J. G. Kastner
Der Hai von Frisco
Amerika
Band Nr. 17
Version 1.0
Der Hai von Frisco
Das Jahr des Herrn 1863 is...
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J. G. Kastner
Der Hai von Frisco
Amerika
Band Nr. 17
Version 1.0
Der Hai von Frisco
Das Jahr des Herrn 1863 ist eine düstere, hoffnungslose Zeit in Deutschland. Das einfache Volk ist verarmt. Wer Arbeit hat, schuftet für Groschen. Menschen sterben an Hunger und Epidemien. In dieser Zeit ist »Amerika« ein Wort der Hoffnung und Sehnsucht – ein Land, wo jeder sein Glück machen und zu Wohlstand kommen kann. Ein magisches Wort auch für den jungen Handwerksgesellen Jacob Adler, der zu Unrecht des Mordversuchs beschuldigt wird und aus Deutschland fliehen muss. Doch sein Leben in Amerika wird härter und gefahrvoller sein, als er es sich in seinen ärgsten Träumen vorzustellen vermag. Ein Abenteuer wartet auf Jacob Adler, wie es kaum ein zweiter je erlebt hat…
***
Kanonendonner und Pulverdampf. Dicke Rauchfahnen aus hohen Schornsteinen und im Wind knatternde Segel. Hektisch ausgestoßene Kommandos und panische Schreie. Im Pazifischen Ozean, einige Meilen vor der Westküste des nordamerikanischen Kontinents, war die Hölle ausgebrochen. Mochte das hellgraue Meer auch weithin friedlich unter dem dunklen Wolkenhimmel liegen, auf einem kleinen Flecken Wasser tobte ein Kampf ums Überleben. Das Schicksal hatte die Karten ungleich verteilt. Ein unbewaffnetes Segelschiff floh vor drei Dampfern – bewaffneten Dampfern. Es waren Kriegsschiffe der Vereinigten Staaten von Amerika. Ein großer Raddampfer und zwei zu Schrauben
Fregatten umgebaute Kauffahrer, eine Bark und eine Brigg. Sie hatten den Segler so gut wie umzingelt. Immer wieder spuckten ihre Geschütze Feuer, Rauch und tödliche Geschosse aus. Nur durch waghalsige Manöver gelang es dem Kapitän des Seglers, schwere Schäden zu vermeiden. Das Gaffelsegel am Besanmast war bereits von einer Kartätsche zerfetzt worden. Der Dreimaster war die ALBANY unter Kapitän Piet Hansen. Vorgeblich mit einer großen Ladung Minengeräten und ein paar Glücksrittern, die so schnell wie möglich zu den kalifornischen Goldfeldern wollten, unterwegs nach San Francisco. In Wahrheit ein Blockadebrecher, der die Seeblockade der Nordstaaten durchbrechen wollte, um an der Küste Mexikos zu ankern und Kriegsgut für die Konföderierten Staaten an Land zu bringen, das dann durch Nordmexiko nach Texas gebracht werden sollte. Aber der Plan war aufgeflogen. Das kleine US-Geschwader war nach einer siebentägigen Seereise der ALBANY wie aus heiterem Himmel aufgetaucht und hatte den Segler unter Beschuß genommen, als dieser nicht beidrehte, um ein Prisenkommando an Bord zu nehmen. Daß die ALBANY bei den waghalsigen Manövern nicht kenterte, schien an ein Wunder zu grenzen, war in Wahrheit aber dem erfahrenen Seebären Piet Hansen zu verdanken, der das Steuerrad führte, als sei er selbst ein Teil des hölzernen Schiffskörpers. Die hektischen Haken, die der Kapitän der ALBANY seiner schlanken Bark aufzwang, brachten an Bord alles in Unordnung, was nicht niet- und nagelfest war oder nicht von Jugend an auf schwankenden Schiffsplanken stand. Zwei Menschen klammerten sich an der Steuerbordreling fest, ein Mann und eine Frau. Der hünenhafte Mann mit dem sandfarbenen Haar und dem
goldenen Ring im rechten Ohr war der deutsche Auswanderer Jacob Adler. Die Frau, die durch Hansens Manöver in seine Nähe gerutscht war, hatte ihr Gesicht während der ganzen Schiffsreise unter einem Schleier verborgen gehalten. Der Schleier war so schwarz wie alles an ihr: vom Hut und Haarnetz über das Kleid bis zu den Handschuhen. Vergeblich hatte Jacob darüber nachgegrübelt, woher er die mysteriöse Frau zu kennen glaubte. Bis ihm eben die lange gesuchte Erkenntnis gekommen war. Durch den Sturz waren Hut, Schleier und Haarnetz vom Kopf der Frau gerutscht. Was er sah, bestätigte Jacobs Vermutung. Und doch war es ein anderer Anblick als erwartet. Was da von feuerroten Locken umspielt wurde, war nicht das Gesicht einer schönen Frau, das er zu sehen erwartet hatte. Es war eine häßliche Karikatur, furcht- und mitleiderregend zugleich. »Wie… ist das…«, setzte der junge Zimmermann an, als er die erste Überraschung verdaut hatte. Aber die Frage blieb ihm im Hals stecken. Wie konnte man über dieses Grauen reden, das einem schon beim bloßen Anblick die Sprache verschlug? »Was glotzen Sie, Adler?« fragte das schrecklich entstellte Wesen, das einmal eine schöne, begehrenswerte Frau gewesen war. »Sie haben mich wohl anders in Erinnerung, was? Ist kein schöner Anblick, ich weiß. Aber Sie sind nicht ganz unschuldig daran. Trotzdem will ich Ihnen ersparen, mich weiter anstarren zu müssen!« Ihre Rechte ruckte vor. Jetzt erst bemerkte Jacob, daß sie noch immer den vierläufigen Sharps Derringer in der Hand hielt. Er hatte geglaubt, sie hätte die Taschenpistole verloren, als sie stürzte und über die gischtbesprühten, glitschigen Planken rutschte.
Er wollte vorspringen und ihr die Waffe entreißen. Aber gerade in diesem Augenblick ließ Piet Hansen die ALBANY einen erneuten Haken schlagen, den manch anderer Kapitän sogar mit einem kleineren, wendigeren Schiff nicht hinbekommen hätte. Dadurch wurde Jacob wieder gegen die Reling geschleudert. Er konnte nichts tun. Nur zusehen, wie sich der im schwarzen Handschuhleder steckende Zeigefinger um den Abzug krümmte. Ein Feuerstrahl schlug aus der Mündung. Ein absonderlicher, in diesem Moment völlig unbedeutender Gedanke schoß durch Jacobs Kopf: Die Mündungsflamme war für die kleine Waffe ungewöhnlich groß. Jacob spürte einen Schlag am Kopf, als hätte ihn ein Vorschlaghammer getroffen. Dem stechenden Schmerz folgte gnädige, alles verschlingende Dunkelheit, die sich wie ein plötzlich herabfallendes Tuch über seine Augen und sämtliche Sinne legte. Es war die Finsternis des Vergessens. »Jacob, neeeiiin!« Irene Sommer stieß den markerschütternden Schrei aus, als der Schuß krachte. Die junge Deutsche, die ihren kleinen Sohn Jamie in den Armen hielt, sah, wie Jacob mit dem Rücken an der Reling nach unten rutschte. Sein blutüberströmter Kopf schlug auf die nassen Planken. Dann bewegte sich der junge Mann, den sie heimlich so sehr liebte, nicht mehr. Aber die Blutlache um seinen Kopf vergrößerte sich. Bis die ALBANY eine Welle durchschnitt und ein großer Brecher mit seiner salzigen Flut das Blut wegwusch. Irene wollte zu dem Geliebten laufen, aber Joe Weisman hielt sie mit eiserner Klaue fest. »Nicht, Lady!« schrie der Zweite Steuermann der ALBANY gegen den Lärm an, der aus Kanonendonner, gegen die Rahen klatschenden Segeln, unter der Last ächzenden Planken und aufgeregtem Gebrüll bestand. »Denken Sie an das Kind!«
Der gedrungene Deutsch-Amerikaner hielt sich mit einer Hand an einem der Pfosten fest, die das Dach über dem Platz des Steuermanns trugen. Die andere Hand hielt Irene und verhinderte, daß Mutter und Kind zu hilflosen Spielbällen des auf und nieder stampfenden, von einer Seite zur anderen rollenden Schiffes wurden. Vor Anstrengung tanzten dunkle Flecken pochenden Blutes auf seinem sonst nur leicht geröteten Gesicht. Traurig erkannte die Frau, daß er recht hatte. Als Mutter war es ihre erste Pflicht, für Jamies Wohlergehen und Sicherheit zu sorgen. Und Jacob? Es sah ganz so aus, als könne sie nichts mehr für ihn tun. Sie nicht und kein anderer Mensch auf dieser Welt. Der Schuß aus nächster Nähe hatte ihn in den Kopf getroffen. Er mußte tot sein! Die Erkenntnis zog alle Kraft aus Irenes Beinen. Auch Weisman konnte sie nicht mehr halten und ließ sie sanft zu Boden gleiten. Er zeigte auf die Pfosten des Unterstands und rief: »Halten Sie sich daran fest, Lady!« Irene nickte und krallte mit letzter Kraft ihre Hände um einen der Pfosten, während sie Jamie in ihre Arme schloß. »Geht es?« fragte der Zweite Steuermann. Wieder bestand Irenes Antwort nur in einem schwachen Nicken. Zu mehr fühlte sie sich nicht in der Lage. Der Gedanke an Jacobs Tod lähmte sie, ließ alles plötzlich so sinnlos erscheinen. Vielleicht hätte sie den hölzernen Pfosten losgelassen und sich von einem der über die Reling schwappenden Brecher mit ins Meer reißen lassen, wäre der laut schreiende Junge nicht gewesen. Nur kurz streifte Piet Hansens Blick von Jacob Adler zu Irene Sommer. Er fühlte Mitleid und Schuld, aber er hatte
keine Zeit, sich um die junge Frau zu kümmern. Wenn er sich ablenken ließ, konnte das den Tod für alle anderen Menschen an Bord bedeuten. Er hätte nicht gedacht, daß die Yankees ein unbewaffnetes Schiff derart hemmungslos unter Beschuß nehmen würden. Offenbar war es ihnen bluternst mit ihrer Seeblockade der Südstaaten. Nur kurz flackerte in dem Kapitän der ALBANY die Frage auf, wie die Nordstaatler ihm auf die Schliche gekommen waren. Zu ihrer Beantwortung hatte er weder die Möglichkeiten noch die Zeit. Seine Hände und Arme waren eins mit dem schweren Steuerrad. Sein ganzer Körper schien mit dem hölzernen Leib der ALBANY verwachsen. Immer wieder änderte er den Kurs, um den drei Kriegsschiffen zu entgehen. Zum Verhandeln war es längst zu spät. Er mußte sein Schiff durchbringen. Seine Hände krampften sich so fest ums Steuerrad, daß die Knöchel weiß hervortraten. Er mußte es schaffen! Nicht noch einmal wollte sich Piet Hansen den Vorwürfen und Seelenqualen aussetzen, leichtfertig ein Schiff und viele Menschenleben geopfert zu haben. Schon Jacob Adlers Tod war zuviel und lastete schwer auf ihm. Was damals, vor über zwanzig Jahren, im Ärmelkanal mit der HENRIETTA geschehen war, durfte sich nicht wiederholen! »Mr. Weisman!« brüllte er gegen den höllischen Lärm. Sein Zweiter Steuermann wandte sich von Irene Sommer weg zu Hansen um. »Aye, Käpten?« »Wo stehen Sie?« »Wie meinen Sie das, Käpten?« »Ich spreche von den anderen dort.« Hansen nickte hinaus auf See; es war klar, daß er die Kriegsschiffe meinte. »Halten Sie zu denen, oder helfen Sie mir, die ALBANY aus diesem
Chaos zu bringen?« Der deutsch-amerikanische Steuermann überlegte kurz. Er hatte nicht gewußt, daß die ALBANY ein Blockadebrecher war. Und er billigte es nicht. Aber dann dachte er an die Seeleute und an die hundert Passagiere, unter denen sich Frauen und Kinder befanden. Sie konnten nichts dafür. Sie würden unschuldig sterben. »Geben Sie Ihre Befehle, Käpten.« »Alle Segel setzen!« schnarrte Hansen. »Und besorgen Sie ein neues Gaffel!« »Alle Segel, Käpten?« wiederholte der Steuermann ungläubig. »Aber das Wetter! Das ist schon kein Wind mehr, sondern ein Sturm. Wir werden kaum noch manövrierfähig sein!« »Aber dafür schnell!« Weisman nickte verstehend und rannte über das schwankende Deck, um die Befehle des Kapitäns weiterzugeben. Da tauchte auch der Erste Steuermann auf Deck auf, Georg Möller. Hansen mochte den Mann nicht, der zum erstenmal auf der ALBANY fuhr. Arnold Schelp hatte ihn Hansen empfohlen. Nun, empfohlen war wohl der falsche Ausdruck. Schelp hatte darauf bestanden, daß der Kapitän Möller zum Ersten Steuermann ernannte. Genauso, wie Schelp einen Teil der Besatzung angeschleppt hatte. Alles seine Vertrauensleute, die dafür sorgten, daß Hansen sich Schelps Willen beugte. Und tatsächlich erschien Schelps grobe Gestalt gleich hinter dem knochigen Möller im Kajütenaufgang. Schelp war wie stets so gut gekleidet, daß es schon ins Auge stach. Trotz der rasanten Fahrt des Schiffes saß der schwarze Chapeau claque auf seinem rotbehaarten Schädel, und der kleine Stock mit dem schweren Silberknauf – kein Gehwerkzeug für ihn, sondern eine äußerst wirksame Waffe –
lag in seiner weißbehandschuhten Linken. Aber auf dem heftig schwankenden Deck verlor er seine aufrechte Haltung und seinen Zylinder. Hätte er sich nicht in Möllers dunkelblauer Seemannsjacke verkrallt, wäre er unsanft auf den Planken gelandet. Sorgsam achtete er darauf, den Stock nicht zu verlieren. Fast gierig griff er nach einem der Pfosten, an dem sich auch Irene festhielt. Er baute sich vor Hansen auf und forderte: »Käpten, übergeben Sie das Steuer an Möller!« »Unmöglich!« knurrte Hansen und lenkte die ALBANY auf einen Kurs, der sie auf zwei der Kriegsschiffe zuführte. Es handelte sich um die beiden umgebauten Kauffahrer, die zur Zeit dicht beieinander in der zunehmend aufgewühlten See kreuzten. »Sie Narr, was tun Sie?« kreischte Schelp. »Sie bringen das Schiff geradewegs vor die Yankee-Kanonen!« »Das ist meine Absicht!« nickte Hansen und hielt den Segler verbissen auf Kurs. Schelp klemmte den Stock unter die Achsel und griff unter den dunklen Rock in eine Tasche seiner seidig glänzenden Weste. Die Hand kam mit einem Derringer wieder hervor. Die kleine Waffe sah genauso protzig aus wie alles an ihrem Besitzer. Sie war versilbert, der Griff gar vergoldet. Aber als Schelp den Hahn zurückzog und den kurzen Doppellauf unter Hansens Kinn drückte, war es vollkommen unwichtig, wie stutzerhaft die Waffe wirken mochte. Wichtig war nur, daß sie den Kapitän unweigerlich töten würde, sobald der rothaarige Deutsche den Abzug betätigte. »Übergeben Sie das Schiff an Möller! Ich sage es nicht noch einmal.« »Sie sind der Narr, Schelp!« fauchte Hansen, ohne sich von der Waffe, deren Mündung unter seinem Gesicht schwebte, beirren zu lassen. »Sehen Sie nicht, daß ich die ALBANY in Sicherheit bringe?« Er seufzte und fügte leise hinzu:
»Jedenfalls versuche ich es.« Schelp zog irritiert die rötlichen Brauen hoch. »Wie das?« fragte er hektisch. »Sie bringen uns doch vor die feindlichen Geschütze!« »Zwischen die feindlichen Geschütze«, berichtigte der Kapitän den Mann, mit dem er eine verhängnisvolle Allianz eingegangen war. »Wo ist der Unterschied?« brüllte Schelp. »Wenn uns gleich zwei Yankee-Schiffe beschießen, ist es doch nur noch schlimmer!« Wieder korrigierte Hansen den anderen: »Falls sie uns beschießen, Schelp. Falls!« »Was meinen Sie damit?« »Sehen Sie doch, wie eng die Bark und die Brigg beieinander liegen! Der Kapitän der Brigg ist schuld daran. Er hat sehr unglücklich manövriert. Wenn wir schnell genug zwischen den beiden durchkommen, können sie ihre Kanonen nicht abfeuern, ohne zu riskieren, sich gegenseitig in Stücke zu schießen.« Der Schimmer der Erkenntnis leuchtete in Schelps sonst eher trüben Augen auf. »Glauben Sie, daß wir schnell genug sind, Käpten?« »Meine Jungs sorgen gerade dafür.« Hansen zeigte hinauf in die Masten. Mit affenartiger Behendigkeit turnten die Seeleute der ALBANY in der schwindelerregenden Höhe herum, um auf Hansens Befehl sämtliche Segel zu setzen. Gleichzeitig waren ein paar Männer am Besanmast damit beschäftigt, unter der Aufsicht von Joe Weisman und des Segelmachers das zerfetzte Gaffelsegel gegen ein neues auszutauschen. Schelp blickte den Ersten Steuermann an. »Was sagen Sie, Möller? Kann das hinhauen?« »Es ist ein Spiel mit dem Feuer«, knurrte der knochige Mann und kaute nervös auf seiner Unterlippe herum. »Im wahrsten Sinne des Wortes!«
»Das ist keine Antwort, verdammt! Hat Hansens Plan Ihrer Meinung nach Aussicht auf Erfolg oder nicht?« Möller sah auf, als wolle er seine Unterlippe verschlingen. Schließlich nickte er langsam und sagte gedehnt: »Nun, Herr Schelp, es könnte klappen. Aber ich würde keine große Summe darauf wetten.« »Haben Sie einen besseren Plan, Möller?« »Nein, jetzt sowieso nicht mehr.« »Was heißt das nun wieder?« »Schauen Sie doch, Herr Schelp!« Möllers rechter Arm streckte sich bugwärts aus. »Wir sind schon viel zu nah an den beiden Kriegsschiffen. Würden wir jetzt noch abdrehen und ihnen unsere Breitseite darbieten, würden uns die Kanonen auf jeden Fall treffen!« Schelps Augen blitzten böse, als sie sich wieder auf den alten Seebären am Steuerrad richteten. »Zur Hölle, Hansen, Sie haben mich hereingelegt!« Schelp drückte die doppelte Mündung des Remington Derringers gegen Hansens Kehle. »Unsinn!« verteidigte sich der Kapitän. »Ich bringe uns durch. Die Segel sind fast alle gesetzt.« Tatsächlich wurde die Fahrt der ALBANY immer schneller. Sie rollte nicht mehr von einer Seite zur anderen, sondern rauschte fast ruhig und stolz durch die mehr und mehr aufgewühlten Wellen. Es war nur noch eine Frage von Minuten, bis ein regelrechter Sturmwind über den Pazifik blasen würde. Genau darauf setzte Piet Hansen. Und dann war es soweit. Die ALBANY flog unter voller Betakelung zwischen den beiden Schrauben-Fregatten hindurch. Die Menschen an Bord des Seglers hielten den Atem an. Die Kriegsschiffe waren so verdammt nah, daß jede Menge Einzelheiten erkennbar waren. Die Masten der US-Schiffe, die
noch aus ihrer Zeit als Kauffahrer stammten. Jetzt diente die Takelage als bloße Hilfe für die hohen Schornsteine, die bei der Umrüstung zu Schraubendampfern auf den Schiffen angebracht worden waren. Die Flagge der Union, die in scheinbarer Siegesgewißheit an den Schiffen flatterte. Die Männer an Bord. Ihre blauweißen Uniformen. Die teilweise bärtigen Gesichter. Sogar die ungewöhnlich weiten Aufschläge der blauen Hosen bei den Männern, die in den Wanten hingen. Die Namen der Schiffe. Die Bark war die U.S.S. RELIANCE, die Brigg die U.S.S. HORNET. Und das bedrohliche Schimmern der Geschützrohre, die über die Schiffe hinausragten und zur ALBANY herüberblickten. Dahinter standen die Bedienungen teils mit den Abreißleinen in den Händen, bereit, auf Kommando die Breitseiten abzufeuern. Die Menschen an Bord der ALBANY zählten die Kanonen an den ihnen zugewandten Seiten der Kriegsschiffe: vier bei der Brigg und sechs bei der Bark. Die Augen der Männer und Frauen auf dem Segler klebten geradezu an den Kanonenrohren. Sie warteten auf die Flammenzungen, den Rauch, den ohrenbetäubenden Donner und die tödlichen Einschläge. Aber nichts geschah. Piet Hansens Rechnung schien aufzugehen. Nur noch das Heck der ALBANY befand sich zwischen den Kriegsschiffen, glitt zwischen ihnen hindurch… Dann brach der Donner los! Die Menschen schrien und stürzten erneut durcheinander. Letzteres wurde diesmal nicht durch ein gewagtes Manöver von Hansen verursacht, sondern war eine Folge der panischen Furcht. Die Menschen suchten trügerische Deckung hinter Aufbauten, Masten und Rettungsbootsdavits. »Es ist der Raddampfer!« rief Georg Möller und zeigte schräg nach achtern, zur Steuerbordseite.
Dort schaufelte sich das größte der drei Kriegsschiffe unter einer dichten Wolke grauen Rauches auf den fliehenden Segler zu. Aus den geöffneten Stückpforten an Backbord lugten die Mündungen der großen Geschütze, insgesamt zehn. Das Kriegsschiff war nah genug, daß die Leute auf der ALBANY seinen Namen lesen konnten: U.S.S. GENERAL STEUBEN. Der Kapitän der GENERAL STEUBEN wollte der ALBANY offensichtlich den Weg abschneiden. Deshalb rauschte er so dicht an der RELIANCE vorbei, daß die Schrauben-Fregatte in heftiges Schlingern geriet. Aber die GENERAL STEUBEN hatte ihre mächtigen Geschütze einige Sekunden zu früh abgefeuert. Sie rissen nicht den Rumpf des Seglers auf, sondern nur die See vor ihm. Der Pazifik verschluckte die schweren Geschosse anstandslos. Dann rauschte der unter voller Betakelung stehende Dreimaster auch schon darüber hinweg. Noch trauten sich die Menschen an Bord der ALBANY nur wenig aus der Deckung. Die Nähe des großen Seitenraddampfers, der im spitzen Winkel auf den Segler zuschoß, wirkte zu bedrohlich. Doch endlich stellte sich heraus, daß der Kapitän der GENERAL STEUBEN einen Winkel gewählt hatte, der nicht spitz genug war. Kapitän Hansens Bark zeigte dem Kriegsschiff ihr rasch kleiner werdendes Heck, als der Dampfer ihr Fahrwasser kreuzte. Die GENERAL STEUBEN wollte nicht aufgeben und feuerte ihre Steuerbord-Batterie ab. Aber diesmal hatte sie zu lange gezögert. Die Geschosse flogen am Heck des davonjagenden Segelschiffes vorbei und spritzten ins Wasser. »Zum Glück sind die Kanoniere der GENERAL STEUBEN nicht besser als der Kapitän des Dampfers«, atmete Piet Hansen mit einem Blick über die Schulter erleichtert auf. »Ich schätze, das Schlimmste haben wir hinter uns.« »Woher die Zuversicht?« fragte ein skeptischer Arnold
Schelp. »Wir haben nur unsere Segel, die anderen Segel und den Dampfantrieb!« »Der Nachteil dieser Kombination ist, daß sich die meisten Kapitäne zu sehr auf ihre Schrauben und Schaufelräder verlassen. Sie können mit der Takelage nicht mehr richtig umgehen. Außerdem macht die ALBANY eine Höllengeschwindigkeit, und der Wind wird immer stürmischer.« »Vielleicht zu stürmisch für unsere volle Betakelung«, wandte Möller ein. »Wir müssen es riskieren«, brummte Hansen. »Es ist unsere einzige Möglichkeit, den Kriegsschiffen zu entkommen.« Aber er war weit weniger zuversichtlich, als er tat. Seine Gedanken kreisten um die Katastrophe vor mehr als zwanzig Jahren, an der er seitdem schwer zu tragen hatte. Hoffentlich lag die ALBANY besser im Sturm als die HENRIETTA! »Die ALBANY muß da hinein«, sagte der bärtige Seebär und zeigte nach vorn. »Dann finden uns die Yankees nicht, selbst wenn sie uns einholen sollten.« Dichter Nebel lag vor dem Segler, soweit das Auge reichte. Behäbig wälzte sich die undurchdringliche Masse über den Pazifik. Wie ein urzeitliches Ungetüm auf der Nahrungssuche. »Woher kommt der Nebel?« fragte Schelp. »Von der Küste«, antwortete Hansen. »Wir müssen ziemlich nah dran sein.« Dann leckten die ersten graugelben Dunstfinger auch schon nach dem Rumpf der ALBANY, krallten sich an ihm fest und krochen langsam zum Deck empor. Das Schiff tauchte in die Nebelbank ein und verschmolz mit ihr. * Nur langsam kam Irene Sommer wieder zu sich. Sie war noch am Leben, genauso Jamie. Das mußte ihr erst bewußt werden.
