Gemini Nr. 14
Thorn Forrester
Der elektronische Rebell
Durch einen Spalt im Dach, der sich einfach nicht abdichten ...
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Gemini Nr. 14
Thorn Forrester
Der elektronische Rebell
Durch einen Spalt im Dach, der sich einfach nicht abdichten ließ, drang ein Schimmer Mondlicht auf Pandur herunter. Er konnte erkennen, wie der Vollmond grün leuchtete, als wolle er die auf der Erde grassierende blaue Pest verspotten. Tatsächlich waren das radioaktive Schwaden, die noch lange brauchen würden, um auf die Oberfläche des Mondes niederzusinken. Pandur war sich nicht gewiß, ob ihn fror, weil ihm jetzt ein inneres Feuer fehlte, oder weil es in der Ruine, in der er und Dr. Strangell Unterschlupf gesucht hatten, keine Heizung gab. Er warf einen Blick auf den Kalender, und ein verächtliches Lachen brach aus seiner Kehle. Sie schrieben einen Tag im August, ziemlich gegen Ende, wenn früher die Erde von warmen Strahlen der Sonne eingehüllt wurde und die Steine der Häuser und die Straßenpflaster nachts die Hitze abstrahlten. August! Und es hing Schnee am Himmel. Wolken zogen auf, und hinter ihnen leuchtete nur noch matt, wie eine einzelne fiebernde Augenhöhle, das gefährliche Licht des Mondes. »Diese Gangster!« preßte Pandur hinter seinen Zähnen hervor. »Du kannst Braven also auch nicht vergessen«, flüsterte Strangell und richtete sich von seinem Lager auf. »Ein Hund, wer das mitgemacht hat und vergißt!« Braven, eine Stadt an der Nordseeküste. Früher hatten sich die Leute in schier endlosen Beschwerden ergangen, daß es nach Fischmehl stinke. Doch heute gab es nicht mehr viele Leute, die noch lebten, um sich über den radioaktiven Schmutz zu beschweren. Und bei wem? Bei der adligen Clique der herrschenden Tyrannen, versorgt mit genauen Zukunfts-
analysen, die schon früh damit begann, sich in Tunnelsysteme und Fluchtburgen zurückzuziehen? Vor Pandurs innerem Auge zogen wie die Wolken die Erinnerungen an die Ereignisse, die so unendlich weit zurückzuliegen schienen, vorüber. In Wirklichkeit war das vor wenigen Wochen geschehen, und die Wunden, die durch die Geschehnisse geschlagen wurden, die wirkten noch ganz frisch. Und es gab niemanden, der sie verbinden wollte – niemanden, der sie verbinden wollte oder konnte. Kurze Zeit war es erst her, da war Braven noch unzerstört gewesen. Die Häuser häßlich, ohne Farbe und Verputz, doch noch insgesamt erhalten. Die Lebensbedingungen erdrückend. Es war zu Aufständen gekommen, zu Zusammenrottungen. Die Hafenpolizei in ihren roten Lederuniformen hatte dazwischengehalten, als wäre ein Kornfeld zu mähen und als handle es sich nicht um Menschen, in deren Lage doch jeder durch die Umstände oder durch die Abstammung seiner Eltern, denen das Statussymbol der Reichen, das blitzende Monokel, fehlte, geraten konnte. Der kurze Dialog der beiden Männer war längst im Raum verklungen, als Strangell abermals versuchte, seinen Freund, aus den düsteren Träumen zu reißen. »Du solltest nicht immer wieder daran denken«, meinte er. »Wir müssen uns auf die Zukunft besinnen.« »Welche Zukunft? Die Zukunft der Fluchtburg 17 vielleicht?« »Laß es ruhen. Deine Schwester ist tot!« »Ja? Ist sie tot?« Mit bitterer Ironie hatte Pandur die Worte hervorgestoßen. Man hatte ihm nicht nur seine Stadt genommen. Als sich Anca weigerte, in die Fluchtburg 17 zu ziehen und dort deren Herrn, den Baron von Falkenstein, mit ihrem Körper zu erfreuen, waren die Spezialcyborgs über sie hergefallen. Die Haken-
