber die Luft behielt immer den feinen strengen Ge ruch des Krankenzimmers. Paolo saß an Hals Bett, der mit bleichem Gesicht in den Kissen lag und sich allmählich gesund schlief. Paolo grübelte darüber nach, ob es richtig gewesen war, Sun Koh allein in die Berge und damit in ein derartig gefährliches Unternehmen hineingehen zu lassen. Paolo kam wie so oft zu keinem Ende. Da begann er, vor sich hinzusummen. Hal schlug die Augen auf. Seine Hand wanderte zu Paolos Schulter. »Was ist los?« fragte Hal. »Etwas nicht in Ord nung? Besonders heiter kommst du mir nicht vor!« Paolo trat ans Fenster. »Was soll schon los sein? Sun Koh ist noch immer nicht zurückgekommen.« »Tja, allerdings. Aber er kann doch gar nicht, son dern wird irgendwo warten.« »Der wartet nicht! Aber er wollte spätestens nach einer Woche Nachricht geben, und nun sind schon fast zwei Wochen vorüber.« Sie schwiegen eine Weile, dann sagte Hal vorsich tig: »Es wäre vielleicht doch besser gewesen, wenn er nicht allein geritten wäre.« »Das sage ich mir seit zwei Wochen.« »Vielleicht hat er keine Gelegenheit, dir Nachricht 142
zu geben«, beruhigte Hal. »Aber wenn ich in ein paar Tagen gesund bin und er hat immer noch nichts von sich hören lassen, dann suchen wir ihn.« »Ja«, seufzte Paolo. »Sing noch mal«, bat Hal. »Sing das von dem Rit ter, der in den Wald zog, das macht Mut.« Paolo sang zum zweitenmal. Es war ein wildes, trotziges Lied voll düsterer Drohung und verhaltener Leidenschaft. Er hatte fast beendet, als am Fenster das finstere Gesicht von Richter Nichols auftauchte. »Sie singen recht schön«, meinte er spöttisch. »Kann man Sie einen Augenblick sprechen?« Paolo nickte und sah nach Hal, der inzwischen eingeschlafen war und ging dann hinaus. »Was wollen Sie von mir?« knurrte er Nichols an. »Ihren Gesang bewundern«, erwiderte Nichols lauernd. »Ich glaube nicht, daß es einen zweiten Mann in der Umgebung gibt, der so singen kann wie Sie und der solche Lieder singt.« »Leicht möglich.« »Hm, dann geben Sie nur acht, daß Sie Ihr Singen nicht an den Galgen bringt.« »Ach nee!« Nichols blickte zu Boden und tat, als müßte er überlegen. »Tja, eine merkwürdige Geschichte, Da kommt ein Mann zu mir und beklagt sich, daß er in der 143
Nacht überfallen worden sei. Irgendwer habe ihn mit dem Lasso aus dem Sattel geholt, gefesselt und dann ziemlich eindringlich befragt, was er über den Auf enthalt eines gewissen Sun Kohs wisse. Der Mann wußte natürlich nichts, aber bevor man ihm das glaubte und er wieder freigelassen wurde, hatte er allerlei Unannehmlichkeiten zu überstehen. Und er ist nicht der einzige, dem es so ging. Drei Leute ha ben die gleiche Klage wegen Freiheitsberaubung und Körperverletzung vorgebracht.« Paolo hob gelangweilt die Schultern. »Warum erzählen Sie mir das, Richter? Lochen Sie doch den Mann ein, der Ihnen auf so komische Weise behilflich sein will, Sun Koh zu fangen.« Nichols grinste. »Deswegen wird er sich kaum so angestrengt ha ben. Ich kann den Mann leider noch nicht festneh men lassen, weil niemand sein Gesicht gesehen hat. Er trug einen Stoffetzen. Aber eins ist bemerkens wert – der Mann sang seinen Gefangenen etwas vor. Erheitert hat er sie nicht gerade damit, obwohl er ei ne großartige Stimme hatte, eine ganz auffallend schöne Stimme, die es so leicht nicht ein zweites Mal gibt. Leicht möglich, daß der Gesang diesen Mann an den Galgen bringt. Sie verstehen mich hoffentlich?« »Kein Wort«, gab Paolo kühl zurück. »Vor allem verstehe ich noch immer nicht, warum Sie mir das erzählen?« 144
Nichols blickte ihn aus zusammengekniffenen Au gen an. »Nun, wenn ich jener Mann wäre, würde ich mir doch schwer überlegen, ob es nicht besser wäre, rechtzeitig die Gegend zu verlassen.« »Ach.« »Genau«, sagte Nichols. »Der Unbekannte streng te sich ja auch vergeblich an. Er sollte die Auskunft, die er haben will, lieber bei mir holen. Dieser Sun Koh ist nämlich tot.« Paolos Hand fuhr mit einer heftigen Bewegung zum Kolben seiner Pistole. »Tot – sagen Sie?« »Tut mir leid«, sagte Nichols niederträchtig, »daß ich Ihnen das sagen muß, da Sie doch sein Kamerad waren, aber an seinem Tod ist nicht zu zweifeln. Er ist in den Bergen abgestürzt. Kennen Sie das?« Er hielt eine Pistole hin, aber eine kleine Waffe letzten Modells, die sich wesentlich von den üblichen Colts unterschied. Paolo brauchte sie nicht erst in die Hand zu nehmen, um Gewißheit zu haben. »Das ist«, würgte er, »das ist eine von seinen Pistolen. Wie kommen Sie dazu?« »Man brachte sie mir. Ein Weidereiter von der Ar ribo-Hazienda, der in den Bergen verlaufenes Vieh suchte, fand den abgestürzten Toten in einer Schlucht. Da er ihn nicht mitschleppen konnte, be grub er ihn an Ort und Stelle und nahm nur die Waf 145
fe, als Zeichen dafür, mit.« »Tot«, murmelte Paolo geistesabwesend vor sich hin. »Sehr bedauerlich«, sagte Nichols bieder. »Aber für den Unbekannten, der hier harmlose Menschen bei Nacht überfällt, ist die Gewißheit sicher besser als die Ungewißheit. Mir wäre ja auch lieber gewe sen, ich hätte diesen Mann hier, um die Sache von damals klären zu können, aber an den Toten hat auch das Gesetz sein Recht verloren. Wie geht es eigent lich dem jungen Mann?« Paolo starrte noch immer gedankenverloren vor sich hin. »Besser.« »Sehr erfreulich. Dann werden Sie wohl kaum noch lange hierbleiben?« »Liegt Ihnen so viel daran, uns fortzubringen?« »Vielleicht liegt Ihnen mehr daran, bald zu ver schwinden«, verbesserte Nichols grinsend. »Mir? Nein, Nichols, Sie verkennen die Lage. Ich gehe nicht eher aus der Gegend, bevor ich nicht genau weiß, wie Sun Koh gestorben ist. Und nicht eher, als ich gewisse Leute – na, das werden Sie noch erfahren.« »Sie wollen bleiben?« fragte Nichols finster. »Vergessen Sie nicht, daß aufgrund Ihrer Stimme jederzeit Anklage gegen Sie erhoben werden kann.« Die Einwendung schien auf Paolo Eindruck zu machen. Er überlegte. 146
»Gut«, sagte er nach einer Weile, »ich werde mir die Sache überlegen.« Damit wandte sich der Richter ab und Paolo ging in das Haus zu Hal zurück. * Sun Koh lebte. Er stand auf einer Felszunge und blickte in ein schmales Tal hinunter, das sich nach Osten zog. Die Felswände fielen schroff und kahl in die Tiefe hinab, aber unten auf dem Grund dehnten sich grüne Gras flächen. Ein Wasserfaden schlängelte sich durch das Hochtal. An einem Knick dieses Baches unterhalb des Standpunkts des Beobachters, stand eine niedrige Hütte. Sun Koh beobachtete lange, bis er sicher war, daß niemand in dieser Hütte wohnte und daß sich nie mand in dem Tal aufhielt. Dann begann er den Ab stieg. Die Wände waren trotz ihrer Steilheit nicht schwer zugänglich. Sun Koh legte jedoch öfter eine Pause ein, um das Tal mit den Blicken zu durchfor schen. Die Cavarro-Bande hauste in diesem Gebiet. Sun Koh hatte trotz aller Anstrengungen den Schlupfwin kel noch nicht finden können, aber er wußte wenig stens, daß dieser nicht weit entfernt liegen konnte. Das machte ihn vorsichtig. Nachdem er sich noch 147
einmal vergewissert hatte, daß er nicht beobachtet wurde, schritt er auf die Hütte zu. Sie stand wind schief auf der grasigen Narbe und sah so aus, als sei sie seit Jahrzehnten nicht bewohnt worden. Das war die Hütte, in der sich laut Alba ein Gold schatz befinden sollte. In der Tasche Sun Kohs ruhte die Zeichnung, um derentwillen Alba gestorben war. Vor zwölf Jahren hatte Alba einem Weidreiter in seiner letzten Stunde beigestanden. Der Weidereiter hatte ihm von dem Goldschatz in der alten Hütte er zählt und ihm den Plan anvertraut. Bevor Alba ihn jedoch an sich nehmen konnte, wurde er verhaftet. Der Plan wanderte mit dem Sattel, in den er einge näht war, irgendwohin. Zehn Jahre hatte Alba dank falschen Zeugnissen abgesessen, dann hatte er sich auf die Suche nach Sat tel und Plan gemacht. Bei Hal hatte er den Sattel nach zweijähriger Suche gefunden und an sich genommen. Er war jedoch von der Cavarro-Bande kurz darauf schwer verwundet worden und hatte die Zeichnung an Sun Koh weitergegeben. Und nun war dieser soweit, um nach dem vergrabenen Schatz zu sehen. Sun Koh trat in die Hütte. Der Boden war nur festgestampft, in der Ecke stand ein einfach gemau erter Herd, gegenüber waren einige Regale aus Holz zusammengeschlagen. In einer Ecke lehnten Picke, Schaufel, Spaten und ein Sieb, zwar verrostet, aber noch fest. 148
Sun Koh zog die Zeichnung zu Rate. In der linken Ecke der Hütte befand sich auf der Zeichnung ein Kreuz, dort war der Schatz offenbar vergraben. Er blickte noch einmal ins Freie und prüfte das Gelände, dann machte er sich an die Arbeit. Die Pik ke brach die festen Brocken aus, mit Schaufel und Spaten ließ sich dann der Grund leicht ausheben. Ungefähr einen Meter tief hatte er zu graben, dann stieß er auf zehn Säckchen, die dicht nebeneinander standen. Sie waren nicht groß, besaßen aber erhebli ches Gewicht. Eines nach dem anderen hob Sun Koh heraus und stellte es auf den Herd. Fortschaffen mußte er sie oh nehin, denn wenn jemand nach ihm in die Hütte kam, mußte er die aufgegrabene Stelle bemerken. Sun Koh zweifelte eigentlich nicht daran, daß die Säckchen Goldklumpen, sogenannte Nuggets, ent hielten. Deshalb beeilte er sich auch nicht weiter, den Inhalt zu prüfen. Als er dann doch eines der Säck chen öffnete, war er über den Inhalt recht erstaunt. In dem Säckchen befanden sich zwar gelbliche und rötliche Brocken, aber das war kein Gold, son dern höchstens hochprozentiger Kupferkies. Daran konnte es keinen Zweifel geben. Sun Koh öffnete nun auch die anderen Säckchen und machte immer die gleiche Feststellung. Kupfer kies, aber kein Gold. Der ganze Schatz war keine zehn Dollar wert. 149