Aber dieses Bewußtsein war mit dem Wissen um das Schreckliche verbunden, das mit Jacob Adler geschehen war. Trotz der Geschützsalven, die von den US-Kriegsschiffen abgefeuert worden waren, war es allein der Schuß des Derringers, der in den Ohren der jungen Frau widerhallte. Mühsam zog sie sich mit einer Hand an dem Pfosten hoch, den sie während der stürmischen Fahrt umklammert hatte. Mit der anderen Hand drückte sie Jamie an sich. Er weinte nicht mehr, sondern schluchzte leise, was seine Mutter um so schlimmer fand. Es war fast, als trauere das kleine Kind um seinen ermordeten Paten. Wer weiß, dachte Irene. Vielleicht bekommt der kleine Jamie mehr mit, als wir Erwachsene denken. Als sie langsam über das Deck ging, achtete sie nicht auf die Schmerzen in ihrem Kopf und überall in ihrem Körper. Sie hatte sich mehrere Prellungen zugezogen. Aber das empfand sie nicht als wichtig, Vielen anderen an Bord der ALBANY mochte es ähnlich oder schlimmer gehen. Am schlimmsten aber hatte es Jacob getroffen! Die junge Deutsche ging aus einem anderen Grund sehr vorsichtig: um nicht mit Jamie zu stürzen. Zum einen waren die Planken sehr glitschig von den Brechern, die sich über die Reling ergossen hatten. Zum anderen war die graugelbe Suppe, durch die Kapitän Hansen sein Schiff steuerte, so dick, daß man höchstens zwei, drei Schritte weit sehen konnte. Endlich fand sie Jacob, der unverändert neben der Reling lag. Das sonst sandfarbene Haar schimmerte rötlich. Es war das Blut, das auch seine Stirn, einen Teil des Gesichts und die Planken um seinen Kopf bedeckte. Das Blut aus der tödlichen Wunde, die die Frau in Schwarz mit ihrer Kugel gerissen hatte. Aber wo war das geheimnisvolle Wesen, das während der ganzen Reise durch das Schiff und die Köpfe der Menschen gespukt war? Der Nebel schien es verschluckt zu haben.
Die Frau war rothaarig. Soviel hatte Irene erkannt, als sie ihren Hut verlor. Aber sie hatte nicht das sonst verhüllte Gesicht gesehen, da die Frau ihr den Rücken zugewandt hatte. Nur Jacob hatte das Gesicht gesehen. Ein Anblick, der ihn aus für Irene unerfindlichen Gründen erschreckt hatte. Nein, vielleicht war erschreckt nicht das richtige Wort. Eher entsetzt! Nicht Angst hatte beim Anblick der Frau in seinen Augen gestanden, sondern Verwirrung und auch Mitleid. Aber warum? Jacob konnte ihr jedenfalls keine Antwort darauf geben. Der Mann, der sie von Hamburg bis New York und quer durch den nordamerikanischen Kontinent begleitet hatte, war hier gestorben. An Bord des Schiffes, mit dem er und Irene im vergangenen Jahr nach Amerika gefahren waren. Eine bittere Ironie des Schicksals! Plötzlich hielt Irene den Atem an. Was war das? Hatten nicht eben Jacobs Augenlider geflattert, wenn auch nur ganz wenig? Oder gaukelten die überreizten Sinne ihr etwas vor? Sie mußte Gewißheit haben! Vorsichtig legte sie ihren in dicke Decken gewickelten Sohn auf ein zusammengerolltes Tau und beugte sich über den großen Mann. Sie hielt ihre Hand vor sein Gesicht, ganz dicht vor Mund und Nase. Ihr war, als spüre sie einen schwachen warmen Hauch. Jacobs Atem! Ihr Herz jubelte, aber ihr Verstand konnte es noch nicht ganz glauben. Sie riß ihr Schultertuch herunter und tauchte es in eine Salzwasserpfütze. Reste des über die Reling geschwappten Wassers hatten sich in einer nach unten durchgebogenen
Planke gesammelt. Sie wrang das Tuch aus und tupfte damit vorsichtig Gesicht und Kopf des heimlich geliebten Mannes ab. Wieder stieß Irenes Herz einen unhörbaren, aber gleichwohl heftigen Jubelruf aus. Die Kugel war entgegen ihrer Annahme nicht in den Kopf gedrungen, sondern hatte nur die linke Seite des Schädels geschrammt und dort eine blutige Furche gerissen. Die starke Blutung und Jacobs Bewußtlosigkeit hatten Irene getäuscht. Schuld an der großen Wunde war das Weichbleigeschoß des Derringers. Es verformte sich beim Aufprall zu zwei- bis dreifacher Größe. Irene schlug ihr Tuch zu einem Verband zusammen und wollte ihn gerade um Jacobs Kopf wickeln, als sie die neuerliche Unruhe an Bord der ALBANY bemerkte. Ausgelöst wurde sie von zwei verschiedenen Gruppen, die einander gegenüberstanden. Die größere Gruppe wurde von der kleineren eingeschüchtert, denn letztere war im Gegensatz zur ersten bewaffnet. Einer Eingebung folgend, unterließ Irene es, Jacob den Verband anzulegen. Vielleicht war es besser, wenn er einstweilen noch für tot gehalten wurde. Sie ging dabei von einer einfachen, aber vielleicht lebensrettenden Überlegung aus: Wer schon tot war, den mußte man nicht umbringen. * Der Nebel wurde ein wenig lichter. Vielleicht lag es an dem auffrischenden Wind, der ihn auseinandertrieb. Piet Hansen sah seinen Ersten Steuermann an. »Möller, die Männer sollen sich bereit halten, einen Teil der Segel einzuholen. Der Sturm könnte plötzlich stärker werden.« Anstatt den Befehl auf der Stelle zu bestätigen und
auszuführen, wie es seine Pflicht gewesen wäre, blickte Möller den Mann an, der ihm mehr Geld bezahlte als Hansen. Arnold Schelp fragte: »Ist es klug, einen Teil der Segel einzuholen, Käpten? Was ist, wenn die Yankee-Schiffe uns immer noch verfolgen?« »Dazu müßten sie uns erst finden«, antwortete Hansen. »Ich habe in der Nebelbank den Kurs geändert. Außerdem will ich die Segel jetzt noch nicht einholen lassen. Ich will nur auf alles vorbereitet sein.« Damit mir mit der ALBANY nicht dasselbe passiert wie mit der HENRIETTA! fügte er in Gedanken hinzu. Laut fuhr er fort: »Es ist auch in Ihrem Interesse, Schelp. Was nützt Ihnen die Ladung, wenn sie auf dem Grund des Pazifiks liegt?« »Also gut«, knurrte der halbwegs überzeugte Geschäftemacher und blickte den Ersten Steuermann an. »Führen Sie den Befehl aus, Möl…« Er stockte, als er bemerkte, was da aus dem Bauch der Bark kam. Männer, Frauen und Kinder verließen das Zwischendeck. Sie hatten gewartet und keinen Kanonendonner mehr gehört. Das und die ruhigere Fahrt, die das Schiff jetzt machte, lockte sie aufs Deck. Sie waren verstört und verängstigt. Viele hatten sich bei Piet Hansens riskanten Manövern an scharfen Kanten oder durchs Zwischendeck rutschenden Hausrat verletzt. Den meisten war speiübel, wie ihre grünlichbleichen Gesichter verrieten. Aber fast alle schienen ziemlich wütend zu sein. Sie bildeten eine kompakte Masse, die langsam nach achtern marschierte, auf die Brücke zu. »Warten Sie, Möller!« zischte Schelp. »Holen Sie lieber unsere Männer zusammen, bewaffnet!« »Ja, Herr Schelp«, nickte der Steuermann eifrig und lief los.
Unsere Männer! Damit meinte Schelp den Teil der Besatzung, der in seinem Sold stand, ein gutes Dutzend rauher, kräftiger Burschen mit großkalibrigen Revolvern, deren Mündungen sich auf die anrückenden Passagiere richteten. Dazu gesellten sich Captain Abel McCord von der Armee der Konföderierten, der mexikanische Sonderbeauftragte Don Emiliano Maria Hidalgo de Tardonza und deren ständige Begleiterin – die Frau in Schwarz. Sie hatte den Hut wieder aufgesetzt und den Schleier vor ihr Gesicht gelegt. Nur das Haarnetz fehlte. Flammend rote Locken fielen in einem herrlichen Kontrast auf das schwarze Kleid. In der Rechten hielt sie ihren Sharps Derringer. McCord und Don Emiliano waren ebenfalls bewaffnet. Schelp schwenkte seinen versilberten Remington Derringer herum, um auch auf die Zwischendeckspassagiere anzulegen. Auch wenn Schelps Waffe nicht mehr auf Piet Hansen zeigte, fühlte sich der Kapitän kein bißchen erleichtert. Mit Sorge beobachtete er die grimmigen Gesichter der langsam vorrückenden Passagiere und genauso die entschlossenen Mienen der Bewaffneten. Gerade den drei Kriegsschiffen entkommen, hatte sich die ALBANY erneut in ein Pulverfaß verwandelt. Der kleinste Funke konnte es explodieren lassen. Und Funken sprühten genügend über Deck, bildlich gesprochen. Sie kamen aus den Augen der sich gegenüberstehenden Menschen. »Schelp, stecken Sie doch die Waffen weg!« sagte Hansen beschwörend. »Das macht alles nur noch schlimmer!« »Führen Sie das Schiff, Käpten, ich führe meine Leute!« wies der Geschäftemacher den Kapitän in seine Schranken. Laut rief Schelp über das Deck: »Stehenbleiben, Leute! Ihr seid nah genug an der Brücke.«
Niemand hörte auf ihn. Die dichte Welle aus menschlichen Leibern, die von einer Reling zur anderen über die ganze Breite des Schiffes reichte, wogte scheinbar unaufhaltsam vorwärts. Schelp drückte ab. Der obere Lauf seines Remington spuckte, begleitet von einem Feuerstrahl, sein Geschoß aus. Ein kleine Rauchwolke stieg über den rothaarigen Kopf und ging langsam im Nebel auf. Ein vollbärtiger, untersetzter Mann schrie auf und knickte ein. Mit einem dumpfen Laut schlug er auf die Planken. Schelps Kugel hatte eine böse Wunde in seinen Oberschenkel gerissen. Eine verhärmte Frau löste sich aus der Gruppe, ging neben ihrem Mann in die Knie und schluchzte laut seinen Namen: »Andrew!« Was Schelps Worte nicht geschafft hatten, bewirkte der Schuß: Die Passagiere blieben wenige Schritte vor der Brücke stehen. »Gut so, Leute, seid vernünftig!« sagte Schelp laut. »Wenn ihr gehorcht, wird euch nichts geschehen. Aber wenn nicht…« Schelp grinste gemein. »Nun, seht euch Andrew an!« Erst schwiegen die etwa hundert Menschen. Dann hob ein leises Gemurmel an. Es wurde zu einem Raunen. Aus dem Raunen setzten sich einzelne Rufe ab. Fordernde Rufe: »Erst wollen wir wissen, was los ist!« »Stimmt es, daß die Navy auf uns geschossen hat?« »Wann erreichen wir endlich Frisco?« »Warum richten Sie Waffen auf uns?« »Wir wollen mit dem Käpten sprechen!« Nachdem der letzte Ruf erklungen war, beugte sich Schelp zu dem Mann am Steuerrad hinüber und raunte: »Beruhigen Sie die Leute, Käpten! Sie sollen alle wieder unter Deck gehen,
dann passiert ihnen nichts.« Hansen nickte seufzend und rief nach Joe Weisman, dem er das Steuer übergab. Der Kapitän hatte es längst bitter bereut, daß er mit Schelp gemeinsame Sache machte. Daß er jetzt einmal mehr den Handlanger für ihn spielte, fand er aber vernünftig. Eine Meuterei an Bord würde in einem Blutbad enden. Und wie es aussah, würde Schelp dabei auch noch die Oberhand behalten. Also sprach Hansen beruhigend auf die Passagiere ein. Er erzählte ihnen, daß die ALBANY San Francisco in wenigen Tagen erreichen würde. Behielt die Bark ihren derzeitigen Kurs bei, stimmte das sogar. Um den Verfolgern zu entgehen, ließ der Kapitän sein Schiff nordwärts laufen. An der Küste desjenigen Teils von Kalifornien entlang, der zu Mexiko gehörte. »Und die Kanonen?« fragte ein kleiner, hagerer Mann mit dem strengen Gesicht eines Schulmeisters. Er trat einen Schritt vor, stemmte die Hände in die Hüften und blickte den Kapitän trotzig an. »Wieso schießt unsere eigene Navy auf uns?« »Es war nicht die US-Navy«, log Hansen. »Es waren Raiders der Konföderierten.« »Raiders!« Der Aufschrei pflanzte sich durch die Menge fort. Raiders nannte man die Kaperfahrer der Konföderierten, die zahlreiche Überfälle auf die Handelsmarine der Vereinigten Staaten unternahmen. Da die ALBANY unter der US-Flagge segelte, erschien Hansens Erklärung einleuchtend. Bis der Mann mit dem Schulmeistergesicht fragte: »Wenn das vorhin Raiders der Konföderierten waren, weshalb hatten sie dann die Flagge des Nordens gehißt?« In Gedanken ließ Piet Hansen eine ganze Flotte von deftigen Seemannsflüchen vom Stapel. Warum mußte ausgerechnet dieser Besserwisser während des Beschusses durch die Kriegsschiffe an Bord gewesen sein und alles beobachtet
haben! »Lassen Sie sich schnell was einfallen, Käpten!« zischte Schelp leise. »Das war ein Trick, eine Täuschung«, beantwortete Hansen die Frage mit einer weiteren Lüge. »Die Raiders wollten uns in Sicherheit wiegen.« Der kleine Kerl mit dem strengen Aussehen schien immer noch nicht zufriedengestellt. Aber eine resolute Frau, die ihn um mehr als Haupteslänge überragte, trat vor und zog ihn, halb gegen seinen Willen, in die Reihen der anderen Passagiere zurück. »Geht alle unter Deck, Leute!« verlangte der aufatmende Kapitän Hansen. »Noch sind wir nicht aus der Gefahrenzone. Wenn die Raiders zurückkehren und uns erneut unter Beschuß nehmen, ist euer Leben hier oben an Deck nicht sicher. Außerdem behindert ihr meine Männer bei der Arbeit, wenn ihr hier herumsteht und jeden Durchgang verstopft.« Das schien den Menschen einzuleuchten. Vielleicht hatte sich auch der Respekt vor den auf sie gerichteten Waffen in ihnen festgesetzt. Jedenfalls machten sie kehrt und strebten dem Durchgang zum Zwischendeck zu. Zwei kräftige Kerle stützten den Mann, den Schelp angeschossen hatte. »Gut gemacht, Käpten«, grinste Schelp und steckte seinen Derringer zurück in die Westentasche. »Ich habe doch gleich gewußt, daß mit einem Partner wie Ihnen an meiner Seite nichts schiefgehen kann. Sie führen Menschen genauso sicher wie ein Schiff.« Der beißende Spott in Schelps Worten entging Piet Hansen nicht. Der Kapitän wußte, auf welches Schiff der Rotkopf anspielte: auf die HENRIETTA! Schelp wandte sich an Möller und sagte: »Nehmen Sie fünf Bewaffnete mit und passen Sie auf die Passagiere auf! Die Leute sollen unter Deck bleiben und sich ruhig verhalten.« »Und wenn sie Ärger machen?« fragte der knochige
Steuermann. »Na, dann schießen Sie!« Schelp sagte es in einem Ton, als verstände sich das von selbst. »Aye«, krächzte Möller. Er wählte seine Begleiter aus und bildete mit ihnen einen losen Ring um den Durchgang zum Zwischendeck. Sie trieben die Passagiere in den Bauch des Schiffes wie Schäfer, die ihre Tiere zur Schlachtbank führten. Hansen war bei diesem Anblick nicht wohl. Das Pulverfaß stand noch an Bord, nur die Funken sprühten nicht mehr ganz so heftig. * Als der schwarze Schatten über Irene, Jamie und Jacob fiel, sah die junge Frau ängstlich auf. Sie blickte auf ein schwarzes Kleid, einen schwarzen Schleier und einen schwarzen Hut. Die verhüllte Gestalt ängstigte sie fast mehr als der Derringer in deren schwarz behandschuhten Rechten. Rechts und links von der geheimnisvollen Gestalt standen ihre beiden männlichen Begleiter. Die Waffen in ihren Fäusten waren ungleich größer. Ein langläufiger Leach & RigdonRevolver bei dem Captain der Konföderierten und ein französischer LeMat bei dem Mexikaner. Aber am bedrohlichsten wirkte nach wie vor die Frau in Schwarz. »Nehmen Sie Ihr Kind und verschwinden Sie unter Deck!« befahl die Vermummte. »Und… Jacob?« fragte Irene zögernd. Sie wußte nicht, wie sie sich verhalten sollte. War es richtig, Jacobs Tod vorzutäuschen? Oder war gerade das ein vielleicht tödlicher Fehler?
Die schwarze Frau schien Jacob anzublicken, aber wegen des Schleiers konnte man das nicht genau feststellen. »Der ist doch tot«, sagte sie Frau. »Am besten werfen wir ihn über Bord.« »Nein!« schrie Irene auf. »Jacob… hat immer gesagt, er möchte einmal richtig begraben werden. In guter Erde mit einem Kreuz darüber, auf dem sein Name steht.« »Damit können wir hier nicht dienen«, versetzte die Schwarzgekleidete kalt. »Wir schaffen ihn hinunter«, sagte Piet Hansen laut. Er hatte einen Matrosen herangewunken, der Jacobs Beine anhob. Hansen selbst nahm den Oberkörper des Reglosen auf. Irene preßte die Lippen fest zusammen und schickte ein Stoßgebet gen Himmel. Sie betete gleich um zwei Dinge. Erstens darum, daß die unheimliche Frau Piet Hansen und den Matrosen gewähren ließ. Und zweitens, daß Jacob nicht plötzlich aufstöhnte oder sich anderweitig verriet. Irene hatte das Gefühl, daß die Frau mit dem Derringer ihr begonnenes Werk dann zu Ende führen würde. Denn Irene fiel nur eine Erklärung für den Schuß auf Jacob ein: Die Verschleierte wollte nicht, daß jemand ihr Gesicht erkannte. Wenn aber Jacob sie kannte, warum dann nicht auch Irene? Gewiß, die verhüllte Gestalt hatte etwas Vertrautes an sich. Vielleicht wäre die junge Deutsche längst darauf gekommen, aber die sich überstürzenden Ereignisse und die Sorge um Jacob ließen kaum andere Gedanken zu. »Meinetwegen schaffen Sie die Leiche unter Deck, Käpten«, sagte die mysteriöse Frau und ließ den vierläufigen Derringer sinken. »Nehmen Sie die Frau und das Kind mit!« Ein erstes Aufatmen ging durch Irenes ganzen Körper, als die andere Frau und ihre beiden Begleiter den Weg für den vorgeblichen Leichentransport freigaben. Ein zweites Aufatmen folgte, als Hansen und der Matrose
Jacob unten im Zwischendeck auf den Boden legten. In einer abgeschiedenen Ecke, wo keiner von Möllers bewaffnetem Trupp stand. Hansen schickte seinen Begleiter wieder auf Deck und sagte zu Irene: »Kümmere dich gut um Jacob, Mädchen!« Sie biß sich auf die Lippen und fragte dann mit vorgetäuschtem Unverständnis: »Ich verstehe Sie nicht, Piet. Wie meinen Sie das? Jacob ist tot!« Hansen grinste und sagte leise: »Dann ist er der verdammt lebendigste Tote, den ich jemals getragen habe. Ich mußte beim Transport mehrmals die Hand auf seinen Mund legen, um das Stöhnen zu unterdrücken.« »Warum haben Sie das getan, Piet?« fragte Irene. »Sie hätten sich die Sache leichter machen und Jacob an die seltsame Frau verraten können.« Fast linkisch fuhr die sonnengebräunte Lederhand des Seebären durch seinen ergrauten Bart. »Hm«, brummte er stirnrunzelnd. »Ich glaube nicht, daß die Sache dadurch für mich einfacher geworden wäre, eher im Gegenteil. Sie ist schon schwer genug. Ich stecke ganz schön tief im Sumpf. Wie tief, das habe ich erst erkannt, als ich unseren Freund Jacob an der Reling liegen sah und ihn für tot hielt.« Er seufzte. »Jetzt muß ich sehen, wie ich aus der Sache wieder herauskomme!« »Was für eine Sache?« fragte Irene. »Sprechen Sie von dem Waffentransport für die Konföderierten?« Hansen nickte betrübt. »Warum machen Sie da mit, Piet? Wieso arbeiten Sie mit solchen Leuten wie diesem Schelp und der schwarzen Frau zusammen? Überhaupt – die Frau. Sie kommt mir irgendwie bekannt vor. Wer ist sie?« »Das weiß ich nicht, wirklich.« Der Kapitän legte eine Hand auf Irenes Schulter. »Alle anderen Fragen müssen warten, Mädchen. Ich muß an Deck. Paß gut auf Jacob auf. Und sieh
zu, daß Möller und seine Männer nicht mitbekommen, wie lebendig er ist!« Wie zur Bestätigung von Hansens Worten wälzte sich Jacob herum und stieß einen tiefes Stöhnen aus. Sofort wanderten Irenes Augen durch das Zwischendeck. Zum Glück war niemand sonst in der Nähe. Auch wenn Jacobs Stöhnen verräterisch sein konnte, sie freute sich darüber. Über jedes Lebenszeichen, das er von sich gab! »Ich lasse von mir hören«, versprach Hansen und entfernte sich. Irene sah, wie er die schmale Treppe hinaufstieg. Ihre Welt bestand aus dem Halbdunkel einer fernen Öllampe, aus Jacobs schwachem Atmen und seinem gelegentlichen Stöhnen und aus Jamies leisem Wimmern. Sie drückte ihr Kind an sich, strich über das kleine Köpfchen mit dem immer dichter werdenden Haar und sagte sanft: »Armer kleiner Jamie. Was du schon alles erleben mußtest. Ich hoffe, daß du noch nicht viel von all dem mitbekommst!« Und sie wünschte, daß es für sie selbst so wäre. * Als Piet Hansen wieder an Deck kam, hatte sich der Nebel größtenteils gelichtet. Besser ausgedrückt, er war gelichtet worden. Und zwar durch den Sturmwind, der die Segel aufblähte und die Bark nach Norden hetzte. »Möller hat unten alles unter Kontrolle«, sagte Hansen zu Schelp, der bei Joe Weisman am Ruder stand. Der Zweite Steuermann gab sich unbeteiligt. Aber sein verbissenes Gesicht und die düsteren Blicke, die er seinem Kapitän dann zuwarf, wenn er sich unbeobachtet glaubte, verrieten, was er von Hansen hielt: nichts Gutes.
