ATLAN 102 (107) – Friede für Feman
Nr. 102 (107)
Friede für Feman von Kurt Mahr
Mit dem Tod des letzten »Grauen« auf...
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ATLAN 102 (107) – Friede für Feman
Nr. 102 (107)
Friede für Feman von Kurt Mahr
Mit dem Tod des letzten »Grauen« auf der »Endstation Nemoia« haben die Ereignisse, die durch die Aktivitäten des Redbone- und des Suddenly-Effekts in weiten Teilen der Galaxis Unruhe und Schrecken verbreiteten, ihr Ende gefunden. Auch die prekäre Lage auf Siga, wo durch verbrecherische Aktionen ein Krieg zwischen Terranern und Terra-Abkömmlingen auszubrechen drohte, ist durch den Einsatz der »Flotte der Glücksbringer« schlagartig bereinigt worden, so daß um die Mitte des Jahres 2842 terranischer Zeitrechnung auf allen von Menschen besiedelten Planeten der Milchstraße wieder Ruhe und Frieden herrschen. Was aber ist das weitere Schicksal der Flotte der Glücksbringer, der Flotte der telepathischen Raumschiffchen, die unter Führung der Siganesen Flannagan Schätzo und Saggelor Oggian so überraschend Siga wieder verlassen hat, wie sie erschien ...? Flannagan Schätzo, der ehemalige USO-Spezialist, und Saggelor Oggian, das durch verbrecherische Manipulationen in seinem Wachstum gehemmte Kind, haben sich von ihren Mitmenschen getrennt und entziehen sich der Flotte der Verfolger. Ihnen schwebt ein hohes Ziel vor – der FRIEDE FÜR FEMAN ...
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ATLAN 102 (107) – Friede für Feman
Die Hauptpersonen des Romans: Flannagan Schätzo und Saggelor Oggian – Zwei Siganesen bringen einer fremden Welt den Frieden. Liggan und Lemalek – Verfeindete Fürsten von Feman. Mikkun Onethor und Fanthar – Ratgeber der feindlichen Fürsten. Xandor – Ein gefürchteter Kämpfer.
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ATLAN 102 (107) – Friede für Feman mehr, woher er gekommen war. Diese doppelte Unfähigkeit erwies sich jedoch zu seinem Vorteil. Das Geheule und Geschrei hörte nach einer Weile auf, das Licht jedoch blieb da. Mikkun Onethor nahm die Hände von den Ohren, richtete sich auf und sah sich vorsichtig um. Er befand sich in einem breiten, hohen Gang, dessen Boden ein wenig schräg lag. Vor ihm war in zehn Schritten Entfernung eine halboffene Tür. Seine Angst ließ nach. Wer war das, dessen Stimme er gehört hatte? In den langen Jahren seines Lebens als Oberster der Priester war Mikkun Onethor allmählich dazu übergegangen, die Lehre vom Heiligen Götterpaar mit Mißtrauen und zuletzt mit offener Verachtung zu betrachten. Er wußte, daß viele seiner Untergebenen diesen seinen Unglauben teilten, obwohl sie sich natürlich hüteten, selbst untereinander darüber zu sprechen, und dem Volke gegenüber die Gebote der Heiligen Lehre mit glühenden Worten verteidigten. Was er soeben erlebt hatte, gab Onethor jedoch zu denken. In diesem Heiligtum gab es Leben. Da jedoch nachweislich seit mehreren Menschenaltern niemand mehr das Heiligtum betreten hatte, mußte es sich um Leben handeln, das zäher war als das gewöhnlicher Menschen. Wer anders als die Götter hatte noch zäheres Leben als die Menschen. Hatte Krippom, der mächtige Herr des Götterpaares, zu ihm gesprochen? Ein neues Geräusch scheuchte Mikkun Onethor aus seiner ideologischen Grübelei. Es war ein Kratzen und Scharren, das sich in unregelmäßigen Abständen wiederholte und ständig lauter wurde. Es schien aus dem finsteren Seitengang zu kommen. Schauder der Furcht rannen dem Priester über den Rücken. Was war das? Onethor wich zurück, in Richtung auf die Tür, die ihm Schutz und Deckung zu versprechen schien. Er war so entsetzt, daß ihm das Unsinnige seines Handelns kaum zu Bewußtsein kam: Wie konnte er vor dem Gott flüchten? Da schob sich etwas um die Ecke des Seitengangs und tauchte ins Licht: ein groteskes, kastenförmiges Gebilde, das sich auf vier langen, spindeldürren und höchst gelenkigen Beinen bewegte und vier lange, biegsame Arme besaß, die ständig in Bewegung ware,
1. Mikkun Onethor fürchtete sich. Er nannte sich zwar den Obersten aller Heiligen Priester des Götterpaares, aber die Umstände hatten ihm nie erlaubt, das Heiligtum der Geheiligten Zwei jemals zuvor zu betreten. Dies war sein erster Besuch, und die undurchdringliche Finsternis im Innern des merkwürdigen, uralten Bauwerks war nicht dazu angetan, Onethors Zutrauen in die Sanftmut des Götterpaares zu stärken. Er bewegte sich auf Händen und Knien. Der Boden unter ihm bestand aus einem merkwürdigen kühlen, glatten Stoff, der nicht Eisen und nicht Holz und dennoch beides in einem war. Von neuem erwog Onethor die Möglichkeit, das Heiligtum zu verlassen und mit einer Fackel zurückzukehren, und es war auch keineswegs persönlicher Mut, der ihn diesen Gedanken immer wieder verwerfen ließ, sondern vielmehr die Erkenntnis, daß er fünf Jahre gebraucht habe, um so weit zu kommen, und daß es, wenn er sich jetzt von hier entfernte, wahrscheinlich wieder fünf Jahre dauern würde, bis sich eine zweite Möglichkeit bot. Solcherart von Zweifeln und Ängsten geplagt, erreichte Mikkun Onethor eine Stelle, an der der Boden eine kleine Unebenheit aufwies. Er war mit dem rechten Handballen daraufgeraten, und im selben Augenblick geschah etwas, das den Obersten aller Priester fast um den Verstand brachte. »Unbefugter Zutritt zur Waffenkammer!« krächzte eine mächtige Stimme, die von überallher zu kommen schien. Gleich danach brach ringsum ein höllisches Pfeifen, Schreien und Kreischen aus, daß Onethor, der voller Entsetzen zur Seite gekippt war, die Hände gegen die Ohren pressen mußte, wenn er nicht taub werden wollte. Gleichzeitig wurde es strahlend hell im Innern des Heiligtums. Die Helligkeit kam von grellen, blauweißen Lichtpunkten, die rings um Mikkun Onethor angebracht waren. Sein Herz schlug wie wild. Er wollte aufspringen und davonlaufen, aber erstens versagten ihm vor lauter Angst die Muskeln den Dienst, und zweitens hatte er vor Entsetzen die Orientierung verloren und wußte nicht 4
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman de, das unter den Strahlen der Morgensonne matt schimmerte. An verschiedenen Stellen war die Kuppel fleckig, und an mindestens zwei Orten hatte sie häßliche, ausgefranste Löcher, die von rußig-schwarzen Säumen umgeben waren. Das war das Heiligtum des Götterpaares, uralt und der Geburtsort aller Mandunnen und Feniker, die damals, in grauer Vorzeit, noch ein einziges Volk bildeten und erst später, als Strafe für die Mißachtung des Götterpaares, in zwei Stämme gespalten wurden, die sich seitdem ununterbrochen bekriegten. So wenigstens ging die Lehre. Es mußte der einzelne mit sich selbst und seinem Gewissen abmachen, ob er daran glauben wollte oder nicht. Die Reittiere der beiden Männer waren kräftige, langbeinige Zonggors, spärlich aufgeschirrt, aber voller Feuer und Tatendrang, die aus den großen Augen leuchteten. Der eine der beiden Männer war von mittelgroßer Statur, jedoch breit und kräftig in den Schultern. Er hatte ein offenes Gesicht, über das hin und wieder – wie etwa in diesem Augenblick – der Schimmer eines spöttischen Lächelns huschte. Der andere war groß und schlank, jünger als der Breitschultrige, und von ernstem, nachdenklichem Gesichtsausdruck. »Seit den ersten Stunden der Nacht, Fürst«, sagte der Breitschultrige und blickte zum Heiligtum hinab. »steckt Onethor, der Fuchs, in der Kuppel. Wahrscheinlich hat ihn vor Schreck der Schlag getroffen.« Der Große, Schlanke schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht, Fanthar«, sagte er mit tiefer, wohlklingender Stimme. »Mikkun Onethor ist ein merkwürdiger Mann. Er ist ein Feigling, aber ein Feigling mit so widerstandsfähiger Natur, daß ihn selbst das höchste Maß an Angst nicht umbringen kann. Er wird wieder zum Vorschein kommen, und von da an nehmen wir uns am besten in acht!« Die Worte waren mit warnendem Unterton gesprochen. Fanthar starrte seinen Fürsten betroffen an. »In acht? Vor Onethor, dem Feigling?« fragte er ungläubig. »Das Heiligtum enthält viele Geheimnisse«, antwortete Liggan, Fürst aller Feniker, »wohltuende und übeltuende. Wir waren oft im Innern des Heiligtums und haben versucht,
und durch die Luft griffen, als müsse das seltsame Wesen sich trotz all der Helligkeit seinen Weg ertasten. Von Panik erfüllt, sah Onethor den stelzenbeinigen Kasten in seiner Richtung in den Gang biegen. Er wollte weiterfliehen, aber es erging ihm wie zuvor: Die Beine versagten ihm den Dienst. Mit kratzenden, schabenden Geräuschen schaukelte der Kasten auf ihn zu. Halb bewußtlos vor Angst erinnerte Mikkun Onethor sich an die alte Beschwörungsformel, die zur Abwehr böser Geister gebraucht wurde: »Oh, bei aller Schönheit des Himmels und dem stinkenden Abgrund der Verdammnis, ich sage zu euch Ausgeburten des Dunkels ...« * Zwei Reiter hielten auf der Höhe des Kammes, der das Tal nach Osten hin begrenzte. Der Ausblick, der sich ihnen bot, war beeindruckend. Von rechts her zog sich aus Norden zwischen zwei Bergketten ein schmales, tief eingeschnittenes Tal, das zu Füßen der beiden Reiter breiter wurde. Die Berge der östlichen Kette wurden allmählich flacher, während die westliche Bergkette sich weit nach Westen ausbeulte und das bisher so schmale Tal in einen riesigen Kessel verwandelte, den zu durchschreiten selbst ein rüstiger Mann wohl drei Tage gebraucht hätte. Weit im Süden traten die beiden Bergketten wieder näher zusammen. Das Tal war dort wesentlich breiter als nach Norden zu, wo es aus den wild zerklüfteten Bergen hervortrat, die Landschaft wirkte weniger lebensfeindlich. Aus dem nördlichen Tal hervor wand sich der Lauf eines Flusses, der den riesigen Talkessel durchquerte und schließlich zwischen den Hügeln im Süden verschwand. In der Mitte des Kessels spaltete sich das Flußbett in zwei Arme und formte eine Insel, aus der ein mächtiger Felsklotz aufragte. In mehr als dreihundert Schritt Höhe über dem Niveau des Talkessels endete der Klotz nicht in einem Gipfel, sondern einem steinernen Plateau, das annähernd die Form eines Kreises hatte und sicherlich tausend Schritte von einem Ende bis zum andern maß. Auf diesem Plateau befand sich ein riesiges, kuppelförmiges Gebäu5
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman heit einer gründlichen Prüfung zu unterziehen und, wenn nötig, zu revidieren. Zunächst allerdings jagte ihm der seltsame Kasten einen neuen Schreck ein, als er einen Arm ausstreckte und die aus zwei gebogenen Klauen bestehende Hand dem Oberpriester auf die Schulter legte. »Nnntritt ... vrrrbottennn«, spuckte und zischte er dazu. Onethor nahm Zuflucht zu dem, was ihm schon einmal geholfen hatte: »Oh, bei aller Schönheit des Himmels und dem stinkenden Abgrund der Verdammnis«, intonierte er im Singsang der Priestersprache. Aber der Kasten ließ sich kein zweites Mal beeindrucken. »Nnntritt ... vrrrbottennn«, wiederholte er und fügte hinzu: »Pfffsssssch!« Die Klaue glitt von Onethors Schulter herab und schlug schwer zu Boden. Auch die übrigen Arme schienen plötzlich schlaff geworden zu sein. Die spindeldürren Beine knickten ein, und der ganze Kasten stürzte mit schrecklichem Gepolter zu Boden. Befriedigt nahm Mikkun Onethor von der überwältigenden Wirkung der Beschwörung Kenntnis und wandte sich, nun innerlich gefestigt und frei von Furcht, endlich der halboffenen Tür zu, die schon lange seine Neugierde erregte. Durch die Öffnung, die seiner Körperfülle nicht ausreichend Platz bot, so daß er sich mit Gewalt hindurchzwängen mußte, gelangte er in einen nicht allzu großen Raum, der selbst keine Beleuchtung zu haben schien, jedoch durch die Türöffnung aus dem Gang genügend Licht empfing, so daß der Oberpriester keine Mühe hatte, sich zurechtzufinden. Zunächst mit einiger Zurückhaltung, dann immer mutiger musterte er die vielfältigen Gestelle, die sich an der Wand entlangzogen und in denen teils metallene, teils aus anderem Material bestehende Geräte staken, über deren Verwendungszweck er sich vorläufig noch im unklaren war. Er wagte es jedoch, eines der Geräte aus seiner Halterung zu ziehen. Der untere Teil des Instruments schien für seine Hand wie gemacht; wie angegossen umspannten seine Finger den Griff, der aus demselben Material gefertigt war wie der Boden des Ganges: we-
die Geheimnisse eines nach dem andern zu erforschen. Es ist möglich, daß Mikkun Onethor auf etwas stößt, das wir noch nicht gefunden haben. Und wenn es eines der übeltuenden Geheimnisse ist und er es lösen kann, dann wird er es verwenden, um die Feniker zu besiegen.« Fanthar wollte es immer noch nicht glauben. »Das wäre Frevel!« rief er empört. »Das Heiligtum gehört uns allen, Fenikern wie Mandunnen, und nichts, was sich in seinem Innern findet, darf von einem der beiden Stämme gegen den anderen verwendet werden! Die beiden Götter würden Onethor bestrafen!« »Die beiden Götter«, lächelte Liggan milde, »tun, was ihnen beliebt. Es ist denkbar, daß sie einfach die Augen schließen, wenn Mikkun Onethor ihr Heiligtum beraubt.« Er straffte sich plötzlich. In einem der schwarzen Löcher, die die Wand der Kuppel durchbrachen, machte sich Bewegung bemerkbar. Die scharfen Augen der beiden Männer erkannten die winzige Gestalt eines Menschen, der aus dem Loch hervorgekrochen kam und sich an der runden Kuppelwand entlang auf das Felsplateau herabgleiten ließ. Die Gestalt eilte über den Felsen und verschwand in einer der Furchen, die die steil abfallenden Wände des Felsblocks durchzogen. »Siehst du?« sagte Liggan. »Die Angst hat ihn nicht umgebracht.« Fanthar sah seinen Fürsten fragend an. »Was tun wir jetzt?« wollte er wissen. »Wir kehren nach Bogadan zurück. In den nächsten Tagen werden wir gut daran tun, die Augen offenzuhalten. Wenn Onethor erfolgreich war, wird es sich bald zeigen.« * Dicht vor dem Obersten der Priester blieb der Kasten auf wippenden Spinnenbeinen stehen. Die Beschwörung hatte gewirkt. Mit zitternder Hand wischte sich Mikkun Onethor den Schweiß von der Stirn und nahm sich vor, seine Meinung über den Glauben im allgemeinen und das Götterpaar und die bösen Geister im besonderen bei nächster Gelegen6
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman Seiten und richtete schließlich das aufgestülpte Rohr schräg nach oben gegen die Decke. Er überwand seine Furcht und drückte von neuem auf den Knopf, nur ganz leicht, kaum einen halben Atemzug lang. Ein Strahl weißglühenden Feuers sprang aus dem Rohr, fauchte zur Decke hinauf und brannte dort ein schwarzes Loch, aus dem glühende Tropfen herab auf den Boden fielen. Mikkun Onethor frohlockte. Die Götter hatten ihm eine Waffe in die Hand gegeben, mit der er den Erbfeind bezwingen konnte! Niemals hatte es eine solche Waffe in den Händen eines Sterblichen gegeben. Ihn, Mikkun Onethor, hatte das Götterpaar unter allen Menschen dazu ausersehen, die fürchterliche Waffe zu führen. Welch andere Aufgabe konnten sie ihm zugedacht haben, als die Vernichtung des Feindes und die Wiederherstellung des Friedens in der Welt? Keine Sekunde lang kam Onethor in seinem wiedergefundenen Glauben an die Allmacht des Götterpaares der Zweifel, ob es nicht vielleicht ein Zufall gewesen sei, der ihn diese fürchterliche Waffe hatte finden lassen. Ob er nicht einen Frevel begehe, indem er diese entsetzlichen Geräte überhaupt in die Hand nahm. Er erachtete seine Entdeckung als einen Akt der Vorsehung, und wenn er noch Bedenken hatte, die sich auf den Umstand bezogen, daß auch die Feniker dieses Bauwerk als ihr Heiligtum betrachteten und nach den Regeln der Lehre die Gegenstände innerhalb des Heiligtums als unantastbar galten, so verstand er es doch, sich einzureden, daß die göttliche Offenbarung, die ihm zuteil geworden war, die Vorschriften der Lehre zumindest in diesem Punkt außer Kraft setzte. Welch unendlicher Reichtum! Hier gab es genug Waffen, um wenigstens vier Zehntschaften mit den Blitzschleudern auszurüsten. Er wurde sich alle Taschen vollstopfen müssen, um eine ausreichende Zahl von Waffen mitnehmen zu können. Er ging daran, den Gedanken in die Tat umzusetzen, da schoß ihm plötzlich eine Idee durch den Kopf. Die Blitzschleudern an die Zehntschaften verteilen? Welch ein lächerlicher Gedanke! Die Kraft der Götter gehörte nicht in die Hand gewöhnlicher Sterblicher. Außerdem – wie sehr würde er dadurch an
der Eisen, noch Holz und doch beides zugleich. Nach vorne abgewinkelt ragte aus dem Griff ein dünnes Rohr heraus, das am vorderen Ende ein wenig aufgestülpt war. An der Seite des Griffes gab es zwei Knöpfe, einen zum Drücken, wie Onethor vermutete, und einen anderen zum Drehen. Spielerisch legte er den Zeigefinger auf den ersten der beiden Knöpfe. Er lag so ausgezeichnet, als sei er dazu gemacht, von der Kuppe des Zeigefingers bedient zu werden. Mikkun Onethor verstärkte den Druck des Fingers. Im nächsten Augenblick war die Hölle los. Grelles, schmerzendes Licht fuhr aus dem aufgestülpten Rohr. Das Gerät ruckte ein wenig in der Hand. Ein entsetzliches Fauchen war zu hören. Die Luft wurde plötzlich heiß und stank. Mikkun Onethor stieß einen entsetzten Schrei aus, schleuderte das teuflische Gerät von sich und barg den Kopf unter den Armen. Sofort war alles vorbei. Nach einer Weile wagte Mikkun Onethor, unter der Deckung der Arme hervorzulugen. Was er sah, war entsetzlich. An einer Stelle war eine der Stellagen, die an den Wänden entlangführten, zusammengebrochen und hatte ihren Inhalt zum Teil auf den Boden entleert. Die Wand hinter dem Gestell hatte einen häßlichen schwarzen Fleck, von dem braune Bahnen herabliefen, die in erstarrten Tropfen endeten. Vor Onethor auf dem Boden lag das Gerät, das er im ersten Schreck panikgeschüttelt von sich geschleudert hatte. Mikkun Onethor war nicht das, was man einen intelligenten Mann genannt hätte. Aber er besaß eine gewisse Art Schläue, die ihm in vielen Situationen über den Mangel an Intelligenz hinweghalf. Er begriff auch jetzt sofort die Bedeutung seines Fundes. Die Lehre berichtete, daß das Götterpaar, wenn es zornig war, den Himmel mit Wolken überzog und aus den Wolken herab Blitz und Donner auf die Erde schleuderte. Für Mikkun Onethor gab es keinen Zweifel, daß er in diesem Raum die Geräte gefunden hatte, deren sich die Götter bedienten, um die Blitze zu erzeugen. Sein Blut kam in Wallung. Was für einen Schatz hatte er entdeckt! Er hob das Instrument, das er weggeworfen hatte, vorsichtig auf, betrachtete es von allen 7
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman Schätzo danach gelüstete, konnte er sich mit Saggelor Oggian unterhalten, der in einem anderen Fahrzeug des gleichen Typs in geringer Entfernung auf demselben Kurs flog, und mit ihnen zusammen noch sechstausend weitere Raum-Schiffchen der gleichen Art, jedoch unbemannt, die Flotte der Glücksbringer, die vor wenigen Tagen Gladors Stern verlassen hatte und sich auf dem Weg ins Zentrum der Galaxis befand. Mit der Flotte der Glücksbringer hatte es eine seltsame Bewandtnis, die Flannagan Schätzo noch längst nicht ganz durchschaute und in deren letzte Tiefen selbst Saggelor Oggian, wie Flannagan glaubte, bislang nicht vorgestoßen war. Sie hatten die aus sechstausend Einheiten bestehende Flotte auf dem namenlosen Planeten der Koorbstas gefunden, wo die kleinen Raumschiffe, von Eiform und nicht mehr als dreißig Zentimeter lang, in dem Gespinst der Riesenspinnen gestrandet waren. Es war ihnen gelungen, die Fahrzeuge freizumachen und die Flotte zu starten. Die winzigen Raumschiffe waren Roboteinheiten, die keiner Besatzung bedurften; aber sie reagierten auf die Wünsche Saggelor Oggians, der es verstanden hatte, mit ihnen telepathischen Kontakt aufzunehmen. Auf dem Wege der Telepathie erfuhr Saggelor, daß die Schiffchen von einer weit entfernten Welt stammten, deren intelligente Bewohner ein starkes Sendungsbewußtsein empfanden, überall im Weltall das Gefühl des Glücks und des Friedens zu verbreiten. Die winzigen Schiffe waren ausgerüstet, mit Hilfe winziger Projektoren telepathische Impulse auszustrahlen, die im Bewußtsein des Empfängers den Eindruck wunschlosen Glücks erzeugten. Ihre Schöpfer hatten die Flotte der Glücksbringer auf die Reise geschickt, damit sie unterwegs alle von intelligenten Wesen besiedelten Welten anflögen und unter den denkenden Geschöpfen immerwährenden Frieden und endloses Glück verbreiteten. Eines Tages, so schien es, hatte die Flotte sich aus der Reichweite der befehlsgebenden Sender entfernt und war danach ziellos durch das All geirrt, bis sie auf dem Planeten der Koorbstas strandete. Der telepathische Kontakt mit Saggelor Oggian hatte sie wieder zum Leben erweckt.
