Geisterfänger Band 5
Der singende Tod von Alexander Ghost Wer ihn hört, der stirbt.
Das Eiland gehörte zu den Orkne...
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Geisterfänger Band 5
Der singende Tod von Alexander Ghost Wer ihn hört, der stirbt.
Das Eiland gehörte zu den Orkney-Inseln und es war so klein, dass es nicht einmal einen Namen hatte. Zumindest keinen amtlichen Namen. Die Fischer nannten es Selkirk-Eiland, weil ein Mann namens Sel kirk einige Jahre auf dem unwirtschaftlichen Felsbuckel verbracht hat te. Das lag fast ein halbes Jahrhundert zurück. Nur wenige alte Män ner und Frauen auf den nächstliegenden größeren sein konnten sich noch an Selkirk erinnern. Sie alle sagten, er sei nicht ganz richtig im Kopf gewesen. Wie an ders hätten sie es sich erklären sollen, dass ein offenbar reicher Mann dieses öde Eiland bezogen hatte, um dort nur mit einem Diener und einem Rudel Wolfshunden zu hausen. Robert Selkirk war ungefähr fünfzig gewesen, als er die Insel vom Fiskus erworben hatte und das Haus, das er darauf bauen ließ, war sehr eigenartig: eine Art Kastell im Tudor-Stil, mit einem Dutzend oder mehr Räumen. Ein Dutzend oder mehr Räume für einen einzelnen Mann und des sen Diener - wirklich sehr eigenartig. Der Diener hieß James. Wie sein Nachname lautete, hatte damals niemand erfahren. Nur ein gewisser Kenninghall hatte das Eiland betreten dürfen. Diesen Mann hatte Selkirk mitgebracht, als er - niemand wusste woher - auf den Orkneys aufgetaucht war. Und auf Westray, einer der größe ren Inseln, hatte Selkirk ein Häuschen für Kenninghall bauen lassen. Dort hatte Kenninghall für sich allein gelebt. Wenn das Wetter es erlaubte, war er morgens mit einer Jolle auf das Eiland gesegelt und abends zurückgekehrt. Er versorgte Selkirk und James mit Lebensmitteln und Süßwasser, die Hunde mit Futter und brachte auch die Post auf das Eiland. Die wenigen Briefe, die der merkwürdige Mr. Selkirk erhielt. Die Hunde liefen ständig frei auf dem Eiland herum, darauf dres siert, jeden ungebetenen Besucher anzugreifen. Außer ein paar neugierigen jungen Männern aus Westray hatte es nie ungebetene Besucher gegeben und diese jungen Männer waren von den Hunden in ihr Boot zurückgejagt worden. 4
Rund drei Jahre hatte das seltsame Paar auf dem Eiland ver bracht. Fischer, die spätabends oder frühmorgens an dem Eiland vor über fuhren, hatten manchmal einen Mann alte schottische Volkslieder singen hören. Dazu wurde eine Laute gespielt. Im Frühjahr des dritten Jahres war den Fischern und Schafzüch tern auf Westray aufgefallen, dass Kenninghall nicht mehr zu sehen war. Viele Tage lang nicht. Vielleicht war er erkrankt? Zwei Fischer, die schließlich nach ihm sehen wollten, hatten die Haustür von Kenninghalls Häuschen unverschlossen gefunden. Aber der schweigsame Mann war nicht daheim, obwohl seine Jolle in dem kleinen Hafen von Westray lag. Die Fischer hatten die Polizei von Birsay auf Kirkwall, der größten der Orkney-Inseln, verständigt und zwei Polizisten waren nach SelkirkEiland gesegelt. Dort hatten sie zunächst die Hunde gefunden, sämt lich tot. Vergiftet, wie sich herausstellen sollte. Und sie hatten den Diener gefunden: erstochen. Und Kenninghall - auch erstochen. Selkirk selber fanden sie nicht. Dessen Leichnam wurde erst Tage später von der Flut an den Strand von Westray gespült. Robert Selkirk war ertrunken. Die Ermittlungen der Polizei von Birsay ergaben so gut wie nichts. Man nahm an, dass Robert Selkirk James und Kenninghall erstochen hatte und dann mit Kenninghalls Jolle nach Wesbray gesegelt war. Entweder um sich der Polizei zu stellen oder aber um ein größeres Boot zu entwenden, mit dem er das Festland erreichen konnte. Denn dies war das vielleicht merkwürdigste an dem merkwürdigen Mr. Sel kirk gewesen: ein eigenes Boot hatte er nicht angeschafft. Wie immer - nun war Selkirk ertrunken. Nirgends wurde ein Boot vermisst. Wahrscheinlich hatte ihn, nachdem er Westray erreicht hatte, die Reue gepackt und er war freiwillig ins Wasser gegangen. Die Polizisten von Birsay fertigten einen entsprechenden Bericht an und sandten diesen Bericht an das Hauptquartier der Grafschafts polizei, die den Fall Scotland Yard in London weiterreichte. 5
Der Chefinspektor des Yard, auf dessen Schreibtisch die Akte ›Sel kirk-Eiland‹ landete, war ein Liebhaber klassischer Musik, vor allem ein Opernfreund. Er war sehr verblüfft, als er die Fotos der drei Toten sah. Denn er hatte sie alle drei gekannt und mit dem Mann, der sich auf den Orkneys Robert Selkirk genannt hatte, war der Chefinspektor sogar gut bekannt gewesen, fast befreundet. Robert Selkirk hieß in Wahrheit Robert Melford und er war einer der berühmtesten Bassisten seiner Epoche gewesen, bis er, mit noch nicht fünfundvierzig Jahren, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, die Stimme verloren hatte. Das war durch die Weltpresse gegangen: Eine Geschwulst an den Stimmbändern Robert Melfords hatte operativ entfernt werden müs sen, weil Verdacht auf Krebs bestand. Es war kein Krebs gewesen, aber die berühmte Stimme war nach dem Eingriff ramponiert. Melford hatte noch einige Jahre in seinem Haus in London gelebt, sich immer mehr zurückgezogen, immer mehr abgekapselt. Schließlich hatte er auch sein Hauspersonal entlassen, bis auf den Kammerdiener James Miller und den Gärtner-Chauffeur namens Kenninghall. Eines Tages hatte Melford das Haus verkauft und war - wie er hat te verlauten lassen - ›auf Reisen gegangen‹. Seither hatte die Öffent lichkeit nichts mehr über Robert Melford gehört. Nun also war er tot. Und es schien so, als ob er James und Ken ninghall getötet habe, bevor er sich selber umbrachte. Der Chefinspektor fuhr per Bahn nach Wick in der Grafschaft Cait ness im äußersten Norden Schottlands. Der Postdampfer brachte ihn auf die Orkney-Inseln und ein Poli zeiboot auf Westray und Selkirk-Eiland. Seine Ermittlungen bestätigten die Vermutungen der Polizisten von Birsay. Robert Selkirk alias Robert Melford hatte ein schriftliches Geständ nis hinterlassen: die letzte Eintragung in seinem Tagebuch. Dieses Tagebuch lag in dem Safe im Schlafzimmer des Hausherrn. 6
Der Chefinspektor musste den Safe aufbrechen lassen, da der Sa feschlüssel unauffindbar war. In dem Safe lagen überdies an die fünfzigtausend Pfund in kleinen und mittleren Banknoten. Schriftsachverständige und Psychiater, denen der Chefinspektor das Tagebuch vorlegte, befanden, dass Robert Melford während der letzten Tage seines Lebens zunehmend an Verfolgungswahn gelitten hatte. Da der Chefinspektor mit Melford fast befreundet gewesen war, hängte er die Sache nicht an die große Glocke. In dem Tresor war damals auch ein Testament gefunden worden. Alleinerbe war ein Mann namens Timothy Melford - ein Neffe des Dop pelmörders und Selbstmörders - sein einziger noch lebender Blutsver wandter. Timothy Melford hatte nur drei Tage auf der Insel verbracht, sie dann nie wieder betreten. Er behauptete, der Geist seines toten Onkels ginge dort umher. Als der Tod, so wie der Tod auf Gemälden aus alter Zeit dargestellt werde, also als Skelett. Nur dass dieses Skelett statt Stundenglas und Sense eine altertümliche Laute in den Knochenhänden trüge und dass es alte schottische Volkslieder singe. Eine Woche nachdem Timothy Melford die Insel verlassen hatte und nach London zurückgekehrt war, hatten die Bremsen seines Wa gens versagt und er war mitsamt dem Wagen in ein Hafenbecken in London Eastend gestürzt und ertrunken. Dies alles lag also an die fünfzig Jahre zurück und in den ersten Jahren nach der blutigen Tragödie waren drei Fischerboote auf See geblieben. Alle drei Fischer hatten wenige Zeit vorher den ›Singenden Tod‹ gesehen und gehört, während sie an der Insel vorbeigefahren waren. Seitdem war das Seegebiet rund um die Insel tabu. Kein Fischer, kein Skipper wagte es mehr, sich der Insel auf Sichtoder Hörweite zu nahem. Dies war die Situation an dem Tag, als ein alter Mann namens Gordon Melford einen Brief von einer Anwaltskanzlei bekam. 7
Dieser Brief lautete so:
Sehr geehrter Herr Melford, wir haben die schmerzliche Pflicht, Ihnen vom Ableben unseres Klienten Anthony Melford Kenntnis zu geben, der sein Testament bei uns hinterlegt hat. Wir bitten Sie, baldestmöglich in unserem Büro vor zusprechen, wo wir Ihnen den Inhalt des Testaments zur Kenntnis geben werden. Mit vorzüglicher Hochachtung Hawkins und Criswold Rechtsanwälte.
Der Adressat dieses Briefes war an diesem Tag auf den Tag genau 75 Jahre alt - er hatte Geburtstag. Aber diesen Geburtstag beging er allein in einem ziemlich ärmli chen Zimmer eines drittklassigen Hotels. Es gab nur Dauergäste in dem Haus, ausnahmslos ältere Herr schaften, Rentner oder Pensionäre, die keinen Anhang hatten oder ihren Familien nicht mehr zur Last fallen wollten. Sie würden hier sterben, sofern sie nicht vorher so krank wurden, dass sie in ein Hospital eingeliefert werden mussten. Gordon Melford war der einzige Dauergast, der eine bemerkens werte Vergangenheit hinter sich hatte: er war ein berühmter Magier gewesen. Kein Zauberkünstler, sondern ein Magier, ein Hellseher. Dreißig Jahre lang hatte er sehr viel Geld verdient - aber fast e bensoviel Geld ausgegeben. Zu seinen Klienten hatten sehr illustre Persönlichkeiten aus Politik, Kunst, Wirtschaft und Adel und Hochadel gehört. Und er, Gordon Melford, hätte noch immer viel Geld verdienen können, wenn Sarah Pierce, sein Medium, nicht die Stimme verloren hätte. Kehlkopfkrebs, der mit Erfolg operiert worden war. Eine merkwürdige Duplizität der Ereignisse, aber das wusste Gor don Melford noch nicht, als er den Brief las. Von einem Anverwandten namens Anthony Melford hatte er nie etwas gehört. 8
Genug: Der alte Mann suchte die Anwaltsfirma auf und erfuhr, dass der verstorbene Anthony Melford ein weitläufiger Verwandter jenes Timothy Melford gewesen war, der Robert Selkirks alias Robert Melfords Universalerbe gewesen und dass er selber ein Vetter zweiten Grades Anthony Melfords war. Und dessen Universalerbe. Die Erbschaft bestand aus rund 80 000 Pfund Sterling in Bargeld auf einem Konto bei der Bank von England, rund 100 000 Pfund in Aktien und Obligationen, sowie dem Inventar einer Vierzimmerwoh nung im vornehmen Londoner Stadtteil Belgravia, sowie einem Häu schen auf der Orkney-Insel Westray und ›Selkirk-Eiland‹ mit der Villa, dem ›Kastell‹, auf diesem Eiland. Diese Erbschaft fiel Gordon Melford reichlich spät zu. Er wusste, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Sein Hausarzt hatte es ihm gesagt, nachdem er dem Arzt auf den Kopf zugesagt hatte, dass er ihn belüge. Da hatte der Arzt Melford nichts mehr vorgemacht. »Wie viel Zeit bleibt mir noch, Doktor?« »Schwer zu sagen. Ein halbes Jahr vielleicht. Und die letzten Wo chen werden sehr schwer sein.« Nun also, wenige Monate vor seinem Tod war Gordon Melford wieder das, was er früher gewesen war. Ein Mann mit Vermögen, mit Geld und Besitz. * Es war ungefähr sechs Wochen später, als ein noch ziemlich junger Mann namens Harry Melford einen Brief bekam, der wie folgt lautete:
Lieber Harry Melford, Sie kennen mich nicht persönlich, aber vielleicht dem Namen nach. Ich war einmal der große Gordon Melford. Jetzt bin ich krank, werde nicht mehr allzu lange leben und ich habe eine Detektei beauf tragt, zu ermitteln, ob ich irgendwelche Verwandte habe. Laut diesen Ermittlungen sind Sie der einzige, mit dem ich jedenfalls entfernt ver wandt bin. Ich habe daher die Absicht, Ihnen einen Teil meines Ver 9
mögens testamentarisch zu vermachen, aber ich bitte um Verständnis dafür, dass ich Sie vorher gern kennen lernen möchte. Ich bitte Sie daher, sich am kommenden Sonnabend, zwölf Uhr mittags, in Birsay auf der Orkney-Insel Kirkwall einzufinden und zwar am Hafen, wo ein Motorboot bereitliegen wird, das Sie und die anderen potenziellen Er ben auf Selkirk-Eiland bringt, wo ich Sie erwarte. Es empfiehlt sich, dass Sie sich für mindestens zwei Wochen beurlauben lassen, was keine Schwierigkeiten bereiten dürfte, dass Sie Ihren Jahresurlaub erst im Sommer nehmen wollen, wie alle Ihre Kollegen. Ich erlaube mir, anzumerken, dass Ihr Anteil an der Erbschaft an Geld und Geldeswert sich auf mindestens 30 000 Pfund belaufen wird, nicht gerade wenig für einen Mann in Ihren Verhältnissen. Die Rei sespesen übernehme selbstverständlich ich, ein Scheck liegt diesem Brief bei. Ich erwarte Sie also! Ihr Gordon Melford. Diesen Brief las Harry Melford am Frühstückstisch seines Jungge sellen-Appartements und er wunderte sich sehr. Dr. med. Harry Melford, Gerichtsmediziner im Dienst von Scotland Yard, 32 Jahre alt oder jung, hatte seines Wissens keinerlei Verwandte - wie entfernt auch immer. Seine Eltern waren vor Jahren tödlich verunglückt und seither leb te Harry allein. Der ›große Gordon Melford‹ allerdings war Harry durchaus ein Begriff. Eben wegen der Namensgleichheit erinnerte sich Harry gut an Zei tungsartikel über sensationelle Erfolge des Magiers und Hellsehers Gordon Melford, obwohl das etliche Jahre zurücklag. Dieser Tag war ein Donnerstag. Wenn Harry der Einladung Folge leisten wollte, dann hatte er nicht mehr viel Zeit zu verlieren. Und Folge leisten wollte er selbstverständlich. Und das nicht nur wegen der Erbschaft, sondern auch weil er auf den großen Gordon Melford neugierig war. 10
Harry fuhr zum Dienst und kam um drei Wochen Urlaub ein - von dem ihm zustehenden Jahresurlaub abzuziehen. Es gab keine Schwierigkeiten. Danach rief Harry das Archiv von Scotland Yard an, ob es ein Dossier Gordon Melford gäbe. Es gab eines. Und es gab im einschlägigen Dezernat eine ziemlich dicke Akte Gordon Melford, die Harry Melford sich dann aushändigen ließ. Er studierte die Akte und war sehr beeindruckt. Binnen der rund dreißig Jahre, die Gordon Melford als Hellseher gearbeitet hatte, war er nur fünfmal von Klienten des Betrugs bezichtigt worden, ohne je mals überführt worden zu sein. Insgesamt sechsmal hatte Gordon Mel ford dem Yard ungebetene Briefe geschrieben und bestimmte Per sonen als Mörder bezeichnet in Fällen, die der Yard nicht aufzuklären vermocht hatte. Und alle sechs waren später überführt worden. Nun war Harry noch neugieriger auf den großen Gordon Melford. Harry Melford fuhr nach Hause und packte die Reisetasche und einen Koffer. Mit seinem Wagen würde er auf Selkirk-Eiland nichts anfangen können. Harry beschloss daher, bis Edinburgh zu fliegen und von dort aus per Bahn nach Wick zu fahren. In Wick würde er weitersehen. Er bekam einen Platz in der Maschine der BOA, die am Freitag morgen von London nach Edinburgh flog und an Bord dieser Maschine hatte er das erste von vielen mysteriösen Erlebnissen, die ihm bevor stehen sollten. Ein Inder nahm den Platz neben Harry ein. Das allein war nicht ungewöhnlich, in Großbritannien leben viele Inder ständig oder vorü bergehend. Auch dass dieser Inder - um die Vierzig, mittelgroß, überschlank einen typisch englischen Tweedanzug trug, dazu aber einen Turban. Auch das war nicht sonderlich bemerkenswert. Und auch nicht, dass er sofort ein Buch aufschlug und die ganze Zeit in diesem Buch las. Übrigens ein Buch in englischer Sprache. 11
Harry war Brite genug, nicht hineinzuschielen. So etwas tut kein britischer Gentleman. Harry hatte einen Fensterplatz. Er blickte gedankenverloren nach unten -und irgendwann fiel ihm ein, dass er den Namen der Insel, zu der er unterwegs war - nämlich Selkirk-Eiland - irgendwann einmal schon gehört haben musste. Aber ihm wollte nicht einfallen, wann, wo und in welchem Zu sammenhang. Da räusperte der Inder sich. Harry wendete den Kopf und sah, dass der Mann mit dem weißen Turban über dem bronzefarbenen Gesicht das Buch zugeklappt hatte und ihn von der Seite her anblickte. Der Inder lächelte kaum merklich. Dann sagte er mit leiser dunkler Stimme: »Es ist jenes Eiland, auf dem der berühmte Bassist Robert Melford seine letzten Lebensjahre verbrachte, bevor er, geistig um nachtet, zwei Männer tötete und danach sich selbst. Ihr Vater hat das Ihnen gegenüber ein- oder zweimal erwähnt, Mr. Melford. Es ist lange her.« Harry war derart verblüfft, dass er zunächst nur herausplatzte: »Woher wissen Sie, wer ich bin?« »Ich weiß es eben«, sagte der Mann mit der dunklen, sanften Stimme. »Und woher wissen Sie, dass ich soeben überlegte, wann und wo ich... Können Sie Gedanken lesen?« Das letzte hatte Harry nicht wörtlich gemeint. Es war eine Floskel, eine Redensart. Aber der Inder sagte leise und sanft: »Ja.« Und er fügte ebenso leise und sanft hinzu: »Jedenfalls kenne ich in diesem Augenblick Ihre Gedanken.« Wieder ein winziges, fast unmerkliches Lächeln. Dann: »Ich bin Radschendra Jalna.« Man konnte den Inder als den Nachfolger des großen Gordon Mel ford bezeichnen, nur dass Gordon Melford mit einem Medium gearbei tet hatte, während Radschendra Jalna ohne Medium auskam. 12
Jetzt wollte Harry eine Frage an den geheimnisumwitterten Mann richten. Aber der hatte sich wieder in das Buch vertieft. »Pardon, Sir...«, begann Harry dennoch. Doch der Prophet schloss die Augen, schüttelte ganz leicht den Kopf. »Bitte nicht jetzt und hier, Dr. Melford. Wir werden einander noch öfter...« Der Rest war unverständlich. Die Stimme einer Stewardess kam aus den Lautsprechern: »Meine Damen und Herren, wir landen in wenigen Minuten in Edinburgh. Bitte stellen Sie das Rauchen ein, legen Sie die Gurte an.« Harry Melford war kein reicher Mann, er war in der Touristenklas se geflogen. Warum auch, der Inder, der wahrscheinlich steinreich war, blieb Harry unerfindlich. Als die Maschine ausgerollt war, ging Harry unmittelbar hinter dem Inder den Gang entlang. Es gab einen kleinen Aufenthalt, da zu erst die Passagiere der l. Klasse ausstiegen. Die l. Klasse-Kabine lag im Heck des Flugzeugs auf der anderen Seite des Vestibüls oder wie im mer man den Raum zwischen beiden Kabinen bezeichnen will. Harry sah, dass nur drei Personen in der l. Klasse geflogen waren: zwei Gentlemen, die wie Geschäftsleute aussahen und ein Mönch. Ein Mann jedenfalls, der in eine kakaobraune Mönchskutte gehüllt war, die Hände in den weiten Ärmeln dieser Kutte verschränkt. Eine Kapuze gab nur einen schmalen Ausschnitt des Gesichts frei. Nach diesem Gesichtsausschnitt zu urteilen, mochte der Mönch ungefähr fünfzig sein. Er hielt die Lider gesenkt. Als er aufblickte, weil er sich in dem Vestibül orientieren musste, blieb er ruckhaft stehen und starrte den Inder an, der der erste in der Reihe der Touristenklasse-Passagiere war. Radschendra Jalna neigte den Kopf. Der Mönch reagierte nicht, ging weiter, stieg die fahrbare Treppe hinab. Er hatte kein Handgepäck bei sich. Als Harry auf der Treppe war, fegte eine Windbö dem Mönch die Kapuze vom Kopf. Sein Schädel war kahl wie eine Billardkugel. 13
Harry ging neben dem Inder auf das Flughafengebäude zu und der Prophet sagte leise, aber deutlich: »Also auch er! Ich dachte es mir.« »Sie kennen diesen Mönch?«, fragte Harry. »Aber ja«, war die Antwort. »Er ist Roger Frazer, genannt ›the monk‹ - der Mönch.« »Er ist also kein Mönch?« »Aber nein. Das ist nur seine Masche.« »Seine Masche?«, echote Harry. Die sanfte Stimme wurde plötzlich bissig. »Er hat eine Art Sekte gegründet und behauptet, mit dem All mächtigen einen direkten Kontakt zu haben. Angeblich kann er Wun der vollbringen. - Ein Scharlatan, nichts anderes.« Ein Windstoß trieb die Kutte auf. Roger Frazer trug keine Schuhe, sondern nur Ledersohlen, die mit Schnüren an den Füßen befestigt waren. Der rechte Fuß war deformiert - ein so genannter Klumpfuß. Aber dieser merkwürdige Heilige hinkte nicht. * Harry nahm sein Gepäck in Empfang. Inzwischen war der ›Mönch‹ in der Halle des Flughafengebäudes Harrys Blicken entschwunden. Der Inder hatte nur das Handgepäck - eine Tasche, die wie eine Arzttasche aussah - bei sich. Aber er wartete auf Harry. »Ich nehme an, dass Sie mit der Eisenbahn nach Wick weiterfah ren wollen, Doktor?« »Allerdings.« »Nun, dann können wir ebenso gut gemeinsam...« Der Inder brach mitten im Satz ab. »Entschuldigen Sie mich bitte für ein paar Minuten. Ich sehe gerade einen guten Bekannten.« Der Inder betrat das Flughafenrestaurant hinter einer Gruppe von sechs Leuten - vier Männern und zwei Frauen, an denen nichts Außer gewöhnliches war. Harry wartete fünf Minuten, sieben Minuten, zehn Minuten. 14
Dann nahm er sein Gepäck auf und ging selber in das Restaurant. Die sechs Leute, die offenbar zusammengehörten, saßen rund um einen großen Tisch. Der Prophet war nirgends zu sehen. Harry machte kehrt, nahm ein Taxi, das ihn zum Bahnhof brachte. Er erreichte den Zug nach Wick gerade noch. Es war ein D-Zug mit Durchgangswagen. Harry ging den gesam ten Zug ab. Der Mönch saß allein in einem Abteil l. Klasse, der Inder war nicht im Zug. Von dem Schaffner, der die Fahrkarten kontrollierte, erfuhr Harry, dass im Winterhalbjahr nur ein Schiff täglich von Wick nach den Orkney-Inseln lief. Acht Uhr morgens. Harry würde also in Wick über nachten müssen. Damit hatte er gerechnet. Der Zug lief 16.23 in Wick ein. Um diese Zeit war es jetzt, Anfang November, so hoch im Norden schon dunkel. Nur wenige Leute stiegen in Wick aus. Der Mönch war nicht dar unter, aber das Abteil, in dem er gesessen hatte, war leer. Er musste irgendwo unterwegs ausgestiegen sein. Harry fragte einen Bahnbeamten nach dem nächsten Hotel. »Da können Sie hinspucken, Sir. Direkt vor dem Bahnhof.« »Besten Dank«, sagte Harry und stiefelte los. Das Hotel hieß Bahnhofshotel. Die Hotelhalle war leer bis auf ei nen einzelnen Gast: Radschendra Jalna. Der Inder saß in einem Sessel beim Kamin, in das Harry schon bekannte Buch vertieft. Er blickte nur flüchtig auf, nachdem die Drehtür Harry in die Halle gequirlt hatte, tat so, als ob er den Ankömmling nicht kenne. Die Zigarre, die der Inder rauchte, war schon fast abgebrannt, er musste also schon einige Zeit hier sitzen. Wie das? Eine Flugverbindung Edinburgh-Wick gab es nicht und selbst ein sehr schneller Wagen war kaum wesentlich schneller als der Express zug. Das alles war überaus merkwürdig - fand Harry. Er trug die Tasche und den Koffer zur Rezeption und der Portier sagte, aber selbstverständlich könne der Herr ein Zimmer haben. Nach 15
Belieben mit oder ohne Bad. Im Winter kämen kaum Touristen oder Urlauber nach Wick. Harry entschied sich für ein Zimmer mit Bad in der ersten Etage. Er trug sich in das Gästebuch ein, nahm den Schlüssel in Empfang, wollte zum Lift. Da quirlte die Drehtür einen Gentleman in die Halle, dem ein Dienstmann folgte, der Mühe hatte, einen riesigen Koffer und eine voluminöse Reisetasche durch die Drehtür zu bringen. Der Gentleman trug einen eleganten Kamelhaarmantel, einen da zu passenden Sporthut, Schweinslederhandschuhe und Schuhe aus Wildleder. Der rechte Schuh war ein orthopädischer Schuh - der rechte Fuß des Gentleman war ein Klumpfuß. Nur daran erkannte Harry den Mönch wieder. Zunächst nur daran. Als er den Hut abnahm, wurde keine Glatze sichtbar. Die brünette Perücke war so gut gearbeitet, dass sie als solche nicht zu erkennen war. Obwohl nicht mehr kahl, konnte niemand behaupten, dass Roger the monk auch nur leidlich gut aussah. Sein Gesicht war verquollen und knollig, als ob es Frostbeulen habe. »Mein Name ist Frazer«, sagte er zu dem Portier. »Für mich ist ein Zimmer mit Bad bestellt.« »Ganz recht, Sir. Wenn Sie sich bitte eintragen wollen.« Drüben stieß der Inder den Zigarrenstummel im Aschenbecher aus und ging auf die Treppe zu. Weder er noch der Mönch hatten irgendwie zu erkennen gegeben, dass sie einander kannten. Harry trug sein Gepäck selber zum Lift. Als er dort angekommen war, hörte er das saugende Geräusch der Drehtür und er blickte sich um. Eine Lady wallte in die Halle. Was hieß Lady. Eine Art Juno, eine überdimensionale Walküre. An die zwei Meter groß, einen gewaltigen Busen vor sich herschiebend, als Gegengewicht einen nicht minder gewaltigen Hintern mitschleppend, den Harry erblickte, als sie so schwungvoll in Richtung auf die Rezeption einschwenkte, dass der Um hang aus Lodenstoff wie eine Fahne nach hinten flatterte. 16
