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Von der Serie MAGIC. Die Zusammenkunft™ erschienen in der Reihe HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY: 1. Band: William R. Forstchen, Die Arena • 06/6601 2. Band: Clayton Emery, Flüsterwald • 06/6602 3. Band: Clayton Emery, Zerschlagene Ketten • 06/6603 4. Band: Clayton Emery, Die letzte Opferung • 06/6604 5. Band: Teri McLaren, Das verwunschene Land • 06/6605 6. Band: Kathy Ice (Hrsg.), Der Gobelin • 06/6606 7. Band: Mark Summer, Der verschwenderische Magier • 06/6607 8. Band: Hanovi Braddock, Die Asche der Sonne • 06/6608 9. Band: Teri McLaren, Das Lied der Zeit • 06/6609 10. Band: Sonia Orin Lyris, Der schlummernde Friede • 06/6610 11. Band: Kathy Ice (Hrsg.), Ferne Welten • 06/6611 (in Vorb.)
SONIA ORIN LYRIS
Der schlummernde Friede ZEHNTER BAND Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/6610
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http: //www.heyne.de Titel der Originalausgabe MAGIC THE GATHERING™ AND PEACE SCHALL SLEEP Übersetzung aus dem Amerikanischen von Birgit Oberg Das Umschlagbild malte Steve Crisp
Umwelthinweis:
Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt.
Redaktion: Daniela Franke Copyright © 1996 by Wizards of the Coast, Inc. Erstausgabe bei HarperPaperbacks. A Division of HarperCollinsPublishers, New York Copyright © 1997 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1997 Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Technische Betreuung: M. Spinola Satz'. Schaber Satz- und Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Presse-Druck, Augsburg ISBN 3-453-12695-5
Für Devin - alles Liebe. *schlurp*
DANKSAGUNG
Ich weiß, daß einige Autoren ganz allein schreiben. Ich nicht. Ich wühle mich durch die Gedanken der Menschen, die ich kenne, und suche nach Ideen und verzwickten Einfällen, aus denen ich Geschichten machen kann. Dann überrede ich viele dieser unglücklichen Leute, meine ersten Manuskriptentwürfe zu lesen. Um diesen guten Seelen meine Dankbarkeit zu beweisen, benenne ich die Charaktere in meinen Erzählungen nach ihnen (oder verspreche, es nicht zu tun), überhäufe sie mit Lob und höre mir manchmal sogar ihre Kommentare an. Jetzt möchte ich ganz kurz ein paar Menschen danken, die mich bei diesem Buch mit Zeit, Wissen und Zuspruch unterstützten. Herzlichen Dank meinen ersten Lesern: Liesl, Elizabeth Lawhead Bourne, Martitia M. Dell, John E. Johnston III und Glen A. Slate. (Ein Kopfnicken gebührt Shannon Slate, die Schuld daran ist, daß ich MAGIC überhaupt verfiel. Oh, ich stehe tief in deiner Schuld.) Ein ganz besonderes Dankeschön geht an David Kell Fox, nach dem ich Reod Dai benannte, der mir mit Ausdauer und Optimismus zur Seite stand, die Einzelheiten und das Kernstück der Geschichte zu erarbeiten - nicht nur einmal, sondern immer, immer wieder. Worte reichen nicht aus, um meinem Freund und Partner Devin Ben-Hur zu danken, der von Anfang an - seit vielen Jahren - an mich glaubte und besser als ich wußte, wie gut ich schreibe und mir be-
hilflich war, den Mut zu finden, der sich zwischen den Ersatzbatterien und den wissenschaftlichen Experimenten im Kühlschrank verkrochen hatte. Ich verdanke ihm jedes Wort, das je von mir gedruckt wurde. Sonia Orin Lyris Februar 1996
P ROLOG
Immer wieder wird die Eiszeit als Grund für den Fall des sarpadischen Reiches angegeben. Obwohl das kälter werdende Klima mit ein Grund für den Kampf um die Bodenschätze war, der schließlich zu den großen Kriegen führte, werden andere wichtige Einzelheiten, meistens übersehen. Tausende von Jahren, geprägt von Spannungen zwischen den verschiedenen Rassen, erzeugten Mißtrauen, und Mißverständnisse wurden zu Streitigkeiten aufgebauscht, die wiederum zu Kriegen führten. Berichte aus jenen Jahren zeigen, daß selbst in der kältesten Zeit genügend Nahrung vorhanden war, um alle Kinder Sarpadias zu ernähren, wenn die einzelnen Reiche zusammengearbeitet hätten, was sie natürlich nicht taten. Während sich die Obersten Gerichtshöfe des Landes an die traditionellen Fehden hielten, hallten die Kriegsrufe und Schreie der Hungernden vom Meer bis in die Berge und trugen eine schreckliche Kunde durch das Land. Trotz blumiger Worte der Könige und Räte, die bis zum bitteren Ende an ihrer Politik festhielten, stand es außer Frage, daß jede Rasse ihren Besitz fest umklammerte, als der Frost und die Hungersnöte hereinbrachen. Und alle waren sicher, daß die anderen mehr besaßen als sie selbst. Einzelne Kreaturen zählten in jener Zeit nicht viel, da sie der Rasse nur als ein weiteres Paar Hände oder Füße dienten und später dann als hungriges Maul galten, das gestopft werden mußte. Wenn solcher Mangel, solches Mißtrauen und solche Not herrschen, kann das nur ein Ende bedeuten: 9
Die großen Kriege begannen, und die großen Reiche zerfielen. - Sarpadische Reiche, Folge I, Einleitung -
Man darf nicht erwarten, daß jene, die in den letzten Jahren Sarpadias lebten, ihre Epoche so gut verstanden, wie wir es heute können. Denn wir haben die Pläne der Kriegsherren und die Tagebücher der Könige gelesen. Aber ich möchte euch, die ihr jene Zeit studiert, warnen, euch nicht von einzelnen Individuen ablenken zu lassen. Sie erscheinen uns sehr romantisch, die Helden und Schurken, die in den letzten Tagen des sarpadischen Reiches lebten, aber sie waren nichts als Schauspieler in einem Drama, aus dem es kein Entrinnen gab. Seht genau hin, und ich bin davon überzeugt, daß ihr zu dem Schluß kommt, daß eine einzelne Person niemals großen Einfluß auf die Schwankungen eines Reiches hat. Auch in den Fällen, wo anscheinend ein Mann oder eine Frau für gewisse Geschehnisse entscheidend war, müßt ihr nachforschen. Dann werdet ihr entdecken, daß es andere gab, die ohne Umschweife die gleiche Rolle hätten spielen können. In der Geschichte gibt es keine wahren Helden und keine wahren Schurken. Geschichte reißt die Leute mit - und nicht umgekehrt. - Lady Ornder, Einleitung zu den Briefen: Die Geschichte Sarpadias -
Ihr habt die Kommandeure in Kenntnis zu setzen, daß er des Hochverrates beschuldigt und inhaftiert wird, wenn man ihn findet. Erinnert sie daran, welche Verluste uns sein Verrat zufügte. Ich gestatte ihnen, ihn auf der Stelle hinzurichten, damit er nicht noch einmal flieht. 10
Niemand darf von ihm sprechen. Sorgt dafür, daß sein Vater und seine Mutter sich so verhalten, als wäre er nie geboren worden. Löscht seinen Namen aus allen Berichten. Geht gründlich vor. Ich will nicht, daß man sich seiner erinnert. - Auszüge eines Briefes, der unter den Trümmern von Trokair gefunden wurde. Mit >HJ< unterschrieben. Entspricht der Handschrift König Heinrich Josephs I. Nagelt das Rotkehlchen hoch oben fest, damit es keine Lügen mehr erklingen läßt. Haltet den Verräter von uns fern. Bleib weg! Hier sieht man dich nicht gern! Preist den König, preist die Armee. Der Verräter singt nicht länger - juchhe! (im Flüsterton:) Robin, bring uns Fleisch und Brot und halte fern die Dämonen und den Tod Robin, flieg in die Nacht hinaus aber komm wieder zurück nach Haus! Robin, wir verraten dich nicht Der König ist tot, alle anderen werden gericht'. - Kinderreim aus Icatia -
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»Ich handle lieber mit Elfen als mit Schweinen, aber eigentlich besteht da nicht viel Unterschied.« – Kaufmann aus Icatia
Es war einen Monat hin bis zum Winteranfang, und Reod Dai war es leid, immerfort zu frieren. Selbst in den dicken Stiefeln schmerzten ihm die Zehen. Irgend jemand sollte den Purpurgipfeln mitteilen, daß der Winter nur eine von vier Jahreszeiten war. Hin und wieder drang schwaches Sonnenlicht durch die Lücken zwischen den dichten Wolken, aber es reichte nicht aus, um dem eisigen Wind, der Schneeflocken um die reetgedeckten Häuser tanzen ließ, ein wenig von seiner Schärfe zu nehmen. Eishaufen und gefrorener Schnee rahmten die Straßen des Dorfes ein, und die hohen Fichten glitzerten unter der kalten Pracht. Reod Dai zog einen Zipfel seines schweren Wollumhangs höher und wickelte ihn fest um die Schultern, um besser eingehüllt zu sein, Dann wischte er sich mit den behandschuhten Fingern frisch gefallene Schneeflocken aus dem Bart. Mitten auf dem gepflasterten Platz blieb er stehen und ließ sich von der Wärme anlocken, die das glühende Kohlenbecken versprach, um das sich ein paar Zwerge scharten. Nach vier Tagesreisen auf schneebedeckten Straßen konnte seine Verabredung ruhig noch ein paar Minuten warten. Die Zwerge sprachen den ausgeprägten Dialekt des Gebirges und unterhielten sich über das Holzfällen, die Lagerung des Korns und darüber, wer 12
wem im nächsten Frühling wohl versprochen werden würde. Kein Wort über den außergewöhnlich kalten Herbst. Also begnügte sich Reod mit dem Trost, den rotgefrorene Zwergennasen bieten. Im letzten Jahr hatte man in einem anderen Dorf über seine Handschuhe gelacht, aber inzwischen gab es sie überall, und die Kinder trugen Kapuzen und Schals. Auch wenn diese dickschädeligen Bergbewohner die Kälte nicht erwähnten, so fühlten sie sie doch. Er atmete aus, und der Atem stand weiß in der Morgenluft. Ein Zwerg rückte ein wenig beiseite, um ihn besser anschauen zu können, und nun starrten ihn auch die anderen an. »Was macht das denn hier?« fragte einer den anderen und dachte, er könne sie nicht verstehen. »Tja, ein Mensch hier oben, im Winter? Muß sich verirrt haben.« »Es muß frieren. Arme dürre Menschen.« Um nicht aufzufallen, hatte er sich in grobe Gewänder gehüllt und sah wie ein armer Händler aus. Jetzt lächelte er sie zaghaft an, als teile er ihr Vergnügen über seine Armseligkeit. Sie schwiegen, da sie unsicher waren, ob er etwas mitbekommen hatte. Die Wärme des flackernden Feuers strich ihm über das Gesicht. Noch einmal sog er die warme, rauchige Luft ein und setzte dann den Weg durch das Dorf fort. Trotz der rauhen Gegend, wo der Winter mehr als die Hälfte des Jahres anhielt, würde Reod hier oben in den einsamen Dörfern der Purpurgipfel auf mehr Gastfreundschaft stoßen als in den menschlichen Siedlungen im milderen Norden. In Wahrheit handelte es sich bei dieser Gebirgsregion um eine Zufluchtsstätte. Er bezweifelte, daß die Zwerge wußten, wie glücklich sie sich schätzen durften, an einem Ort zu leben, der so weit von 13
den wärmeren Landstrichen entfernt lag, in denen Zwietracht herrschte. Kinder und Erwachsene starrten ihn unverhohlen an, als er an ihnen vorüberschritt. Das lag nicht nur daran, daß er ein Mensch war und an seiner Größe - sie reichten ihm nur bis an die Brust - oder an der schlanken Gestalt und den nachtschwarzen Haaren, die in diesem Meer aus strohfarbenen Mähnen ausgesprochen seltsam wirkten. In dieser Jahreszeit sah man kaum Menschen hier oben, aber in jedem Frühling reisten Kaufleute in die Berge südlich der Grenze Icatias, um Handel zu treiben. Nein, sie alle hatten schon einmal Menschen gesehen. Daran lag es also nicht. Es lag an Reods blauen Augen, die selbst unter den Angehörigen seiner eigenen Rasse auffielen. »Wie Rotkehlcheneier«, flüsterte ein Junge seiner Mutter zu, als sie an ihm vorübergingen. Beide blickten sich nach ihm um. Wie Rotkehlcheneier. Er konnte das Haar unter einer Kapuze verbergen, sich die Haut färben oder seinen Dialekt verändern, aber die Augen blieben immer blau. Reod stieß die Tür des Gasthauses >Zum tapferen Kaninchen auf und schloß sie schnell hinter sich. Der alte Zwerg hatte immer einen Eintopf über dem Feuer brodeln. Mal handelte es sich um Kaninchenfleisch, mal war es ratsam, nicht nachzufragen. »Das Kaninchen, das zuerst in den Topf springt, ist das tapfere«, sagte der alte Zwerg, nachdem er Reod begrüßt hatte. »Möchtest du was essen?« Mißtrauisch beäugte Reod den Napf, in dem Fleischstücke und Gemüse schwammen. »Gerne. Vielen Dank.« Am anderen Ende des Raumes saß die Frau, die er hier treffen wollte. Wenn sein Aussehen schon einen Lichtblick an diesem grauen Tag im Dorf der Zwerge bedeutete, so mußte 14
ihres wie der hellste Mond in einer wolkenlosen Nacht wirken. »Kalt genug, Kistefar?« fragte er auf elfisch und setzte sich mit seinem Napf ihr gegenüber. Sie sah ihn aus Augen an, die so hellgrün waren wie die nördlichsten Meere. »Ja. Kalt.« Der Zufluchtwald lag noch viel, viel weiter nördlich als Icatia. Sie war an ein wärmeres Klima gewöhnt und mußte sich in dieser Kälte ebenso unbehaglich fühlen wie er. Bestimmt noch schlimmer, da sie so dünn wie alle Elfen war. Der alte Zwerg brachte ihm heißen Wein, und hastig leerte Reod den Becher und die Schale mit dem Eintopf. Die Kälte machte ihn hungrig, fortwährend hungrig. Kistefar betrachtete ihn mit ausdruckslosem Gesicht. Als er schließlich fertig war und sich zurücklehnte, beugte sie sich vor und zog eine Kette unter den Gewändern hervor, von der er wußte, daß sie sie immer um den Hals trug, wenn sie im Auftrag der alten Druiden reiste. Helles, grünes Licht blitzte kurz auf und wurde gleich wieder unter dem Hemd verborgen. Er zuckte die Schultern und bemühte sich, sein Unbehagen zu verbergen. »Warum sollte ich an dir zweifeln?« Sie hatte ihr Erkennungszeichen nicht mehr benutzt, seitdem sie sich vor vielen Jahren zum ersten Mal unterhalten hatten. Er wußte, daß sie die Interessen der alten Druiden vertrat. Es war völlig unnötig, das noch einmal zu beweisen. »Dein Vertrag wird gelöst«, verkündete sie. »Was?« »Man hat mir aufgetragen dir mitzuteilen, daß du alles, was du in unserem Auftrag unternimmst, sofort beenden mußt.« »Der Vertrag wahrt noch ein Jahr, Kistefar. Dreimal im Jahr erhalte ich eine Bezahlung, zum Beispiel heute.« 15
»Keine Bezahlung, Reod.« »Aber wir haben eine Abmachung, einen Vertrag ...« »Keine Bezahlung.« »Kistefar, hör zu: Ich kann jetzt nicht aufhören. Ohne Geld wird diese Angelegenheit wie ein Stück Glas zerbrechen, und überall liegen scharfe Splitter herum.« »Ich bin nicht hier, um zu verhandeln. Ich bin nur die Botin.« »Ich kann das nicht einfach hinnehmen.« Mit den Fingern tippte sie sich auf die Brust, wo der Stein unter dem Gewand verborgen war. Eine Mahnung. Sie sprach für die Ältesten, aber inwieweit waren sie von ihr abhängig? Wahrscheinlich gar nicht, vermutete er. »Ich zweifele nicht an deinen Worten, Kistefar. Warum ist es der Wunsch der Ältesten?« »Das weiß ich nicht.« »Was haben sie gesagt?« »Der Mensch Reod Dai muß alle Unternehmungen sofort beenden. Sage ihm, der Vertrag ist nicht länger gültig. Von diesem Augenblick an erhält er kein Geld mehr von uns.« In Gedanken sah Reod die Pfade des Bündnisses vor sich, die er während der vergangenen Jahre sorgfältig angelegt und gepflegt hatte, wie die Reben eines Weinberges. Ohne seine fortwährende Aufmerksamkeit würden einige der Reben verdorren und absterben. Andere würden wachsen und sich ungehindert ausbreiten, bis es zu spät war. Er beugte sich vor, sah ihr in die Augen und senkte die Stimme. »Weißt du, was ich in den letzten Jahren für deine Ältesten gewagt habe? Weißt du, wie oft ich das Land der Goblins und der Orks betrat, in ihre Höhlen schlich, um mit ihnen zu verhandeln und nie wußte, ob ich das Tageslicht wieder erblicken würde? Ich habe gefährliche Grenzen überschritten. Ich gab Versprechen. Weißt du, was geschehen wird, wenn diese Versprechungen nicht eingehalten werden?« 16
»Das ist nicht mein Problem.« Als sich Reod vor Wochen mit Tirraturranum getroffen hatte, mußte er sich sehr anstrengen, um den Goblinkönig davon abzuhalten, die neuen Waffen sofort auszuprobieren. Da die Herrscher des Goblinthrones einander schnell und auf gewalttätige Weise ablösten, war der König begierig, die neue Macht anzuwenden, so lange er es noch konnte. Das wiederum beunruhigte die Orks. Normalerweise waren sie verfeindet, aber inzwischen waren die Herrscher beider Rassen bereit, sich von Reod zu einem Bündnis überreden zu lassen - jedenfalls für kurze Zeit da ihnen dieser Gedanke noch nie von allein gekommen war. Die ganze Sache war äußerst schwierig. Die Druiden hätten sich keinen ungünstigeren Zeitpunkt aussuchen können. »Drei Monate«, sagte er. »Gib mir drei Monate. Nur noch eine Zahlung. Ich will tun, was ich kann, um den Schaden möglichst gering zu halten und einen Abschluß suchen.« »Nein.« Sie erhob sich, um die Schenke zu verlassen. Er versuchte, seine Enttäuschung zu verbergen und ihr gegenüber Ruhe und Gelassenheit an den Tag zu legen. Mit nach oben gedrehten Innenseiten legte er die Hände ausgestreckt auf den Tisch. Die Geste war bei jeder Rasse gleich und bedeutete Frieden, konnte aber auch heißen, daß man eine Gefälligkeit erbat. Sie war so ungewöhnlich für ihn, daß sie zögernd stehenblieb. Er nahm seine >Geschichtenerzähler<-Stimme an, mit der er schon die Aufmerksamkeit Hunderter, ja, Tausender gefesselt hatte. Sie setzte sich. »Stell dir vor, du hast dir einen kleinen Bären ins Haus geholt. Nicht bloß in dein Haus, Kistefar, sondern stell dir vor, er schläft am Fußende deines Bettes. Du fütterst ihn täglich, und er wächst jeden Tag ein wenig. Dann ist er irgendwann groß, sehr groß. Und dann hörst du aus irgendeinem Grund plötzlich auf, ihn zu füttern.« Er sah 17
ihr lange fest in die Augen. »Laß mich wenigstens eine Kette um den Hals des Untiers schlingen.« »Das kann ich nicht entscheiden.« »Dir schenken sie Gehör, Kistefar. Du mußt mir helfen.« »Ich diene den Ältesten. Ich glaube an ihre Weisheit.« »Wegen dieser Weisheit wird sehr viel Blut fließen.« »Haben deine Leute nicht auch schon viel Blut vergossen?« »Das haben wir. Ganz sicher. Aber diesmal wird es schlimmer sein.« »In der Tat? Reod Dai, ich frage dich: Gibt es ein Volk, das mehr Blut vergossen hat als das deine? Deine Leute sind sehr großzügig mit Taten und Worten, aber wir anderen möchten unser eigenes Leben führen und in unserer Sprache reden. Man sagt, die Menschen sind erst still und bewegen sich nicht mehr, wenn sie tot sind.« »Das habe ich auch gehört und viele andere, noch unfreundlichere Redensarten. Aber wir sprechen nicht über Menschen. Wir reden von Orks und Goblins, mit denen man noch weniger vernünftig sprechen kann und die jetzt in der Lage sind, großen Schaden anzurichten, wenn man sie nicht sorgfältig im Griff behält. Das hätten meine Berichte deutlich machen müssen. Haben deine Ältesten sie bekommen?« »Natürlich.« »Diese Kreaturen werden bald mehr als nur ein Ärgernis sein. Wollen die Ältesten, daß sie so mächtig bleiben? Sicherlich nicht, Kistefar. Sie müssen mich dafür sorgen lassen, daß diese Wesen keinen großen Schaden anrichten.« »Nein.« Er schloß die Augen. Die Stärke der Goblinhorden und Orkbanden war gering im Vergleich dazu, was in einem Monat oder mehr geschehen würde, wenn das Bündnis ohne seine Vermittlung hielt. »Es wird Wochen dauern, bis ich im Zufluchtwald 18
ankomme. Muß ich wirklich selbst dorthin reisen, um mit ihnen zu reden? Selbst in dieser kurzen Zeit werden die Goblins und die Orks eigenmächtig handeln. Aber die Ältesten müssen erkennen, wie unsinnig ihre Entscheidung ist.« »Du bist im Zufluchtwald nicht willkommen.« »Aha. Ich verstehe.« »Alle Vereinbarungen des Vertrages sind ab sofort ungültig. Du bekommst keine Bezahlung...« »Du wiederholst dich!« sagte er böse, da seine Geduld zu Ende ging. »Die Druiden möchten, daß ich betone ...« Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Es wäre sehr ungünstig für dich, wenn du mit Außenstehenden über den Vertrag sprichst.« »Ich verstehe.« Hastig und mit steifen Bewegungen erhob sie sich. »Ich bin nur die Botin, Reod.« Er stand auf. »Jene, die durch die Hände der Goblins und Orks sterben, werden nicht danach fragen, wer du bist.« »Ich bin nicht für die Taten von Goblins und Orks verantwortlich.« »Deine Druiden haben ein Monstrum geschaffen, das sie nicht beherrschen können. Wer sonst ist schuld?« »Manche werden behaupten, daß du dieses Monstrum geschaffen hast.« »Auf wessen Anweisung hin? Sage deinen Ältesten, daß sie einen schrecklichen Fehler begehen.« »Ich werde deine Worte weitergeben.« »Sage ihnen, daß ich nicht erfreut bin.« »Ich glaube kaum, daß sie etwas anderes vermuten.« »Mach ihnen klar, daß ich diese Sache nicht so bald vergessen werde.« »Niemand wird sie vergessen, Reod Dai. Denk daran, ehe du mit anderen sprichst, und hüte deine Zunge.« Reod bemühte sich, weiterhin gelassen auszusehen 19
und verneigte sich steif vor ihr. Sie erwiderte die Verbeugung. »Gute Reise, Kistefar.« »Das wünsche ich dir auch, Reod Dai.« Sie schulterte ihr Bündel und verließ das Gasthaus. »Die Ehre der Elfen«, murmelte Reod vor sich, um den Geschmack der Worte zu kosten. Sie schmeckten bitter. Glaubten die Ältesten wirklich, sie könnten den Vertrag lösen und mit Drohungen sein Schweigen kaufen? In den ganzen Jahren, in denen er den Vertrag erfüllte, war er nie so niederträchtig behandelt worden - nicht einmal von den Orks und Goblins, die wenigstens haben begriffen, wie gefährlich es war, wenn man seine Versprechen nicht hielt. Reod konnte diese Verletzung nicht ohne Konsequenzen hinnehmen. Sein ursprünglicher Plan führte ihn aus diesem Dorf zurück zu den Orkgeneralen und dem Goblinkönig, um anschließend die sorgfältige Vorbereitung ihres ersten gemeinsamen Ziels anzugehen. Aber ohne Münzen und Waffen, die er bei dem heutigen Treffen hätte erhalten sollen, würden sie sich nicht beeindrucken lassen. Er konnte nicht mit leeren Händen zu ihnen gehen. Also mußte er seine Pläne ändern. In einem Monat, kurz vor dem Beginn des Winters, würden die mächtigsten Waffen in seinem Arsenal tief in den Purpurgipfeln auf ihn warten. Diese Waffen waren nur dort und nur zu diesem Zeitpunkt erhältlich. Aber ohne das Geld der Elfen konnte er sie nicht kaufen. Doch er würde eine Möglichkeit finden. Also auf nach Süden, und zwar auf geradem Weg. Nach Süden, wo es noch kälter war. Dann winkte er dem alten Zwerg, er solle ihm noch mehr heißen Wein und Eintopf bringen.
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»Verlasse dich nicht auf Menschen. Eine Ziege ist vertrauenswürdiger.« - Zwergisches Sprichwort
Melelki zwang sich zum Aufwachen, blinzelte die Müdigkeit aus den Augen fort und schob sich unter den warmen Decken hervor. Mühselig kam sie auf die Beine, zog sich an und stapfte aus der winzigen Hütte, um die Wintersonne zu genießen. »Tageslicht wünsche ich euch«, begrüßte sie ihre Töchter. »Tageslicht, Mutter!« Tamun hörte sich entschieden zu fröhlich an. Mit einem Korb nasser Wäsche stand sie an der Wäscheleine. Sekena hockte auf den Stufen. Sie stöhnte. Melelki setzte sich neben sie. Ihre Arme und ihr Rücken schmerzten von der harten Arbeit dieser langen Nacht wie mußte sich dann Sekena mit ihren erst fünfzehn Jahren fühlen? Vereiste hohe Felsen und tiefe Schluchten, und das alles bei Lampenlicht. Zum Glück waren sie alle gute Kletterer. Trotz der Gefahr war es besser, den Berg in der Dunkelheit zu erklimmen, als bei Tag einer Gruppe Grubenarbeiter zu begegnen. Die Bergleute würden nicht gutheißen, was die Frauen vom Berg herunterholten. In der Tat, harte Arbeit. Aber jetzt, dachte sie lächelnd, hatten sie sechzehn Eier im Keller. Und das bedeutete Gold. 21
Tamun hängte Kleidungsstücke und Leintücher auf, die so dünn waren, daß das durch die Bäume dringende Sonnenlicht auf die flachen kleinen Steine zu ihren Füßen fiel. Das Leinen wurde auf einen Rahmen gespannt und mit Bildern bestickt, aber dazu waren sie schon lange nicht mehr gekommen, außer im Winter, wenn es zu kalt war, um etwas anderes zu tun. Tamun war schon früh auf den Beinen, obwohl auch sie in der Nacht gearbeitet hatte - anscheinend hatte sie überhaupt nicht geschlafen. Und das, nachdem sie ihren Teil der sechzehn Eier den steilen Berg hinabgeschleppt hatte, von dem hoch oben gelegenen Nest bis hinunter zur Hütte. Und noch immer strotzte sie vor Kraft. Leider gab es dafür nur eine Erklärung. Melelki legte den Arm um ihre jüngste Tochter. »Du warst letzte Nacht sehr stark.« »Danke, Mama.« Sie legte den Kopf gegen den von Sekena, so daß sich die wilden Strähnen ihrer strohblonden Haare vermischten und flüsterte: »Sieh dir Tamun an. Siehst du die Röte? Die Farbe unter ihren Augen? Die roten Ohren? Fällt dir auf, wie wenig Schlaf sie benötigt? Erste Hitze, das ist es.« »Nein«, flüsterte Sekena entsetzt, »sie ist zu jung.« Melelki schnaubte leise. »Pah! Du mußt es gerade wissen, was, Kind? Fünfzehn Jahre und schon eine weise Frau?« Sekena errötete und krauste die Stirn. »Sie ist zu jung«, beharrte sie, und ein furchtsamer Unterton klang in ihrer Stimme mit. »Wenn ihr über mich redet«, rief Tamun von weitem, »dann redet so laut, daß ich euch verstehen kann.« Ihre Mutter seufzte. »Es scheint mir, als gingest du deiner ersten Hitze entgegen.« Tamuns Hände erstarrten. Sie blickte abwesend drein. »Das würde einiges erklären, stimmt's? Aber ich bin doch erst neunzehn.« 22
»Tja, es ist nicht bei allen gleich, meine älteste Blume. Selten kommt es so früh wie bei dir, aber ebenso selten so spät wie bei meiner Schwester Belkena. Erinnert ihr euch an das Jahr des großen Erdbebens, als sie schwanger war? Jetzt hat sie schon drei - zwei davon sind Mädchen - und sie kann gar nicht aufhören, von ihnen zu schwärmen.« »Ich hoffe, daß es bei mir überhaupt nicht geschieht«, murmelte Sekena. Ihre Mutter knuffte sie sanft am Kopf. »Na!« schalt sie. »Was willst du denn dann tun? Belkena welche stehlen? Ich könnte jetzt genausowenig Kinder bekommen, wie dort Steine auf dem Boden liegen. Du mußt es nehmen, wie es kommt, denn mehr als ein paar Jahre lang wirst du keine Hitze haben. Also wünsche dir keine närrischen Dinge.« »Aber ich will keine ...« »Psst!« machte Melelki und legte einen Arm um die breiten Schultern der Tochter. »Du wirst sehen, es macht Spaß. Du bist dann so kräftig wie der stärkste Mann, aber das spielt keine Rolle, weil sie deinem Liebreiz nicht widerstehen können. Sie kommen und bringen dir Geschenke. Juwelen, schön geschmiedete Dinge ...« »Schwerter?« »Vielleicht. Wenn du das möchtest. Und dann...« Sie lächelte ein wenig. »Nun, du wirst ja sehen.« »Ich bin stark genug, um Dracheneier zu tragen, Mama. Ist das denn nicht stark genug?« »Psst!« zischte Melelki noch einmal. »Du darfst nur drinnen darüber sprechen, mein Kind, das habe ich dir doch schon gesagt. Jemand könnte den Pfad heraufkommen. Sogar die Bäume...« »Mama, die ganzen Jahre über haben wir...« »Magie hat Ohren«, beharrte Melelki. »Aber das ist dumm ...« »Ich sagte >Pst<«, wiederholte Melelki, und ihre Stimme wurde so spitz wie die Nadeln, mit denen sie 23
die Bilder auf das feine Leinen stickte. Damit stand sie auf, strich sich die Hosenbeine glatt und ging zu Tamun hinüber, um ihr beim Aufhängen der Wäsche behilflich zu sein. »Wir müssen noch eine Menge Näharbeiten für die feinen Damen aus den großen Häusern erledigen, nicht wahr?« »Ja, Mama«, nickte Tamun eifrig. »Bah«, schnaubte Sekena, breitete mit verächtlicher Geste die Hände aus und ging ins Haus. Tamun räusperte sich und sagte: »Willst du wieder verfärbte Finger haben und blutige Nadelstiche? Ich nicht. Wir könnten sogar mit dem Nähen aufhören, vielleicht sogar in die Stadt zurückkehren - was meinst du, Mama? Es scheint hier in jedem Winter kälter zu werden.« »Ach, das ist nicht so schlimm. Und das Dorf ist ganz in der Nähe.« »Eine ganze Tagesreise entfernt!« »Nun, das ist wahr. Besonders jetzt, da du so weit bist.« Ihre Tochter errötete leicht, runzelte die Stirn und starrte zu Boden. Es wäre schön, wieder mit den anderen zusammenzuleben, mit der Familie, den Freunden. Und nicht mehr einen Tagesmarsch auf sich nehmen zu müssen, um zum Markt zu gelangen. Aber hier oben waren sie unter sich. Außerdem waren sie hier dem Berggipfel viel näher. Waren näher beim Nest. Sie dachte an das Gold, das die Eier einbringen würden. Im letzten und vorletzten Jahr war ihr die Summe gewaltig vorgekommen, aber zum Schluß blieb immer viel weniger übrig, als sie erwartet hatte. Es lag nicht daran, daß sie zu viel ausgaben. Nein, die Preise stiegen dauernd an. In diesem Jahr kosteten alle Waren auf dem Markt ein Vielfaches von dem, was üblich war. Vielleicht arbeiteten sie auch nicht mehr so hart, weil 24
sie wußten, daß die Eier auch im nächsten Winter da sein würden Sie hatten sich daran gewöhnt, an einem sauberen Ort zu leben, ohne Ratten und Wanzen und kriechenden Schleim. Die Tage der Armut schienen weit zurückzuliegen. Damals war der Berg Melelkis einzige Freude gewesen. Nur zum Spaß war sie dort herumgeklettert. Der Fels erschien ihr wie eine Frage, und jedesmal, wenn sie hinaufstieg, fand sie eine andere Antwort. Ein glücklicher Zufall hatte sie eines Tages zum Nest geführt; ein glücklicher Zufall und der seltsame Geruch, der ihre Aufmerksamkeit erregte, führten sie höher und immer höher den Berg hinauf, an Felsnasen und tiefen Spalten vorbei, über spitze Steine hinweg zu einer kleinen Öffnung zwischen zwei eisverkrusteten hohen Gipfeln. Und da sah sie es: Ein Nest mit großen weißen Eiern, die im Sonnenlicht glänzten und über'denen der Hauch der Farben des Regenbogens lag. Sie sahen wie Gänseeier aus, nur viel, viel größer. Jedes einzelne war länger als ihr Unterarm. Dafür gab es nur eine Erklärung. Dracheneier. Einige wären geflüchtet, nicht bloß aus Angst vor den Jungen, sondern vor allem wegen der Eltern. Man sagte, daß die ausgewachsenen Tiere ein ganzes Dorf mit ihrem Feueratem zerstören konnten. Aber wenn sie jetzt fortlief, würde ihr die Neugierde keine Ruhe lassen, und es gab nichts schlimmeres als das. Sie würde nachts nicht schlafen können und sich wünschen, den Fund untersucht zu haben. Sie schritt um die Eier herum, das Herz klopfte rasend schnell, aber sie konnte sich nicht losreißen, bevor sie nicht mit der Hand über die harten Schalen gefahren war. Drachen werden ausschlüpfen, dachte sie. Drachen. Sie hatte schon welche gesehen, aus der Entfernung. Hin und wieder erschien ein Drache während der Ernte25
zeit; flog so hoch am Himmel, daß er wie ein Vogel aussah, nur die Umrisse waren anders. Dann hielten alle mit der Arbeit inne, deuteten hinauf und schrien. Abends erzählten sie dann Geschichten von Drachen, die sich von Jungfrauen ernährten und das Nest mit Neugeborenen auslegten. Melelki grinste. Hier gab es keine Neugeborenen. Vielleicht stimmte das mit den Jungfrauen auch nicht. Ihre Gedanken bewegten sich in eine andere Richtung, während ihr Blick über die glänzenden Eier glitt. Ihre Töchter und sie waren bettelarm. Menschen und Elfen fertigten Juwelen aus den Eierschalen. Und Waffenspitzen. Was wäre wohl ein ganzes Ei wert? Und wer würde es kaufen? Vor einigen Wochen war ein eingebildeter dünner Mensch mit blauen Augen und strähnigen, schwarzen Haaren ins Dorf gekommen, brachte Geld unter die Leute, kaufte Waffen von den besten Waffenschmieden - für menschliche Soldaten, die im Osten gegen aufständische Orks kämpften, wie er behauptete. Melelki war sicher, daß kein Zwerg in Tigaden die geringste Ahnung hatte, wo man Dracheneier verkaufen konnte. Und da die Jungen gefährlich waren, hätte sie mit ihren Fragen nur das ganze Dorf in Aufruhr gebracht. Am darauffolgenden Tag verdrängte sie ihr Mißtrauen gegenüber Menschen und suchte den Mann auf, der in der >Sitzenden Ente< wohnte. Sie gab viel Geld aus, um ihm Unmengen heißen Weines zu kaufen, denn sie hatte gehört, daß die Menschen nichts anderes tranken. Dann fragte sie ihn, was er über Drachen wußte. »Ich empfehle dir, sie zu meiden«, sagte er. »Und was ist, wenn jemand ein paar ...« Sie zuckte die Achseln. »... ein paar Eier findet? Könnte man sie verkaufen? Normalerweise verkaufen wir bloß Stoffbilder, aber wenn...« 26
Sein Blick veränderte sich, wurde durchdringend. Er beugte sich vor und senkte die Stimme. »Nimm dich in acht, wenn du über diese Dinge sprichst. Solche Sachen sind sehr wertvoll, aber auch gefährlich.« »Wegen der Jungen?« »Ja.« Als ihre Älteste noch ein Kind gewesen war, war ein Drachenjunges mit einem gebrochenen Flügel ins Dorf gekommen und hatte versucht, Würste von einem Marketenderwagen zu fressen. Das Kleine hatte ein halbes Dutzend Männer blutüberströmt zurückgelassen, als diese es mit bloßen Händen überwältigen wollten - typisch für Zwergenmänner. Immer übertraf ihr Mut ihre Klugheit. Erst als mit Speeren bewaffnete Frauen auf das kleine Biest einstachen, wurde es getötet. Wer hätte gedacht, daß etwas so Kleines so bösartig sein konnte? An jenem Abend hatte sie sich beim Verzehr des Dracheneintopfes viele Geschichten erzählt. Sie erinnerte sich noch an den eigenartigen Geschmack des Essens. Der Mensch beobachtete sie eingehend. »Ich habe noch nie gehört, daß sie so weit im Norden legen«, meinte er bedächtig. »Sie mögen die Kälte. Aber möglich wäre es natürlich.« Sie warf ihm einen bösen Blick zu. »Das ist es! Aber was ist mit den Eltern?« Er lehnte sich zurück, nahm noch einen Schluck Wein und starrte sie an. »Die Weibchen legen die Eier auf den höchsten Berggipfeln ab. Sie scharren Schnee, Eis und Felsbrocken zusammen, um ein Nest zu bauen, aber damit ist es dann auch genug. Sie sind schlechte Eltern. Zu lüstern, um dazubleiben. Sie legen die Eier und fliegen zurück in die warmen Länder, zu den Männchen. Dann treiben sie es miteinander, bis sie wieder Eier legen müssen.« 27
Sie grinste über seinen rauhen Ton. »Sprechen alle Menschen die Zwergensprache so gut wie du?« »Das bezweifele ich.« »Und die Eltern bewachen die Eier nicht?« »Nicht nötig. Die Schalen sind hart wie Metall, und die Jungen können für sich selbst sorgen.« »Die Jungen - was fressen sie?« »Kinder und Jungfrauen.« Er beobachtete, wie sie entsetzt die Augen aufriß; dann lachte er und erhielt dafür einen bösen Blick. »Wenn es irgendwie möglich ist, nichts, was größer ist als sie selbst, und sie sind so groß wie ein Dorfköter. Sicher, wenn sie Angst haben, greifen sie an, aber sie ziehen kleine Beute vor und fressen eigentlich alles. Gras, Blätter, Tannenzapfen, abgefallene Äste, verrottende Bäume. Abfall. Alles. Genau wie Orks.« »Die Weibchen legen nur einmal im Jahr?« Zwergenfrauen konnten zweimal im Jahr schwanger werden. Er nickte. »Einmal im Jahr, jedes Jahr, aber nur während weniger Jahre, wenn sie die Hitze haben. Genau wie deine Rasse.« Sie dachte über seine Worte nach, dachte noch einmal darüber nach und fand, daß sie ihr nicht gefielen. »Drachen sind Tiere«, sagte sie. »Glaubst du, daß wir auch Tiere sind?« Er war so dünn. Sie hätte ihn mit Leichtigkeit in der Mitte durchbrechen können. Einmal zupacken, drehen und ziehen, und es wäre aus mit ihm. Sein Blick mied den ihren und glitt schnell durch den Schankraum um festzustellen, ob sie belauscht wurden; dann starrte er sie wieder an. »So habe ich es nicht gemeint.« Menschen, dachte sie angewidert. Aber seine Worte hatten sie neugierig gemacht. »Was tun die Eltern, nachdem sie sich gepaart haben?« »Sie verschwinden. Es gibt Legenden, die von alten Drachen erzählen, die über das Brutalter hinaus sind 28
und sehr stark sein sollen. Aber das weiß niemand so genau, denn Drachen sind sehr scheu, und jene, die nachforschen, kehren für gewöhnlich nicht zurück. Die Jungen sind bösartig, wenn sie ausschlüpfen, und sie werden mit jedem Jahr gefährlicher. Man sollte nicht in der Nähe sein, wenn sie aus den Eiern schlüpfen.« Er beugte sich zu ihr vor und flüsterte: »Das solltest du wirklich nicht. Deine ... Bilder interessieren mich. Stickereien. Ich nehme alle, die du kriegen kannst. Wie viele und wann?« Melelki blinzelte verwirrt, ehe sie begriff, daß er die Eier meinte. Sie dachte an das eine Ei, daß sie mitgenommen und im Wald unweit der Hütte versteckt hatte. Beinahe wäre sie auf dem Rückweg vom Nest einer Gruppe Bergleute begegnet, die auf dem Weg zur Grube waren. Sie würden die Eier bei Nacht fortschaffen müssen. In Gedanken wob sie schon die Tragegurte. »Wieviel?« fragte sie. »Zwei Goldstücke pro Ei.« Sie hielt den Atem an. Er sagte es so beiläufig, als habe er täglich derartige Ausgaben. Vierzehn Eier. Das bedeutete viel Gold. Mehr, als ihre Familie in einem Jahr erarbeiten konnte. Sie verabredete einen Treffpunkt mit dem Menschen, wo sie ihn mit den Eiern und er sie mit seinem Wagen erwarten sollte. Und mit dem Gold. Mit sehr viel Gold. Dann war sie mit ihren Töchtern zum Nest empor gestiegen. Nachdem sie eine Nacht lang geklettert waren und die Eier fortgeschafft hatten, waren sie so zerschlagen, daß sie sich kaum rühren konnten. Dann hatte ihnen der Mensch das Gold für die Eier gegeben, und der Anblick der Münzen ließ die Muskelschmerzen beinahe verschwinden. Sie hatten ihre Schulden bezahlen und neue Winterkleider kaufen können. Im Frühling hatten sie auf halber Höhe des Berges eine kleine Hütte gebaut. 29
Dichter bei den Eiern. Würden sie auch im nächsten Jahr dort oben liegen? Das taten sie, und auch in diesem Jahr. Seit zwei Jahren verkauften sie dem Menschen die glänzenden, farbig schimmernden Dracheneier, und es ging ihnen besser als je zuvor. Und jetzt... Tamun hielt ein feuchtes Leintuch in den Wind und hängte es dann an die Leine. Melelki dachte über ihre Kinder nach. Sekena war fast erwachsen, Tamun stark wie Krieger und neigte dazu, sehr schnell recht unruhig zu werden. Die Eier lagen im Keller, sorgfältig auf dickes Stroh gebettet, was völlig unnötig war, aber sie konnten es nicht ertragen, so wertvolle und gefährliche Dinge auf den harten Steinboden zu legen. In wenigen Wochen würden die Jungen ausschlüpfen, was sie wegen der immer dichter werdenden Tupfen auf den Schalen vermutete. Aber das war nur geraten, denn sie hatten noch nie einen Drachen schlüpfen sehen. Wenn es um Drachen ging, durften ihr keine Fehler unterlaufen. Deshalb machte sie sich trotz ihrer Müdigkeit auf den Weg ins Dorf. Wenn sie Glück hatte, war der blauäugige Mensch bereits in der >Sitzenden Ente< eingetroffen. Wenn nicht, würde sie ihm eine Nachricht hinterlassen, daß er kommen sollte, um die Stickereien zu kaufen. Stickereien.
Er würde mit seinem Wagen und dem Gold kommen und die Eier mitnehmen. Ehe die Jungen ausschlüpften. Aber der Mensch war nicht da. Er hatte ihr eine Nachricht hinterlassen: Sie sollte ihn am nächsten Tag in dem Rasthaus an der einsamen, hochgelegenen Bergstraße treffen. Also ging sie wieder nach Hause. Am folgenden Morgen erwachte sie bei Sonnenaufgang, zog sich einen in Öl getränkten Umhang über und wappnete sich gegen 30
den stetigen Schneeregen, ehe sie sich auf die eisverkrustete Bergstraße wagte. Stunden später öffnete sie die knarrende Holztür, betrat das kleine Rasthaus und schüttelte sich das Wasser aus dem Umhang. Der Raum stank nach nassen Menschen. Er saß auf der hölzernen Bank in der Mitte der Hütte, das lange schwarze Haar fiel ihm über die Schultern und das bärtige Gesicht und verdeckte die unwahrscheinlich blauen Augen. Melelki nickte ihm zu. »Naß da draußen«, sagte er. Verwirrt runzelte sie die Stirn. Natürlich war es naß. Es war Winteranfang, und dann war es immer naß. Vielleicht machte er einen menschlichen Scherz. »Ja«, antwortete sie. »Ich habe die... Stickereien für dich.« Sie sprachen nicht mehr über Eier, nicht einmal dann, wenn sie - so wie jetzt - meilenweit vom Dorf entfernt waren, für den Fall, daß doch einmal jemand mithörte. Aber >Stickereien< war ein so menschliches Wort. Sie kannte ein paar menschliche Worte, aber sie waren schwer auszusprechen. Sie waren lang und schlüpfrig und hatten immer mehr als nur eine Bedeutung. Warum konnten sie nicht einfach >Bilder< sagen und gut damit? Natürlich redeten sie gar nicht von Bildern sondern von Dracheneiern. »Wie viele?« wollte er wissen. Sie verbarg ihre Spannung unter einem ungeduldigen Seufzer. »Genau wie immer.« Er wartete, die Brauen fragend hochgezogen. »Zwei Goldstücke für jedes«, sagte sie verwirrt. Vielleicht hätte er gern gehabt, daß sie ihm auch noch den Frühlingstanz vorführte! »Ich glaube nicht.« »Was? Natürlich. So war es immer.« »Dieses Mal nicht. Mein Auftraggeber hält deinen Preis für zu hoch. Er bietet dir weniger an.« 31
Sie fühlte Bestürzung in sich aufsteigen. Wieso bot er weniger? »Letztes Jahr...« »Letztes Jahr war letztes Jahr.« »Und das Jahr davor?« »Die Vergangenheit ist vergangen.« »Wieviel weniger bietet er?« »Zwei Goldstücke für alles, was du hast.« Sie war entgeistert. »Menschenverrückt! Das ist absurd.« »So lautet das Angebot.« »Aber - warum?«
»Das weiß ich nicht. Vielleicht braucht er sie nicht mehr. Vielleicht hat er einen anderen Lieferanten gefunden.« »Ich glaube dir nicht.« Er zuckte die Schultern. »Ich bin nur der Bote.« Irgend etwas an der Art, wie er es sagte, machte sie mißtrauisch. Aber schließlich war er ein Mensch, und alle seine Antworten erregten ihr Mißtrauen. Sie überlegte. Was tat der Auftraggeber mit den Eiern? Seit Jahren grübelte sie darüber nach und hatte entschieden, daß es sich um einen Zauberer handeln mußte. Wer sonst wollte Dracheneier haben? Wer sonst wußte, wie man mit den geschlüpften Jungen umgehen mußte? Aber was fing er mit so vielen Drachen an, Jahr um Jahr? Das mußte mit den Kriegen im Norden zusammenhängen, für die man im Zwergendorf Waffen schmiedete und zwergische Söldner anheuerte. Wer wußte schon, was ein Zauberer alles mit Dracheneiern anstellen konnte? Vielleicht hatte er wirklich genug? Aber warum war dann Blauauge hier und unterhielt sich mit ihr? Nein, er wollte sie noch immer und dachte wohl, er könne sie billiger bekommen. Und wenn er sie wollte, dann brauchte er sie. Er wollte nur nicht dafür bezahlen. Sie schnaubte belustigt. »Ich könnte bedeutend mehr 32
verdienen, wenn ich nur die Schalen verkaufen würde.« Es war ihr gleich, ob jemand mithörte. Vielleicht hörte man sie und machte ihr ein besseres Angebot. Ihre Blicke kreuzten sich, blieben fest. Dieses Blau dieses unnatürliche Blau - wie lebendiges Eis. Das war es: Menschen hatten Eis in den Augen, Eis in den Köpfen. Eis konnte nicht denken. »Dann tu es doch«, meinte er. »Viel Spaß mit den Jungen.« Sie schauderte innerlich. Melelki mißfiel der Gedanke an sechzehn junge hungrige Drachen. War es möglich, daß noch jemand Eier verkaufte? Sie konnte sich kaum vorstellen, daß noch jemand so viel Glück, eine so gute Nase und ebenso so gutes Klettervermögen wie sie selbst hatte. Sie fällte eine Entscheidung. »Tja, wirklich schade«, sagte sie und tat, als wäre sie nur wenig enttäuscht. Sie beachtete die innere Stimme nicht, die ihr sagte, daß er sich mit diesen Spielchen besser auskannte als sie und ihre gespielte Gelassenheit bestimmt durchschaute. »Ich denke, ich muß das Nest an jemand anderen verkaufen.« Sein Lachen jagte ihr kalte Schauer über den Rücken, denn ihre Worte schienen ihn wirklich zu belustigen. Dadurch wurde ihr Entschluß ein wenig erschüttert, aber sie war wütend auf den Menschen, auf seinen betrügerischen Täuschungsversuch und darauf, daß er sie so lange hatte warten lassen, nur um ihr das mitzuteilen. Sie schüttelte den Rest des Wassers, das sich auf dem Umhang gesammelt hatte, ab, warf ihn sich um die Schultern, knotete die Bänder zusammen und warf ihm noch einen Blick zu. Er sah nachdenklich aus, aber bei einem Menschen wußte man ja nie so genau ... »Das Angebot gilt noch«, sagte er und richtete den eiskalten Blick auf sie. »Zwei Goldstücke für alles zusammen?« Sie lachte 33
spöttisch, und ihr Ärger überdeckte die Furcht und die bloße Versuchung. Sie würden einen anderen Weg finden. Melelki drehte sich um und ging; dabei schloß sie die Tür so heftig, daß das kleine Gebäude erbebte. Melelki hegte finstere Gedanken über den Menschen, als sie durch schlammige Pfützen nach Hause stapfte. Einerseits wäre sie gern umgekehrt und hätte ihm gesagt, ja, sie wolle die beiden Goldstücke nehmen, wenn er nur mit dem Fuhrwerk käme und die Dracheneier mitnähme. Aber diesen Gedanken verdrängte sie sofort wieder, denn sie besaß einen seltenen Schatz: sechzehn Dracheneier! Irgend jemand würde sich bestimmt dafür interessieren und ebenso gut dafür zahlen, wie der Mann es getan hatte. Sie mußte sich einen Karren kaufen - natürlich ohne daß man ihr Fragen stellte. Den konnten sie selbst ziehen, oder etwa nicht? Sie war sich nicht sicher. Dann mußte sie einen anderen Käufer finden, und zwar schnell, denn in ein paar Wochen würden die Jungen ausschlüpfen und ... Es blieb kaum Zeit mehr dafür. Sie war eine Närrin. Die letzten Jahre hindurch war sie davon ausgegangen, daß Eisauge sie haben wollte und dafür zahlen würde. Statt dessen hätte sie ... Was hätte sie tun sollen? Statt dessen hätte sie einen neuen Käufer finden sollen. Statt dessen hätte sie herausfinden sollen, wozu die Eier nütze waren. Soviel zur Neugierde der Zwerge, dachte sie wütend über sich selbst. Wo war die Neugierde im letzten Jahr gewesen, wo im Jahr davor, als das Wetter so gut war, daß sie nach Norden hätte gehen können um zu sehen, was der blauäugige Mensch mit den Eiern anfing? Sie hätte auch bei dem letzten Frühlingsfest auf dem Markt in Kalitas fragen können, wo vielleicht irgend jemand mehr gewußt hätte als sie selbst. Statt dessen war sie das 34
ganze Jahr über daheim geblieben, war im Berg herumgeklettert, hatte bei ihren Töchtern gesessen, Geschichten erzählt, Körbe geflochten und lange geschlafen. Und manchmal Bilder gestickt. Nie wieder. Von nun an würde sie alles herausfinden. Aber zuerst mußte sie die Eier loswerden, ehe die Brut ausschlüpfte. Er würde sie nicht kriegen. Nicht dieser stinkende, eingebildete Mensch. Nicht für zwei Goldstücke und nicht für vier. Nicht einmal, wenn ihr nichts anderes übrig blieb, als sie zurück ins Nest zu tragen, ehe sie schlüpften. Langsam atmete sie aus. Der Atem sah in der kalten Luft wie Rauch aus. Genau das mußten sie tun. Die Eier wieder auf den Berg bringen und zurück ins Nest legen. Für alles andere blieb keine Zeit. Nicht in diesem Jahr. Der Gedanke war bitter, denn bald war tiefer Winter, und die Marktleute waren während der kalten Monate geizig, daher brauchten sie das Gold. Sie war froh, daß sie in den vergangenen Jahren etwas gespart hatte, aber es war nicht viel. Bis zum Frühling konnten sie damit auskommen, wenn sie sehr sparsam waren, und dann mußten sie Arbeit finden. Vielleicht konnten sie wieder Bilder verkaufen. Wenigstens war das Haus solide genug gebaut, um Schnee und Kälte abzuwehren. Sie mußten eng zusammenrücken und viel schlafen. Sehnsüchtig stellte sie sich einen riesigen Kessel vor, in dem sie alle Dracheneier hartkochen konnte. Dann hätten sie den ganzen Winter über genug zu essen. Aber wahrscheinlich waren die Schalen zu dick oder irgend etwas Fürchterliches würde geschehen. Der Gedanke an den erneuten Aufstieg zum Berggipfel, bei dem jedes Ei in einem Tragegurt über die schlüpfrigen Ränder hoher Felsnasen geschleppt werden mußte, behagte ihr gar nicht. Aber sie mußte die Eier doch nicht genau an den Ort 35
bringen, an dem sie gelegen hatten, oder? Einfach nur weit genug von der Hütte entfernt. Und weg von den Minen. Wenn die Jungen in die Minen gerieten ... Weit weg. Wütend stapfte sie durch die Lehmpfützen, ungeachtet ihrer kalten Füße und des Regens, der ihr übers Gesicht strömte, und auch ungeachtet der Erinnerung an den Menschen, der sie auslachte. Sekena stand in dem winzigen dunklen Keller. Die sechzehn Eier, die auf dem strohbedeckten Boden lagen, schimmerten im flackernden Licht der Lampe. Oben schliefen Tamun und Mama tief und fest. Sie hatten sich nicht einmal geregt, als Sekena aus dem gemeinsamen Bett schlüpfte und nach unten schlich. Sie hatten beschlossen, die Eier zurück in das Nest zu legen. Sie waren nicht besonders glücklich darüber, aber Mama hatte recht: Es gab keine andere Möglichkeit. Allerdings hatte der Sturm anderes im Sinn, und man konnte bei diesem Schneetreiben nicht auf den Berg klettern. Daher mußten sie warten, bis das Unwetter vorüber war. Vielleicht morgen. Sekena war enttäuscht. Es war nicht allein die Arbeit, die gräßliche, eiskalte, anstrengende Kletterei, sondern auch das Zurückbringen der Eier... Wie eigenartig, daß der Mensch diesmal nicht bezahlen wollte. Menschen! Da die Eier zurück auf den Berg gebracht wurden, mochte Sekena dem Drang nicht länger widerstehen. Sie hockte sich hin und fuhr mit zitternden Händen über eine der gefleckten, leuchtenden Schalen. Glatt wie Glas und hart wie Eisen. Mama hatte gesagt, daß man an manchen Orten Schmuck und Waffen aus den strahlend weißen Schalen der Dracheneier anfertigte. Waffen aus Dracheneierschalen. Die würde sie gern einmal sehen. Mama meinte, daß es den Menschen ähnlich sah, Schmuck aus Eiern anzufertigen, die andere für sie be36
sorgten. Es verlieh ihnen das Gefühl, tapfer zu sein, sagte sie, als seien sie anwesend gewesen, als die Jungen ausschlüpften und hätten ihnen gegenübergestanden. Natürlich hatte das noch niemand getan. Wer wollte schon in der Nähe sein, wenn ein Drache das Ei verließ? Sekena wollte es. Sie dachte am Tage daran und träumte des Nachts davon und fragte sich, wie die Kleinen aussahen. Sie hatte das Drachenjunge damals im Dorf nicht gesehen, aber alles "darüber gehört und wollte es immer wieder hören. Wenn man einen kleinen Drachen sehen könnte, dachte sie, wäre das natürlich hundertmal besser. Sie schlief nie besonders gut, wenn die Eier im Keller lagen. Während die anderen schliefen, lag sie wach und kämpfte gegen die Versuchung an, in den Keller zu steigen und eine Schale zu zerbrechen. Manchmal klammerte sie sich am Bettrand fest und hoffte, ihre Schwester und die Mutter würden rechtzeitig aufwachen, um sie aufzuhalten, falls sie die Beherrschung verlor. Aber warum machte sie sich Sorgen? Sie wäre gar nicht in der Lage, ein Ei allein zu öffnen, nicht wahr? Trotzdem verspürte sie den verzweifelten Drang, es zu versuchen. Natürlich lag diese seltsame Neugierde den Zwergen im Blut, trieb sie an. Dieselbe Neugier brachte ihre Mutter dazu, in den Bergen herumzuklettern und hatte sie schließlich zu dem Nest auf dem Gipfel geführt. Dieselbe Neugier trieb Tamun dazu, den Waldboden nach toten Tieren abzusuchen, die sie mitnahm, aufschnitt, trocknete und dann ihrer Knochensammlung einverleibte. Sekena betrachtete die wundervoll glänzenden Eier und sog den wilden Duft ein. Die Neugier brannte gleich einem Schmiedefeuer in ihr, aber sie kämpfte dagegen an und besiegte sie. Sie war kein Kind mehr, das wie ein Blatt im Wind herumgeworfen wurde; sie war beinahe erwachsen. Jetzt stand sie hier, von einem inne37
ren Feuer fast verzehrt, und berührte kein einziges Ei mehr. Mama wäre stolz auf sie, wenn sie es wüßte, aber Sekena würde nie darüber sprechen. Dies war ihr ureigenster Kampf, ihr ganz persönlicher Triumph. Sie war eine starke Frau. Nicht wie Tamun. Es erfüllte Sekena mit Furcht, Tamuns fieberhaftes Benehmen mitanzusehen. Die ältere Schwester sprach davon, ins Dorf zu ziehen und redete über Häuser, Kinder und Männer. Sicher würde Tamun eine gute Mutter sein, aber Sekena wollte ein anderes Leben führen und nicht hinter ihrer Brut herlaufen. Der Gedanke ließ sie erschauern. Nein, das war kein Leben für sie. Sie würde auch nicht im Dorf bleiben, irgendwelche Arbeiten verrichten und bei ihrer Mutter leben. Sie würde ihr Geheimnis bewahren: Sie hatte sich entschieden, eine Söldnerin zu werden, wenn sie erst einmal die Hitze erreicht hatte. Sie nahmen Frauen, die sich in der Hitze befanden, weil sie dann stärker als die Männer waren, aber sie mußten versprechen, nicht schwanger zu werden. Das Versprechen konnte sie halten. Gleichgültig, wie sehr ihre Leidenschaft sie antrieb, sie würde sich nie davon überwältigen lassen. So stand sie da, prüfte sich, spürte das Zucken in den Fingern, noch einmal ein Ei zu berühren und einen Hammer zu nehmen, um herauszufinden, wie stark die Schalen waren. Heute erprobte sie sich an den Eiern, aber eines Tages würde sie ein fein gearbeitetes Zwergenschwert in der Hand halten. Sie konnte sich schon alles genau ausmalen. Leichte Rüstung kam ihrer Schnelligkeit entgegen. Und das Schwert - sie spürte den Knauf, das Gewicht, wenn sie ausholte und hörte das >Klang!<, wenn es in einen kreischenden Ork sank. Die häßliche Kreatur würde umfallen, das dunkle Blut den Boden benetzen. 38
Dag Bild stand so klar vor ihr, und sie vermeinte die Geräusche so deutlich zu hören, daß sie den seltsamen Laut beinahe überhörte. Sie rang nach Luft. Ein Reißen, ein Krachen. Dort, auf einem entfernter liegenden Ei, erblickte sie etwas, was sie nie zu sehen erwartet hatte. Einen Riß. Sie stürmte die Treppe hinauf und nahm immer drei Stufen gleichzeitig. Melelki schritt ihnen voran in den Keller; jede Zwergin trug eine Lampe. Da war es, in der hintersten Ecke: ein Ei, durch das sich ein kleiner gezackter Riß zog. Im trüben Lampenlicht überprüfte Melelki die anderen Eier, schlich langsam und vorsichtig um sie herum, da sie wußte, daß die Augen ihrer Töchter auf ihr ruhten und sie sich darauf verließen, daß sie die Ruhe bewahrte. Innerlich zwang sie sich, die Neugier über ihr Entsetzen siegen zu lassen. Dracheneier, die ihre Brut freigaben. Das Muster auf dem hinteren Ei trat viel deutlicher hervor als bei den anderen Exemplaren. Wahrscheinlich zeigten die dunkel schimmernden Tupfen an, wie nahe der Zeitpunkt des Schlüpfens herangerückt war. Nur das eine Ei fiel ihr auf. Das erleichterte sie ein wenig. Lange Zeit standen die drei Zwerginnen schweigend da, lauschten, beobachteten. Dann hörten sie es: ein gedämpftes Knacken und Reißen. Das Geräusch von etwas Lebendigem, das heraus wollte. »Nach oben«, befahl Melelki, und sie verließen den Keller. »Ich verrammele die Kellertür«, sagte Tamun. Melelki nickte. »Sekena! Pack Lebensmittel zusammen, und trage die Umhänge und Lampen zur Tür.« Sekena rannte in die Küche. Nun, da beide beschäftigt waren, erlaubte sich Melelki einen tiefen Atemzug und ließ die Luft stoßweise wieder 39
entweichen. Die Brut sollte erst in ein paar Wochen ausschlüpfen. Sie schloß die Augen und versuchte zu schätzen, wie lange das Junge brauchen würde, um die Schale zu zerbrechen. Konnten sie irgend etwas tun, um es zu verhindern? Sie wußte es nicht. Sollten sie versuchen, es zu töten? Die Erinnerung an die blutüberströmten Männer überwältigte sie. Nein. Sie und ihre Töchter würden ihm einfach aus dem Weg gehen. Der Mensch hatte gesagt, daß sie nur angriffen, wenn sie Angst hatten und keine Tiere fraßen, die größer als sie selbst waren. Also bestand für sie alle keine Gefahr, wenn sie ihm nicht in die Quere kamen. Ein Mensch. Sie vertraute ihr Leben den Worten eines Menschen an. Sie hoffte, daß er die Wahrheit gesagt hatte. Dunkelheit. Begierde. Der Drang nach Freiheit. Hinaus, hinaus! sang die Stimme des Blutes, das Klopfen des Herzens. Er biß und trat und heulte in der finsteren, harten Welt, die ihn einsperren wollte, Entschlossenheit brannte in ihm. Er kämpfte, wand sich und setzte seine ganze Kraft ein. Endlich hörte er etwas. Gute, verheißungsvolle Geräusche. Befreiende Geräusche. Laute der Freiheit durchtrennten seine glatte Welt. Sie krachte, bekam scharfe Kanten. Er hatte sie gesprengt. Er war frei. Kalt, hungrig und frei. Er lag auf den Überresten seines Kerkers. Erschöpfi, frierend und hungrig, aber der süße Erfolg des Entkommens überdeckte alles andere.
Frei. Als er sich kräftig genug fühlte, blickte er sich um. Er öffnete das Maul, um die Luft zu schmecken. Es war dunkel, und die Welt war zu klein. Viel zu klein. Irgend etwas stimmte nicht. Irgend etwas fehlte. Wo war 40
der Himmel? Wo der Wind? Er brauchte das. Wie Feuer erfaßte ihn das Verlangen nach diesen Dingen. Seine Unzufriedenheit kehrte zurück und machte ihn wütend. Diese notwendigen Dinge hätten hier sein müssen. Wut brodelte in seinem Inneren. Irgendwo waren der Himmel und der Wind. Sein Himmel, sein Wind. Er würde sie finden.
Hinaus, Hinaus! sang die Stimme des Blutes. Hinauf, Hinauf! Er machte sich an den Aufstieg.