Gesicht verlieren, daß Krieger dieselben Zauberwaffen führten wie er, der Oberste aller Priester! Nein, er wurde sich die Taschen nicht vollstopfen. Er würde zwei Blitzschleudern mit sich nehmen, damit er Ersatz hatte, wenn eine davon kaputt ging. Die andern ließ er hier. Nur er würde in der Lage sein, nach der Art des Götterpaares Blitze zu verschleudern, und die andern sollten zu seiner ungeheuren Macht staunend und voller Ehrfurcht aufschauen. Eine einzige Schleuder, im richtigen Augenblick eingesetzt, war ohnehin genug, um dem Feind solchen Schrecken einzujagen, daß er sein Leben lang nicht mehr an Widerstand denken würde. Frohlockend suchte Mikkun Onethor sich ein Plätzchen, wo er sich ein wenig ausruhen konnte. Das Innere des Heiligtums hatte seinen Schrecken verloren. Er würde ausgezeichnet schlafen. 2. Mattes, rötliches Licht umgab Flannagan Schätzo, und seine Seele war erfüllt von einem tiefen, berauschenden Gefühl des Friedens und der Ruhe. Es war nicht besonders bequem in dem kleinen Behältnis, in dem er sich eingepfercht hatte. Der kugelförmige Hohlraum war nicht viel größer als Flannagan Schätzo selbst, und dazu kamen noch die vielerlei fremdartigen Geräte, aus einem seidig schimmernden, elastischen Material hergestellt, die an den Wänden des Hohlraums montiert waren und zusätzlichen Platz beanspruchten. Von Zeit zu Zeit veränderte Flannagan seine Lage, um die Zirkulation in einem eingeschlafenen Körperteil wieder in Gang zu bringen. Wie gesagt: es war ziemlich unbequem an Bord dieses winzigen Raumschiffes, aber das Gefühl des Friedens und der Ruhe war so überwältigend, daß kleine Nebensächlichkeiten wie zum Beispiel physische Unbequemlichkeit überhaupt keine Rolle spielten. Draußen, jenseits der dünnen Wände des Miniaturfahrzeuges, war die Schwärze des Alls und dahinter das Leuchten von Millionen Sternen. Hier aber war es warm, die Luft war frisch und jederzeit, wenn es Flannagan 8
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman Hunger, noch Durst. Es war, als sei die Atemluft im Innern der Schiffchen mit geruchsund geschmackslosen Nährmitteln angereichert, die sie einfach einatmeten. Flannagan Schätzo streckte sich behaglich, als er plötzlich Saggelors Stimme im Empfänger hörte. »Mein Fahrzeug meldet mir, daß wir uns einem System nähern, in dem es einen bewohnten Planeten gibt«, sagte er. »Woher weiß es das?« erkundigte sich Flannagan. »Frag mich nicht!« wies ihn die kindliche Stimme zurück. »Du weißt, daß ich nicht weiß, wie diese Dinge funktionieren. Aber haben die Glücksbringer schon jemals unrecht gehabt?« »Nein«, war Flannagan gezwungen zuzugeben. »Also – wir landen, nicht wahr?« »Ja«, meinte Flannagan, »ich glaube, es ist wiedermal an der Zeit. Ich fühle mich hier wohl, aber ich meine, ein wenig Beinevertreten würde uns nichts schaden.« »Abgemacht«, rief Saggelor, »wir landen!«
Saggelor, ein wachstumbehindertes Kind von Siga, das in der Folge harter Schicksalsschläge unerhört rasch herangereift war, hatte auf der Welt der Koorbstas die Rolle des Flottenkommandanten übernommen. Anscheinend gehörte ein kindliches, unverdorbenes Gemüt dazu, mit den psychomechanischen Einrichtungen der Schiffchen in Verbindung zu treten; denn Flannagan Schätzo, dem alten USOSpezialisten, war Ähnliches nie gelungen. Er war, was die Lenkung der Flotte anging, gänzlich auf Saggelor Oggian, das Kind, angewiesen. Saggelor fand sich auch in anderer Hinsicht besser mit der Flotte zurecht. Infolge der Wachstumsbehinderung betrug seine Körpergröße nur knapp vier Zentimeter, während Flannagan als ausgewachsener Siganese immerhin 17 Zentimeter maß. Sie hatten die Flotte der Glücksbringer benutzt, um auf dem Planeten Siga die Streitigkeiten zwischen Terranern und Siganesen zu schlichten. Dann aber, als sie merkten, daß die merkwürdigen Raumschiffchen das zudringliche Interesse der verschiedensten Organisationen und Institutionen erweckten, hatten sie sich schleunigst aus dem Staub gemacht. Sie hatten der Zivilisation den Rücken gekehrt. Es gelüstete sie nicht dorthin zurückzukehren, wo Terraner Akonen, Arkoniden, Springer, Aras, Epsaler miteinander um Macht, Einfluß und Reichtum stritten. Sie waren sich selbst genug. Sie hatten sich vorgenommen, die Flotte der Glücksbringer in die Tiefen des Alls hinein zu dirigieren, anzuhalten, wo denkende Wesen in Not waren und des Friedens bedurften, und ansonsten ihr eigenes Leben zu leben, eingehüllt in die Aura von Frieden und Zufriedenheit, mit der die Schiffchen sie umgaben. Wie die Triebwerke der winzigen Fahrzeuge funktionierten, das wußten sie nicht. Welches das Prinzip der Funkgeräte war, mit deren Hilfe sie sich auf der Fahrt miteinander unterhielten, davon hatten sie keine Ahnung. Aber es war auch nicht mehr wichtig, alles zu wissen und alles zu kennen. Sie fühlten sich glücklich. Das allein zählte. An Bord der kleinen Fahrzeuge gab es keinen Proviant. Und dennoch litten die beiden Siganesen selbst auf langen Fahrten weder
* »Ragnok-Thessor-Sanguun-Lemalek, Fürst der Mandunnen und Herrscher der Feniker!« verkündete die laute, schreigewohnte Stimme des Ausrufers, während er mit seinem übermannshohen Stab dröhnend auf den hölzernen Boden klopfte. Das Gemurmel in der Ratshalle erstarb. Aller Augen richteten sich ehrfurchtsvoll auf den Eingang, unter dem die hohe, hünenhafte Gestalt des Herrschers erschienen war. Der Herrscher stieg die paar Stufen herab, die vom Eingang auf das Niveau des Saales führten, und schritt durch die Gasse, die sich vor ihm bildete, bis zum Kopfende des langen Tisches, an dem sein Thronstuhl stand. Er war eine imposante Erscheinung. Eine dichte, eisgraue Mähne hing ihm bis auf die Schultern herab. Ein kräftiger Bart bedeckte zur Hälfte die Rüstung, die den Oberkörper schützte. In der rechten Hand führte er mühelos, als wäre es ein dürres Stück Holz, das Szepter, das, wie jedermann wußte, aus solidem Kupfer bestand, dem wertvollsten und schönsten aller 9
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman quer durch den Saal. Schwerter klangen gegeneinander, und immer wieder von neuem wurde der Kampfruf laut: »Wir wollen den Fenikern das Wams verprügeln!« So groß war die Begeisterung, daß sie Ragnok-Thessor-Sanguun-Lemalek um ein Haar mitgerissen hätte. »Du bist sicher, daß wir gewinnen werden?« fragte ihn der Herrscher. »Ganz gewiß, hoher Herr!« antwortete Onethor und verneigte sich. »Das Götterpaar hat eine ganz besondere Macht in meine Hand gegeben. Mit dieser Macht werden wir siegen!« Ragnok-Thessor-Sanguun-Lemalek kratzte sich hinter dem Ohr. »Wenn ich nur wüßte, was das für eine Macht ist«, brummte er. »Sie wird dir beizeiten vorgeführt werden, hoher Herr«, versicherte der Priester. »Du meinst, die Götter haben dich aufgesucht, um sie dir zu überreichen?« erkundigte sich der Herrscher mißtrauisch. »So ist es, hoher Herr.« »Wann werden die Götter mich aufsuchen?« erkundigte sich Ragnok-ThessorSanguun-Lemalek. »Dich, hoher Herr? Warum sollten sie das tun?« »Nun, bin ich nicht der Herrscher dieses Landes, dieses Tales, der ganzen Welt? Mein Name lautet Ragnok, nach dem Namen des ersten Sterblichen, der aus dem Heiligtum hervorkam und von dem wir alle abstammen; Thessor nach dem Geschlecht, aus dem die ersten Könige hervorgingen; Sanguun nach dem letzten König, der noch über ein geeintes Volk regierte und dessen jüngster Sohn den abtrünnigen Stamm der Feniker gründete; und schließlich Lemalek nach meinem Geschlecht, das schon seit Jahrhunderten über dieses berühmte Volk der Mandunnen regiert. Sollten da die Götter nicht eher zu mir kommen als zu dir?« Mikkun Onethor machte eine Geste der Ratlosigkeit. Mit solcher Logik hatte er nicht gerechnet. Nicht einmal damit, daß der alte Narr überhaupt noch an die Götter glaubte. »Das Götterpaar entscheidet, wie es es für richtig hält, und wir Sterbliche haben keinen
Metalle. Selbst im Sitzen ragte Ragnok-ThessorSanguun-Lemalek noch über seine Ratgeber hinaus. Sein Blick eilte noch einmal den Tisch entlang, bevor er das Zepter vor sich niederlegte und zu sprechen begann. »Die Huld der Götter ist auf unserer Seite!« dröhnte seine mächtige Stimme quer durch den Saal. »Der heilige Krieg beginnt! Die aufrührerischen Hunde der Feniker werden geschlagen und zur Botmäßigkeit gezwungen!« Die Männer rings um den Tisch sprangen auf und schrien: »Wir schlagen die Feniker! Hoch lebe unser Herrscher!« Es waren stämmige, furchtlose, kampferprobte Gesellen, die Ragnok-ThessorSanguun-Lemalek da zujubelten, Männer, deren Leben nur aus Kampf bestand, die von Schlachten träumten und den Klang der Schilde im Traum hörten. Wohlgefällig nickte er ihnen zu. Sie lärmten noch eine Weile fort, dann setzten sie sich wieder. »Morgen beginnt der heilige Krieg!« rief er ihnen zu. »Wir können ihn nicht verlieren. In wenigen Tagen werden die Abtrünnigen zu unseren Füßen liegen und um Gnade winseln. Uns gehört das Apsarakus-Tal, uns gehört dieser Kontinent, uns gehört die Welt!« »Uns gehört die Welt!« jubelten sie ihm zu. Wenn wir wenigstens ein brauchbares Schiff hätten, dachte er traurig, dann könnten wir den Spruch vielleicht wahrmachen. »Geht nach Hause auf eure Burgen!« forderte er die Männer auf. »Staffiert eure Krieger mit Waffen aus. Striegelt die Zonggors und gebt ihnen Bassilke zu fressen, damit sie unter euch nicht müde werden. Morgen um diese Zeit sehe ich euch auf dem Felde des Krieges! An eurer Spitze werde ich euch voraus in die Schlacht ziehen!« Dabei zittre ich jetzt schon, dachte er mißmutig. Der Jubel brach von neuem los. Von irgendwoher wurde ein Schild gebracht. Die Männer stürmten auf den Herrscher ein. Dutzende von Händen griffen nach ihm, hoben ihn vom Boden und auf den Schild. Über ihren Köpfen trugen sie ihn dreimal kreuz und 10
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman dumm sein, Land zu erwerben, von dem ich weiß, daß es niemals etwas wert sein wird, oder?« »Erwerben ist gut«, spottete Quirian. »Du kommst hierher, machst ein paar Striche auf der Karte und sagst zu mir: Trag das in meinem Namen ein. Erwerben nennst du das?« Er musterte den Priester mit seinen kleinen, flinken Augen. »Ehrlich gesagt, frage ich mich manchmal, ob hinter deinem Unsinn Methode steckt, oder ob du ganz einfach spinnst.« »Quirian!« brauste der Priester auf. »Der Mittler zwischen Göttern und Menschen spinnt nicht!« Der Schreiber winkte ab. »Na schön, lassen wir das sein. Was willst du also heute?« Mikkun Onethor trat an die Seitenwand des länglichen Raumes, wo Quirian eine lange Rolle Pergament aufgespannt hatte, auf der das gesamte Apsarakus-Tal aufgezeichnet war, von den Nordbergen, auf deren Gipfeln immerwährender Schnee lag, bis hinab zur Mündung des Flusses in das Große Meer. Der Priester deutete auf die nördliche Hälfte des Talkessels, wischte mit den Fingern hin und her und schob sie schließlich eine halbe Handspanne weit in das Nordtal hinein. »Diese Gegend wirst du auf meinen Namen schreiben«, erklärte er Quirian. »Und damit du nicht zu kurz kommst, verfahren wir wie üblich: für alle zwanzig Joch, die du auf mich schreibst, schreibst du eines auf deinen Namen.« Der Schreiber warf in heller Verzweiflung die Arme in die Höhe. »Jetzt zeigst du mir, daß du wirklich verrückt bist!« rief er. »Das Land, auf das du zeigst, gehört den Fenikern, und es wird ihnen bis in alle Ewigkeit gehören. Welchen Nutzen soll es mir bringen?« »Schweig!« donnerte der Priester ihn an. »Bist du es oder bin es ich, der die Macht hat, in die Zukunft zu sehen? Ich sage dir: Morgen beginnt der heilige Krieg gegen die Abtrünnigen, und in weniger als zehn Tagen wird uns alles Land von der See bis zu den Nordbergen gehören. Also schreib, du mißtrauische Seele!« Quirian zog sich gekränkt hinter sein Pult zurück. Aus der Ablage in den unteren Berei-
Einfluß auf den Gang seiner Gedanken. Wir beugen uns dem Ratschluß der göttlichen Weisheit und widerstreben nicht.« »Du und deine glatten Worte!« ärgerte sich der Herrscher. »Sieh zu, daß du mir aus den Augen kommst, und bete für einen glücklichen Verlauf des Krieges!« * Mikkun Onethor hatte jedoch Besseres vor, als die Götter um eine Sache anzuflehen, die sie ihm praktisch schon gewährt hatten. Er überquerte eiligen Schrittes den vierzehnten Innenhof der königlichen Burg und betrat ein hohes, schmalbrüstiges Gebäude, das zwischen zwei Türmen aufragte. Auf einer engen Wendeltreppe schleppte er sich hinauf, bis in das oberste Stockwerk und trat prustend und mit hochrotem Gesicht bei dem königlichen Schreiber ein. Das dürre alte Männchen hinter dem riesigen Pult schien den Besuch des Obersten aller Priester recht oft zu empfangen, denn es zeigte sich weder erstaunt, noch begegnete es Onethor mit der Ehrfurcht, die ihm kraft seines Amtes eigentlich zustand. Im Gegenteil, er machte ein mißmutiges Gesicht und knurrte: »Sag nur, ich soll schon wieder etwas für dich aufschreiben!« Onethor strahlte. »So ist es, Quirian, so ist es! Aber sag, bist du nicht stets auch auf deine Kosten gekommen, wenn ich von dir etwas schreiben ließ?« »Natürlich«, keifte der Schreiber wütend. »Ich bin Besitzer von achthundert Joch Land mitten in der Wüste, wo nichts wächst und nie etwas wachsen wird. Niemand gibt mir auch nur einen halben Segunz dafür, ja, wenn ich das Land zum Verkauf anbieten wollte, würde ich ausgelacht.« Mikkun Onethor machte ein schlaues Gesicht. »Sag mir, Quirian, in derselben Wüste, in der du achthundert Joch besitzest, wieviel Land ist da in meinem Namen eingetragen?« Der Schreiber überlegte kurz. »Etwa zwanzigmal soviel«, antwortete er schließlich. »Gut. Und ich, der ich mit dem Götterpaar in Verbindung stehe, werde doch nicht so 11
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman sich über den unbekannten Planeten zu informieren. »Ziemlich unglücklich«, erklang Saggelors Antwort. »Die Glücksbringer registrieren starke Impulse von Haß, Kampfeslust und Zerstörungswut.« »Also eine Welt wie für uns geschaffen«, sagte Flannagan und schmunzelte. »Wir werden ihnen zeigen, wie schön es ist, Liebe anstatt Haß, Frieden anstatt Kampfeslust und einen Sinn für Schönheit anstelle von Zerstörungswut zu empfinden.« »Ich bin ganz deiner Ansicht«, antwortete Saggelor. »Also dann, steigen wir aus?« »Hier wäre es ungünstig«, erklärte der Junge. »Wir befinden uns auf einem abgelegenen Kleinkontinent.« »Du meinst, hier gibt es tatsächlich nur die Flußtalkultur, sonst nichts?« »So sieht es aus.« »Na gut, dann bring die Schiffchen wieder in Gang und laß uns dorthin fliegen, wo etwas los ist!« »Es soll geschehen, wie du sagst«, ließ Saggelor sich hören, und obwohl es keine Bildverbindung gab, sah Flannagan den Jungen vor sich hingrinsen.
chen des schweren Möbelstückes zog er einen dicken Folianten hervor, den er behutsam aufschlug. So weit war er gekommen, da drang aus dem Hof herauf wirres Geschrei durch das halbgeöffnete Fenster. Onethor eilte hinzu und riß beide Fensterflügel auf. Unten im Hof hatte sich eine Menschenmenge gebildet, die einen erschöpften, verstaubten und verschwitzten Reiter umringte. Ein wilder Schrei des Zornes löste sich aus der Menge: »Die Abtrünnigen haben Burg Albanoor überfallen und die Männer des Ritters von Albanoor fürchterlich aufs Haupt geschlagen!« Der Priester eilte zu der Karte an der Wand und suchte Burg Albanoor. Als er sie gefunden hatte, rieb er sich die Hände und schmunzelte. »Ausgezeichnet«, murmelte er, »ganz ausgezeichnet!« 3. »Eine primitive Zivilisation«, sagte Saggelor Oggian. Flannagan Schätzo sah überrascht dorthin, wo er das Mikrophon vermutete. »Primitiv?« staunte er. »Das wäre eine Seltenheit!« »Sekundäre Primitivität«, informierte ihn das Kind. »Eine Flußtalkultur. In der Mitte des Flußtals befindet sich eine Konstruktion, die an ein altes Raumschiff erinnert. Die Vorfahren dieser Leute waren wahrscheinlich Siedler, die mit ihrem Raumschiff hier verunglückten. Ich bekomme nur undeutliche Impulse, weil die Zeitrechnung der Glücksbringer anders funktioniert als unsere; aber ich nehme an, daß das Unglück vor acht- bis neunhundert Standardjahren erfolgte.« »Terraabkömmlinge?« wollte Flannagan wissen. »Das ist nicht ganz klar, aber wahrscheinlich.« »Wie sieht's sonst aus?« Die Flotte der Glücksbringer war gelandet, aber die beiden Siganesen befanden sich noch in ihren Fahrzeugen. So ging es immer, wenn sie auf einer fremden Welt ankamen: Die Glücksbringer streckten ihre Fühler aus, um
* Der Vorstoß gegen Burg Albanoor war ein voller Erfolg. Fenikische Späher hatten zwei Tage zuvor die Meldung überbracht, daß der Ritter von Albanoor mit zahlreichem Gefolge nach Südosten abgereist sei, wahrscheinlich nach Erekvar, der Hauptstadt der Mandunnen, zur Burg des Königs mit dem langen Namen. Liggan hatte seine Chance sofort erkannt. Er war ein Mann der raschen Entschlüsse. Ein Fürst, der ein armes Volk vor der Unterwerfung durch einen reichen zahlenmäßig weit überlegenen Gegner bewahren wollte, mußte ein Mann der raschen Entschlüsse sein. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als den Krieg so zu führen, daß er jede Schwäche nutzte, die der Feind sich gab. Albanoor lag am Südwestrand des großen Talkessels, weit innerhalb des Gebietes der Mandunnen, über zwei Tagesmärsche zu Fuß von der Mündung des Nordtales entfernt. 12
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman standen in der Nähe des großen Tores und warteten, ob nicht wenigstens einer von Albanoors Leuten nüchtern genug geblieben sei, um zu unternehmen, was sie von ihm erwarteten. Ihre Hoffnung wurde nicht enttäuscht. Das Getümmel war noch in vollem Gange, da preschte aus einem der abgelegenen Höfe ein Reiter auf einem prächtig aufgezäumten Zonggor hervor. Mit weiten Sprüngen setzte das Tier über die sich Balgenden hinweg und schoß auf das Tor zu. Fanthar tat seine Pflicht. Er riß den rechten Torflügel auf, und der wilde Reiter preschte ohne Aufhalten hindurch, nicht ahnend, wer ihm diese Gunst er wiesen hatte. Liggan war zufrieden. Das ganze Unternehmen wäre nutzlos gewesen, hätte man in Erekvar nichts davon erfahren. Er kannte Mikkun Onethor, den Oberpriester und engsten Ratgeber des Königs mit dem langen Namen. Er wußte, welchen Reim Onethor sich auf diesen Überfall machen würde. In den Höfen der Burg näherte die Schlacht sich inzwischen ihrem Ende. Die betrunkenen Verteidiger lagen samt und sonders am Boden. Nur hier und da gab es noch Scharmützel, zumeist unter den Angreifern selbst, denen der wilde Rausch des Prügelns so ins Blut gedrungen war, daß sie zwischen Freund und Feind nicht mehr zu unterscheiden vermochten. Liggan trat unter seine Männer und gebot Ruhe. Eine Gruppe Besonnener hatte begonnen, die Unterlegenen zu fesseln. Liggan zählte 138 Knechte und 63 Mägde des Ritters von Albanoor, die seinen Leuten vor die Fäuste gekommen und mehr oder weniger übel zugerichtet worden waren. Die stumpfen Schwerter, die hölzernen Morgensterne und die plumpen Spieße hatten ganze Arbeit geleistet: es war keiner ohne eine Beule davongekommen, und es hatte, der Lehre von der Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben getreu, kein einziges Todesopfer gegeben. Von Liggans Männern waren etwa vierzig so lädiert, daß sie einige Stunden der Ruhe bedurften. Die Feuer, die man im Eifer des Kampfes zertrampelt hatte, wurden wieder entfacht. Man kratzte die rußige Kruste von den verbrannten Rinderleibern und labte sich an dem Fleisch, das darunterlag. Hier und da wurde ein Krug mit Schamdu gefunden, der aufrecht
Liggan hatte seine besten Reiter zusammengerufen, eine Truppe von über zweihundert Mann. Er hatte erklärt, worum es ging, und sie hatten ihm zugestimmt. Um den Feind nicht wissen zu lassen, was sie vorhatten, waren sie nicht das Tal des Apsarakus hinabgeritten, sondern gleich nach Westen über die Berge geklettert und weit in die Wüste hinaus vorgedrungen. In Eilmärschen hatten sie den Talkessel erreicht. Am Südwestrand waren sie wiederum über die Berge gestiegen, und als die Nacht sich über die Erde senkte, hatten sie den Felskegel erklommen, auf dessen Gipfel Burg Albanoor stand. Die Besatzung der Burg wußte die Abwesenheit des gestrengen Ritters zu schätzen. Einer von Liggans Spähern, der sich als Händler ausgab und in die Burg eingelassen worden war, berichtete später, der Schamdu flösse in Strömen und die Mägde seien ebenso betrunken wie die Knechte. Der Arme hatte mithalten müssen und war nun selbst nicht mehr besonders sicher auf den Beinen. Liggan ließ ihn und zwei anderen zurück, damit sie die Zonggors bewachten. Zwei Stunden vor Mitternacht hatten sie an drei Stellen die Zinnen der Burgmauer erreicht. Aus den Höfen der Burg drang trunkenes Geschrei und Gelächter in die Höhe. Über hellodernden Feuern wurden riesige SibchaOchsenhälften geröstet. Es war wirklich keine Ehre für Liggans Männer, einen solchen Platz zu überfallen; aber sie mußten es tun, nicht um der Ehre, sondern um des taktischen Vorteils willen. Mit wütendem Gebrüll drangen sie von den Mauern herab auf die Ahnungslosen ein. Die breiten Schwerter klatschten auf nackte Rücken, die hölzernen Morgensterne fanden dröhnend ihr Ziel, und die Speere mit den stumpfen Rammenden krachten mit trockenem, hölzernem Laut gegen aufgeblähte Brustkörbe. Und als der Kampf mit den Waffen keinen Spaß mehr machte, da warfen Liggans Mannen die Schwerter, die Morgensterne und die Speere weg und schlugen mit den Fäusten auf alles, was ihnen in die Quere kam, Männer wie Weiber, Freund wie Feind. Nur Liggan selbst und sein getreuer Fanthar beteiligten sich nicht an der Schlacht. Sie 13
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman schen Reiches war aufgeboten worden. Des Königs Heer bestand aus dreitausend Reitern und fünftausend Mann Fußvolk. Mikkun Onethor hatte es verstanden, die Leute durch feurige Reden und den Hinweis auf die Gunst der Götter mit einem Siegesbewußtsein zu erfüllen, das jeden Zweifel an dem Erfolg dieses Unternehmens einfach hinwegspülte. Nur einer widerstand seinen Bemühungen: der König selbst. Er konnte sein Mißtrauen und seine Ängste nicht überwinden. Mikkun Onethor stand vor dem Beratungstisch und hieb mit der flachen Hand ungeduldig auf eine Karte des Apsarakus-Tales, die vor ihm ausgebreitet lag. Ringsum standen der König und einige seiner Ritter. »Ich sage euch«, ereiferte sich der Oberpriester. »daß dieser Krieg für uns ein Spaziergang sein wird. Das Götterpaar hat den abtrünnigen Liggan mit Blindheit geschlagen. Er und seine Reiter befinden sich im Süden des Talkessels, westlich von hier, und machen sich ein Vergnügen daraus, unbewachte Burgen und Truppenlager zu überfallen. Mit jedem Tag entfernt er sich weiter von der Grenze seines Landes. Wir marschieren unbemerkt an ihm vorbei und besetzen seine Hauptstadt, bevor er überhaupt merkt, was hier gespielt wird. Ohne ihren Anführer taugen die fenikischen Truppen nichts. Und ich sage euch noch einmal: Noch nie war ein Krieg so leicht zu gewinnen wie dieser!« Unter den Rittern erhob sich zustimmendes Gemurmel. Die Blicke waren auf den Herrscher gerichtet. Der besann sich seiner Rolle, räusperte sich und verkündete mit dröhnender Stimme: »Ihr habt gehört, was das Götterpaar uns durch den Mund dieses erleuchteten Mannes verkündigt! Tut, was er euch sagt! Ruft die Reiter zusammen und befehlt ihnen, sich zum Abmarsch bereitzumachen. Eile ist geboten. Das Fußvolk mag hinter den Reitern herziehen. Für uns ist es wichtig, die Grenzen des Feindeslandes so rasch wie möglich zu überschreiten!« Die Ritter entfernten sich. Kurze Zeit später hörte man es draußen im Lager lebendig werden. Ragnok-Thessor-Sanguun-Lemalek fixierte den feisten Oberpriester mit mißtrauischem Gesicht.