Ihre Füße – Schuhgröße zig und einiges - steckten in massiven Schnürstiefeln aus dickem Leder. Das graue Haar stand wie eine Lö wenmähne vom Kopf ab. Einen Hut trug sie nicht. Das Gesicht war so überdimensional wie alles an ihr – grob geschnitten, breite, wulstige Lippen, ausgeprägte Jochbeine und eine überaus fleischige Nase. Die se Nase war blaurot, der Rest des Gesichts rostrot. Die beiden mittelgroßen Koffer trug sie so mühelos, als ob es klei ne Handtaschen wären. Sie war Harry schon im Zug aufgefallen. Dort hat sie in einem Ab teil l. Klasse gesessen. Und auch auf dem Bahnsteig hatte Harry sie bemerkt. Dort hatte sie gestanden und Umschau gehalten, als ob je mand sie habe abholen wollen, der aber nicht gekommen sei. Jetzt stellte sie die Koffer bei der Rezeption ab. »Hallo, Monky!«, dröhnte sie. »Wie geht's denn so, alter Junge?« Der Mönch stand mit dem Rücken zu Harry. Wenn er etwas erwi derte, so konnte Harry es nicht hören. Die Walküre blickte in Richtung Treppe, die Harry von seinem Standort aus nicht sah. Der Inder musste auf der Treppe stehen geblieben sein, jedenfalls nahm die Walküre die Hacken zusammen, legte die Hände in den Fäustlingen vor den riesigen Busen flach ge geneinander und verneigte sich. So begrüßen Hindus einander. Die Walküre richtete sich wieder auf und winkte jovial in Richtung Treppe. Der Mönch winkte dem Dienstmann, ihm zu folgen. Harry gab die Tür des Lifts frei, fuhr aber nicht mit nach oben. Die Walküre streifte die Fäustlinge ab, stopfte sie in eine Innenta sche des Umhangs. Die Finger beider Hände waren mit Ringen förmlich gepflastert. »'n Abend!«, sagte sie dröhnend zu dem Portier. »Ich bin Eliza Reed. Welches Zimmer habe ich?« »Nummer sieben, Madam.« »Okay, mein Freund. Ich trage mich später ein. Bemühen Sie sich nicht, meine Siebensachen trage ich selber. Wo ist der Zimmerschlüs sel?« 17
Der Schlüssel samt Anhänger verschwand in ihrer riesigen Rech ten. Sie verzichtete auf den Lift, der gerade leer wieder herunterkam. Harry fuhr nach oben. Er hatte Zimmer Nummer 8 und die Walküre war mittlerweile vor der Tür zu Nummer 7 angelangt. Sie musterte Harry durch eine Brille, die sie an einer silbrig glän zenden Schnur um den Hals gehängt hatte. Sie nahm die Gläser nur kurz vor die Augen. Dann nickte sie. »Dr. Melford, wenn ich nicht irre?«, dröhnte sie mit ihrer Feldwe belstimme. »Sie irren sich nicht, Madam.« * Es lohnte sich nicht, auszupacken. Harry wusch sich nur die Hände und ging dann in die Halle, um einen Tee zu nehmen. Danach machte er einen Rundgang durch die Stadt, konnte ihr aber keinerlei Reize abgewinnen, zumal es schon dunkel war. Das Dinner nahm er später allein ein. Fast allein. Nur zwei Männer in der Uniform von Eisenbahnern saßen außer ihm im Restaurant des Hotels. Der Inder, der Mönch und die Walküre speisten auf ihren Zim mern, wie es schien. Der Name Eliza Reed sagte Harry übrigens nichts. Harry las sich durch einige Zeitungen und trank zwei oder drei Whisky mit Soda. Darüber wurde es Schlafenszeit. Die Walküre schnarchte. Harry hörte es, während er an Nummer sieben vorüberging. Sonst war nichts zu hören. Harry nahm ein Bad, packte sich ins Bett und schlief beinahe so fort ein. Irgendwann in der Nacht schreckte er empor, ohne zunächst zu wissen, warum. Da war irgendein Geräusch gewesen. 18
Harry schaltete die Nachttischlampe ein. Seine Armbanduhr zeigte drei Minuten vor eins. Da war das Geräusch wieder! Ein Kind schrie auf. Und dann wein te dieses Kind, es schluchzte hemmungslos. Harry legte ein Ohr gegen die Wand neben dem Bett und er hörte es deutlicher, lauter. Das Kind schluchzte nebenan, in Nummer sieben. Harry kippte sich auf die Füße, schlüpfte in seinen Mantel. Den Morgenrock hatte er nicht ausgepackt. Auf dem Flur brannte nur noch eine Notbeleuchtung, ein paar trü be 25 Wattbirnen. Harry klopfte laut gegen die Tür von Nummer sieben. Das Schluchzen verstummte. Dafür wurde wieder geschnarcht. Harry klopfte noch lauter. Ein letzter Schnarchton - dann die dröhnende Feldwebelstimme: »Was ist los, zum Teufel!« Harry drehte an dem Türknauf und die Tür schwang nach innen. Es war nicht abgeschlossen. Die Nachttischlampe brannte. Die Walküre, in einem Barchentnachthemd mit langen Ärmeln, hatte den Oberkörper halb aufgerichtet. Harry sah die Ansätze mächti ger Brüste. »Wo ist das Kind?«, fragte er. »Welches Kind?«, schnauzte sie. »Ich habe ein Kind weinen gehört. In diesem Zimmer.« Sie gähnte klaffend. Oben und unten fehlten je einige Zähne. Die Brücken oder Teilprothesen mochten im Bad in einem Glas liegen. »Ach so«, dröhnte sie. »Nun, daran ist nichts Ungewöhnliches. Ich lebe mit diesem Kind - sozusagen. Aber schließen Sie die Tür, es zieht.« Harry zog die Tür hinter sich ins Schloss. »Das Kind«, erklärte sie dann erstaunlich leise, »das Kind ist Jane Hutchingson. Jane lebte von 1612 bis 1623 in Wadebridge in der Graf schaft Cornwall. 19
Sie wurde als Hexe verbrannt - noch keine 12 Jahre alt. Sie spricht durch mich und sie lebt in mir. Sie verstehen?« »Nein«, murmelte Harry. »Nun - das macht nichts. Sie werden es noch verstehen lernen. In den nächsten Tagen und Wochen. Was mich anbelangt, so bin ich... Aber was soll's mitten in der Nacht. Bis morgen, junger Freund. Bis morgen.« * Auch das Frühstück nahm Harry allein ein. Die anderen drei Hotelgäste zogen es offenbar vor, einander nicht zu begegnen. Der Bahnhof lag unmittelbar am Hafen. Harry trug sein Gepäck selber zum Fährschiff. Es war noch halb dunkel. Das Schiff war ziemlich groß, bot Raum für viele Fahrzeuge. Aber an diesem trüben Novembermorgen standen nur wenige PKW's und ein Lkw auf dem Deck. Harry fand es sonderbar, dass nun alle drei gemeinsam erschie nen: der Inder, der Mönch und die Walküre. Nur der Mönch hatte einen Dienstmann genommen. Radschendra Jalna hatte nur einen großen Koffer bei sich. Die drei sprachen miteinander, während sie hinter dem Dienst mann einhergingen. Matrosen nahmen das große Gepäck entgegen, verstauten es ir gendwo. Die drei blieben auf dem Deck, obwohl es ungemütlich kalt war und ein scharfer Wind blies. Von Harry, der ein Stück abseits an der Reling stand, nahmen sie keine Notiz. Der Inder und der Mönch verglichen ihre Uhren miteinander. Har ry hatte den Eindruck, dass sie jemanden erwarteten. Und so war es auch. Harrys eigene Uhr zeigte Punkt acht, als ein schwarzer Ford Rambler Limousine über die Rampe auf das Deck rollte. Unmittelbar 20
danach wurde die Rampe emporgehoben, die Sirene des Fährschiffs stieß drei kurze Töne aus. Der Sportsegler Harry Melford wusste, dass drei kurze Sirenentöne in der Schifffahrt bedeuten: Ich stoße zurück. Während das Schiff rückwärts aus dem Hafen lief, zwischen den Molenköpfen hindurch, stieg das blonde Girl aus dem Rambler, das den Wagen gefahren hatte. Das Girl - erfreulich anzusehen, rassige Beine unter dem kurzen Rock, mit einem knappen weißen Slip, wie Harry mit einem scharfen Blick feststellte, als sie ausstieg - trippelte auf hohen Absätzen um den Wagen herum und war einem Herrn beim Aussteigen behilflich, der kaum weniger attraktiv aussah als sie selber. Beide hoch gewachsen und schlank, beide überaus gepflegt. Der alte Herr hatte dichtes schneeweißes Haar, leicht gewellt. Dazu trug er einen schneeweißen, sorgsam gestutzten Schnurrbart und schneewei ße Koteletten. Er sah dem US-Fernsehstar Lorne Greene in der Rolle des Ben Cartwright in ›Bonanza‹ ähnlich. Nur, dass er weit älter war als Gree ne-Cartwright. Nämlich mindestens 70. Das langbeinige Girl holte einen pelzgefütterten Herrenmantel aus dem Fond des Wagens, legte den Mantel dem alten Herrn um die Schultern. Sie selber zog einen jugendlich wirkenden, scharf auf Taille geschnittenen grauen Persianer über, der die Beine immerhin bis zum Knie verhüllte. Sie bot dem alten Herrn den Arm, führte ihn, dessen Beine schon alterssteif waren, zur Reling. Dorthin, wo die drei standen. Die drei gingen dem ungleichen Paar entgegen. Sie begrüßten einander ohne Händeschütteln. Dann zogen sie sich zu fünft in das Schiffsrestaurant zurück. »Hallo, Harry!«, sagte in diesem Augenblick jemand. Harry wandte den Kopf. Ein Stück abseits lehnten ein Mann und eine Frau an der Reling. Der Mann war Henry Woods, Detektivinspektor vom C.I.D., New Scotland Yard, London. Woods gehörte zur so genannten GeisterSquadron, was aber nichts mit Geistern und Gespenstern zu tun hat. 21
Die Geister-Squadron gibt es offiziell nicht. Die Männer und die wenigen Frauen, die zu der Squadron gehören, haben kein Dienstzim mer im Yard, sie lassen sich niemals dort sehen. Sie üben irgendeinen Beruf aus - oder auch keinen. Und sie haben alle eine ›Legende‹ - ei nen frei erfundenen Lebenslauf. Ihre Aufgabe ist, Anschluss an die Unterwelt, das Berufsverbre chertum, zu suchen, zu finden und dann Augen und Ohren offen zu halten. Mehr tun sie nicht. Sie liefern dem Yard Informationen, greifen selber niemals ein, werden niemals aktiv. Dass Harry Melford überhaupt wusste, dass Woods zur GeisterSquadron gehörte, war reiner Zufall. Sie hatten einmal gemeinsam einen Lehrgang über neue Metho den der Spurensicherung absolviert. Offiziell kannten die beiden einander nicht einmal. »Hallo, Henry«, erwiderte Harry also nur. Und wartete im übrigen ab. »Was haben Sie denn in dieser im Winter gottverlassenen Gegend verloren?«, fragte Woods. »Verloren nichts. Eher im Gegenteil. Ich soll etwas erben. Und was machen Sie hier?« »Ich bin - wir sind auf Hochzeitsreise. Wir haben gestern geheira tet.« »Herzlichen Glückwunsch, Madam. Und auch Ihnen, Henry: Herzlichen Glückwunsch.« Die Blicke des Inspektors hingen an den fünf Leuten, die nachein ander die schmale Tür passierten, auf der ›Zum Restaurant‹ stand. »Kennen Sie die Herrschaften, Henry?«, fragte Harry. Woods ließ ein paar Sekunden verstreichen, erst dann entschloss er sich zu einer Antwort. »Ja. Alle fünf. Es ist die creme de la creme, die absolute Spitzen klasse der Hellseher, Geisterseher, Okkultisten des Landes. Rad schendra Jalna, dessen Name in aller Munde ist, ›the Monk‹ Frazer, Oberhaupt einer Sekte von immerhin einigen hundert Seelen oder Köp fen - Männlein und Weiblein, Eliza Reed, genannt die Pythia von Wa 22
debridge und Christopher Warning und dessen Medium Alice Mills, die in Glasgow residieren.« Das war, fand Harry Melford, deutlich genug. Es war eindeutig. Der Mann von der Geister-Squadron war nicht auf Hochzeitsreise, die junge Frau nicht mit ihm verheiratet, wenn überhaupt mit irgend wem. Auch sie gehörte sicher zur Geister-Squadron. Eine andere Erklärung dafür, dass Woods über alle fünf so gut in formiert war, gab es kaum. Wenn Harry noch Zweifel gehabt hatte - sie wurden beseitigt, als Woods noch hinzufügte: »Sie und ich kennen einander nicht, Harry. Ist das klar?« »Völlig klar. Das ja. Aber...« »Kein Aber, Harry. Auf Selkirk-Eiland wird höchstwahrscheinlich nichts weiter geschehen, als dass Ihnen eine Menge Hokuspokus vor gemacht wird oder dass die Herrschaften sich gegenseitig eine Menge Hokuspokus vormachen. Ein Kapitalverbrechen hat keiner von ihnen begangen - bis auf diesen Tag nicht. Und das haben sie auch gar nicht nötig. Sie alle ver dienen zwar nicht viel Geld, wenn man verdienen von Verdienst, von Verdienen ableitet, aber sie kassieren jede Menge Geld für Bluff, Weis sagungen, Prophezeiungen und was weiß ich noch. Das ist nicht straf bar, solange die Klienten und Kunden zufrieden sind. Wenn aber doch etwas passieren sollte, ein Verbrechen oder ein Kapitalverbrechen, Mord oder Totschlag zum Beispiel. Sie werden nicht mit den Herrschaften allein auf dem Eiland sein, auch wenn Ihnen das so vorkommen sollte. Ab morgen früh sind Sie nicht mehr allein mit ihnen auf ›Selkirk-Eiland‹. Und jetzt schwirren Sie ab. Kümmern Sie sich während der Über fahrt um niemanden und nichts.« »In Ordnung«, sagte Harry. Und er schlenderte quer über das Deck auf die Tür mit der Aufschrift ›Zum Restaurant‹ zu. Insgesamt saßen allenfalls dreißig Leute herum, die Hellseher oder Okkultisten rund um einen Ecktisch. 23
Das Schiff geriet in Cross-Seegang und zusätzlich - da das Meer hier nicht allzu tief war - in Grundseewellen. So ziemlich das ärgste an Seegang, das überhaupt denkbar ist. Wer nicht seefest war und das war der Sportsegler Harry Melford, der fand sich an der Reling wieder. Alle fünf Herrschaften an dem Ecktisch waren zumindest leidlich seefest. Und auch Henry Woods und dessen ›junge Frau‹, in die Harry sich - am Rande vermerkt - auf den ersten Blick verliebt hatte. Was ihn selber sehr wunderte. Denn Harry Melford war keine impulsive Natur und sonderlich att raktiv hatte er die ›junge Frau‹ nicht gefunden. Aber sie hatte Charme. Mehr als irgendeine andere Frau, die Harry je gesehen hatte - fand er jedenfalls. * Die Überfahrt nach Kirkwall, der größten der Orkney-Inseln - dauerte knapp drei Stunden. Der Anschlussdampfer nach Westray war tatsächlich ein Dampfer eines der wenigen Dampfschiffe, die es überhaupt noch in Europa gibt. Das Schiff? Nur ein uraltes Schifflein, Baujahr 1928, wie auf einem Schild zu lesen war. An Deck gab es keinen Platz für den Ford Rambler. Der Wagen musste in Kirkwall bleiben. Das ›junge Paar‹ blieb auch in Kirkwall zurück. Das Schifflein - noch mit Kohle beheizt - spuckte dicke Rauchwol ken aus dem giraffenhalslangen dünnen Schornstein, als es in See stach. Laut Fahrplan sollte es 11 Uhr 35 in dem kleinen Hafen von Westray anlegen. Es verspätete sich um nur vier Minuten, denn hier, zwischen den Inseln, war die See verhältnismäßig ruhig. Direkt neben dem Anlegeplatz des Schiffchens lag eine Motorjacht vertäut, die augenscheinlich fabrikneu beziehungsweise werftneu war. Sie hieß ›Selkirk-Eiland‹. 24
Gordon Melford hatte in dem Brief an Harry verheißen, er werde Harry und die anderen zukünftigen Erben im Hafen von Westray er warten. Aber das war nicht der Fall. Ein Mann um die Vierzig mit mongolischem Aussehen - Harry gab ihm den Namen ›Kalmückengesicht‹, was er natürlich nicht laut sagte nahm sowohl Harry als auch die fünf Herrschaften in Empfang, lotste sie auf die Motorjacht, deren Motor noch stärker war, als Harry ge schätzt hatte. Der Bug hob sich aus dem Wasser, kaum dass die Jacht abgelegt hatte. Sie lag verhältnismäßig ruhig auf der starken, aber kurzen Dü nung, weil sie so schnell war, dass sie die Wellenberge und -täler schnitt. Zunächst war voraus nur offene See zu sehen. Erst nach ein paar Minuten - die Sicht war jetzt, um die Mittagszeit gut - tauchten die beiden Türme des Kastells auf Selkirk-Eiland über der Kimmung auf, bald darauf das ganze Kastell und wiederum bald darauf das Eiland selber, ein walrückenähnlicher Felsbuckel fast ohne Vegetation. Als die Jacht sich dem Eiland näherte, sah Harry, dass es nur et was Gras hier und da gab. Strandhafer auf ein paar vorgelagerten Dü nen und auf dem Kamm des Felsbuckels ein paar Krüppelföhren. Während der Fahrt war eine Unterhaltung kaum möglich. Der Mo tor röhrte zu laut. Einen Hafen, einen leidlich geschützten Anlegeplatz, schien es auf dem Eiland nicht zu geben. Aber dieser Eindruck täuschte. Kalmückengesicht nahm erst vor dem Eiland Gas weg, legte die Jacht scharf auf den Steuerbordbug, ließ es backbord aufschießen. Also eine Wendung um 180 Grad ma chen. Nun erst wurde eine Art Naturmole sichtbar - eine schmale Fels barriere, die sich wie der Zinken einer Gabel parallel zum Hauptfelsen erstreckte. Kalmückengesicht verstand sein Handwerk. Er legte die Jacht wie ein rohes Ei an den Landungssteg. Und hier nun erwartete der Mann, der der große Gordon Melford gewesen war, tatsächlich seine Gäste. 25
In einem Rollstuhl sitzend, nur noch ein Schatten seiner selbst, mager, hager, dürr. Vom Fleisch gefallen. Kaum noch mehr als ein Knochengerüst, mit Fleischresten und Haut darum herum. Welker, faltiger Haut. Wie um mehrere Nummern zu groß. Harry wusste nicht, dass dieser Mann noch vor wenigen Wochen sehr gut zu Fuß gewesen war - und wenn er es gewusst hätte, dann hätte er es bezweifelt. Hinter dem Rollstuhl stand eine Frau, die auch schon weit über siebzig sein musste, trotz ihrer noch schwarzen Haare. Gefärbt, vermu tete Harry. Auch sie war mager und hager, aber nicht skelettartig dürr. Die Stimme des Mannes im Rollstuhl war sonor, durchaus wohllau tend. »Willkommen auf Selkirk-Eiland, meine Freunde!«, sagte er. »Herzlich willkommen.« Und die Frau hinter ihm krächzte: »Willkommen.« Kalmückengesicht lud das Gepäck aus, nachdem alle an Land ge gangen waren. Dann röhrte der Motor auf, die Jacht lief rückwärts, wendete au ßerhalb der Naturmole, rauschte in hoher Fahrt, mit weißer Bugwelle, davon. »Was soll das?«, dröhnte die Walküre. »Willst du uns hier festhal ten, Gordon?« Der Mann in dem Rollstuhl kicherte. »Du hast es erfasst, meine Liebe. Ich habe euch allen geschrie ben, dass ihr, wenn ihr mich beerben wollt, zwei Wochen lang auf Sel kirk-Eiland bleiben müsst. Wer das nicht will, der hätte gar nicht erst kommen dürfen.« * Das Haus - das Kastell - war tatsächlich ein sehr merkwürdiges Ge mäuer. Es sah aus, als sei es vor Jahrhunderten errichtet worden und die Räumlichkeiten entsprachen dem Stil der Tudor-Zeit. 26
Die Haustür führte unmittelbar in die Halle, die an ein spätgoti sches Kirchenschiff erinnerte. Die Halle umfasste das gesamte Erdgeschoß und reichte im Mittel teil bis zum Dach hinauf. Die Decke der Halle war zugleich das Dach des Hauses. Gegenüber der Haustür führte eine breite steinerne Trep pe zu einer Balustrade empor, die sich in halber Höhe rund um das ›Kirchenschiff‹ zog. Von dieser Balustrade aus führten viele Türen in winzige Zimmer, nicht größer als Zellen in einem Kloster. Jeder Gast bekam eine dieser Zellen angewiesen und fand dort nichts vor als ei nen Schrank, ein Bett, einen Tisch und einen Stuhl sowie einen Wasch tisch mit einem Waschgeschirr obendrauf. Rechts und links der Treppe gab es drunten in der Halle je eine Tür, durch die man in die Türme gelangen konnte, in denen je vier sechseckige Zimmer übereinander lagen, durch Wendeltreppen und Falltüren miteinander verbunden. In dem einen Turm wohnte der Hausherr, Gordon Melford, in dem anderen Sarah Price. Unter der Haupttreppe führte eine Treppe in das Souterrain - das Kellergeschoß. Im Souterrain lag die Küche und daneben das geräumige Esszim mer mit einer Tafel, an der für acht Personen Platz war. Und nur im Kellergeschoß gab es ein Badezimmer mit WC - nur eines für das gan ze Haus. Und dort konnte man nur in Meerwasser baden, das eine elekt risch betriebene Pumpe aus der See saugte. Erwärmt wurde das Ba dewasser mittels elektrischer Heizschlangen in einem Durchlauferhit zer. Im Kellergeschoß gab es auch den so genannten Maschinenraum. Dort stand ein Dieselmotor, der einen Generator antrieb, der das Haus mit Strom versorgte. In der Küche stand ein großer Elektroherd und die ›Zellen‹ und die Turmzimmer wurden elektrisch beheizt. Nur sehr notdürftig, wie sich herausstellte. Die Gäste fröstelten die meiste Zeit. In der Halle gab es zwei blinde Kamine - die auch elektrisch be heizt wurden. Und auch die Halle war ungemütlich kühl. 27
Das vielleicht eigenartigste an dem ›Kastell‹ war, dass es nur durch eine einzige Tür betreten werden konnte - durch die Haustür. Aber alles das stellte Harry Melford erst später fest, nach dem merkwürdigsten Dinner, dem er je beigewohnt hatte. Schon die Tageszeit war ungewöhnlich: später Nachmittag. Ei gentlich Teezeit - viel zu früh für ein Dinner. Aber der Hausherr sagte, er wolle das Beieinandersein mit alten Freunden mit einer festlichen Mahlzeit eröffnen. In einer Stunde. Und dem feierlichen Anlass angemessen sei A bendgarderobe. Ein Gong würde die Herrschaften zum Dinner rufen. Das Speise zimmer befinde sich im Souterrain. Harry stieg also in seinen Smoking. Und als der Gong ertönte, be gab er sich in das Kellergeschoß. Er war der erste im Speiseraum, aber alle anderen fanden sich unmittelbar nach ihm ein. Die Tafel war ausgesprochen festlich gedeckt und es gab Tisch karten. Harry saß an der einen Schmalseite der Tafel, dem Platz des Hausherrn gegenüber. Gordon Melford erschien als letzter, auf einen Stock gestützt, stark hinkend. Sarah Price war eine sehr gute Köchin und alle sprachen dem Festmahl mit gutem Appetit zu. Nachdem Sarah Price den Mocca serviert hatte, nahm sie selber an der Tafel Platz. Vorher hatte sie Karaffen mit verschiedenen Weinen bereitgestellt. Während des Dinners hatte der Hausherr beharrlich geschwiegen. Jetzt klopfte er mit dem Siegelring, den er am Ringfinger der linken Hand trug, gegen sein Weinglas und wartete dann, bis alle ihn ansa hen. »Meine Freunde«, begann er. Und er lächelte maliziös. »Oder soll ich besser sagen, meine Feinde...?« Niemand reagierte. Alle blickten nach wie vor auf den so erbar mungswürdig vom Fleisch gefallenen Mann, der nun fortfuhr: »Aber ›meine Freunde‹ wäre sicher zuviel gesagt. Dass wir alle von Berufs 28
wegen quasi Rivalen sind oder waren -, muss ja nicht gleich in Feind schaft ausarten. Ich stelle fest: Mit Ausnahme von Dr. Harry Melford, der, soweit feststellbar, mein einziger lebender Verwandter ist, sind wir alle seit vielen Jahren miteinander bekannt und ich denke, wir alle wis sen, was wir voneinander halten. Verzeiht mir übrigens, meine Freun de, dass ich sitzen bleibe. Ihr seht ja selber, dass ich arg hinfällig bin. Ich habe nur noch ein paar Monate zu leben. Das heißt, ich hätte. A ber ich will nicht mehr! Anders gesagt: Ich bin entschlossen, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Das wird sehr undramatisch vor sich ge hen. Ich brauche nur die Medikamente nicht mehr zu nehmen, die mich am Leben erhalten. Und dann wird es binnen weniger Tage vor über sein.« Noch immer reagierte niemand. Das fand Harry Melford erstaunlich. »Keine Sorge«, sprach Gordon Melford weiter, »es wird nicht ge schehen, solange ihr hier seid. Erst später – aber sehr bald später. Jeder von euch wird dann an die 30 000 Pfund Sterling erben, voraus gesetzt, ich schließe den einen oder den anderen nicht noch von der Erbschaft aus. Dann müsste ich das Testament, das ich bereits gemacht habe, entsprechend ändern.« Wieder ein maliziöses Lächeln. Dann breitete Gordon Melford die mageren Hände aus. »Ich sagte ja, wir alle wissen, was wir voneinander halten und ich werde jetzt einmal unverblümt aussprechen, wie ich jeden von euch einschätze. Ich bitte, mich nicht zu unterbrechen. Protestieren dürft ihr hin terher, wenn ihr das denn noch mögt, was ich bezweifle. Und zwar deshalb bezweifle, weil ich auch die Wahrheit über mich selber beken nen will - über den großen Gordon Melford, aber dies erst am Ende meiner Ausführungen. Beginnen möchte ich mit dir, Eliza Reed, ge nannt die Pythia von Wadebridge. Du bist und warst nie etwas anderes als eine fantastische Bauchrednerin, hast keinerlei übersinnliche Fähig keiten. Die Stimme des kleinen Mädchens Jane Hutchington produ zierst du selber. 29
Sie, Radschendra Jalna, sind kein Inder, zumindest waren Sie nie in Indien. Ihr eigentlicher Name ist John Stevenson, unehelicher Sohn von Martha Stevenson, Kellnerin in einer Hafenkneipe in London, Ihr Vater war irgendein indischer Matrose, dessen Namen Ihre Mutter nicht einmal gekannt hat. Übersinnliche Kräfte haben Sie so wenig wie Eliza. Nun zu Roger Frazer, genannt der Mönch. Der Name ist richtig: Roger Frazer, geboren vor 51 Jahren in Montreal, Kanada, zig Vorstra fen wegen Betrugs, arglistiger Täuschung und ähnlicher Delikte, bevor er nach England übersiedelte und dort die Sekte gründete, deren O berhaupt er noch heute ist. Keinerlei übersinnliche Fähigkeiten. Das gilt auch für Sie, Christopher Ward und Ihr so genanntes Medium, Ali ce Mills, die in Wahrheit Alice Ward heißt und Ihre Tochter ist. Damit komme ich zu mir selber.« Hier machte der alte Mann eine Pause. Bisher hatte niemand auch nur versucht, ihn zu unterbrechen oder ihm zu widersprechen. Der Inder, der eigentlich nur ein Halbinder war, saß mit steiner nem Gesicht da, blickte, scheinbar geistesabwesend, dem Rauchfaden seiner Zigarre nach. Der Mönch war zwar dunkelrot angelaufen - dahingestellt, ob vor Zorn oder aus welchen Gründen auch immer, aber er grinste die ganze Zeit schmal. Eliza Reed atmete hörbar. Ihr gewaltiger Busen wogte im Rhythmus der Atemzüge, ihr grobes Gesicht blieb jedoch ausdruckslos. Christopher Ward, der gepflegte alte Herr, lächelte ironisch-mokant und Alice, sein attraktives Medium (Harry fiel jetzt auf, dass Vater und Tochter einander recht ähnlich sahen) hielt die Lider gesenkt. Im merzu. »Damit«, wiederholte der Hausherr nach zerdehnten Sekunden, »komme ich zu mir selber. - Ich gebe rundheraus zu, dass ich, als ich als Magier und Hellseher zu arbeiten begann, ebenfalls keinerlei über sinnliche Fähigkeiten hatte. Jedenfalls meines Wissens nicht. Mein Vater war Zauberkünstler und ich übernahm seine Nummer, als er sich zur Ruhe setzte. Erst im Laufe der Jahre erkannte ich zu meiner eigenen Verwunderung, dass ich tatsächlich über gewisse ü bersinnliche Kräfte verfüge und dass ich mit Sarah Price, die ich per 30