polizei, die ihren Namen führte, weil sie ihren Opfern Fleischerhaken durch die Kehlen zu ziehen pflegte, hatte sie scheinbar gerettet und verschleppt. Niemand hatte jemals wieder ein Lebenszeichen von dem Mädchen gehört. Wenn sie nicht tot war, dann hatte man sie in Fluchtburg 17 oder in den Festungen der Haken zu den schlimmsten Perversitäten gezwungen und ihren jungen Körper verstümmelt. Das war keine Perspektive, dann lieber tot! Pandur, durch die scheußlichen Vorgänge um seine Schwester in eine Zwickmühle geraten zwischen seinem Gewissen und der Notwendigkeit, essen und arbeiten zu müssen, hatte sich, weil es ganz natürlich war, auf die Seite der Menschen geschlagen, die die Straßen in ihren Lumpenanzügen füllten – manchen ihrer Anzüge sah man es noch an, daß sie eben erst aus der provisorischen und unter großen Schwierigkeiten betriebenen Papierherstellungsanlage gekommen waren. Auch er hätte die Chance gehabt, zu den blutgierigen Bestien, die diese Welt knapp vor dem Jahr 2000 verwalteten, zu gehören. Man hatte ihn, als man seine Intelligenz und Wendigkeit, seine innere Stärke und sein Selbstvertrauen erkannt hatte, lukrative Posten in der Verwaltung, in den Fluchtburgen der Reichen, ja andeutungsweise sogar eine Karriere in den Schaltzentralen von KNIFE, dem Supercomputer, mit dem sie diesen Teil der Welt beherrschten, angeboten. Doch Pandur hatte diese Angebote ausgeschlagen. Er war von Haus aus Ingenieur und hatte, als sie allzu zudringlich geworden waren, Zirkel und 3-D-Schreiber auf den Schreibtisch geknallt und sein Kündigungsschreiben so brutal durch die Rohrpostwände gefeuert, daß seinem damaligen Chef die Zigarre aus dem Mund gefallen war. Das war ein gefährlicher Schritt gewesen, doch Pandur konnte nicht anders handeln. Pandur zog fröstelnd den zerschlissenen Ledermantel, eine
Erinnerung an bessere Tage, um seinen Leib und mußte den Gürtel eng schnüren. Die aufreibende Tätigkeit der letzten Monate hatte ihn bestimmt zehn oder zwölf Kilo seines ursprünglichen Gewichts gekostet. Dennoch konnte man seinem hageren, sehnigen Körper die ungeheure Willensstärke und Entschlossenheit ansehen, die vorher durch seinen stattlichen Leib eher verdeckt worden war. Seine blauen Augen, in die ein harter, stählerner Glanz getreten war, blickten, wenn er nicht gerade auf ein Foto des Barons oder eines der Hakenpolizisten starrte, in einem freundlichen, fast gütigen Glanz, der verriet, wie sehr er gern die Menschen geliebt hätte und ihre Schwäche und die Verhältnisse, die sie in die Arme des Barons und seiner Freunde trieben, wenn die Welt nicht so schrecklich gewesen wäre. Wie so viele Leute an der Küste hatte er blondes Haar, und um seinen Mund spielte ein teils freundliches, teils zynisches Lächeln, das gewissen Leuten nichts Gutes verhieß. Sein Körper erschien jetzt kleiner als er in Wirklichkeit war, nämlich einsachtzig, als er in einem ausrangierten Kinosessel hockte und sich mit zusammengekniffenen Augen bemühte, ein Buch mit engbedruckten Zeilen zu lesen, das Anweisungen enthielt, wie man sich am besten gegen die gnadenlose Tyrannei wehrte. Dr. Strangell hatte sich derweil wieder zum Schlafen ausgestreckt. Strangells Inaktivität beunruhigte Pandur. An der Decke schaukelte eine nackte Glühbirne, deren Licht flackerte und schwankte und gelegentlich ganz ausfiel, um den Raum in schwarze, schweigende Dunkelheit zu tauchen. Dann fummelte Pandur in seinen Taschen nach Streichhölzern, einer Kostbarkeit in diesen Tagen, um die ebenso wertvolle Kerze zu entzünden, damit er das Buch in ihrem gelben Schein weiterlesen und seine Augen verderben konnte. Man konnte schon froh sein, wenn überhaupt noch elektri-