stehengeblieben war. An einem der Feuer saßen Liggan und Fanthar und sprachen über ihre weiteren Pläne. In der Nähe lagen mehrere gefesselte Gefangene. Es schien dem Fürsten und seinem Berater nichts auszumachen, daß diese Teile ihres Gespräches mithören konnten. Sie diskutierten darüber, ob es klüger sei, als nächstes die Burg Granglik oder das mandunnische Truppenlager bei Sassamor zu überfallen. Beide Orte waren mehrere Reitstunden entfernt, und die Entscheidung hing davon ab, welches der beiden Objekte mit der größeren Wahrscheinlichkeit noch vor Morgengrauen erreicht werden konnte. Die Gefangenen, die aufmerksam horchten, erfuhren nicht mehr, wie die Entscheidung lautete. Liggans Leute waren inzwischen ohne Ausnahme wieder auf den Beinen. Er gab den Befehl zum Aufsitzen. In langer Reihe ritten die siegreichen Feniker durch das Burgtor in die Nacht hinaus. Die Gefangenen blieben zurück. Die Burg zu plündern, hatte Liggan seinen Männern untersagt. Sie ritten südwärts, bis man den Hufschlag der Zonggors von der Burg aus nicht mehr hören konnte. Dann bogen sie nach Westen ein und flogen im Galopp auf die Berge zu. Am Fuße der Vorberge trafen sie kurz vor Sonnenaufgang auf die Spur, die sie auf dem Herweg zurückgelassen hatten. Liggan wandte sich lachend an Fanthar: »Man wird uns überall suchen!« rief er. »In Granglik, in Sassamor oder sonst irgendwo im Süden des Tales. Onethor, der Fuchs, wird glauben, er habe den Sieg schon in der Tasche!« * Ragnok-Thessor-Sanguun-Lemaleks Zeltlager stand dort, wo der riesige Talkessel sich gegen Süden verengte und in das breite, flache Südtal einmündete, das den eigentlichen Lebensbereich der Mandunnen darstellte. Das Lager stand unmittelbar am Fluß, und über die Kuppen der Mannschaftszelte ragte um mehrere Manneslängen der riesige Zeltbau hinaus, in dem der Herrscher mit seinem Gefolge hauste. Die gesamte Streitmacht des mandunni14
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman Weg versperren?« Alinda wußte nichts darauf zu sagen. »Du glaubst, daß wir den Damm noch rechtzeitig vor dem Beginn der Regenzeit errichten können?« fragte Fanthar in die Stille hinein. »Wir müssen es schaffen«, antwortete Liggan. »Davon, mehr als von unserem Sieg in dem bevorstehenden Kampf, hängt die Zukunft der beiden Völker ab. Übrigens bin ich überzeugt, daß Mikkun Onethor in dieser Richtung schon bedeutende Vorbereitungen getroffen hat, die wir uns zunutze machen werden.« »Mikkun Onethor ...?« »Derselbe. Ich weiß von Mittelsleuten, daß er vom königlichen Schreiber umfangreiche Ländereien überall im Talkessel auf seinen Namen hat eintragen lassen. Ländereien, die jetzt völlig wertlos sind. Onethor hat die Lage so klar wie ich erkannt, nur zieht er Folgerungen daraus, die nicht dem Wohl der Völker, sondern allein seiner Tasche dienen sollen. Seit Jahrhunderten richtet der Fluß in der Regenzeit schwere Verwüstungen an. Im Nordtal, wo wir leben, tritt er reißend über die Ufer, schwemmt die wertvolle Ackerkrume mit sich und vertreibt unsere Leute in die unwirtlichen Berge zu beiden Seiten des Tals. Im großen Talkessel füllen sich um diese Zeit die Flußbetten, die sonst das ganze Jahr über trocken liegen, und führen dem Apsarakus von den Ost- und Westbergen her weitere Wassermassen zu. Infolgedessen tritt der Fluß auch im Südtal über die Ufer. Aber da das Gefälle dort geringer ist als hier im Norden, benimmt er sich manierlich. Er setzt sogar einen Teil des Schwemmlandes, das er hier bei uns mit sich fortgerissen hat, dort im Südtal wieder ab.« »Und diesen Zustand«, fragte Fanthar ungläubig, »soll Onethor ändern wollen?« »Natürlich. Er will den Südausgang des Talkessels durch einen Damm absperren. Hinter dem Damm staut sich das Wasser des Flusses. Ein See entsteht. Der Damm kann so geöffnet und geschlossen werden, daß das Südtal gerade soviel Wasser erhält, wie es braucht. Der See steigt und steigt, bis er den Nordausgang des Talkessels erreicht und uns den Weg in den Kessel versperrt. An den U-
»Du bist deiner Sache ganz sicher?« wollte er wissen. »Hör zu, hoher Herr«, explodierte Mikkun Onethor. »Du fängst an, mir mit deinem ewigen Unglauben auf die Nerven zu gehen!« * Das rote Licht der untergehenden Sonne fiel durch das große Fenster und tauchte die Halle in einen merkwürdigen Schimmer. Um den schweren Tisch herum saßen Liggan, der Fürst der Feniker, sein Ratgeber Fanthar und Alinda, die Liggan in Kürze vom Range der Geliebten zum Status seiner Ehefrau erheben würde. Alindas langes Haar war von anderem Rot als das Licht der Sonne und bildete dazu einen deutlichen Kontrast. Der Blick ihrer großen, intelligenten Augen ruhte nachdenklich auf dem Mann, den sie liebte. »Der Krieg, der alle Kriege beenden wird?« fragte sie, eine Formulierung wiederholend, die Liggan in seiner letzten Feststellung gebraucht hatte. »Bist du deiner Sache sicher?« »So sicher, wie ein Mann sein kann«, antwortete er mit schwerer Stimme, »der sich auf die Denkkraft seines Verstandes verlassen muß und keinen Anspruch darauf erhebt, von den Göttern erleuchtet zu sein.« Alinda lächelte. »Mir scheint, aus dir wird allmählich ein Ungläubiger. Warum wendest du dich nicht an das Götterpaar um Rat?« Liggan machte eine wegwerfende Handbewegung. »Man soll das Götterpaar nicht so strapazieren«, wehrte er ab. »Zumal man nicht weiß, wo es wohnt und welches die richtige Weise ist, es anzurufen.« »Wo es wohnt?« rief Alinda erstaunt. »Es wohnt in seinem Heiligtum im großen Talkessel!« Liggan schüttelte den Kopf. »Ich habe mich oft dort hineingeschlichen. Fanthar hat mich manchesmal begleitet. Wie kann der Mensch glauben, daß Götter in einer dunklen, durchlöcherten Hülle leben, durch die in der Nacht der Wind pfeift und in deren Gängen und Hallen häßliche, zerbrochene Gebilde nutzlos umherliegen und einem den 15
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman lächelnd auf. »Vielleicht kann ich mir einen Reim darauf machen.« »Ich sah in den Himmel hinauf, um den Stand der Sonne abzuschätzen, da sah ich seltsame Gebilde, so groß wie der Kopf eines Mannes, zu Hunderten und Tausenden aus dem Himmel herabgleiten und auf der Wüste landen. Dort liegen sie noch jetzt und rühren sich nicht.« Liggan machte ein erstauntes Gesicht. »Du meinst, sie fielen aus dem Himmel?« »Nein, Fürst, sie fielen nicht. Sie kamen ganz langsam, ganz sacht herab und machten kein Geräusch – weder im Flug, noch als sie auf den Boden trafen.« »Gingst du hin, um sie aus der Nähe zu betrachten?« Der Bote senkte den Blick. »Ich ... ich hatte es vor, Fürst.« »Aber ...?« »Aber es überkam mich eine unerklärliche Furcht, die um so stärker wurde, je näher ich den seltsamen Gebilden kam. Schließlich war es soweit, daß mir die Knie schlotterten. Ich ... ich kehrte um und rannte davon, als seien alle bösen Geister hinter mir her!« Er hatte den Blick wieder erhoben und sah seinem Fürsten frei in die Augen. Liggan musterte ihn lange und abschätzend. »Ich kenne dich, Marthur«, sagte er freundlich. »Du hast keine Angst. Und wenn du dennoch Furcht empfandest, dann wurde sie dir von außen ins Herz gelegt. Ich habe keinen Tadel für dich. Auch ich kann mir deine Beobachtung nicht erklären, aber ich werde darüber nachdenken. Geh jetzt und ruh dich aus!« Marthur verließ die Halle. Liggan und Fanthar sahen ihm lange nach, selbst als sich die Tür längst hinter ihm geschlossen hatte.
fern des Sees aber entstehen infolge der Feuchtigkeit neue bebaubare Länder, die ohne Ausnahme Onethors Eigentum sind.« Fanthar nickte nachdenklich. »Wie aber unterscheidet sich dein Plan von dem des Priesters?« wollte er schließlich wissen. »Wenig«, antwortete Liggan. »Mein Stausee wird kleiner sein als der, den Onethor geplant hat. Er wird den nördlichen Zugang zum Talkessel offenlassen, so daß wir uns frei bewegen können. Seinen Zweck erfüllt der See trotzdem. Der Wasserspiegel wird hoch genug sein, so daß der Apsarakus in seinem Lauf durch das Nordtal erheblich gebremst wird und keinen nennenswerten Schaden mehr anrichten kann.« Er lächelte plötzlich. »Und selbstverständlich werden wir darauf achten, daß die Eintragungen, die der königliche Schreiber gemacht hat, wieder gelöscht werden. Wir lassen uns nicht zum Handlanger für die Beschaffung von Reichtum für Onethor, den Fuchs, machen!« Eine kräftige Faust schlug von außen gegen die Hallentür. »Wer ist's?« rief Liggan. »Ein Bote, Fürst, von den Ostbergen!« »Er soll hereinkommen!« Die Tür wurde geöffnet. Ein untersetzter Mann trat herein, den Staub der Wüste auf dem Gesicht, durch den der Schweiß schmutzige Bahnen gezeichnet hatte. Er baute sich vor dem Fürsten auf und grüßte. »Du bist scharf geritten«, sagte Liggan beifällig. »Was bringst du?« »Der König mit dem langen Namen ist auf dem Weg nach Norden, Fürst«, lautete die Antwort. »Er hat dreitausend Reiter bei sich und bewegt sich auf der Ostseite des Flusses. Die Mandunnen haben es eilig. In der kommenden Nacht werden sie den Ausgang des Nordtales erreichen.« Liggan nickte befriedigt. Der Bote blieb stehen. »Sonst noch etwas?« erkundigte sich der Fürst. »Ja, Herr«, antwortete der Bote ein wenig verlegen. »Bevor ich mich auf den Weg machte, sah ich in der östlichen Wüste etwas, das ich mir nicht erklären kann.« »Laß es mich hören!« forderte Liggan ihn
4. »Du bist ein Dilettant!« schimpfte Flannagan Schätzo in komischem Ärger. »Das Land ist so verlassen wie der Garten Eden, bevor Adam kam, und du landest ausgerechnet an einer Stelle, wo man uns sehen kann.« Sie standen auf dem sandigen Boden der Wüste. Hinter ihnen, weit über die Ebene ver16
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman Jahrzehnten haben die Verantwortlichen beider Völker erkannt, was dagegen getan werden muß. In der Mitte des langen Tales gibt es einen Talkessel, der sich zur Aufstauung des Flusses vorzüglich eignet. Mit Hilfe eines Stausees könnten die Probleme der Verwüstung und der nachfolgenden Trockenheit spielend gelöst werden. Aber der Talkessel befindet sich im Grenzgebiet beider Völker, und infolge der ewigen Feindschaft kann in diesem Bereich nichts Konstruktives getan werden. Bei diesem Krieg, der soeben beginnt, sind jedoch beide Seiten davon überzeugt, daß er – infolge der absoluten Unterwerfung des Gegners – der letzte aller Kriege sein wird. Sofort danach hofft man, das Staudammprojekt verwirklichen zu können. Es ist interessant, daß dabei auf den beiden gegnerischen Seiten auch verschiedene Motive mitspielen. Auf der einen Seite ist ein deutlicher Zug von Profitgier zu erkennen.« »Auch das ist nicht neu, mein Junge«, belehrte Flannagan Schätzo den Kleinen. »Im Gegenteil: Ich möchte behaupten, daß die Gier nach persönlichem Vorteil die Triebkraft hinter manchem wichtigen Projekt der Menschheitsgeschichte war, das später als Helden- oder Pioniertat gefeiert wurde.« Er nickte beifällig. »Ich muß die Beobachtungsgabe deiner Schiffchen bewundern. Sie scheinen in die Seele des Menschen hineinzublicken. Was jetzt getan werden muß, ist dir doch klar?« Der winzige Siganese nickte bedeutungsvoll. Tiefer Ernst breitete sich über das kindliche Gesicht. »Das Staudammprojekt muß durchgeführt werden«, antwortete er. »Aber wir müssen dafür sorgen, daß es deswegen zu keinem Krieg kommt.« »Das ist wahr!« pflichtete Flannagan Schätzo bei. »Wir werfen uns zwischen die streitenden Parteien und bringen ihnen Frieden.« »Am besten machen wir uns gleich auf den Weg«, schlug er vor. »In der kommenden Nacht werden Kampfhandlungen beginnen. Wir zwei, jeder in seinem Fahrzeug, sind ausreichend. Der Rest der Flotte kann hierbleiben.«
streut, ruhten die sechstausend Einheiten der Flotte der Glücksbringer. »Reg dich nicht auf, Alter«, grinste Saggelor Oggian respektlos. »Nach dem, was ich über die Menschen dieser Welt weiß, wird sich dieser Mann nicht erklären können, was er gesehen hat, und zum Schluß gar an einen Spuk glauben. Außerdem, was soll's? Hier herrscht Unfriede. Wir sind gekommen, um den Frieden zu bringen. Also werden wir uns den Leuten früher oder später ohnehin zeigen müssen.« »Na schön«, gab Flannagan Schätzo klein bei. »Von mir aus kommst du mit einer leichten Rüge davon. Was gibt's Neues auf dieser Welt?« »Die Eindrücke sind verwirrend«, bekannte der Junge. »In dem Tal vor uns bewegt sich eine Heersäule nach Norden, um das Land des Gegners in Besitz zu nehmen. Sie ist siegesbewußt, obwohl mir nicht klar ist, woher sie diese Zuversicht nimmt. Denn der Gegner hat sich verschanzt und ist seinerseits ebenfalls sicher, daß er den Angriff zurückweisen und für den Feind in eine vernichtende Niederlage umwandeln kann.« Flannagan Schätzo grinste bitter. »Was ist so seltsam daran? Seit Tausenden von Jahren sind jeweils beide Seiten siegesbewußt in den Krieg gezogen. Das ist die menschliche Natur, mein Junge.« Saggelor Oggian ging über die philosophische Bemerkung leicht hinweg. »Es gibt zusätzliche Komplikationen«, bemerkte er. »Auf beiden Seiten gibt es jeweils eine äußerst gedankenstarke Person, die in diesem Krieg mehr als nur ein routinemäßiges Aufeinanderprallen sieht. Die Ausstrahlungen dieser beiden stechen derartig scharf aus dem gedanklichen Gemurmel der übrigen hervor, daß mein Schiffchen sie mühelos empfangen kann.« »Worum geht es?« fragte Flannagan neugierig. »Hast du das erfahren?« »Um die typischen Probleme einer primitiven Flußtal-Kultur«, antwortete der Junge. »In regelmäßigen Intervallen tritt der Fluß über die Ufer und richtet Verwüstungen an. Dabei scheint der nördliche Teil des Tales in der Regel wesentlich schlechter abzuschneiden als der untere, südliche Teil. Schon vor 17
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman »Ich habe Schmerzen«, stöhnte der Hüne und preßte sich beide Hände gegen den Leib. »Du mußt dich niederlegen«, riet ihm Mikkun Onethor. »Jetzt ist nicht die Zeit, Schmerzen zu empfinden. Du mußt rasch darüber hinwegkommen. Deine Ritter erwarten, daß du sie anführst!« Bei dieser Vorstellung empfand der Herrscher noch mehr Schmerz. Mühselig erhob er sich von seinem Stuhl und schleppte sich zu einer Liege. Der Herrscher schloß die Augen. Seine Einbildungskraft war so stark, daß sich Schweißperlen auf seiner Stirn zu bilden begannen. »Schick nach Xandor!« ächzte er. »Sag ihm, er soll herkommen!« Der Priester stellte sich überrascht. »Xandor? Was soll er hier?« »Frag nicht! Laß ihn holen!« Mikkun Onethor trat aus dem Zelt und schickte einen Knecht, er solle den Ritter Xandor herbeischaffen. Es war dunkel, und der Priester war seines Auges nicht sicher; aber er glaubte, es im Gesicht des Knechtes höhnisch aufzucken zu sehen. War es schon so weit? Wußten selbst die Knechte schon um das eigenartige Leiden ihres höchsten Herrn? Dann mußte man zusehen, daß das Volk einen neuen Herrscher bekam. Onethor kehrte in das Zelt zurück. Nach kurzer Zeit erschien Xandor, ein breitschultriger Mann von mittlerer Größe mit einer Glatze, die selbst in der Finsternis zu leuchten schien, ein grobschlächtiger, ungehobelter Geselle. »Was soll ich?« röhrte er. »Ich leide!« stöhnte der Herrscher von seiner Liege her. »Xandor, du Tapferer ... wirst du die Heerscharen an meiner Stelle führen? Wirst du es übernehmen, den Feind in die Knie zu zwingen? Ich übertrage dir ...« »Oh, nicht schon wieder!« seufzte Xandor und schlug sich mit der flachen Hand klatschend gegen die Stirn. »Was meinst du?« fragte Ragnok-ThessorSanguun-Lemalek betroffen. »Vierzehn Schlachten habe ich unter deiner Regierung gefochten«, dröhnte Xandors Stimme. »Vierzehnmal sah ich dich kurz vor dem Beginn der Schlacht krank werden. Ich übernehme deine Stelle, Lemalek, aber ich
* Sie waren eine Reitstunde weit in das Nordtal eingedrungen. Inzwischen sank die Sonne, und zwischen den himmelwärts strebenden Bergriesen wurde es schnell dunkel. RagnokThessor-Sanguun-Lemalek empfand fröstelnd, daß er sich in einer anderen Welt befand als der, die er gewöhnt war. Hier war alles kälter, strenger, unerbittlicher als unten im Südtal mit seinen weichen, bewaldeten Hügeln. Kein Wunder, daß die Feniker solche Barbaren waren. Die Natur des Nordtales machte sie dazu. Er saß in seinem Zelt – einem kleinen, anspruchslosen Gebilde, das keinen Vergleich mit dem Schloßzelt aushielt, in dem er noch vor kurzem gewohnt hatte – und blickte durch die blakende, gelbe Flamme der Kerze auf den Tisch in das aufgedunsene Gesicht des Oberpriesters. »In zwei Stunden beginnt der Kampf«, erklärte Mikkun Onethor. »Unsere Reiter arbeiten sich allmählich auf die Festung Nebitar vor, die den Taleingang schützen soll. Wir werden die Feniker völlig unvorbereitet überraschen.« »Meinst du?« fragte der Herrscher voller Unbehagen. »Ich bin sicher!« trumpfte der Priester auf. »Auf eines allerdings, glaube ich, sollte ich dich jetzt schon vorbereiten.« »Was ist das?« wollte der Herrscher, nichts Gutes ahnend, wissen. »Das Götterpaar hat erneut zu mir gesprochen. Die Lehre von der Unverletzbarkeit menschlichen Lebens ist aufgehoben!« Ragnok-Thessor-Sanguun-Lemalek glaubte zu fühlen, wie sich ihm die Haare sträubten. »Unglaublich!« stieß er hervor. »Du meinst ... es wird Tote geben?« »Unzweifelhaft«, nickte Mikkun Onethor. »Ich trage das Flammenschwert der Götter. Wen es trifft, der ist verloren für alle Zeiten!« Schweiß trat dem Herrscher auf die Stirn. »Entsetzlich!« »Es läßt sich nicht vermeiden«, antwortete Onethor salbungsvoll. Der Herrscher beugte sich plötzlich vornüber und ächzte. Der Priester sprang auf. »Was ist ...?!« 18
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman gemacht. Ihr habt recht. Ich glaube nicht an das Götterpaar, das in einer alten zerfallenen Kuppel haust. Aber bedeutet das, daß ich deswegen das Leben des Menschen für billig halten muß? Kann man nicht an eine Lehre glauben, ohne gleichzeitig die Popanze zu verehren, von denen sie nach der Meinung der Priester, die auch nur Menschen sind, hervorgeht?« »Ich denke, ja«, antwortete Fanthar verwirrt. »Wahrscheinlich ist es so.« Aber sein Verstand wollte den Weg nicht verlassen, den die Gedanken zuvor beschritten hatten. »Aus Gläubigkeit also überläßt du dem Feind den Vorteil, eine Waffe zu besitzen, die uns alle ins Verderben bringen kann?« Liggan lachte bitter. »Höre ich da einen Vorwurf, mein Freund? Willst du mir vorhalten, daß ich ein religiöser Schwärmer sei, der sich von der Wirklichkeit abgewandt hat und sein Volk den wilden Sibchas überläßt, damit sie ihm die Hörner in die Eingeweide stoßen und es in die Luft wirbeln? Tritt vor mich hin und sieh mich an, Fanthar! Sehe ich wie ein solcher Narr aus?« »Nein«, murmelte Fanthar betreten. »Verzeih mir ...« »Deine Sorge adelt dich. Fanthar«, unterbrach ihn der Fürst. »Wenn auch dein Mangel an Vertrauen wenig Menschenkenntnis verrät. Aber ich habe dafür gesorgt, daß Onethor, der Fuchs, heute nacht eine Überraschung erlebt, die er so schnell nicht wieder vergessen wird. Denn das Heiligtum birgt noch andere Geheimnisse, die nicht tödlich sind und dennoch ihrem Besitzer den Sieg einbringen können, wenn er sie zu nutzen weiß.« Eine Gestalt schob sich durch die Finsternis heran. »Bote aus dem Tal, Fürst«, sagte eine unterdrückte Stimme. »Die Spitze der mandunnischen Reiter ist in den Hohlweg eingedrungen, der zur Festung heraufführt.« Liggan stand auf und klopfte den Schmutz von seinem Gewand. »Sag den Leuten «, befahl er dem Boten, »daß der Kampf in wenigen Minuten beginnt.«
sage dir, du sollst dich von dieser merkwürdigen Krankheit heilen lassen, oder es wird dir eines Tages schlecht ergehen.« Er stürmte hinaus. »Was meint er?« fragte der Herrscher verwundert. Mikkun Onethors Gesicht war eine Grimasse des Hohns. »Daß du ein erbärmlicher Feigling bist«, stieß er gehässig hervor und verließ ebenfalls das Zelt. * Hinter den Mauern von Nebitar hockten die fenikischen Krieger und warteten auf den Feind. Es brannte kein Feuer; es gab kein Licht. Die Mandunnen sollten glauben, daß hier alles schlief. Aber draußen in der Nacht waren die Späher, die hin- und hereilten und dem Fürsten über jede Bewegung des Gegners berichteten. Liggan saß abseits, an seiner Seite Fanthar, der Getreue. »Sagte ich dir nicht«, bemerkte Liggan, »daß Mikkun Onethor im Heiligtum eine Entdeckung machen würde, die er gegen uns einzusetzen gedenkt?« »Bist du deiner Sache sicher, Fürst?« »Merkwürdig, wie man mir dieselbe Frage immer wieder stellt, nicht wahr?« lächelte Liggan. »Ja, ich bin sicher. Meine Leute sind überall, und der Priester hat in den jüngsten Tagen recht merkwürdig geredet – von der Gunst des Götterpaares, von der tödlichen Blitzschleuder und vom Flammenschwert der Götter. Ich glaube, ich weiß, was er im Heiligtum gefunden hat.« Fanthar ruckte in die Höhe. »Wie?! Du meinst ... Onethor hat eine Waffe, die du kennst ... die wir aber nicht besitzen?« Liggan nickte bedächtig. »Ja, eine tödliche Waffe. Du hast recht. Ich kenne sie und könnte sie ebenfalls besitzen. Aber ich glaube an die Lehre von der Unverletzbarkeit menschlichen Lebens.« »Du ...?!« »Ist denn das so verwunderlich? Ihr beide, du und Alinda, habt in letzter Zeit manchmal spitze Bemerkungen über meinen Unglauben
* 19
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman Mauerkrone zu greifen und sich daran emporzuziehen. Er war außer sich vor Ungeduld. Wie wollte er seine Waffe, das Flammenschwert der Götter, zum Einsatz bringen, wenn er nicht dort war, wohin sich die gesamte Aufmerksamkeit des Feindes konzentrieren mußte? Er raffte sich auf und rannte, so schnell er konnte, an der Mauer der Festung entlang. Er hörte Schmerzensschreie und glaubte, vor sich in der Dunkelheit ein wüstes Getümmel zu sehen. Da blieb er stehen und riß die Waffe, die Blitzschleuder, aus dem Seil hervor, hinter dem er sie stecken hatte, richtete das aufgestülpte Rohr in die Höhe und schrie: »Vorwärts, ihr Krieger! Hinter euch steht die Macht der Götter!« Dann drückte er auf den Knopf. Ein feuriger, weißleuchtender Strahl stieg fauchend aus dem Rohr und schoß in die Nacht hinauf. Der Widerschein des göttlichen Feuers erhellte die Szene und zeigte dem Priester einen wüsten Knäuel von Menschen, der sich am Fuß der Mauer aufeinandertürmte und aus der Höhe, ohne daß die Verteidiger zu sehen gewesen wären, mit groben Holzstücken und faustgroßen Steinen bombardiert wurde. Mikkun Onethor ließ den Druckknopf fahren. »Warum kämpft ihr nicht?« schrie der Priester ratlos. »Habt ihr nicht gehört, daß das Götterpaar auf eurer Seite ...« Er kam nicht weiter. Es wurde plötzlich hell, so hell, daß Mikkun Onethor seinen Schatten gleich zweimal vor sich her scharf gezeichnet auf die Mauer der Festung fallen sah. Er konnte nicht sogleich erkennen, woher das Licht kam, aber er wußte, wo er ähnliche Helligkeit, schmerzend grell, bläulich-weiß, schon einmal gesehen hatte: im Innern des Heiligtums, als die Stimme des Gottes zu ihm sprach! Der Arm mit der Blitzschleuder sank lahm herab. Auf einmal hatte Mikkun Onethor, der Oberste der Priester, entsetzliche Angst. Aus der Höhe erklang eine mächtige Stimme: »Ich aber sage zu euch, ihr Frevler: Warum handelt ihr gegen das göttliche Gebot? Warum sträubt ihr euch gegen die Liebe und den Frieden und sucht stattdessen den Haß und die Zwietracht? Der Zorn derer, die über diese
Es war Mikkun Onethor nicht recht, daß er sich bei der Spitze der Truppe befinden mußte, aber das ließ sich nicht ändern. Er war viel zu schlau und skrupellos, um Angst zu empfinden. Es war einfach eine unbequeme, unbehagliche Sache, bei der er nach wie zuvor hatte mitmachen müssen. Er mußte sich zwischen Büschen und Bäumen hindurchwinden, wobei sein Umhang sich in den Zweigen verfing. Seine Fähigkeit, in der Dunkelheit zu sehen, war so gut wie null, infolgedessen rutschte er in ein tiefes, schlammiges Loch und besudelte sich von oben bis unten, bevor er wieder ins Freie fand. Die ganze Zeit über hatte er auf seine Waffe zu achten, die Blitzschleuder, das flammende Schwert der Götter, wie er sie nannte, damit sie nicht aus dem Halt des Seiles glitt, das er sich um den Leib geschlungen hatte. Der Aufstieg zu den Mauern der Festung war beschwerlich. Die Finsternis war so vollkommen, daß er die Mauer erst bemerkte, als er mit dem Schädel dagegenstieß. Da hockte er sich auf den Boden und horchte um sich. Als sein Keuchen und Schnaufen leiser geworden war, merkte er, daß es rundum völlig still war. Er hatte den Anschluß an die andern verloren! Mit einem halblauten Fluch setzte er sich von neuem in Bewegung und kroch an der Mauer entlang. Er wußte nicht, auf welcher Seite der Festung er sich befand. Aber wenn er ringsherum kroch, mußte er irgendwo auf Xandor und seine Leute treffen. Unglücklicherweise hatte Xandor seine eigene Vorstellung von der Bestürmung einer Festung, und zu dieser gehörte nicht, daß ein Priester unbedingt mit dabei sein müsse. Mikkun Onethor war gerade um eine Mauerecke gekrochen, da hörte er weit vor sich wütendes Gebrüll, das sich unversehens in der Nacht auftat wie der Rachen eines Ungeheuers, das bis jetzt geschlafen hatte, und mittendrin die dröhnende, grollende Stimme des Ritters Xandor: »Auf die Mauern, ihr Krieger! Schlagt den Feind! Lehrt die Abtrünnigen die Furcht vor den Göttern!« Mikkun Onethor sah im Geist, wie die Leute einander auf die Schultern stiegen, um die 20
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman dan, zum Sieg!« Sie schlugen klappernd die Schwerter gegen die Schilde und saßen auf. Das Tor der Festung öffnete sich, und eine endlose Schlange von kampfberauschten Reitern ergoß sich in die Nacht. Fanthar, an der Seite seines Fürsten, schritt auf eine Mauernische zu. »Das war ein beeindruckendes Schauspiel«, sagte er ernst. »Um ein Haar hätte ich fast selbst mich zu fürchten begonnen.« »Die Götter«, bemerkte Liggan spöttisch, »lehren den, der zu lernen begehrt. Es gibt mancherlei Geheimnisse in ihrem Heiligtum, für jeden zu sehen, der sehen kann.« »Ich weiß, daß du nicht an sie glaubst«, setzte Fanthar sich über den Spott hinweg. »Aber was war das für eine entsetzliche Helligkeit, und woher kam die mächtige Stimme, die so plötzlich durch das Tal schallte?« Sie hatten die Nische erreicht. Dort standen mehrere kastenförmige Gebilde, an denen Liggan sich für eine Weile zu schaffen machte. »Kannst du lesen?« fragte ihn Liggan. »Was ist das für eine Frage? Du kennst mich! Wenn die Buchstaben groß und nicht zu verschnörkelt sind, kann ich sie lesen, das weißt du, Fürst.« »Ereifere dich nicht! Die Götter im Heiligtum können auch lesen. Wenigstens schließe ich dies daraus, daß es in ihrem Heiligtum zahllose Schriften gibt. Mit dem bloßen Auge kann man sie allerdings nicht erkennen. Sie sind auch nicht auf Pergament verfaßt, sondern auf einem harten, biegsamen, durchsichtigen Material. Man muß sie in ein Gerät legen, von dem ein scharf gebündelter Lichtstrahl ausgeht. Dann kann man die Zeichen, die vorher so winzig waren, groß und deutlich an der Wand sehen. Die Lichter, die du gesehen hast, nennt man Flutlampen, und die Kraft, die sie betreibt, stammt aus NuklearBatterien. Die donnernde Stimme, die du gehört hast, war die meine – aufgehoben auf einem Ding, das man ein Magnetband nennt. Ich kenne all diese Worte, aber frag mich nicht, was sich hinter ihnen verbirgt.« Fanthar hob den Kopf und fing an zu lachen. »Nein!« stieß er hervor. »Ich frage dich
Welt herrschen, wird euch treffen und in alle Winde zerstreuen, auf daß ihr niemals mehr zusammenfindet und für immer zu den Verdammten gehört, denen selbst der verachtetste aller Hunde nicht nachheult. Hebt euch von hinnen, sage ich zu euch, und laßt euch unter den Augen des Mächtigen nicht mehr blicken, es sei denn, ihr wollt, daß die Lehre von der Heiligkeit des Lebens an euch ausgesetzt werde und ihr einen blutigen Tod erleidet. Du aber, Mikkun Onethor, selbstgerechter, heimtückischer, hinterhältiger Diener eines Glaubens, den du selbst dir ausgesonnen hast ...« Mehr hörte der Priester nicht. Er hatte die Waffe, das flammende Schwert der Götter, die Blitzschleuder, von sich geworfen und stürmte davon, weg von hier, den Hang hinab, mit der Stirn gegen die Stämme der Bäume prallend, nur von dem einzigen Gedanken beseelt, der höllischen Helligkeit so rasch wie möglich zu entkommen. * Onethors Flucht gab das Signal. »Auf, ihr Krieger!« schrie Xandor. »Wir sind verraten! Zieht euch zurück!« Es wurde kein Rückzug daraus, sondern eine wilde, ungeregelte Flucht. Die Furcht saß den mandunnischen Rittern im Nacken, solange sie die unheimliche Helligkeit wahrnehmen konnten, die von den Gipfeln der Berge zu strahlen schien, und solange die donnernde, dröhnende Stimme aus der Höhe durch das Tal schallte, von den Bergen zu beiden Seiten zurückgeworfen und verstärkt. »Hinter den Mauern der Festung Nebitar hatte sich die Heiterkeit inzwischen gelegt, und Fürst Liggan war dabei, seinen Männern die nötigen Befehle zu erteilen. »Es war nur eine Vorhut, mit der wir es zu tun hatten«, sagte er. »Aber sie werden die anderen mit sich reißen. Die Angst sitzt ihnen auf der Schulter und treibt sie, soweit die Beine ihrer Zonggors sie tragen. Unser Sieg wird nur dann vollkommen sein, wenn wir uns ihnen auf die Fersen heften. Wir müssen dicht hinter ihnen sein. Wenn sie den Talausgang erreichen, müssen sie erkennen, daß sie eingeschlossen sind. Auf, ihr Männer von Boga21
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman wieder!« Im nächsten Augenblick war er in der Finsternis verschwunden. Flannagan Schätzo fiel ein, daß er vergessen hatte, ihn nach der Beschreibung des Mannes zu fragen, der die Verteidiger befehligte. Die psychomechanischen Mechanismen der Glücksbringer übermittelten zwar keine optischen Eindrücke im eigentlichen Sinne des Wortes; aber zur Darstellung von Charaktereigenschaften waren sie in hervorragender Weise befähigt. Es hätte Flannagan genützt zu wissen, ob er nach einem aufbrausenden, herrschsüchtigen oder nach einem ruhigen, sachlichen Mann zu suchen hatte. »Wir werden ihn schon finden«, brummte er im Selbstgespräch und schlug sich nach rechts in das Unterholz.