Zufall kennen lernte, auf eine mysteriöse, rationell nicht erklärbare Weise verbunden bin. Sarah kann niemandes Gedanken lesen - außer meinen. Das allerdings kann sie mit geradezu unheimlicher Perfektion. Und sie hat das, was man das zweite Gesicht nennt. Das heißt: Sie sieht kommende Ereignisse voraus und sie ist imstande, Ereignisse zu sehen, die sich in der Vergangenheit abgespielt haben. Das geht nicht auf Kommando, aber es geschieht sehr häufig. Insofern, meine Freun de, haben Sarah und ich zwar auch geblufft und mit Tricks und Kniffen gearbeitet wie ihr alle - eben weil Sarah nicht auf Kommando das Zweite Gesicht hat. Aber wir haben in vielen Fällen doch echte Leis tungen geboten. Dessen ungeachtet haben Sarah und ich niemals ge glaubt oder auch nur für möglich gehalten, dass es wirklich Geister gibt. Nicht bis zu dem Tag, an dem wir auf dieses Eiland kamen.« Gordon Melford machte wieder eine kleine Pause und nahm den Faden wieder auf. »Und nun kommt es, meine Freunde, meine Rivalen, meine - nun ja - Feinde: Auf diesem Eiland geht es tatsächlich nicht geheuer zu. Damit Sie verstehen, was ich meine, muss ich Ihnen die Vorgeschichte erzählen.« Hier schilderte Gordon Melford das, was der Leser schon weiß. Danach fuhr er fort: »Ob ihr es nun glaubt oder nicht. Auf diesem Ei land geht der ›Singende Tod‹ um. Der Geist des Doppelmörders Ro bert Melford, der sich, nachdem er das Eiland gekauft und dieses Haus darauf erbauen lassen hat, Robert Selkirk nannte. In Anlehnung an den Matrosen Alexander Selkirk, der achtundzwanzig Jahre allein auf einem Eiland verbrachte und dessen Schicksal der Schriftsteller Daniel Defoe zur Grundlage seines Buches ›Robinson Crusoe‹ machte. Ob ihr es nun glaubt oder nicht. Ich habe den ›Singenden Tod‹ gehört und gesehen und ich weiß, weiß ganz einfach, dass es sich um einen Geist handelt, einen Astralleib, ein Gespenst. Auf keinen Fall ist es ein lebender Mensch. Und eben weil ich das weiß, habe ich euch alle hierher gebeten. Ihr alle sollt erfahren, sollt erkennen und nach meinem Tod bezeugen, dass es wirklich Geister gibt und dass...« 31
Hier verstummte der Mann, der einmal der große Gordon Melford gewesen war. Er nahm einen Schluck aus der Moccatasse, wurde noch bleicher, als er ohnehin war, lief dann dunkelrot an, griff sich mit bei den Händen zum Hals und schien nur noch mühsam Luft zu bekom men. Sekundenlang. Dann atmete er wieder freier, nahm mit zitternden Händen aber mals die Moccatasse, trank zwei größere Schlücke. Die Tasse entfiel den skelettartig abgemagerten Fingern und zer brach auf dem Fußboden. Die Augäpfel Gordon Melfords schienen aus den Augenhöhlen fal len zu wollen - so übernatürlich groß wurden sie. Der ganze schmächtige Körper wurde durchgeschüttelt, durchge rüttelt. Der Arzt Harry Melford sprang auf, um zu helfen. Da im selben Moment auch der Mönch aufsprang, der rechts neben Harry saß, prall ten die beiden Männer gegeneinander. Inzwischen hatte Gordon Mel ford sich zu erheben versucht. Der Stuhl, auf dem er gesessen hatte, kippte nach rückwärts um und der alte Mann brach in die Knie. Gleich darauf fiel sein Oberkörper nach vorn unter den Tisch. Als Harry - fünfzehn, höchstens zwanzig Sekunden waren vergan gen, seit Gordon Melford zusammengebrochen war - den alten Mann unter dem Tisch hervorgezogen hatte, war schon alles vorüber. Gordon Melford war tot. Harry aber starrte fassungslos auf den Griff des Dolchmessers, der unmittelbar über dem Herzen des Toten aus dessen Brust ragte. Im selben Augenblick hörten es alle. Die Saiten einer Laute wur den gezupft und eine heisere, wie geborstene Männerstimme begann zu singen: »Mein Herz ist im Hochland...« (My heart is in the high lands...«). Nur die erste Zeile dieses alten schottischen Volksliedes wurde ge sungen und gespielt. Alle hörten es, aber niemand sah den Sänger, den ›Singenden Tod‹. Niemand außer Eliza Reed, genannt die Pythia von Wadebridge. Deren grobes Gesicht war gipsgrau und ihre wulstigen Lippen zit terten, als sie hervorstieß: »Dort - dort ist er!« 32
Dabei starrte sie aus weit aufgerissenen Augen zu der Balustrade hinauf. Dann wurde sie ohnmächtig. Sie war sitzen geblieben, nun kippte ihr Kopf vornüber. Irgendwo in der Halle begann ein Kind zu weinen. Weder Harry noch sonst jemand sah einen Menschen oder einen Geist auf der Galerie. * Was während der nächsten Minuten geschah, was jeder einzelne tat oder nicht tat, darauf achtete Harry nicht. Ihm blieb keine Zeit dazu. Gordon Melford war klinisch tot. Daran gab es keinen Zweifel. Das entband den Arzt nicht von der Verpflichtung, Wiederbelebungsversu che zu machen, sofern das irgend sinnvoll erschien. Harry zog den Dolch aus dem Wundkanal und erkannte sofort, dass er nichts mehr für Gordon Melford tun konnte. Die Klinge des Dolches war gut zehn Zoll lang, mithin tief in das Herz eingedrungen. Harry richtete sich auf, legte den Dolch auf den Tisch, ging zu Eli za Reed, um die sich Jalna und Alice bemühten. Harry schob beide beiseite, stellte fest, dass der Puls der Walküre zwar schwach, aber regelmäßig ging. Zu tun brauchte Harry nichts - Eliza Reed kam von selber wieder zu sich. Als sie die Augen aufschlug, verstummte die Stimme des Kindes. Aus den Augenwinkeln sah Harry, dass Roger, der Mönch, die Hand nach dem Dolch ausstreckte. »Lassen Sie das!«, forderte Harry Melford halblaut, aber scharf. Die stark behaarte Hand des Mönches blieb über dem Dolch in der Luft hängen und wurde erst nach einer Weile zurückgezogen. »Warum soll ich den Dolch nicht anfassen, Doktor?« »Weil«, sagte Harry, »die Mordkommission feststellen muss, ob sich Fingerabdrücke auf dem Griff befinden - außer meinen.« Und er wandte sich an Sarah Price. 33
»Wo ist das Telefon, Madam?« Die alte Dame hatte die ganze Zeit scheinbar gleichmütig anteillos auf ihrem Platz gesessen. Sie schien weder schockiert zu sein noch Trauer zu empfinden ob des plötzlichen Todes des Mannes, mit dem sie jahrzehntelang zu sammengearbeitet hatte - und wahrscheinlich nicht nur zusammenge arbeitet. Aber dieser Eindruck mochte täuschen. Vielleicht war noch gar nicht in ihr Bewusstsein gedrungen, dass ihr Chef und Lebensgefährte tot war. Jetzt fuhr sie zusammen. Ihre Lippen begannen zu zittern. Dann richtete sie die Augen auf den Arzt, schob die Hände ineinander. »Telefon?«, krächzte sie. »Es gibt kein Telefon auf dem Eiland. Auch kein Funkgerät.« Sie erhob sich mit langsamen, mechanischen Bewegungen. »Es wird keine Mordkommission kommen«, krächzte sie weiter. »Es wird überhaupt niemand auf die Insel kommen. Nicht, bevor alles vorüber ist.« »Was meinen Sie mit ›bevor alles vorüber ist‹?«, fragte Harry. Sarah Price reagierte nicht auf diese Frage. Sie schien durch Harry hindurchzublicken. Ihre Augen glänzten wie fiebrig. »Ich habe gewusst, dass Gordon sterben, dass er ermordet wer den würde. Heute und hier. Ich habe es gewusst, aber ich habe es Gordon nicht gesagt.« Ihr faltiges Gesicht verklärte sich gleichsam von innen heraus. »Gordon hat sich gewünscht, jählings zu sterben und nun ist er jählings gestorben. Etwas Besseres konnte ihm nicht geschehen.« »Wieso ermordet?«, platzte der Mönch heraus. »Er hat sich selber erstochen. Unter dem Tisch. Es gibt keine andere Erklärung.« Sarah Price blickte nach wie vor Harry Melford an. Sie schüttelte langsam den Kopf. »Es war Mord«, krächzte sie. »Ich weiß es. Und Dr. Melford weiß es.« Nun blickten alle Harry an. Der nickte. 34
»Mrs. Price hat recht«, sagte er schleppend. »Gordon Melford war bewusstlos, als er zusammenbrach. Ganz gewiss konnte er sich unter dem Tisch kein Messer mehr in die Brust stoßen. Im übrigen ist er höchstwahrscheinlich vergiftet worden. Mutmaßlich war er schon tot, als er unter den Tisch fiel.« Erst als er es aussprach, war Harry dies klar geworden. Er erinnerte sich: Gordon Melford hatte den ersten Schluck aus der Moccatasse genommen und war sofort in Atemnot geraten. Für ein paar Sekunden. Dann hatte er zwei größere Schlucke genommen - und war mit al len Symptomen einer Zyanidvergiftung zusammengebrochen. Harry ging um den Tisch herum, wollte die Scherben der Mocca tasse einsammeln. Aber diese Scherben waren verschwunden, nicht mehr da. Harry starrte auf den Tisch. Dorthin, wo soeben noch der Dolch gelegen hatte. Und auch der Dolch war verschwunden. In eben diesem Augenblick begannen die Glühbirnen zu flackern, um dann vollends zu erlöschen. Gleichzeitig wurde die Haustür geöff net - gewaltsam nach innen geschleudert. Der Wind hatte sich in Sturm ausgewachsen und der Sturm stand genau auf der Tür. Es regnete und Regentropfen wurden vom Sturm bis zu der Tafel inmitten der Halle gepeitscht. Das Fiepen und Jaulen des Sturms wurde übertönt von Hundege bell und irgendwo in der Halle, offenbar droben auf der Balustrade, lachte ein Mann. Es blieb nur ein paar Augenblicke lang dunkel. Dann flammten die Glühbirnen wieder auf, die Haustür fiel ins Schloss zurück. Der Dolch lag wieder dort, wo er vorher gelegen hatte und auf dem Fußboden lagen wieder die Scherben der Moccatasse. Niemand schien sich bewegt zu haben. Alle saßen oder standen dort, wo sie vorher gesessen oder ge standen hatten. 35
*
Harry Melford wusste, was er zu tun hatte. Er sagte mit ruhiger, fester Stimme: »Hören Sie mich bitte an! Ich bin, wie Sie mittlerweile wohl alle wissen, Arzt. Und zwar Polizeiarzt. Präzise ausgedrückt: Ich bin Oberarzt im Gerichtsmedizinischen Institut von London und gehöre zum C.I.D. - Zur Kriminaldivision von New Scotland Yard. Hier ist ein Mord begangen worden und ich habe nicht die Absicht, dem Mörder Gelegenheit zu geben, das fortzusetzen, was er schon begonnen hat: nämlich die Spuren zu verwischen.« Harry zögerte ein paar Atemzüge lang, dann aber sprach er es aus: »Morgen Vormittag wird ein Inspektor von Scotland Yard auf dem Eiland eintreffen.« Harry dachte dabei an Henry Woods, den Mann von der GeisterSquadron, der angekündigt hatte, dass er ab morgen auf der Insel sein würde. Niemand schien sich darüber zu wundern, dass ein Inspektor kommen sollte, obwohl es weder ein Telefon noch ein Funkgerät gab. »Bis dieser Inspektor hier ist«, fuhr Harry fort, »werde ich alles das tun, was ein Detektivinspektor tun würde. Und ich bin sicher, dass Sie alle mich dabei unterstützen werden.« Eliza Reed bewies, dass sie denken konnte. »Selbstverständlich«, dröhnte sie mit ihrer Feldwebelstimme. »Denn wer sich querlegt, bekennt sich praktisch schuldig.« »So ist es«, sagte Harry trocken. »Darf ich Sie alle zunächst bitten, sich zum Kamin zu begeben und bis auf weiteres dort zu bleiben.« Alle gingen schweigend zu einem der beiden Kamine, vor dem mehrere lederbezogene Clubsessel und ein Ledersofa standen. Dort setzten sie sich. Harry beugte sich zunächst einmal über die Scherben auf dem Fußboden. Dies waren nicht die Scherben der Tasse, aus der Gordon Melford getrunken hatte. 36
Aus dieser Tasse hatte überhaupt niemand getrunken. Die Scher ben waren sauber und blank. Es mussten Kaffeeflecke auf dem Parkett geben. Eigentlich ja. Aber Harry konnte keine entdecken. Er richtete sich auf und ging zum Tisch. Die Klinge des Dolchs funkelte im Licht der Glühbirnen des Leuch ters über dem Tisch. War das überhaupt der Dolch, der in Gordon Melfords Brust ge steckt hatte? Harry bezweifelte das. Das Licht war nur für wenige Sekunden erloschen. Niemand hatte binnen dieser kurzen Zeit die Klinge blank putzen können. So wenig wie die Scherben. Wie überhaupt mochte der Dolch in Gordon Melfords Brust ge kommen sein? Dafür gab es - wie schon der Mönch gesagt hatte - nur eine Erklä rung - nur diese eine: Gordon Melford hatte sich selber erstochen. Aber wie konnte er das, nachdem er schon bewusstlos, wenn nicht tot gewesen war, als er zusammenbrach? Harry starrte auf die Scherben, auf den Dolch, wieder auf die Scherben. Und dann begriff er. Es war kein Mord. Gordon Melford hatte Selbstmord begangen. Er hatte nur so ge tan, als ob er an Atemnot litte, hatte nur vorgetäuscht, dass er Mocca trinke, in dem Zyanid oder ein anderes Gift war, das beinahe sofort tötete. In Wahrheit war die Tasse leer gewesen. Gordon Melford hatte ei nen Sterbenden gespielt und sich unter den Tisch fallen lassen. Dort hatte er sich den Dolch in das Herz gestoßen, den er vorher unter dem Tisch deponiert hatte. So und nur so! Eine andere Möglichkeit gab es nicht, hatten doch alle an der Tafel gesessen und die Hände auf der Tischplatte gehabt, als Gordon Melford unter den Tisch fiel. Wenn es mit rechten Dingen zuging, dann hatte Melford sich selber erstochen. Und dass es nicht 37
mit rechten Dingen zugehen sollte - das konnte Harry Melford nicht glauben. Noch nicht! Harry beugte sich noch einmal über den Toten. Und er wurde so fort wieder unsicher. Gordon Melfords Gesicht war verzerrt, der Mund stand weit offen, die Augen waren noch immer hervorgequollen. So sehen Tote aus, die erstickt sind. Harry neigte das Gesicht über das des Leichnams, zog die Luft durch die Nase ein und roch Blausäure. Also doch Gift? Harry Melford dachte nach, fand die endgültige Lösung. Er hob eine der Scherben auf und roch daran. Blausäure! Unverkennbar. »Nun, junger Mann«, dröhnte Eliza Reeds markige Stimme quer durch den Raum. »Wie sieht's aus?« Harry massierte mit Daumen und Zeigefinger sein Kinn und be schloss dann, mit offenen Karten zu spielen. Einfach, weil für ihn feststand, dass Gordon Melford doch Selbst mord begangen hatte. Der Arzt ging zum Kamin und erklärte es allen: Die Tasse habe nicht Mocca, sondern Blausäure enthalten. Unverdünnte oder kaum verdünnte Blausäure. Und Gordon Melford müsse das gewusst haben. »Niemand kann Blausäure für Kaffee halten«, stellte Harry fest. »Auch nicht für ir gendein anderes Getränk. Dazu ist der Geruch zu intensiv. Der alte Herr hat sich vor unser aller Augen vergiftet. Und zwar willentlich. Und zusätzlich hatte er unter dem Tisch noch den Dolch versteckt, den er sich selber ins Herz stoßen wollte, falls die Blausäure ihn nicht sofort tötete. Was dann der Fall war.« Niemand sagte etwas. Harry fügte hinzu: »Gute Gründe, den Freitod zu wählen, hatte Gordon Melford. Er litt an Rückenmarkkrebs, wenn ich nicht irre. Das stimmt doch, Mrs. Price?« 38
Sarah Price gab keine Antwort. Aber sie nickte. »Unbegreiflich ist mir nur«, murmelte Harry, »warum er sich auf so theatralische Weise umbrachte. Sozusagen auf offener Bühne.« Da richtete Sarah Price sich auf. Ihre Augen glühten förmlich. »Gordon hat sich nicht selber getötet!«, stieß sie krächzend hervor. »Der ›Singende Tod‹ hat ihn getötet. Und der ›Singende Tod‹ wird uns alle töten. Als nächste wird Eliza sterben und dann...« Sarah Price schüttelte heftig den Kopf und verstummte. Eliza Reed, die Pythia von Wadebridge, stieß ächzende Töne aus. Ihr großflächiges Gesicht lief quittengelb an. Radschendra Jalna aber kicherte. »Was finden Sie so lustig?«, herrschte Harry den Inder an. Der wurde sofort ernst. »Lustig finde ich gar nichts. Ich frage mich nur, warum Gordon Melford diese Rede hielt - von der er selbst kein Wort glaubte.« »Kein Wort glaubte?«, echote Harry. »Wie soll ich das verste hen?« Der Mann mit dem bronzefarbenen Gesicht sprach leise, aber scharf akzentuierend: »Gordon Melford wusste, dass wir alle, die wir hier sind, außer Ihnen, Doktor, über Kräfte verfügen, von denen Sie sich nichts träumen lassen. Das wusste er sehr gut.« Jalna schloss die Augen, legte den Kopf schräg, als ob er auf irgend etwas lausche. Harry hörte nur den Sturm jaulen. »Ja? Sprechen Sie ruhig weiter!«, forderte er. Der Inder öffnete die Augen. Er hob die Stimme nicht, als er fort fuhr: »Es mag den Singenden Tod geben oder gegeben haben. Aber nicht der Singende Tod hat Gordon Melford getötet noch wird er einen anderen töten. Gordon Melford hat auch nicht Selbstmord begangen, sondern...« »Sondern?« Jalna breitete die Hände aus. »Ich weiß es nicht. Aber ich weiß so gut wie Gordon Melford das wusste, dass jeder von uns, auch Sarah Price, imstande ist, Gegens tände zu bewegen, ohne sie zu berühren. Allein durch Ge dankenkonzentration. 39
Und ich weiß so gut wie Gordon Melford das wusste, dass jeder von uns Materialisationen zu bewirken vermag.« Harry bog skeptisch die Mundwinkel abwärts. Der Inder sah das, doch es focht ihn nicht an. »Jeder von uns«, sprach er unbeirrt weiter, »gebietet über Geister Verstorbener. Und wenn die Konstellationen günstig sind, dann vermag jeder von uns einem Geist befehlen, Blausäure und einen Dolch aus dem Nichts zu materialisieren, um...« Ein Donnerschlag ließ den Inder verstummen. Zwei, drei Blitze zuckten fahl hinter den Fensterscheiben. Brüllend laut grollte der Donner hinterdrein. Ein Wintergewitter entlud sich über dem Eiland und dauerte, wie die meisten Wintergewitter, nur wenige Minuten. Als der letzte Donner vergrollt war, blickte der Inder Harry Melford starr in die Augen. »Ich bin mir bewusst, Doktor, dass Ihnen das alles überspannt vorkommen muss: Hirngespinste von Leuten, die sich selber etwas vormachen. Dessen ungeachtet weiß ich so sicher wie Sie wissen, dass Sie Dr. Melford sind, dass Gordon Melford ermordet worden ist. Nicht vom Singenden Tod, sondern von jemandem, der in diesem Raum ist. Mittels übersinnlicher Kräfte. Was mich anbelangt, so habe ich nicht die Absicht, auf dem Eiland zu bleiben, bis die Reihe an mir ist. Woraus hervorgeht: Ich habe mit dem Tod Gordon Melfords nichts zu schaffen.« Der Inder war aufgestanden. Jetzt ging er mit großen wiegenden Schritten diagonal durch die Halle zur Haustür. Als er die Tür erreicht hatte, legte er die rechte Hand auf die Klinke und sprach über die Schulter zurück: »Mein Gepäck werde ich irgendwann abholen lassen. Adieu!« Der Sturm warf die Tür nach innen, sobald Jalna die Klinke nie dergedrückt hatte. Es regnete nicht mehr. Der Mann mit dem Turban zog die Tür mühsam hinter sich zu. Harry Melford war derart verdutzt, dass er zunächst gar nichts tat. Erst nach einer Weile lief er selber zur Haustür. 40
Die Tür wurde ihm förmlich vom Sturm entgegengeschleudert. Der Turban wehte herein, rollte bis etwa in den Mittelpunkt der Halle, blieb dann liegen. Eben jetzt machte der Sturm eine Atempause und milchiges Mondlicht fiel durch ein Wolkenloch. Der Inder musste noch zu sehen sein, wenn er im Schritttempo weitergegangen war. Aber Harry sah ihn nicht mehr. Nur wenn Jalna gerannt war, konnte er schon den kleinen Natur hafen unterhalb des Felsplateaus erreicht und sich damit Harrys Bli cken entzogen haben. Harry wollte lossprinten, aber eine Hand legte sich auf seine Schulter. Der Mönch war Harry zur Tür gefolgt. »Lassen Sie ihn«, sagte Roger Frazer, der Mönch, schroff. »Er wird zurückkommen, wenn er merkt, dass...« »Wenn er was merkt?« Der Mönch schüttelte den Schädel. »Wir müssen abwarten.« »Was müssen wir abwarten?« »Alles. Es ist ein teuflischer Plan.« »Welcher Plan?« Roger Frazer, genannt der Mönch, nahm Harry die Tür aus der Hand und drückte sie zu. »Der Plan Gordon Melfords. Haben Sie noch immer nicht begrif fen, was hier gespielt wird?« »Nein!«, bekannte Harry überfordert. Der Mönch war aschgrau im Gesicht, als er zwischen den Zähnen hervorstieß: »Gordon Melford hat uns auf das Eiland geholt, damit wir uns gegenseitig umbringen.« Harry schluckte trocken. Seine Mundhöhle war plötzlich wie ausgeglüht. »Aber das ist doch - das ist doch absurd«, murmelte er. »Absurd? Nein, diabolisch. Denn so wie Gordon Melford alles ein gefädelt hat, bleibt uns gar nichts anderes übrig.« In diesem Augenblick setzte der Sturm wieder ein. Jaulend und winselnd. 41
Und in derselben Sekunde bellten Hunde. Viele Hunde. Es hörte sich an wie das bösartige Gekläff eines Rudels von Blut hunden, das über die Beute herfällt und sich die Beute streitig macht. »Begreifen Sie es jetzt, Doktor?«, fragte der Mönch. »Nein. Noch immer nicht.« »Dann denken Sie mal darüber nach.« * Harry dachte darüber nach. Allerdings erst später. Zunächst einmal sprang die Haustür auf und der Inder taumelte herein. Er war unver letzt, aber er keuchte schwer. Er ließ sich gegen die Innenseite der Tür fallen und rang mühsam nach Luft. Das wütende Hundegekläff war verstummt. Etwa eine halbe Minute lang waren nur der Sturm und das Keu chen des Inders zu hören. Dann stieß Jalna sich von der Tür ab, ging quer durch die Halle, stieg die Treppe empor und verschwand in dem zellenartigen Gelass, das ihm zugewiesen worden war. Gesprochen hatte er kein Wort. Harrys Frage, was geschehen sei, schien nicht in sein Bewusstsein gedrungen zu sein. Harry Melford empfand sich noch immer als Statthalter des C.I.D., der verpflichtet war, den Dingen auf den Grund zu gehen. Er öffnete die Haustür und diesmal machte der Mönch keinen Versuch, ihn zu rückzuhalten. Furcht empfand der junge Arzt nicht. Jetzt nicht mehr. Dazu war sein Nervenkostüm zu stabil - von Be rufs wegen und überhaupt. Er war zeitweilig außer Passung gewesen, hatte zeitweilig gegen das Gefühl ankämpfen müssen, okkulten Er scheinungen oder Kräften wehrlos preisgegeben zu sein. Aber mittlerweile hatte er sich wieder gefangen. Wie hatte doch Henry Woods von der Geister-Squadron gesagt? »Es wird wahrscheinlich nichts geschehen, außer dass Ihnen eine Menge Hokuspokus vorgemacht wird.« 42
Harry lief über das Plateau zu dem kleinen Naturhafen. Nur der Sturm machte ihm das schwer. Sonst niemand und nichts. Von dem Plateau aus, das etwa zehn Fuß (rund drei Meter) über dem Hafenbecken lag, führte eine Art Rampe zum Wasser hinab, die künstlich in den Stein gehauen war. Mit Sicherheit schon zu Zeiten Robert Melfords alias Robert Selkirk. Jetzt lag ein Segelboot nicht in dem Hafenbecken, sondern auf dem Grund des Hafenbeckens. Einzelheiten konnte Harry nicht erkennen. Dazu war es zu dunkel. Aber er sah den Mast eines Segelbootes aus dem Wasser herausragen. Damit war zwar nicht alles, aber doch einiges klar. Radschendra Jalna hatte irgendeinen Helfershelfer beauftragt, ein Boot auf das Ei land zu segeln. Und eben das war geschehen. Aber irgendwer hatte dieses Boot im Hafen zum Sinken gebracht. Harry Melford nickte in sich hinein und fühlte quasi sicheren Bo den unter den Füßen. Henry Woods hatte richtig prophezeit: Hier wurde wirklich nur Ho kuspokus aufgezogen. Morgen früh, bei Tageslicht, würde sich herausstellen, was hinter alledem steckte. Dessen war Harry gewiss. Der Sturm schob ihn zum Haus zurück, warf ihn, wie ein Stück Strandgut, förmlich durch die Tür in die Halle. Kein Hunderudel hatte ihn aufgehalten. Selbstverständlich nicht. Es gab keinen Hund auf dem Eiland. Auch nicht den Singenden Tod. Darauf hätte Harry jetzt geschworen. In der Halle war nur noch der Mönch. Er fragte nicht einmal danach, was Harry draußen gesehen oder erlebt hatte. Ein Desinteresse, das Harry bemerkenswert fand. Der Mönch sagte nur, dass alle anderen sich auf ihre Zimmer zu rückgezogen hätten und er selber hätte sehr gern desgleichen getan. Aber irgend jemand müsse sich ja um den Leichnam kümmern. »Ich schlage vor, wir bringen den Toten in das Turmzimmer, das bei Lebzeiten sein Wohnzimmer war. Und wir bahren ihn dort auf.« So der Mönch. 43