Die Sonne war gerade aufgegangen, als die Geräusche aus dem Keller lauter wurden und Melelki schaudern ließen. Das Junge hatte das Ei verlassen, soviel war sicher; und nun klang es, als versuche es, durch die Mauern und Balken des Hauses zu brechen. »Nach draußen!« drängte Melelki ihre Töchter, und sie packten die Bündel, Umhänge und Lampen und rannten durch den tiefen Schnee, der den Boden bedeckte. Sie stürmten zu den Bäumen hinüber, wo sie stehenblieben und sich umblickten. »Glaubst du, daß wir hier in Sicherheit sind?« fragte Sekena. »Ich weiß nicht.« »Wir können nicht einfach davonlaufen«, meinte Tamun. »Nein.« Neugierde, Angst und noch irgend etwas anderes hielten sie davon ab, ins Dorf zu fliehen. Sie hatten die Hütte mit eigenen Händen erbaut - sie gehörte ihnen. Und im Keller lagen Eier, die ihnen gehörten. Ihre Eier. Wie konnten sie fliehen? Während sie warteten, ging die Sonne auf, und der Himmel färbte sich blau. »Wenigstens haben wir gutes Wetter«, meinte Sekena leise. Aber im Licht des Tages sahen sie deutlich, daß der Pfad zum Berggipfel dick verschneit und nicht be41
gehbar war. Heute konnten sie die Eier nicht zurückbringen. Vielleicht war das jetzt auch nicht mehr wichtig. Die Hütte bebte immer wieder, als das Junge darin herumtobte. Welche Kraft doch in einem so kleinen Tier steckt, dachte Melelki. Der Balken, der die am nächsten gelegene Hausecke stützte, knarrte und brach dann mitten durch. Melelki hatte das Gefühl, als habe man ihr einen Schlag versetzt. Sollte sie mit ihren Töchtern den Weg hinablaufen? Sie durfte nicht gehen. Noch nicht. Tamun öffnete und ballte die Fäuste. »Mama ...« Melelki legte ihrer ältesten Tochter die Hand auf die Schulter. Tamun war angespannt; ihr Körper wurde durch die Hitze angetrieben, die sie so schnell übermannt hatte. Melelki klopfte ihr sanft auf den Rücken und versuchte, sie alle zu beruhigen - dabei sollte sie bei sich selbst anfangen. Wieder bebte das Haus. Mehrmals hörten sie dröhnende Schläge. Sekena stieß sie an und deutete nach rechts. Eine Gestalt trat zwischen den Bäumen hervor. »Bah! Im Namen des Mondes!« zischte Melelki. Es war der blauäugige Mensch. Er beobachtete das schwankende Haus. Wut stieg in ihr auf. Sie bemühte sich, ihrer Herr zu werden, schaffte es aber nicht. »Menschlicher Abschaum!« brüllte sie. »Du sagtest, sie würden nicht angreifen. Jetzt sieh dir das an!« Noch ein Balken brach. Die ganze Seite des Gebäudes neigte sich. Es klang, als zerreiße etwas, als würde ein Riese Bäume und Felsen aneinander reiben. Tamuns Augen waren weit aufgerissen und voller Wut. Melelki verstärkte den Griff auf ihrer Schulter. »Es zerstört unser Heim!« »Tja, meine Blume, ich weiß, ich weiß.« »Was will es? Nahrung?« keuchte Tamun. »Blödes Biest!« 42
Der Mensch befand sich jetzt ebenso dicht am Haus wie die Zwerginnen und blieb stehen. »Ich glaube, es will hinaus.« Tamuns Gesicht lief rot an. »Hinaus?« »Ja«, meinte er. »Es will hinaus. Es will irgendwo hinaufklettern und sich abstoßen. So lernen sie fliegen.« Ein Teil von Melelkis Gehirn verstaute diese Nachricht für später. Aber jetzt... »Mach, daß es aufhört!« befahl Tamun. Er lachte auf, aber nur kurz. »Ein Drachenjunges aufhalten?« Ein Fensterladen zersplitterte. Eine grüne Nase war zu sehen. »Da ist es«, flüsterte Sekena, und in ihrer Stimme lag mehr Aufregung als Angst. Die Nase verschwand. Wieder ertönten krachende Geräusche aus dem Inneren der Hütte. Melelki zuckte zusammen. »Du weißt, wie man es macht«, beharrte Tamun. »Nicht ohne ...«Er schüttelte den Kopf. »Was tust du hier?« fragte Melelki. »Ich dachte, du hättest dir mein Angebot vielleicht überlegt.« »Pah!« fauchte Melelki. »Hast du das Ei zerbrechen lassen, um uns 'rumzukriegen?« »Nein«, antwortete er. »Nein. Es ist einfach nur früher geschlüpft. Das ist selten, aber es kann vorkommen.« »Wir dürfen es nicht weitermachen lassen«, sagte Tamun mit zusammengebissenen Zähnen. »Wir haben kein Heim mehr«, fügte Sekena hinzu. Dann, etwas sanfter: »Haben wir gespartes Geld, Mama?« »Ein wenig, meine Blume, ein wenig.« Sie mußten ihre Freunde und Verwandten im Dorf anbetteln, um den Winter zu überleben, und die Almosen des Winters fielen üblicherweise gering aus. Das Hüttendach bebte, wölbte sich und fiel mit lautem 43
Krachen zusammen. Holzstücke flogen aus den zerborstenen Wänden, landeten auf dem Boden und wirbelten Schnee auf. Tamun schrie; es war ein langanhaltender, tiefer Schrei, wie ein Schlachtruf. Melelki und Sekena hielten sie gleichzeitig fest, aber sie schüttelte die beiden ohne Schwierigkeiten ab und rannte wie verrückt auf die Hütte zu. Melelki wollte ihr nach, aber Sekena ergriff sie beim Arm und zog sie mit schmerzlich entschlossenem Gesicht zurück. »Nein, Mama!« »Es wird sie töten!« kreischte Melelki und wehrte sich gegen ihre überraschend kräftige Tochter. Sekena zog sie in den Schnee, wo sie kurze Zeit miteinander rangen. Dann hielten sie inne und sahen zu Tamun hinüber. Der Mensch brüllte ihr nach, sie solle zurückkehren, sie sei dumm und vieles andere, was Melelki zu jeder anderen Zeit als übelste Beleidigung angesehen hätte. Aber in diesem Augenblick stimmte sie ihm bedingungslos zu. Er bückte sich, nahm die Hände voller Schnee und Schmutz und warf ihn hinter Tamun in die Luft. Verrückt. Menschenverrückt. Genauso verrückt wie die Tatsache, Dracheneier in Kellern aufzubewahren. Zwergenverrückt. Und jetzt mußte Melelki einen hohen Preis für ihre Dummheit bezahlen. Tamun hatte die Hälfte des Weges zur Hütte zurückgelegt, die Hälfte des Weges zu einem ungleichen Kampf. Die Hälfte war so gut wie die ganze Strecke, denn es war zu spät, um etwas zu unternehmen. Sie konnte nur zusehen. Tamun war stark. Von der Hitze getrieben und erfüllt von der zusätzlichen Kraft, war sie trotzdem keine Gegnerin für das Drachenjunge. Es würde sie wie einen trockenen Ast zerbrechen. Melelki heulte vor Kummer und Verzweiflung, mußte aber tatenlos zusehen. 44
Seltsam, wie viele Einzelheiten ihr auffielen und zwar alle gleichzeitig: Sekenas weiße Finger, die ihren Arm umklammerten, Tamuns durch den Schnee gedämpfte Schritte, der Sprechgesang des Menschen, der Schnee und Schmutz in die Richtung der Hütte warf. Seltsam, welche Dinge diesen Augenblick in eine lange, schreckliche Ewigkeit verwandelten. Sie mochte nicht glauben, daß in wenigen Herzschlägen ihre älteste Tochter, ihre Blume Tamun, zu reglosem Fleisch werden sollte. Jetzt lebte sie, gleich würde sie tot sein. Wie konnte das sein? Könnte sie doch ihre Tochter anhalten, das Junge erstarren lassen, sie alle erstarren lassen; wenn, ach, wenn doch nur ... Donner brach über sie herein. Die Erde bebte. Melelki wurde gegen Sekena geschleudert, und in ihren Ohren dröhnte es. Sie versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, aber Sekena war schneller und lief bereits auf die Hütte zu. Die Hütte war völlig zerstört; jeder einzelne Stein, jeder Holzbalken war rußgeschwärzt und alles lag ringsumher verstreut. Tamun lag auf halbem Wege zusammengesunken am Boden. Melelki lief zu ihr, aber der Mensch und Sekena erreichten sie vor ihr. Der Mensch kniete neben Tamun nieder. Melelki packte ihn bei der Schulter, riß ihn weg und fiel neben ihrer Tochter auf die Knie. Der Störenfried war jedoch sofort wieder da. Sie knurrte ihn an, knurrte mit tiefen, kehligen Lauten. »Ich will ihr helfen, du blödes Weib!« »Ich bringe dich um, wenn du sie anrührst!« »Verflucht, ich habe sie doch gerade gerettet!« Die Worte bedeuteten ihr nichts, jetzt nicht, da Tamun hier lag. Melelki bückte sich, legte das Ohr an den Mund ihrer Tochter und hielt den Atem an, bis sie Tamuns Atem deutlich wahrnahm. Große Erleichterung überkam sie. »Sie atmet«, sagte Melelki und unterdrückte ein Schluchzen. 45
Der Mensch hockte neben ihr. »Ich würde dir gerne sagen, ob es ihr wieder gut geht, aber wenn du mich nicht in ihre Nähe läßt...« »Zur Hölle mit dir«, sagte Melelki leise und strich Tamun über das Haar. »Es ist wahrscheinlich nicht möglich, von einer Zwergin ein wenig Dankbarkeit zu erwarten.« »Dankbarkeit?«
»Das Drachenjunge ist tot«, erklärte er und sprach jedes Wort so langsam und deutlich aus, als sei sie ein zurückgebliebenes Kind. In der Tat, die Worte ergaben einen Sinn. Sekena schritt um die Trümmer herum und stieß mit der Stiefelspitze gegen einzelne Teile. »Wo ist das Junge geblieben?« fragte Sekena. »Es ist da drinnen, in kleinen Stücken. In sehr, sehr kleinen Stücken.« Melelki schaute ihn an. Er sah beinahe wütend aus. »Soll ich sie mir nun ansehen oder nicht?« Widerwillig bedeutete sie ihm, näherzukommen. Er hockte sich neben Tamun, berührte sie am Hals und zog eines der Augenlider hoch. Melelki dachte an die letzten Augenblicke - überdachte sie noch einmal. »Du bist ein Zauberer«, stellte sie fest. »Derjenige, der die Dracheneier braucht.« »Ja.«
Ein Schauer lief ihr über den Rücken. »Welche Art von Zauberer?« »Ein Elementarmagier«, antwortete er. »Nicht einer von den... anderen.« Sie atmete auf. »Ein Schlammzauberer«, sagte sie erleichtert. Keiner von denen, die mit einem Wort ganze Dörfer unterhöhlen oder mit einer Geste Untote herbeirufen konnte. Das war gut. »Schlammzauberer!« wiederholte er spöttisch. »Aber ich bin Zauberer genug, um ein Drachenjunges in einen 46
Donnerschlag zu verwandeln. Sie ist unverletzt. Wie nennst du sie?« »Tamun.« Er neigte sich über sie. »Tamun«, sagte er leise, dann noch einmal. Tamun öffnete die Augen »Dank sei dem Himmel und der Erde«, seufzte Melelki. »Habe ich es getötet?« fragte Tamun und versuchte, sich aufzusetzen. Brüsk wies sie die Bemühungen des Menschen, ihr zu helfen, zurück. Er lachte kurz auf. »In gewisser Weise schon.« »Ist es tot? Dann steht die Hütte ...« »Nein«, meinte Melelki. »Die Hütte ist weg, Blume.« »Weg?« Ihre Stimme klang traurig. »Die Eier ...« Sekenas Stimme drang aus der Ruine zu ihnen herüber. »Ich habe eines gefunden«, sagte sie und warf ein Holzstück beiseite. »Und hier ist noch eins. Das ganze Gebäude ist auf sie gefallen, und sie haben nicht einmal einen Kratzer.«
»Dracheneier«, nickte der Mensch. »Eins war voreilig, aber die anderen brauchen sicher noch ein paar Wochen. Untersucht sie nach dunkleren Flecken und Punkten. Sucht...« »Du!« Melelkis Wut erwachte wieder. »Du elender, stinkender menschlicher Mistkerl...« Er seufzte und erhob sich. »Sogar ein Ork würde sich bei mir bedanken, Frau.« »Bedanken? Dafür, daß du uns gar nichts für das Nest geboten und uns diesem Ungeheuer überlassen hast?« Er wandte sich ab und klopfte sich den Schnee vom Umhang. »Für das Leben deiner Tochter, zum Beispiel. Aber kein Dank von einer Zwergin. Natürlich nicht. Herzlose, selbstsüchtige Kreatur. Du wärest eine gute Mutter für diese Drachenbrut.« Sie stand auf, schritt um ihn herum, um ihm den Weg 47
zu verstellen und starrte hinauf in die kalten blauen Augen. »Bah, du mußt gerade reden. Versuchst, uns zu betrügen und überläßt uns der Wut des Drachen!« »Ich hätte die Eier ja wenigstens mitgenommen. Dann wäre dies nicht...« Er wedelte mit der Hand, seufzte ergeben und machte eine abwehrende Bewegung. Er wollte um sie herum gehen, aber sie ließ ihn nicht vorbei. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Du solltest dich ein wenig fürchten, Frau. Sogar ein Schlammzauberer ist gefährlich.« »Bah, du solltest für das bezahlen, was du verlangt hast.« »Ich kann nicht mit etwas bezahlen, was ich nicht habe«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Nicht habe?« »Geld. Gold. Ich habe keines.« »Aber - wieso nicht?« »Du bist eine wißbegierige Kreatur, was?« Er grinste humorlos. »Aber ich bin nicht hier, um mit dir über mein Vermögen zu plaudern.« Tamun stand unmittelbar hinter ihm. »Die Eier«, sagte sie unvermittelt. Er drehte sich um und war überrascht, wie dicht sie vor ihm stand. Sie sah ihn aus dunklen Augen fest an. »Was tust du mit den Eiern?« Er erwiderte den Blick einen Augenblick lang und schaute dann zur Hütte, wo Sekena dabei war, noch mehr Holz beiseite zu räumen, um die Eier freizulegen. »Das da.« »Was?« »Ich fülle sie mit elementarer Magie. Wenn ich es richtig anstelle, explodieren sie.« »Aber weshalb tust du das?« »Warum sollte ich dir das erzählen?« Sie streckte die Hand aus und legte sie ihm auf die 48
Brust. Er zuckte zusammen, als sei er unsicher, ob er sie wegschieben oder gewähren lassen solle. Zuerst sah er lange Zeit auf die Hand, dann blickte er ihr wieder in die Augen. »Was tust du?« »Warum willst du die Eier?« fragte Tamun noch einmal. »Die Eier«, erklärte er, »sind Waffen. Ich...« Er hielt inne und schluckte. Ein belustigtes Lächeln überflog sein Gesicht und verschwand sofort wieder. »Was tust du?« Melelki hatte diesen Gesichtsausdruck schon gesehen, den der Mensch zeigte. Wo hatte sie ihn nur schon bemerkt? Auf den Gesichtern der männlichen Zwerge, das war es. Oh. »Tamun«, flüsterte sie. »Nein. Doch kein Mensch.« Sekena hatte sich zu ihnen gesellt. »Die Eier«, beharrte Tamun und beachtete die Bitte ihrer Mutter nicht. Sekundenlang kämpfte der Mensch mit sich. Dann schloß er die Augen. »Im Osten herrscht Krieg«, erklärte er. »Vielleicht habt ihr davon gehört. Orks und Goblins stehen an der Grenze Icatias. Und der Zufluchtwald ...« »Zufluchtwald?« Er schüttelte den Kopf und lächelte wieder. »Du machst irgend etwas mit mir. Sehr schlau.« »Was ist mit dem Zufluchtwald?« Zitternd erhob er eine Hand und hielt sie über Tamuns Hände. Einen Augenblick lang dachte Melelki, er werde sie wegreißen. Statt dessen strich er sanft über Tamuns Fingerspitzen und drückte sie gegen seine Brust. »Der Zufluchtwald beauftragte mich, an der Grenze Icatias Unruhe zu stiften. Ich lehrte die Orks und die Goblins, gegen Menschen zu kämpfen.« 49
Melelki und ihre älteste Tochter wechselten einen schnellen Blick. Sekena starrte angestrengt auf ihre Füße. »Aber du bist aus Icatia, nicht wahr?« »Ja.« »Und warum wollen die Elfen Unfrieden stiften?« »Ich glaube... ich bin nicht sicher... weil...« Er schloß die Augen, atmete schneller und hielt Tamuns Hand fest. »Die Elfen wollen, daß die Menschen im Süden kämpfen, damit sie nicht auf den Gedanken kommen, nach Norden, zum Zufluchtwald vorzudringen.« »Die Elfen haben dich benutzt, damit du für sie einen Krieg anstiftest«, stellte Sekena fest. Er öffnete die Augen. »Ja.« »Und warum bezahlen sie dich dann nicht mehr?« »Ich weiß nicht. Vielleicht hatte ich zu viel Erfolg.« Seine Stimme klang bitter. Melelki schnaubte. »Tja, das wundert mich nicht. Elfen machen sich ungern die Hände schmutzig, nicht wahr? Aber sie lieben es, sich aufzuspielen. Jetzt verstehe ich, weshalb sie so viele Waffen und Rüstungen aufgekauft haben und Zwerge anheuern, um ihre Grenzen zu bewachen. Widerliche Kreaturen.« »Aber was...«, begann Sekena. »Wofür wolltest du diese Eier haben, wenn die Elfen dich doch nicht mehr bezahlen?« Wieder lächelte der Mensch. »Ich will den Elfen des Zufluchtwaldes Gelegenheit geben, ihre Meinung zu ändern, sonst zeige ich ihnen, was ich für ihr Geld gekauft habe.« Tamun erwiderte sein Lächeln und ihre weißen Zähne blitzten. »Oh! Wunderbar. Wir kommen mit.« Melelki wandte sich an ihre Tochter. »Was?« Sekena grinste. »Ja, gute Idee!« »Seid ihr wahnsinnig?« fragte Melelki. »Zerstört diese Schlammzauberei vollkommen eure Sinne? Wir haben nichts. Gar nichts, hört ihr mich? Vielleicht ein paar 50
Goldmünzen, die irgendwo unter den Trümmern liegen, die einmal unser Heim waren. Aber wahrscheinlich nicht einmal das.« »Ja, Mama, so ist es«, stimmte Tamun zu. »Trümmer, fünfzehn Dracheneier und zwei Wochen. Daraus besteht unser ganzes Vermögen. Also werden wir die Elfen besuchen. Ich frage mich, wie ihnen die Unterhaltung gefallen wird, die wir ihnen bieten können.« Sie ließ die Hand von der Brust des Menschen gleiten. Seine Hand folgte der ihren, als handele sie aus eigenem Antrieb. Die Finger der beiden fanden sich. Sekena strahlte vor Erwartung. »Vielleicht sehen wir eine Schlacht.« »Oder sie kaufen uns die Eier ab.« »Wir sollen bei Winteranbruch reisen?« fragte Melelki. »Hat euch die Kälte die Gehirne eingefroren?« »Wir werden uns schnell bewegen, Mama. Wir halten uns warm. Außerdem bleiben uns nur zwei Wochen, ehe sie ausschlüpfen, dann sind wir eh' am Ende.« Melelki hatte das Gefühl, es könnte länger dauern. »Wenn uns kalt wird, können wir ein Feuer anzünden«, fuhr Tamun fort. »Oder der Mensch kann einen der Drachen sprengen.« »Ich kann mich nicht erinnern, euch eingeladen zu haben«, warf der Mensch ein. Melelki dachte nach. Ihre Hütte konnte sie nicht durch den bloßen Wunsch wieder aufbauen. Die Arbeit mußte bis zum Frühling warten. Sie konnten in das Dorf Tigaden ziehen, aber dann mußten sie die Eier zurücklassen, und das gefiel ihr gar nicht. Was den Menschen anging: Nun, sie konnten ihm mehr vertrauen als den meisten anderen seiner Rasse, schon allein wegen Tamuns Anziehungskraft. Außerdem - hatte sie nicht geschworen, alles über Drachen herauszufinden? »Nein«, sagte der Mensch. »Zwei Goldstücke, und ich nehme alle Eier mit. Aber nicht euch alle.« 51
»Alle oder keine«, entgegnete Melelki. Er sah erst sie an, dann Sekena und schließlich lange Zeit Tamun, die sich ein paar der dichten Haarsträhnen aus dem glühenden Gesicht strich. Er wandte den Blick ab, sah wieder zu ihr hin und ballte die freie Hand zur Faust; die andere hielt noch immer Tamuns Finger umklammert. »Was machst du mit mir, Frau?« Sie lachte. »Tamun...«, sagte Melelki warnend, brach ab und schüttelte den Kopf. Da war nichts zu machen, nicht, wenn eine Zwergin ihre Zeit der Kraft erreichte und Entscheidungen fällte. Aber ein Mensch? Wenn sie darüber nachdachte, überkam sie ein merkwürdiges Gefühl. Sekena rieb die Hände gegeneinander. »Laßt uns aufbrechen. Ich will eines dieser Drachenjungen sehen. Bis jetzt habe ich nur eine Nase gesehen. Außerdem fange ich an zu frieren.« »Du frierst?« murmelte er. »Also, Mensch ...«, begann Sekena. »Ich habe einen Namen.« »Ja? Dann sage ihn.« Er blickte immer noch Tamun an. »Reod. Reod Dai.« »Ein seltsamer Name«, warf Melelki ein. Reod schnaubte und warf ihnen böse Blicke zu. »Man singt keine Lieder über die Duldsamkeit der Zwerge!« »Reod Dai«, wiederholte Sekena und betonte die Worte sorgfältig. »Wo ist dein Wagen?« »Unten am Fuß des Berges.« »Wir müssen noch einen Preis ausmachen«, sagte Melelki. »Für die Eier.« Reod riß den Mund auf. »Du überraschst mich, Frau.« »Nun, du wirst sie nicht geschenkt bekommen.« »Laßt uns gehen und den Wagen holen«, sagte er fröstelnd. »Wenn du darauf bestehst, können wir unterwegs feilschen.« 52
»Mama«, meldete sich Tamun. »Sekena und ich werden hier bleiben und die Eier unter den Trümmern herausholen.« Der Blick ihrer ältesten Tochter verriet Melelki, daß sie auch nach den gesparten Goldmünzen suchen würden. Sobald Reod Dai fort war. Reod warf Tamun einen Blick zu, der teilweise besorgt und teilweise von ganz anderer Art war. Sie erwiderte ihn mit einem beruhigenden Lächeln und löste gleichzeitig ihre Hand aus der seinen. »Komm schon!« forderte ihn Melelki auf und verbarg ihre Belustigung. Eine Zwergin und ein Mensch? Wer hätte das gedacht? Sie schüttelte den Kopf. Gemeinsam mit dem Menschen schritt sie den Weg hinunter. Die Sonne stieg allmählich höher und wärmte sie ein wenig. »Preis«, erinnerte sie ihn. »Preis!« schnaubte er. »Welcher Preis? Ich kann dir nichts geben!« »Ich nehme die beiden Goldstücke und ...« »Und?«
»Und ich nehme allen Schutz, den deine Schlammzauberei und du uns bieten können, in Anspruch. Und ...« Er lachte. »Noch was?« »Und wenn wir die Eier zu Geld machen, gehören uns Dreiviertel des Gewinns.« »Dreiviertel? Das glaube ich kaum. Höchstens ein Viertel.« »Die Hälfte.« Er seufzte. »Na gut. Früher warst du kein so schwieriger Verhandlungspartner.« »Ich habe gelernt. Von dir, Mensch, Reod Dai. Oder glaubst du immer noch, daß wir Zwerge so dumm wie Drachen sind?« »Du hast mich mißverstanden, Frau. Und so viel ich weiß, ist ein erwachsener Drache keineswegs naiv.« »Man kann dich schlecht verstehen, Mensch.« 53
»Wenn du meine Sprache so gut sprichst, wie ich die eure, reden wir darüber, wer von uns besser zu verstehen ist.« »Bei der schlüpfrigen Zunge eines Menschen hat man nie genug Zeit, um etwas ordentlich zu verstehen.« »Glaubst du etwa, die Worte der Zwerge seien so viel verständlicher?« »Doch, das glaube ich. Aber du darfst mich fragen, wenn du ein Wort nicht verstehst.« »Ich verstehe Zwergisch gut genug, aber nicht die Zwerge an sich. Vielleicht könnte ich dir Fragen über Tamun stellen.« Sie kicherte. »Vielleicht.«
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»Mögest du stark und kühn sein, um die Feinde der Guten zu besiegen.« - Leitburs Gebet
Sie beschlossen, Tigaden zu umgehen und schlugen einen etwas längeren Weg ein. Im Dorf kannten sie zu viele Zwerge, und wenn man einen Wagen voller Dracheneier im Schlepptau hatte, war es besser, unnötigen Fragen auszuweichen. Sie rasteten im Schnee, schmiegten sich eng aneinander, um sich zu wärmen und brachen Äste von den Bäumen, um das Feuer in Gang zu halten, daß sie die ganze Nacht über brennen ließen. Ein Tag verging und ein zweiter. Bald würden sie die Ausläufer des Gebirges und die Stadt Kalitas erreichen, die aufgrund der hohen Schneedecke noch ein paar Tagesmärsche entfernt lag. Sekena erinnerte sich an das Frühlingsfest im letzten Jahr, wo sie auf dem Markt von Kalitas Dinge gesehen hatte, die sie in Tigaden nie zu Gesicht bekam: tanzende Hunde mit bemalten Gesichtern, Vögel, die auf die Anweisungen ihrer Besitzer in verschiedene Richtungen flogen, während sie bunte Seidenbänder hinter sich herzogen, und Elfen und Menschen, die bei gutem Wetter anreisten, um Handel zu treiben. In Kalitas hatte sie zum ersten Mal die seltsamen Rassen gesehen, die ganz anders wie die Zwerge waren. Sie schaute zu Reod hinüber. Sie waren in jedem Jahr nach Kalitas gegangen. Dort wohnten sie im Frauenhaus, wo die Kalitanerinnen sie immer herzlich willkommen hießen, obwohl sie aus den Bergen kamen und wenig neue Geschichten erzählen 55
konnten. Wohlhabende Reisende, Menschen und Elfen wohnten in dem wundervollen dreistöckigen Gasthof, von dem behauptet wurde, es gäbe warme Bäder, deren Wasser das ganze Jahr über, auch im Winter, aus einer unterirdischen Quelle stamme. Reod bestätigte das. Er hatte die Hände tief in den Falten des Umhangs vergraben und sah verfroren aus. Sie würden in einem Gasthaus Rast machen, erklärte er. Dort gab es ein großes Feuer in der Mitte der Halle, weiche Betten und heißen Wein. Er hatte dort einen Freund, der ihm einen Gefallen schuldete und ihn freudig mit einer kostenlosen Übernachtung für Reod und seine Begleiterinnen begleichen würde. Den ganzen Weg über hielt sich Sekena neben dem Wagen, in der Nahe der Eier auf. Reod ging voran, neben dem Ochsen, um ein wenig von der Wärme des Tieres zu profitieren, und Tamun ging neben ihm. Neben dem großen, dünnen Menschen sah sie merkwürdig aus. Mama blieb bei Sekena, um Reod und Tamun im Auge zu behalten, damit sie sich nicht zu nahe kamen. Während der vergangenen Tage hatten sie ein spannendes Spiel gespielt, denn Reod versuchte, mit Tamun allein zu sein, und Mama bestand darauf, ihre Tochter überall hin zu begleiten, selbst wenn sie Holz sammelte oder hinter einem Baum verschwand, um Wasser zu lassen. Heute morgen war Mama Tamun wieder gefolgt, und Reod bekam wieder diesen verärgerten Gesichtsausdruck. Sekena kicherte. »Was ist denn so komisch?« verlangte Reod zu wissen. Sekena nickte in die Richtung Mamas und Tamuns. »Du bist komisch.« »Sie ist doch alt genug, oder?« »Natürlich. Ihre Zeit ist gekommen.« Er nickte. »Das habe ich mir gedacht. Warum strampelt sich deine Mutter dann so ab, sie vor mir zu beschützen?« 56
»Mama beschützt sie vor sich selbst, nicht etwa vor dir.« Reod verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Erspare mir die Logik der Zwerge.« »Ihre Zeit ist gekommen«, wiederholte Sekena langsam. Sein Gesichtsausdruck verriet, daß er sie nicht verstand. Wie konnte er so viel über alle möglichen Dinge wissen und dann doch manchmal so dumm sein? »Sie hat ihre Kraft gewonnen«, versuchte Sekena es noch einmal. »Sie ist stärker als du. Sogar stärker als der kräftigste Zwerg.« Er runzelte die Stirn. Glaubte er ihr etwa nicht? »Ist es denn bei Menschen nicht genauso?« »Nein.« Sekena lehnte sich gegen einen Baum und grub mit der Stiefelspitze ein kleines Loch in die Schneedecke. »Was passiert denn bei den Menschenfrauen, wenn ihre Zeit kommt?« »Frauen meiner Rasse haben keine Hitze.« »Keine Hitze? Aber woher wissen dann die Männer, wann sie um sie werben können?« »Sie sind immer bereit.« »Immer bereit? Was heißt das - sind sie immer in Hitze oder nie?« »Keines von beiden trifft es ganz genau.« »Sind sie denn auch nicht stärker wie die Männer?« »Nein.« »Aber... wie wählen sie dann den richtigen Mann und halten die anderen fern?« In diesem Augenblick kehrten Mama und Tamun zurück, und Reod hatte nur noch Augen für ihre Schwester. Sekena erhielt keine Antwort. Jetzt, während sie die Straße nach Kalitas entlangschritten, grübelte sie darüber nach, wie es sein mochte, ein Mensch zu sein. Sie dachte, daß es ihr nicht gefallen würde. So unsicher sie auch über ihre eigene Hitze war, 57
so sicher war sie, daß es schrecklich sein mußte, dauernd in Hitze zu sein. Dann hatte man ja nie mehr Zeit für andere Dinge! Unterwegs behielt Mama das ungleiche Paar im Auge. Sie versuchte immer, alles zu bedenken, vorauszuplanen und zum Guten zu wenden. Ihre Mutter hatte Sekena beigebracht, nachzudenken und sich über den Lauf der Welt Gedanken zu machen. Zur Zeit dachte sie dauernd an die Eier. Manchmal legte sie beim Gehen die Hand auf die Holzwände des Wagens, und wenn niemand hinsah, glitten ihre Finger unter die schwere Plane und streichelten die Eierschalen. Sie wußte nicht, weshalb sie das tat. Es fühlte sich einfach gut an. Heute war es nicht so kalt wie gestern, obwohl der Mensch sicher anderer Meinung war. Dauernd wickelte er sich fester in seinen Umhang. Bei Nacht hielt er das Feuer in Gang, schickte die Zwerginnen aus, um Holz zu holen und hockte dicht bei den Flammen. Tamun schlief neben ihm. Natürlich nur, um ihn zu wärmen. Am Tage gingen sie dicht nebeneinander her. Ihre Hände berührten sich. Aber bestimmt nicht, um einander zu wärmen. Nun, das war schon ein wenig verwirrend, dachte Sekena. Sie blickte zum Wagen hinüber und betrachtete die Dracheneier, die ebenfalls seltsam waren. Ihre Mutter sah sie fragend an. Sekena schüttelte leicht den Kopf, und Melelki lächelte beruhigt. An diesem Morgen hatte Reod gesagt, daß sie gut vorankamen. Den Zwerginnen bereiteten die steilen Wege wenig Mühe, und sie schafften es, auch den Ochsen und den Karren zu stützen, wenn sie schwierige Stellen passierten. Aber Reod kam leicht außer Atem und schien unentwegt zu frieren. Und diese zerbrechlichen Menschen hatten tatsächlich ein riesiges Reich im Norden? Waren sie überhaupt in der Lage, die räuberischen Orks zu überwältigen und zurückzudrängen, wie immer behauptet wurde? 58
Reod erzählte, daß man inzwischen auch in den als sicher bekannten Gebieten der Zwerge herumstreunende Orks gesichtet hatte. »Was ist, wenn wir ihnen begegnen?« fragte Sekena atemlos vor Aufregung. »Ich kümmere mich schon darum«, erwiderte Reod. Anscheinend wollte er ihr nichts Näheres mitteilen. »Aber wenn wir nun auf Orks stoßen«, beharrte Sekena, »wäre es dann nicht besser, ihnen bewaffnet gegenüberzutreten?« »Kannst du denn mit einer Waffe umgehen?« »Ich könnte es lernen. Ich will es lernen.« »Man nimmt sie in die Hand und schwingt sie, nicht wahr?« erkundigte sich Melelki. »Das hört sich nicht besonders schwierig an.« Lächelnd sah Reod sie an. »Waffen sind nicht einfach zu handhaben, und sie laden zu Streitigkeiten ein. Wir sind ohne sie bedeutend besser dran.« Sekena sah ihn prüfend an. »Sogar du?« Er streckte beide Hände aus. »Siehst du hier etwa eine Waffe?« »Du hast sie versteckt«, vermutete sie. Er schnaubte. »Was für eine Waffe sollte ich unter meinem Umhang verbergen, die mir dort nützlich wäre?« Sekena dachte eine Weile nach, denn diese Frage hatte sie sich auch schon gestellt. Mit den Fingern fuhr sie über die scharfkantige Eierschale in ihrer Tasche, die sie unter den Trümmern der Hütte gefunden hatte, die einst ihr Heim gewesen war. Sie war sehr überrascht gewesen, als sie entdeckte, daß die Steine durch die Explosion teilweise zu Staub zermalmt worden waren, die Eierschalen aber keinen Kratzer abbekommen hatten. Die Kanten der Schalen waren sehr scharf. Die Oberfläche war glatt, wie bei einer frisch geprägten Münze, aber die Kante war so scharf wie eine Messerklinge. 59
Was den Menschen anging war sie sicher, daß er Waffen besaß, die er vor ihnen versteckte. Hielt er sie für solche Narren? Sie steigerte ihr Tempo, bis sie neben ihm ging und zog die Schale aus der Tasche. »So etwas vielleicht?« Er lachte. »Du willst den Feind wohl mit der glänzenden Seite blenden, wie?« »Pah!« schnaubte sie wütend und stopfte die Eierschale zurück in die Tasche. »Sie ist so scharf, daß man jemanden damit verletzen kann.« »Vielleicht. Wenn man nahe genug an ihn herankommt und er sich nicht bewegt. Aber für einen wirklichen Gegner brauchst du eine richtige Waffe.« »Dann nehme ich ein Schwert. Ich bin stark genug.« »Dann vergiß' nicht, hinter jedem Baum zu suchen, an dem wir vorübergehen. Man weiß nie, wo man einen Ork finden kann.« Wieder schnaubte sie - diesmal vor Verachtung - und blieb stehen, um sich ihrer Mutter anzuschließen. »Menschen!« sagte Melelki leise und tröstend, als würde das alles erklären. Am nächsten Tag gewann die Sonne den Kampf gegen die Wolken, die sich verzogen. Der Himmel war so strahlend blau, daß sich Sekena fragte, ob auch vor vielen Jahren ein solcher Tag gewesen war, an dem ein Stück des Himmels zur Erde fiel, von Reods Mutter aufgehoben wurde und sich seine Augen dadurch so blau färbten. Während sie marschierte, war sie in eine Art Traumzustand gefallen und starrte auf ihre Füße und die Räder des Wagens, die sich auf der unebenen Straße durch den Schmutz und den Schnee wühlten. »Sekena!« zischte ihre Mutter. Erschrocken riß sie den Kopf hoch. Gegen die schneebedeckten Berggipfel und hohen Immergrüne zeichnete sich ein kleiner schwarzer Umriß am Himmel ab. 60
Tamun und Reod unterhielten sich angeregt, hielten sich an den Händen und bemerkten überhaupt nichts. »Was ist?« flüsterte sie. »Ein Drache?« Mama schüttelte den Kopf. »Nicht um diese Jahreszeit, das glaube ich nicht. Sieht auch ganz anders aus.« Angestrengt spähten sie nach oben. Melelki grunzte nachdenklich. »Seht nur!« sagte Sekena mit erhobener Stimme. Die beiden anderen sahen zum Himmel, in die Richtung, in die sie deutete. Reod hielt den Ochsen an und wickelte die Leinen um Tamuns Hand. »Eine Vorsichtsmaßnahme«, erklärte er hastig. »Geht hinter den Bäumen in Deckung. Dort drüben. Ihr alle. Geht!« »Was ist denn?« fragte Melelki und rührte sich nicht. »Du wolltest doch, daß ich euch beschütze, nicht wahr? Also geht!« Sekena empfand seinen Tonfall als sehr überzeugend, aber da sich Melelki nicht bewegte, blieb sie ebenfalls stehen. Tamun preßte die Lippen zusammen und machte einen Schritt auf ihre Mutter zu. »Ich finde, es sieht nicht wie ein Vogel aus«, meinte sie zu Melelki gewandt. »Nein, es sieht anders aus.« »Ist das da hinten etwa ein Schwanz?« fragte Sekena. Reod atmete hörbar aus. »Es ist ein Windvogel.« »Ein Windvogel?« mischte sich Tamun ein. »Wie ein Spielzeug aus Tuch und Stöcken und Bindfaden - so ein Windvogel?« »Ja, nur größer. Groß genug, um einen Goblin zu tragen. Denn genau das seht ihr dort in der Mitte herumzappeln.« Sekena spähte noch angestrengter in den Himmel, um eine Gestalt auf dem Windvogel auszumachen. Keine von ihnen hatte bisher einen Goblin gesehen. »Wie machen sie das?« fragte sie neugierig. 61
»Er wird vom Boden aus gesteuert«, erklärte Reod, der plötzlich viel entspannter wirkte. »Normalerweise lenkt ihn jemand, der bedeutend klüger ist als ein Goblin - was auf die meisten Lebewesen zutrifft. Wahrscheinlich von einem Ork. Wenigstens habe ich das vorgeschlagen, als ich mich das letzte Mal mit dem Goblinkönig traf.« »Du hast es vorgeschlagen?« »Ich nehme an«, fuhr er fort, ohne den Einwand zu beachten, »es würde mir allein schwer fallen, eine Gruppe Orks davon abzubringen, mich zu einem feuchten Klumpen zusammenzurollen und mich als Trophäe mitzunehmen, aber bei drei Zwerginnen, die genau wissen, wie die Schmieden von Gurn arbeiten, sieht die Sache schon anders aus.« »Aber darüber wissen wir überhaupt nichts.« »Das werden sie euch nicht glauben. Jedenfalls nicht während der ersten langen, schmerzhaften Stunden, bis ihr alle quälenden Fragen über Zwergenfrauen beantwortet habt, die in ihren kleinen Gehirnen lauern. Ich vermute, daß ihnen die Antworten bedeutend mehr Spaß machen werden als euch.« »Oh!« stieß Melelki hervor. »Bäume«, sagte er mit schneidender Stimme. Die gelöste Stimmung war verschwunden und sein Blick erschreckte Sekena. »Auf der Stelle!« Tamun zerrte den Ochsen voran. Melelki schob mit ganzer Kraft hinten am Wagen, und sie begaben sich in den Schutz der Bäume. Aus der entgegengesetzten Richtung ertönten Rufe. »Sie haben uns gesehen«, sagte Reod. »Ich warte hinter dem Felsen«, meinte Sekena. »Für den Fall, daß du Hilfe brauchst.« Reod warf Tamun einen Blick zu. »Ein anderes Mal, Kind. Begib dich zu deiner Mutter und deiner Schwester.« Sekena fühlte, wie sie errötete. Reod ging auf den 62
Windvogel zu und war bereit, alles zu unternehmen, um sie zu schützen. Plötzlich kam sich Sekena sehr närrisch und furchtbar jung vor. Sie versteckte sich gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer Schwester hinter den Bäumen. Reod überquerte die Straße und lief den steinigen Hang hinauf. Er bog Zweige beiseite, sprang über Felsbrocken und durch Schneewehen hindurch. Es war vernünftig, Tamun zurückzulassen, aber es behagte ihm nicht. Natürlich war es viel besser, sich zwischen den Windvogel und die Zwerginnen zu stellen und sich mit dem zu befassen, was für die Steuerung des Windvogels verantwortlich war, ehe es die Frauen erreichte. Das war zwar sicherer für die Zwerginnen, aber umso riskanter für ihn. Was hatte ihn nur bewogen, drei unerfahrene Zwergenfrauen mit auf die Reise durch ein so unsicheres Gebiet zu nehmen? Tamun. Vom ersten Augenblick an, als er ihr in die goldbraunen Augen sah, nachdem sie durch das explodierte Ei umgeworfen wurde, war alles anders geworden. Beim Anblick ihres fremdartigen Gesichtes und des hellen, von rötlichen Strähnen durchzogenen Haares schlug sein Puls schneller, und ihre Berührung milderte alle Sorgen, als habe er einen Schluck vom besten Wein des Königs getrunken. Er stellte ihr Fragen, nur um ihre Stimme immer wieder zu hören. Warum hatte er nichts unternommen, um sich ihres einfachen Verführungszaubers zu erwehren? Es wäre ganz einfach gewesen, und er hätte weggehen können. Aber er hatte es nicht gewollt und wollte es auch jetzt nicht. Und so waren sie in eine Sache hineingeschlittert, die er - da war er sich sicher - auch allein erledigen konnte. Aber statt dessen hatte er nun drei unerfahrene Zwerginnen auf dem Hals, die er beschützen mußte. 63
Eine von ihnen war Tamun. Der kalte Wind trug ihm den Klang einer schrillen, heiseren Stimme zu. Goblingeschimpfe - der Hauptbestandteil ihrer einfachen Sprache. Dann vernahm er eine zweite Stimme, die sich beinahe wie die eines Orks anhörte - aber nur beinahe. Reod ließ sich auf den Boden fallen, nahm eine Handvoll Erde und rieb sie sich über die Ohren. Der Boden unter ihm fühlte sich für Magie geeignet an, daher überraschte es ihn nicht, als sein Zauber wirkte. »Zwerge, da bin ich ganz sicher«, hörte er die schrille Goblinstimme. »Du großer Feigling. Mach dich auf und hol sie.« »Nicht sicher, nicht sicher«, jammerte die schleppende, orkähnliche Stimme. »Vielleicht zu groß. Vielleicht tut mir weh.« Auf seinen Reisen hatte Reod Gelegenheit gehabt, beinahe jeder Kreatur zu begegnen, die in Sarpadia lebte. Er konnte die Rasse und oft sogar die Geburtsstadt der meisten Wesen von der Sprache, dem Dialekt und dem Tonfall nach bestimmen. Aber dieses ...? Was war das? Der Goblin stieß ein meckerndes Geräusch aus, das dem Schrei einer Ziege ähnelte. Damit beruhigten die Goblins für gewöhnlich ihre Jungen. »Du bist viel größer. Sie sind schwach. Sie sind wie Blumen. Du kannst auf sie drauftreten.« Von dort oben war jetzt ein Schrei zu hören, ein Fluch und ein dumpfer Knall, und Reod nahm an, daß der Windvogel in die Äste der Bäume gekracht war und sich dort verfangen hatte. Die Bodentruppe hatte anscheinend nicht aufgepaßt, was aber nicht überraschend war. Als Reod Goblins ausbildete, hatte die größte Schwierigkeit darin bestanden, sie dazu zu bringen, sich an das zu erinnern, was sie noch vor wenigen Minuten getan hatten. »Was ist mit Essen?« erkundigte sich die unbekannte Kreatur. »Iß sie nur, iß sie nur!« 64
»Essen?« »Ja, essen!« Zwei weitere Goblinstimmen griffen das Wort auf. »Essen! Essen! Essen!« ertönte es im Chor. Dann bebte der Boden, als käme ein Riese auf ihn zu. Reod runzelte verwundert die Stirn. Das Wesen mußte ausgesprochen groß sein. Was war es? Plötzlich fluchte er vor sich hin, denn ihm fiel ein, wo er eine ähnliche Stimme schon gehört hatte. Diese Kreatur war ein Orgg - weder Ork noch Oger sondern eine Mischung aus beiden. Außerdem vereinte sie die übelsten Eigenschaften beider Wesen in sich. Bei seinem letzten Festmahl mit den Orkgeneralen hatte er die Geschichte seiner Entstehung gehört, und sie hatte ihm fast ebenso sehr den Appetit verdorben wie die Speisen selbst. Reod sprang auf und rannte los. Er kam zu einer kleinen Lichtung. Vor ihm erhob sich eine graugrüne Mauer mit Armen und Beinen, deren Kopf sich auf gleicher Höhe mit den Baumwipfeln befand. Ein Orgg. Die riesige Gestalt griff nach dem Windvogel. Der daran befestigte Goblin klammerte sich an den oberen Teil eines Baumstammes. Der Orgg, der anscheinend zu helfen versuchte, riß den Windvogel vom Rücken des Goblins herunter, worauf ein wütendes Kreischen ertönte. Als würde er einer Fliege die Flügel ausreißen, dachte Reod. Dann griff der Orgg nach dem Goblin, der sich bemühte, die riesigen Pranken abzuwehren. Die Orggfaust schloß sich um den winzigen Goblin. Der Goblin heulte auf und verlangte, sofort abgesetzt zu werden. Also ließ ihn der Orgg fallen. Der Goblin lag eine Weile ganz still, dann schüttelte er sich und stand langsam auf. Während des ganzen Vorgangs hatte keiner der anderen Goblins Reod bemerkt, der mitten auf der Lichtung stand. 65
»Hungrig. Zwerge. Essen!« verkündete der Orgg plötzlich. Er ging auf die Bäume zu, in Richtung Straße. Auf die Frauen zu. Reod sah zu den Goblins hinüber. »Ich bin Reod Dai«, sagte er in ihrer Sprache. Sie starrten ihn an. »Das bist du nicht«, meinte einer von ihnen. Reod ging zu dem Sprecher und versetzte ihm eine kräftige Ohrfeige, die den Goblin zu Boden schleuderte. »Idiot! Welcher andere Mensch würde wohl sonst hier ganz allein herumwandern und eure Sprache sprechen? Wer ist dein Hauptmann? Ich werde dafür sorgen, daß man dich für die medizinischen Versuche benutzt.« Der Goblin nahm eine kränklich graue Färbung an. »Ich habe keine Zeit für diesen Unsinn«, fuhr Reod fort. »Ruf sofort den Orgg zurück!« »Warum denn, Herr?« »Weil die Zwerge mir gehören und ich nicht will, daß sie verletzt werden.« »Oh.« »Mach schon! Auf der Stelle!« Reod hörte die Schritte des Orggs noch immer, der Büsche niedertrampelte und Bäume zerbrach, während er sich langsam auf die Frauen zubewegte. Auf Tamun. Sein Puls raste. »Oh«, meinte nun auch der zweite Goblin mit besorgter Stimme. »Nun, Herr«, begann der Erste. »Es handelt sich um einen Orgg.« »Das sehe ich.« »Es ist so, daß man ihnen etwas befiehlt, und sie gehen los.« »Ja, und?« »Und wir wissen nicht, wie man ihn aufhält.« »Dann findet es heraus.« Sie sahen einander mit weit aufgerissenen Augen an 66
und zuckten die Achseln. »Wenn man sich ihm in den Weg stellt, dann wird man...« »... zermalmt«, endete der Dritte. »Idioten!« zischte Reod. »Man greift nie an, wenn man sich des Ziels nicht sicher ist. Wie oft habe ich euch dämlichen Kreaturen das nicht schon erklärt? Ihr werdet euch noch wünschen, ihr wärt sein Ziel gewesen. Habt ihr verstanden?« Sie nickten beklommen. Reod machte kehrt und verließ die Lichtung. Er überlegte, was er über dieses Wesen wußte, das weder Ork noch Oger war, sondern nur bestimmte Züge von jeder Rasse hatte. Anscheinend hatte der Orgg die Größe und den widerwärtigen Charakter der Oger geerbt, und auch die Klugheit der wohl dümmsten Ogersippe. Von den Orks stammte die Feigheit, die sogar die Orkgenerale, die lauthals die Kraft des Wesens lobten, peinlich berührte. Wenigstens war der Orgg nicht in der Lage zu schleichen. Mit dröhnenden Schritten bahnte sich der Orgg einen Weg, so daß Reod ganz genau wußte, wo er sich befand. Er lief lautlos durch das Unterholz und fluchte leise vor sich hin. Sekena stand neben dem Wagen, spielte mit der Eierschale und lauschte beunruhigt dem aus der Ferne vernehmlichen Dröhnen, von dem sie annahm, daß es etwas mit Reod zu tun hatte. Sie dachte über seine Worte nach und grübelte die ganze Zeit vor sich hin. Vielleicht hatte er recht, vielleicht war die Schale keine richtige Waffe. Aber sie war scharf. Und war es nicht besser, etwas zu benutzen, das greifbar war? Besser jedenfalls, als gar nichts zu haben. Eilige Schritte näherten sich. Sekena duckte sich, richtete die scharfe Kante nach außen und wünschte sich eine richtige Waffe. Verflucht sei Reod! Er hätte sie kämpfen lehren können, wenn er gewollt hätte. 67
Aber Reod selbst stürmte heran, völlig außer Atem. »Ei!« keuchte er und löste die Knoten der schweren Plane. Er bemühte sich, ein Ei aus dem Wagen zu heben. »Laß mich«, sagte Tamun, schob ihn beiseite und hob das Ei mühelos hoch. »Auf die Straße damit!« wies er sie an. »Sekena, hol mir das Trockenfleisch aus meinem Bündel.« Sekena packte den Beutel und suchte nach den Fleischstreifen, während das Dröhnen immer lauter wurde. »Was ist das?« »Etwas sehr Großes, sehr Dummes und sehr Gefährliches. Man nennt es einen Orgg.« Sie folgten Reod zur Straße. Dort kniete er neben dem Ei nieder, warf ein wenig Erde auf die Oberfläche und spuckte darauf. Dann verrieb er die Erde, und die strahlendweiße Schale färbte sich grau. Vor den Augen der Frauen erschien eine schwarze Linie auf dem Ei. Ein Riß. Melelki und Tamun traten einen Schritt zurück. Unter Reods Berührungen wurde der Riß breiter und länger. Was normalerweise Stunden gedauert hätte, war in Sekunden vorbei. Eine blasse Kralle und ein grüner Arm wagten sich zögernd durch die Schale und verschwanden sofort wieder. Reod packte beide Seiten der Schale und zerrte sie mit aller Kraft auseinander. Die ganze Zeit über murmelte er unverständliche Worte. Unter Krachen und Knacken vergrößerte sich die Öffnung, bis das Ei zerbrach. Sekena hielt den Atem an. Endlich würde sie mehr von einem jungen Drachen zu sehen bekommen als nur die Nase. Als sie tief durchatmete, wurde sie von einem Glücksgefühl erfüllt, als wäre sie gerade aufgewacht und würde von einem warmen Sommerregen überströmt. Ein Geruch lag in der Luft, wie sie ihn noch nie gerochen hatte, höchstens einmal in einem Traum. Es war gleichzeitig seltsam und wundervoll. Das Junge schlüpfte aus den Resten der Eierschalen 68
und fiel wie ein großer grüner Klumpen zu Boden. Die Gliedmaßen waren eng zusammengedrückt, und die schmale Brust hob und senkte sich. Es zuckte und zappelte bei dem Versuch, sich aufzurichten. Reod wich einen Schritt zurück, da er anscheinend keine Lust hatte, dem Wesen noch weiter behilflich zu sein. Ohne nachzudenken, trat Sekena vor. Reod streckte die Hand nach dem Fleisch aus. Sie blieb stehen und besann sich wieder auf ihre Umgebung. Er nahm die Fleischstreifen entgegen, bückte sich und wedelte sie dem Drachenjungen vor der Nase herum. Dann warf er das Fleisch in die Richtung, aus der die dröhnenden Schritte kamen. »Nahrung!« sagte Reod zu dem kleinen Drachen. Er wiederholte es ein paarmal mit sanfter Stimme. Das Junge schüttelte sich, tat einen vorsichtigen Schritt, konnte sich kaum aufrecht halten, tat noch einen Schritt und stolperte Stück für Stück auf das Fleisch zu. Guter Orientierungssinn, dachte Sekena, für etwas, das gerade erst auf die Welt gekommen ist. Stolz wallte in ihr auf. Sie wollte ihm folgen, jede seiner Bewegungen beobachten und sich immer stolzer fühlen. Reod hielt sie am Arm fest und bedeutete den Zwerginnen, unter die Bäume zurückzuweichen. Das Junge fand das Trockenfleisch und verschlang es. Dann blickte es nach oben, als sich die Bäume teilten. Eine riesige graugrüne Gestalt mit Armen, Beinen und vielen spitzen Zähnen trat auf die Straße. Speichel hatte sich in den Falten des Kinns gesammelt, und das Monstrum sah auf den kleinen Drachen hinunter, der ihm kaum bis zum Knie reichte. Reod hob eine Handvoll Erde auf und bewarf das Junge damit. Es dauerte ein paar Minuten, bis Sekena einfiel, wo sie diese Geste schon einmal gesehen hatte. Sie zuckte zusammen, aber nichts geschah. »Verdammt«, murmelte Reod leise. Das Junge legte den Kopf auf die Seite und sah den 69
Orgg an, der das gleiche tat. Zuerst auf die eine Seite, dann auf die andere, als versuchten beide, das seltsame Wesen vor sich aus jedem Blickwinkel zu erfassen. Gleichzeitig schienen die beiden einen Entschluß zu fassen. Der Orgg schaute zu Reod und den Zwerginnen hinüber, da er anscheinend entschieden hatte, den kleinen Drachen als bedeutungslos anzusehen. Das Junge dagegen starrte die Zehen des Monstrums an. Reod ging ein paar Schritte zur Seite und hob wieder etwas Erde auf. Seine Hand zitterte, als er warf. Wieder geschah nichts. Der Orgg wollte um den Drachen herumgehen und sich den Zwerginnen zuwenden. Das kleine Geschöpf klammerte sich an den Fuß des Monstrums, drehte den Kopf und biß fest in den großen Zeh. Der Orgg heulte auf und brüllte so laut, daß sich Sekena beide Ohren zuhielt. Dann holte der Riese aus, schlug nach dem Jungen und verfehlte es. Unter wehleidigem Geheul drehte sich der Orgg im Kreis und versuchte abwechselnd, den Winzling zu packen oder ihn abzuschütteln. Der kleine Drache hielt sich fest und kaute immer noch am großen Zeh des Orggs. Schließlich riß ihn der Orgg mit einem schrillen Schrei los. Ein halber Zeh und eine blutige Wunde blieben zurück. Er hielt sich das Junge dicht vor das Gesicht, um es genau zu betrachten. Das Kleine nutzte die Gelegenheit, schnappte nach der Nase des Orggs und verfehlte sie nur um Haaresbreite. Jetzt riß das Ungetüm das riesige Maul auf, dessen Unterkiefer den größten Teil des Kopfes einnahm. Mit einer einzige Bewegung stopfte es den Drachen hinein, schloß das Maul und schluckte. Sekenas Magen krampfte sich schmerzlich zusammen. Zwei kleine grüne Beinchen baumelten aus dem Maul des Orggs, daneben die Spitzen der weißgeäderten Flügel. Nach einem weiteren Schluck waren auch sie verschwunden. 70
Der Orgg schluckte ein drittes Mal, rülpste leise und sah wieder zu den Zwerginnen hinüber. »Zum Teufel!« fluchte Reod ratlos. Er nahm noch eine Handvoll Erde und murmelte vor sich hin. Sekena begriff, daß er mehr Zeit brauchte. Ehe ihr bewußt wurde, was sie tat, hielt sie die Eierschale in die Sonne, so daß sich das Licht darin spiegelte und genau in die Augen des Monstrums schien. Der Orgg schüttelte den Kopf und wich zurück. Sekena folgte ihm. Der Orgg fuchtelte mit den Pranken und versuchte, das Licht beiseite zu schlagen. Reod murmelte noch immer unverständliche Worte und warf mit Erde. Donnergetöse ertönte, der Erdboden hob sich und Sekena stürzte zu Boden. Feuer schien innerhalb ihres Körpers auszubrechen und sie zu verzehren. Minuten oder Stunden später kam sie zu sich. Mama saß neben ihr und schüttelte sie. »Blume?« Sekena stöhnte und rollte sich auf die Seite. Dann stand sie langsam auf. Sie sah sich um. Wo das Drachenjunge und der Orgg gewesen waren, befand sich jetzt ein Loch im Boden. Ringsherum lagen Steinbrocken und Erdklumpen verstreut. Wie damals vor der Hütte. Und auf der anderen Seite des Kraters standen drei kleine Gestalten. »Die Goblins«, sagte Reod und legte Tamun die Hand auf den Arm. »Ich habe ihnen eine Höllenangst eingejagt, aber sie sind nicht besonders klug und vergessen schnell. Ich glaube, wir sollten gehen.« Hastig suchten sie ihre Habe zusammen, zurrten die Plane des Wagens fest und folgten der Straße in Richtung Norden. Sekena gab sich Mühe, einen klaren Kopf zu bekommen, denn das Donnergetöse hallte ihr noch immer in den Ohren, und auch ihr Magen hatte sich noch nicht wieder beruhigt. 71
Als sie aufbrachen, hob sie die Eierschale auf, die sie fallengelassen hatte. Sie hatte genau das getan, was ihr Reod zum Spaß vorgeschlagen hatte. Heute abend wollte sie die Schale vorzeigen und kein Wort dazu sagen. Der Gedanke ließ sie lächeln. Am nächsten Tag kam ein Sturm auf. Es schneite, und die Umrisse der Berge und Bäume verschwanden hinter einem dünnen Vorhang aus Schnee. Reod kannte Tricks, damit sie nachts nicht naß würden: Er bastelte ein Dach aus Ästen und Umhängen, zündete ein Feuer und die Lampe an. Aber tagsüber, als sie durch den tiefen Schnee stapften, gab es keinen Schutz. Meistens hatte Sekena bis zu den Knien hinauf nasse Beine. Die Kälte war nicht weiter schlimm, aber sie hatte das Gefühl, die Feuchtigkeit nicht länger ertragen zu können. Bald, dachte sie, sind wir in Kalitas. Dort sollte ein heißes Bad, ein weiches Bett und ein Kaminfeuer auf sie warten, an dem sie die nassen Kleider trocknen konnten. Tamun und Reod gingen ein Stück weiter vorn. Sie hatten sich leicht vornübergebeugt und unterhielten sich. Zwar verstand Sekena kein Wort, hörte aber von Zeit zu Zeit Tamun leise lachen. Es war eigenartig, ihre Schwester mit einer so seltsamen Kreatur wie diesem Menschen scherzen zu sehen. Aber war Tamun nicht immer schon ein wenig anders gewesen? Als sie sich der Stadt näherten, sahen sie über den Bäumen Rauch aufsteigen, graue Rauchschwaden, die sich dunkel gegen den grauen Himmel abhoben. Sekena dachte an Kaminfeuer und heißen Wein. Es blieb ihnen gerade noch Zeit genug, das letzte Licht des Tages auszunutzen, um die Stadt und den Gasthof zu erreichen. Als sie aber den Wald verließen, erblickten sie weder die abendlichen Lichter noch hörten sie die Laute einer Stadt. Statt dessen ragten die Umrisse zerstörter, qualmender Häuser vor ihnen auf, vor denen Stoffetzen oder Decken aufgestapelt lagen. 72
Die Stille des schneebeckten Waldes wurde von dem gelegentlichen Knarren und Krachen eines verkohlten, brechenden Balkens durchdrungen. Schweigend gingen sie weiter. Sekena erkannte, daß es sich weder um Decken noch Tücher, sondern um Leichen handelte. Tamun hielt hörbar die Luft an, und Mama stöhnte leise. Die Dunkelheit verbarg Einzelheiten, was Sekena mit schuldbewußter Dankbarkeit begrüßte, aber die schwarzen Pfützen auf dem Boden bestanden eindeutig aus Blut, und es roch unverkennbar nach Tod. Sie blieben stehen und sahen sich sprachlos vor Entsetzen um. »Orks«, flüsterte Reod. »Gestern. Oder vorgestern.« Nach einer Weile fügte er hinzu: »Wir müssen fort von hier. Wir müssen an anderer Stelle lagern.« Inmitten der düsteren Ruinen erspähte Sekena ein flackerndes Licht. »Seht nur!« rief Melelki. Reod faßte Tamun bei der Hand und legte die Rechte auf Melelkis Schulter. »Nicht! Wir wollen und müssen nicht wissen, wer das ist. Nicht jetzt und nicht hier.« »Es ist einer der Unseren«, erwiderte Melelki. »Es muß ein Zwerg sein, der überlebt hat.« Reod schüttelte den Kopf und sagte mit sanfter Stimme: »Nein, ganz sicher nicht. Wir müssen weiter.« »Es kann kein Ork sein«, sagte Sekena und war überrascht, daß ihre Stimme völlig ruhig klang und nicht das Grauen widerspiegelte, das sie empfand. »Die Orks haben sicherlich gefunden, was sie suchten. Weshalb hätten sie hierbleiben sollen?« »Es gibt andere Räuber und Raubtiere außer den Orks«, entgegnete Reod. »Wenn es ein Zwerg ist, der dieses Gemetzel überlebte, dann kann er auch ohne unsere Hilfe auskommen.« 73
»Wir werden nachsehen«, sagte Melelki bestimmt. Sekena kannte diesen Ton und wußte, daß es besser war, nicht zu widersprechen. Reod wußte das nicht. »Frau, hör mir ...« »Wir werden nachsehen!« Melelki schüttelte seine Hand ab und schritt voran. Sekena fühlte sich verunsichert, Reods Worte klangen einleuchtend, vielleicht sogar vernünftiger als die ihrer Mutter. Aber sie würde Mama nicht allein gehen lassen. »Du weißt es also besser«, sagte Reod wütend, aber als Tamun Mama folgte, blieb er an ihrer Seite. Schweigend schritten sie zwischen den dunklen, zerstörten Gebäuden umher. In dem schwächer werdenden Dämmerlicht war es schwierig, Einzelheiten zu erkennen und Gegenstände auszumachen, die einmal Karren oder Möbelstücke gewesen waren. Sekena ertappte sich dabei, die herumliegenden Leichen anzustarren und nach den Gesichtern zu suchen. Sie wollte niemanden erkennen, den sie vom letzten Frühlingsfest her kannte, konnte aber den Blick nicht abwenden, bis es schließlich zu dunkel war, um noch etwas sehen zu können. Bis jetzt hatte Reod die Lampe noch nicht entzündet. Er war vorsichtig und wollte keine Aufmerksamkeit auf sie lenken, dachte Sekena. Auch wenn ihr Reod nicht beibringen wollte, was er wußte, würde sie trotzdem etwas von ihm lernen. Eine paar schemenhaft sichtbare Hühner trippelten an ihnen vorüber. Sie pickten auf den schneebedeckten Boden und bildeten einen eigenartigen Gegensatz zu der vom Tod gezeichneten Umgebung. Dann entdeckten sie die Lichtquelle. Auf einer Türschwelle, die zu den Überresten eines Häuschens gehörte, saß ein alter Zwerg. Neben ihm stand eine kleine Lampe. Er sah an ihnen vorbei und wischte sich gedankenversunken die Schneeflocken aus dem verfilzten, zottigen Bart. 74
»Oh Vater«, sagte Melelki. »Was für eine schreckliche Zeit!« »Es ist Abend«, erwiderte der Mann. »Komm mit uns, Vater«, forderte ihn Melelki auf. »Wir werden dich mitnehmen, ehe die Nacht hereinbricht.« Er blinzelte und sah zu ihr auf. »Mich mitnehmen?« »Du kannst nicht hierbleiben.« Er verzog das Gesicht. »Was redest du da? Ich muß auf meine Brüder warten. Im Männerhaus essen wir zu Abend. Oder vielleicht...« Er schmatzte. »Vielleicht kochen die Frauen für uns. Das machen sie immer, wenn es so kalt wie heute ist. Dafür möchten sie, daß wir ihre Häuser instand halten. Iß jetzt und arbeite später. Das ist ein gutes Abkommen. Meine Brüder und ich werden ihnen im Frühling beim Hausbau behilflich sein, wenn sie uns heute abend zu essen geben.« »Deine Brüder? Wo sind sie?« »Vielleicht im Männerhaus. Spielen mit den Steinen. Sie werden bald hier sein.« Sie blickte über die Schulter. Das Männerhaus lag in Trümmern; die Wände und das Dach waren beinahe völlig verbrannt. »Dort ist doch niemand mehr, Vater«, erklärte Tamun. »Komm, Vater«, sagte Melelki und streckte ihm die Hand entgegen. »Wir werden versuchen, ein Haus zu finden, das nicht so zerstört ist wie dieses hier, damit du vor der Kälte und der Feuchtigkeit geschützt bist. Morgen kannst du dich auf den Weg nach Tigaden machen. Dort wird man sich um dich kümmern.« »Ich kenne Tigaden, Frau«, erwiderte er und schob ihre Hand beiseite. »Hör auf, mich zu belästigen! Wenn du dauernd reden willst, dann geh zum Frauenhaus. Laß mich in Ruhe.« Mama warf ihnen besorgte Blicke zu. Reod schwieg und spähte aufmerksam umher. 75
»Aber Vater, was ist denn, wenn die Orks zurückkehren?« Er blickte auf und ließ die Augen zwischen den Frauen und den schwarzen Ruinen der Stadt hin- und herwandern. Dabei sah er immer wütender drein und zupfte sich an dem wilden, verfilzten Bart. »Orks? Was für Orks?« »Die Orks, die hier waren und...« Melelki fuchtelte mit der Hand und wies auf die Trümmer. »Verschwindet!« brüllte er. »Du redest zuviel! Es geht mir gut. Laßt mich in Ruhe!« »Aber ...« Ihre Stimme brach. »Bitte!« »Oh, Vater«, flüsterte Tamun. »Verschwindet!« Sie wichen zurück und gingen zur Straße. Dann machten sie sich mitsamt dem Ochsenkarren auf den Weg und ließen das zerstörte Kalitas hinter sich. Mama atmete immer noch schwer, und im Lampenlicht sah man ihren schmerzlichen Gesichtssausdruck. »Wir müssen nach Gurn, um den Leuten dort zu berichten, was geschehen ist.« »Das wissen sie bereits«, erklärte Reod. »Es ist nicht das erste Mal, daß die Orks zugeschlagen haben, aber sonst halten sie sich an kleinere Orte entlang der Grenze. Vielleicht ist es einigen Zwergen gelungen, aus Kalitas zu fliehen und Gurn zu erreichen.« Sekena dachte an die Leichen, die sie gesehen hatte, besonders an die kleinsten, die jetzt wilden Tieren als Nahrung dienen würden. »Wir müssen dabei sein, wenn gegen die Orks gekämpft wird.« »Man ist bereits dabei, in Teedmar eine Armee auszurüsten.« »Teedmar? Wo ist Teedmar?« »Das ist eine Bergarbeiterstadt nicht weit von Gurn entfernt. Dort gibt es zahlreiche Freiwillige. Mehr, als man ausbilden kann. Ihr werdet nicht gebraucht.« 76
»Bestimmt wird man uns nicht abweisen«, beharrte Sekena. »Sie brauchen keine Leute mehr.« Sekena verzog das Gesicht. »Sieh dir an, was in Kalitas geschah! Sie brauchen uns nicht? Das bezweifele ich.« Melelkis Stimme klang gepreßt. »Wir haben es nicht gewußt. Wieso haben wir nichts davon gewußt?« »Die Angriffe der Orks auf Zwergenstädte fanden erst in der letzten Zeit statt«, erklärte Reod. »Ihr lebt am Ende der Purpurgipfel, wohin die Neuigkeiten am langsamsten und spätesten gelangen.« »Tigaden!« stieß Melelki mit aufeinandergepreßten Lippen hervor. In Tigaden lebten die meisten ihrer Verwandten. »Sollten wir nicht umkehren und sie warnen?« Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube kaum, daß sich die Orks mitten im Winter die Mühe machen, so weit in die Berge vorzudringen.« »Was du glaubst, ist wenig beruhigend«, sagte Sekena. »Du hast behauptet, den Orks und Goblins das Kämpfen beigebracht zu haben. Sind sie deswegen nach Kalitas gekommen?« »Ich lehrte sie, gegen Icatianer zu kämpfen. Nicht gegen Zwerge.« Sekena schnaubte. »Hast du ihnen etwa keine Waffen gegeben? Natürlich für die Icatianer.« »Sekena!« warnte sie Tamun. Sekena wandte sich an ihre Schwester. »Nach allem, was du gesehen hast, verteidigst du diese Kreatur noch?« »Tochter«, mischte sich Melelki ein, »es gibt vieles, das wir nicht verstehen. Denke daran, was er für Tamun getan hat, als sie verletzt war.« »Dann heilt er mit der einen Hand und verletzt mit der anderen. So ist es doch, oder?« »Ja!« antwortete Reod mit schneidender Stimme. »Genau das tue ich. Manchmal muß man einen tiefen Schnitt anbringen, damit die Wunde überhaupt heilt.« 77
»Und Kalitas?« Inzwischen ging Sekena neben Reod her. »Wird Kalitas geheilt? Alle Toten stehen wieder auf, lachen, und die Häuser reparieren sich von selbst?« »Kalitas hätte nie angegriffen werden dürfen. Aber das ist nicht meine Schuld. Die Elfen haben den Krieg gewollt und das Ruder aus der Hand gelegt. Wenn du deine Wut austoben willst, Kind, dann suche dir das rechte Ziel. Und das ist der Zufluchtwald.« Sekena stellte sich ihm in den Weg, wodurch sie ihn zwang, stehenzubleiben oder in sie hineinzulaufen. Er hielt inne. In dem schwachen Licht konnte sie ihn kaum richtig erkennen, sah aber trotzdem auf, um dem Blick der kalten blauen Augen zu begegnen. Ihr Herz klopfte heftig. Eine seltsame Kreatur, dieser Mensch. Seltsam und aufreizend. Er wußte so viel, und außerdem war er ein Zauberer. Und sie - was war sie? Eine Zwergin, in einem winzigen Gebirgsdorf geboren und nicht einmal kurz vor der ersten Hitze stehend. Aber wenn er Respekt verlangte, dann beanspruchte sie das gleiche für sich. »Ich habe einen Namen«, fauchte sie. »Ich wünsche, daß du ihn benutzt.« Geraume Zeit herrschte Schweigen. Sekena fielen die Geschichten ein, die sie gehört hatte: Erdbeben, Überschwemmungen und schreckliche Stürme, die von erzürnten Zauberern ausgelöst wurden. Vielleicht hätte sie den Mund halten sollen. »Sekena«, sagte er leise. Sie stolperte davon; ihr Selbstbewußtsein war nahe daran, zu zerbrechen. Hatte er gelächelt? Ob freundlich oder spöttisch konnte sie nicht sagen, aber sie nickte ihm zu und ging ihm aus dem Weg. Zitternd blieb sie stehen und wartete, bis sie ihren Platz hinter dem Wagen wieder einnehmen konnte. 78
Als sie die Ausläufer des Gebirges erreichten, wurde es wärmer, und der Schnee war stellenweise getaut. Hier standen die höchsten Fichten, die Sekena je gesehen hatte. Jetzt waren sie nur noch wenige Tagesmärsche von der Ebene entfernt. Danach würden sie den Zufluchtwald erreichen, wo die Elfen lebten, die laut Reods Aussage die Schuld an der Tragödie von Kalitas trugen. Sekena beobachtete ihn oft, prägte sich seine Worte und Gesten ein, denn sie hoffte, auf diese Weise das zu lernen, was er ihr nicht freiwillig erklärte. Wann immer er mit ihr redete, sprach er sie mit Namen an. Noch nie war eine der drei Frauen so weit von daheim fort gewesen. Sekena staunte, wie schnell sich die Landschaft veränderte. Sie erblickte Bäume und Büsche, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sogar der Geruch des Erdbodens hatte sich verändert, seitdem sie in tiefer gelegenen Regionen weilten. Gegen Abend machten sie sich bereit, ein Nachtlager aufzuschlagen; die graue Himmelsdecke verdüsterte sich, als die Dämmerung hereinbrach. Melelki und Tamun füllten den Kessel über dem Feuer mit Schnee und als das Wasser kochte, gaben sie getrocknetes Gemüse und Trockenfleisch dazu. Reod verschwand kurz hinter den Bäumen, um sich zu erleichtern. Als er zurückkehrte, erwartete ihn Sekena, um ihn von den anderen fernzuhalten. Er sah zu Tamun hinüber, als müsse er sich vergewissern, daß sie noch immer da war. »Was ist?« »Eines der Eier!« flüsterte sie. »Es ist bald so weit. Vielleicht heute nacht. Ich bin nicht ganz sicher.« Er runzelte die Stirn. »Woher weißt du das?« Die Erklärung fiel ihr schwer. »Ich spüre es.« »Ich habe sie heute überprüft, Sekena. Keines ist schon so gefleckt, daß ein Ausschlüpfen bevorstehen könnte.« »Ich weiß. Aber ich fühle mich genauso komisch wie 79
damals, ehe das erste Ei in unserem Keller platzte. Und das gleiche Gefühl hatte ich auch auf der Straße, bei den Goblins.« Er warf ihr einen seiner durchdringenden Blicke zu. »Zeig es mir.« Er band die Plane vom Wagen los. Sekena ließ die Finger über die Schalen gleiten und fand das Ei, das sich ihrer Meinung nach reif anfühlte. »Das hier.« Reod hob das Ei ein wenig hoch, um die Unterseite zu betrachten. Er sah sie überrascht an und nickte nachdenklich. »Du hast recht. Da ist ein Riß. Gute Arbeit, Sekena.« Sie spürte, wie sein Lob sie erröten ließ. »Wir müssen es vom Lager fortbringen«, meinte Reod. »Aber nicht, um es zu zerstören!« entfuhr es Sekena, die Angst in sich aufsteigen fühlte. »Nein. Wir tragen es weiter den Berg hinauf. Dann wird das Junge nach oben klettern und nicht während der Nacht über uns stolpern.« Gemeinsam trugen sie das Ei den Hang hinauf und legten es unter einen umgestürzten Baum. Es war schön, ein Ei so dicht neben sich zu spüren. Sekena mußte sich zwingen, ins Lager zurückzukehren. Kaum dämmerte der Morgen, als Sekena mit dem Gefühl erwachte, daß irgend etwas nicht stimmte. Hinter den in der Nähe stehenden Bäumen vernahm sie ein Rascheln. Das Junge. Es war ausgeschlüpft und während der Nacht zum Lager zurückgekehrt. Aber eigentlich hätte es den Berg hinaufklettern sollen. Ob es den Gipfel schon erreicht hatte, fliegen konnte und nun nach Nahrung suchte? Sie wandte sich zu Reod um, aber er lag nicht an seinem Platz. Sie entspannte sich. Also war er es, der zwischen den Bäumen herumspazierte. 80
Dann erklang auf der anderen Seite ihres Lagerplatzes ebenfalls ein Rascheln. Sekena sprang auf, zog die Eierschale aus der Tasche und sah sich um. Ihre Mutter und Tamun waren bereits auf den Beinen, die Kleider noch vom Schlaf verknittert. Tamun warf ihr einen Blick zu, der besagte: Ich höre es auch. Was ist das?