nicht. Ich habe Mühe zu verstehen, was du zu mir sagst. Ich bin ein einfacher Mensch. Wenn ich Dinge sehe, die ich nicht begreifen kann, dann bin ich bereit, an ein Wunder zu glauben. Nur eines sag mir, Fürst: Was ist ein Hund?« 5. Sie hatten die beiden Schiffchen am Fuß der Berge gelandet. Vom Landeplatz aus waren es nur ein paar hundert Meter bis zum Ufer des Flusses, der reißend und schäumend durch das enge Tal zog. Es war Nacht, und die Nacht war lebendig von Huftritten und dem Geschrei von Menschen. »Wir kommen gerade im richtigen Augenblick«, rief Saggelor Oggian, als sie talwärts hasteten. »Die zwei Parteien werden hier in der Nähe aufeinandertreffen. Die Angreifer sind zurückgeschlagen worden und sollen am Talausgang in eine Zange genommen werden.« Flannagan Schätzo warf sich in die Deckung eines Baumstammes und ließ ein riesiges Reittier vorüber, das einem Pferd ähnlich sah und auf seinem Rücken einen mit Schild und Spieß bewaffneten Mann trug, der verbissen vor sich hin fluchte. »Wir werden uns trennen müssen«, sagte er zu dem Jungen. »Du suchst die eingeschlossenen Angreifer auf, und ich spreche mit den Verteidigern. Es wäre nützlich, wenn sie von sich aus auf Feindseligkeiten verzichten würden.« »Ich gebe dir recht«, antwortete Saggelor, »auch wenn ich keinerlei Aussicht auf Erfolg sehe. Hast du schon einmal erlebt, daß Menschen im Rausch des Kampfes bereit waren, auf die Stimme der Vernunft zu hören?« »Die Verlierer vielleicht«, grinste Flannagan. Von links her war plötzlich neuer Lärm zu hören. Schilde prallten aufeinander, Schreie gellten, und wütendes Geheul aus mehr als tausend Kehlen erfüllte die Nacht. »Die Fliehenden sind auf die Truppen gestoßen, die das Tal abriegeln«, deutete der Junge die neue Entwicklung. »Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren, sonst kommen wir zu spät. Wir treffen uns bei den Fahrzeugen
* »Die Götter seien uns gnädig!« schrie eine von Panik erfüllte Fistelstimme. RagnokThessor-Sanguun-Lemalek fuhr von der Liege in die Höhe und horchte erstaunt nach dem Lärm, der sich dem Lager näherte. Das war Mikkun Onethors Stimme gewesen. Was war geschehen? Der Herrscher trat vor das Zelt. Da brauste es aus der Nacht heran wie die wilde Jagd, Zonggor um Zonggor, auf ihren Rücken Reiter, von denen die meisten ihre Schilde weggeworfen hatten, um unbehinderter fliehen zu können. Der König erstarrte vor Schreck. Seine Truppen – geschlagen?! Da erkannte er die feiste Gestalt des Priesters, die schreiend durch die Nacht preschte. Mit zwei, drei weiten Schritten hatte er den vor Angst fast Wahnsinnigen eingeholt und am Kragen gepackt. Abrupt kam Mikkun Onethor zum Stehen. »Was ist ...?!« kreischte er. »Ach, du! Laß mich los! Die Feniker sind uns dicht auf den Fersen!« »Ich will wissen, was geschehen ist!« herrschte der König ihn an. Die Wut über die Niederlage ließ ihn vorübergehend die eigene Furcht vergessen. »Wo bleibt die Gnade der Götter, die über uns leuchtet?« »Wo bleibt, wie konnte!« zeterte der Priester. »Wenn du noch lange hier stehenbleibst, 22
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman »Schaut, der Feigling ist wieder auf den Beinen!« dröhnte Xandors spöttische Stimme. »Wie geht es deiner Krankheit, hoher Herr?« »Was ist dort vorn los?« fragte der Herrscher, der Besseres zu tun wußte, als auf Xandors verletzenden Hohn einzugehen. »Der Teufel ist los!« keuchte Xandor. »Die Feniker haben den Talausgang abgeriegelt.« Lemalek erschrak so sehr, daß ihm die Knie zu zittern begannen. »Und ... und jetzt?« fragte er hilflos. »Und jetzt will ich sehen«, rief Xandor, »wie es hinter uns aussieht und ob wir noch eine Möglichkeit haben, uns seitwärts in die Berge zu retten!« Mit diesen Worten sprengte er davon, sein Begleiter dicht hinter ihm her. Sie waren erst ein paar Augenblicke in der Finsternis verschwunden, da erklang dort, wohin sie geritten waren, ein zorniger Schrei. Es gab einen dumpfen Krach, wie wenn ein Bollenspieß mit höchster Kraft auf einen Schild trifft. Kurze Zeit später tauchten die beiden Reiter wieder aus der Finsternis auf. Xandor ließ sich aus dem Sattel gleiten. »Alles verloren!« knirschte er wütend. »Sie sind uns unmittelbar auf den Fersen.« Aus der talabwärts führenden Richtung kam eine Schar von Reitern. Xandor befahl ihnen, fünfzig Zonggor-Längen talaufwärts Posten zu beziehen. Von dorther war wenig später zu hören, daß sie mit den Verfolgern in Berührung kamen. Das Scharmützel dauerte jedoch nicht lange. Der Feind wußte, daß er die Lage gänzlich unter Kontrolle hatte und zog sich zurück, anstatt sich in unnütze Prügeleien einzulassen. In der Mitte zwischen den beiden Fronten hielten der König, Xandor und der Oberpriester Rat. »Was ist als nächstes zu tun?« erkundigte sich Ragnok-Thessor-Sanguun-Lemalek, in seiner Angst und Ratlosigkeit vergessend, daß eigentlich er es war, der die Entscheidungen zu treffen hatte. »Wir warten«, grollte Xandor. »In dieser Finsternis können wir nichts unternehmen.« Plötzlich begann Mikkun Onethor, mit beiden Armen um sich zu schlagen. »Was ist los?« fragte der Herrscher er-
wird dir Liggan selbst die Fragen beantworten!« Ragnok-Thessor-Sanguun-Lemalek erkannte die Gefahr der Lage. Onethor hatte recht. Wenn ihn nicht alles täuschte, konnte er aus der Richtung von Nebitar jetzt schon die dumpfen Aufschläge der Zonggors hören, auf denen die Verfolger ritten. Er ließ den Priester los. »Führe mich!« befahl er ihm. »Ich kann in der Dunkelheit nichts sehen!« »Da wendest du dich an den Richtigen«, jammerte Mikkun Onethor. »Ich bin so blind wie eine neugeborene Zatcho.« Er stolperte davon. Der Herrscher aber hielt sich an einer Falte seines Gewands fest und ließ sich von ihm ziehen. Selbst wenn Onethor nachtblind war, wurde auf diese Weise dafür gesorgt, daß er und nicht der Herrscher mit den Hindernissen des Waldes kollidierte. In unzusammenhängenden, hastig hervorgestoßenen Worten schilderte der Priester die Vorgänge an der Mauer der Festung. »Zauber ist im Spiel!« keifte Onethor. »Liggan hat sich mit den Geistern der Tiefe verbündet!« »Da stellst du dem Götterpaar aber ein armseliges Zeugnis aus«, versuchte der Herrscher, die Würde seiner Religion zu wahren. »Sollten die Götter nicht in der Lage sein, den Geistern der Tiefe ihren Willen aufzuzwingen?« »Ach, laß mich doch mit deinen Göttern in Ruhe!« jammerte der Priester. »Das schöne Land! Der ungeheure Reichtum ... alles ist verloren!« »Welches Land? Welcher Reichtum? Wovon redest du eigentlich?« »Sei ruhig!« kreischte Mikkun Onethor. »Laß mich in Ruhe! Ich will nichts mehr hören!« Zu hören bekam er aber doch etwas: Vorab brandete zorniges Geschrei auf. Das Geklirr und Geklapper von Waffen war zu hören. Wenige Minuten später kamen zwei ZonggorReiter durch die Dunkelheit geprescht. Sie kamen von vorne, dort, wo der Herrscher die Spitze seiner flüchtenden Truppen vermutete. »Halt!« schrie Ragnok-Thessor-SanguunLemalek. »Hierher, zu mir, ihr Männer!« Die Reiter gehorchten. 23
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman Der Große legte ihm die Hand auf die Schulter und antwortete: »Ich sagte dir schon einmal, Fanthar: Da gibt es nichts zu vergeben. Du befandest dich in Sorge um unsere Sache, das ist alles. Es ist die Aufgabe meines Beraters, Sorge zu empfinden, wenn es um das Wohl des Volkes geht. Damit laß diese Angelegenheit abgetan sein. Was die Bedeutung des Tages angeht, so gebe ich dir recht. Der Feind ist endgültig geschlagen. Wir haben Mikkun Onethor und wahrscheinlich auch den König mit dem langen Namen in unserer Hand. Von jetzt an wird Frieden herrschen in diesem Tal, und die Not wird ein Ende haben.« Flannagan Schätzo beglückwünschte sich zu dem günstigen Zufall, der ihn unmittelbar zum Anführer der Verteidiger gebracht hatte. Er kam aus seiner Deckung hervor und schritt auf das Feuer zu. Niemand bemerkte ihn. Er bewegte sich um die knisternden Flammen herum zu der Seite des Feuers, auf der der Fürst saß. Neben seinem rechten Stiefel stellte er sich in Positur und schrie, so laut er konnte: »Heh, ihr dort! Hört ihr mich?« Liggan sah verwundert auf. »Was war das?« fragte er verblüfft. »Klang wie eine Stimme«, meinte Fanthar, der ebenfalls aufgefahren war. »Klar ist es eine Stimme!« schrie Flannagan Schätzo und versetzte dem Stiefel, der neben ihm aufragte, einen kräftigen Tritt. »Seht hierher!« Liggan hatte den Ruck an seinem Fuß gespürt und blickte zu Boden. Als er das winzige Geschöpf erblickte, das kaum eine Spanne seiner Hand maß, da blieben ihm vor Überraschung die Worte weg. Stumm deutete er auf den Zwerg. »Ein Gnom!« entfuhr es ihm. »Bei allen guten Geistern: ein Gnom!« »Starrt nicht, ihr Dummköpfe!« schrie Flannagan wütend. »Ich habe mit euch zu reden! Nehmt mich auf, damit ich mir nicht die Lunge aus dem Hals brüllen muß!« Liggan streckte die Hand aus und ergriff das winzige Geschöpf mit großer Behutsamkeit. Er setzte es sich aufs Knie, wo Flannagan Schätzo es sich sofort bequem machte. »Wo kommst du her?« fragte Liggan. »Wer
schreckt. »Da war etwas«, schnaubte der Priester, »irgendein kleines Tier, das an meinem Arm in die Höhe kletterte!« * Flannagan Schätzo atmete auf, als er den Schein des Feuers durch das Dickicht leuchten sah. Der lange Marsch durch den finsteren Wald war mühselig gewesen. Jetzt kam er rascher vorwärts. Im Laufe seines Vordringens hatte er Saggelor Oggians Angaben bestätigt gefunden: Die erfolglosen Angreifer waren zwischen zwei Truppenkeilen der Verteidiger eingeschlossen. Sie hatten kaum einen Kilometer Spielraum und verhielten sich klugerweise völlig still, da sie infolge der Finsternis die Lage nicht zu überschauen vermochten. Flannagan war fest davon überzeugt, daß die Eingeschlossenen nicht die geringste Chance hatten, ihre Lage zum Besseren zu wenden. Auf der anderen Seite war jedoch zu bemerken, daß das Gelände nicht zu den übersichtlichsten gehörte und daß es den Eingeschlossenen selbst im Licht des Morgens schwerfallen würde, sich einen klaren Überblick über die Situation zu verschaffen. Es bedurfte nur eines kleinen Beitrags an Optimismus am falschen Platz, und die Kämpfe würden bei Tagesanbruch wieder aufflackern. Das Feuer brannte auf einer kleinen Lichtung. Am Rande der Lichtung standen abgeschirrte Reittiere und knabberten an dem spärlichen Gras, das der Waldboden hervorbrachte. Am Feuer saßen zwei Männer und sprachen miteinander. Für Flannagan Schätzos feines Gehör klangen ihre Stimmen wie mächtiges Donnergrollen. Er verstand jedes Wort. Die Sprache, der sie sich bedienten, war ein Idiom, das der irdischen Umgangssprache verwandt war, ein Beweis dafür, daß die merkwürdige Zivilisation dieser Welt von Terra abstammte. »Du hast erreicht, was du wolltest, Fürst«, hörte er den Kleineren der beiden sagen. »Dein Volk wird diesen Tag nicht vergessen. Ich schäme mich der kleinlichen Zweifel, die ich vor kurzem noch geäußert habe, und bitte dich um Vergebung.« 24
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman durch das Gewinnen eines Krieges.« Liggan musterte ihn lange und ernst. »Du kennst die Geschichte dieses Tales nicht, Fremder«, sagte er mit schwerer Stimme. »Seit undenklichen Zeiten leben die beiden Völker in immerwährendem Streit. Jeder strebt nach dem Besitz des großen Talkessels, in dem sich das Heiligtum des Götterpaares befindet, und keiner kann ihn erlangen, weil es der andere nicht zuläßt. Die Götter haben das Töten verboten, darum sind unsere Kriege zumeist unblutig. Aus demselben Grund führen sie auch nie zu einer Entscheidung. Wer weiß, daß er um sein Leben nicht zu bangen braucht, dem macht es nichts aus, wieder und wieder zu Felde zu ziehen. Zum erstenmal in unserer Geschichte ist jetzt ein Punkt erreicht, an dem eine eindeutige und nachhaltige Entscheidung gefällt werden kann. Eine Stunde nach Sonnenaufgang werden die Mandunnen erkennen müssen, daß sie endgültig geschlagen sind. Und gerade in diesem Augenblick verlangst du von mir, daß ich die Waffen wegwerfe und alles aufgebe, worum ich mich mein Leben lang gemüht habe? Fremder, du sprichst wie ein Feind!« Die eindringlichen Worte hatten Flannagan Schätzo nachdenklich gemacht. Konnte es sein, daß dieser Mann recht hatte? War es möglich, daß auf dieser Welt die Herstellung des Friedens warten mußte, bis die Entscheidung gefallen war, von der Liggan sprach? »Ich bin nicht dein Feind«, verteidigte sich der Siganese. »Ich bin niemandes Feind. Aber mein Freund und ich, wir haben uns vorgenommen, diese Welt zu befrieden. Und dabei muß es bleiben.« »Dann laß es mich auf meine Weise tun«, forderte Liggan. »Ich weiß nicht, welche Mittel euch zur Verfügung stehen, um diesem Tal den Frieden zu bringen. Aber ich sage dir: Mein Friede wird ebenso glücklich und dauerhaft sein wie der eure!« Besorgt sah Flannagan Schätzo zum Himmel auf, der sich immer heller färbte. Nicht mehr lange, und die Krieger würden zum Kampf antreten. Er mußte sich mit Saggelor Oggian besprechen. Liggans Argumente waren gewichtig. Man konnte sie nicht einfach verwerfen.
bist du?« »Ich komme von Siga, einer Welt inmitten der Sterne, und mein Name ist Flannagan Schätzo«, antwortete der Siganese. »Das wird euch nicht viel besagen. Darum laß mich gleich auf mein eigentliches Anliegen zu sprechen kommen: Hier herrscht Krieg und Unfriede. Wir sind gekommen, um euch Glück zu bringen. Die Gewalt, der Zorn und das Leid haben keinen Platz im Leben zivilisierter Menschen.« »Wir ...?« wiederholte Liggan überrascht. »Mein Freund und ich«, erklärte Flannagan. »Mein Freund spricht mit euren Feinden. Seid ihr bereit, freiwillig auf die Anwendung von Gewalt in Zukunft zu verzichten, oder müssen wir das Glück gegen euren Willen über euch bringen? Entscheidet euch rasch, denn wir haben nicht viel Zeit!« Ein nachsichtiges Lächeln huschte über das Gesicht des Fürsten. »Dein Wunsch ist auch unser Wunsch, Fremder. Haß und Unfrieden sollen aus der Welt verbannt werden. Wir stehen dicht vor dem Ziel. Sieh, der Morgen graut bereits. In weniger als einer Stunde treten wir zum Kampf an, dem letzten. Danach wird Friede herrschen, ewiger Friede.« »Meinst du?« fragte Flannagan spöttisch. »Du willst deine Feinde unterdrücken. Glaubst du wirklich, daß sie sich mit dem Los des Unterdrückten bis in alle Ewigkeit zufrieden geben werden?« »Die beiden Völker werden zu einem verschmelzen«, antwortete Liggan ernst. »Sie werden wieder eine Nation sein wie zu Beginn der Zeiten. Es wird weder Unterdrücker, noch Unterdrückte geben.« »Du bist ein Narr«, rief Flannagan ihm bitter entgegen. »Du hältst den Menschen für eine Idealfigur, dem das Gute nur gezeigt zu werden braucht, damit er es als die einzige Wahrheit erkenne. Aber so sind die Menschen nicht! Der Idealzustand, den du erstrebst, läßt sich durch einen Krieg nicht erzielen.« »Was sonst verlangst du von uns?« erkundigte sich Liggan. »Werft die Waffen weg und zieht nach Hause!« rief Flannagan. »Beide – du und dein Gegner! Nur durch den Verzicht auf Gewaltanwendung wird der Friede erreicht, nicht 25
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman wenn sich das Risiko erheblich verringert hatte. Einstweilen lauschte er interessiert der Unterhaltung zwischen den drei Männern. Es gelang ihm rasch, sie zu charakterisieren. Mikkun Onethor war der Mann, der hier den Ton angab. Der Ritter namens Xandor war ein guter Truppenführer, aber von der Strategie verstand er nichts. Probleme, die sich nicht durch rauhes Dreinschlagen lösen ließen, waren ihm ein Greuel. An letzter Stelle kam der hochgewachsene, imposant wirkende Mann mit dem unglaublichen Namen RagnokThessor-Sanguun-Lemalek, von Xandor gewöhnlich Lemalek genannt, der anscheinend der rechtmäßige Herrscher dieser Leute war, vor Angst und Ratlosigkeit jedoch dermaßen zitterte, daß er keinen klaren Gedanken zu fassen vermochte. Er war ein hohler Koloß, der seinen Rang vermutlich nur seiner Abstammung verdankte. Das Gespräch begann eine Wendung zu nehmen, die Saggelor mißfiel. »Das Ganze ist nur eine Frage des Aushaltens«, erklärte Mikkun Onethor. »Hinter uns kommen fünftausend Mann Fußvolk. Das ist mehr, als Liggan insgesamt auf die Beine stellen kann, wobei wir bedenken müssen, daß er keineswegs alle seine Leute hier zusammengezogen hat. Wenn es uns gelingt, die Feniker solange hinzuhalten, bis unser Entsatz kommt, dann ist der Sieg auf unserer Seite!« Xandor sah prüfend in die Höhe. Die Eingeschlossenen hatten es nicht gewagt, ein Feuer zu entzünden. Um so leichter war zu erkennen, daß der Himmel sich zu verfärben begann. »An mir soll's nicht liegen!« grollte der Ritter. »Solange ich zwei Fäuste habe zum Dreinschlagen, kann ich mir Liggan und seine Bande stundenlang vom Leibe halten.« »Ja, du!« meinte der Priester. »Aber die Leute haben den Mut verloren. Sie betrachten sich als geschlagen. Wenn Liggan angreift, werden sie laufen. Es sei denn, es spräche jemand mit ihnen und steifte ihnen den Rücken.« »Sprechen?« knurrte Xandor. »Verdammt, es ist die Pflicht eines Kriegers zu kämpfen! Sprechen will ich nicht mit ihnen, aber jeden windelweich klopfen, der sich weigert, seine
»Laß mich gehen«, sagte er zu dem Fürsten. »Ich habe mit meinem Freund zu sprechen.« Liggan setzte ihn behutsam zu Boden. »Wir werden uns wiedersehen«, schrie Flannagan. Am Rande der Lichtung blieb er stehen und setzte das kleine Funkgerät in Betrieb, das ihn mit Saggelor verband. Er hatte dies vor Liggan und Fanthar nicht tun wollen. Ihre Zivilisation war von vormittelalterlicher Primitivität. Es führte erfahrungsgemäß zu nichts Gutem, wenn man solche Leute mit den Erzeugnissen einer modernen Technik konfrontierte. Er rief dreimal, erhielt jedoch keine Antwort. Er wartete ein paar Minuten und wiederholte den Versuch mit demselben Erfolg. Angst stieg in ihm auf. Was war mit Saggelor geschehen? Warum meldete er sich nicht? Flannagan schaltete den Sender wieder aus. Es blieb ihm nichts anderes übrig: er mußte zum Lager der Eingeschlossenen, um zu ermitteln, was mit dem Jungen los war. Auf den Spitzen der Berge lag der erste rötliche Schimmer der jungen Sonne, und hinter ihm begannen Liggans Krieger sich zu rühren. Er hatte nicht mehr viel Zeit! 6. Der erste Versuch, sich mit dem feisten Mann in Verbindung zu setzen, den seine Genossen Mikkun Onethor nannten, hätte Saggelor Oggian um ein Haar das Genick gebrochen. Er war an dem faltigen Ärmel des Priesters in die Höhe geklettert. Der Mann jedoch bemerkte, daß sich da etwas bewegte, und fing an, sich zu schütteln und um sich zu schlagen. Um nicht getroffen zu werden, mußte Saggelor abspringen – aus einer Höhe, die mehr als das Zehnfache seiner Körpergröße betrug. Er stürzte unglücklich und verlor für einige Augenblicke das Bewußtsein. Als er zu sich kam, merkte er, daß der winzige Sender, den er um den Hals trug, sich in seine Bestandteile aufgelöst hatte. Er war mit dem ganzen Gewicht seines Körpers daraufgestürzt, und ein paar Bruchstücke hatten sich ihm in die Haut gebohrt. Die zweite Besteigung des fetten Priesters würde er erst in Angriff nehmen, 26
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman holt hatte. »Ich bin Saggelor Oggian«, rief der Junge selbstbewußt, »und komme von den Sternen, um euch Frieden zu bringen!« »Frieden können wir gebrauchen«, antwortete der Priester spöttisch. »Aber wie willst du das anfangen?« »Mir stehen Kräfte zur Verfügung, von deren Größe du keine Vorstellung hast«, verkündete Saggelor. »Ich kann euch den Frieden aufzwingen; aber zuvor wollte ich hören, ob ihr nicht von selbst bereit seid, auf die Gewalt und den Krieg zu verzichten.« »Hört ihr, was der Knirps sagt?« lachte Mikkun Onethor. »Weiß der Himmel, er schreit ja laut genug«, stieß Xandor hervor. Onethor wandte sich von neuem dem Siganesen zu. »Ich weiß nicht, was ich von dir halten soll, du Gnom«, sagte er mit verschlagenem Grinsen. »Aber wenn du uns eine Probe deiner Macht gibst, kann es sein, daß wir auf dich hören.« »Ich gebe keine Proben«, wies Saggelor den Vorschlag zurück. »Die Macht gehört alleine mir.« Onethor begann, die Hand um den Siganesen zu schließen. »Das möchte ich denn doch bezweifeln«, zischte er gehässig. »Denn zur Ausübung der Macht gehört einer, der sie ausübt, und wenn ich dich jetzt einfach zerquetsche ...« Daumen und Zeigefinger legten sich wie ein Schraubstock um Saggelors Brust. Er bekam keine Luft mehr. Zu spät wurde ihm klar, daß er die Gemeinheit des Dicken unterschätzt hatte. »Ich warne dich!« stieß er mit letzter Kraft hervor. »Die Strafe der Glücksbringer wird dich treffen, wenn du dich an mir vergreifst!« »Das will ich sehen!« lachte Mikkun Onethor und verstärkte den Druck seiner Hand. Da wurde es im Wald plötzlich lebendig. Schreie gellten auf. Das Geklapper von Waffen war zu hören. Xandor sprang auf. »Die Feniker greifen an!« schrie er wütend. »Bei allen Teufeln, ich will sie lehren ...« Er ergriff seine Waffen und stürmte davon. Mikkun Onethor war ebenfalls aufgefahren. Der Angriff kam so überraschend, daß er ei-
Pflicht zu tun, das will ich gerne unternehmen!« Der König mit dem langen Namen sprach nichts. Nur von Zeit zu Zeit entrang sich seinem Mund ein zitternder Seufzer. Onethor und Xandor wurden sich einig, daß sie versuchen wollten, das Lager zu halten, bis das Fußvolk eintraf. Onethor machte eine mysteriöse Bemerkung über eine Waffe, die er auf der Flucht von sich geworfen hatte, und schalt sich deswegen einen Narren. Saggelor Oggian konnte nicht erfahren, worum es sich handelte. Schließlich streckte sich der Priester auf dem Boden aus. Er gähnte schläfrig. »In spätestens einer Stunde wird Liggan angreifen«, murmelte er. »Bis dahin möchte ich wenigstens für ein paar Minuten die Augen zugetan haben.« Das war Saggelors Stichwort. Er rückte den Blaster zurecht, den er am Gürtel trug. Einem Riesen wie dem Priester gegenüber vermochte sie nicht mehr als harmlose, wenn auch schmerzhafte Nadelstiche auszuteilen. Aber im Notfall, wenn der Dicke wieder um sich zu schlagen begann, mochte sie dem Jungen zustatten kommen. Er schlich sich von der Seite her an den massigen, kahlen Schädel des Priesters heran. Als er unter seinem Ohr stand, schrie er aus voller Lunge: »Hör mich an, Priester! Ich bin ein Fremder auf dieser Welt und möchte euch Frieden bringen.« »Hnnnnf...?« machte Mikkun Onethor verschlafen und rollt die Augen. »Hat da jemand gesprochen?« »Ich hörte nichts«, antwortete Xandor. Saggelor sprang zur Seite, so daß er in Onethors Blickfeld erschien. Wie von der Tarantel gestochen, fuhr der Dicke in die Höhe. »Ein Zwerg!« schrie er entsetzt. »Ein böser Geist!« Er fuhr mit den Händen über den Boden und bekam den Siganesen zu fassen. Ungläubig hob er ihn empor und führte ihn auf der flachen Handfläche bis dicht vor die Augen. Xandor und der König machten unglaublich dumme Gesichter. »Wer bist du?« fragte Onethor, der sich erstaunlich rasch von seiner Überraschung er27
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman lausgang warteten. Auf einem Stückchen Moos, das am Fuß eines alten Baumes wuchs, warf Saggelor Oggian sich zu Boden.