Harry war einverstanden. Warum auch nicht. Sie trugen die Leiche in das Turmzimmer, legten sie dort auf die Couch. Da Harry noch immer glaubte, dass am nächsten Morgen In spektor Woods von der Geister-Squadron auf die Insel kommen würde, ließ er es dabei bewenden. Woods sollte den Toten so vorfinden, wie er gestorben war: im Smoking. Gordon Melford war mittlerweile seit fast einer Stunde tot. Und zwar wie Harry Melford später es formulieren sollte, »so tot wie nur möglich«. Aber wir wollen nicht vorgreifen. Auch der Mönch zog sich auf sein Zimmer zurück. Und nun erst fand Harry Muße, den Rat des Mönchs zu befolgen. Nämlich darüber nachzudenken. Das tat er am Kamin sitzend. Nachdem er es lange genug getan hatte, befand er, der Mönch hatte recht. Nämlich so herum: Wenn - ihn selber ausgenommen - jeder jedem anderen übersinnliche Kräfte zubilligte und jeder jeden anderen in Verdacht hatte, alle anderen mit Hilfe von Geistern töten zu wollen, um als Allein- und Universalerbe übrig zu bleiben, dann blieb keine andere Wahl als die, zu versuchen, alle anderen zu töten, bevor er selber getötet wurde. Aus Notwehr. Um die eigene Haut zu retten. War es wirklich das, was Gordon Melford beabsichtigt hatte? Falls ja, dann war das wahrhaft teuflisch. * Harry Melford wollte noch die Scherben einsammeln und den Dolch in Verwahrung nehmen, bevor er zu Bett ging. Aber er kam nicht mehr dazu. Bleierne Müdigkeit überfiel ihn plötzlich. Er begriff, dass ihm ein Schlafmittel verabreicht worden sein musste. Schon während des Dinners. Irgendein Präparat, das erst nach einiger Zeit wirkte. Dann aber probat. Harry brachte nicht mehr die Kraft auf, sich zu erheben. 44
Er schlief in dem Sessel ein. Wäre er wach geblieben, hätte er sehr Merkwürdiges beobachten können. Zunächst geschah allerdings gar nichts. Erst gegen zwei Uhr morgens tauchte aus dem Kellergeschoß ein Mann auf, den Harry kannte: Dr. med. Paul Dobson, Anfang fünfzig, früher in London wohnhaft gewesen, vor ungefähr zwei Jahren aus London verschwunden. Jedenfalls war er aus seiner früheren Wohnung nahe Piccadilly Circus verschwunden, nachdem er aus dem Zuchthaus Dartmoor entlassen worden war. Dort hatte er wegen Beihilfe zum Mord eingesessen. Drei Jahre lang. Verurteilt auf Grund von Indizien. Er sollte einer gewissen Mrs. Murchinson für sehr viel Geld ein Gift verkauft haben, das nicht oder jedenfalls kaum nachgewiesen werden konnte. Mrs. Murchinson hatte ihren Ehemann vom Leben zum Tode be fördert. Mit eben diesem Gift. An Einzelheiten konnte Harry Melford sich nicht erinnern - hätte er sich nicht erinnern können, wenn er Dr. Paul Dobson gesehen hätte. Aber er sah ihn eben nicht. Die große Standuhr schlug zwei, als Dobson aus dem Kellerge schoß in der Halle auftauchte. Dobson stutzte, als er den schlafenden Mann in dem Sessel be merkte, ging dann aber schnell und selbstsicher zu diesem Mann. Harry Melford spürte nichts davon, dass der Kollege ihm den Puls fühlte. Die Tür, die in Gordon Melfords Wohnzimmer führte, lag links der Treppe. Rechts der Treppe führte eine andere Tür in das Wohnzimmer von Sarah Price. Diese andere Tür wurde von innen geöffnet, kurz nachdem die Uhr zwei geschlagen hatte. Sarah Price hatte sich nicht niedergelegt. Das ging daraus hervor, dass sie noch das Abendkleid trug, das sie während des Dinners getragen hatte. 45
»Okay!«, wisperte Dobson ihr zu. »Alles klar. Er schläft wie ein Toter - wenn ich so sagen darf. Vor acht Uhr wird er nicht aufwa chen.« Beide betraten das andere Turmzimmer. Das, in dem Gordon Mel ford aufgebahrt war. Dobson - ein schmächtiger Mann mit einem unproportioniert gro ßen Schädel - zog ein Lederetui aus der Innentasche seines Sakkos und öffnete ein Etui. Es enthielt zwei Spritzen, ein Fläschchen mit einem Desinfekti onsmittel und zwei weitere Fläschchen, sämtlich mit Schraubver schluss. Aus einem der Fläschchen zog Dobson eine Spritze auf. Dann streifte er den rechten Ärmel des Smokings des Toten nach oben, öff nete die Manschette des Oberhemdes, legte den rechten Unterarm des Leichnams frei. Des Leichnams? Dobson desinfizierte die Kanüle der Spritze und die Einstichstelle. Überflüssig, wenn Gordon Melford tot war. Überflüssig und sinn los. Dobson drückte den Inhalt der Spritze in die Unterarmvene Gor don Melfords. Dann blickte er abwechselnd auf die Uhr und in das Gesicht des ›Toten‹. Nach etwa dreißig Sekunden stieg ein sanftes Rose in die gipswei ßen Wangen. Und nach weiteren dreißig Sekunden wölbte sich der Brustkorb. Noch einmal dreißig Sekunden später schlug der große Gordon Melford die Augen auf. Und er war sofort voll da. Was Dobson injiziert hatte, musste ein Wundermittel sein. Ein zweites Wundermittel nach dem ersten, das bewirkt hatte, dass ein Gerichtsmediziner - nämlich Dr. Harry Melford - Gordon Melford für klinisch tot gehalten hatte. Wundermittel insofern, als eben dieser Ge richtsmediziner sich hatte bluffen lassen. Der Magier Gordon Melford schlug also die Augen auf - und war sofort voll da. Er grinste. 46
»Hat alles geklappt?« »Wie an dem berühmten Schnürchen«, meinte Dobson und grins te seinerseits. Gordon Melford stützte den Oberkörper mit den Händen empor, drehte sich dabei um 90 Grad und saß nun auf der Couch. Er griff in die rechte Außentasche des Smokings und zog mit den Fingerspitzen eine winzige Moccatasse hervor. Dieses Tässchen war inseits bräunlich gefärbt und duftete leicht nach Mocca - nach sonst nichts. Der Magier griff in die linke Außentasche des Smokingsakkos und förderte einen Dolch zutage, der genauso aussah wie jener, der jetzt noch auf dem Tisch in der Halle lag. Beide Dolche unterschieden sich freilich in einem wesentlichen Punkt. Der eine - der jetzt in der Halle auf dem Tisch lag - hatte eine feststehende Klinge. Die Klinge des anderen hingegen glitt fast völlig in den Griff zu rück, wenn man damit zustieß. Nur die Spitze der Klinge drang etwa zwei Zentimeter tief ein. Ge rade so tief, dass der Dolch in der Wunde stecken blieb. Ein raffinierter Mechanismus bewirkte, dass die Klinge in voller Länge aus dem Griff sprang, wenn der Dolch aus der Wunde gezogen wurde. Beide Dolche waren Zauberrequisiten. Sie gehörten zu einem Trick, den Gordon Melford vor vielen Jah ren vorgeführt hatte, am Anfang seiner Laufbahn, als er noch mit ver hältnismäßig simplen Tricks arbeitete. Der Mord oder Selbstmord war ein Zaubertrick gewesen - nichts anderes. Ein grandioser Jux - wenn man so will. Ein Jux allerdings mit ernsthaftem Hintergrund. Darüber wird noch zu reden sein. Im Augenblick waren alle drei - Gordon Melford, Sarah Price und Dr. Paul Dobson - sehr zufrieden. Sie bereiteten den nächsten Akt des grandiosen Juxes vor. Sarah Price schloss einen großen Schrank auf und in diesem Schrank stand das Ebenbild des ›toten‹ Gordon Melford. 47
Tatsächlich handelte es sich um eine Schaufensterpuppe von der Größe und Statur des Magiers. Der Kopf der Puppe war abgetrennt und durch einen Wachskopf ersetzt worden: ein Abguss des Schädels des Magiers, angefertigt in London von einer Firma, die Zauberre quisiten aller Art herstellte. Gordon Melford hatte ein naturgetreues Abbild seines eigenen Kopfes bestellt. Begründung: Er wolle noch einmal als Magier auftreten und dafür brauche er den Kopf eben. Niemand hatte indiskrete Fragen gestellt und die Spezialisten je ner Firma hatten perfekte Arbeit geliefert. Nach Melfords Anweisung, das Gesicht müsse aussehen wie das eines Toten. Jetzt bahrten die drei die Puppe auf. Sie war gekleidet wie Gordon Melford selber - in allen Details. Auf die Dauer würde sich selbstverständlich dennoch niemand ernsthaft täuschen lassen, aber das war auch gar nicht beabsichtigt. Die große Uhr in der Halle schlug halb drei. Gordon Melford wandte sich an Dobson. »Sind Sie sicher, Doktor, dass niemand vor acht Uhr erwacht?« »Absolut sicher.« »Gut. Dann kann ich noch ein paar Stunden in meinem eigenen Bett schlafen. Ich werde gegen sieben zu Ihnen kommen. Bis dahin: gute Nacht! - Und besten Dank, Doktor! Ich bin sehr zufrieden mit Ihnen.« Dobson grinste freudlos und entblößte dabei ein künstliches Ge biss. »Nichts zu danken. Schließlich bezahlen Sie mich gut genug. Im übrigen macht es mir Spaß, einmal mit einem Profi zusammenzuarbei ten.« Dobson verschwand wieder im Kellergeschoß, Sarah Price in dem anderen Turm. Gordon Melford, der noch nicht so hinfällig war, wie er es seinen Gästen vorgespielt hatte, stieg über die schmale Treppe inseits des Wohnzimmers in sein darüber liegendes Schlafzimmer hinauf. Dort 48
setzte er sich auf das Bett, rieb sich die mageren Hände und kicherte leise. Er hatte das Oberlicht eingeschaltet. Als er die Smokingfliege abband, erlosch das Licht. Schritte kamen die Treppe empor. Schwere Schritte. Und dann sah der alte Mann den Singenden Tod. Er sah ihn nicht nur - er hörte ihn auch. Sah und hörte den Geist, das Skelett, an dessen Existenz er kei nen Augenblick lang geglaubt hatte. Der Knochenmann schien über der Falltür frei in der Luft zu schweben - etwa einen Fuß über dem Fußboden. Obwohl es stockfinster war und von nirgendwo Licht in das Zim mer fiel, sah der alte Mann das Gerippe. Sah er die Knochenhand, die die Saiten einer Laute zu zupfen schienen. Das Instrument selber war nicht zu sehen. Wohl aber zu hören. Und der Singende Tod sang. Leise, aber mit wohllautender Stim me. Die Kinnlade des Totenkopfes klappte dabei auf und zu... Dem alten Mann auf dem Bett blieb nur noch wenig Zeit, Grauen zu empfinden. Sein Herz versagte. Gordon Melford, der einmal der große Gordon Melford gewesen war, erlag einem Herzschlag. Dr. Paul Dobson wartete vergebens auf ihn. * Harry Melford war Sportsegler, also körperlich fit, überdies von robus ter Gesundheit. Er hatte dem Schlafmittel, das dem Mocca zugesetzt worden war, länger widerstanden als alle anderen und erwachte früher als alle an deren. Nicht erst gegen acht, wie Dr. Dobson gemeint hatte, sondern schon kurz nach sieben. 49
Dobson war soeben im Begriff, die Halle zu betreten, um Gordon Melford zu holen, der verschlafen haben musste, als Harry Melford in seinem Sessel erwachte, geräuschvoll gähnte und die Arme reckte. Dobson machte auf dem Absatz kehrt. Es stürmte noch immer. Das war das erste, das Harry bewusst wahrnahm. Regen wurde gegen die Fensterscheiben an der Nordseite ge peitscht. Der junge Arzt stemmte sich auf die Füße, spürte, dass seine Zun ge dick belegt war und dass dieser Belag faulig schmeckte. Sicher eine Nebenwirkung des Schlafmittels. Der Tisch - die Festtafel - war nicht abgedeckt worden. Harry woll te den Mundbelag loswerden, ging zu dem Tisch, goss aus einer Karaf fe Portwein in eines der unbenutzt gebliebenen Gläser. Trank dann aber doch nicht. Einer Eingebung folgend. Er ging in das Turmzimmer, in dem Gordon Melford aufgebahrt lag. Der Leichnam lag nach wie vor auf der Couch. Was denn sonst. Dennoch stimmte etwas nicht. Was das war - das fiel Harry erst ein und auf, nachdem er sich vergegenwärtigt hatte, wie der Tote nachts auf der Couch gelegen hatte. Harry selber hatte die Hände des Leichnams in Nabelhöhe über einander gelegt. Auch jetzt lagen die Hände übereinander - aber eine Handbreit tiefer. Und die Smokingfliege war nicht so korrekt gebunden, wie sie es gewesen war. Harry beugte sich über den Toten. Dessen Gesicht war fahl, aber unverzerrt. Anders im Ausdruck als vordem. Es hatten sich noch keine Leichenflecke gebildet und auch sonst sah der Tote so aus, als sei er erst seit wenigen Stunden tot, nicht seit nun immerhin rund vierzehn Stunden. Harry versuchte, die Finger des Leichnams zu bewegen. Das ging mühelos. Harry hob beide Arme des Toten an. Kein Widerstand. 50
Wenn Gordon Melford vor rund vierzehn Stunden gestorben war, musste die Leichenstarre noch fast total sein. Acht Stunden nach dem Tod beginnt sie, hält weiter acht Stunden an. Gordon Melford war keinesfalls seit vierzehn Stunden tot, seit nicht einmal acht Stunden. Harry schüttelte den Kopf. Unbegreiflich. Unverständlich. Er blickte um sich, ließ seine Augen durch den Raum wandern. Da war alles wie in der Nacht. Oder doch nicht? Die Falltür oberhalb der Treppe stand offen. Harry wusste nicht genau, ob sie auch vordem offen gestanden hatte - er konnte sich nicht erinnern. Er stieg die Treppe empor, kam in ein Schlafzimmer. Auf dem Bett schien jemand gesessen zu haben. Eine Treppe führte weiter nach oben. Warum Harry weiter aufwärts stieg, wurde ihm selber nicht klar. Er passierte zwei weitere übereinander liegende Räume, erreichte dann die Plattform des Turms. Der Sturm riss ihm die oberste Falltür aus der Hand, nachdem Harry sie von unten halb aufgedrückt hatte. Dann stand Harry auf der Plattform, schräg gegen den Sturm ge neigt. Rundum gab es eine über hüfthohe Brustwehr mit Zinnen. Harry trat an die Brustwehr heran, hielt sich an den Zinnen fest, um nicht heruntergeweht zu werden. Er konnte den kleinen Naturhafen sehen. Es war Ebbe. Das Segelboot, dessen Mast gestern Abend aus dem Wasser ge ragt hatte, lag jetzt auf dem Schlickgrund des kleinen Hafens, der also nur bei Flut angelaufen werden konnte. Auf der anderen Seite des Turms brandete die See gegen die Felsklippen an, auf der das Haus erbaut worden war. Die Klippe war zerklüftet, hatte Vorsprünge, es gab kleine Terras sen unterhalb der Grundmauer des Hauses. 51
Auf einer dieser kleinen Terrassen lag Gordon Melfords Leiche. In Wahrheit die Schaufensterpuppe mit dem aufgesetzten Wachskopf. Aber das konnte Harry Melford nicht ahnen. Ein Zufall wollte es, dass eben jetzt eine gewaltige Woge anrollte buchstäblich haushoch. Donnernd und gischtend brach dieser Wasserberg sich an der Klippe, lief bis über die Grundmauern hoch. Als die Woge abgelaufen war, hatte sie den ›Leichnam‹ mitge nommen. Harry Melford musste zwangsläufig glauben, irgendwer habe den Toten durch eines der Fenster im Erdgeschoß auf die Klippe geworfen. Er rannte die Treppen hinab, so schnell er das vermochte, starrte dann entgeistert auf den Toten. Harry Melford war überfordert, begriff und verstand nichts. Er beschloss, für sich zu behalten, was er gesehen hatte. Darüber zu schweigen, bis Inspektor Woods von der Geister-Squadron eintref fen würde. Mutmaßlich per Hubschrauber. * Es geschah zunächst gar nichts. Harry hatte sich umgekleidet, gewaschen und rasiert, ohne das einzige Badezimmer im Kellergeschoß zu benutzen. In allen Gästezimmern - sofern man die Zellen als Zimmer be zeichnen wollte - standen Waschgeschirre parat. Große Schüsseln mit großen Krügen, in denen Süßwasser war. Das wurde schon gesagt. Nun saß Harry in der Halle und wartete. Niemand benutzte das Bad. Nacheinander fanden sich alle in der Halle ein. Alle. Bis auf Sarah Price. Es war dann Harry, der an die Tür klopfte, hinter der - in dem an deren Turm - Mrs. Prices Zimmer lag. Er klopfte sehr laut. Aber vergebens. 52
Harry probierte, ob die Tür abgeschlossen oder von innen verrie gelt sei. Das war nicht der Fall. Sarah Price lag zusammengekrümmt unmittelbar hinter der Tür auf dem Fußboden. In einem knöchellangen Nachthemd. Ihre Hände waren um den Hals verkrampft. Harry bückte sich, löste die Hände. Und er wusste, auf welche Weise Sarah Price gestorben war. Sie hatte an Kehlkopfkrebs gelitten und der Kehlkopf war operativ entfernt worden. Seither atmete sie durch eine Kanüle, die in Höhe der Halskuhle in die Luftröhre eingesetzt worden war. Irgendwer hatte diese Kanüle zugestopft. Mit irgendeinem grauen plastischen Material. Sarah Price war erstickt. Unverständlich, kaum zu begreifen auch dies. Sie musste doch erwacht sein, als ihr Mörder begonnen hatte, das graue Zeug in die Kanüle zu stopfen. Das ging nicht im Handumdre hen. Dazu war der Durchmesser der Kanüle - des Plastikröhrchens - zu klein. Warum hatte Sarah Price nicht um Hilfe geschrieen? »Unsinn!«, sagte Harry laut und hart zu sich selber. Sie konnte nur noch heiser krächzen, seit sie keinen Kehlkopf mehr hatte. Und dann: Sobald das Röhrchen überhaupt verstopft war, bekam sie keine Luft mehr. Mit den Fingern konnte sie die graue Masse nicht aus dem Röhr chen kratzen. Dazu hätte sie ein Hilfsmittel benötigt. Woher nehmen... Harry hatte es übernommen, Mrs. Price zu wecken. Er war also al lein zu der Tür gegangen. Jetzt hörte er hinter sich Stimmen laut werden. Alle redeten gleichzeitig - und alle Stimmen klangen erregt, aufgeregt, verblüfft. Harry wandte den Kopf und er sah den Mann, der eben in diesem Augenblick etwa in der Mitte der Halle zusammenbrach. 53
Harry drückte die Tür ins Schloss und strebte mit langen Schritten auf den Zusammengebrochenen zu, den die anderen inzwischen um ringt hatten. Eliza Reed, die Pythia von Wadebridge, war in die Hocke gegan gen und hatte den muskulösen rechten Arm unter den Nacken des am Boden Liegenden geschoben, der zunächst in die Knie gebrochen und dann nach hinten umgekippt war. Harry erkannte Dr. Paul Dobson auf Anhieb wieder, denn Dobson hätte sich in der Zwischenzeit kaum verändert. Dobson schlug noch einmal die Augen auf, schien Harry zu erken nen, versuchte zu sprechen, mit schwerer Zunge Wörter zu formen. Harry verstand nur Bruchstücke. »... Kollege Melford... gibt... Tod wirklich... nur Theater... wirk lich...« Dann verlor Dobson das Bewusstsein. * Dr. Paul Dobson blieb nur wenige Minuten ohnmächtig. Als er die Au gen wieder aufschlug, begriff er offenbar nicht, wo er war. Sein Blick blieb glasig. Dann begann er zu zittern. Harry hatte Dobson in einen der Sessel gesetzt. Jetzt schlug der junge Arzt Dobson ein paar mal leicht ins Gesicht. Daraufhin kehrte der Ausdruck in dessen Gesicht zurück. »Wo ist Gordon Melford?«, stieß er hervor. Harry schwieg. Aber hinter ihm sagte der Mönch überlaut: »Gor don Melford ist tot.« Dobson, noch immer kalkweiß, fuhr sich mit dem Handrücken ü ber die Lippen. »Aber nein«, murmelte er dann. »Gordon Melford lebt.« »Sie irren«, erwiderte Harry Melford. »Ich habe soeben noch ein mal seinen Leichnam...« Hier stutzte Harry. Er witterte Zusammen hänge. »Gordon Melford ist gestern Abend gestorben, falls Sie das meinen. Aber jetzt ist er tot. So tot wie nur möglich.« 54
Dobson, nun augenscheinlich wieder völlig Herr seiner Sinne, starrte Harry eine Weile an. Dann fragte er: »Gehören Sie noch zum C.I.D.?« Harry nickte. »Gut«, murmelte Dobson. Dann hob er die Stimme. »Ich sage Ih nen hiermit, dass ich aussteige, nicht mehr mitmache. Ich habe Gor don Melford geglaubt, dass alles nur eine Komödie sein solle, im ande ren Fall hätte ich niemals... Er hat versucht, mich zu töten.« »Wer?«, fragte Harry. »Gordon Melford?« »Aber nein. Der Singende Tod.« »Wann?«, fragte Harry. »Soeben. Ich...« »Ja? Sprechen Sie doch!« »Ich muss alles sagen - die ganze Geschichte erzählen. Sonst be greifen Sie nichts.« »Also bitte! Ich höre.« Alle standen im Halbkreis um Harry und Dobson und alle hörten das, was Dobson ›die ganze Geschichte‹ genannt hatte. Nämlich dies: Dr. Paul Dobson, ehedem Frauenarzt in London mit gut gehender Pra xis, war seit seiner Jugendzeit Amateurzauberkünstler gewesen, Mit glied des ›Magischen Zirkels‹, dem alle Berufsmagier der westlichen Welt angehören und nur solche Amateur-Zauberkünstler, die für wür dig befunden werden, dem Zirkel anzugehören. Man muss da eine Prüfung ablegen. Die Maßstäbe sind streng. Vor rund zwanzig Jahren hatte der Amateur Dobson den Professi onal Gordon Melford kennen gelernt und die beiden Männer hatten Gefallen aneinander gefunden. Seither hielten sie Kontakt miteinander, der erst abgerissen war, als Dobson ins Zuchthaus musste. Nach seiner Entlassung stand Dobson vor dem Nichts. Die Ärzte kammer hatte ihn ausgestoßen, er durfte nicht mehr praktizieren. Al lerdings war er nicht gerade arm. Ein paar Jahre lang würde er von seinen Ersparnissen leben kön nen, wenn er sich einrichtete. 55
Er gab die Stadtwohnung und die Praxis auf, siedelte in sein Weekendhäuschen westlich von London über und begann, ein anderes Hobby aus seiner Studentenzeit wieder auf zu nehmen: er beschäftigte sich mit Toxilogie. Vor ungefähr einem Jahr war er Gordon Melford wieder begegnet, der sich inzwischen zur Ruhe gesetzt hatte. Seither trafen die beiden sich hin und wieder. Vor einigen Wochen hatte Gordon Melford Dobson diese ›verrück te Idee‹ - so drückte der Arzt sich aus - entwickelt. Und dies war ›die verrückte Idee‹: Gordon Melford hatte das Ei land geerbt, von dem die Fama behauptet, dass dort der Singende Tod spuke. Was Gordon Melford nicht ernst nahm: ein Ammenmärchen von anno dunnemals. Er wollte den Kollegen oder Rivalen das Gruseln lehren, sie als Scharlatane entlarven. Darauf lief es hinaus. Am Ende würde der ›tote‹ Gordon Melford die Rivalen auslachen. Dobson sollte Gordon Melford dabei assistieren, hinter den Kulis sen wirken. Gordon Melford verstand sich auf wirkungsvolle Effekte. Die Täu schung würde perfekt sein: der vorgetäuschte Mord von - ›Geister hand‹ vor aller Augen. Das ging so: Nach dem Dinner und im Anschluss an seine Rede trank Gordon Melford Mocca und brach zusammen. Unter dem Tisch war ein Theaterdolch deponiert, den Gordon Mel ford sich ›ins Herz‹ stieß. Nachdem das geschehen war, hatte Melford nicht einmal das Bewusstsein verloren. Er hatte sich viele Jahre lang mit Yoga befasst - derart intensiv, dass er imstande war, seinen Herz schlag willkürlich aussetzen zu lassen - für ein paar Sekunden. Eben während der Sekunden, da Harry Melford seinen Puls fühlen würde. Während Gordon Melford die große Schau abzog, schaltete Dob son, der sich im Kellergeschoß aufhielt, für kurze Zeit den Strom aus, so dass alle Lampen erloschen. Während dieser kurzen Zeit vertauschte Gordon Melford selber den Theaterdolch gegen den echten Dolch und steckte die Moccatasse 56
in die Tasche. Die Scherben jener anderen Tasse, die mit Blausäure gefüllt gewesen waren, hatten unter dem Tisch auf dem Teppich gele gen, für alle unsichtbar, da das Tischtuch tief herunterhing. Der ›zusammengebrochene‹ Gordon Melford schob die Scherben unter dem Tisch hervor. Damit alles das nicht auffiel, waren weitere Theatereffekte vorbe reitet. Nach dem Grundprinzip aller Zaubertricks: Dort, wo scheinbar etwas geschieht, geschieht tatsächlich gar nichts. Droben auf der Galerie war ein Tonbandgerät versteckt, das Dob son im kritischen Augenblick eingeschaltet hatte. Vom Kellergeschoß aus über eine Fernschaltung, deren Draht entsprechend verlängert worden war. Im Kellergeschoß hatte Dobson sich in einem Geheimzimmer ver borgen gehalten. Nur die Stimme des Singenden Tods war tatsächlich zu hören ge wesen. Von dem Tonbandgerät, das Dobson selber besungen hatte. Er habe, sagte er, eine ganz gute Stimme. Wenn Eliza Reed den ›Singenden Tod‹ nicht nur gehört, sondern auch gesehen haben wolle - dann habe sie arg viel Phantasie. Im übrigen hatte - immer laut Dr. Dobson - Gordon Melford erst jetzt eine Pille geschluckt, nachdem er seine Rolle zu Ende gespielt hatte. Diese Pille, von Dobson selber angefertigt, bewirkte einen schein totähnlichen Zustand. Was Dobson über den weiteren Ablauf der Ereignisse sagte, weiß der Leser schon, es braucht nicht wiederholt zu werden. Zum Schluss behauptete Dobson, er habe also vergebens auf Mel ford gewartet und da er während der Nacht nicht habe schlafen kön nen, sei er vorhin wohl doch eingeschlafen. Er sei erwacht, weil jemand seinen Namen gerufen habe. »Ich öffnete die Augen - und da sah ich ihn: den ›Singenden Tod‹. Er schien frei in der Luft zu schweben und er hatte einen Dolch in der Knochenhand. Er setzte die Dolchspitze gegen meinen Kehlkopf - von da an weiß ich nichts mehr. Ich muss ohnmächtig geworden sein. Als ich wieder 57