Die geheimnisvolle Frau und ihre beiden Begleiter standen in der Nähe an der Steuerbordreling und unterhielten sich leise. Immer wieder blickte sie aufs Meer hinaus. Am Horizont tauchte verschwommen ein dunkler Strich auf. Don Emiliano löste sich von der Gruppe und trat zum Platz des Steuermanns. »Ich müßte mich sehr täuschen, wenn das da drüben nicht die Küste von Mexiko ist«, sagte er in seinem spanisch gefärbten Englisch. »Es ist die Südspitze Kaliforniens«, erwiderte Hansen. »Das ist dasselbe«, fauchte der Mexikaner. »Wir nennen es Baja California. Und wenn es das ist, dann fahren wir schon seit einiger Zeit nach Norden. Dahin zurück, von wo wir gekommen sind. Können Sie mir das erklären, Capitän?« Don Emilianos Hand schwebte wie zufällig über der rechten Außentasche seines blauen Samtrocks. Die Tasche war stark ausgebeult. Und daß er die Hand ausgerechnet dort hatte, war bestimmt kein Zufall. Schuld an der Ausbeulung war der LeMat-Revolver. »Aber gern.« Hansen zwang sich zu einem Lächeln. »Wir fahren nach Norden, weil ein günstiger Wind in diese Richtung weht.« Daß diese Antwort den Mexikaner nicht zufriedenstellte, verriet das erregte Zucken seiner von einem tief schwarzen Bart umfaßten Mundwinkel. Seine Hand näherte sich noch weiter der ausgebeulten Tasche. »Unser Ziel liegt aber nicht im Norden, sondern im Süden!« entgegnete er scharf. »Sie irren sich, Senor«, blieb Hansen gelassen. »Unser Ziel liegt nicht im Süden.« Der Sonderbeauftragte der mexikanischen Exilregierung legte die olivenfarbene Haut auf seiner Stirn in tiefe Falten. »Senor Capitän, was soll das bedeuten? Ich bin zu Scherzen jetzt nicht aufgelegt. Natürlich müssen wir nach Süden
fahren!« »Ja, das müssen wir«, gab der alte Seebär zu. »Aber unser Ziel liegt im Osten. Sie selbst haben doch im Grand Hotel von Fogerty erklärt, daß wir unsere Fracht in einer Bucht südlich von Guaymas löschen sollen. Nun, wir befinden uns ziemlich genau auf der Höhe von Guaymas, wenn mich nicht alle nautischen Kenntnisse verlassen haben.« »Das heißt, diese verwünschten Gringo-Schiffe haben uns vor der mexikanischen Küste angegriffen?« explodierte Don Emiliano. »Wo sie gar nichts zu suchen haben?« »So sieht es aus«, bestätigte der Kapitän. »Aber sie hatten sehr wohl etwas hier zu suchen, nämlich uns.« »Wie meinen Sie das, Käpten?« bellte Schelp, »Ich halte das plötzliche Auftauchen der kleinen Flottille nicht für einen Zufall«, erklärte Hansen. »Die Kriegsschiffe haben uns zweifellos gesucht. Sonst hätten sie uns nicht sofort bei ihrem Erscheinen zur Übergabe aufgefordert und so schnell das Feuer auf uns eröffnet.« »Verflucht!« Schelp kratzte über sein rotes Haar. »Da ist was dran. Aber das bedeutet ja, daß uns jemand verraten hat!« »Ja«, erwiderte Hansen nur. »Aber wer?« »Fragen Sie mich was Leichteres, Schelp«, seufzte der Kapitän. »Ich habe zur Zeit andere Probleme.« »Si, Senor Capitän, die haben Sie«, nickte der Mexikaner mit noch immer umwölkter Stirn. »Nämlich unseren Kurs. Verkaufen Sie mich nicht länger für dumm! Auch wenn Sonora und Guaymas im Osten liegen, wir müssen nach Süden fahren, um ans Ziel zu kommen.« »Das stimmt, Don Emiliano«, sagte Hansen. »Wir müssen die Südspitze von Baja California umsegeln, um in den Golf von Kalifornien zu gelangen.« »Dann segeln Sie endlich nach Süden!« verlangte der Mexikaner sehr laut und sehr scharf. Offenbar war er mit seiner
Geduld am Ende. »Das wäre aber äußerst dumm«, entgegnete der Kapitän. »Damit rechnen die Kriegsschiffe doch. Sie werden uns dort auflauern.« »Ah, ich verstehe«, nickte Schelp. »Deshalb der Nordkurs.« »Ja, deshalb«, bekräftigte Hansen. Schelps offensichtliche Freude über sein Begreifen verflog ebenso schnell wieder, wie sie sein Gesicht aufgehellt hatte. Mit einem fast ebenso skeptischen Blick wie Don Emiliano sagte er: »Aber wir können nicht ewig so weitermachen, Käpten. Was tun wir, wenn die Yankee-Schiffe im Süden bleiben, wovon wir leider ausgehen müssen? Bis zum Nordpol fahren?« »Dafür sind wir nicht ausgerüstet«, versetzte Hansen trocken. »Nein, natürlich können wir nicht immer weiter nach Norden fahren. Wir müssen uns an den Kriegsschiffen vorbeischleichen. Aber ich denke, wir sollten damit warten, bis es dunkel ist.« Ein breites Grinsen überzog Schelps derbes Gesicht. Er versetzte Hansen einen zustimmenden Schlag auf die Schulter. »Ja, das ist ein guter Plan, Käpten. Genauso machen wir es. Sobald es Nacht ist, ändert die ALBANY ihren Kurs um hundertachtzig Grad und gleitet unbemerkt an den Yankees vorbei. Wunderbar!« »Si, es könnte funktionieren«, meinte auch Don Emiliano und ging zurück zur Reling, um Captain McCord und die verschleierte Frau zu informieren. Obwohl Piet Hansen ihr Gesicht nicht sehen konnte, hätte er schwören mögen, daß sie ihm einen durchdringenden Blick zuwarf. Bei dem Gedanken überfiel ihn ein eisiges Frösteln. * Es mußte Nacht sein, dachte Irene. Sie erkannte es nur an der
offenen Eingangstür oberhalb der Treppe. Kein bißchen Licht drang durch sie ins Halbdunkel des Schiffes. Die blonde Frau legte eine Hand auf Jacobs Mund, um sein jetzt fast pausenloses Stöhnen zu dämpfen. Wenn die Wachablösung erfuhr, daß der junge Deutsche noch am Leben war, und es der unheimlichen Frau in Schwarz berichtete, konnten Irenes sämtliche Mühen um Jacob sehr schnell zunichte gemacht werden. Rasch zog sie ihren provisorischen Verband von seinem Kopf und versteckte das blutgetränkte Tuch unter ihrem graubraunen Baumwollkleid. Leider konnte sie dem Freund nicht sagen, er solle sich still verhalten. Er würde sie nicht verstehen; vielleicht hörte er sie nicht einmal. Er dämmerte in einem Zustand zwischen Bewußtlosigkeit und Wachsein dahin, aber noch blieb jede Erkenntnis seinem Geist verschlossen. Die Wunde war ziemlich schlimm, obgleich es nur ein Streifschuß war. Das verfluchte Weichbleigeschoß aus dem Derringer dieser verfluchten schwarzen Frau ! Wer war sie bloß? Irenes Gedanken kehrten zu Jacob zurück. Ein weniger robuster Mann als er wäre der Verletzung vielleicht erlegen. Schon der Schock, als das Blei den Kopf traf, mußte ungeheuerlich gewesen sein. Die Männer der Wachablösung, deren Schritte Irene alarmiert hatten, kamen die Treppe herunter. Die Frau war froh, daß ihr kleiner Jamie neben Jacob lag und friedlich schlief. So konnte sein Geschrei nicht die Aufmerksamkeit der Seeleute auf den verwundeten Zimmermann lenken. Sie sehen fast aus wie Vater und Sohn, dachte Irene zärtlich. Sie schüttelte diesen Gedanken ab. Er war unsinnig, selbst wenn sie es sich wünschte. Jamies Vater hieß Carl Dilger. Carl, der ein Leben als Sohn
des reichen Reeders Wilhelm Dilger für Irene geopfert hatte. Der nach Amerika gefahren war, um für sich und seine Familie eine neue Zukunft aufzubauen. Der jetzt auf den kalifornischen Goldfeldern sein Glück zu machen hoffte. Ihm hatte sie ihr Herz versprochen. Nicht Jacob! Irene hörte zur ihrer großen Verwunderung eine Stimme, die sie kannte. Piet Hansen führte die Wachablösung an. Der Kapitän des Schiffes selbst? Das war seltsam. Aber hatte er ihr nicht versprochen, von sich hören zu lassen? Die junge Frau schöpfte neue Hoffnung. Sie verließ den dunklen Winkel, in den sie sich zurückgezogen hatte, und spähte zu der Treppe nach achtern. Was sie sah, verwirrte sie noch mehr. Nur Piet Hansens vertraute Gestalt trat ins Licht der Öllampe. Seine Begleiter schienen sich absichtlich im Schatten verborgen zu halten. Ein anderer Mann trat auf Hansen zu, ein knochiger Kerl – Georg Möller. »Gehen Sie mit Ihren Leuten rauf, was essen und dann mal 'ne Mütze voll Schlaf nehmen, Möller«, brummte der Kapitän und zeigte mit dem Daumen nach oben. »Sie haben es sich verdient.« »Wollen Sie selbst die Nachtwache hier unten übernehmen, Käpten?« fragte verwundert der Erste Steuermann. »Ja, ich kann nicht schlafen. Da kann ich ebenso gut hier unten hocken und darüber brüten, wie wir die vermaledeiten Yankee-Schiffe ausmanövrieren, falls sie uns noch einmal in die Quere kommen.« »Schön«, meinte Möller und rief seine Männer zusammen, um endlich das muffige Zwischendeck zu verlassen. »Hier ist alles ruhig, Käpten. Schelps Kugel und Ihre Ansprache haben dem Pack den Wind aus den Segeln genommen.«
»In Ordnung«, nickte Hansen. »Schlafen Sie gut.« Möller tippte in der Andeutung eines Grußes an seine Seemannsmütze und führte seine Männer zum Decksaufgang. Als sie den unteren Treppenabsatz erreicht hatten, lösten sich Hansens Begleiter aus den Schatten. Alles ging sehr schnell. Die bisher im Halbdunkel verborgenen Seeleute schwangen schwere Knüppel und ließen sie auf die Köpfe ihrer Kameraden niedersausen. Mehrere der so überraschend Getroffenen stöhnten dumpf auf. Zu mehr waren sie nicht mehr fähig. Sie sackten zu Boden wie schwere, träge Säcke. Nur Möller stand noch aufrecht und zog den, Revolver aus seinem Hosenbund. »Fallen lassen!« bellte Piet Hansen. Der sechsschüssige Kerr-Revolver Kaliber .442 in seiner Rechten unterstützte den Befehl. Dennoch zögerte Möller, ihm nachzukommen. Er brachte seine eigene Waffe nicht in Anschlag, aber er ließ sie auch nicht los. Erst als der Kapitän drohend den Hahn spannte, änderte der Erste Steuermann seine Meinung. Polternd fiel sein sechsschüssiger Webley auf die hölzernen Planken. »Sehr vernünftig«, nickte Piet Hansen zufrieden. Er ließ den Hahn langsam zurückgleiten, behielt die Waffe aber in der Hand. »Und jetzt haben Sie die Wahl, Möller. Wollen Sie mein Gefangener sein? Ich verbürge mich dann dafür, daß Ihnen nichts geschieht, bis ich Sie den Behörden in San Francisco übergebe. Oder stellen Sie sich auf meine Seite, bedingungslos?« »Was geschieht dann?« fragte der Knochige vorsichtig. »Dann bringen wir die ALBANY gemeinsam nach Frisco.« »Und stellen uns dort etwa den Behörden?« Hansen nickte wieder. »Ja, so habe ich mich entschieden. Ich will reinen Tisch machen. Der Krieg zwischen dem Norden
und dem Süden ist nicht meine Sache, ich bin Deutscher. Aber schon weil ich kein Freund der Sklaverei bin, möchte ich die Konföderierten nicht unterstützen. Außerdem fährt die ALBANY immer noch unter der Flagge der Vereinigten Staaten von Amerika. Wäre irgendwie nicht richtig, mit ihr konföderiertes Kriegsgut zu schmuggeln.« »Wo ist da für mich der Unterschied?« wollte Möller wissen. »Ich komme so oder so in die Hände der Yankee-Behörden.« »Der Unterschied liegt doch auf der Hand. Wenn ich Sie als Gefangenen abliefere, sind Sie ein überwältigter Blockadebrecher. Wenn Sie Frisco aber als freier Mann und Schiffsoffizier der ALBANY betreten, gehören Sie zu den Männern, die den Yankees die Schurken ausliefern. Meinen Sie nicht, daß das die Blauröcke irgendwie beeindruckt?« Überlegend rieb Möllers Rechte über das hervorspringende Kinn, so heftig, als wolle sie den Knochen des Unterkiefers freilegen. »Käpten!« stieß er endlich hervor. »Ich stehe auf Ihrer Seite!« »Gut.« Zufrieden steckte Hansen den Kerr zurück in seine Jacke. »Dann heben Sie endlich Ihren Revolver auf.« »Einfach so?« fragte Möller erstaunt. »Sie… vertrauen mir?« »Irgendwann muß man damit anfangen«, antwortete der Kapitän freimütig. »Falls Sie ein falsches Spiel treiben, möchte ich es so früh wie möglich wissen. Am besten jetzt!« »Ich meine es ehrlich«, sagte Möller und bückte sich langsam nach dem Webley. Dabei beäugte er skeptisch den Kapitän, als befürchte der Steuermann, Hansen wolle ihm eine Falle stellen. Der Knochige hob seine Waffe auf, hielt sie einen Augenblick zögernd in der Rechten und steckte sie dann in den Gürtel. »Was ist mit Ihren Leuten?« fragte der Kapitän den Steuermann und sah auf die fünf Seeleute hinab, die so unsanft
schlafen gelegt worden waren. »Könnten sie wieder zu meinen Leuten werden?« »Aye, Käpten, wenn ich ihnen die Sache auseinanderklamüsere.« »Dann fangen Sie gleich damit an, Möller! Oben liegen noch welche. Die richtige Wachablösung. Sie hat auch unser Holz zu schmecken bekommen.« Der Kapitän sah die Männer mit den Knüppeln an und befahl: »Nehmt die Revolver der Burschen an euch! Sie kriegen die Waffen nur zurück, wenn sie die richtige Wahl treffen. Großer, du sorgst dafür, daß die schlafenden Schönheiten von der Wachablösung hierher geschafft werden.« »Aye, aye«, grinste der angesprochene Seemann und eilte die Treppe hinauf. Irene trat auf Hansen zu und sagte erleichtert: »Das ist der alte Piet, den ich kenne. Am liebsten würde ich Ihnen um den Hals fallen und auf jede Wange einen dicken Kuß geben, Käpten!« »Ich bin unbewaffnet, Mädchen«, lächelte der Kapitän und hob zum Beweis die leeren Hände. »Niemand hindert dich.« Er hatte kaum ausgesprochen, da machte die junge Frau ihre Ankündigung auch schon wahr. Als sie ihn wieder losgelassen hatte, fragte er, wie es Jacob ging. »Ein Arzt würde sagen, den Umständen entsprechend.« »Leider haben wir keinen Arzt an Bord«, seufzte Hansen. »Ich hatte nicht mit einer solchen Springflut an Ärger gerechnet, als ich in Hamburg ablegte.« Aber nun sah es so aus, als sollte sich das Blatt für ihn wenden. Von allen Seiten erhielt er Hilfsangebote. Die von Schelp bezahlten Männer, aus ihrem gewaltsam herbeigeführten Schlaf geweckt, wechselten ebenso das Lager wie Georg Möller, als sie ihre Felle davonschwimmen sahen. Immer mehr Passagiere strömten aus den Tiefen des Zwischendecks herbei und boten Hansen ihre Hilfe an, als er
sie über die wahren Hintergründe der heutigen Auseinandersetzungen aufklärte. Allen voran zwei grobgesichtige irische Kleiderschränke, die Zwillingsbrüder Bartly und Gypo Connor. Sie hatten die Kajüte, die sie und ihre Schwägerin Katie O'Faolain samt deren Sohn Timmy sich mit Jacob, Irene und Jamie teilten, verlassen müssen, als Schelp die Passagiere ins Zwischendeck sperren ließ. Das fanden sie mehr als unfreundlich. Und da die Connors, wie auch die O'Faolains, nichts so sehr haßten wie Unfreundlichkeit, erklärten sich die Zwillinge, wie stets vertreten durch Bartly, als erste unter den Passagieren bereit, dem Kapitän zur Seite zu stehen. »Nicht zu viele«, grinste Hansen. »Schließlich will ich nicht den Bürgerkrieg gewinnen. Wir müssen nur drei Männer und eine Frau überwältigen.« »Eine Frau zählt doch wohl kaum!« rief einer aus der Meute der kampfeslustigen Passagiere. »Diese hier schon«, erwiderte Piet Hansen grimmig und dachte mit einem Gefühl der Beklemmung an die unheimliche Frau in Schwarz. * Der Schiffszimmermann der ALBANY hatte die Kajüte, in der Arnold Schelp, Captain Abel McCord, Don Emiliano Maria Hidalgo de Tardonza und die geheimnisvolle Frau untergebracht waren, durch eigens gezogene Zwischenwände in vier kleine Kabinen aufgeteilt. In zwei dieser Kabinen lagen die Passagiere wach in ihren Kojen. Begründet war ihre Schlaflosigkeit in den Geräuschen, die aus einer der beiden anderen Kabinen kamen: heftiges, schnelles Stöhnen und Keuchen. Arnold Schelp grinste zufrieden vor sich hin, während er dem nächtlichen Konzert lauschte, das sogar das gleichmäßige Schlagen der Wellen übertönte. Er wußte, wer das war. Er
hörte das Quietschen der Koje, in der sich der Mexikaner in demonstrativer Unruhe hin und her wälzte. Also konnte es sich bei den Veranstaltern des Konzerts nur um Captain McCord und die Frau handeln. Gut zu wissen, daß sie etwas miteinander hatten, fand der Deutsche. Vielleicht konnte er dieses Wissen noch einmal vorteilbringend einsetzen. Don Emiliano quittierte die störenden Geräusche mit gerunzelter Stirn und mißbilligend nach unten gezogenen Mundwinkeln. Bei Hof und in Diplomatenkreisen hätte das manch einen zur Räson gebracht. Aber hier blieben die deutlichen Signale des Sonderbeauftragten der mexikanischen Exilregierung vollkommen wirkungslos. Nächtliche Finsternis und die vom Schiffszimmermann gezogenen Trennwände sorgten dafür. Die Verursacher der Störung waren auch viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Wie immer in völliger Dunkelheit. Die Frau bestand darauf. Abel McCord fand es einerseits frustrierend, niemals die Frau zu sehen, mit der er schlief, und nicht ihr Gesicht zu kennen. Ja, er wußte nicht einmal ihren Namen. Sie hatte sich in einem kleinen Grenzort in der Nähe der Ecke, in der die Staaten Oregon, Kalifornien und Nevada zusammentrafen, unter dem Kennwort bei ihm gemeldet, das er von seinem Oberkommando erfahren hatte. Er wußte nicht einmal genau, welche Aufgabe sie erfüllen sollte. Er war der Offizier und traute sich zu, die geheime Fracht ohne die Hilfe einer Frau nach Texas durchzubringen. Aber als Soldat war er ans Gehorchen gewohnt. Die Frau sollte eine der besten Geheimagentinnen sein, über die der Süden verfügte, hatte man ihm als Erklärung gesagt. Nun ja, zumindest hatte das Zusammensein mit ihr seine angenehmen Seiten. Daß sie sich sogar vor ihm so bedeckt hielt, fand McCord auf
der anderen Seite in einem gewissen Sinn anregend. Seine Phantasie malte ihm wundervolle Bilder über das vermeintliche Gesicht, das zu dem üppigen roten Lockenhaar gehörte, während er immer tiefer und schneller in sie eindrang. Diesmal schien es nicht nur den Mann zu erregen, der zwischen den Beinen der rücklings auf dem Boden liegenden Frau kniete. Die Kabine bot wenig Platz, und die Koje noch weniger. Ja, auch die Frau keuchte, leise erst, dann immer heftiger. McCord glaubte nicht, daß sie ihm etwas vorspielte. Sie war nicht der Typ für so etwas, und sie hatte auch keinen Grund dazu. Er steigerte seine Bemühungen. Sie sollte es genießen, vielleicht würde sie sich ihm dann offenbaren. Es war wie ein Spiel, fast wie ein Wettkampf. McCord fühlte sich schon als Sieger, als sich ihre behandschuhten Hände auf seinem Rücken im Hemd verkrallten, um ihn stärker gegen ihren Schoß zu drücken. Mit leise flehenden Seufzern bat sie ihn, bloß nicht aufzuhören. In seiner Euphorie bemerkte er die Männer zu spät, die in die Kabine eindrangen. In alle Kabinen! Gewaltsam aufgebrochene Türen. Schnelle, harte Schritte. Das aufblitzende Licht von Blendlaternen. Revolverläufe, die sich auf die Menschen in den Kabinen richteten. Arnold Schelp und Don Emiliano wurden in den Kojen überrascht. Piet Hansens bewaffnete Schar ließ ihnen keine Chance zur Gegenwehr. Der Kapitän selbst drang mit ein paar Begleitern in die Kabine ein, in der sich McCord und die Frau der Lust hingaben. Der Südstaatler registrierte den Lärm erst, als ihn bereits
grelles Licht traf. Es blendete seine an die Dunkelheit gewöhnten Augen so stark, als würden sie von tausend spitzen kleinen Nadeln traktiert. Für Sekunden sah der Captain überhaupt nichts außer der unwahrscheinlichen Helligkeit, die ihn schmerzhaft umfing. Kräftige Arme rissen ihn zurück und hielten ihn mit festem Griff gepackt. Selbst wenn er seine Gegner, die sich ihm nur als phantomhafte Schatten jenseits der gleißenden Mauer aus Helligkeit darstellten, hätte sehen können, wäre er kaum zur Gegenwehr fähig gewesen. Dies hier war die Kabine der schwarzen Frau. Sein Waffengurt mit dem schwarzen Armeeholster, in dem der langläufige Leach & Rigdon steckte, hing an der Koje in seiner Kabine. Hose und Unterhose, die um seine Unterschenkel baumelten, behinderten ihn zusätzlich. Er schämte sich fast zu Tode, dem unbekannten Feind auf diese wenig ruhmreiche Art in die Hände gefallen zu sein. Er hörte ein wildes, abartiges Kreischen. Laut und schrill. Wie von einem gefangenen Tier in Todespanik. Als der Schmerz in seinen sich an die Helligkeit gewöhnenden Augen nachließ, erkannte er, daß kein Tier schrie, sondern die Frau, die eben noch vor Lust gestöhnt hatte. Sie schlug und trat um sich wie ein gefangenes Wildpferd, das zum erstenmal einen Reiter auf seinem Rücken spürte. Mehrere kräftige Männer hatten damit zu tun, sie einigermaßen im Zaum zu halten. Was Abel McCord dann sah, ließ seinen Atem für Sekunden stocken. Die nackten Beine der Frau. Der Anblick war so grauenhaft, daß ihn ein Würgen überfiel. Hansens Männer hatten die Frau endlich im festen Griff. Ihr Auskeilen wurde zu einem Zucken und Winden in den rauhen
Händen, wie sich im Zirkus eine Schlange in der Gewalt ihres Bändigers wand. »Schluß mit den Fisimatenten!« knurrte der alte Seebär, in dessen rechter Faust der Stahl des Kerr-Revolvers bedrohlich im Schein der Blendlaternen blitzte. Er trat auf die überwältigte Frau zu und streckte die Linke nach dem Schleier vor ihrem Gesicht aus. »Jetzt will ich endlich wissen, wer mein geheimnisvoller Passagier ist!« Diese Ankündigung erweckte neue, ungeahnte Kräfte in der Gefangenen. Für die Seeleute kam es überraschend. Die Frau bäumte sich mit solcher Heftigkeit auf, daß sie ihren rechten Arm frei bekam. Nur für Sekundenbruchteile verschwand die Hand in den Falten des schwarzen Kleides. Dann zeigte der vierläufige Sharps Derringer auf den Kapitän. Der Daumen im schwarzen Leder zog den Hahn zurück. Einer der Seeleute war schneller. Mit einem brutalen Griff entwand er der Frau die kleine Schußwaffe und hielt ihren Arm fest. »Danke, Großer«, brummte Hansen und trat dicht vor die Frau. »Mal sehen, wie diese gefährliche Seehexe aussieht!« »Nein, bitte nicht!« flehte die Frau. »Bitte!« . Die Kälte war ebenso aus ihrer Stimme verschwunden wie die Wildheit, mit der sie beim Kampf gegen die Seeleute geschrien hatte. Jetzt wimmerte sie mitleiderregend. Es hörte sich fast an wie ein kleines Kind, das darum bat, nicht von der Mutter getrennt zu werden. »Nicht, Käpten, bitte nicht!« beschwor sie Hansen noch einmal, als seine Hand schon den schwarzen Schleier berührte. Aber sie stieß bei Piet Hansen auf taube Ohren. Er hatte die Nase gestrichen voll, von der Heimlichtuerei und von den Leuten, die zu Arnold Schelp gehörten. Außerdem gab das vorherige Verhalten der Frau nicht dazu
Anlaß, jetzt Mitleid mit ihr zu empfinden. Aus welchem Grund auch? Was hatte sie dagegen, daß man ihr Gesicht sah? Der alte Seebär dachte daran, wie sie mit voller Absicht auf Jacob Adler geschossen hatte, der jetzt im Zwischendeck lag und zwischen Leben und Tod schwebte. Mit einem festen Ruck zog er den schwarzen Hut und den daran befestigten Schleier weg. Der Anblick ließ ihn ebenso erstarren wie alle anderen Männer in der Kabine. Entsetzte Rufe drangen aus einigen Mündern. Ein Mann bekreuzigte sich. Auch Abel McCord stierte mit hervortretenden Augen das an, was man nur schwerlich ein Gesicht nennen konnte. Bei dem Gedanken an seine intimen Erlebnisse mit dieser Frau stülpte sich sein Magen um. Er konnte sich nicht einmal mehr nach vorn beugen, so schnell mußte er sich übergeben. »Grundgütiger!« seufzte Piet Hansen und beeilte sich, Hut und Schleier wieder an den angestammten Platz zu bringen. Dann streifte er die Röcke über die nicht minder entstellten Beine, deren Zustand er bisher gar nicht bemerkt hatte. Er starrte die Frau an und fragte: »Wie… wie ist das bloß passiert?« Als er keine Antwort erhielt, fragte er: »Wer sind Sie überhaupt?« Endlich sagte die Frau etwas, das an das Zischen einer Schlange erinnerte: »Dafür werde ich Sie töten, Kapitän!« Hansen wandte sich von ihr ab. Er befahl, die vier Gefangenen an Armen und Beinen zu fesseln und in der vordersten und größten Kabine, Schelps Unterkunft, zusammenzulegen. Vor der Tür wurde ein bewaffneter Wachtposten aufgestellt. Alle Kabinen und die Gefangenen wurden sorgfältig nach Waffen durchsucht. Schußwaffen und Messer wurden eingesammelt und mitgenommen.