Hatte da ein Narr die Stücke gesammelt, dem die Gier nach dem Gold und die Enttäuschung verlorener Jahre den Verstand getrübt hatten? Oder handelte es sich um einen schlechten Scherz, auf den schon jener Weidereiter hereingefallen war? Das würde sich nicht mehr feststellen lassen, jedenfalls konnte dieser Schatz getrost auf dem Herdrand stehenbleiben. Den würde niemand wegholen. Sun Koh nickte dem wertlosen Schatz noch einmal lächelnd zu, als er hinaustrat. Er sprang aber schleunigst wieder in die Hütte zu rück, als dicht hintereinander zwei Kugeln in seiner Nähe einschlugen und der Knall zweier Gewehr schüsse durch das Tal rollte. Man wußte von seiner Anwesenheit. Die Hütte lag frei im Tal und war von allen Seiten erreichbar. Wenn sich die ganze Bande sammelte, steckte er in einem regelrechten Kesseltreiben. Sun Koh zögerte und überlegte nicht lange, son dern trat auf der anderen Seite einige morsche Bretter durch. Dort ließ er sich flüchtig sehen. Als kein Schuß kam, schlüpfte er hinaus. Die Hütte befand sich zwischen ihm und seinen unbekannten Gegnern. Viel Schutz bot sie nicht ge gen die Kugeln, aber als Sichtdeckung war sie ganz wertvoll. Solange er hinter der Hütte blieb, war alles ruhig. Sobald er sich jedoch zeigte, knallte es. Sun Koh ließ es knallen. Er beobachtete, bis er 150
seine Gegner gefunden hatte. Sie lagen an der jensei tigen Felsenwand hinter einigen Blöcken. Solange sie allein blieben, war alles gut. Was aber, wenn die Schüsse andere Mitglieder der Bande anlockten? Sun Koh schoß jetzt zurück. Die beiden waren un vorsichtig gewesen. Der eine Mann fiel aus. Den zweiten konnte Sun Koh nicht so leicht treffen. Eine Viertelstunde lang wechselten die Schüsse in großen Pausen hin und her, dann schlich sich der zweite Mann gebückt zurück. Der andere schleppte sich davon, offenbar war er ziemlich schwer verwundet. Sun Koh beobachtete ihn eine Weile, dann entschloß er sich zu folgen. Vielleicht lief der Mann geradewegs in den Schlupf winkel der Bande hinein. Der Verwundete blickte sich nicht um. Ungesehen konnte Sun Koh die Felswand und einen Standpunkt erreichen, von dem aus er den anderen beobachten konnte. Plötzlich machte Sun Koh eine bemerkenswerte Entdeckung. Hundert Meter weiter trat ein Mann aus dem Felsen heraus. Es sah wirklich so aus, als käme er unmittelbar aus dem Felsen. Zweifellos befand sich dort ein schmaler Spalt, der in die Wand hinein führte. Sun Koh atmete tief auf. Das war die Lösung. Er hatte schon manches Mitglied der CavarroBande während der letzten beiden Wochen vor Au 151
gen gehabt. Stets waren die Leute in einem Tal oder in einer Schlucht verschwunden. Doch jetzt endlich wußte er, wo der Zugang lag. Der einzige war es sicher nicht. Wahrscheinlich gab es in diesem Massiv, das auf der anderen Seite an die Arribo-Hazienda grenzte, eine ganze Reihe solcher versteckter Durchgänge. Der Verwundete sah den Ankömmling, hob schwach den Arm und brach dann zusammen. Sun Koh rührte sich nicht. Der Mann lief auf den Ankömmling zu und blickte sich dann im Tal um, aber er sah Sun Koh nicht. Er lud sich den Verwun deten auf und schleppte ihn in den Spalt hinein. Kaum waren die beiden verschwunden, da eilte Sun Koh quer durch das Tal hinüber auf die andere Seite, an der der Spalt lag. Er drang hier jedoch nicht ein, sondern stieg an einer anderen Stelle in die Wand hinauf. Wie gut er daran getan hatte, zeigte sich, als er fast oben war. Aus dem Spalt kamen ein halbes Dutzend Leute heraus und begannen das Tal planmäßig abzusuchen. Sun Koh sah ihnen eine Weile zu, dann kletterte er weiter. Er wollte zu seinem Versteck, um sich dort schlafen zu legen. Morgen oder übermorgen konnte er mit mehr Aussicht auf Erfolg versuchen, von dem Spalt aus vorzudringen. Sun Koh hörte zum zweitenmal an diesem Tag das Pfeifen einer Kugel, die von einem unbekannten 152
Gegner überraschend auf ihn abgefeuert wurde. Das geschah, als er gerade auf einem nicht sehr breiten Felsband entlangturnte. Deckung gab es nicht, also mußte er trotz aller Gefahr vorwärts, um von dem Band herunterzukommen. Die Kugeln kamen in schneller Folge. Sie trafen jedoch nicht. Sun Koh steckte nur einige Ritzer von springenden Felsstücken ein. Das Feuer brach ab, als er sich hinter vorspringen dem Fels decken konnte. Er wußte nun, daß er es nur mit einem Gegner zu tun hatte und daß dieser vor ihm auf einem höheren Absatz lag. Es war schwer, ihm beizukommen. Der andere hatte es leichter. Ein Glück, daß er kein überragender Schütze war. Die Kugeln patschten zwar stets in un mittelbarer Nähe auf, eine riß auch die Haut am Bein auf, aber einen Treffer gab es nicht. Endlich hörte der andere auf zu schießen. Sun Koh wartete eine Weile, dann sprang er vor. Als es oben still blieb, kletterte er hoch. Er fand den Mann. Er blutete aus zwei Wunden. Sun Koh verband sie, so gut es ging, dann lud er sich den Bewußtlosen auf und schleppte ihn fort. In der Einsamkeit der Felsen konnte er nicht liegenbleiben. Der Verwundete kam erst zu sich, als Sun Koh ihn zum zweitenmal verband. Er blickte sich verstört und verwundert in dem Felsspalt um, in dem Sun Koh sich eingerichtet hatte, dann blieb sein Blick auf dem 153
Gesicht des Pflegers haften. »Haben Sie Schmerzen?« erkundigte sich Sun Koh. »Nein«, antwortete der Verletzte mürrisch. »Aber Sie brauchen sich keine Mühe zu geben. Ich bin fer tig.« »Reden Sie keinen Unsinn«, entgegnete Sun Koh kurz. »So schwer sind die Wunden nicht, um nicht durchzukommen. Dort oben wären Sie umgekom men.« »Wichtigkeit«, murmelte der andere wegwerfend. »Sie sind ein seltsamer Mensch. Wie kann man in Ihrem Alter einfach auf das Leben verzichten?« Der Bandit verzog das Gesicht zu einer höhni schen Grimasse. »Sind Sie Pfarrer?« »Nein«, gab Sun Koh ernst zurück, »aber ich den ke, wenn Sie so wenig Wert auf Ihr Leben legen, dann wird es wohl bisher sehr wenig wert gewesen sein.« Sie schwiegen sehr lange, während Sun Koh den Mann versorgte. Erst als er auf dem dürftigen Lager zur Ruhe gekommen war, sagte der Bandit: »He, Sie sind aber verdammt anständig gegen mich gewesen. Warum eigentlich?« »Es ist selbstverständlich, daß man einem Ver wundeten hilft.« Der andere dachte darüber nach, dann murmelte 154
er: »Hm, auch eine Ansicht. Warum treiben Sie sich eigentlich hier in den Bergen herum?« »Richter Nichols will mich auf falsche Aussage hin des Mordes anklagen, das wissen Sie doch.« »Stimmt. Sie sind schneller als Perdez gewesen. Aber was hat das mit der Cavarro-Bande zu tun?« Sun Koh lächelte. »Wollen Sie auf den Busch klopfen? Ich denke, daß Nichols sich gelegentlich auch Laramie nennt und in Wirklichkeit der Anführer der Bande ist.« »Hm, Sie wissen sehr viel. Sie wollen den Leuten zeigen, was hinter Nichols steckt?« »So ist es.« Der Bandit schwieg lange. Sun Koh glaubte schon, er sei eingeschlafen. Da begann er von neuem: »Sie haben sich sehr um mich gekümmert. Ich finde, ich kann Ihnen jetzt auch einen Gefallen tun. Wissen Sie, daß Sie uns sehr unangenehm geworden sind?« »Das kann ich mir denken.« »Auf die Dauer halten Sie’s auch nicht aus. Sie wollen Sie jagen. In den nächsten Tagen kommen alle zusammen, die Männer der Bande, die von der Arribo-Hazienda und die von der Sonora-Hazienda. Laramie übernimmt selbst die Führung.« »Danke«, sagte Sun Koh überrascht. »Die Mittei lung kann ich gut gebrauchen. Sie kann für mich sehr wertvoll werden.« »Wahrscheinlich. Wenn Sie sie an der richtigen 155
Stelle erwischen, können Sie mit einem halben Dut zend Leute alle auf einmal fangen.« »Und wo ist die richtige Stelle?« Der Mann, dessen Gesicht sich mittlerweile be denklich gerötet hatte, grinste. »Die suchen Sie sich selber. Sie wissen ja schon ziemlich gut Bescheid. Ich wollte Ihnen eine Chance geben, aber die anderen nicht verraten.« Sun Koh nickte. »Schon gut, ich werde mich umsehen. Und nun werde ich Sie verbinden, damit Sie sich nicht auf schlagen, wenn Sie fiebern. Die Arme lasse ich frei. Wasser und Essen stelle ich in Reichweite, so daß Sie für alle Fälle versorgt sind.« »Ist recht. Bin neugierig, ob Sie durchkommen. Vielleicht muß ich Ihnen noch sagen, daß es manchmal gut ist, wenn man auf eine Krüppelkiefer achtgibt.« Das war das letzte, was er mit Bewußtsein sagte. Eine halbe Stunde später lag er bereits im Wundfie ber und sprach ohne Bewußtsein über Dinge, die für Sun Koh nicht unwichtig waren. * Der Wirt des Gasthauses in Cavarro öffnete den Fen sterladen spaltweit, als jemand beharrlich daran klopfte, und rief ärgerlich hinaus: »Was soll denn das nun wieder? Wollen Sie…« 156