nen Augenblick lang auch Saggelor vergaß. Der Griff der Hand lockerte sich soweit, daß der Siganese nach dem Blaster greifen konnte, den er an der Seite trug. Ohne ihn aus dem Halfter zu lösen, drückte er den Auslöser. Der Energiestrahl drang dem Priester in die Haut. Er stieß einen Schrei aus und schüttelte die Hand. Zum zweitenmal wurde Saggelor davongeschleudert. Diesmal war sein Sturz noch tiefer; aber er landete auf einem federnden Grashalm, der die Wucht des Falles minderte. Immerhin war er ein paar Augenblicke lang benommen und hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Inzwischen war rings um ihn herum die Hölle losgebrochen. Die Feniker stürmten mit unerhörter Wucht gegen die völlig überraschten Eingeschlossenen an. Die Schläge fielen so hageldicht, daß ein häßliches, knatterndes Geräusch entstand, das ringsum von den Bergen widerhallte. Ragnok-Thessor-SanguunLemalek war geflohen. Nur Mikkun Onethor war noch da und suchte den Boden ab, um den entflohenen Zwerg wiederzufinden. Er suchte jedoch in der falschen Richtung. Saggelor schlich sich auf die Seite, ohne bemerkt zu werden. Der Augenblick der Entscheidung war gekommen. Er durfte nicht mehr länger mit ansehen, wie die Menschen dieser Welt dem Haß und der Gewalt dienten. Er hatte versucht, sie zum Gewaltverzicht zu bewegen, und der Versuch war gescheitert. Traurig nahm Saggelor telepathische Verbindung mit seinem kleinen Raumschiff auf, das unweit im Gestrüpp am Rande des Tales verborgen war. Das Fahrzeug meldete sich sofort. »Wir haben versagt!« dachte Saggelor. »Die Menschen wollen keine Vernunft annehmen. Gib den Befehl ...« »Ich gebe den Befehl!« antwortete es in seinem Bewußtsein. Er zog sich weiter ins Dickicht zurück. An dem Ausgang des Kampfes, wenn er nicht durch die Strahlung der Glücksbringer unterbrochen wurde, bestand schon jetzt kein Zweifel mehr. Die Feniker trieben die Mandunnen zu Scharen vor sich her und ihren Kameraden in die Arme, die unten am Ta-
* Der Zwerg kam Liggan erst aus dem Sinn, als der Kampf begann. Die Begegnung hatte einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht, und merkwürdigerweise war es ihm nie in den Sinn gekommen, zu bezweifeln, daß dem winzigen Fremden in der Tat die Macht zur Verfügung stehe, von der er so selbstbewußt sprach. Nicht zuletzt aus Sorge, der Kleine werde seine Drohung doch noch wahrmachen, hatte Liggan den entscheidenden Angriff auf das Lager der Mandunnen um eine Stunde vorverlegt. Er begann, als der Himmel über dem Wald sich gerade so weit gelichtet hatte, daß man ein paar Schritte weit sehen konnte. Die Mandunnen waren völlig überrascht. Wie die wilde Jagd brausten Liggans Feniker über die erste Verteidigungslinie hinweg, wandten und fielen mit Schwertern und Spießen über die Ärmsten her, von denen viele nicht einmal Zeit genug hatten, die Waffen aufzunehmen. Liggans Krieger verstanden ihr Handwerk. Ohne daß sie zusätzlicher Befehle bedurften, setzten sich die meisten Feniker sofort wieder in Bewegung, nicht mehr als zwanzig Mann zurücklassend, die mit den Verteidigern der vorgeschobenen Linie aufzuräumen hatten. Inzwischen hatte der Kampfeslärm die übrigen Mandunnen aufgescheucht. In wilder Hast eilten sie zu den Reittieren, wurden aber in der Mehrzahl der Fälle noch zu Fuß von den fenikischen Zonggors überritten und zu Boden gerissen. Die, die weiter vom Schuß waren, erkannten an dem schmerzhaften Geschrei ihrer Kameraden, daß Widerstand wenig Zweck hatte, und begannen sich abzusetzen. Ein kleiner Trupp von Fenikern setzte ihnen nach und ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Sie vollführten einen entsetzlichen Lärm, um die Truppe, die am Talausgang lagerte und mit dem Beginn des Kampfes erst später rechnete, aufmerksam zu machen und auf die Beine zu bringen. Liggan selbst war eine Zeitlang mitten im 28
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman bist mein Gefangener.« Da ging Ragnok-Thessor-SanguunLemalek in die Knie. Er wandte sich um und reckte dem Verfolger flehend die Arme entgegen. Aus seinem Mund sprudelten unzusammenhängende Worte. Das Bild war so jämmerlich, daß Liggan zu jeder anderen Stunde Ekel davor empfunden hätte. Jetzt jedoch ging plötzlich eine Änderung mit ihm vor, die ihm den erbärmlichen Feigling in einem anderen Licht erscheinen ließ. Wie menschenunwürdig war es doch, soviel Furcht zu empfinden! Wie menschenunwürdig aber auch, diese Furcht hervorzurufen. Bemitleidenswert war der, der die Angst empfand – verdammenswert der, der sie erzeugte. Liggan ließ den Bollenspieß sinken, mit der er den mandunnischen Herrscher hatte von den Beinen reißen wollen, wenn er seiner Aufforderung nicht nachgekommen wäre. Welch ein häßliches Gerät, so ein Spieß! Angewidert schleuderte Liggan die Waffe von sich. Er griff nach dem Schwert, das ihm an der Seite hing, zog es aus der Scheide und ließ es fallen. Er fühlte sich, als hätte er sich einer schweren Last entledigt. Ein merkwürdiges Gefühl des Wohlbehagens quoll in ihm auf. Er fühlte sich glücklich. Hinter ihm war der Lärm des Kampfes dünner geworden. Begriffen auch die anderen das Gebot des Augenblicks? Hatten auch sie die Verwerflichkeit des Kämpfens erkannt? Ragnok-Thessor-Sanguun-Lemalek hatte sich erhoben. Er schien ein anderer geworden zu sein. Aus den großen Augen strahlte ein freundliches Licht. Die Furcht war gewichen. »Ich will gerne dein Gefangener sein«, sagte er zu Liggan. Aber der Fürst schüttelte den Kopf. Und dann sprach er die Worte, die ihm noch wenige Minuten zuvor niemals in den Sinn gekommen wären: »Es gibt keine Gefangenen mehr, mein Freund! Du bist frei und kannst gehen, wohin du willst.«
dicksten Kampfgetümmel. An einer Stelle hatten die Mandunnen genug Zeit gehabt, ihren Widerstand zu organisieren; zu Fuß formten sie sich zu einem von Schwertern, Schilden und Speeren starrenden Keil, der es sich zum Ziel gesetzt hatte, nach Norden auszubrechen. Liggan machte ihre Anstrengung zunichte, indem er auf seinem sprunggewohnten Zonggor über die Spitze des Keils hinwegsetzte und in dessen Mitte landete. Mit klatschenden Schwertschlägen trieb er die Mandunnen auseinander, bis das Entsetzen sie packte und schreiend in die Flucht trieb. Rechts von Liggan hatte sich um einen einzelnen mandunnischen Kämpfer ein Knäuel von Fenikern gebildet. Er erkannte Xandor, auf seinem langbeinigen Zonggor sitzend und die Menge der Angreifer um zwei Haupteslängen überragend. Er hatte das Schwert mit beiden Händen gepackt, den Schild weggeworfen und hieb um sich, daß die Angreifer wie Grashalme vor der Sense zu Boden sanken. Liggan lächelte anerkennend. In dem feigen Haufen der Mandunnen war Xandor ein erfreulicher Anblick. Liggan hatte seinetwegen keine Sorgen. Er würde ein halbes Hundert seiner Männer niederschlagen; aber dann ging ihm die Kraft aus, und er würde sich der Übermacht beugen müssen. Wo Xandor war, da waren auch Ragnok-ThessorSanguun-Lemalek und der Oberpriester nicht fern. Den Herrscher der Mandunnen in die Hand zu bekommen, war eines der wichtigsten Ziele, die Liggan sich gesetzt hatte. Er löste sich aus dem Getümmel und hielt Ausschau. Der Priester war nirgendwo zu sehen; aber dort drüben, vom Unterholz halb verdeckt, bewegte sich eine hohe, hünenhafte Gestalt mit wehendem Haupthaar und flatterndem Bart: der König. Liggan riß den Zonggor herum und jagte dem Fliehenden nach. Lemalek hörte das Prasseln und Krachen des Unterholzes und wandte sich im Lauf um. Mit einem entsetzten Schrei wandte er sich seitwärts. Es war ein unüberlegtes Manöver. Liggan konnte die Krümmung abschneiden, die der Weg des Herrschers beschrieb. Mit wenigen, weiten Sätzen seines Reittiers holte er den Flüchtling ein. »Steh!« rief er. »Es geschieht dir nichts, du
* Xandor kämpfte dort, wo das Gewühl am dichtesten war. Der Kampf war sein Element. Hier fühlte er sich wohl. Es gab im ganzen Apsarakus-Tal keinen zweiten Kämpfer wie 29
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman Felsgewirr erreichte, das sich am Fuß der Berge ausbreitete, hielt er an, um zu sehen, ob er verfolgt wurde. Und dann geschah das Unglaubliche. Von einem Atemzug zum andern verstand er plötzlich nicht mehr, was er tat. Der Stolz, den er bis vor wenigen Augenblicken noch empfunden hatte, schlug in Verwunderung um: Wie konnte ein erwachsener Mensch sein oberstes Lebensziel darin sehen, sich mit anderen herumzubalgen und ihnen möglichst viele Beulen zu schlagen? Er hatte das Schwert noch in der Hand. Er betrachtete es, als sähe er es zum erstenmal in seinem Leben – ein häßliches Werkzeug, das weiter nichts vermochte, als Schmerz zu erzeugen. Wozu schleppte er sich damit ab? Er schleuderte die Waffe von sich. Er trat zu seinem Zonggor und zog den Bollenspieß aus der Schlaufe. Mit entschlossenem Griff bog er ihn über dem rechten Knie und zerbrach ihn in zwei Stücke, die er zwischen die Felsen warf. Jetzt, nachdem er sich seiner Waffen entledigt hatte, überkam ihn plötzlich ein ungewohntes, neuartiges Glücksgefühl. Er kam sich vor, als hätte er sich von einem Bann befreit, der seit Jahren schwer auf seiner Seele ruhte. Er fühlte sich leicht und beschwingt, und die grimmigen Sorgen, die er noch vor wenigen Augenblicken empfunden hatte, waren vergessen. Frohen Mutes schwang er sich auf das schweißbedeckte Reittier und lenkte es langsamen Schritts aus dem Gewirr der Felsen hinaus ins Tal zurück. Es gab keinen Grund zur Flucht mehr. Mandunnen und Feniker waren Freunde. Er würde sich um die Verwundeten kümmern, besonders um die, die er selbst zusammengeschlagen hatte.
Xandor. Eine wohlausgewogene Mischung von Kraft. Geschick und Wendigkeit machte ihn zum Schrecken seiner Gegner. Er wußte, daß die Schlacht verloren war. Es blieb nur noch eines: die Flucht. Es entsprach aber nicht Xandors Art, dem Feind den Rücken zu kehren, außerdem war die Flucht nur in einer Richtung sinnvoll: nach Norden hin, durch die Reihen der Angreifer hindurch. Gelang es ihm, den Ring zu durchbrechen, dann konnte er sich nach Westen oder Osten in die Berge schlagen und auf dem Umweg durch die Wüste zum Südtal zurückkehren. Ein Dutzend Feniker stellte sich ihm entgegen, die Schilde vorsichtig bis zur Höhe der Augen gehoben, so daß sie sich vor seinen Schlägen sicher wähnten. Mit gellendem Kriegsschrei stürmte Xandor gegen sie an. In der Rechten hielt er noch immer das Schwert, mit dessen wirbelnden Hieben er sich bis jetzt Bahn gebrochen hatte. Auf die rechte Hand konzentrierten die Feniker ihre Aufmerksamkeit. Aber da, einen halben Atemzug vor dem Zusammenprall, ließ er den Zügel fahren und riß mit der Linken den Bollenspieß aus der Schlaufe. Mit voller Wucht rammte das gewichtige Gerät die dicht geschlossene Reihe der Schilde und riß zwei Reiter von ihren Zonggors. Xandor preschte in die Lücke hinein. Wie durch Zauberei war Xandors Spieß wieder in der Schlaufe verschwunden, und von neuem trat das Breitschwert in Tätigkeit. Als wäre es aus leichtem Holz, ließ Xandor es über dem Kopf kreisen, so schnell, daß die wirbelnde Waffe den Anblick eines soliden Daches bot, das sich über dem Schädel des Fürchterlichen gebildet hatte. Dazu schrie er sich den Groll aus der Seele. »Kommt her, ihr Burschen! Ihr habt noch keine von Xandors Beulen gesehen! Steht, ihr Feiglinge! Wollt ihr zu acht vor einem einzigen ausreißen?! Steht, sage ich!« Mit krachenden Schlägen trieb er die Feniker auseinander. Wo sein Schwert hintraf, da platzte die Haut, brachen Knochen, Panik ergriff die Angreifer. Mit entsetzten Schreien wandten sie sich zur Flucht. Der Weg lag frei vor Xandor. Er setzte dem Zonggor die Fersen in die Seiten und preschte davon. Die westliche Talwand lag ihm näher als die östliche. Dort hinüber hielt er sich. Als er das
* Mikkun Onethor hatte Glück. Er kam gut voran, ohne daß die Angreifer ihn bemerkten. Sein Plan war derselbe, den auch Xandor sich zurechtgelegt hatte. Nur wollte der Priester in östlicher Richtung entkommen, und da er kein Kriegsmann war, lag ihm daran, auf seinem Fluchtweg möglichst wenige Feniker zu sehen zu bekommen. Lange sah es so aus, als sollte es ihm in der Tat gelingen, unbemerkt davonzukommen. 30
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman dem Angreifer entgegen. Die Waffe traf den Feniker mitten auf der Brust. Weil sie, wie alle Schwerter auf dieser Welt, stumpfe Schneiden hatte, drang sie nicht in den Körper ein. Trotzdem war die Wucht des Anpralls groß genug, um den Mann aus dem Sattel zu reißen. Mikkun Onethor faßte zuerst die Felswand und dann die beiden herrenlosen Zonggors ins Auge. Sie würden ihm nichts nützen, entschied er. Er würde Mühe genug haben, sich selbst die steilen Felswände hinaufzuschleppen. Ohne auf die beiden halb bewußtlosen Feniker zu achten, nahm er die Wand in Angriff. Er war vielleicht zwei Mannshöhen weit gekommen, da überkam ihn die Erkenntnis der Unsinnigkeit seines Vorhabens mit solcher Wucht, daß er unwillkürlich den Griff lockerte und die Strecke, die er soeben so mühselig zurückgelegt hatte, wieder hinabstürzte. Der Aufprall schmerzte; aber er achtete kaum darauf. Eine Erleuchtung war ihm plötzlich gekommen, die all sein bisheriges Tun und Streben in einem gänzlich anderen Licht erscheinen ließ. War er wirklich ein solch hirnverbrannter Narr gewesen zu glauben, daß das Glück des Lebens darin läge, Menschen zu betrügen, Kriege anzuzetteln und sich zu bereichern? Waren nicht der Friede und das Einverständnis unter den Menschen weitaus erstrebenswertere Ziele? Wie hatte er sich so in die Idee hineinverbeißen können, daß es unbedingt nötig sei, die Feniker zu besiegen? Warum konnten Feniker und Mandunnen nicht friedlich nebeneinander leben? Er schüttelte ratlos den Kopf und stapfte durch das hohe Gras auf die beiden Feniker zu, die sich soeben vom Boden zu erheben versuchten. Er reichte dem zunächst Liegenden die Hand und zog ihn auf die Beine. »Laß mich dir helfen, Bruder«, sagte er freundlich dazu.
Schon hatte er die Felswand in Sicht, die am Ostrand des Tales aufragte und mit ihren schroff ansteigenden Zinnen sicherlich kaum ein weniger schwieriges Hindernis darstellte als eine Reihe von fenikischen Kämpfern, da tauchten schräg vor ihm plötzlich zwei Berittene aus dem Unterholz auf. Das leichte, rasche Vorwärtskommen hatte ihn unvorsichtig gemacht. Er hätte im Schutz des Waldes stehenbleiben und die Gegend vor ihm inspizieren sollen. Jetzt jedoch war es zu spät. Die beiden Feniker hatten ihn erblickt. Sie trieben ihre Zonggors an und kamen mit eingelegten Spießen auf ihn zu. Da packte ihn die Wut. Er war, wie gesagt, kein Kämpfer – nicht, weil es ihm an persönlichem Mut mangelte, sondern weil ihm der Beruf des Priesters mehr lag. Er betrachtete es als sein persönliches Vorrecht, daß er alleine aus diesem Kessel unbemerkt entkommen sollte, und nun kamen diese zwei Kerle da auf ihn zugestürmt und hatten vor, ihm sein Privileg streitig zu machen. Er blieb stehen und ließ die beiden Feinde anrennen. Er beugte sich vornüber, um einen festeren Stand zu haben, und hielt den mächtigen, fast kahlen Schädel vorwärts gesenkt wie einen Rammbock. Trotzdem verlor er die beiden Bollenspieße keine Sekunde lang aus den Augen. Als sie groß und nahe in sein Blickfeld gewachsen waren, drehte er sich blitzschnell zur Seite. Die aus Werg und Lappen gefertigten Bollen zischten harmlos an ihm vorbei. Er aber warf sich im selben Augenblick vorwärts und rammte mit gesenktem Schädel dem Zonggor zu seiner Rechten in den Leib. Mit gellendem Schmerzgeschrei stieg das Tier in die Höhe. Der Reiter, soeben noch mit seinem Spieß beschäftigt und den Zügel nur locker in der Linken haltend, wurde abgeworfen. Mikkun Onethor stürzte sich auf ihn und entriß ihm das Schwert. Mit einem mächtigen, klatschenden Schlag traf er die Schulter des Gestürzten. Der zur Abwehr erhobene Arm sank schlaff herab. Von neuem wirbelte Onethor herum. Der zweite Reiter hatte sein Tier herumgerissen und kam von der Seite her auf ihn zu. Der Priester stand fest und maß die Entfernung. Als er den Augenblick für gekommen hielt, schleuderte er das Schwert
7. Bei den beiden Schiffchen trafen sie sich wieder. Der Kampf war längst vorüber. Auf demselben Boden, auf dem sie sich noch vor einer halben Stunde mit allen Kräften verprügelt hatten, hockten Feniker und Mandunnen 31
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman Saggelor Oggian lächelte listig. »Wir haben ihnen das Glück gebracht«, sagte er. »Warum sollten wir ihnen nicht auch einen König bringen?« »Wen willst du vorschlagen?« erkundigte sich Flannagan Schätzo verwundert. »Niemand. Ich will nur den Prozeß in Gang bringen. Wen sie über sich herrschen lassen wollen, das ist ihre Sache. Aber man muß ihnen klarmachen, daß ein neuer Herrscher gewählt werden soll.« Flannagan war einverstanden. »In ihrem jetzigen Zustand sind sie wahrscheinlich sogar gewillt, auf uns zu hören«, meinte er. »Los, laß es uns versuchen!« Auf einmal war das Gefühl der Enttäuschung, das sie noch vor wenigen Minuten empfunden hatten, wie weggewischt. Es gab wieder etwas zu tun.
einträchtig beieinander und wußten zunächst noch nicht, was sie mit dem neugefundenen Glück anfangen sollten. Saggelor Oggian empfand eine merkwürdige innere Unruhe. Anstatt mit Zufriedenheit erfüllte ihn das, was er getan hatte, mit Zweifeln. »Ich wollte, es könnte mir jemand überzeugend einreden, daß wir recht gehandelt haben«, klagte er mißmutig. »Auf mich kannst du dabei nicht rechnen«, antwortete Flannagan Schätzo. »Ich war unterwegs, dich zu suchen, damit wir die Glücksbringer noch ein Weilchen aus dem Spiel lassen konnten.« Saggelor musterte die Stelle auf seiner Brust, auf der die Bruchstücke des Mikrosenders blutige Markierungen hinterlassen hatten. »Es sieht so aus, als hätte sich das Schicksal gegen uns verschworen, nicht wahr? Aber sag: Kann es denn so verwerflich sein, wenn man Menschen Glück bringt? Wenn man ihnen den Haß und die Liebe zur Gewalt austreibt und ihnen dafür Verständnis. Zuneigung und Friedfertigkeit ins Bewußtsein pflanzt?« »Verwerflich nicht«, knurrte Flannagan. »Aber vielleicht politisch unklug. Was sollen die Leute jetzt anfangen? Bisher war es die immerwährende Feindseligkeit, die ihrem Leben Inhalt gab. Jetzt gibt es die nicht mehr. Also ist eine Leere entstanden, die so rasch wie möglich gefüllt werden muß. Aber womit?« »Das Projekt!« strahlte Saggelor plötzlich. »Erinnerst du dich? Der Damm, den sie quer durch den Talkessel bauen wollten. Sie müssen sich sofort an die Arbeit machen. Das gibt ihrem Leben neuen Sinn!« Flannagan Schätzo wiegte nachdenklich den Kopf. »Wahrscheinlich hast du recht«, gab er zu. »Wir müßten sie dazu bringen, daß sie so bald wie möglich mit dem Bau des Dammes beginnen. Aber vorher muß noch einige Kleinarbeit geleistet werden.« »Zum Beispiel?« »Die Leute haben kein Oberhaupt. Jetzt, da sie einander gern haben, werden sie nicht mehr in zwei getrennten Völkern leben wollen. Sie brauchen einen König, der über beide Stämme regiert.«
* »Hört, ihr Feniker und Mandunnen!« brüllte Xandor, der Ritter, aus vollem Hals. »Wir sind hier zusammengekommen, um uns nach dem Ratschlag der weisen Fremden einen neuen Herrscher zu wählen. Laßt mich euch für dieses Amt den Mann vorschlagen, der seit Jahrzehnten über das große Volk der Mandunnen regiert hat und die Tätigkeit des Regierens daher so gut versteht wie kein anderer in diesem Tal: Ragnok-ThessorSanguun-Lemalek!« Beifall brandete auf. Auf einer Lichtung hatte sich versammelt, was unter den anwesenden Mandunnen und Fenikern Rang und Namen hatte. Saggelor Oggian und Flannagan Schätzo waren, nachdem sie sich bemerkbar gemacht hatten, mit großer Zuvorkommenheit aufgenommen worden. Man hatte ihre glücksbringende Macht am eigenen Leibe erfahren und behandelte sie mit Ehrfurcht. Ihr Vorschlag, einen Gesamtherrscher für beide Völker zu wählen, war mit Begeisterung empfangen worden. Die Wahlversammlung trat sofort zusammen. Die beiden Siganesen verfolgten den Ablauf von der Höhe eines Baumstumpfes aus, auf den man sie behutsam emporgehoben hatte. Nach Xandor erhob sich nun Liggan, der Fürst der Feniker, und bedankte sich bei dem 32
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman kun Onethor, den er als zum Herrschen prädestiniert bezeichnete. Aber Onethor hatte schon in früheren Zeiten mit der weltlichen Politik nichts zu tun haben wollen, noch viel weniger war er jetzt geneigt, ausgerechnet ihr höchstes Amt zu übernehmen. Er lehnte ab und schlug dem Volke Xandor vor. Jedoch auch Xandor hatte gewichtige Gründe, die ihm die Annahme der Königswürde versagten. Er schob den Schwarzen Peter einem anderen zu, und so ging es weiter, bis alle auch nur halbwegs für das Amt Geeigneten aufgerufen worden waren und abgelehnt hatten. Da erhob sich Liggan von neuem und verkündete: »Mir scheint, es wird in diesem Tal in naher Zukunft keinen Herrscher geben. Wozu denn, frage ich euch, brauchen wir einen? Wir sind ein geeinigtes Volk. Jeder hat seine Arbeit, der er nachgehen kann – nur die Krieger werden sich nach etwas anderem umsehen müssen. Wir bedürfen der Obrigkeit nicht mehr! Ich schlage vor, wir gehen alle nach Hause und freuen uns an unserem neugefundenen Glück!« Der Vorschlag wurde beklatscht. Auf dem Baumstumpf wandte Flannagan sich mit mißtrauischem Blick an Saggelor. »Hörte ich da Zynismus aus seiner Stimme? Wirkt sich auf ihn die Strahlung der Glücksbringer nicht aus?« Saggelor schüttelte den Kopf. »Er meint es ehrlich. Und wir, mein Freund, haben ein schweres Problem an der Hand!« Die Lichtung leerte sich schnell. Nach den anstrengenden Tagen des Kriegszuges hatten die Männer es eilig, nach Hause zu kommen. So groß war die Sehnsucht nach dem heimischen Herd, daß man sogar die beiden Zwerge vergaß, die oben auf dem Baumstumpf hockten. Sie saßen noch da, als die Feniker und Mandunnen längst schon verschwunden waren, die einen nach Norden, die andern nach Süden. Erst gegen Nachmittag fanden sie eine Möglichkeit, an der tief zerfurchten Rinde des alten Baumes in die Tiefe zu klettern.