Aber niemand achtete auf den kleinen, für seinen Besitzer in der jetzigen Situation scheinbar unnützen Angeberstock, der neben dem gefesselten Schelp auf dem Kabinenboden lag. * »Alles in Butter«, rieb Piet Hansen zufrieden seine ledernen Seemannshände, als er ins Zwischendeck hinabstieg und sich Irene und Jacob näherte. »Die ALBANY hat ihren Kurs zum zweitenmal in dieser höllischen Nacht geändert, jetzt endgültig. Es geht nach Norden, nach Frisco. Und die vier Obergauner liegen hübsch zusammengeschnürt in der Kabine. Ist für sie zwar nicht gerade die bequemste Art zu reisen, aber ein bißchen zu leiden, wird ihren schwarzen Seelen nicht schaden.« Die Miene des Kapitäns wurde ernst, als er vor den deutschen Auswanderern stand. Irene hockte vor Jacob, der mit geschlossenen Augen auf dem Rücken lag, und tupfte seine Stirn mit einem feuchten Tuch ab. »Wie geht es ihm?« fragte Hansen. »Wie es einem so geht, über dessen Kopf eine ganze Büffelherde getrampelt ist«, stöhnte Jacob und schlug die grünbraunen Augen auf. »Jedenfalls fühle ich mich, als sei ich in eine Stampede geraten.« Vorsichtig tastete seine Hand zum Kopf. Als die Finger den verbundenen Schädel berührten, zuckte der junge Deutsche vor Schmerzen zusammen. »Er ist bei Bewußtsein!« rief Hansen erfreut aus. »Seit wann?« »Vor drei Minuten hat er zum erstenmal die Augen aufgeschlagen«, antwortete Irene, deren kleiner Sohn noch immer friedlich schlummerte. »Und das erste, was er sagte, war, er habe Hunger.«
»Hunger?« echote der Kapitän ungläubig. »Ja, Hunger«, bestätigte der verwundete Zimmermann mit noch brüchiger Stimme. »Ich fühle mich, als würde mein Magen in den Kniekehlen hängen.« »Bei Neptuns Dreizack, jetzt fühle ich es auch!« nickte Hansen und strich über seinen Bauch. »Ist ja auch 'ne ziemliche Weile her, daß wir etwas gegessen haben. Was haltet ihr beide von einem intimen Mitternachts-Dinner am Kapitänstisch, bei Kerzenschein natürlich?« Nach einer kurzen Pause fügte er mit Blick auf den Verwundeten hinzu: »Falls Jacob aufstehen kann.« »Immer, wenn es was zu futtern gibt«, grinste Jacob ein wenig überheblich. Ihm ging es nicht halb so gut, wie er tat. Aber Gejammere half nicht weiter und würde die beiden Freunde nur beunruhigen. Auf Hansen gestützt konnte er zur großen Kapitänskajüte gehen, deren prachtvolle Ausstattung der alte Seebär von seinem Vorgänger Josiah Haskin übernommen hatte. Irene brachte den schlafenden Jamie mit. Hansen ging in eine Ecke, öffnete eine mit aufwendigen Schnitzereien verzierte Wäschetruhe und sagte zu der jungen Mutter: »Leg deinen Sohn doch da hinein, Mädchen. Ein Kinderbett habe ich hier leider nicht.« »Das werden Sie auch wohl kaum brauchen«, lächelte Irene und bettete Jamie vorsichtig in die Truhe. Es ging besser, als sie gedacht hatte. Der überstehende Rand verhinderte, daß ihr Sohn aus dem provisorischen Bett fiel. Während der Smutje in der Kombüse hantierte, um ein kräftiges Essen für den Kapitän und seine Gäste zu bereiten, brachte der Schiffsjunge, ein etwa dreizehnjähriger Neger, eine Blechkanne mit Kaffee und drei große Keramiktassen, die er mit der dampfenden schwarzen Flüssigkeit füllte. Hansen nahm eine edel geformte Flasche aus einem
Wandschrank und stellte sie auf den Tisch. »Bester französischer Kognak, noch aus Josiah Haskins Beständen«, teilte er mit. »Wer möchte?« »Ich nicht«, lächelte Irene. »Mir brummt noch der Kopf von dem, was heute geschehen ist.« »Mein Schädel brummt zwar auch«, meinte Jacob, »aber etwas innere Wärme kann wohl nicht schaden.« »Das ist ein Männerwort«, brummte Hansen zufrieden. Er reicherte Jacobs und seinen eigenen Kaffee mit einem ordentlichen Schuß des französischen Weinbrands an und setzte sich dann zu den beiden Auswanderern an den Tisch. »Auf den Hafen von Frisco, den wir im Laufe des morgigen Tages hoffentlich wohlbehalten und ohne weitere Zwischenfälle anlaufen!« sagte der Kapitän laut, während er seine Tasse hob. Dann nahm er einen ordentlichen Schluck. Ein paar dunkle Tropfen blieben in seinem Bart hängen und glitzerten im hellen Licht des über dem Tisch hängenden kristallenen Lüsters. Er stellte die Tasse zurück und schüttelte sich plötzlich. Sein eben noch Wohlbehagen ausdrückender Gesichtsausdruck verzog sich zu einer Grimasse. »Was haben Sie, Piet?« fragte Irene, die selbst gerade einen Schluck getrunken hatte. »Ich finde, der Kaffee ist sehr gut. Oder schmeckt Ihnen der Kognak nicht?« »Nein, der ist gut. Ich mußte nur gerade an diese Frau denken, an… an das… Gesicht!« Das letzte Wort kam ihm nur schwer über die Lippen. Das Entsetzen, das er beim Anblick der entschleierten Frau empfunden hatte, spiegelte sich auf seinen Zügen wider. »Sie haben das Gesicht gesehen?« erkundigte sich Irene neugierig. Der Kapitän nickte. »Es ist ein scheußlicher Anblick. Die Haut – sie scheint mit den Knochen verschmolzen zu sein. Ich weiß, daß es Unsinn
ist, aber so sieht es aus. Als hätte jemand Salzsäure über das Gesicht geschüttet und alles weggeätzt, was auch nur entfernt menschlich war. Nur das rote Haar scheint unberührt geblieben zu sein. Aber sonst ist sie stark entstellt, vielleicht am ganzen Körper. Zumindest die Beine sehen so aus wie das Gesicht. Die Haut ist…« Er brach ab, als er Irenes bestürzten, bleichen Gesichtsausdruck bemerkte. »Verzeiht, Freunde, ich wollte euch nicht erschrecken. Ich denke auch, meine Beschreibung genügt.« »Das tut sie«, versicherte Jacob. »Mich konnten Sie übrigens gar nicht erschrecken. Ich habe das Gesicht der Frau schon auf Deck gesehen, kurz bevor sie auf mich schoß.« »Stimmt ja«, nickte der Kapitän, der die Szene hilflos mitangesehen hatte. »Ich möchte wissen, was mit der Frau geschehen ist. Und natürlich auch, mit wem wir es überhaupt zu tun haben. Mir hat sie es jedenfalls nicht gesagt.« »Ich kenne sie«, sagte Jacob und blickte die junge Frau an. »Du übrigens auch, Irene.« »Ja, das Gefühl hatte ich auch. Allerdings komme ich nicht darauf, wer sie ist.« »Denk an den Ohio River und an unsere Fahrt auf der ONTARIO!« »O Gott!« Irene schlug die Hände vor ihr schönes, noch jugendlich glattes Gesicht. »Willst du damit sagen, daß…« Dann nickte sie. »Ja, natürlich, sie ist es. Das rote Haar, die Stimme. Es ist Vivian Marquand!« »Ihr beide kennt sie?« fragte der Kapitän verwundert. »Vom Ohio River? Klingt so, als hättet ihr eine Menge erlebt, seit ihr die ALBANY in New York verlassen habt.« »Das kann man wohl sagen«, lachte Jacob auf, als er an die mannigfachen Abenteuer dachte, die hinter ihm und Irene lagen. Schon in New York City hatten sie begonnen und waren zu verläßlichen Begleitern der beiden Deutschen bei ihrer
Reise quer durch den nordamerikanischen Kontinent geworden. Dann erzählte er Piet Hansen davon, wie Vivian Marquand, die mit ihrem Mann Alec eine Frachtagentur in Pittsburgh betrieben hatte, ihn und seinen Freund Martin Bauer als Frachtbegleiter anheuerte. Zusammen mit Irene und dem kleinen Jamie waren sie auf dem Schaufelraddampfer ONTARIO den Ohio River hinuntergefahren. Bis sie feststellen mußten, daß die begleitete Fracht nicht aus Konserven bestand, sondern aus Revolverkanonen. Vivian Marquand war eine Agentin der Konföderierten und wollte die Waffen zu der von den Nordstaatlern eingeschlossenen Stadt Vicksburg bringen. »Dann ist sie ihrem Metier ja treu geblieben«, brummte Hansen und genehmigte sich noch einen Schluck des veredelten Kaffees. »Was geschah dann?« »Eine Menge«, antwortete Jacob und berichtete von dem schurkischen Max Quidor, dessen unangenehme Bekanntschaft Jacob und seine Freunde bereits in New York City gemacht hatten. Dort raubte Quidor den kleinen Jamie und wollte sich Irene gefügig machen. »Auf dem Ohio haben wir Quidor wiedergetroffen«, fuhr der Zimmermann fort. »Er war der Organisator des Waffenschmuggels. Ein Dampfer der US-Marine schoß die von Quidors Männern besetzte ONTARIO in Brand. Die Ladung explodierte. Quidor hätte Irene, Martin und mich umgebracht…« »Und?« fragte Hansen gespannt. »Was ist passiert?« »Vivian Marquand tauchte auf und schoß Quidor in den Rücken. Er fiel in den Fluß.« »Diese Frau hat euch gerettet?« meinte der ungläubige Kapitän. »Warum?« »Wegen ihres Sohns George, sagte sie. Ihr Junge starb, als die Yankees zur Plantage der Marquands kamen und daraufhin die Negersklaven rebellierten. Sie wollte nicht, daß Jamie ein
ähnliches Schicksal ereilte. Deshalb schoß sie auf Quidor. Dann starb sie selbst – jedenfalls glaubten wir das. Alles brach auf der ONTARIO auseinander. In dem Wirrwarr stürzte die Frau über Bord. Da sie von den Suchtrupps nicht gefunden wurde, hielten wir sie für tot. Der Ohio konnte ihre Leiche sonstwohin gespült haben.« »Wirklich eine abenteuerliche Geschichte«, murmelte Piet Hansen und wurde sich dann erst bewußt, daß die Geschichte, in die sie alle zur Zeit verwickelt waren, kaum weniger abenteuerlich war. »Aber eins verstehe ich nicht: Wenn diese Mrs. Marquand euch damals geholfen hat, warum wollte sie dich vor ein paar Stunden umbringen, Junge?« »Eine gute Frage«, seufzte Jacob. »Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Erst glaubte ich, sie wollte nicht, daß man sie erkennt. Vielleicht war es tatsächlich auslösend für den Schuß auf mich, daß ich ihr entstelltes Gesicht sah. Ich würde auch nicht wollen, daß mich jemand so sieht. Aber ich glaube, daß da noch mehr ist. Sie scheint mich aus tiefster Seele zu hassen. Möglich, daß es mit ihrer Entstellung zusammenhängt.« Irene bohrte ihren Blick in Jacobs Gesicht und fragte: »Woran denkst du?« »An die Explosionen, die damals die ONTARIO geradezu in Stücke rissen. Überall waren Flammen. Wären wir nicht rechtzeitig in den Fluß gesprungen, wären wir elend verbrannt. Was ist, wenn Mrs. Marquand nicht solches Glück hatte?« »Aber ich denke, sie ist ins Wasser gestürzt«, wandte Hansen ein. »Schon wahr«, sagte Jacob. »Aber gleichwohl könnte sie unter die brennenden Trümmer des Dampfers geraten sein. Vielleicht wurde sie nicht durch Säure so entstellt, sondern durch Feuer!« »Ja, das wäre möglich«, meinte Irene leise. »Fragen wir sie doch einfach!« schlug Hansen vor. »Das
Essen ist eh noch nicht fertig.« »Geht nur«, nickte Irene. »Ich bleibe bei Jamie.« »Einverstanden«, sagte Jacob zu dem Kapitän. Der junge Auswanderer war begierig, mehr über Vivian Marquands Schicksal zu erfahren. * Don Emiliano Maria Hidalgo de Tardonza war der erste, der die eintönige Geräuschkulisse der gegen den Schiffsrumpf schlagenden Wellen übertönte: »Das alles ist ganz allein Ihre Schuld, Senor Schelp! Sie haben diesen Capitän Hansen angeschleppt, der uns hier eingewickelt hat wie gefangene Fische. Dafür wird meine Regierung Sie zur Verantwortung ziehen!« Trotz der trüben Lage zauberte Arnold Schelp zur allgemeinen Verwunderung der anderen Gefangenen ein breites Grinsen auf sein Gesicht. »Erstens existiert Ihre Regierung nur auf dem Papier, Don Emiliano. In Mexiko gibt es im Augenblick wohl nur zwei Parteien, die etwas zu sagen haben: die Franzosen und die Anhänger von Benito Juarez.« Er achtete nicht auf den protestierenden Gesichtsausdruck des Mexikaners und fuhr fort: »Zweitens dürfte es, wie es jetzt aussieht, eher die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika sein, die mich zur Verantwortung zieht. Und nicht nur mich, sondern uns alle, Sie eingeschlossen, Hidalgo.« Mit voller Absicht verzichtete Schelp auf das förmliche ›Don Emiliano‹. Er wollte dem hochnäsigen Mexikaner bewußt machen, daß sie alle in einem Boot saßen – oder in einem Schiff lagen, was in diesem Fall aufs selbe herauskam. »Mich bestimmt nicht«, zischte der Mexikaner. »Als Sonderbeauftragter der mexikanischen Exilregierung genieße ich diplomatische Immunität!«
Wieder grinste Schelp. »Ich glaube nicht, daß sich die Yankees davon beeindrucken lassen, Senor. Schließlich steht Mr. Lincoln eher auf der Seite von Juarez. Und Lincoln ist nicht erbaut über die europäische Einmischung, die Ihre sogenannte Exilregierung nach Mexiko gebracht hat. Außerdem fackeln die Nordstaatler nicht lange mit Spionen, Saboteuren und Blockadebrechern. Ich könnte mir gut vorstellen, daß Ihre diplomatische Immunität vor einem Erschießungskommando endet!« »Das alles ist nur Ihre Schuld!« keifte Don Emiliano, trotzig wie ein kleines Kind. Aber er konnte damit nicht übertünchen, daß die Worte des Deutschen ihm Angst gemacht hatten. Schelp, der ihn genau beobachtete, fühlte sich bei dieser Erkenntnis befriedigt. Der Deutsche kam aus einfachen Verhältnissen und hatte sich immer weiter nach oben durchgekämpft. Er haßte alle hochwohlgeborenen Herren und Damen, die auf Männer wie ihn voller Abscheu herabblickten, falls sie ihn denn überhaupt zur Kenntnis zu nehmen pflegten. Jedesmal, wenn er einem adligen Fatzken eins auswischen konnte, war es ihm eine besondere Genugtuung, selbst in dieser bescheidenen Lage. Die Frau in Schwarz – Vivian Marquand, die sich zur Tarnung Vivian Smith genannt hatte – hatte sich wieder in der Gewalt. Als sie jetzt sprach, klang ihre Stimme fast so kühl und gefühllos wie stets. Fast – denn ein Vorwurf war unüberhörbar: »Wenn wir uns gegenseitig zerfleischen, bringt uns das nicht weiter! Wir sollten lieber gemeinsam nach einem Ausweg suchen. Und zwar schnell, bevor wir San Francisco erreichen!« »Ganz Ihrer Meinung, Lady«, erwiderte Schelp. Er ignorierte den Vorwurf und sprach ganz so, als handle es sich bei der Suche nach einem Ausweg um eine bloße Formsache. »Sie scheinen ja sehr zuversichtlich zu sein, daß uns rechtzeitig etwas einfällt«, bemerkte die Frau. »Das brauche ich gar nicht, Madam, denn mir ist schon etwas
eingefallen.« »Was?« »Wir sollten uns befreien und das Schiff mit einem der Rettungsboote verlassen. Später in der Nacht, wenn sich die Aufregung gelegt hat und die meisten Menschen an Bord schlafen.« »Und die Ladung?« fragte Vivian Marquand. »Es ist natürlich bedauerlich, daß wir die kostbare Fracht auf der ALBANY zurücklassen müssen. Aber wie der Überfall durch Käpten Hansen gezeigt hat, kann ich mich nicht auf die Männer verlassen, die sich mein gutes Geld in die Taschen gestopft haben. Deshalb schlage ich vor, daß wir versuchen, uns die Fracht in Frisco zurückzuholen. Der Goldrausch zieht allerlei Gesindel an, und die meisten finden nicht einmal ein Körnchen Gold. In Frisco dürften sich eine Menge Männer herumtreiben, die für Geld zu allem bereit sind.« »Das klingt ja alles sehr vernünftig«, sagte Don Emiliano säuerlich. »Nur fürchte ich, daß Ihr hochtrabender Plan schon in seiner Anfangsphase an einem kleinen, aber nicht unwichtigen Detail scheitern wird, Senor Schelp!« »So?« Der Deutsche zog die rötlichen Brauen hoch. »Wollen Sie so gütig sein, mir dieses Detail zu verraten, Don Emiliano?« »Aber gern. Ich meine die Befreiung. Die Heilige Jungfrau Maria mag wissen, wie wir uns befreien sollen, so zusammengeschnürt, wie wir sind! Dieser Fuchs von Capitän hat uns nicht die kleinste Klinge gelassen.« »Doch, er hat!« Schelp sonnte sich zwanzig, dreißig Sekunden in der Wirkung seiner Worte. Dann zeigte er den anderen, was er meinte. Zwar konnte er die Arme nicht bewegen, aber durch geschicktes Hin- und Herrollen hatte er es geschafft, seinen Stock zwischen die Finger der gefesselten Hände zu
bekommen. Er drehte sich noch ein Stück, so daß die anderen ihn gut sehen konnten. »Was soll das?« grunzte der Mexikaner unwillig. »Wollen Sie den Capitän verprügeln, damit er uns freiläßt?« »Nicht nötig, für unsere Befreiung sorge ich schon selbst.« Schelps Finger drehten an dem Silberknauf. Es gab ein leises Klacken. Aus dem unteren Stockende sprang eine etwa acht Zoll lange, scharfe Klinge. Nur wenig Licht drang durch die Fensteraufbauten auf Deck hinunter in die Kajüte. Kapitän Hansen hatte alle Lampen einsammeln lassen, damit sich die Gefangenen nicht Feuer und Glas zunutze machen konnten. Aber als Schelp den Stock langsam drehte, reichte das Licht, um den scharfen Stahl aufblitzen zu lassen. »Sehr gut«, lobte die Frau. »Si, Sie haben mich überzeugt, Senor Schelp«, verkündete großmütig Don Emiliano. »Worauf warten Sie noch? Schneiden Sie uns endlich los!« »Noch nicht. Wir müssen uns noch ein paar Stunden gedulden. Bis die Nacht älter ist und wir näher an Kalifornien sind.« Schelp warf einen langen Blick auf den Mexikaner und fügte hinzu: »Ich meine das amerikanische Kalifornien, Don Emiliano, nicht Ihr Baja California.« »Still!« zischte Vivian Marquand. Sie hörten die Schritte, die sich rasch der Kajüte näherten. Jemand sprach mit dem Wachtposten vor der Tür. Schnell ließ Schelp durch eine Drehung am Knauf die Klinge in den Stock zurückgleiten und verbarg das wertvolle Stück unter seinem Körper. Da wurde die Tür auch schon geöffnet… * Piet Hansen betrat den Raum.