»Leiser«, flüsterte Sun Koh. »Es ist nicht nötig, daß jemand auf uns aufmerksam wird.« »Sie?« stieß der Wirt überrascht aus. »Mein Gott, wie kommen Sie denn…« »Lassen Sie mich erst ein.« »Aber selbstverständlich. Augenblick.« Wenig später standen sich die beiden Männer im Haus gegenüber. »Ich komme aus den Bergen«, erklärte Sun Koh. »Ich mußte Sie unbedingt sprechen. Aber sagen Sie mir zuerst, was die beiden anderen treiben. Wie geht es dem Jungen?« »Er ist fast gesund, aber…« »Aber?« Der Gastwirt machte ein besorgtes Gesicht. »Hm, der singende Gaucho ist fort.« Sun Koh blickte erstaunt auf. »Wer? Paolo?« »Ja. Er ist ebenfalls in die Berge gegangen. Es hieß doch, Sie seien tot, wenigstens behauptete Ni chols etwas Ähnliches. Man sagt, daß der singende Gaucho in die Berge gezogen sei, um Sie zu rächen.« »Wieso nennen Sie ihn den singenden Gaucho?« »Man nennt ihn hier so. Er hat bei Nacht verschie dene Leute von der Arribo-Hazienda abgefangen und sie nach Ihnen befragt. Dabei soll er gesungen haben. Auch hier hat er viel gesungen.« »Paolo hat sich sonderbare Gewohnheiten zuge 157
legt«, sagte Sun Koh kopfschüttelnd. »Warum hat er angenommen, daß ich tot bin?« »Nichols hat Ihre Pistole herumgezeigt und be hauptet, man hätte Sie abgestürzt in einer Schlucht gefunden.« »Ah, die Pistole? Sie ist mir bei einer Kletterei verlorengegangen. Seit wann ist Paolo fort?« »Seit drei Tagen.« »Dann treffe ich ihn vielleicht noch in den Bergen. Doch nun zu unserer Angelegenheit. Haben Sie Ver trauen zu mir, Gomez?« »Bestimmt«, sagte der Wirt. »Sie können sich auf mich verlassen.« »Gut. Ich bin in den letzten zwei Wochen nicht faul gewesen. Es ist mir gelungen, den Schlupfwin kel der Bande festzustellen. Er befindet sich in einem schmalen Hochtal, das nur einen Zugang hat. Die Bande kann ihn nur mit wenigen Leuten mühelos verteidigen. Aber – man kann sie auch mit wenigen Leuten in dem Tal einschließen.« »Ja, und?« drängte Gomez, der mit höchster Auf merksamkeit zuhörte. »Ich habe erfahren, daß sich an einem der näch sten Tage die gesamte Bande in ihrem Schlupfwinkel versammeln wird, auch die Mannschaften der Arri bo- und der Sonora-Hazienda, die zu der Bande ge hören. Der Anführer Laramie wird auch zur Stelle sein, und dieser Laramie ist niemand anders als Ni 158
chols, der Ortsrichter von Cavarro.« »Tatsächlich?« »Zweifelsfrei«, bestätigte Sun Koh. »Die Zusam menkunft der Bande an dem einen Platz würde eine günstige Gelegenheit bieten, sie mit einem Schlag zu fangen. Als einzelner kann ich das jedoch nicht durchführen. Ich brauche annähernd ein Dutzend Leute zu meiner Unterstützung.« »Hm.« »Ich kenne die Bewohner dieses Tals zu wenig, aber ich nehme an, daß es hier wenigstens ein paar entschlossene und mutige Männer gibt, die bei einer solchen Gelegenheit dabei sein werden.« »Wenn ein Anführer da ist, finden sich ein paar Dutzend. Unsere Männer sind keine Schwächlinge.« »Die Führung will ich übernehmen. Sie aber möchte ich bitten, mir eine geeignete Mannschaft zusammenzustellen. Sie wissen ungefähr, was für Leute ich brauche. Die erste Voraussetzung wäre, daß niemand etwas erfährt, der auch nur die gering ste Beziehung zur Cavarro-Bande oder ihrem An hang hat. Ein Wort zur unrechten Zeit kann den gan zen Plan zunichte machen. Die Vorbereitungen müs sen in größter Heimlichkeit getroffen werden.« »Das ist klar. Ich werde mich nur an die Männer wenden, auf die unbedingt Verlaß ist. Machen Sie sich darüber keine Sorgen. Es fragt sich nur, wann Sie die Mannschaft brauchen.« 159
»Wohl noch im Lauf dieser Woche. Der Tag läßt sich jedoch nicht mit Bestimmtheit sagen. Man muß Nichols unter Beobachtung halten und feststellen, wann er in die Berge reitet. Zwei oder drei Stunden nach ihm wird die Mannschaft losreiten können.« »Für die Beobachtung bürge ich, doch wo soll die Mannschaft hinkommen?« Sun Koh zog ein Papier aus der Tasche. »Das hat mir viel Kopfzerbrechen bereitet. Sehen Sie, das ist der Schlupfwinkel. Er kann nur durch diesen Felsentunnel verlassen werden. Sobald sich die Bande in dem Tal versammelt hat, werde ich den Zugang abriegeln. Das kann ich als einzelner tun, wenigstens einige Stunden lang. Das muß sein, weil sonst die Bande durch einen Schuß alarmiert werden und das Tal verlassen könnte. Von dieser vorliegen den Schlucht aus .aber findet sie, ganz abgesehen von den Verteidigungsmöglichkeiten, ein halbes Dutzend Möglichkeiten zur Flucht in Felsspalten. Ich muß also diese Stelle, die durch eine Krüppelkiefer gekennzeichnet wird, sperren. Deshalb kann ich die Mannschaft nicht abholen. Sie muß sich auf Grund dieser Zeichnung den Weg allein suchen.« »Hoffentlich verirren sie sich nicht.« »Ich habe alle wichtigen Punkte markiert. Diese Punkte bezeichnen stets rechts vom Weg die Leitstel len, die ich in den Bergen durch einen dürren Zweig unter einem kleinen Steinhaufen gekennzeichnet ha 160
be. Die Kreuze geben die Stelle an, an denen ge wöhnlich die Wachen liegen. Die Mannschaft wird wohl von diesen Stellen aus beschossen werden. Die Männer müssen versuchen, die Wachtposten so schnell wie möglich zu passieren.« »Ja, aber, wie kommen Sie dann an den Schlupf winkel heran?« »Ich nehme einen anderen Weg, auf dem ich keine Wachen treffe. Er ist für eine größere Anzahl von Männern nicht zugänglich.« Gomez studierte den Plan. »Ich glaube, der Weg läßt sich finden. Was bedeu ten diese kurzen Striche am Weg?« »Abzweigende Schluchten, die man seitlich lie genlassen soll.« »Schön, ich glaube, die Hilfsmannschaft wird we nige Stunden nach Nichols bei dieser Kiefer sein. Das wäre ein Schlag, wenn die Cavarro-Bande aus gehoben würde! Die ganze Umgebung würde Sie als Retter feiern.« »Darauf lege ich weniger Wert«, wehrte Sun Koh ab. »Wenn Sie sonst keine Fragen mehr haben, will ich wieder verschwinden.« Der Gastwirt erschrak förmlich. »Was denn, wollen Sie nicht über Nacht hierblei ben? Ich bringe Sie gleich…« »Danke«, unterbrach Sun Koh. »Ich muß zurück. Hier setze ich mich nur dem Zufall aus, außerdem 161
wartet in den Bergen ein Verwundeter auf mich.« »Wer?« »Einer von der Bande. Also leben Sie wohl!« Sie schüttelten sich die Hände, dann verließ Sun Koh das Haus so heimlich, wie er es betreten hatte. Einige Tage später. Sun Koh lag etwa fünfzig Meter vor und fünfzig Meter über der Krüppelkiefer auf einem Vorsprung der Felswand, den er in der Nacht mit ebenso viel Mühe wie Behutsamkeit erreicht hatte. Ein Spalt zwischen Geröllbrocken ermöglichte ihm, die Um gebung der Kiefer zu beobachten, ohne selbst gese hen zu werden. Er hatte Vorsorge getroffen, um einige Tage hier verweilen zu können. Zwei Wasserflaschen, einige Nahrungsmittel und eine Decke lagen neben ihm. Es stand ja nicht fest, wann Nichols kommen würde. Einen Tag lang lag Sun Koh auf seinem Felsen platz, langweilte sich und schlief. Am nächsten Tag kam Nichols und mit ihm kamen Dutzende von Männern von der Arribo- und von der Sonora-Hazienda sowie eine Reihe von Leuten, die Sun Koh im Lauf der letzten Wochen an verschiede nen Stellen im Gebirge als Wachen kennengelernt hatte. Es schien, als würde die ganze Bande bis auf ganz wenige Wachtposten zusammengezogen. Sun Koh beobachtete den Aufmarsch der Bande. Er war nahe daran, die Schlucht zu sperren, als der 162
Trupp mit dem gefesselten Paolo herauskam. Er war höchst überrascht, denn erst jetzt erfuhr er, daß Paolo Gefangener der Bande war. Er hatte wäh rend der letzten Tage versucht, Paolo ausfindig zu machen, aber es war ihm nicht gelungen. Und nun fand er ihn hier. Flüchtig tauchte die Sorge in ihm auf, was nun aus seinem Plan werden sollte, nachdem die Banditen eine Geisel in der Hand hielten. Aber dann begriff er, was der Trupp vorhatte. Und er mußte das rohe Schauspiel aus geringer Entfernung mit ansehen, ohne helfen zu können. Sun Koh biß die Zähne zusammen und blieb still liegen. Nichts ist schwerer, als einen Kameraden sterben zu sehen und die Nerven zu bewahren. Aber dann eilten die Banditen in den Spalt zurück. Nur ein Mann blieb draußen. Und nun entlud sich der tiefe Grimm, der sich in Sun Koh aufgeladen hatte. Er schoß. Die Wache drehte sich um sich selbst und fiel zusammen. Wenige Sekunden später kehrte ein Mann aus der Spalte zurück und blickte neugierig um sich. Sun Koh schoß zum zweitenmal. Den dritten Schuß hätte er vor lauter Staunen fast nicht rechtzeitig abgegeben. Der gehängte Paolo hob plötzlich den rechten Arm, faßte das Seil, an dem er hing, oberhalb des Kopfes und zog sich ein Stück hoch. Paolo lockerte mit der linken Hand die Schlinge an 163
seinem Hals, zog sie über den Kopf und ließ sich den Meter bis auf den Boden herunterfallen. Er taumelte etwas, rieb sich flüchtig den Hals und rannte auch schon auf den erschossenen Wächter zu, nahm ihm Gewehr und Patronen ab und nahm schließlich seit lich von der Spalte Aufstellung. Er suchte Sun Koh und winkte ihm zu, nachdem er ihn entdeckt hatte. Den Banditen war mittlerweile klar, was gespielt wurde. Sie versuchten aus dem Tunnel herauszukom men. Aber keiner gelangte über die Sperrzone hin aus. Sun Kohs und Paolos Feuer wirkte so vernich tend, daß es bald niemand mehr wagte, sich sehen zu lassen. Und es nützte ihnen nichts zu schießen, da die beiden Gegner unsichtbar blieben. Als der erste Ansturm vorüber war, kletterte Sun Koh herunter, während Paolo die Bande weiter in Schach hielt. »Sie leben wirklich«, stellte Sun Koh glücklich fest und drückte ihm die Hand. »Wie haben Sie das fertiggebracht?« »Kunststück«, meinte Paolo grinsend, »bei meiner Halsmuskulatur! Ich dachte allerdings nicht, daß ich mich so schnell freimachen könnte. Wer weiß, ob ich lange genug durchgehalten hätte. Sie haben mir das Leben gerettet!« »Sie müssen sich schon selbst als Lebensretter be glückwünschen«, meinte Sun Koh. »Seit wann sind Sie gefangen?« 164