Sekena schüttelte den Kopf. Ich weiß nicht. Melelki trat einen Schritt zurück und öffnete den Mund, um den in der Luft liegenden, starken Geruch einzuatmen. Sogar Sekena nahm ihn jetzt wahr. Was war das? Lautlos formulierte Melelki die Antwort. Menschen. Und dann waren sie da, kamen aus allen Richtungen zwischen den Bäumen hervor. Sie trugen graue und ockerfarbene Uniformen aus Leder und gewebten Stoff und graue Stiefel, die so hoch waren, daß der Schnee nicht in die Schäfte dringen konnte. Im Dämmerlicht verschmolzen sie mit der Umgebung. Einige der Leute trugen gespannte Bögen, andere hielten Schwerter in den Händen. Glänzende, scharfe Schwerter aus Metall. Die Art, wie sie damit umgingen deutete darauf hin, daß es sich um geübte Kämpfer handelte. Neid wallte in Sekena auf. Aber wo steckte der Mensch, den sie kannten? Einer der Menschen trug eine Uniform, die sich durch den höheren, breiteren Kragen von den übrigen unterschied. Es mußte sich um einen Mann handeln, entschied Sekena, da er einen Bart wie Reod trug und größer als die anderen Menschen war, die keine Barte hatten und deshalb Frauen zu sein schienen. Die Hand des Mannes spielte mit dem Schwertknauf, während er die Zwerginnen beobachtete. Die Geste verriet Sekena, daß er die drei Frauen nicht als Bedrohung ansah. Sie umklammerte die Eierschale und dachte an die alten Geschichten, in denen die Menschen die Zwerge fortwährend unterschätzten. Sie warf ihrer älteren Schwe81
ster einen Blick zu und dachte an die Kraft, die ihr die Hitze verlieh und hoffte beinahe, daß die Menschen sie bedrängen würden. »Ich grüße euch und wünsche euch einen guten Tag«, sagte der Mann. »Ich bin Aaron Labann, Leutnant der Armee Icatias. Das sind meine Späher. Wer seid ihr?« Menschen waren eigenartig, denn sie wollten immerzu über Namen und Orte sprechen, ehe sie zu den wichtigen Dingen kamen. »Was wollt ihr?« fragte Melelki. Der Mensch namens Aaron Labann runzelte die Stirn und dachte nach. »Ihr seid weit von jedem Dorf entfernt. Drei Zwerginnen ohne Begleitung. Keine Waffen, nur ein Wagen. Ihr befindet euch an einem gefährlichen Ort, ohne jede Verteidigungsmöglichkeit. « »Wieso glaubst du, wir seien nicht in der Lage, uns zu verteidigen?« fragte Tamun. Wieder sah sich der Mann um, als liege die Antwort auf der Hand, aber er sei unsicher, wie er es erklären solle. »Was ist in dem Karren?« »Vorräte«, antwortete Melelki. »Wohin wollt ihr?« »Weit weg, um unser Glück zu suchen. Wir sind aus Kalitas. Es wurde von Orks zerstört.« Er nickte und schien nicht erstaunt zu sein. Dann winkte er zwei Spähern, die um die Zwerginnen herum auf den Wagen zugingen. »Wir haben von den Geschehnissen in Kalitas gehört. Aber diese Gegend ist noch unsicherer. Ihr solltet nicht hierbleiben.« Sekena trat auf den Späher zu, der ihr am nächsten war und dachte an Schwerter und Eierschalen. Vielleicht konnte sie diese bewaffnete Menschenfrau überrumpeln, obwohl sie viel größer war. Würde sie stärker sein oder 82
nicht? Nun, dachte sie grimmig, es gab nur eine Möglichkeit, um das herauszufinden. Auf der anderen Seite war auch Tamun einem Menschen in den Weg getreten. »Laßt das!« befahl der Leutnant. »Mit eurem Benehmen verratet ihr mir, daß sich in dem Wagen nicht das befindet, was ihr behauptet habt.« »Pah!« stieß Melelki hervor. »Wir möchten nur, daß ihr die Hände von unserer Habe laßt.« »Dummes Geschwätz!« sagte er mit barscher Stimme. »Jetzt geht aus dem Weg! Stellt euch auf!« Das war anscheinend ein Befehl, denn die Soldaten stellten sich in zwei Reihen vor dem Leutnant auf, die Gesichter den Zwerginnen zugewandt. Der vor Sekena stehende Späher legte die Hand auf den Schwertknauf, bereit, die Waffe zu ziehen. Der Leutnant holte tief Luft und wollte den nächsten Befehl geben. »Es reicht!« ertönte eine wohlbekannte Stimme laut und deutlich aus dem Hintergrund. Reod trat hinter einem Baum hervor. »Der Wagen gehört mir, Aaron. Halte deine Männer zurück.« Der Leutnant riß erstaunt die Augen auf. »Robin? Robin Davies?« Auch die anderen Menschen schienen den Zauberer zu erkennen. Einige murmelten vor sich hin, andere spuckten aus. Der Leutnant machte eine Handbewegung, und es wurde still. »Reod Dai«, sagte Reod leise und trat zu den Frauen, wobei er Tamun streifte. Dann wandte er sich dem Leutnant zu. »Dieser Name steht in Icatia für einen Verräter«, sagte der Offizier. »Das hörte ich.« Der Leutnant gab seinen Männern ein Zeichen, die sich entspannten und die Waffen verstauten - zum Teil äußerst widerwillig. Alle Blicke waren auf Reod gerichtet. Langsam kam der Leutnant näher und senkte die Stimme, so daß ihn Sekena kaum verstehen konnte. 83
»Was machst du hier? Was ist...« Er sah zuerst die Zwerginnen an, dann den Wagen. »Was geht hier vor?« »Das geht dich nichts an.« »Jetzt schon!« Reod schenkte dem Leutnant ein anscheinend freundliches Lächeln. Der seufzte. »Robin, erzähl mir, was hier los ist. Ich hörte gewisse Dinge ...« »Ich heiße jetzt Reod.« »Oh, nein! Wie kann ich dich bei dem Namen nennen, den dir die Hand gab?« »Ich nehme an, es wird dir leichter fallen, mich zu verhaften und vor Gericht zu schleppen, wenn du das tust, Aaron. So lauten doch deine Befehle, oder nicht?« Der andere zögerte; dann nickte er. »Es wird behauptet, du hättest hundert Männer an die Schwarze Hand ausgeliefert. Ich habe dich verteidigt, als ich das hörte. Es ist sogar Blut geflossen, als man dich beleidigte.« »Ich bin dir für deine Treue dankbar, so unangebracht sie auch ist.« »Ich konnte es einfach nicht glauben. Nicht von unserem Hauptmann Davies. Aber einige dieser Männer kehrten zurück.« Er atmete hörbar aus. »Teilweise lebendig, teilweise verfault. Robin, sprich!« »Was willst du hören, Leutnant?« »Die Wahrheit.« Reod sah den Mann eine Weile an und schüttelte den Kopf. »Du wirst bei meiner Geschichte Lügen in der Wahrheit entdecken und Wahrheit in den Lügen. Du hast den Befehl, mich festzunehmen. Warum sollte ich Worte an dich verschwenden? Die Zeit für Erklärungen ist vorbei. Jetzt ist die Zeit des Handels gekommen.« Enttäuscht senkte der Leutnant den Kopf und trat einen Schritt zurück. »Reod Dai, hiermit...« »Aber zuerst biete ich dir die Möglichkeit«, unter84
brach ihn Reod, »deine Männer zu sammeln und zu verschwinden.« »Was?« »Laßt uns ungeschoren.« »Du weißt, daß ich das nicht darf.« »Ich gebe dir die Möglichkeit.« Der Leutnant lachte bitter. »Hier kannst du nicht gewinnen, Robin.« »Ich führte fünfhundert Soldaten der Elitetruppe Leitburs, Aaron. Glaubst du, das sei ein Versehen gewesen? Ihr seid zwanzig, und wir sind zu viert, aber wenn du mich jetzt herausforderst, wirst du es nicht überleben.« Er senkte die Stimme. »Bitte, Aaron.« Auf dem Gesicht des Leutnants malte sich Verwirrung ab. Er blickte sich auf der Lichtung um, sah die Zwerginnen an und dann wieder zu Reod. »Es ist bekannt, daß du gut lügen kannst.« Reod schnaubte vor Vergnügen. »Natürlich. Schließlich wurde ich in Icatia geboren, nicht wahr?« Das Gesicht des Leutnants verdüsterte sich. »Dieser Icatianer liebt die Wahrheit, auch wenn du es nicht tust.« Leiser fügte er hinzu. »Bei Leitbur! Ich wünschte, ich wüßte die Wahrheit über dich.« Laut fuhr er fort: »Reod Dai, ich klage dich des Hochverrates an. Du stehst unter Arrest. Ergib dich, und du wirst nicht unnötig leiden müssen.« »Bis man mich für schuldig befindet. Was natürlich geschehen wird.« Der Leutnant gab den in der Nähe der Zwerginnen stehenden Soldaten ein Zeichen. Reod senkte den Kopf und murmelte etwas, das sich wie >Essen< anhörte. Essen? Sekena verspürte ein vertrautes Prickeln, so süß wie der liebliche Geruch der Wildblumen, den der Wind herantrug. In diesem Augenblick bahnte sich das Drachenjunge einen Weg durch das Unterholz. Ein Befehl erklang. 85
»Aufstellen!« Die Soldaten bildeten zwei Reihen. Die vordersten Männer hielten die Schwerter gezückt, die dahinterstehenden die Bögen schußbereit. Reod berührte die drei Zwerginnen schnell hintereinander und ließ die Hand auf Tamuns Schulter liegen. Er bedeutete ihnen, zurück zum Wagen zu gehen. Als sie sich in Bewegung setzten, erteilte der Leutnant den nächsten Befehl. »Ergreift sie!« Reod bückte sich und nahm eine Handvoll Erde auf. Unwillkürlich legte Sekena die Hand auf den Bauch, als er vor sich hin murmelte. Überrascht bemerkte sie, wie groß ihr Widerwille war. Sie hätte sich wünschen sollen, daß er das Junge auseinandersprengte. Es war doch nur ein Tier. Warum machte ihr das so viel aus? Dann war es auch schon geschehen. Die Explosion schleuderte sie zu Boden. Langsam sollte ich daran gewöhnt sein, dachte sie wütend. Feuer durchfuhr sie vom Bauch bis zum Kopf. Mühsam kam sie wieder auf die Beine. Uniformierte Körper lagen verkrümmt und blutbesudelt herum. Der Schnee ringsumher war mit Blutspritzern bedeckt. An einer Stelle ruhte eine blutige Hand auf einer zerfetzten Brust, aber beide Körperteile waren nicht mehr miteinander verbunden. Vielleicht waren sie es auch nie gewesen. Sekena zählte die verbliebenen Köpfe der Gegner, um herauszufinden, wer den Zauber überlebt hatte. Sie kam nur bis drei. Der Leutnant war verletzt, lebte aber noch, Er taumelte an die Stelle, an der seine Soldaten gestanden hatten. »Greift ihn an!« brüllte er den beiden Überlebenden zu. »Tötet ihn!« Die Männer zogen die Schwerter und gingen auf Reod zu. Jetzt wurde Sekena klar, wie dumm es gewesen war zu glauben, sie könne sich mit der Eierschale einem Soldaten mit einem richtigen Schwert entgegenstellen. 86
Sie fragte sich, wieso sie so bemüht war, Reod zu schützen, wenn er doch von seinen eigenen Leuten als Verräter gesucht wurde? Was hatte er schon für sie und ihre Familie getan, außer ihnen Ärger bereitet? Doch noch während sie darüber nachdachte, stellte sie sich den Männern in den Weg. Tamun folgte ihrem Beispiel. Der Soldat schlug nach Reod, und Tamun sprang blitzschnell vor. Plötzlich lag der Mann am Boden und hielt sich den Bauch. Der zweite Soldat näherte sich, aber schon war Tamun zur Stelle und brachte ihn zu Fall. Dann herrschte Stille. Sekunden verstrichen, und es war so ruhig, daß Sekena den Windhauch spürte, der durch die hohen Fichten strich und ein durch und durch alltägliches Geräusch im Gegensatz zu den schrecklichen, lauten Ereignissen der vergangenen Minuten darstellte. Sie sah sich blinzelnd um und wußte nicht, was sie denken sollte. Vor Tagen hatte sie mitangesehen, wie ein Monstrum starb. Das war die Tötung eines gefährlichen Wesens gewesen. Aber hier handelte es sich um Menschen. Hatte es sich um Menschen gehandelt. Jetzt waren es nur noch Fleischstücke - wie die Zwerge von Kalitas. Plötzlich fühlte sie sich eigenartig. Leicht, als ob sie schweben würde. Ihr Kopf schmerzte, als leide sie unter Fieber, und der Magen fühlte sich an, als habe sie etwas Verdorbenes gegessen. Tamun rang nach Luft; ihr Blick haftete auf Reod. Die beiden auf dem Boden liegenden Menschen rührten sich nicht. Der Leutnant fiel neben ihnen auf die Knie, fühlte nach ihrem Pulsschlag und stand wieder auf. »Tot«, verkündete er mit heiserer Stimme. »Und der andere ist nahe daran.« »Sekena, fessele ihn!« befahl Reod mit ausdrucksloser Stimme. Er warf ihr einen Strick zu. 87
Selbst jetzt war sie stolz darauf, daß er sie um ihre Hilfe bat. Sie streckte die Hand nach dem Leutnant aus. Er sprang beiseite und warf sich mit einem letzten, verzweifelten Versuch auf Reod. Aber Tamun war schneller und bewegte sich so gewandt und mit wilder Kraft, daß Sekena furchtsam zurückwich. Die Schwester warf den Mann mühelos zu Boden, während Reod ihr zurief, sie solle vorsichtig sein und ihn nicht verletzen. Dann riß er sie zurück. Der Leutnant war durch den Angriff so verblüfft, daß Sekena ihn mit Leichtigkeit fesseln konnte. Sie lehnte ihn mit dem Rücken gegen einen Baumstamm und bemühte sich, es ihm so bequem wie möglich zu machen. Er sah sie so tieftraurig an, daß sie den Blick abwenden mußte. Hinter ihr stand Tamun und weinte. Reod sprach leise auf sie ein, und Mama hielt sie in den Armen. Erst dann wurde Sekena bewußt, daß ihre Schwester ganz instinktiv gehandelt hatte. Der Instinkt der Hitze hatte sie angetrieben, ihren zukünftigen Gefährten zu schützen. Eines Tages würde die Hitze auch über Sekena kommen. Sie schüttelte sich. Reod beugte sich über den gefesselten Mann. »Deine Männer sind tot, Leutnant, bis auf diesen hier, den ich nicht heilen kann. Willst du, daß ich ihm Frieden schenke?« Das blutverschmierte Gesicht des Mannes verzerrte sich. »Ich dachte, du liebst Icatia. Ich befürchtete schlimmstenfalls, daß dich die Schwarze Hand bestochen hat. Aber nein, du bist genau das, was man von dir behauptet: ein Verräter und Halunke.« Reod hockte sich vor den Leutnant und wies auf die herumliegenden Leichen. »Ist das hier schlimmer als das, was wir in den Grenzstädten anrichteten, die verdächtigt wurden, mit der Schwarzen Hand gemeinsame Sache zu machen? Erzähl mir nur, daß es schlimmer ist, angreifende Soldaten zu töten als verzweifelte Eltern
umzubringen, deren größtes Verbrechen darin besteht, in Hungersnöten Nahrung für sich und ihre Kinder anzunehmen?« Der Leutnant nickte. »Ich erinnere mich an deine letzte Rede, Robin. Deine Worte legten sich schwer auf mein Herz, wie es auch vielen anderen erging. Aber die Schwarze Hand ist nicht allzu gnädig und bestimmt bedeutend weniger milde als du es von uns verlangtest. Sie foltern und brandschatzen und vernichten. Sie fressen die Leute von innen her auf. Das weißt du ganz genau. Sollen wir untätig herumsitzen und zusehen, wie sie die Sicherheit zerstören, die Icatia mit viel Mühe geschaffen hat?« Der sterbende Soldat stöhnte, aber die beiden warfen ihm nur einen flüchtigen Blick zu. Wie viele Tote, wunderte sich Sekena, mochten sie mitangesehen haben, daß es ihnen so wenig ausmachte, wenn ein Kamerad neben ihnen starb? Ein eisiger Schauer lief ihr den Rücken hinab. »Aber wo bleibt dann das Recht auf die freie Entscheidung?« fragte Reod. »Was?« »Wenn man sich mehr um die Ernte, die Kinder und die Alten kümmert als um die Worte Leitburs. Genießt irgendein Icatianer diese Freiheit?« »Es gibt keine Freiheit bei der Schwarzen Hand.« »Es gibt keine Freiheit unter der Herrschaft Icatias.« Der Leutnant schüttelte den Kopf. »Der Weg zur Freiheit ist die Einheit. Wärst du bei uns geblieben ...« »Ich möchte erst einmal erleben, daß eine Armee ein Feld bearbeitet, das Dach eines Hauses deckt oder ein Kind zur Welt bringt.« »Wir kämpfen und sterben, um unser Volk zu schützen!« Reod seufzte, stand auf und ging zu dem Soldaten, dessen Atem flach und schwach ging. Er zog ein kleines Messer hervor und sah zu Sekena hinüber. 89
»Du hast behauptet, du wolltest eine Kriegerin werden. Komm her.« Zögernd kam sie näher. »Nimm das Messer und schneide hier entlang.« Er hob das Kinn und zog den Fingernagel über den Hals, so daß sich eine dünne rote Linie abmalte. »Es geht schnell. Fast schmerzlos.« Er hielt ihr das Messer entgegen. Entsetzen ergriff sie. Sie schnaubte und hoffte, gefaßter zu erscheinen, als ihr zumute war. Dann wandte sie sich ab. »Erledige deine Drecksarbeit selbst!« Er lachte kurz und bitter. »Dann behalte deine Eierschale, Kind. Aber frage mich nicht mehr nach Waffen, mit denen du gar nicht umgehen willst.« Der Sterbende flüsterte etwas. Reod kniete neben ihm nieder und redete auf ihn ein. Es hörte sich wie ein Sprechgesang an, in den auch der Leutnant einfiel. Mit einer einzigen Bewegung, die so schnell war, daß Sekena nicht genug Zeit blieb, um den Kopf abzuwenden, zog Reod die Klinge über den Hals des Mannes. Blut strömte aus dem Schnitt über die Brust und den Hals des Soldaten. Der Körper bäumte sich auf und erschlaffte schließlich. Reod säuberte das Messer an dem fleckigen Lederpanzer des Toten und verstaute es unter dem Umhang. Er sah die Frauen an und ließ den Blick über die Lichtung schweifen, ehe er sich wieder vor den Leutnant hockte. »Was nun, Aaron?« »Fast schmerzlos, hast du gesagt«, antwortete der Mann mit ausdrucksloser Stimme. »Aaron, wenn du zurückgehst, wirst du dann verraten, daß du mich hier gesehen hast? Das kann ich nicht zulassen.« Tamun hob den Kopf. »Wir könnten ihn mitnehmen.« Sekena hörte den Schmerz und die Reue in der Stimme der Schwester. 90
»Und mich Tag und Nacht jede Sekunde bewachen? Das bezweifele ich.« Reod beugte sich vor und sah dem anderen in die Augen. »Gib mir dein Wort, Aaron. Einen Eid auf Leitbur. Versprich mir, daß du weggehst und nichts von Robin Davies oder Reod Dai erzählst. Gib mir dein Wort, Aaron Labann, und ich lasse dich frei.« Der Leutnant hielt dem Blick stand, und ein Hoffnungsschimmer überflog sein Gesicht. Dann schaute er zu den Leichen hinüber. »Soll ich den Icatia geleisteten Eid brechen? Er ist mir heilig!« »Nicht einmal dann, wenn es um dein Leben geht, alter Freund?« Tränen standen in den Augen des Leutnants. »Was bliebe dann noch von mir, wenn ich diesen Frevel beginge?« »Dein Atem. Dein Blut. Deine Heimat, die dich jetzt mehr als je zuvor braucht. Icatia.« »Icatia.« »Gib mir dein Wort.« Der Kopf des Mannes sank auf die Brust. »Du würdest auch mich zu einem Verräter machen, und ich würde mich den Rest meines Lebens schämen. Welche Wahl du mir läßt! Du bist grausam.« »Verdammt, Aaron, Icatia braucht dich. Der kalte Erdboden braucht dich nicht. Wenn du für Icatia sterben willst, dann stirb im Kampf gegen einen würdigeren Gegner als mich.« »Nie war ich stolzer als damals, als ich zu deinen Leuten gehörte, Robin. Als du uns führtest, fühlten wir uns, als sei der Frühling ins Land gekommen. Weißt du, daß sie jetzt behaupten, es sei nur ein Zauber gewesen, den du über die Männer legtest? Und den gleichen Zauber hast du angewandt, um hundert Männer in die Klauen der Schwarzen Hand zu spielen.« 91
»Du wolltest die Wahrheit hören, Aaron. Also, hör zu: Ich nahm keine Truppen mit. Jene, die mir folgten, taten es gegen meinen Willen, meine Befehle und meine aufrichtigsten Wünsche.« »Man sagt... man sagt, daß du der Hand Geheimnisse verraten hast.« »Wohl kaum. Die Schwarze Hand interessiert sich nicht sonderlich für icatianische Geheimnisse. Aaron, ich will dein Versprechen haben. Bitte.« »Du weißt, daß ich es dir nicht geben kann.« »Du und deine unangebrachte Ehre! Mit was für dummen Wesen bin ich nur verwandt?« Er stand auf, atmete tief durch und ging auf und ab. Wut sprach aus jeder seiner Bewegungen. Schließlich blieb er stehen und sah zu den drei Frauen hinüber, die ihn beobachteten. »Bringt den Wagen zur Straße und geht los. Ich hole euch ein.« »Aber ...«, hub Tamun an. Seine blauen Augen blickten sie an - eisig wie der Erdboden im Winter. »Keine Widerrede.« Etwas in seiner Stimme veranlaßte sogar Sekena, die ihn mittlerweile mit Abscheu und Widerwillen betrachtete, seinem Befehl zu gehorchen. Sie suchten ihre Habe zusammen, spannten den Ochsen an und folgten der Straße. Die Stille wurde nur von dem Knirschen ihrer Stiefel auf dem gefrorenen Schnee durchbrochen. Während sie dahinschritten bemühte sich Sekena, nur den reinen Schnee und die grünen Fichten zu sehen, aber immer wieder erschien das Bild des menschlichen Soldaten vor ihr, wie er reglos auf dem Boden lag, mit durchtrenntem Hals, blutigem Oberkörper und vom Hauch des Todes umgeben. War es das, was das Leben eines Soldaten ausmachte? Sie hatte angenommen, es sei etwas anderes: Kämpfe gegen Orks und Goblins und die Verteidigung ihres 92
Volkes. Aber die eigenen Leute töten? Das war entsetzlich. Und die Art und Weise, wie sich Reod benommen hatte, ließ darauf schließen, daß er es kaum zum ersten Mal machte. Sie waren noch nicht weit gegangen, als Sekena einen leisen, schrillen Laut vernahm. Es mochte der Schrei der eines Vogels sein - oder etwas ganz anderes. Sie wollte es auch gar nicht genau wissen. Reod holte sie kurz darauf ein. Sie gingen in dumpfem Schweigen nebeneinander her. Jetzt war Tamun nicht an Reods Seite, sondern blieb hinten neben Mama und Sekena. Sekena nahm die Hand der Schwester und drückte sie. Tamun lächelte ein wenig, aber es war ein schmerzliches, verwirrtes Lächeln. Dann wandte sie den Blick ab. Auch Reod sagte kein Wort, und Sekena fand seinen Gesichtsausdruck noch undurchdringlicher als gewöhnlich. Während der graue Tag ein wenig heller wurde, die Hügel sich lichteten, das Eis auf dem Weg schmolz und die Straße uneben und schlammig wurde, beobachtete sie ihn. Manchmal versperrte ein umgestürzter Baum die Straße, den sie umgehen oder entfernen mußten. Auch dann wurde kaum gesprochen. Gegen Nachmittag entschied Sekena, daß sie die Stille nicht länger ertragen konnte. Sie ging schneller, bis sie ihn eingeholt hatte. »Hast du überhaupt keine Freunde, Reod Dai?« »Hüte deine Zunge, Kind«, sagte er leise. »So, nennst du mich wieder Kind? Weil ich nicht für dich töten will?« »Weil du ein Schwert möchtest und nicht töten willst. Das ist kindisch.« Sekena schnaubte. »So ist das also bei dir, Mensch! Hinterläßt du immer eine Spur aus Leichen?« »Sekena!« rief Melelki warnend. 93
»Vielleicht wäre es dir lieber gewesen, wenn euch die Soldaten wieder zu eurer zerstörten Hütte gebracht hätten. Oder nach Kalitas.« »Dein eigenes Volk! Mit welcher Leichtigkeit du tötest. Seid ihr Menschen alle so?« Diesmal klang Mamas Stimme schärfer, mit einem Hauch von Angst darin. »Sekena!« Reod hob beschwichtigend die Hand, und seine Stimme klang plötzlich bedeutend sanfter. »Ihre Worte überraschen mich nicht. Ich habe sie schon früher gehört, und noch viel schlimmer.« Er sah Sekena an. »Ja, ich töte Angehörige meiner Rasse. Denkst du, es macht mir Spaß?« Sie erwiderte den Blick. Statt der erwarteten Herausforderung sah sie etwas anderes. Schmerz? Reue? Der unvermutete Wandel verscheuchte ihre Wut. »Vielleicht«, antwortete sie. »Ich weiß es nicht.« Daraufhin sah er weg und schwieg. Ein eigenartiges Gefühl beschlich sie. Die Stimmung zwischen ihnen war umgeschlagen. Sie war nicht mehr angespannt, sondern anders - ihr fehlten die Worte, um dieses Gefühl zu beschreiben. Sekena fand, daß sie mehr als genug gesagt hatte und blieb zurück, um sich ihrer Mutter und Tamun anzuschließen. In dieser Nacht schlief Reod abseits und überließ die Frauen sich selbst. Als sie Tamuns traurigen Blick bemerkte, wurde Sekena wieder ungehalten. Mama schlief bereits, als Sekena den unregelmäßigen, stoßweisen Atem der Schwester vernahm. Sie streckte die Hand unter den Decken hervor, kuschelte sich eng an Tamun und hielt sie bei der Hand. »Was habe ich getan?« klagte Tamun mit erstickter Stimme. »Du warst sehr stark«, antwortete Sekena und sah die blutenden Menschen, die Tamun getötet hatte, deutlich 94
vor sich. Welche Kraft doch in einer von der Hitze getriebenen Frau steckte. Sie hatte nicht geglaubt, daß es so sein würde. Dann sagte sie das, von dem sie glaubte, daß Melelki es sagen würde: »Ich war stolz auf dich.« »Ich habe getötet.« »Du hast richtig gehandelt. Du hast ihn beschützt. Deinen zukünftigen Gefährten.« »Ich habe Menschen getötet.« Sie schluchzte. »Sie töten einander. So etwas habe ich noch nie erlebt. Ich begreife sie nicht. Ihn auch nicht. Und mich nicht, weil ich ihn ausgewählt habe.« »Beruhige dich«, flüsterte Sekena und bemühte sich, die eigene Verwirrung zu verbergen. »Du magst ihn doch, nicht wahr? Du bist gern mit ihm zusammen, oder?« Tamun nickte. »Nun, dann ist das nicht zu ändern.« »Aber ich dachte gar nicht nach. Ich habe mich einfach nur bewegt. Als befände ich mich in einem Traum. Und dann ...« Sie atmete hörbar aus. »Es ist die Hitze, Tamun. Du hättest doch nicht zulassen können, daß man ihn verletzt oder mitnimmt, nicht wahr? Natürlich nicht. Du hast gehandelt, wie du es mußtest.« »Aber es waren keine Orks und keine Goblins, Schwester. Es waren Menschen. Freunde, keine Feinde.« »Bist du sicher? Glaubst du etwa, wir wissen aufgrund der Rasse immer ganz genau, wer Freund und wer Feind ist? Vielleicht hat sich das geändert. Besonders bei den Menschen.« Tamun seufzte. »Oh, ich vermisse ihn. Das tut weh und zwar genau hier.« Sie drückte Sekenas warme Hand gegen die Brust, und Sekena spürte das gleichmäßige und ruhige Pochen des Herzens. »Ach, Tamun. Er ist doch ganz in der Nähe. Morgen werdet ihr wieder Händchenhalten, und du wirst dich gleich besser fühlen. Das weiß ich genau.« 95
Wieder seufzte Tamun, ließ sich aber trösten. Sekena hielt ihre Hand und wartete, bis die Schwester eingeschlafen war. Zu Sekenas Überraschung bewahrheitete sich ihre Voraussage, und am nächsten Mittag hielten sich Tamun und Reod wieder bei den Händen. Sie hatten nicht miteinander gesprochen, waren sich aber während des Fußmarsches Schritt für Schritt näher gekommen, bis sich ihre Finger miteinander verschlangen. Dann unterhielten sie sich leise. Sekena bemerkte, wie die Schultern der Schwester zuckten, als sie ein paarmal schluchzte. Schnell beruhigte sie Reod mit sanften Berührungen. Nach kurzer Zeit lächelten beide einander an. Die Welt war voller Geheimnisse. Nach einer Weile sah er über die Schulter zu Sekena und ihrer Mutter hinüber und begann auf eigentümliche und seltsame Weise zu sprechen. Er erzählte ihnen von den Orten, an denen er gewesen war und von Dingen, die er gesehen hatte. Anfangs empfand Sekena die Geschichten als krassen Gegensatz zu den Schrecken des vergangenen Tages, die ihr noch immer vor Augen standen, aber Reod erwies sich als hervorragender Erzähler, und nach kurzer Zeit hatte Sekena völlig vergessen, wo sie sich befand. Statt dessen tanzten Fischmenschen mit großen Augen im blauen Meer und warfen Speere, die niemals rosteten, während lange Würmer um Karten feilschten, die den Weg zu den schwebenden Kristallpalästen zeigten. Reod war jetzt offener, sogar freundlich. Sekena war sicher, daß dies nicht zuletzt auf Tamuns Lächeln zurückzuführen war. Auch Mama lächelte, wenn sie die beiden ansah. Es war das kleine, wissende Lächeln, das nur um Mamas Lippen spielte, wenn sie an etwas aus ihrer Vergangenheit dachte und glaubte, niemand würde sie beobach96
ten. Sekena verdrängte ihre bösen Vorahnungen. Wenn Mama die Zusammengehörigkeit der beiden guthieß, dann würde sie es auch tun. Aber trotzdem war es seltsam. Tamun war so schön und stark in ihrer ersten Hitze, und der hochgewachsene, dunkelhaarige Mensch überragte sie um mehrere Köpfe und erzählte ihr Geschichten. Wie schnell sich ihr Leben verändert hatte. Noch vor wenigen Tagen waren sie zu dritt gewesen, hatten in der Hütte gelebt, gestickt und waren einmal im Jahr nach Kalitas gegangen. Im Winter hatten sie die Dracheneier von dem höchsten Berggipfel heruntergeholt. Wenn sie jetzt die Augen schloß, sah sie Leichenteile von Zwergen und Menschen vor sich. Blutbesudelt, wie zerschnittene Kaninchen. Sie und Mama und Tamun waren schon immer neugierig auf den Rest der Welt gewesen und hatten sich Geschichten über ferne Länder ausgedacht, aber was sie seit dem Verlassen der Heimat erlebt hatten, war entsetzlicher als alles, was sie sich je vorgestellt hatten. Irgendwie schien Reod in diesem ganzen Wahnsinn heimisch zu sein, und das bedeutete für Sekena, daß auch Reod ein wenig wahnsinnig sein mußte. Vielleicht war das auch einer der Gründe, warum Tamun ihn so anziehend fand. Es regnete von Zeit zu Zeit. Dicke Wolken zogen über den Himmel. Der Wald wurde dichter, und von den Ästen der Fichten tropfte ihnen das Wasser auf die Köpfe, während sie vorübergingen. Der Wagen kam durch den dicken Teppich aus herabgefallenen Blättern nur langsam voran. Im Laufe des Tages wurde die Straße schmaler und gewundener. Schließlich war sie nicht mehr zu sehen. Sie gingen langsamer und mußten sich den Weg zwischen den Bäumen und durch das Unterholz hindurchbahnen. »Jetzt sind wir im Zufluchtwald«, erklärte Reod. »Es scheint alles genau wie vorher zu sein«, meinte Melelki. »Bloß die Straße ist verschwunden.« 97
»Die Dörfer liegen tief im Wald. Manchmal sieht man sie erst, wenn man genau davor steht.« »Aber du weißt, wo sie sind?« Er nickte. Als sich der Tag dem Ende näherte, hielten sie an, um ihr Nachtlager aufzuschlagen. Sekena ließ die Finger über die Eier gleiten und zeigte Reod eines davon. »Das hier will hinaus.« »Sie schlüpfen alle sehr früh«, bemerkte er ruhig. Er legte das Ei auf den Boden, betrachtete es eingehend und tastete über den schmalen Riß in der Schale. »Wahrscheinlich noch heute nacht. Wir dürfen das Junge nicht so nahe bei den Dörfern freilassen. Am besten zwingen wir es jetzt zum Schlüpfen und sprengen es sofort in die Luft.« Er rollte das Ei vom Lager fort. Sekena sah ihm verzweifelt nach; dann folgte sie ihm. »Laß es!« rief sie. »Kannst du denn gar nichts am Leben lassen?« Sein Blick veränderte sich; er kniff die Augen zusammen. Sie hatte diesen Blick schon zuvor wahrgenommen, als er den menschlichen Soldaten gegenüberstand. Sie wußte, daß sie besser schweigen sollte, denn der aufgestaute Ärger zwischen ihnen brodelte dicht unter der Oberfläche, aber es gelang ihr nicht. Er holte tief Luft und wollte gerade reden, als Tamun zwischen sie trat, jedem eine Hand auf die Brust legte und sie auseinanderschob. »Einen Augenblick!« sagte sie zu Reod. Sie zog die Schwester beiseite. »Sekena, warum ist es dir so wichtig?« »Es sind nicht bloß Eier, Tamun. Es sind..« Sekena hielt verzweifelt inne und wußte nicht, wie sie ein Gefühl in Worte fassen sollte, das ihr selbst noch fremd war. »Erinnerst du dich daran, wie wir zum Markt gingen, als wir noch klein waren und Mama uns eine Zimtzuckerscheibe kaufte, die wir uns teilen sollten?« »O ja.« 98
»Ich erinnere mich an den Tag, als ich alt genug war, um eine ganz für mich allein zu bekommen«, fuhr Sekena fort. »Es war Sommer. Warm und hell; ein vollkommener Tag. Ich werde ihn nie vergessen und auch nicht das Gefühl, als ich in die Scheibe biß. So fühle ich mich, wenn sie schlüpfen, Tamun. Als sei wieder so ein vollkommen schöner Tag. Und wenn sie sterben, schmerzt es mich.« Sekena schlug sich mit der Faust auf den Bauch. »Genau dort. Da tut es sehr weh.« »Aber - warum?« »Ich weiß nicht. Ich bin nachts immer in den Keller geschlichen, um die Eier anzusehen, weil ich mich in ihrer Nähe so gut fühlte.« Tamun lächelte. »Ich weiß.« »Du wußtest es?« »Natürlich.« »Warum hast du mich nicht aufgehalten?« »Du bist meine Schwester.« Sekena seufzte. »Oh, Tamun! Ich begreife es selbst nicht. Sie riechen so gut. Ich weiß, es hört sich eigenartig an.« Tamun ergriff sie bei der Hand und führte sie zu dem Baum zurück, unter dem Reod und Melelki warteten. »Laß es in Ruhe!« sagte Tamun zu Reod. Er knurrte böse. »Einfach so? Ich soll einen wandelnden Wegweiser hinterlassen, der uns verrät und auch noch Bäume umstürzt? Das werde ich nicht!« »So schlimm wird es nicht sein«, entgegnete Tamun. »Das ist es aber.« »Wir haben viel aufgegeben, um mit dir zu gehen.« Seine Augen funkelten wütend. »Ich habe euch nicht gebeten, irgend etwas aufzugeben.« Tamun trat näher, stellte sich auf die Zehenspitzen, legte ihm die Arme um den Hals und sah zu ihm auf. Zuerst wirkte er verärgert, als wolle er sie wegschieben, aber er gab schnell nach, streichelte ihr Haar und ihre Schultern. Dann küßten sie sich. Es war ein inniger Kuß, 99
wie ihn Sekena bisher nur bei vereinten Paaren gesehen hatte. Sie warf Mama einen Blick zu, die zufrieden, aber wachsam aussah. Vielleicht traute sie Tamun inzwischen zu, sich besser in der Gewalt zu haben, da sie erlebt hatte, was die Kraft der Hitze anrichten konnte. Oder es war ihr gleichgültiger, was mit dem Menschen geschah. Tamun wich zurück, ein wenig außer Atem und ließ den Blick nicht von Reod. »Ja«, sagte sie. »Das hast du. Mensch, du tust Dinge, die uns sinnlos erscheinen, seltsame Dinge, aber wir bemühen uns, das hinzunehmen. Jetzt bitten wir dich um genauso viel Verständnis.« »Dies ist nicht nur seltsam, sondern unnötig gefährlich.« Mama schnaubte belustigt. Sekena hatte erwartet, sie werde Reod zustimmen, aber statt dessen sagte sie: »Vieles ist unnötig gefährlich. Diese Reise zum Beispiel. Und doch - wir sind hier. Manchmal gibt es Wichtigeres als Sicherheit!« Reod schüttelte den Kopf und löste sich sanft aus Tamuns Umarmung. Er warf zuerst Sekena, dann dem Ei einen bösen Blick zu und wandte sich ab. »Na gut, dann laßt es ausschlüpfen. Ich hoffe nur, daß es uns nicht allzu teuer zu stehen kommt.« Sekena atmete erleichtert aus, stolperte mit unsicheren Schritten zu dem Ei hinüber und setzte sich daneben auf den Boden. Sie hatte die ganze Zeit über den Atem angehalten und holte jetzt noch einmal tief Luft. Dabei geriet ihr der Geruch des Eis in die Nase. Sie lächelte unwillkürlich und lächelte noch immer, als Reod vorüberschritt und sowohl ihr als auch dem Ei einen wütenden Blick zuwarf. Der Tag war wundervoll. Selbst wenn tausend Zuckerscheiben neben ihr gelegen hätten, hätte sie sich nicht besser fühlen können. Als sie Reod anlächelte, schien er verwirrt zu sein. Aus irgendeinem Grund mußte sie jetzt noch mehr lächeln. 100
»Glaube den Worten der Menschen, und du hast dein Schicksal verdient.« - Elfisches Sprichwort
Wenn er an die vielen, hinter ihm liegenden Jahre dachte, konnte sich Kolevi nicht entsinnen, daß ihm die Wendeltreppe zum Turmzimmer je so steil vorgekommen war. Vielleicht waren die Stufen mit jedem Jahr ein wenig höher geworden, wie es bei einigen der aus Bäumen bestehenden Mauern geschah, egal wie oft man sie auch stutzte und bearbeitete. Auf halber Höhe blieb er stehen, um nach Luft zu schnappen und blickte nach unten, ob ihn jemand gesehen hatte. Das war höchst unwahrscheinlich, denn in letzter Zeit wurde das Turmzimmer nur noch von den ältesten Druiden benutzt. Aber auch einer der anderen Ältesten hätte die Pause mißverstehen und denken können, daß sich Kolevi ausruhte, weil er nicht mehr weiterkonnte und nicht, weil er einfach langsam hinaufsteigen wollte. Als die ältesten der Druiden durften er und Lalani den anderen nicht zu alt vorkommen. Er ruhte nicht lange aus; er wollte sie nicht zu lange warten lassen. Nachdem er noch einmal die kalte Morgenluft eingesogen hatte, schob er sich die Treppen hinauf, um auf der letzten Stufe noch einmal zu verweilen. Dann öffnete er die Tür des Turmzimmers. Als er über den unebenen Boden schritt, spürte er die alte Magie des Raumes schwer in der Luft hängen - wie 101
Rauch, der ihn berührte, ihn umgab, prüfte und schließlich willkommen hieß. Sie stand dort, wo sie immer stand. Der schmale Körper zeichnete sich gegen das große Fenster ab. Die Wintersonne strahlte hell durch die Bäume, die den Turm beschatteten, und warf Licht durch die immergrünen Nadeln und die grauen Zweige. Schatten spielten über Laianis dickem, grünen Gewand und dem glänzenden, hellen Haar, das in schimmernden Wellen bis auf den Boden fiel. Sein altes Herz ergötzte sich an ihrer Schönheit. Ihr Anblick reichte aus, ihn zu erwärmen, auch noch nach all diesen Jahren. Sie rührte sich nicht, und er fragte sich, ob sie ihn überhaupt gehört hatte. So gut er sie auch kannte, ihr rätselhaftes Schweigen vermochte er nicht immer zu deuten. Also ließ er sich Zeit, genoß ihren Anblick und zögerte, den friedlichen Augenblick zu zerstören. Es gab wenig genug Momente wie diesen. Schließlich rief er leise ihren Namen. Sie neigte den Kopf ein wenig, nur ganz sachte, aber Kolevi kannte ihren Körper und dessen Sprache, und er seufzte. »Was gibt es, Geliebte?« »Der Mensch kommt in den Zufluchtwald.« »Der Mensch? Welcher Mensch?« »Reod Dai.« »Ach, der. Warum?« »Wer weiß? Aber ich hege Vermutungen. Gestern fanden unsere Späher einen jungen Drachen. Er war auf einen dicken Baumstamm geklettert, der umgefallen ist und schräg zwischen anderen Bäumen hing und fraß das Moos.« »Ein junger Drache? Im Wald? Wie eigenartig.« »Das fanden die Späher auch. Sie suchten die ganze Gegend ab.« »Und?« 102
»Sie spürten einen Menschen auf. Er reist mit einem Wagen und drei Zwergen nach Süden.« »Noch eigenartiger.« »Unsere Beschreibung von Reod Dai paßt auf ihn. Da ein Drachenjunges in der Nähe weilt, ist es recht wahrscheinlich, daß es sich um Reod Dai handelt und der Wagen mit Dracheneiern beladen ist.« Kolevi sah erstaunt auf. »Dracheneier? Aber - was soll das?« »Ich weiß es nicht.« »Hat er unsere Botschaft mißverstanden? Glaubt er, der Vertrag ist noch gültig?« »Ich denke, er hat die Nachricht sehr gut verstanden.« »Vielleicht kommt er, weil er uns die Eier anbieten will.« Lalani warf ihm einen Blick zu, den er deuten konnte. »Du glaubst das anscheinend nicht«, meinte er. »Wir haben genaue Schilderungen davon bekommen, was er mit den Dracheneiern anrichten kann. Stell dir vor, was dies für den Zufluchtwald bedeutet.« »Du glaubst doch wohl nicht, daß er hierherkommt, um uns Schaden zuzufügen!« »Oh, doch. Ich denke, daß ist mehr als wahrscheinlich. Warum sollte er sonst kommen?« »Es könnte einen anderen Grund geben.« Sie sah ihn freundlich an, aber er begriff die Botschaft, die in diesem Blick lag, und sie verärgerte ihn. Schließlich hatte sie nicht immer recht. Er mochte diese Selbstsicherheit nicht. »Kolevi, heutzutage sollte man den Menschen keine guten Absichten nachsagen. Ganz sicher nicht in Zeiten wie diesen.« Ihr Tonfall verriet nur einen Hauch von Ärger, denn sie sprach mit sanfter Stimme, nur leicht tadelnd. Einen Augenblick lang überließ er sich seiner Verstimmung, dann war sie vorbei, und er ergab sich seufzend. »Was schlägst du also vor?« 103
»Ich stehe hier seit Sonnenaufgang und denke nach. Ich habe an die schwierigen Zeiten und an die Gefahren gedacht und finde, daß wir ihn aus dem Wald entfernen sollten. Und zwar ehe er die Dörfer erreicht.« Kolevi trat einen Schritt auf sie zu und blieb dann verwirrt stehen. »Wie meinst du das?« Sie sah aus dem Fenster in die Tiefe, wo ein Karren mit frisch geerntetem Thallid auf den Speisesaal zurollte. Dort würde es zu Brei gekocht, gewürzt und in Schüsseln gefüllt werden. »Bring ihn weg, Kolevi. Halte ihn davon ab, uns noch mehr zu schaden.« Er legte den Kopf schief. »Ich weiß nicht, was du damit meinst.« »Ich denke doch,« Sie ließ die Straße nicht aus den Augen. »Dann wage ich nicht, es zu erraten.« »Sieh nur hinab, Geliebter. Siehst du den Wagen, der mit Thallidstengeln beladen ist? Das ist unsere Nahrung, die wir im vergangenen Jahr nicht hatten. Es ist zwar weder Korn noch sind es Bodenfrüchte, wie wir sie lieben, aber es ist Nahrung. Feste Nahrung. Und sie bedeutet, daß unser Volk in diesem Jahr nicht hungern muß. Sollen wir diesem Menschen erlauben, mit seiner Magie und seinen Waffen hierher zu kommen? Hierher?« Kolevi schloß die Augen und verharrte geraume Zeit reglos. »Es gibt Worte für das, was du meinst, aber nicht aussprichst. Häßliche Worte.« »Ja.« »Erzähle mir, daß mir dieser frostige Wintermorgen einen dunklen Traum beschert, in dem du vorkommst. Erzähle mir, daß ich so alt bin, daß ich mir einbilde, deine Stimme zu hören. Erzähle mir, daß nicht du es bist, die mir solche Dinge sagt.« »Kolevi, die Zeiten sind hart.« 104
»Nein, nein und noch einmal nein. Wir reden hier nicht von einem einfältigen Ork oder Goblin. Es ist ein Mensch. Seit Jahrhunderten sind die Menschen unsere Freunde und Verbündeten. Seit Jahrhunderten, meine Dame. Hast du das vergessen?« Sie stieß ein kurzes, schrilles Lachen aus. »Warum haben wir dann diesen Reod Dai angeheuert, um unter unseren guten Freunden Unfrieden zu stiften?« Er seufzte. »Wir - du und ich - haben es getan, weil wir es mußten. Weil wir von der Hungersnot bedroht wurden. Weil unsere Bedürfnisse ...« »Die immer noch bestehen...« »Ja, die noch immer bestehen.« Wieder seufzte er und dachte an den finsteren Handel, den sie abgeschlossen hatten. »Wir dürfen nicht zulassen, daß der Hunger triumphiert. Schlimme Zeiten erfordern schlimme Lösungen.« »Das, mein Geliebter, sage ich doch die ganze Zeit.« Endlich wandte sie ihm den Kopf zu und ihre Blicke begegneten sich; in ihren Augen spürte er eine Liebkosung. »Nein«, wiederholte er. »Wir werden unsere Freunde nicht umbringen, nur um uns zu ernähren. So tief sind wir noch nicht gesunken.« Sie drehte sich ganz zu ihm um, die Augen weit aufgerissen, die Lippen zusammengepreßt und die hellen Brauen fragend erhoben. »Sind wir das nicht? Wie kannst du das so selbstherrlich entscheiden, mein Lieber? Wir haben doch schon das getan, von dem du behauptest wir würden es nicht tun. Wir gaben dem Menschen einen Menge Gold, um in unserem Auftrag zu handeln. Jetzt klebt das Blut der Menschen an unseren Händen. Hier dreht es sich nicht um Thelonitenopfer, Kolevi; hier fließt das Blut Unschuldiger!« Nachdem sie die Worte mit barscher Stimme gesprochen hatte, stieß sie einen fast unhörbaren Schrei aus und machte eine schnelle Handbewegung, mit der sie 105
sich zum Schweigen brachte. Sowohl der Schrei als auch die plötzliche Stille schmerzten ihn. »Es muß uns zum Trost gereichen«, fuhr sie leise fort, als habe es keine Unterbrechung gegeben, »daß unsere Arbeit Früchte trägt. In diesem Jahr können wir uns selbst ernähren.« Kolevi rieb sich die Stirn. Wann hatten die Schwierigkeiten begonnen? Bis vor wenigen Jahren war die Nahrungsbeschaffung nie ein Problem für die Elfen gewesen; nicht ein einziges Mal hatten sie in ihrer ganzen Geschichte gehungert. Dann wurden die Winter immer härter. Ernten verdarben. Krankheiten breiteten sich aus. Das Volk der Elfen hungerte. Im Verborgenen arbeiteten die Ältesten der Druiden daran, eine neue Pflanze zu erschaffen, die Kälte und Krankheiten überdauerte. Er erinnerte sich an die jahrelangen Fehlschläge und an die Verzweiflung der wenigen, die wußten, wie schlimm die Lage im Zufluchtwald wirklich war. Schließlich hatten sie die sich schnell fortpflanzenden Thallide entwickelt. Es schien, als könnten diese Pflanzen die Jahre des Hungers beenden. Sie schmeckten nach nichts und waren zäh, aber sie überlebten den kalten Winter und widerstanden allen Krankheiten. Erfolg war etwas, das die Menschen begriffen. Also teilten die Druiden Icatia mit, wie ungestüm die Thallidwälder gediehen. Icatia gratulierte ihnen. Aber bisher wußte außer ihm, Lalani und wenigen anderen niemand, wieviel sie der Thalliderfolg wirklich kostete. Er zwang sich, ihr in die goldenen Augen zu sehen, mußte den Blick aber bald wieder abwenden. Den Fußboden schmückte ein Mosaik aus kleinen, bunten Steinen, die Bilder und Worte formten, die von uralter Magie durchdrungen waren. Er folgte den vertrauten gelben, blauen und roten Linien. 106
»Was haben wir getan, Lalani?« »Wir wollten den Icatianern keinen Schaden zufügen.« »Aber das ist geschehen.« »Hin und wieder«, gab sie zu. »Nur bei wenigen Menschen. Soldaten. Und das auch nur, weil wir diesen Reod Dai unterschätzten. Das passiert uns nicht mehr. Der Schaden wird nicht fortgeführt.« »Ich hoffe, du hast recht. Aber mir macht das Leid Angst, das wir über jene bringen, die es nicht verdienen.« Sie trat zu ihm, ergriff ihn bei den Händen und sah ihm in die Augen. »Wir haben Nahrung, mein Geliebter. Das Wichtigste ist, daß unsere Leute in diesem Winter nicht hungern müssen. Du und ich, wir sind der Zufluchtwald. Wir sind da, um unser Volk am Leben zu erhalten. Deshalb atmen wir, füttern unsere gebrechlichen Körper und laden große Last auf uns. Deshalb leben wir!« »Das weiß ich. Aber vielleicht - vielleicht hätten wir den Icatianern vertrauen und sie um Hilfe bitten sollen.« Sie lachte grimmig. »In der Tat? Sollten wir ihnen verraten, wie schlecht die Ernten waren? Ihnen von den Krankheiten berichten, die unsere Pflanzen befielen? Sieh dir nur ihre wechselhaften Ansichten an, Kolevi. Schau, wie schnell sie ihre Treue aufgeben. In jedem Jahr bemühen wir uns, die Namen der neuen Herrscher und der neuen Religionen zu lernen und uns zu merken, wer wohl am erzürntesten sein mag, wenn wir es vergessen.« »Aber diesmal, Lalani, wären sie sicher voller Verständnis, da es uns so schlecht geht.« »Das glaube ich kaum. Erinnerst du dich an die Gerüchte über die Pest im Zufluchtwald - damals, vor zehn Jahren? Nur Gerüchte, aber die Menschen schlossen ihre Märkte und hielten uns die Speere entgegen. Uns, ihren Freunden und Verbündeten. Erinnerst du dich?« 107
»Ja.« »Wenn das unsere Freunde sind, dann sind sie es bei schönem Wetter und guten Ernten. Wir können uns nicht leisten ihnen mitzuteilen, wie schlecht es uns wirklich geht.« Die Bitterkeit, die er zu unterdrücken versuchte, breitete sich in ihm aus. Beschämt ließ er den Kopf sinken. »Du hast ja recht. Aber ich wehre mich das zu glauben, was deutlich sichtbar wäre, wenn ich nur hinsehen würde. Vergib mir meine Dummheit.« »Pst, Geliebter!« sagte sie, und ein süßes, trauriges Lächeln umspielte ihre Lippen. »Nein, ich muß dir eines sagen: Du bist weitaus tapferer als ich, da du die unschönen Dinge ausgesprochen und entsprechend gehandelt hast, während ich mich zurücklehne und mir die Tage des verlorenen Friedens zurückwünsche. Ich schäme mich, daß ich dir so oft die unangenehmen Pflichten überließ.« »Jeder von uns hat seine Stärken, mein Lieber. Du bist sanft und freundlich, und das ist ebenso wichtig bei dem Führer unseres Volkes wie auch...« Sie stieß ein leises, trauriges Lachen aus. »... meine Fähigkeiten, die unangenehmen Dinge zu erledigen. Sollen sie mich als die Gestrenge sehen und dich als den freundlichen Anführer.« »Wenn sie nur nicht hungern müssen.« »Ja.« Er seufzte. »Also denkst du, daß wir jemanden zu diesem Reod Dai schicken sollen, um mit ihn zu reden?« »Vielleicht.« »Wenn diese schlimmen Zeiten so üble Dinge von uns verlangen, sollten wir wenigstens offen über das sprechen, was wir vorhaben. Oh, Lalani, müssen wir diesen Menschen wirklich beseitigen?« »Vielleicht nicht. Es könnte klüger sein, zuerst mit ihm zu reden, um herauszufinden, was er vorhat und was er weiß. Aber bedenke, wie wir seine Fähigkeiten unter108
schätzten, als es darum ging, die Icatianer zum Kampf zu reizen. Wagen wir es, ihn näherkommen zu lassen? Erinnere dich, wie beredt er ist - nicht nur uns gegenüber, sondern auch bei unseren Feinden. Wir müssen vorsichtig sein. Wir dürfen ihn nie wieder unterschätzen.« »Ist es möglich, daß er etwas über das Thallid herausgefunden hat?« Jahr um Jahr waren die Versuche, Thallid zu züchten, fehlgeschlagen. Verzweifelt nach einer Antwort suchend, hatten sie eine neue Zutat nach der anderen hinzugefügt. Endlich war die passende Zusammenstellung entdeckt worden und hatte die Pflanze zum Leben erweckt, die jetzt erfolgreich geerntet wurde. Aber zu welchem Preis! Er und Lalani hatten das Geheimnis ihres Erfolges bewahrt: Das Thallid wurde aus den Trullen der Schwarzen Hand gewonnen. Sie brauchten nicht viele Trulle, aber sie benötigten regelmäßig Nachschub. Deshalb mußte die Aufmerksamkeit Icatias von den nördlichsten Straßen abgelenkt werden, auf denen in jedem Monat die vertrauenswürdigsten Elfen Trulle der Schwarzen Hand in den Zufluchtwald brachten. Die Schwarze Hand selbst verriet dies weder Icatia noch sonst jemandem, da die Ältesten sie gut bezahlten, aber sollte Icatia jemals etwas herausfinden, würde das eine politische Katastrophe bedeuten. Daher sandten die Druiden die Elfen mit äußerster Vorsicht nach Westen, entlang der hochgelegenen, einsamen Straßen und hofften, die Icatianer würden im Süden so beschäftigt sein, daß sie nichts bemerkten. Aus diesem Grund hatten Lalani und er Reod Dai angeheuert. »Ich glaube kaum, daß er von den Trullen weiß«, meinte Lalani. »Aber wir wissen nicht, was er sonst noch in Erfahrung gebracht hat.« »Er reist an den Ort, an dem unsere Macht am größten 109
ist. Sicherlich ist ihm bewußt, wie närrisch es wäre, uns hier herauszufordern.« »Er bringt Dracheneier mit, Kolevi. Dracheneier! Er mag ein Narr sein, aber ein gefährlicher Narr!« »Was sollen wir tun?« »Wir beobachten ihn, während er sich nähert. Seine Taten werden uns mehr verraten als seine Worte.« »Vielleicht läßt er mit sich reden. Vielleicht müssen wir ihn gar nicht beseitigen.« »Vielleicht.« Er nahm ihre Hand. »Schick Späher aus. Vielleicht ist er nur gekommen, um mit uns zu reden und nicht, um uns zu schaden.« Zweifel lag in seinem Blick. Er umarmte sie, und ihre Nasen berührten sich. »Du hast recht, meine Dame. Wir tun, was wir tun müssen. Wie immer, wie immer. Für den Zufluchtwald.« »Für den Zufluchtwald.«
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»Nur die Bäume wissen, was wirklich geschah.« - Elfisches Sprichwort
Da sie keiner Straße mehr folgen konnten, kamen sie nur noch langsam voran. Wenn es möglich war, folgten sie den Wildpfaden, die sich durch den Wald schlängelten. Reod ging voran und suchte nach dem besten Weg, und die drei Zwerginnen halfen ihm, Äste und kleine Stämme beiseite zu räumen, damit der Ochse mit dem Karren weiterkam. Dann blieb Reod zurück. Er hatte ein paar Zweige mit Schlingpflanzen zusammengebunden und verwischte die Spuren, die der Wagen im Waldboden hinterlassen hatte. »Was tust du da?« erkundigte sich Sekena. Er brach die Spitzen der Zweige ab, spuckte auf den Boden, stampfte zweimal mit dem Fuß auf und ging rückwärts bis zum Wagen, wobei er die Äste wieder über den Boden schleifen ließ. Die Frauen hatten den Karren angehalten und waren stehengeblieben, um auf ihn zu warten. »Ich verwirre die Bäume«, antwortete Reod. »Und, wenn ich Glück habe, auch ein paar elfische Späher dazu.« »Ist das Magie?« fragte Melelki. Reod wiederholte den Besentanz. »Nun, ein wenig schon. Ich stelle den Bäumen Fragen, die sie nicht beantworten können. Das lenkt sie ab, und so geben sie schlechte Spione für die Elfen ab.« 111
»Ich wußte gar nicht, daß Bäume überhaupt denken können«, sagte Tamun. »Die meisten nicht. Aber manchmal benutzen die Späher der Elfen Magie, und damit können sie viel herausfinden.« Sekena blickte ihre Mutter und Tamun an, die beide ebenso verwirrt wirkten wie sie selbst. »Geschafft«, sagte Reod und kehrte nach vorn zurück, um wieder die Führung zu übernehmen. In der Tat, dachte Sekena, Menschen sind eigenartige Kreaturen. Kurz vor Mittag bedeutete er ihnen, anzuhalten. Lange Zeit standen sie still und lauschten. »Wir sind da«, flüsterte Reod schließlich. »Wo?« Er deutete in eine Richtung. Sie spähten durch die Bäume. »Was seht ihr?« »Noch dichteren Wald«, antwortete Sekena. »Umgestürzte Bäume. Felsen. Moos.« »Das sind weder Bäume noch Felsen«, erklärte Reod. »Wenn wir näherkommen, werdet ihr es erkennen. Es sind Thallide.« »Thallide? Was sind Thallide?« »Die Elfen schufen einen Pilz und gaben ihm Wurzeln. Sie essen Thallide.« »Warum?« »Weil sie Nahrung brauchten. Und nun haben sie welche.« »Warum sind wir hierhergekommen?« fragte Mama. »Wenn man jemanden um sein Essen bringt, erringt man für gewöhnlich dessen volle Aufmerksamkeit.« Er band die Plane des Wagens los und überprüfte die Eier. »Das hier«, verkündete er und klopfte mit den Fingerknöcheln gegen die Schale. Dann warf er Sekena einen langen Blick zu. »Deshalb haben wir die Eier hierherge112
bracht«, erklärte er ihr. »Um den Elfen zu zeigen, was geschieht, wenn man etwas anfängt und nicht zu Ende bringt. Verstehst du das, ja?« Sekena nickte und wandte sich mit angespannten Schultern und schmerzendem Magen ab. Sie begriff, o ja, aber sie wollte nicht in der Nähe sein, wenn es passierte. Deshalb drehte sie sich um und ging durch den Wald, bis sie den Wagen kaum noch sehen konnte. Tamun folgte ihr und drückte ihr schnell und tröstend die Hand. Selbst aus dieser Entfernung roch Sekena den eigenartigen, würzigen Geruch, als Reod seine Zauberkraft wirken ließ und das Junge schlüpfte. Freude wallte in ihr auf, aber sie kämpfte dagegen an. Dennoch blickte sie hinüber und sah, wie das Kleine zappelte, um sich von den Eierschalen zu befreien, und wie es dann mit dem inzwischen vertrauten Gang davontaumelte und zwischen den Thalliden verschwand. Sie wandte sich ab, setzte sich auf einen Stamm, hielt sich den Bauch und wiegte sich hin und her, während sie auf den Knall und den damit verbundenen Schmerz wartete. Die Zeit verging. »Warum dauert es so lange?« Tamun zuckte die Achseln. »Ich sehe es nicht mehr. Es muß schon im Wald sein.« Noch mehr Zeit verstrich. Schließlich siegte die Neugier über ihre Angst, und Sekena stand auf und ging zurück. Tamun folgte ihr. Als sie sich dem Wagen näherten, hockte Reod keuchend auf dem Boden, die Hände auf die Knie gestützt. Auf ihre fragenden Blicke antwortete Melelki mit einem Schulterzucken. »Mit dem Jungen scheint was nicht zu stimmen«, sagte er. »Versucht es mit einem anderen Ei.« »Nein«, sagte Sekena leise und bittend. Reod stand auf, hob ein neues Ei vom Wagen und legte es auf den Boden. 113
Sekena schritt unruhig auf und ab und war gefangen zwischen dem Wunsch, in der Nähe zu sein, wenn das Junge schlüpfte und der Angst vor dem Schmerz, der darauf folgen würde. Sie verspürte noch immer das Glücksgefühl, das der Geruch des letzten Jungen ausgelöst hatte. Fast konnte sie es da draußen in diesem Thallidwald riechen. Was auch immer verhindert hatte, daß jener kleine Drache gesprengt wurde - sie war ausgesprochen dankbar dafür. Das zweite Junge schlüpfte. Sekena atmete den Geruch tief ein und ihr wurde beinahe schwindlig davon. Reod murmelte unverständliche Worte und warf eine Handvoll Erde in die Luft, und Sekena stählte sich. Nichts geschah. Reod stieß einen angewiderten Laut aus, nahm noch mehr Erde, murmelte, spuckte aus und warf noch einmal. Sekena spürte ein Kribbeln in den Füßen, das sofort wieder verging. Schweiß glänzte auf Reods Stirn, und die Tropfen liefen ihm den Nacken hinunter. Er ging ein paar Schritte beiseite, kniete nieder und wiederholte die ganze Prozedur - ohne Erfolg. Er sackte erschöpft zusammen und rang nach Luft. Tamun half ihm, auf einem Baumstumpf Platz zu nehmen. »Ich begreife es nicht!« stöhnte er. Tamun setzte sich neben ihn. »In diesem Boden steckt Magie«, fuhr er fort, »Ich spüre sie. Warum geht es nicht?« »Könnte es an der Erde liegen?« fragte Tamun. »Nein. Ich fühle, wie es anfängt und dann ...«, er hob verzweifelt die Hände, »... sofort erstirbt.« Erleichtert atmete Sekena aus. Sie fühlte sich durch den Geruch des zweiten Jungen noch glücklicher. Sie bemühte sich, sich nichts anmerken zu lassen. »Was nun?« »Nichts«, antwortete Reod und warf ihr einen bösen Blick zu. »Ich werde hier nicht noch mehr Eier ver114
schwenden. Wir legen sie an einem anderen Ort ab und hoffen, daß es dort besser klappt.« »Und die Kleinen, die im Thallidwald stecken? Lassen wir sie einfach hier?« Er erhob sich und schnaubte unwillig. »Hast du einen besseren Vorschlag? Vielleicht möchtest du sie einfangen?« In diesem Augenblick erklang hinter Reod ein Rascheln und Knacken. Er drehte sich blitzschnell um. Ein kleiner Drache verließ den Wald und kam auf sie zu. Alle außer Sekena wichen zurück, und das Junge stolperte näher, den Blick unverwandt auf Sekena gerichtet. »Sekena!« zischte Melelki. »Komm sofort hierher!« Das Kleine watschelte heran und schnüffelte an ihrer ausgestreckten Hand. Was für wunderschöne Augen es hatte. Grüngefleckte, schuppige Haut hing locker um den Hals und den Bauch der Kreatur; die Arme baumelten noch nutzlos an den Seiten des Körpers. Die kleinen Drachen würden sie erst später einsetzen können, hatte ihr Reod erklärt. Ebenso verhielt es sich mit den Flügeln. Die Nasenlöcher des Jungen zuckten dicht vor Sekenas Hand. »Keine Nahrung!« sagte sie streng. Sie bückte sich, hob einen Tannenzapfen auf und hielt ihn dem Jungen hin. »Sekena!« Das Kleine öffnete das Maul und entblößte viele winzige, scharfe Zähne und eine niedliche, kleine rosige Zunge. Es reckte den Hals vor und nahm den Tannenzapfen vorsichtig zwischen die kleinen Zähnchen. Noch nie hatte sie bei einem Tier eine so wunderhübsche Geste gesehen. Nicht einmal bei einem kleinen Kätzchen. Der nächste Tannenzapfen wurde eifrig zerkaut. Jetzt schien das Kleine zu begreifen, senkte die Nase auf den Boden und begab sich auf die Suche nach weiteren Tannenzapfen. 115
Blätter raschelten, und mit dem gleichen Watschelgang nahte das zweite Junge aus dem Thallidwald. Es schnupperte auch an Sekenas Hand und folgte dann dem Beispiel seines Artgenossen. Beide kauten, schluckten und schoben einander beiseite, wenn sie den nächsten Leckerbissen entdeckten. Nachdem sie die unmittelbare Umgebung von Zapfen und kleinen Zweigen befreit hatten, blickten sie zu Sekena auf und stießen leise, jämmerliche Laute aus. Hungrige Laute. Sekena war sich dumpf bewußt, daß ihre Mutter im Hintergrund beharrlich ihren Namen rief. Aber aus irgendeinem Grund waren ihr die Kleinen viel wichtiger. Sie ging ein Stück weiter, um nach neuen Tannenzapfen zu suchen. Dann brach sie einen Zweig mit grünen Nadeln ab. Vielleicht mochten sie das auch. Sie mochten es. Sie atmete immer wieder den wundervollen Geruch ein und fühlte sich besser als je zuvor in ihrem Leben. Als sie endlich die Augen von den Jungen abwandte, um nach Mama, Tamun und Reod Ausschau zu halten, sah sie, daß sie besorgt zu ihr hinüberstarrten. Wie dumm! Die kleinen Drachen waren überaus freundlich gesinnt. Begriffen sie das nicht? Sie schenkte ihrer Mutter und den anderen ein breites, dummes Grinsen, daß sie beruhigen sollte. Es schien nicht viel zu helfen. Aber eigentlich war ihr das vollkommen egal. »Werden sie uns folgen?« fragte Tamun. »Ich weiß nicht«, antwortete Sekena, während sie die Plane des Wagens festzurrten und aufbrachen. Aber die Kleinen folgten ihnen und blieben dicht bei Sekena, von wo aus sie den anderen mißtrauische Blicke zuwarfen, die ebenso erwidert wurden. Zu Sekenas Erleichterung schien es Reod aufgegeben zu haben, die Jungen sprengen zu wollen - wenigstens im Moment. Er gab sich damit zufrieden, mit einem lan116
gen Stock nach ihnen zu stoßen, wenn sie zu dicht an die Vorräte herankamen. Der Stock wurde immer kürzer, denn die Kleinen bissen jedes Mal ein Stück davon ab, ließen sich aber schnell ablenken, wenn man ihnen etwas anderes Eßbares anbot. Sie fraßen tatsächlich alles. Tannenzapfen, Stöcke, tiefhängende Äste. Sie ließen nur Erde und hin und wieder ein Drachenhäufchen liegen. Als die Sonne unterging, hielten sie an, um ein Nachtlager aufzuschlagen. Die Jungen legten sich unter eine hohe Tanne und rollten sich nahe der Stelle zusammen, an der Sekena ihre Decken ausbreitete. Sie sahen wie kleine grüne Hügel aus. Die winzigen, durchsichtigen Flügel lagen zusammengefaltet auf den Rücken. Reod beobachtete sie. »So etwas habe ich noch nie gesehen. Du mußt eine Art Drachengeruch ausströmen.« Sekena rieb mit der Hand über einen der beiden unebenen, gerundeten grünen Rücken. Das Junge öffnete ein gelbes Auge und sah sie an. Als es dunkel wurde, rief Reod die Zwerginnen zusammen und teilte ihnen seinen neuen Plan mit. . »Ich glaube, es lag an dem Thallidfeld«, erklärte er. »Die Ältesten müssen einen Schutzzauber darüber gelegt haben, den ich nicht entdeckte. Aber in den Festungen und Dörfern gibt es keine derartige Verteidigung, denn dort müssen sie ihre Magie anwenden, um aus Bäumen Häuser und Mauern zu errichten.« »Und?« warf Melelki ein. »Nun, wir werden uns jetzt ein wenig ausruhen, und im Laufe der Nacht, wenn ihre Späher nicht mehr so zahlreich sind, vergraben wir den Rest der Eier in der Festung.« »Im Inneren der Festung?« fragte Sekena erstaunt. »Genau.« »Aber wie kommen wir da hinein?« »Ich kann uns - für gewisse Zeit - weniger sichtbar machen.« 117
Tamun legte den Kopf schief und sah ihn an. »Meinst du etwa unsichtbar?« »Ja, so gut wie.« Sekena berührte die Eier, die unter Reods magischer Kraft zerspringen würden, wenn die Jungen ausschlüpften. Ihre Kleinen lagen eng zusammengerollt unter einem Baum. Ein Blick auf Reod verriet ihr, daß sie auch jetzt noch nicht sicher vor ihm waren. Und was suchten sie hier überhaupt, im Land der Elfen, wenn ihr eigenes Volk in Teedmar Unterstützung benötigte? Sie beschloß, diese Gedanken im Augenblick für sich zu behalten. Sekena hatte sich ein wenig abseits von den anderen zum Schlafen niedergelegt, da ihr die Jungen nicht von der Seite wichen und ihre Begleiter sich weigerten, in ihrer Nähe zu schlafen. Reod hatte es aufgegeben, sie zu warnen, wie gefährlich die kleinen Wesen waren. Sie wollte ihm nicht glauben. Die Kleinen schmiegten sich eng an sie, als sie unter ihre Decken kroch. Sie rochen gut und wärmten sie, aber sie konnte trotzdem nicht einschlafen. Wenn sie die Augen schloß, sah sie den alten Mann aus Kalitas vor sich. Er saß auf seiner Schwelle und wartete auf die Rückkehr der Toten. War er immer noch dort? Wanderte er zwischen den Ruinen umher und richtete die Leichen seiner Brüder auf, um mit ihnen zu reden oder zu spielen? Wie es wohl für die Städter gewesen war, als die Orks kamen? Sie war sicher, daß sie sich heftig zur Wehr gesetzt harten, aber die Orks waren stärker gewesen. Nicht zahlreicher, denn Kalitas war eine große Stadt gewesen, aber kräftemäßig konnten es ein Ork mit mehreren Zwergen gleichzeitig aufnehmen. Sie versuchte, sich die wütenden Rufe und Schmerzensschreie vorzustellen, das Blut und die Tränen und schließlich die Stille. 118
Es schien nicht richtig zu sein, hier auf elfischem Boden zu liegen, wenn die Zwerge in den südlichen Bergen um ihr Leben kämpften. Über ihrem Kopf bewegte sich das Sternbild der Enten langsam um das Große Auge herum. Leise zirpten die Grillen im Unterholz. In Teedmar unternahm man etwas gegen die Orks. Sie erhob sich, streichelte die Kleinen beruhigend, rollte die Decken zusammen und packte ihre wenigen Habseligkeiten. Die Jungen beobachteten sie schläfrig, damit sie sich nicht zu weit von ihnen entfernte. Gerade schnürte sie ihr Bündel zusammen, als ein kaum hörbares Rascheln ihre Aufmerksamkeit erregte. »Gehst du auf Wanderschaft, Sekena?« Sie hatte nicht erwartet, unbemerkt an ihm vorbeischleichen zu können, aber trotzdem auf ein wenig Glück gehofft. Er lehnte an einem Baum und wirkte im Licht des Halbmondes und im Schatten der Äste geisterhaft blaß. »Ich gehe«, antwortete sie leise. »Wohin?« »Nach Teedmar.« Die Antwort schien ihn zu belustigen. »Jetzt, mitten in der Nacht?« »Ja. Ich habe keine Lust mehr, dir zuzusehen, wie du die Eier auf dem Boden der Elfen sprengst, während im Süden die Zwerge sterben. Ich helfe meinem Volk, den Krieg zu kämpfen, den du begonnen hast.« »Du willst dich der Zwergenarmee anschließen?« »Ja.« »Glaubst du, sie werden dich nehmen? Eine Frau? Nicht ganz erwachsen, nicht einmal auf der Höhe ihrer Kraft?« Sekena schnaubte. »Glaubst du, sie werden ein Paar hilfsbereite Hände zurückweisen? Irgend etwas kann ich tun, und alles ist besser als hierzubleiben und mitanzu119
sehen, wie du Drachen umbringst, während mein Volk verblutet und stirbt.« »Du und deine Drachen - ihr seid äußerst interessant. Was das andere betrifft: Wenn ich mein Geld erhalte, kann ich die Überfälle auf die Zwerge innerhalb weniger Tage beenden.« »Wenn du ein ausgeprägteres Ehrgefühl besäßest, hättest du den Orks niemals Waffen gegeben, mit denen sie uns jetzt angreifen.« Unbehagliche Stille lastete zwischen ihnen, als sie einander anstarrten »Ich sehe weiter als du, Sekena.« »Vielleicht siehst du so viel, daß dein Verstand benebelt ist, Mensch. Ich bin erst fünfzehn, aber ich greife die Angehörigen meiner Rasse nicht an. Auch führe ich keinen Krieg gegen Elfen und mache sie für mein Unglück verantwortlich. Ich weiß, wohin ich gehöre. Und du?« »Du kannst dich gut ausdrücken. Du solltest im Orden Leitburs Anführerin sein.« Sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach. »Ich mag dir nicht mehr zuhören. Ich gehe.« »Was ist mit deiner Mutter und deiner Schwester?« Seine Worte ließen sie zusammenzucken. »Ich will nicht, daß Mama in den Krieg zieht, deshalb ist so am besten. Und Tamun - sie wird dich beschützen, ehe sie für andere eintritt. Ich weiß, was mit euch beiden los ist. Ich nehme an, du wirst sich um sie kümmern... um beide. Das wirst du doch, oder?« Er schwieg geraume Zeit. »Du weißt, daß ich dich nicht einfach gehen lassen kann, Sekena.« Aha, das war es also. Sie hatte sich diesen Augenblick viele Male vorgestellt. Er würde sagen, sie könne nicht gehen, und sie würde sich entweder wehren, wie es ein Kind tat, als das er sie dauernd bezeichnete und verlieren oder... Oder nicht. 120
Sie kniete nieder und legte einem der dösenden Jungen die Hand auf den Leib. »Wie willst du mich aufhalten? Wenn du es versuchst, werden mich meine Drachen verteidigen. Ich habe es ihnen befohlen.« Natürlich hatte sie nichts dergleichen getan. Außerdem war sie sich nicht sicher, ob die Jungen sie überhaupt gegen irgendwen verteidigen würden. Aber sie wollte jede Wette eingehen, daß auch Reod davon keine Ahnung hatte. Er räusperte sich nachdenklich und bückte sich. Sekundenlang war Sekena verwirrt. Dann trat er ein paar Schritte zurück und murmelte vor sich hin. Entsetzen überkam sie. Würde er sie gemeinsam mit den Kleinen in die Luft jagen, damit sie nicht fortging? Würde er so weit gehen? Bestimmt nicht. Dann dachte sie an den icatianischen Leutnant und war sich ihrer Sache nicht länger sicher. In jedem Arm einen schlafenden Drachen haltend, sah sie zu ihm auf. Sie wußte nicht genau, ob er den Leutnant getötet hatte, aber sie wußte, daß sie ihm das Versprechen geben konnte, das ihm der Mensch verweigert hatte. »Ich werde nichts verraten. Ich werde dich überhaupt nicht erwähnen. Das verspreche ich dir.« Eine Weile herrschte angespanntes Schweigen. Reod atmete heftig aus. Er spreizte die Finger und ließ die Erde zu Boden rieseln. Dann drehte er sich um und starrte in die Dunkelheit. Schließlich trat er auf sie zu und hockte sich vor ihr auf den Boden. »Wir leben in einer schlimmen Zeit«, sagte er leise. »Manchmal vergesse ich mich.« Sie runzelte die Stirn. Seine Stimme klang seltsam und gepreßt. Wollte er sie durcheinanderbringen? Ihre Wachsamkeit mindern? Menschen waren so eigenartig. »Sekena!« Er seufzte. »Hör zu: Wenn du meinst, du 121
mußt für dein Volk kämpfen, dann...« Er schüttelte den Kopf. »Dann?« »Vielleicht hast du recht. Vielleicht habe ich zu viel gesehen. Zu viel verloren. Dann geh und paß gut auf dich auf. Du hast nichts von mir zu befürchten. Ich kann nicht versprechen, daß deine Mutter und deine Schwester dir nicht folgen werden, aber was Reod Dai angeht, kannst du hingehen, wohin du willst.« Er stand auf. »Und für dein Volk kämpfen, wenn du glaubst, es tun zu müssen.« Sie wußte nicht, was sie sagen sollte. »Ich danke dir. Vielleicht... vielleicht hast du gute Gründe, den Elfen so zuzusetzen.« Die Andeutung eines Lächelns umspielte seine Lippen. »Ich habe Gründe. Vielleicht sind sie gerechtfertigt.« »Dann wünsche ich dir viel Glück.« »Ich dir auch.« Sie stand auf, schulterte ihr Bündel und entfernte sich vom Lager. Es war sinnlos, hier zu stehen und abzuwarten, ob er seine Meinung ändern würde. Oben am Himmel war noch ein Teil des Kohlenbeckens zu sehen; wie immer mit dem Schlangentanz und dem Frosch verschlungen. Südlich davon stand das Große Auge, der Freund der Reisenden. Sie orientierte sich, um die Straße wiederzufinden, die sie nach Süden führen würde. Und was die Jungen betraf: Sie konnten ihr folgen oder es bleiben lassen. Es war ihr egal. Jedenfalls versuchte sie, sich das immer wieder einzureden, bis sie einen erleichterten Seufzer ausstieß, als sie die tapsigen Schritte und das Rascheln der Blätter hinter sich vernahm. Die drei wanderten durch die vom Mondlicht erhellte Nacht. Wahrscheinlich war es völlig verrückt, ihre geliebte Familie und einen Menschen zu verlassen, der 122
gegen Orks, Goblins und andere Menschen kämpfen konnte, und sie hatte nur zwei kleine Drachen als Gefährten. Wahrscheinlich war es das Dümmste, was sie je getan hatte. Mit einer verstohlenen, leicht verlegenen Geste tastete sie in der Tasche nach der Eierschale. Sie war noch vorhanden.