sches Licht in die Häuser der gewöhnlichen Menschen gelangte. Daß die Reichen in den Fluchtburgen in Lichterfluten badeten, war in diesen Zeiten selbstverständlich. So wurde behauptet, die weltweite Rohstoffknappheit bewirke, daß man sich eben begnügen mußte, was noch an Saft aus den Leitungen sickerte. Freilich machten andere – und zu ihnen zählte auch Pandur – die Gegenrechnung auf, indem sie nachwiesen, daß die Rohstoffquellen der Erde, wenn man nicht bedenkenlosen Raubbau trieb, schier unerschöpflich waren. Man brauchte zum Beispiel nur die Ölquellen nicht so hastig und gierig anzubohren und würde damit zwei Drittel der Reserven, die sonst auf ewig verschüttet waren, für die Menschheit retten. Und davon abgesehen, gab es noch immer keine ernsthaften Bemühungen, das Sonnenlicht, diese ewige, stete Energiequelle von höchstem Grade, nachhaltig auszubeuten. Dabei gab es doch genügend Stellen auf der Erde, auf die die Sonne fast ununterbrochen schien. Und, wie man hörte, war die Wolkentechnik so weit entwickelt, daß man die Wolkenbildung zu diesem Zweck beeinflussen konnte. Doch davon war nichts zu sehen. Pandur dachte bei sich, daß in den Fluchtburgen eben genug gezahlt wurde, um den Strom sich leisten zu können und daß die großen Gesellschaften lieber andere Teile der Erde versorgten, als sich hier gegenseitig in den Boden zu konkurrieren. Da er nun schon einmal sein augenblickliches Interesse an diesem Buch, das er auf jeden Fall weiterlesen wollte, verloren hatte, legte Pandur die Broschüre seufzend zur Seite und wickelte sich noch enger in den Mantel. Er erinnerte sich… * Ein riesiges graues Heer von Menschen hatte sich auf dem
Marktplatz versammelt. Verzweiflung und deren Schrei nach Hilfe, ja, besser, nach Selbsthilfe, zu der sie ja fähig waren, schwebte über ihnen wie ein gepeinigtes Antlitz in stummem Brüllen. Pandur stieg auf das Podium und begann seine Rede, in der er alle Hoffnungen und Sorgen, Ängste und Möglichkeiten, die die Zukunft enthalten mochte, zusammenfaßte. Die dort unten hatten ihn zu ihrem Sprecher gemacht, weil sie seine entschlossene und mutige Haltung schätzten. Doch obwohl er eine glänzende Rede hielt, die ihm von ganzem Herzen gekommen war, konnte er sich nicht völlig auf die Menge seiner Freunde, die auch auf ihn einen Teil ihrer Hoffnungen setzten, konzentrieren. Denn eines war ihm sehr rasch klargeworden: dies war eine besondere Veranstaltung. Zum erstenmal, seit er seinen Arbeitsplatz unter den Schikanen der Verwaltung verlassen hatte, war es zu einer solch eindrucksvollen Kundgebung gekommen. Jeder Bewohner Bravens war auf der Straße, die ja ihm gehörte. Wer sich nicht zeigte, das waren die Barone. Statt dessen schickten sie ihre Schergen, die roten Hakenpolizisten, die mit mordlustigen Augen die Menge betrachteten und ihre Laserkarabiner in Anschlag brachten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Pandur noch die üblichen Provokationen und Ausschreitungen von Seiten der Berufskiller befürchtet, aber das war es nicht, was seine tiefste Sorge geweckt hatte. Es lag eine Ahnung in der Luft, die dieses Mal ein Ereignis verhieß, daß das Schlimmste überhaupt eintreten konnte. »Wer unter uns hat nicht erlebt, daß Verwandte, Freunde, Bekannte, Arbeitskollegen plötzlich, von heute auf morgen, verschwanden und niemals wieder auftauchten? Wenn es sich um hübsche Mädchen handelte, dann verschwanden sie in den