»Es ist schon bald eine Woche her. Ein Prellschuß gegen den Schädel betäubte mich, so daß sie mich nur noch festzuhalten brauchten. Wissen Sie, daß Nichols mit seiner ganzen Bande da drin steckt und ohne unsere Erlaubnis nicht heraus kann?« »Ich weiß, deshalb bin ich ja hier. Und ich erwarte in den nächsten Stunden Zuzug aus dem Ort.« »Fein, dann hat die Bande ausgespielt. Wir können zwar nicht hinein, aber sie auch nicht heraus.« »Sind viele Vorräte in dem Tal?« »Überhaupt keine. Morgen haben die Leute nichts mehr zu beißen!« »Das ist gut. Achtung!« Ein ganzer Trupp versuchte auszubrechen und au ßerhalb der Felsenklemme Fuß zu fassen. Aber die beiden Schützen waren dank ihrer gedeckten Stellung und ihrer Schußsicherheit überlegen. Ein Teil der Banditen bezahlte den Versuch mit dem Leben, die anderen prallten zurück und verschwanden wieder. Zwei Stunden verliefen fast ereignislos. Laramie suchte wohl nach anderen Möglichkeiten. Dann mel dete fernes Gewehrfeuer, daß die Mannschaft aus Cavarro anrückte. Als die Reiterschar am anderen Ende der Schlucht sichtbar wurde, übergab Sun Koh Paolo die Bewa chung der Felsspalte und eilte den Reitern ein Stück entgegen, um zu verhüten, daß sie in das Feuer der Banditen gerieten. 165
An der Spitze des Trupps ritt Gomez selbst. Ihm folgten ein Dutzend älterer und jüngerer Männer. »Hallo!« rief Gomez freudig erregt. »Da wären wir. Ist es gelungen?« »Die Bande ist eingeschlossen«, bestätigte Sun Koh. »Aber Sie sind doch…« »Paolo hält die Sperre. Dort rechts liegt er. Ihr müßt euch rechts halten, sonst kommt ihr in das Feu er hinein. Vom Spalt aus kann man die linke Seite der Schlucht erreichen. Wie sind Sie durchgekom men, Gomez?« »Zwei Wachen haben wir getroffen. Einer von uns ist leicht verwundet.« Sun Koh führte sie nun an der Felswand entlang zur Krüppelkiefer hinauf. An der Felsspalte ereignete sich zunächst nichts. Die Banditen schossen ab und zu aus der Spalte her aus und die Belagerer antworteten. Der Tag verging. Laramie erhoffte wohl alles von der Nacht, die ein genaues Zielen unmöglich machen mußte. Seine Leute konnten zwar auch dann nur ei ner hinter dem anderen den Spalt verlassen, aber er hoffte wohl, wenigstens einige herauszubringen, wenn er genügend Leute einsetzte. Ohne den Zuzug aus Cavarro wäre ihm das auch gelungen, aber bei dieser Zahl von Belagerern hatte er keine Aussicht mehr. Sobald die Nacht anbrach, 166
wurde unmittelbar an der Mündung der Spalte ein Feuer entfacht, für das im Lauf des Tages Holz ge sammelt worden war. Es beleuchtete die Mündung des Spalts genug, um jederzeit einen sicheren Schuß zu gewährleisten. Die Bande versuchte ihren Durchbruch trotzdem. Unter rasendem, blindwütigem Feuer drängten die Männer heraus. Sie drängten ebenso schnell zurück, als ihnen klar wurde, daß nicht nur zwei Mann den Ausgang sperrten. Der Rest der Nacht verlief ruhig. Am Morgen wurde ein weißes Tuch vorsichtig aus der Spalte herausgeschoben. Gleichzeitig rief eine Stimme: »Kann einer von uns herauskommen? Wir wollen mit euch verhandeln.« »Einer kann kommen«, wurde zugesichert. »Wir werden ihm nichts tun.« Der Mann, der kurz darauf unter dem Schutz der weißen Flagge heraustrat, war Nichols selbst. Er stutzte flüchtig, als er Gomez sah, doch dann kam er mit größter Sicherheit heran und fragte erregt: »Was ist das für ein verfluchtes Spiel, Gomez, daß Sie meine Leute zusammenschießen, als wären es Bandi ten? Was fällt euch ein, ihr Männer, habt ihr euch von diesem Mann beschwatzen lassen?« Gomez übernahm die Antwort. »Wir glauben, Laramie, daß Sie der Anführer der Cavarro-Bande sind. Vertrödeln Sie nicht die Zeit 167
mit Redensarten, sondern sagen Sie, was Sie zu sa gen haben.« »Was soll das heißen?« fuhr der Bandenführer ihn an. »Ich bin Nichols, der Ortsrichter von Cavarro. Wo ist der Polizist?« »Den haben wir zu Hause gelassen«, sagte Gomez lächelnd. »Der hätte Ihnen am Ende doch noch ge glaubt, nicht wahr? Also, was wollen Sie? Bei uns ist nur mit bedingungsloser Übergabe etwas zu ma chen.« »Sie sind verrückt. Ich verstehe nicht, was in Sie gefahren ist. Gehören Sie eigentlich zur CavarroBande, oder wollen Sie sie fangen?« »Sie dürfen überzeugt sein, daß wir sie fangen wollen und werden«, gab Gomez zurück. »Und Sie mit!« Nichols lachte nervös. »Das nenne ich einen Zufall. Ich habe nämlich die Cavarro-Bande bereits gefangen. Gestern erfuhr ich zufällig, wo sie ihren Schlupfwinkel hat.« »Ach nee?« rief einer aus dem Trupp. Nichols tat, als ob er es überhörte, und fuhr fort: »Ich ritt darauf mit der Mannschaft von Arribo, die ich für geeignet hielt, sofort in die Berge. Da die Mannschaft von Sonora von unserem Vorhaben hör te, schloß sie sich an. Sie wissen ja, daß die beiden am wütendsten über die Nachbarschaft der Bande waren.« 168
»Davon hat man nie etwas gemerkt«, warf ein an derer ein. Doch auch jetzt fuhr Nichols schnell fort: »Wir konnten sie überrumpeln und hier eindringen, bevor sie die Lage noch richtig erfaßt hatten. Was von der Bande übriggeblieben ist, liegt jetzt gefesselt dort drin. Wir waren dann allerdings sehr überrascht, als wir plötzlich das Tal nicht mehr verlassen konnten. Sie befanden sich im Irrtum, man kann Sie nicht da für verantwortlich machen. Aber ich denke, es wird Zeit, daß Sie nun den Ausgang freigeben, damit wir die Mitglieder der Bande abführen können.« »Das ist der unverschämteste Bluff, den ich mir hätte denken können«, mischte sich jetzt Sun Koh in die Verhandlung ein. »Sie verschießen Ihr Pulver unnütz. Wir wissen zu genau, daß Sie der Banden führer Laramie sind und daß die Mannschaften der beiden Haziendas zur Cavarro-Bande gehören.« »Wie wollen Sie das beweisen?« fuhr Nichols hoch. Da drängte sich Paolo vor. »Genüge ich Ihnen als Beweis, daß Sie sich ver geblich anstrengen?« Nichols fuhr zurück und würgte: »Sie? Ich denke, Sie sind gehängt?« »Nach Ihnen, wie ich Ihnen schon sagte«, sagte Paolo spöttisch. »Ich denke, daß Sie sich nun doch ergeben.« 169
»Niemals«, rief Nichols wild und ging zurück. Eine Stunde später wurde abermals ein weißes Tuch gezeigt. Ein Mann, der niemandem bekannt war, trat heraus. »Wir ergeben uns bedingungslos«, erklärte er. »Schießt nicht, wenn wir erscheinen. Die Waffen bleiben drin.« »Was sagt Laramie dazu?« erkundigte sich Sun Koh. Der Mann verzog die Lippen. »Er ist tot. Er hatte einen Streit, bei dem er er schossen wurde.« Und wieder eine Stunde später wurde der gesamte Rest der Cavarro-Bande gefesselt fortgeführt. Sun Koh bog auf halbem Weg ab und suchte sein Ver steck auf, um dem letzten freien Banditen, der sich inzwischen von seinen Wunden erholt hatte, die Freiheit zu geben. Der singende Gaucho zog an der Spitze des gan zen Trupps in Cavarro ein. 8. Die Sonne versank hinter der fernen Bergkette, die unwirklich wie schwerer Dunst am Horizont lag. Die endlose, mit hohem Campgras bedeckte Fläche wur de zu einem weichwelligen Meer, auf dem einzelne Büsche als dunkle Flecke schwammen. Von Osten 170
her zogen sich über den Himmel die samtenen Töne der Nacht. Inmitten der Pampas stand ein Wohnmobil. Von dem Wagen aus schritten zwei Männer lang sam in die Pampas hinein. Als sich die beiden hun dert Meter von dem Wagen entfernt hatten, blieben sie stehen. Paolo hob den linken Arm und wies in die Ferne. »Dort ist die Sierra da Itagua, Sir«, sagte er mit schwerer Stimme. »Dahinter liegt Catamarca und noch ein Stück weiter die Hazienda der Saltas. Wir können sie morgen erreichen. Es wird Zeit, daß ich mit Ihnen darüber spreche.« Sun Koh wartete schweigend. »Ein paar Stunden südlich von Catamarca liegt die Stadt Rioja«, fuhr Paolo dann fort. »Wir kommen ohnehin dicht daran vorbei. Ich wollte Sie um Er laubnis bitten, dort bleiben zu dürfen.« Sun Koh blickte in das Gesicht des anderen. »Sie möchten nicht mit zur Hazienda der Donna Isabella Salta?« »Nein, Sir«, sagte Paolo gepreßt. »Ich bin ja auch überflüssig. Sie wollen mit diesem kranken Schreyer sprechen. Dabei brauchen Sie mich nicht. Und Ge fahren gibt es hier nicht. Ich dachte, ich könnte in Rioja auf Ihre Rückkehr warten.« Sun Koh nickte leicht. »Ich habe nichts dagegen, Paolo.« 171
Eine Weile war es still, dann fuhr sich Paolo mit dem Handrücken über die Stirn. »Ich wollte Ihnen die Geschichte ohnehin erzäh len, warum ich mich nicht auf der Hazienda sehen lassen will. Ich habe schon einmal längere Zeit hier gelebt.« »Ich dachte es mir.« Die Hemmungen wichen allmählich. Paolo sprach flüssiger. »Ich – ich bin jetzt achtunddreißig Jahre alt. Da mals war ich zehn Jahre jünger, und sie feierte um die Zeit ihren achtzehnten Geburtstag. Isabella Salta. Sie war schön, schöner als irgend jemand, den ich früher oder später kennengelernt habe. Wundervoll war sie.« Er blickte verträumt vor sich hin. »Sie kam aus der Pension nach Hause auf die Ha zienda, aber sie hatte sich nicht verderben lassen, sondern lebte unter uns, als hätte sie stets zu uns ge hört. Prachtvoll war sie, und es gab wohl keinen un ter uns, der nicht mit Begeisterung für sie gestorben wäre. Wir liebten sie alle. Ich – liebte sie auch. Es war die einzige Liebe meines Lebens.« Er schluckte einige Male, dann sprach er leiser und bewegter weiter: »Ich war Vormann auf der Ha zienda, und ich hatte mir damals einen Namen in der Gegend gemacht. Einmal habe ich Isabella Salta auch vor einer durchgehenden Herde in Sicherheit 172