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»Du erringst keinen Gewinn, ohne Verlust zu erleiden.« - Icatianisches Sprichwort
Reod wartete, bis die roten Sterne des Kohlenbeckens eine gute Handbreit über den Himmel gezogen waren, ehe er Melelki weckte. Er berührte sie sanft an der Schulter, und sie bewegte sich schläfrig, riß die Augen auf und sah ihn an. »Sekena ist fort«, teilte er ihr mit. »Was?« sie richtete sich auf, war plötzlich völlig wach und war so schnell auf den Beinen, daß Reod überrascht zurückwich. Sie sah sich um und starrte ihn dann fragend an. »Fort? Wie meinst du das? Wo ist sie?« »Sie zieht nach Süden. Nach Teedmar. Um zu kämpfen.« »Was?«
»Sie will nach Teedmar, um deinem Volk zu helfen, die Goblins und die Orks zurückzuwerfen«, wiederholte er. Melelkis Blick verdüsterte sich. »Hat sie dir das gesagt?« »Ja.« »Sie hat es dir gesagt, und du hast sie gehen lassen?« Vor langer Zeit, als Reod zum ersten Mal den Befehl über eine Truppe inne hatte, unterstanden ihm zwanzig Soldaten. Auf dem Rückweg von einer Patrouille hatte er sie eine Abkürzung durch die Berge geführt, um 124
ihnen ein paar Tagesreisen zu ersparen. Urplötzlich hatte der Pfad unter ihnen nachgegeben, und sie hatten die Pferde, Waffen und Vorräte verloren. Alles stürzte hunderte Fuß tief hinunter und war nicht mehr zu retten. Sie trafen erst zwei Tage später als ursprünglich vorgesehen in der Festung ein - hungrig, frierend und dankbar, am Leben geblieben zu sein. In Trokair hatte Generalin Jonas Reod rufen lassen, damit er eine Erklärung für die Vorkommnisse abgab. Er erinnerte sich so gut an den Ton der Generalin, als sei es gestern gewesen und an das entsetzliche Gefühl im Magen, als sie ihm deutlich sagte, was sie von ihm und seiner Handlungsweise hielt. Generalin Jonas konnte das Selbstbewußtsein hartgesottener Veteranen mit einem Seitenblick erschüttern. Und nun stand er vor einer zwei Köpfe kleineren Zwergin, die der Generalin völlig unähnlich war, und aus irgendeinem Grund überkam ihn wieder dieses gräßliche Gefühl. Melelki starrte zu ihm hinauf. »Du hast sie einfach gehen lassen?« Reod dachte daran, wie Sekena die Jungen im Arm gehalten hatte, an die Drohungen, die sie ausgetauscht hatten und an das taktisch kluge Vorgehen der Fünfzehnjährigen. »Ja, ich ließ sie gehen.« Melelki drehte sich abrupt um, raffte mit hastigen Bewegungen ihre Habe zusammen und stopfte alles in ihr Bündel. Jetzt war auch Tamun erwacht, erhob sich und beobachtete unsicher die Szene. »Wie lange ist das her?« verlangte Melelki zu wissen. »Wir können sie noch einholen.« »Stunden«, antwortete Reod. »Stunden?« Sie klang ungläubig. »Stunden?« Melelki nahm sich nicht einmal mehr die Zeit, ihm einen bösen Blick zuzuwerfen. 125
Tamun kannte ihre Mutter gut genug und hielt deshalb den Mund. »Melelki, ich wollte sie aufhalten. Das hatte ich jedenfalls vor. Die Jungen - sie klammerten sich an Sekena, wie Welpen sich an eine Hündin hängen. Als ich drohte, sie in die Luft zu sprengen, drückte Sekena sie fest an sich. Ich konnte nicht viel tun, außer, sie gehen zu lassen.« Das stimmte natürlich nicht. Er hätte sehr viel unternehmen können. Aber statt dessen hatte er sich zurückgehalten. Wutschnaubend wirbelte Melelki herum. »Meine Tochter! Du hast sie einfach ziehen lassen! Einfach so? Du bist ein Idiot. Du bist ein nutzloses Stück Fleisch. Ein Mensch.«
»Ihr wird nichts geschehen. Sie hat zwei Drachen, die sie beschützen.« »Werden sie Sekena vor einer Orkbande beschützen? Werden sie das? Können sie es? Ich bezweifele es.« Hilfesuchend blickte Reod zu Tamun hinüber. Sie schüttelte den Kopf und ihre Schultern hoben sich leicht, als sie ein Achselzucken unterdrückte. »Na gut«, meinte er. »Wir folgen ihr. Wir packen unsere Sachen und suchen nach ihr.« Melelkis Atem beruhigte sich ein wenig. Einen Augenblick lang sah sie besänftigt aus, warf ihm dann aber wieder einen mißtrauischen Blick zu. »Wir folgen ihr«, wiederholte Reod. »Aber hör mir zu: Es wird nur ein paar Stunden dauern, um die Eier in der Festung zu vergraben. Wenn wir jetzt gehen, waren alle Bemühungen, die Eier hierher zu bringen, umsonst. Erinnere dich an das, was wir für die Elfen geplant haben. Eine beschwerliche Reise liegt hinter uns, Melelki. Willst du sie denn nicht für das büßen lassen, was sie deinen Leuten angetan haben?« »Aber meine Tochter...« »Sekena kann noch nicht weit gekommen sein. Die 126
Drachen sind noch klein und brauchen viel Schlaf. Sie werden bald rasten und bis zum Morgen schlafen, vielleicht sogar noch länger. Es wird nicht schwer sein, sie zu finden. Wir müssen nur der Spur aus abgeknickten Ästen und Drachendung folgen.« Melelki runzelte die Stirn. »Sie ist erst fünfzehn.« »Sie ist sehr klug, sehr umsichtig und sie hat Beschützer.« »Sie beschützen sie? Bist du ganz sicher?« Reod hatte im Laufe der Jahre so viele junge Drachen gesehen, daß er wußte, wie ungewöhnlich sich die beiden benahmen. Sekena hatte behauptet, die Drachen würden gut riechen. Zweifellos galt das auch umgekehrt. Nein, sicher war er nicht, aber es hatte keinen Sinn, das zuzugeben. »Ja.« »Es gefällt mir nicht.« »Je schneller wir die Eier vergraben, um so früher können wir ihr folgen.« »Und dann?« »Dann kommen wir hierher zurück, um das zu beenden, was wir begonnen haben. Einen Tag lang, höchstens zwei. Anschließend reisen wir nach Teedmar, um die Zwergenarmee zu unterstützen.« »Du auch?« fragte Tamun. Er drehte sich um und sah ihr tief in die im Stemenlicht glänzenden dunklen Augen. »Ja, ich auch.« Melelki nickte, und ihre Wut ließ nach, als habe sie nur darauf gewartet, daß er dies aussprechen würde. Sie suchten ihre Sachen zusammen, um den kurzen Weg zur Festung einzuschlagen. Tamun blieb neben Reod stehen. Leise sagte sie: »Du hast sie gehen lassen. Ich weiß, daß du einen Weg hättest finden können, um sie aufzuhalten. Warum hast du sie ziehen lassen?« »Sie will ihr Volk verteidigen. Wer bin ich, daß ich es ihr verbieten könnte?« 127
Sie streichelte ihm sanft über den Arm. »Danke.« Er war verblüfft. »Wofür?« »Weil du zugelassen hast, daß sie der Stimme ihres Blutes folgt. Sie hatte schon immer Kampfgeist in den Adern, schon als kleines Kind. Aber sie denkt, niemand hat es gemerkt. Und Mama hätte sie nie gehen lassen. Sie versteht Sekena nicht, aber du - ich glaube, du verstehst sie.« Er zog sie an sich und schlang die Arme um sie. Die Worte rührten ihn. Er flüsterte ihr ins Ohr: »Sollte nicht jedes Geschöpf die Gelegenheit erhalten, für die Seinen zu kämpfen?« Bilder von blutigen Kämpfen huschten an ihm vorüber. »Ach, Tamun, ich habe so viele sterben sehen, die ihre Heimat und ihre Kinder verteidigen wollten. So viele. Viel zu viele.« Sie lehnte sich ein Stück zurück, um ihm in die Augen zu sehen. »Du hast mitgeholfen, daß es so gekommen ist, nicht wahr?« »Ja, aber ich glaubte, ich würde mehr Gutes tun als Schaden anrichten. Ich dachte ...« »Der Mond zieht weiter«, unterbrach ihn Melelki ungeduldig. Es stimmte, der Mond zog seine Bahn. Es war höchste Zeit, die Festung zu betreten. Reod holte tief Luft und konzentrierte sich. Schließlich hob er eine Handvoll Erde auf und spuckte darauf. Er sprach eine alte Zauberformel, die sich wand und drehte, deren Worte sich miteinander verschlangen und verknoteten, bis er kaum mehr in der Lage war, seine eigene Stimme zu verstehen. Sie arbeiteten fleißig und trugen die Eier einzeln ans dem Wagen. Reod ging voran und ließ Melelki und Tamun die schweren Eier tragen. Vor den Baumwächtern blieb er kurz stehen, griff sie 128
aber nicht an. Statt dessen wandte er die Tricks an, die er bei der Schwarzen Hand gelernt hatte, um Baumwesen zu verwirren. Er stellte den Bäumen Rätsel über die Sonne und die Sterne und die wechselnden Winde. Es war harte Arbeit, und sein Kopf schmerzte, als er sich mit den Bäumen in ihrer lautlosen, uralten Sprache verständigte. Schließlich waren sie abgelenkt genug, um sie ungeschoren durchzulassen. Dann stießen sie auf Wände und Fallen. Es war lange her, daß Reod auf eine Falle gestoßen war, die er nicht beseitigen konnte oder auf eine „Wand, die nicht zu umgehen, zu erklimmen oder zu durchdringen war. Manchmal drang das Mondlicht durch die dichten Baumwipfel. Zu dritt vergruben sie ein Ei nach dem anderen. Einige nahe der Festungsmitte, andere bei den Waffenlagern und die restlichen unter den Verteidigungsmauern. Jetzt gruben sie das Loch für das letzte Ei. Reod blickte zum Himmel, um die wenigen Sterne zu betrachdie er von hier aus sehen konnte. Sterne waren der Samen und die Funken der Sonne, und an ihnen las er ab, wie lange es dauern würde, bis die Sonne ihr helles Antlitz zeigte. Bald würde der Morgen anbrechen. Äste knackten, und die Laute zerstörten den Frieden Nacht. Etwas Großes und eigenartig riechendes strich an ihnen vorüber. Reod hatte sich nicht ablenken lassen, und auch Tamun und Melelki bewegten sich leise genug. Nein, es war etwas anderes, das sich durch die Nacht bewegte und weder Mensch, noch Tier, noch Baum war, denn gegen jene wirkte der Zauber, den gewoben hatte. Dieses Unbekannte war ausgesprochen laut. Es stolperte und lärmte, fiel gegen den Ziegenpferch und erschreckte die Tiere, die zu meckern begannen. Reod kämpfte darum, die Magie aufrechtzuerhalten, die er sich und seine Gefährtinnen gesponnen hatte, damit 129
sie nicht von den Schatten der Nacht, dem Erdboden, Ästen und Blättern zu unterscheiden waren. Aber schließlich wurde es einfach unmöglich, und plötzlich lag das letzte Ei klar und deutlich sichtbar im ersten Hauch der Morgendämmerung. Schatten lösten sich aus den Bäumen, die zu Elfen wurden, die mit Schwertern und Bögen bewaffnet waren, deren Pfeile auf die drei Eindringlinge zielten. Urplötzlich herrschte Stille. Selbst die Ziegen unterbrachen ihr Geschrei. Ein einzelner Vogel begrüßte den jungen Morgen mit seinem Lockruf. Das Wesen, das Reods Zauber gebrochen hatte, war verschwunden, mit der entschwindenden Nacht verschmolzen. Niemand rührte sich. Reod wußte genau, wo Tamun stand. Wenn er versuchte, alle Elfen anzugreifen - konnte er es schaffen? Konnte er sie beschützen? Nein, wahrscheinlich nicht. Er blieb also stehen. Leise Schritte kündeten eine Elfe an. Sie trug nur ein Messer im Gürtel, aber Reod erkannte an ihrem Gang und den Blicken der restlichen Elfen, daß sie nicht nur eine Kriegerin, sondern auch eine Anführerin und Denkerin war. Sie sah ihn lange an. »Dich, denke ich, können wir beim Namen nennen«, sagte sie in gestelztem, betonten Zwergisch. »Reod Dai?« »Gut geraten.« Sie lachte trocken. »Ist es wahr? Dies ist der große und gefürchtete Reod Dai? Der, der Ziegen mit Thallidrinde zum Schweigen bringt? Du solltest sie einmal probieren, Mensch. Dann wollen wir sehen, ob du nicht auch zu meckern beginnst.« Reod bemühte sich, die Bedeutung der Worte zu verstehen, gab dann aber auf. So waren Elfen nun einmal, sie sagten Dinge, die wenig Sinn ergaben, als sprächen sie nur, um dem Klang ihrer eigenen Stimme zu lauschen. »Wer«, sagte sie, »sind jene beiden?« 130
Er schenkte Melelki und Tamun kaum einen Blick und ließ sich nicht anmerken, daß er die Hoffnung hegte, sie würden schweigen und Tamun möge nicht in einen Kampfrausch verfallen, wie es bei dem Zusammentreffen mit den Icatianem in den Bergen geschehen war. Er nahm an, daß nur gefährliche Situationen diese durch die Hitze verursachte Wut auslösten. Wenn er die Lage entspannt halten konnte ... »Dienerinnen«, sagte er knapp. »Ich gab ihnen zu essen, als sie hungerten, und so folgten sie mir aus den Ruinen ihrer Stadt.« Er vermeinte, Melelkis beleidigten Blick im Nacken zu spüren. Die Stimme der Elfe klang barsch, als sie auf das Ei deutete. »Und das da?« »Eine Botschaft für eure Ältesten.« Ihre Lippen bildeten eine dünne Linie. »Wir sind keine Narren, Mensch. Das ist ein Drachenei, und du bist kein Freund des Zufluchtwaldes.« »Du kannst deine Ältesten fragen, wohin diese Freundschaft entschwand.« Die Elfe wandte sich an die Zwerginnen. »Leider habt ihr euch einem gefährlichen und unehrenhaften Menschen angeschlossen. Ihr habt Glück, zu uns gekommen zu sein. Wir werden dafür sorgen, daß ihr sicher zur Straße geleitet werdet, die in eure Heimat führt.« Die Elfe nickte den Kriegern zu. »Nehmt die Kleinen mit.« »Nein, wartet...«, begann Tamun, und Reod zuckte zusammen. »Sie wollen ihre Bezahlung!« warf er angewidert ein. »Was?« fragte die Elfe. »Sie behaupten, das Ei gehöre ihnen. Ich gab ihnen Nahrung dafür, aber dennoch ..,« »Mein Ei!« rief Melelki, die begriffen hatte, worum es ging. »Er hat uns Geld dafür versprochen. Es gehört mir.« Die Anführerin der Elfen sah von einem zum anderen 131
und runzelte die Stirn. »Wir wollen nur den Menschen. Kleine Leute, die Zeiten sind unsicher. Geht heim.« »Es gehört mir«, sagte Melelki dickköpfig. »Er hat uns nicht gegeben, was er uns dafür schuldet.« Reod sah sie an und schnaubte entrüstet. Die Elfe sah unschlüssig zu ihnen hinüber. »Wenn wir euch Münzen geben...« »Drei Goldstücke!« forderte Melelki. Die Anführerin lächelte belustigt. »Wohl kaum.« »Dann zwei, aber keines weniger!« Sie dachte nach und fällte eine Entscheidung. »Ein Goldstück. Wir geben euch ein Goldstück und ihr verschwindet auf der Stelle.« »Nehmt es an«, sagte Reod. Flüchtig begegnete er Tamuns traurigen und verängstigten Blick. Sie hatte Angst um ihr Leben, und er war sicher, daß diese Furcht berechtigt war. Er sah zur Seite und bemühte sich, so angeekelt wie möglich zu klingen. »Bei Elfen müßt ihr nehmen, was ihr kriegen könnt und verschwinden, ehe sie ihre Meinung ändern.« Er mußte dafür sorgen, daß die Zwerginnen den Wald unverletzt verließen, bevor er sich mit seiner eigenen Flucht befassen konnte. Sicherlich begriff Tamun, daß er vorhatte, ihnen so schnell wie möglich zu folgen. Sie wußte, was er für sie empfand. Oder etwa nicht? Vielleicht auch nicht. Er hatte sich nie deutlich erklärt, und da es zwischen Menschen und Zwergen unzählige Unterschiede gab, konnte er nicht ahnen, wie sie ihn einschätzte. Er hätte gestern nacht etwas sagen sollen, als noch Gelegenheit dazu bestand. Etwas Einfaches und Deutliches, das sie nicht mißverstehen konnte. Aber nicht einmal jetzt fiel ihm ein, was passend gewesen wäre. Er warf ihr noch einen Blick zu und hoffte, seine Gefühle darin ein wenig deutlich zu machen. »Ein Goldstück«, wiederholte die Elfe. 132
»Zwei«, beharrte Melelki. »Eins.« »Und Proviant. Nahrung und Wasser.« »Ein Goldstück. Proviant. Und wir bringen euch sicher bis zum Rand der südlichen Berggipfel.« Reod war erleichtert. In Begleitung der Elfen kamen sie unbeschadet durch den Wald und waren vor herumstreunenden Orkbanden sicher. »Nein. Wir gehen nach Teedmar.« »Nach Teedmar? Warum?« »Um für unser Volk zu kämpfen.« »Dort ist es gefährlich. Wir raten euch davon ab.« Das entsprach auch Reods Meinung. Er wünschte sie nach Tigaden, in Sicherheit. Melelki sah zu der hochgewachsenen Elfe auf und wiederholte mit sanfter Stimme: »Wir gehen nach Teedmar.« Die Anführerin dachte nach und nickte schließlich. »Wir werden euch bis auf eine Tagesreise an die Stadt heranführen. Einverstanden?« Er mußte sie einholen, ehe sie die Elfen verließen, aber bis dahin waren sie in Sicherheit, und wenn alles glatt ging, konnte ihm die Flucht gelingen. Ein besseres Angebot würden sie nicht mehr erhalten. Insgeheim drängte er Melelki, zuzustimmen. »Einverstanden.« Während die Elfen die Zwerginnen wegbrachten, sah sich Reod in der Festung um und prägte sich jede Einzelheit ein. Es wurde allmählich heller, und die Welt nahm wieder Farbe an. Zweige wiegten sich im Wind. Bäume standen miteinander verschlungen und bildeten Mauern und Türme, Lagerschuppen und Schlafquartiere. Auf den Ästen der höchsten Bäume breiteten sich Galerien aus, die durch Brücken aus Schlingpflanzen miteinander verbunden waren. Die ersten Sonnenstrahlen legten sich über die Stämme und warfen lange Schatten auf den Boden. Ein 133
Muster aus Blattwerk und Schatten tanzte ihm vor den Augen herum, und er beobachtete es aufmerksam, um sich von den leiser werdenden Schritten abzulenken, die ihm so vertraut waren. Jetzt war noch Zeit genug, sich umzudrehen und ihr nachzusehen, einen letzten Blick auf sie zu werfen. Noch einmal ihren Anblick in sich aufzunehmen. Statt dessen blickte er in die strengen Augen der Elfe. Man fesselte ihm die Hände auf den Rücken. An den Windungen und dem Zerren des Strickes erkannte er die Knoten, die geschlungen wurden. Wenn man ihn kurze Zeit nicht beobachtete, würde er sich mit Leichtigkeit befreien können. Aber jetzt, auf dem Weg durch die Festung, verhielt er sich ruhig. Elfen blieben stehen, um ihn anzustarren. Er sah einen Handwagen, der mit länglichen, braunen Pflanzen beladen war. Wahrscheinlich handelte es sich um Thallide. Jüngere Elfen, fast noch Kinder, bestaunten ihn. Einige trugen mit Wasser oder Pflanzen gefüllte Eimer. Früher hatte er alle Verhandlungen mit den Ältesten durch Boten geführt und war nur selten in die Nähe einer Festung gelangt. Während der Nacht hatte er zum ersten Mal eine davon betreten und im Schütze der Nacht Dracheneier vergraben. Aber er hatte schon viel über die einzigartige Bauweise der elfischen Festungen gehört. Und einzigartig waren sie, wenn man sie mit den Festungen der Menschen verglich. Flüchtig betrachtet, hatten sie auch Türme, Mauern und Tore, die überall auf der Welt dazu dienten, Feinde auszumachen und abzuwehren. Aber hier stand das Haupttor, aus dicken Schlingpflanzen und Blättern geflochten, weit offen. Krieger standen plaudernd herum und ließen die Elfen aus den nahegelegenen Dörfern ohne Überprüfung hinein und wieder hinaus. Einer der Soldaten zeigte einem Kind, 134
Wie es einen Wurfspeer handhaben mußte. Es war ein Bild des Friedens, und nichts ließ darauf schließen, daß außerhalb der Mauern irgend etwas sein könnte, vor dem man sich hüten müsse. Welch ein Unterschied zu einer icatianischen Festung! Schließlich hatten die Elfen dafür gesorgt, daß andere Rassen ihre Kämpfe für sie austrugen. Seine Begleiter führten ihn zu dem Gebäude in der Mitte der Festung. Aus der Entfernung gesehen, schien es aus dicht nebeneinander stehenden Baumstämmen zu bestehen, an denen grüne Blätter sprossen. Als er näherkam, bemerkte Reod jedoch, daß ein Felsen aus dem Boden ragte, der so bearbeitet worden war, daß man erst bei genauer Betrachtung Einzelheiten erkennen konnte. Die Blätter entpuppten sich als grüne Steine und Glasscherben. Während der Nacht hatte er dieses Gebäude schon einmal gesehen. Dicht daneben lag ein Ei begraben. Man führte ihn durch eine Eingangshalle und an . Türen aus miteinander verschlungenen Wurzeln vorbei. Eine Wendeltreppe zog sich viele Stockwerke weit hinauf, bis in den höchsten Turm des Hauses. Seine Wachen hielten vor der Tür am Ende der Treppe an und klopften. Dann öffneten sie die Tür und schoben ihn voran. Reod erblickte zwei weißhaarige Elfen, die mit grünen Gewändern bekleidet waren. Beide waren groß und ausgesprochen schlank - schlank sogar für elfische Begriffe. Ihr Haar war fast so weiß wie die glatte Haut, was von hohem Alter zeugte. Die Frau sah aus dem Fenster, und der Mann beobachtete Reod. Er gab den Wachen einen Wink, und die Fesseln wurden gelöst. Auf einen weiteren Wink hin verließen die Wachen den Raum. Keiner der beiden alten Druiden rührte sich oder sprach, daher schwieg auch Reod. Von draußen erklangen die Laute der Festung - Stimmen, Schritte, das Knar135
ren von Wagenrädern, das Quietschen einer Wasserpumpe. Schweigend warteten sie. Das war eine alte Zermürbungstaktik, eine sehr alte Taktik, und sie belustigte ihn. Glaubten sie etwa, er würde sich durch Ungeduld oder Unsicherheit verraten? Hielten sie ihn für so unerfahren? Vielleicht waren sie viel einfacher zu nehmen, als er geglaubt hatte. Die Feinfühligkeit, die er bei ihnen vermutet hatte, ließ sich vielleicht auf die Eigenarten ihrer Rasse zurückführen, und er hatte mehr dahinter gesehen, als tatsächlich vorhanden war. Vielleicht waren sie ganz schlichte Wesen. Er konnte dieses Kinderspiel gewinnen, wenn er geduldig blieb und abwartete. Irgendwann würde einer von ihnen reden. Die ersten Worte würden ihm viel verraten. Während er wartete, ließ Reod den Blick durch den Raum schweifen, über die Spinnweben, die Wände und Decke zierten, bis hinaus aus dem großen Fenster zu den Baumwipfeln, die sich sachte im Wind wiegten. Dann fiel sein Blick auf den Boden, und er betrachtete die vielen kleinen bunten Steine. Er folgte dem Muster, das sich farbenfroh über den Fußboden zog. Reod begriff, daß es eine Art Irrgarten darstellte. Allerdings bedeutete es keine besondere Herausforderung. Er wollte den Blick nicht abwenden, um die Druiden anzusehen, aber er wußte, daß sie ihn beobachteten und meinte, ein leises Lachen zu hören. Glaubten sie etwa, er könne das Muster nicht entwirren? Es war ganz einfach. Er hatte es fast geschafft. In wenigen Augenblicken würde der Irrgarten offen vor ihm liegen. Vielleicht hielten die Elfen alle Menschen für Narren, aber er würde ihnen das Gegenteil beweisen, in dem er ihnen zeigte, wie einfach es für einen Angehörigen seiner Rasse war, so alberne Rätsel zu lösen. Ganz einfach. Zu einfach? 136
Er erinnerte sich an die Stimme Genkr Niks, die ihn aus der Vergangenheit erreichte und tief und rauh klang. Er hatte etwas gesagt, einen finsteren Zauber ausgesprochen. Es war Unterrichtszeit. »Die Pfade der Natur«, sagte Genkr leise mit der sonderbar krächzenden Stimme, »sind der Widerhall der Pfade unseres Verstandes. Beherrscht sie ...« Er legte die Hand auf Reods Stirn, und Reod verspürte ein Kribbeln unter der Berührung. »... und ihr beherrscht auch alle anderen. Du denkst wie ein Soldat, Reod. Immer in geraden Linien. Schau zur Seite. Schau hin, verdammt noch mal!« Und Genkr hatte recht behalten. Immer und immer wieder. Vielleicht hatte er jetzt auch recht. Zur Seite. Reod befolgte den Rat der Schwarzen Hand und sah zur Seite. Der Boden bewegte sich in Wellen auf und ab. Er verspürte ein flaues Gefühl, als drehe sich ihm der Magen um. Reod verlor das Gleichgewicht und stolperte einen Schritt vorwärts. Halt. Er taumelte und fing sich wieder. Dann... Dann lag das Mosaik flach vor ihm, die Wände zogen sich zurück, als wollten sie ausatmen, ehe sie sich wieder aufrichteten. Keine Wellen mehr, kein Atmen. Nur Wände und Steine und der Fußboden. Er holte tief Luft, atmete aus und sah die Druiden an. »Aha«, sagte die Frau mit hoher, sanfter Stimme und sah ihn aus hellen Augen an. »Du bist Reod Dai, der aus Icatia stammt, aber aus dem Nest der Schwarzen Hand kommt. Man sagte uns, du hast eine Botschaft mitgebracht?« Wieder atmete er tief durch und schüttelte die letzten Spinnweben ihres fehlgeschlagenen Zaubers ab, ehe er die beiden ansah. Das waren Lalani und Kolevi, von denen er viel 137
gehört hatte und mit denen er den Vertrag geschlossen hatte, den sie nun nicht mehr erfüllen wollten. Er legte einen Hauch von Spott in sein Elfisch, was ihm nicht leicht fiel. »Es ist mir ein Vergnügen, euch beide kennenzulernen. Endlich!« Kolevis Stimme war tiefer als die der Frau, aber ebenso sanft. »Uns ist sehr vieles unklar, was dich betrifft. Warum bist du hierher gekommen, Reod Dai?« »Um eure Aufmerksamkeit zu erringen.« »Da du sie nun errungen hast - was willst du mit ihr anfangen?« »Euch mitteilen, daß ihr einen Fehler begangen habt. Einen großen Fehler. Und euch die Gelegenheit geben, ihn wiedergutzumachen.« »Ach ja?« »Unser Vertrag ist nicht erfüllt worden, ihr Druiden. Ihr habt mich inmitten verschiedener begonnener Dinge zurückgelassen, die noch beendet werden müssen. Ich nehme an, eure Botin hat euch meine Berichte weitergegeben?« »Ja.« »Dann gebt mir die Möglichkeit, das zu beenden, was ich begonnen habe.« »Leider können wir uns deine Dienste nicht mehr leisten, Reod Dai«, sagte Kolevi. »Älteste Druiden - sind euch die Münzen ausgegangen?« Er lachte. »Das wage ich zu bezweifeln. Warum habt ihr den Vertrag gebrochen? War meine Arbeit so erfolgreich?« »Wir bedürfen deiner Dienste nicht länger.« »Nein! Ihr fürchtet euch. Hört zu: Ihr könnt meine Arbeit nicht mit Kinderaugen betrachten. Seht sie mit den Blicken der Erwachsenen an. Man kann kein Schwert aufheben, es nur einmal gegen den Feind richten und dann weglegen. Ihr müßt beenden, was ihr angezettelt habt.« »Es ist beendet.« 138
»O nein, es hat gerade erst angefangen.« »Du bist den ganzen Weg gekommen, um uns zum Umdenken zu bewegen?« Er grinste, wurde aber gleich wieder ernst. »Vor allem möchte ich von euch etwas fordern.« Lalani schaute wieder aus dem Fenster. »Was forderst du?« »Ich will das Geld, um den Vertrag ausführen zu können. Ihr habt mich angeheuert, und nun halten wir den Schwanz einer hungrigen Hydra in Händen. Jetzt ist nicht der rechte Zeitpunkt, um ihn loszulassen. Laßt mich mein Werk zu Ende bringen.« »Die Lage hat sich geändert.« »Wie denn?« Er ließ die Stimme schriller klingen, um seine Enttäuschung deutlich zu machen und trat einen Schritt vor, als sei er so aufgebracht, daß er seine Grenzen vergaß. Aber sie schienen es nicht zu bemerken. Sie waren ausgesprochen selbstsicher. »Es hat sich geändert. Unser Entschluß steht fest.« »Ihr habt ein Monstrum geschaffen. Die Goblins verfügen über Sprengladungen. Ich brauche Zeit, um sie ihnen wegzunehmen und ihnen weniger gefährliche Dinge schmackhaft zu machen. Und die Orks - ich habe ihre Kampftaktik verändert, und nun sind sie in der Lage, mehr zu tun, als beim Kampf übereinander zu stolpern. Auch dagegen muß ich etwas unternehmen. Ohne meinen Einfluß werden die beiden Rassen schnell zu Verbündeten und wenden sich gegen einen Gegner, der schwächer als Icatia ist: Das Volk der Zwerge. Begreift ihr das?« Beide starrten ihn an. Ein seltsames Brummen dröhnte in seinem Hinterkopf. »Wo befinden sich die restlichen Dracheneier, Reod Dai?« Er schüttelte den Kopf, um das Gebrumm loszuwerden, aber es gelang ihm nicht. Plötzlich fiel ihm das Denken schwer. Sie wollten wissen, ob er sich daran erin139
nerte, wohin er die Dracheneier gebracht hatte. Natürlich erinnerte er sich. Er wußte es ganz genau. Jedes einzelne. Hielten sie ihn für dumm? Er könnte es ihnen sagen. Ihnen zeigen. Es wäre einfach. Zu einfach. »An einem Ort, der euch nicht gefallen wird«, antwortete er und mußte sich zum Sprechen zwingen. »Vor allen Dingen dann nicht, wenn sie ausschlüpfen. Und das werden sie. Bald.« Er bemühte sich, seine Gedanken zu ordnen und sich zu konzentrieren. Seitwärts.
Das Brummen hörte auf. Er atmete auf. Lalani nickte nachdenklich. »Sollen wir dir glauben?« »Ich möchte euch dazu raten.« »Und was willst du wirklich?« erkundigte sich Kolevi. »Die versprochene Bezahlung. Eine Eskorte. Ich schicke die Eskorte innerhalb eines Tages mit genauen Anweisungen zurück, wie ihr die Eier - oder die Drachen - beseitigen könnt.« Er setzte auf die Hoffnung, daß keines der Jungen zu früh schlüpfen würde. Sekena hätte es ihm gesagt, wenn sie gespürt hätte, daß die Möglichkeit in Kürze bevorstand. Er wagte viel. Lalani drehte sich um und starrte ihn mit den hellen Augen durchdringend an. »Bitte sage mir, ob ich dich richtig verstanden habe. Du versuchst, unsere Thallidfelder zu vernichten. Du bedrohst unsere Dörfer und Festungen mit Dracheneiern, von denen wir wissen, daß du sie in Blitzfeuer verwandeln oder die Jungen schlüpfen lassen kannst, damit sie über uns herfallen. Als Gegenleistung für diese Geschenke verlangst du, daß wir dir Gold und freies Geleit in den Süden geben. Verstehe ich das richtig?« Er hielt ihrem Blick stand. »Es hätte mir besser gefallen, euch auf andere Weise klar zu machen, wie ernst die Lage ist, aber ihr wolltet nicht zuhören; deshalb mußte 140
ich hierherkommen, um eure Aufmerksamkeit zu erringen. Wird der Vertrag nicht erfüllt, habt ihr die Folgen zu ertragen. Ich bin gekommen, um euch ein paar dieser Folgen nahe zu bringen.« »Es war unser Vertrag. Wir haben ihn aufgesetzt, und wir beenden ihn.« »Und warum überfallen dann die Goblins und die Orks die Zwerge, die sich kaum verteidigen können? Zwergendörfer gehen in Flammen auf, die Leute werden niedergemetzelt, vergewaltigt, ihre Nahrung vernichtet - und dann wenden sich die Horden nach Icatia. . Wenn das alles geschieht, soll euer Name auf den Lippen der Sterbenden liegen, die euch mit ihrem letzten Atemzug verfluchen?« Lalanis Gesichtsausdruck hatte sich geringfügig verändert. Reod war nicht sicher, ob sie zürnte oder nicht. Die Stimme klang unverändert sanft. »Wie kann es angehen, daß du der Mittelsmann von so viel Leid bist und uns dafür verantwortlich machen willst?« »Du hast dich entschlossen, dieses Schwert zu schwingen, Älteste.« »Bist du nichts anderes als ein Schwert?« fragte Kolevi. »Ihr wollt die Waffen nach dem ersten Hieb fortlegen. Das geht aber nicht. Es ist zu spät.« »Wir ließen dich gewähren, Reod Dai«, sagte Kolevi. »Wir vertrauten auf dein Schweigen. Du hättest nicht herkommen dürfen.« »Zum Teufel, da draußen herrscht Krieg! Blut wird durch die Gassen strömen! Kinder werden weinen und den Tod herbeisehnen! Habt ihr nicht Augen und Ohren, um es zu sehen und zu hören? Ihr habt trockenes Holz auf die lodernden Flammen geworfen, aber gebt mir die Möglichkeit, das Feuer einzudämmen.« »Hast du deshalb den Auftrag angenommen, Reod Dai?« fragte Lalani. »Um diesen Krieg zu beenden?« 141
»Anscheinend.« »Das kommt mir ausgesprochen seltsam vor.« »Seltsame Zeiten verlangen seltsame Lösungen.« »Wir würden dir gern vertrauen«, meinte Kolevi. Lalani schüttelte den Kopf. »Kriegszeiten zwingen uns zu entsetzlichen Dingen, nicht wahr? Wenn wir dir glauben könnten, daß du die Eier und unser Gold mitnimmst, ohne uns Schaden zuzufügen ...« »Glaubt ihr denn, daß ich nur euer Gold will? Narren! Ich brauche Geld, um die Goblins und die Orks von den Zwergen fernzuhalten, von der Zerstörung, die ihr nicht beabsichtigt habt.« »Woher sollen wir wissen, daß du die Wahrheit sagst?« »Ihr habt mir vorher vertraut, also tut es auch jetzt. Gebt mir Gold und laßt mich die Sache beenden.« »Leider trauen wir dir aber nicht mehr«, murmelte Kolevi. »Dann schließen wir einen Handel ab. Die Eier ...« »Unsere Magier werden sich mit ihnen beschäftigen«, sagte Lalani. »Wie denn, wenn sie sie nicht finden können?« Ihre Lider flatterten, und Reod wußte, daß sie diese Schwierigkeit noch nicht bedacht hatte. Das war gut zu wissen. »Deine Drohungen beeinflussen uns nicht. Es ist ganz einfach: Wir trauen dir nicht. Weder hier im Wald noch sonst wo. Daher...« Sie zögerte. »Daher behalten wir dich hier, wo wir dich im Auge haben.« Und zweifellos hofften sie, er werde seine Meinung über die Eier ändern. Reod hatte Geschichten immer gern gehört, denn oft enthielten sie mehr als nur einen Funken Wahrheit. Einst hatte er eine Geschichte über ein Elfengefängnis gehört. Die Bäume darin wurden zu Käfigen, die hart wie Stein und so eng waren, daß der Gefangene nicht einmal einen Finger rühren konnte. »Ihr verschlimmert euren Fehler nur noch«, sagte er. 142
»Vielleicht. Seltsame Zeiten - wie du schon sagtest. Wir müssen schwere Entscheidungen treffen. Diese Kriege werden nicht ewig währen. Wenn wieder Ruhe eingekehrt ist, hoffen wir, dich freilassen zu können.« Reod schnaubte. »Die Kriege haben nicht einmal angefangen. Ihr seid blind.« Kolevi wurde plötzlich sehr ernst. »Sage uns, wo die Eier versteckt sind. Sage uns, wie wir uns vor ihnen schützen können. Wir wollen dich nicht gefangenhalten, wir wollen nur, daß unser Volk in Sicherheit ist. Vielleicht können wir uns einigen.« »Dein Wort ist besser als das meine?« Reod lächelte grimmig. »Ich habe erlebt, was ihr mit denen macht, die ihr Verbündete nennt. Kann ich bessere Behandlung erwarten? Ich habe eure Latrinen für euch gereinigt, Druiden! Jetzt stinke ich und bin entbehrlich. >Kriegszeiten< und >notwendige Opfer<. Glaubt ihr, ich hätte das alles nicht schon oft gehört? Bietet mir keinen Unsinn an.« Lalani richtete sich auf. »Wir müssen deine Weigerung, das Versteck der Eier preiszugeben, als einen Angriff auf den Zufluchtwald deuten.« »Das solltet ihr auch. Ich werde diesen Angriff ohne zu zögern durchführen, denn ich habe gesehen, was eure Launenhaftigkeit auslösen kann.« Kolevi blickte zu Boden. »Wir fragen dich noch einmal.« Reod vernahm den flehenden Unterton. Er nahm seiner Stimme die Schärfe. »Gebt mir genug Gold, um den Vertrag zu erfüllen, und ich schaffe die Eier fort. Das schwöre ich.« »Wir bewegen uns im Kreis«, meinte Lalani. Hinter ihm öffnete sich die Tür. »Fesselt ihn!« befahl sie. »Überdenke deinen Entschluß, Reod Dai. Du hast noch ein wenig Zeit, aber nicht viel. Ändere deine Meinung, ehe die Drachen ausschlüpfen, und wir werden uns überlegen, ob ...« »Verdammt sollt ihr beide sein!« 143
Trotz seiner Wut, die teilweise gespielt und teilweise echt war, bemerkte er die Trauer in ihren Mienen. Seltsamerweise steckte sie ihn an, und gleichzeitig stieg Verzweiflung in ihm auf. Er verbarg beide Regungen vor den Elfen. Drei Wächter durchsuchten ihn gründlich. Man nahm ihm das Messer, seine Munition, die Schleuder und andere, schwer zu ersetzende kleine Gegenstände ab. Dann führten ihn Kolevi und die Wachen in den Untergrund. Sie schritten durch viele, miteinander verbundene Gänge, die aus dicht nebeneinanderliegenden Wurzeln bestanden. Als sie wieder an die Erdoberfläche kamen, erhob sich vor ihnen eine Wand aus ineinander verschlungenen Wurzeln, die bei Kolevis Berührung erbebten und sich teilten. Dahinter wurde ein kleiner runder Käfig sichtbar, der so breit wie Reod groß war, aber nicht besonders hoch. Büsche und Wurzelwerk hatten sich miteinander verflochten und bildeten das gewölbte Dach. Der Boden bestand aus festgestampfter Erde. Durch das dichte Geflecht drang nur wenig Licht. Reod tastete die Wurzeln ab, die sich hart wie Stahl anfühlten. Hinter ihm fiel die Tür des Käfigs zu und wurde augenblicklich so fest wie der Rest seines Gefängnisses, in dem er allein zurückblieb. Er rüttelte an den Wurzeln, sprach zu ihnen und scharrte die Erde auf dem Boden weg, nur um festzustellen, daß die undurchdringlichen Flechten auch dort vorhanden waren. Magische Wurzeln. Aber nicht seine Magie. Er setzte sich auf den kühlen Boden und beobachtete einen stecknadelkopfgroßen Sonnenflecken, dem es gelungen war, durch die Bäume und Wurzeln zu dringen, und der nun genau auf einen Kieselstein fiel. Er hob den Stein auf, richtete sich so hoch auf, wie es der Käfig zuließ, zwängte die Finger durch die Wurzeln und warf den Kiesel in den Wald. 144
Draußen war es still. Er befand sich am Rande der Festung, wo die Bäume am dichtesten standen. In der Ferne hörte er die Stimmen der Elfen und andere Geräusche. Ganz in der Nähe erklang Vogelgezwitscher, und es wehte ein heftiger Wind, der einen herannahenden Sturm anzukündigen schien. Oder das baldige Ausschlüpfen der Drachenjungen. Es blieb ihm nicht mehr viel Zeit, bis die Kleinen von allein schlüpften, wenn es ihnen die Natur befahl, und dann waren auch seine letzten Waffen verschwunden. Ein Teil seiner Gedanken kreiste um Tamun und ihre Mutter. Sie reisten eine Weile in Begleitung einer Elfeneskorte, aber den schlimmsten Teil des Südens mußten sie allein durchqueren. Wenn sie Teedmar erreichten, waren sie auch nicht in Sicherheit, da der Ort unweit der icatianischen Grenze und inmitten der Ork- und Goblingebiete lag. Er holte tief Luft und schloß die Augen, um sich zu beruhigen. Die körperliche und magische Anstrengung der vergangenen Nacht hatte ihn erschöpft, und das gleiche lag noch einmal vor ihm, wenn er in der folgenden Nacht fliehen wollte. Mehr als andere benötigte er jetzt Schlaf, aber er war so angespannt, daß er gegen seinen Willen wach blieb. Jahrelange Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß er tagelang nicht schlafen würde, wenn er die Aufregung nicht unterdrückte und sich zum Schlafen zwang. Ohne ein paar Stunden Ruhe, würde er Fehler begehen. In dem halb in der Erde steckenden Käfig war es ausgesprochen warm, und der Boden war nicht härter als viele andere, auf denen er oft hatte schlafen müssen. Er legte sich hin, kämpfte mit seinen Gedanken, die allmählich zur Ruhe kamen und döste ein. Er fühlte sich, als habe er stundenlang geschlafen, als ihn der Klang leiser Schritte vor dem Käfig weckte. Reod spähte durch die kleinen Löcher zwischen den Wurzeln und erblickte einen kleinen Elfenknaben. Der Junge 145
blickte sich um, sah Reod aber nicht. Dann hockte er sich neben einen Baum, hob ein Loch aus und stellte sich hinein, als das Loch wenige Handbreit tief war. Er schaufelte sich die lose Erde über die Füße. Dann streckte er die Arme in die Höhe und schloß die Augen. Reod beobachte den Jungen, der reglos verharrte. Das übliche seltsame Elfenbenehmen, dachte er. Was machte der Kleine da? Schließlich malte sich Enttäuschung auf den feinen Zügen des Knaben ab, und eine plötzliche Erkenntnis ließ Reod leise auflachen. Bei dem Geräusch riß der Junge die Augen weit auf. Er ging in die Hocke und sah sich mißtrauisch um. Sein Blick verhielt auf dem Käfig. »Ich glaube, es gehört mehr dazu als nur das«, sagte Reod lächelnd. Vorsichtig kam der Junge näher und bewegte den Kopf hin und her, um einen Blick auf den Gefangenen zu erhaschen. »Du bist sicher der Mensch, der letzte Nacht in die Festung eindrang«, stellte er fest. »Stimmt's?« »Ich bin Reod Dai. Und wer bist du?« »Andli.« »Versuchst wohl, dich in einen Baum zu verwandeln, wie?« Der Junge kam noch näher und hockte sich hin, um Reod zu betrachten. »Warum hat man dich eingesperrt?« »Weil ich gefährlich bin.« »Wirklich?« »Ja.« »Oh.« Der Kleine stand auf und trat einen Schritt zurück, als wolle er gehen. Dann hielt er inne. Er bewegte sich so flink wie ein Eichhörnchen. Vorsichtig sah er sich nach allen Seiten um und schaute dann wieder zu Reod hinüber. »Was kannst du, was dich so gefährlich macht?« 146
»Ich kann einen Drachen aus einem Ei schlüpfen lassen.« Mit weit aufgerissenen Augen beugte sich der Junge vor, umklammerte die Wurzeln des Käfigs und starrte hinein. »Ist das wahr?« »Ja. Willst du es sehen?« »Ich habe noch nie einen Drachen gesehen.« »Ich zeige es dir. Aber zuerst mußt du mir etwas sagen. Wolltest du dich in einen Baum verwandeln?« Die hellgrünen Augen des Knaben öffneten sich weit. Aus Verlegenheit, vermutete Reod. Er nickte. »Ich habe gehört, daß man sich in einen Baum verwandeln und mit anderen Bäumen sprechen kann, wenn man die Füße in die Erde steckt und lange still steht.« »Aha. Aber sie reden nicht so wie du und ich.« »Nicht? Hast du schon mit Bäumen gesprochen?« »Ja.« »Wirklich? Stimmt das? Was sagen sie?« »Sie reden über alles, was unter und über der Erde ist. Für sie bewegt sich die Erde, so wie wir es bei Wind empfinden.« Der Junge verzog das Gesicht und legte den Kopf schief. »Wenn du wirklich mit Bäumen sprechen kannst, warum bist du dann noch da drinnen und nicht hier draußen in der Freiheit?« »Das ist eine gute Frage. Diese Bäume sind den Druiden treu ergeben und interessieren sich nicht für mich.« »Ich dürfte auch nicht mit dir reden, nicht wahr?« »Nein.« »Und warum tue ich es dann?« »Noch eine gute Frage. Du lebst in einer Zeit der Gefahren, und du interessierst dich für das, was gefährlich ist. Das ist eigentlich sehr tapfer. Denn wie kannst du sonst lernen, dich vor Gefahr zu schützen, wenn du sie nicht kennst?« 147
»Kannst du mir beibringen, mit den Bäumen zu sprechen?« »Das braucht Zeit und Übung, aber ich kann dich die Anfänge lehren.« »Ich will den Drachen sehen.« »Dafür mußt du ein Geheimnis bewahren.« Andli zögerte, und die hellen Augen glitten unruhig hin und her. »Ich weiß nicht. Ich sollte gar nicht hier sein.« »Nur bis heute abend.« »Na gut. Nur bis heute abend. Was für ein Geheimnis?« »Es lautet folgendermaßen: Komm nach Sonnenuntergang hierher, aber verrate es niemandem. Dann werde ich dir zeigen, was geschieht, wenn ein Drache aus dem Ei schlüpft.« »Bestimmt?« »Ganz bestimmt.« »Ich glaube dir nicht.« Reod lachte. »Dann bleib zu Hause.« »Versprichst du es mir?« »Ja. Und bring mir etwas zu Essen. Fleisch, wenn möglich.« Der Junge stand auf. »Ich glaube, du lügst.« »Kann sein. Du bist klug. Aber denk doch mal nach: Warum sollte ich dich anlügen?« Andli legte den Kopf erst auf die eine, dann auf die andere Seite und sah Reod unverwandt an. »Ich weiß nicht. Ich muß darüber nachdenken.« »Tu das.« »Ehe ich gehe, muß du mir verraten, wie man mit den Bäumen spricht, damit sie antworten.« Reod lachte wieder. »Heute abend.« Reod schlief, bis die Sonne unterging. Inzwischen war es dunkel im Käfig geworden, denn die Wurzeln ließen das letzte Dämmerlicht nicht durch. Er tastete sich bis zu der 148
dicken, weichen Wurzel vor, die ihm Kolevi gezeigt harte. »Beiß hinein. Es schmeckt wie Fruchtsaft. Sehr nahrhaft«, hatte der Elf gesagt. Er biß hinein. Ein fruchtig schmeckender Sirup floß ihm in den Mund. Er war mild und erfrischend. Trotzdem blieb er hungrig. Vielleicht war das der Grund, weshalb die Elfen so dünn waren. Draußen schlichen kleine Stiefel über den Waldboden. »Bist du da?« flüsterte Andli. »Kommt drauf an. Hast du etwas Eßbares für mich?« »Ich habe etwas getrocknetes Kaninchenfleisch. Magst du das?« , »Schieb es durch die Ritzen herein.« Der Junge stopfte ein paar Streifen Trockenfleisch durch die Öffnungen. »Das ist gut«, sagte Reod und nahm sie entgegen. »Hör zu: Ich werde jetzt ein paar Dinge vorbereiten, damit die Drachen schlüpfen und herkommen. Du mußt genau das tun, was ich sage. Verstanden?« »Ja.« »Stell dich hinter den Baum da drüben. Beweg dich nicht. Der kleine Drache kann unter Umständen dicht an dir vorübergehen, wird dich aber nicht beachten, außer, wenn du dich ihm in den Weg stellst. Du bist zu groß, um als Nahrung angesehen zu werden. Hast du verstanden?« »Ja.« Die Dracheneier waren überall in der Festung vergraben. Es war schwierig, eines davon aus der Entfernung zum Aufbrechen zu bringen. Er hatte einmal aus ungefähr zehn Schritt Entfernung einen Versuch gemacht, aber diesmal war der Abstand viel größer, und das Ei war in der Erde vergraben. In der Erde - vielleicht war das von Vorteil. Er begann mit dem Zauber, hob Erde vom Boden auf, spuckte darauf, murmelte die Worte und konzentrierte sich auf die Eier. 149
Dieses Mal würde es nicht ausreichen, die richtigen Wasser- und Erdelemente zu berühren, eine eigene Mischung anzubringen oder die richtigen Worte zu sprechen. Genkr hatte ihm einst gesagt: »Die wenigsten Menschen wissen - nicht einmal alle Magier -, daß es gar nicht auf bestimmte Worte ankommt. Ein Zauber hat etwas mit dem Klang der Stimme zu tun. Der richtige Tonfall überträgt seinen Schwung auf deinen Körper und verbindet dich mit den Elementen, die du beherrschen möchtest. Große Magier wissen, wie man zuhört. Sie lauschen dem Wind, den Bäumen, den Tieren. Dann zaubern sie.« Reod dachte an die Drachenjungen und die Geräusche, die sie von sich gaben, wenn sie bei Sekena waren. Zufriedene Schmatzlaute, Laute der Verständigung untereinander. In Gedanken lauschte er den Worten, die er üblicherweise bei diesem Zauber anwandte und konzentrierte sich auf die Laute, die den Schreien der Drachen am ähnlichsten waren. Dann stimmte er seine eigene Melodie an - ein wortloses und sanftes Lied. Er versank tief in sein Innerstes, wo er das Herz seiner Zaubersprüche erschuf, und die ganze Zeit über sang er immer wieder das Lied ohne Worte. Erinnere dich an die Schreie der jungen, sagte er sich. Erinnere dich an Sekenas Hand, die sich nach ihnen ausstreckt. Erinnere dich an das Lied.
Er war so in sich versunken, daß er nicht einmal bemerkte, wie der erste Drache an seinem Käfig kratzte. Auch den zweiten und dritten nahm er nicht wahr. Schließlich hörte er auf zu singen und bemühte sich, die Benommenheit abzuschütteln, in die ihn der Zauber getragen hatte. Drei geflügelte Schatten raschelten in der Dunkelheit um den Käfig herum. »Futter!« sagte er und wedelte mit dem Fleisch dicht vor ihren Nasen herum. »Futter.« Sie wimmerten und nagten an den Wurzeln, die so 150
hart wie Stahl waren. Hart wie Stahl, so hart wie die Schalen der Dracheneier. Würde es ihnen gelingen, sich durch die verzauberten Gefängniswurzeln der ältesten Druiden zu nagen? Es gelang ihnen. Als der erste Drache eine Öffnung genagt hatte, durch die er sich in den Käfig schieben konnte, warf Reod das Fleisch auf den Boden an der gegenüberliegenden Käfigseite und wartete, bis sich das Junge darauf stürzte. Dann zwängte er sich durch das Loch ins Freie. Die beiden anderen Jungen kauten noch immer eifrig an den Wurzeln, ohne zu bemerken, daß schon eine Öffnung vorhanden war. Der Junge stand mit weit aufgerissenen Augen neben dem Baum. Reod packte Andli bei der Hand und zerrte ihn eilig hinter sich her. »Hier ist kein guter Aufenthaltsort für uns. Es wird bald viel zu heiß sein.« »Was? Ich weiß nicht, was du meinst.« Reod war sich der Bewegungen im Unterholz bewußt, ohne sich aber darum zu kümmern. Waren das vielleicht die anderen Jungen? War es ihm gelungen, alle auf einmal ausschlüpfen zu lassen? So etwas hatte er noch nie geschafft. Er hatte den Schlüssel gefunden, mehrere Eier gleichzeitig aus großer Entfernung zu beeinflussen. Er war sich nicht ganz sicher, wie dieser Schlüssel aussah und ob es ihm noch einmal gelingen würde. Jetzt reichte es, daß er es heute geschafft hatte. Ein Glücksgefühl erfaßte ihn und gab ihm neue Kraft. Jetzt mußte er durch die Festung zum Haupttor gelangen. Er hielt Andlis Hand fest umklammert und belegte sich mit dem Schattenzauber. Dabei dachte er an das Brummen der Moskitos. In diesem Dämmerlicht würde jeder, der nicht zu genau hinsah oder Verdacht schöpfte, nur Andli erblicken. »Es gibt viele verschiedene Arten von Bäumen«, be151
gann Reod mit leiser Stimme, »genau wie es viele unterschiedliche Rassen bei den Zweibeinern gibt.« Der Junge wehrte sich gegen Reods Griff, beruhigte sich aber, als er dessen Stimme vernahm und stellte ihm Fragen. Sie kamen an Spähern vorüber, denen es anscheinend nicht ungewöhnlich erschien, daß Andli in der Dunkelheit umherwanderte und Selbstgespräche über Bäume führte. Endlich ragte das Haupttor der Festung vor ihnen auf. Es bestand aus fest verflochtenen Schlingpflanzen und hing zwischen zwei hohen Bäumen, die so dick waren wie Reods Ochse lang gewesen war. Jetzt waren die Tore für die Nacht fest verschlossen. Es würde nicht lange dauern, bis jemand die streunenden, hungrigen Drachen bemerkte, die auf Gebäude kletterten und alles fraßen, was sie bekommen konnten. Dann wußten sie, daß Reod geflohen war. Langsam wurde er müde, konnte sich kaum noch konzentrieren und kämpfte gegen starke Kopfschmerzen an. Seine Kraft reichte nur noch für sehr wenig Magie aus. Und diese Kraft sollte er sich aufsparen. »Sie atmen im Gleichklang mit Sonnenuntergang und Sonnenaufgang«, flüsterte er Andli zu. »Genau wie du ich mit dem Brustkorb atmen.« Sie standen vor der kleinen Tür, die in den rechten Torflügel eingelassen war. »Was suchst du hier?« fragte einer Wächter den Jungen. Der Knabe stammelte verwirrt vor sich hin. Seine Blicke irrten zwischen Reod und dem Elfen hin und her. Jetzt wurde der Wächter mißtrauisch. Er trat auf den Jungen zu. Nun mußte Reod handeln. Nicht sofort. Aber in Kürze. Er beugte sich hinab und flüsterte in Andlis Ohr: »Die Bäume sprechen immer, und du hast recht getan, dich ganz still hinzustellen, um ihnen zu lauschen. Jetzt mußt du wieder still stehen und ganz ruhig bleiben, dann 152
wirst du sie hören, wenn ihnen der Abendwind seine Stimme leiht.« Andli stand tatsächlich stocksteif, wie Reod gehofft hatte und lenkte die volle Aufmerksamkeit des Wächters auf sich. Reod ging vorsichtig zurück, auf die Tür zu. Plötzlich wandte sich der Elf um. Reod erstarrte. Der Wächter legte die Hand auf die Waffe und sah verwirrt drein. »Hast du etwas gesehen?« rief er dem zweiten Wächter zu. Inzwischen starrten ihn zu viele Augen an, um den Zauber verstärken zu können. Der zweite Elf stieß einen schrillen Vogelschrei aus, den Alarmruf. Noch immer stand Reod wie erstarrt da, wartete ab und hoffte, daß seine Magie ausreichte, den Schattenspruch aufrechtzuerhalten. Wieder fiel es ihm schwer, sich zu konzentrieren, und er atmete langsam und vorsichtig und bemühte sich, nicht die Beherrschung zu verlieren, obwohl die Wachen die Schwerter aus den Scheiden zogen. Von der anderen Seite der Festung ertönte ein Schrei. Kein Alarmruf, sondern ein überraschter und ängstlicher Schrei. Sie hatten die Jungen gefunden! Die Wachen drehten sich in die Richtung, aus der der Ruf kam. Andli ebenfalls. Jetzt.
Reod streckte die Hand aus, in der er noch Erde hielt, spuckte darauf und nahm das Drachenlied wieder auf, daß er vorhin gesungen hatte und zwang sich, alle Geräusche um sich herum zu ignorieren, auch als er hörte, wie Bögen gespannt wurden, die sich vielleicht auf ihn richteten. Halte immer etwas zurück, hatte Genkr vor langer Zeit gesagt. Deine Feinde haben immer mehr, als du weißt. Halte etwas für den letzten Versuch zurück, um deinen Hals zu retten.
Aber Reod hatte keine Kraft mehr. Er wurde immer 153
schwächer, spürte, wie sein Spruch versagte, und die Geräusche rings herum wurden klarer und deutlicher. Er schloß die Augen und dachte an Tamun. Tamun, die trotz ihrer Eigenartigkeit und der Tatsache, daß sie nicht wie eine menschliche Frau roch, sich dennoch so anfühlte, wenn er sie berührte, küßte und ihr in die Augen sah. Was hatte es mit ihrem Lächeln auf sich, das ihm versprach, er könne die Geheimnisse der Welt dahinter entdecken, die Geheimnisse, um deren Entdeckung er sich lange Jahre bei der Schwarzen Hand bemüht hatte? Konnte es wirklich sein, daß diese Mysterien irgendwo in der Umarmung einer Zwergin verborgen lagen? Er hatte einen Betörungszauber über sie geworfen, um an die Eier zu kommen. Es handelte sich um einen einfachen, schlichten Zauber, der nur für eine Sekunde den Weg zu seinem Herzen offen ließ. Welch ein winziges Wagnis! Aber in genau dieser Sekunde hatte sie zugegriffen, als habe sie nur darauf gewartet, und es erschien ihm, als sei sein ganzes Leben nur eine Vorbereitung auf diesen einen Moment der Schwäche gewesen. Als sie zugriff, veränderte sich seine Welt. Er hatte es genau gespürt, aber nicht das Verlangen gehabt, sich dagegen zu wehren. Im Laufe der Tage wurde ihm klar, daß sein Herz die Wahrheit erkannt hatte. Sie wußte Dinge, die auch er wissen wollte, und zwar nicht auf die Weise, wie sie die Schüler der Magier lernten oder wie es in Büchern stand. Er wollte wissen, wie die Dinge in ihr ruhten, als seien sie von Geburt an mit ihr verwoben. Er verliebte sich in Tamun und ließ sich auf sie ein, wie er es nie zuvor getan hatte. Sie fortzuschicken, war ihm sehr schwer gefallen. Jetzt dachte er an Tamun und an den Hunger, den er nach ihr verspürte und gab sich dem Gefühl der Sehnsucht nach ihr hin und dem Gefühl des Glücks, das er verspürte, wenn sie lächelte. Dann erneuerte er seinen Zauber. 154
Tamun, sagte er zu sich selbst und konzentrierte sich, angefüllt mit Verlangen nach ihr und der Angst um sie. Tamun, die irgendwo da draußen umherwanderte und darauf wartete, daß er sie fand. Erde und Speichel und die Laute der Drachenjungen. Jedes einzelne Junge, schwor er sich, jedes einzelne. Und alle auf einmal. Jetzt. Aus den verschiedensten Richtungen ertönten Explosionen. Die Erde bebte, und er fiel auf die Hände und Knie. Schrille, angsterfüllte Schreie erklangen. Der Alarmruf war von anderen Elfen aufgegriffen worden und hallte von einem Ende der Festung zum anderen. Aber trotzdem hatte ihn bisher niemand berührt. Er öffnete die Augen. Einer der Wächter war davongelaufen, und der andere starrte gebannt in die Ferne. Speere und Pfeile flogen durch die Luft. Ein Pfeil verfehlte sein Ziel und landete dicht vor Reod. Andli stand mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen da. Ein flackerndes Licht erregte Reods Aufmerksamkeit: Feuer. Rings umher loderte es an mehreren Stellen gleichzeitig auf. Die Flammen breiteten sich aus. Jetzt hatte er keine Kraft mehr für Magie, nicht einmal für den einfachsten Anfängerspruch. Nun mußte er sich auf seine Beine verlassen. Er lief zum Tor. Der Wächter sah durch ihn hindurch und nahm nur das Feuer wahr. Nur Andlis Blicke und Schritte folgten ihm. »Warte!« Reod schlüpfte durch die Tür und schloß sie hinter sich. Andli blieb auf der anderen Seite stehen. Der Junge umklammerte die Schlingpflanzen und starrte Reod an. »Das ist dein Werk!« sagte er vorwurfsvoll. Reod hatte keine Zeit für lange Erklärungen. Jede Verzögerung konnte ihn das Leben kosten. Aber die Qual 155
und Enttäuschung im Blick des Kindes ließen ihn zögern. Hinter Andli stand die Festung in hellen Flammen. Die Verteidigungsanlage seines Volkes würde niederbrennen. Durch Reods Schuld. »Das stimmt«, gab er zu. Was konnte er dem Jungen als Entschädigung für das angerichtete Unheil bieten? »Aber warum? Warum hast du das getan?« Er konnte versuchen, ihm die Sache mit den Orks und Goblins zu erklären. Über die Ältesten und den Vertrag reden. Vielleicht würde Andli es sogar verstehen. Aber konnte das dem Jungen eine Hilfe für die harte Zukunft sein, die ihm bevorstand? Es mußte mehr geben als nur eine Erklärung; etwas Sinnvolles, das ihm Reod hinterlassen konnte. Er lächelte den Knaben an - es war ein grimmiges, unfrohes Lächeln. »Weil es in meiner Macht steht.« Auf dem Gesicht des Jungen malte sich Erstaunen ab, dann Entsetzen und die Anfänge einer erwachsen wirkenden Wut. Reod sah ihm in die Augen und nickte, um die nächsten Worte zu unterstreichen. »Vergiß das nicht«, sagte er. »Vergiß es nie!« Andli stieß einen Laut aus, der wie die Mischung aus einem Schluchzen und einem Wutschrei klang. Reod wandte sich um und verschwand in der Dunkelheit des Waldes, um so schnell wie möglich weiterzukommen, ehe ihm die Elfen Späher hinterherschickten. In Gedanken sah er das Gesicht des Jungen vor sich, während er durch den Wald rannte, sah den Schrecken und den Schmerz, das zerstörte Vertrauen und den plötzlichen Verlust kindlicher Zutraulichkeit. Er hatte ihm gegeben, was er konnte.
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»Oh! Wäre ich nur ein Drache!« - Marianne Moore
Es war ihr nicht schwer gefallen, fortzugehen. Sie hatte den Entschluß gefaßt, sich Reod entgegengestellt und war mit den beiden Drachen aufgebrochen. Die Nacht war klar, und nur vereinzelte Wolken glitten über den Himmel, von dem der Mond sein helles licht auf die Erde sandte. Rings um den Mond war ein heller Ring zu sehen, der darauf hinwies, daß es morgen regnen würde, aber nicht einmal das minderte das süße Gefühl der Freiheit, das sie ergriffen hatte. Sie unternahm etwas! Sie handelte selbständig und folgte niemandem. Machte sich ein Kind mitten in der Nacht allein auf die Reise, um zu kämpfen? Nein. Und bei ihrem letzten Gespräch hatte Reod sie nicht ein einziges Mal als Kind bezeichnet. Anfangs schritt sie eilig voran, da sie fürchtete, er könne seine Meinung ändern und ihr folgen, aber nach einer Weile ging sie langsamer, da sich Erschöpfung bemerkbar machte. Die Jungen blieben dauernd stehen, schnüffelten an Felsen, herabgefallenen Ästen und Erdhaufen. Sie folgten ihr nur zögernd. Sie fraßen ununterbrochen und ließen nur das stehen, was nicht in ihre Schnäbel paßte. Alles wanderte in die Mäuler, und bedeutend weniger als Sekena erwartete, wurde wieder ausgespuckt. Reod hatte recht. Sie fraßen einfach alles. Ihr Orientierungssinn sagte ihr, in welcher Richtung 157
die Straße lag, und sie wanderten auf Wildpfaden nach Süden, bis sich der Mond hinter hohen Baumwipfeln schlafen legte und es so dunkel wurde, daß sie nicht wagte, weiterzugehen. Sie rollte ihre Decken unter dem dichten Laubdach eines Baumes aus und nahm einen Schluck aus dem Wasserschlauch. Die Jungen schmiegten sich an sie - wie große Hunde. Nein, eigentlich nicht wie Hunde, denn Hunde stanken fürchterlich. Die Drachen dufteten besser als Rosen. Mitten in der Nacht setzte der Regen ein, aber die dichten Zweige hielten den größten Teil der Feuchtigkeit ab. Sie schlief bis zum Morgengrauen, als der Himmel endgültig beschloß, die Welt mit Wasser zu überschwemmen. Der Regen prasselte herab, und Sekena bemühte sich, die Decken einzurollen, ehe sie völlig durchnäßt waren. Die Drachen blickten sich erstaunt um und blinzelten. »Regen«, erklärte sie ihnen und lachte über ihre entgeisterten Mienen. Sie verbarg das Bündel unter dem Umhang und ging wieder in Richtung Süden. Die Stiefel hielten ihre Beine trocken, aber schon nach kurzer Zeit waren ihre Hosenbeine durchweicht. Der ganze Himmel war dunkelgrau gefärbt, und je weiter sie ging, um so unsicherer war sie, ob die Himmelsrichtung noch stimmte. Am späten Nachmittag erreichten sie die Straße, und Sekena fühlte sich sofort besser. Die kleinen Drachen beschlossen, den Regen zu mögen. Als er etwas nachließ, erfanden sie ein Spiel. Sie streckten die Flügel aus, um Wasser darin zu sammeln, ließen sie dann zurückschnellen und bespritzten sich gegenseitig. Und Sekena. Sie versuchte, ihnen ihre Abneigung dagegen zu erklären, aber es war vergebens. Dann sprach sie mit strenger Stimme zu ihnen. Sie standen still, sahen sie neugierig an und fuhren mit dem Spiel fort. Schließlich ging sie so schnell, daß die Wassersprit158
zer sie nicht mehr erreichten. Nach einiger Zeit langweilte das Spiel die Kleinen, und sie begannen wieder durchweichte Äste zu kauen. Es regnete ohne Unterbrechung, manchmal mehr, manchmal weniger, manchmal in Strömen. Immer wieder beobachtete Sekena die Jungen und ihre lustigen Sprünge, wenn sie vorausliefen, um Grasbüschel, Blätter oder Tannenzapfen zu untersuchen. Hin und wieder flatterten sie mit den Flügeln, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Allmählich lernten sie, die Flügel zu benutzen. Einmal schoß eine Schwalbe durch die Luft. Der größere der beiden Drachen war hingerissen und drehte den Kopf, um dem Vogel nachzusehen. Dabei fiel er vornüber und landete mit dem Gesicht in einer Schlammpfütze. Sekena kämpfte gegen einen Lachanfall an, als er sich aufrappelte und sie erstaunt ansah. Dann bückte er sich wieder. Die Neugier schien ihn zu überkommen, und er zog die Schnauze durch die Pfütze. In diesem Augenblick erkannte Sekena, daß sie ihre Familie nicht nur verlassen hatte, weil die Toten von Kalitas gerächt werden mußten oder sie für ihr Volk kämpfen wollte. Sie war auch gegangen, weil sie zu sehr litt, wenn Reod die kleinen Drachen in die Luft sprengte. Egal, wie gut sie seine Gründe verstand - es war einfach unerträglich. Sie holte den kleineren Drachen ein, der dunkelgrüne Flecken auf dem Rücken hatte und streichelte ihn. Er ließ es sich gefallen und schien es sogar zu genießen. Sie fühlten sich ein wenig wie Schlangen an, aber die Berührung von Schlangenhaut war weniger angenehm. Nicht einmal das weichste Kaninchenfell fühlte sich so gut an. Woran lag das nur? Während sie weiterging und sich Schritt für Schritt weiter nach Süden durchschlug, merkte sie, wie sehr sie Tamun und Mama vermißte. Sie war noch nie so lange von ihnen getrennt gewesen. 159
Der graue Himmel wurde allmählich dunkler, als sich das Licht des Tages verabschiedete. Ihre Phantasie spielte ihr Streiche und gaukelte ihr die Heimkehr zur Hütte vor, wo Mama und Tamun ein Feuer entfachen und heißen Tee kochen würden, während sie ihnen die Erlebnisse der Reise schilderte. Sie würden sich Sorgen machen. Das hatte sie schon gewußt, als sie aufbrach, aber es war ihr unwichtig vorgekommen, weil sie fort wollte. Mama würde sich nicht bloß sorgen; sie würde toben. Aber Sekena war fünfzehn, und viele Knaben wurden schon viel früher von ihren Müttern hinausgeworfen. Warum sollte sie nicht gehen, wenn sie es wünschte? Mama wäre nie einverstanden gewesen, obwohl sie es hätte verstehen müssen - sie war eine abenteuerlustige Frau. Nach einer Weile würde sie es verstehen; vielleicht wäre sie sogar stolz auf Sekena. Aber in der Zwischenzeit sorgte sie sich. Tamun auch. Aber Reod konnte sie sicher überzeugen, daß es ihr gut gehen würde, nicht wahr? Und es würde ihr gutgehen, sagte sie sich, da sie nicht darüber nachdenken wollte, was vielleicht hinter der nächsten Wegbiegung warten oder während der regnerischen Nacht geschehen würde. Bilder der Hütte, von Mama und Tamun standen ihr vor Augen und nährten das Heimweh, bis sie die Qual kaum mehr aushielt. Es war einfach gewesen, fortzugehen, als sie sich ihrer sicher war. Jetzt, da sich der graue Himmel langsam und unheilverkündend schwarz färbte, ertappte sie sich dabei, an eine Rückkehr zu denken. Sie führte die Drachen von der Straße hinunter und suchte nach einem trockenen Schlafplatz. Unter dichten Fichten fand sie einen Platz, der nicht ganz so naß wie eine Stelle unter freiem Himmel war. Schon bald war es zu dunkel, um noch irgend etwas sehen zu können. Kein Mondschein erhellte die Nacht. Kein Sternbild zeichnete ihr eine Karte an den Himmel. 160
Aus einem umgestürzten Baumstamm und einigen Ästen errichtete sie einen unförmigen Unterstand und versuchte, die Jungen so hinzulegen, daß sie sie ein wenig gegen den Regen abschirmen konnten, aber die Kleinen begriffen nicht, was sie von ihnen wollte. Schließlich gab sie auf und kauerte sich unter den Umhang. Die Drachen rollten sich seltsam verkrümmt um sie herum und kümmerten sich nicht um den Regen, der sie alle durchnäßte. Sie konnte zurückgehen. Mama und Tamun würden nicht schwer zu finden sein. Sie mußte nur der Straße folgen, bis sie aufhörte und dann in Richtung Norden durch den Wald gehen, wo sie die beiden verlassen hatte. Ihre Erinnerung ließ sogar Reods Spott wärmer erscheinen als diese kalte Nacht. Vielleicht war sie wirklich noch zu jung. Aber Reod hatte sie gehen lassen. Und zum Schluß war es ihr so vorgekommen, als stimme er ihr beinahe zu. Vielleicht hatte er auch geahnt, daß sie zurückkehren würde - ein dummes Kind, das lernen mußte, den Älteren und Klügeren zu vertrauen. Dann dachte sie an Kalitas und jene, die in ihrem Alter oder noch jünger gewesen waren, als die Orks sie niedermetzelten. Nein, sie war nicht zu jung. Aber es war immer noch kalt und finster, und außer dem Prasseln des Regens drangen andere Geräusche die Nacht, die sie Heber nicht ergründen wollte, überraschte Sekena nicht, daß die Welt voller Gefahten steckte, die sie sich nicht hatte vorstellen können. Aber wenn eine ganze Stadt im Handumdrehen ausgelöscht wurde ... Sie verstand es einfach nicht. In den letzten Wochen so viel geschehen, was sie nicht begriff. Kalitas in Trümmern. Berge von toten Zwergen, blutüberströmt und qualvoll gestorben. Orks und Goblins, die nur angriffen, weil sie Lust dazu hatten. Soldaten, die nichts anderes konnten, als zu töten. 161
Und junge Drachen. Sie drängten sich an Sekena und hielten den schlimmsten Regen ab. Sie schlang den Umhang enger um sich und rückte das Bündel unter ihrem Kopf zurecht. Drachen. Sie überließ sich dem respektvollen Gefühl, das sie für diese Kreaturen empfand, die immer in ihrer Nähe blieben. Ob sie sie nun verteidigten oder nicht, ob sie blieben oder gingen: Heute nacht waren sie ein Schutz gegen die Kälte und die Feuchtigkeit, die den letzten Rest ihres Selbstvertrauens zu vernichten drohten. Endlich schlief sie ein, begleitet von dem steten Tropfen des Regens und den tiefen Atemzügen der Drachen, Am nächsten Morgen hatte sie einen steifen Nacken und Rückenschmerzen, weil sie zusammengekrümmt geschlafen hatte, um trocken zu bleiben. Sie stapfte stundenlang durch den strömenden Regen, und ihre Stimmung verbesserte sich nicht gerade. Sekena bezweifelte, daß es eine Stelle ihres Körpers gab, die nicht durchnäßt war. Und nun wollten die Drachen klettern. Gestern hatte sie vermutet, daß sie höher klettern wollten, um an die zarteren Kiefernäste zu gelangen. Aber heute wollten sie dauernd von der Straße abweichen, weil das Land hügeliger wurde. Sie klettern die Hänge hinauf, und meistens stimmte ihr Weg nicht mit dem Sekenas überein. Beim ersten Mal wurde sie plötzlich unsicher. Wollten die Kleinen sie verlassen? Sie watschelten einen Hügel zur Hälfte empor, blieben stehen und sahen zu ihr hinunter. »Nun?« rief sie und ließ ihre Stimme ungehalten klingen, da sie sich die Angst nicht anmerken lassen wollte. »Das ist der falsche Weg. Kommt herunter!« Sie bezweifelte, daß die Drachen sie verstanden haben, aber nach kurzer Zeit machten sie kehrt und folgten ihr die Straße entlang. 162
Von Mal zu Mal wurde es etwas schwieriger. Wann immer sich ein Hang bot, kletterten sie hinauf. Nach einer Weile hielten sie inne und sahen sich um, als wäre ihnen gerade aufgefallen, daß sie nicht folgte. Je steiler der Hang war, um so unwilliger wurden sie und kehrten nur ungern zurück. Sie kamen immer langsamer voran, je mehr Hügel auftauchten. Tage vergingen, und der Kampf verhärtete sich, als die Gegend gebirgiger wurde. Eines Tages drehte sie sich um, ging zur Straße zurück und zwang sich, nicht über die Schulter zu sehen. Entweder kamen sie oder ließen es bleiben. Sie hatte keine Lust mehr, noch länger im Regen zu stehen. Große Erleichterung überkam sie, als sie die vertrauten Schritte hinter sich vernahm. Sie blieb stehen, strich ihnen über die Köpfe und ahmte die fröhlichen Laute nach, die sie ausstießen, wenn sie einen besonders köstlichen Leckerbissen gefunden hatten. Der Regen hielt tagelang an. Es regnete nicht stark, aber ununterbrochen, und Sekena schlief schlecht. Allmählich gingen ihre Vorräte zur Neige. Sie hatte Proviant mitgenommen, aber sie hatte sich verschätzt. Wenn sie sich beeilte, konnte sie Teedmar erreichen, ohne zu sehr hungern zu müssen. Also ging sie von nun an schneller. Die Drachen hielten gut Schritt. Sie wurden jeden Tag ein bißchen kräftiund geschickter und benutzten sogar die Vorderund Klauen, um Grasbüschel auszureißen und und andere Dinge aufzuheben, die sie probieren wollten. Sekena starrte die beiden angestrengt an und versuchte sich zu erinnern, wie sie nach dem Ausschlüpfen ausgesehen hatten. Waren sie gewachsen? Oft breiteten die Flügel aus, als wollten sie sich recken und strecken. Sie vermutete, daß sie bald begreifen würden, sie fliegen konnten. Und was dann? 163
Der Regen hörte auf, aber der graue Himmel kündigte weitere Wolkenbrüche an. In weiter Ferne sah sie die schneebedeckte Spitze des Shanin aufragen, des nördlichsten Berges der Purpurgipfel. Wenn er auch im Vergleich zu den Bergen, in denen sie aufgewachsen war, nicht hoch war, war sie sich bitterlich bewußt, daß er für die Drachen unwiderstehlich sein würde. Am folgenden Tag erreichten sie den Fuß des steilen Berghanges. Die Drachen verließen die Straße und kletterten, bis sie ein Stück über Sekena standen. Dann hielten sie inne und sahen zu ihr hinab. »Hier entlang«, sagte sie und bemühte sich, überzeugend zu klingen. »Kein Futter da oben. Futter, versteht ihr? Vielleicht Futter für euch, aber nicht für mich.« Sie wies auf die Straße. »Hier entlang.« Goldene Augen mit schmalen Pupillen starrten sie an. Verstanden sie sie wenigstens ein bißchen? »Ich kann nicht«, erklärte sie bittend. »Ich muß weiter gehen. Tja, ich weiß, daß ihr klettern müßt. Ich weiß es. Ihr solltet eigentlich fliegen und nicht gehen, so wie ich.« Die Straße führte um den Berg herum. Sekena nahm an, daß sie sich am nächsten Tag gabeln würde. Der eine Weg führte dann sicher nach Süden, auf den Gipfel des Berges, der andere nach Westen, nach Teedmar. Sie hoffte, nicht weiter als einen oder zwei Tagesmärsche von Teedmar entfernt zu sein, denn sie hatte nur noch wenig Brot und Trockenfleisch übrig. Also mußte sie allein weitergehen. Sie schaute zu den Drachen hinauf, die sie beobachteten und sie weder verlassen noch ihr folgen wollten. »Ich verstehe euch«, sagte sie leise. Sie war traurig. Sie waren gewachsen. Von hier aus sah sie deutlich, daß die Flügel länger geworden waren und die Farbe sich verändert hatte. Das Weiß wandelte sich allmählich zu einem blassen Rosa. »Geht! Steigt auf den Berg und 164
lernt das Fliegen! Wenn ich Flügel hätte, würde ich auch nicht marschieren.« Dann wandte sie sich ab und ging davon. Sofort stolperten sie den holprigen Wildpfad hinab und folgten ihr. Sekena war überrascht und fühlte sich ob ihrer Erleichterung beschämt. »Tja«, meinte sie lächelnd, »wenn ihr ...« Sie umkreisten Sekena und trieben sie auf den Hang zu. »Nein, nein! Ich muß weitergehen. Dort entlang.« Die Jungen stießen sie mit den kleinen Armen vor sich her, die überraschend kräftig waren. Angst stieg in ihr auf verdrängte ihre Zuneigung zu ihnen. Im Winter gab es wenig genießbare Pflanzen, und die Jagd war beschwerlich. Wenn sie auf den Berg stieg, entfernte sie sich immer weiter von jeglicher Nahrung. Ihre Vorräte gingen zur Neige. »Ich muß essen. Ich kann euer Futter nicht verzehren.« Sie versuchte, sich an ihnen vorbeizudrängen. Wenn sie den winzigen Kreis durchbrach, konnte sie einfach davonlaufen. Bergab versperrten sie ihr den Weg, also sprang sie plötzlich den Hang hinauf, um dann seitlich an ihnen vorbeizurennen. Aber die beiden waren schneller, als sie erwartet hatte und ließen ihr keine Möglichkeit, zu entkommen. Sie brüllte die Drachen an, flehte und fluchte, aber sie stießen sie weiter hinauf. Sekena warf sich gegen die Kreaturen, um sich gewaltsam zu befreien, aber die Kleinen wurden beharrlicher und stießen mit den Schnauzen nach ihr, bis sie aufschrie und vor ihnen herlief. Sie hatte vergessen, wie stark und unbarmherzig junge Drachen sein konnten, wenn man sie gegen sich hatte. Niedlich hatte sie die Jungen gefunden. Jetzt kamen sie ihr gefährlich vor. Einen Augenblick lang wünschte Sekena, Reod wäre hier. Er würde sie dazu bringen, sie in Ruhe zu lassen. Sie dachte an Erde, Speichel und die Worte, die er beim 165
Zaubern murmelte. Vielleicht könnte sie es auch schaffen. Noch ein Stoß, aber diesmal sanfter. Sie wimmerte vor Angst und sog den süßen Duft ihrer Gegner ein. Nicht einmal jetzt hätte sie die Drachen verletzen mögen. Atemlos, hungrig und müde ergab sie sich schließlich. Mit den Drachen im Rücken kletterte sie den Berg hinauf. Gegen Abend verzogen sich die Wolken ein wenig und färbten sich unter den Strahlen der Abendsonne rosig. Ein stetiges Lüftchen kühlte den Schweiß auf Sekenas Gesicht und Nacken. Als sie eine ebene Stelle erreichten, blieb sie stehen. Die Drachen ließen sie hin und wieder ausruhen, aber nie für längere Zeit. Sie hatte den Aufstieg benutzt, um darüber nachzudenken, was sie über junge Drachen wußte und was nicht. Sie suchen sich einen hohen Berg, um fliegen zu lernen, hatte Reod gesagt. Aber wie hoch mußte er sein? Mußten sie bis zum Gipfel klettern? Die beiden Kleinen wurden ungeduldig und schubsten Sekena weiter hinauf. Sie waren sanft, solange sie sich nicht wehrte, denn dann wurden sie recht grob. Sekena wollte auch nicht ausprobieren, wie grob sie werden konnten. Und auf dem Gipfel? Was dann? Sie nahm an, die Drachen würden von einem Felsvorsprung springen und zu fliegen beginnen. Oder in die Tiefe stürzen und sterben. Würden sie Sekena gehen lassen, wenn sie in der Luft schwebten? Oder würden sie ihr folgen und sie zwingen, bei ihnen zu bleiben, bis ihre Vorräte verbraucht waren? Vielleicht wußte man deshalb nichts genaues über Drachen, weil ihnen niemand lebendig entkam. »Ich werde verhungern«, sagte sie laut, halb zu sich selbst, halb zu den Drachen und schluchzte. 166
Irgendwo in diesen schneebedeckten Bergen würde sie verhungern - den Wind im Rücken und Drachen an ihrer Seite. Er erwachte, weil der Wind den Geruch eines Tieres herantrug. Es roch eigenartig und doch vertraut - nach etwas, das er schon längst vergessen hatte. Auf jeden Fall kam ein Tier den Berg hinauf. Größer als ein Fuchs, kleiner als ein Pferd. Eine Größe, die es als gute Beute auswies. Er richtete sich auf dem Lager aus weichen Fellen auf, die er während vieler Dekaden bei der Jagd gesammelt hatte. Er streckte sich. Groß genug, um die Anstrengung wert zu sein. Groß genug, um ausreichend Nahrung darzustellen. Schließlich erinnerte er sich wieder. Es lag lange zurück, aber nun erkannte er den vertrauten Geruch, der ihn überraschte. Drachen, junge Drachen. Mehr als einer. Die hatte er noch nie gefressen. Ein besonderer Leckerbissen. Vor der Höhle war es heller Tag, obwohl die Sonne schon tief am Himmel stand. Die Feuchtigkeit verdunstete allmählich und hinterließ einen frischen Geruch. Die Tiere waren noch nicht zu sehen, aber er hörte sie näherkommen. Sie bewegten sich raschelnd durch das Unterholz und stapften durch den Schnee. Sie kamen genau auf ihn zu. Er mußte nicht einmal nach ihnen suchen. So wollte er zufrieden auf sie warten. Er breitete die Flügel aus und riß das Maul immer wieder auf, um ihren Duft im Wind zu schmecken. Um seine Vorfreude zu vergrößern.
Sekena war erschöpft, hungrig und verzweifelt, während sie einen Fuß vor den anderen setzte und den steilen Wildpfad hinauf kletterte. Der Gipfel des Berges war ein schneebedeckter Felsen, der zu steil war, um ohne Seile hinaufzugelangen, aber jetzt näherten sie sich dem anscheinend höchsten Plateau. Vielleicht würden die 167
Drachen sie dort lange genug ausruhen lassen, damit sie einen Happen essen konnte. Als sie nach oben schaute, glitzerte etwas in den Strahlen der untergehenden Sonne. Glitzerte? Wie merkwürdig. Was konnte auf dem Gipfel eines Berges glitzern? Die Tiere näherten sich und stolperten ungeschickt auf sein Felsplateau. Er wartete, während sie sich umschauten, die Felsen und den Himmel anstarrten. Er verhielt sich so still, als sei auch er ein Felsen. Einem nach dem anderen fielen seine Füße auf. Einer nach dem anderen hob den Kopf. Es war lange her, seitdem er das letzte Mal vor dem Essen hatte spielen können. Wenige Mahlzeiten ließen ihm dazu Gelegenheit. Hier bot sich eine willkommene Abwechslung. Er atmete tief ein und zischte laut und anhaltend, um ihnen Angst einzuflößen. Sie rührten sich nicht. Er neigte den Kopf, um sie besser betrachten zu können, da ihn der Nicht-Drache interessierte. Vielleicht ein Mensch, Elf oder Zwerg. Der Unterschied war gering. Alle waren schmackhaft und zerbrechlich und nicht besonders amüsant. Er mußte vorsichtig sein, um damit spielen zu können. Zuerst nur ein Arm. Dann zusehen, wie das Blut floß. Der Geruch von Blut im Wind. Die Drachen traten ein paar zögernde Schritte zurück, als er sich näherte. Wahrscheinlich verwirrte sie sein Geruch. Sie waren noch zu jung, um zu begreifen. Sie würden auch nie Gelegenheit dazu bekommen. Aber er beachtete sie nicht weiter und näherte sich mit geöffnetem Maul der zweibeinigen Kreatur. Er war beinahe sicher, daß es sich um ein Zwergenzweibein handelte. Die Zunge schnellte vor, um es zu probieren. Plötzlich wich er zurück. Das war kein Futter. Es sah aus wie Futter. Es bewegte sich wie Futter. Aber es war kein Futter. Es war... Was?
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Wieder beugte er sich vor und leckte dem Wesen über das Gesicht, die Nase und den Mund. Auf gar keinen Fall Futter! Er bewegte den Kopf hin und her und schnüffelte, ob Magie in der Luft lag. Vielleicht war der Zwerg ein Zauberer und versuchte, ihn zu verwirren. Aber es roch nicht nach Magie, denn sonst wäre er nie aus der Höhle herausgekommen, so hilflos, wie er war. Nur der Duft der Kleinen und dieses... was? Sie - er war inzwischen sicher, daß es sich um ein Weibchen handelte - roch nach Zwerg, Aber auch nach Drache. Nicht einfach nur nach Drache, sondern wie eine Schwester. Eine Gefährtin. Er zischte ihr eine Frage entgegen. Sie stieß einen Laut aus; einen leisen Schrei. Er zischte noch eine Frage. Die Zweibeiner hatten so absurde Sprachen. Er kannte nur die Unterschiede zwischen Gebeten, Bitten, Bestechungsversuchen und Drohungen. Ihre Laute hörten sich fast wie Gebete an. Wenn das Zweibein kein Futter war, was sollte er mit ihr anfangen? Die kleinen Drachen standen hinter ihr. Vielleicht sollte er mit ihnen spielen und sie fressen. Das seltsame NichtFutter wollte er behalten, bis er wußte, was er damit anstellen sollte. Aber die Kleinen waren ihre Gefährten. Wenn er sie nicht fraß, sollte er die beiden wohl auch nicht fressen. Vielleicht würde ihr das nicht gefallen. Aus irgendeinem Grund war das wichtig. Er stieß ein langanhaltendes, enttäuschtes Zischen aus. Vielleicht konnte er sie alle im hinteren Teil der Höhle halten. Das Nicht-Futter brauchte natürlich besondere Nahrung. Was fraß sie wohl? Er wußte, was kleine Drachen brauchten, aber dieses Zweibein? Zwerge aßen weiche Dinge, fiel ihm ein. Pflanzen. Winzige Tiere. Die würde er schon finden. Er neigte sich tief zu ihr hinunter und zischte eine sanfte, höfliche Begrüßung. Sie antwortete nicht. In der Tat, sie stand auch nicht mehr auf den Beinen. Sie krümmte sich zitternd
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und setzte sich auf den Boden. Hatte sie Angst? Vielleicht war sie krank. Das wäre schlecht, sehr schlecht sogar. Einer der jungen Drachen trat vor und fauchte ihn an. Nicht als Gruß, sondern als Warnung. Er unterdrückte Gelächter. Die Kleine da hätte sicher gut geschmeckt. Sehr gut. Schade. Er hatte sich aus dem Schlaf gerissen, um etwas Schmackhaftes zu erbeuten, und nun mußte er drei Tiere durchfüttern. Das hatte er keineswegs gewollt. Wie ärgerlich! Warum waren sie nicht einfach köstliches Futter?