Fluchtburgen der Barone. Aber Männer und Frauen, die ein halbes Leben Arbeit hinter sich hatten? Die sich nicht einmal politisch verdächtig gemacht hatten? Inzwischen wissen wir, wohin diese Menschen verschwunden sind und kennen das Schicksal, das uns allen droht. Die Barone haben den ersehnten Sprung in die Unabhängigkeit von uns, der ordinären Masse, geschafft. Sie haben Cyborg-Arbeiter entwickelt, die leistungsfähiger sind als menschliche Arbeiter. Aber sie brauchen dafür unsere Gehirne. Sie schlachten uns und unsere Kinder und sperren die Gehirne in Roboterkörper, nachdem sie ihnen die Fähigkeit genommen haben, Gefühle entwickeln zu können!« Pandur hatte das Mikrofon umklammert und seine Worte mit heiserer Stimme in die Menge geschleudert. Dann sah er, wie sich auf einen grellen Pfiff hin die roten Schergen von der Flanke der Menge zurückzogen, in ihre vergitterten Mannschaftswagen sprangen und mit Vollgas davonbrausten, als gelte es, den Wettlauf um ihr Leben zu gewinnen. Pandur brach seine Rede ab. »Einen Moment!« rief er. »Die Haken haben etwas vor! Nehmt euch in acht!« Er beugte sich zu Strangell hinunter. »Glaubst du wirklich, daß sie ein solches Verbrechen auf sich laden?« flüsterte er. »Ja«, erwiderte Strangell. Nur dieses eine Wort. Er war bleich. Die letzten Beifallsrufe aus der Menge waren verklungen. Niemand fühlte sich wohl in seiner Haut. Die ledernen Folterknechte waren eine ständige Bedrohung gewesen, so lange sie die Menge beobachteten. Aber schlimmer noch als ihre Anwesenheit war ihr Abzug. Dahinter konnte nur eine Teufelei stecken.
Ein Arbeiter drängte sich durch die Menge. Pandur kannte ihn. Er arbeitete draußen auf dem Militärflughafen an den strategischen Treibstofftanks, wo seine Hände ätzend verbrannten und der dennoch froh sein durfte, überhaupt einen Arbeitsplatz gefunden zu haben. Er sprach leise mit Pandur. Pandur griff wieder nach dem Mikrofon. »Hört, was euch dieser Kollege zu sagen hat. Vielleicht hat seine Beobachtung keine Bedeutung – wir wollen es alle hoffen –, aber sie würde den Abzug der Haken erklären.« Er reichte dem kleinen grauhaarigen Mann mit der Schiffermütze das Mikrofon. »Ich arbeite draußen auf dem Flughafen«, setzte dieser unsicher an, gewann aber schnell an Sicherheit und Lautstärke. »Wir mußten heute früh einen Langstreckenbomber auftanken, der seitdem einsatzbereit auf den Start wartet. Dann hat man alle nichtmilitärischen Arbeiter fortgeschickt und Alarmstufe ROT verkündet.« Der Mann schwieg. In der Ferne, über die Weser rollend, hörte man noch immer die schweren Motoren der roten Bluthunde knattern. Sie fuhren wie die Teufel, um sich in Sicherheit zu bringen. Es war keine Zeit mehr zu verlieren. Mit gepreßter Stimme beschwor Pandur die Menge, sich sofort zu zerstreuen und sich in möglichst tief gelegene Keller und Bunker zu begeben. Es war nicht nötig, noch mehr zu sagen. Die Männer und Frauen auf dem Platz wußten, was ihnen drohte. Innerhalb weniger Minuten war der Platz leer. Diszipliniert, aber in konzentrierter Eile, hatten die Menschen das Weite gesucht, Pandur und Strangell gehörten zu den letzten, die über den verlassenen Platz eilten. Sie hatten noch beim Verstauen der Lautsprecher-Anlage geholfen. Ein Freund hatte sich hin-