Halb hinter ihm stand Jacob Adler, die Finger der rechten Hand um die dünnen, gebogenen Blechstäbe geklammert, aus denen der Doppelgriff einer Blendlaterne bestand. Der Griff war so gearbeitet, daß man die Laterne an einen Gürtel hängen konnte und beide Hände bei der Arbeit frei hatte. Der helle Lichtstrahl, der durch die mattglasige Vergrößerungslinse drang, wanderte über die vier am Boden liegenden Menschen und verharrte auf den Stricken, mit denen sie gefesselt waren. »Scheint alles in Ordnung zu sein«, stellte der junge Deutsche fest. Er konnte nicht ahnen, wie sehr er sich täuschte. Schelp lag so auf seinem Stock, daß von der zur Waffe umfunktionierten Gehhilfe auch nicht die kleinste Spitze zu sehen war. Der rothaarige Geschäftemacher hatte ein unbeteiligtes, abweisendes Gesicht aufgesetzt und ließ sich seine Erleichterung nicht anmerken, daß der Kapitän der ALBANY sich nicht für ihn interessierte. Hansen beugte sich über die Frau, öffnete ein abgegriffenes Klappmesser und zerschnitt ihre Fußfesseln. Er zögerte, ob er sie auch von den Armfesseln befreien sollte, entschied sich dann dagegen und klappte die Klinge zurück in den hölzernen Messergriff. »Mrs. Marquand, stehen Sie bitte auf«, sagte er fast übertrieben höflich. »Ich helfe Ihnen dabei.« »Ist das Ihr richtiger Name?« entfuhr es Abel McCord. Seit der Gefangennahme hatte der Südstaaten-Captain geschwiegen. Scham über die Art seiner Überwältigung, Verwirrung über die plötzlich veränderte Lage, Selbstvorwürfe wegen seiner Leichtsinnigkeit und Abscheu vor den erlebten Intimitäten mit der Frau in Schwarz hatten seine Gedanken beschäftigt und seine Lippen versiegelt. Er erhielt keine Antwort. Die Frau schwieg, ließ sich von Hansen aufhelfen und verließ mit ihm und Adler die Kajüte.
Erst als sich die Tür geschlossen hatte, drehte sich der Mexikaner zu dem Südstaatler um und fragte vorwurfsvoll: »Capitän, Sie wissen nicht, wer Ihre Begleiterin ist?« »Nein.« »So ein Leichtsinn. Das hätte es in der mexikanischen Armee nicht gegeben!« »Welche mexikanische Armee meinen Sie, Don Emiliano?« fragte McCord scharf. »Die, die für Benito Juarez kämpft? Oder die, die dem französischen Marschall Bazaine gehorcht?« Der Sonderbeauftragte der mexikanischen Exilregierung sah den Captain der Konföderierten konsterniert an. Arnold Schelp konnte einen lauten Lachanfall nur mit Mühe unterdrücken und in ein ersticktes Husten verwandeln. * Piet Hansen und Jacob Adler führten die Frau in Schwarz nach achtern in einen engen Raum, ganz am Ende der ALBANY. Er bot gerade genug Platz für die drei Menschen. Neben allerlei Hausrat und einem kleinen Ofen gab es einen winzigen Tisch und einen Hocker, der auf drei wackligen Beinen stand. »Setzen Sie sich, Ma'am«, sagte der Kapitän und zeigte auf den grob geschnitzten Hocker. Zögernd gehorchte die Frau und fragte: »Wo sind wir?« »Im Bereitschaftsraum für den Stewart«, erklärte Hansen. »Aber auf dieser Fahrt hat die ALBANY keinen Stewart an Bord. Wir sind hier also ungestört.« »Warum wollen Sie, daß wir ungestört sind?« »Damit Sie uns ein paar Fragen beantworten, Ma'am.« Hansen zeigte auf Jacob, der die Blendlaterne auf ein niedriges Bord zwischen verstaubte Tassen und Teller gestellt hatte. »Mein junger Freund hat mir erzählt, was sich auf dem Ohio ereignet hat. Er hielt Sie für tot und war ziemlich überrascht,
Sie wiederzutreffen. Und jetzt fragt er sich, weshalb Ihnen so viel daran liegt, sein Leben drastisch verkürzen zu wollen.« »Das haben Sie doch schon gesehen!« fauchte Vivian Marquand und ließ alle vorgetäuschte Gefühllosigkeit fahren. »Sie beide. Oder möchten Sie noch einmal in mein schönes Gesicht blicken?« Jacob hörte deutlich den Vorwurf in ihren Worten. Und wieder fragte er sich, ob die schreckliche Entstellung der alleinige Grund für ihren Haß war. Ein anderer Gedanke tauchte auf: Konnte es sein, daß die Frau beim Untergang der ONTARIO den Verstand verloren hatte? Laut fragte er: »Mrs. Marquand, werfen Sie mir etwa vor, was Ihnen zugestoßen ist?« »Jaaa!« schrie die Frau. »Sie haben die Schuld daran, Adler. Sie, dieser Martin Bauer und Ihre blonde Freundin!« »Das verstehe ich nicht«, erwiderte der junge Deutsche und deutete auf den Schleier. »Wie ist das geschehen?« »Ich war bereits im Ohio, als das Feuer über mich kam. Plötzlich war es überall. Selbst das Wasser schien zu brennen!« »Vielleicht ausgelaufenes Petroleum«, vermutete Jacob. »Hm«, brummte Hansen, »könnte sein.« »Ich konnte mich nur retten, indem ich untertauchte«, fuhr Mrs. Marquand fort. »Aber da war es schon zu spät. Alles war verbrannt, meine Kleidung und mein ganzer Körper. Nur meine Haare nicht!« Sie schüttelte den Kopf und ließ die prächtigen roten Locken wie eine Fahne wehen. »Ist das nicht komisch?« »Komisch ist wohl kaum der richtige Ausdruck«, meinte Jacob und fragte: »Wie ging es weiter mit Ihnen?« »Ein paar Hinterwäldler fischten mich aus dem Fluß. Sie lebten in einer kleinen Siedlung zusammen mit irgendwelchen Indianern. Ich weiß nicht mal, von was für einem Stamm die waren. Aber sie schafften es durch ihre Kräuter, mit denen sie meinen Körper immer und immer wieder einhüllten, die
Wunden zu verschließen und mich am Sterben zu hindern. Lange Zeit wünschte ich mir nichts so sehr wie zu sterben. Ich war wie von Sinnen. Aber langsam kehrte mein Verstand zurück, und ich dachte an Alec.« Sie schluckte schwer und fuhr dann fort: »Eines Nachts stahl ich mich davon. Es trieb mich zu Alec, obwohl ich wußte, daß ich ihm niemals wieder unter die Augen treten konnte. Nicht so, wie ich aussah.« Ihre hastig hervorgestoßenen Worte gingen in ein Schluchzen über. »Er sollte mich doch als die Frau in Erinnerung behalten, die er geliebt und geheiratet hatte.« Jacob glaubte zu verstehen, was sie meinte. Er dachte an die Vivian Marquand, die er in Pittsburgh kennengelernt hatte. Eine schöne, stolze, von den Männern bewunderte Frau Anfang der Dreißig, mit einem schmalen, makellosen Gesicht, für das die flammendroten Locken den richtigen Rahmen abgaben. Damals! Jetzt war es anders geworden. Die Schönheit hatte sich in ein Schreckgespenst verwandelt, jedenfalls in den Augen der oft gedankenlosen Mitmenschen. Schon eine Frau, die vorher häßlich wie die Nacht gewesen war, hätte unter Vivian Marquands Entstellungen Höllenqualen gelitten. Wieviel schlimmer mußte es erst dieser einstmals wunderschönen Frau gehen? Eigentlich wäre sie zu bemitleiden gewesen, wäre mit ihrem Körper – wie es schien – nicht auch ihre Seele verbrannt. Jacob hob in einer Geste der Hilflosigkeit die Arme. »Aber warum geben Sie mir und meinen Freunden die Schuld an Ihrem Schicksal?« »Ohne Sie wäre alles anders gekommen. Dann wäre die ONTARIO vielleicht nicht gesunken. Und ich… ich wäre noch die Frau von früher!« »Sie selbst haben uns an Bord der ONTARIO geholt«,
erinnerte Jacob die Frau. Sie schwieg lange und sagte dann: »Vielleicht haben Sie damit recht, Adler. Vielleicht bin ich ungerecht, was die Sache auf dem Ohio betrifft. Aber Sie können nicht leugnen, daß Sie die Schuld an dem trifft, was Alec zugestoßen ist! Captain Quantrill hat dem Hauptquartier alles berichtet.« Jacob schüttelte den Kopf und begann laut zu lachen. »Was finden Sie daran so lustig, Adler?« erkundigte sich Mrs. Marquand im scharfen Ton. »Nicht lustig, sondern tragikomisch«, berichtigte der junge Zimmermann. »Ihr Mann hielt Sie nach dem Untergang der ONTARIO für tot, wie wir alle. Deshalb wollte er sich an mir rächen, wie er mir auf der McMillan-Farm sagte. Dabei konnte ich ihn überwältigen. Und dafür wollen Sie sich jetzt an mir rächen, Mrs. Marquand! Finden Sie das nicht verrückt?« »Verrückt?« Die Frau zuckte mit den Schultern. »Würde mir mal jemand auf die Sprünge helfen?« bat Piet Hansen. »Was hast du mit diesem Mr. Alec Marquand zu tun, Jacob?« »Nicht viel. Ich habe nur einen bescheidenen Beitrag dazu geleistet, ihn und seine Kumpane daran zu hindern, Lincoln zu ermorden. Dabei geriet Marquand in Gefangenschaft.« »Lincoln?« betonte Hansen jede Silbe. »Sprichst du von Präsident Abraham Lincoln, Junge?« »Ich kenne keinen anderen.« »Beim muschelgeschmückten Barte Neptuns, du mußt seit New York wirklich allerhand erlebt haben«, staunte der Kapitän. »Sag bloß, du hast Lincoln selbst gesehen?« Der Auswanderer nickte. »Ich habe ihn gesehen und mit ihm gesprochen. Er hat Martin, Irene und mir sogar als Beweis seiner Dankbarkeit die Fahrt den Mississippi hinauf bezahlt.« Jacob wandte sich wieder der Frau zu. »Wollen Sie nicht versuchen, Ihren Haß zu begraben, Mrs.
Marquand? Vielleicht gibt es doch eine gemeinsame Zukunft für Sie und Ihren Mann, wenn dieser verdammte Krieg erst vorbei ist. Wenn Ihr Mann Sie wirklich liebt…« »Für uns gibt es keine gemeinsame Zukunft!« unterbrach sie den Deutschen barsch. »Woher wollen Sie das so genau wissen?« »Vor anderthalb Monaten erhielt ich die Nachricht, daß Alec wegen Spionage, Verschwörung und des versuchten Mordanschlags auf Lincoln zum Tode verurteilt und in Philadelphia erschossen worden ist.« »Das wußte ich nicht«, sagte Jacob leise. Die verschleierte Frau stand auf. »Ich glaube, wir haben uns nichts mehr zu sagen. Bringen Sie mich bitte zurück!« Jacob und Piet Hansen erfüllten ihr den Wunsch und führten sie zur Gefangenenkajüte. »Ich muß Sie wieder fesseln«, sagte der Kapitän, als sich die Frau auf den Boden legte. »Tun Sie sich keinen Zwang an«, lautete die kühle Antwort. Als Hansen fertig war, meinte er stolz zu Jacob: »Doppelter Spezial-Seemannsknoten. Den bekommt niemand auf!« Hätten sie hinter den schwarzen Schleier sehen können, hätten sie die groteske Verzerrung der narbigen Fratze bemerkt, die ein für Piet Hansen und Jacob Adler wenig Gutes verheißendes Grinsen bedeutete. * In der Kapitänskajüte wartete nicht nur Irene auf Jacob und Piet Hansen, sondern auch das Essen. Dampfheiße Wohlgerüche erfüllten den Raum. Der dicke Schiffskoch Dietrich Melzer aus Pommern, den Jacob und Irene noch von ihrer ersten Reise auf der ALBANY kannten, hatte sich wirklich Mühe gegeben. Es gab Ente in Preiselbeersoße, dazu
Rotkohl, Semmelknödel und Bratäpfel, die mit einer undefinierbaren, aber überaus leckeren Füllung versehen waren. Dazu ließ Hansen einen Rotwein bringen, französischen, wie er eigens bemerkte. »Hat heute jemand Geburtstag?« fragte Irene zum Spaß. Und Jacob meinte, kaum sein genußvolles Kauen unterbrechend: »Das ist ja wie Weihnachten.« »Hmm«, machte Irene und schluckte einen großen Bissen hinunter. »Weihnachten war unser Essen nicht so delikat.« Vielleicht war das Essen nicht so raffiniert gewesen, dachte Jacob. Aber er hatte das Weihnachtsfest in der verschneiten Siedlung Abners Hope genossen. Nach den vielen Aufregungen und Strapazen des großen Trecks über die Rocky Mountains hatten die Wochen der Ruhe und Beschaulichkeit gutgetan. Die Ereignisse auf der ALBANY zeigten, wie wichtig die Verschnaufpause gewesen war, um frische Kräfte zu sammeln. Jacob dachte mit Wehmut an die kleine Siedlung in einem fruchtbaren Tal östlich der Cascade Range. Beim Bau der Blockhäuser war der Zimmermann maßgeblich beteiligt gewesen. Mit jedem dieser Häuser verband er vertraute Gesichter. Er hatte viele Freunde dort zurückgelassen. Einen vermißte er besonders: Martin. Nach dem Essen räumte der schwarze Schiffsjunge den Tisch ab. Hansen füllte die Weingläser auf. Dann erzählte Jacob von dem Gespräch mit Vivian Marquand. »Klingt nicht sehr erheiternd«, kommentierte Irene mit düsterer Miene den Bericht. »Unsere Bekanntschaft mit Mrs. Marquand hat von Anfang an unter keinem guten Stern gestanden.« »Weil diese Frau euch belogen hat!« sagte Piet Hansen. »Sie wollte euch für ihre eigenen Zwecke einspannen. Daraus konnte nichts Gutes erwachsen. Alles, was geschehen ist, hat
sie selbst zu verantworten.« »Sie sollten nicht zu hart über sie urteilen, Piet«, seufzte Irene. »Nanu?« gab sich der Kapitän erstaunt. »Das klingt fast so, als würdest du das Handeln dieser Frau billigen.« »Billigen nicht, aber ich verstehe es vielleicht zum Teil. Außerdem werde ich ihr nicht vergessen, daß sie sich um mich und Jamie gekümmert hat, als ich nach dem Sturz in den Ohio im Fieberwahn lag. Und sie hat Jacob, Martin und mich gerettet, als Max Quidor uns töten wollte.« »Jaaa«, knurrte Hansen gedehnt, und schon die Stimmlage kündete von seiner Mißbilligung. »Und vor einigen Stunden wollte sie Jacob erschießen!« »Lassen wir das«, schlug Jacob vor und fügte in völliger Fehleinschätzung der Lage hinzu: »Mrs. Marquand kann uns nicht mehr gefährlich werden.« Er beugte sich weit über den Tisch und blickte in das bärtige Gesicht des Kapitäns. »Sprechen wir lieber von Ihnen, Piet!« »Von mir?« Er spielte den Unwissenden. Aber die Runzeln, die sich auf seiner Stirn bildeten, und das Zusammenziehen der Augen verrieten den alten Seemann. Er wußte, was jetzt kommen würde. Und darauf freute er sich ganz und gar nicht. »Von Ihnen, Piet«, nickte Jacob bekräftigend. »Und von Ihrer seltsamen Geschäftsverbindung zu diesem Arnold Schelp. Meinen Sie nicht, daß Irene und ich ein Anrecht haben, die ganze Geschichte zu hören?« »Doch, wahrscheinlich«, brummelte der Kapitän und trank einen gehörigen Schluck Wein. »Aber die Geschichte ist nicht schön und ein bißchen verwickelt.« »Fangen wir doch mit etwas Einfachem an«, sagte der Zimmermann. »Was für eine Fracht hat die ALBANY geladen?«
»Kanonen für die belagerten Südstaatler in Texas.« »Baut man dort keine Kanonen?« fragte Irene. »Nicht viele«, antwortete Hansen. »Der Süden hat immer von der Landwirtschaft gelebt, von seinen großen Plantagen, vor allem von der Baumwolle. Für die Schwerindustrie ist der Norden zuständig. Das hat sich im Krieg verhängnisvoll für den Süden ausgewirkt. Wo die großen Fabriken des Nordens immer mehr und immer bessere Waffen herstellen, müssen sich die Südstaatler alles mühsam zusammenklauben. Und selbst das wird immer schwieriger durch die Geländegewinne der Union und durch die Seeblockade. Zur Zeit sind die Konföderierten auf die Einfuhr von Kriegsgerät stärker angewiesen denn je. Und Kerle wie dieser Schelp verdienen sich daran eine goldene Nase!« Hansen sprach von dem rothaarigen Geschäftemacher mit unüberhörbarer Verachtung. Um so mehr verwunderte es Jacob, daß Hansen sich mit ihm eingelassen hatte. Was er dem Kapitän auch sagte. »Mit Schelp ist das so eine Geschichte«, erwiderte Hansen zögernd. Während er sprach, wanderte sein Geist weit zurück, mehr als zwanzig Jahre in die Vergangenheit. Er war wieder Kapitän an Bord der HENRIETTA. Die Auswanderer-Bark geriet mitten im Ärmelkanal in einen plötzlichen, verheerenden Sturm. Ein wahrer Orkan. Er brach so schnell über den dreimastigen Segler herein, daß die Besatzung nicht mehr alle Befehle ihres jungen Kapitäns zum Einholen und Reffen der Segel ausführen konnte. Trotzdem war Hansen, der damals noch Hannes Peterson hieß, guter Hoffnung, die HENRIETTA ohne größere Schäden auf Kurs zu halten. Schließlich war er ein guter Kapitän – jedenfalls glaubte er das. Doch dann geschah das Unfaßliche: Sämtliche Pumpen fielen kurz hintereinander aus. Die HENRIETTA sank wie ein Stein, den jemand ins Wasser
geworfen hatte. Und nur wenige der fünfhundert Menschen an Bord konnten sich retten. Das erzählte Piet Hansen schweren Herzens den beiden jungen Auswanderern und schloß: »So verlor ich mein erstes Schiff und lud eine Schuld auf mich, die ich niemals abbezahlen kann. Im Strafprozeß wurde ich zwar freigesprochen, da man mir die Schuld an dem Unglück nicht nachweisen konnte. Aber vor dem Seefahrtsgericht wurde mir das Recht aberkannt, jemals wieder als Kapitan ein Schiff zu führen.« »Warum?« fragte Irene, die das alles erst noch richtig verdauen mußte. »Ich hatte zwar die Prüfung bestanden und sollte das Kapitänspatent erhalten, als ich die HENRIETTA übernahm, aber ich hatte es noch nicht. Doch der für die Amerika-Fahrt vorgesehene Kapitän wurde kurz vor dem Auslaufen schwer krank. Der Reeder bekniete mich, das Kommando zu übernehmen. Er versprach mir, alle Formalitäten zu regeln. Ich hatte nicht viel Zeit. In meiner jugendlichen Unreife und in dem Stolz über mein erstes Kommando sagte ich zu. Das war ein verhängnisvoller Fehler. Heute weiß ich, daß ich das Opfer einer Intrige wurde.« Jacob starrte ihn ungläubig an. »Was für eine Intrige, Piet?« »Die HENRIETTA sollte sinken. Dem Reeder standen, was ich nicht wußte, die Schulden bis zum Hals. Das Schiff war hoch versichert, viel zu hoch. Es war von vornherein geplant, daß die Pumpen unterwegs ausfielen, irgendwo auf dem weiten Meer zwischen der Alten und der Neuen Welt, wo es keine Überlebenden geben würde, keine Zeugen. Daß es so schnell nach dem Auslaufen geschehen würde, kam wohl selbst für den Reeder und den eigentlichen Kapitän überraschend.« »Das ist doch Mord!« rief Irene empört und hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund. Sie war so laut gewesen,
daß sie befürchtete, ihren in Hansens Kleiderkiste schlafenden Sohn zu wecken. »Nein, es ist nur meine Vermutung«, widersprach Hansen. »Die Beweise liegen auf dem Grund des Ärmelkanals, für alle Zeiten. Außerdem verschwanden der Reeder und der Kapitän, bevor man auch nur Anklage gegen sie erheben konnte. Selbstverständlich setzten sie sich erst ab, als die Versicherung bezahlt hatte.« »Und Sie mußten die ganze Verantwortung übernehmen«, nickte Irene mitfühlend. »Sie wurden von der Öffentlichkeit zum Prügelknaben gemacht, nicht wahr?« »Ja«, seufzte Hansen. »Zu Recht.« »Wie können Sie so etwas sagen?« erwiderte die junge Frau entrüstet. »Es ist die Wahrheit«, beharrte der Kapitän. »Wäre ich nicht so hitzköpfig gewesen, hätte ich mir die HENRIETTA genauer angesehen, bevor ich in See stach. Äußerlich schienen die Pumpen ja in Ordnung zu sein, aber ich hätte sie auf Herz und Nieren prüfen müssen, bevor ich ihnen das Leben der Auswanderer und meiner Besatzung anvertraute. Es mußte nur alles so verflucht schnell gehen!« Er leerte sein Weinglas in einem langen Zug und stellte es mit hartem Klirren zurück auf den Tisch. »Doch es war ganz klar mein Fehler. Und deshalb hatte das Seefahrtsgericht recht, als es mir das Recht absprach, jemals wieder ein eigenes Schiff zu führen. Aber wie ihr seht, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen. In Deutschland wäre es mir wohl nicht gelungen. Aber da die ALBANY unter amerikanischer Flagge segelt, gelang es. Mein falscher Name machte es möglich. Dabei nahm ich ihn kurz nach dem Prozeß nicht deswegen an, sondern nur, weil ich mich zu sehr schämte. Inzwischen habe ich mich so an ihn gewöhnt, daß ich nur noch selten an den Namen denke, unter dem ich geboren wurde.« »Trotzdem wundert es mich, daß Sie unter falschem Namen
anheuern konnten«, merkte Jacob an. »Ich suchte mir keine deutschen Schiffe aus, sondern ausländische. Und ich versah meinen Dienst anfangs in viel niedrigeren Stellungen, als es meiner Ausbildung entsprach. Für wenig Geld. Da fragte niemand nach ordentlichen Papieren. Mir war's gleichgültig. Ich wollte nur weg von Deutschland, hinaus aufs Meer.« Hansen schwieg. Seine Augen blickten durch die beiden ergriffenen Zuhörer hindurch, Raum und Zeit überwindend, in seine eigene Vergangenheit. Jacob und Irene verstanden, daß er Vergangenes noch einmal durchlebte. Sie wußten nicht, ob es gut oder schlecht war, ihn zu stören. Also schwiegen auch sie. Bis Hansen zur Weinflasche griff und gedankenverloren sein Glas füllte. »Das ist eine bittere Geschichte, Piet«, sagte Jacob einfühlsam. »Aber sie erklärt uns nicht, weshalb sie sich mit Schelp eingelassen haben.« »Schelp!« stieß der Kapitän der ALBANY grimmig hervor. »Seinetwegen habe ich das wieder getan, was ich nie mehr tun wollte. Wieder habe ich mein Schiff und die Menschen an Bord ohne Notwendigkeit in Todesgefahr gebracht! Die Kriegsschiffe hätten uns um ein Haar versenkt.« Er trank einen Schluck und fuhr fort: »Schelps älterer Bruder Robert war Maat auf der HENRIETTA. Er war ein guter Kerl, nicht so ein Schwein wie Arnold Schelp. Es ging ihm wie den meisten guten Kerlen: Er ist beim Untergang der HENRIETTA gestorben. Arnold Schelp tauchte bei den Prozessen gegen mich auf und sorgte dafür, daß in der Presse einige höchst unfeine Berichte über mich erschienen. Ich schätze, daß ich nicht ins Zuchthaus gekommen bin, hat ihn schwer getroffen.« »Und jetzt sind Sie beide Geschäftspartner?« fragte Irene ungläubig. »Schelp hat Karriere gemacht, für einen Mann seiner
Herkunft eine sogar außerordentliche Karriere. Da wiegen finanzielle Interessen schwerer als persönliche Animositäten. Er betreibt eine Frachtvermittlungsagentur in Hamburg. Wie ich erfahren habe, vermittelt er hauptsächlich Geschäfte am Rande oder jenseits der Legalität. Der Bürgerkrieg hier in Amerika hat ihm ein neues Betätigungsfeld eröffnet.« »Waffenhandel«, sagte Jacob bitter. »Ja, Waffenhandel. Wir trafen uns zufällig in Hamburg. Schelp war händeringend auf der Suche nach einem Schiff, das die Kanonen nach Texas bringen sollte. So kamen wir ins Geschäft.« »Sie hätten ablehnen können!« meinte Irene. »Ich hätte ablehnen sollen! Damals aber glaubte ich, es mir nicht leisten zu können, aus zwei Gründen. Grund eins war, daß Schelp drohte, meine Vergangenheit ans Licht zu bringen. Versteht ihr, was das bedeutet? Ich war als Schiffskapitän in Hamburg, obwohl ich doch niemals mehr ein Schiff führen durfte. Wäre das herausgekommen, wäre ich ohne Umschweife hinter Gitter gewandert!« »Das ist kein schöner Grund, aber ein guter«, sah Jacob ein. »Und Grund zwei?« »Grund zwei war das Geld, das es bei dieser Geschichte für mich zu verdienen gibt. Es lohnt sich, die Blockade der Nordstaaten zu brechen. Ich habe von amerikanischen Kapitänen gehört, die sonst hundertfünfzig Dollar im Monat verdienen, daß sie es mit der Frachtfahrt für die Konföderierten auf fünftausend bringen. Manche Reeder schaffen sich extra fürs Blockadebrechen neue Schiffe an. Schon nach drei Fahrten sind die Anschaffungskosten eingebracht, und der üppige Gewinn beginnt zu fließen.« Jacob warf dem Seemann einen traurigen, enttäuschten Blick zu. »Ich habe Sie nicht für einen Mann gehalten, dessen Götze das Geld ist, Piet.« »Ich mich auch nicht«, lächelte Hansen dünn und unecht.