Als Sekenas Verstand wieder zu arbeiten begann, hielt ihr das riesige Monstrum die Nase vor das Gesicht, und sie sah nur noch die glänzenden, großen Augen. Es leckte ihr das Gesicht ab. Sie konnte sich nicht von der Stelle rühren. Jetzt zischte das Wesen. Sehr laut. Eine Warnung? Ihre Beine gaben nach. Sie mußte sich auf den Boden setzen. Hinter ihr erwiderte einer der kleinen Drachen das Zischen - ein schwacher Widerhall. Anscheinend wollte er sie verteidigen. Gegen dieses Wesen dort? Dummer kleiner Drache. Sie sollten weglaufen. Sekena wußte, wie schnell die beiden laufen konnten, viel schneller als sie. Und nun hätten sie rennen sollen. Ihre Flügel erproben. Rennen und fliegen. Statt dessen standen sie herum und fauchten. Fauchten diesen erwachsenen Drachen an. Sie hatte noch nie etwas derartiges wie dieses Wesen gesehen, nicht einmal auf Bildern, aber es war ausgeschlossen, daß es sich um etwas anderes als einen Drachen handeln konnte. Und das Entsetzlichste war, daß sie sich gut gefühlt hatte, als ihr dieses Monstrum über das Gesicht leckte. Der Geruch nach Drache war so stark, daß sie sich trotz ihres Entsetzens wohl fühlte. 170
Plötzlich mußte Sekena lachen. Sie mußte sich nicht länger über Nahrungssuche Gedanken machen. Sie brauchte auch nicht mehr darunter zu leiden, daß die Kleinen sie herumschubsten. Der Drache würde sie fressen, und alle Sorgen hatten ein Ende. Das Monstrum zischte immer noch. Wieso fraß es sie denn nicht endlich auf? Nach einer Weile dämmerte ihr, daß es sie nicht angriff. Keineswegs. Dieses Wesen, daß höher als die höchsten Bäume aufragte und purpurfarbene Flügel hatte, die unglaublich gewaltig wirkten, griff nicht an. Es zischte immer wieder. Es klang beinahe, als würde es in einer anderen Sprache zu ihr reden. Sekena legte den Kopf auf die Seite und bemühte sich, etwas zu verstehen, aber es gelang ihr nicht. Dann schwieg die Kreatur. Sie bewegte das Vorderbein und führte eine überraschend verständliche Geste aus. Steh auf.
Sie erhob sich mühselig und zitterte so sehr, daß sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. Sekena atmete tief durch, und die Mischung aus Angst und Drachenduft verursachte ihr ein Schwindelgefühl. Der Drache bedeutete ihnen, ihm zu folgen. Er watschelte auf eine Höhlenöffnung zu, die viel zu klein für ihn war, faltete die geäderten Flügel zusammen und ließ sich hineinfallen. Dann steckte er den Kopf aus der Öffnung und starrte sie an. Nun? Sekena warf den Kleinen einen Blick zu. Sie sahen den großen Drachen mit weit aufgerissenen Augen an. Vielleicht war jetzt die Gelegenheit zur Flucht gekommen. Sie sollten den Berg hinabrennen. Wenn sie alle drei in verschiedene Richtungen liefen, konnte wenigstens einer von ihnen davonkommen. Vielleicht auch zwei. Oder...? 171
Oder sie betraten die Drachenhöhle. Es wäre reine Dummheit und völliger Wahnsinn die Höhle zu betreten. Wer weiß, was das Monstrum tun würde? In den Geschichten, die sie kannte, waren Drachen weder großzügig noch gnädig. Aber sie unterhielten sich auch nicht in der Zeichensprache. Eine Drachenhöhle. Noch nie hatte sie von einem Zwerg gehört, der eine Drachenhöhle betreten hatte. Wenn sie hineinging, wäre das, als würde sie der Vernunft ins Gesicht spucken. Aufregung überkam Sekena. Was würde Reod Dai sagen? Sie stellte sich seinen entsetzten Gesichtsausdruck vor. Dann streckte sie die Hand aus, um die Kleinen zu berühren. Würden sie wirklich so groß wie das erstaunliche Wesen in der Höhle werden, daß ihr erneut winkte, sich zu ihm zu gesellen? »Kommt schon«, ermunterte sie die Jungen. »Ihr wolltet doch auf diesen Berg klettern.« Sekena kam es vor, als schlafe sie neben einem atmenden Berg. Durch Zischen und Gesten hatte er ihr gezeigt, daß sie neben ihm auf den warmen Fellen schlafen sollte. Als sie zögerte, hatte er sie gepackt und sie unter seinen Arm geklemmt. Es war schwer, sich zu wehren, denn er roch wundervoll. Auch die Felle rochen nach Drache. Und die ganze Höhle. Die Jungen rollten sich außer Reichweite des großen Drachen zusammen und schliefen augenblicklich ein. Sekena schmiegte sich an den schuppigen Bauch des Großen und dachte über ihre Lage nach. Wie konnte sie hier einfach so gelassen herumliegen? Später wachte sie auf und fürchtete sich erneut, als ihr bewußt wurde, wo sie sich befand. Dann atmete sie den Drachengeruch ein und fühlte sich besser. Es schien, als sei sie heimgekehrt. 172
Der große Drache erwachte und verließ die Höhle. Als er zurückkehrte, hielt er in der einen Klaue ein paar Wurzeln, in der anderen drei kleine, zerquetschte Kaninchen. In der Höhlenmitte scharrte er Äste und Reisig zusammen und entfachte mit einem fauchenden Atemstoß ein Feuer. Er warf Sekena die Wurzeln und die Kaninchen zu. Sie spießte die Tiere auf und röstete sie über den Flammen. Während sie mit fetttriefenden Fingern aß, kauten die Kleinen an einem Tannenbaum, den sie in die Höhle gezerrt hatten. Als sie satt war, unterhielt sie sich mit dem Drachen. Besser gesagt: Sie redete mit Worten, und er antwortete mit Zischen. »Sekena«, sagte sie und tippte sich auf die Brust. Der Drache zischte immer wieder und schien weniger daran interessiert zu sein, ihre Sprache zu erlernen, als daran, ihr die seine beizubringen. Der Tag verging, und sie aßen, schliefen oder versuchten, sich miteinander zu verständigen. Der Drache zischte, und Sekena lauschte gebannt. Nach einer Weile konnte sie gewisse Unterschiede in den Zischlauten ausmachen. Am dritten Morgen auf dem Berggipfel erinnerte sie sich wieder an Mama und Tamun und den Krieg.
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»Wenn wir bei der Wahrheit bleiben, wird die Hand der Gerechtigkeit kommen und dereinst die Welt vom Unrat säubern.« - Oliver Farrel
Die Elfen verfolgten ihn. Ihre Späher gehörten zu den besten, die es in Sarpadia gab, aber Reod war so erschöpft, daß er nicht vorhatte, ihre Fähigkeiten auf die Probe zu stellen. Wenigstens nicht heute nacht. Er zwängte sich in eine Ausbuchtung unter einem Felsbrocken und bedeckte sich mit herabgefallenen Blättern. Er fand nur wenig Schlaf. Der Sturm brach herein und überflutete die nächtliche Welt mit Wassermengen, gegen die der Felsen keinen Schutz bot. Der Regen würde die Späher, die seinem Geruch folgten, verwirren - wenn die Elfen ihn auf diese Weise aufspüren wollten. Da Reod jetzt weder die Sterne noch den Himmel sehen konnte, behinderte das sein Vorankommen. Natürlich konnten sie ihn auch auf andere Art aufspüren, und er war sicher, daß sie alles daransetzen würden, ihn zu finden. Beim ersten Licht des neuen Tages wanderte Reod nach Süden und ließ sich von den spärlichen und nur selten sichtbaren Sonnenstrahlen leiten. Er webte Ablenkungszauber und kratzte Pfeile in große Felsbrocken, um seine Spuren zu verwischen, falls elfische Magier die Steine befragten. Er wagte nicht, zu seinem Ochsenkarren zurückzukehren, um die letzten Vorräte mitzunehmen. Jetzt, wo 174
keine Eier mehr auf der Ladefläche lagen, hätte er unter der Plane einen trockenen Schlafplatz gehabt, und der Ochse hätte während der Reise nach Süden Wärme und Schutz spenden können, aber die Elfen hatten den Wagen sicher entdeckt und erwarteten ihn dort. Vielleicht war die Verfolgung durch die Elfen ein Zeichen dafür, daß der Brand in der Festung doch nicht allzu viel Unheil angerichtet hatte, wenn sie Späher erübrigen konnten, die ihm folgten. Andererseits konnte es auch bedeuten, daß der Brand viel schlimmer gewütet hatte, als es seine Absicht gewesen war, so daß sie keinen Sinn darin sahen, sich dem Feuer entgegenzustellen. Und Reod war frei und der Rachedurst der Elfen groß. Seltsame Zeiten, hatten die Druiden gesagt. Seltsame Zeiten und schwere Entscheidungen. Er ließ seine Gedanken vorauseilen. Irgendwo da draußen waren Melelki und Tamun. Ganz bestimmt ging es ihnen unter der Obhut der Elfen gut. Trotz des Mißtrauens, daß er den Elfen entgegenbrachte, vertraute er darauf, daß sie ihr Versprechen einhalten würden. Und wenn Reod die beiden wiederfand - nun, mochte Tamun auch genauso schwierig und geheimnisvoll wie früher sein und entsetzt über das, was er getan hatte, so würde sie ihm verzeihen und ihn mit einer Umarmung willkommen heißen. Diese und ähnliche Gedanken wärmten ihn während der stetigen, kalten Regengüsse. Oftmals hielt er an und versteckte sich vor den Verfolgern. Manchmal mußte er stundenlang reglos stehenbleiben und den Bäumen und Felsen und dem Erdboden befehlen, ihn als Schatten anzusehen. Er trieb sich selbst immer wieder zum Weitergehen an und verdrängte sämtliche Schmerzen. Den Hunger hielt mit dem Verzehr von Pflanzen und Beerenwürmern im Zaum. Letztere schluckte er unzerkaut hinunter. Es war nicht viel und nicht genug, würde ihn aber am 175
Leben erhalten, bis er sich aus dem Zufluchtwald hinausgekämpft hatte. Es kam nur auf das Ende der Reise an. Es dauerte mehrere Tage, bis Reod die Straße nach Süden erreichte. Noch immer folgten ihm zahlreiche Elfen. Erst als er mehrere Tagesreisen zwischen sich und den Wald gelegt hatte, gaben sie auf. Aber der Regen ließ nicht nach. Nach einer Weile kam es Reod so vor, als habe er sein Leben lang gehungert und gefroren, sei gejagt worden und habe Spuren verfolgt. Von diesen trüben Gedanken begleitet, nahm er eine kleine Seitenstraße, die nach Westen zu einem Tal führte, in dem ein kleines, gut geschütztes icatianisches, Dorf lag. Er schleppte sich zur Hütte der Heilerin, die seinen wahren Namen nicht kannte und nur wußte, daß Reod bei jedem Besuch seltene Kräuter und magische Steine mitbrachte. Aber diesmal hatte Reod nichts bei sich außer den Kleidern, die er am Leibe trug. Trotzdem gab sie ihm, was sie erübrigen konnte Essen, saubere Kleider und einen Regenumhang - und lauschte gespannt seinen Geschichten und Neuigkeiten. Er erzählte von den Überfällen im Süden, den kalten Wintern und den schlechten Ernten im Zufluchtwald. Sie hörte aufmerksam zu, lehnte sich schließlich zurück und nickte. »Hast du irgend etwas aus dem Westen gehört?« fragte sie. »Seit dem letzten Mal nichts Neues.« Vor einigen Jahren hatte sich ihr Bruder der Schwarzen Hand angeschlossen. Wann immer Reod sie besuchte, berichtete er ihr die kargen Neuigkeiten. Würde die Heilerin in einem Dorf im Herzen Icatias leben, hätte sie ihm solche Fragen nie gestellt. Dort war es viel zu gefährlich, derartige Interessen offen zu bekunden oder die Schwarze Hand und den Zufluchtwald 176
im gleichen Atemzug zu nennen. Aber in den Grenzstädten waren die Erlasse des Königs manchmal weniger wichtig als das Wetter. In jener Nacht schlief Reod in einem warmen, trockenen Bett. Bei Morgengrauen ging er die Straße nach Teedmar entlang. Als er die Hügel unterhalb von Teedmar erreichte, ließ crer Regen endlich nach, und die Wolkendecke teilte sich, um die Sonne durchzulassen. Der Umriß der Stadt zeichnete sich gegen den Himmel ab. Im orangefarbenen Glanz der Sonne erblickte er die Dächer der Häuser und sah den Rauch, der aus Schornsteinen und von Schmiedefeuern aufstieg. Erleichterung verdrängte die Anspannung der letzten Tage und ein Hoffnungsfunke flammte in ihm auf. Die letzten Sonnenstrahlen wischten seine Ängste fort, auch diese Stadt wäre ein Opfer der Orks und Goblins geworden, in der sich die Leichen stapelten. Ganz besonders zwei bestimmte Leichen. Aber nein, Teedmar war unversehrt. Karren, die aus Gurn kamen, passierten die Stadttore. Pferde waren zu sehen. Bei einigen Tieren handelte es sich um Schlachtrösser, und das zeigte das Vorhandensein icatianischer Streitkräfte an. Er zog sich die Kapuze tief ins Gesicht. Seine Befürchtungen bewahrheiteten sich, als er näher kam und zwei Mitglieder des Leitburordens an ihm vorbeigingen. Er sackte in sich zusammen, senkte den Kopf und hoffte, für einen hochgewachsenen Zwerg gehalten zu werden. Weder verlangsamten die Soldaten ihre Schritte noch warfen sie ihm auch nur einen Blick zu. Darüber ärgerte er sich insgeheim. Unter seinem Befehl hätte kein Krieger eine so auffallende Erscheinung unbehelligt in die Stadt gelassen. Der zu große, vermummte Zwerg, der eigenartig einherschritt und nicht grüßte, wäre angehalten worden. Auch wenn Teedmar und Icatia einander freundlich gesonnen waren, mußte in diesen Zeiten erhöhte Wachsamkeit herrschen. Ein 177
von Reod ausgebildeter Krieger hätte ihn niemals ziehen lassen. Also stimmten die Gerüchte, daß sich die Armee von Icatia maßlos überschätzte und nachlässig wurde. Sollten seine Anstrengungen, seinem Volk einen würdigeren Feind zu geben als sie selbst es waren, vergebens gewesen sein? Vielleicht waren seine schlimmsten Befürchtungen wahr geworden, und der böse Einfluß kam aus dem Herzen Icatias, von den Anführern und Herrschern. Wenn das stimmte, konnte der Zerfall nicht durch äußere Einflüsse und Bedrohungen aufgehalten werden, und das Volk mußte unter der Unfähigkeit der Herrschenden leiden, die ebenso wenig auf sich wie auf andere acht geben konnten. Hätte er seine Leute bei sich, würde er einen Überfall durchführen. Das würde sie wachrütteln! Er grinste über sich selbst. Nach all diesen Jahren dachte er noch immer wie ein Offizier. Vielleicht waren auch nur diese beiden Soldaten nachlässig. Er sollte sich lieber über sein Glück freuen, anstatt sich zu wünschen, daß sie ihn entdeckten. Es ging aber nicht allein um die Icatianer. Auch die Stadtwachen von Teedmar waren unaufmerksam. Am Stadttor winkte ihn ein bewaffneter Zwerg durch die hohen Eisengitter, ohne ihn weiter zu beachten. Dann lehnte sich der Wächter gegen das Tor und schloß gähnend die Augen. Reod dachte an die Bedrohung durch die Orks und. die Goblins, und er wurde deprimiert. Teedmar war der Waffenlieferant für Gurn. Sogar Icatia war von Teedmar abhängig. Vor Jahren hatte Reod für die Zwerge von Teedmar gearbeitet, um ein Handelsabkommen zwischen der Stadt und einem Goblinkönig zu treffen, der aber inzwischen längst tot war. Seit damals war die Stadt gewachsen und legte Zeugnis für den höheren Bedarf nach 178
Schwertern, Speeren und anderen Gegenständen ab, die von den Zwergenschmieden auf das Hervorragendste angefertigt wurden. Die Stadt war größer geworden, hatte aber immer noch die alten Tore, die alten Wächter und die alte Lebensart beibehalten. Sie mochten erstklassige Handwerker und Waffenschmiede sein, aber die Zwerge würden sich eher auf die eigenen Stiefel pissen als sich auf den Krieg vorzubereiten. Die althergebrachte Lebensweise blieb bestehen nicht, weil die Traditionen respektiert wurden, sondern weil man keinen Sinn darin sah, etwas zu ändern, wenn es nicht unumgänglich war. Dagegen konnte er etwas unternehmen. Mit ein wenig Zeit und Geld konnte er Teedmar zeigen, wo seine Schwächen lagen und wie man sie beheben konnte. Hätten die Elfen den Vertrag nicht gebrochen, würde er Goblins und Orks beibringen, sich zu verbünden, miteinander zu arbeiten und die Stärken des anderen nicht zu beachten, sondern gegenseitige Schwächen zu fördern und aus ihnen eine ungewöhnliche, aber nutzlose Armee bilden. Als Reod ein Offizier im Orden Leitburs geworden war, fragte er sich, warum und gegen wen Icatia kämpfte. Selbst jetzt war ihm das >Warum< unklar, aber er wußte, gegen wen sie vorgingen: Gegen jeden. Aus den verschiedensten und verworrensten Gründen, die sogar einen Historiker verwirren würden, schien die Rassen Sarpadias gegeneinander Krieg führen zu wollen. Jeder fand einen Grund zu kämpfen - wie Geschwister, die fortwährend Streit suchten. So war es in Icatia. Ob sich ein Dorf weigerte, den Zehnten abzugeben oder ob die Landbevölkerung das Mittwinterfest der Schwarzen Hand feierte - die Herrscher Icatias waren schnell bereit, ihre Armee einzusetzen. Und warum? Weil sie einen Feind brauchten. Daher hatte Reod dazu beitragen wollen, ihnen einen Feind zu liefern. Die Orks und Goblins, die er mit Waf179
fen und Strategien versorgt hatte, wären eine selbstbewußte, hartnäckige aber im Endeffekt zahnlose Truppe gewesen und ein passender Feind für jedes Land, daß nach Krieg lechzte. So wäre das Militär Icatias mit Schwierigkeiten von außen beschäftigt gewesen. Vielleicht hätte die Armee dann jene Menschen unbehelligt gelassen, die nicht zu Leitbur beten wollten oder mit der Schwarzen Hand übereinstimmten. Aber nun handelten die Orks und Goblins auf eigene Faust und waren schlagkräftiger und weniger einschätzbar, als sie es unter Reods Führung gewesen wären. Ohne ihn würden sie alles angreifen, sogar kleine Dörfer ohne Verteidigung. Jetzt konnte er nicht mehr viel dagegen unternehmen. Der Goblinkönig war geizig und gewalttätig, und Reod konnte sich ihm nicht ohne Gold und Waffen nähern. Die Orks könnte er überlisten, aber auch nur ein einziges Mal. Vielleicht gab es in Teedmar ein paar Zwerge, die auf seine Warnungen hören würden. Wahrscheinlich würden sie aber nur darauf beharren, daß ihre Rekruten ausreichten, um die Stadt zu verteidigen. Er beschloß, die geeigneten Zwerge zu suchen, wenn er Tamun gefunden hatte, damit Teedmar die Gelegenheit bekam, sich auf die Orks und Goblins vorzubereiten, wenn sie angreifen würden. Und das würden sie. Suchend blickte er in die Gesichter aller Zwerge, die an ihm vorübergingen und suchte nach ihnen. Seine Schritte klangen auf dem Holz- und Steinpflaster der Stadt hohl, und er fröstelte in der Abendkühle. Tamun und ihre Familie waren hier. Sie mußten hier sein. Er würde sie finden. Der nächtliche Himmel war mit funkelnden Sternen übersät. Drei Frauen, wollte er sagen. Vielleicht auch zwei. Er war vorsichtig, ging gebückt und hielt nach Menschen Ausschau. Reod sprach nur einzelne Zwerge 180
an. Er bemühte sich, sein Zwergisch mit südlichem Dialekt zu sprechen und hoffte, daß sich niemand für das unter der Kapuze verborgene Gesicht interessieren würde. Jetzt erwies sich das mangelnde Mißtrauen der Zwerge als vorteilhaft. Aber er fand sie nicht. Schließlich begab er sich in eine überfüllte, laute Taverne, in der niedrige, langgestreckte Holztische standen. Mit Stroh gefüllte Kissen luden zum Ausruhen ein. Überall erblickte er die strähnigen Haarschöpfe der Zwerge. Der Geruch nach Schweiß und Bier hing schwer im Raum, aber es war warm, und der Duft eines Eintopfes ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Er schritt zu einer großen Feuerstelle, die sich am anderen Ende des Raumes befand. Die lodernden Holzscheite lagen zischend und knackend inmitten der leckenden Flammenzungen. Das Feuer verjagte die Kälte, die ihm bis in die Knochen gedrungen war und die Verzweiflung, die ihn zu überwältigen drohte. Während er sich das Gesicht und die Hände wärmte, blickte er sich suchend nach den beiden vertrauten Gestalten um. Das Ruhebedürfnis seines Körpers ärgerte ihn, denn er war sicher, daß sich Tamun in der Stadt befand, vielleicht nur wenige Schritte von ihm entfernt. Sie waren hier. Sie mußten hier sein. Selbst wenn sie zu Fuß gegangen waren, mußten sie mit Hilfe der Elfeneskorte vor ihm eingetroffen sein - mindestens einen oder zwei Tage früher. Morgen, sagt er sich. Morgen finde ich sie. Eine Frauenstimme drang an sein Ohr. »Robin?« Der Magen krampfte sich ihm zusammen. Eingelullt durch die Unaufmerksamkeit der Krieger und die Sorglosigkeit der Zwerge hatte Reod die Kapuze abgesetzt, als er sich vor dem Feuer aufbaute und sich - gut sichtbar für alle Anwesenden - im Raum umgeschaut. Er war ein Idiot! 181
Reod rührte sich nicht und tat so, als habe er nichts gehört. Vielleicht entschied die Sprecherin, daß dieses zerlumpte, bärtige, magere Individuum, das sich am Feuer wärmte, keinesfalls der berüchtigte icatianische Verräter sein konnte. Aber schon blieb jemand neben ihm stehen. Sie trug die helle Uniform des Ordens und den hohen Kragen einer Offizierin. Es hätte kaum schlimmer kommen können. Es war gefährlich, in einem überfüllten Raum einen Zauberspruch zu sprechen. Wer weiß, vielleicht befand sich ein neugieriger und der icatianischen Obrigkeit ergebener Magier in der Taverne und bemerkte den Zauber? Trotzdem konzentrierte er sich auf einen einfachen Spruch, der sein Aussehen leicht verändern würde. Meine Haut wird dunkler, dachte er und konzentrierte sich mit aller Macht. Die Nase breiter und die Augen auf gar keinen Fall blau ... Eine Hand legte sich ihm auf die Schulter. Dann drehte ihn die Frau zu sich herum. »Robin! Du bist es wirklich!« Die Stimme klang fest, war aber leise. Er vergaß den Zauberspruch. »Eliza?« Sie war die Tochter der Freunde seiner Eltern. Innerhalb des Ordens hatten ihre unterschiedlichen Meinungen sie auseinandergetrieben, und sie hatten gelernt, nur über bestimmte Dinge miteinander zu reden, um die alte Freundschaft nicht zu gefährden. Zum Schluß endete es damit, daß sie sich kaum mehr unterhielten. Als er sie zum letzten Mal sah, hatte sie gerade den Hauptmannsrang verliehen bekommen. Ein unfreiwilliges Lächeln huschte über seine Lippen. »Was machst du in Teedmar?« »Ich finde, ich sollte dich danach fragen!« Hastig schweifte sein Blick umher. Sie lächelte ebenfalls. »Ich bin allein. Außerdem habe 182
ich nicht nach dir gesucht, obwohl ich sicher bin, daß dich Farrel liebend gern sehen würde.« Sie faßte ihn am Arm und führte ihn zu einem seitlich stehenden Tisch, wo sie ihm ihre Schüssel mit Eintopf zuschob. »Du siehst hungrig aus. Du hast auch schon früher immer wieder vergessen, zu essen.« Er nahm einen Schluck Brühe zu sich und fischte mit einer Scheibe Brot nach Rüben und Fleischstücken, die er sich gierig in den Mund stopfte. Allmählich fühlte er ach wieder besser. »Du bist jetzt bei Farrel?« Sie nickte. »Kommt jetzt der Augenblick, in dem ich zugeben muß, daß du recht hattest?« Reod schnaubte verärgert. »War es jemals so einfach?« »Inzwischen steht der größte Teil des Ordens hinter Farrel obwohl wir nicht öffentlich darüber reden. Es ist ihm ernst mit der Vernichtung der Hand. Dem König gefällt es nicht, aber das ist seine eigene Schuld. Wenn er nur halb so viel Zeit damit verbringen würde, die Anhänger Tourachs zu verfolgen, wie mit der Unterdrückung der von Hungersnöten bedrohten Grenzstädte ...« »Und du glaubst, Farrel sei besser?« »Ich finde, Farrel überblickt die Lage klarer. Er ist bereit, sofort zu handeln. Der König zieht lange Ratsitzungen vor. Aber dafür bleibt uns keine Zeit.« »Da stimme ich ausnahmsweise mit dir überein.« »Und jetzt kommen die Orks und die Goblins.« Er schwieg und leerte die Schüssel mit dem Eintopf. »Ich habe dich vermißt, Robin.« Sie erinnerte ihn an daheim und an die Zeit, in der er noch ein zu Hause gehabt hatte. Er seufzte. »Eliza, in den letzten Jahre habe ich Dinge getan ...« Sie lachte kurz und grimmig auf. Er war überrascht. »Haben wir das nicht alle? Leitbur muß wünschen, daß wir unser Heil im Blutvergießen suchen. Vielleicht rede ich lästerlich, aber ich frage mich, ob zwischen uns und Tourachs Verlorenen ein Unterschied besteht?« 183
»Kein sehr großer.« Sie sah ihn neugierig an. »Du warst dir dessen immer sehr sicher. Man sagt, daß du während deines Aufenthaltes bei der Schwarzen Hand zu Tourachs Eigenen gehört hast.« »Nicht wirklich. Aber wie gesagt, ich habe Dinge ...« »Will ich das wirklich hören?« »Wahrscheinlich nicht.« Ihre Blicke begegneten sich. Sie ergriff seine Hand, »Egal was du getan hast, sage mir eines: Was geschah mit jenen, die dir zur Hand gefolgt sind?« »Wirst du mir glauben?« »Ich versuche es.« »Dann hör zu: Ein paar der Leute, die mir folgten, waren Lügner. Sie schlichen sich davon und kehrten zu ihren Familien zurück. Andere gingen ...« Er zuckte die Achseln, »...sonst wo hin. Viele folgten mir freiwillig zur Hand und fanden es dort so furchtbar, wie man es ihnen in den Geschichten der Kindheit geschildert hatte. Es blieben wenige übrige, sehr wenige, die mir zum Herzen der Schwarzen Hand folgten und dort ihre Heimat fanden.« »Und du?« flüsterte sie. »Was fandest du?« »Eliza, ob du dich nun auf Farrel oder Leitbur berufst, du bist immer noch Hauptmann der icatianischen Armee, nicht wahr?« »Robin...« »Reod.« »Ach ja, der Name, den du bei der Hand erhieltest. Ich werde dich nicht zurückschleppen, Reod. Jetzt nicht mehr. Es gibt so viele Verfahren des Kriegsgerichtes, daß es ein Wunder ist, daß noch Leute übrig sind, um Trokair zu verteidigen.« »Ist es so schlimm?« »Ja. Du bist übrigens berühmt, weißt du das? Jedenfalls bei denen, die darüber zu reden wagen. Man wird schon bestraft, wenn man nur deinen Namen ausspricht. 184
In den Dörfern nageln sie Vögel mit rotem Brustgefieder über die Haustüren, um sich gegen Verrat und Täuschung zu schützen.« Sie lächelte, um die Worte freundlicher klingen zu lassen, aber Reod sah sie ernst an, und ihr Lächeln verschwand. »Es ist angebracht, daß sie so an mich denken.« »Die Zeiten sind schlecht, Robin. Soll ich über das, was du getan hast, richten? Ich bin seit längerer Zeit unsicher, was richtig und was falsch ist.« »Gut. Ich mißtraue Leuten, die sich ihrer zu sicher sind.« »Du willst mir also nicht erzählen, was bei der Schwarzen Hand mit dir geschah?« »Nein.« »Was suchst du denn dann in Teedmar?« »Willst du die Wahrheit hören?« »Warum nicht?« Er atmete tief durch. »Ich suche drei weibliche Zwerge. Eine von ihnen ist... nun ...« Plötzlich begriff Eliza. Sie lachte schallend, hielt aber inne, als sie seinen Gesichtsausdruck bemerkte und schüttelte den Kopf. »Oh, Robin! Das ist unglaublich. Was für Zeiten doch herrschen!« »In der Tat.« »Willst du ihr einen Antrag machen?« »Ich weiß nicht.« Wie sollte er erklären, daß er sich seiner Sache nicht sicher war? »Es ist alles ein wenig ungewöhnlich.« »Mehr als bloß ein wenig, würde ich sagen. Hast du...« »Das geht dich nichts an.« Sie lächelte. »Hör mal, ich habe ein wenig Zeit. Ich kann dir morgen bei der Suche helfen.« »Eliza, reiß dich zusammen! Weißt du, was du wagst, wenn du nur hier neben mir sitzt?« 185
»Ich weiß, wie gefährlich es für dich ist, in Teedmar herumzulaufen, wo sich so viele Krieger aufhalten. Man kennt mich hier. Wenn wir zusammen sind, wird dich niemand verdächtigen. Diese Zwergin - wenn sie dir so viel bedeutet - ich will tun, was in meiner Macht steht. Morgen vormittag habe ich frei, aber ab Mittag muß ich bei den Schmieden sein, um eine Einschiffung anzukündigen. Morgen kehre ich mit meiner Truppe nach Icatia zurück.« »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wir hatten in der Vergangenheit unsere Meinungsverschiedenheiten, aber...« Sie unterbrach ihn lachend. »Aber nun handele ich aus reinem Großmut, da ich eine ehrbare Icatianerin bin. Leitbur wäre stolz auf mich und...« Plötzlich verdunkelte sich ihre Miene. »Ich glaubte, ich würde dich nie wiedersehen. Und in diesen blutigen Zeiten mag es das letzte Mal sein. Also schenke mir diesen gemeinsamen Morgen.« »Es wird mir eine Freude sein. Ich danke dir.« Sie schüttelte den Kopf. »Danke mir, wenn wir sie finden.« Sie frühstückten hastig und traten hinaus auf die Straße. In den Städten Icatias bestand das Pflaster der Straßen aus Stein, aber hier, wo das Wetter noch unfreundlicher war, hatten die Zwerge hölzerne Fahrspuren für die Wagen gebaut, die ein Stück höher als das Pflaster lagen. Diese Fahrspuren mußten fortwährend ausgebessert werden, aber die Zwerge, die auf dem Boden hockten und mit ihren Werkzeugen, Nägeln und Brettern hantierten, schienen trotz der eisigen Kälte zufrieden zu sein. Typisch für Zwerge - sie waren so eigenartig! »Wenn deine Zwerginnen gestern eingetroffen sind«, sagte Eliza, »könnten sie noch in den Unterkünften sein. Die Stadt bietet jedem Zwerg, der sich zum Soldaten oder Helfer ausbilden läßt, freie Unterkunft und Ver186
pflegung. Sie suchen verzweifelt nach Freiwilligen zur Unterstützung der Wachen in den umliegenden Dörfern, die sich mit den Überfällen der Goblins und Orks herumschlagen müssen.« »Das nennt man Krieg.« »Wenn es ein Krieg wäre, müßten beide Seiten Armeen haben. Die gibt es aber nicht. Hier siehst du einfaches Volk, das glaubt, es gebe keinen Unterschied zwischen einem Schwert und einer Axt. Ich habe sie bei den Übungen beobachtet, und es handelt sich nur um einen großen, ungeordneten Haufen Zwerge.« »Das ist bei den Orks und Goblins genauso.« »Sie sind nicht mehr so ungeordnet wie früher.« »Stimmt.« Sie standen vor den Unterkünften. Eliza erkundigte sich nach den Frauen, und Reod hielt sich im Hintergrund, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Sie suchten mehrere Stunden lang. Zuerst in den Schlafräumen, dann in den Küchen, den Handwerkerschuppen und Waffenschmieden. Während Eliza sich in den Waffenschmieden aufhielt, wo sie als Käuferin willkommener war als er, wartete Reod draußen. Karren wurden mit Schwertern und Speerspitzen beladen. Er starrte die Vorübergehenden suchend an. Schließlich kehrte Eliza zurück. »Vielleicht, vielleicht auch nicht.« »Was meinst du damit?« Sie zuckte die Achseln. »Die Hälfte aller Zwerge in Teedmar ist weiblich. Aber heute morgen haben hier zwei unbekannte Zwerginnen gearbeitet.« Er wollte gerade losstürmen, als sie ihn am Ärmel festhielt. »Sie sind fort.« »Fort? Wohin?« »Das weiß er nicht und ist nicht sehr froh darüber. Hier sind alle überarbeitet, und die beiden sind seit 187
Stunden weg. Er nimmt an, daß es ihnen zu langweilig wurde und sie in die Stadt gegangen sind.« Sanft berührte sie Reod an der Schulter. »Nur Geduld.« Er atmete langsam auf und versuchte, sich von ihren Worten trösten zu lassen. Das waren sie; das mußten sie sein. Sie waren hier. Er glaubte, Tamuns Augen vor sich zu sehen und vermeinte, Melelkis Frage zu hören, weshalb er so lange gebraucht hatte. Er mußte weitersuchen. Er wandte sich Eliza zu, um ihr zu danken und sie dann zu ihrer Verabredung gehen zu lassen, während er weitersuchte. Dann wurde es schwarz um ihn herum, als habe ihnen jemand eine schwere Decke übergeworfen. Er hörte Eliza keuchen. Eine tiefe Stimme durchdrang die Dunkelheit. »Reod Dai.« Ein weißer Fleck tauchte vor ihm auf und wurde zu einem Gesicht. Drei gelbe Augen bildeten ein Dreieck und starrten ihn an. »Laß mich raten«, sagte Reod und zwang sich, trotz der eisigen Kälte, die sich in seinem Inneren ausbreitete, belustigt zu klingen. »Du bist einer von Leitburs Auserwählten?« Ein weißes Kinn bewegte sich auf und ab, als gehöre es nicht zu dem Rest des weißen Gesichtes. »Wir möchten dir unsere Glückwünsche aussprechen«, fuhr die Stimme in der Ersten Tempelsprache der Schwarzen Hand fort, die dem Icatianischen ähnlich war. »Du hast viel erreicht, seitdem du das letzte Mal von Tourachs segnender Hand berührt wurdest.« Reod dachte angestrengt über die Worte des Magiers nach. »Ich danke dir.« Eliza schwieg und war offensichtlich verwirrt. Obwohl sie die Anhänger Tourachs seit Jahren bekämpfte, bezweifelte Reod, daß sie jemals einem von ihnen begegnet war. 188
»Wir freuen uns ganz besonders über den Schaden, den du den Waldbewohnern zugefügt hast.« Er mußte das Feuer meinen. Wenn die Hand bereits davon wußte, mußte der angerichtete Schaden sehr groß sein und sich überall im Wald der Elfen ausgebreitet haben. Aber woher wußten sie, daß Reod dafür verantwortlich war? Hatten die Elfen es ihnen gesagt? Und warum sollten die Elfen Verbindung zur Schwarzen Hand aufnehmen? Er hatte nicht vor, irgend etwas zuzugeben. »Was glaubst du denn, was ich getan habe?« »Sie lehnen sich gegen ihre Herren auf, da sie nicht länger von ihren Wurzeln gehalten werden. Wir sind mit deiner Arbeit zufrieden.« »Wer lehnt sich auf?« »Du brauchst dich uns gegenüber nicht dumm zu stellen. Wir wußten, daß du im Zufluchtwald weiltest, als sie erwachten und ihr Erdgefängnis verließen. Niemand außer dir hätte Magie auf diese Weise und zu diesem Zweck angewandt.« Reod kämpfte mit den Worten des Magiers und suchte nach ihrer wahren Bedeutung. »Die Thallide?« fragte er ungläubig. Der Magier beachtete die Frage nicht, da er überzeugt war, daß Reod sein Erstaunen nur heuchelte. »Uns ist bewußt, daß Tourach sich deiner Hände bedient, um die Elfen zu strafen. Leben darf nur durch Tourachs Weisheit und Wissen geschaffen werden. Das werden sie jetzt begreifen.« Jetzt verstand Reod, was in dem Thallidfeld mit den kleinen Drachen geschehen war. Die Pilzwesen hatten die Magie aufgesogen, die für die Jungen bestimmt gewesen war. Die Drachen waren nicht gesprengt worden, aber die Magie hatte die Thallide grundlegend verändert. Sie waren beweglich und sich ihrer selbst bewußt geworden. Dann hatten sie beschlossen, sich gegen jene aufzulehnen, die sie verzehrten. Das ergab einen Sinn. 189
Außerdem erklärte es den Schatten, den er in der Dunkelheit in der Elfenfestung gesehen hatte: Ein Thallidstengel mit Füßen. Der Magier fuhr fort. »Die Elfen haben es selbst verschuldet, weil sie die von uns Geschaffenen gestohlen haben, um aus ihnen eigene Wesen zu bilden. Wir boten ihnen Tourachs Wissen an, aber sie wiesen es zurück. Jetzt haben sie die Folgen zu tragen.« Reod wußte, daß der Magier log; niemand konnte die Schwarze Hand bestehlen. Wenn die Elfen die beschaffenem - die Bezeichnung der Hand für die Trulle - benutzten, um Thallide zu bilden, geschah es mit Zustimmung der Anhänger Tourachs. Also bezahlte jemand aus dem Zufluchtwald die Schwarze Hand, und gewiß bezahlte er sie besser, als es bei Reod der Fall gewesen war. Und nun leistete die Nahrung Widerstand. Das erschien ihm einleuchtend. »Wieviel haben sie euch gezahlt?« fragte er mit grimmigem Lächeln. Es erlosch jedoch augenblicklich, als ihm bewußt wurde, wie die Bezahlung ausgesehen haben mußte. Die Elfen hatten dafür gesorgt, daß die südliche Grenze Icatias bedroht wurde, damit sich die Armee dort versammelte und die übrigen Grenzen geschwächt zurückblieben. Ganz besonders die westliche Grenze, wo der Einfluß der Schwarzen Hand am größten war. »Jetzt benötigt die Schwarze Hand deine Hilfe, um die Icatianer zurückzuwerfen.« Wenn er genug Geld bekam und die Zeit ausreichte, konnte er die Orks und Goblins vielleicht wieder im Zaum halten. »Ich höre.« »Wir werden den endlosen Kämpfen zwischen den Anhängern Tourachs und den Ungläubigen ein Ende bereiten. Du wirst mitkommen und die gleichen Sprengkörper anfertigen, die du den Goblins gegeben hast.« 190
Reod spürte Elizas fragenden Blick auf sich ruhen. »Ja, das kann ich hier in Teedmar machen. Aber ich brauche Geld.« »Du wirst nach Achtep kommen und dort arbeiten.« »Das geht nicht.« »Die Zwerge haben nichts, das wir nicht auch haben.« »Ich muß hier bestimmte Dinge erledigen.« »Du arbeitest jetzt für die Schwarze Hand.« Reod zuckte die Achseln. »Dann kann ich euch leider nicht helfen.« »Wie schade. Der Berg, der über uns aufragt, wird in Kürze zerstört werden und die Stadt unter sich begraben. Ich nahm an, du würdest die Gelegenheit begrüßen, dich zu verabschieden, ehe das geschieht.« »Zerstört?« »Diese geschäftigen Zwerge mit ihren vielen Waffen verärgern uns. Die Icatianer haben genügend Waffen.« »Was heißt zerstört? Wie?« »Wir haben den Berg wütend gemacht und Feuer in seinem Herzen entzündet. Schon bald wird es ausbrechen. Du kannst hierbleiben, wenn du es wünscht.« Tamun! Reod sah ihre goldbraunen Augen vor sich. Wenn auch sie... Er spürte, wie seine Furcht jeden klaren Gedanken zu verdrängen drohte und zwang sich, ruhiger zu werden. »Ich möchte, daß ihr eure Plane ändert.« »Die Anhänger Tourachs sind bereits dabei, den großen Zauber zu weben. Willst du hierbleiben und sterben?« »Nein. Hör zu. Es gibt Leute in Teedmar, die ich finden muß.« »Wie bedauerlich. Sie werden bald tot sein.« »Ich will mit dir gehen. Ich werde für die Hand arbeiten und euch Sprengkörper und anderes anfertigen. Aber nur, wenn ihr den Berg unversehrt laßt.« »Wir denken nicht daran, den Berg oder die hier lebenden Ungläubigen zu verschonen. Vielleicht erzählst 191
du mir, wer die Kreaturen sind, die dir so wichtig erscheinen. Wir können sie für dich suchen. Ich schlage vor, du beeilst dich.« Eliza tippte ihm auf die Schulter. »Nicht, Robin. Was werden sie mit ihr anstellen?« »Alles ist besser als der Tod.« »Ist es das?« »Drei Zwerge«, sagte Reod. »Weibliche.« »Irgendwelche?« »Nein. Eine Mutter und zwei Töchter. Sie heißen Melelki, Tamun und Sekena. Normale Zwergengröße, aber die Haare sind ein wenig dunkler, da sie aus den Bergen des Südens stammen. Als ich sie zuletzt sah, trugen sie Ölhäute.« Er wies auf seinen Umhang. »So wie diese hier.« Sein Herz klopfte wild und kummervoll. Wenn ihn der Magier betrog, dann hatte Reod gerade die Namen derer genannt, die ihm am meisten bedeuteten, aber wahrscheinlich bot sich hier die einzige Möglichkeit, sie zu retten. Die gelben Augen starrten ihn eine Weile an, ein Nicken, und das Gesicht verschwand. Eliza Stimme klang bedrückt. »Robin.« Er seufzte tief. »Sie machen einen Vulkan aus dem Berg.« »Können sie das?« »Ja.« »Oh, bei Leitbur, wir müssen sie aufhalten.« »Das haben wir gerade versucht.« »Wo zur Hölle sind wir?« »Wir befinden uns in einer - einer finsteren Kugel. Es handelt sich um eine Art magische Tasche.« Er spürte die Magie wie eine starke, feste Steinmauer rings um sich herum. »Eliza, du mußt mitkommen. Wenn du hierbleibst, stirbst du.« »Ich kann nicht weg. Meine Soldaten sind hier.« Wieso starben die Leute, egal, wohin er sich wandte? Er rieb sich die Stirn. 192
»Entweder begleitest du mich oder kommst um.« »Verdammt, Robin! Du hast einst zu ihnen gehört. Du lebtest bei der Schwarzen Hand. Du mußt doch Einfluß haben. Unternimm etwas!« »Ich hatte weniger Einfluß, als du glaubst.« Vielleicht auch mehr, aber darüber wollte er nicht sprechen. »Und noch etwas, Eliza - du mußt mich Reod nennen.« Er sah sie an. »Ich bin schon seit langer Zeit nicht mehr Robin Davies.« Ihr Blick war mißtrauisch geworden. »Ja, das merke ich gerade.« »Es tut mir leid.« Seine eigenen Worte erschienen ihm hohl und barsch, deshalb wiederholte er sie, aber noch immer klangen sie unecht. Eliza schwieg, und sie warteten schweigend. Reod starrte in die Dunkelheit und hoffte, Tamun würde auftauchen. Die gelben Augen erschienen wieder. »Reod Dai. Wir haben versucht, die Zwerge zu finden, die du suchst. Es gibt unzählige Zwerge hier, die nicht leicht auseinanderzuhalten sind. Meine Diener haben überall Ausschau gehalten und konnten die von dir beschriebenen Zwerginnen nicht finden. Vielleicht sind sie gar nicht in Teedmar.« »Sie sind hier. Entweder findet ihr sie oder ihr unterbrecht den Zauber.« »Das geht nicht.« »Ich bestehe darauf.« »Du bestehst darauf?« Reod konzentrierte sich und grub seine ganze Leidenschaft aus. Tamun war da draußen. Sie würde sterben, wenn er jetzt nicht handelte. Er spuckte in die Hände, baute ihr Bild in sich auf und schoß einen magischen Pfeil auf den Lebensfunken des Zauberers ab. Der Magier machte eine abwehrende Handbewegung. Der Pfeil wurde von der Dunkelheit verschluckt. 193
»Ich freue mich, daß du nicht alles verlernt hast, Reod Dai.« Reod war verzweifelt. »Bitte.« Überraschenderweise fiel es ihm leicht, die Worte auszusprechen. »Ich bitte dich. Ich kann euch viel bieten. Wollt ihr Icatia? Ich kann es euch geben.« Er sah Eliza nicht an, denn er konnte sich ihren Gesichtsausdruck jetzt gut vorstellen. »Zweifellos«, nickte der Zauberer, »und genau das erwarten wir auch von dir. Aber der Berg wird seine Wut zeigen, und niemand kann ihn aufhalten.« »Oh, Leitbur!« stöhnte Reod, dem auch diese Worte leicht über die Lippen glitten, als sich seine Augen mit Tränen füllten. Die gelben Augen beobachteten ihn neugierig. »Die Zeit naht. Wir werden zusehen.« Plötzlich wurde es wieder hell um sie. Sie standen noch auf dem gleichen Platz, auf dem sie sich befanden, als sie die dunkle Kugel umschloß. Die Sonne stand tiefer, aber es war hell, und der Himmel leuchtete strahlend blau. Zwerge schritten die Straße entlang, als sei alles in bester Ordnung. Im Rinnstein hockte ein Zwerg, der einen Abfluß instand setzte. Der lange Bart lag zusammengebunden über seine Schulter. An diesem Winternachmittag ging alles in Teedmar den gewohnten Gang. Eliza hielt den Atem an, trat einen Schritt vor und drückte sich gegen die unsichtbare Wand der Kugel. Der Boden erbebte. Ringsherum blieben die Zwerge stehen, sahen sich um und blickten dann zur Spitze des Berges empor, wo sich hoch oben Felsbrocken von den steilen Hängen lösten. Steine rollten herab, sie schienen ganz langsam näherzukommen. Wolken aus Schnee stoben dahinter auf, die nur so winzig aussahen, weil der Gipfel des Berges so hoch über ihnen lag. Dann regnete es faustdicke Steine, die viele Zwerge zu Boden warfen. Blutlachen breiteten 194
sich auf der Straße aus. Der Steinhagel prallte wie Regen von der Kugel ab. Reod wollte die Augen vor dem Anblick verschließen. Er konnte nicht zusehen, aber er konnte sich auch nicht abwenden. Einen Augenblick lang verspürten sie ein Beben, das aus weiter Ferne zu stammen schien. Die Zwerge, die noch auf den Beinen standen, hockten sich hin und machten sich auf einen Stoß gefaßt. Statt dessen qualmte der Berg und spuckte dunkle Rauchschwaden und Felsbrocken aus. Die Zwerge schrien vor Angst und Schmerz. Häuser erbebten und fielen in sich zusammen. Dächer brachen unter dem Gewicht prasselnder Steine ein. In der Kugel erreichte sie weder das Beben noch irgendein Laut. Sie starrten auf das Unheil, das sich vor ihnen ausbreitete. Die Bilder verschwammen Reod vor den Augen, und seine Wangen waren feucht. Lava wälzte sich in roten, feurigen Kaskaden den Berg hinab, als ströme das Blut aus den Wunden eines verletzten Tieres. Das Lebensblut des Berges spritzte umher und setzte Häuser, Bäume und die hölzernen Fahrspuren der Straßen in Brand. Die Lava, die auf die Kugel fiel, verdampfte zischend und hinterließ keine Spuren. Vielleicht war es auch Blut. Reod konnte es nicht mehr auseinanderhalten. »Gut«, murmelte der Magier mit den gelben Augen. »Sehr gut.« Dann wurde es erneut dunkel um sie. Die Kugel hüpfte, fiel, hielt an und löste sich allmählich auf. Sie standen in einem langen Gang mit einer sehr hohen Decke und schwarzen Steinsäulen. In dem Dämmerlicht sahen sie den Magier ein wenig besser als zuvor in der Kugel. Reod wußte, daß er einst ein Mensch 195
gewesen sein mußte. Jetzt spannte sich die Haut zu straff über den Knochen, und auf der Stirn hatte man zusätzliche Haut eingepflanzt, in der das dritte Auge ruhte, das noch nicht ganz zum Leben erwacht war. Reod hatte eine solche Einpflanzung schon einmal mitangesehen. Der Anblick hatte ihn bis in seine Träume verfolgt. Um sie herum standen dunkle, unförmige Gestalten, die sich jetzt in Bewegung setzten und zu Wesen mit langen Zähnen und stachelbewehrten Rücken wurden. Die Geschaffenen. Reod erinnerte sich, wie der erste Trull vor vielen Jahren entstanden war und entsann sich der qualvollen Schreie, als die Versuche begannen. Hier sah er das Ergebnis vor sich. Der Magier erteilte den Trullen mit leiser Stimme Befehle in der Zweiten Tempelsprache und wies sie an, ihr Zimmer aufzusuchen. »Sind wir ...«, begann Eliza flüsternd und brach ab, da sie nicht wagte, den Satz zu beenden. »Ja,« antwortete Reod. »Wir sind in Achtep.«
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»Sei vorsichtig, wenn du etwas auslachst. Es könnte zurücklachen.« - Reod Dai
Sekena beobachtete, wie eine dünne Rauchfahne hinter einem weit entfernt sichtbaren Berggipfel aufstieg. Der Berg lag im Westen, unweit von Teedmar. Vielleicht war es auch der Gipfel, der genau über der Stadt aufragte. Leichte Übelkeit und Angst befielen sie. Sogar auf diese große Entfernung war es noch sehr viel Qualm. »Ich muß gehen«, sagte sie laut vor sich hin. »Ich muß nach Teedmar. Meine Leute brauchen mich.« Schon vor Tagen hatte sie aufbrechen wollen, aber irgendwie wurde sie immer wieder abgelenkt. Wie konnte das nur geschehen? Jetzt war sie wütend auf sich selbst. Wenn ihr Mama und Tamun gefolgt waren, hätten sie angenommen, Sekena sei in Teedmar und wären dorthin gegangen, um sie zu suchen. Dort, wo der Rauch aufstieg. »Oh, Land und Himmel! Ich muß sie finden.« Lautes Zischen erklang hinter ihr. Sie drehte sich um, blickte auf und sah den rotgrünen Kopf des Drachens vor sich, der sich zu ihr hinabbeugte. Noch immer erschrak sie ein wenig, wenn ihr bewußt wurde, daß er so groß war, daß sie den Kopf drehen mußte, um ihn im Ganzen sehen zu können. Es war, als blicke man in ein Tal und mache sich bewußt, wie tief man fallen würde, wenn man abstürzte. Drachengeruch haftete ihr an, hatte Reod gesagt. Sie 197
sog den Duft des großen Drachen ein und entspannte sich. Wenn er sie ebenso wohlriechend empfand wie sie ihn, war es kein Wunder, daß er sie nicht fressen wollte. Sie mußte sich zwingen, wieder zu der Rauchwolke zu sehen. Sie war nicht hierhergekommen, um Drachenduft einzuatmen. Sie wollte ihrem Volk bei dem Kampf gegen die Orks und Goblins beistehen, und sich nicht von dieser schuppigen, gehörnten Kreatur, die in einer Höhle lebte und mittags Bäume verspeiste, wie ein Haustier behandeln lassen. Seltsam - bisher hatte sie noch nicht gesehen, daß er etwas fraß, das größer als ein Kaninchen war, aber an den Knochen von Kühen und anderen großen Tieren, die in der Höhle herumlagen, war das deutlich zu erkennen. Meistens fraß er Pflanzen und kleineres Wild, wenn er für Sekena auf die Jagd ging. Vielleicht aß er nur hin und wieder große Mahlzeiten. Aber wieso? Mama und Tamun, erinnerte sie sich. Wieder zischte der große Drache. Sein Zischen gehörte zu seiner Sprache, dessen war sie sich inzwischen ganz sicher. Sie konnte beinahe verstehen, was er sagen wollte. »Teedmar«, erklärte Sekena. »Mein Volk braucht mich. Vielleicht sind meine Mutter und meine Schwester in Schwierigkeiten. Ich kann nicht hierbleiben. Tut mir leid.« Er zischte unwillig. Ein großes, goldenes Auge sah sie \ an. Sie zuckte die Achseln. »Dann gehe ich zu Fuß. Schließlich bin ich schon bis hierher gewandert.« Goldene Augen blickten sie an. »Ich komme wieder.« Wenn sie konnte. Sie sog den Duft ein und dachte daran, wie es ohne diesen Geruch sein würde. Der Gedanke an diesen Verlust schmerzte. Vielleicht würde sie vergessen, weshalb sie hiergeblieben war, wenn sie erst einmal fortging oder sich nur an das erinnern, was ihr Furcht einjagte. 198
Aber nun ließ sie der große Drache nicht zur Höhle zurückgehen, wo ihr Bündel und ihr Wasserschlauch lagen. Ein starker schuppiger Arm hielt sie zurück. Die andere Richtung wurde durch einen Flügel versperrt, der überraschend hart war, obwohl die Haut dort dünn und beinahe durchsichtig aussah. Sekena seufzte enttäuscht. Teedmar lag nur einen Tagesmarsch entfernt. Na gut, dann würde sie ihre Habseligkeiten eben hier lassen. Die Jungen standen hinter dem Drachen und starrten sie mit weit aufgerissenen Augen an. Die niedlichen Köpfe hielten sie zur Seite geneigt, als wollten sie Sekena fragen, ob sie wirklich gehen müsse. »Verdammt...« Mama und Tamun, ermahnte sie sich. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und lief zum Rand des Plateaus. Der Weg nach unten war steinig und schneebedeckt, aber der Wildpfad war deutlich zu sehen. Sie machte sich an den Abstieg. Riesige Schwingen entfalteten sich hinter ihr und verursachten einen Windstoß. Ein lauter, schriller Schrei, eine Mischung aus Heulen und Kreischen, ertönte und jagte ihr Schauer über den Rücken. Nur ein jammernder Drache, sagte sie sich und versuchte, die zitternden Hände ruhig zu halten, während sie sich entlang der schneebedeckten Felsen tastete. Wieder ertönte der Schrei, den sie unmöglich unbeachtet lassen konnte. Er durchfuhr ihren Körper wie ein eiskaltes Messer und drohte, ihre Füße am Boden festfrieren zu lassen. »Nein!« sagte sie wütend und zwang sich, weiterzuklettern. Aber jetzt zitterte sie so sehr, daß jeder Schritt auf dem schlüpfrigen Boden eine Gefahr bedeutete. Ein Schatten verdeckte die Sonne. Ein Drachenbein stellte sich ihr in den Weg, der gehörnte Kopf erschien genau vor ihrem Gesicht, und sie spürte den süßen, warmen Atem. Das Zischen klang jetzt beinahe zärtlich und 199
hörte sich fast wie ein gut verständliches Wort an. Er rief ihren Namen. Und er roch so gut. Warum sollte sie weggehen? Nein, so ging es nicht. Sie kämpfte mit sich und suchte nach einem Grund, sich zu ärgern. Er sagte ihren Namen gar nicht richtig, auch wenn er jede Silbe sorgfältig zischend betonte. »Nicht >ee-tri<«, berichtigte sie ihn und bemühte sich, sich in Wut zu steigern, um wieder klar denken zu können. »>Ee-na
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»Irgend jemand überlebt immer.« - Genkr Nik
Als der Weg nicht mehr mit Fichtennadeln, sondern mit Steinchen bedeckt war und die Berge sich hoch und zerklüftet am Horizont abzeichneten, verließen die Elfen Melelki und Tamun und wandten sich nach Norden, um in den Zufluchtwald zurückzukehren. Die hochgewachsenen, bewaffneten Krieger gaben ihnen Wünsche für eine gute Reise mit auf den Weg. Vielleicht meinten sie es sogar ehrlich. Wer konnte das bei Elfen schon wissen? Ehe sie verschwanden, teilten die Elfen den Zwerginnen mit, daß Teedmar nur noch einen Tagesmarsch westlich von ihnen lag. Gestern waren sie an eine Weggabelung gekommen, die ihnen die Wahl zwischen den Gebirgen im Süden, wo sie bisher heimisch gewesen waren, und Westen ließ, wo sich die größten Städte und Festungen der Zwerge befanden. Sie schritten auf die untergehende Sonne zu. Die Straße schlängelte sich am Fuß der Berge entlang. Zarte Wolken leuchteten rosig im Sonnenlicht und logen sieh quer über den Horizont. Dem, der sie zählen konnte, verhießen sie Glück. »Wie viele sind es, Mama?« Dieses Spiel wurde von allen Zwergenmüttern und ihren Kindern gespielt. Melelki schwieg ein Weile. »Fünf.« »Sechs«, widersprach Tamun. Während ihrer Wanderung hatten sie nicht ungestört 201
miteinander reden können, da die Elfen immer in der Nähe weilten. Melelki war sich sicher gewesen, daß sie Sekena unterwegs einholen würden, aber sie hatten sie nicht gesehen, und Melelki wurde von Stunde zu Stunde beunruhigter. Jetzt, da die Elfen fort waren, konnten sie wieder ungehemmt miteinander sprechen. Aber worüber? Tamun versuchte, sie aufzuheitern. »Sieh mal, es sind zwei kleine Wolken, die neben der großen, die wie Schlange aussieht, schweben.« »Gut, daß die Elfen weg sind«, meinte Melelki. »Sie sind ziemlich eigenartig, Mama.« »Tja, die ganzen Lieder, die wir unser Leben lang kennen, erzählen von ihrer Schönheit und Freundlichkeit.« Melelki schüttelte den Kopf. »Ich glaube, sie haben diese Lieder selbst geschrieben.« »Sie erinnern mich an Vögel, denn sie zucken und zappeln fortwährend und machen ängstliche Gesichter.« »Ja, als ob sie jeden Augenblick gefressen werden sollten«, lachte Melelki. Sie blieb stehen und sah sich um. »Vielleicht sollten wir hier unser Nachtlager aufschlagen.« Sie verließen die Straße und bahnten sich einen Weg durch die Büsche, deren Blätter im Dämmerlicht eher schwarz als grün aussahen. Sie fanden einen ebenen Platz zwischen den dichtstehenden Fichten und ließen sich dort nieder, fühlten sich aber unwohl. Während der letzten Nächte hatten die Elfen wärmende Feuer entzündet, sie vor dem Regen geschützt, Wache gehalten und sich um alles gekümmert. Heute waren sie ganz allein. Abwechselnd hielten sie Wache, um die lange Nacht gut zu überstehen. Jedes Geräusch erinnerte Melelki an Kalitas und mischte sich in ihre beängstigenden Träume, in denen sie durch die zerstörte Stadt wanderte, um einen alten Mann zu suchen. Sie suchte überall nach ihm, aber manchmal waren die Leichenhaufen so hoch, daß sie nicht darüber hinwegsehen konnte. 202
Erleichtert begrüßte sie den Morgen. Ohne den ununterbrochenen Regengüssen ausgesetzt zu sein, kamen sie gut voran. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als Melelki sich unbehaglich zu fühlen begann. Etwas Bedrohliches lag in der Luft. Es erinnerte sie an Kalitas und an die Reise zum Zufluchtwald. Sie blieb unvermittelt stehen, die Hand auf Tamuns Arm gelegt. »Was ist, Mama?« »Es liegt etwas in der Luft.« Tamun runzelte die Stirn und schnüffelte mit erhobener Nase. »Was denn?« »Ich weiß es nicht genau.« Plötzlich wußte sie es. Ihr Herz klopfte wild. »Orks«, flüsterte sie. Blitzschnell verließen sie die Straße und verschwanden zwischen den Bäumen. Sie gingen leise und so schnell wie möglich, damit der Wind ihren Geruch nicht zu den Orks hinübertrug. Als Melelki endlich nichts Verdächtiges mehr roch, hielten sie an, hockten sich hinter ein dichtes Gebüsch und hielten sich an den Händen. Sie wagten kaum zu atmen. In Gedanken malte Melelki sich aus, was sie tun wollte, wenn sie entdeckt wurden. Sie würde kämpfen, treten und beißen. Aber immer endete der Zusammenstoß unglücklich für sie. Also schüttelte sie den Kopf und beschloß, sich etwas anderes auszudenken. Die Sonne war zwei Handbreit weitergerückt, als sie zurück zur Straße schlichen. Dort war der Orkgeruch noch spürbar, wenngleich er schwächer geworden war. Fußabdrücke waren zu sehen. Unzählige. Sie führten nach Osten. »Da!« flüsterte sie. »Sie gehen zum Zufluchtwald.« »Oder zu den Purpurgipfeln.« Sie eilten die Straße entlang nach Westen und sahen sich immer wieder ängstlich um. 203
In der Ferne erblickten sie Teedmar und setzten ihren Marsch beim Licht des Mondes und der Sterne fort. Am Stadttor lächelte ihnen der Wächter zu und winkte sie hindurch. Tamun war der Schlüssel zur Stadt. Ihre Zeit war gekommen, und alle Männer beachteten sie. Alle, an denen sie vorübergingen, blieben stehen, runzelten verblüfft die Stirn und sahen ihnen mit verwirrtem Blick nach, als seien sie nicht sicher, weshalb sie stehengeblieben waren. Besonders den jungen Männern passierte es fortwährend, daß sie nicht merkten, warum Tamun sie so interessierte. In dem ersten Gasthof, den sie betraten, bot ihnen der Wirt ein beinahe kostenloses Zimmer und Essen an. Zwei Zwerginnen waren damit beschäftigt, Tische und Becher abzuwaschen. Sie sahen den alten Mann an, verdrehten die Augen und warfen Melelki und Tamun ein wissendes Lächeln zu. Frauen wußten gleich Bescheid. Und männliche Zwerge hatten schlichte Gemüter. »Folgt mir«, sagte der Wirt und führte sie die Treppe hinauf. Er warf den beiden kichernden Frauen einen bösen Blick zu. »Wir freuen uns, wenn wir es den Nachbarn aus dem Süden gemütlich machen können. Man sieht kaum welche von euch in Teedmar. Elfen und Menschen kommen hierher. Aber Verwandte aus dem Süden nicht.« Er zuckte die Achseln und sah Tamun liebevoll an. »Woher stammt ihr?« »Aus Tigaden.« Um deutlicher zu werden, warf Melelki ein: »Unweit von Kalitas.« Der Wirt knurrte unwirsch. »Verdammt sollen die Untiere sein! Und die Icatianer auch. Sie haben eine Armee. Warum wird sie nicht eingesetzt? Unsere Waffen brauchen sie, aber ist es ihnen egal, wenn man uns ausblutet? Ist das etwa richtig?« Er sah zu Tamun hinüber. »Wir kriegen sie schon. Jeden einzelnen kriegen wir!« »Deshalb sind wir hier«, antwortete Tamun. »Wir wollen mitkämpfen.« 204
Er hob die buschigen, rötlichen Brauen. »Sie werden euch schon nehmen. Suchen ganz verzweifelt nach Leuten.« Er schüttelte den struppigen Kopf. »Ich glaube nicht, daß das recht ist. Du solltest dich in Sicherheit befinden und Nachwuchs haben. Dich nicht in Gefahr begeben.« Melelki fragte sich, was der Mann denken würde, wenn er wüßte, wessen Nachwuchs Tamun zu haben beabsichtigte. »Tja«, meinte Tamun, »wenn wir aber nicht bald handeln, wird es keinen sicheren Ort mehr geben, an dem ich meine Kinder aufziehen kann.« Der Wirt seufzte tief und öffnete die Tür zu einem kleinen Zimmer. »Man wird euch in den Schmieden anstellen. Da brauchen sie immer fleißige Hände. Aber...« Seine Stimme bekam einen bittenden Unterton, als er Melelki ansah. »Laß sie nicht zu den Waffen greifen. Wir brauchen unsere jungen Frauen. Und zwar in Sicherheit.« Melelki sah den Schmerz und die Trauer in seinem Blick und fragte sich, wen er verloren haben mochte. Sie nickte. »Die Zeiten sind schlecht.« Immer wieder schüttelte er den Kopf. »Oh, sehr schlechte Zeiten!« Den nächsten Tag verbrachten sie mit der Suche nach Sekena. »Komm schon, Mama«, sagte Tamun, als es Abend wurde. »Morgen gehen wir zu den Schmieden und suchen uns Arbeit. Man braucht uns dort. Wenn Reod kommt...« Ihre Stimme schwankte leicht. »Wenn Reod kommt, wird er wissen, wie wir Sekena finden können.« Melelki schwieg und nickte nur, während sie alle Vorübergehenden hoffnungsvoll betrachtete, obwohl ihr das Herz vor Kummer schwer war. Am folgenden Morgen meldeten sie sich in aller Frühe bei den Schmieden, und man teilte sie zum Polieren der 205
Schwerter ein. Die schmutzige Arbeit war anstrengend und eintönig, und nach ein paar Stunden waren sie froh als sie Vorräte und Waffen auf die wartenden Wagen laden mußten. Allerdings war es nicht weniger mühselig, als Dracheneier zu schleppen, dachte Melelki erbittert. In der letzten Wochen hatte sich ihr Leben völlig verändert. Einst besaßen sie ein Haus und einen Keller voller Eier. Jetzt hatten sie nichts mehr. Und Sekena. Wo steckte sie? Melelki schüttelte die finsteren Gedanken ab. Sie würden auf Reod warten, wie Tamun es gesagt hatte. Sie würden warten und hoffen. Tamun und Melelki schleppten ein Bündel nach anderen aus der raucherfüllten Schmiede in den von Sonnenlicht erhellten Hof und dann durch das langgestreckte Lagerhaus, das zur Straße führte, wo die Wagen aus Icatia warteten. In diesen Bündeln steckten Schwerter. Wenigstens nahmen sie das an, nach den Geräuschen in der Schmiede zu urteilen. »Wir sollten ein paar davon für uns behalten«, hatte Melelki einen der Zwerge sagen hören. »Aber die Icatianer bezahlen gut!« »Nun, was nützt uns das ganze Geld, wenn die Orks und die Goblins hierherkommen? In Teedmar leben nur Zwerge, zu seiner Verteidigung. Und wir sind keine Krieger.« »Dann sollten wir das Kämpfen lernen, wie?« Seit Jahrhunderten waren die Menschen Freunde der Zwerge. Jetzt ging das Gerücht um, daß sie mit ihren eigenen Schwierigkeiten zu beschäftigt waren, um den Purpurgipfeln zur Hilfe zu eilen. Aber sie waren nicht zu beschäftigt, um Truppen nach Teedmar zu schicken, die Waffen abholten. So verärgert die meisten Zwerge darüber auch waren, Teedmar konnte es sich nicht leisten, keine Geschäfte zu machen. Die Zeiten waren für alle Völker hart, sag206
die icatianischen Offiziere. Und die Zwerge wiederIten ihre Worte leise und verbittert, wenn sie den sehen nachsahen, die mit ihren Waffen davongin-gen. Nachdem einer der Wagen beladen war, ging ein icatianischer Soldat darauf zu und prüfte nach, ob die hölzernen Türen geschlossen und verriegelt waren. Ein neben Melelki stehender Zwerg spuckte hinter ihm aus. anderer zog ihn zurück. Melelki vernahm ihr Flüstern. »Willst du sie uns zu Feinden machen?« »Ich kann nichts aus ihnen machen, was sie nicht schon längst sind.« »Solche Sätze werden sie vertreiben. Würdest du Freund helfen, der hinter dir ausspuckt?« sind nicht unsere Freunde. Sie gehen heute und nehmen die Waffen mit, die wir für sie angefertigt haben. Was ist, wenn morgen die Orks kommen?« »Die Menschen kehren zurück, wenn wir sie brauWenn die Zeiten wahrlich schlecht werden.« »Das sind sie doch schon.« »Du bist ein Narr!« »Du wirst mich nicht länger einen Narren schimpfen, wenn Teedmar in Trümmern liegt und die Menschen in Icatia bleiben. Dann wirst du gar nichts mehr sagen, Denn dann bist du tot.« Melelki und Tamun gingen zurück durch den Lagerauf die Schmiede zu. Als sie die Halle zur Hälfte durchquert hatten, kam ihnen ein Trupp zwergischer Soldaten entgegen. Sie wichen in eine Nische zurück, um ihnen Platz zu machen. Zwergensoldaten. Heute hatte Melelki sie zum ersten Mal aus der Nähe gesehen, die Zwerge, die sich zum Kampf ausbilden ließen und sich auf den Krieg vorbereiten. Melelki beschlich ein ungutes Gefühl. Wie viele von ihnen hatten erst vor kurzer Zeit ein Schwert ergriffen? Wer von ihnen hatte bisher Hühner gezüchtet, am 207
Amboß gestanden oder Kleider genäht? Wer hatte Verwandte in Kalitas gehabt? Melelki hatte nie geglaubt, daß sie erleben würde, daß Zwerge zu Schwertern greifen mußten, um gegen Goblins und Orks zu kämpfen. Goblins! Man mußte bloß mit einer Fackel fuchteln, und schon rannten sie davon. Und Orks waren noch größere Feiglinge. Früher jedenfalls. Auch hätte sie sich nie träumen lassen, daß es einmal eine Zeit geben würde, in der sie nicht wußte, wo sich Sekena aufhielt. »Wir finden sie«, flüsterte Tamun und legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. Gerade wollte sich Melelki mit tröstlichen Worten an. die Tochter wenden, als ihr ein seltsamer Geruch in die Nase stieg, der durch die Ritzen der Tür drang, die hinter ihr lag. Eigenartig und sehr vertraut, aber sie konnte sich einfach nicht entsinnen, woran er sie erinnerte. Sie probierte den Knauf, der sich herumdrehen ließ. »Mama, was machst du da?« Melelki öffnete die Tür und schlüpfte hindurch. Tamun folgte ihr und zog die Tür vorsichtig hinter sich zu. Ein paar hohe, schmale Fensteröffnungen ließen genügend Licht herein, um ihnen einen staubigen Lagerraum zu zeigen, auf dessen Boden Decken und Körbe lagen. »Ich rieche etwas.« »Mama, du hast vielleicht eine Nase! Eines Tages wird sie uns noch in Schwierigkeiten bringen.« »Hat sie das nicht schon?« »Was riechst du denn, Mama?« Melelki ging dem Geruch nach, der sie zur Wand führte. Sie kniete nieder und tastete den Boden davor ab. »Es kommt aus diesem Spalt«, erklärte sie und untersuchte den feinen Riß, der plötzlich abknickte und sich bei genauem Hinsehen als in den Boden eingelassenes Rechteck enthüllte. Eine Tür! Zuerst versuchte sie, die Tür nach unten zu 208
drücken, dann bemühte sie sich mit aller Kraft, die Finger unter den Rand zu stecken, um sie anzuheben. Beides war vergebens. »Verschlossen?« fragte Tamun. »Ja.« In der Wand, genau neben der Tür, befand sich eine kleine Öffnung, so groß wie ein Mauseloch. Dort war der Geruch am stärksten. Melelki zögerte, aber die Neugier war stärker als die Vorsicht. Außerdem paßte ihr Finger haargenau in das Loch. Sie tastete darin herum, fühlte Widerstand und drückte dagegen. Ein Klicken ertönte, und die Tür zu ihren Füßen hob sich ein wenig an, so daß Melelki sie bequem öffnen konnte. Hölzerne Sprossen führten in die Dunkelheit. »Mama!« »Laß uns nachsehen, was da unten ist.« Brennende Neugier hatte Melelki erfaßt. »Mama!« Melelki ertastete die oberste Sprosse mit den Zehen und belastete sie vorsichtig mit ihrem ganzen Gewicht. Dann ließ sie sich ebenso langsam zur zweiten Sprosse hinab. Tamun folgte ihr. Während sie in die Tiefe kletterte, zählte sie mit: Zehn, zwanzig, dreißig. Dreißig! Dann spürte sie festen Boden unter den Füßen. Es war stockdunkel. Das leise Geräusch ihrer Schritte verriet ihr, daß die Wände dicht beieinander standen. Sie taste sich vor und fand eine Laterne und einen Feuerstein. Nachdem es ihr gelungen war, den Docht der Laterne anzuzünden, blickte sie sich um. Sie standen in einem kleinen Raum. An den Wänden befanden sich aus dem Fels gehauene Regale. Die verschiedensten Waffen lagen darauf: Schwerter, Messer, Speere und andere, wie Stäbe aussehende Gegenstände, die sie noch nie gesehen hatten. Hier unten war der Geruch viel deutlicher wahrzunehmen. Melelki lächelte und tippte mit dem Finger auf die helle, steinharte Schneide eines Messers. 209
»Dracheneierschalen!« sagte sie. Tamuns Finger glitten über die Knäufe verschiedener Waffen, ehe sie ein Schwert ergriff und prüfend in der Hand wog. Melelki nahm sich ein langes Messer und die dazugehörige Scheide aus festem Leder. Ein altes zwergisches Sprichwort war in die Lederhülle gebrannt worden. Sie hielt die Scheide ins Licht und las die Worte laut vor. »Schneide nur das, was auch geschnitten werden soll, aber dann schneide tief genug.«
»Sie sind hervorragend gearbeitet, Mama. Nicht wie die Waffen, die wir den Icatianern verkaufen.« »Tja, hier liegen nur die besten Stücke.« Rings herum glänzten die Reste der Eierschalen. Sogar die Pfeile und Armbrustbolzen hatten Spitzen, die weiß leuchteten. Hier hätte sie ihre Dracheneier verkaufen können. Vielleicht wollten sie auch bloß die Schalen und hätten nicht gewußt, wohin mit den schlüpfenden Jungen. Sie schüttelte den Kopf. Nun ja, es war sowieso zu spät. Ihr Blick blieb an einem Griff haften, der aus dem Boden ragte. Noch eine Tür. Aber sie war nicht versteckt und von innen verriegelt. »O nein, Mama, wir sind schon weit genug vorgedrungen. Wir dürften gar nicht hier sein. Mama!« Aber Melelki war bereits dabei, die Tür zu öffnen. Sie schob das Messer in die Scheide und befestigte sie an ihrem Gürtel, um die Hände für die Laterne frei zu haben. »Wir arbeiten seit Stunden, oder etwa nicht? Wir machen nur eine Pause. Was glaubst du, was da unten ist?« »Mama, ich finde, wir sollten umkehren.« Die Tür öffnete sich, und im Licht der Laterne erblickten sie noch mehr Sprossen, die nach unten führten. »Sieh nur, wie tief es ist!« »Mama!« 210
Melelki machte sich an den Abstieg. »Nur ein kleines Stück«, erklärte sie Tamun. »Bloß eine kleine Pause von dieser ewigen Schlepperei.« »Wir dürfen diese Waffen nicht einfach mitnehmen, Mama.« »Dann legen wir sie auf dem Rückweg zurück. Wer sollte sie denn vermissen? Komm schon, Tochter, gehen wir auf Erkundungsreise.« Tamun seufzte verzweifelt, aber Melelki wußte, daß Sie es nicht ernst meinte. Schließlich hatte ihre Tochter einen Menschen erwählt. Das allein war Beweis genug, daß sie Melelkis ausgeprägte Neugier geerbt hatte. Am Fuß der Sprossen befand sich ein zwergenhoher Gang. In diesem schmalen Tunnel klangen die Geräusche anders, dumpf und erstickt. Die Decke befand sich dicht über Melelkis Kopf. Das Licht flackerte auf den grob aus dem Berg gehauenen Wänden und warf seltsame Schatten darauf. Sie schritten tapfer voran, in die Finsternis hinein. Man sagte, daß Menschen an Orten wie diesem von Platzangst befallen wurden und sie deshalb so wenig in Bergwerken arbeiteten und die besten Metallwaffen bei den Zwergen kaufen mußten. Was genau war Platzangst? Angst vor dem Eingeschlossensein? Melelki merkte nichts davon. Wenn sie daran dachte, wie hoch der Berg über ihnen aufragte, spürte sie freudige Aufregung in sich aufsteigen. Dieser Gang war für einen Bergwerksstollen zu schmal. Wahrscheinlich hatte man ihn vor sehr langer Zeit gegraben und verlassen, als er sich als nutzlos erwies. Aber wohin führte er? Das war ein spannendes Geheimnis. Nach geraumer Zeit fragte sich sogar Melelki, ob sie nicht lieber umkehren sollten. »Vielleicht«, sagte sie, und ihre Stimme wurde von 211
den Wänden zurückgeworfen, »sollten wir bald zurückkehren.« »Aber wir sind erst ein kleines Stück weit vorgedrungen. Wir haben bloß diesen Gang gesehen. Es muß doch noch mehr geben.« »Tja, dann gehen wir eben noch ein Stück weiter.« »Ja, nur ein kleines Stück.« Und so gingen sie weiter. Plötzlich hörten sie das Dröhnen. Sie blieben wie erstarrt stehen. Es klang dumpf und weit entfernt, schien aber gleichzeitig von allen Seiten zu kommen. Melelki und Tamun standen angespannt und unsicher da, jederzeit bereit, davonzulaufen. Aber wohin? Hinter ihnen brachen Steinbrocken aus der Tunneldecke und fielen krachend zu Boden. Das dumpfe Dröhnen steigerte sich zu einem ohrenbetäubenden Getöse. Melelki packte Tamun bei der Hand, und sie liefen, so schnell sie konnten, den Gang hinunter. Das Licht der Laterne flackerte heftig, erlosch aber nicht. Als der Lärm nach einer Weile nachließ, verlangsamten sie ihre Schritte. »Ein Erdbeben?« fragte Tamun atemlos. »Anscheinend.« »Wenn wir nur ein kleines Stück weiter hinten gestanden hätten! Mama, wenn...« »Ich weiß, Blume, ich weiß. Aber wir sind unversehrt.« »Wir können nicht zurück.« »Nein, aber der Gang muß irgendwohin führen. Er muß einfach!« Sie hoffte es inbrünstig. Also gingen sie weiter. Melelki war noch nie so dankbar für eine Laterne gewesen wie jetzt. Die flackernde Flamme erhellte die Wände und erinnerte sie daran, daß es noch genügend Luft zum Atmen gab. Und wo Luft war, mußte auch ein Ausgang sein. Nach einiger Zeit neigte sich der Gang, wurde aber 212
hinterher wieder eben. Außer ihren Schritten war nichts zu hören. Sie erreichten eine Weggabelung, von der aus ein neuer Gang in der Finsternis verschwand. Lange Zeit verharrten sie dort und versuchten, eine Entscheidung zu fällen. »Dies scheint der Hauptgang zu sein«, sagte Melelki. »Wir sollten ihm folgen. Er ist größer und besser ausgetreten.« Tamun kniete nieder und strich mit der Hand über den Boden. »Der Seitengang ist voller Staub.« Also setzten sie ihren Weg fort. Sie unterhielten sich wenig und achteten auf jede Veränderung des Ganges. Melelki wurde immer hungriger und durstiger. Tamun bestimmt auch. Aber wenn sie darüber sprachen, würde es sicher noch schlimmer; also schwiegen sie. Endlich führte der Gang aufwärts. Urplötzlich standen sie vor Sprossen, die nach oben führten und durch ein Loch in der Decke verschwanden. Nach oben. Sie sahen sich schweigend an, und Melelki machte sich an den Aufstieg, gefolgt von Tamun. Über ihren Köpfen befand sich eine Falltür, die bedeutend kleiner war als die vorherige. Melelki drückte dagegen. Schmutz rieselte herab, und schnell hielt sie die Hand schützend über die Laterne. Dann zog sie sich hoch, durch die Tür in einen kleinen Gang hinein. Als Tamun nachgekommen war, schlossen sie die Falltür wieder. Sie befanden sich in einem schmalen, mit Brettern verkleideten Gang. Dicke Spinnweben hingen überall in den Ecken, und Käfer krochen in den Erdhaufen zu ihren Füßen herum. Durch die Ritzen der groben Bretter drangen Licht und eigenartige Geräusche. Melelki drückte das Auge gegen einen der kleinen Schlitze und wich entsetzt zurück. Sie preßte den Mund gegen Tamuns Ohr und flüsterte kaum hörbar: »Goblins!« Tamun riß erstaunt die Augen auf. Melelki löschte 213
das Licht der Laterne und spähte noch einmal durch die Lücke zwischen den Brettern. Sie wußte, daß es Goblins in zwei verschiedenen Größen gab, aber erst jetzt, als sie die Kreaturen dicht vor sich und ohne Rüstung sah, erkannte sie, daß die weiblichen Goblins dunkler und größer als ihre Gefährten waren. Die meisten der Goblinweibchen hielten Junge an die Brust gepreßt. Ein Goblinnest - hier, so nah an der Stadt? Wußte jemand davon? Nun, bestimmt kein einziger Bürger Teedmars! Sie mußten zurückkehren und den Zwergen Bericht erstatten. Wenn die Stadtbewohner die durch das Erdbeben herabgestürzten Steine wegräumten, konnten sie hierherkommen und ... Und was? Natürlich würden sie das Nest zerstören. Sie sah noch einmal durch die Ritze. Goblins, grün und übelriechend und scheußlich. Teedmar mußte dafür sorgen, daß alle vernichtet wurden, damit sie sich nicht immer weiter vermehrten. Der Gedanke gefiel ihr nicht. Sie erinnerte sich an Lieder aus ihrer Kindheit, in denen angedeutet wurde, daß Goblins und Zwerge vor langer Zeit beinahe Freunde gewesen waren. Warum gab es nur die Wahl zwischen Freundschaft und Krieg? Ein Junges kroch von seiner Mutter weg und genau auf den Platz zu, an dem sie stand. Sie zog den Kopf zurück. Konnte man sie sehen? Bestimmt nicht. Aber sie waren so eigenartig - wer wußte schon, was sie sehen konnten? Egal wie gemischt ihre Gefühle auch waren, Goblins bedeuteten eine echte Gefahr, und sie mußten sofort nach Teedmar zurück. Leise schlichen sie den Gang an der Längsseite des Raumes entlang. Dann stießen sie auf eine Tür, die in einen breiteren Gang führte, in dem viel Unrat herumlag, der teilweise erst vor kurzem hierher geworfen worden war. 214
»Was jetzt?« flüsterte Tamun. Es wäre töricht, den größeren Gang zu betreten, wo sie jederzeit einem Goblin begegnen konnten. Ihr jetziger Aufenthaltsort wurde anscheinend nie von den Feinden betreten und war deshalb bedeutend sicherer. »Ich weiß nicht.« »Sollen wir zurückgehen?« »Aber der Tunnel ist doch eingestürzt. Es geht nicht.« »Vielleicht gelangen wir durch den Seitengang zurück.« »Oder verirren uns. Und was sollen wir essen und trinken?« Das Bedürfnis nach Nahrung und Wasser wurde immer dringlicher. »Wir müssen Teedmar von dem Nest in Kenntnis setzen«, flüsterte Melelki. »Goblins, und das so dicht bei der Stadt. Welches Unheil sie über Teedmar bringen könnten!« »Dann ... dann müssen wir da hinausgehen!« Melelki holte tief Luft, drückte Tamuns Hand und küßte sie sanft. »Wir schaffen es.« Sie hoffte es sehr. Leise und vorsichtig stahlen sie sich in den Gang und schlichen an der Tür des Raumes vorbei, in den Melelki vorhin geblickt hatte. Am Ende des Ganges befand sich eine Treppe nach oben. Behutsam setzte sie den Fuß auf die unterste Stufe und fragte sich besorgt, was sie dort oben wohl erwarten mochte. Wenn sie nur eine Waffe hätte! Dann schalt sie sich eine Idiotin und zog das Messer aus der Scheide. Tamun zückte ihr Schwert. Was für ungeschickte Kriegerinnen wir abgeben, dachte Melelki. Die Treppen bestanden aus unebenen Steinen. Mit klopfendem Herzen nahm Melelki die nächste Stufe. Ihr Verstand sagte ihr, daß ihr das Messer im Ernstfall überhaupt nicht nützen würde. Sie schob den Gedanken beiseite. 215
Zieht euch wieder in den engen Gang zurück, befahl ihr die Stimme der Angst. Und was dann? Wieder in die Sicherheit des ersten Ganges zurück? Um zu verhungern? Nichts da, sie mußten weiter. Bei jedem Schritt lauschte sie angestrengt. Von unten drangen die leisen Stimmen der Goblins und ihrer Jungen an ihr Ohr. Noch ein Schritt. Noch einer. Plötzlich sah sie einen winzigen Lichtfleck vor ihren Füßen. Tageslicht. Sie schaute nach oben und erblickte weit über ihrem Kopf ein kleines Loch in der Decke. Es gab einen Ausweg. Auf halber Höhe der Treppe schlichen sie an einer geschlossenen Tür vorbei, hinter der sie gedämpfte Stimmen und unverständliches Gerede vernahmen. Weiter, nur weiter. Endlich erreichten sie die letzte Stufe. Tageslicht strömte durch den Höhleneingang. Niemand war zu sehen, weder Wachen noch sonst jemand. Tageslicht und Freiheit. Hinter ihnen erklang ein Laut. Eine Frage, ein Ausruf und Geschrei. Melelki umklammerte ihr Messer und schrie: »Lauf!« Und sie liefen los. Die Nachmittagssonne blendete sie, als sie aus der Höhle stürmten, und sie nahmen die Goblins kaum wahr. Hinter ihnen steigerte sich das Geheul. Melelki blickte über die Schulter und versuchte, mit tränenden Augen etwas zu erkennen. Sie waren durch eine Horde von Goblins gestürmt. Die meisten von ihnen starrten sie einfach nur verwirrt und überrascht an, aber einige der Kreaturen hefteten sich an ihre Fersen. Die Straße, die sich vor ihnen erstreckte war steinig, aber frei. Sie trieben sich gegenseitig an und liefen immer schneller. Hinter sich hörte Melelki eine wahre Stampede kleiner Füße. Tamun verlangsamte ihr Tempo ein wenig, und Me216
lelki, die ihre Tochter kannte, wußte, daß Tamun langsamer lief, um bei ihr zu bleiben. Die Hitze ermöglichte es ihr, viel schneller rennen zu können als Melelki. Die Goblins holten auf. »Warte nicht auf mich!« stieß sie keuchend hervor. »Lauf!« Tamun schüttelte den Kopf, faßte nach der Hand der Mutter und zerrte sie weiter. Melelkis Angst trieb sie voran. Sie hätte nicht geglaubt, so schnell rennen zu können. Sogar Tamun rang jetzt keuchend nach Luft. Sie roch die Goblins schon, hörte das Kreischen und Schnattern, das Rascheln der zerlumpten Gewänder und das Klirren der Rüstungen und Waffen. Es war, als krabbelten ihr Ameisen den Nacken hinunter. Und wenn die Biester sie einholten? Was dann? Folter und Tod? Was sollte aus Sekena werden? Ihre Jüngste würde nie erfahren, was geschehen war. Es machte sie wütend, wenn sie überlegte, daß sie so weit gekommen waren und nun so elend sterben sollten. »Lauf weiter!« schrie sie Tamun zu. »Du mußt nach Teedmar. Hast du mich verstanden?« »Mama!« »Hast du verstanden?« »Mama!« »Sag, hast du verstanden?« »Ja!« Melelki befreite die Hand aus Tamuns Griff, blieb unvermittelt stehen und wirbelte herum, um der näherrückenden Horde ins Auge zu sehen. Sie hoffte, daß Tamun weiterlief. Die Goblins wurden langsamer und blieben dann verwirrt stehen. Gut. Jeder Augenblick, den sie die Horde aufhalten konnte, gab Tamun Vorsprung. Melelki schrie so laut sie konnte. Wut und Furcht vermischten sich in einem Schrei. Sie fuchtelte drohend mit dem Messer. Ein paar der Kreaturen wichen zurück. 217
Sie sprang vor - immer noch laut schreiend. Jetzt drehten sich einige der Goblins um und flohen. Andere blieben unsicher stehen. Aber ein paar kamen näher. Die wenigen Goblins, die Schwerter bei sich trugen, hielten sie so, als ob sie damit umgehen könnten, und die Waffen waren bedeutend länger als ihr Messer. Es gab kein Entkommen, aber vielleicht war es so am besten. Wenn sie im Kampf starb, konnte man sie nicht mehr foltern. Und sie würden nichts von ihr erfahren. Wild hieb sie mit dem Messer durch die Luft. Die bewaffneten Goblins zögerten - aber nicht lange. Bald war sie umzingelt. Das war es also. Sie würde Sekenas Hitze nicht erleben und nicht erfahren, ob Tamun es schaffte, nach Teedmar zu gelangen, und sie würde nie wissen, ob ihr Volk die schweren Zeiten überlebte. Als ihr bewußt wurde, wie nah das Ende war, überkam sie ein Frösteln und eine Woge von Trauer überspülte sie. Aber das ging vorbei, und plötzlich verspürte sie solche Wut wie nie zuvor. Sie fühlte sich, als habe auch sie die Hitze ergriffen. Was hatte sie schon zu verlieren? Gar nichts. Sie grinste die Goblins an, denn sie wußte, daß sie einige mit in den Tod nehmen würde. Sie näherten sich einander - die Goblins mit ihren langen, schlecht gearbeiteten Schwertern und Melelki mit dem glänzenden Messer aus der Schale eines Dracheneis. Egal was geschah, sie schwor sich, daß die Klinge in Kürze mit Goblinblut besudelt sein würde. Und dann blieb ein Goblin nach dem anderen stehen und starrte hoch zum Himmel. Melelki stolperte vorwärts und fühlte, wie ihr starker, süßer Rachedurst ins Wanken geriet. Verwirrt sah sie ihre Feinde an und blickte dann ebenfalls nach oben. Ein riesiger Schatten hatte sich vor die Sonne geschoben. Die Goblins drehten sich um und flohen. Alle. Wovor - vor einer Wolke? Sie waren ängstlich und feige, 218
aber doch nicht so! Wieder sah sie zum Himmel und erhaschte einen Blick auf ein grünes, geflügeltes Etwas. Ein Feuerstrahl ergoß sich über die fliehenden Goblins. Sie spürte die Hitze und wich taumelnd zurück. »Mama!« Tamun stand ein Stück hinter ihr und deutete nach oben. Die Goblins, die nicht in Flammen standen, rannten in die Höhle. Die übrigen heulten und rollten sich auf dem Boden herum, um die Flammen zu ersticken. Der Schatten kreiste über ihnen und schickte noch einen Flammenstrahl zu ihnen hinunter. Melelki spürte, wie ihre Knie weich wurden. Sie setzte sich auf den Boden. Tamun war schon bei ihr. »Mama? Haben sie dich verletzt? Mama?« Melelki konnte nicht sprechen. Sie starrte in den Himmel auf ihre jüngste Tochter, die lachend auf einem Wesen hockte, bei dem es sich nur um einen großen Drachen handeln konnte. Sekena schlug wütend auf den Nacken des Drachen ein, während ihr der Wind die Haare ins Gesicht wehte. »Runter habe ich gesagt, du dummes Biest!« Sie mußte schreien, um das Brausen des Windes zu übertönen und die Entfernung vom Rücken bis zu seinen Ohren zu überbrücken. Er kreiste gemächlich über dem Höhleneingang. Mama saß auf dem Boden, und Tamun hockte neben ihr. Was hatten sie ihr angetan? Sekena war verzweifelt. Wieder schlug sie auf den Drachen ein. Oben auf dem Berggipfel hatte sie das Gefühl gehabt, sie könnten sich miteinander verständigen. Sie hatte ihm von ihrer Mutter und ihrer Schwester erzählt und warum sie nach Teedmar gehen mußte. Er hatte sie aufgehoben und auf seinen Rücken gesetzt, wo die Schuppen einen unbequemen, aber brauchbaren Sattel bildeten. Dann verließ er den Gipfel, und sie klammerte sich 219
verängstigt an die Schuppen, während er über Berg und Tal flog. Was sie alles gesehen hatte! Die Welt war so klein Berge so klein wie schneebedeckte Maulwurfshügel, Straßen schrumpften zu Ameisenpfaden zusammen. Der Drache flog auf den Berg zu, von dem der Rauch aufstieg. Plötzlich hatte sie unter sich eine Horde Goblins erblickt, die zwei Gestalten jagte. Zuerst hatte Sekena geraten und dann - selbst aus dieser Höhe - Tamun und Melelki erkannt. Sie hatte dem Drachen zugerufen, tiefer zu fliegen, und er gehorchte, flog an Tamun und Mama vorbei, spuckte Feuer und setzte die Goblins in Brand. Jetzt waren die meisten dieser Kreaturen in der Höhle verschwunden. Die übrigen lagen verkohlt auf dem Boden. Einen Augenblick lang stieg ihr der Geruch verbrannten Fleisches in die Nase, und sie empfand Mitleid. Kalitas, murmelte sie vor sich hin, Kalitas. Was sie da unten sah, gehörte zum Krieg. Die Goblins hatten mit den Gewalttaten begonnen. Jetzt wurden sie für einiges von dem, was sie angerichtet hatten, bestraft. Aber vielleicht hatte Reod Dai auch Schuld daran. Wer weiß, was er ihnen alles beigebracht hatte? Trotz Tamuns Zuneigung zu dem Menschen vertraute Sekena ihm nicht ganz. Aber Reue? Nein. Sie würde alles tun, um die Goblins zu vernichten. Und die Orks. Als sie über die Untiere hinwegflogen und der Drache Feuer spuckte, hatte sie geglaubt, er wolle ihre Familie beschützen. Aber nun kreiste er über der Höhle und entfernte sich von den Zwerginnen. Sekena fühlte sich plötzlich ob seiner Absichten unsicher. In einem großen Bogen flogen sie noch einmal über die Höhle, dann über Felsen und Büsche bis zu der Stelle, wo Tamun und Mama saßen. Der Drache flog immer tiefer hinab. Sie hielt sich gut fest, und er warf 220
sich ruckartig zur Seite, ehe er landete. Mit gesenktem Kopf schnüffelte er am Boden, fand die verkohlten Überreste eines Goblins und begann genüßlich daran zu kauen. Sie hätte es wissen müssen. Der Drache wollte ihr weder helfen noch ihre Familie schützen. Er suchte nur nach einer kleinen Zwischenmahlzeit. Schmatzend verzehrte er seine Beute. »Ich steige auch ohne deine Hilfe ab, keine Bange«, meinte sie bissig. Von dem Platz auf seinem Rücken bis zum Erdboden maß die Entfernung ungefähr zweimal ihre Körperhöhe. Sie zuckte zusammen, schwang beide Beine auf eine Seite und machte sich zum Sprung bereit. Plötzlich hielt er ihr die Klaue unter die Füße, die Krallen gespreizt. Es sah aus wie ein kleines Podest. Sie ließ sich darauf hinabgleiten und umklammerte einen der schuppigen Zehen, als er sie vorsichtig auf den Boden setzte. Mit leicht zitternden Knien ging sie ein paar Schritte weiter. »Vielleicht bist du doch nicht so blöd wie ich dachte«, murmelte sie. Er hatte den ersten Goblin mit Haut und Knochen verschlungen und wandte ihr den Kopf zu. Die Zunge glitt vor und zurück, das Maul war mit Goblinblut verschmiert, und er zischte sie an. Sie verstand kein Wort. Zumindest redete sie sich das ein, drehte sich um und lief auf ihre Mutter und ihre Schwester zu. Sekena umarmte die beiden so fest sie konnte. Melelki zitterte. »Mama, geht es dir gut?« »Ja, mein Schatz«, antwortete Melelki und küßte sie. »Daß ich dich wiedersehe, wo ich schon glaubte ...« Sie sah stirnrunzelnd zu dem Drachen hinüber, der noch 221
einen verbrannten Goblin fraß. »Tochter, erzähl mir, wieso du mit...« Sie deutete auf den Drachen. »Tja«, meinte Sekena. »Ich weiß nicht so genau.« »Wo sind die kleinen Drachen?« warf Tamun ein. »Oben auf dem Berg, in der Höhle des Großen. Sie fangen gerade an zu fliegen. Sie konnten uns aber noch nicht folgen.« »Das da...«, sagte Mama und starrte wieder zu dem Ungetüm hinüber. »Was ist das?« »Ein Drache, Mama.« Melelki sah sie durchdringend an. »Sein Name besteht aus vielen Zischlauten. Ich kann ihn noch nicht richtig aussprechen.« Tamun blickte zur Höhle hinüber. Die Goblins lugten durch die Öffnung. »Wir sollten besser nicht hierbleiben.« Melelki nickte. »Wir müssen nach Teedmar zurück.« Der Drache kam auf sie zu. Sekena ging ihm entgegen, sog seinen Geruch ein und erklärte ihm, daß sie zur Stadt fliegen mußten. Er schien sie zu verstehen und war anscheinend einverstanden, sie alle hinzufliegen. Zumindest deutete sie seine Antwort als Einverständnis. Aber ihre Mutter weigerte sich, auf den Drachen zu klettern. »Mama, es ist völlig ungefährlich«, erklärte Sekena. »Und sehr schnell. Ich bin den ganzen Weg von unserem Berggipfel geflogen, der mehr als einen Tagesmarsch entfernt liegt. Wenn wir erst in der Luft sind, ist Teedmar nur noch wenige Minuten entfernt.« »Ich gehe gern zu Fuß.« »Ich auch«, bekräftigte Tamun und warf dem Drachen einen beunruhigten Blick zu. »Es ist gar nicht weit.« Sekena sah von einer zur anderen. Was war bloß mit ihnen los? Der Drache starrte zu ihnen hinunter. Die Pupillen in den goldenen Augen waren zu schmalen Schlitzen geworden. Er zischte. 222
Schnell wichen Melelki und Tamun ein paar Schritte zurück. »Keine Angst«, beruhigte sie Sekena. »So redet er nun -einmal. Er sagt...« Sie war sich nicht ganz sicher. »Er begrüßt euch.« Wieder zischte der Drache. Sie drehte sich zu ihm um. »Das reicht«, zischte sie zurück. »Jetzt hör auf, sie zu erschrecken.« Zisch.