bringen können. Vielleicht lag es daran, daß sie sich stärker mir anschloß. Wir waren viel zusammen. Ich liebte sie, und ich glaubte, sie würde mich ebenfalls lieben. Man macht sich nun einmal verrückte Vor stellungen, wenn man verliebt ist. Ich – hätte ver nünftiger sein müssen.« Er holte tief Atem. »Es war eine herrliche Zeit, bis ich dann eines Ta ges mit einem Schlag nüchtern wurde. Ich weiß nicht mehr, wie es kam, jedenfalls sprachen wir plötzlich vom Heiraten. Sie machte eine Andeutung, und ich sah endlich klar und deutlich, wie die Dinge wirklich standen. Ich konnte sie ja nicht heiraten. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, Sir. Es hätte kein größe res Glück für mich gegeben, als sie zu heiraten, aber ich durfte doch ihre Jugend und Unerfahrenheit nicht ausnutzen, um sie für das ganze Leben unglücklich zu machen. Ich war ein armer Gaucho, der nicht mehr besaß als das, was er auf dem Leib trug. Ihre Eltern dagegen besaßen die größte Hazienda der Provinz und trieben mehr als eine Million Rinder über ein Landgebiet von zwanzigtausend Quadratki lometern. Sie kennen die Verhältnisse nicht so, aber Sie dürfen mir glauben, daß ein solcher Haziendero keinem europäischen Fürsten nachsteht. Octavio Sal ta, ihr Vater, war ein König in diesem Gebiet, und ich war nicht mehr als einer seiner Viehknechte. Isa bella Salta konnte nach ihrem Reichtum und nach 173
ihrer Bildung einen Prinzen heiraten. Das alles sagte ich ihr an jenem Abend so ruhig und vernünftig, wie ich nur konnte. Und bei Gott, ich habe nie eine schwerere Stunde erlebt als jene, in der ich mein Herz gewaltsam festhalten mußte und nicht tun durf te, wozu es mich trieb.« Sun Koh wartete stumm. »Sie sagte, daß sie mich liebe«, seufzte Paolo, »aber ich machte ihr klar, wie sich ihre Eltern wider setzen würden und wie schnell sich alles wandeln würde, wenn sie sich erst an mich gebunden habe. Sie wurde still darüber, dann weinte sie und lief da von. Seitdem habe ich sie nicht wiedergesehen.« »Sie haben die Hazienda verlassen?« »Ja, Sir. Eine Stunde nach jener Unterredung traf ich Octavio Salta, den Haziendero. Er stellte mich und sprach mit mir über seine Tochter. Octavio Salta war ein kluger, vernünftiger Mann. Er sprach ruhig und sachlich mit mir und sagte mir alles das noch einmal, was ich Isabella bereits vorgehalten hatte. Ich mußte ihm recht geben, wenn ich auch keinen Hehl daraus machte, wie es um mich stand. Kurz und gut, als der Morgen kam, saß ich bereits in der Bahn, die mich nach Buenos Aires brachte. Seitdem habe ich nichts wieder von Isabella Salta gehört bis Nimba ihren Namen nannte. Ja, Sir, das wäre alles. Nun wissen Sie, warum ich nicht mit zu der Hazienda will.« 174
Sun Koh legte ihm die Hand auf die Schulter. »Wir werden Sie in Rio ja absetzen, Paolo.« Langsam schritten sie zurück. Eine Stunde später lag die Nacht schwer und schwarz über der Pampas. Am Himmel glitzerten unzählige Sterne in prächtigem Geschmeide. Über den Horizont schob sich rötlich der Mond. Die Standlichter des Wagens brannten. Inmitten der sanften Helligkeit hockten die vier Reisenden am Boden und genossen den Abend. Sie schwiegen, bis ein fernes Geräusch sie aufhor chen ließ. »Ein Pferd«, sagte Paolo. »Es kommt auf uns zu.« Sie warteten. Endlich tauchte der Reiter auf. Er rief herüber und ritt langsam bis an den Lichtkreis heran. Die Beine, die sich um den mattglänzenden Pferdeleib schlossen, steckten in weiten Pluderhosen, die Steigbügel und Füße fast verdeckten und nur die silbernen Radsporen freiließen. Am breiten Leder gürtel hing ein schwerer Säbel, außerdem ein drei zipfliger Lederriemen, an dessen Enden schwarze Kugeln befestigt waren. Den Oberkörper umschloß ein grobes Hemd und eine kurze Jacke, die aus einer Wolldecke geschnitten zu sein schien. Auf dem Rük ken hing eine kurzläufige Büchse. Der Kopf wurde durch einen Hut bedeckt. »Ein Gaucho«, sagte Paolo halblaut zu den ande ren. »Man nennt diese Leute, die für die Bewachung 175
der Rinderherden zu sorgen haben, hierzulande auch Tropeiros.« Der Reiter schwang sich vom Pferd. Dann kam er mit schweren Schritten auf die Gruppe zu und ver beugte sich höflich. »Ich heiße Lopez, Benito Lopez, und reite für Donna Isabella Salta.« »Setzen Sie sich«, bat Sun Koh. »Ich heiße Sun Koh. Das sind…« Paolo machte eine kurze Bewegung, die Sun Koh sofort verstand. »Meine Begleiter«, fuhr Sun Koh fort. »Hal, hole zu trinken.« Hal verschwand. Paolo erhob sich ebenfalls, ging hinter ihm her und schob den Jungen vollends in den Wagen hinein. »Höre, Hal, ich lege aus bestimmten Gründen gro ßen Wert darauf, daß mein Name nicht genannt wird. Willst du mir den Gefallen tun?« »Hm, warum nicht? Hast du was ausgefressen?« »Ich kann dir jetzt nicht in aller Eile meine Lebens geschichte erzählen«, knurrte Paolo. »Wenn du ein anständiger Kamerad bist, tust du auch so…« »Schon gut«, unterbrach Hal, »du kannst dir deine Vorlesungen sparen. Soll ich Nimba einweihen?« »Das wäre fein von dir.« »Wird gemacht«, versprach Hal, »wenn ich dich auch stark in Verdacht habe, daß es sich bei deinen 176
ganzen Geheimnissen nur um eine unglückliche Lie be handelt. Schick Nimba her, ich könnte den Schnaps nicht finden.« Das Zwischenspiel war nur kurz. Der Gaucho, der übrigens noch jung war, aber einen recht angeneh men Eindruck erweckte, tat dem Schnaps alle Ehre an. »Kein schlechter Tropfen«, anerkannte er. »Tut ei nem gut, wenn man Tag und Nacht unterwegs ist.« »Gibt es auf der Hazienda der Saltas so wenige Reiter, daß die Gauchos einzeln das Land durchhet zen müssen?« erkundigte sich Paolo. Der Gaucho lachte auf. »Wo denken Sie hin? Wir sind schon einige hun dert Mann für die Herden. Aber ich bin augenblick lich Botenreiter. Ist ein außergewöhnlicher Fall, der mich von Station zu Station treibt. Donna Isabella Salta heiratet.« Paolo zuckte zusammen. »Sie…« »Donna Isabella heiratet?« fragte Sun Koh schnell, um Paolos Erregung zu überdecken. »Ja«, bestätigte der Gaucho arglos. »In fünf Tagen findet die Hochzeit statt. Das wird ein Fest, von dem man noch nach zwanzig Jahren reden wird. Sie kön nen sich wohl denken, Senhor, wie die Jungens aus dem Häuschen geraten, wenn ich ihnen die Einla dung bringe. Donna Isabella will uns alle bei ihrer 177
Hochzeit sehen, deshalb reite ich durchs Land.« »Donna Isabella heiratet?« murmelte Paolo klang los vor sich hin. Seine Erschütterung war so stark, daß sie selbst dem fremden Reiter nicht ganz entging. »Sie sagen das so seltsam, Senhor«, sagte er, »als ob Sie es nicht für möglich hielten? Sie kennen sie ja nicht, aber ich kann Ihnen versichern, daß es so leicht keinen Mann gibt, der sie nicht heiraten würde. Sie ist nicht nur die schönste, sondern auch die beste Frau von ganz Argentinien.« »Wen heiratet sie denn?« fragte Paolo. »Ricardo Chico heißt er«, antwortete der Gaucho. »Er ist ein Vetter von ihr. Lange genug hat er warten müssen, aber man sagt, daß er sich die Zeit nicht schlecht vertrieben hat. Nun, es ist eben ein feiner Herr, und Donna Isabella wird wissen, was sie tut. Es gibt eine ganze Menge Leute, die behaupten, es wäre für die Hazienda und für die Donna besser gewesen, wenn jene alte Geschichte anders ausgegangen wä re.« »Haben Sie sich in der letzten Zeit auf der Ha zienda aufgehalten?« fragte Sun Koh, um das Ge spräch von dem verfänglichen Thema abzulenken. Aber Paolo selbst machte seine Bemühungen zu nichte, denn er fragte gleichzeitig: »Welche alte Ge schichte?« »Genaues erfährt man nicht darüber«, sagte der 178
Gaucho schulterzuckend. »Donna Isabella soll den ›Singenden Paolo‹, den König der Gauchos, geliebt haben. Er ist dann über Nacht verschwunden, aber man weiß heute noch nicht, ob er das Land verlassen hat oder plötzlich gestorben ist. Jedenfalls wäre das der richtige Mann für die Hazienda gewesen. Donna Isabella hat es nicht leicht gehabt, als ihre Eltern plötzlich verunglückten und sie die Hazienda allein führen mußte.« »Wann war das?« »Gott, das sind nun bald zehn Jahre her, zwei oder drei Monate, nachdem der ›Singende Gaucho‹ ver schwand. Ich war damals fünfzehn, aber ich weiß noch wie heute, wie sie am Grab ihrer Eltern zu sammenbrach.« Hal hatte inzwischen vieles begriffen. »Wer war denn dieser ›Singende Gaucho‹?« »So kann nur einer fragen, der fremd im Lande ist. Von dem erzählt man sich heute noch überall, wo Gauchos an ihren Feuern sitzen. Das war ein Kerl. Er ritt wie der Teufel und machte den wildesten Gaul in drei Minuten lammfromm. Er ging mit bloßen Hän den einen tollen Stier an und holte ihn an den Hör nern herunter, als ob er eine Ziege wäre. Er schoß wie ein Kunstschütze und warf die Bola besser als irgendeiner. Sein bestes Stück war wohl, wie er da mals mit der…« »Sie haben ihn nicht selbst gekannt?« unterbrach 179
Sun Koh, der verstand, warum Paolo plötzlich den Kopf in die Hand stützte, so daß sein Gesicht zum Teil verschwand. »Leider nicht. Ich habe ihn nur einmal flüchtig ge sehen, als er bei uns vorbeiritt. Sie müssen sich ihn ungefähr vorstellen, wie diesen Senhor dort.« »Sie kehren zur Hazienda zurück?« fragte Sun Koh. »Heute nicht mehr, aber übermorgen werde ich dort sein.« »Haben Sie einen Senhor Schreyer auf der Ha zienda kennengelernt?« »Schreyer? Gewiß, den Senhor kenne ich. Er wohnt aber nicht auf der Hazienda, sondern auf der Bergstation Itagua. Sie müssen wissen, daß er ziem lich krank war, als er hierher kam. Er hat sich aber schon wieder recht gut erholt, soviel ich hörte. Ken nen Sie ihn?« »Wir wollen ihn aufsuchen.« Der Gaucho schob seinen Hut ein Stück zurück. »Hm, dann wollen Sie ebenfalls zur Hazienda. Sind Sie etwa gar von Donna Isabella als Hochzeits gäste geladen worden?« »Nein, wir erfuhren erst durch Sie von der Hoch zeit.« Der Gaucho erhob sich. »Hm, hm, immerhin werden Sie hinkommen. Hof fentlich erzählen Sie Senhor Chico nicht, daß ich ihn 180