»Aber Josiah Haskin will die ALBANY verkaufen. Er macht es wohl nicht mehr lange und will seiner Tochter lieber Bargeld hinterlassen als ein so unsicheres Erbe, wie es dieser alte Segler ist. Der kann schließlich jederzeit in einen Orkan geraten und mit Mann und Maus untergehen, wie damals die HENRIETTA. Ich habe mich an das Kapitänsleben gewöhnt, die ALBANY ist meine Heimat geworden. Wer weiß, ob sich ein neuer Schiffseigner mit einem Mann wie mir zufriedengibt. Deshalb brauchte ich dringend Geld, um die ALBANY selbst zu kaufen. Was ich für diese Fahrt bekommen hätte, wäre fast die Hälfte gewesen. Zusammen mit meinen Rücklagen hätte es Haskin als Anzahlung genügt. Den Rest hätte ich von den zukünftigen Gewinnen abbezahlt.« Er hob langsam die breiten Schultern und ließ sie mutlos wieder sinken. »Vorbei…« Piet Hansen schien das Unglück gepachtet zu haben. Jacob und Irene blickten den Seemann betroffen an. Sie hätten ihm gern Mut zugesprochen. Aber ihnen fiel nichts ein, was nicht hohl und unglaubhaft geklungen hätte. Bedrückendes Schweigen breitete sich in der Kapitänskajüte aus. * Ungefähr drei Stunden später. Als auch der letzte Strick, von Arnold Schelps scharfer Stockklinge zerschnitten, auf den Kajütenboden fiel, rieben alle vier Gefangenen ihre schmerzenden Glieder. Sie hatten mit ihrer Befreiung gewartet, bis der Wachtposten abgelöst worden war. Jetzt hatten sie genügend Zeit und mußten nicht befürchten, daß ihre Flucht von einer Wachablösung gestört oder frühzeitig entdeckt wurde. Als Don Emiliano, gepeinigt von den engen Fesseln, die in
sein Fleisch schnitten, vor Schmerzen zu stöhnen begann, zischte der Deutsche: »Seien Sie doch still, Senor! Denken Sie an die Wache vor der Tür!« Der Mexikaner biß auf seine Unterlippe und sah den Deutschen weniger schuldbewußt als zornig an. »Ja, die Wache«, flüsterte Vivian Marquand. »Was machen wir mit ihr?« »Folgendes«, antwortete Schelp und gab leise seine Anweisungen. Stillschweigend hatte er sich zum Führer der Gruppe aufgeschwungen. Er, Don Emiliano und Captain McCord nahmen Aufstellung hinter der schmalen Tür, die zum Gang führte. Die Frau in Schwarz legte sich wieder auf den Boden und begann laut zu wimmern. Es klang wirklich herzzerreißend. In das Wimmern mischte sich Stöhnen. Schließlich keuchte sie: »Hilfe! Bitte, ich brauche Hilfe!« Wie erwartet, meldete sich die Stimme des Wachtpostens durch die geschlossene Tür: »Was ist denn da drinnen los?« »Helfen Sir mir, bitte!« flehte die Stimme hinter dem schwarzen Schleier. »Ich bin krank!« »Wohl seekrank, wie?« fragte der Wächter. »Nein, das nicht.« Sie stöhnte laut und heftig. »Ich brauche schnell Hilfe. So kommen Sie doch! Bitte!« Der Seemann auf dem Gang murmelte etwas, das die Menschen in der Kajüte nicht verstanden. Es war auch nicht wichtig. Wichtig war das kratzende Geräusch des Schlüssels, den der Wächter in dem großen Türschloß herumdrehte. Die drei hinter der Tür verborgenen Männer hielten den Atem an, als sich die Tür mit leisem Quietschen bewegte. Der Wächter wollte besonders vorsichtig sein und streckte die Rechte mit dem Webley-Revolver vor. Schelp nickte McCord zu. Der große, wuchtige Offizier der Konföderierten packte den
Arm des Wächters und riß ihn mit solcher Kraft herum, daß der Seemann in die Kajüte gezogen wurde. Gleichzeitig fiel die Waffe zu Boden. Ein zweites Nicken Schelps galt dem Mexikaner. Don Emiliano trat mit einer raschen, fast elegant wirkenden Bewegung hinter den Wächter und hielt ihn fest. Als der überraschte Mann endlich die Lippen aufriß, um einen Alarmschrei auszustoßen, war es bereits zu spät. Schelps Klinge durchschnitt seine Kehle, und nur ein leises Gurgeln kam aus dem geöffneten Mund. Als der Seemann auf den Kajütenboden sackte, war er tot. McCord griff sich den Revolver und prüfte ihn mit der Routine des erfahrenen Militärs. Sie ließen den Toten in der Kajüte und verschlossen die Tür. Der Gang war leer. Ebenso die steile, geschwungene Treppe, die aufs Deck führte. Aber sie endete dicht hinter dem Unterstand des Steuermanns. Vorsichtig schob Schelp seinen Kopf hinaus und erkannte die knochige Gestalt Georg Möllers. »Möller, der Verräter!« flüsterte er den anderen zu, die unter ihm auf der Treppe warteten. »Den übernehme ich!« Schelp strich sein Haar glatt und zupfte seine etwas ramponierte Stutzerkleidung zurecht. Im Halbdunkel des Sternenlichts und der wenigen auf Deck brennenden Laternen würde man nicht bemerken, daß seine Aufmachung nicht ganz gesellschaftsfähig war. Nur der Chapeau claque fehlte, als er aufs Deck trat. Den Stock hielt er lässig, in der Rechten. Die Klinge hatte er zuvor einfahren lassen. »Na, Möller, liegt die alte ALBANY auf Kurs?« fragte Schelp im höflichen Plauderton und mit ungedämpfter Stimme. In seinen Komplizen, die im Treppenaufgang warteten, krampfte sich alles zusammen. Der rotschöpfige Deutsche trieb ein riskantes Spiel. Wenn er nicht die richtigen Karten hatte,
würde ihre Flucht auffliegen. Überrascht wandte sich Möller nach dem Geschäftemacher um. Auf dem Gesicht des Ersten Steuermanns zeichnete sich deutliche Verwirrung ab. Schelp gehörte doch zu den Gefangenen, die Hansen in die Kajüte gesperrt hatte. Aber wieso bewegte er sich dann offen auf Deck? Hatte Hansen sich mit ihm ausgesöhnt? Möglich war es, schließlich waren Schelp und der Kapitän Geschäftspartner gewesen. Aber der Käpten hätte doch zumindest seinen Ersten Steuermann darüber in Kenntnis setzen können! Als Möller den Mund zu einer Frage öffnete, wirbelte Schelp den Stock auch schon nach oben. Die Klinge sprang heraus und bereitete dem Leben des Steuermanns auf dieselbe Weise ein Ende wie wenige Minuten zuvor dem des Wachtpostens. Schelp sprang vor und griff unter Möllers Achseln, um ihn aufzufangen, bevor der Körper des Sterbenden geräuschvoll auf die Planken schlug. Vorsichtig legte er den reglosen Leib über das Steuerrad. Er wischte die blutige Klinge an Möllers Jacke ab und zog sie in den Stockschaft zurück. Der Rothaarige durchsuchte den toten Steuermann, fand einen Webley bei ihm und ließ den Revolver in einer Tasche seines dunklen Stutzerrocks verschwinden. McCord, Don Emiliano und Vivian Marquand traten an Deck. »Helft mir!« zischte Schelp und zeigte auf ein zusammengerolltes Tau, das in der Nähe lag. »Wir binden den Kerl am Steuerrad fest! Wenn jemand hersieht, sieht es in der Dunkelheit so aus, als sei alles in Ordnung.« Nachdem das erledigt war, schlichen sie zu einem der beiden Rettungsboote, die neben dem Besanmast in den Davits hingen. »Wir sind keine Seeleute«, jammerte der Mexikaner. »Wir werden das Boot niemals heil ins Wasser kriegen!«
»Wenn ich reise, pflege ich das mit offenen Augen und Ohren zu tun«, belehrte Schelp den Sonderbeauftragten der mexikanischen Exilregierung. »Ich habe aufgepaßt, wie die Boote gewassert werden. Aber alle müssen mit anpacken, auch Sie Mrs. Marquand!« Er betonte den Namen der Frau, um ihr klar zu machen, daß sie nicht nur ihr Geheimnis verloren hatte, sondern auch ihre befehlende Stellung. Ohne eine Erwiderung abzuwarten, gab Schelp seine Anweisungen und fügte hinzu: »Wir müssen uns beeilen und im Wasser sein, ehe jemand von der Bordwache nachsehen kommt, was hier hinten los ist!« Erst schien auch alles gutzugehen, wenn auch die vier Menschen bei jedem lauten Knarren des Holzes zusammenzuckten. Aber dann schwenkte der Davit plötzlich zurück. Der Bootsrumpf schrammte laut an der Reling entlang und streifte McCords Schulter. Das rauhe Holz zerriß die Kleidung des Offiziers und hinterließ eine blutige Furche. Der Südstaatler stöhnte kurz auf, biß dann aber die Zähne zusammen. »Was passiert?« fragte Schelp leise. »Nicht so schlimm«, antwortete McCord im selben Flüsterton. »Gut«, nickte der Deutsche. »Dann auf ein neues. Wir müssen versuchen…« Er wurde von einer lauten Stimme unterbrochen, die auf englisch übers Deck rief: »He, was ist denn auf dem Achterdeck los? Stimmt etwas nicht, Mr. Möller?« »Alles in Ordnung«, erwiderte Schelp laut. Er sprach das Englische mit demselben Akzent wie Möller und bemühte sich, den heiseren Tonfall des Ersten Steuermanns nachzuahmen. »War nur eine Werkzeugkiste, die übers Deck gerutscht ist.« »Aye, Sir«, gab sich der in der Dunkelheit verborgene
Seemann, der wahrscheinlich irgendwo auf der Back stand, zufrieden. Die entsprungenen Gefangenen nahmen ihre Arbeit wieder auf. Doch es zeigte sich, daß Arnold Schelp seine seemännischen Fähigkeiten ein wenig überschätzt hatte. Es wollte einfach nicht gelingen, das Beiboot ganz bis zur Wasserlinie hinunterzulassen. Dann näherten sich Schritte in der Dunkelheit. »Was jetzt?« fragte Don Emiliano mit einem Anflug von Panik in der Stimme. »Wir klinken das Boot einfach aus und springen hinterher!« sagte Schelp. »Ins Wasser?« fragte der Mexikaner. »Milch ist es nicht«, knurrte der Deutsche, während er die Vorbereitungen zum Ausklinken traf. »Aber ich kann nicht schwimmen, Senor!« Schelp grinste gemein. »Ich bin sicher, der Sonderbeauftragte der mexikanischen Exilregierung wird sich auch in diesen ungewohnte Gewässern mit der ihn auszeichnenden Kontenance bewähren.« Oder untergehen, mir ist's gleich! fügte er in Gedanken hinzu. Dann fiel das Boot auch schon mit einem lauten Platschen ins Meer. Es schwankte heftig hin und her. Einen Augenblick sah es so aus, als würde es kentern. Aber dann beruhigte es sich und trieb fast friedlich auf den Wellen. Diese reflektierten das spärliche Licht der Gestirne, das durch die Wolkendecke drang, mit einem unwirklichen Schimmer. Ohne sich um die anderen zu kümmern, sprang Schelp hinterher. Er wußte, daß sich die ALBANY schnell von dem Boot entfernte. Wer zu lange zögerte, würde weit schwimmen müssen. Als das Wasser über ihm zusammenschlug, dachte er daran,
ob es in dieser Gegend Haie gab. Mit kräftigen Stößen kam er wieder an die Oberfläche, hielt auf das Boot zu und bekam es endlich zu fassen. Mit einem Ruck zog er sich an Bord. Dann erst sah er die anderen. Auch sie waren gesprungen, alle drei. Don Emiliano war am weitesten vom Boot entfernt, schlug in wilder Panik um sich und krakeelte wie ein kleines Kind. McCord erbarmte sich seiner. Der kräftige Südstaatler war ein guter Schwimmer und erreichte den gegen ihn fast zierlich wirkenden Mexikaner mit wenigen Zügen. Schelp verlor die beiden aus den Augen, weil die schwarze Gestalt der Frau dicht beim Boot erschien. Sie streckte eine Hand aus, die der Deutsche ergriff. Dann zögerte er. »Ziehen Sie mich doch an Bord!« forderte Vivian Marquand. Arnold Schelp überlegte. War es nicht günstiger, die Frau einfach ersaufen zu lassen? Vielleicht konnte er sich allein, ohne lästige Mitwisser, leichter durchschlagen. Aber dann dachte er wieder an das Bombengeschäft, das die Fracht der ALBANY versprach. Ohne die Hilfe der anderen würde er es vielleicht nicht schaffen, sich des Schiffes wieder zu bemächtigen. Sie waren mit den hiesigen Sitten und Gebräuchen vertrauter als er. Und mit ihrer Unterstützung würde es auch leichter gelingen, die Fracht an ihren Bestimmungsort zu bringen. »Was ist denn?« rief halb erstickt die Frau, die sich nur noch mühsam über Wasser hielt. Ihre vollgesogene Kleidung zog sie erbarmungslos in die Tiefe. Bis Schelp sich entschlossen hatte. Seine kräftigen Armen hievten sie ins Boot. Und kurz danach auch Don Emiliano und McCord. Die ALBANY war in der Zwischenzeit an den vier Menschen vorbeigefahren. Ihre Silhouette, der dunkle Rumpf
und die im Sternenlicht hell glänzenden Segel, schwamm aber noch groß und drohend in der Nähe. Schreie drangen zu den Menschen im Ruderboot herüber, manchmal nur als vom starken Nachtwind zerstückelte Wortfetzen: »Mann über Bord!« »…Beiboot… fehlt…« »…Steuermann… tot!« »Beidrehen!« Schelp blickte skeptisch zur ALBANY und fluchte: »Verdammt, sie suchen nach uns! Los, alles an die Riemen!« Sie lösten die Ruder aus den eisernen Spangen und legten sie in die Dollen. Als sie die hölzernen Ruderblätter ins Wasser tauchten, bewegte sich das Boot sehr ungelenk auf den Wellen. »Wir fahren ja im Kreis!« stieß Schelp wütend hervor. Die Ursache war schnell gefunden. Schelp und McCord saßen auf der einen und Vivian Marquand und Don Emiliano auf der anderen Seite. Die beiden letzteren verstanden sich nicht besonders auf das viel Kraft erfordernde Rudern, weshalb sich ihre Bemühungen beim Antreiben des Bootes nicht so sehr auswirkten. Auf Schelps Befehl tauschten die Frau und der Südstaatler die Plätze. Danach bewegte sich das Boot gleichmäßiger und damit schneller. »Wohin fahren wir überhaupt?« erkundigte sich zwischen zwei Ruderschlägen keuchend der Mexikaner. »Zur Küste natürlich!« knurrte Schelp. »Bis nach San Francisco schaffen wir es in dieser Nußschale niemals.« * »Ich werde alle Boote wassern und so lange nach diesen Ratten suchen, bis ich sie habe!« sagte Piet Hansen mit verbissenem Gesicht.