»O ja, das bist du. Hör auf.« Sie blickte zu ihrer Familie hinüber. Tamun und Melelki starrten sie entgeistert an. »Was habt ihr denn?« »Du redest mit ihm?« fragte Mama. »Natürlich nicht. Das heißt, nicht so ganz.« »Und er versteht dich?« »Ich denke schon. Aber ich bin nicht sicher.« »Und du willst, daß wir auf ihm reiten?« »Nur ein kleines Stück.« Hinter ihr lachte der Drache. Sekena spürte, daß sie errötete. »Sei still!« zischte sie ihm zu. Hinter ihrem Rücken schoß eine ausgestreckte Klaue mit nach oben gekehrter Innenfläche hervor. Dies war die Geste des Friedens und bedeutete, daß er keine Waffen trug. Von einem Drachen, dessen einzelne Krallen so lang wie der Arm eines Zwerges waren, wirkte diese Geste völlig unglaubwürdig. Langsam erwiderte Melelki das Zeichen. Der Drache zischte erneut. »Und jetzt«, erklärte Sekena mit einem seltsamen Gefühl im Magen, denn diesmal war sie sich ganz sicher, »begrüßt er euch wirklich.« Das Gewicht der drei Frauen schien dem Drachen nicht viel auszumachen. Sie hockten zwischen den Schuppen auf seinem Rücken und hielten sich gegenseitig fest. 223
»Manchmal ist er ein bißchen glatt«, warnte Sekena. »Aber wenn ihr euch gut festhaltet, kann nichts passieren.« Dann breitete die riesige Kreatur die Flügel aus und stieß sich vom Boden ab. Sie wurden durchgeschüttelt, fielen aber nicht herunter. Sie flogen. Plötzlich wurde alles unter ihnen sehr klein. Die Bäume sahen wie Sträucher aus, die Berge wie Hügel. Sekena schrie dem Drachen etwas zu, fuchtelte mit den Händen und versuchte ihm zu erklären, wo Teedmar lag. Sie lächelte ihrer Mutter und Schwester beruhigend zu und hoffte, daß er sie verstanden hatte und nach Teedmar bringen würde. »Er fliegt in die falsche Richtung«, brüllte Melelki von hinten. »Du fliegst in die falsche Richtung«, wandte sich Sekena an den Drachen. »Nach Westen, der Sonne entgegen!« Aber er flog trotz ihres Protestes nach Süden. Erst als sie im Westen Rauch aufsteigen sahen, drehte er ab und flog darauf zu. Schließlich kam die Stadt in Sichtweite. Melelki heulte auf. »Oh, was ist denn hier geschehen?« Der Berg war mit schwarzen Steinbrocken bedeckt, von denen die meisten noch qualmten. Teedmar war verschwunden. Wo die Stadt gewesen war, am Fuß des Berges, lag jetzt ein schwarzer See. Entsetzen und Grauen überkamen Sekena. Was war mit der Stadt geschehen? Wo waren die ganzen Zwerge? In der Ferne sah sie eine zusammengewürfelte Gruppe Zwerge die Straße entlang wandern, die aus Teedmar herausführte. Der Drache flog tiefer hinab, kreiste über ihnen und landete. Er half den drei Zwerginnen mit der ausgestreckten Klaue beim Absteigen. Sie gingen auf die Zwerge zu. Diese wichen zurück. Manche versuchten, Kinder wegzutragen. Einige humpelten. Andere lagen auf dem Boden und wimmerten. 224
Sie würdigten die Zwerginnen keines Blickes, sondern starrten nur auf das Ungeheuer. »Wartet!« rief Melelki. »Er ist zahm«, fügte Sekena hinzu und hoffte, daß der Drache sie nicht verstanden hatte. Die Gruppe zögerte, sah aber immer noch voller Angst zu dem Drachen hinüber. Sie waren nicht in der Verfassung, schnell fortzulaufen. »Sagt uns, was in der Stadt geschehen ist«, forderte Melelki sie auf. »Vulkan!« stieß eine alte Frau hervor. »Der Berg flog in die Luft.« »Das haben die Orks getan!« rief eine wütende Stimme. »Orks und Goblins«, murmelte ein Mann mit düsterer Miene. »Nein, nein!« widersprach die Alte und humpelte näher. »Die haben dergleichen Magie nicht. Müssen Zauberer gewesen sein. Bestimmt die Schwarze Hand.« Mißtrauisch sah sie die drei Frauen an. »Wer seid ihr? Wieso kommt ihr auf einem Drachen daher?« »Meine Tochter hat ihn gezähmt«, erklärte Melelki, und der Stolz in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Die Alte trat so dicht vor Sekena, daß sie ihren Atem im Gesicht spürte. »Du hast einen Drachen gezähmt? Wie heißt du?« »Sekena«, antwortete sie leise und zwang sich zu einem Lächeln. Sie fühlte sich unwohl. Wenn er hörte, daß er angeblich zahm war - nun, sie glaubte nicht, daß es ihm gefallen würde. »Sekena«, wiederholte die Alte, die sie nicht richtig verstanden hatte. »Sekena, weißt du, daß meine Tochter heute umgekommen ist?« »Das tut mir leid«, sagte Sekena, die sich gar nicht gut fühlte. »Sie und ihre Kinder, alle fünf!« »Das ist schrecklich.« 225
»Wo sind alle anderen?« erkundigte sich Tamun. Die Alte blickte sie an. »Was glaubst du denn? Unter dem flüssigen schwarzen Feuer. Da drunter.« Sie senkte die Stimme. »Es gibt noch Suchtrupps. Sie hoffen auf Überlebende. Fast alle sind tot. Meine Tochter - wenigstens ist sie einen schnellen Tod gestorben.« Die Alte deutete auf einen großen Steinhaufen, der in einiger Entfernung lag. »Nicht wie diese dort. Mein Sohn ist auch dabei. Sie werden tagelang sterben, ganz langsam.« »Was meinst du damit?« fragte Melelki. »Einer der Stollen ist eingestürzt. Wir hören ihre Stimmen, aber es gibt keinen Ausgang mehr. Wir könnten weggehen und nach Gum gehen, wo wir Nahrung bekommen und in Sicherheit sind. Aber sollen wir sie allein lassen?« Sie schüttelte den Kopf. »Oh, Mutter«, stöhnte Melelki und ergriff die Hand der alten Frau. »Was für grauenhafte Zeiten.« Sekena blickte zum Eingang des Bergwerks hinüber. Dann sah sie den Drachen an, der die Zwerge ein wenig zu interessiert beobachtete. Sie ging zu ihm. Der große Kopf neigte sich zu ihr hinab, und die Zunge fuhr ihr über das Gesicht und den Hals und hinterließ eine duftende Schleimspur. »Oh, genau wie ein Hund«, sagte sie lächelnd und wischte sich ab. »Weißt du was, du warst heute wirklich - nun, wundervoll. Ich glaube, du verstehst mich besser, als ich dachte. Ich muß mich entschuldigen, weil ich dich unterschätzt habe. Nun ja ...« Zögernd streckte sie die Hand aus und streichelte ihn unter dem Kinn. Wieder erschien die feuchte Zunge, leckte ihr über die Hand und verschwand in dem riesigen Maul. »Nun ja«, begann sie noch einmal. »Da hinten ist diese Höhle. Und dann ist da noch der große Steinhaufen.«
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»Diese Narren hätten niemals Trulle für den Kampf züchten dürfen!« - Jherana Rure, Kommandeurin der Truppen zur Rebellenbekämpfung
Dicke Fensterscheiben, auf denen sich deutlich sichtbare geometrische Muster abzeichneten, ließen wenig Tageslicht ein und warfen graue Schatten an die dunklen Wände. An der Decke hielten sich raschelnde Schatten zwischen den Balken verborgen, die aus hellen Augen blinzelnd zu ihnen herabstarrten. Reod warf Eliza einen Seitenblick zu, als sie dem Zauberer folgten. Sie hielt sich tapfer, und ihr Gesicht verriet nicht, an was sie gerade dachte. Sie war die beste Stellvertreterin der Elite Icatias, die man sich wünschen konnte, sie bekämpfte erfolgreich ihre Angst und benahm sich, als sei nichts Ungewöhnliches geschehen. So hatten sich einige der Männer, die ihm zur Schwarzen Hand gefolgt waren, auch verhalten und hatten doch den Tod gefunden. Verführt von Reods leidenschaftlichen Worten über die Heuchler und Unfähigen, die Icatia regierten, folgten sie ihm und hofften, an seiner Seite ein besseres Leben führen zu können. Statt dessen standen sie den ungeheuren magischen Passionen gegenüber, die die Antriebskraft der Schwarzen Hand bildeten, und das war das Eigenartigste, was ihnen je begegnet war. Die meisten Leute hatten sich das Leben genommen, da sie nicht in der Lage gewesen waren, ihre starre 227
Denkweise zu ändern - obwohl sie Icatia verlassen hatten, um dergleichen Zwängen zu entkommen. Sie vergossen lieber das eigene Blut, als sich der Schwarzen Hand anzuschließen. Er hatte ihnen abgeraten, ihn zu begleiten. Sie hatten nicht auf ihn gehört. Und jetzt war auch Tamun nicht mehr am Leben. Mit besorgter Miene berührte ihn Eliza. Verstohlen schüttelte er den Kopf und wandte den Blick ab. Wenn hier, bei der Schwarzen Hand, Blut vergossen wurde, war es nicht vergebens - im Gegensatz zu Icatia. Als Reods Gefolgsleute starben, wurde jeder Blutstropfen sorgsam gesammelt, um die Fundamente von Achtep zu nähren. Es hieß, daß sogar die Steine jeden Eindringling bekämpfen würden. Und das stimmte. Reod hatte es mit eigenen Augen gesehen. Ein paar dieser Blutstropfen hatte man Reod geschenkt. Es war undenkbar, das letzte und größte Opfer seiner Leute zurückzuweisen, also hatte er es angenommen und ihre Kraft der seinen hinzugefügt. Damals war aus Robin Davies Reod Dai geworden. Und nun war Reod Dai zurückgekehrt. Sie wurden durch dunkle Torbögen in einen Seitenflügel geführt. In den kleinen Zimmern wohnten die Höhergestellten, die auf Betten und nicht auf dem Steinboden schliefen. Vor langer Zeit hatte auch er hier gewohnt, als er noch glaubte, die Taten der Schwarzen Hand würden den Völkern mehr Segen bringen als die Taten Icatias. Damals, ehe Genkr Nik beide Hände verloren hatte. Der Magier klopfte an eine Tür. Als sie geöffnet wurde, trat er schnell ein und winkte ihnen, ihm zu folgen. Reod betrat den Raum; Eliza hielt sich vorsichtig im Hintergrund. Dann schloß sich die Tür hinter ihnen. Im Laufe der Jahre hatte Reod die fünf Ecken Sarpadias bereist und viele Kulturen mit all ihren Eigenarten und Feinheiten kennengelernt. Unter anderem wußte er, 228
daß jede Rasse unterschiedliche Arten der Begrüßung pflegte. Menschen tauschten Nettigkeiten aus. Zwerge kamen unverblümt zur Sache und ließen den eigentlich Gruß oftmals ganz weg. Goblins beschrieben einander eingebildete Schätze. Sogar hier bei der Schwarzen Hand, diesem Schmelztiegel aller Rassen, die sich unter der Flagge Tourachs vereinten, haftete jeder Begrüßung ein besonderes Ritual an. »Hast du nicht zugehört? Habe ich dir mein schmerzlich erworbenes Wissen für nichts und wieder nichts mitgeteilt?« Am anderen Ende des Zimmers saß eine Gestalt auf einem Bett, lehnte sich gegen die Wand und bewegte sich ein wenig unter den dunklen Decken. Ein einzelnes, haselnußbraunes Auge - das rechte - blinzelte Reod aus einem gebräunten, narbigen Gesicht an, das von kurzen grauen Haaren eingerahmt wurde. Die Gestalt hob einen Arm, der am Ellenbogen endete. Reod sah seinen alten Lehrer an. »Ich habe zugehört.« »Dann wiederhole es.« »Ich bin nicht hier, um mich unterrichten zu lassen.« Genkr verzog das Gesicht. »Sag es! Ich helfe dir beim Anfang, du vergeßlicher Bastard: >Das Wichtigste, an das ich mich erinnern muß, wenn ich die Schwarze Hand verlasse ...< Jetzt bist du dran.« »>Ich darf nie zurückkehren< Ich habe es nicht vergessen.« »Und warum zur Hölle bist du dann hier?« »Ich wurde entführt. Auf deine Anweisung hin, wie ich annehme.« »Es gibt immer einen Ausweg. Man hat immer eine Wahl. Ein Seitenausgang. Du bist ein Idiot.« »Hast du meine Entführung befohlen oder nicht?« »Natürlich. Aber ich hoffte, du seiest klug genug, dich nicht hier sehen zu lassen.« 229
»Nun, dann sei enttäuscht, Genkr.« »Das bin ich.« »Laß uns gehen.« »Nein.« Das narbige Gesicht nickte Eliza zu, die während des Wortwechsels reglos dagestanden hatte. »Bedeutet dir dieses Ding etwas?« »Ja.« »Du sammelst sie wohl neuerdings, wie? Ich hörte, dir seien ein paar Zwerginnen abhanden gekommen.« Tamuns Gesicht erschien vor Reods geistigem Auge. Er bemühte sich, seine Miene und die Stimme ausdruckslos zu halten. »Ja.« »Wenn du hiergeblieben wärest, Reod, hätten wir dir so viele Sklaven gegeben, wie du hättest haben wollen. Sogar weibliche.« »Wenn ich mich recht erinnere, hast du meinen Entschluß unterstützt.« Unwillig verzog er den Mund. »Natürlich. Du warst hier nicht glücklich.« Reod lächelte bitter. »Ich bin jetzt auch nicht glücklich. Was soll das alles, Genkr?« Der Alte nickte. »Also gut, kommen wir zur Sache. Man berichtete mir, daß du seit deinem Weggang interessante Dinge unternommen hast. Davon können wir einige gut gebrauchen. Wir wollen Goblineier.« »Das wurde mir bereits gesagt. Euer Magier konnte mir keinen guten Preis bieten.« »Ich lasse dir keine Wahl.« »Es gibt immer eine Wahl.« »In der Tat. Aber bist du sie findest, erwarte ich von dir, daß du alles tust, was in deiner Macht steht, um jenen zu helfen, die es dir ermöglichten, überhaupt eine Wahl treffen zu können.« »Ich habe nicht vor, euch zu helfen.« »Fühlst du dich uns nicht länger verpflichtet?« »Nein.« 230
»Angst?« Reod schüttelte den Kopf. Genkr lachte. »Dann werden wir diesen icatianischen Misthaufen foltern, bis sie uns anfleht, das Opfer ihrer Seele anzunehmen und ihr einen schnellen Tod zu gewähren.« »Eine plumpe Drohung? Ich bin enttäuscht von dir, Genkr.« Genkr atmete tief durch und schien ein wenig verlegen zu sein. »Nun ja. Die Zeiten sind nicht gut. Wie lautet deine Antwort?« »Selbst die Geschaffenen arbeiten härter, wenn man ihnen Nahrung anstatt Schläge verspricht. Du mußt mich bestechen.« »Erfülle unsere Wünsche, und wir lassen dich und dein Haustier frei.« »Kein gutes Geschäft.« Genkr zuckte kaum merklich die Achseln. »Wir können auch wieder mit Drohungen anfangen, wenn dir das lieber ist.« »Zuerst laßt ihr mein Haustier frei und schwört, daß sie ungehindert nach Icatia reisen darf.« »Nein.« »Gebt mir einen Monat, meine Angelegenheiten zu ordnen.« »Wir brauchen dich jetzt. Die Zeit läuft uns davon.« »Bietet mir eine Menge Gold.« Eine Augenbraue hob sich. »Gold? Du hast dich in der Tat verändert, Reod Dai. Na gut, Gold. Soviel du tragen kannst.« »Pferde. Unbehelligte Reise. Dein Wort.« »Natürlich.« »Trullarbeiter für mich. Mein Arbeitszimmer muß hergerichtet werden.« »Natürlich. Es ist schon fertig und wartet auf dich.« »Dann bin ich einverstanden.« »Du wirst uns Goblineier geben?« 231
»Ja.« »Das freut mich. Es ist schön, dich wiederzusehen, Reod.« Hinter ihnen öffnete sich die Tür. Eine Gruppe Trulle mit schwarzen, gepanzerten Rücken stand vor ihnen. Die Panzer waren härter als Stahl, und ihre Krallen waren scharf genug, um ein Pferd damit aufzuschlitzen. Reod hatte auch das schon miterlebt. »Sie bringen dich in dein Zimmer«, erklärte Genkr. »Arbeite gut für uns, Reod.« »Habe ich das nicht immer?« Genkr knurrte. »Sei vorsichtig, Reod.« Reod verneigte sich leicht. »Ich bewahre deine Worte in meinem Herzen.« »Sehr vorsichtig.« »Immer.« Der Trull öffnete die Tür und betrat den kleinen Raum, den man Eliza und Reod zugewiesen hatte. Er hielt einen großen Teller mit Speisen in den knochigen Händen, auf dem alles fein säuberlich angerichtet war. Reod wußte, daß die Anordnung der Speisen jedesmal gleich war, damit sofort auffiel, wenn ein Trull sich erdreistete, etwas von den Nahrungsmitteln zu stehlen. Inzwischen hatte man den meisten Trullen das Stehlen ausgetrieben, aber dergleichen Traditionen hielten sich lange. »Komm näher«, forderte Reod den Trull in der Zweiten Tempelsprache auf, die von den Trullen verstanden wurde. »Tritt näher und steh bequem.« Bei den unerwarteten Worten erstarrte der Trull. »Setz das Essen auf den Tisch und schließe die Tür.« Der Trull gehorchte. Anschließend warf er sich auf den Boden und rollte sich zu einer Kugel zusammen, da er eine Bestrafung erwartete. »Nein, nein. Steh auf!« Er streckte sich ein wenig, so daß er Reod ansehen 232
konnte. Der auf dem Rücken liegende Trull sah aus wie eine zur Hälfte verspeiste schwarze Melone. »Verstehst du mich?« fragte Reod. Das Wesen nickte hastig. »Hör mir gut zu. Ich brauche zwanzig Trulle für meine Arbeit. Aber nur Trulle wie dich, die mich verstehen können. Für diese Arbeit bekommst du Kornkuchen.« Der Trull streckte sich langsam ganz aus, blieb aber auf dem Boden liegen. Normalerweise wurden die Trulle mit einem Brei aus Schimmelpilzen ernährt, der in große Tröge gekippt wurde und niemals ganz ausreichte, um alle zu sättigen. Kornkuchen galten als seltene Leckerbissen. »Komm bald wieder und bringe zwanzig der klügsten Trulle mit, die du finden kannst. Schaffst du das?« Der Trull stand langsam auf. »Jaaa.« »Gut. Bei Anbruch der Dämmerung bist du zurück. Nicht später. Denn viel länger halten sich die Kornkuchen nicht.« »Jaaa, will es tun«, sagte der Trull und verschwand. Dichtgedrängt saßen die Trulle Reod zu Füßen. Sie kauerten und rollten sich zusammen, um einander Platz zu machen. Genau wie in den Gruben, in denen sie schliefen. Eliza hockte auf ihrem Bett und hatte die Beine angezogen, um sie außer Reichweite der Trulle zu halten. Das war die einzige Geste die verriet, daß sie sich unwohl fühlte. Vor Reod saß eine bunte Mischung der Geschaffenen. Einige waren bewaffnet, einige waren schwarz, bei anderen hoben sich Adern unter der blaßlila Haut ab, die ihnen ein zerbrechliches Aussehen verlieh. Aber Reod wußte, daß dieser Eindruck täuschte. Er nickte und ließ den Blick über die Trulle gleiten. »Ich weiß, daß die meisten von euch keine Namen 233
haben, daher werden wir, ehe wir mit der Arbeit beginnen, etwas spielen.« Mit ausdruckslosen Mienen, die sie immer aufsetzten, um ihre Herren nicht zu verärgern, starrten sie ihn an. »Ich habe Kornkuchen für euch alle.« Die Augen weiteten sich ein wenig; ein paar der Wesen blinzelten. Münder verzogen sich. Hälse wurden gereckt. »Ich erkläre euch die Spielregeln. Du ...« Reod deutete auf den Trull, der ihm vor einigen Stunden das Essen gebracht hatte. »Du fängst an. Du suchst einen deiner Gefährten aus und gibst ihm einen Namen. Dafür bekommst du einen Kuchen. Dann wird der von dir Erwählte jemand aussuchen, ihm einen Namen geben und erhält auch einen Kornkuchen. So fahren wir fort, bis ihr alle einen Namen und einen Kornkuchen habt.« Das waren gleich zwei Neuerungen: Namen und Essen, um das sie nicht kämpfen mußten. Er verlangte viel von ihnen. »Aber«, meinte der erste Trull leise. Die Trulle, die sprechen konnten, redeten stockend und unsicher. »Ja?« »Aber. Was ist ein Name?« »Irgendein Wort. Ein Wort, daß euch gefällt. >Stein< oder >Baum<. Auch >Freund< oder eine Eigenschaft wie >klug<. Ich fange an und nenne dich >Flink<, weil du diese anderen Trulle so schnell hergebracht hast. Jetzt mußt du deinem Namen Ehre machen und einen deiner Gefährten auswählen und benennen.« Flink berührte den neben ihm stehenden Trull. »Freund«, sagte er. Reod hielt einen Kornkuchen in die Höhe. Die Augen aller Trulle folgten ihm. »Hier wird nicht gestritten«, erklärte Reod. »Ihr seid hier nicht an den Trögen, sondern werdet euch benehmen. Habt ihr verstanden?« Sie nickten eifrig. Er reichte Flink den Kuchen, der ihn 234
hastig in den Mund stopfte und genüßlich kaute. Alle beobachteten ihn. Jetzt hatten sie verstanden. »Winzling«, sagte Freund, deutete auf den kleinen Trull neben sich und griff nach seinem Kuchen. »Schnarcher!« rief Winzling. Noch ein Kuchen. »Ißt-mein-Essen«, sagte der Nächste, und Reod glaubte, ein Kichern zu hören. Schließlich hatten alle Trulle einen Namen und einen Kuchen bekommen. Erst als der letzte Krümel vertilgt war, sprach Reod weiter. »Ihr arbeitet hart für eure Herren. Das gehört sich auch so, denn ihr seid die Geschaffenen, und sie haben euch erschaffen. Ohne sie würdet ihr nicht atmen.« Er machte einen Schritt zur Seite, und alle sahen ihn gespannt an, da sie von Anfang an darauf gedrillt wurden, immer aufmerksam zu sein. »Man hat euch gesagt, daß ihr euren Herren Dank schuldet, weil sie euch das Leben schenkten - und das ist in der Tat der Fall. Aber es ist auch eine Tatsache, daß ihr die Kinder der Schwarzen Hand seid und durch die Berührung der mächtigsten Magier ins Leben gerufen wurdet. Ihr seid etwas Besonderes. Die meisten Wesen wurden von ihresgleichen geboren, aber ihr wurdet geschaffen - mit größter Sorgfalt und Mühe geschaffen. Kein Elternteil kämpfte härter darum, seine Kinder in die Welt zu setzen als jene, die euch schufen.« Die Mienen der Trulle veränderten sich. Sie sahen verwirrt und ein wenig ängstlich aus. Es war nicht gut, etwas Besonderes zu sein. Wenn man bei der Schwarzen Hand als >etwas Besonderes< bezeichnet wurde, bedeutete das meistens nichts Gutes und war ein böses Vorzeichen. »Also seid euren Herren dankbar, die euch zu dem machten, was ihr seid.« Das hörte sich wieder besser an. Sie waren daran ge235
wohnt, die Gründe für den von ihnen erwarteten Gehorsam zu erfahren. »Seid stolz auf euch. Denkt ihr, so etwas wie euch gäbe es alle Tage? Ihr seid selten! Was selten ist, ist auch kostbar.« Die Trulle suchten nicht einmal mehr auf dem Boden nach Krümeln, da Reods Worte und sein Tonfall sie fesselten, und gespannt warteten sie auf das Ende dieser eigenartigen Rede. »Man hat viel von euch verlangt«, fuhr er fort. »Viele von euch mußten zum Ruhme Tourachs große Opfer bringen. Fragt ihr euch, was noch auf euch zukommt?« Er legte eine Pause ein. »Wißt ihr, wer ich bin?« Die meisten Trulle nickten. »Ich bin Reod Dai. Ich bin einer der Magier, die euch zum Leben erweckten. Daher seid ihr auch meine Kinder. Ich kenne die Pläne eurer Herren. Hört mir gut zu: Ich kehrte zur Schwarzen Hand zurück, weil eure Herren wollen, daß ich Goblineier für euch mache. Für euch. Aber ich will nicht.« Allgemeine Verwirrung. »Was sind Goblineier? Es sind Eier aus Metall und Keramik, die so groß sind, daß man sie euch auf den Rücken schnallen muß, damit ihr sie tragen könnt. Wenn sie aufbrechen, geschieht es mit Donnergetöse. Und sie fressen alles auf, was in der Nähe ist.« Die Trulle lauschten voller Spannung. »Was fressen sie? Alles. Bäume. Gras. Erde. Sogar Goblins. Stellt euch vor, dieser Raum sei viermal so groß wie jetzt. So viel fressen die Eier auf, ehe sie satt sind.« »Und was schlüpft aus den Eiern? Nichts. Man führt Krieg mit ihnen. Sie enthalten kein Leben; sie bringen den Tod.« Kein Trull rührte sich. Sie schienen den Atem anzuhalten. »Es gibt viele, viele Goblins. So viele, daß es den 236
Goblinherrschern völlig egal ist, wenn sie zu Hunderten im Kampf sterben. Jeder Goblin trägt ein Ei zu den Feinden hinüber. Wenn es aufbricht, sterben viele Feinde. Da aber nur ein Goblin stirbt, halten die Herrscher es für eine gute Sache. Aber dem Goblin werden die Gliedmaßen abgerissen, Blut und Haut lösen sich in Rauch auf. Hört zu.« Niemand bewegte sich. »Von Anfang an hat man euch gesagt, ihr wäret dumm. Ich habe Goblins in der Kriegskunst unterwiesen und kann euch sagen, daß ihr klüger seid als sie. Man hat euch auch gesagt, daß ihr euren Verstand nur benutzen sollt, um euren Herren zu dienen. Ich sage euch, daß es an der Zeit ist, euch zu fragen, was eure Herren von euch verlangen. Denkt daran, wie die Goblineier euch auffressen werden. Bald seid ihr alle tot.« Ein Trull stöhnte kaum hörbar, schwieg aber sofort wieder. Reod ließ ihnen Zeit zum Nachdenken und sah jedem einzelnen Trull in die Augen. »Aber warum? Warum sollt ihr sterben? Ihr, die ihr doch etwas Besonderes seid! Ihr, die ihr anders als alle anderen Wesen seid! Ihr seid die Geschaffenen! Meine Kinder!« Er senkte die Stimme. »Ihr sollt nicht sterben. Ich biete euch einen Ausweg.« Hoffnung keimte in ihnen auf. »Im Süden greifen die Goblins Zwerge und Menschen an. Aber was geschieht, wenn sie sich statt dessen gegen eure Herren wenden? Bei einer solchen Bedrohung würden euch eure Herren dringend benötigen. Einige von euch würden mehr Verantwortung tragen dürfen als je zuvor und die Gelegenheit bekommen, Pläne für die Rebellion gegen eure Herren zu schmieden.« Erstauntes Keuchen. »Wir werden bestraft«, sagte Schnarcher mit weit aufgerissenen Augen und schüttelte den Kopf. 237
»Ja, wenn nur wenige von euch es wagen. Ihr müßt zusammenhalten, wenn ihr am Leben bleiben wollt, sonst wird man euch nacheinander nehmen, euch Goblineier aufbürden und zu den Feinden schicken. Dann werdet ihr sterben.« »Aber!« meldete sich ein junger Trull namens Quieker. »Wenn nicht gehorchen, Strafe folgt.« »Ihr müßt entscheiden, ob ihr ein Wagnis eingehen wollt, um euer Leben zu retten. Es ist ganz einfach: Ungehorsam oder Tod.« »Aber!« rief Quieker erregt. »Gegen die Herren? Niemand es getan hat!« »Östlich von hier, im Zufluchtwald, gibt es die Thallide. Es sind Pilzwesen, von ihren Elfenherren geschaffen, um als Nahrung zu dienen. Die Thallide sind mit euch verwandt und wurden durch Verstand und Magie ins Leben gebracht. Seid ihr weniger mutig als ein Wald aus Pilzen?« Die Trulle tauschten verstohlene Blicke aus. Einer kaute so lange an seiner Lippe, bis sie blutete. »Ich werde euch helfen«, verkündete Reod mit freundlicher Stimme, »wenn ihr mir helft.« Er warf einen Blick zu Eliza hinüber. »Helft meiner Freundin und mir, vor der Schwarzen Hand zu fliehen. Dann schicke ich die Goblins hierher, um eure Herren zu bedrängen. Kämpft um euer Leben. Zeigt mir, was ihr könnt, und dann schicke ich euch Waffen.« »Ist zu schwer für uns«, warf Ißt-mein-Essen ein. »Wir können nicht. Nicht ohne dich.« »Doch, ihr könnt. Hört zu: Ihr braucht drei Dinge. Anführer: Wählt eure Anführer jetzt sofort und folgt ihnen. Sie sind eure neuen Herren. Mut: Bisher habt ihr darauf gewartet, für eure Herren zu sterben. Ihr seid sehr mutig. Jetzt müßt ihr diesen Mut mit euren Brüdern teilen. Schnelligkeit: Trefft schnelle Entscheidungen und handelt rasch. Beseitigt jene, die sich euch widersetzen, auch wenn es eure Brüder sind. Nennt sie 238
Verräter. Sorgt dafür, daß sie die ersten sind, die sterben.« Er schwieg und ließ ihnen Zeit, über seine Worte nachzudenken. Reod wußte, daß er ihnen viel zumutete, ihre Gedanken in neue und ungewöhnliche Bahnen lenkte und sie zu schweren Entscheidungen zwang. Die Zeit drängte, und sie durften nicht lange überlegen. Sie mußten bald handeln, so lange ihm die Anhänger Tourachs noch vertrauten. Zu seiner Zeit war die Schwarze Hand ein Ort gewesen, wo alles drunter und drüber ging, wo die Trulle nicht redeten und ihre Herren nicht zuhörten. Noch bestand die Möglichkeit, daß er mit Eliza fliehen konnte, ehe man seine Pläne aufdeckte. »Aber!« meldete sich Quiek noch einmal zu Wort. »Es nicht geht. Wer hat je gegen die Schwarze Hand gewehrt?« Reod sah, wie sich Hoffnung und Angst auf den Gesichtern der Trulle spiegelten. »Ich habe mich gegen sie gestellt«, sagte er leise. Reod wußte nicht, wie lange er geschlafen hatte, aber als die Tür krachend aufflog, wurde ihm klar, daß es nicht lange genug gewesen war. Er hütete sich, Gegenwehr zu leisten, als man ihm Hand- und Fußketten und einen eisernen Halsring anlegte. Diese Fesseln blieben ganz besonderen Gefangenen vorbehalten. Magiern. Wenigstens schätzten sie ihn als sehr gefährlich ein. Wenn seine Magie doch nur halb so stark wäre, wie sie befürchteten! Er wurde auf den Boden gestoßen, und die Geweihten, die ihn umringten, stimmten einen Opfergesang an, während sie ihn durch die Gänge schleiften. Das Lied war sowohl dem Ruhme Tourachs als auch dem Opfer, das zum Altar geschleppt wurde, gewidmet. 239
Aus Erde sind wir und zu Erde werden wir. Laß unseren Tod deinem Ruhm und deiner Ehre dienen. Oh, Tourach.
Eine Tür wurde geöffnet, und man schleuderte Reod in den dahinterliegenden Raum. Das Gewicht der Ketten drückte ihn auf die Steinfliesen, und mit zerkratzten Händen und Knien landete er vor den Füßen Genkr Niks. »Du hättest besser daran getan, meine Worte zu beherzigen.« Also hatten die Trulle geredet. Jemand hatte geplaudert, und jemand hatte zugehört. Er hatte sie zu schnell zu weit treiben wollen. Jetzt mußte er dafür büßen. Mit Mühe hob Reod den Kopf und zwang sich zu lächeln. »Es war mir einfach nicht möglich.« »Die Sache ist ernst, Reod.« »Das habe ich gemerkt«, antwortete er und klirrte mit den Ketten. »Du bist ein noch größerer Idiot, als ich angenommen habe. Dafür wird der Rat dein Blut und deine Knochen verlangen.« »Das will der Rat doch immer.« »Diesmal ist es wirklich ernst.« Genkrs Stimme klang sanft und wirkte dadurch viel bedrohlicher. Reod seufzte. »Nun, ich hielt es für eine gute Idee.« Anscheinend hatte er sich geirrt. Was würde mit Eliza geschehen? Noch ein Leben, das er nicht schützen konnte? »Du hast dich geirrt.« »Ich kann immer noch Goblineier für euch machen«, erklärte Reod mit gespielter Zuversicht. »Aber ihr müßt die Frau verschonen.« Genkr schüttelte den Kopf. »Sie ist hübsch, aber nicht 240
hübsch genug. Ihr Blut ist uns wichtiger als ihr Körper.« Zuerst Tamun und ihre Familie. Jetzt Eliza. So viele Tote, die er auf dem Gewissen hatte. »Ich kann euch viel mehr als nur Goblineier anbieten, Genkr.« »Das glaube ich dir. Wir bekommen alles, was wir wollen. Das weißt du doch, Reod. Ich wollte es nicht selbst tun, aber ich bin der Beste. Das weißt du ebenfalls, nicht wahr? Vielleicht findest du es recht interessant, es einmal von der anderen Seite aus zu erleben.« Die Hand verfügte über unzählige Foltergeräte und Methoden, um den Gefangenen ihre Geheimnisse, den Verstand und das Leben zu nehmen. Er hatte hin und wieder zugesehen und auch dabei geholfen. Hinterher blieb nichts außer dem Körper übrig. Das Gehirn wurde geöffnet und in Einzelteile zerlegt. Es war ein Todesurteil. Ein sehr unangenehmes Todesurteil. »Goblins und Orks kennen mich«, sagte Reod. »Ich kann sie dazu bringen, jeden anzugreifen, ganz wie ihr es wünscht.« »Aber wir vertrauen dir nicht mehr.« Der grauhaarige Kopf wiegte sich hin und her. »Bist du im Laufe der Jahre völlig verblödet? Ich weiß nicht, warum ich dir überhaupt jemals etwas beigebracht habe.« Genkr seufzte und strafte damit seine Worte Lügen. Ein kalter Schauer überlief Reod, als er die kummervolle Miene seines alten Lehrmeisters bemerkte. »Du wärest verrückt, wenn du mich töten würdest, Genkr. Mein Tod bringt dir keine Vorteile.« »Unter normalen Umständen würde ich dir zustimmen, aber jetzt... Nein. Der Rat hält dich für zu gefährlich, um uns von Nutzen zu sein, und ich kann ihm nicht widersprechen. Die Entscheidung ist gefallen. Ich kann nichts mehr für dich tun.« Mit kaum hörbarer Stimme fügte er hinzu: »Es tut mir leid.« 241
Der Schmerz war erträglich. Aber Reod spürte, wie er langsam stärker wurde. Mehrere Dutzend Fleischkäfer hatten sich in ihn verbissen. Noch ritzten sie die Haut nur auf. Es waren junge, noch schwächliche Käfer. Während sie sich langsam tiefer in sein Fleisch gruben, würden sie an Kraft gewinnen und fester zupacken, bis sie sich schließlich bis auf die Knochen durchgekämpft hatten. Wenn das geschah, war er bestimmt nicht mehr in der Lage, es zu spüren. Genkr stand neben ihm. Reod war so gefesselt, daß er den Kopf nicht drehen konnte, um seinen alten Lehrer anzusehen. Er erinnerte sich daran, wie Genkr ihm während des Folterunterrichts gesagt hatte, daß der Schmerz nie wahllos zugefügt werden durfte. Arme, Finger, Oberkörper und Kopf waren an das aufrechtstehende Brett gefesselt. Er konnte sich nicht rühren, aber die Fesseln verursachten ihm keine Schmerzen. »Deine Wahrheit ist ein schwacher Schatten«, sagte Genkr Nik. »Du glaubst an Dinge, die dir nichts nützen. Ansonsten wärst du nicht hier.« Der Trull, dessen Arme Genkrs fehlende Gliedmaßen ersetzten, beobachtete die beiden aufmerksam. Es war ein Ringtrull. Sein Hals war mit farbigen Ringen bemalt, die ihn als wertvollen Trull kennzeichneten. Man hatte ihn für die feinsten Arbeiten ausgebildet. Arbeiten, wie sie hier in diesem Raum ausgeführt werden mußten. Ringtrulle hatten keinen Mund, damit sie nichts von dem, was sie erlebten, ausplaudern konnten, aber sie hatten lange, schlanke Finger. Sie waren auf ganz besondere Weise an ihre Herren gefesselt: Ein seltenes Kraut erhielt sie am Leben. Wenn sie es nicht bekamen, wurden sie von Krämpfen ergriffen und starben einen langen, qualvollen Tod. Bei der gestrigen Versammlung waren keine Ringtrulle anwesend gewesen, aber das hatte Reod auch nicht erwartet. Die ungewöhnlich großen Augen des Trulls schienen 242
überall gleichzeitig hinsehen zu können. Genkr nickte ihm zu, und der Trull drehte die Kurbel ein kleines Stück herum. Ein lautes metallisches Klicken ertönte, und die Seitenwände des Kastens rückten dichter zusammen. Die langen Nadeln näherten sich Reods Gesicht. »Wahrheit?« fragte Reod. »Wollen wir das hier und jetzt besprechen?« »Wir besprechen, was ich für richtig halte«, erwiderte Genkr ruhig. Reod bemühte sich, gleichmäßig zu atmen, aber er konnte nicht verhindern, daß ihm der Schweiß über das Gesicht, den Hals und die nackte Brust lief. Er schauderte. Auch konnte er die Augen nicht von den spitzen Nadeln abwenden, die in den Seitenwänden des Kastens steckten, der um seinen Kopf herum angebracht war. Bei jeder Umdrehung der Kurbel rückten sie ein wenig näher, bis sie irgendwann in seine Augen, die Nase und den Mund eindringen würden. Noch ein Klicken. »Erzähl mir von der Wahrheit, Reod Dai.« Reod holte tief Luft, spürte, wie die Fesseln enger wurden und wie die Fleischkäfer ein wenig fester zubissen. »Wenn ich auf einem Berg stehe«, antwortete er, »scheinen die Wolken einen Teppich zu meinen Füßen zu bilden. Stehe ich an der Küste, formen sie ein weißes Dach über meinem Kopf. Aber immer sind es die gleichen Wolken.« Genkr schnaubte verächtlich. »Und was ist jetzt mit diesen Wolken?« Die Nadeln würden ihn nicht sofort töten. Er würde hier stehen, mit Nadeln im Mund, in der Nase, in den Augen. Aber er würde nicht sterben. Jedenfalls nicht sofort. Reod versuchte zu grinsen, aber er fühlte, daß es ihm mißlang. »Warum reden wir darüber?« 243
»Ehe du mir alles erzählst, was du weißt, möchte ich wissen, warum du versucht hast, die Geschaffenen gegen uns aufzuhetzen. Dann werde ich dir zeigen, wie dumm du gehandelt hast.« Genkr nickte, und der Trull näherte sich Reod mit einem Topf, aus dem er einen Käfer zog und ihm auf die Lippen setzte. Weitere Käfer landeten auf seiner Brust und zwischen den Zehen. »Du hast diese Maschine schon in Gebrauch gesehen«, fuhr Genkr fort. >Genial< hast du sie einst genannt. Erinnerst du dich daran?« Reod spuckte aus und versuchte, den Käfer von der Lippe zu schütteln. Das Tier klammerte sich fest und biß zu. Er unterdrückte einen Schmerzensschrei. Laß dir nichts anmerken.