nicht für den richtigen Mann halte.« »Keine Sorge«, sagte Sun Koh beruhigend. »Wol len Sie schon aufbrechen?« Der Gaucho ließ sich durch Zureden nicht mehr halten. Wenig später verlor sich der dumpfe Huf schlag seines Pferdes in der Ferne. * Paolo blieb in Rioja. Sun Koh fuhr mit Nimba und Hal weiter nach Norden in den gewaltigen Talkessel hinein, den die Pampas zwischen die Ausläufer der Anden schob. Fast zehntausend Quadratkilometer Weideland umfaßte dieses Tal, und damit erschöpfte sich der Besitz der Donna Isabella Salta noch lange nicht. Man mußte hier wirklich besondere Maßstäbe anwenden, und es war verständlich, daß Paolo aus einem Gefühl von Minderwertigkeit und Unwürdig keit heraus geflohen war. Auf halbem Weg holten sie einen hochrädrigen Karren ein, der von einem ziemlich klapprigen Pferd durch die grasige Ebene gezogen wurde. Ein alter, verhutzelter Mann saß auf dem Packen, mit denen der Karren beladen war. Er winkte so eifrig, daß Sun Koh anhielt. Der Alte, der durch ein hölzernes Bein behindert war, humpelte herunter. Die Begegnung bereitete ihm offenbar Vergnügen. »Sie werden es sehr unhöflich finden«, sagte er 181
augenzwinkernd, »aber ich wollte meiner alten Stute einmal Gelegenheit geben, in Ruhe Ihren Wagen zu beschnuppern. Vielleicht wird sie dann ein bißchen eifriger.« Sun Koh verstand. »Man sollte niemandem die Gelegenheit rauben«, sagte er. »Bitte steigen Sie ein. Wir können gut eine kleine Rast einlegen.« »Vielen Dank«, sagte der Alte und stieg ein. »Donnerwetter, das lasse ich mir gefallen!« Er nahm die Besichtigung ziemlich gründlich vor. Seine Augen gingen aufmerksam umher, dann setzte er sich. »Sie werden mich für sehr neugierig halten«, meinte er, »aber das bringt nun eben so das Geschäft mit sich. Die Jungens kaufen mir nichts ab, wenn ich ihnen nichts Neues erzähle. Ich handle nämlich mit allen möglichen Dingen, falls Sie etwas gebrauchen sollten, Ledergürtel, Seidentücher…« »Danke«, lehnte Sun Koh ab. »Unser Bedarf an diesen Sachen ist gering.« »Wem sagen Sie das?« sagte der Alte grinsend. »Meine Sachen sind nichts für Sie. Außerdem werde ich sie auch auf der Hazienda brauchen. Es kommen dort allerhand Burschen zusammen, denen das Geld locker sitzt. Sie fahren doch auch zur Hochzeit?« »Eigentlich nicht. Wir wollen nur einen Senhor Schreyer besuchen, der sich dort aufhält.« Der Alte zog die Brauen hoch. 182
»Ah, den Senhor, der es mit der Lunge zu tun hat? Nun, die Luft in den Bergen soll ihm ja gut bekom men. Sie sind mit ihm verwandt?« »Wir haben nur eine geschäftliche Angelegenheit zu besprechen.« »Natürlich. Aber ich würde an Ihrer Stelle getrost die Hochzeit mitfeiern. Donna Isabella hat ohnehin die ganze Umgebung zu Gast geladen. Das ist nun einmal Sitte so, Sie brauchen deswegen nicht zu denken, daß sie sich übermäßig freut.« »Warum sollte sich Donna Isabella Salta nicht freuen?« fragte Sun Koh. Der Händler wurde sofort eifrig. »Weil sie eine kluge Frau ist und ganz genau weiß, daß sie eigentlich einen Fehler macht, wenn sie Ri cardo Chico heiratet. Sie weiß, daß er den großen Herrn spielen will und daß er von Karten und Wei bern mehr hält als von Pferden und Rindvieh.« »Dann ist sie sehr unklug, wenn sie ihn trotzdem heiratet.« Der Alte hob die Schultern und breitete die Hände aus. »Unklug ist sie nicht, aber sie ist eine Frau, die ihr Wort hält. Was sie einmal geschworen hat, wird sie auch halten. Kennen Sie eigentlich ihre Geschichte?« »Nein.« »Das habe ich mir gleich gedacht. Sehen Sie, da lebte vor zehn Jahren ein gewisser Paolo Cortas auf 183
der Hazienda. Er war Vormann und ein Kerl, von dem man sich noch heute die tollsten Geschichten erzählt. Donna Isabella liebte ihn und hätte ihn auch geheiratet, wenn er nicht über Nacht verschwunden wäre. Das war ein schwerer Schlag für sie. Sie lief damals so verstört umher, als wollte sie sich im nächsten Augenblick das Leben nehmen. In jener Zeit tauchte ihr Vetter, dieser Ricardo Chico, auf. Ihre Eltern, die wohl Angst um das Mädchen hatten, wollten sie mit ihm verheiraten. Aber sie hat sich wi dersetzt. Und wie sie sich widersetzt hat! Ich war selbst dabei, wie sie vor aller Öffentlichkeit erklärt hat, daß sie allein Paolo Cortas liebe und daß sie zehn Jahre auf ihn warten werde und sich durch kei ne Macht der Erde zwingen lassen würde, in diesen zehn Jahren einen anderen zu heiraten. Erst wenn er in den zehn Jahren nicht wieder aufgetaucht sei, wol le sie heiraten, und dann sei es ihr gleichgültig, ob ihr Gatte etwa zufällig Chico heiße. Damals dachte wohl keiner daran, daß sie an ihrem Schwur festhalten würde. Aber es blieb dabei. Es kamen schwere Zei ten für sie, ihre Eltern starben an einem Tag. Chico versuchte immer wieder sein Glück, sie wartete je doch. In vier Tagen ist die Zeit, die sie sich selbst gesetzt hat, abgelaufen. Und Chico wird ihr Mann, weil sie es damals gewissermaßen versprochen hat!« Den Alten hatte seine eigene Erzählung in Rüh rung versetzt. Er schneuzte sich verstohlen. 184
»Dann hat Donna Isabella diesen Cortas sehr ge liebt«, sagte Sun Koh leise. Der Händler nickte und versicherte feierlich: »Es war eine große Liebe, das dürfen Sie glauben. Und wenn dieser Cortas heute käme, sie würde ihn heira ten und nicht den anderen. Es ist ein Jammer.«Damit rappelte er sich auf und verabschiedete sich. Sie fuhren weiter. Sun Koh saß am Steuer, seine Gedanken schienen sich aber woanders zu befinden. Nach einer Weile sagte Nimba. »Hm, Sir, was halten Sie eigentlich davon? Ich will mich ja nicht in fremde Angelegenheiten einmi schen, aber daß diese Donna Isabella zehn Jahre lang auf ihren Liebsten gewartet hat, das ist mir denn doch in die Beine gefahren. Man müßte das Paolo eigentlich sagen. Er denkt doch sicher, daß sie ihn schon längst vergessen hat und nun aus Liebe einen anderen heiratet.« Sun Koh schwieg so lange, daß auch Hal einfiel. »Eigentlich müßte Paolo darüber Bescheid wissen. Es geht doch nicht, daß Donna Isabella einen ande ren heiratet, während Paolo nur ein paar Stunden ent fernt ist und schwach wird, wenn er nur ihren Namen hört.« Sun Koh nickte. »Du hast schon recht, aber wissen wir denn, ob die Darstellung des Alten richtig war? Paolo wird nur den Kopf schütteln, wenn wir umkehren und ihn auf 185
diese Erzählung hin überreden wollen, die Hazienda aufzusuchen. Dieses Schicksal greift zu tief, um durch die Worte eines Neuigkeitenkrämers gelenkt zu werden.« »Hm, das ist auch wieder richtig«, bedachte Hal, »aber wir können doch trotzdem nicht die Sache ein fach laufen lassen? Wenn der Alte nun doch recht hatte?« »Es sind noch vier Tage Zeit«, sagte Sun Koh. »Heute erreichen wir die Hazienda. Vielleicht verrät mir Donna Isabella selbst, was richtig ist.« »Hoffentlich. Ich wäre jedenfalls nicht abgeneigt, Paolos Hochzeit mitzufeiern«, seufzte Hal. * Die Hazienda Salta erwies sich als eine außerordent lich umfangreiche Gebäudeanlage, die von einer Ge ländeterrasse aus das Tal weithin beherrschte. Außer dem zweistöckigen breitgelagerten Haupthaus gehör ten eine ganze Reihe stattlicher Nebenbauten zur Ha zienda, so daß die Hazienda eigentlich mehr den Eindruck eines kleinen Dorfes machte. Die Ankunft des schweren Wagens erregte natur gemäß einiges Aufsehen. Als er vor dem Haupthaus anhielt und die Insassen ausstiegen, kam ein grauhaa riger Mann herbeigeeilt, dem zwei diensteifrige Männer folgten. Der Grauhaarige verbeugte sich mit 186
Würde vor Sun Koh. »Donna Isabella Salta heißt die Herren auf ihrem Besitztum herzlich willkommen«, sagte er. »Sie hofft, daß die Herren ihre Gäste sein werden, und bittet Sie, einstweilen meine Dienste in Anspruch zu nehmen. Ich bin der Verwalter.« »Ich heiße Sun Koh«, erwiderte Sun Koh, »und kam mit meinen Begleitern wegen einer Rücksprache mit Senhor Schreyer, der sich wohl augenblicklich in der Umgebung aufhält. Wir nehmen jedoch die gebo tene Gastfreundschaft mit Dank an und würden es uns als besondere Ehre anrechnen, Donna Isabella begrüßen zu dürfen.« »Ich werde Donna Salta von der Ankunft der Her ren verständigen. Die Remisen befinden sich dort. Wenn ich die Herren dann bitten dürfte, mir in das Gästehaus zu folgen.« Sie stellten den Wagen ein, dann ließen sie sich in einem Seitenflügel des Haupthauses Zimmer anwei sen, die weder in Ausstattung noch in Zubehör denen eines guten Hotels nachstanden. Der Verwalter stell te einen Diener zur Verfügung. Er selbst verschwand und erschien erst wieder, als sich Sun Koh und seine Begleiter gebadet, umgekleidet und einen reichhalti gem Imbiß verzehrt hatten. »Donna Salta ist über die Ankunft der Herren au ßerordentlich erfreut«, berichtete er in seinem feierli chen Tonfall. »Sie würde sich sehr freuen, wenn die 187