Ritter für seinen klugen Vorschlag. »Ich, von dem einige von euch vielleicht Widerstand gegen diesen Vorschlag erwartet haben, bin im Gegenteil gänzlich mit ihm einverstanden.« Er sprach mit klarer, lauter Stimme ohne jegliche Emotion. »Der neue König soll sich erheben, damit wir ihm unsere Huldigung darbringen können!« Jubel brauste über die Lichtung. Dann aber geschah das Unglaubliche. Ragnok-ThessorSanguun-Lemalek erhob sich und verschaffte sich mit schwerfälliger Geste Gehör. Er sagte: »Ich weiß, welche Ehre mir hier zuteil wird; aber ich kann sie nicht annehmen!« Einen Augenblick lang war es so still auf der Lichtung, daß das Rascheln der Blätter des Waldes zu hören war. Dann brandete Gemurmel auf. Überraschung spiegelte sich auf den Gesichtern. Der König fuhr fort: »In den frühen Morgenstunden dieses Tages habe ich mich zum erstenmal so gesehen, wie ich wirklich bin: ein hohler, tönerner Koloß, der seinem Volk in den langen Jahren seiner Regierung nichts anderes gegeben hat als Anlaß zum Lachen. Ein Feigling, der dem Gegner zu Recht als Zielscheibe seines Spottes diente. Ein eitler Geck, der sich nur aufgrund seines wallenden Bartes und seiner breiten Schultern für den größten König hielt, den es je in diesem Tal gab.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Nein, Freunde, ich bin euer nicht würdig. Ihr braucht einen Herrscher, der kraft der eigenen Stärke und Weisheit zum Regieren befähigt ist. Laßt mich euch den Mann vorschlagen, der die Eigenschaften des Herrschers nach meiner Ansicht in hervorragender Weise in sich vereinigt: Liggan, den Fürst der Feniker!« Die anfängliche Verwunderung schlug rasch in Begeisterung um. Die Männer sprangen auf und jubelten Liggan zu. Oben auf dem Baumstamm knurrte Flannagan Schätzo wütend: »Glück wollten wir ihnen bringen und Frieden! Von Selbsterkenntnis und Bescheidenheit war nicht die Rede. Verdammt, ich kann sehen, wie der Laden von hier aus laufen wird ...!« Er behielt recht. Auch Liggan lehnte die neue Königswürde ab und verwies auf Mik-
* Nach langem Überlegen hatten die beiden 33
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman wieder freier und erwärmten sich bei dem Gefühl, daß die Landung der Glücksbringer auf Feman doch nicht so unklug gewesen sei, wie es zuerst den Anschein gehabt hatte. Da erfuhren sie eines Tages, daß Liggan, der ehemalige Fürst der Feniker, und sein Ratgeber Fanthar schon seit Wochen nicht mehr gesehen worden seien. Ebenfalls verschwunden war Alinda, die Liggan kurz nach Kriegsende zu seiner Frau gemacht hatte. Es war kennzeichnend für die geänderte, fast gänzlich auf das Einzelwesen ausgerichtete Mentalität der Leute, daß niemand genau zu sagen vermochte, wann Liggan und seine Begleiter zum letztenmal gesehen worden waren und was sie dazu veranlaßt haben mochte, das Land zu verlassen. Sie waren gegangen – das war alles, was man wußte. Saggelor und Flannagan verbrachten einige Wochen damit, nach den Verschwundenen zu suchen. Als es ihnen nicht gelang, sie zu finden, begannen sie zu glauben, daß Liggan, Fanthar und Alinda das Land gänzlich verlassen hatten. Vielleicht hatten sie sich ein Boot gezimmert und waren über das Meer zu einem der anderen Kontinente gefahren. In der von Glückseligkeit erfüllten Heimat schien es ihnen nicht mehr gefallen zu haben.
Siganesen sich dazu entschlossen, die Glücksbringer weiter wirken zu lassen. Sie waren längst nicht mehr davon überzeugt, daß es klug gewesen sei, die Glücksbringer einzuschalten. Aber jetzt, da das Experiment nun einmal begonnen hatte, mußte man es weiterlaufen lassen. Ein Abschalten der glücksbringenden Strahlung hätte das Volk in entsetzliche Verwirrung gestürzt und eine Katastrophe heraufbeschworen. Um eine nachhaltige Wirkung zu erzielen, die auch dann noch bestehen blieb, wenn die Flotte der Glücksbringer diesen Planeten längst verlassen hatte, war es nötig, die Strahlung wenigstens zwei Standardmonate lang aufrechtzuerhalten. Für diese Zeitspanne waren Flannagan Schätzo und Saggelor Oggian an diese Welt gebunden, für die sie den Namen »Feman« gefunden hatten – eine Zusammensetzung aus den ersten Silben der Völkernamen Feniker und Mandunnen. Sie hatten sich vorgenommen, diese Zeit weidlich zu nutzen. Es lag an ihnen, die Glückseligkeit der Bewohner des ApsarakusTales in Bahnen zu lenken, die dem Wohl des Ganzen dienlich waren. Zunächst hatte es den Anschein, als wollten sich die Dinge ganz manierlich anlassen. Die Feniker, die seit Jahrhunderten aufgrund ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit gezwungen gewesen waren, im unwirtlichen Nordtal des Flusses zu hausen, wandten sich nun nach Süden und siedelten sich im großen Talkessel an, der bislang als Grenzgebiet zwischen den beiden feindlichen Völkern so gut wie unbesiedelt gewesen war. Die Mandunnen hatten gegen diese Völkerwanderung nichts einzuwenden. Sie waren den neugewonnenen Brüdern sogar behilflich, sich einzurichten. Angesichts der dicht bevorstehenden Regenzeit war das Dammprojekt von neuem in Angriff genommen worden. Mikkun Onethor, früher die treibende Kraft hinter diesem Unternehmen, hatte vergeblich versucht, die Verantwortung von sich abzuwälzen. Er war nach wie vor der Leiter des Projekts. Um sein Gewissen zu reinigen, hatte er jedoch Quirian, den königlichen Schreiber, veranlaßt, die unter seinem Namen vorgenommenen Grundbucheintragungen wieder zu löschen. So schien sich die Lage allmählich einpendeln zu wollen. Die beiden Siganesen atmeten
* Die Regenzeit rückte heran. Der Himmel war nicht so regelmäßig wolkenlos blau wie bisher. Von Zeit zu Zeit türmten sich schwere, weiße Wolken über dem Horizont, und in den Nächten sah man manchmal das Wetterleuchten ferner Gewitter. Die beiden Siganesen hielten es für an der Zeit, sich um den Damm zu kümmern, der unter Mikkun Onethors Leitung am Südrand des Talkessels entstand. Als sie mit ihren winzigen Raumfahrzeugen im Talkessel landeten, war der Damm schon von weitem zu sehen. In einer Höhe von mehr als zehn Metern erstreckte er sich quer über den südlichen Talausgang. Aus der Nähe allerdings machte Onethors Werk einen weniger imposanten Eindruck. Der Damm bestand in der Hauptsache aus locker aufgeschütteter Erde. Nur an wenigen Stellen war er durch stämmige Hölzer befestigt. In der Nähe standen die primitiven Hütten der Arbeiter, aber 34
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman waren des Glückes zu voll, da wollten sie nicht mehr in der Hitze schuften müssen. Der Damm steht, sagten sie. Mehr brauchen wir nicht.« »So, wie der Damm steht, ist er mehr eine Gefahr als ein Schutz«, behauptete Flannagan Schätzo. »Das Wasser wird sich zunächst einige Fuß hoch hinter ihm aufstauen und ihn dann umreißen.« »Das weiß ich«, jammerte der Alte, »und die Leute wissen es auch, aber es macht ihnen nichts aus. Sie sind glücklich, und sie wollen zu Hause sein, nicht hier, wo ihnen die Hitze jeden Tag fünf Pfund Schweiß aus dem Leibe treibt.« Flannagan und Saggelor sahen einander bedeutungsvoll an. Das Glück war ein zweischneidiges Schwert. Es machte wunschlos und beseitigte das Verantwortungsgefühl. »Wie steht es mit einem Appell an die Götter?« fragte Flannagan. »Kannst du den Leuten nicht einreden, daß das Götterpaar die Fertigstellung des Dammes wünscht?« Mikkun Onethor kratzte sich am Kinn. »Weißt du, mit den Göttern, das ist so eine Sache«, brummte er. »Seitdem wir glücklich sind, brauchen wir die Götter nicht mehr. Selbst ich, ihr Priester, bin nicht ganz sicher, ob es sie überhaupt jemals gegeben hat. Ich möchte beinahe meinen, sie seien von allem Anfang an eine Erfindung unserer Vorfahren gewesen. Und das Volk vollends kümmert sich überhaupt nicht mehr um sie.« Er fing plötzlich an zu gähnen. »Ich muß jetzt gehen«, sagte er übergangslos. »Die Hitze macht mich immer sehr müde. Ich bin eben ein alter Mann. Aber ihr kommt mich wieder besuchen, nicht wahr?« »Wir kommen wieder«, versprach Flannagan Schätzo und sah dem Alten nach, wie er zu seiner Hütte zurückschlurfte und durch die offene Tür verschwand. Da sagte Saggelor Oggian: »Wir haben etwas Wichtiges zu besprechen, Flannagan!«
am Damm selbst war kein Mensch zu sehen. Der Nachmittag war unerträglich schwül. Die Wolken hatten sich heute höher als sonst über den Talrand hinausgeschoben. Drohende Wolkentürme ragten hoch in den blauen Himmel hinein. Saggelor und Flannagan gingen an der Reihe der Hütten entlang und spähten durch die Ritzen ins Innere der anspruchslosen Bauten. Sie waren leer. Nicht nur das: Sie standen schon seit Wochen leer, wie der fingerdicke Staub auswies, der alles überzogen hatte. Ratlos blickten die beiden Siganesen einander an, da hörten sie von weither das Geräusch einer klappenden Tür. Ein Schatten fiel auf den trockenen, rissigen Boden. Ein alter Mann in einem schäbigen, durchlöcherten Umhang kam auf sie zu. Er schien die winzigen Gestalten nicht zu bemerken. »Heh, Alter!« schrie Flannagan. Der Mann horchte auf. »Wer ruft da?« fragte er verwirrt. »Hier unten, auf dem Boden!« schrie Flannagan. Der Alte blickte nach unten. Für den Bruchteil einer Sekunde leuchteten die Augen in dem mürrischen Gesicht auf. »Oh, unsere Freunde!« rief er freudig. »Wir haben euch lange nicht mehr gesehen. Wo wart ihr?« Flannagan Schätzo studierte mißtrauisch das faltige Gesicht. Er glaubte es zu kennen; aber als er es das letztemal gesehen, war es noch voll und prall gewesen. Das war ... das konnte doch nicht Mikkun Onethor sein, der Priester? »Sprecht zu mir!« flehte der Alte. »In letzter Zeit spricht niemand mehr mit mir. Nur das Pflichtbewußtsein hält mich noch hier draußen fest.« »Onethor?« rief Flannagan ungläubig. »Bist du es?« »Wer denn sonst?« ereiferte sich der Alte. »Oh, ich weiß – ich bin alt und eingefallen. Die Krankheit nagt mir am Leibe, und ich werde es wahrscheinlich nicht mehr lange machen. Aber das stört mich nicht. Ich bin glücklich.« »Wo sind die Männer, die am Damm arbeiten?« wollte Flannagan wissen. »Zu Hause«, antwortete der Priester. »Sie
* »Ich bin entschlossen, die Strahlung der Glücksbringer abzuschalten«, fuhr er fort. »Es sei denn, du kannst mir einen triftigen Grund 35
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman Es war totenstill. Flannagan holte seine Lampe hervor und ließ einen haardünnen Lichtstrahl vor sich auf den Boden fallen. Er hatte das merkwürdige Gefühl, daß sich in seinem Innern im Laufe der letzten Sekunden eine Änderung vollzogen habe. Er wußte nicht genau, was es war; aber mit einemmal fühlte er sich unbehaglich, unzufrieden und auf seltsame Weise ängstlich. »Heh! Merkst du was, Flannagan?« fragte Saggelor plötzlich. »Ja, ich merke etwas«, bekannte er. »Ich wollte, ich wüßte, was es ist!« »Der Einfluß der Glücksbringer ist nicht mehr zu spüren!« rief der Junge. »Bis hier herein dringt er anscheinend nicht! Ob die metallene Hülle des Raumschiffs daran schuld ist?« Das also war es! Flannagan Schätzo atmete auf. Saggelors Vermutung mochte richtig sein. Er wußte zwar mit der Strahlung der Glücksbringer umzugehen, aber er wußte noch immer nicht, auf welchem Prinzip sie beruhte und durch welche äußeren Erscheinungen sie beeinflußt werden konnte. Es war denkbar, daß sie eine rundum geschlossene metallische Hülle ebensowenig zu durchdringen vermochte wie ein Blitz. »Die Geräte, die wir suchen«, sagte Flannagan, »befinden sich in einer der bodennahen Schleusen. Wenn es sie überhaupt gibt, meine ich.« »Da werden wir nicht viel Glück haben«, äußerte sich der Junge. »Das Fahrzeug scheint beim Absturz ziemlich hart aufgeschlagen und ein Stück weit in den Felsen gedrungen zu sein. Unten ist wahrscheinlich nichts mehr heil.« »Da magst du recht haben«, gab Flannagan zu, »aber versuchen müssen wir es.« Über Rampen, stilliegende Gleitbänder und stehengebliebene Rolltreppen drangen sie in den unteren Teil des Schiffes vor. Saggelor hatte recht. Je weiter sie kamen, desto größer wurde das Ausmaß der Zerstörungen. Auf den Gängen lagen altmodische Roboter, die längst nicht mehr funktionierten. An gewissen Einzelheiten erkannte Flannagan, daß es sich bei dem Fahrzeug um ein Siedlerschiff aus der Frühzeit der interstellaren Kolonisation handelte. Es war irdischen Ursprungs und mochte
für die Fortführung des Versuchs nennen.« Flannagan Schätzo schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht mehr als ein Experiment betrachten, Saggelor. Die zwei Monate sind so gut wie herum. In wenigen Tagen werden die Leute, die in diesem Tal leben, für immer und ewig friedliebend und glücklich sein. Wenn wir sie dagegen jetzt von dem Einfluß der Glücksbringer befreiten, dann würden sie rasch wieder zu ihrer früheren Geisteshaltung zurückkehren. Ich weiß, was du sagen willst: Was wäre daran so schlimm? Daran nichts so sehr, aber an der Verwirrung, die sie unweigerlich ergreifen müßte. Kannst du dir ausmalen, was in ihren Schädeln vorgehen wird, wenn der Eigennutz plötzlich wieder erwacht, wenn Mandunnen von neuem Feniker, und die Feniker die Mandunnen zu hassen beginnen? Und der Glaube an die Götter, die das Töten verboten, ausgelöscht ist? Es würde zu einem Blutbad kommen!« »Aber irgendwie muß die Lage doch geändert werden!« rief der Junge verzweifelt. »Sieh dir diesen Damm an! Es wird genauso kommen, wie du dem Alten auseinandersetztest. Das Wasser wird sich hinter ihm aufstauen, vielleicht vier, fünf Meter hoch. Und dann reißt es den Damm ein und überflutet das Südtal!« »Ich weiß es«, versuchte Flannagan ihn zu beruhigen. »Hier muß geholfen werden. Die Männer dazu zu überreden, daß sie an die Arbeit zurückkehren, scheint mir eine schwierige und langwierige Aufgabe zu sein. Wir selbst sind technisch nicht gut genug ausgerüstet. Aber da gibt es noch einen Ort ...« »Das alte Raumschiff!« rief Saggelor begeistert, als er im selben Augenblick Flannagans Plan durchschaute. »Richtig, das alte Raumschiff, das ehemalige Heiligtum des Götterpaars. Es ist möglich, daß es dort noch einiges brauchbares Gerät gibt, nicht wahr?« Wenige Minuten später waren sie unterwegs. Die beiden Raumschiffchen drangen mühelos durch eines der gezackten Löcher, die Flannagan für die Anzeichen einer schweren Explosion hielt, ins Innere des alten Raumfahrzeugs ein und landeten in einem finsteren Decksgang. Sie stiegen aus. Die Luft im Innern des Siedlerschiffes war stickig heiß. 36
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman schwunden waren. »Wir sind nicht deine Feinde. Wir sind niemandes Feinde!« »Oh, nein!« spottete Alinda. »Ihr seid die Glücksbringer, die dem ahnungslosen Volk die Glückseligkeit bringen und ihm dabei die Seele rauben.« Flannagan biß sich auf die Lippen. Wie konnte er sich gegen einen Vorwurf wehren, den er selbst schon für halb berechtigt hielt? »Den Menschen im Südtal droht Gefahr«, sagte er statt dessen. »Mikkun Onethor hat den Damm nicht fertigstellen können. In wenigen Tagen beginnen die Regen. Wenn der Damm nicht rechtzeitig verstärkt wird, bricht er zusammen, sobald sich eine gewisse Wassermenge hinter ihm gestaut hat, und das Tal wird überflutet. Wir sind gekommen, um hier nach technischen Geräten zu suchen, mit denen wir den Bau des Dammes vollenden können.« »Eine lange Geschichte«, sagte Alinda, »die du dir hättest sparen können. Was kümmern mich die Menschen im Südtal? Ich bin eine Fenikerin.« Flannagan erinnerte sich, daß die Ausstrahlung der Glücksbringer im Innern des Wracks nicht wirksam war. Wenn Alinda sich die ganze Zeit über hier aufgehalten hatte, dann war sie von der allumfassenden Aussöhnung zwischen den beiden Völkern unberührt geblieben. »Was hast du mit uns vor?« wollte Flannagan wissen. »Euch hierzubehalten«, antwortete das Mädchen. »Laß mich mit Liggan sprechen!« verlangte der Siganese. »Liggan ist nicht hier.« »Wann kommt er wieder?« »Bald. Geht dort hinein!« Sie deutete auf das offene Schott. Einen Augenblick lang überlegte Flannagan, ob er nicht einfach davonlaufen solle. Die schützende Dunkelheit war nicht weit. Dann jedoch dachte er an Saggelor Oggian, der wegen seiner geringen Körpergröße nicht so beweglich war wie er selbst. Er verwarf den Gedanken und betrat die kleine Kammer jenseits des Schotts. Saggelor blieb an seiner Seite. Hinter ihnen schloß sich der Ausgang. Flannagan sah sich um. In früheren Zeiten
die Erde im ersten Drittel des einundzwanzigsten Jahrhunderts verlassen haben. Saggelor Oggian stieß plötzlich einen Warnruf aus. Flannagan blieb stehen. »Licht!« hauchte der Junge. »Dort vorne!« Flannagan bemerkte einen dünnen Lichtfaden, der vorab seitwärts in den Gang fiel. Dort schien ein Schott einen winzigen Spalt offenzustehen, und hinter dem Schott brannte Licht! Acht Jahrhunderte nach dem Absturz des Fahrzeugs! Es bedurfte zwischen den beiden Siganesen keiner Absprache. Sie mußten sehen, was sich dort befand. Hastig bewegten sie sich den Gang entlang und wurden erst in der Nähe des Schotts ein wenig vorsichtiger. Flannagan beugte sich vorwärts und spähte durch den schmalen Spalt. Das erste, was er wahrnahm, war die völlige Abwesenheit des Staubes, der durch die Explosionslöcher hereingedrungen war und sonst jeden Quadratzentimeter des Schiffsinnern überzogen hatte. Bevor ihn die Bedeutung dieser Beobachtung noch aufgehen konnte, hörte er hinter sich aus dem Dunkel plötzlich eine dröhnende Stimme – die Stimme einer Frau zwar, aber doch für Flannagans sensitives Gehör übermäßig laut: »Bleibt stehen und rührt euch nicht, ihr Zwerge! Ich habe von euch gehört und weiß, daß ihr gefährlich seid.« Im gleichen Augenblick glitt das Schott vollends auf, und die beiden Siganesen standen schutzlos in der Lichtflut, die aus dem Raum dahinter kam. Flannagan drehte sich um und gewahrte eine hochgewachsene, junge, rothaarige Frau, die sich in einer Nische verborgen gehalten und ihr Vordringen beobachtet hatte. In der Hand hielt sie einen leichten Strahler, dessen Mündung genau auf die Stelle gerichtet war, an der Saggelor und Flannagan standen. Er hatte sie nie zuvor gesehen; aber er hatte von ihr sprechen hören. Eine Frau von solcher Schönheit gab es nur einmal im Tal des Apsarakus: Alinda, die Gefährtin des Fenikerfürsten Liggan. 8. »Du machst einen Fehler!« rief Flannagan Schätzo, der plötzlich wußte, wohin Liggan und seine Begleiter vor vielen Wochen ver37
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman schmerzlich zu stöhnen begann. »Was ist ...?!« »Die Glücksbringer!« stieß der Junge hervor. »Ihnen droht Gefahr! Jemand hat eines der Schiffchen beschossen ...!« Das war die Bestätigung seines Verdachts! Saggelor stand in telepathischem Kontakt mit den Fahrzeugen der Glücksbringerflotte. Jemand war dort draußen in der Wüste und beschoß die Schiffchen mit Waffen, die er hier im Wrack gefunden hatte. Liggan! »Nichts wie 'raus hier!« knirschte Flannagan und wies mit dem Arm in die Richtung des Belüftungsgitters.