zu mir kam, war der Knochenmann verschwunden. Ich lief in die Halle und verlor dort noch einmal das Bewusstsein. Mein Herz taugt nicht mehr viel. Den Rest kennen Sie.« Niemand sprach, niemand sagte etwas. Aber Harry spürte beinahe körperlich das massive Misstrauen aller. Niemand glaubte Dobson. Harry selber auch nicht. Dr. Dobson schob die Hände ineinander. »Ich weiß, dass das alles unglaubwürdig klingt. Aber Sarah Price kann es und wird es bezeugen. Sie war immer dabei, bei jeder Unterredung zwischen Gordon Mel ford und mir. Sie ist in alles eingeweiht.« »Mrs. Price«, sagte Harry langsam, Silbe für Silbe einzeln fallen lassend, »Mrs. Price kann gar nichts mehr bezeugen. Denn sie ist tot.« * Das schlug wie eine Bombe ein. Es war eine ganze Weile so still, dass man die Standuhr ticken hörte. Der Sturm machte gerade eine Atempause. Dann jaulte der Sturm wieder. Und dann sagte der Inder mit seiner immer leicht verschleiert klingenden Stimme nur zwei Wörter. Nämlich: »Sie lügen.« Er meinte Dobson. Nicht Harry. Das ging daraus hervor, dass er Dobson anblickte. In eben diesem Augenblick wurde Harry endgültig klar, dass er auf sich allein gestellt war und auf sich allein gestellt bleiben würde, was die Aufklärung des Doppelmordes anbelangte. Inspektor Woods würde nicht auf die Insel kommen. Nicht an die sem Tag und nicht irgendwann später. Woher Harry diese Gewissheit nahm, hätte er nicht zu sagen ver mocht, wenn er danach gefragt worden wäre. Er wusste es eben. Punktum. Harry Melford sagte so sachlich-kühl, wie er es irgend vermochte, dass von jetzt an er allein bestimmen werde, was zu geschehen habe. 58
»Sie wiederholen sich, junger Mann«, warf Christopher Warning ein, der attraktive alte Herr, der sich bis jetzt so betont zurückgehalten hatte. »Na und?«, konterte Harry. Und er gab Dobson einen energischen Wink. »Kommen Sie mit, Kollege. Zeigen Sie mir das Bandgerät, das auf der Galerie versteckt ist.« Dobson ging vor Harry her die Treppe empor, schwenkte droben nach rechts ab - und blieb mit einem Ruck stehen. »Es ist verschwunden«, murmelte er. »Das Bandgerät ist ver schwunden. Es war mit Isolierband hier am Geländer befestigt.« Auch der Leitungsdraht von der Balustrade in das Kellergeschoß war verschwunden. Wenn beides, das Bandgerät und der Leitungsdraht, tatsächlich vorhanden gewesen waren, dann hatte irgendwer beides abmontiert. Wenn. Harry war skeptisch. Er nahm Dobson die ganze phantasti sche Geschichte noch immer nicht ab. »Zeigen Sie mir jetzt das Geheimzimmer im Keller!«, forderte er. Dobson nickte zerfahren, ging wieder voraus. Mit kurzen, eiligen Schritten. Das Geheimzimmer gab es tatsächlich. Es lag neben dem Maschi nenraum, neben jenem Raum also, in dem der Dieselmotor Tag und Nacht brummte, der den Generator antrieb, der das Haus mit Strom versorgte. Ein Tank, der viele hundert Liter Dieselöl fasste, nahm einen gro ßen Teil des Maschinenraums ein. Hinter dem Tank befand sich die Geheimtür, die jetzt offen stand. Denn Dobson hatte sie offen stehen lassen. Die Innenseite der Tür sah wie eine normale Tür aus altersdunk lem Holz aus. Außen war dieses Holz mit Klinkern verblendet. Wenn sie geschlossen war, schien das Mauerwerk massiv zu sein. Das Geheimzimmer selber - das der Bauherr Robert Selkirk alias Robert Melford aus welchen Gründen auch immer damals hatte ein bauen lassen - war so zellenartig klein wie die Zimmer droben entlang der Galerie und auch so möbliert wie diese Zimmerchen: ein Bett, ein 59
Schrank, ein Tisch, ein Stuhl, eine Waschkommode mit einem Wasch geschirr obendrauf. Dazu kam hier unten allerdings noch ein Harmoni um. Der Deckel über der Klaviatur war geschlossen. Innen hatte die Tür eine Klinke. »Wie lässt sie sich von außen öffnen?«, fragte Harry, mit dem Kinn auf die Tür zeigend. Dobson antwortete nicht, er machte es vor, drückte mit dem Daumen auf einen der Klinkersteine der Türverkleidung. Der Stein ließ sich nach innen drücken und dann zur Seite schieben. Dahinter wurde ein Drehknopf frei. »Seit wann bewohnen Sie dieses Geheimzimmer?«, wollte Harry wissen. »Erst seit gestern - seit sie alle auf dem Eiland sind.« »Sie kamen zusammen mit Gordon Melford und Sarah Price auf die Insel?« »Nein. Erst vor drei Tagen.« »Auf welche Weise?« »Mit der Motorjacht ›Selkirk-Eiland‹. Ein Mann, der wie ein Mongo le aussieht, holte mich von Westray ab.« »Kennen Sie diesen Mann?« »Nein. Ich habe ihn nie zuvor gesehen.« »Sagten Ihnen Gordon Melford oder Mrs. Price irgend etwas über diesen Mann?« »Nein. Kein Wort.« Harry blickte sich noch einmal in dem Geheimzimmer um und nickte dann gedankenverloren. »Nun gut. Lassen Sie uns jetzt wieder nach oben gehen.« Auf der Treppe fiel Harry noch etwas ein. Er blieb stehen. »Gibt es Hunde auf der Insel?«, fragte er. »Nein!«, antwortete Dobson knapp. »Auf welche Weise haben Sie dann das Hundegekläff in Szene ge setzt. Auch mittels eines Bandgeräts?« »Hundegekläff?«, echote Dobson. »Was für Hundegekläff? Davon weiß ich nichts.« »Schon gut«, sagte Harry. 60
*
Alle anderen waren noch in der Halle beieinander. Harry ging in das Zimmer zurück, in dem Sarah Prices Leichnam lag. Der Befund ergab, dass sie tatsächlich erstickt war. Vor ungefähr vier Stunden mit einer Toleranz von insgesamt drei Stunden. Also irgendwann zwischen zwei Uhr nachts und fünf Uhr morgens. Das graue Zeug in der Kanüle war nichts anderes als Kaugummi. Irgendwelche Verletzungen wies die Leiche nicht auf. Der Mörder musste den weich gekauten Chewinggum in die Kanüle gestopft und Sarah Prices Hände dann so lange festgehalten haben, bis sie erstickt war. Harry ließ die Tote zunächst dort liegen, wo sie lag. Er schloss die Tür von außen ab und steckte den Schlüssel ein. Dabei wunderte er sich darüber, dass die anderen keinen Versuch gemacht hatten, ihm in das Zimmer zu folgen, in dem die Tote lag. Er wollte gerade zu reden beginnen, als das immerwährende Heu len und Jaulen des Sturms von Hundegebell übertönt wurde. Harry nahm sich nicht die Zeit, seinen Mantel zu holen. Er lief so, wie er war, nach draußen. Der Mönch schloss sich ihm an. Der Sturm peitschte den beiden Männern große matschige Schneeflocken entgegen, binnen weniger Sekunden sahen sie von vorn wie Schneemänner aus. Zu sehen war beinahe nichts - außer Schnee. Das Hundegekläff schien von dem kleinen Naturhafen zu kommen. Es brach ab, als sie den Hafen erreicht hatten. Eben jetzt hörte das Schneetreiben auf, beide Männer starrten in das kleine Hafenbecken. Dort lag, von Schnee überkrustet, das Segelboot auf dem Grund, das Harry vom Turm aus gesehen hatte. Ein Schwertboot. Das Schwert war eingezogen, so dass das Boot auf ebenem Kiel lag. Die Flut hatte inzwischen eingesetzt - es gab etwa einen Fuß tiefes Wasser über dem Schlickgrund, aber das Boot würde nicht auf schwimmen, wenn das Wasser höher stieg. Der Bootskörper war ge 61
waltsam zerschlagen - offenbar mittels einer Axt. Auf der den beiden Männern zugekehrten Seite wies der Rumpf fünf große Lecks auf. Beide schickten sich an, nach unten zu steigen, als das Hundege kläff wieder einsetzte. Dem Klang nach zu urteilen auf der anderen Längsseite der Insel, jenseits des Felsbuckels. Harry und der Mönch rannten landeinwärts. Trotz des Klumpfußes hielt der Mönch Harrys Tempo mit. Als sie den Kamm des Felsbuckels erreicht hatten, bot sich ihnen ein überraschender Anblick. Auf der anderen Seite der Insel gab es eine kleine Bucht zwischen zwei Fels ausläufern und inseits der Bucht auf dort flachem Land einen Friedhof - zumindest etliche Gräber. Insgesamt acht Grabkreuze. Dazwischen standen einige verkrüppelte Föhren. Von Hunden war nichts zu sehen. Und jetzt auch nichts mehr zu hören. »Wussten Sie, dass es Gräber auf dem Eiland gibt?«, fragte Harry. Der Mönch schüttelte den Schädel. Sie stiegen in die kleine Bucht hinab, sahen schon von weitem, dass die Grabkreuze ziemlich neu waren. Dann standen sie vor den Kreuzen und lasen die Namen der ›Toten‹: Gordon Melford - Sarah Price - Roger Frazer - Dr. Harry Melford und so weiter. Ein Grabkreuz für jeden, der derzeit auf der Insel war. Für jeden mit Ausnahme von Dr. Paul Dobson. Harry biss sich auf die Lippen. Der Mönch aber stieß hervor: »Wenn nicht ein Wunder geschieht, werden wir alle auf dem verdammten Eiland bleiben. Als Leichen. Wir alle. Bis auf...« Hier verstummte er, machte kehrt. Harry folgte dem Mönch - holte ihn ein. »Vollenden Sie, was Sie sagen wollten!«, forderte Harry. »Alle bis auf wen?« Der Mönch knurrte: »Wenn ich das wüsste - dann wüsste ich al les.« * 62
Als sie wieder bei dem kleinen Hafen waren, hörten sie ein Flugzeug über den tief hängend dahinjagenden Wolken. Es hörte sich an wie eine Propellermaschine, vielleicht ein Flugboot der Küstenwache oder des Seenot-Rettungsdienstes. Harry erwartete, dass die Maschine durch die Wolken stoßen würde. Der Pilot musste die Insel auf dem Radarschirm sich abzeichnen sehen, sofern er ein Radargerät an Bord hatte. Aber es geschah nichts. Das Motorengeräusch wanderte über die Insel hinweg, war dann aber nicht mehr zu hören. Harry stieg über die Rampe zum Hafenbecken hinab. Das Segel boot hatte keine Kajüte - dazu war es zu klein. Harry stellte fest, dass der Bootsrumpf unlängst frisch gestrichen worden war. Der Name des Bootes, der ursprünglich am Bug oder am Heck gestanden haben musste, war übermalt worden. Die Axt, mit der der Rumpf durchlöchert worden war, lag im In nern des Bootes zwei Handbreit unter Wasser Eine brandneue Axt offenbar. Harry fischte sie aus dem Wasser und nahm sie mit. Als er wieder neben dem Mönch stand, kehrte das Flugzeug zu rück. Es kam jetzt von Norden, schien nun tiefer als vordem zu fliegen, offenbar dicht über den Wolken. Der Mönch und Harry starrten nach oben und sie sahen beide den Fallschirm aus Wolkenfetzen auftauchen. Es war nur ein kleiner Fallschirm, der ein Paket etwa von der Grö ße eines Schuhkartons trug. Der Sturm trug den Schirm weit über die Insel hinweg - er ging in der aufgewühlten See nieder. Während Harry dem Schirm nachblickte, gewahrte er aus den Au genwinkeln eine Gestalt auf einem der Türme. Ausgerechnet jetzt schleuderte der Sturm eine Hand voll Salzwasser in Harrys Gesicht. Er schloss die Augen unwillkürlich. Als er die Lider wieder hob, war die Gestalt auf dem Turm ver schwunden. »Haben Sie sie auch gesehen?«, fragte Harry. »Die Maschine? Nein Nur den Fallschirm.« 63
»Ich meine die Frau auf dem Turm!« »Nein. Nichts dergleichen.« War es überhaupt eine Frau gewesen? Harry hätte das nicht be schwören können. Nicht einmal, dass überhaupt ein Mensch dort oben gestanden hatte. Dazu war der Eindruck zu flüchtig gewesen. »Gehen wir!«, sagte er zu dem Mönch. Der Sturm trieb die Männer zum Haus zurück. Dort mussten die Zurückgebliebenen mittlerweile sich beraten und Beschlüsse gefasst haben. Und sie hatten offenbar einen Sprecher, einen Obmann gewählt, nämlich Christopher Warning. Vermutlich, weil Warning der Senior war. Der Älteste. Warning trat Harry entgegen und teilte mit, was der ›Rat‹ be schlossen hatte. Dass sie vereinbart hatten, beieinander zu bleiben. In der Halle. Gleichgültig, wie lange es dauern würde, bis sie die Insel verlassen könnten. Die Halle verlassen dürfte jeweils nur einer und das nur so lange das unbedingt nötig sei. Und nötig sei das nur, um die Toilette aufzusuchen. Alles, was es sonst zu tun gäbe, würde man gemeinsam tun. Da mit niemand Gelegenheit fände, das Begonnene fortzusetzen. Nämlich alle anderen zu töten. »Wir akzeptieren«, sagte der attraktive alte Herr, »dass Sie, Dr. Melford, hier den C.I.D. vertreten und alles tun, was nach Ihrer An sicht getan werden muss, um den Mörder zu überführen. Dabei wollen wir Sie nach Kräften unterstützen, aber keiner von uns glaubt, dass Sie Erfolg haben werden. Einfach deshalb nicht, weil Sie nicht glauben dürften, dass der ›Singende Tod‹ hier umgeht und dass...« Der gepflegte alte Herr stutzte, seine Blicke hingen an der Axt. »Wo haben Sie diese Axt her?«, forschte er. »Wieso? Kennen Sie sie?«, fragte Harry dagegen. »Aber nein. Wie sollte ich.« 64
Das klang nicht überzeugend, aber Harry ließ es dabei bewenden. Er hob die Stimme, wendete sich an alle: »Wer von Ihnen hat die Halle verlassen, während Mr. Frazer und ich draußen waren?« Niemand antwortete. »Keiner!«, sagte der alte Herr schließlich. »Wir alle waren die gan ze Zeit beieinander.« Dazu nickten alle. Der Turm, auf dem Harry die Gestalt gesehen hatte oder gesehen zu haben glaubte, war Sarah Prices Turm gewesen. Jener, in dem sie gewohnt hatte. Harry hatte den fantastischen Einfall, dass die tote Mrs. Price auf dem Turm gewesen sei. Das war nicht der Fall. Selbstverständlich nicht. Sie lag dort, wo Harry sie liegen gelassen hatte - genauso, wie Harry sie liegen gelas sen hatte. Harry Melford wischte sich kalten Schweiß von der Stirn, nachdem er sich dessen vergewissert hatte. Das Turmzimmer schloss er wieder ab. Dann endlich fand er Zeit dazu, systematisch vorzugehen, so wie jeder C.I.D.-Detektiv vorgegangen wäre. Also jeden und jede einzeln zu verhören. Vorher allerdings war noch ein Problem zu lösen: Wie konnte man das Frühstück einnehmen und doch beieinander bleiben. Harry schlug vor, dass Eliza Reed und Alice Mills, begleitet vom Mönch, in die Küche gehen sollten, um Frühstück für alle zuzubereiten, das dann hier, in der Halle, serviert werden sollte. Harry erwartete Widerspruch, aber niemand widersprach. »Für mich bitte nur eine Tasse Kaffee und zwei Sandwichs!«, erbat Harry. Und dann kündigte er an, dass er nun mit Verhören beginnen würde. Das wurde akzeptiert, wie auch das Verfahren, das Harry vor schlug. Nämlich dies: Alle würden am Frühstückstisch sitzen bleiben, während Harry nahe der Eingangstür - also außer der Hörweite vom Tisch aus - mit jedem und jeder sprechen würde. 65
Harry selbst trug zwei Stühle zur Haustür und fuhr einen Teewa gen hin, der als Tisch diente. »Noch eine Frage an Sie alle«, sagte Harry laut. »Sie alle haben das Flugzeug gehört und...« Es stellte sich heraus, dass niemand das Flugzeug gehört hatte. Das war glaubwürdig, denn der Sturm heulte und jaulte ständig um das Haus. Hinzu kam, dass die Brandung sich donnernd an der Klippe brach, auf der das Haus stand. * Das Rundumverhör nahm über drei Stunden in Anspruch. Unmöglich, es wörtlich wiederzugeben. Wir beschränken uns auf das, was wesentlich war. Als ersten bat Harry Dr. Paul Dobson zu sich. Der Arzt wiederhol te, was er schon vorher gesagt hatte, ohne sich in Widersprüche zu verwickeln. Harry fragte ihn nach dem Schlafmittel, das allen Gästen beige bracht worden war und die Antwort überraschte Harry nicht: ein Brompräparat. »Welcher Speise oder welchen Getränken war das Präparat beige mischt?« »Dem Portwein.« »Wie konnten Sie sicher sein, dass jeder und jede Portwein trin ken würde?« »Gordon Melford machte sich dafür stark. Er sagte, er kenne alle gut genug, wisse folglich, dass sie guten Portwein nicht ausschlagen würden. Auch Sie nicht, obwohl er Sie nicht von Angesicht zu Ange sicht kannte. Offenbar hatte er Erkundigungen über Sie eingezogen.« »Aber auch Gordon Melford und Sarah Price tranken Portwein. Wie kommt es, dass sie nicht...« »Beide füllten ihre Gläser aus einer Karaffe, deren Inhalt frei von dem Schlafmittel war.« 66
Harry nickte. Und er fragte: »Ob aber tatsächlich alle Gäste von dem mit Brom versetzten Portwein getrunken haben, wissen Sie nicht??« »Doch, Sie haben. Gordon Melford sagte es mir, nachdem ich ihn mittels der Injektion ins Leben zurückgerufen hatte. Und Sarah Price bestätigte es. Beide haben darauf geachtet. Alle anderen tranken min destens ein Glas und das genügte vollauf, sie alle fest durchschlafen zu lassen.« »Sie sind sich darüber klar, dass Sie sich damit selber belasten? Wenn alle fest schliefen - außer Ihnen - dann können nur Sie Sarah Price getötet haben.« »Sie vergessen Gordon Melford, Kollege.« »Stimmt!«, sagte Harry. »Ich hatte überdies kein Motiv, Sarah Price umzubringen«, stellte Dobson fest. »Hatte Gordon Melford eines?« »Woher soll ich das wissen.« »Danke«, sagte Harry. »Das wäre für's erste alles.« * Als nächster nahm Radschendra Jalna Harry gegenüber Platz. Harry fragte den Inder zunächst, seit wann er alle anderen kenne und wann und auf welche Weise er sie kennen gelernt habe. Die Antwort ist hier belanglos. Irgendwann waren sie alle einander begegnet und jeder hatte jeden seither mehr oder weniger oft wieder getroffen. Vor allem auf Kongressen der ›Gesellschaft zur Erforschung psychologischer Phäno mene‹ mit dem Sitz in London, der alle angehörten. Alle andere bestätigten später, was Jalna zu diesem Komplex aus führte. Harry: »Sie sagten mir im Flugzeug, Sie könnten Gedanken lesen. Ist das richtig?« »Ja.« »Auch meine Gedanken in diesem Augenblick?« 67
»Nein. Allerdings könnte ich sie sicher erraten. Das ist nicht schwierig.« »Mag sein. Lassen wir das. Sie können also nicht immer Gedanken lesen?« »Nein. Das kann niemand, wenn Sie meine Ansicht hören wollen.« »Sie bezeichneten Roger Frazer, den Mönch, auf dem Flugplatz von Edinburgh mir gegenüber als einen Scharlatan. Gestern aber be haupteten Sie, jeder verfüge über okkulte Kräfte und Sie nahmen den Mönch nicht aus.« »Nein. Das tat ich nicht.«
»Wie wollen Sie diesen Widerspruch erklären?«
»Es ist kein Widerspruch. Dass der Mönch Geister beschwören
vermag, schließt nicht aus, dass er ein Scharlatan ist.« »Er vermag das also?« »Aber ja.« »Und auch Eliza Reed?« »Nein. Sie gebietet nur über einen einzigen Geist - den jenes Mädchens Jane Hutchington. Es ist aber durchaus denkbar, dass Jane Hutchington mit dem ›Singenden Tod‹ Kontakt hat.« »Eine ganz andere Frage: Auf welche Weise sind Sie von Edin burgh nach Wick gekommen.« »Per Flugzeug.« »Es gibt keine Fluglinie zwischen...« »Das habe ich auch nicht behauptet. Ich traf im Flughafengebäu de einen guten Bekannten, der ein Wasserflugzeug besitzt und der, wie der Zufall manchmal spielt, im Begriff war, nach Wick zu fliegen.« »Ich glaube Ihnen kein Wort«, sagte Harry. Der Inder lächelte nur. »Ich weiß.« »Wem gehört das Flugzeug wirklich?« Jalna breitete die Hände aus. »Also gut: Mir!« »Das dachte ich nur. Das Flugboot war soeben über der Insel.« »Das weiß ich nicht. Aber wenn Sie es sagen, wird es schon stim men.« 68
»Aus dem Flugboot wurde ein Lastfallschirm abgeworfen, der ins Meer getrieben wurde. Was hing an diesem Fallschirm?« »Wahrscheinlich ein Funkgerät. Jedenfalls wäre das im Sinn der Absprache, die ich mit dem Piloten getroffen habe.« »Wer ist dieser Pilot?« »Mein Butler. Es verhält sich so: Ich wusste, dass auf diesem Ei land Grausiges geschehen würde - sehr Grausiges. Menschen würden getötet werden. Das wusste ich. Obwohl es mir niemand gesagt hat. Ich kann nun einmal in die Zukunft blicken, auch wenn Ihnen das un glaubwürdig erscheint. Ich kann in die Zukunft blicken. Folglich baute ich vor. Ich besitze seit Jahren ein Sportflugzeug - aber das kann auf dem Eiland nicht landen. Also beauftragte ich meinen früheren Butler, einen früheren Piloten der RAF, der auch mein Chauffeur und mein Privatpilot ist, ein Flugboot zu chartern, so irgend möglich. Er fand dann auch eines, das zum Verkauf stand. Es kostete nur ein paar tau send Pfund und ich bin kein armer Mann. Ich vereinbarte mit dem But ler, dass er gestern Abend für alle Fälle nahe der Insel wassern sollte, um mich abzuholen, falls das geboten erscheine. Als ich dann nach draußen lief, hoffte ich, das Flugboot sei da.« »Wie hätte es bei dem Seegang wassern sollen?« »Eben. Wie hätte es. Ich war in Panik und machte mir daher nicht klar, dass das Flugboot nicht da sein konnte.« Harry wechselte das Thema: »Was wissen Sie über das Segelboot, das demoliert im Hafen des Eilands liegt?« »Ein Segelboot? Davon weiß ich gar nichts.« »Meine letzte Frage: Wenn Sie neuerdings ein Flugboot besitzen warum benutzen Sie dann eine Linienmaschine von London bis Edin burgh?« Der Inder lächelte undurchsichtig. »Dafür gibt es mehrere Gründe. Einer davon ist: Ich wollte Sie kennen lernen, bevor wir gemeinsam auf dem Eiland...« »Dann wussten Sie also, dass ich mit dieser Maschine fliegen wür de?« »Ja.« »Und woher wussten Sie das?« 69
Darauf antwortete der Inder nicht. Harry ließ diesen Punkt fallen. »Die allerletzte Frage: Wer hat, nach Ihrer Meinung, Gordon Mel ford und Sarah Price getötet.« Der Inder erhob sich, sagte dann leise, aber scharf akzentuiert: »Das steht für mich fest: der ›Singende Tod‹. Die Frage ist nur, wer dem ›Singenden Tod‹ den Befehl dazu gab. Eben das weiß ich nicht. Ich ahne es nicht einmal. Hier versagt meine Intuition - mein sechster Sinn.« Es sei hier vorweggenommen, dass alle anderen behaupteten, nichts von dem demolierten Boot zu wissen. * Roger Frazer, genannt der Mönch, überraschte Harry insofern, als dass er entwaffnend offen war oder sich zumindest so gab. »Bevor Sie Fragen stellen, Doktor, möchte ich eine Erklärung ab geben. Sozusagen in Notwehr. Denn wenn die Bullen hier aufkreuzen und irgendwann wird das ja der Fall sein - werden sie den Doppelmord mir anhängen. Am Ende ja, wenn sie den wahren Mörder nicht finden. Und dafür spricht verdammt wenig.« »Warum gerade Ihnen?«, warf Harry ein. »Höchst einfach. Weil ich als einziger mehrfach vorbestraft bin und weil ich als einziger ein auf Hand liegendes Motiv habe. Sehen Sie: Jalna und Eliza und Warning nebst seinem Medium seiner Tochter sind reich, schwimmen sozusagen in Geld. Ich bin vergleichsweise bet telarm, lebe von den Spenden der Mitglieder der Sekte, deren Gründer und Prophet ich bin. Das Vermögen der Sekte beläuft sich auf eine stattliche Summe - aber nur auf dem Papier. Tatsächlich ist die Kasse fast leer. Ich führe ein Doppelleben, müssen Sie wissen, liebe Luxus. Frauen und was sonst noch dazu gehört. Wenn die Bullen herausfin den, dass ich das Vermögen der Sekte unter die Leute gebracht habe, dann werden sie...« »Ich verstehe.« Der Mönch beugte sich Harry entgegen, sein hässliches Knollengesicht unter der Glatze war aschgrau. 70
»Doktor!«, stieß er hervor. »Doktor - Sie müssen den Mörder fin den, bevor die Bullen kommen. Sind die Bullen erst einmal hier, geht es mir an den Kragen. Ihnen gesagt: Ich bin - außer Ihnen - der einzi ge hier, der keinerlei übersinnliche Kräfte hat - nie gehabt hat.« »Aber von den anderen glauben Sie das?« »Ja. Ich kenne sie alle lange genug. Wenn Sie mich fragen: Eliza Reed steckt dahinter.« »Wie kommen Sie darauf?« »Sie hat behauptet, sie sähe den ›Singenden Tod‹, obwohl nur das Bandgerät lief. Mir ist inzwischen klar geworden, dass sie bewusst und absichtlich nur so tat, als ob sie den ›Singenden Tod‹ sähe, sie muss folglich eingeweiht gewesen sein, mit Gordon Melford und Sarah Price gemeinsame Sache gemacht haben. Wenn sie aber eingeweiht, wenn sie mit im Komplott war, dann hat sie gewiss kein Schlafmittel verpasst bekommen. Dann war sie als einzige während der Nacht akti onsfähig und dann kann nur sie, niemand sonst - Sie begreifen?« Harry nickte nur. Was der Mönch sonst noch sagte, war ohne Belang. »Wo ist übrigens Ihre Perücke geblieben«, fragte Harry zum Schluss noch. »Beim Teufel«, knurrte der Mönch. »In der See, genau gesagt. Der Sturm hat sie mir vom Schädel gepustet, kurz bevor wir, Sie und ich, das Haus erreichten.« * Eliza Reed gab sich erstaunlich gelassen. Sie faltete die mit Ringen bepflasterten Hände über den massiven Leib und erklärte mit halbwegs gedämpfter Stimme, sie habe sich dazu durchgerungen, mit Würde in die andere Welt zu gehen. Sterben sei ja nichts anderes als von einer Daseinsform in eine andere zu gehen. »Stellen Sie Ihre Fragen, junger Mann. Ich werde antworten, so gut ich das immer vermag. Bewirken werden sie nichts - nicht die Fra gen, nicht die Antworten. Wir alle werden hier sterben - heute oder 71
morgen oder übermorgen. Das sagt Jane - und sie hat sich noch nie geirrt.« Harry ging darauf ein. »Wenn das so ist, dann fragen Sie Jane Hutchington doch, wer Gordon Melford und Sarah Price umgebracht hat.« »Das habe ich Jane schon gefragt.« »Und?« »Sie sagt, Gordon Melford sei einem Herzschlag erlegen. Vor Schreck. Weil er den ›Singenden Tod‹ sah.« Harry war beeindruckt. Herzschlag! Das mochte stimmen. Und dass Gordon Melford den ›Singenden Tod‹ gesehen hatte, passte durchaus in Harrys Hypothesen und Kom binationen, so wie sich ihm die Ereignisse jetzt darstellten. »Und was«, fragte er, »sagte Jane Hutchington über den Mord an Sarah Price?« »Sie sagt, Sarah Price habe Selbstmord begangen.« Harry schüttelte den Kopf. Das war unsinnig, absurd, grotesk. Harry schoss einen Pfeil ab: »Warum haben Sie gestern Abend nicht von dem Portwein getrunken.« Der Pfeil prallte wirkungslos ab. »Warum hätte ich keinen Portwein trinken sollen? Ich bin nicht gerade eine Alkoholikerin, aber ich schätze ein gutes Tröpfchen. Nach meiner Erinnerung nahm ich mehr von dem Portwein als alle ande ren.« »Nun gut. Etwas anderes: Sahen Sie tatsächlich den ›Singenden Tod‹ auf der Galerie?« »Das weiß ich nicht.« »Wie soll ich das verstehen?« »Ich weiß nicht, ob ich ihn sah oder ob Jane ihn sah. Er war da. Aber ich lebe seit vielen Jahren mit Jane - sie in mir und ich um sie herum. Ich weiß häufig nicht, ob Jane etwas wahrnimmt oder ob ich es wahrnehme. Das geht ineinander über. Die Grenzen sind fließend, wenn Sie verstehen, was ich damit ausdrücken will.« 72