Das hatte man ihn in Icatia gelehrt. Völlig nutzlos. »Ich glaube, du wolltest mich damals mit deiner Kaltblütigkeit beeindrucken, nicht wahr? Sogar als wir den Kasten schlossen und nur noch das Blut sahen, das dem Mann über die Brust lief. Erinnerst du dich an seine Schreie? An sein Flehen? Und dann gestand er. Obwohl es uns nicht interessierte, ließen wir ihn seine Worte unzählige Male wiederholen, denn er konnte wegen der Nadeln nicht richtig sprechen. Aber er gab sich große Mühe, und das Blut floß in Strömen. Du hast dich nicht ein einziges Mal abgewandt. Wolltest du mich beeindrucken?« »Ja.« »Ich kenne dich, Reod. Ich weiß, wann du die Wahrheit sprichst und wann du einfach aufgibst. Jetzt machst du Letzteres.« Er nickte dem Trull zu, der einen der Käfer von Reods Bein abriß und dabei ein Stück Haut mitnahm. Reod schrie auf. Der Trull untersuchte den Käfer und setzte ihn dann in Reods Kniekehle. »Keine Lügen, Reod.« »Keine Lügen«, wiederholte er hastig. 244
»Du hast einen Fehler begangen, nicht wahr? Deshalb bist du hier. Stimmt's?« Der Schmerz nahm zu. »Hast du einen Fehler begangen?« Die Kurbel wurde gedreht. Ein Klicken. Jetzt waren die Nadeln so nahe, daß er sie nicht mehr richtig sehen konnte. Stück für Stück würden sie ihn durchbohren. »Ja!« keuchte er. Ein Käfer wurde ihm von der Brust gerissen. Er schrie. »Ist das die Wahrheit?« Genkr befühlte die Stelle, an der der Käfer gesessen hatte. »Langsam dringen sie tiefer ein. Möchtest du noch ein paar haben?« Egal was er sagte, Genkr würde tun, was er für richtig hielt. Reod versuchte, den Gedanken an die Nadeln zu verdrängen. Jede Stelle seines Körpers schmerzte. Es fiel ihm schwer, überhaupt noch klar zu denken. Aber das war inzwischen nicht mehr wichtig. Es gab keine Gedanken mehr, nur noch Schmerzen. »Möchtest du mir sagen, wie man Goblineier macht?« fragte Genkr. »Das wäre der erste Schritt zu einem schnellen Tod. Wenn du mir die Wahrheit sagst und alles genau beschreibst.« Es kam nur auf seine Antwort an. Wenn er schwieg, würde er länger leben und noch mehr Qualen erleiden. Wenn er die Wahrheit sprach, würde Genkr vielleicht Wort halten und ihn erlösen. Natürlich würde seine Antwort den Lauf der Kriege verändern. Die Schwarze Hand würde siegen. Wollte er das? Er war sich nicht sicher. »Wo ist er, Genkr? Wo ist der Seitenweg jetzt?« »Ich werde dich vermissen, Reod.« Reod schluchzte auf. »Der Schmerz, den du jetzt empfindest, ist nichts im Vergleich zu dem, was noch folgen wird. Das weißt du doch, nicht wahr?« Genkr redete mit ihm, aber Reod konnte sich nicht konzentrieren. Er wußte auch nicht, was er sagen sollte. 245
»Weißt du, daß der Schmerz noch schlimmer werden wird? Antworte!« »Ja,, ich weiß es.« »Gut. Also liegt noch viel vor uns. Ja?« »Ja.« »Ich kann es dir leicht machen, wenn du alle Fragen ehrlich und ausführlich beantwortest. Verstehst du das?« »Ja.« »Gut. Ich glaube, ich kann deinen Antworten jetzt vertrauen. Kann ich das?« »Ja.« Genkr seufzte, streckte die Armstümpfe vor und sog an einem Strohhalm, der in einem Wasserkrug steckte. Der Trull stand reglos neben ihm, die Hand an der Kurbel. Die Zeit verrann, und Reod hörte nur seine eigenen, heftigen Atemzüge in der Welt aus Schmerzen, die ihn umgab. »Du, den wir Reod Dai nannten - hörst du mir zu?« »Ja.« »Dann erzähle mir eine Geschichte. Beginne bei Reod Dai, und sage mir, wohin er ging, nachdem er die Schwarze Hand verließ.« Eliza wußte nicht, was ihr bevorstand, als man sie durch die dunklen, vom Fackellicht spärlich erhellten Gange schleppte. Aber eines war sicher: Reods Glückssträhne war vorbei. Sie hatte das Messer vorsichtshalber griffbereit gehalten. Eigenartigerweise hatte man sie anfangs nicht nach Waffen durchsucht. Aber als die Tür aufgerissen wurde und die Trulle sie aus dem Bett zerrten, hatten sie ihr das Messer so schnell abgenommen, daß sie es kaum bemerkte. Kein Wunder, daß sich niemand deswegen den Kopf zerbrochen hatte. Nicht einmal die Stiefel hatte sie sich anziehen können. Jetzt lief sie mit bloßen Füßen über die kalten Steine. 246
Und Reod? Er war fortgebracht worden. Sie hatten nicht einmal einen letzten Blick wechseln können. Sie versuchte, die lähmende Furcht zu unterdrücken. Jetzt mußte sie nachdenken und Entschlüsse fassen. Wohin wurde sie gebracht und weshalb? Sie lauschte den Schritten ihrer Wärter, beobachtete ihre Mienen und achtete darauf, wohin sie sich wandten. Es sah nicht gut aus, soviel war sicher. Reods Rede vor den Trullen hatte offensichtlich nicht die gewünschten Ergebnisse gehabt. Die Sprache, die er gesprochen hatte, war ihr unbekannt, aber einige Worte klangen vertraut. Sie hatte verstanden, daß er von Rebellion redete und die ängstlichen Mienen der Trulle bemerkt. Jetzt drängten sie sechs Trulle mit stachelbewehrten Rücken durch die Gänge. Die spitzen Klauen, die wie scharfe, schwarze Messer aussahen, trieben sie voran. Sie redeten nicht mit ihr, erteilten keine Befehle. An der ersten Wegkreuzung stießen sie Eliza in die gewünschte Richtung. Wirkten sie nicht angespannt, warfen sie ihr nicht verstohlene Seitenblicke zu? So war es auch letzte Nacht gewesen, nachdem Reod seine Ansprache beendet hatte. Also führten die Wesen sie nicht einfach ohne Hintergedanken weg. Sie dachten nach. Vielleicht planten sie etwas. An der nächsten Kreuzung erhielt sie wieder einen Stoß. Sie wirbelte herum und starrte sie an. Überrascht blieben die Trulle stehen. Es war zu gefährlich, einen Fluchtversuch zu wagen - selbst wenn sie gewußt hätte, wohin sie rennen sollte. »Paßt auf!« sagte sie mit befehlsgewohnter Stimme. Sie hob die Hände und wies in verschiedene Richtungen. »So geht es auch. Versucht es mal.« Sie sah jeden einzelnen Trull an und merkte sich, wer ihrem Blick auswich und wer nicht. Dann drehte sie sich 247
wieder um und ging weiter. Die Trulle folgten ihr eilig und umringten sie. An der folgenden Kreuzung zögerten zwei der sechs Wesen, ihr einen Stoß zu versetzen. Statt dessen winkten sie mit den Klauen. Ein kleiner Fortschritt. Schließlich gelangten sie zu einer Tür, die in einen dunklen Raum führte, der von den Fackeln nur spärlich erhellt wurde. In der Mitte des Zimmers stand ein aus Stein gemeißelter Stuhl. Lederriemen hingen an den Seiten herab. Die Trulle schoben sie darauf zu und schienen Gegenwehr zu erwarten. Eliza blieb stehen, um den Stuhl genauer zu betrachten. Entlang der Armlehnen, dem Sitz und der Rückenlehne verliefen tiefe Einkerbungen. Sie führten bis zum Boden und endeten genau über dort aufgestellten Gefäßen. Gefäße. Rinnen. Blut. In Icatia erschreckte man die Kinder mit diesem Schauermärchen, damit sie gehorchten: »Seid brav, sonst schicken wir euch zur Schwarzen Hand. Da schneiden sie euch auf, bluten euch aus und trinken das Blut.« Offensichtlich war es kein Märchen. Eine Klaue stieß sie an. Noch eine. Eliza versuchte auszuweichen, aber sie schoben sie zum Stuhl. Sie drehte sich um und erhaschte den Blick eines der Trulle, der vorhin gezögert hatte. »Zurück!« befahl sie, fuchtelte mit den Händen und bemühte sich, ihre Angst zu unterdrücken. »Tretet zurück.« Trotz der verschiedenen Sprachen war sie sich sicher, daß die Wesen sie verstanden. Die Trulle starrten sie ausdruckslos an, »Rebellion«, flüsterte Eliza. »Die Zeit ist reif! Handelt!« Sie rührten sich nicht. Ihre Mienen blieben starr. Sollte sie weiterreden? Einer nach dem anderen schlug die 248
Augen nieder, und wieder schubsten sie Eliza zum Stuhl. Zwei Trulle stellten sich hinter den Stuhl - wahrscheinlich, damit sie nicht versuchte, über die Rückenlehne zu klettern. Ohne Rüstung stand sie den sechs Wesen mit ihren Rückenpanzern völlig wehrlos gegenüber. Aber sie würde kämpfen. Sie würde sich nicht einfach hinsetzen und auf den Tod warten. Wenn sie ihr Blut wollten, mußten sie es ihr entreißen und vom Boden auflecken. Es würde nicht fein säuberlich in die Gefäße tropfen. Sie zählte, wie sie es immer vor einem Kampf tat, um sich zu sammeln und nicht an Schmerzen oder Tod zu denken. Zwei der Trulle hielten sich ein wenig im Hintergrund, aber die übrigen vier standen dicht vor und hinter ihr und näherten sich langsam. Sie wich zurück und sprang auf den Stuhl. In diesem Augenblick stürzten sich die beiden abseits stehenden Trulle auf ihre Gefährten. Plötzlich bildeten die sechs Wesen ein unentwirrbares Knäuel. Eliza beobachtete sie starr vor Schrecken. Noch nie hatte sie Wesen gesehen, die sich so schnell bewegen oder so lautlos kämpfen konnten. Man hörte nur das Kratzen der Klauen, die auf die Rückenpanzer einhieben und das Seufzen, als einer nach dem anderen zu Boden glitt und aus zahlreichen Wunden eine dunkle Flüssigkeit verströmte. Nur zwei Trulle blieben übrig. Sie wandten sich Eliza zu. Der größere der beiden nickte ihr zu. »Rebellion!« flüsterte er. Es war anscheinend das einzige Wort, daß in beiden Sprachen gleich blieb. Und das reichte vollkommen. Sein ganzer Körper fühlte sich an, als stünde er in Flammen. Die Bisse der Käfer steigerten seine Qual ins Unermeßliche. Reod bemühte sich, den Kopf völlig ruhig zu 249
halten. Vielleicht blieben ihm noch eine oder zwei Umdrehungen der Kurbel, ehe die Nadeln in seine Augen eindrangen. Eine oder zwei Umdrehungen. Aber wer weiß, dachte er, von plötzlicher Panik ergriffen, vielleicht steckten sie schon in seinen Augen, und er hatte es nur noch nicht bemerkt. Er blinzelte verzweifelt. Schweißtropfen und der Schmerz ließen ihn nur verschwommen sehen, aber wenigstens konnte er noch blinzeln. Keine Nadeln. Noch nicht. Aber es war sinnlos, darüber nachzudenken. Auch die Käfer, die seinen Körper zerfleischten, waren keinen Gedanken wert. Nichts war mehr wichtig. Dennoch rasten die Gedanken durch seinen Kopf. Er fragte sich, was er tun würde, wenn die Nadeln ihn berührten. Eigentlich war es egal, aber würde ihm die Ausbildung etwas nützen? Würde er schreien? Auch wenn er sich vornahm es nicht zu tun, würde er laut schreien - dessen war er sich sicher. Würde er Genkr alles verraten und auf ein wenig Gnade hoffen können? Die Goblineier verschafften der Hand einen Vorteil gegenüber Icatia, und Icatia war nur der erste Gegner von vielen. Er hatte Genkr schon eine Formel für die Eier verraten. Der Alte hatte gemerkt, daß Reod log. Nun war sein ganzer Körper mit Käfern bedeckt. Genkr schwieg seit geraumer Zeit. Reod war nicht sicher, wie lange die Stille schon währte und was in der Zwischenzeit geschehen war. Er erinnerte sich, daß man ihm Wasser in den Mund geträufelt hatte. Eine freundliche Geste? Wohl eher eine grausame Erinnerung daran, daß es sich um das letzte Wasser seines Lebens handelte. Der Schmerz raubte ihm den Verstand. Es befand sich noch jemand im Raum. Mehrere Personen? Anscheinend litt er bereits an Wahnvorstellungen. Es wurde dunkel. Er hörte schlurfende Schritte. Dann trat Stille ein. Plötzlich ertönte das Klicken. Die Kurbel wurde gedreht. 250
Reod wimmerte vor Angst und wartete auf die Nadeln. Nichts geschah. Es war noch jemand im Raum. Er öffnete die Augen. Große dunkle Augen sahen ihn an. Die Augen des Ringtrulls, dessen Hand auf der Kurbel lag. Die Nadeln... Die Nadeln wichen zurück. Stück für Stück. Das Licht der Fackeln warf unruhige Schatten auf die Wände. Rings um ihn herum standen zahlreiche Trulle. Sie gössen eine Flüssigkeit über seine Arme, Beine und den Leib. Hinter ihnen stand ein Mensch. Eliza. Plötzlich verdoppelte sich der Schmerz, verdreifachte sich und drohte, ihn in Stücke zu reißen. Er heulte auf, bäumte sich in den Fesseln auf. Tränen strömten ihm über die Wangen und er schrie gellend. Allmählich ließen die Schmerzen nach. Sein Körper brannte, aber es war erträglicher geworden. Verzweifelt rang er nach Luft, und sein Herz klopfte zum Zerspringen. Langsam fühlte er sich besser. Jemand löste die Fesseln, und Reod sank auf den Boden. Eliza kniete neben ihm. »Die Käfer sind weg«, erklärte sie sanft. »Reod? Das Öl hat sie abfallen lassen. Das hat dir solche Schmerzen verursacht. Aber das Öl wird auch den Wunden guttun. Wenigstens glaube ich, daß die Trulle mir das sagen wollten. Jetzt verbinden sie dich. Mehr können wir im Augenblick nicht tun. Reod?« Er versuchte zu sprechen, konnte aber nur stöhnen. »Die Zeit drängt. Wir müssen fliehen. Kannst du aufstehen?« Aufstehen? Er wollte lachen, aber nicht einmal das gelang ihm. Die Trulle schmierten Salben auf die Wunden und verbanden sie. Es fühlte sich an, als bestehe sein ganzer Körper nur aus einer einzigen großen Verletzung. Vorsichtig zogen sie ihm Kleidung an. Nicht seine eigenen 251
Sachen, sondern die braune Tunika und die weiten Hosen, die jeder Diener der Hand trug. Irgend etwas wurde auf seinen Kopf gestülpt. Ein Trull zog ihm Stiefel an. Seine eigenen, vertrauten Stiefel. Er betrachte das abgetragene Leder und begriff erst jetzt, daß er nicht sterben mußte. Wenigstens nicht sofort. »Hoch!« rief Eliza. »Steh auf! Wir haben nicht viel Zeit.« Die Trulle zogen ihn hoch, und Eliza stützte ihn. Schlurfend bewegte er sich. Jeder Schritt bedeutete eine Qual. Die Trulle umringten sie. Seine Worte waren also doch nicht vergebens gewesen. Langsam bewegten sie sich vorwärts und betraten den Gang. »Wo ist Genkr?« flüsterte Reod mit heiserer Stimme. »Ich weiß nicht«, antwortete Eliza. »Als wir hereinkamen, stürzten sich die Trulle auf ihn. Er fiel hin und war plötzlich verschwunden.« Also war Genkr nicht tot. Er lebte noch und wußte nun, daß Reod einen Seitenweg gefunden hatte. Die Pferde waren unruhig und schreckhaft. Reod hielt sie für eine Kreuzung aus den schnellen Taltans und icatianischen Lundars. Stur, nervös und sehr klug. Er hatte keine Zeit, sich vom Boden aus mit ihnen anzufreunden. Das mußte er versuchen, wenn er im Sattel saß. Mit Elizas Hilfe stieg er auf. Er klammerte sich an der Mähne fest, um nicht sofort wieder herunterzufallen. Eliza sah ihn tief besorgt an, aber als Soldatin wußte sie, daß sie ihn nicht durch übertriebene Fürsorge beleidigen durfte. Er warf ihr ein - wie er hoffte - selbstsicheres Lächeln zu und versuchte, die Schmerzen nicht zu beachten. In Wahrheit wünschte er sich nichts sehnlicher, als sich hinlegen zu können. Überall standen Trulle herum. Außer ihren Rettern waren noch zahlreiche andere Wesen hinzugekommen. 252
Sie überprüften die Vorräte in den Satteltaschen und reichten ihnen Wasserschläuche und warme Umhänge. Ihre Mienen schwankten zwischen Angst und Hoffnung. Man merkte, daß es ihnen lieber gewesen wäre, Reod bei sich zu behalten, aber dennoch halfen sie ihm bei der Flucht. Eine Weile standen sie im blassen Licht der Sonne, die bald hinter dunklen Wolken verschwinden würde. Reod schaute zu den Trullen hinunter. Es blieb nicht viel Zeit für Abschiedsworte, denn in Kürze würde die Schwarze Hand hinter ihnen her sein. Sie mußten sich sputen. Trotzdem verweilte er und lächelte, als habe er keine quälenden Schmerzen. »Was wollt ihr?« fragte er mit lauter Stimme. »Essen, was immer ihr wollt? Die glänzenden Ringe und warmen Gewänder eurer Herren tragen? Achtep besitzen? Eure Herren sind wenige an der Zahl, und ihr seid viele. Denkt daran! Sie haben Magie? Ihr auch. Wenn sie Zaubersprüche anwenden, antwortet mit Klauen, Zähnen und Händen. Sie haben Waffen? Egal. Ihr seid die besten Waffen, die sie je hatten. Jetzt ist die Zeit gekommen, euch zu erheben und sie zu überwältigen. Wenn euch die Sklaverei nicht länger gefällt...« Er machte eine weit ausholende Handbewegung. »... dann beendet sie!« Damit ergriff er die Zügel des Pferdes und trieb es an. Vor lauter Schreck gehorchte das Tier. Eliza folgte ihm. Sie ritten den Pfad entlang, der hinter Achtep verlief, denn an der Straße vor dem Haupttor waren die meisten Wächter aufgestellt. Kurz bevor Reod eine Wegbiegung passierte, drehte er sich um und erwartete, die Trulle noch immer herumstehen zu sehen, weil sie auf seine Rückkehr hofften. Aber nur noch wenige der Wesen befanden sich im Innenhof vor den Ställen, und auch sie verschwanden, während er sie beobachtete. Vielleicht hatte er sie unter253
schätzt. Vielleicht eigneten sie sich so gut für eine Rebellion, wie er es erhofft hatte. An jedem Außenposten entlang des Weges lagen die Leichen der Wachen. Die Trulle hatten vorgesorgt. Sie lernten schnell. Als sie Achtep hinter sich gelassen hatten, ritten sie schneller, da sie möglichst viel Entfernung zwischen sich und die Schwarze Hand legen wollten, ehe man ihre Verfolgung aufnahm. Jedes Rütteln und jeder Stoß sandte unbarmherzige Schmerzen durch seinen Körper, bis es ihm immer schwerer fiel, sich aufrecht zu halten. Aber das hatte auch etwas Gutes, denn so mußte er nicht fortwährend an Tamun denken. Während der Folter hatte er sie völlig vergessen und nicht daran gedacht, daß sie tot war; von heißer Lava zu Asche verbrannt oder von einem herabfallenden Felsbrocken zerschmettert am Boden lag. Reod befürchtete, daß sie die Katastrophe nicht überlebt haben konnte, wollte sich aber vergewissern. Er würde nach ihrem Leichnam suchen. In der Zwischenzeit hatte er ihren Mördern ein Ei hinterlassen, daß denen recht ähnlich war, die er für sie hatte bauen sollen. Aber dieses Ei... Er lächelte. Dieses Ei war anders und würde sich vervielfältigen und zerspringen. Die Schmerzen raubten Reod immer wieder das Bewußtsein. Eliza beobachtete ihn besorgt. Es war ein Wunder, daß er sich überhaupt auf dem Pferd hielt. Aber schließlich war er Robin Davies. Wenn die Schwarze Hand sie verfolgte, dann erwiesen sich Reods Schleichwege als ausgesprochen sinnvoll. Seine Anweisungen führten sie teilweise im Kreis herum und schließlich gelangten sie sicher über die Grenze Icatias. Danach übernahm sie die Führung, denn er war viele Jahre nicht im Land gewesen. Sie wußte, wo Wachposten standen, die Fragen stellen würden. Also ritten 254
sie über Seitenstraßen, durch kleine Dörfer und umgingen die Grenzposten. Seine Wunden heilten langsam und quälten ihn, aber die ganze Zeit über gab er vor, sich gut zu fühlen. Tagelang war er nahe daran, vor Erschöpfung aus dem Sattel zu fallen. Sie ritten viel zu schnell und zu weit, als daß er sich hätte erholen können. Nachts wimmerte er im Schlaf. Dann legte sie ihm die Hand auf die Stirn, strich ihm übers Haar und irgendwann beruhigte er sich. Wenn er jemals bemerkte, wie sie ihn tröstete, ließ er es sich nie anmerken, und sie redeten nie darüber. Wer hätte gedacht, daß der große Robin Davies, der furchtbare Reod Dai, der Anführer der Rebellion und Verräter Icatias im Schlaf weinte? Niemand würde das glauben, und sie würde auch niemals davon sprechen. Während sie weiterritten, dachte sie an eine naheliegende Lösung: Sie konnte ihn in die Falle locken. Es wäre einfach. Sie wußte, in welche Armeestützpunkte man leicht hinein-, aber kaum wieder hinauskommen konnte. Befand er sich erst einmal in der Hand der icatianischen Soldaten, würde man ihn für seine Verbrechen zur Verantwortung ziehen. Gemäß den Gesetzen Icatias hatte sie nicht das Recht, über Reod zu urteilen, und noch weniger durfte sie ihm helfen, sich dem Gericht zu entziehen. Damit machte sie sich auch des Verrats schuldig. Aber heutzutage lebten die wenigsten Menschen gemäß dieser unbeugsamen Gesetze. Es war möglich, Strafen durch Bestechung zu entgehen. Trotzdem mußte sie sich fragen, warum sie ihn nicht auslieferte. Hing es vielleicht mit der Magie zusammen, die er bei der Schwarzen Hand gelernt hatte und die es ihm ermöglichte, Leute für sich einzunehmen? Nein, sagte sich Eliza und erinnerte sich an die Spiele aus Kindertagen, bei denen er meistens gewonnen hatte. Lange bevor er Icatia verließ, war er ein Überredungskünstler gewesen. 255
Täglich ritten sie viele Stunden lang schweigend hintereinander her. Sie überließ Reod jetzt wieder die Führung, denn angeblich hatte er schärfere Augen, aber in Wahrheit wollte ihn Eliza nicht unbeobachtet lassen. Während des Rittes wollte sie in Ruhe überlegen, was sie alles über ihn wußte. Wenn sie ihr Urteil fällte, würde es mit aller Sorgfalt geschehen. Wie viele Leute hatte er beeinflußt, die Armee zu verlassen? Bis heute weigerten sich Icatianer, für den König zu kämpfen, weil sie Reods Worten glaubten, die heimlich niedergeschrieben worden waren und von Hand zu Hand gingen. Natürlich nur in den abgelegenen Dörfern des Landes, wo die Menschen weniger gesetzestreu lebten. Und wer wußte schon, was er wirklich bei der Schwarzen Hand getrieben und welchen Schaden er Icatia zugefügt hatte? Er behauptete, keine Geheimnisse verraten zu haben, aber selbst wenn das stimmte - galt das auch für seine Gefolgsleute? Sie bezweifelte es, denn nun hatte sie die Foltergeräte der Schwarzen Hand mit eigenen Augen gesehen. Was war, wenn es stimmte, was der Magier in Teedmar gesagt hatte? Dann hatte Reod den Elfen, die Verbündete Icatias waren, großen Schaden zugefügt. Und was noch alles? Er hatte Sprengkörper für die Goblins angefertigt, die Feinde ihres Landes. Dann war er schuld an den Grenzkriegen und am Tod vieler Icatianer. Auf der anderen Seite redeten die Zwerge in Teedmar gut von ihm. In den vergangenen Jahren hatte er ihnen geholfen und wollte das auch weiterhin tun. Aber Teedmar war ein besonderer Fall, denn dort waren ihre Männer gestorben. Zwar hatte Reod ihr das Leben gerettet, aber fünfzig ihrer Leute waren umgekommen. Trug er auch daran die Schuld? War er der Hauptschuldige, der die Kriege angezettelt hatte? 256
Eliza runzelte die Stirn und sah Reod an. Inzwischen sah er ein wenig besser aus. Seine Haut war nicht mehr leichenblaß, und die Wunden heilten allmählich. Aber noch immer schien er fortwährend darum zu kämpfen, nicht im Sattel einzuschlafen. Das war der Mann, der die gefährlichsten Geschöpfe der Schwarzen Hand zur Rebellion getrieben hatte. Wenn die Hand keine Trulle mehr hatte, die für sie arbeiteten und kämpften, befand sich Icatia gegenüber den Anhängern Tourachs im Vorteil. Vielleicht hatte Reod in jener Nacht den Krieg zu Gunsten Icatias entschieden. In Gedanken legte sie die Gründe für und wider Reod auf die Waagschale. Was sie aus seinem Gebaren nicht entnehmen konnte, versuchte sie ihm vom Gesicht abzulesen. Noch war es Zeit, ihn auszuliefern und der Justiz zu übergeben. Sollte sie es tun? Sie dachte an die Zwergin, deren Leichnam er unbedingt finden wollte. Wenn er von ihr sprach, kam er ihr weniger wie der ehemalige Kommandeur der Armee Icatias sondern eher wie ein frischverliebter Jüngling vor. Seine Worte überschlugen sich, und von Zeit zu Zeit errötete er. Der große Robin Davies, den die Liebe zu einer Frau durcheinanderbrachte? Die Liebe zu einer Zwergin? Eliza bemühte sich, ihre Gedanken zu ordnen. Reod hatte den Verfall und den Niedergang Icatias vorhergesagt, der inzwischen auch von vielen anderen Leuten als unaufhaltsam angesehen wurde. Er hatte die Trulle zur Rebellion angestiftet. Er hatte den Goblins Sprengkörper gegeben, die gegen Icatia und seine Verbündeten angewandt wurden. Immer wieder hatte er sein Leben für die Zwergin aufs Spiel gesetzt. Wenn auch nur wenige wagten, seinen Namen auszusprechen, so war er doch überall bekannt. Wenn sie an ihn als Kommandeur dachte, dann war er 257
ein Deserteur und Verräter und mußte ausgeliefert werden. Lange Zeit bedachte sie die Tatsachen und rang mit sich. Schließlich erkannte die Frau Eliza, was die Soldatin nie gesehen hätte: Hier war ein Mann, der weiter dachte als gewöhnliche Sterbliche, und der sich auch die Sorgen anderer Rassen aufbürdete und zu eigen machte. Natürlich war das ungewöhnlich, aber wenn sie die Dinge aus diesem Blickwinkel sah, erschien ihr seine Handlungsweise beinahe verständlich. Es gab sogar Vorteile, die sie nicht leugnen konnte. Egal wieviel Schaden er Icatia zugefügt hatte - den Feinden Icatias schadete er in Freiheit bedeutend mehr, als er es im Gefängnis konnte. Oder wenn er tot war. Eliza brachte ihn nicht zum Orden Leitburs, der ihn den Leuten des Königs übergeben würde. Auch nicht zu Farrels Lager, der unter Umständen überredet werden konnte, ihn am Leben zu lassen, wenn Reod bestimmte Zugeständnisse machen würde. Statt dessen gingen sie nach Süden, den schneebedeckten Purpurgipfeln entgegen. Als die Vorräte, die ihnen die Trulle gegeben hatten, zur Neige gingen, machte Eliza kleine Abstecher in die umliegenden Dörfer. Wenn sie um Nahrung bat, erwies sich ihre Uniform als große Hilfe. Hin und wieder jagten sie gemeinsam, und sie bemerkte, daß Reod nichts von seiner Geschicklichkeit bei der Handhabung verschiedener Waffen eingebüßt hatte. Schließlich erreichten sie die bewaldeten Hügel an der Südgrenze Icatias. Vor ihnen reckten sich die mit Eis und Schnee bedeckten Gipfel des Gebirges. Die Kälte hatte Reods Wangen gerötet. Elizas Haare waren so lang geworden, daß sie ihr bis über die Augen hingen. Ihr Atem stand schwer und weiß in der eisigen Luft, und die Pferde schnaubten ungeduldig und tänzelten unruhig hin und her. Sie sehnten sich nach dem Gras 258
der Ebenen, da sie schon viel zu lange nur mit Hafer gefüttert worden waren. »So!« stieß Eliza hervor. Reod lächelte und wiederholte: »So.« »Hier trennen sich unsere Wege, Reod Dai.« »Ich verdanke dir viel, Eliza.« »Vielleicht. Aber ohne dich wäre ich wahrscheinlich in Teedmar umgekommen.« »Eine ganze Stadt«, flüsterte er traurig. »Manchmal glaube ich, daß ich mich gar nicht mehr an alle jene erinnern kann, die ich schon habe sterben sehen. Und dann wieder glaube ich, daß ich sie nie vergessen kann.« »Wir haben beide viel verloren.« »Ja.« Einen Augenblick lang schloß sie die Augen, um bei dem Gedanken nicht in Tränen auszubrechen. »Reod, willst du das Versprechen halten, die Trulle mit Waffen und Hilfe zu unterstützen?« »Ja.« Sie nickte. »Wenn ich zu meinen Generalen zurückkehre, werde ich ihnen erzählen, was du der Schwarzen Hand angetan hast, und wie du die Trulle zur Rebellion aufriefst und bereit warst, dein Leben zu opfern, ehe du das Geheimnis der Goblineier preisgeben würdest. Das werde ich ihnen mitteilen.« »Sie werden sich fragen, weshalb du mich nicht ausgeliefert hast.« .»Du wirst Icatia mehr nutzen, wenn du in Freiheit lebst.« »Und das willst du ihnen sagen?« »Nein.« Er lächelte wieder. »Sei vorsichtig, daß du nicht zu gut von mir sprichst, Eliza, sonst höre ich mich gar nicht mehr wie ein Verräter an. Wenn du so weitermachst, könnte der Eindruck entstehen, ich sei ein Held.« »Dafür halten dich viele Menschen schon jetzt.« »Narren.« 259
»Vielleicht. Aber man kann jeden als Helden oder als Narren hinstellen, wenn man eine Geschichte auf die eine oder andere Weise erzählt.« »Nun, dann bin ich auf deine Geschichte gespannt.« »Du hast den Trullen von den Thalliden erzählt, und da es die richtige Geschichte war, erhoben sich die Trulle.« »Das stimmt.« »Reod, wenn das alles vorüber ist, solltest du wieder nach Icatia zurückkehren. Dann wird sich viel verändert haben.« »Glaubst du das wirklich?« »Natürlich. Irgendwann haben alle diese Kriege ein Ende.« Er schüttelte den Kopf. »Ich befürchte, wir sind zu selbstsicher geworden, Eliza. Manchmal vergessen wir, daß wir nur Menschen sind, die mit einem trockenen Schlafplatz und genügend Essen und Trinken zufrieden sein sollten. Wir vergessen leicht, wie tief wir fallen können, ehe uns der Tod ereilt.« »Wahrhaft aufmunternde Worte!« sagte Eliza spöttisch. »Ich habe schon Besseres von dir gehört. Aber ich wiederhole: Wenn die Kriege beendet sind, mußt du zurückkehren. Vielleicht wird es dir gefallen, wieder inmitten deines Volkes zu leben.« »Vielleicht.« »Und dann werden wir beide miteinander trinken, über die Vergangenheit reden und herzhaft lachen,« »Lachen? Werden wir nicht um die Toten weinen?« Sie lachte. Tränen stiegen ihr in die Augen, und Gesichter tauchten vor ihr auf. »O ja, wir werden weinen. Wir weinen um alle unsere Toten, bis wir keine Tränen mehr haben. Und dann lachen wir, weil wir noch leben und wieder zusammen sind.« Sie beugte sich vor, und einen Augenblick lang reichten sie sich die Hände, als wollten sie gemeinsam in die 260
Schlacht ziehen. Dann neigte sie sich noch weiter vor, nahm sein Gesicht in beide Hände und küßte ihn auf die Stirn. »Paß auf dich auf, Robin«, sagte sie, riß ihr Pferd herum und trieb es den Pfad entlang, der sie zurück in die Heimat führte. Er sollte die Tränen nicht sehen, die sie nicht länger zurückhalten konnte.
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»Man kann jeden Kampf gewinnen.« - Orkische Redensart
An einem grauen regnerischen Morgen erblickte Reod die Stelle, an der Teedmar einst gestanden hatte. Aus der Ferne sah es aus, als sei eine riesige schwarze Kerze geschmolzen und habe sich über Häuser und Straßen gelegt, ehe das Wachs erkaltete. Dunkle starre Flüsse teilten den Berg und bedeckten die Stadt. Die glatte Lavaschicht glänzte vor Feuchtigkeit. Als er näherkam, bemerkte er, daß nicht alle Gebäude verschwunden waren. Hier und da erhob sich ein Haus und überragte die Lavafläche. Bei diesem Anblick keimte Hoffnung in ihm auf. Er kämpfte dagegen an und bemühte sich, ruhig zu bleiben, als sein Blick auf die Dächer fiel. Vielleicht hatte sie sich dort aufgehalten, als der Berg Lava ausspuckte. Sicher hatten ein paar Zwerge überlebt. Tamun konnte eine davon sein. Natürlich war das recht unwahrscheinlich. Die Überlebenden waren gewiß nicht zahlreich und hatten großes Glück gehabt. Aber konnte man wirklich von Glück sprechen, wenn sie nichts als das nackte Leben gerettet hatten? Schon oft hatte er solche Tragödien erlebt und wußte, wie zweifelhaft diese Glücksfälle sein konnten. Vor langer Zeit, als er noch zu den Anhängern Leitburs gehörte, glaubte er, daß die wirklich Guten jedes Unglück überlebten, da ihre Reinheit ein Schild gegen die Grausamkeiten der Welt bildete. Seit damals hatte er 262
unzählige dieser guten Leute sterben sehen, ohne daß ein Schild sie schützte, und die Feinde Leitburs lebten unversehrt weiter. Nein, wenn das Gute ein Schild wäre, würde er längst nicht mehr leben. Der Tod Tamuns und ihrer Familie war seine Schuld, denn sie hatten nichts als den Fehler begangen, ihm zu folgen. Er aber hatte versagt. Auch sein eigenes Leid war selbstverschuldet. Es war seine eigene Dummheit gewesen, sich der Magie der Zwergin zugänglich zu zeigen. Er hatte ihr in die goldbraunen Augen gesehen, ihren schlichten Zauber verspürt und nicht dagegen angekämpft. Ihr Einfluß war stärker gewesen, als er erwartet hatte, aber dennoch hätte er widerstehen können, wenn er gewollt hätte. Statt dessen hatte er sich ihr geöffnet und sein Schicksal besiegelt. Und auch das ihre. Tränen ließen seine Wangen in der Kälte erstarren. Er hätte sie niemals mitnehmen dürfen. Weder in den Zufluchtwald noch nach Teedmar. Vielleicht hatte Leitbur recht. Vielleicht gab es wirklich Gerechtigkeit auf Erden, und nun bezahlte er für seinen Mangel an Ehrlichkeit. In letzter Zeit wurde er immer öfter von Reue ergriffen. Eigentlich hätte er es besser wissen müssen. Manchmal starben Soldaten während der Schlacht, weil sie sich einem kurzen Moment der Reue ob eines getöteten Feindes gestatteten. Reue war schlimmer als alles andere. Man konnte daran zugrunde gehen. Er hatte nicht mehr viel, aber das Wenige wollte er nicht mit Reue vergeuden. Reod lächelte grimmig. Statt dessen würde er suchen bis er ganz, ganz sicher war, daß Tamun nicht mehr lebte. Die Hufe des Pferdes suchten sich einen Weg durch Geröll und Gestein, als er sich dem ehemaligen Stadtrand näherte. Drei Gestalten liefen am Rande der Lava herum. Einen Augenblick lang klopfte sein Herz schnel263
ler, und wilde Hoffnung erfaßte ihn. Dann sah er, daß zwei der Gestalten sehr klein waren. Kinder. Die größere Gestalt suchte auf dem Boden herum. Sie hatte ein paar Säcke über die Schulter geworfen. Die drei blieben stehen und blickten ihn an, als er sich ihnen näherte. Die Gesichter waren schmutzig und mit Schrammen bedeckt. »Mensch«, sagte der bärtige Zwerg, als wolle er einen Verdacht äußern. Die Kinder starrten Reod mit weitaufgerissen Augen ängstlich an. »Mein Beileid zu diesem Unglück«, erwiderte Reod auf Zwergisch. Er bemühte sich, seine Stimme sanft klingen zu lassen, aber es gelang ihm nicht. Der Mann grunzte. »Gibt es noch mehr Überlebende?« »Ein paar«, antwortete der Zwerg, und sein Tonfall verriet, daß es nur wenige waren. »Wo sind sie?« »In Gurn.« Er nickte in die Richtung, in der sich der graue Himmel etwas lichtete. »Ich suche nach einer Zwergin«, sagte Reod. »Es können auch zwei oder drei sein, die zusammengehören.« Wieder schnaubte der Zwerg. »Wenn sie nicht in Gurn sind, liegen sie da drunter.« Er deutete auf den Boden. »Unter der Lava.« Eines der Kinder hob einen Stein auf und schleuderte ihn gegen den Berg, der Teedmar unter sich begraben hatte. Das kleine Gesicht war zu einer wütenden Grimasse verzerrt. Reod nickte, denn er verstand die Verzweiflung und die Wut sehr gut. Er beobachtete, wie der Zwerg Balken und Steine beiseite schob. »Warum bist du noch hier?« fragte er den Mann. »Ich ging nach Gurn. Da ist sie nicht. Also ist sie hier. Wir wollen sie nur noch einmal sehen.« Reod nickte. Es fühlte sich an, als habe sich sein 264
Schmerz verflüssigt und rinne wie brennendes Öl über sein Herz. »Viel Glück«, würgte er hervor und zog das Pferd herum. Vielleicht sollte er besser nicht nach Gurn reiten und sich die Hoffnung erhalten, Tamun hätte es irgendwie geschafft. Vielleicht war es besser, den Glauben zu bewahren, sie sei am Leben als sich die Gewißheit zu verschaffen, daß sie tot war. »Waren es Grubenarbeiterinnen?« rief ihm der Zwerg nach. Reod zügelte das Pferd und wandte sich um. »Nein. Warum?« »Der Eingang zum Bergwerk war verschüttet. Keine Luft. Konnten sie hören, aber nicht rausholen. Mußten sterben. Aber plötzlich kam dieser Drache. Größte Ausgeburt der Hölle, die du je gesehen hast. Er ging hin und trat alle Felsbrocken weg, als seien es Kieselsteine. Trat sie einfach weg. Befreite alle Bergarbeiter. Dann flog er wieder weg, mit drei Frauen auf dem Rücken.« Reod riß die Augen auf. »Drei Frauen? Zwerginnen?« »Zwerginnen? Die auf einem Drachen reiten?« Der Mann schnaubte. »Natürlich nicht. Müssen Magierinnen gewesen sein. Menschen.« »Ein großer Drache, nicht zwei kleine?« »Riesig, wie man es in den Geschichten hört.« Er schüttelte den Kopf. »Aber er hat geholfen und niemand gefressen. Nach dem Vulkanausbruch hätte ich nicht gedacht, daß mich noch irgend etwas überraschen könnte.« Reod hörte schon nicht mehr hin. Drei Frauen auf einem Drachen. Jetzt gab es keinen Zweifel an seinem Ziel. Die Straße nach Gurn wurde häufig benutzt. Schlammspuren zogen sich über die von den Zwergen sorgfältig 265
gepflasterte Straße. Der Regen spülte sie allmählich fort. Reod sah die kleinen Fußabdrücke der Goblins und die großen der Orks. Außerdem gab es Stiefelabdrücke, die von den Zwergen stammen mußten. Es waren nicht viele. Er kratzte Zeichen in die Felsen, die er den Goblins beigebracht hatte, um weitere Kreaturen in die Irre zu führen. Nach einer Weile stieß er auf blutüberströmte Leichen, die teilweise halb aufgefressen waren. Die Goblinkörper beachtete er nicht, aber die Köpfe mit den hellen Haaren zog er aus dem Schlamm und betrachte sie eingehend. Am Straßenrand fand er ein Zwergenkind, das auf einem großen Felsbrocken hockte. Das braune Haar war verfilzt; getrocknetes Blut und Kratzer bedeckten das Gesicht. Es saß so still, als sei es schon tot und habe nur vergessen, vornüber zu fallen. Aber die Augen folgten jeder seiner Bewegungen. Zuerst wollte er anhalten und absteigen, um ihm zu helfen. Jedesmal, wenn er in solchen Zeiten auf eine hilflose Kreatur wie dieses Kind stieß, hegte er derartige Gedanken. Aber hier hatte es ebenso schlechte Uberlebenschancen wie dort, wohin er ritt. Und sein Schwert konnte das Mädchen nicht gegen die verteidigen, die seine Familie getötet hatten. Jedenfalls lauteten so die Gründe, die er sich immer bei solchen Gelegenheiten vorhielt. Aber vor seinem verlorenen Blick hielten sie nicht stand. Es hatte niemanden mehr. Niemanden außer ihm. Wenn er ihm nicht half wer sollte es sonst tun? Das Leben bestand aus bitteren Entscheidungen. Egal was er besaß - sein Schwert oder das Glück, noch am Leben zu sein - er konnte es mit ihm teilen und seinem Leben einen Sinn geben. Er konnte es auch lassen und auf das nächste einsame Kind warten. Oder alles, was er hatte, für Tamun aufsparen. Also mußte er eine Entscheidung treffen. 266
Das Kind sagte kein Wort und starrte ihn nur an. Endlich wandte er sich ab und sah auf die vor ihm liegende Straße. Immer gab es Kinder wie dieses. Sie brauchten ihre Familien, und die konnte er ihnen nicht ersetzen. Ohne Familie waren sie tot oder lagen bereits im Sterben. Nichts weiter als eine neue Leiche, die er auf dem überfüllten Leichenanger seiner Erinnerung begraben mußte. Nichts weiter als eine neue Leiche, an der er vorübergeritten war. Es war Jahre her, seitdem er diese Straße das letzte Mal benutzt hatte. Damals wollte er den Ältesten von Gurn von den Goblinnestern berichten, die er aufgestöbert hatte. Er hatte ihnen empfohlen, die Nester nicht zu zerstören, damit die Zwerge wußten, wo der Feind schlief. Später, als er seinen Vertrag mit den Elfen schloß, waren ihm diese Kenntnisse nützlich gewesen, um die Goblins zu finden, die er im Kampf unterwiesen hatte. Er kam an mehr und mehr Leichenhaufen vorbei. Vor jeder Wegbiegung packte ihn die Angst, noch ein lebendes Kind zu finden, das ihn aus furchtsamen und schmerzerfüllten Augen anstarrte und das er zurücklassen mußte. Es gab Zeiten, in denen sich Mitleid und Reue nur sehr schwer unterdrücken ließen. Er konnte Gurn riechen, ehe er es erblickte. Der Wind hatte sich gedreht, und es stand außer Frage, welcher Geruch ihm in die Nase drang. Es stank nach Goblins. Die Sonne ging gerade unter, als er die letzte Hügelkuppe überwand. Der Wind brachte nicht nur den Gestank von Verwesung und den Rauch der Lagerfeuer mit sich, sondern auch Rufe und Schreie waren zu hören. Die Festung Gurn erhob sich zwischen zwei riesigen, 267
hochaufragenden Felsen. Die kantigen Mauern hoben sich dunkel gegen die helleren Felsen ab. Die Ebene vor der Festung wimmelte von Orks und Goblins. Sie hatten sich so über den steinigen Boden verteilt, wie es Reod den Orkgeneralen beigebracht hatte, als er sie lehrte, wie die Zusammenarbeit mit dem Goblinkönig aussehen müsse. Daß sie sich daran erinnerten, ließ Bitterkeit in ihm aufsteigen. Der Same des Bündnisses war aufgegangen. Sehr viel Planung war dem vorausgegangen. Lange, weitschweifige Erklärungen vor dem Rat der Orks, wie ihre Vorsicht - ein sorgfältig gewähltes Wort - gemeinsam mit der Leidenschaft der Goblins - noch ein sorgfältig gewählter Begriff - eine starke Armee zum Sieg führen konnte. Gegen die Icatianer natürlich, die sich dieser Horde mit Leichtigkeit erwehren konnten. Reod hatte hart gearbeitet, um die Goblins und Orks nicht einfach nur zu Verbündeten werden zu lassen, sondern auch Unstimmigkeiten kaum merklich gefördert. Das war, ehe der Zufluchtwald ihm die Bezahlung verweigerte, mit der er sich die Aufmerksamkeit der Generale und Könige erkaufte. Goblins hatten unglaublich kurze Erinnerungen. Das war der Hauptgrund, weshalb sie sich so furchtlos in die Kämpfe stürzten. Die Orks vergaßen ihn nicht so schnell, erinnerten sich auch an die Versprechungen, die er gemacht hatte und nur mit Hilfe des Goldes halten konnte. Aber es lag nie in seiner Absicht, diese Armee vor den schlecht verteidigten Zwergenstädten stehen zu sehen. Goblinhorden lagerten auf dem schlammigen, steinigen Boden. Zelte waren aufgebaut und Abfallhaufen lagen herum. Die einzelnen Gruppen hatten sich um Flaggen geschart, auf die einfache Symbole gezeichnet waren, an die er sich erinnerte. Da waren Salamander, Fuchs und ganz hinten Rattenzahn. Wieder hatten sie sich an seine Anweisungen gehalten. Jeder Goblin unter268
stand einem Orkhauptmann, der sich im Hintergrund hielt, von wo aus er ungefährdet Befehle erteilen konnte. Ein paar Gruppen bestanden ausschließlich aus Orks. Die Eisenkrallen, Messingkrallen und Eiskrallen hielten sich in den hinteren Reihen, bis sie sicher waren, daß sie den Sieg erringen konnten. Reod stieg vom Pferd. Er versetzte dem Tier einen letzten Klaps und scheuchte es in die Richtung, aus der er gekommen war. Wenn er das Pferd hier ließ, würden es die Goblins fressen. Ein so starkes und kräftiges Tier hatte gute Chancen, heil und gesund nach Norden durchzukommen, in wärmere Gefilde. Reod hoffte es wenigstens. Dann betrat er die Ebene. Jetzt hörte er das Geschnatter der Goblins und die gebrüllten Anweisungen der Orks. Sie benutzten die einfache Sprache, die Reod für sie erfunden hatte und aus Grundbegriffen beider Sprachen bestand. Die beiden Rassen hatten wenig gemeinsam. Sie würden immer kämpfen und streiten. Die einzige Gemeinsamkeit bestand darin, daß beide nichts verschwendeten. Auf dem Feld lagen keine Leichen. Der Gestank wurde durch den Regen und die Kälte gemildert. Dennoch war er überwältigend. Reod nahm an, daß die Orks und Goblins seit einigen Tagen hier lagerten und sich keine Mühe gaben, ihre Exkremente zu beseitigen. Die Füchse ließen einen Windvogel steigen. Jedenfalls versuchten sie es. Sie warfen einen Windvogel mitsamt Goblin in die Luft und zerrten ihn wieder nach unten. Jedesmal landete er im Schlamm und wurde noch ein bißchen schwerer. Dennoch versuchten sie es immer wieder aufs neue. Dumpfes Trommeln ertönte irgendwo aus dem Gewühl und untermalte das schrille Kreischen und Schimpfen der Goblins. Er näherte sich einer Gruppe, die dem Kampf einer anderen zusah. Reod hatte sie bei269
nahe erreicht, ehe sie ihn bemerkten und sich sofort auf ihn stürzen wollten. »Nichts da!« sagte er in der Kampfsprache, die er sie gelehrt hatte. »Wer ist euer Anführer?« Die Goblins hielten inne und sahen einander unsicher an. »Denkt ihr, ich hätte Zeit zu verschenken? Ich bin Reod Dai. Sagt mir, wer der Anführer ist. Sofort!« »Das ist Groß-und-mächtig-mit-langen-Nasenhaaren«, erklärte einer der Goblins. »Er ist da drüben.« Reod war sicher, daß der Name des Anführers einen gemeinsam geschaffenen Kompromiß darstellte. »Eskorte!« befahl er, und die Goblins scharten sich um ihn. Anstelle ihrer Unsicherheit ist jetzt Überheblichkeit gerückt. Sie halfen ihm, sich einen Weg durch das Gewühl zu bahnen, bis sie eine Gruppe Orks erreichten. Dort stellte sich Reod dem Anführer vor und setzte hinzu: »Ich bin gekommen, um euren Sieg voranzutreiben. Bringt mich zum General.« Der Ork war vorsichtiger als die Goblins. Er sah Reod an und strich sich über das grüne Kinn. »Der Reod Dai?« »Ja.« »Ha! Ich glaube es nicht. Warum bringe ich dich nicht einfach um? Ich könnte es.« Reod erwiderte den grimmigen Blick des Orks. »Sehr schön«, sagte er ruhig. »Ich werde jene zur Beförderung vorschlagen, die sich so schlaue Gedanken machen. Dich werde ich ganz besonders empfehlen. Jetzt bring mich zum General!« Der Ork runzelte die Stirn. »Aber ...« »Er wird sicher sehr böse sein, wenn du mich noch länger aufhältst.« Der Hauptmann atmete tief durch, richtete sich auf und schubste die ihm im Weg stehenden Goblins beiseite. Die Zelte und Unterstände standen wahllos herum 270
und waren völlig ungeordnet errichtet worden. Der Ork schritt zwischen Abfallhaufen und Zelten hindurch. Reod nutzte die Zeit und sah sich eingehend um. Die Ebene war von Felsbrocken übersät, hier und dort erhoben sich kleine Hügel. Niemand war in der Lage, das ganze Feld genau zu überblicken. Nur aus dem Kommandoturm der Festung war ein solcher Überblick möglich. Inzwischen hatte sich der Himmel völlig verdunkelt und eine fast schwarze Färbung angenommen. Schon bald würde nur noch das Licht der Lagerfeuer die Nacht erhellen. Sogar dann war es kaum möglich, das Lager unbeobachtet zu verlassen. Er bückte sich und hob eine Handvoll Erde auf. »Halt!« befahl er dem Ork. »Was ist?« »Hier stimmt was nicht. Ich gehe vor, um Ausschau zu halten. Warte hier!« Er ging ein paar Schritte auf die Stadt zu. »Eskorte!« brüllte er. Die Goblins eilten herbei und umringten ihn. Der Orkhauptmann blieb murrend stehen. Reod warf ihm einen ungnädigen Blick zu. »Geduld gehört auch zu den von mir empfohlenen Eigenschaften für Offiziere!« Der Hauptmann schwieg, trat von einem Bein aufs andere und versuchte, zufrieden auszusehen, wirkte aber völlig verwirrt. Reod führte die Goblins um Felsbrocken und Zelte herum, in der Hoffnung, außer Sichtweite des Hauptmanns zu gelangen. Als sie den Rand des Lagers erreichten und nur eine Pfeilschußweite sie von den Festungsmauern trennte, blieben die Goblins stehen. Reod zog sich die Kapuze tief ins Gesicht. »Meldet euch beim Hauptmann zurück!« befahl er den Goblins. »Sagt ihm, ich hätte einen Plan.« Dankbar stoben die Goblins davon. Zweifellos würden sie vergessen, was er ihnen aufgetragen hatte, und 271
der Hauptmann würde sich über Reods Verschwinden wundern und ärgern. Es würde eine Weile dauern, bis der Ork einen Entschluß faßte. Das reichte ihm. Ich muß hier sein und doch nicht hier sein, dachte Reod, spuckte auf die Erde, die er noch in der Hand hielt und rieb die Handflächen zusammen. Er bat Licht und Schatten, durch ihn hindurchzugehen und die Dunkelheit, ihn zu verhüllen. Wenn ihn niemand genau ansah, konnte er unbemerkt über die freie Fläche gelangen. Aber jeder, der ganz genau aufpaßte und sich wunderte, was geschah, konnte ihn bemerken. Er zwang sich zu höchster Konzentration und überquerte das freie Feld zwischen dem Lager und der Festung. Hoch oben in der Mauer befanden sich schmale Schießscharten. Fast vermeinte er zu spüren, wie die Finger der Zwerge zuckten, um Pfeile und Armbrustbolzen abzuschießen. Nachdem er die halbe Strecke hinter sich gebracht hatte, lockerte er den Zauberspruch und hielt die Hände mit den Innenflächen nach außen gekehrt in die Höhe, damit die Wachen sahen, daß er nicht bewaffnet war. Sie würden keine Goblinhände und keinen Orkkörper sehen. Also würden sie sich wundern, wer er war. Auf diese Verwunderung baute Reod. Sie konnte ihn vor einem Pfeilhagel bewahren. Vor dem Haupttor befand sich ein tiefer, breiter Graben, über den eine Brücke führte. Schritt für Schritt tastete er sich vor. Das Tor war doppelt so hoch wie Reod und beinahe ebenso breit, aus schwerem Holz gefertigt und mit den kunstvollen Eisenbeschlägen versehen, die sie als Zwergenhandarbeit auswiesen. Die kleinere Innentür war mit zwergischen Symbolen verziert. Noch ein Schritt. Und noch einer. Kein Schuß wurde abgegeben. Er erreichte die kleine Tür und atmete erleichtert auf, während er mit der Faust dagegen schlug. 272
»Laßt mich ein!« rief er auf Zwergisch. »Ich muß den Ältesten Hamon sprechen!« Nach einigen Minuten wurde die Tür einen spaltbreit geöffnet. Eine gerunzelte Stirn und ein mißtrauisch blickendes Augenpaar wurden sichtbar. Dann öffnete sich die Tür weit genug, daß Reod von mehreren Händen hindurchgezerrt werden konnte. Als er in dem vom Fackellicht erhellten Gang stand, wurde die Tür sofort wieder geschlossen und verriegelt. Ein Dutzend bewaffnete und in Rüstungen gehüllte Zwerge umringte ihn mit gezückten Schwertern. Der unnachahmliche Geruch heißen Öls drang von oben herunter, wo die Wachen zweifellos auf ein Zeichen warteten, es durch die Schießscharten oder über die Mauerbrüstung zu kippen. Wohin er auch sah, überall standen Männer mit schußbereiten Waffen oder Schwertern. Er war schon früher hier gewesen, in friedlichen Zeiten. Reod erinnerte sich an ein Frühlingsfest, als alle Schießscharten mit Gänseblümchenketten geschmückt worden waren. Ziegen, Schafe, Rehwild und Pferde waren durch das Tor in den Innenhof gebracht worden, wo sie stolz vorgeführt wurden. Die Zwerge tanzten, musizierten und tranken sehr viel Bier. Jetzt überdeckte der Ölgeruch kaum den Gestank der ungewaschenen Krieger, die ihn umringten. Außer den Schwertern richteten sich auch unzählige Pfeilspitzen auf ihn, die nur darauf warteten, von den Sehnen zu schnellen. Es beruhigte ihn, die Zwerge so gut vorbereitet zu sehen. »Wer bist du?« fragte einer der Krieger. »Reod Dai«, sagte er und verbeugte sich leicht. Bei den Zwergen war es üblich, sich vor Freunden und bei Festlichkeiten zu verneigen. Reod wußte, daß die Geste unter diesen Umständen ein wenig zu familiär war, aber er hoffte, die Zwerge so zu überzeugen, daß er wirklich der war, für den er sich ausgab. 273
Der Soldat sah ihn nachdenklich an. Reod fand es beinahe belustigend, daß er dauernd versuchte, jemanden entweder davon zu überzeugen, daß er Reod Dai war, oder sich bemühte, es ihm auszureden. Aber meistens schenkte man ihm keinen Glauben. »Hol den Zweiten Wachoffizier!« befahl der Soldat seinem Kameraden. »Ich glaube, der Dritte hat jetzt Dienst.« »Verdammt, das ist mir egal. Hol den Offizier, wer auch immer es sein mag!« Der Krieger lief davon. »Ich habe von Reod Dai gehört«, bemerkte der erste Mann und starrte den Menschen an. »Eigentlich hätte ich nicht gedacht, daß er so...«, er zögerte und dachte nach, »... so dünn sein würde.« Reod bemühte sich, so höflich wie möglich dreinzublicken. Der Dritte Wachoffizier war ein großer Zwerg, der Reod ansah, nickte und vier Soldaten winkte, ihn zu begleiten. Er führte sie durch die erhellten Gänge der Festung. Der Gestank nach Schweiß war überwältigend. In den Gängen und an den Mauerecken hockten überall Zwerge. Keine Soldaten, sondern in Lumpen gehüllte Stadtbewohner, schmutzige, müde Flüchtlinge, die ihn teilnahmslos ansahen. Einige von ihnen waren sehr dünn - viel zu dünn für Zwerge, und ihre Gesichter waren blaß und eingefallen. Reod vernahm Husten, Weinen und Stöhnen. Oft mußten sich die Krieger einen Weg durch die Zwerge hindurchbahnen. Tamun. Wenn sie hier war, in welcher Verfassung mochte sie sein? Er wäre gerne stehengeblieben und hätte nach ihr gefragt, aber er zwang sich, weiterzugehen und ließ den Blick über jedes Gesicht schweifen, daß er sah. Vor ihm lag ein regloser Zwerg auf dem Boden. Der 274
Offizier rüttelte ihn. »Du kannst hier nicht liegenbleiben.« Der Zwerg rührte sich nicht. »Vielleicht ist er tot«, meinte einer der Krieger. Der Offizier wollte offensichtlich nicht genau nachschauen. »Kümmern wir uns später um ihn.« Einer nach dem anderen kletterte über den leblosen Körper. Eine Wendeltreppe führte zu dem kleinem Kommandoturm, der hoch oben über der Festung ragte. Kalter Wind drang durch die geöffneten Fenster, durch die man die Lagerfeuer der Orks und Goblins sah. Der Älteste Hamon saß an einem Tisch. Der lange, geflochtene Bart war braun, von grauen Strähnen durchzogen. Er stülpte die wulstigen Lippen vor. »Reod Dai? Was für eine Überraschung! Was machst du hier?« »Ich kam, um euch meine Hilfe anzubieten.« »In der Tat? Wie schön für uns.« Hamon runzelte die Stirn. »Aber wie bist du hergekommen?« »Zu Pferd und zu Fuß.« »Aber da draußen wimmelt es von Feinden.« Reod lächelte bescheiden und zufrieden. »Wenn ich irgendwo hin möchte, dann finde ich auch eine Möglichkeit, dorthin zu gelangen.« Diese Antwort hatte er schon oft gegeben. Der Älteste nickte. »Aber ich weiß nicht, warum du ausgerechnet hier sein möchtest.« »Um Zwergen in Not beizustehen.« »Setz dich bitte. Hast du Hunger? Durst? Du hast sicher eine weite Reise hinter dir.« Reod winkte ab. »Wie viele seid ihr? Da draußen müssen zehnmal mehr sein.« Der Älteste schnaubte unwillig. »Ich wünschte, wir wären weniger. Hier drinnen sind einfach zu viele Zwerge. Sie kamen von überall her. Bauern, Bergarbeiter, Handwerker, Schmiede, Mütter, Kinder, Ziegen, Flöhe - alle haben sich hier versammelt. Wir ertrinken in 275
Zwergen, Reod. Ich erinnere mich an das, was du vor Jahren für uns getan hast. Wenn du uns Hilfe anbietest, möchte ich zuerst wissen, welchen Preis du dafür verlangst.« Welche Summe war niedrig genug, um den Ältesten einwilligen zu lassen und hoch genug, damit er nicht an Reods Aufrichtigkeit zweifelte? »Einhundert Goldstücke. Wenn ich Erfolg habe.« Ansonsten würde niemand da sein, der bezahlte und nichts, um damit zu bezahlen. Wenn es um Leben ging, war es am besten, so über den Ausgang der Schlacht zu sprechen, als handele es sich um ein Verkaufsgespräch. Ansonsten machten sich die Leute zu viele Sorgen. Der Älteste spielte mit seinen Zöpfen. »Es hört sich recht annehmbar an.« Es war mehr als nur annehmbar, das wußte sowohl Reod wie auch Hamon. Aber die Krieger sollten nicht denken, daß der Älteste sich übereilt entschied. Hamon zupfte an seinem Bart und sah Reod nachdenklich an. »Na gut«, meinte er schließlich. »Einverstanden.« Ich muß mir die Festung ansehen, wollte Reod sagen. Ich will alle Gebäude und Lagerhäuser sehen. Und die ganze
Zeit würde er nach Tamun Ausschau halten. Aber nein, wenn sie und ihre Familie wirklich hier waren, mußte er sie tatsächlich beschützen und nicht bloß so tun. Das bedeutete eine Wartezeit. Morgen wollte er sich auf die Suche machen. Vielleicht war sie gar nicht hier. Nein. Sie mußte hier sein. Er konzentrierte sich wieder auf den Ältesten. »Erzähle mir alles ganz genau. Alles, was geschehen ist.« Der andere seufzte laut. »Alle Räume sind überfüllt. Die meisten kamen aus Teedmar - wenn sie an den Goblinbanden vorbeikamen. Vor drei Tagen trafen hunderte Zwerge aus den umliegenden Dörfern ein. Vor zwei Tagen kamen noch einmal hundert. Seitdem nie276
mand mehr. Es sind zu viele Orks und Goblins da draußen. Wir haben sogar die unterirdischen Gänge geschlossen, damit niemand mehr hineinkommt. Wir mußten es tun.« Er schüttelte den Kopf und rieb sich mit den Händen über die Wangen. »Wie viele Zwerge sind hier?« »Wann hätte ich sie zählen sollen? Ehe wir die Gänge schlossen, waren es beinahe zweitausend. Inzwischen sind es viel mehr. Reicht es nicht, daß sie jeden Raum und jeden Gang füllen? Nein, denn jeder will sich beschweren. Wir stehen so unter Druck, daß wir die Kranken und Verwundeten nicht versorgen können. Wir schieben sie nur beiseite, damit die Krieger weitergehen können. Haben wir Heilkundige? Wenige! Arzneien?« Er lachte grimmig. »Wir haben Glück, daß wir sie noch ernähren können. Unsere Lager waren reich gefüllt, als die Belagerung begann. Dem Himmel sei Dank für den Regen, sonst hätten wir kein Wasser.« »Wie lange können wir mit den Vorräten auskommen?« Absichtlich schloß sich Reod mit ein. Hamon schien sich ein wenig zu entspannen. Reod merkte ihm an, wie erschöpft er war. »Da wir nicht länger auf die Jagd gehen können, müssen wir von den Vorräten leben. Wenn wir sparsam sind, mag es eine Woche reichen.« Reod sah aus dem Fenster und zählte im Geiste die Orks und Goblins, bedachte ihr Temperament und die Schlachtpläne, die er während der letzten Jahre mit ihnen geschmiedet hatte. Eine Woche konnte ausreichen. »Kannst du uns helfen?« Für einen Zwerg war es ungewöhnlich, mit so sanfter und flehender Stimme zu sprechen. »Ich denke ja. Welche Angriffe haben sie bisher vorgenommen?« »Die Goblins stellen Leitern auf. Es scheint ihnen gleichgültig zu sein, ob sie leben oder sterben, daher 277
müssen wir sie alle mit Öl und Pfeilen umbringen, um sie überhaupt aufhalten zu können. Diejenigen, die es schaffen, über die Mauern zu klettern, sind so wenige, daß wir leicht mit ihnen fertig werden. Aber hast du gesehen, wieviele da draußen warten? Und Orks gibt es auch noch. Sie haben sich verbündet. Das ist noch nie geschehen. Wieso arbeiten sie zusammen?« Reod betrachtete die Lagerfeuer auf der Ebene. »Das ist eigentlich von Vorteil, denn sie vertragen sich nicht sehr gut.« »Aber sie besitzen neue Waffen. Gestern rannte ein Goblin gegen die Mauer an, obwohl wir ihn mit so vielen Pfeilen spickten, daß er unmöglich noch am Leben sein konnte, als er die Steine erreichte. Dann zuckte ein greller Blitz, und Donnergrollen erklang. Rauch stieg auf. Einer unserer Krieger wurde verletzt. Und der Goblin? Er war verschwunden. Das ist Magie.« »Keine Magie. Es handelt sich um Goblineier. Wurde die Mauer beschädigt?« »Nein. Aber heute kam noch ein Goblin. Und gestern, als der Wind aufkam, befestigten sie Flügel an einem Goblin - und er flog! Wie eine Fledermaus! Hoch in die Luft und über die Mauer. Er warf mit Exkrementen gefüllte Säcke auf uns. Wir haben schon genug Schwierigkeiten mit unseren eigenen Abwässern. Auf fünfhundert Bewohner, höchstens tausend sind wir eingerichtet. Jetzt sind es fast dreimal so viele. Die Zwerge werden allmählich erkranken.« »Werft euren Kot über die Mauern.« »Das tun wir. Aber die Goblins scheinen es nicht zu bemerken.« »Wie viele Windvögel habt ihr gesehen?« »Viele, aber nicht alle fliegen.« Die Windvogel wiesen einige Schwachpunkte auf, die Reod sich selbst ausgedacht hatte. »So etwas habe ich noch nie gesehen«, bekräftigte Hamon. »Noch nie.« 278
»Hast du Drachen gesehen?« fragte Reod. »Drachen? Wie sollten sie Drachen herbringen?« Reods Hoffnungsschimmer erlosch. Er beachtete die Schmerzen in der Brust nicht länger und zwang sich, ruhiger zu wirken, als er es in Wahrheit war. »Ich muß die Festung besichtigen. Alle Gebäude, Waffen und Lagerhäuser. Alles.« »Morgen früh«, meinte Hamon. »Wenn es hell ist und du dich ausgeruht hast.« Reod wollte aber nicht warten. Er konnte seine Erschöpfung unterdrücken, aber wenn Tamun hier war, mußte er sie so schnell wie möglich finden. Er suchte nach einem Grund, um auf einer sofortigen Besichtigung zu bestehen, fand aber keinen. »Morgen früh«, stimmte er schließlich widerwillig zu. Reod träumte. Im Traum versuchte Tamun, mit ihm zu reden. Er war gelähmt und nicht in der Lage, ihr zu antworten. Sie sah ihn böse an, wandte sich ab und lief davon. Er versuchte zu rufen und ihr zu folgen, konnte sich aber nicht rühren. Ein Geräusch an der Tür riß ihn aus dem schrecklichen Traum. Noch halb schlafend sprang Reod auf, zückte sein Kurzschwert und stellte sich hinter die Tür. Hamon trat mit einer Fackel in der Hand ein. Ihm folgten ein weiteres Mitglied des Ältestenrates und eine grimmig dreinblickende Frau, die das blonde Haar nach Kriegerinnensitte streng zurückgebunden trug. Wahrscheinlich handelte es sich um die Erste Wachoffizierin. Reod trat hinter der Tür hervor. Hamon zuckte erschreckt zusammen. »Was machst du da? Stimmt etwas nicht?« »Ich empfehle euch, demnächst anzuklopfen.« Der Älteste schüttelte den Kopf und schien nicht zu begreifen, was Reod meinte. Dann bewegte er den Kopf hin und her. »Hörst du sie?« 279
Also war es keine Einbildung gewesen. »Trommeln«, stellte Reod fest. »Ja. Was soll das nun wieder bedeuten?« »Es bedeutet, daß sie alle Kriegstrommeln zusammen- j getragen haben und sie jetzt ausprobieren.« Die Älteste, eine Frau namens Kai, schüttelte den Kopf, so daß ihre hüftlangen, silbrigen Zöpfe hin und her schwangen. »Diesmal hört es sich anders an als sonst. Es scheint eine Bedeutung zu haben.« »O nein. Sie wollen euch nur beunruhigen. Beachtet die Trommeln nicht.« »Bist du ganz sicher?« »Ja. Wie lange dauert es noch bis zum Morgengrauen?« »Die dritte Wache ist fast abgelaufen. Nicht mehr lange.« Reod nickte und vertrieb den letzten Rest des Schlafes und das Bild Tamuns. »Dann sollten wir mit der Besichtigung beginnen.« »Älteste, warte bitte!« flehte die Frau und wischte sich die Nase an ihrem schmutzigen Ärmel ab, während sie sich gegen die Soldaten wehrte, die sie beiseite schieben wollten. »Wir brauchen mehr Brot. Vater geht es sehr schlecht. Er bekommt nicht genug zu Essen. Die anderen haben viel mehr.« »Jeder bekommt gleich viel«, antwortete Kai. »Nein, die anderen kriegen mehr! Sie sagen, sie hätten noch ein Kind im Zelt, aber das stimmt nicht.« »Wir kümmern uns darum«, sagte Kai müde und ging weiter. Die Soldaten bemühten sich, die Ältesten vor den Zwergen abzuschirmen, die sich um sie herumdrängten. »Ältester, bitte!« »Älteste, hör uns zu!« Hamon schloß kurz die Augen. Dann warf er Reod einen gequälten Blick zu. »Da siehst du es!« »Das ist die Waffenkammer«, erklärte Kai, als sie an einer geschlossenen Tür vorübergingen. »Ist fast leer.« 280
Zwei kleine Kinder huschten unter den Armen der Soldaten durch und brachten die Ältesten beinahe zu Fall. »Verschwindet!« brüllte die Offizierin wütend. »Sie sind einfach überall!« seufzte Hamon verzweifelt. »Laßt sie arbeiten«, schlug Reod vor. »Arbeiten? Was denn?« »Das ist ganz egal, aber ihr müßt sie beschäftigen. Sie sollen kochen, aufräumen und alles in Ordnung halten. Wenn das nicht reicht, sollen sie Listen erstellen, wie groß ihre Familien sind, wer überlebt hat und wer nicht. Woher sie kommen, wie alt sie sind. Einfach jede Kleinigkeit.« »Wir haben kaum Platz genug, um uns fortzubewegen. Wenn jetzt auch noch alle anderen hin- und herlaufen, bricht eine Katastrophe aus.« Wieder mußten sie sich an einer Gruppe von Zwergen vorbeidrängen, die aus einer einzigen Schüssel aßen, die von Hand zu Hand ging. »Ältester!« rief einer der Zwerge. »In dem Essen sind Maden! Als wir hierherkamen, gaben wir euch alles, was wir besitzen. Schafe, Ziegen - einfach alles. Und das ist die Gegenleistung?« »Ihr dürft hier nicht stehenbleiben«, meinte einer der Krieger. »Geht in den Innenhof.« »Da ist kein Platz! Und nachts friert es. Wir haben einen Säugling.« Der Krieger sah Hamon unsicher an und wartete auf eine Entscheidung. »Geht weiter!« befahl der Älteste und wandte den Blick ab. »Maden!« murrte ein anderer Zwerg. »Sogar die Goblins haben bessere Mahlzeiten.« Als sie außer Hörweite waren, sagte Reod: »Gebt ihnen Arbeit, sonst zertrümmern sie in Kürze die ganze Festung.« Hamon nickte. 281
»Was ist mit den unterirdischen Gängen?« »Die sind voll«, antwortete Kai mit zusammengepreßten Lippen. »Genau wie die Vorratskammern.« »Von einigen Dörfern ist keine Seele hierhergekommen«, warf Hamon ein. »Vielleicht... vielleicht konnten sie sich verteidigen.« Reod dachte an Kalitas. »Vielleicht.« Er suchte die ganze Zeit über nach einem vertrauten Gesicht. Im dämmrigen Licht des Morgens waren die Zwerge schwer auseinanderzuhalten. Selbst wenn sie nur fünf Fuß entfernt stand, konnte er sie übersehen. Trotzdem gab er nicht auf und versuchte, irgendwie ihre Stimme herauszuhören. Der große Innenhof war noch überfüllter als die Gänge und Hallen der Festung. Familien scharten sich um die kleinen Lagerfeuer. Zelte und umgedrehte Wagen boten ein wenig Schutz vor Regen und Kälte. Säuglinge weinten, und überall liefen Kinder herum. Irgendwo rief eine Frau fortwährend einen Namen. Reod bemerkte keine Tiere. Zweifellos hatte man sie bereits verzehrt. Unter freiem Himmel war der Gestank erträglicher und vermischte sich mit den Essengerüchen. Dennoch konnte man auch hier die Luft kaum als frisch bezeichnen. Die Zwerge starrten ihn mit grimmigen Gesichtern an. Einige zogen böse Grimassen. Er kannte derartiges Benehmen zur Genüge. Die Zwerge, die alles verloren hatten, fürchteten um ihr Leben, waren aber nicht in der Lage, etwas zu unternehmen. Das machte sie wütend. Er war ein Fremder und ein Mensch. Natürlich fragten sie sich, was er hier zu suchen hatte und mißtrauten ihm. Nicht zu Unrecht. Die Soldaten schoben sich durch die Menge, um ihnen einen Weg zur Mauer zu bahnen. Dort löste gerade die erste Wache die dritte ab. Das dauerte recht lange, da sich jeder Krieger bei seinem Vorgänger erkundigen mußte, was während der Nacht vorgefallen war. 282
Diese verdammte Unabhängigkeit der Zwerge! Jeder dieser Soldaten hatte sich seinen Kommandeur ausgesucht, da von keinem Zwerg erwartet wurde, sich den Befehlen eines anderen zu beugen, den er nicht leiden konnte. Im Orden Leitburs hatte Reod oftmals Witze über die Regeln der Zwergenarmee gemacht. Jetzt kam ihm das Ganze nicht besonders komisch vor. Der Himmel wurde allmählich heller, und weiße Wolken zogen auf. In der Ebene regten sich jetzt auch die Goblins. Seit gestern waren noch mehr Karren hinzugekommen, die Waffen, Nahrung und noch mehr Trommeln brachten. Am Waldrand wurde eifrig gebaut. Sie errichteten Belagerungsharme. Es handelte sich um hohe, pyramidenförmige Gebilde, die mit Häuten bezogen wurden. Hinter diesen Aufbauten verbargen sich die Belagerer, um sich der Festung ungefährdet nähern zu können. Die Ältesten und die Offizierin warteten darauf, Reods Meinung zu hören. »Bald werden sie ernsthafte Vorstöße wagen. Morgen, schätze ich. Ihr habt gesehen, daß Goblins und Orks gemeinsam schreckliche Gegner sind, aber eines kann ich euch versichern: Wenn sie nicht schnell Erfolg haben, verlieren sie die Lust. Es ist wichtig, daß ihr die Mauern gut besetzt und stark verteidigt.« »Was ist mit den Trommeln? Wir bemühen uns, die Botschaften auszumachen, die sie sich gegenseitig zutrommeln. Die ganze Nacht geht das so.« »Die Soldaten können nicht schlafen«, klagte Kai. »Wir müssen Tücher in alle Ritzen der Schlafräume stopfen, um den Lärm abzuhalten.« »Es gibt keine Botschaften«, erklärte Reod. »Die Trommeln haben nichts zu bedeuten. Der Lärm kommt und geht in Wellen, nicht wahr?« »Ja.« »Ich kenne den Trick. Die Laute bedeuten nichts. Sie sollen euch nur verwirren und ängstigen.« Kai runzelte die Stirn. 283
»Ich bin eigentlich deiner Meinung«, sagte sie zur Offizierin, »aber er ist schließlich Reod Dai.« Es rührte Reod, daß seine Meinung so wichtig genommen wurde. Er ließ den Blick über das Feld schweifen, wo sich Orks und Goblins um die Flaggen geschart hatten, wie er es ihnen beigebracht hatte. »Seht euch das an«, sagte er und deutete auf das Bauwerk. »Sie bauen noch mehr Türme und Leitern. Ihr müßt sie davon abhalten, die Mauern zu erobern. Nur so können wir die Oberhand gewinnen.« »Haben sie denn keine Goblineier mehr?« erkundigte sich Hamon. »Die meisten Eier werden sie heute und morgen benutzen. Sie dürfen damit nicht in die Nähe der schwächsten Stellen der Mauer gelangen. Und erst recht nicht bis oben an die Wehrgänge.« »Was ist, wenn sie die Eier werfen?« »Das werden sie nicht.« Hamon schien zu zweifeln. »Warum nicht?« »Weil sie gar nicht auf den Gedanken kommen.« »Bist du sicher?« Reod hatte die Goblins darauf gedrillt, die Eier unbedingt zu tragen, da sie sonst nicht den gewünschten Erfolg haben würden. »Ich bin ganz sicher. Jetzt möchte ich die unterirdischen Gänge sehen.« »Die Gänge? Warum denn das? Was erhoffst du dir davon?« Reod bemühte sich, ruhig zu bleiben. »Woher soll ich das wissen, wenn ich nicht nachsehe?« Tamun befand sich nicht in den Gängen. Er suchte überall. Entlang der Wände hockten zerlumpte Zwerge im Halbdunkel, die Knie eng an die Brust gezogen, um ihnen Platz zu machen. Es gab kaum genug Luft zum Atmen, und Reod war froh, wieder an die Oberfläche zu gelangen. 284
Wo war sie? Während sie wieder zum Haupttor schritten, mußte er sich zusammennehmen, um Hamon zuzuhören. »Wir haben die Kranken und Verletzten in den Ställen untergebracht. Jetzt sind auch die Verletzten krank geworden. Aber wenigstens stecken sie so nicht den Rest der Festung an, und ...« Er fuchtelte wild mit den Händen. »... etwas Besseres fällt mir wirklich nicht ein.« Reod ließ die Finger nachdenklich über das feste Holz der Tür gleiten. Irgendwo. Sie mußte hier irgendwo sein. Wenn nicht, dann war sie tot, und daran glaubte er erst, wenn er ihre Leiche sah. »Haltet das Innentor gut bewacht«, sagte er, als sie die Stufen zur vorderen Mauer emporklommen. »Wenn sie versuchen, dort durchzubrechen, könnt ihr ...« Ein Kreischen erscholl, gefolgt von einem lauten Schrei. Die Goblins vor der Mauer heulten auf. Steine flogen über die Brüstung. Einer davon traf Reod am Bein. Der Offizier an der Westmauer brüllte Befehle, und das Geschrei verstummte ebenso schnell wie es begonnen hatte. Draußen auf dem Feld hatte sich die Gruppe Salamander bis zum Fuß der Mauer vorgearbeitet. Ein Goblin war tot, und ein Orkhauptmann brüllte Beschimpfungen und Befehle. Reod wandte sich an den Offizier. »Sie wenden sich zur Nordmauer. Warne deine Krieger.« Eine junge Soldatin winkte ihm zu. »Als du das letzte Mal hier warst, war ich noch ein halbes Kind!« rief sie. »Jetzt ist meine Zeit gekommen!« Sie grinste breit und winkte noch einmal. Die umstehenden Krieger lachten, beobachteten Reod und warteten auf seine Antwort. Tamun, schrie eine Stimme in seinem Herzen. »Verteidige die Mauer, dann hat Gurn einen Grund, dich nach dem Sieg zu feiern!« Stolz hob die Frau die Faust und nickte zustimmend. 285
Reod trat einen Schritt vor, warf ihnen verschwörerische Blicke zu und lächelte. »Kennt ihr ein paar Kampflieder?« »Natürlich!« »Dann singt sie. Zeigt diesen Biestern, daß ihr keine Angst habt. Und haltet aufmerksam Wache.« Die Soldaten brüllten beifällig und begaben sich wieder auf ihre Plätze, wo sie laut und falsch zu singen begannen. Reod wandte sich wieder an den Offizier: »Alle anderen Offiziere sollen ihren Soldaten befehlen, bekannte Kriegslieder zu singen. Dann müssen sie nicht dauernd auf die Trommeln hören.« »Ja, die Trommeln!« seufzte der Offizier. »Sie klingen so eigenartig. Was haben sie zu bedeuten?« »Reod sagt: Gar nichts!« mischte sich Hamon ein. »Wir sollen sie nicht beachten.« In diesem Augenblick bebte die Erde, und von der anderen Seite der Mauer ertönte ein Laut wie Donnergrollen. Schreie, Befehle und Fragen schwirrten durch die Luft. Oben auf dem Wehrgang hielten sich die Krieger die Hände vor die Augen. Einer von ihnen fiel mit blutüberströmtem Gesicht herab. Die junge Frau sprang herbei, um ihm zu helfen. Ein Goblinei war explodiert. Das Geheul und der Lärm verrieten Reod, daß die Goblins dabei waren, daß Tor zu stürmen. »Der Eingang!« brüllte er dem Offizier zu, der sofort kehrt machte und die Treppe hinunterrannte. Die Soldaten auf den Wehrgängen drehten sich um und sahen in den Innenhof hinunter. Dann machten sie sich daran, ihre Posten zu verlassen und dem Offizier zu folgen. Verflucht sei die Neugier der Zwerge! »Zurück!« brüllte Reod sie an. »Zurück auf die Wehrgänge!« Als er die Treppe hinunterstürmte, hielt er nur inne, um die Lage zu überblicken. Vom Eingang her drang 286
Geheul und Waffengeklirr. Der Geruch von brennendem Öl lag in der Luft und überdeckte den Gestank nach Unrat. Ein einzelner Goblin durchbrach die Reihe der Kämpfenden und rannte in den Innenhof. Blut lief ihm den Rücken hinunter, und er schrie aus Leibeskräften. Die entsetzten Zwerge kreischten voller Angst und jagten in wilder Hast davon, wobei sie Zelte und Karren umwarfen. Ein Bogenschütze versuchte vergeblich, eine klare Schußlinie zu bekommen, um den Goblin zu töten. Reod bemühte sich, den Lärm zu übertönen und rief auf Zwergisch: »Schlagt ihn auf den Hinterkopf!« Ein paar Zwerge hoben den Kopf und sahen zu ihm auf. Er hoffte, daß sie noch nicht zu verstört waren, um zu handeln. Am Tor metzelten die Zwerge die meisten Goblins nieder. Die erste Wachoffizierin tauchte neben Reod auf. »Sie trommeln immer noch«, stieß sie keuchend hervor. »Ich glaube, sie werden als nächstes an der Südmauer angreifen. Ich werde dort mehr Krieger aufstellen.« Reod hatte gesehen, daß die Goblins überall herumwimmelten. Sie überschätzte die Fähigkeit der Kreaturen, geordnet vorzugehen. »Nein, nein. Wir schaffen es schon. Deine Soldaten befinden sich alle am rechten Ort. Beachte die Trommeln nicht. Aber hör zu: Ihr müßt das Haupttor sofort ausbessern, wenn die Goblins vertrieben worden sind. Errichtet eine Barriere. Habt ihr Material?« »Bloß ein wenig Holz.« »Befiehl den Soldaten auf den Wehrgängen, daß sie vor allem das Haupttor verteidigen müssen. Sie sollen einen wahren Pfeilhagel abschießen, um die Goblins fernzuhalten. Dann müßt ihr die Barrikade bauen.« »Wir haben kaum Holz übrig, denn das meiste ist verbrannt worden.« Reod sah in den Innenhof hinunter. Der Goblin war tot. Die Zwerge hatten ihn getötet und standen nun 287
schreiend und aufgeregt um den leblosen Körper herum. »Karren«, sagte Reod. »Das haben wir schon versucht. Sie geben sie nicht her.« »O doch.« Reod betrat den Innenhof und kletterte auf einen umgedrehten Karren. Er hob die Arme und klatschte in die Hände. »Ihr habt einen Goblin mit eigenen Händen getötet!« rief er. »Ich bin beeindruckt.« Ein paar Zwerge wandten sich ihm zu. »Haben die Goblins jetzt begriffen, daß mit Zwergen nicht zu spaßen ist?« Zustimmendes Gemurmel erklang. Er lächelte und schüttelte den Kopf. »Nein, daß haben sie noch nicht. Aber sie werden euch noch kennenlernen, und zwar bald und sehr gut!« Immer mehr Zwerge hörten ihm zu. »Wollt ihr, daß euch die Soldaten vor den Horden da draußen beschützen?« Alle nickten. »Natürlich. Das werden sie auch. Aber sie brauchen eure Hilfe.« Jetzt gehörte ihm ihre ganze Aufmerksamkeit. »Hört zu: Ich weiß, daß ihr sehr viel Leid erdulden mußtet. Aber es wird noch viel schlimmer kommen. Die Festung Gurn wird standhalten. Sie fällt nicht!« Er ballte die Faust. »Mit eurer Hilfe. Eure Armee braucht eure Hilfe - und zwar sofort. Hört zu.« Reod half den Leuten, die Karren zum Haupttor zu zerren, wo die Krieger die Goblinleichen beiseite räumten. Schnell wurde eine Barrikade aus Holz und Körpern errichtet. Viele Karren wurden in Einzelteile zerlegt und so gut wie möglich in Lücken gestopft und aufgeschichtet. Soldaten schossen mit Bogen und Katapulten fortwährend in die Flut aus Orks und Goblins, die immer wieder vorwärtsstürmte. Ein zweiter Goblin schaffte den Durchbruch in den Innenhof. Durch ihren vorherigen Erfolg ermutigt, stürzten sich die Zwerge auf ihn und brachten ihn um. 288
»Hinauf mit ihm! Werft ihn über die Mauer!« brüllte die Menge. Reod kämpfte sich zur Treppe vor, um die Zwerge davon abzuhalten, die Wehrgänge zu besetzen. Plötzlich erbebte die Westmauer. Er taumelte und suchte nach Halt. Der tote Goblin war vergessen, und Stille senkte sich über die Flüchtlinge. Reod nahm jeweils drei Stufen auf einmal. Der nördliche Wehrgang war blutbefleckt. Zwei Leichen lagen dort, von anderen Kriegern beiseite geschoben, die ihre Plätze einnahmen. Der Offizier der Westwache rief nach Verstärkung. Reod packte ihn an der Schulter. »Die Mauer wird halten! Bleib ruhig!« Keuchend nickte der Mann. Leitern wurden aufgestellt, deren Enden über die Mauerbrüstungen ragten. Die Zwerge warfen Steine auf die Goblins und stießen mit langen Stangen nach ihnen. Ein Soldat stürmte die Treppe hinauf. »Die zweite und dritte Wache ist wach. Sie wollen wissen, was los ist und wollen auf die Wehrgänge. Ein paar sind schon da.« Hätte es sich um die Belagerung einer icatianischen Festung gehandelt, hätten die Soldaten aller Wachen auf ihren Posten geschlafen, denn die Menschen wurden durch die Kriegstrommeln nicht so sehr beunruhigt, daß sie nicht schlafen konnten. Außerdem hielten sich icatianische Krieger an Befehle. Ausnahmsweise vermißte Reod die Disziplin des Ordens. Der Offizier sah ihn fragend an. »Wir treiben auf stürmischer See«, erklärte Reod. »Wenn jetzt alle gleichzeitig rudern, werden wir schnell müde. Wenn sich der Sturm verschlimmert, sind wir zu schwach, um uns vor dem Ertrinken zu bewahren. Sie sollen in den Quartieren schlafen, wo sie die Trommeln nicht hören können.« »Aber sie wollen nicht unten bleiben.« Reod rang verzweifelt nach Luft. Verdammte Zwerge. 289
Zu stur, um Befehlen zu gehorchen und zu wenig herrschsüchtig, um sie zu erteilen. »Ich sage es ihnen«, teilte er dem Offizier mit. Der Mann nickte. »Ich komme gleich nach.« Reod eilte die Treppen hinunter. In den Gängen hielten sich nicht mehr so viele Zwerge auf. Die Angst vor den Goblins hatte die meisten Flüchtlinge in den Innenhof getrieben, wo sie sich in der Menge sicherer fühlten. Zwergisches Wutgeheul ließ ihn inne halten. In einem Seitengang umringte eine Handvoll Goblins eine Tür. Die meisten der Kreaturen trugen Tierhäute als Rüstung. Einige schwenkten schwere Keulen, andere trugen Schwerter. Sie mußten durch die Barrikade gekommen sein und hatten das Gebäude gestürmt. In wenigen Augenblicken würden die Soldaten da sein und sie töten. Inzwischen stand den Goblins nur eine Zwergin gegenüber. Blut lief ihr den Arm hinunter. Sie hielt ein Kurzschwert in der Hand und ein Strom von Flüchen ergoß sich aus ihrem Mund. Es war Tamun. Die Goblins rückten näher. Reod zögerte. Konnte Tamun die Bande so lange zurückhalten, bis er Soldaten geholt hatte? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Er wollte kein Wagnis eingehen. Er war nicht bis hierher gekommen, um dem Schicksal zu gestatten, sie ihm wieder zu entreißen. »Halt!« brüllte er in der Kampfsprache, die er sie gelehrt hatte und legte so viel Autorität wie möglich in den Ruf. »Aufhören und gehorchen!« Die Goblins erstarrten und drehten sich um. »Ich bin Reod Dai, und ihr seid Idioten. Was macht ihr hier? Ihr verschwendet Zeit! Die kleine Frau steht vor dem Abfallraum. Folgt mir. Die Schatzkammer ist da drüben. Man hat euch befohlen, dorthin zu gehen. Los jetzt!« 290
Sie folgten ihm ohne zu zögern und sahen sehr erfreut aus. Erleichterung ergriff ihn. »Tut uns leid, Herr«, murmelte einer der Goblins. »Schätze, Herr?« erkundigte sich ein anderer. »Schätze.« »Wo?« »Folgt mir!« sagte Reod mit barscher Stimme und schritt eilig voraus. Er gestattete sich einen Blick zurück. Melelki zog Tamun zurück in den Raum. Tamun blickte ihm nach. Anscheinend hatte sie ihn erkannt, aber er wußte nicht, ob sie froh darüber war. Vielleicht war sie schwer verletzt; vielleicht war sie krank. Mit Mühe richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Goblins und trottete die Gänge entlang. Sie mußten sich anstrengen, um mit ihm Schritt zu halten. Tamun lebte. Freude und Erleichterung erfaßten Reod. »Zwergenschätze?« fragte ein Goblin. Was sonst sollte in der Schatzkammer einer Zwergenfestung liegen? Goblins waren wirklich nicht sehr klug. »Was ihr tragen könnt gehört euch. Weiter!« Die Goblins schnatterten fröhlich vor sich hin. Wieder bogen sie um eine Ecke, und Reod blieb stehen. Er brüllte ihnen Befehle zu, wie es die Orkhauptleute taten. »Geht zur Tür am Ende des Ganges. Dort stoßt ihr den Kriegsschrei zweimal aus und geht dann hinein.« Freudig rannten sie los und gehorchten. Vor der Tür hielten sie an, kreischten zweimal laut auf und rissen die Tür auf. Das Geschrei würde die Zwerge rechtzeitig warnen. Reod nickte zufrieden. Wenn die zweite und dritte Wache so wild auf das Kämpfen waren, bot er ihnen eine kleine Kostprobe mit diesen Goblins. 291
Er begab sich auf den Rückweg zu Tamun, als die Ältesten und ihre Wachen ihn aufhielten. »Sie stürmen das Haupttor«, berichtete Kai aufgeregt. »Immer wieder«, fügte Hamon hinzu. »Jeden Augenblick haben sie es geschafft.« »Das ist gut«, meinte Reod. »Ich denke, daß sie in kleinen Gruppen vorgehen. Da immer nur ein paar gleichzeitig durch die Öffnung passen, töten wir sie, so wie sie hereinkommen. Sie sollen ruhig denken, daß sie es schaffen, denn dann werden sie gar nicht nach anderen Möglichkeiten suchen, sondern sich euren Schwertern geradezu entgegenwerfen.« »Können wir sonst nichts tun?« »Wir bringen sie scharenweise um, Ältester. Sie haben mehr Mut als Verstand. Das habt ihr doch schon gemerkt. Haltet euch tapfer, und sie werden nicht durchkommen.« »Aber sie sind doch schon durchgekommen! Sie streunen durch die Gänge. Vor kurzem waren zwei im Innenhof.« »Sie sind beide tot. Getötet von Zwergen, die endlich begriffen haben, daß sie mehr tun können als nur herumstehen. Ein paar Goblins werden es schaffen, aber die bringen wir hier drinnen um. Es ist bloß ein Geduldsspiel, Ältester. Wir müssen aushalten. Und das werden wir auch.« »Die Trommeln«, meinte Kai. »Bist du sicher, daß sie keine Bedeutung haben?« »Ja.« »Vielleicht sollten wir die zweite Wache rufen«, schlug Hamon vor. »Du mußt die Soldaten gut einteilen. Wenn sie so wild darauf sind, dann laß sie eine Weile kämpfen, aber dann müssen sie sich wieder ausruhen. Wir müssen die Angreifer tagelang abwehren. Wenn wir zu früh ermüden, begehen wir später Fehler.« Ein Knabe näherte sich, der so jung war, daß er sicher 292
noch bei seiner Mutter lebte. Dieses Alter bezeichneten die Zwerge als >Fast-schon-weg<. Das Kind hielt einen langen Stock in der Hand, den es wie ein Schwert handhabte und kreischte, während es nicht vorhandene Gegner niederstach. Es bemerkte die Erwachsenen überhaupt nicht. »Hör sofort damit auf!« schimpfte Hamon. »Was glaubst du denn, was du da tust?« Der Junge blieb stehen, sah auf und entdeckte Reod. »Wo sind sie?« fragte er. »Die Goblins. Wo hast du sie hingebracht?« Die Ältesten sahen Reod fragend an. Er überlegte. Zwerge logen fast niemals. Sogar die Kinder waren überraschend ehrlich. Sie waren ein so eigensinniges Volk, daß sie kaum je einen Grund sahen, um zu lügen. Wenn er das Kind der Lüge bezichtigte, konnte das auf ihn zurückfallen. »Ich habe sie zu den Quartieren der Wache geschickt«, erklärte Reod. »Die Soldaten sollten sich um sie kümmern.« Der Knabe blickte neugierig den Gang entlang, als könne er die Kämpfenden dort erblicken. »Sind sie alle tot?« »Wahrscheinlich. Die Zwergenkrieger waren in der Überzahl.« »Oh.« Enttäuscht verzog er das Gesicht und schleuderte den Stock wütend beiseite. Dann drehte er sich um und lief in die Richtung, aus der er gekommen war. Die Offizierin der ersten Wache, die gerade um die Ecke bog, hätte ihn beinahe über den Haufen gerannt. Kai sah Reod mißtrauisch an. »Wie viele waren es?« »Eine Handvoll.« Hamon runzelte die Stirn. »Du hast mit ihnen gesprochen?« »Sie bedrohten ein paar Frauen. Flüchtlinge. Ich lenkte sie ab und führte sie zu den Quartieren.« »Wieso sprichst du ihre Sprache?« fragte Hamon. 293
»Ich spreche viele Sprachen, die den Menschen nicht zu eigen sind. Eure zum Beispiel.« Er erwiderte die grimmigen Blicke und bemühte sich, ein wenig überrascht auszusehen. »Glaubt ihr etwa, ich hätte euch in der Vergangenheit beistehen können, wenn ich nicht mit euren Feinden verhandeln könnte?« »Aber du erteilst ihnen Befehle«, entgegnete Kai. »Sie sind dir gefolgt.« Reod zuckte die Achseln. »Sie sind dumm und denken nicht nach.« Die Offizierin mischte sich ein. »Ich kann auch ein wenig Goblinisch, Reod Dai, aber mir gehorchen sie nicht.« Kai schüttelte den Kopf. »Ich habe noch nie gehört, daß ein Mensch Goblins kommandiert. Was hast du gesagt, um ihre Blutgier von den Zwerginnen abzulenken?« »Ich sagte ihnen, es gäbe eine Schatzkammer. Dann führte ich sie zu den Wachquartieren.« »Und sie glaubten dir?« »Anscheinend.« »Wieso?« Er wurde allmählich wütend. »Fragt die Zwerginnen, was ich getan habe. Fragt jene, deren Leben ich rettete.« »Er sagt die Wahrheit«, warf die Offizierin ein. »Ich sah von weitem, wie die Flüchtlinge bedroht wurden. Er führte die Goblins weg.« Reod war erleichtert, ließ es sich aber nicht anmerken. »Danke. Ihr Ältesten, wir befinden uns mitten in einer Schlacht und ...« »Die Goblins redeten ihn mit >Herr< an«, fuhr die Frau fort. »Das Wort ist mir bekannt. Sie nannten ihn Herr und gehorchten ihm.« Eine weitere Explosion erfolgte, und Reod war froh über die Ablenkung. »Ihr Ältesten, wir werden belagert. Haben wir Zeit für Geplauder? Laßt mich die Arbeit ver294
richten, für die ihr mich angeheuert habt und euch vor diesen Kreaturen schützen.« »Vielleicht bist du der Grund, daß sie überhaupt hier sind«, meinte Hamon nachdenklich. »Was?« Kai nickte. »Was wäre schlauer, um uns zu vernichten, als einen Spion auszuschicken, der sich für einen Verbündeten ausgibt? Das würde auch erklären, wieso es dir gelang, unverletzt durch tausend Goblins bis zu uns zu kommen.« »Ich bin kein Spion. Ihr beurteilt mich falsch. Ich bin gekommen, um euch zu helfen. Mit Orks und Goblins verbindet mich gar nichts.« »Warum folgen sie dir dann?« »Weil sie Schätze lieben.« »Vielleicht. Vielleicht auch nicht.« Reod bemühte sich, seine Verzweiflung nicht offen zu zeigen. Er mußte vernünftig mit ihnen reden. »Es stimmt, daß ich viel über Orks und Goblins weiß. Deshalb reden sie mich mit >Herr< an. Aber mein Wissen habe ich euch mitgeteilt, damit es euch zum Schutz dient. Deshalb kam ich hierher, setzte mein Leben aufs Spiel, und reiste quer durch das blutgetränkte Land, um Gurn zu retten.« Und um eine Frau zu finden. Aber er wollte Tamun nicht erwähnen. In Zeiten wie diesen wurde die Liebe eines Menschen zu einer Zwergin nicht gern gesehen. Aber vielleicht würde Tamun zu seinen Gunsten sprechen? Aber nein, die Mienen der Ältesten verhießen nichts Gutes. Ihr Vertrauen zu ihm schwand im Handumdrehen und wurde von Mißtrauen ersetzt. Unter den eisigen Blicken der Zwerge wurde Reod von jeglicher Zuversicht und allem Kampfgeist verlassen. Hatte er so viele Jahre hart gearbeitet, damit es so endete? Sein eigenes Volk sah ihn als Deserteur und Verräter an. Für die Elfen war er derjenige, der während der Hungersnot ihre Nahrung und Festung vernichtete. Die 295
Schwarze Hand würde ihn als Anführer der Trullrebellion ansehen. Und jetzt hielten ihn die Zwerge für einen Spion. Wenn ich überlebe, sagte er sich mit einem schwachen Anflug von Humor, unternehme ich eine lange Seereise nach Vodalia. »Du redest so doppeldeutig, wie es alle Menschen tun«, sagte Hamon. »Vielleicht sagst du die Wahrheit, vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall kommandierst du die Goblins. Daher können wir dich nicht frei herumlaufen lassen.« Er wandte sich an die Wachen: »Bringt ihn in den Turm. Laßt ihn nicht allein, und hört nicht auf das, was er sagt.« Vier Soldaten ergriffen ihn. Reod wehrte sich nicht. Als man ihn fortbrachte, hörte er Kai sagen: »Da sind die Trommeln schon wieder. Ich glaube, er hat uns auch damit belogen. Sie trommeln sich Botschaften zu. Ich kann sie fast verstehen. Als nächstes werden sie von Süden her angreifen. Wir müssen unsere Krieger dort aufstellen. Hamon, du hörst es doch auch, nicht wahr?« Reod war schon zu weit entfernt, um Hamons Antwort zu verstehen.