Herren mit ihr gemeinsam die Abendmahlzeit ein nehmen würden.« »Gern«, sagte Sun Koh. Der Grauhaarige wurde um einen Schein vertrauli cher. »Ich werde mir erlauben, Sie in zwei Stunden selbst hinüberzuführen. Bitte kleiden Sie sich nicht um. Donna Isabella legt keinen Wert auf dunkle An züge. Außer Ihnen nimmt nur noch Senhor Schreyer am Abendessen teil.« »Befindet sich Senhor Schreyer hier?« »Gewiß, er ist im Haus.« »Dann verständigen Sie ihn bitte, daß wir seinet wegen gekommen sind.« »Ich werde es ausrichten.« Zehn Minuten später klopfte es ziemlich heftig an die Tür. Ein junger Mann trat ein. Er war über schlank, seine Schultern hingen nach vorn, und sein Gesicht trug die Spuren von Leiden, aber seine Be wegungen hatten bereits eine gewisse Frische und verrieten Lebenswillen und rückkehrende Gesund heit. Das war Richard Schreyer, ein junger Techniker, der kurz vor seinem gesundheitlichen Zusammen bruch eine weittragende Erfindung abgeschlossen hatte. Sun Koh legte Wert darauf, sie zu überneh men. In der nächsten Stunde saß er mit Schreyer zu sammen und traf mit ihm ein Abkommen. 188
Zur angesagten Zeit erschien der Majordomo und führte die drei in das Haupthaus. In einem Raum, der wie das ganze Haus luxuriöse Behaglichkeit aus strahlte, lernten sie die Herrin der Hazienda kennen. Donna Isabella war wirklich eine schöne Frau. Man hätte sie für ein junges Mädchen halten können, wenn nicht der Ernst und die Reife des schmalen, von dunklen Locken umrahmten Gesichts widerspro chen hätten. »Willkommen«, sagte sie mit dunkler Stimme. »Ich hoffe, daß Sie sich hier wohlfühlen und längere Zeit verweilen werden.« Ein kurzes Gespräch setzte ein. Der Majordomo meldete, daß angerichtet sei. Eine Flügeltür öffnete sich, man trat in den Nebenraum. Das erste, was Hal entdeckte, war ein großes Bild an der Längswand des Zimmers. Der Anblick kam so überraschend, und das Bild wirkte so echt und natur getreu, daß es Hal herausplatzte: »Das ist doch Pao lo!« Donna Isabella blieb, jäh stehen. Dann wandte sie sich langsam nach Hal um. Hal hatte inzwischen seine Dummheit längst er kannt und würgte: »Äh, hm, ich meine, das könnte doch jener Paolo sein, von dem man uns erzählte…« »Kennen Sie Paolo Cortas?« fragte Donna Isabella leise und beherrscht. Die Weite ihrer Augen allein verriet, was durch ihre Seele ging. 189
»Wir kennen ihn«, übernahm Sun Koh die Ant wort. »Wenn Sie mir erlauben, möchte ich dann al lein mit Ihnen darüber sprechen.« Sie neigte den Kopf, flüsterte eine kaum hörbare Bejahung und schritt weiter. Das Essen wurde mehr Qual als Freude. Hal war blaß geworden und wagte Sun Koh nicht anzusehen, geschweige denn, den Mund auf zutun. Donna Isa bella erfüllte ihre Pflichten, aber die Männer spürten, wie sie sich innerlich mit Fragen und Vermutungen quälte, während sie den leichten Plauderton aufrecht zuerhalten suchte. Sie taten alles, um das Essen ab zukürzen. Von der Wand blickte Paolo. Es war das Ölgemäl de eines Meisters, nach Fotografien gemalt, wie sich später herausstellte. Donna Isabella blickte wieder holt zu dem Bild hin, und jedesmal zitterte die Gabel in ihrer Hand. Endlich war die Speisenfolge zu Ende. Schreyer erklärte sofort, Nimba und Hal unbedingt etwas zei gen zu müssen. Sun Koh folgte der Herrin des Hau ses in einen anderen Raum. Auf dem Tischchen, an das sie sich setzten, stand eine Fotografie Paolos. Donna Isabella nahm sie in die Hand und stellte sie wieder ab. »Das war Paolo Cortas vor zehn Jahren«, sagte sie leise. »Sie wollten mir von ihm erzählen.« Behutsam setzte Sun Koh an. 190
»Ich habe ihn kennengelernt«, sagte Sun Koh, »so gut kennengelernt, daß er mir die Geschichte seiner Liebe erzählte.« »Er lebt?« »Er lebt«, bestätigte Sun Koh. »Es ist noch nicht lange her, daß ich ihn sprach.« Wieder ging eine starke Erschütterung wie ein Schauer durch ihren Körper, aber sie hielt sich zu sammen. Tonlos, aber beherrscht, sprach sie weiter. »Er lebt also«, sagte sie tonlos. »Das ist das erste, was ich seit zehn Jahren von ihm höre. Wenn er sich nicht sehr geändert hat, müssen Sie sein unbe schränktes Vertrauen genießen. Was sagte er Ihnen?« »Er liebte ein junges Mädchen. Es war die große Liebe seines Lebens, die er bis heute nicht verwun den hat. Sie war die Tochter des reichsten Haziende ros, er war ein armer Gaucho. Eine alte Geschichte. Er fühlte sich dieses Mädchens nicht würdig, deshalb verließ er das Land über Nacht.« Unwillkürlich ging sie auf seinen Ton ein. »Hat das Geld die Macht, zwei Menschen vonein ander zu trennen? Wenn das Mädchen den Mut fand, trotz aller wirtschaftlichen Unterschiede zu ihm zu stehen, mußte dann er nicht erst recht den Mut dazu finden? War er so feige, um eine Auseinandersetzung mit den Eltern zu scheuen?« »Er scheute sich wohl nicht, aber es ist oft schwe 191
rer, Geld zu nehmen, als zu geben. Und er fürchtete wohl auch sonst, dem Mädchen unterlegen zu sein. Sie hatte eine ganz andere Erziehung und Bildung genossen als er.« »Das ist nicht wahr«, bestritt sie leidenschaftslos. »Er stand dem Mädchen weder geistig noch seelisch nach. Und wenn es Unterschiede gegeben hätte, die Liebe hätte sie überbrücken können.« »Sie haben recht«, bestätigte Sun Koh. »Aber weiß ein Mann, wie groß die Liebe ist? Paolo wußte es nicht. Er hielt die Liebe des Mädchens für einen Rausch, den sie bald vergessen würde. Er ging, um sie vergessen zu lassen und ihr Leid zu ersparen. Er wollte nicht die Betörung einer ersten Liebe nützen, um dieses Mädchen für dauernd an sich zu fesseln, weil er annahm, daß sie eines Tages bereuen würde.« »Er schmähte die Liebe jenes Mädchens, um sich selbst zu rechtfertigen. Sie war kein Rausch!« »Nichts lag ihm ferner als eine Schmähung. Er brachte mit der Entsagung seiner Liebe das größte Opfer, das ein Mann bringen kann.« »Er hätte nicht zu entsagen brauchen«, gab sie starr zurück. »Das Mädchen hatte ihm gesagt, daß sie an ihm festhalten würde und nur ihn heiraten woll te.« »Eben das rief die Verantwortung in ihm wach und veranlaßte ihn so zu handeln, wie es ihm seine Pflicht scheinbar gebot. Vielleicht wäre er auch ge 192
blieben, wenn ihm der Vater des Mädchens nicht noch einmal alles das vorgehalten hätte, was er sich selbst schon sagte.« Sie zuckte zusammen. »Er hat an jenem Abend, an dem er mich verließ, doch mit meinem Vater gesprochen?« »Ja.« »Ich wußte es, ich habe es immer gewußt. Er ist gegangen, weil mein Vater ihn kannte und wußte, wie man ihn zum Verzicht zwingt. Das alles, was Sie vorher sagten, hat mein Vater zuerst gedacht, aber nicht Paolo. Mein Vater meinte es gut, aber was wußte er von unserer Liebe? Und Paolo hätte trotz dem nicht gehen dürfen.« »Sie verzeihen ihm nicht?« »Doch«, sagte sie weich, »aber es gab etwas, was ihn hätte festhalten müssen, etwas, das jenseits aller Bedenken und Erwägungen stand. Paolo wäre ge blieben, wenn er davon gewußt hätte. Ich wollte es ihm an jenem Abend sagen, aber unsere Unterhal tung nahm eine andere Wendung, als ich gedacht hatte.« »Ich – verstehe Sie nicht«, sagte Sun Koh. Donna Isabella drückte einen Knopf. Unmittelbar darauf erschien eine ältere Frau. »Ist Paolo bereits zu Bett?« fragte Donna Isabella. »Er wartet darauf, ›Gute Nacht‹ sagen zu dürfen.« »Bringen Sie ihn bitte.« 193
Sun Koh sprang auf. »Donna Isabella…« Die Tür öffnete sich wieder. Ein Knabe von neun Jahren trat ein und lief auf Donna Isabella zu. Er war schlank und geschmeidig wie sie, aber sein Gesicht verriet trotz aller kindlichen Weichheit bereits die Ähnlichkeit mit Paolo. »Mutter«, sagte das Kind, und ein Blick auf das Gesicht der Frau, die ihn umarmte, genügte, um die volle Wahrheit zu wissen. Es war lange still, als sich die Tür wieder hinter dem Knaben geschlossen hatte. »Donna Isabella«, sagte Sun Koh endlich, »davon ahnte Paolo nichts, sonst wäre er damals geblieben.« »Ich weiß«, flüsterte sie schmerzlich. »Er war der letzte, der mich in meiner Not allein gelassen hätte. Doch es ist vorbei. Das Kind gab mir viel von dem, was er mir raubte. Sie wollten mir von ihm erzählen. Wo lebt er jetzt?« »Ich will es Ihnen sagen, doch bitte beantworten Sie mir noch eine Frage. Warum haben Sie nicht nach ihm geforscht und dafür gesorgt, daß er das er fuhr?« Sie straffte sich. »Paolo hat mich verlassen, nicht ich ihn. Ich wußte auch nicht, wo ich ihn hätte suchen sollen. Und ich fürchtete mich davor, daß er sich schon längst ander weitig gebunden hatte. Ich wollte mir nicht noch die 194
Erinnerung zerstören lassen.« »Sie lieben ihn noch heute?« fragte Sun Koh. »Ja.« »Und doch wollen Sie in wenigen Tagen eine Ehe schließen?« »Ich gab damals meinem Vetter mein Wort, ihn zu heiraten, wenn Paolo nicht innerhalb von zehn Jahren zurückkommen sollte. Ich werde mein Wort halten.« »Sie lieben Ihren Vetter nicht?« »Ich – verachte ihn. Ich hätte ihm damals mein Wort nicht geben dürfen.« »Und wenn Paolo noch in diesen Tagen zurück kehren würde?« In ihrem Gesicht arbeitete es. Dann flüsterte sie: »Ich werde bis zur letzten Sekunde hoffen. Aber Pao lo hat zehn Jahre Zeit gehabt, um zurückzukommen.« »Er hat zehn Jahre lang nicht gewußt, daß Sie ihn noch lieben und daß dieses Kind lebt. Es wird höch ste Zeit, daß er davon erfährt.« »Er wird es zu spät erfahren«, antwortete sie. »In vier Tagen werde ich meinen Vetter heiraten, wenn er bis dahin nicht vor mich getreten ist.« »Paolo hat mich auf dieser Reise begleitet. Er ist in Rioja geblieben.« Ihr Gesicht wurde ganz weiß. Sie zitterte. »In Rioja?« »Ja. Ich werde morgen hinfahren, er kann am Abend bereits vor Ihnen stehen.« 195