Er stand neben Jacob und Irene an der Reling, umkrampfte diese mit seinen Fäusten und starrte hinaus auf das samtig glitzernde Meer, das irgendwo am Horizont mit dem Nachthimmel verschmolz. Von dem fehlenden Ruderboot und von den vier Entflohenen war nichts zu sehen und zu hören. Natürlich nicht. Auch wenn die Flucht von einem Matrosen der Bordwache sofort entdeckt worden war, hatte es seine Zeit gedauert, bis der Kapitän benachrichtigt wurde und dieser wiederum sein Schiff beidrehen ließ. Dadurch lag ungefähr eine Seemeile zwischen der ALBANY und dem Ruderboot. »Hat das denn Sinn?« fragte Irene zweifelnd. »Können wir Mrs. Marquand und die anderen in der Dunkelheit wiederfinden?« »Wir müssen!« polterte Hansen und sah zum Ruderhaus, wo Joe Weisman das Steuerrad übernommen hatte. Neben ihm lag der leblose Körper Georg Möllers, den sie vom Steuer hatten schneiden müssen. So leblos wie der Matrose unten in der Kajüte. In beider Männer Kehlen klafften große blutige Wunden. »Immerhin kennen wir die Fluchtroute«, fuhr der Kapitän fort. »Sie können nur zur Küste rudern. Alles andere wäre Wahnsinn, ohne Proviant und nautische Kenntnisse.« Jacob seufzte schwer und meinte: »Die kalifornische Küste ist ein recht langes Gebilde, habe ich mir sagen lassen. Ich sehe die Strolche nur ungern entkommen, aber besteht wirklich eine Aussicht, daß wir sie wiederfinden?« »Vielleicht nicht jetzt in der Nacht.« Hansen blickte prüfend in den Himmel. »Aber bald wird der Morgen grauen. Wenn wir mit der ALBANY vor diesem Küstenabschnitt kreuzen, müßten wir auf das Boot stoßen.« »Vielleicht«, erwiderte Jacob wenig begeistert. »Und wenn die amerikanischen Kriegsschiffe hier auftauchen, stoßen sie
auf die ALBANY. Wenn wir Pech haben, eröffnen sie das Feuer, ohne sich erst nach unserem Gesinnungswandel zu erkundigen.« Hansen stieß einen Fluch aus, der Irene trotz ihrer Vertrautheit mit dem Seemann erröten ließ. »Jacob, du hast recht. Wir könnten uns damit ins eigene Fleisch schneiden, und das verdammt tief.« Der Kapitän seufzte schwer und sagte dann: »Bloß die Alternative gefällt mir nicht. Ich hatte mich schon darauf gefreut, diese Lumpen in Frisco den Behörden zu übergeben. Nach diesem Doppelmord würde ich mich sogar freuen, sie am Galgen baumeln zu sehen. Es ist ein sehr gefährliches Pack!« »Gerade deshalb sollten wir froh sein, daß wir sie los sind«, meinte Irene. Hansen überlegte und nickte dann. »Aye, das ist wohl so. Gut, wir segeln auf dem alten Kurs weiter und überlassen Schelp und die anderen ihrem hoffentlich nicht zu gnädigen Schicksal.« Er trat von der Reling weg, um die nötigen Befehle übers Deck zu brüllen. Während die Bark wieder auf Nordkurs ging, blieben die beiden jungen Auswanderer noch eine ganze Weile an der Reling stehen und starrten hinaus aufs Meer. Beide dachten an Vivian Marquand und das, was aus der Frau geworden war. Beide fühlten sich erleichtert, daß sie nicht länger an Bord war. Und beiden war unwohl bei dem Gedanken, daß sich die Frau in Schwarz wieder auf freiem Fuß befand. * Die beeindruckende Bucht von San Francisco tauchte erst am
Nachmittag des dritten Tages nach der nächtlichen Flucht vor
dem schlanken Bug der ALBANY auf. Der Sturmwind hatte sich mit unerwarteter Schnelligkeit gelegt, fast herrschte eine Flaute. Die Segel hingen mit trauriger Schlaffheit an den Rahen. Deshalb kam die Bark viel langsamer voran, als Piet Hansen angenommen hatte. »Nur gut, daß wir die Kriegsschiffe abgeschüttelt haben«, brummte der Kapitän irgendwann. »Bei diesem Wind, den man kaum so nennen kann, wären sie uns mit ihrem Dampfantrieb hoffnungslos überlegen.« Als der Dreimaster durch die enge Einfahrt der Bucht glitt, standen fast alle Passagiere an der Reling, um erwartungsvoll dem Ziel ihrer unerwartet dramatisch verlaufenen Seereise entgegenzublicken. Jacob und Irene mit Jamie hatten sich zu Piet Hansen auf die Brücke gesellt. Selbst der kleine Junge in den Armen seiner Mutter hatte die Äuglein weit aufgerissen, als sei er neugierig auf die neue Umgebung. Und vielleicht war er das auch. Jacob sah der berühmten Stadt an der Pazifikküste mit sehr gemischten Gefühlen entgegen. Zum einen bedrückte ihn der Gedanke, daß er und Irene mit dem Betreten kalifornischen Bodens ihre Aufgabe noch keineswegs erfüllt hatten. Das Land am Pazifik war riesig und Carl Dilger nur einer von vielen tausend Glücksrittern. Zum anderen betrübte ihn das, was Piet Hansen hier erwartete. Der Seebär würde aufgrund seines zwielichtigen Geschäftsverhältnisses mit Arnold Schelp keinen leichten Stand bei den Behörden haben. Das erste, was den Menschen an Bord der ALBANY auffiel, war der Wald von Masten und Schornsteinen vor der Küste. Hätten Jacob und Irene einen ähnlichen Anblick nicht schon von New York gekannt, hätte es ihnen die Sprache verschlagen. Doch im Hafen von San Francisco schienen fast noch mehr Schiffe zu ankern als vor der Stadt an der Ostküste. Jacob sprach den Kapitän darauf an und meinte: »Wenn man
sich die Anzahl der Schiffe ansieht, bekommt man einen Eindruck, wie viele Menschen hier an Land gehen, um nach Gold zu suchen.« Nur in Gedanken setzte er hinzu: Und wie schwierig es sein wird, Carl Dilgers Spur aufzunehmen. Er sprach es nicht aus, um Irene nicht unnötig zu beunruhigen. »Ja, es ist schon eine Menge«, nickte Hansen. »Aber einige sind auch Wracks. Ihr werdet es sehen, wenn wir uns dem Hafen nähern. Schiffe, deren Mannschaften einfach desertiert sind, weil der Goldstaub ihnen lohnender erschien als die Heuer.« »Dann müssen Sie auf Ihre Leute aufpassen, Käpten«, lächelte Irene. »Das werde ich. Trotzdem sehe ich einige der Männer bestimmt zum letzten Mal, wenn sie an Land gehen. Jeder Kapitän, der Frisco anläuft, muß damit rechnen.« Die auf mehreren Hügeln erbaute Stadt wuchs und füllte bald den vorderen Horizont aus. Ein Meer von Häusern in den Ebenen, auf den Kuppen von Hügeln oder auch an die Hänge gelehnt, soweit das Auge reichte. Im Gegensatz zu New York waren die Häuser hier viel niedriger. Und während in New York die Gebäude aus Stein waren, gab es hier jede Menge Holzhäuser, gerade unter den großen Gebäuden. Als Jacob das laut bemerkte, erklärte der Kapitän: »Die Leute in Frisco fürchten die Erdbeben mehr als das Feuer. Beides sind die ständigen Plagen dieser Stadt. Die Holzgebäude halten den Erdschwankungen besser stand als solche aus Stein. Lieber flüchten die Menschen vor den Flammen und bauen die Häuser neu auf, als daß sie sich während eines Erdbebens von den zusammenstürzenden Steinen begraben lassen.« Später, an Land, stellte Jacob fest, daß Hansen nicht übertrieben hatte. Der Auswanderer sah ganze Straßenzüge mit
rauch- und rußgeschwärzten Hauswänden – Gebäude, die einer Feuersbrunst nur knapp entgangen waren. Der Kapitän beugte sich zu Joe Weisman hinüber, der das Steuer hielt. Er gab dem gedrungenen Deutsch-Amerikaner ein paar Anweisungen, wie er die ALBANY zwischen den Untiefen und den immer zahlreicher werdenden anderen Schiffen hindurch zu manövrieren hatte. »Sie kennen sich hier gut aus, Piet«, staunte Irene. »Ich war öfter in Frisco, schon damals, als das hier ein armseliges Dorf mit nur einigen hundert Seelen war; heute sind es zigtausend. Das war vor dem großen Goldrausch von Neunundvierzig. Viele nannten den Ort noch bei seinem spanischen Namen Yerba Buena.« »Was heißt das?« fragte die junge Frau. »Gutes Kraut. Die Spanier, die das Land von Mexiko aus besiedelten, tauften dieses Tal hier wegen seiner Fruchtbarkeit El Paraje de Yerba Buena – das kleine Tal der guten Kräuter. San Francisco war ursprünglich nur der Name der Missionsstation.« Ein kleiner Seitenraddampfer schaufelte sich durch die brackigen Fluten auf die ALBANY zu. Bei seinem Anblick verdüsterte sich das Gesicht des Kapitäns. »Das Boot der Hafenbehörde«, sagte er. »Die Zoll- und Quarantänebeamten. Und falls sich schon herumgesprochen hat, wer wir sind, vielleicht auch Militär.« »Damit haben wir doch gerechnet«, erwiderte Jacob. »Schließlich wollten Sie sich hier den Behörden stellen.« »Ja. Aber ich wäre froh gewesen, wenn ich euch und die anderen Passagiere erst an Land hätte setzen können. Wenn ihr Pech habt, werdet ihr alle unter Arrest gestellt, bis die Sache geklärt ist. Und das kann dauern bis…« Er brach ab und starrte mit offenem Mund voraus. Dort drehte der kleine Dampfer gerade so rasant nach Steuerbord ab, daß sich das Boot auf die rechte Seite legte. Das
linke Schaufelrad ragte weit in die Luft. Fast sah es so aus, als würde die Barkasse kentern. Aber dann lag sie wieder sicher im Wasser und rauschte unter ihrer schwarzgrauen Rauchfahne davon. »Was ist denn jetzt los?« fragte Irene erstaunt. »Die Behörden scheinen nichts von uns wissen zu wollen!« Das Ziel der Barkasse war ein anderes Schiff, das kurz hinter der ALBANY in die Bucht gefahren war. Es war auch ein Seitenraddampfer, aber ungleich größer und wuchtiger als das Boot der Hafenbehörde. Und nicht nur die kleine Dampfbarkasse hielt auf den mächtigen Dampfer zu. Von überall näherten sich ihm kleine Boote, von Dampf angetrieben, durch Segel und Wind oder durch Ruder und Muskelkraft. Piet Hansens eben noch nachdenklich wirkendes Gesicht hellte sich auf, als er laut ausrief: »Ich habe gar nicht dran gedacht, heute ist der erste März!« »Na und?« meinte Jacob verständnislos. »Was spielt das heutige Datum für eine Rolle?« »Eine ganz entscheidende!« nickte der Kapitän bekräftigend. »Vielleicht kann ich euch und die anderen Passagiere doch an Land setzen, bevor die Behörden auf die ALBANY aufmerksam werden. Auch Beamte und Soldaten warten nämlich sehnsüchtig auf die neuesten Nachrichten und die Post von ihren Liebsten.« Hansens Rechte wies zu dem umlagerten großen Seitenraddampfer, dessen in dicken Lettern auf den Bug gepinselter Name jetzt deutlich erkennbar war: PACIFIC PRINCESS – die Pazifik-Prinzessin. »Heute ist Steamer-Day, ganz wie in den alten Zeiten«, fuhr der Seebär fort. »An jedem ersten und fünfzehnten eines Monats kommt, pünktlich wie die Maurer, das Postschiff an, das von der Ostküste aus ums Kap Horn gefahren ist. Es bringt Vorräte, neue Glücksritter und vor allem Neuigkeiten aus dem
Osten, für die mancher hier gern goldene Nuggets gibt.« Das Bild, das sich Jacob und Irene bot, unterstrich die Worte des Kapitäns. So viele kleine Boote umschwärmten die PACIFIC PRINCESS, daß der große Dampfer kaum bis zu dem breiten Kai durchkam, auf dem sich bereits Menschenmassen in freudiger Erwartung zusammendrängten. Männer und Frauen schoben und schubsten einander, und einige platschten ins brackige Hafenwasser. Der ALBANY gelang es tatsächlich, unbehelligt vor Anker zu gehen. Eilig ließ Hansen breite Planken ausfahren, damit die Passagiere den Segler verlassen konnten. Jacob schloß sich ihnen mit gemischten Gefühlen an. Er dachte an den Kapitän und fühlte eine Verpflichtung, an Bord zu bleiben und ihm beizustehen. Doch er hatte auch eine Pflicht gegenüber Irene und Jamie übernommen. Hansen konnte sich eher selbst helfen als die Frau und das Kind. Gewiß, sie konnten alle an Bord der ALBANY bleiben. Aber dann war es zweifelhaft, ob die Behörden die deutschen Auswanderer so einfach gehen ließen. Also tauchten auch der Zimmermann, das ehemalige Dienstmädchen und ihr kleines Kind in das ameisenhafte Gewimmel im Hafen von San Francisco ein, und die drei Masten der ALBANY waren bald nur noch einige von unzähligen. Wie in einem richtigen Ameisenhaufen war das Durcheinander auch in der großen Goldgräberstadt nur ein scheinbares. Jacob stellte schnell fest, daß jedermann ein bestimmtes Ziel verfolgte. Bei vielen war es der anlegende Postdampfer, bei anderen Geschäfte, Bars, Saloons oder Lagerhäuser. So vielfältig wie die Wege der Menschen war auch ihre äußere Erscheinung. Einer Menge von Männern sah man den Goldsucher schon aus der Ferne an. Ihre Kleidung war abgetragen, schmutzig,
teilweise zerrissen, und sie schienen sich auch noch etwas darauf einzubilden, wie die Art verriet, in der sie ihre oft vollbärtigen Gesichter in die Höhe reckten. Manche hielten junge Mädchen und reifere Frauen im Arm, deren Zuneigung sich wohl nach der Schwere des jeweiligen Nuggetbeutels bemaß. Dann gab es viele herausgeputzte Geschäftsleute im Gehrock, an deren Armen sich ebenso herausgeputzte Damen und Dämchen häufig vergeblich bemühten, in der brodelnden Menge so etwas wie würdevolle Distanz zu bewahren. Einige der teuer gekleideten Ladies mußten komische Verrenkungen anstellen, damit ihre verzierten kleinen Sonnenschirme nicht aus ihren behandschuhten Händen gerissen wurden. Daneben konnte man alle nur vorstellbaren Arten von Gesichtern und Kleidungsstücken auf den Kais und in den Straßen sehen. Freigelassene Neger mit wulstigen Lippen und krausen Haaren. Langzöpfige Chinesen mit breitrandigen, oben spitz zulaufenden Hüten oder kleinen Kappen. Mexikaner oder kalifornische Nachfahren der Spanier in teilweise operettenhaft wirkender Kleidung. Und dazwischen immer wieder die blauen Uniformen der Nordstaaten-Armee. Sie erinnerten Jacob daran, daß diese vom Goldfieber aufgeregte Stadt in einem Land lag, das vom Bürgerkrieg zerrissen war. Und daran, daß Piet Hansen sich zwischen die Fronten gewagt hatte. Die Beschaffenheit der Straßen stand im krassen Mißverhältnis zur Stärke ihrer Beanspruchung. Eine Befestigung gab es, wenn man Glück hatte, nur an den Rändern vor den Häusern. Ansonsten bestanden die sogenannten Straßen, abhängig von Niederschlag und Abwässern, aus Schlamm oder Staub, angereichert mit jeder Art von Abfällen. Wenn man nicht aufpaßte, konnte man bis zu den Hüften im Unrat versinken. Jacob und Irene waren froh, als sie einen mit Brettern
ausgelegten Fußweg entdeckten, der nicht so stark in Anspruch genommen wurde, wie man es bei der Menge der Menschen, die hier unterwegs war, vermutet hätte. Am Ende des Bretterwegs entdeckten die beiden Deutschen den Grund für diese Zurückhaltung. Vier grobe, ungewaschene Burschen versperrten den Weg. Einer trat einen Schritt vor und sagte, grinsend seine schlechten Zähne präsentierend: »Das macht dann sechzig Cent, die Herrschaften.« Seine schwielige Rechte formte sich zur Klaue, die sich Jacob entgegenreckte. »Sechzig Cent?« wiederholte der Zimmermann. »Wofür?« »Für die Benutzung des Bretterwegs. Das ist nämlich ein kostenpflichtiger Privatweg.« »Das haben wir nicht gewußt.« Der Grinser zuckte mit den eckigen Schultern, über die sich eine zu enge Wolljacke spannte. »Das Schild am anderen Ende muß wohl abgefallen sein. Kostet trotzdem sechzig Cent. Fünfundzwanzig für jeden Erwachsenen, zehn für das Kind.« »Das ist doch noch ein Baby!« protestierte Jacob. »Es kann gar nicht gehen, hat nicht einen Fuß auf eure Bretter gesetzt.« »Sonst wären es auch fünfzehn Cent«, griente der Mann, und seine Miene verdüsterte sich. »Wollt ihr etwa nicht bezahlen?« Wie beiläufig schlug er die Jacke zur Seite. Jacobs Blick fiel auf den Kolben eines Revolvers und den großen Griff eines Messers; beides steckte im Hosenbund des Mannes. Seine drei Gefährten waren ähnlich bewaffnet. Mit einem widerwilligen Grunzen zog Jacob ein paar Münzen aus der Jackentasche. Die Straßenräubermethoden ärgerten ihn. Aber wenn er sich auf einen Streit einließ, brachte er Irene und Jamie in Gefahr. Mit einem falschen Lächeln ließ der Geldeintreiber Jacobs Münzen in der Jackentasche verschwinden und gab den Weg
frei. Bei ihrer Suche nach einer Unterkunft stellten Jacob und Irene bald fest, daß die Sache mit dem Bretterweg keine Ausnahme gewesen war. San Francisco war teuer, sündhaft teuer. Wer in der Stadt lebte, wollte auch am Goldrausch teilhaben. Deshalb kostete hier manches Geld, was anderswo kostenlos war. Und was anderswo auch Geld kostete, war hier um ein Vielfaches teurer. Tageweise war eine Unterkunft erst gar nicht zu bekommen. Eine Woche im voraus war das mindeste, was Vermieter und Hoteliers verlangten. Ein Hotelzimmer unter dreißig Dollar pro Person gab es nicht. So viel Geld wollten die Auswanderer nicht bezahlen. Es hätte ihre Reserven zu schnell erschöpft. Schließlich nahmen sie zwei Schlafpritschen in einer der vielen Massenunterkünfte, acht Dollar pro Person und Woche. Es gab woanders schon Pritschen für sechs Dollar, aber dann in verlausten Ställen, die notdürftig zu Schlafsälen umgebaut worden waren. Jacob und Irene bevorzugten ein einigermaßen sauberes Boarding-House, das sogar über getrennte Schlafsäle für Männer und Frauen verfügte. Da Jamie sehr unruhig war, blieb Irene mit ihm im Quartier zurück. Jacob machte sich auf den Weg, um eine Spur von Carl Dilger zu finden. Wenn er auch noch nicht die geringste Ahnung hatte, wie er das anstellen sollte. * Wahrscheinlich auf einigen Umwegen, weil er die Geographie San Franciscos noch nicht gut genug kannte, steuerte Jacob das Stadtzentrum an. Am Portsmouth Square sollte es sich befinden. Das hatte er sich von der Inhaberin des BoardingHouse sagen und sich den ungefähren Weg beschreiben lassen.
»Gehen Sie einfach dahin, wo Sie neben dem Hafen am meisten Menschen und Getöse finden«, hatte die dürre Frau ihm noch nachgerufen. Als er durch eine lange, gewundene Straße ging, fand er eine Menge Menschen und Getöse. Die Menschen, die das Getöse veranstalteten, versperrten die Straße auf ihrer ganzen Breite. Was die Ursache ihres Geschreis war, blieb dem Deutschen verborgen. Er sah nur die Rückansichten der von ihm weg nach vorn gebeugten Menschen. Sie schienen auf etwas zu starren, was auf der Straße stand oder lag. Neugierig bahnte er sich einen Weg durch die Menge. Je größer der Widerstand war, desto mehr strengte er sich an. Er fühlte sich fast, als müsse er schwimmen. Dann endlich sah er, worauf die gebannten Augen der Menschen gerichtet waren: auf Frösche! Ganz normale grünbraune Frösche. Nein, nicht ganz normal – ihre Rücken waren mit farbigen Symbolen markiert: ein blaues Kreuz, ein gelber Kreis oder ein roter Doppelstrich. Ein ziegenbärtiger Mann, der einen zerschlissenen Gehrock und einen zerbeulten Zylinder trug, schlug mit einem dünnen Stock gegen das fette Hinterteil eines Frosches. Das Tier sollte das tun, was alle anderen Frösche bereits vollbracht hatten: springen. »Nun mach schon, Charly!« spornte der Ziegenbärtige seinen unwilligen Frosch an. »Zeig den Herrschaften, daß du der beste Springfrosch von ganz Frisco bist. Und zeig es vor allem mir, denn ich habe fünfzig Dollar auf dich gewettet!« Die Erwähnung des Geldes schien den Frosch aus seiner Lethargie zu reißen. Das mit einem schwarzen Dreieck gekennzeichnete Tier erhob sich in die Luft, aber nur ein kleines Stück. Keinen Yard von seiner Ausgangsstellung entfernt plumpste er träge wieder in den Staub der Straße und traf keine Anstalten, sich auch nur einen Zoll weiterzubewegen.
»Das war's dann wohl mit dem guten Charly!« prustete einer der Männer. »Der beste Springfrosch von Frisco hat heute wohl seinen schlechten Tag. Oder er hat gedacht, derjenige Frosch ist der beste Springfrosch, der am kürzesten springt!« Der Sprecher schlug sich lachend auf die Schenkel und steckte die Menge mit seiner Heiterkeit an. Der Ziegenbärtige allerdings zog ein griesgrämiges Gesicht, als er den ›besten Springfrosch von Frisco‹ aufnahm und in einer Tasche seines Gehrocks verschwinden ließ. Noch griesgrämiger wurden seine Züge, als der Besitzer des Siegerfrosches zu ihm kam, um die fünfzig Dollar einzusammeln. Insgesamt hatten sechs stolze Froschbesitzer ihre Tiere an den Start geschickt. Also hatte der Besitzer des Siegers gerade eben mit einem einzigen Froschsprung zweihundertfünfzig Dollar gewonnen. Kein schlechter Stundenlohn, fand Jacob. Auch die Zuschauer hatten kräftig gewettet, und eine beträchtliche Anzahl Dollars wechselte nun die Besitzer, bevor sich die Menge allmählich zerstreute. Einer der weggehenden Männer legte einen wahren Sturmschritt vor und hielt den Kopf gesenkt, so daß sein Gesicht fast ganz unter der vorspringenden Krempe eines rundkronigen Hutes verschwand. Außerdem bewirkte diese Kopfhaltung wohl, daß er kaum etwas sah. Oder es war ihm egal, daß er mit Jacob zusammenstieß. Der Aufprall war so heftig, daß beide Männer ein Umfallen nur dadurch vermeiden konnten, daß sich jeder am anderen festhielt. Der Mann hob, zu spät, seinen Kopf und zischte: »Verdammt, Fremder, passen Sie gefälligst auf, wo Sie hintreten, wenn Sie länger als einen Tag lebend in Frisco verbringen wollen!« Unter buschigen Brauen blitzten blaugraue Augen feindselig gegen Jacob. Obwohl der schlanke Mann um die Dreißig mit dem lockigen rotbraunen Haar und dem buschigen Schnurrbart gut einen
Kopf kleiner was als der Deutsche, schien er sich vor Jacob nicht zu fürchten. Der Zimmermann machte sich von dem Schnurrbärtigen los und sagte ernst: »Bei allem Respekt, Sir, aber nicht ich bin irgendwohin getreten, ohne aufzupassen, sondern Sie. Und außerdem…« »Ja?« knurrte der andere gefährlich. »Außerdem können Sie unmöglich wissen, daß ich erst heute in San Francisco angekommen bin.« »Natürlich weiß ich das«, blieb der Schnurrbärtige störrisch. »Sie haben es mir doch gerade eben gesagt!« »Wie?« schnappte Jacob. Dann verstand er und schüttelte grinsend den Kopf. »Also gut, Sir, aber vorher konnten Sie es nicht wissen.« »Nein, ich habe geraten. Jemand, der sich einem Mann in den Weg stellt, der gerade seinen letzten Cent bei der Wette auf den falschen Frosch verloren hat, muß entweder neu in Frisco sein oder lebensmüde. Revolver und Messer sitzen hier nämlich noch lockerer als auf den Gold- und Silberfeldern von Nevada.« »Sehr scharfsinnig«, nickte Jacob. »Und wieso sind Sie nicht davon ausgegangen, daß ich lebensmüde bin?« »Weil heute Steamer-Day ist. Am Steamer-Day hat man die seltene Gelegenheit, in Frisco mehr Neuankömmlinge als Lebensmüde zu treffen. Deshalb kam ich drauf, daß die PACIFIC PRINCESS Sie an Land gespuckt hat, Dutch. Bevor Sie fragen – daß Sie ein Deutscher sind, verrät Ihr scharfer Dialekt.« »Wieder richtig geschlußfolgert, Mister. Nur das mit der PACIFIC PRINCESS stimmt nicht. Ich bin zwar heute erst hier angekommen, aber auf einem anderen Schiff.« »So?« Neugierig hoben sich die buschigen Brauen. »Auf welchem?« »Auf…«
Jacob brach ab. Fast hätte er den Namen der ALBANY genannt, doch er wußte nicht, ob das gut war. Er wollte Piet Hansen, Irene und sich selbst keine unnötigen Schwierigkeiten bereiten. Deshalb setzte er erneut an und sagte: »Auf einem Segler.« »Aha.« Der Mann strich mit dem Zeigefinger über den Schnurrbart und meinte dann: »Etwa ein Yankee-Schiff?« »Ja«, antwortete Jacob und fragte mißtrauisch: »Warum wollen Sie das wissen?« »Um zu erfahren, ob Sie vielleicht doch ein wenig lebensmüde sind. Bei Menschen, die in diesen Tagen mit dem Postdampfer oder einem anderen Yankee-Schiff Frisco anlaufen, ist das zu bejahen. Das Seeungeheuer knöpft sich nämlich ausschließlich solche Opfer vor.« »Was für ein Seeungeheuer?« erkundigte sich Jacob kopfschüttelnd. Der Mann kam ihm leicht irre vor. »Das wüßten die Menschen hier auch gern. Es hat schon eine ganze Reihe von Schiffen angegriffen und versenkt, darunter auch den letzten Postdampfer, der die Stadt vor zwei Wochen anlaufen sollte. Aber es kamen nur ein paar Rettungsboote mit den Überlebenden an. Sie beschreiben das Ungeheuer als einen Wal, allerdings einen, der den Schiffsrumpf mit einem riesigen Schwert durchbohrt und dann explodieren läßt.« »So etwas gibt es doch gar nicht!« »Mag sein, aber vielleicht…« Der Schnurrbärtige unterbrach seinen Satz, schüttelte diese Gedanken von sich ab und sagte: »Mich auf meine gute Kinderstube besinnend, entschuldige ich mich bei Ihnen für mein Fehlverhalten, Mister…« »Jacob Adler.« »Mark Twain«, stellte sich der andere vor. »Ich arbeite als Journalist für den Call. Leider läuft der Laden schlecht. Wenn es mal Neuigkeiten gibt, werden sie durch die Mundpropaganda schneller verbreitet, als wir unser Blatt drucken können. Dann wäre ich auch nicht so blank und könnte
Sie zu einem Versöhnungstrunk einladen.« Jacob ignorierte den Wink mit dem Großmast und sagte: »Vielleicht können Sie mir auf andere Weise helfen, Mr. Twain.« »Wie?« »Ich suche einen Mann, einen Deutschen wie mich. Er heißt Carl Dilger und hält sich auf den kalifornischen Goldfeldern auf. Können Sie mir sagen, wie ich ihn am besten finde?« »Wenn er sich tatsächlich in Kalifornien aufhält, gibt es nur eine sichere Methode, ihn zu finden.« »Ja?« fragte Jacob gespannt. »Sie müssen jeden Claim und jedes Digging in Kalifornien absuchen, Mr. Adler.« Jacob runzelte die Stirn und blickte den Journalisten skeptisch an. »Wie lange würde das dauern, Mr. Twain?« »Kommt drauf an, wie schnell Sie fündig werden. Durchschnittlich hundert Jahre, würde ich sagen.« »Sie haben Ihren Spaß gehabt, leben Sie wohl«, knurrte Jacob und wollte sich an dem Schnurrbärtigen vorbeischieben. Aber der hielt ihn fest. »Warten Sie doch, Adler. Ich wollte Sie nicht beleidigen, sondern Ihnen nur klarmachen, wie aussichtslos das Unternehmen ist, wenn Sie keine Anhaltspunkte haben.« »Aber ich muß Dilger finden!« »Was ist so wichtig an dem Mann?« Jacob erklärte es ihm. »Dieser Dilger ist also nicht wichtig für Sie, sondern für die junge Dame in Ihrer Begleitung«, stellte Twain fest. »Das kommt aufs selbe heraus«, brummte Jacob. »Nicht für jeden, aber für Sie, und das ehrt Sie, Adler. Vielleicht kann ich Ihnen tatsächlich helfen. Ich schätze, wir befinden uns an dem einzigen Ort, wo eine reelle Chance besteht, Dilger aufzuspüren.« »Ausgerechnet hier?« zweifelte Jacob und dachte an die
Menschenmassen, die sich durch die Straßen von San Francisco wälzten. »Gerade weil hier so viele Menschen sind!« entgegnete Twain. »Viele Goldgräber kommen nach Frisco. Sie wollen einkaufen, angeben, sich amüsieren, angeben, Neuigkeiten erfahren und natürlich angeben.« »Und Sie meinen, Dilger ist darunter?« »Nicht unbedingt. Aber mit ziemlicher Sicherheit jemand, der ihn kennt oder von ihm gehört hat.« »Das sehe ich ein. Aber wie soll ich diesen unbekannten Jemand aufspüren?« Twains breites Grinsen verwandelte den an den Mundwinkeln nach unten gebogenen Schnurrbart zu einem geraden Strich. »Durch die Segnungen der modernen Presse, Mr. Adler. Vielmehr durch die Druckmaschinen des Call. Selbstverständlich drucken wir nicht nur unsere Zeitung, sondern auch jede andere Schrift, für die wir bezahlt werden und die unserer politischen und gesellschaftlichen Meinung entspricht.« »Und was ist Ihre politische und gesellschaftliche Meinung, Mr. Twain?« »Als Privatmann behalte ich sie für mich, da ich mich weder zu den Neuankömmlingen noch zu den Lebensmüden zähle. Als Vertreter des Call ist meine Meinung, daß wir alles drucken, wofür wir bezahlt werden. Kommen Sie!« Er zog Jacob mit sich durch ein Gewirr von Gassen und Gäßchen, bis sie vor dem wenig beeindruckenden Gebäude standen, in dem die Redaktion und Druckerei des Call untergebracht waren. Gerade schloß ein großer, gut gekleideter Mann die Eingangstür von außen ab. Sein rundliches, von Schnurr- und Backenbart verziertes Gesicht hellte sich auf, als er Jacobs Begleiter sah.