ter das Steuer des kleinen Lastwagens geklemmt und fuhr damit zum Versteck. Der Wagen und die Anlage waren Kostbarkeiten, beinahe unersetzlich. Strangell und Pandur hatten ein nahes Ziel. Es handelte sich um einen Keller, in dem sie schon häufig Flugblätter gedruckt hatten. Hier hatten sie sich schon oft versteckt, wenn sie vor der Hakenpolizei flüchten mußte. Über eine Spiegelanlage konnten sie die Umgebung überblicken. Ihr Blickfeld reichte bis zum nahen Marktplatz. Sie ballten die Fäuste und schwiegen. Nur ihr schwerer Atem lag hörbar in der Luft. Dann hörte man draußen ein Brummen, das fein und dünn und hoch war wie von einer pollenschweren Biene, an der man einen mörderischen Stachel nicht zu bemerken vermochte. Sie begriffen, daß die Monokelbarone in den Fluchtburgen diesen Augenblick auch noch auskosten, daß sie schöne Bilder schießen wollten, um sich an ihnen zu berauschen. Der Bomber zog langsam, gemessen an den Geschwindigkeiten der normalen Maschinen, heran, und er flog in sehr großer Höhe. Sie konnten sich schon denken, daß nur der Cyborg an Bord sein konnte, denn bei dem Tempo würden selbst ihn noch die Strahlung oder deren Ausläufer erreichen. Es war eine von den alten Maschinen, die sie zum Teil, um die Kosten niedrig zu halten, entmottet hatten, wie auch jene Flotteneinheiten, die im Inland operierten, nicht den neuesten und besten Produktionsstand widerspiegeln mußten, denn die Widerstandsorganisation war den Monokelbaronen weit unterlegen, was die materielle Ausrüstung betraf, und insofern genügten auch veraltete Maschinen. Was die Aggressivität der Monokelbarone nach außen betraf, so war ihre Rüstung allerdings auf dem neuesten Stand, und darum ja versank das einfache Volk in Armut und Schmutz und Dreck. Pandur blies in seine Hände, um sie etwas zu wärmen. Eini-
ge blaue Schneekristalle zeigten sich in der Öffnung zwischen den Balken, und sie schienen alle die Form des Bombers anzunehmen. Pandur schlug seine Hände über die Ohren, doch das Brummen des Bombers war nun lauter geworden, schwoll an, wie man einen Alptraum beharrlich verstärkt. Dann zog er über dem ersten der verkommenen Häuser hoch droben auf, schob sich wie ein dicker, geplusterter Vogel, der eine Art gutmütiger Dummheit ausstrahlt, in den Himmel über Braven hinein. Der Wind hechelte mit vielen Zungen turbulent zwischen den Bravener Bürgern, die ängstlich hinaufstarrten, und dem Flugzeug dahin und rissen gelegentlich das Geräusch der Motoren weg, was in manchen Herzen die Hoffnung aufkeimen ließ, jetzt sei der Treibstoff zu Ende oder der Cyborg habe durchgedreht und die Hebel auf Null gestellt oder es sei gar kein Cyborg, sondern ein Mensch, ein Mitglied der Widerstandsgruppe an Bord, der die teuflischen Monokelbarone verriet. Doch der gedrungene Leib des Bombers schwankte nicht, und das Geräusch kam beständig drohend weiter herab. In Braven ballten sie die Fäuste und schluckten vor ohnmächtigem Ärger und dachten, daß dies nicht eine Art Schicksal, sondern ausschließlich der Wille der Monokelbarone und ihrer Schergen war und daß es Zeit sei, ihnen entgegenzutreten. In Wirklichkeit glaubten die meisten, obwohl Pandur sie eindringlich auf die Gefahr hingewiesen und sie nochmals über die Verworfenheit, die Dummheit und absolute Gemeinheit der Monokelbarone aufgeklärt hatte, nicht völlig daran, daß die Monokelbarone den Befehl geben würden. Schließlich waren auch sie Menschen, und konnte man nicht erwarten, daß sie ein klein wenig Verständnis, ein klein wenig Menschlichkeit, etwas Herz für die leidende Bevölkerung zeigen würden, der es doch ohnehin schon schlecht genug ging?