»Ich denke schon. Dahingestellt also, ob Sie selber oder Jane Hut chington ihn wahrgenommen haben. Wie sieht der ›Singende Tod‹ aus?« Die Antwort frappierte Harry. »Wie bei Lebzeiten.« »Was heißt das?« »Der ›Singende Tod‹ ist der Geist des Opernsängers Robert Mel ford und ebenso sieht der Geist aus. Wie Robert Melford in der Rolle des Gralsritters Lohengrin in der Oper Lohengrin von Richard Wag ner.« Das war, fand Harry, eine sehr aufschlussreiche Behauptung. »Pardon, Madam: Wie alt sind Sie?« »Dreiundfünfzig. Und das stimmt. Ich gehöre nicht zu den alternden Frauen, die sich jünger ausgeben, als sie sind.« Harry überschlug es im Kopf. »Dann waren Sie dreizehn, als Robert Melford starb. Sie haben ihn also nie auf einer Bühne gesehen?« »Nein.« »Woher wollen Sie dann wissen, wie er bei Lebzeiten aussah?« »Meine Mutter war eine Liebhaberin von Opern. In ihrem Zimmer hingen Fotos von Opernsängern und -Sängerinnen. Darunter auch mehrere Aufnahmen Robert Melfords.« »Der aber niemals den Lohengrin gesungen hat. Einfach weil er Bassist war. Kein Heldentenor, sondern Bassist. Dr. Lohengrin ist eine Partie für Heldentenore.« Die Pythia von Wadebridge schien aus der Fassung gebracht zu sein. Die mausgrauen Augen weiteten sich hinter den Brillengläsern, der gewaltige Busen wogte. Dann zuckte sie ratlos die Schultern. Das fand Harry sehr aufschlussreich. Seine nächste Frage war: »Sie und Gordon Melford waren per Du miteinander, also eng befreundet.« »Das ist fast nicht mehr wahr - solange liegt es zurück«, sagte sie mit einem Seufzer. 73
Und nach einem zweiten Seufzer: »Da wir alle - auch Sie - doch sterben werden, sehe ich keinen Grund mehr, es zu verheimlichen: Ich heiße nämlich Eliza Melford, geborene Reed.« Harry kapierte sofort. »Das heißt. Sie sind - Sie waren Gordon Melfords Ehefrau. Sind also jetzt seine Witwe.« »So ist es.« »Dann verstehe ich nicht, wieso Sie nicht Gordon Melfords gesetz liche Erbin sind.« Sie knetete mit nervös gewordenen Händen einen imaginären Teig. »Das verstehe ich selber kaum - es ist ziemlich kompliziert. Wir heirateten, weil wir heiraten mussten. Nach den Moralbegriffen von damals. Ich war zweiundzwanzig, Gordon über doppelt so alt: fünf undvierzig. Gordon war schon seit Jahren mit Sarah Price liiert - sie war nicht nur sein Medium. Ist das deutlich genug?« »Durchaus.« »Von meiner Seite aus war es Liebe auf den ersten Blick. Wir schliefen schon in der ersten Nacht miteinander und dann jede Nacht eine Woche lang.« »Wo war das?« »In London. Sarah Price war eine Woche lang verreist. Aus wel chen Gründen, weiß ich nicht mehr. Als sie von der Reise zurückkam, hatte Gordon keine Zeit mehr für mich. Als ich sicher war, dass ich ein Baby bekommen würde, rief ich ihn an und sagte es ihm. Er tat so, als ob es ihn glücklich mache und er trennte sich von Sarah. Er wollte mich heiraten. Selbstverständlich. Er sagte, er fände es romantisch, auf hoher See getraut zu werden. Ich war einverstanden und wir machten eine Seereise an Bord eines Schiffes, das unter der Flagge von Panama fuhr. Der Kapitän traute uns nach panamesischem Recht, seither bin ich Mrs. Eliza Melford, geborene Reed. Aber eben nur nach panamesi schem Recht. Die britischen Behörden erkennen die Trauung nicht an. Im übrigen tat Gordon sich danach wieder mit Sarah Price zusam men.« 74
»Aha. Und was ist aus dem Baby geworden?« »Wenn ich das wüsste.« »Wieso wissen Sie das nicht?« »Weil ich - weil ich das Baby zur Adoption freigegeben habe, schon bevor ich es zur Welt gebracht hatte. Das war ganz einfach. Es gibt viele Ehepaare, die kein Baby bekommen können und bereit sind, eins zu adoptieren. Ich fand ein solches Ehepaar und kümmerte mich von da ab um nichts mehr. Ich brachte ein Mädchen zur Welt. Das war mein Anteil daran. Ich weiß nicht einmal, auf welchen Namen oder welche Namen das Kind getauft wurde.« »Und wie hießen die Adoptiveltern?« »Ich kann mich nicht daran erinnern.« »Na hören Sie mal!« »So verstehen Sie doch! Gordon Melford hatte mich sitzen lassen und ich war maßlos enttäuscht und verbittert. Ich wollte von dem Bankert nichts wissen. Und schon gar nichts mehr von dessen Vater. Als der sich irgendwann herabließ, bei mir anzufragen, wann denn mit meiner Niederkunft zu rechnen sei - wozu er sich einer Postkarte be diente! - da schrieb ich ihm empört zurück, ich danke für die Nachfra ge, die ihm reichlich spät eingefallen sei. Denn das Kind sei schon vor vier Wochen geboren worden, aber es sei gestorben. Womit ich mein te: Es sei für ihn gestorben.« »Ah ja«, sagte Harry nur. Sonst nichts. Denn er war in diesem Augenblick davon überzeugt, dass Eliza Reed, die Pythia von Wadebridge, Sarah Price ermordet und Gordon Melfords Tod verschuldet hatte. Und er beging einen Denkfehler, als er Eliza Reeds Verhör hier abbrach. Hätte Harry weitere Fragen gestellt, wäre zumindest etwas Licht in die verworrene dunkle Angelegenheit gekommen. Allein: Harry fragte nicht weiter. * 75
Wenn der Ansatz einer Algebra-Aufgabe nicht stimmt, dann stimmt auch das Resultat nicht, kann das Resultat unmöglich stimmen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Harry alle Fäden in der Hand, er hätte sie nur zu entwirren brauchen. Simple Algebra: 2 plus 2 gleich 4 mal 2 gleich 8 minus 7 gleich l. Oder so ähnlich. So einfach, so simpel, so handfest. Aber er kam nicht auf den Einfall, simple Algebra anzuwenden, er suchte nach einer komplizierten mathematischen Gleichung mit etli chen unbekannten Faktoren. Er vermeinte, das Resultat zu kennen: Eliza Reed. Und er versuchte, vom Resultat ausgehend den Ansatz zu finden: Beweise für ihre Täterschaft. Aus diesem Grund verhörte er Christopher Warning und Alice Mills, dessen Tochter, nur noch pro forma. Und eben das war der entscheidende Denkfehler. Der gepflegte alte Herr, der Lorne Greene in der Rolle des Ben Cartwright so ungemein ähnlich sah, beantwortete Harrys Fragen. Darüber hinaus sagte er nichts und Harry erfuhr fast nichts, was er nicht ohnehin wusste, eben weil er nur noch wenige Fragen stellte, da er das Resultat schon zu kennen vermeinte. Christopher Warning verdächtigte und beschuldigte niemanden. Zum Schluss stellte Harry eine entscheidende Frage, von der er al lerdings nicht wusste, dass sie entscheidend war: »Warum starrten Sie so entgeistert auf die Axt, die ich von draußen mitbrachte?« Ward schwieg. »Kennen Sie diese Axt? Haben Sie sie schon früher gesehen?«, fasste Harry nach. »Eben darüber denke ich die ganze Zeit nach. Mir ist irgendwo ei ne brandneue Axt aufgefallen. Aber ich komme nicht darauf, wann und wo.« »Überlegen Sie, Sir!« »Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Das heißt...« »Ja?« »Soeben fällt es mir doch ein: Sie lag unter der Sitzbank im Cock pit der Motorjacht, die uns von Westray hierher brachte. Ich konnte sie 76
von meinem Platz aus sehen. Die Klinge war noch mit Krepppapier umwickelt - wie frisch aus dem Laden. Ich kann selbstverständlich nicht behaupten, dass es ein und dieselbe Axt ist. Ich kann nur sagen, dass eine brandneue Axt unter der Sitzbank lag und dass Sie dann eine brandneue Axt in der Hand hielten.« »Vielen Dank«, schloss Harry dieses nur kurze Verhör ab. »Bitte schicken Sie mir jetzt Ihre Tochter.« * Alice Mills, alias Alice Ward war vor allem sexy. Das war der dominie rende Eindruck. Zudem eine Exhibitionistin. Ohne jeden Zweifel. Sie setzte sich so hin, dass der Saum des sehr kurzen Rocks höher rutschte, als es nötig war. Harry sah scharfe Slips, die im Schritt extrem schmal waren. Rechts und links waren gekräuselte Schamhaare sichtbar. Mahagonifarben - fast schwarz. Woraus hervorging, dass Alice eine Chemie-Blondine war. Harry - das Resultat zu kennen vermeinend - stellte nur eine Fra ge: »Wie alt sind Sie?« »Zwanzig. Nächsten Monat werde ich einundzwanzig.« »Danke. Weitere Fragen habe ich nicht.« »Aber vielleicht weiß ich ja einiges, das...« »Was zum Beispiel?« Sie räkelte sich und der Rocksaum rutschte noch etwas höher. Wie aus Versehen fummelte sie an ihrer Bluse herum und ein Knopf sprang auf. Der vierte von oben. Schon drei offene Knöpfe hatten ihren Busen sehr, aber schon sehr freigiebig enthüllt. Jetzt lagen die beiden Halbkugeln nahezu völlig bloß. »Zum Beispiel«, sagte sie mit verheißungsvoller Schlafzimmer stimme, »zum Beispiel weiß ich, dass ich nicht Eliza Reeds Tochter bin. Das glaubten Sie doch, als Sie mich fragten, wie alt ich sei. Stimmt's oder habe ich recht?« 77
»Woher wissen Sie, dass Eliza Reed eine Tochter hat?« »Ich wusste es nicht. Bis vor ein paar Minuten nicht. Und ich glaube es auch nicht. Ich weiß nur, dass Sie es Ihnen soeben erzählt hat.« »Und woher dieses Wissen?« Sie schürzte die Lippen. »Sie ahnungsloser Engel! Was wissen denn Sie über die Tricks und Kniffe, mit denen Magier arbeiten. Ich bin imstande, jedem von den Lippen abzulesen, was er sagt. So wie das Taubstumme können, weil sie darauf geschult sind. Das gehört bei Magiern zum Handwerk. Zu mindest bei vielen Magiern.« »Man lernt nie aus«, sagte Harry trocken. Und er entließ Alice. * Mittlerweile hatten die Herrschaften das Frühstück beendet. Harry ordnete die Notizen, die er sich gemacht hatte, wendete sich dann mit lauter Stimme an alle. Ob jemand den Mann mit dem Kalmückengesicht kenne, der die Motorjacht gefahren habe. »Ja - ich«, meldete sich Dr. Dobson. »Sonst niemand?«, fasste Harry nach. Alle blieben stumm. »Also, Kollege: Wer ist dieser Mann?« »Ich weiß so gut wie nichts über ihn, habe ihn nur zwei- oder dreimal gesehen. Immer in Gordon Melfords Begleitung.« »Wann war das?« »Vor einigen Wochen. Ich hatte den Eindruck, dass er in dem Ho tel lebt, in dem Gordon Melford Dauergast war. Vielleicht gehörte er zum Hotelpersonal. Mehr kann ich Ihnen nicht über ihn sagen.« »Danke«, murmelte Harry. Dann holte er nach, was er bisher versäumt oder aufgeschoben hatte. Aufgeschoben in der Hoffnung, dass Inspektor Woods doch noch kommen würde. 78
Woods sollte und musste die beiden Toten so vorfinden, wie Harry sie vorgefunden hatte. Aber es war sicher sinnlos, noch länger zu warten. Harry befasste sich zuerst mit dem Leichnam Gordon Melfords. Das war mühevoll, denn die Leichenstarre war noch total. Harry fand keinerlei Anzeichen für ›Tod von fremder Hand‹, wie man unter Gerichtsmedizinern sagte. Wäre er unter normalen Umständen mit der Leiche befasst wor den, hätte er ›Tod infolge Herzversagens‹ bescheinigt. Um in den anderen Turm zu kommen, musste Harry die Halle pas sieren Dort wurde er von Christopher Ward angesprochen, der erklär te, Alice habe eine gute Idee gehabt. Man könne und solle auf der Plattform eines der Türme ein Feuer entzünden. Als Notsignal. Ir gendein Schiff werde dann vielleicht die Insel anlaufen. Als Brennholz kämen nur Möbel in Betracht, mit Dieselöl übergossen. Was er, Harry, davon halte. »Nicht viel«, meinte Harry. »Bei diesem Seegang sind keine Fi scher unterwegs. Und außer Fischern befährt auch bei gutem Wetter kaum jemand dieses Seegebiet. Aber schaden kann es auf keinen Fall etwas.« Harry begab sich in den anderen Turm und bettete die tote Sarah Price auf ein lederbezogenes Sofa. Selbstmord - hatte ›Jane Hutchington‹ laut Eliza Reed gesagt. Fest stand nur, dass Sarah Price erstickt war. Auch eine gründliche Untersuchung ergab nichts anderes. Harry setzte sich neben die Leiche - und vergaß sie. Er starrte auf seine Notizen. Alles sprach dafür, dass Eliza Reed Sarah Price getötet hatte. Dennoch schmeckte Harry diese Hypothese nicht. Wer hatte das Segelboot zerschlagen - und warum. Und wie über haupt war das Boot - dieses verhältnismäßig kleine Boot - auf das Ei land gekommen. Das waren Schlüsselfragen, wie Harry jetzt begriff. Dann fiel ihm wieder die Gestalt ein, die er auf dem Turm - auf diesem Turm - gesehen zu haben meinte. 79
Er steckte die Notizen ein, stemmte sich auf die Füße und stieg die Treppe im Innern des Turms empor. Dieser Turm entsprach baulich dem anderen. Harry kam zunächst in Sarah Prices Schlafzimmer. Das Bett war benutzt. Ein aufgeschlagenes Buch lag auf dem Nachttisch. Die Schublade des Nachttisches stand halb offen. Harry ging hin, warf einen Blick in die Schublade. Er stieß einen leisen Pfiff aus, als er ein Glasschälchen voller Kaugummis erblickte. Harry scheuerte seinen Nacken. Eine alte Dame mit einer Leidenschaft für Kaugummi? Das hatte Seltenheitswert, war kaum glaubhaft. Immerhin: Sarah Price hatte noch ihre eigenen Zähne. Ganz un denkbar war es also nicht, dass sie Chewinggums kaute. Oder viel mehr gekaut hatte. Harry bemerkte einen Zettel in dem aufgeschlagenen Buch. Auf diesem Zettel war mit einem Kugelschreiber geschrieben:
Gordon Melford ist tot - der Mann, der mir alles bedeutete wäh rend mehr als dreißig Jahren. Ohne ihn ist auch mein Leben zu Ende. Für mich lohnt es nicht mehr, am Leben zu bleiben. Ich mache Schluss, folge Gordon in jene andere Welt, in der wir für immer vereint sein werden. Gordon Melfords Testament liegt im Safe dieses Hauses, auch meines. Der Schlüssel zu dem Safe befindet sich an dem Schlüssel bund, den Gordon Melford bei sich trägt. Ellinor Parker möge Gordon und mir verzeihen, dass wir uns nicht um sie gekümmert haben. Wir wussten nicht, dass es sie überhaupt gibt. Das erfuhren wir erst von der Detektei Texter & Chambres, London. Gott schütze Ellinor Parker. Ich werde mich töten, indem ich die Kanüle mit Kaugummi verstopfe. Selkirk Eiland, am 10. November Sarah Price Also doch Selbstmord. Das war das erste, was Harry durch den Kopf schoss. Welch eine ausgefallene Art und Weise, aus dem Leben zu schei den. Andererseits doch nahe liegend. Wie oft mochte Sarah Price sich 80
vorgestellt haben, dass sie ersticken würde, wenn die Kanüle einmal verstopft war. Etwa durch Schleim, den sie aus Lunge oder Magen empor hustete. Sie hatte den Entschluss, zu sterben, bereut. Anders war es nicht zu erklären, dass sie die Treppe hinuntergelaufen war. Harry hatte es schon einmal gedacht: Mit den Fingern konnte sie den Kaugummi nicht mehr aus der Kanüle holen, wenn der Gummi weich gekaut - einmal im Röhrchen steckte. Sie hatte versucht, in den Keller zu kommen, wo sie Dobson wuss te. Wahrscheinlich rein instinktiv, ohne zu überlegen. Wer in Todesnot ist, sucht instinktiv bei irgendeinem Menschen Zuflucht. Zunächst einmal Zuflucht, Hilfe erst in zweiter Linie. Sarah Price hatte es nicht geschafft, bis in den Keller zu kommen. Sie war aus Luftmangel zusammengebrochen, ohne auch nur die Halle zu erreichen. Immer vorausgesetzt, dass dieser Abschiedsbrief echt war - tat sächlich von ihr selber geschrieben. Ein Kugelschreiber lag auf dem Nachttisch neben dem Buch. Das sprach dafür. Aber Harry kam gerade von Gordon Melfords Leichnam und er hatte getan, was Inspektor Woods getan hätte - nämlich die Taschen des Smokings geleert, in dem Gordon Melford gestorben war. Ein Schlüsselbund hatte er nicht gefunden. Harry Melford dachte nach. Methodisch und konzentriert. Und plötzlich wusste er es. Die Lösung war - konnte nur sein: Irgend jemand war außerdem auf dem Eiland. Seit der vergangenen Nacht. Für ein paar Stunden zwischen acht Uhr abends und sieben Uhr morgens musste die See verhältnismäßig ruhig gewesen sein. Immerhin so ruhig, dass ein erfahrener Skipper die Jolle von Westray nach Selkirk-Eiland hatte segeln können. Von Westray? Selbstverständlich von Westray! Der Mann mit dem Kalmückengesicht war mit der Motorjacht hinterdrein gefahren und hatte die Jolle mit der Axt demoliert. 81
Das besagte zwangsläufig, dass die Jolle von Westray gekommen war. Ebenso zwangsläufig fiel Harry nun abermals die Gestalt ein, die er auf diesem Turm gesehen zu haben meinte. Also stieg er weiter nach oben. Bis ganz nach oben. Droben angelangt, sah er auf der Plattform des anderen Turms den Mönch, den Inder und Christopher Ward. Das Feuer, das sie als Notsignal entzündet hatten, war ein Versuch am untauglichen Objekt. Es gab zwar Flammen, aber mehr Rauch als Flammen. Der Sturm hielt die Flammen nieder und peitschender Schneeregen durchnässte das Brennmaterial. Schwärzliche Rauchschwaden wurden zerfetzt, kaum, dass sie sich gebildet hatten. Harry zuckte die Schultern, tat einen Rundblick über das Meer. Dicht unter der Kimmung zog ein großes Kriegsschiff seine Bahn. Ein Kreuzer oder ein Schlachtschiff. Was von beiden, war über die große Distanz nicht zu erkennen. Scapa Flow, der Heimathafen vieler britischer Kriegsschiffe, war nicht allzu weit weg. Auch die Männer auf dem anderen Turm hatten das Schiff be merkt. Sie gossen mehr Dieselöl in das Feuer und es gab für einige Zeit helle Flammen. Aber das Kriegsschiff war schon nicht mehr zu sehen: Schneetreiben unterbrach die Sichtverbindung. Harry entdeckte keine Anzeichen dafür, dass jemand auf diesem Turm gewesen war. Er stieg wieder nach unten. Wieder im Schlafzimmer angekommen, ging er zu dem Toiletten tisch mit dem dreiteiligen Spiegel darüber. Auf der Platte des Tisches lagen ein Notizblock und ein anderer Kugelschreiber. Nur das oberste Blatt war beschrieben. Belanglose Gedächtnis stützen: Was Sarah Price gestern hatte erledigen müssen und was sie mittlerweile erledigt hatte. Die Handschrift entsprach der des Abschiedsbriefes. Harry stieg weiter abwärts. Und dann sah er sie - die Gestalt. 82
Er hätte sie auch jetzt nicht bemerkt, wenn er, wie beim Empor steigen, auf die Treppenstufen geblickt hätte. Aber er sah in Richtung Bett, während er sich über die Wendeltreppe abwärts drehte. Als sein Kopf fast in Höhe des Fußbodens war, sah er sie also - die Gestalt. »Kommen Sie unter dem Bett hervor!«, forderte er scharf. Die Gestalt rührte sich nicht. Harry sah seegrasfarbenes Ölzeug, Gummistiefel und eine Hand, die in einem Handschuh steckte. Das Gesicht der Gestalt sah er nicht. Der Kopf war von einer Ka puze fast ganz verhüllt. »Kommen Sie hervor, verdammt noch mal!« Keine Reaktion. Harry wandelte in das Schlafzimmer zurück, war mit drei oder vier langen Schritten neben dem Bett, ging in die Hocke, packte zu, richte te sich auf und zog die Gestalt an den Füßen unter dem Bett hervor. Sie lag auf dem Bauch. Und es war tatsächlich eine Sie - eine Frau. Sie hob im Liegen den Kopf an und Harry zog die Kapuze von ihrem Kopf. »Sie?«, stieß er dann nur hervor. Zu mehr reichte es nicht. Er war gar zu verblüfft. Mrs. Woods - oder wer immer die junge Frau in Wahrheit sein mochte -stützte sich im Liegen auf die Ellenbogen, blickte Harry schräg von unten an. Dann stammelte sie: »Gott sei Dank, dass Sie es sind. Ich fürchte te...« Sie brach ab. Ihre Lippen zitterten, ihr Kinn war weiß und spitz. »Wo ist Inspektor Woods?«, fragte Harry. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie erst nach einer ganzen Weile. »Ich weiß es nicht. Aber ich fürchte, er ist tot.« * Sie hieß Ellinor Woods, geborene Parker, war tatsächlich Henry Woods frisch angetraute Ehefrau. 83
Hier ist ihre Geschichte, wie sie sie Harry Melford schilderte. Sie war sechsundzwanzig Jahre alt und diese sechsundzwanzig Jahre waren ziemlich undramatisch verlaufen bis auf die letzten Tage. Einziges Kind eines Lehrerehepaars, war sie wohlbehütet aufgewach sen. Sie studierte Medizin und wollte Kinderärztin werden. Im nächsten Jahr würde sie das Staatsexamen machen. Ihre Eltern waren tödlich verunglückt, als sie einundzwanzig ge wesen war. Ein Autounfall. Das einzige tragische Ereignis in ihrem Leben bis dahin. Reich waren die Eltern nicht gewesen, aber sie hatten ihr doch so viel Geld hinterlassen, dass sie ihr Studium beenden konnte. Und sie würde noch etwas Geld übrig haben, wenn sie soweit war. Zudem besaß sie noch das Haus ihrer Eltern in der Grafschaft Sus sex. Dieses Haus hatte sie vermietet. Sie selber lebte seither in einem möblierten Zimmer nahe der Londoner Universität. Vor einiger Zeit nun - ungefähr vor vier Wochen - hatte ein Mann namens Texter sie aufgesucht. Lewis Texter in Forma Texter & Chambres, Privatdetektei, wie er sich vorgestellt hatte. Und dieser Mr. Texter hatte etwas behauptet, was sie zunächst nicht glauben konnte, auch nicht glauben wollte. Nämlich, dass sie nicht die leibliche Tochter von John und Sheila Parker sei, sondern deren Adoptivtochter. Ihre leibliche Mutter sei die bekannte Hellseherin Eliza Reed, ihr leiblicher Vater der berühmte Magier und Hellseher Gordon Melford. Sie hatte das nicht glauben können, aber es stimmte. Der Privat detektiv hatte, gemeinsam mit ihr, die zuständigen Behörden aufge sucht. Dort stand alles schwarz auf weiß. Ellinor hatte es zur Kenntnis genommen, aber abgelehnt, sich mit ihren leiblichen Eltern in Verbindung zu setzen. Nach einigen Tagen hatte ein anderer Mann bei ihr vorgespro chen: Henry Woods, Detektivinspektor der Geister-Squadron von New Scotland Yard. 84
Dass es diese Geister-Squadron überhaupt gab, erfuhr sie erst von Woods. Die komplizierte Geschichte, die er ihr darlegte, verstand sie nur halb. Nicht aus Mangel an Intelligenz oder Auffassungsgabe, son dern weil Henry Woods auf sie wirkte wie der berühmte Blitz aus hei terem Himmel. »Ich war wie erschlagen!«, sagte sie wörtlich. »Liebe auf den ers ten Blick.« Was immer er in den nächsten Tagen sagte, ihr erklärte - sie sag te zu allem ja, war mit allem einverstanden, was er vorschlug. Begriffen hatte sie immer nur die Hälfte - bestenfalls. Auch ein Mann von der Geister-Squadron ist ein Mann - ein Adam, der nach seiner Eva sucht. So lange, bis er seine Eva gefunden hat: die eine und einzige. Sie hatten geheiratet. Vor drei Tagen. Früher war es wegen der Formalitäten nicht möglich gewesen. Die Hochzeitsnacht hatte nicht stattgefunden. Jedenfalls nicht so, wie es jedes Hochzeitspaar sich erhofft. Der Auftrag, den Henry hatte, stand dem im Wege. Sie waren direkt vom Standesamt zum Bahnhof Euston-Station ge fahren und hatten die Nacht in dem Zug nach Wick verbracht. In ei nem Abteil mit vier Liegebetten in Gesellschaft zweier Geschäftsleute. Der Schlafwagen war ausgebucht gewesen. Leider. Wie das junge Paar auf die Insel Westray gekommen war, wusste Harry schon. Bei grober See waren sie dann nach Selkirk-Eiland gesegelt. In ei nem winzigen Boot. Unterwegs war Ellinor derart seekrank geworden, dass sie - wie sie sagte - mehr tot als lebendig war als sie das Eiland erreicht hatten. »Was von da an geschah - das weiß ich nicht. Ich fühlte mich wirklich sterbenselend. Henry trug mich auf seinen Armen irgendwohin. Er setzte mich ir gendwo ab, stellte mich auf die Füße. Dann kämpfte er mit einem an deren Mann - irgendwo auf der Insel bei Dunkelheit, Sturm und Schneetreiben. Danach war dieser Mongole da - aber an alles das er 85
innere ich mich nur undeutlich, nur lückenhaft. Ich versuchte, vor dem Mongolen davonzulaufen, aber ich kam nicht weit. Mir war noch immer speiübel. Der Mongole holte mich ein - und von da ab weiß ich endgültig nichts mehr. Ich muss ohnmächtig ge worden sein. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf einem Sofa in dem Zimmer über jenem Zimmer, in dem Sie mich gefunden haben. Ich stieg die Wendeltreppe nach unten, fand zwei Zimmer tiefer eine tote Frau. Die Tür, die aus diesem Zimmer herausführt, war abgeschlossen. Ich machte kehrt, stieg die Wendeltreppe empor bis auf die Plattform des Turms. Von oben sah ich Sie und den Mann, den Henry als Roger den Mönch bezeichnet hatte. Nimm dich vor dem Mönch in acht!, hatte Henry mir eingeschärft.