war diese Kammer ein Lagerraum gewesen. An den Wänden entlang zogen sich hohe Gestelle, die jetzt leer waren. Jemand hatte aus einem anderen Raum eine Liege hereingeschafft. Das mußte Liggan oder einer seiner Begleiter gewesen sein. Einer von der Gruppe pflegte hier zu übernachten, wahrscheinlich Fanthar. Oben, dicht unter der Decke, befand sich ein Lufteinlaß der Belüftungsanlage, durch ein Gitter verschlossen. Die Kammer war sorgfältig von Staub befreit worden. »Was nun?« fragte Saggelor bedrückt. Flannagan antwortete nicht sofort. Warum hielten Liggan und seine Begleiter sich hier versteckt? Liggan hatte schon lange von den Geheimnissen gewußt, die in dem alten Wrack verborgen waren. Er hatte die letzten noch funktionierenden Überreste einer Technik kennengelernt, die ihm wie ein Wunder vorgekommen sein mußten. War er zurückgekehrt, um sein Wissen zu vertiefen? Oder hatte er durch Zufall bemerkt, daß die glücksbringende Strahlung im Innern des Wracks keine Wirkung besaß, und hatte sich hier verkrochen, um von der Strahlung, die er für schädlich hielt, verschont zu bleiben? Fragen über Fragen, und doch hatte Flannagan das Gefühl, daß von ihrer Beantwortung das weitere Schicksal dieser Welt abhänge. Er sah auf. »Was nun?« wiederholte er Saggelors Frage. »Wir müssen hier 'raus! Ich warte nicht, bis Liggan so gnädig ist, uns die Freiheit wiederzugeben.« Plötzlich schoß ihm ein Gedanke durch den Kopf, eine häßliche Idee bezüglich des Plans, den Liggan möglicherweise verfolgte. In diesem Wrack gab es Waffen. Liggan kannte sie. Früher hatte er sie nicht beachtet, weil es tödliche Waffen waren und jeder, der sich ihrer bediente, gegen das Gesetz von der Unverletzbarkeit menschlichen Lebens verstieß. Aber jetzt? Liggan hielt den Einsatz der Glücksbringer für ein Unglück, das den beiden Völkern des Apsarakus-Tales widerfuhr. Welch logischere Lösung gab es für ihn, als die Ursache dieses Unglücks auszuschalten? Die Entscheidung mußte ihm um so leichter fallen, als es nicht um menschliches Leben ging, sondern um ... Er schrak auf, als Saggelor Oggian
* Es war eine mühselige Flucht. Es gelang den beiden Siganesen, aus dem Material der Decke, die sich auf der Liege befand – ein Erzeugnis fenikischer Handwebekunst – einen kräftigen Faden zu ziehen, der stark genug war, um Saggelor als Kletterseil zu dienen. Denn es war der Junge, mit seiner Körpergröße von knapp vier Zentimetern, der beim Überwinden größerer Hindernisse die meisten Schwierigkeiten hatte. Flannagan Schätzo war mit 17 Zentimetern Länge gegen ihn ein wahrer Riese. Er turnte die Gestelle hinauf, befestigte den Faden und ließ den Jungen nachkommen. Alles in allem brauchten sie knapp eine Stunde, um die höchste Ebene des Gestells zu erreichen, über dem sich die Belüftungsöffnung befand. Flannagan machte sich daran, das Gitter zu lösen. Das war eine mühselige Arbeit. Seit rund achthundert Jahren saß das Gitter dort in seiner Öffnung und zeigte nur wenig Neigung, den gewohnten Ort zu verlassen. Flannagans Hartnäckigkeit hatte jedoch schließlich Erfolg. Das Gitter löste sich aus der Fassung und stürzte polternd auf das Gestell herab. Flannagan mußte mit einem Satz zur Seite springen, sonst hätte ihn das schwere Gebilde aus Plastikmaterial erschlagen. Der Weg war frei. Hastig drangen die beiden Siganesen in den Belüftungskanal ein. Hinter ihnen blieb es ruhig. Alinda schien den Lärm des herabstürzenden Gitters nicht gehört zu haben. Der Weg war beschwerlich. Durch den alten Kanal war seit acht Jahrhunderten 38
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman luk wurde geöffnet, und ein Schwall von Geräuschen drang herein: das Prasseln des Regens, das Rollen des Donners und schließlich Saggelor Oggians schwache Stimme, die sich gegen das Toben der Natur kaum zu behaupten vermochte. »Wir sind am Westrand der Flotte gelandet!« schrie er aus voller Lunge. Flannagan Schätzo kroch nach draußen. Der Regen traf ihn mit einer Wucht, die ihn um ein Haar zu Boden gerissen hätte. Saggelor hatte sich unter der Rundung des eiförmigen Schiffskörpers in Sicherheit gebracht. Ein greller Blitz zuckte durch die Regenmassen und tauchte die Umgebung für Bruchteile von Sekunden in gleißende Helligkeit. Der Regen behinderte die Sicht; trotzdem aber nahm Flannagan die Umrisse eines Zeltes wahr, das sich in knapp dreißig Metern Entfernung aus dem nassen Sand der Wüste erhob. In der Finsternis nach dem Blitz sah Flannagan in derselben Richtung einen ungewissen Lichtschimmer. Waren es Liggan und Fanthar, die sich dort einquartiert hatten? »Los! Wir müssen dort hinüber!« rief er Saggelor zu. »Wenn wir es zu Fuß versuchen, erschlägt uns der Regen.« Saggelor begriff. Mit drei weiten Sprüngen verschwand er in der Hülle seines Schiffchens. Flannagan tat es ihm nach. Die beiden Fahrzeuge hoben vom Boden ab und schwebten auf das Zelt zu. Durch das Luk, das er offengelassen hatte, sah Flannagan, daß es in der Ostseite des Zeltes eine Tür aus segeltuchartigem Material gab, von der eine Klappe offenstand. Durch diese Öffnung fiel das Licht, das er zuvor bemerkt hatte. Auch Saggelor schien die Möglichkeit zum Einflug erkannt zu haben. Die beiden winzigen Fahrzeuge steuerten durch die Türöffnung ins Innere des Zeltes. In aller Hast setzte der Junge sie auf dem Boden ab. Flannagan zwängte sich nach draußen. Das Zelt war geräumig. Die Helligkeit kam von drei Talglichtern, die auf einem roh zusammengezimmerten Tisch brannten. Im Hintergrund gab es ein aus Laub und Sand aufgeschüttetes Lager. Ein Mann mit eingefallenem, blassem Gesicht lag darauf, und vor ihm kniete ein zweiter, der seinen Kopf mit einem kugelförmigen Drahtgeflecht umgeben hatte.
keine Luft mehr geströmt. Staub war eingedrungen und hatte sich zu Bergen angehäuft. Verschmutzt und müde erreichten die beiden Flüchtlinge schließlich einen Ausgang, der weit genug von der Kammer entfernt lag, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Von innen war es leichter, das sperrende Gitter aus der Fassung zu wuchten. Flannagan hörte es stürzen und beobachtete zu seiner Erleichterung, daß der Sturz nicht besonders tief gewesen sein könne. Der Faden wurde befestigt, und Saggelor kletterte daran in die Finsternis hinab. Schon nach wenigen Sekunden meldete er, daß er den Boden erreicht habe. Daraufhin sprang Flannagan einfach hinaus. Er kam glücklich auf und schätzte die Höhe des Sprunges auf etwa fünfzig Zentimeter. Mit Hilfe der Lampe fanden sie den Ausgang des Raumes, in dem sie gelandet waren. Das Schott stand zur Hälfte offen. Der Gang draußen war finster. Ein merkwürdiges Geräusch war zu hören, das aus der Höhe kam und das Flannagan sich nicht zu erklären wußte, bis Saggelor ihm zu einer Erklärung verhalf. »Der Regen!« rief der Junge. »Was du hörst, ist das Trommeln des Regens auf der äußeren Hülle des Wracks! Die Regenzeit hat begonnen!« Nach Flannagans Schätzung mußte es mehr ein Wolkenbruch sein, der da über dem Wrack niederging, denn sie befanden sich ziemlich weit von der Außenhülle entfernt und der Umstand, daß das Geräusch hier trotzdem noch zu hören war, ließ auf eine ungewöhnliche Intensität des Regengusses schließen. Sie fanden sich ohne sonderliche Mühe zurecht und gelangten schließlich in den Decksgang, in dem sie ihre beiden Miniaturfahrzeuge gelandet hatten. Flannagan zwängte sich mühsam durch die Schleusenöffnung und ringelte sich im Innern des winzigen Raumschiffs zusammen. Wenig später spürte er, daß das Fahrzeug sich in Bewegung setzte. Er versuchte, sich zu entspannen. Aber seltsamerweise schien die beruhigende Wirkung, die von den psychomechanischen Geräten seines Schiffchens ausging, verloren zu sein. Nach wenigen Minuten ging das kleine Fahrzeug von neuem zu Boden. Das Außen39
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman empfinden, denken ihre eigenen Gedanken und treffen ihre eigenen Entscheidungen.« Liggan starrte ihn ungläubig an. »Und der dort«, fuhr der Siganese fort, wobei er auf den Bewußtlosen deutete, »ist das erste Opfer deiner Narretei. Als er auf die Schiffchen zu schießen begann, da setzten die Fahrzeuge sich zur Wehr, und er wurde schwer verwundet! War es nicht so?« »Ja, es war so«, nickte der Feniker düster. »Fanthar feuerte die erste Salve – mit einer Waffe, die aus dem Heiligtum stammt. Sie verschleudert einen Blitzstrahl, der alles zerstört, was ihm in den Weg kommt. Fanthars Schuß traf die vorderste der ... Maschinen. Sie verwandelte sich in einen Glutball, der mit ungeheurer Wucht explodierte. Fanthar wurde zu Boden gerissen. Ich stand zufällig hinter ihm. Deswegen wurde ich nur unerheblich verletzt, während er die ganze Wucht der Explosion abbekam.« »Da draußen«, sagte Flannagan finster, »liegen insgesamt sechstausend solcher Maschinen. Um sie alle zu zerstören, müßtest du sechstausend Menschenleben opfern. Hältst du noch immer an deinem Plan fest?« »Ich muß«, antwortete Liggan mit Nachdruck. »Es bleibt mir nichts anderes übrig. Die, die ihr Glücksbringer nennt, bringen dieser Welt in Wirklichkeit das Verderben. Sie höhlen den Menschen aus. Sie nehmen ihm das Wissen, daß er etwas leisten muß, um des Lebens würdig zu sein. Sie lassen ihn dahindämmern und seine Kraft vergessen. Was für ein Leben ist das? Ein Mensch, der so leben muß – wäre es nicht besser, wenn er nicht geboren wäre? Habt ihr Mikkun Onethor gesehen, den Priester, der nicht mehr an die Götter glaubt und glücklich ist? Ich schlich mich neulich ins Tal hinab und war dabei, als ihm die letzten Arbeiter davonliefen, weil sie lieber zu Hause liegen, als den Damm bauen wollten. Onethor ist ein alter, kraftloser Mann geworden, und wißt ihr warum?« »Nein«, antwortete Flannagan verblüfft. »Das Glück bekommt ihm nicht! Mikkun Onethor ist auf dem Grund seiner Seele ein herrschsüchtiger, raffgieriger, intrigierender Tyrann. Das ist das Muster seines Charakters, das ihm bei seiner Geburt aufgeprägt wurde. Jetzt aber muß er glücklich sein. Er darf nicht
Der Einflug der Miniaturwerkzeuge war nicht bemerkt worden. Der Mann mit dem Drahtgeflecht war zu sehr mit seinem Genossen beschäftigt, der bewußtlos zu sein schien, als daß er auf etwas anderes hätte achten können. Flannagan begriff sofort. Der Mann auf dem Lager war Fanthar. Er schien bei dem Angriff auf die Glücksbringer verwundet worden zu sein. Der mit dem Drahtgeflecht war Liggan, und das Geflecht versah dieselbe Funktion wie die Hülle des Wracks. Es machte die glücksbringende Strahlung für seinen Träger unwirksam. »Liggan! Wir haben mit dir zu reden!« rief Flannagan Schätzo. * Der drahtgeflechtbewehrte Kopf fuhr herum. Liggans Augen weiteten sich in ungläubigem Staunen, als er die beiden Siganesen erblickte. In seiner Miene spiegelten sich Trauer, Zorn und Verzweiflung. »Ihr?« fragte er mit matter Stimme. »Ja, wir«, bekräftigte Flannagan. »Wir kommen, um einen Narren vor sich selbst zu retten, bevor er nicht wiedergutzumachenden Schaden anrichtet.« »Du sprichst von mir«, sagte Liggan tonlos. Es war keine Frage, es war eine Feststellung. Draußen rollte der Donner über die Wüste, und der Regen trommelte klatschend auf das Zelt. »Ich spreche von dir«, bestätigte der Siganese. »Du wolltest die Glücksbringer zerstören?« »Glücksbringer?« höhnte Liggan. »Unglücksbringer sollte man sie nennen, Seelenräuber, Menschenverdummer!« »Du kannst sie nicht zerstören«, hielt Flannagan ihm vor. »Wenigstens nicht, ohne selbst dabei zu sterben. Sie halten ihre Aufgabe, den Menschen Glück zu bringen, für so wichtig, daß sie jeden, der sie an der Wahrnehmung ihrer Pflichten zu hindern sucht, erbarmungslos aus dem Wege räumen.« »Du sprichst von den Dingern, als ob sie Leben hätten«, knirschte Liggan zornig. »Dabei sind es nur Maschinen ...« »Maschinen mit einem Bewußtsein«, verbesserte ihn Flannagan. »Sie können Gefühle 40
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman ernst. »Dieser Mann hat recht. Glück ist nicht jedermanns Sache. Die Vorfahren dieser Menschen sind vor achthundert Jahren auf dieser Welt gelandet. Sie entstammten einer weit fortgeschrittenen technischen Zivilisation. Im Laufe der ersten Generationen ist ihnen die Kenntnis der Technik jedoch verlorengegangen. Sie sanken in die Primitivität zurück, und es war vorauszusehen, daß Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende vergehen würden, bis sie dem Niveau der Zivilisation, der ihre Vorfahren entstammten, auch nur einigermaßen nahekommen würden. Was wir zu tun versuchten, hieß, diese Entwicklung zu unterbrechen. Wir beraubten die Leute der Initiative. Anstatt weiter vorwärtszustreben, wären sie mit der Zeit in noch bedauernswertere Barbarei verfallen. Das darf nicht sein. Wir haben einen Fehler gemacht. Es liegt in unserer Macht, ihn auszumerzen.« Er schloß für einige Sekunden die Augen. »Die Glücksbringer haben in diesem Augenblick aufgehört zu strahlen.« Flannagan Schätzo seufzte resigniert. »Damit trifft dich«, sprach er, zu Liggan gewandt, »zusätzliche Verantwortung. In diesem Tal wird nun Verwirrung entstehen. Die Leute werden nicht wissen, wie sie sich verhalten sollen. Alte Feindseligkeiten werden wieder aufflammen. Du bist derjenige, der von allen am deutlichsten weiß, was auf die zwei Völker des Tales zukommt. Ich nehme an, daß du dich deiner Verantwortung gewissenhaft und im Interesse nicht nur der Feniker, sondern auch der Mandunnen entledigen wirst.« Liggan zog sich das Drahtgestell vom Kopf. Ein paar Augenblicke schien er durch die Zeltwand ins Tal hinauszuhorchen. Dann, als er bemerkte, daß der euphorische Einfluß der Glücksbringer tatsächlich verschwunden war, breitete sich ein befriedigtes Lächeln über sein Gesicht. »Du brauchst dich nicht zu sorgen, Fremder«, antwortete er. »So wie damals, als wir noch im Krieg miteinander lagen, werde ich dafür sorgen, daß die Verhältnisse in diesem Tal gerecht und zur dauernden Zufriedenheit aller gelöst werden. Ich beabsichtige nicht ...« Er wurde unterbrochen. Ein merkwürdiges Zittern lief plötzlich durch den Boden. Weni-
mehr herrschen, raffen und intrigieren. Die Maschinen haben ihn davon überzeugt, daß seine frühere Handlungsweise falsch und schlecht war. Er glaubt daran, und er glaubt, sich glücklich zu fühlen. Aber unter der äußeren Schale des Glücks verkümmert seine Seele, die nicht für das ewige Glücklichsein gemacht ist. In wenigen Wochen wird Mikkun Onethor ein toter Mann sein, gestorben an der Glückseligkeit, ein Mann, dem das Glück weiter nichts als Unglück gebracht hat.« Er schwieg. Und auch die beiden Siganesen fanden keine Worte. Eine warnende Stimme im Hintergrund seines Bewußtseins sagte Flannagan Schätzo, daß der Feniker recht hatte. Gab es das wirklich? Eine Seele, die unter dem Einfluß des Glücks verkümmerte? Mikkun Onethor schien der lebende Beweis dafür zu sein. »Und wenn sechstausend Leute ihr Leben opfern müssen«, fuhr Liggan schließlich fort, »was macht es? Wenn dafür nur die, die übrigbleiben, wieder ein Leben führen können, das eines Menschen würdig ist. Ich selbst werde unter denen sein, die die Maschinen zerstören. Ich werde Tausende von Drahtnetzen fertigen und sie den Unglückseligen meines Volkes über den Kopf stülpen, daß sie die Glückseligkeit vergessen und die Angst nicht empfinden, die jeden bei der Annäherung an die Glücksbringer überfällt. Ich werde Waffen an sie verteilen, und dann werden wir die Plage ausrotten!« Er sprach mit Entschlossenheit – nicht wie ein Phantast, ein Eiferer, sondern mit der Kraft des Mannes, der seine Verantwortung erkannt hat und bereit ist, nach ihr zu handeln. Es war plötzlich merkwürdig still geworden. Der Regen hatte aufgehört, das Gewitter war verzogen. Es war feucht und schwül im Innern des Zeltes. Da sagte Saggelor Oggian: »Du wirst dieses Opfer nicht bringen müssen, Fürst! Die Glücksbringer werden aufhören, die Impulse des Glücks zu verstrahlen.« 9. Flannagan Schätzo fuhr auf. »Du kannst nicht ...«, protestierte er; aber Saggelor fiel ihm ins Wort. »Doch, ich kann. Und ich muß«, sagte er 41
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman bemächtigt. Kopflos rannten sie hin und her und wußten nicht, an welcher Stelle sie zuerst zupacken sollten. Das Gefühl der Glückseligkeit war ihnen abhanden gekommen – erstens infolge der Katastrophe und zweitens, weil die Glücksbringer zu strahlen aufgehört hatten. Die Rettungsarbeiten bedurften dringend der Organisation, sonst würden noch weitaus mehr Menschen, als ohnehin schon den Tod gefunden hatten, in den Trümmern ums Leben kommen. Die beiden Siganesen dirigierten ihre Miniaturfahrzeuge in Richtung der königlichen Burg. Die Tore standen offen. Die Wächter waren abgezogen. Aus den Fenstern drang trübes, gelbes Licht. Laute Stimmen schallten durch die offene Tür. Die beiden Schiffchen landeten am oberen Rand der breiten Freitreppe, die zum Portal hinaufführte. Flannagan und Saggelor stiegen aus und gelangten unbemerkt in den großen Rittersaal, in dem Lemalek die Großen des Landes um sich versammelt hatte, um mit ihnen über die Katastrophe zu beraten. Etwa zwanzig Männer waren in der Halle versammelt, und weitaus die meisten gehörten zu derselben Gruppe, die vor knapp zwei Monaten im Nordtal vergebens versucht hatte, aus ihrer Reihe einen Kandidaten für das Amt des Herrschers zu bestimmen. Jetzt allerdings schien sich die Stimmung gewandelt zu haben. Als Flannagan und Saggelor unbemerkt den Saal betraten, hatte Ragnok-Thessor-Sanguun-Lemalek das Wort. »... und darum sage ich euch, daß sich gegenüber der Situation vor dem letzten Krieg nichts geändert hat!« dröhnte seine mächtige Stimme durch den Raum. »Ich bin der rechtmäßige Herrscher des Volkes der Mandunnen, und ich werde es auch bleiben. Niemand hat mich abgesetzt. Niemand ...« »Oho!« brüllte aus seiner Ecke Xandor, der streitbare Ritter. »Hört euch das an! Du selber hast dich abgesetzt. Erinnerst du dich noch deiner Worte? Ich bin ein hohler, tönerner Koloß, eurer nicht würdig, feige, eitel, selbstgefällig? Was du damals sagtest, war richtig, Lemalek, und es ist auch heute noch richtig!« »Und doch habt ihr mir damals die Königswürde für das vereinigte Volk der Mandunnen und Feniker angetragen!« konterte der
ge Sekunden später drang aus dem Westen ein dumpfes, donnerndes Grollen durch die Zeltwände. Die drei Männer sahen einander fragend an, der Feniker und die beiden Zwerge. »Der Damm!« schrie Flannagan plötzlich. »Der Damm ist geborsten, und das aufgestaute Wasser überflutet das Südtal!« * Sie kamen zu spät, und was sie sahen, übertraf ihre schlimmsten Befürchtungen. In den ersten Stunden der Nacht mußte über dem westlichen Talkessel und den Westbergen ein entsetzlicher Wolkenbruch niedergegangen sein. Über den Bergen hatte es wahrscheinlich schon seit einigen Tagen geregnet. Die trockenen Flußbetten hatten sich gefüllt, und hinter dem halbfertigen Damm hatte das Wasser sich zu stauen begonnen. Die Ereignisse der Nacht hatten den primitiven Stausee in kürzester Zeit zum Überlaufen gebracht. Der Damm war einfach weggespült worden. In einer haushohen Woge ergossen sich die ungestümen Fluten durch die nördlichen Regionen des Südtals. Ihr erstes Opfer war die Stadt Erekbar geworden, die Hauptstadt der Mandunnen. Es war gegen Mitternacht, als Flannagan Schätzo und Saggelor Oggian in der vom Unglück betroffenen Stadt eintrafen. Die Flut hatte sich verlaufen, aber auf dem Boden standen zahllose Pfützen, die meisten so tief, daß sie den beiden Siganesen wie riesige Seen vorkamen. Das Gewölk, das noch bis vor kurzem den Himmel bedeckt hatte, hatte sich verzogen. Die Sternenpracht der inneren Milchstraße erzeugte ein gewisses Maß an Heiligkeit, das es erlaubte, den Umfang der Verwüstung zu erkennen. Von den Gebäuden der Stadt waren nur noch wenige vorhanden. Nur die Häuser, die in höheren Lagen der beiden Talhänge lagen, und Ragnok-Thessor-Sanguun-Lemaleks steinerne Burg hatten die Flut einigermaßen heil überstanden. Auf den Straßen und in den Pfützen lagen die Leiber der Toten, und aus den Trümmern gellte das Hilfegeschrei der Verletzten, die nicht mehr genug Kraft hatten, ins Freie zu gelangen. Verwirrung hatte sich der Bürger der Stadt 42
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman zu mischen. Aber ich habe euch einen Rat zu geben. Wenn ihr ihn hören wollt, dann laßt es mich wissen.« Es dauerte eine Weile, bis sie sich von ihrer Überraschung erholten. Allmählich wurden einzelne Stimmen laut: »Laßt ihn reden! Hört den Zwerg! Er ist weise ...« Nur Xandor grollte: »Was für einen Rat kann ein lächerlicher Zwerg uns geben?« Aber er wurde überstimmt. »In dieser Zeit der Not«, rief Flannagan Schätzo, »bedürft ihr der Hilfe der Götter. Nur in ihrer Macht steht es, die Wunden zu heilen, die die Katastrophe euch geschlagen hat. Warum überseht ihr das Nächstliegende? Warum bestimmt ihr nicht als euren Herrscher einen Mann, der mit den Göttern in direkter Verbindung steht. Er sitzt hier mitten unter euch. Ein Wunder muß ihn gerettet haben, denn als ich ihn zum letztenmal sah, wohnte er noch draußen in den Hütten in der Nähe des Dammes. Trotz seiner übergroßen Weisheit hat er sich bisher noch nicht in diese Unterhaltung gemischt, und trotzdem ist er alleine derjenige, dem die höchste Ehre zusteht!« Weiter sprach er nicht. Er überließ es den Mandunnen, den Faden weiterzuspinnen. Er hatte sich nicht in ihnen getäuscht. Sie nahmen das Stichwort auf. »Onethor!« gellte es durch die Halle. »Mikkun Onethor, der Mann des Götterpaares. Er soll unser König sein!« Der Priester erhob sich und bat mit wedelnden Armen um Ruhe. Seitdem Flannagan ihn zum letztenmal gesehen hatte, hatte er sich merkwürdig verändert. Es war wieder Feuer in seinen Augen. Die Wangen hatten sich gerötet, und die von einem Haarkranz umrahmte Glatze hatte neuen Glanz angenommen. Mikkun Onethor war auf dem besten Wege, wieder der alte Fuchs zu werden, als den ihn die Welt bis vor zwei Monaten gekannt hatte. Er sprach zögernd. Er sagte, er wisse nicht, ob seine Schultern stark genug seien, um die Bürde dieses hohen Amtes zu tragen. Aber er sprach ohne Überzeugung, und wer ihm zuhörte, dem mußte es klar werden, daß hier ein Mann stand, der sich zierte, weil es zum guten
Herrscher triumphierend. »Ja, bevor du deine Selbsteinschätzung zum Besten gabst!« schrie Xandor. »Danach wußten wir, daß dir auch noch der letzte Mumm aus den Knochen gewichen war. Du bist zum Herrschen nicht geeignet, Mann! Wir brauchen einen, der das Volk zu führen und zu Taten zu begeistern versteht. Denn es wird nicht lange dauern, da stehen die verfluchten Feniker wieder vor den Toren. Jetzt, wo wir durch die Katastrophe geschwächt sind, werden sie es für ein leichtes halten, uns zu bezwingen!« Begeistertes Geschrei unterbrach ihn. Er hatte das magische Wort ausgesprochen, das Wort vom verfluchten Feind. Von einer Sekunde zur andern erwachten die Leidenschaften von neuem. Es war, als ströme den Männern im Saal eine neue Kraft zu. Sie hatten die Feindschaft gegen die Feniker solange vergessen, daß es Xandors Erwähnung bedurfte, um sie ihnen ins Bewußtsein zurückzurufen. »Xandor soll unser König sein!« schrie einer, und die Menge fiel begeistert ein. Unter dem langen Tisch, um den die Beratenden saßen, stieß Flannagan den Jungen an und sagte: »Es wird Zeit, daß ich mich da einmische, sonst läuft die Sache schief!« Im nächsten Augenblick hatte er das roh geschnitzte Bein eines Stuhles gepackt und klomm daran in die Höhe. Der Lärm hatte sich noch nicht beruhigt; da erreichte Flannagan mit kühnem Sprung von der Kante einer Stuhllehne aus die Tischplatte. Das war unsicheres Terrain, denn es trommelten so viele Fäuste auf das Holz, daß der Boden unter Flannagans Füßen wie unter einem mächtigen Erdbeben zitterte. Man gewahrte ihn. Einer nach dem andern hörte auf zu schreien und starrte verwundert auf den seltsamen Zwerg, der aus dem Nichts aufgetaucht zu sein schien. Es wurde still in der weiten Halle, so still, daß Flannagan Schätzo sich ohne Mühe verständlich machen konnte. »Vor zwei Monaten habt ihr mich als euren Freund bezeichnet«, rief er, so laut er konnte. »Ich hoffe, ihr tut das auch heute noch. Ich habe nicht vor, mich in eure Angelegenheiten 43
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman daß dieser Welt nichts Besseres hätte widerfahren können.« »Eben drum!« versetzte Flannagan mit Nachdruck. »Wie ich Liggan kenne, bereitet er sich in diesem Augenblick vor, die Mandunnen von neuem mit Krieg zu überziehen. Wenn man ihm Zeit läßt, wird er gewinnen. Seine Leute sind ebenso benommen wie die Mandunnen. Man muß ihnen nach und nach einbleuen, daß die Zeit der endlosen Glückseligkeit vorbei ist, daß Mandunnen und Feniker wieder Feinde sind. Sobald ihm das gelungen ist, schlägt er zu. Kann er seine Vorbereitungen ungestört treffen, dann ist sein Sieg gewiß. Wird er jedoch gestört, und Xandor ist eben der Mann dazu, ihn nachhaltig zu stören, dann wird die Sache unsicher. Deswegen also brauchen wir Mikkun Onethor als König der Mandunnen: damit er aufgrund seiner Habgier Liggan ein paar Tage lang in Ruhe läßt!« Sie kehrten in die Stadt zurück. Die Nachricht von der Wahl eines neuen Königs verbreitete sich mit Windeseile und trug dazu bei, die Verwirrung zu zerstreuen, die auf den Bürgern der gepeinigten Stadt gelastet hatte. Von jetzt an wußten sie wieder, von wem sie Anweisungen und Befehle zu erwarten hatten. Es gab jemand, der sich für sie den Kopf zerbrach. Und eines mußte man Mikkun Onethor lassen Er handelte schnell. An den wichtigsten Punkten der zerstörten Stadt wurden riesige Fackeln aufgestellt, die das Dunkel der Nacht durchdrangen und die Rettungsarbeiten erleichterten. Bald darauf rückten Bergungstrupps an, die der neue König und seine Berater in aller Eile organisiert und damit beauftragt hatten, der geplagten Stadt über die ersten Stunden ihrer Not hinwegzuhelfen. Es sah so aus, als sei alles wieder im Lot.