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Der Friede wird bei Türk' und Heiden schlummern, Und hier im Sitz des Friedens wilder Krieg Mit Blute Blut und Stamm mit Stamm verwirren, Zerrüttung, Grausen, Furcht und Meuterei Wird wohnen hier ...
- Shakespeare, Richard II
Durch das offene Fenster des Kommandoraumes wehte ein kalter, feuchter Wind. Trotzdem stand Reod am Fenster, blickte auf den Innenhof und die Ebene und beobachtete die Geschehnisse. Die Goblins hatten das Haupttor immer wieder gestürmt, und jedesmal hatte eine Handvoll von ihnen überlebt und war bis zur Innentür gelangt. Die zweite und dritte Wache hatten sich zur ersten gesellt, um gemeinsam gegen die Angreifer vorzugehen. Inzwischen hatten die Feinde die Belagerungstürme fertiggestellt und vor die Mauern der Festung getragen. Von dort aus ließen sie Windvögel steigen. Einige fielen sofort zu Boden, andere krachten gegen die Mauern der Beweis dafür, daß sich die Goblins an Reods Anweisungen hielten. Wenigen gelang es, über die Wehrgänge hinwegzufliegen, und die Goblins bewarfen die Zwerge zuerst mit Steinen, dann mit Kot und gegen Abend mit den zerkauten Überresten der eigenen Toten. Letzteres war Reods Idee gewesen. Auf diese Weise wurde der Feind zermürbt, jedoch kein weiterer Schaden angerichtet. Es beruhigte ihn eigenartigerweise, daß sich die Goblins an seine Vorschläge erinnerten und hielten. 297
Während er wartete, wandelte sich die anfängliche Erleichterung, Tamun am Leben zu wissen, erst in Unsicherheit und schließlich in Furcht. Inzwischen mußte sein Name in der ganzen Festung bekannt sein. Tamun wußte, daß er hier war. Wenn sie die Ältesten bat, ihn besuchen zu dürfen, würden sie es ihr sicher nicht verbieten. Vielleicht versuchte sie auch, ihn durch ihr Schweigen zu schützen. Oder sich selbst. Vielleicht war sie schwer verletzt. Die heilkundigen Zwerge waren so überarbeitet, daß es gut möglich war, daß sie irgendwo herumlag und litt. Er verstand sich auf Heilkunst. Wenn er doch nur zu ihr könnte ... Aber die drei Wachen ließen sich nicht erweichen. Vielleicht wollte sie ihn auch nicht sehen. Daran mochte er gar nicht denken. Leitern knallten gegen die Mauer. Goblins mit Rüstungen, in Lumpen gehüllt und oft sogar fast nackt, kletterten herauf und wagten erneute Vorstöße. Wieder und wieder war es das gleiche Spiel: Ein paar Goblins kamen durch und rannten durch die Wehrgänge und die Treppen hinunter, ehe man sie umstellte und tötete. Wenn sie bis in den Innenhof gelangten, stürzten sich die Flüchtlinge auf sie, die größtenteils die Furcht vor den grünen Wesen verloren hatten. Bei jedem neuen Ansturm versteckten sich ein paar Goblins in der Festung, um später aufzutauchen und dem gleichen Schicksal wie ihre Vorgänger zu begegnen. Wann immer das Dröhnen der Trommeln sich veränderte, verstummten die Lieder der Krieger, und die Zwerge liefen aufgeregt hin und her, um sich auf einen Angriff an anderer Stelle vorzubereiten, der aber nicht erfolgte. Gegen Nachmittag bemerkte Reod, wie die ersten Krieger ermüdeten. Sie hockten zusammengesunken in den Wehrgängen und zogen die Waffen weniger schnell. Weitere Goblins stürmten die Festung. Bei Einbruch der Dunkelheit begann es zu regnen. Die Ältesten kehrten in den Turm zurück und brachten 298
kleine Portionen Brot und Käse mit. Hamon reichte Reod seinen Anteil. Also war er noch nicht entbehrlich. Noch nicht. Nach einer Weile verließen alle bis auf Hamon und Kai das Zimmer. »Ich finde, wir schlagen uns tapfer«, meinte Hamon und sah aus dem Fenster. »Was meinst du?« »Soll ich sagen, was du hören willst oder was ich wirklich denke?« Reod war müde, enttäuscht, sorgte sich um Tamun und fror erbärmlich. Da war es nicht einfach, diplomatisch zu sein. Hamons Gesicht lief rot an. »Glaubst du etwa, wir bedürfen deines Zuspruchs, um für unser Leben zu kämpfen? Wir brauchen dich keineswegs.« »Tut mir leid«, antwortete Reod aufrichtig. »Ich bin genauso müde wie deine Truppen. Ältester, sieh dir deine Soldaten an. Sie brauchen mehr Schlaf. Heute macht sich das bei Kleinigkeiten bemerkbar. Ein verfehltes Ziel. Ein Zank zwischen Freunden. Aber morgen kann es mehr sein. Und bald ist es zu spät.« Kai grunzte abfällig. »Wie alle Menschen versuchst du, uns zu prophezeien, was wann geschehen wird. Woher willst du das wissen? Und selbst wenn du recht hast - zu wessen Gunsten sprichst du? Zu Gunsten der Angreifer? Hamon, wir sollten nicht auf ihn hören. Sein Gerede ist wie eine Krankheit, die unsere Kraft verzehren will, damit wir an uns selbst zu zweifeln beginnen.« Hamon seufzte. »Vielleicht hat er recht. Wir alle sind müde.« »Die Goblins reden ihn mit >Herr< an«, gab Kai zu bedenken. Die folgende Stille lastete schwer und drohend über dem Turmzimmer. »Du sagst ja gar nichts?« fauchte Hamon. Reod merkte, daß Hamon ihm gerne glauben wollte. »Was soll ich sagen? Daß ich unschuldig bin? Ich habe 299
auf eure Beschuldigungen bereits geantwortet. Wenn du mir vorher nicht geglaubt hast, wirst du es jetzt auch nicht, oder? In der Vergangenheit setzte ich mein Leben für dein Volk aufs Spiel. Wenn du mir trotzdem nicht vertraust, was soll ich da noch lange reden? Wie kann ich dir das Gegenteil beweisen, solange ich dein Gefangener bin? Indem ich nichts falsch mache?« Kai schüttelte den Kopf. »Menschengeschwätz. Wir brauchen es nicht. Wir müssen handeln. Da draußen, mit Schwertern, Steinen und Öl.« Reod holte tief Luft und versuchte es noch einmal. »Im kältesten Winter mag die Oberfläche eines Teiches fest genug aussehen, um darüberzugehen. Wenn nicht, merkt man es rechtzeitig und zieht sich zurück. Oder man versinkt in den eisigen Fluten.« »Genug!« rief Kai mit zorniger Stimme. »Wir haben genug von deinem Gerede!« »Es bleibt euch nicht mehr viel Zeit. Hört mir zu, ich bitte euch ...« Sie zog das Schwert und richtete die Spitze auf seine Kehle. »Schweig!« Er schwieg. Sie brachten ihm Decken und bewiesen damit, wie verwirrt sie in Wirklichkeit waren. Er hüllte sich ein und rollte sich in der Ecke zusammen, die am weitesten vom Fenster entfernt lag. Die ganze Nacht hindurch unterhielten sich die Zwerge über ihre Pläne, während Reod zu schlafen versuchte. Vor vielen Jahren, als er zum ersten Mal mit dem Orden in die Schlacht zog, um gegen die Schwarze Hand zu kämpfen, wunderte sich eine Kameradin, wie er vor einem Kampf so fest schlafen konnte. Er hatte sie angelächelt. »Was kann denn so wichtig sein, daß es mir den verdienten Schlaf rauben könnte?« »Der Tod«, lautete die Antwort. 300
Reod schüttelte den Kopf. »Ich gestatte der Angst nicht, mich zu beherrschen, nicht einmal der Todesangst. Wenn ich das zuließe, würde es nicht lange dauern, bis mich sogar das Atmen meiner Kameraden vom Schlaf abhielte. Was wäre das für ein Leben?« Sie hatte laut über seine Worte gelacht, über seine Überheblichkeit und Eigenart, und dabei hatte sie ihre eigene Furcht vergessen. In jener Nacht weckte das Schluchzen eines jungen Mannes Reod auf. Aber das gleichmäßige, leise Schnarchen der Soldatin wiegte ihn wieder in den Schlaf. Jetzt kamen ihm jene Worte wie die Ansichten eines sehr jungen Mannes vor, der nur sichere Zeiten kennt. Heute konnte er nicht einschlafen. Diesmal lag es nicht an der Angst vor dem Tod, sondern an der Furcht, Tamun nie wiederzusehen. Die Festung konnte fallen, und er würde mit ihr untergehen. Aber zuerst mußte er Tamun finden und alles tun, was in seiner Macht stand, um sie zu retten. Wenn es bedeutete, Goblins anzuführen, mit Orks zu verhandeln und Verbündete anzulügen und zu betrügen - nun, er war dazu bereit. Als er endlich einschlief, hatte er Alpträume, in denen das Blut in Strömen durch die Gänge floß. Ein Stoß in die Rippen weckte ihn. Die Offizierin der zweiten Wache hatte ihn mit der Stiefelspitze angestoßen. Die Ältesten waren verschwunden, aber die drei Wächter befanden sich noch im Raum. Er blinzelte sie schläfrig an und sah am Dämmerlicht, daß es noch nicht Morgen war. »Die ganze Nacht wurde über dich geredet«, sagte die Zwergin. »Man behauptet, daß du die Goblins befehligst, uns betrogen hast und der Kampf deshalb so hart ausfällt. Manche sagen, du verdienst den Tod. Bist du ein Verräter, Reod Dai?« Reod richtete sich auf und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Mauer. 301
»Das hängt davon ab, wen du fragst.« Sie hockte sich vor ihn und sah ihm fest in die Augen. »Ich frage dich.« »Dann bin ich kein Verräter.« »Du behauptest, die Trommeln hätten nichts zu bedeuten, aber ich habe ihnen die ganze Nacht zugehört. Die Goblins greifen in Wellen an, sobald die Trommeln schneller schlagen. Wie kannst du da sagen, sie hätten keine Bedeutung?« »Das ist bloß Einbildung. Der Trommelklang ändert sich fortwährend. Wenn die Goblins angreifen, schlägt dein Herz schneller, und du meinst, es seien die Trommeln. Aber das stimmt nicht. Es ist nur ein Trick.« »Wie kannst du dir so sicher sein?« Was hatte er schon zu verlieren? »Weil ich sie diesen Trick lehrte.« »Du?« »Ja.« Sie starrte ihn eine Weile ungläubig an, schnaubte verächtlich, stand auf und ging. Aber er hatte den Zweifel in ihren Augen bemerkt. Vielleicht erinnerte sie sich später daran, wenn es darauf ankam. Vielleicht auch nicht. Reod stand auf und trat ans Fenster. In dem schwachen Licht erblickte er Fackelschein und Gestalten, die auf der Ebene herumliefen. Kleine Goblingruppen warfen die ersten Steine über die Mauern. Goblins konnten im Dunkeln recht gut sehen. Sie hätten auch nachts angreifen können, aber da ihnen Reod Dai vor Jahren erzählt hatte, daß ein nächtlicher Angriff unweigerlich fehlschlug, taten sie es nicht. Den Orks kam es seltsam vor, daß die Goblins nachts nicht kämpften, aber sie hatten sich damit abgefunden. Wieder ein Same, den Reod gepflanzt hatte, damit die Feinde nicht zu erfolgreich wurden. Jetzt brach der Morgen an und sie regten sich. Allmählich erloschen die Lagerfeuer. Blasses Sonnenlicht 302
drang durch die grauen Wolken. Weitere Belagerungstürme wurden vor die Mauern der Festung geschleppt. Auf den Wehrgängen liefen zu viele Zwerge herum, die Wache hielten, anstatt sich auszuruhen. Alle wirkten müde und erschöpft. Eine junge Zwergin betrat den Raum und brachte ihm einen Napf mit Brei und einen Krug Wasser. Sie verschwendeten immer noch kostbares Essen, um ihn am Leben zu erhalten. Die Zwerge hatten sich noch nicht an die grausamen Entscheidungen gewöhnt, die der Krieg mit sich brachte. Sie richteten ihn nicht hin, ließen ihn nicht verhungern und hörten ihm nicht zu. »Danke«, sagte Reod zu dem Mädchen. Erstaunt riß sie die Augen auf. Im Geiste sah er die Gesichter der Kinder vor sich, denen er im Laufe seines Lebens begegnet war. Dankbarkeit, Hunger und Furcht hatten sich darauf abgezeichnet. Seit vielen Jahren betrachtete er Kinder nur noch als die jüngsten tragischen Gestalten der Kriege. Tamun würde das bestimmt anders sehen. Sie wollte eigene Kinder haben und in diese unsicheren Zeiten hinein gebären. Sie stammten aus völlig verschiedenen Welten. Vielleicht war es gut, daß sie nicht zu ihm kam. Es wurde immer heller, und der Kampf um Gurn ging weiter. Nachdem im Laufe des Vormittags eine Weile Ruhe eingekehrt war, ertönte plötzlich lautes Geschrei. Ein Strom von Goblins ergoß sich über die Mauern. Soldaten stürmten ihnen entgegen und metzelten sie nieder. Die Wehrgänge färbten sich rot vom Blut. »Heute kommen mehr als gestern«, sagte Hamon, der plötzlich hinter Reod stand. »Genau wie du vorhergesagt hast.« War das eine Anschuldigung oder ein Eingeständnis? Reod schwieg. Vor dem Tor gab es eine Explosion. Soldaten verließen die Wehrgänge und eilten die Leitern hinab. 303
Hastig fragte Hamon: »Was glaubst du, wie lange es dauert, bis sie aufgeben?« »Mehrere Tage«, antwortete Reod. »Vielleicht auch eine Woche.« »Und dann verschwinden sie?« »Ich denke schon.« »Ich wünschte, ich könnte dir glauben.« Wieder ließ eine Explosion die Erde erbeben. Lautes Geheul folgte. Die Flüchtlinge im Innenhof drückten sich gegen die Ostmauer, die am weitesten vom Tor entfernt lag. Ihr Kampfesmut schien sie verlassen zu haben, denn nun quollen Dutzende Goblins durch die Tür zum Hof. Oben auf dem Wehrgang brüllte ein Offizier nach Verstärkung. Die Soldaten mußten gegen die Flüchtlinge ankämpfen, die sich jetzt auf die Mauern retten wollten. Hamon seufzte und verschwand eiligst. Reod beobachtete, wie der Älteste den Wehrgang entlangstürmte und sich rechtzeitig duckte, um einem Steinhagel auszuweichen. An der Westseite wachten zu wenig Soldaten. Drei Leitern lehnten an der Mauer, und ein Zwerg wurde von grünen Klauen gepackt und über die Brüstung gezogen, ehe seine Kameraden eingreifen konnten. Von unten erklangen Jubelrufe, die sich zu wildem Gebrüll steigerten. Jetzt sah es so aus, als stürmten die Goblins noch heftiger vor als bisher. Ihre Kriegsrufe erfüllten die Luft, und ein wahrer Regen aus Speeren segelte in den Innenhof hinunter. Wieder brüllte der Offizier nach Verstärkung, und diesmal klang seine Stimme verzweifelt. Einer von Reods Wärtern verließ den Raum. Die anderen beiden traten ans Fenster. Die Zwerge schleuderten mit ihren Katapulten Steine auf die Belagerungstürme, die jetzt dicht vor den Mauern standen. Die meisten Geschosse verfehlten ihr Ziel und fielen zwischen die wartenden Angreifer. Als ein Turm endlich getroffen wurde, schwankte er heftig, 304
blieb aber stehen. Die Feinde ließen Windvögel von den Türmen aufsteigen, die über den Innenhof segelten und die Flüchtlinge mit blutigen Goblineinzelteilen überschütteten. Reod sah genau hin und bemerkte, daß es sich auch um Körperteile von Zwergen handelte. Er seufzte und schloß die Augen. Das war genau das richtige, um die Zwerge noch verängstigter und mutloser zu machen. Reod hatte noch nicht viele Schlachten als Beobachter miterlebt. Seine Arme und Schultern schmerzten, so heftig klammerte er sich am Fensterbrett fest. So war es also, wenn man verteidigt wurde, anstatt selbst zu verteidigen. Es gefiel ihm nicht, einfach nur abzuwarten. Die Goblins, die in den Hof gelangt waren, wurden niedergemacht, während sich die Soldaten auf der Westmauer von Goblins überrollt sahen. Der Offizier wurde über die Mauer geworfen. Die Krieger verloren an Boden und mußten Schritt für Schritt zurückweichen. Reod beugte sich vor und brüllte den Soldaten im Hof zu, sich schleunigst auf die Westmauer zu begeben. Zu spät. Zwerge schrien und starben. Immer mehr Goblins kletterten über die Mauer. Überall brüllten Offiziere nach Verstärkung. Reods Wächter blickten einander an. »Du bleibst hier!« sagte einer der beiden und lief davon. Der andere trat von einem Bein aufs andere und beobachtete den Fortgang der Schlacht voller Entsetzen durch das Fenster. Reod hatte schon viele Kämpfe überlebt, und nicht alle waren siegreich ausgegangen. Die Zwerge würden die Festung nicht halten können. Irgendwo da draußen war Tamun. Reod warf dem letzten Wächter einen abschätzenden Blick zu. Er trug eine Rüstung und war schwer bewaffnet. Reod hatte nur die bloßen Hände zur Verfügung. Wieder schaute er aus dem Fenster und sah Zwerge 305
fallen. Die Goblins kreischten blutrünstig. Die Schreie der Flüchtlinge wurden immer schwächer. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Festung fiel. Ein Schatten flog über Gurn. Sekena hielt sich am Hals des Drachens fest und starrte hinab auf die winzigen schneebedeckten Berggipfel. Der da? Nein, der war es nicht. Endlich waren sie auf dem Weg. Als der Drache sie vor ein paar Wochen nach Gurn geflogen hatte, war er außer Sichtweite der Festung gelandet, um die Zwerge nicht zu erschrecken. Mama und Tamun waren zu Fuß weitergegangen, und Sekena hatte gesehen, wie sie die Festung erreichten. Hunger, hatte ihr der Drache mit ärgerlichen Zischlauten mitgeteilt. »Wir können jetzt nicht einfach verschwinden!« Entweder fresse ich deine Freunde oder die Freunde von jemand anderen, antwortete er. Du darfst es dir aussuchen.
Also hatte er sich auf die mehrere Tage andauernde Jagd begeben. Diesmal suchte er nach großen Mahlzeiten, nicht bloß nach kleinen Happen wie gerösteten Goblins. Die jungen Drachen beobachteten ihn und verzehrten die spärlichen Überreste seiner Beute. Sekena fiel es schwer, den Drachen beim Fressen zuzusehen. Dann waren sie zur Höhle zurückgekehrt, und die Drachen hatten geschlafen. Tagelang. Inzwischen war Sekena vollkommen sicher, daß der große Drache sie verstand. Als sie ihn weckte und darauf drängte, nach Gurn zurückzukehren, riß er einen Moment lang die Augen auf und schlief sofort wieder ein. Sie redete lange Zeit auf ihn ein, aber er beachtete sie überhaupt nicht und schnarchte vor sich hin. Mehrere Tage lang widerstand sie der Versuchung, ihn gegen die Nase zu treten, aber schließlich tat sie es 306
doch. Unwillig schubste er sie beiseite. Als sie nicht locker ließ, packte er sie, klemmte sie sich unter den Flügel und schlief zufrieden weiter. Irgendwann wachte der Drache auf. Nach dem erholsamen Schlaf streckte er sich stundenlang und überhörte Sekenas Fragen, Beschwerden und Beleidigungen. Dann setzte er sie auf seinen Nacken und flog davon, auf die Festung zu. Die Jungen folgten ihnen. Jetzt befanden sie sich endlich über der Festung. Da unten lag sie - winzig klein, nicht größer als ein Backstein. Aber irgend etwas stimmte nicht. Graugrüne Ameisen schienen über den Backstein zu krabbeln. Unzählige kleine Rauchfahnen stiegen auf. Sie brüllte den Drachen an. Vielleicht zischte sie auch, denn inzwischen war ihr seine Sprache vertraut. »Tu etwas! Wir müssen Mama und Tamun finden und sie mitnehmen. Oder die Festung beschützen!« Der Drache landete auf einem Berg nahe der Festung und setzte Sekena ab. Sie protestierte lauthals, denn sie wußte, daß er sie hierlassen wollte. Der Drache breitete die Flügel aus und flog auf die Festung zu. Die beiden Kleinen folgten ihm. Mit einem Atemzug setzte der Drache viele Goblins in Brand, die rückwärts von der Mauer stürzten. Gleich darauf erschienen neue Angreifer und wagten den nächsten Vorstoß. Der kleinste Drache sah sich plötzlich einem Windvogel gegenüber. Erst in der vergangenen Woche hatte er gelernt, Feuer zu spucken und zeigte den Goblins seine Kunst. Der Windvogel stand sofort in hellen Flammen und fiel taumelnd zur Erde. Der andere kleine Drache flog über die Ebene und spuckte an den Stellen Feuer, die der Große ausgelassen hatte. Die Goblins schleuderten Speere gen Himmel. Die meisten verfehlten ihr Ziel und fielen wieder zu Boden, aber ein paar bohrten sich in die Leiber der Drachen. 307
Eines der Jungen schrie gellend auf und versuchte einen Speer abzuschütteln, der sich durch seinen Flügel gebohrt hatte. Es konnte sich nicht länger in der Luft halten und stürzte ab. Die Goblins fielen über den Drachen her. Er tötete ein paar der Angreifer, aber sofort stürzten sich andere Goblins auf ihn und begruben ihn unter sich. Auch der große Drache mußte etliche Treffer hinnehmen. Als er zu Sekena zurückkehrte, tropfte Blut über seine Flanken. Zitternd vor Angst entfernte Sekena die Speere, während er vor Schmerz laut zischte und fauchte. »Dumm, dumm, dumm!« schimpfte sie vor sich hin und war ausgesprochen dankbar, daß er zurückgekehrt war. Der überlebende junge Drache landete neben ihnen. Zitternd stand er auf dem Felsen und stieß leise, zirpende Jammerlaute aus. Der große Drache befahl ihm zu schweigen. Der Kleine gehorchte und starrte traurig auf die Ebene hinunter, wo sein Bruder umgekommen war. Als Sekena den letzten Speer aus dem Leib des Drachens entfernte, weinte sie haltlos. Er beugte sich zu ihr hinab und blies seinen warmen Atem tröstend über sie hinweg. Langsam ließ das Zittern nach, und sie sog den herrlichen Geruch in tiefen Zügen ein, während sie sich fest an ihn drückte. Der Hoffnungsschimmer, der bei dem Angriff der Drachen entfacht worden war, erlosch wieder. Die Goblins faßten den Rückzug der geflügelten Wesen als Ermunterung auf. Wieder schwärmten sie über die Mauern, und diesmal konnten ihnen die Zwerge kaum Einhalt gebieten. Die junge Zwergin, die gestern mit Reod gescherzt hatte, stand immer noch auf dem Wehrgang, schien aber um Jahre gealtert zu sein. Sie gehörte zu den wenigen, 308
die bis vor kurzem Kampflieder gesungen hatten. Jetzt schwieg auch sie. Tamun. Der letzte Wächter warf Reod einen prüfenden Blick zu. Er hatte Ringe unter den Augen, tiefe Falten zeichneten sich auf der Stirn ab, und er zitterte vor Ungeduld, endlich handeln zu können. »Geh nur«, sagte Reod, und der Zwerg rannte davon. Reod folgte ihm kurz darauf. Zuerst mußte er Tamun finden. Er warf sich eine Decke über den Kopf und die Schultern, um die schwarzen Haare und das Gesicht zu verbergen. Als er den Wehrgang entlanglief, duckte er sich, um kleiner zu wirken und ein weniger deutliches Ziel abzugeben. Außer ihm befand sich niemand hier oben, der weder Helm noch Rüstung trug. Reod fühlte sich ausgesprochen verletzlich. Dicht vor ihm spießte ein Krieger einen Goblin mit seinem Schwert auf. Der Goblin kreischte, packte den Arm des Soldaten und zerrte daran, bis ihn die Kraft verließ und er die Augen verdrehte. Hartnäckig waren sie und so dumm, daß sie anscheinend nicht merkten, wenn sie tödlich getroffen wurden. Goblins vereinten die besten und die schlechtesten Eigenschaften einer angreifenden Horde in sich. Reod sprang über den zerfetzten Körper. »He!« brüllte ihn einer der Soldaten an. »Hier oben ist es viel zu gefährlich! Sieh zu, daß du nach unten kommst!« Im Innenhof lagen die Leichen unzähliger Goblins und Zwerge. Zuerst wollte Reod den Krieger fragen, wie er behaupten könne, daß es dort ungefährlicher sei, schwieg dann aber. Eilig stieg er die Treppen hinunter und hastete in das Hauptgebäude der Festung, wo er an zusammengekauerten Zwergen vorbeirannte, die sich in dunklen Ecken zu verbergen suchten. Überall wimmelte es von Goblins. Es gab keinen sicheren Ort mehr in 309
Gurn, und bestimmt boten auch die unterirdischen Gänge keine Zuflucht mehr. Einen Moment lang glaubte Reod, die Stimme eines Orkhauptmanns zu hören. Wenn die Orks bereits so weit vorgedrungen waren ... Er mußte über Leichen klettern. Bei den meisten handelte es sich um Goblins, aber das allein beruhigte ihn nicht allzu sehr. Es lagen kaum Waffen herum. Sicher hatten die Flüchtlinge sie an sich genommen. Als Reod um eine Ecke bog, stürmte ein Goblin auf ihn zu. Er bezweifelte, der Kreatur in diesem Augenblick Befehle erteilen zu können. Eigentlich hätte er kehrtmachen und weglaufen sollen, aber sein Instinkt ließ ihn vorspringen, so daß er neben dem Goblin landete. Mit einer Hand packte er den Schwertarm des Gegners, die andere umklammerte dessen Hals. Als der Goblin zu Boden fiel, hielt Reod die Waffe in der Hand und stürmte den Gang hinunter. Immer wieder begegnete er Zwergen und Feinden. Reod schlug zu, wo sich ihm ein Goblin zeigte. Die Tür, vor der er gestern auf Tamun gestoßen war, war von innen verriegelt. Er hämmerte dagegen. Niemand öffnete. Hoffentlich war sie noch dort. Die Festung wurde von einer Explosion erschüttert, und der Boden unter Reods Füßen erbebte. Er stemmte sich haltsuchend gegen die Tür und hörte, wie der Riegel zurückgeschoben wurde. Irgendwer da drinnen war neugierig oder ängstlich genug, um zu öffnen. Reod hielt den Türgriff fest, damit der Zwerg auf der anderen Seite glaubte, die Tür klemme. Tatsächlich wurde jetzt von innen stärker gezogen. Reod ließ den Griff los, schlüpfte blitzschnell in den Raum und schloß die Tür hinter sich. Der Gestank war überwältigend. Es befanden sich so viele Zwerge im Raum, daß sie dichtgedrängt stehen mußten. Die Luft war zum Schneiden dick. 310
»Raus mit dir!« zischte ihm ein Zwerg zu, dessen Gesicht blutbefleckt war. Reod hielt sich noch immer unter den Decken verborgen. Die Begrüßung hatte einem Zwerg gegolten. Wie würde man Reod Dai empfangen? Er flüsterte, um seine Stimme besser zu verstellen. »Ich suche Melelki und Tamun, die aus dem Süden stammen. Sind sie hier?« »Nein. Verschwinde!« »Ich habe eine Botschaft für sie. Von ihrer Schwester und Tochter Sekena.« Der Mann sah ihn unsicher an. Sie mußten hier sein. »Sag ihnen, daß ich draußen auf sie warte. Ich zähle bis zwanzig, dann gehe ich.« Er öffnete die Tür und ging bis zum Ende des Ganges. Dort drückte er sich in eine Ecke und lauschte den von draußen hereindringenden Schreien. Als er bei fünfzehn war, betraten sie den Gang. Er winkte ihnen, näherzukommen. Tamuns Arm war mit getrocknetem Blut bedeckt. Die Gesichter der beiden Frauen waren zerschunden. »Was für eine Botschaft?« flüsterte Melelki und sah sich nach allen Seiten um. Er winkte noch einmal. Vorsichtig näherten sie sich. Als sie nur noch wenige Schritte entfernt waren, zog sich Reod die Decke vom Kopf. Er ließ Tamun nicht aus den Augen. Sie sah erschrocken und überrascht aus, aber weder wandte sie sich ab noch zog sie das Schwert, das an ihrem Gürtel hing. Melelki kniff die Augen zusammen. »Du hast uns reingelegt!« »O nein. Sekena ist ganz in der Nähe und in Sicherheit. Hört zu: Gurn fällt. Wenn ihr hierbleibt, werden sie euch umbringen. Es gibt einen Ausweg. Kommt mit.« »Man sagt, du...« 311
»Ich weiß, was geredet wird.« Er streckte Tamun die Hand entgegen. »Bitte. Kommt mit.« »Aber du ...« Er schüttelte den Kopf. »Später haben wir Zeit zum Reden. Wollt ihr hierbleiben und sterben? Kommt endlich. Ich flehe euch an.« Die beiden wechselten einen Blick. Melelki nickte. Reod zog sich erneut die Decke über den Kopf, führte sie in den Innenhof und eine Treppe hinauf. Ein Goblin stellte sich ihm entgegen, und er warf die Kreatur die Treppe hinunter. Die Soldaten auf den Wehrgängen beachteten Reod und seine Begleiterinnen nicht. Sie hasteten schnell an den Kämpfenden vorüber. Windvögel flogen über sie hinweg, und etwas landete vor ihren Füßen. Reod versetzte dem abgerissen Fuß eines Zwerges einen Tritt und lief weiter. Weitere Sprengungen ließen die Mauern von Gurn erzittern. Steine, Speere und Windvögel kamen aus der Richtung der Belagerungstürme angeflogen. An der Nordmauer schleuderte Reod die Decken beiseite. Der kalte Wind ließ ihn in den schweißnassen Kleidern frösteln. Er stellte sich an den Rand der Brüstung und winkte mit den Armen. Hoffentlich bemerkten ihn die Zwergin und der Drache, die sich auf dem nächsten Berggipfel befanden. Statt dessen erregte er die Aufmerksamkeit der Goblins am Fuß der Mauer. Sie deuteten auf Reod, sprangen aufgeregt auf und ab und rückten die Leitern an die Stelle, wo er sich über die Brüstung neigte. Der Drache und seine Begleiterin schienen nichts bemerkt zu haben. Reod zog Melelki und Tamun fort. Aus dem Innenhof ertönte ein lautes Krachen, gefolgt von einem vielstimmigen Schrei. Das Innentor war endgültig gefallen. Einer der Offiziere schrie fortwährend. »Rückzug! Rückzug!« Reod fragte sich, wohin sich die Zwerge zurückziehen wollten. In die Gebäude der Festung? Das 312
wäre ebenso sinnlos, als würden sich Ratten auf einem sinkenden Schiff unter Deck verziehen. Jemand hielt seinen Arm fest. Die Erste Wachoffizierin stand mit schweiß- und blutüberströmtem Gesicht neben ihm. Mit der rechten Hand umklammerte sie ihr Schwert. Hinter ihr stand Hamon. Er zog das Bein nach und drückte die Hand auf eine blutende Wunde unterhalb der Rippen. »Was jetzt?« schrie die Offizierin. »Was sollen wir tun?« Hamon trat vor. »Hilf uns! Sag uns, was wir tun sollen!« Reod dachte an all die Dinge, die er bereits gesagt hatte, und eine scharfe Erwiderung lag ihm auf der Zunge. Statt dessen antwortete er: »Ihr habt die Wahl: Hierbleiben und sterben oder fliehen und leben. Lange könnt ihr nicht überlegen. Ich würde euch zur Flucht raten.« »Was Besseres weißt du nicht?« brüllte die Offizierin. Sie spuckte Reod vor die Füße, drehte sich um und lief zur Westmauer, wo die schlimmsten Kämpfe tobten. »Sag mir ruhig, was ich hätte tun sollen«, klagte Hamon verzweifelt und schuldbewußt. »Du hast getan, was du konntest. Es mußte so kommen. Die Feinde sind einfach zu zahlreich.« Hamon nickte gedankenverloren. Vielleicht glaubte er Reod. »Sicher kannst du mit den Goblins und den Orks reden. Sag ihnen, sie sollen verschwinden.« »Sieh doch nach unten, Ältester. Die Fahnen wurden eingeholt. Sie stehen nicht länger unter dem Befehl der Orks. Es gibt keine Kampfordnung mehr. Die Goblins greifen wahllos an. Egal was geschieht, sie werden nicht aufgeben.« Die Stimme des Zwerges klang bittend. »Versuche es doch bitte.« Reod trat an die Mauerbrüstung, wo die Leitern der 313
Goblins lehnten. Er hob das Goblinschwert und deutete in den Himmel. In der Kampfsprache rief er: »Das ist die falsche Stelle, ihr Idioten! Runter mit euch! Geht auf die andere Seite!« Sie zögerten, als würde eine Erinnerung wach, kletterten dann aber sofort weiter. Blutrünstig grinsende Goblingesichter umringten Reod. Eine Speerspitze richtete sich auf ihn. Reod wich zurück, und Zwergenkrieger stürzten sich auf die Angreifer. An dieser Stelle war die Reihe der Verteidiger noch kaum geschwächt. Auf der Westseite kletterten die Goblins über die Leichen der Zwerge, ehe sie die Körper kreischend in den Innenhof schleuderten. Hamon stöhnte auf und lief davon. Reod vermutete, daß er den Ältesten nicht wiedersehen würde. Schnell ergriff er die Hände Tamuns und Melelkis und zerrte sie so weit wie möglich von den Angreifern fort. Ein Blick zum Berg hinauf zeigte, daß sich dort oben nichts tat. Die Idee war nicht schlecht gewesen, aber der Drache kam nicht. Er mußte sich einen anderen Fluchtweg ausdenken. Drachenduft beruhigte Sekena, aber sie machte sich immer noch Sorgen um ihn. Es ist gut, tröstete er sie immer wieder. Als Sekena endlich wieder an die Festung dachte und hinuntersah, befiel sie Angst von neuem. Die Goblins waren überall. Überall! Wo waren die Zwerge? Das konnte doch nicht wahr sein! Tamun und Melelki waren da unten! Der Drache sah sie besorgt an und schnupperte. Sie redete schnell, mit Zischlauten und Gesten. Es war ihr völlig gleichgültig, daß sie seine Sprache anwandte, ohne sich komisch vorzukommen. Hauptsache, er verstand sie. Gemeinsam beobachteten sie die Festung. 314
Reod führte sie entlang der Ostmauer. Er hielt das Schwert in der Hand. Wann immer sich ihnen Goblins in den Weg stellten, brüllte er sie in der Kampfsprache an, um sie einen Augenblick lang aufzuhalten. Sie waren wirklich dumm und zögerten, bis er einen nach dem anderen niederschlug oder über die Mauer warf. Die Flüchtlinge im Innenhof hatten das kleine Tor in der rückwärtigen Mauer geöffnet. Sie drängten hinaus und versuchten, durch die Reihen der wartenden Goblins zu entkommen. Ein Orkhauptmann schwang eine klauenbewehrte Faust, und drei Zwerge sanken blutbesudelt zu Boden. Melelki schrie plötzlich auf. Es war der Schrei einer besorgten Mutter. Als Reod sich umdrehte, fuhr Tamuns Schwert durch die Luft und bohrte sich in den Leib eines Goblins. Sie bewegte sich langsam, aber mit Bedacht. Ihre Augen zeigten weder Unsicherheit noch Reue. Sie hatte sich verändert, seitdem sie die icatianischen Soldaten besiegt hatte. Tamun hatte gelernt, kaltblütig zu töten. Reod fiel die Schwertklinge auf, die seltsam funkelte. Die Waffe war eindeutig Zwergenarbeit, aber das Metall war ihm unbekannt. Auch Melelkis Messer war von der' gleichen Machart. Eigentlich sah es überhaupt nicht wie Metall aus. Was konnte es sein? Plötzlich begriff er: Es handelte sich um Dracheneierschalen. Kostbare Waffen! Die Schalen ließen sich viel schwieriger bearbeiten als Metall, aber wenn sie erst einmal fertig waren, blieben sie für immer in Form und verloren ihre Schärfe nicht. Er mußte an Sekenas Stück der Eierschale denken, das sie so gut aufbewahrt hatte. Sekenas Eierschale. »Gib mir dein Messer!« brüllte er Melelki an. Sie zögerte, hielt es ihm dann mit dem Griff voran entgegen. Reod wischte die Klinge an der Hose ab und hielt die Waffe hoch empor. Das Sonnenlicht spiegelte sich auf 315
der Klinge. Tamun nickte verstehend, wischte auch ihre Klinge sauber und folgte seinem Beispiel. Hinter ihnen hörten sie die letzten verzweifelten Schreie der Zwergenkrieger. Vielleicht klappt es, dachte Reod und bewegte das Messer hin und her, um die Aufmerksamkeit der kleinen Gestalt neben dem Drachen zu erregen. Vielleicht. »Da!« rief Sekena, als sie das Blinken bemerkte. Drei Gestalten standen auf der Mauer. Eine davon hatte dunkles Haar. Bleib hier, befahl ihr der Drache. »O nein, beim Mond - das werde ich nicht!« heulte sie und umschlang seinen Hals mit den Armen, ehe er den Kopf hochheben konnte. Er wollte sie mit der Kralle wegschieben, aber sie hielt sich noch fester und trat nach ihm. Dummes Tier, du wirst runterfallen und sterben. Tu, was ich dir sage.
»Du verschwendest deinen Atem. Flieg!« Der Drache zischte verärgert und versetzte ihr einen leichten Schlag. Dann breitete er die riesigen Schwingen aus und stieß sich zu einem Sturzflug auf Gurn ab, daß sich Sekena der Magen umdrehte. Als der Drache nach einem beinahe senkrechten Fall auf der Mauer landete, stieß er zwei Goblins in die Tiefe. Jedes seiner Beine war länger als ein hochgewachsener Zwerg. Nach der Landung setzte er die Hinterfüße auf die eine und die Vorderfüße auf die andere Mauer. Reod blickte in die Augen eines erwachsenen Drachens, der wahrscheinlich schon lange über die Fortpflanzungsjahre hinaus war. »Kommt rauf!« rief Sekena. Der Drache griff nach Tamun. Reod mußte sich zurückhalten, als er sah, wie sie von der klauenbewehr316
ten Hand gepackt und hochgehoben wurde. Das gleiche geschah mit Melelki, die zwar zusammenzuckte, sich aber nicht wehrte. »Verschwindet! Haut ab!« brüllte Reod die schnatternden Goblins an, die so blutrünstig waren, daß sie sogar den großen Drachen angreifen wollten. Noch immer hielt er Melelkis Messer in der einen und das Goblinschwert in der anderen Hand. Er konnte sie nicht lange aufhalten, aber er war sicher, daß er ihnen genügend Schwierigkeiten bereiten würde, um dem Drachen Zeit zum Abstoßen zu geben. Klauen umklammerten seine Schulter. Er wehrte sich heftig, bis ihm bewußt wurde, daß der Drache ihn gepackt hielt. »Nein!« schrie Reod. »Laß mich los! Verschwindet!« Plötzlich verlor er den Boden unter den Füßen. Die Festung blieb zurück, und er mußte sich zur Ruhe zwingen, denn er schwebte hoch in der Luft. Drachenkrallen umklammerten seinen Oberkörper und drückten ihm die Arme gegen die Seiten. Er schloß die Augen und betete. Als er sie wieder öffnete und nach unten schaute, konnte er den Untergang der Zwerge beobachten, während Gurn auf die Größe eines Ameisenhaufens zusammenschrumpfte .
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»Gib niemals auf!« - Eingemeißelt in die Überreste einer icatianischen Mauer.
Reod hatte sehr viel Gelegenheit sich zu fragen, ob der Drache noch wußte, daß er ihn in den Klauen hielt. Er konnte nicht richtig atmen, und die orangefarbenen Nägel des Wesens, von denen jeder einzelne so lang wie sein Arm war, fügten ihm Schmerzen zu. Der Wind ließ Reods Haut zu Eis erstarren und wehte ihm das Haar in die Augen. Anfangs hatten seine Ohren geschmerzt, aber inzwischen spürte er sie nicht mehr. Die Kapuze flatterte nutzlos hin und her. Hätte er sie über den Kopf ziehen können, wäre ihm wohler gewesen. Dazu mußte der Drache jedoch die Krallen öffnen, und Reod würde fallen. Und der Weg nach unten war weit. Obwohl Reod ungewöhnliche Situationen nicht fremd waren, erlebte er heute etwas Außergewöhnliches. Nie zuvor war er geflogen. Nie zuvor hatte ihn ein Drache in den Krallen gehalten. Nie zuvor hatte er gehört, daß so etwas möglich war, und nie zuvor hatte er gewußt, daß es zahme Drachen gab. Die besten Magier der Welt wären zufrieden gewesen, einen Drachen wie diesen aus großer Entfernung zu beobachten. Als sie Gurn verließen, schien der Drache sich anstrengen zu müssen, um an Höhe zu gewinnen, aber danach flog er so leicht dahin, als sei er eine Wolke am Himmel, die über die höchsten Berge schwebte. Große 318
Flügel breiteten sich über Reods Kopf aus und trugen sie durch die Lüfte. Reod atmete die eisige Luft ein. Er war nicht sicher, ob er Melelkis Messer noch hatte. Seine Finger waren taub geworden. Das Goblinschwert hatte er in der Hoffnung fallenlassen, es möge einen der Feinde treffen. Tatsächlich war eine der Kreaturen zusammengesunken. Seine Hoffnung hatte sich erfüllt. Leider war dieser winzige Sieg nichts gegen den erlittenen Verlust. Eine Festung und alle ihre Bewohner waren gefallen. Inzwischen rannten die Orks und die Goblins überall herum, legten Brände, ermordeten die noch lebenden Soldaten und ergötzten sich an den Qualen der Flüchtlinge, die noch in ihren Verstecken geblieben waren. Zu diesem Zeitpunkt würde keines der Untiere darauf hören, was die Zwerge sagten und ob sie sich ergaben. Reod konnte sich alles genau vorstellen. Nur die Kälte und das Schwindelgefühl, das ihn ergriffen hatte, bewahrten ihn davor, sich die blutigen Einzelheiten auszumalen. Eine Hoffnung blieb ihm. Die siegreichen Goblins und Orks würden irgendwann gegeneinander kämpfen. Außerdem war die Hintertür der Festung offen gewesen, und vielleicht waren doch ein paar Zwerge durch die feindlichen Linien gekommen. Bestimmt hatte die Zwerge auch die unterirdischen Gänge geöffnet. Viele konnten überleben. / Viele waren bereits gestorben. Jeder Atemzug füllte seine Lungen mit eiskalter Luft. Bei jedem Ausatmen blieb Rauhreif in seinem Bart hängen. Seine Gedanken schweiften ab. Er vermeinte Schreie zu hören. Bilder, die von Blut durchtränkt waren, zogen an ihm vorbei. Genkrs böses Gesicht tauchte vor ihm auf. Tamun. Tamun. Sie saß ein Stück über ihm, auf dem Rücken des Dra319
chens, dieser Gedanke reichte aus, daß er sich besser fühlte. Egal was geschehen war und noch geschah: Er hatte sie aus der Festung gerettet. Sie würde nicht durch die Hände der Goblins umkommen. Allmählich flog der Drache tiefer. Sie näherten sich einem Gebirge und schwebten an schneebedeckten Gipfeln und schroffen Felsnadeln vorbei. Schließlich tauchte ein Felsplateau unter ihnen auf. Der Drache landete und setzte Reod vorsichtig ab. Sein ganzer Körper schmerzte und die Beine gaben unter ihm nach. Reod fiel vornüber, wurde aber von einer Kralle aufgehalten und sank langsam zu Boden. Dort lag er keuchend und biß die Zähne zusammen, um nicht laut aufzuschreien. Als die Schmerzen nachließen, schlug er die Augen auf. Die rechte Hand umklammerte noch immer Melelkis Messer. »Lebt er noch?« Das war Sekenas Stimme. Reod blinzelte. Melelki kniete neben ihm im Schnee und beugte sich über ihn. Der Wind fuhr ihr durch die strähnigen Haare. »He, was ist los? Bist du krank?« Reod wollte sprechen, brachte aber nur ein Krächzen heraus. Melelki strich ihm über das Gesicht. »Er friert«, sagte sie. »Menschen sind so empfindlich.« Irgend jemand breitete einen Umhang über ihn, und im Hintergrund hörte Reod, wie ein Feuer entfacht wurde. Tamun war in der Nähe. Er hörte ihre Schritte und ihre sanfte Stimme. »Sie frieren sehr leicht, Mama.« Das war wieder Sekena. »O ja, das tun sie.« Reod lachte, aber es hörte sich eher wie ein Krächzen an. »Ruh dich aus«, sagte Melelki. 320
Das Feuer rauchte und zischte. Allmählich spürte Reod die Wärme. Seine Lebensgeister kehrten zurück. Nach einer Weile half ihm Melelki, sich hinzusetzen. Sekena rollte einen Felsbrocken heran, gegen den er sich lehnte. Sie boten ihm Trockenfleisch und Wasser an. Reod nickte dankbar. Der große Drache lag ganz in der Nähe. Sein Kopf bewegte sich langsam hin und her, und die leuchtend rotgrünen Schuppen hoben sich grell gegen die weiße Schneedecke ab. Er beobachtete die Zwerginnen und den Menschen mit seinen starren Augen. Reod wurde wieder einmal bewußt, wie riesig dieser Drache war. Zweifellos konnte ihn das Wesen mit einer einzigen Bewegung verschlingen. Zum Glück lag es friedlich da und hielt ein wenig von dem beißenden Wind ab, der über das Plateau fegte. Der junge Drache saß in der Nähe und starrte sie an. Reod blinzelte ein paarmal und merkte plötzlich, daß Sekena neben ihm hockte und auf ihn einredete. Sie hatte sich das Haar abgeschnitten, und es war so kurz, daß es kaum bis zu den Ohren reichte. »Hast du verstanden?« sagte sie. »Was?« Reod fiel es schwer, sich zu konzentrieren. Sie atmete tief aus und begann erneut. »Wenn du versuchst, meine Drachen zu verzaubern, reiße ich dich in Stücke. Ganz langsam. Auch wenn du mächtig bist, Schlammzauberer, aber ich mache dich fertig.« Im Augenblick fühlte er sich ganz und gar nicht mächtig. »Natürlich«, flüsterte Reod. »Einverstanden.« Sekena sah ihn überrascht an. Harte sie etwa erwartet, er würde widersprechen? Jetzt? »Wie, einfach so?« Vor ihm hockte das wohl einzige Lebewesen in Sarpadia, das nicht bloß eine Begegnung mit einem Drachen überlebt sondern ihn auch noch zu einem Verbündeten gemacht hatte. Eine fünfzehnjährige Zwergin, die Dra321
chen zähmen konnte, warnte einen völlig entkräfteten Menschen, diesen Kreaturen nichts anzutun. Er lächelte. »Du hast dich gemacht, Sekena.« Sie sah ihn forschend an und überlegte, ob er es ernst meinte. Dann errötete sie. »Tja, ich wünschte, ich wäre als Kriegerin mit dabei gewesen. Ich kam so schnell ich konnte, aber dann mußte ich oben auf dem Berg stehen und zusehen, weil er mich nicht kämpfen lassen wollte. Ich hatte nicht einmal eine Waffe!« Reod sah zu dem Drachen hinüber und begegnete dem Blick der goldenen Augen. »Es war schon richtig so.« »Wir kamen zu spät. Wären wir früher ...« »Nein, ihr seid im rechten Augenblick erschienen.« »O nein. Wieso haben dann die Goblins gewonnen?« Er dachte an die Soldaten, an die Trommeln und die Anführer der Zwerge, die glaubten, das Richtige zu tun und statt dessen ihr Leben verloren haben. Wie immer fragten die Überlebenden nach dem Warum. »Es gibt viele Gründe, warum eine Schlacht verloren wird. Es ist nicht so einfach zu beantworten.« Plötzlich war Tamun neben ihm und schob Sekena beiseite. Sie sah ihn böse an. »Es ist ganz einfach. Sag uns, woher die Goblins wissen, wie man Eier explodieren läßt, Reod Dai. Sag uns, daß du nichts damit zu tun hast.« »Tamun!« »Gurn fiel durch deine Schuld. Du hast Goblins und Orks zusammengebracht, hast ihnen gezeigt, wie man Türme und Windvögel baut und ...« »Seit Generationen kämpfen sie gegen uns«, unterbrach sie Melelki. »Tochter, sie haben uns schon oft angegriffen.« »Aber sie kamen in kleinen Gruppen. Jetzt griff eine ganze Armee an! Wie viele sind heute umgekommen? 322
Reod, wie viele hast du heute getötet? Und wie viele waren es in Teedmar?« »Tamun, hör mir zu. Ich hatte nichts mit Teedmar zu tun.« »Das zu glauben fällt mir schwer. Ich mag nicht daran denken, daß ich mich mit so etwas wie dir vereinigen wollte!« »Nun, für deinen Geschmack, was Männer anbelangt kann ich gewiß nichts!« fauchte Reod. Er kam schwankend auf die Beine und schüttelte den Kopf, als Melelki ihm helfen wollte. Er fühlte sich unsicher und schwindlig, aber seine Wut half ihm, aufrecht stehenzubleiben. Die Füße taten ihm weh, aber die schlimmsten Schmerzen hatten nachgelassen. Vorsichtig trat er einen Schritt vor und sah der Frau in die Augen, um derentwillen er sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte. Sie machte ein böses Gesicht. »Ja«, sagte Reod, dessen Wut so plötzlich verrauchte wie sie entstanden war, »das alles habe ich getan. Es gibt keine Rasse in Sarpadia, der ich nicht geholfen oder geschadet habe.« »Der vollkommene Söldner«, sagte Sekena mit respektvoller Stimme. »Der vollkommene Verräter!« zischte Tamun. »Wieso?« erkundigte sich Melelki neugierig. Der große Drache blinzelte. Tamun wandte sich ab. Reod hatte immer geglaubt, er könne die Frage zufriedenstellend beantworten. Und nun? Er war müde, zu müde. »Ich hatte meine Gründe.« »Nenne sie«, forderte Melelki ihn auf. »Ich glaubte, meinem Volk einen gemeinsamen Feind geben zu können, damit es sich nicht länger untereinander bekämpft. Icatia zerfleischt sich wegen der Worte längst verstorbener Männer. Welche Schande und Dummheit! Ich wollte die Orks und Goblins auf mein Volk hetzen, denn es hätte sich ihrer gut erwehren kön323
nen. Die Zwerge sollten niemals angerührt werden, und das wäre auch nicht geschehen, wenn die Elfen mich hätten beenden lassen, wozu sie mich anheuerten. Also sorgte ich dafür, daß die Elfen eine Kostprobe ihrer eigenen Arznei erhielten, damit sie merkten, was auf dem Spiel stand.« Reod verstummte und dachte an den Jungen Andli und die brennende Festung. Er schüttelte den Kopf. »Aber so einfach war es nicht. Selbst die Anhänger Tourachs versuchen nur, so gut wie möglich zu überleben und gemäß ihren Grundsätzen zu handeln.« »Und die Zwerge?« fragte Tamun mit kalter Stimme. »Wofür mußten die büßen?« »Für gar nichts.« »Warum dann? Warum?« Tamun hatte Tränen in den Augen, und das erschreckte Reod mehr als alles, was sie gesagt hatte. Es war furchtbar. Wenn Zwerge traurig waren, blieben ihre Augen stets trocken. In all den Jahren, in denen er durch die Purpurgipfel gereist war, hatte er niemals einen Zwerg weinen sehen. Die Tränen liefen ihr über die Wangen. Reod sehnte sich danach, sie zu trocknen. »Weil ich glaubte, ich könne die Welt verändern«, antwortete er müde. In weiter Ferne, wo sich einst Gurn erhoben hatte, stieg eine Rauchsäule auf. »Und ich denke, ich habe es getan.« »Wir alle verändern die Welt«, meinte Melelki »Vielleicht ändert keiner von uns etwas«, sagte Sekena, die Holz aus der Höhle geholt hatte, um es auf das Feuer zu legen. »Gibt es Zwerge, die noch am Leben sind?« Es gibt Dörfer, die weit abgelegen sind und nicht mit Orks und Goblins in Berührung kamen. Auch aus Gurn mußte einigen Zwergen die Flucht gelungen sein. »Ja.« »Aber die meisten sind tot!« sagte Tamun. 324
»Ist das Reods Schuld?« fragte Melelki. »Denkt daran, wie zahlreich die Orks und Goblins sind. Sie hätten uns auf jeden Fall angegriffen.« »Nein.« Tamun schüttelte heftig den Kopf. »Er hat es ihnen beigebracht. Es ist seine Schuld.« Reod sah sie lange an und wandte sich schließlich ab. »Soviel ich weiß, liegt am Fuße dieses Berges eine Stadt.« »Scaza«, antwortete Sekena. »Wo ist der Weg nach unten?« Melelki und Sekena wechselten einen Blick. Sie schwiegen. »Egal, ich finde ihn auch allein.« Er drehte sich um und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Vielleicht schaffte er selbst in diesem Zustand den Abstieg, ehe die Nacht hereinbrach. Plötzlich war Sekena neben ihm und ging mit ihm bis zum Rande des Plateaus. »Geh nicht. Wir brauchen deine Hilfe. Da draußen sind immer noch Orks und Goblins. Unser Volk braucht dich.« »Ich werde es meinem Kommandeur ausrichten.« »Was? Du willst nach Icatia zurück?« »Ja.« »O nein! Sie werden dich töten!« »Wahrscheinlich.« »Bleib hier.« »Wozu? Ich bin doch schuld an den Qualen der ganzen Welt! Und trotzdem soll ich bleiben?« »Versteh doch Tamuns Zorn. Sieh dir an, was ihr und unserem Volk zugestoßen ist. Aber sie ist nicht nur wütend auf dich. Sie mag dich.« Er lachte. »Und wie! Die Närrin.« »Sie ist meine Schwester!« knurrte Sekena. »Es ist besser, ihr bleibt unter Zwergen.« »Wahrscheinlich hast du recht, aber das wird sie nicht glauben. Ich bin es, die ihr Gejammer ertragen muß, bis 325
ihre Hitze vorüber ist, und das wird Jahre dauern. Jahre! Bleib hier!« Er blieb stehen und sah Sekena an. Das kurze Haar war vom Wind zerzaust, und die braunen Augen sahen ihn beinahe flehend an. »Ich bin müde. Ich kann nicht mehr kämpfen. Die Zeit ist gekommen, um wieder zu den Menschen zurückzukehren. Sie mögen über mich richten.« Melelki gesellte sich zu ihnen. Tamun hockte am Feuer und hatte ihnen den Rücken zugewandt. »Orks und Goblins haben uns geplagt, ehe du dich eingemischt hast«, sagte Melelki, »aber du hast sie zu Verbündeten gemacht. Wahrscheinlich bist du der Einzige, der sie wieder auseinanderbringen kann, damit wir wieder in Frieden leben können.« »Da Gurn und Teedmar zerstört sind, kann sich euer Volk nicht mehr verschanzen. Es ist besser, wenn ihr euch weit in die Purpurgipfel zurückzieht. Goblins und Orks werden nicht sehr weit vordringen. Verteilt euch gut und haltet euch versteckt. Ihr könnt den Krieg überleben, wenn ihr ihnen ausweicht und abwartet.« Anscheinend konnte er nicht mehr tun als Ratschläge zur Flucht erteilen. Reod rieb sich die Augen und sah die drei Zwerginnen an, die er vor dem sicheren Tod gerettet hatte. Drei von Tausenden. Sie schwiegen. Dichte Wolken zogen über den strahlendblauen Himmel. »Vielleicht ist es sinnlos, wenn wir kämpfen«, meinte Melelki, »aber wir müssen es versuchen. Und du wirst uns helfen.« »Ich habe bereits versucht zu helfen«, antwortete Reod. »Immer wieder. Und sieh nur, was meine Bemühungen angerichtet haben.« Tamun stand auf und kam auf ihn zu. »Du hast meinem Volk die Höllentore geöffnet. Du!« Sie hatte ihr Urteil gefällt und ihn für schuldig befun326
den. Jetzt blieb ihm nur noch die Buße für seine Untaten. Dadurch würde er endlich Frieden finden, seinen ganz persönlichen Frieden, das Ende aller Unruhe. Dieser Friede erwartete ihn in Icatia. »Tja«, meinte Melelki nachdenklich. »Wir haben die Goblins und die Orks seit Urzeiten bekämpft.« »Aber jetzt ist alles schlimmer geworden als je zuvor!« rief Tamun. »Ja, aber Reod dafür die Schuld zu geben ...« Melelki deutete auf den kleinen Drachen, der sich die Sonne auf den Bauch scheinen ließ. »Ebenso könntest du den Kleinen da für schuldig erklären, weil die Eier explodierten. Die heutige Zeit verwandelte Dracheneier in Waffen. Was blieb dem Menschen anderes übrig?« Bei der Erwähnung der Eier verzog Sekena das Gesicht. Reod berührte ihren Arm. »Ich würde ihnen niemals etwas tun, solange sie mich nicht angreifen. Das schwöre ich dir.« Sie nickte und entspannte sich ein wenig. Eine solche Freundschaft hatte er noch nie erlebt. Wenn ihm mehr Zeit geblieben wäre, hätte er gerne mehr über Sekena und ihre Drachen gelernt. »Er hat sich freiwillig für die Zerstörung entschieden«, beharrte Tamun. »Deshalb ist er schuldig.« Melelki legte den Kopf auf die Seite und sah ihre Älteste an. »Glaubst du wirklich? Konnte er sich frei entscheiden? Und was war mit dir, als du ihn erwähltest?« Tamun schnaubte unwillig und stapfte zurück zum Feuer. Melelki wandte sich an Reod. »Ich will dir meine Meinung sagen. Ich denke, du bist auch nur ein Werkzeug des Krieges, so wie es die Goblineier und die Windvögel sind.« »Werkzeuge werden irgendwann überflüssig.« Sie zuckte die Achseln. »Kann ein Werkzeug das beurteilen? Ich glaube kaum.« 327
»Da stimme ich dir zu«, antwortete Reod. »Ich gehe nach Icatia zurück und lasse mein Volk über mich richten.« Er sah zu dem steinigen Wildpfad hinab. Da er sich immer noch unsicher auf den Beinen fühlte, kletterte er mit äußerster Vorsicht über die zum Teil mit Schnee und Eis bedeckten Steine. Dabei hielt er sich an Bäumen und Felsbrocken fest, um nicht zu stürzen. Eine Weile war nichts außer seinen eigenen Schritten zu hören. Sie hatten ihn gehen lassen. Reod spürte Erleichterung und gleichzeitig Trauer. Nein, sagte er sich. So ist es am besten. Plötzlich erklangen Schritte hinter ihm. Leichte Schritte, wie von Zwergenfüßen. Er drehte sich nicht um. »Hast du nie daran gedacht, daß die Goblins und Orks die Waffen nehmen könnten, die du ihnen gegeben hast, um sie gegen unsere Dörfer zu richten?« erklang Tamuns Stimme. Nach dem Vulkanausbruch hatte er sich wochenlang vorgestellt, wie sie zerschmettert und verkohlt unter dem Lavastrom lag und war mit der verzweifelten Hoffnung nach Gurn geritten, daß sie vielleicht überlebt hatte. Und so war es gewesen. »Vielleicht hätten uns auch die Elfen geholfen, gegen die Orks und Goblins vorzugehen, wenn du ihre Pilze nicht vernichtet hättest. Hast du daran mal gedacht?« In Gurn hatte er alles getan, was in seiner Macht stand, um sie zu retten und hätte mit Freuden sein Leben für sie hingegeben. »Mußt du dir überall Feinde machen, wohin du auch gehst, Reod Dai?« Jetzt entfernte er sich von ihr. Es war Belohnung genug für ihn, dachte Reod, daß Tamun noch lebte. »Denkst du überhaupt über irgend etwas nach?« brüllte Tamun wütend. Er würde sich nicht mit ihr streiten. In Icatia hatte 328
alles ein Ende. Nicht hier im Land der Zwerge, sondern bei den Menschen. Das Kriegsgericht würde seine Taten ausführlich anhören und schließlich ein Urteil fällen. Er wollte es seiner Rasse überlassen, ihn zu richten. Seiner eigenen Rasse und nicht einer unbezähmbaren Zwergin in der ersten Hitze. Die Schritte folgten ihm noch immer, und Reod wußte nicht, was er davon halten sollte. Wahrscheinlich lag auch das an den völlig verschiedenen Eigenarten der Rassen. Sie waren einander so ähnlich wie Vögel und Fische. Wie dumm er gewesen war, das nicht von Anfang an zu bedenken. Nun, das war vorbei. Er würde nicht den Rest seines Lebens damit verbringen müssen, sich abzurackern, um diese schwierige Zwergin zu begreifen. Trotzdem folgte sie ihm. Nach einer Weile erreichten sie eine Stelle, an der sich der Wildpfad nicht länger in die Tiefe schlängelte sondern gerade verlief. Dort überholte ihn Tamun und stellte sich ihm in den Weg. Reod blieb stehen. »Du läufst weg«, sagte sie anklagend. »Tja. Feigling. Bist du nicht einmal mehr mutig genug, dich dem Kampf zu stellen?« Nichts hätte ihn mehr überraschen können. Kämpfen? Gegen wen oder was? Gegen Tamun? Er würde sie nie verstehen. Nie. Nicht einmal ein bißchen. Jede Antwort wäre die Falsche, also schwieg er lieber. »Du mußt bleiben und uns helfen.« »Habe ich nicht schon genug Unheil angerichtet?« »Egal was du schon getan hast, es gibt noch mehr zu tun!« Er lachte ungläubig. »Nein.« »Hast du so wenig Mumm?« »Ja.« Sie verzog das Gesicht. »Ich glaubte, der Mann, den ich zum Gefährten erwählte, hätte mehr Mut.« 329
Zuerst stürzten ihn ihre Worte erneut in Verwirrung. Dann wurde ihm die Bedeutung immer klarer, und die Mauern, die er in seinem Innersten errichtet hatte, um das Leid abzuwehren, begannen zu bröckeln. Reod bemerkte plötzlich, wie erschöpft er war. Vollkommen erschöpft und am Ende. Er schob ein wenig Schnee mit dem Stiefel beiseite und setzte sich. Tamun kniete neben ihm. Die Kälte schien ihr nichts auszumachen. Froren Zwerge eigentlich nie? »Hörst du mir überhaupt zu?« fragte sie. Für einen Augenblick brach die Sonne durch die Wolken, und ein goldener Strahl verfing sich in Tamuns Haar. »Ach, Tamun. Wir passen nicht zusammen. Das mußt du doch einsehen.« »Ich will, daß du der Vater meiner Kinder wirst.« Diese Worte waren unmißverständlich. Er wußte nicht, was er sagen sollte. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Tamun, es ist Krieg. Nicht bloß zwischen Orks und Goblins und anderen, sondern in ganz Sarpadia. Es wird sich auch nicht so bald ändern. Wenn du eine Familie gründest, solltest du bei deinem Volk leben.« »Willst du mir etwa vorschreiben, was ich zu tun habe?« »Hör zu: Es wird überall Krieg herrschen. In diesen Zeiten sollte man keine Kinder machen.« Sie packte ihn bei den Schultern, schubste ihn rücklings in den Schnee und küßte ihn leidenschaftlich. Er wehrte sich ein wenig, aber sie war stark, und ihre Lippen waren weich und warm. Lange Zeit verlor er das Gefühl für Zeit und Raum. »So!« sagte Tamun und richtete sich auf, hielt ihn aber immer noch auf den Boden gedrückt. »Die beste Zeit zum Kindermachen ist die, wenn die Welt rings umher zerbricht. Unser Volk braucht Kinder. Wir brauchen Hoffnung und Kinder.« 330
Reod rang nach Luft. »Kinder müssen behütet werden.« »Dann werden wir sie behüten.« »Tamun, du und ich - wir gehören verschiedenen Rassen an.« »Das habe ich bereits bemerkt.« »Ich weiß nicht einmal, ob es überhaupt geht.« Sie grinste. »Das Kindermachen oder die Rettung meines Volkes?« Es schien Jahre her zu sein, seitdem er sie das letzte Mal hatte lächeln sehen. Schien die Sonne heller? Plötzlich fühlte er sich wie befreit. »Kinder«, sagte er und ließ das Wort auf der Zunge zergehen. »Beides ist möglich, denke ich«, sagte Tamun. »Leicht ist es sicher nicht. Wir müssen es oft und ausdauernd versuchen, nicht wahr?« »Tamun, du weißt wer ich bin. Was ich getan habe. Du hast mir die Schuld an allem Unglück auf dieser Welt gegeben.« »Vielleicht war ich ein bißchen voreilig.« »Vielleicht auch nicht. Trotz alledem willst du, daß ich bei dir bleibe?« »Ich sehe dich recht nüchtern. Wenn du etwas versprichst, hältst du es auch. Also versprich mir, Kinder zu zeugen und sie gemeinsam mit mir zu beschützen.« Er überlegte und wollte die Hoffnung, die sich schwach in ihm regte, unterdrücken. Icatias Justiz handelte schnell und unnachgiebig. Er konnte heimgehen und sterben oder hierbleiben und leben. Mit Tamun. Eigentlich war es keine schwere Entscheidung. »Ein Versprechen.« »Gib es mir, und auch ich gebe dir ein Versprechen.« Er dachte an ihr gemeinsames Leben. Er würde mit Tamun und ihrer Familie leben, sich verstecken, kämpfen und sich abmühen, Kinder zu beschützen, die sie 331
unter Umständen in diese furchtbare und grausame Welt setzten. Außerdem waren da auch noch die Drachen. Sie hatte seine Miene genau beobachtet und setzte sich aufrecht hin. Auch Reod richtete sich auf. Schließlich sagte er: »Ich kann es dir nicht ohne weiteres versprechen. Deine Mutter, deine Schwester und sogar die Drachen deiner Schwester müssen einverstanden sein. Dann ... dann gebe ich dir mein Wort.« Sie lächelte wieder, und die Flamme der Hoffnung wärmte Reod. Tamun stand auf und zog ihn auf die Beine. »Warte, Tamun. Bist du ganz sicher?« »Tja - ja!« »Frau, du änderst deine Meinung oft und schnell! Wie oft muß ich diesen Berg noch hinauf- oder hinabsteigen?« Sie lachte und legte ihm die Hand auf die Brust. Reod wurde plötzlich warm. »Überhaupt nicht mehr, Reod. Das verspreche ich dir.« Er beugte sich über die kleine Frau, die kein Mensch war und küßte sie. Noch immer war er unsicher auf den Beinen und mußte sich auf sie stützen, um nicht hinzufallen. Noch ein Kuß und noch einer. Ihr Lächeln war ansteckend. »Bist du immer noch sicher?« »Ja.« Reod lachte. »Wie wäre es, wenn wir jetzt einen Versuch wagen?« »Mensch! Werde ich die je begreifen?« Sie kletterten den Wildpfad hinauf. Unterwegs sah Reod zu den umliegenden Berggipfeln hinüber und dachte über die Zukunft nach. Er dachte an seine noch nicht vorhandene Familie, die Schwierigkeiten der Zwerge und das Blutvergießen, daß nicht nur in den Purpurgipfeln, sondern in ganz Sarpadia stattfinden würde. 332
Außerdem erinnerte er sich an sein Versprechen, das er den Trullen gegeben hatte. Mit ein wenig Glück waren die Trulle bei seiner Rückkehr die Herren von Achtep. Tamuns Hand lag warm in der seinen. Sie war ebenso schwielig wie Reods Hand. Schwielen, die vom Schwingen des Schwertes und dem täglichen Kampf ums Überleben berichteten. Er mußte ihr von dem anderen Versprechen erzählen, damit sie verstand, weshalb er sie verlassen würde. Diesmal konnten ihn die Zwerginnen nicht begleiten. Auf gar keinen Fall. Bald. Bald würde er es ihr erzählen. Aber jetzt noch nicht.