Er ist der einzige, dem ich zutraue, dass er auch vor einem Mord nicht zurückschreckt. Nicht wenn es um so viel Geld geht, wie hier auf dem Spiel steht. - Als ich dann hörte, dass irgend jemand das Zimmer
betrat, in dem die tote Frau lag, da versteckte ich mich unter dem Bett. Es konnte ja der Mönch sein.« Harry hatte nur zugehört, keine einzige Zwischenfrage gestellt. Das war überflüssig gewesen. Jetzt nickte er in sich hinein. Er wusste nun endgültig, was hier gespielt wurde. Mit Betonung auf Was. Wie es sich abgespielt hatte, das wusste er nicht. Noch nicht. Aber er würde es bald wissen. Sobald er entdeckt hatte, wie es möglich gewesen war, dass Hen ry Woods oder der Mann mit dem Kalmückengesicht Ellinor Woods in den Turm gebracht hatten, ohne dabei die Halle zu durchqueren. Der jenige, der den Zweikampf überlebt hatte: Henry Woods oder der ›Kalmücke‹. Eigentlich konnte das nur der ›Kalmücke‹ sein. Nach allem, was Ellinor berichtet hatte. Aber Harry erinnerte sich eines ganz bestimmten Satzes, den Hen ry Woods gesagt hatte, als sie an Bord des Fährschiffes miteinander gesprochen hatten. 86
Dieser Satz passte nicht zu Ellinors Darstellung der Ereignisse. Ganz und gar nicht. * Alle waren wieder in der Halle beisammen, als Harry und die junge Frau die Halle betraten. Harry ließ die Bombe ganz bewusst ohne jede Vorrede platzen. Er schob Ellinor, die rechte Hand in Höhe der Taille in deren Rücken ge legt, auf Eliza Reed zu und er sagte massiv: »Dies, Madam, ist Ihre und Gordon Melfords Tochter!« Die Pythia von Wadebridge reagierte anders, als Harry es erwartet hatte. Nämlich sehr gelassen. »Ah ja?«, machte sie zunächst nur. Um dann eine Braue anzuliften. Nur eine. »Das glaube ich nicht«, fügte sie kalt hinzu. »Warum nicht?« »Mein Baby war hellblond, hatte fast weiße Haare. Diese junge Lady ist aber dunkelblond.« »Viele dunkelblonde oder brünette Leute hatten als Baby weiß blondes Haar, das erst später gedunkelt ist«, belehrte Harry die Wal küre. Die war immer noch nicht überzeugt, aber doch angeschlagen. Jedenfalls hatte Harry diesen Eindruck. »Fragen Sie Jane Hutchington!«, schlug er vor. Die Pythia von Wadebridge tat nichts dergleichen, stellte aber eine Frage an Ellinor. Und zwar diese: »Haben Sie ein Muttermal - einen halbmondför migen Leberfleck? Falls ja: Wo?« »Zwei Zoll links des Nabels.« Daraufhin schluckte die Pythia von Wadebridge zweimal schwer. Ihr Adamsapfel hob und senkte sich wie ein Fahrstuhl. »Es stimmt also. Sie sind - du bist meine Tochter.« Das großflä chige karminrote Gesicht bleichte aus, wurde beinahe schneeweiß. 87
Die Gesichtsmuskeln arbeiteten, schienen durch die Haut treten zu wollen. Die fleischigen, mit Ringen bepflasterten Hände wurden ange hoben - sanken resignierend zurück. Die markige Feldwebelstimme war unmarkig, weich, fast tonlos. »Ich kann nicht erwarten, dass Sie dass du - dass du mir Empfindungen entgegenbringst, die...« Die Pythia von Wadebridge vermochte es nicht, weiter zu spre chen. »Nein«, sagte Ellinor leise. »Nein. Das können Sie - das kannst du wirklich nicht erwarten. Jedenfalls nicht jetzt, nicht spontan. Vielleicht später.« Harry Melford fand, dass sie in diesem Augenblick zauberhaft aus sah: mit gesenkten Lidern, sehr befangen. Dies war die Eva, die der Adam Harry Melford bislang vergebens gesucht hatte. Eine Eva freilich, die ihren Adam schon gefunden hatte und die an ihren Adam gebunden bleiben würde, auch wenn er tot war oder gerade, weil er tot war. Der Mönch meldete sich zu Wort. Überraschenderweise fand Harry. »Hat Jane Hutchington ihre Herrin und Meisterin diesmal im Stich gelassen?«, fragte er sarkastisch, blanken Hohn in der Stimme. Die Antwort fiel drastisch aus. »Ich scheiße auf Jane Hutchington. Jetzt ja.« Die Feldwebelstim me wurde immer leiser. »Jane Hutchington ist tot. Mausetot. Seit 1623.« Die Walküre schien die Nerven verloren zu haben. Sie hob die Stimme wieder, kreischte es heraus: »Ja - es ist wahr: Ich bin nichts als eine perfekte Bauchrednerin. Und ja, es ist wahr: Ich war mit im Komplott, wusste über alles Bescheid. Aber ich habe Sarah Price nicht ermordet und ich habe nicht...« Sie brach ab, schlug die fleischigen Hände vor den offen gebliebe nen Mund, starrte aus weit aufgerissenen Augen auf einen Punkt ir gendwo hinter und über Harry. Dabei ging sie mit kleinen Schritten rückwärts, fand Halt an der Lehne eines Sessels. Das Heulen des Sturmes übertönte zum Teil die Töne der Laute, die irgendwo gezupft wurde. 88
Harry wirbelte auf dem Absatz herum - und dann sah er ihn - den Singenden Tod. Diesmal hörte er ihn nicht nur - er sah ihn auch. Alle sahen ihn diesmal. Im diffusen Licht - der obere Teil der Halle lag im Halbdunkel - im diffusen Licht war der Knochenmann droben auf der Galerie nicht scharf umrissen, aber doch deutlich zu erkennen. Verschwommen, ohne klare Konturen, aber doch nicht nur ein Schemen, keinesfalls ein Trugbild. Die Knochenarme bewegten sich. Die Hände des Skeletts waren von unten nicht zu sehen. Nur der Oberkörper des Singenden Todes ragte über die hüfthohe Balustrade hinweg. In dem Rhythmus, in dem die Arme sich bewegten, erklangen Saitentöne. Dann setzte Gesang ein: »Mein Herz ist im Hochland...« Harry behielt die Nerven - er rannte los, stürmte die Haupttreppe empor. Drehte der Erscheinung dabei notgedrungen den Rücken zu. Das Lautenspiel und der Gesang brachen ab, noch während Harry auf der Treppe war. Als er die Galerie erreicht hatte, war der Knochenmann ver schwunden. In diesem Augenblick wurde das Jaulen des Sturmes vom HuuütHuuüt einer Sirene übertönt. Der Sirene eines Schiffes offenbar - eines verhältnismäßig kleinen Schiffes. Die Sirenen von ›Dickschiffen‹ jaulen nicht huuüt-huuüt, sie klin gen tief und dröhnend. Harry stand sekundenlang wie festgenagelt. Drunten setzte sich der Mönch in Bewegung. Er lief in Richtung Haustür. Der Inder folgte ihm nach einem kurzen Zögern. Da lief Harry wei ter - dorthin, wo der Singende Tod gewesen war. Der hatte sich ganz am Ende des rechten Flügels der Galerie gezeigt. Dort war nichts. Doch. Eine Kleinigkeit doch - nämlich einige Wassertropfen. Der Singende Tod musste von draußen gekommen sein, durch eines der Fenster. 89
Es gab ein schmales Butzenscheibenfenster am Ende der Galerie, aber das war von innen verriegelt. Harry öffnete die Tür zu dem letzten Zimmer auf dieser Seite der Galerie. Dieses Zimmer war unbewohnt. Das Fenster war geschlossen, a ber unverriegelt. Harry riss es auf. Schneeregen schlug ihm entgegen und unter ihm kochte die See. Das Schneetreiben war in diesem Augenblick derart dicht, dass Harry das Schiff - einen Zerstörer - nur in den Umrissen erkennen konnte. Der Zerstörer hatte das Eiland schon fast passiert. Harry beugte sich aus dem Fenster, winkte mit beiden Armen, schrie laut. Er wusste, dass seine Stimme auf dem Schiff nicht zu hören sein würde. Der Sturm zerfetzte die Schreie quasi vor Harrys Lippen. Der Zerstörer verschwand hinter Schnüren aus Schneeregen. * Harry Melford resignierte. Er schloss das Fenster. Er fuhr zusammen, als jemand gegen die Tür klopfte - ein dump fes Geräusch, so als schlüge irgendwer mit der Faust oder einem Ge genstand gegen die Tür. Harry zog die Tür auf. Draußen stand niemand, aber das Klopfen hörte nicht auf. Jetzt hörte Harry Melford auch jemanden stöhnen. Sein Blick fiel auf den Kleiderschrank. Harry ging hin, zog die Schranktür auf und Henry Woods kippte ihm vor die Füße. Woods hatte zusammengekrümmt auf dem Boden des Schranks gehockt, die Füße mit einem Ledergurt gefesselt und die Handgelenke mit Handschellen sicher seinen eigenen zusammengeschlossen, ein großes Taschentuch als Knebel im Mund. Harry bückte sich, entfernte zunächst das Tuch. Woods tat einen tiefen, keuchenden Atemzug. Seine Augen waren ausdruckslos und blieben ausdruckslos, als ob er unter dem Einfluss eines Narkotikums stünde. 90
Harry löste den Gürtel. Gegen die Handschellen konnte er nichts tun. Woods war zusammengekrümmt liegen geblieben. Harry griff un ter die Schultern des Inspektors, richtete ihn in die Sitzstellung auf. Über dem Scheitelbein war Woods Haar blutverkrustet. Harry teilte das Haar mit den Fingerspitzen, sah eine Platzwunde inmitten einer Beule. Die Wunde war Woods vor mindestens zehn Stunden zugefügt worden. Sie würde von selber verheilen und bedurfte keiner Behand lung. Die Untersuchung der Wunde hatte Woods Schmerzen bereitet und der Schmerz bewirkte, dass er einigermaßen zu sich kam. Er kam mit Harrys Hilfe auf die Beine, lehnte sich neben dem offenen Schrank gegen die Wand. Er war gekleidet wie auf dem Fährschiff. Nur der Hut fehlte. Und die Schuhe. In der rechten Außentasche des Wettermantels fand Harry Henry Woods Schlüsselbund und an diesem Schlüsselbund den Schlüssel für die Handschellen. Harry schloss die Handschellen auf. Woods ließ alles apathisch über sich ergehen. Als seine Hände frei waren, wankte er zum Fenster, öffnete es, stützte sich auf die Fensterbank, beugte den Oberkörper nach draußen und übergab sich. Als er sich dann umdrehte, war sein Gesicht grau und verfallen, aber er fühlte sich unverkennbar wohler als vorher. Er blickte auf seine Armbanduhr. »Heute ist Sonnabend?« »Ja.« »Dann war ich ungefähr zwölf Stunden lang ausrangiert.« Woods massierte seine Stirn mit noch zitternden Fingern. »Verdammt - ich kann mich an nichts mehr erinnern«, murmelte er. Harry erklärte: »Jemand hat Ihnen einen harten Schlag auf den Schädel verpasst. Sie haben eine Gehirnerschütterung erlitten. Die 91
Gedächtnislücke ist ein Symptom dafür, wie auch das Erbrechen. In der Regel kehrt die Erinnerung nach einiger Zeit zurück. Was ist das letzte, worauf Sie sich besinnen können?« Woods massierte seine Stirn heftiger - ohne nennenswertes Resul tat. »Ich weiß nicht recht. Ich habe auf Westray ein Segelboot gemie tet - was gar nicht so einfach war in dieser Jahreszeit. Die Boote sind in den Bootsschuppen aufgebockt. Ich bekam schließlich eine Jolle, die gerade frisch gestrichen wur de. Mit dieser Nussschale habe ich Selkirk-Eiland erreicht und dann...« Er schüttelte den Kopf, verzog das Gesicht, weil ihm das offenbar Schmerz bereitete. »Tut mir leid - von da an ist bei mir black out.« »Ihre Frau sagt, der Mann mit dem Kalmückengesicht habe Sie niedergeschlagen.« Woods hob die Brauen. »Wieso meine Frau? - Ach so, ich weiß schon. Sie meinen Miss Parker, die ich Ihnen als meine mir gerade angetraute Ehefrau vor stellte.« Harry war verblüfft. »Was denn - sie ist nicht mit Ihnen verheiratet?« »Aber nein. Behauptet sie das?« »Allerdings.« Woods lächelte freudlos. »Dann hält sie sich noch immer an die Vereinbarung. Ein patentes Mädchen. Respekt.« Harry nahm beglückt zur Kenntnis, dass das ›patente Mädchen‹ noch frei war. Woods aber knurrte: »Wo ist die Toilette?« »Im Keller.« »Das schaffe ich nicht mehr.« Harry verstand. Zwölf Stunden in dem Schrank machten es dringend. Woods riss wieder das Fenster auf und schlug sein Wasser nach draußen ab. Danach zeigte Harry auf das Bett. 92
»Sie sollten sich hinlegen, Henry. Hinlegen und liegen bleiben. Wenn Sie das nicht tun, werden Sie Ihr Leben lang unter Kopfschmerz leiden. Das ist so nach einer Gehirnerschütterung, wenn man sich nicht für wenigstens ein paar Tage so wenig wie möglich bewegt.« »Ach was. Ich muss...« »Sie müssen gar nichts, Henry.« In diesem Moment wurde die Tür geöffnet. Radschendra Jalna blieb in der Türöffnung stehen. Sein Gesicht war unbewegt und ausdruckslos. »Hallo, Inspektor!«, sagte er auf seine leise Weise. Erstaunt, Woods zu sehen, schien er nicht zu sein. »Hallo, Mr. Jalna.« »Ich wusste die ganze Zeit über, dass Sie hier waren - die ganze Zeit.« »Woher wussten Sie das?«, schaltete Harry sich ein. Der Inder hob nur ganz leicht, kaum erkennbar die Mundecken an. »Mein sechster Sinn sagte es mir, Doktor. Wie oft muss ich Ihnen noch versichern, dass ich...« »Schon gut. Was wollen Sie?« »Nichts«, sagte der Inder ausgesucht sanftmütig. »Überhaupt nichts. Mich nur vergewissern, dass mein sechster Sinn mich nicht ge trogen hat.« »Das haben Sie ja nun.« »Das habe ich nun. Außerdem wollte ich Ihnen, Doktor, etwas zur Kenntnis geben.« »Nämlich was?« »Lesen Sie selber!« Der Inder hatte beide Hände auf dem Rücken gehalten, jetzt brachte er sie nach vorn. Er hielt ein zusammengefaltetes Blatt Rapier in der Rechten, die er Harry entgegenstreckte. Harry griff nach dem Blatt und entfaltete es. Es handelte sich um ein Telegrammformular, wie man bei der Post sagt. Um ein Funk spruchblatt im Jargon der Royal Navy - der Kriegsmarine. 93
Dieses Papier - erklärte der Inder - sei von dem Zerstörer auf das Eiland geschossen worden. Mittels einer Rakete mit einer Kapsel dar an. Harry wusste, dass die Kriegsmarine derartige Raketen verwende te. Um zum Beispiel Medikamente von einem großen Schiff auf ein kleines zu schießen, wenn der Seegang verhinderte, dass ein Boot zu Wasser gebracht wurde. Henry las den Text laut:
Der Kreuzer HMS ›Exeter‹ hat Sie gesehen und der Admiralität über Funk gemeldet, dass Sie als Notsignal ein Feuer entzündet haben. Die Admiralität hat mir Order gegeben, Selkirk-Eiland anzulaufen, da ich auf dem Rückmarsch nach Scapa Flow ohnehin nahe Selkirk-Eiland vorbei muss. Es ist nicht möglich, ein Boot auszubringen, aber ich komme zurück, sobald der Seegang das zulässt. Wir wissen nicht, wer Sie sind, vermuten dass Ihr Fährzeug gesunken ist und Sie sich auf die Insel retteten. Dass sich offenbar Schiffbrüchige auf der Insel aufhal ten, wird derzeit über den Rundfunk publik gemacht. Ihre Angehörigen werden es sicher erfahren, sich also nicht um Sie sorgen. Ich bleibe in der Nähe. Wenn Sie Lebensmittel oder Trinkwasser brauchen, hissen Sie bitte ein weißes Tuch auf einem der Türme und irgendein farbiges Tuch, wenn Sie einen Arzt benötigen. In diesem Fall würden wir ver suchen, eine Rettungsleine an Land zu schießen, über die der Arzt mit einem Bootsmannsstuhl auf die Insel kommen könnte. H L. Lawrence Fregattenkapitän und Kommandant HMS Glow-worm Harry ließ das Funkspruchblatt sinken und sagte nur: »Gott sei Dank.« * Um es gleich zu sagen: An diesem Tag wurde es nicht mehr möglich, ein Boot auszusetzen. Ein Tuch zu hissen, war selbstverständlich überflüssig. Der Zerstö rer HMS ›Glow-worm‹ lag die ganze Zeit in Lee des Eilands, mit dem 94
Bug gegen die anbrandende See. Die Maschinen liefen gerade so viele Touren, dass das Schiff im Ruder gehalten werden konnte und sozu sagen auf der Stelle trat. Das Schiff war nur zeitweilig zu sehen - so oft das nicht enden wollende Schneetreiben etwas nachließ. Aber es war da. Die derzeitigen Bewohner von Selkirk-Eiland stan den in der Obhut Ihrer Majestät - sozusagen. Und die Stimmung war entsprechend umgeschlagen. Dass die Raketen, die Geschütze, die Torpedos und die Maschi nengewehre von Ihrer Majestät Schiff ›Glow-worm‹ gegen Geister nichts ausrichten konnten, focht anscheinend niemand an. Warum auch. Niemandes Leben war mehr in Gefahr. Dessen war Harry ganz sicher. Niemand mit Ausnahme dessen, der wusste, wer der verhinderte Mörder war. Ganz recht: Der verhinderte Mörder. Die Person, die entschlossen gewesen war, alle umzubringen und die es nicht nötig gehabt hatte, den Anfang mit Gordon Melford und Sarah Price zu machen. Weil der eine an Herzschlag gestorben und die andere dem einen freiwillig in den Tod gefolgt war. Nun war der Zerstörer da. Damit war es zu gefährlich geworden, auch nur einen Mord zu begehen. Es sei denn, um ungeschoren zu bleiben. Wenn sie - die Person - wusste oder vermutete, dass jemand ihr Spiel durchschaut hatte, dann würde dieser Jemand fällig sein. So oder so. Dann hatte dieser jemand keine Chance, noch wesentlich älter zu werden. Wenn Harry richtig rechnete, dann war er derjenige welcher. Nur sein Leben war noch bedroht. Eben das erklärte Harry Woods, als der ihn aufforderte, ihm über alles zu berichten, was auf dem Eiland geschehen war. »Besser nicht, Henry. In diesem merkwürdigen Haus haben die Wände Ohren. Kalmückengesicht steckt irgendwo. Wenn er über eine Wanze, oder auf welche Weise auch immer, erfährt, dass ich Sie in 95
formiert habe, wird er auch Sie zu töten versuchen.« Hier hob Harry die Stimme und kniff dabei ein Auge zu. Auch Woods kniff ein Auge zu. Zum Zeichen, dass er kapiert hat te. Er ging brav zu Bett. * In der Halle - wie schon gesagt wurde - war die Stimmung umgeschla gen. Jeder redete mit jedem. Als ob ein Alptraum von jedem und jeder genommen sei. Ange sichts der beinahe fröhlichen Gesellschaft wurde Harry endgültig klar, dass keiner und keine an die Existenz des Singenden Todes glaubte oder geglaubt hatte. Nicht daran, dass der Singende Tod ein Geist, ein Gespenst war. Gordon Melford hatte recht gehabt: Sie alle waren Illusionisten, geniale Trickbetrüger. Das ging eben daraus hervor, dass Sie sich nun in Sicherheit wähnten. Eliza Reed und Ellinor hielten sich abseits von den anderen. Die Pythia von Wadebridge spielte gekonnt eine Mutter, die in Glückselig keit schwamm. Ellinor bemühte sich rührend, ihrer leiblichen Mutter herzliche Ge fühle entgegenzubringen. Allein, das gelang ihr nicht. Harry sah es ihr an. Was Wunder, dass es Ellinor nicht gelang. Sie war in einer völlig anderen Welt aufgewachsen, einer geordneten bürgerlichen Welt. Die Pythia von Wadebridge musste monströs auf Ellinor wirken, vielleicht auch unheimlich. Alle hatten mittlerweile von Radschendra Jalna erfahren, dass und auf welche Weise Inspektor Woods von Harry Melford gefunden wor den war. Aber das schien niemanden sonderlich zu interessieren. Inzwischen war es an der Zeit, den Lunch zu nehmen. Es war der Mönch, der das laut äußerte. Davon, dass aus Sicherheitsgründen im mer mehrere beieinander bleiben sollten und wollten, am besten alle, 96
war jetzt keine Rede mehr. Eliza Reed gab das Kommando: »Mir nach, Ellinor und Alice! Ab in die Küche.« Die drei zogen ab. Harry stieg nach oben, um seinen Mantel zu holen. Als er dann, im Mantel, die Halle durchquerte, standen Jalna, der Mönch und Warning dicht beieinander und lachten über irgend etwas. Harry verließ das Haus durch die einzige Tür, die es offiziell hatte. Als er die Tür hinter sich schloss, lachten der Inder und der alte Herr noch immer. Der Mönch aber blickte Harry groß an, ohne auch nur noch zu lä cheln. Der Blick schien Harry warnen zu wollen - vor irgend etwas oder irgend wem. Der Schneeregen hatte endlich aufgehört, der Sturm auch. Es blies nur noch ein steifer Wind. Harry wendete sich unmittelbar hinter der Haustür nach rechts, erreichte die Nordostecke des Hauses, die den Türmen auf der Südsei te entgegengesetzt war. Harry fand, was er zu finden gehofft hatte: eine Leiter wie sie bei der Feuerwehr oder dem Militär Verwendung findet. Beim Militär als so genannte Sturmleiter. An dem einen Ende waren eiserne Haken befes tigt. Die Leiter konnte mithin an Mauervorsprüngen oder Fenstersim sen aufgehängt werden. Nun wusste Harry, auf welche Weise der Singende Tod auf die Ga lerie gelangt war. Eben über diese Leiter und durch das Zimmer, in dem Harry Henry Woods gefunden hatte - im Kleiderschrank. Daher also die Wassertropfen auf dem Fußboden der Galerie. Dass Harry die Leiter fand, war einem Phänomen zu verdanken, mit dem die Person, die den Singenden Tod spielte, nicht gerechnet hatte. Die aufgewühlte See, vom Sturm in Nordsüdrichtung gepeitscht, hätte die Leiter längst weit nach Süden getragen, wenn es nicht unmit telbar unter dem Fenster einen Strudel gegeben hätte. Einen um sich selber kreisenden Wasserwirbel, einen Sog, der auf der Stelle tanzte. In diesem Sog kreiste die Leiter. Mal über und mal unter Wasser. 97