Ton gehörte, sich zu zieren. Die Reaktion war dementsprechend. Der Jubel brach von neuem aus, und diesmal stimmte sogar Xandor ein. Damit war der Bann gebrochen. Von irgendwoher kam ein Schild zum Vorschein. Mikkun Onethor wurde auf den Schild gehoben und im Triumphzug ein paarmal rings um die Halle getragen. Die Mandunnen hatten einen neuen Herrscher. Ragnok-Thessor-Sanguun-Lemalek verzog sich stillschweigend, ohne daß ihm jemand Beachtung geschenkt hätte. Auch Flannagan Schätzo machte sich unbemerkt von dannen. Sein Werk war getan. Den Rest mußte er Liggan überlassen. * »Ich weiß nicht, was du dir von der Sache versprichst«, sagte Saggelor Oggian verwundert, als sie sich aus dem Saal schlichen, um zu ihren Schiffchen zu gelangen. »Warum ist Onethor ein besserer König als Xandor?« »Nun, überleg mal«, riet Flannagan mit spöttischem Lächeln. »Was hätte Xandor als erstes getan?« »Wahrscheinlich aufgerüstet. Die Leute auf den nächsten Krieg gegen die Feniker vorbereitet.« »Richtig. Und welches ist Onethors wichtigstes Anliegen?« »Das weiß ich nicht. Ich kenne den Mann nicht gut genug.« »Dann will ich es dir sagen. Onethors erstes Anliegen wird sein, sich zu bereichern. Ländereien an sich zu reißen. In seinen privaten Säckel zu wirtschaften. Er wird so begeistert sein von den Möglichkeiten, die sich ihm als König auftun, daß er vor lauter Raffgier nicht dazu kommt, an die Feniker zu denken.« »Und was ist daran so vorteilhaft?« fragte Saggelor naiv. »Erinnerst du dich an die Lage, kurz bevor du die Glücksbringer aktiviertest?« »Ja, natürlich ...« »Liggan hatte die Oberhand. Er hatte die Mandunnen im Sack. Wenn die Glücksbringer nicht eingegriffen hätten, gäbe es jetzt ein vereinigtes Königreich der Mandunnen und Feniker mit Liggan als König.« »Richtig. Jetzt, im Nachhinein, wissen wir,
* Der Tag graute noch nicht, da stürmte Mikkun Onethor mit neugewonnenem Elan die Stufen empor, die zum Kontor des königlichen Schreibers führten. Quirian hatte seine Wohnung unmittelbar neben seinem Arbeitsraum, ein kleines, finsteres Loch, in dem der verknöcherte Schreiber seine einsamen Nächte verbrachte. Der Priester pochte mit kräftiger Hand an 44
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman Quirian sah überrascht auf. »Fünfzig?« protestiert er. »Ich dachte, es waren zwanzig!« »Waren es«, nickte Mikkun Onethor grimmig. »Aber Unbotmäßigkeit und Respektlosigkeit müssen bestraft werden.«
die Tür. Quirian war ein hellhöriger Schläfer. Er wachte sofort auf. »Wer ist da?« rief er mürrisch. »Ich bin's, der Priester!« antwortete Onethor, seiner neuen Würde noch nicht gewohnt. »Scher dich zum Teufel!« knurrte der Alte. »Ich habe alles gelöscht, was es zu löschen gibt, und will nichts mehr mit dir zu tun haben.« »Jetzt wird nichts mehr gelöscht!« grollte Mikkun Onethor. »Jetzt wird wieder geschrieben, wie in den guten alten Zeiten!« »Du bist verrückt!« quäkte es hinter der Tür. »Schreiben, löschen, schreiben, löschen! Du glaubst wohl, ich hätte meine Zeit gestohlen?« »Steh auf und öffne die Tür!« schrie Onethor wütend. »Oder, bei allen schwarzen Geistern, du steckst ab morgen früh im Kerker, und ich bestelle einen neuen königlichen Schreiber!« »Niemand bestellt mehr königliche Schreiber«, zeterte Quirian. »Es gibt keinen König mehr.« »Doch, es gibt einen König!« brüllte Mikkun Onethor, außer sich vor Wut. »Er steht vor deiner Tür!« Drinnen war es einen Augenblick still. Dann knarrte Holz, ein Feuerstein wurde geschlagen, und schließlich näherten sich schlurfende Schritte der Tür. Sie öffnete sich einen Spaltbreit. Quirian, in ein langes, wallendes Hemd gekleidet und ein Talglicht in der Hand haltend, kam teilweise zum Vorschein. »Du, der neue Herrscher?« fragte er ungläubig. »Ich bin es!« bestätigte Mikkun Onethor mit Nachdruck. »Und wenn du nicht sofort ...« »Ich bin dir zu Diensten«, versicherte Quirian unterwürfig. »Verlange von mir, was du willst, und ich werde es tun.« »Also, schreib!« knurrte Onethor, schon halb besänftigt. »Was soll ich schreiben?« »Alles, was du vor zwei Monaten gelöscht hast – und noch ein wenig mehr dazu. Und für alle fünfzig Joch, die du auf meinen Namen schreibst, schreibst du ein Joch auf deinen.«
10. Das nächste Projekt, das Mikkun Onethor in Angriff nahm, war der Dammbau. Nachdem die Regenzeit gleich am ersten Tag ihre Wut an dem Apsarakus-Tal ausgelassen hatte, benahm sie sich von da an recht manierlich. Es regnete und gewitterte regelmäßig den halben Nachmittag. Aber es kam nicht mehr zu katastrophalen Wolkenbrüchen, so daß der Wiederinangriffnahme des Dammprojektes nichts im Wege stand. Die Stadt Erekvar war inzwischen aufgeräumt worden. Das Unwetter der ersten Regennacht hatte insgesamt 180 Todesopfer gefordert. Weitere einhundert Menschen lagen weiterhin auf den Tod darnieder, und man wußte nicht, ob sie mit dem Leben davonkommen würden. Onethors Arbeitstrupps beseitigten die Trümmer der zerstörten Häuser, und dann gingen die Mandunnen tatkräftig daran, sich neue Unterkünfte zu bauen. Mikkun Onethor erwies sich als ein energischer Herrscher, der es verstand, seine Wünsche tatkräftig und ohne nennenswerten Zeitverlust in die Wirklichkeit umzusetzen. Eine Woche nach der Katastrophe war der Damm am Südende des Talkessels wieder in den Zustand zurückversetzt, den er vor dem Unglück gehabt hatte, und es war vorauszusehen, daß er binnen weiterer zwei Wochen vollends fertiggestellt sein würde. Die Dammkrone sollte bis zu einer Höhe von dreißig Metern geführt werden – eine Maßnahme, die dazu führen würde, daß das gesamte Zentrum des Talkessels bis hinauf zum Ausgang des Nordtals bald unter Wasser stehen sollte. Während die Ritter des Mandunnenlands die Tatkraft ihres neuen Königs zu schätzen wußten, wurden doch allmählich Stimmen laut, die von dem Herrscher Aktionen gegen die Feniker forderten, die sich im Anschluß an den letzten Krieg, aus dem Nordtal kommend, im Talkessel angesiedelt hatten und 45
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman unseren Burgen sitzen und zusehen, wie die Feniker sich an unserem Land mästen? Wie sie ihr Vieh auf unsere Weiden treiben und sich in dem Talkessel, der uns gehört, immer heimischer machen? Wie lange noch wird dieser unser neuer Herrscher sich weigern, an der Spitze unserer Truppen ins Feld zu ziehen? Und wie lange wird man ihm noch glauben, daß diese Weigerung aus politischer Vorsicht und nicht ganz einfach aus Feigheit erfolgt?« Beifall brandete auf; aber bevor er die volle Lautstärke erreichen konnte, erhob sich Mikkun Onethor und gebot mit herrischer Geste Schweigen. »Nachdem wir alle uns das Quaken des Frosches Xandor lange genug angehört haben«, begann er mit kräftiger Stimme, »wollen wir ihn fragen, wie er sich diesen Kriegszug vorstellt. Ziehen wir einfach los und versuchen, die Feniker irgendwo in der Weite des Talkessels zu finden und zu stellen? Vertrauen wir uns einfach aufs Geratewohl den Geistern des Glücks an und verlassen uns darauf, daß sie uns nicht irreführen werden? Soviel Mangel an Umsicht könnte man einem Mann verzeihen, der nichts weiter gelernt hat, als großmäulig daherzureden, aber nicht einem Herrscher, der sich für das Wohl seines Volkes verantwortlich fühlt. Ich habe euch zusammengerufen, ihr Ritter des mandunnischen Volkes, um euch meinen Kriegsplan vorzulegen. Ihr werdet finden, daß er wohldurchdacht und ausgewogen ist und alle Aussicht auf Erfolg hat – zumal wir vor Beginn unseres Kriegszugs die Götter anzurufen und um ihren Segen zu bitten gedenken.« Damit hatte er Xandor sämtlichen Wind aus den Segeln genommen. Die Ritter waren begierig, den Plan des Königs zu erfahren, und als er ihnen mitgeteilt wurde, da hielten sie ihn für das Beste, was sie an Kriegsplanung jemals erlebt hatten. Der Plan sah vor, das gesamte mandunnische Heer in drei ungleiche Gruppen zu spalten und mit ihnen den Gegner von verschiedenen Seiten zu fassen. Die erste und kleinste Gruppe sollte am Tag des Kriegsbeginns verschiedene rasche Aktionen im Westen des Talkessels ausführen und die Aufmerksamkeit des Gegners dadurch auf diese Gegend len-
keine Anstalten machten, dieses Gebiet wieder zu verlassen. Mikkun Onethor konnte die Vorwürfe gegen seine Untätigkeit auf militärischem Gebiet eine Zeitlang mit dem Argument abwehren, daß in Kürze der steigende Spiegel des Stausees die Feniker ohnehin zum Rückzug zwingen würde. Aber schließlich gab es eine stetig wachsende Anzahl von Rittern, denen ein so langsames und unkriegerisches Vorgehen würdelos vorkam und die von ihrem König durchgreifende und vor allen Dingen schnelle Maßnahmen verlangten. Die lauteste Stimme unter den Unzufriedenen gehörte dem Ritter Xandor, dem es zu spät aufgegangen war, daß er den Kampf um die Königswürde viel zu bereitwillig aufgegeben hatte – daß er jetzt anstelle des ehemaligen Priesters Herrscher sein und all seine militärischen Pläne verwirklichen könne, die Mikkun Onethor so wenig zu bedeuten schienen. Über den Kopf des Königs hinweg rief er eine Ratsversammlung des Adels ein. Mikkun Onethor, der Politiker, sah die Gefahr, die auf ihn zukam, und stellte sich so, als habe er eine derartige Versammlung ohnehin geplant, und lud die Ritter zu sich ins Schloß. Drei Wochen nach der Katastrophe, unmittelbar vor der Fertigstellung des Dammes, kamen sie im großen Rittersaal wieder zusammen, dieselben zwanzig Männer, die vor drei Wochen voller Begeisterung Mikkun Onethor als ihren König ausgerufen hatte – mit Ausnahme freilich von Ragnok-Thessor-Sanguun-Lemalek, von dem niemand wußte, wo er geblieben war. Xandor, der Haudegen, errechnete sich von dieser Zusammenkunft große Chancen. Falls der König sich weigerte, gegen die Feniker zu Felde zu ziehen, würde er ihm Feigheit vorwerfen und ihn zur Abdankung zwingen. Aber Mikkun Onethor, der alte Fuchs, hatte längst gewittert, woher der Wind wehte, und seine Pläne dementsprechend vorbereitet. * »Jeder Tag, den wir länger untätig warten«, schrie Xandor, »stärkt den Gegner und gibt ihm zusätzliche Kraft. Ich frage euch, ihr Ritter: Wie lange wollen wir noch untätig auf 46
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman einem kurzen Eilmarsch erreichen konnte. Kurz nach Mitternacht brach die erste Gruppe auf und wandte sich nordwestwärts in den Talkessel hinein. Dort befanden sich zahlreiche fenikische Ansiedlungen, die das Ziel dieser Gruppe waren. Bei Morgengrauen setzte sich schließlich auch die zweite Gruppe in Bewegung, dreieinhalbtausend Reiter, der Stolz des mandunnischen Heeres, an ihrer Spitze Mikkun Onethor, dem es Mühe machte, sich in die Rolle des obersten Kriegers zu finden. Wie der Wirbelwind ging es durch das taufrische Gras. Im Norden wurde, als die Sonne aufging, der riesige Felsen sichtbar, auf dem die schimmernde Hülle des Heiligtums ruhte. Von den Fenikern zeigte sich keine Spur. Unbehelligt zogen die Mandunnen durch das Tal. Noch vor Mittag, schätzte Mikkun Onethor, würden sie den Felsen erreichen. Eine kleine Unterlassungssünde bereitete ihm inzwischen einiges Unbehagen: Er hätte gerne gewußt, wie es mit den Aktionen der ersten und der dritten Heeresgruppe bestellt war. Aber da er keinen Befehl gegeben hatte, ihn durch Boten mit Informationen zu versehen, empfing er auch keine Nachrichten. Er mußte sich einfach darauf verlassen, daß alles nach Plan gegangen war. Seine Abschätzung erwies sich als richtig. Eine halbe Stunde vor Mittag erreichte die dreieinhalbtausend Reiter starke Truppe den Felsen des Heiligtums. Die Männer stiegen ab und ließen ihre Zonggors am Fuß des Felsens zurück – ein Umstand mehr, der den Feind glauben machen sollte, daß hier mit Leichtigkeit reiche Beute zu machen sei. Die Krieger machten sich eilig an den Aufstieg. Eine Stunde nach Mittag waren sie in der Nähe eines der beiden Explosionslöcher versammelt. Mikkun Onethor sprach einige letzte Ermahnungen, dann drangen sie durch das Loch hindurch in das Heiligtum ein. Sie hatten Fackeln mitgebracht und entzündeten sie, um den Weg zu erleuchten. Mikkun Onethor führte seine Leute geradewegs zu der Kammer, in der er die tödlichen Waffen gefunden hatte. Als er an die Stelle kam, an der sich die Unebenheit im Boden befand, leuchtete, wie beim vergangenen Mal, das Licht auf, und eine Stimme schnarrte:
ken. Inzwischen hatte die zweite Gruppe, die zumeist aus Reitern bestand, sich in Richtung auf das Heiligtum in Bewegung gesetzt, das sie unbehelligt erreichen würde, da der Feind ja durch die Tätigkeit der ersten Gruppe abgelenkt war. Die zweite Gruppe würde nach Onethors Plan das Heiligtum besetzen und dort Geheimnisse vorfinden, die den Sieg über die Feniker zur Gewißheit machen würden. Welche Geheimnisse das seien, darüber ließ Mikkun Onethor sich allerdings nicht aus. Lange vor Aufbruch der ersten und zweiten Gruppe hatte jedoch die dritte, hauptsächlich aus Fußvolk bestehend, den langen Marsch durch die östliche Wüste angetreten. Es war damit zu rechnen, daß der Feind, sobald er von der Besetzung des Heiligtums erfuhr, dieses umringen und einschließen werde, um die Eindringlinge in seine Hand zu bringen. Da jedoch erschien von den Ostbergen her die dritte Heeresgruppe und umschloß nun ihrerseits die Belagerer, die sich damit zwischen zwei Fronten befanden. Mit Hilfe der »Geheimnisse«, die er im Innern des Heiligtums zu finden hoffte, würde Mikkun Onethor den Gegner schnell davon überzeugen, daß ihm nur noch die Wahl zwischen der Vernichtung und der bedingungslosen Kapitulation blieb. Jubel erfüllte die Halle, nachdem Mikkun Onethor seinen Plan dargelegt hatte. Selbst Xandor mußte zugeben, daß es sich um ein Stück brillanter Strategie handelte. Es fiel niemand auf, daß Onethor, der Nichtkrieger, in seinen Vorbereitungen einen wichtigen Punkt völlig übersehen hatte. Es gab keinen einzigen Späher, der das Land der Feniker durchstreifte. Man hatte keine Ahnung, ob der Krieg den Feind unvorbereitet oder im Zustand der Wachsamkeit treffen würde. Man war von der eigenen Kraft so überzeugt, daß man diesem Umstand keine Bedeutung zumaß. * Der Krieg begann planmäßig. Die dritte Heeresgruppe war schon seit anderthalb Tagen unterwegs und mußte inzwischen den Punkt in den Ostbergen erreicht haben, von dem aus sie mühelos absteigen und den Felsen, auf dem sich das Heiligtum erhob, in 47
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman die Interkom-Anlage des Raumschiffwracks soweit wieder herzurichten, daß er sich ihrer bedienen konnte. Sie gaben auch hier oder dort in weniger wichtigen Dingen Rat; aber im großen und ganzen erwies sich Liggan, der Fenikerfürst, als ein Mann, der die Schwierigkeiten seiner Lage aus eigener Kraft zu meistern verstand. Schließlich kam der Tag des Krieges. Liggan, inzwischen wieder von allen als Beherrscher der Feniker anerkannt, hatte seine Leute, die in der westlichen Hälfte des Talkessels wohnten, geraten, ihre Heimstätten zu verlassen und sich in Richtung auf den Fluß zurückzuziehen. Infolgedessen verpuffte der Vorstoß der ersten mandunnischen Heeresgruppe im Leeren. Die Leute zündeten zwar ein paar Hütten an, aber fenikische Streitkräfte gelang es ihnen nicht zu finden. Inzwischen hatte eine starke fenikische Streitmacht die Ostberge besetzt und die dritte mandunnische Heeresgruppe in Empfang genommen, sobald sie sich anschickte, Lager zu beziehen. Es hatte eine gigantische Prügelei gegeben, und die Feniker waren Sieger geblieben. Was die zweite Gruppe unter Mikkun Onethors Führung anging, so ließ man sie getrost in das Wrack eindringen. Die Waffen waren beseitigt worden. Onethor, der Fuchs, würde im Innern des Heiligtums nichts finden, was seinen kriegerischen Ambitionen nützte. Viertausend fenikische Krieger umzingelten den Felsen, auf dem das Heiligtum stand, und als die durch Liggans Ansprache demoralisierten Mandunnen aus dem Wrack gekrochen kamen, da waren sie nur zu bereit zu glauben, daß ihre Sache verloren sei. Sieger und Besiegte fanden sich sodann zu einer Ratsversammlung am Fuße des Felsens zusammen. Fanthar, inzwischen von seinen Verletzungen genesen, legte der Versammlung Liggans Plan vor: Von jetzt an würde ein König über beide Völker regieren. Unmittelbar unter ihm befanden sich zwei Statthalter oder Vizekönige, von denen einer für die Mandunnen, der andere für die Feniker verantwortlich war. Im Talkessel, am Rand des Stausees, der die Regulierung des Flusses Apsarakus besorgen würde, sollte eine neue Stadt und eine Burg gebaut werden, die Resi-
»Unbefugter Zutritt zur Waffenkammer!« Und das infernalische Geheule und Gepfeife hub an, daß sich die Männer unwillkürlich duckten und ihre Gesichter bleich wurden. Als das Geheule verstummte, lachte Mikkun Onethor die Ängstlichen aus und brachte sie durch beißenden Spott dazu, daß sie sich zusammenrissen und ihre Furcht unterdrückten. Diesmal kam kein Kasten auf spindeldürren Beinen um die nächste Gangecke gewankt. Der, der den Priester damals so in Schrecken versetzt hatte, lag immer noch mitten im Gang und rührte sich nicht mehr. Durch die halboffene Tür betrat Mikkun Onethor die Kammer, in der er die Blitzschleuder, das feurige Schwert der Götter, gefunden hatte. Dicht hinter ihm kam ein Mann, der eine Fackel trug. Onethor blieb voller Entsetzen stehen, so daß der Fackelträger auf ihn prallte. Das blakende, gelbe Licht erhellte die Gestelle. Die Gestelle aber waren leer! Jemand hatte die Kammer ausgeräumt. Der Schreck war so eindringlich, daß Mikkun Onethor die Knie zu schlottern begannen. Er wandte sich um und stammelte: »Wir ... wir sind ... verraten ... keine Waffen ... mehr, die Götter haben ...« Er wurde unterbrochen. Eine mächtige Stimme dröhnte aus der Höhe, eine Stimme, die jedermann kannte: »Ihr seid verloren, Mandunnen! Euer schlauer König hat euch eigenhändig in eine Falle geführt, aus der ihr nicht entrinnen könnt! Fragt ihn nach den Waffen, die er euch übergeben wollte. Sie befinden sich in unserer Hand! Und dann fragt ihn, welche Aussichten ihr noch habt, uns zu besiegen!« Es war Liggan, der sprach, und in den Ohren der Mandunnen klang seine Stimme so, als wäre sie die Stimme der Götter selbst. * Flannagan Schätzo und Saggelor Oggian hatten zwar hier und da ein wenig Hilfestellung geleistet, sich aber sonst der Einmischung in Dinge, die nur die Bewohner des Planeten Feman angingen, enthalten. Als Liggan durch seine Spione von Mikkun Onethors Kriegsplänen erfuhr, hatten sie ihm geholfen, 48
ATLAN 102 (107) – Friede für Feman glänzte der glatte Spiegel des Stausees, der am südlichen Ende bis auf wenige Fuß die Höhe des Dammes erreicht hatte. Auch das Tal war von bunten Farben erfüllt, die das Auge erfreuten. »Solch eine Welt wollen wir suchen«, sagte Flannagan Schätzo zu seinem jungen Gefährten, »nur Menschen dürfen darauf nicht leben!« »Und was tun wir dort, Flannagan?« erkundigte sich Saggelor Oggian. »Wir legen uns in die Sonne und faulenzen. Wir schalten die Glücksbringer an und lassen uns vom Gefühl endlosen Glücks durchrieseln. Was sagst du dazu?« Saggelor lächelte. Es war das Lächeln eines reifen, wissenden Menschen, nicht das eines Kindes. »Ich bin einverstanden, Flannagan. Wir haben dieser Welt den Frieden gebracht ...« »Halt, langsam!« unterbrach ihn Flannagan. »Nicht wir, sondern sie selbst haben sich den Frieden gebracht. Wir haben uns mit unserem Versuch, ihnen das Glück aufzuzwingen, lediglich die Finger verbrannt und damit eine wichtige Lektion gelernt. Für manchen bringt das Glück weiter nichts als Unglück. Und über diese unsinnige Feststellung möchte ich nachdenken – weit weg von hier, auf einer Welt, die so paradiesisch ist wie diese, nur ohne Menschen.« Saggelor hob den Arm und grinste. »Alles einsteigen!« rief er laut. Sie kletterten durch die offenen Luken in ihre Schiffchen. Flannagan Schätzo ringelte sich zusammen und fühlte zum erstenmal seit langer Zeit, wie ihn die Glückseligkeit durchrieselte, die von den psychomechanischen Geräten des winzigen Fahrzeugs ausging. Wenige Augenblicke später setzte sich das Schiffchen in Bewegung. Flannagan Schätzo schloß die Augen und überließ sich ganz und gar dem Glücksgefühl. Die Flotte der Glücksbringer war wieder unterwegs – ins Nirgendwo, zu dem Paradiesplaneten, der irgendwo in den Tiefen der Milchstraße auf zwei heimatlose Siganesen wartete ...
denz des Königs. Für das Amt des obersten Herrschers schlug Fanthar Liggan, den bisherigen Fenikerfürsten, vor. Für die Ämter der beiden Statthalter – und daran erwies sich Liggans politische Klugheit – benannte er Mikkun Onethor für die Mandunnen und ... den Ritter Xandor für die Feniker. Selbst für Ragnok-Thessor-Sanguun-Lemalek, der, wie erst jetzt bekannt wurde, bei den Fenikern Zuflucht gesucht hatte, war ein Posten gefunden worden: Hüter des Heiligtums. Es gab nicht viel Widerstand. Die Vertreter der beiden Völker waren mit Fanthars Vorschlag einverstanden. Im Anschluß an seine Erhebung zum König der vereinten Völker hielt Liggan eine Rede, deren Schlußsätze folgendermaßen lauteten: »Vor uns liegt ein harter, steiniger Weg. Wir werden ihn jedoch nicht alleine gehen müssen. Bei uns ist der Geist unserer Ahnen – der Geist derer, die in der Hülle jenes Sternenfahrzeugs, das wir bisher für ein Heiligtum hielten, von einer fremden und unendlich fernen Welt gekommen sind. In dieser Hülle verborgen liegt das technische Wissen einer Zivilisation, die der unseren unendlich überlegen ist. Wir werden es erkunden und zu nutzen wissen. Die Hülle dort oben auf dem Felsen ist kein Heiligtum in dem Sinne, daß Götter, die keine Namen besitzen und die wir nie zu Gesicht bekamen, darin wohnen. Es ist der Schrein unserer Ahnen, ein Heiligtum des Wissens, aus dem wir Erkenntnis schöpfen können, die uns auf unserem schwierigen Weg weiterhilft.« * Flannagan Schätzo gähnte ausgiebig und blinzelte in die Sonne. Es war ein taufrischer Morgen. Der Himmel war makellos blau. Die ersten Regenwolken würden erst in ein paar Stunden erscheinen. Aber jetzt schon war die Luft von Feuchtigkeit erfüllt, und die Sonne stach – eine Vorahnung kommender Gewitter. Die Wüste hatte sich verändert. Der gelbe Sand verbarg sich unter einem vielfarbigen Blütenteppich. Der Wind trug exotische Düfte mit sich. Es war eine Landschaft, in die man sich verlieben konnte. Unten, aus dem Tal,
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ATLAN 102 (107) – Friede für Feman
Weiter geht es in Band 103 (109) der ATLAN-ebooks mit:
Befehle des Bösen von Ernst Vlcek
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