»Wo hast du nur gesteckt, Sam? Ich wollte dich zum Essen einladen.« »Aufgeschoben ist nicht aufgehoben«, meinte Twain. »Tut mir leid«, schüttelte der Mann, der einen vornehmen Dreiteiler und Lackschuhe trug, seinen von einem schmalkrempigen Strohhut bedeckten Kopf. »Ich muß zurück zur Arbeit.« »Dann vielleicht heute abend, Bret.«
»Ja«, winkte der Dandy. »Bis dann, Sam.«
»Das war mein Redakteur und Freund, Mr. Bret Harte«,
erklärte Twain, während er einen rostigen Schlüsselbund aus der Tasche zog und die Tür öffnete. »Seltsam«, murmelte Jacob, während er zusah, wie Harte mit staksigen Schritten um eine Ecke bog, immer bemüht, seine glänzenden Schuhe dem Straßenschmutz nicht zu sehr auszusetzen. »Was finden Sie seltsam, Adler.« »Daß Ihr Freund sagt, er geht zur Arbeit. Liegt sein Redakteursbüro nicht hier im Gebäude?« »Das schon. Aber nicht sein anderes Büro. Bret hat eine leitende Stellung als Beamter in der örtlichen Zweigstelle der Münze der Vereinigten Staaten. Kein schlechter Job in diesen Tagen. Die klügeren unter den Goldgräbern bringen ihre Nuggets gleich zur Münze, ehe sie sich woanders übers Ohr hauen lassen. Manchmal beneide ich Bret.« Twain seufzte tief und strich über seinen schlanken Oberkörper. »Als Beamter muß er sich keine Sorgen machen, wie er sein Mittagessen bezahlt.« »Noch etwas, Mr. Twain.«
»Ja?«
»Dieser Mr. Harte nannte Sie Sam«, sagte Jacob.
Der Journalist nickte.
»Stimmt, so heiße ich.«
»Aber mir stellten Sie sich als Mark Twain vor.«
»Verfluchter Kriegsname«, lachte der Journalist und kratzte sich verlegen im Nacken. »Ich wußte doch, daß ich eines Tages damit durcheinanderkommen würde. Als meine Mutter im Jahre Fünfunddreißig das schwere Schicksal auf sich nahm, mich auf diese törichte Welt zu bringen, nannten sie und mein Vater mich Samuel, Samuel Langhorne Clemens, um genau zu sein. Ein bißchen lang für einen Journalisten, finden Sie nicht? Ist länger als manche Kurzmeldung.« »Kann sein«, sagte Jacob zögernd, da er sich mit solchen Fragen noch nie befaßt hatte. »Ist sogar so. Deshalb unterzeichne ich meine Werke als Mark Twain. Und manchmal vergesse ich schon, wie ich wirklich heiße.« »Wie kommt man auf solch einen Namen?« fragte Jacob, während sie die dunklen, staubigen, von Spinnweben verzierten Geschäftsräume des Call betraten. »Eine Erinnerung an meine Zeit als Mississippi-Lotse. Mark Twain ist die Bezeichnung eines Handloters für zwei Faden Wassertiefe. Ob meine Artikel tiefsinniger sind, mag jeder Leser selbst entscheiden. Kennen Sie den Mississippi, Adler?« »O ja, nur zu gut«, antwortete Jacob und dachte an sein lebensgefährliches Abenteuer auf dem großen MississippiSteamer QUEEN OF NEW ORLEANS. Twain (Jacob beschloß, ihn weiterhin so zu nennen, wie er sich ihm vorstellt hatte) setzte sich hinter einen wurmstichigen Schreibtisch, nahm einen durch häufiges Anspitzen arg geschrumpften Bleistift und einen vergilbten Block zur Hand und kritzelte eilig etwas nieder. Zwischendurch fragte er Jacob nach der Adresse seines Quartiers. Dann las der Journalist vor: »Dringend gesucht wird Mr. Carl Dilger aus Hamburg (Deutschland). Wer ihn kennt oder etwas über ihn weiß, melde sich umgehend bei Mr. Jacob Adler in Victoria Marshs Boarding-House an der Dean Street. Bestmögliche Belohnung zugesichert!«
Twain blickte auf und fragte: »Was sagen Sie zu dem Text, Adler?« »Klingt ganz gut, bis auf den Satz mit der Belohnung. Ich habe nämlich nicht viel Geld.« »Habe ich das behauptet?« »Aber Sie haben etwas von einer bestmöglichen Belohnung geschrieben!« »Genau«, nickte Twain und verbarg ein Grinsen im Schatten des buschigen Schnurrbarts. »Sie werden jeden Informanten nach dem besten Willen und Ihren Möglichkeiten belohnen. So habe ich es auch abgefaßt.« »Aber es klingt anders!« »Yeah, ich denke auch manchmal, ich sollte Politiker werden.« Twain stand von seinem Schreibtisch auf und begab sich in den Nebenraum, die Werkstatt des Setzers. Ohne Umschweife machte er sich daran, die benötigten Typen aus dem Setzkasten zu fischen und in die Winkelhaken einzureihen. »Sie machen alles selbst?« staunte Jacob. »Niemand hier, wie Sie sehen. Den Setzer mußten wir letzte Woche aus Geldnot entlassen. Ich mache den Job mit, habe ihn schließlich gelernt. Allerdings bekomme ich dafür keinen Cent mehr. Apropos, wie hoch soll die Auflage des Plakats sein?« »Was kostet es denn?« »Hm, sagen wir, tausend Stück für hundert Dollar?« »Das ist viel Geld. Was kosten denn fünfhundert Plakate?« »Hundert Dollar. Kleinere Auflage, höhere Unkosten.« »Und zweihundert Plakate?« »Fünfzig Dollar.« »Noch kleinere Auflage, noch höhere Unkosten?« fragte Jacob. »Right. Außerdem muß mein knurrender Magen befriedigt werden.« »Also gut«, seufzte Jacob. »Zweihundert Stück!«
Keine Stunde später hielt der junge Deutsche die noch feuchten Plakate in der Hand und drückte fünf Zehn-DollarScheine in Mark Twains Hand. »Eigentlich sehen wir hier in Frisco lieber Golddollars«, meinte der Journalist. »Aber ich will mal nicht so sein. Ist ja kein Rebellen-Geld. Nicht, daß ich geldversessen wäre, aber dieser verfluchte Springfrosch namens Charly hat durch seine Faulheit ein hübsches Loch in meine Haushaltskasse gerissen.« »Holen Sie sich das Geld doch mit Springfröschen wieder rein«, schlug Jacob vor. »Sie meinen, ich soll mich der Mühe unterziehen, solche blöden Tiere zu dressieren?« fragte Twain ungläubig. »Nein, ich meine, Sie sollten darüber schreiben. Einen Artikel oder eine lustige Geschichte vielleicht.« »Yeah!« Twains Zeigefinger massierte den Schnurrbart und färbte ihn dabei unbeabsichtigt mit Druckerschwärze ein. »Vielleicht werde ich das tun. Bret plant, einen Band mit Erzählungen zu veröffentlichen. Er hat mich gefragt, ob ich nicht etwas beisteuern will. Warum nicht eine lustige Geschichte?« »Ja«, meinte Jacob zögernd, da er von diesen Dingen wenig verstand. »Warum nicht.« Er verabschiedete sich, verließ das Gebäude des Call und steuerte einen von Twain empfohlenen Eisenwarenladen an, um achthundert Nägel zu kaufen, was ihn weitere achtzig Dollar kostete. San Francisco war wirklich ein teures Pflaster, falls man diesen Ausdruck bei dem bedenklich schlechten Zustand der Straßen überhaupt verwenden konnte. In der Hoffnung, daß sich die Ausgabe bezahlt machte, verbrachte er den Rest des Tages damit, die Plakate an Orten anzubringen, die Twain ihm als vielbesucht beschrieben hatte: Zeitungsredaktionen, Saloons, Hotels und das kleine Gebäude der Staatlichen Münze, hinter dessen dunklen Mauern Bret
Harte, der Redakteur des Call, seinem Brotberuf nachging. Das letzte Plakat brachte Jacob neben der Eingangstür von Victoria Marshs Boarding-House an. Als er den letzten Nagel mit dem Griff seines Bowiemessers eingeschlagen hatte, ging er zu Irene, um ihr von seiner Unternehmung zu berichten. * Portsmouth Square, an der Clay-Street-Seite, am Abend dieses Tages. Das Golden Crown – die goldene Krone – kannte jeder, der sich länger als einen Tag in San Francisco aufhielt. So sagte man. Und jeder, der länger als zwei Tage hier war, kannte Henry Black, den Inhaber des großen Vergnügungspalastes, der von einer riesigen Bar mit allen möglichen und unmöglichen alkoholischen Getränken über eine Spielhalle und einen Tanzsaal über so ziemlich alle Ablenkungen verfügte, die sich ein Goldsucher nach Monaten harter Arbeit draußen auf den Diggings nur wünschen konnte. Sogar ein Theater gehörte zu dem wuchtigen hölzernen Rundbau, dessen oberstes Stockwerk tatsächlich aussah wie eine Krone und zudem mit goldschimmernder Farbe angestrichen war. Henry Black war eine genauso beeindruckende Erscheinung wie seine Goldgrube. Groß, breit, wuchtig, mit Händen wie Schaufelblätter. Das backenbärtige Gesicht war stets gerötet und warnte vor den cholerischen Ausbrüchen, die seine Mitarbeiter erzittern ließen. Das derbe Erscheinungsbild seines Körpers wollte nicht so recht zu dem piekfeinen taubenblauen Dreiteiler, der goldenen Uhrkette und den dicken, diamantverzierten Ringen an seinen klobigen Wurstfingern passen. Man munkelte, daß Henry Black seinen Reichtum durch finstere Geschäfte erworben hatte. Aber niemand sprach laut darüber. Hätte er es gewagt, hätte Henry Black ihm vielleicht
sogar gesagt, daß er einst ein Hufschmied namens Heinrich Schwarz gewesen war, der aus dem fernen Deutschland nach Amerika kam, um endlich sein Glück zu machen. Vielleicht hätte Henry Black dem Betreffenden sogar die Umstände erzählt, unter denen er zu Wohlstand und seinem neuen Namen gekommen war. Aber danach hätte er den Neugierigen umgebracht! Henry Black schwitzte, als er die Treppe zum obersten Stockwerk hinaufstieg. Hätte er jemandem erzählt, daß er vor Angst schwitzte, hätte jeder das für einen Scherz gehalten und laut gelacht. Aber die Angst überfiel den wuchtigen Mann jeden Abend, wenn er die ›Krone‹ aufsuchte, wie er das Reich des Hais für sich nannte. Dort oben regierte der wahre Besitzer des Golden Crown. Der Mann, der Henry Black in der Hand hatte wie so viele andere Männer und Frauen in San Francisco. Der sich rasch zum heimlichen König der Stadt aufgeschwungen hatte, obwohl er erst ein paar Monate hier war. Dessen Namen niemand kannte. Alle nannten ihn nur den Hai. Den Hai von Frisco! Vor der massiven Eichenholztür blieb Black stehen, holte noch einmal tief Luft und wollte dann die mächtige Faust gegen die Füllung schlagen. Aber bevor er noch klopfen konnte, rief eine Stimme: »Kommen Sie rein, Henry!« Der Hai! Er schien durch Türen blicken zu können. Schon oft hatte sich Black gefragt, wie er das machte. Besaß er ein so feines Gehör, daß er das leise Knarren der Treppenstufen durch das massive Holz der Tür und der Wände hörte? Diese Frage bewegte Black noch, als er die Tür hinter sich schloß. Wie jeden Abend, traf er auf zwei Menschen, die in
dem geräumigen, luxuriösen Büro fast verloren wirkten. Der hünenhafte, knochige, kahlköpfige Schwarze namens Buster, der niemals sprach, aber alles sah, war der Leibwächter des Hais. Buster trug einen dunklen Anzug, der mit seiner Haut zu verschmelzen schien. Regungslos stand der Neger mit über der Brust gekreuzten Armen neben der Tür. Fast regungslos. Seine Augen verfolgten jede von Blacks Bewegungen. Der Hai selbst saß, wie gewohnt, hinter seinem Schreibtisch. Tat er jemals etwas anderes als zu arbeiten? Einem Mann wie ihm boten sich wohl nicht viele Vergnügungen, dachte Black, während er auf den Tisch zutrat. Zu jedem Schritt mußte er sich zwingen. Solchen Widerwillen flößte ihm, dem abgebrühten Geschäftemacher, die pure Gegenwart des Hais ein. Dabei konnte Black nicht einmal sagen, woran das lag. Der Hai lächelte sogar, als er seinem Geschäftsführer entgegensah. Aber das Lächeln wirkte weder warm noch beruhigend. Etwas Lauerndes, Drohendes ging davon aus. Es wirkte tatsächlich wie das Maul eines Hais, der sich aufs Zuschnappen vorbereitete. »Hier, Sir«, sagte Black ehrfurchtsvoll und legte die Ledermappe vor dem Hai auf den Schreibtisch. So tat er es jeden Abend. Die Mappe enthielt alle wichtigen Briefe und Abrechnungen des Tages sowie sonstige Dokumente, nicht nur über das Golden Crown, sondern über die ganze Stadt. Obwohl der Hai seine Krone nie zu verlassen schien, war er stets über alles informiert, was in Frisco vor sich ging. »Etwas Besonderes, Henry?« fragte der Hai, als er die Mappe aufklappte. »Nein, Sir, gar nichts.« Rasch überflog der Hai die Blätter, doch beim letzten stutzte er und blickte auf. Sein Gesicht wirkte angespannt, aus den
Augen sprühte Feuer. Black zuckte zusammen, nicht nur innerlich, sondern mit dem ganzen Körper. »Was ist das?« schnappte der Hai. Es war klar, daß er das Papier meinte. »Ein Plakat, das draußen am Golden Crown angebracht war«, antwortete ein verwirrter Henry Black; er verstand nicht, weshalb der Hai dem Papier solche Bedeutung beimaß. »Nichts Wichtiges, Sir. Eigentlich gehört es nicht in die Mappe. War wohl ein Versehen, daß es…« »Ich entscheide, was wichtig ist!« fuhr der Hai dazwischen und starrte wie hypnotisiert auf das abgerissene Plakat. Seine Lippen murmelten leise die beiden Namen: »Carl Dilger… und Jacob Adler!« Er sah zu Black auf und flüsterte heiser: »Ist auch eine Frau bei diesem Adler, eine gewisse Irene Sommer? Wahrscheinlich hat sie ein kleines Kind bei sich. Außerdem muß da noch ein rotblonder Kerl namens Martin Bauer sein.« »Das weiß ich nicht.« »Dann finden Sie es heraus, Henry. Umgehend! Und dann machen Sie mir Meldung, ganz gleich, wie spät es ist!« »J-ja, Sir.« Eilig verließ Henry Black das Büro. Er war froh, als er wieder auf der Treppe stand. Das Stimmengewirr und die Musik, die zu ihm heraufdrangen, waren eine Wohltat nach der eisigen Atmosphäre im Büro des Hais. * Dean Street, Mrs. Victoria Marshs Boarding-House, am nächsten Morgen. »Sind Sie dieser Jacob Adler?« fragte der kleine, untersetzte Mann und klopfte auf das Plakat in seiner Linken. Es war eins der Plakate, die Jacob gestern an zweihundert
publikumswirksamen Gebäuden angeschlagen hatte. Der Mann sprach Deutsch, aber das Amerikanische hatte schon stark auf seine Muttersprache eingewirkt. Der junge Deutsche, der noch auf seiner Pritsche lag, rieb sich den Schlaf aus den Augen. Jetzt erst bekam er ein deutliches Bild von seinem Besucher. Der Mann hatte helles Haar und ein spitzes Nagetiergesicht. Der Anzug und die Melone auf dem Kopf waren zu groß und reichlich abgetragen. »Wer sind Sie?« krächzte Jacob. Der Schlaf steckte noch in Mund und Kehle, die sich trocken wie Heu anfühlten. »Louis Bremer ist mein Name. Ich bin ein Freund von Carl Dilger.« Sofort war Jacob hellwach. Er sprang so schnell auf, daß er mit der Stirn gegen die Pritsche über ihm krachte, in der ein kleiner Italiener friedlich vor sich hin schnarchte. Der Schmerz, der durch seinen Kopf fuhr, erinnerte Jacob an Vivian Marquands Streifschuß. Noch hatte er sich nicht von der Verletzung erholt. Er mußte vorsichtiger sein. »Carl Dilger!« zischte der junge Zimmermann. »Wo ist er?« »Hier in Frisco. Er hat das Plakat gelesen und mich geschickt. Ich soll Sie und Fräulein Sommer zu ihm bringen.« »Warum kommt er nicht selbst?« »Er darf sich nicht zeigen. Er steckt in Schwierigkeiten.« »Was für Schwierigkeiten?« »Ich glaube, das sagt Carl Ihnen besser selbst. Wir sollten uns beeilen. Noch ist der Tag jung, und die meisten Menschen schlafen noch. Zu viele Augen, die uns beobachten, könnten gefährlich sein.« Zwanzig Minuten später folgten Jacob und Irene mit dem noch halb schlafenden Jamie im Arm dem kleinen Mann durch das fremde Straßengewirr. Irene löcherte Bremer geradezu mit Fragen. Aber die Antworten fielen sehr einsilbig aus.
Bremer hatte Dilger schon auf der Überfahrt von Hamburg nach Amerika kennengelernt, sagte er. Zusammen hätten sie in Kalifornien Gold gesucht. Ob sie erfolgreich gewesen waren? Nun, das hinge mit diesen verfluchten Schwierigkeiten zusammen. Bremers Antworten kamen Jacob reichlich schwammig vor. Und die Gegend, Hinterhöfe von Bars und Saloons, nicht gerade freundlich. Den Sharps-Karabiner hatte er zwar im Boarding-House zurückgelassen. Aber er war froh, daß Army Colt und Bowiemesser in seinem Gürtel steckten. Als ihr Weg plötzlich vor der Rückwand eines großen Hauses endete, wurde Jacobs unbestimmtes Gefühl, daß etwas nicht in Ordnung war, zur Gewißheit. »Eine Sackgasse!« fuhr er Bremer an. »Was hat das zu bedeuten?« »Das ist der Treffpunkt«, lächelte der kleine Mann, dessen Gesicht dabei noch stärker rattenhafte Züge annahm. »Der Treffpunkt mit Carl?« fragte Irene hoffnungsvoll. »Nein, der mit meinen Freunden!« Dabei zeigte Bremer in die Richtung, aus der sie eben gekommen waren. Ein halbes Dutzend grober, kräftiger Kerle baute sich dort auf und versperrte ihnen den Rückweg. Einige trugen dicke Knüppel in den Händen. »Das ist kein Treffpunkt, sondern eine Falle!« erkannte Jacob, leider zu spät. Seine Rechte fuhr an seine Hüfte, wo der sechsschüssige Colt im Holster stecken. »So ist es«, bestätigte Bremer. Er lächelte immer noch und richtete den sechsfachen Lauf eines kleinen, handlichen Pepperbox-Revolvers auf den deutschen Auswanderer. Die Waffe war dafür bekannt, alles andere als zuverlässig zu sein. Aber Bremer stand nur einen Schritt von Jacob entfernt. Auf diese Distanz konnte er sein
Opfer nicht verfehlen. »Den Waffengurt abschnallen, Adler, aber hübsch langsam!« Jacob gehorchte. Bremer ließ ihm keine andere Wahl. Er beobachtete Jacob genau, so daß der Zimmermann keinen überraschenden Angriff auf den Mann mit der Pepperbox starten konnte. Das Rattengesicht streckte die freie Linke aus, nahm Jacob den Waffengurt ab und trat dann ein paar Schritte zurück. »Und was passiert jetzt?« wollte Jacob wissen. »Du siehst ziemlich kräftig aus, Adler. Ich glaube, der Hai hat nichts dagegen, wenn du deine Kräfte unter Beweis stellst.« »Der Hai? Welcher Hai?« »Unser Boß, der Hai von Frisco. Ich arbeite für ihn, und meine Freunde auch.« Bremer stieß einen schrillen Pfiff aus. Die Front der Schläger setzte sich wie ein Mann in Bewegung und trat langsam auf das Ende der Sackgasse zu. Irene drückte Jamie an sich und wich so weit zurück, wie es möglich war. Jacob ballte seine Fäuste und stellte sich schützend vor sie. Er wartete nicht ab, bis ihn die Angreifer erreichten und einkreisten. Ein Vorwitziger ging etwas schneller als die anderen und hob als erster seinen hölzernen Prügel, um ihn über Jacobs Schädel zu ziehen. Das vermeintliche Opfer rammte dem Schläger die Faust gegen die Gurgel. Jacobs Linke umklammerte den Prügel und blockierte den Schlag. Sein Knie schoß hoch und traf den Unterleib des Gegners. Der stöhnte gequält auf, sackte zu Boden und überließ dem Zimmermann seine Waffe. Gerade noch rechtzeitig, um damit einen anderen Knüppel abzufangen, den der Besitzer mit beiden Händen gegen Jacob schwang. Der Aufprall war so hart, daß beiden Männern die Prügel aus den Händen gerissen wurden. Jacob erholte sich als erster von der Überraschung und
deckte den anderen mit einer Serie von Faustschlägen ein. Der zweite Angreifer ging zu Boden. Der dritte Mann, der den Staub der morgendlichen Straße schmeckte, war Jacob selbst. Ein Angreifer war in seinen Rücken gekommen, hatte die Hände ineinander verschränkt und sie in den Nacken des Deutschen krachen lassen. Als Jacob vor ihm kniete, traf ihn ein schwerer Stiefel gegen den Kopf. Unter normalen Umständen hätte ihm der Tritt nicht so viel ausgemacht. Aber das harte Leder traf genau die Stelle, wo Vivian Marquands Weichbleigeschoß eine tiefe Schramme hinterlassen hatte. Dunkle Übelkeit brandete in Jacob auf und hüllte ihn trotz allen Widerstandes ein. »Jacob!« flüsterte Irene entsetzt, als sie sah, wie ihr Freund umkippte und in den Schmutz fiel. »Keine Angst, Täubchen«, grinste Louis Bremer. »Du kommst auch noch dran.« Er blickte die Schläger an und rief: »Los, Jungs, nehmt sie euch vor!« Die vier Männer, die Jacob nicht zu Boden geschickt hatte, kamen langsam auf Irene zu. In ihren mitleidslosen Zügen lag dasselbe gemeine Grinsen, das die junge Frau schon auf Bremers Rattengesicht gesehen hatte.
Ende des 2. Teils
Und so geht das Abenteuer weiter…
Das Schicksal zweier Männer soll sich auf hoher See erfüllen. Piet Hansen, als Saboteur und Konföderierten-Agent beschuldigt, erhält eine Chance, das drohende Todesurteil abzuwenden: wenn er mit der ALBANY die geladenen Waffen um Kap Horn herum zu einem noch geheimen Ziel transportiert. Jacob Adler, shanghait und an einen abgewrackten Walfänger verkauft, nimmt als Gefangener unter rauhen Seeleuten ebenfalls Kurs aufs offene Meer. Und dort lauert ein Ding, das schon vielen Schiffen zum Verhängnis wurde. Niemand hatte bisher eine Chance, ihm zu entkommen. Denn es nähert sich unter Wasser und schlägt blitzschnell zu…
DAS STÄHLERNE MONSTER von J.G. Kastner