Genau dieser Anblick war es, der Harry alles begreifen ließ. Auch das, was ihm bis soeben noch unverständlich gewesen war. Harry zermarterte sich das Hirn. Ziemlich lange. Dann ging ihm nicht nur ein Licht auf, sondern ein ganzer Kronleuchter. Bildlich gesprochen, versteht sich. * Während des Essens war Harry schweigsam. Er hörte den anderen zu. Aber die plauderten über dies und das. Niemand erwähnte auch nur die Ereignisse der letzten beiden Ta ge. Es war, als ob alle das so schnell wie möglich zu vergessen wünschten. Harry verlor das Interesse an der Konversation - er dachte wieder nach. Das Harmonium in dem Geheimzimmer im Kellergeschoß fiel ihm ein. Was sollte dieses Instrument dort unten? Harry verzichtete auf den Nachtisch, murmelte eine Entschuldi gung, erhob sich und begab sich in das Souterrain. Das war unverfänglich. Befand sich die einzige Toilette doch unten. Das Harmonium schien ein ganz normales Instrument zu sein. Harry schob es schließlich zur Seite. »Sieh mal da!«, murmelte er. Hinter der Rückwand des Harmoniums gab es eine quadratische gusseiserne Tür, etwa hüfthoch. Ein einfacher Fallriegel hielt die Tür geschlossen. Harry hob den Riegel an und die Tür schwang lautlos auf. Stufen führten in eine geräumige Höhle hinab, die sozusagen ein naturge wachsenes Bootshaus bildete. Die Motorjacht ›Selkirk-Eiland‹ lag am unteren Ende der Treppe vertaut, ziemlich stark tümpelnd. Die Ausfahrt zur See war jetzt, bei Flut, kaum zu erkennen. Nur bei Ebbe lag der Höhleneingang frei, beg riff Harry. Nur bei Ebbe war dieses ›Bootshaus‹ von der See her be nutzbar. 98
Harry stieg in das Cockpit der Jacht. Die Tür zur Kajüte stand of fen, aber Harry konnte nicht in die Kajüte blicken. In der Höhle herrschte Halbdunkel und die Kajüte bildete eine Höhle innerhalb der Höhle. Drinnen war es stockdunkel. Harry ließ sein Feuerzeug klicken. Er sah nicht, was er zu sehen erwarten hatte: nämlich den Mann mit dem Kalmückengesicht. Die Kajüte enthielt nichts, was nicht hineingehörte. Das Feuerzeug wurde heiß. Harry ließ es zuschnappen. Er wollte schon wieder nach oben steigen, als er ein Bandgerät entdeckte. Es stand auf einem Felsvorsprung neben der Treppe. Aus der Buchse für einen zusätzlichen Lautsprecher führte ein Leitungsdraht in das Wasser sicherlich aus der Höhle heraus. Wohin? Das konnte Harry nur erraten. Er drückte auf den Knopf ›Wiedergabe‹ und schaltete das Gerät sofort wieder aus. Er hatte Hundegekläff gehört. »Ah ja!«, sagte er trocken. Fast im selben Atemzug wurde ihm klar, dass er einen Denkfehler begangen hatte, als er sich fragte, wie es möglich gewesen war, die bewusstlose Ellinor durch die Halle in den Turm zu bringen, ohne dass es von irgendwem beobachtet wurde. Spätestens eine Stunde nach dem Dinner hatten alle fest geschla fen - bis auf Dobson und Sarah Price und vielleicht auch Eliza Reed. Der verhinderte Mörder hatte Ellinor zunächst irgendwo im Haus ver steckt und sie in den Turm gebracht, als Sarah Price den Turm verlas sen hatte, um dabei zu sein, wenn Dobson in dem anderen Turm den ›toten‹ Gordon Melford ins Leben zurückrief. So musste es gewesen sein. So und nicht anders. Harry verließ die Höhle, schob das Harmonium vor die gusseiserne Tür und verließ das Geheimzimmer. Auf der Treppe zur Halle stieß er mit dem Mönch zusammen. »Ich muss mit Ihnen sprechen, Mr. Frazer«, sagte Harry. »Worüber?« 99
»Das ist eine lange Geschichte. Gesellen Sie sich später wie zufäl lig zu mir.« »Geht in Ordnung.« * Es gelang Harry, auch Ellinor unauffällig beiseite zu nehmen. Dann löste sich das Problem, wie Harry mit dem Mönch und Ellinor unter sechs Augen reden konnte, insofern von selbst, als Eliza Reed eine Partie Bridge vorschlug und der Inder, Warning und Alice sich dazu bereit fanden. Dobson kiebitzte. Harry achtete darauf, dass Ellinor, der Mönch und er selber den Bridgespielern die Rücken zukehrten, als sie vor dem anderen Kamin sich wie zu einer Plauderei zusammensetzten. »Hören Sie mir jetzt beide gut zu«, begann Harry. Dann sprach er gut zehn Minuten lang - leise, aber eindringlich. Der Mönch sagte sofort: »Ja.« Und Ellinor nickte nach einem winzigen Zögern. »Danke!«, sagte Harry. »Ich danke Ihnen beiden.« Harry erhob sich. Er gesellte sich zu den Bridgespielern, kiebitzte scheinbar eine Weile und ließ hier und da eine Bemerkung fallen. Dann tat er, als ob ihm ein Einfall gekommen sei. »Ich fürchte«, murmelte er wie im Selbstgespräch, »der Singende Tod wird noch einmal zuschlagen. Und zwar...« Harry brach ab und trollte sich. Zunächst im Schlenderschritt. Dann ging er schneller, stürmte förmlich die Treppe empor. Bevor er das Zimmer betrat, in dem Henry Woods lag, warf Harry einen Blick über die Balustrade. Alle Bridgespieler starrten zu ihm empor. Harry trat ein. Woods lag lang ausgestreckt auf dem Bett, er öff nete die Augen. »Was gibt's?« »Einen Moment noch!« 100
Harry wartete solange, bis er sicher war, dass einer der Bridge spieler - wahrscheinlich der Inder - draußen vor der Tür angekommen war. Diesmal sprach Harry nur drei Minuten lang. So laut, dass der Lauscher vor der Tür alles verstehen musste. Harry Melford legte dar, dass nach seiner Überzeugung Roger Fra zer, der Mönch, Ellinor ermorden würde, bevor der Zerstörer ein Boot aussetzen konnte. Und er begründete das mit scheinbar zwingender Logik. »Sie mögen recht haben«, murmelte Woods. »Ich werde...« Harry legte den Zeigefinger gegen die Lippen und deutete mit der anderen Hand zur Tür. Woods begriff und sagte nichts mehr. Harry sagte laut, er werde jetzt den Schlüssel zum Safe suchen. Dann ließ er eine Minute verstreichen, bevor er zur Tür ging. Drunten hatten sie das Spiel wieder aufgenommen. Harry tat, als ob er etwas vergessen habe und betrat das Zimmer wieder. Das, was er Woods nun zuraunte, unterschied sich in einigen wesentlichen Punkten von dem, was er vorher gesagt hatte. Harry fand Gordon Melfords Schlüsselbund in der Tasche von des sen Hausmantel. Der Safe befand sich im Wohnzimmer Gordon Melfords, das ehe dem das Wohnzimmer Robert Melfords, des Bauherrn des merkwürdi gen Hauses gewesen war. In dem Safe lagen ein paar hundert Pfund in Banknoten und eine Liste der Bankkonten und Bankdepots Gordon Melfords: ein Verzeich nis alles dessen, was er geerbt hatte. Ein sehr großes Vermögen für die Nacherben. Auch nach Abzug der Erbschaftssteuer. In einem Briefumschlag steckten sowohl Gordon Melfords als auch Sarah Prices Testament, datiert vom 15. Oktober - also wenig mehr als drei Wochen alt. Beide Testamente waren kurz gefasst. Früher gemachte Testamente wurden für ungültig erklärt. Allein erbin war Ellinor Parker, Medizinstudentin in London, wohnhaft dort, 101
Rossel Square Nr. 12. Als Zeugen hatte jeweils der andere gegenge zeichnet und ein Mann namens Iwan Iwanowitsch Glubow, britischer Staatsbürger, Pass Nr. Soundso, Bootsverleiher und Fremdenführer in London. Kein Zweifel: Dieser Mann, offenbar ein eingebürgerter russischer Emigrant, war ›Kalmückengesicht‹. Harry nahm beide Testamente an sich. Er zeigte sie nur Woods. Niemanden sonst. * Der Rest des Tages verlief ohne besondere Ereignisse. Das Dinner wurde gegen zwanzig Uhr eingenommen. Die See war noch immer zu grob dafür ein Boot auszusetzen. Alle zogen sich sofort nach dem Dinner zurück. Auch Harry selber. Dobson hatte eines der Zimmer entlang der Galerie bezogen. Harry ließ nur eine knappe halbe Stunde verstreichen. Dann schlich er sich, ohne Licht einzuschalten, aus dem Haus. Was sich dann abspielte, war abgesprochen. Der Mönch ›drang in Ellinors Zimmer ein‹. Den Theaterdolch in der Faust, den Harry ihm heimlich zugesteckt hatte. Der Mönch ›zwang‹ Ellinor, vor ihm herzugehen. Im Nachthemd, über das sie nur ihren Mantel geworfen hatte, lose über die Schultern gehängt. Ellinor und der Mönch überquerten das Eiland. Erst als sie die Höhe des ›Walrückens‹ erreicht hatten, sah Harry eine dunkle Gestalt, die das Haus nicht durch die Tür verlassen hatte. Sie, die Gestalt, musste aus einem Fenster gesprungen sein. Harry pirschte hinterdrein. Hatte auch der Mönch die dunkle Gestalt bemerkt? Offenbar ja. Denn er spielte die ihm zugedachte Rolle zu Ende. Er und Ellinor waren mittlerweile bei den Grabkreuzen angekom men. Der Mönch erhob die Faust mit dem Dolch. Ellinor ließ den Man tel los, den der Sturm sofort erfasste und davontrug. 102
Der Verfolger - jene dunkle Gestalt - blieb mit einem Ruck stehen und schrie mit heiserer Stimme: »Halt!« Im selben Augenblick verwandelte er sich optisch in den Singenden Tod. Harry hatte die entsicherte Pistole in der Rechten. Er feuerte einen Schuss in die Luft ab. »Geben Sie auf, Woods! Ihr Spiel ist aus!« Der Singende Tod hob langsam die Hände. Zwei Gegenstände fie len zu Boden. Eine Stablampe und eine Pistole. Woods steckte in einem dunklen Trikot, das den ganzen Körper verhüllte. Auch den Kopf. Nur Augenlöcher waren ausgespart. Harry hob die Lampe auf, die kein Licht ausstrahlte. Kein sichtba res Licht. Als Harry den Scheinwerfer auf Woods richtete, wurde ein Skelett sichtbar, das mit einer Chemikalie auf das Trikot gemalt wor den war, die nur aufleuchtete, wenn ultraviolettes Licht auf sie fiel. Licht, das für menschliche Augen unsichtbar war. Selbstverständ lich hatte Henry Woods den Mönch töten wollen, um zu verhindern, dass er Ellinor umbrachte. »Seit wann sind Sie nicht mehr Scotland-Yard-Detektiv?«, fragte Harry. »Seit knapp zwei Jahren.« Stimmen wurden hörbar. Die Stimmen mehrerer Männer. Dann waren sie da: Ein Leutnant zur See und vier Matrosen. Der Schuss musste auf dem Zerstörer gehört worden sein. Sie hatten ein Boot zu Wasser gebracht trotz der noch immer sehr groben See. * Es war zwei Wochen später, als der Untersuchungshäftling Henry Woods Harry Melford ausrichten ließ, er würde Harry gern sprechen. Der zuständige Untersuchungsrichter bewilligte Harry einen Be such in der Zelle. 103
Henry Woods sah durchaus gut aus, war ausgesprochen guter Laune. »Setzen Sie sich, Doktor! Mich interessiert brennend: Was habe ich falsch gemacht - wann und wie sind Sie mir auf die Schliche ge kommen?« »Genau weiß ich das selber nicht«, bekannte Harry offen. »End gültig begriffen habe ich es, als Sie mir die Symptome einer schweren Gehirnerschütterung vorspielten, obwohl sie nur eine bedeutungslose Platzwunde hatten.« Dann begann Harry, den Fall Selkirk-Eiland zu rekonstruieren, so wie dieser Fall sich ihm dargestellt hatte und noch immer darstellte. Harry Melford legte sich selber Rechenschaft ab. »Da war also Gordon Melford, der das Eiland und eine Menge an Geld und Geldeswert erbte und der nicht mehr lange zu leben hatte. Er beschloss, sozusagen mit einem Donnerschlag abzutreten und seinen Kollegen und Rivalen das Gruseln zu lehren. Wie man verblüffende Zaubertricks - auch andere Magier verblüffende - in Szene setzt - das verstand er aus dem Effeff. Er brauchte Assistenten, kaufte Dobson ein und den Exilrussen, der, wie wir inzwischen wissen, früher Seemann war. Auf russischen Schiffen. Und im Nebenberuf Agent des Secret Service - des britischen Geheimdienstes. Ursprünglich hatte Gordon Melford die Absicht, sein Vermögen tatsächlich den Kollegen und Rivalen zu hinterlassen. Einen Teil auch mir als seinem einzigen Verwandten. Eliza Reed sollte einen größeren Anteil als wir anderen bekommen, denn sie war eingeweiht, spielte mit. Da fand die Detektei Texter & Chambers Ellinor Parker und Sie wegen Veruntreuung von Fiskusgeldern und anderer Delikte aus dem Staatsdienst entlassen - kamen irgendwie dahinter. Es ging Ihnen dre ckig - in jeder Beziehung. Sie machten sich an Ellinor heran und hatten das Glück, dass Ellinor sich auf den ersten Blick heillos in sie verliebte. Sie heirateten Ellinor, die Alleinerbin. Auf irgendeine Weise erfuhren Sie, was Gordon Melford auf dem Eiland für eine Schau abziehen wollte. Ich nehme an, Sie haben Ge spräche zwischen Gordon Melford und Dr. Dobson belauscht.« »Stimmt«, warf Woods trocken ein. 104
»Sie beschlossen, den Singenden Tod zu spielen. Sie müssen einoder zweimal heimlich auf dem Eiland gewesen sein, um entsprechen de Vorbereitungen zu treffen. Dazu gehörte die Installation des Bandgerätes in der Höhle, die Sie fanden. Mit dem Effekt des Hundegekläffs. Ihr Plan war im Grunde simpel: Sie würden auf das Eiland kommen und sich ahnungslos stel len. Sie hatten Ellinor Parker geheiratet und erst auf dem Standesamt erfahren, dass sie die leibliche Tochter Gordon Melfords war. Nun also kamen Sie auf die Insel, um Ellinors leiblichen Vater kennen zu lernen. Auf Sie zuallerletzt würde der Verdacht fallen, der Singende Tod zu sein. Denn Sie hatten nie etwas mit Geistern und Okkultismus zu tun gehabt. Was Sie nicht wussten, war, dass auch ich auf das Eiland ge beten worden war. Beweis: Sie fragten mich auf dem Fährschiff, was ich denn in die ser gottverlassenen Gegend zu suchen habe. Sie hatten das kaum ausgesprochen, als Sie auch schon schalteten. Mein Name ist Melford! Den Rest reimten Sie sich zusammen. Hätten Sie gewusst, dass Ihre Frau laut dem letzten und damit gültigen Testament Gordon Melfords die Alleinerbin war, hätten Sie nichts mehr getan. Aber das wussten Sie nun einmal nicht. Uneheliche Kinder sind nicht erbberechtigt. Sie nahmen an, dass Ellinor nur einen Bruchteil erben würde. Sie wollten aber alles - zumindest fast alles. Sie hätten alle Miterben getötet. Bis auf einen, dem Sie die Morde in die Schuhe schieben wollten. Ich passte gar nicht in Ihre Rechnung. Aber Sie hätten es trotzdem gewagt. Sie segelten mit Ellinor auf die Insel und hatten dort Pech. Sie liefen unmittelbar nach der Landung Kalmückengesicht in die Arme, der mit der Motorjacht nicht nach Westray zurückgekehrt war, sondern nur so getan hatte. Die Motorjacht lag in der Höhle, damit Gordon Mel ford jederzeit den ›jux‹, die ›Schauertragödie‹ abbrechen und uns, seine Gäste, jederzeit loswerden konnte. Aber Kalmückengesicht nahm Sie in Empfang. Es kam zu einem Kampf und sie töteten ihn. Die Leiche ist inzwischen gefunden worden. Sie haben sie dort verscharrt, wo es Erdboden auf der Insel gibt: bei den Grabkreuzen, die Gordon Melford hatte errichten lassen, um den Gruseleffekt perfekt zu machen.« 105
Hier nickte Woods. »Was jetzt?«, fuhr Harry fort. »Ellinor war derart seekrank, dass sie von dem Kampf kaum etwas mitbekommen hatte. Sie mussten sie in dem Glauben lassen, dass Kalmückengesicht Sie getötet hatte nicht umgekehrt. Sie gaben ihr irgendein Narkotikum ein, das Sie vorsorglich bei sich hatten. Für Eventualfälle. Was während der Nacht in dem Haus sich abspielte, haben Sie beobachtet und belauscht. Sie erschienen Gordon Melford als der Singende Tod und er starb vor Schreck an Herzschlag. Die Puppe - die nur für den Gruseleffekt bestimmt war warfen Sie aus dem Fenster und legten den Toten auf die Couch. Vor her, während Sarah Melford in dem anderen Turm war, brachten sie die fest schlafende, fast bewusstlose Ellinor in den Turm. Dann beging Sarah Price Selbstmord. Alles war anders verlaufen, als Sie es geplant hatten. Von da an agierten Sie nicht mehr, sie reagierten nur noch. Hielten den Plan als Ganzes aber noch immer für durchführbar. Sie zeigten sich allen als Singender Tod - auf der Galerie. Genau da aber hörten Sie die Sirene des Zerstörers. Jetzt erst gaben Sie den Plan auf. Und nun handelten sie blitzschnell. Das Trikot mit dem Skelett versteckten Sie unter der Matratze wo die Laute, weiß ich nicht. Verborgen hatten Sie selber sich die gan ze Zeit in der Höhle. Das Zimmer droben hatten Sie mittels der Leiter von außen durch das Fenster betreten und diese Leiter müssen Sie schon früher auf die Insel gebracht haben. Wie immer: Sie reagierten blitzschnell, warfen Ihren Hut, Ihre Schuhe aus dem Fenster, weil beides vom Regen nass war. Ihren Mantel hatten Sie schon vorher in dem Zimmer zurückgelassen - sozusagen bei einer Generalprobe. Der Man tel war trocken, daher ließ ich mich zunächst täuschen. Sie versteckten sich in dem Schrank. Ich muss schon in dem Zimmer gewesen sein, als Sie in dem Schrank, Ihre Füße mit Ihrem Gürtel fesselten, sich selber knebelten und Ihre eigenen Handschellen einschnappen ließen. Sie klopften mit der Stirn von innen gegen die Schranktür. Diese Tür war aber nicht abgeschlossen. Sie hätten sie von innen aufdrücken können, wenn Sie gewollt hätten. Darüber stolperte ich allerdings erst später. Es wäre Ihnen sehr schwer gefallen, glaubwürdig zu begründen, wie 106
Sie in den Schrank gekommen waren. Folglich simulierten Sie eine Gehirnerschütterung mit Gedächtnisverlust. Dass Sie dann Ihr Wasser abschlugen, war ein raffinierter Trick. Musste ich doch daraus folgern, dass Sie viele Stunden in dem Schrank gesessen hatten. Alles das ließ ich mir durch den Kopf gehen. Und irgendwann ging mir dann ein gan zer Kronleuchter auf, nicht nur ein Licht. Sie bestritten, Ellinor geheira tet zu haben. Warum? Die Wahrheit würde herauskommen - unfehl bar. Diese Lüge war also ganz sinnlos - es sei denn, Sie hatten begrif fen, dass ich Sie durchschaut hatte. Zu diesem Zeitpunkt waren Sie entschlossen, mich umzubringen. Und Sie waren dazu entschlossen zu diesem Zeitpunkt unbedingt und um jeden Preis. Auch auf die Ge fahr hin, dass Sie dafür ›lebenslänglich‹ bekommen würden. Ich muss te also dafür Sorge tragen, dass Sie vermeinten, ich sei auf einer total falschen Fährte. Nicht so sehr, weil ich um mein Leben fürchtete. Ich hätte mich meiner Haut schon zu wehren gewusst. Aber bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich keinerlei handfeste Beweise gegen Sie in der Hand. Ich musste Sie provozieren. Sie zu einem Mordversuch vor Augenzeu gen herausfordern. Wenn der Mönch Ellinor tötete, war für Sie alles verloren - die gesamte Erbschaft bis auf den letzten Penny. Nicht ein mal uneheliche Kinder sind nach dem Gesetz automatisch erbberech tigt - der Ehepartner schon gar nicht. In dieser Situation fürchtete ich eigentlich nur, dass Sie nicht naiv genug sein könnten, mir die Ge schichte zu glauben, die ich Ihnen auftischte. Aber Sie waren derart naiv.« Henry Woods legte den Kopf schräg und bog die Mundwinkel ab wärts. »Meinen Sie?«, fragte er ironisch. »Sagen Sie bloß, Sie hätten...« »Ich sage gar nichts. Nur Warten Sie's ab.« * Der Fall Selkirk-Eiland war eine Sensation. Nicht mehr und nicht weni ger. Wochenlang wurde die Sensation vor allem von der Boulevard presse ausgeschlachtet. 107
Sir Howard Spenees, derzeit das As der Asse unter den Strafver teidigern des Vereinigten Königreichs - Honorar: astronomisch - hatte schon vor der Verhandlung publik machen lassen, dass sein Mandant, ein genialer C.I.D.-Detektiv, bereits schizophren gewesen sei, als er wegen Veruntreuung und anderer Delikte seinen Hut hatte nehmen müssen. Der Rest war nicht viel mehr als eine Formsache. Offen blieb nur die Frage, wer Sir Howard bezahlt hatte. Ihn und die drei Psychiater, die dem Angeklagten gutachtlich bescheinigten, dass er unzurechnungsfähig gewesen sei, als er... Harry Melford war klar, dass die Herrschaften zusammengelegt hatten. Um ihr Geschäft nicht zu ruinieren: Jalna, Frazer, Warning, Eliza Reed. Henry Woods wurde als für seine Taten und Untaten nicht ver antwortlich befunden und freigesprochen. Das Gericht verfügte, dass er in einer Nervenheilanstalt in Verwah rung genommen werden musste. Seine Ehe mit Ellinor Parker brauchte nicht geschieden zu werden. Sie wurde annulliert. Auch das liegt nun schon über sechs Monate zurück. Seit knapp vier Wochen ist Ellinor Mrs. Melford. Harry ist nicht mehr beim C.I.D. Er betreibt eine Praxis im Londo ner Stadtteil Pimlico. Seine Frau ist sein Juniorpartner, wird aber bald ihm allein die Praxis überlassen müssen - für ein paar Wochen. Weil dann das Baby zur Welt kommen wird. Und nur Tugendwächter werden nachrechnen und zur Kenntnis nehmen, dass es ein Sechsmonatskind sein muss. Es sei denn... Aber was soll das. Ende
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