Ihre Lippen zitterten. »Paolo?« sagte sie endlich. »Ich – ich kann es noch nicht glauben. Aber – fahren Sie und sagen Sie ihm, daß ich noch vier Tage auf ihn warte. Viel leicht…« Sie schlug plötzlich die Hände vor das Gesicht und schluchzte heftig auf. Sun Koh ging still hinaus. * Paolo wartete in Rioja. Sun Koh fand ihn nach einer rasenden Fahrt durch die Pampas. »Mir ist etwas Seltsames widerfahren, Sir«, preßte er heraus. »Ich habe diesen Chico kennengelernt, den Donna Isabella heiraten will. Er unterhielt sich mit seinen Freunden und erwähnte dabei, daß Donna Isa bella ihn doch nur heirate, weil sie es ihm vor zehn Jahren gewissermaßen versprochen habe. Donna Isa bella Salta hat zehn Jahre auf meine Rückkehr ge wartet.« »Ich weiß«, sagte Sun Koh. »Ich habe mit ihr ge sprochen.« Paolo griff nach seinem Arm. »Sie haben mit ihr gesprochen? Und?« »Isabella Salta hofft noch heute auf Ihre Rückkehr, Paolo.« 196
Paolo ließ Sun Kohs Arm los und trat an das Fen ster. Er starrte lange hinaus, bevor er sich wieder um wandte und fragte: »Sie hofft auf meine Rückkehr? Zehn Jahre lang? Dann hat sie mich nicht vergessen.« »Sie hat nie aufgehört, Sie zu lieben.« In Paolos Gesicht zuckte es. »Damit – habe ich nicht gerechnet. Wenn ihre Liebe so groß war, dann hätte ich nicht fortgehen dürfen. Zehn Jahre! Und heute? Diese zehn Jahre, die durch meine Schuld verlorengingen, trennen uns auch. Sie und ich – das waren schon damals Unter schiede. Wäre es nicht besser für sie, wenn sie mich bloß in der Erinnerung behalten würde? Glauben Sie, daß wir beide noch nach dieser Zeit zusammenpas sen? Raten Sie mir, was soll ich machen? Soll ich zu ihr gehen oder nicht? Ich würde abermals zehn Jahre meines Lebens geben, wenn…« »Ich bin nach Rioja gekommen, um Sie zu Isabella Salta zu führen«, unterbrach Sun Koh. »Sie dürfen nicht nur tun, wozu Ihr Herz Sie drängt, Sie müssen sogar die Hoffnung dieser seltenen Frau erfüllen. Es ist Ihre Pflicht. Auf der Hazienda wartet nicht nur eine Frau auf ihren Mann, sondern auch ein Kind auf seinen Vater.« »Ein…« Paolo trat einen Schritt nach vorn, seine Augen waren weit aufgerissen. 197
»Ein Kind auf seinen Vater?« würgte er wie ein Erstickender. Sun Koh nickte. »Isabella Salta hat einen Sohn. Er ist neun Jahre alt, trägt Ihre Züge und heißt Paolo wie Sie.« Cortas stand wie angewurzelt. Seine rechte Hand suchte nach einem Halt. »Oh – ich Schuft!« keuchte er schließlich und knickte zusammen. Sun Koh sprang rechtzeitig zu, packte ihn an bei den Schultern und hielt ihn aufrecht. »Fassen Sie sich, Paolo«, sagte Sun Koh. »Was Isabella Salta auch immer gelitten hat, sie mißt Ihnen die geringste Schuld bei. Denken Sie an das, was in der Zukunft vor Ihnen beiden liegt.« Paolo hörte anscheinend nicht. Seine Augen blick ten ins Leere, sein Körper blieb schlaff zwischen den Händen Sun Kohs hängen. Aber Sun Koh redete wei ter, und endlich löste sich die Betäubung. Paolo straffte sich und stand wieder aus eigener Kraft, in seine Augen kehrte das Bewußtsein zurück. »Danke, Sir«, flüsterte er matt, »es ist wieder gut. Es traf mich zu schwer.« Und plötzlich schoß der Strom des Lebens durch Paolo. Ein Zittern lief durch seinen Körper, dann rief er: »Sir, sie wartet auf mich? Es ist wirklich wahr? Und ein Kind wartet ebenfalls auf mich? Ja, ich – das ist…« 198
Eine Viertelstunde später rollte der Wagen auf der Pampas. Es war eine seltsame Fahrt. Paolo, der sonst immer still und ernst gewesen war, lachte und redete in einem fort, so daß sich Hal fast wie ein alter, ge setzter Herr vorkam. Paolo strahlte vor Freude und fieberte dabei vor Ungeduld. Er wurde aber immer stiller, je mehr sie sich der Hazienda näherten. Die ersten Beklemmungen huschten über seine Seele. Wahrscheinlich wäre er im Laufe der Zeit in tiefe Bedrückung versunken, wenn es nicht einen Zwischenfall gegeben hätte. Sie überholten einen Reitertrupp von fünf Mann. Einer der Reiter war Ricardo Chico. Das Erkennen beruhte auf Gegenseitigkeit. Chico riß die Augen auf, als sähe er einen Geist. Paolo winkte ihm drohend mit der Faust. Im übrigen war er zu guter Laune, um Groll gegen Chico zu hegen. Die Reiter hielten die Pferde an und ließen den Wagen vorüber. Er war kaum ein Stück weiter, als sie nach ihren Gewehren griffen. »Sie wollen schießen!« warnte Hal. Da peitschten auch schon die Schüsse. Der Wagen schleuderte plötzlich. Sun Koh bremste scharf. »Die Reifen!« Paolo schoß schon nach hinten, aber die Entfer nung war für die Pistolen schon zu groß, während sie für die Gewehre der anderen noch ausreichten. »Die Hunde!« stöhnte Paolo. »Sie wollen verhin 199
dern, daß ich rechtzeitig zur Hazienda komme!« »Augenblicklich strengen sie sich noch an zu ver hindern, daß wir überhaupt jemals die Hazienda er reichen«, meinte Hal. Chico und seine Freunde schossen eifrig, aber der große Wagen bot genügend Deckung, so daß sie kei nen der drei treffen konnten. Die Hinterreifen waren freilich beide hin. Von den beiden Ersatzreifen konn te nur der eine verwendet werden. Man mußte also versuchen zu flicken. »Mit dem Wagen sind wir im Nachteil«, sagte Sun Koh nachdenklich. »Wenn Chico einigermaßen schlau ist, wird er uns durch seine Freunde belagern lassen und inzwischen die Hazienda aufsuchen. Wir müssen den Wagen aufgeben und uns Pferde ver schaffen.« »Ich laufe sogar zu Fuß, wenn es sein muß«, mur melte Paolo. »In drei Tagen läßt sich viel schaffen.« »Wir brauchen doch nur zu warten, bis andere vor beikommen«, überlegte Hal. »Da kannst du aber lange warten«, erwiderte Pao lo. »Hier sucht sich jeder seinen Weg selbst, und die Ebene ist groß genug.« »Warten wir ab, bis es dunkel wird«, beendete Sun Koh die Auseinandersetzung. Chico mußte genau den Plan erfaßt haben, den Sun Koh vermutete. Die Belagerung wurde fortge setzt. Geschossen wurde zwar kaum mehr, aber so 200
bald sich jemand der drei zeigte, knallte es. Und als sich die Nacht über die Ebene senkte, rückten die Belagerer weiter heran. Es waren vier Mann in vier verschiedenen Richtungen. Eine Stunde nach Einbruch der Dunkelheit schli chen Sun Koh und Paolo weg. Hal knallte immer einmal ins Blaue hinein, damit die Belagerer nicht mißtrauisch wurden. Zwei Stunden später kehrten die beiden Männer mit vier Pferden zurück. »Die Kerle mögen nur morgen die Reifen flicken«, sagte Paolo grinsend. »Wenn wir gleich losreiten, sind wir noch vor Mitternacht auf der Hazienda.« Sie ritten los. Eine gute Stunde lang hielten sie sich nebeneinan der, aber dann war Paolo nicht mehr zu bändigen. Er hatte sich das beste Pferd herausgesucht. Sun Koh winkte Hal ab, der einige entrüstete Bemerkungen dazu machen wollte. Endlich blinkten die Lichter der Hazienda auf. Corralzäune huschten rechts und links vorbei. Haus wände warfen den dumpfen Hufwirbel zurück. Vor dem Haupthaus sprang Paolo aus dem Sattel. Er befand sich in Fahrt, und das war gut so, denn so überkam ihn nicht erst das große Zagen. Ohne sich zu bedenken, hämmerte er gegen die Tür. Im Haus brannte noch Licht, und bis Mitternacht war noch lange hin. 201
Der grauhaarige Verwalter öffnete selbst. Er prall te zurück, als das Licht auf Paolos Gesicht fiel. »Himmlische Mutter – Paolo Cortas!« »Ja«, rief Paolo. »Ist Donna Isabella noch auf?« »Ja, aber…« »Wo?« »Oben – im Schreibzimmer – aber…« »Genügt! Mein Pferd muß abgerieben werden.« Paolo schob den Verwalter beiseite und eilte nach oben. Er wollte die Tür aufreißen, aber mitten in der Bewegung überfiel ihn die Angst. Doch da wurde sie schon von innen geöffnet. Isabella Salta erschien im Türrahmen. »Isabella!« »Paolo!« Sie stöhnten es heraus, zwei Menschen, die zehn Jahre ihre große Liebe getragen und sich nach die sem Wiedersehen gesehnt hatten, aber jetzt unter der Wucht des Augenblicks wie gelähmt standen. Endlich machte Paolo eine hilflose Bewegung. »Isabella, willst du mir verzeihen?« konnte er nur herausbringen. Sie trat mit zwei steifen, kleinen Schritten auf ihn zu, ihre Hände tasteten vor, dann zuckte die tiefe Er schütterung durch ihren Körper, und über ihre Lip pen kam ein Hauch: »Du bist also doch gekommen, Paolo?« Eine Viertelstunde später hielt der greise Verwal 202
ter Sun Koh und Hal an. Er schüttelte den Kopf und wischte sich dabei die Tränen aus den Augen. »Nein, Sie können nicht hinauf, meine Herren. Sie sind glücklich. Und es gibt Stunden, die zu heilig sind, um sie zu verkürzen.« Sun Koh und Hal verließen das Haus. ENDE
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Als SUN-KOH-Taschenbuch Band 28 erscheint:
Freder van Holk
Männer unter dem Eis
Gegen die Expedition, die mit Kapitän Bardeny in einem supermodernen Tauchboot den Pol zu erreichen versucht, scheinen sich die Mächte des Schicksals verschworen zu haben. Nach einem Unfall sitzen die Männer ohne Aussicht auf Rettung im ewigen Eis fest. Jeder weiß, daß dem ersten Opfer der Tragödie bald weitere fol gen werden – und jeder kann der nächste sein. Als Sun Koh das Boot aus dem Eis herauszu schmelzen versucht, ergreift ein skrupelloser Mann die Gelegenheit zur Flucht – mit dem ein zigen Mittel, das Rettung verspricht. Den siche ren Tod vor Augen, faßt die Expedition einen Plan. Doch bald ist nur noch eine Handvoll Männer übrig. Am Ende mit ihren Kräften, be ginnt für sie erst jetzt die wahre Hölle… Die SUN KOH-Taschenbücher erscheinen vier wöchentlich und sind überall im Zeitschriftenund Bahnhofsbuchhandel erhältlich.