Doch dann, bei diesem Gedanken, fiel den Vernünftigsten unter ihnen wieder ein, daß die Monokelbarone sich schon früher hätten besinnen können, daß die Lage der Bevölkerung deswegen so verzweifelt war, weil es keine, absolut keine Schranken und Hemmnisse gab, wenn es für die Monokelbarone darum ging, sich zu bereichern, ihre Fluchtburgen auszubauen, KNIFE, ihren Computer, zu stärken, oder Weltraumschiffe zur Eroberung auszusenden. Sie, die beherzten Männer von Braven, die ihr Leben lang gearbeitet hatten und weiterhin arbeiten wollten, waren mitunter in dieser Hinsicht gutmütig und dumm. Weil sie selbst niemals fähig gewesen wären, den Kindern, ja, sogar den Embryos das Fleisch von den Knochen zu fetzen, um sie in Cyborgs zu verwandeln, weil sie es nicht sehen konnten, wenn ihr Nachbar, ihr Kollege Not litt, sich in einer schlechteren Situation als sie befand, deswegen übertrugen sie diese edle Haltung automatisch auf jeden Menschen, auch auf die Monokelbarone, und vergaßen immer wieder darüber, daß jene so viel besaßen, daß es ihnen in ihren Fluchtburgen so gut ging, daß sie diesen Reichtum mit aller Entschlossenheit und Brutalität verteidigen würden. Pandur, der die Menschen liebte, der gern mit Kindern spielte, der sich gegenüber seinen Freunden als großzügig erwies, hatte diese Gedanken immer und immer wieder gewälzt, doch es gab keinen anderen Weg. Die Befreiung der Menschen von Braven aus ihrer Not und Sklaverei war nur möglich mit Gewalt, alle anderen Wege, die Tyrannei zu vernichten, hatten versagt. Man konnte förmlich hören, wie die Menschen die Luft einsogen, wie die Hoffnung in ihre Herzen stieg, das Flugzeug hatte den Marktplatz überquert, war über das langgezogene Zentrum Bravens hinausgerutscht, und nun dachten sie schon,
es habe sein Ziel verfehlt, oder sein Auftrag habe einen anderen Wortlaut, etwa bloß der Erkundung zu dienen oder vielleicht eine Mission über Braven zu verrichten. Doch Pandur ließ sich nicht täuschen. Die Hakenpolizisten waren nicht ohne Grund fluchtartig abgerückt. Jetzt waren sie bestimmt schon in die Stollen vor den Fluchtburgen getaucht oder hatten sich durch die großen Tore geschafft, und vielleicht sah der Pilot in der Maschine den einen oder anderen von der Hakenpolizei, wie er mit einem Motorschaden liegenblieb. Man war gegenüber seinen eigenen Leuten nicht eben zimperlich, doch die Ausbildung und Umarbeitung der Polizistenkörper verschlang ziemlich viel Geld, und allein aus diesem Grund sah man nicht ein, warum man einen so wertvollen Körper liegenlassen sollte. Das Flugzeug kippte nun über die linke Tragfläche ab. Trotz seiner Höhe sah man dies genau. Es zog eine weite Schleife und kam zurück, näherte sich mit lautem, bösem Brummen wieder dem Zentrum der Stadt. Obwohl Pandur sich keinen Augenblick hatte von dem Manöver täuschen lassen, fühlte er doch, wie auch in seinen Adern das Blut erstarrte und wie er verzweifelt hoffte, sie würden einen Defekt, eine Panne haben. Dann ging der Flug des Bombers in eine Spirale über, er kurvte ganz sachte in engen Schleifen herab, jedoch nicht sehr tief, um sich nicht selbst der Gefahr auszusetzen. Als die optimale Höhe für das Verbrechen erreicht worden war, stabilisierte sich die Flugbahn in einem Kreis. Schließlich blitzte die Sonne auf dem Metall der Maschine, und in diesem Augenblick öffnete sich, winzig klein für Pandur und Strangell, eine Luke unterhalb der Maschine. Wieder riß der Wind das Geräusch der Motoren an sich. Aus der Luke purzelte, kaum wahrnehmbar, ein zylinderförmiger Körper, trudelte, taumelte herab, kam für jene, die in der Nähe des
Marktes Zuflucht gesucht hatten, mit sich steigernder Geschwindigkeit näher, torkelte wie ein riesiges, deformiertes Ei. Wegen der großen Höhe des Bombers brauchte der Gegenstand etliche Sekunden für seinen Flug auf den Marktplatz von Braven hinab. Die Motoren des Bombers schwollen wieder an, in Spiralen begann er erneut in die Höhe zu steigen, blieb jedoch begierig über dem Ort, offensichtlich, um genau zu studieren, was dort unten in Braven geschah. Gemeines Pack, dachte Pandur, und Strangell umklammerte entsetzt seinen Arm. Dann hatte der Metallkörper in rasender Fahrt fast den Marktplatz erreicht. Doch sie hatten die Wirkung genau geplant. Pandur schätzte, daß es etwa fünfzig Meter über dem Boden, also zwischen den Häusern und so hoch, daß mit einer optimalen Wirkung zu rechnen war, geschah, und Strangell, der auch etwas von Physik verstand, flüsterte ihm die Höhe sogar zu. Der Körper zerfiel, seine Oberfläche bröckelte ab, und aus seinem Inneren drang eine weiße, verschwimmende Welle heraus. Licht, ungeheuer intensives Licht. Pandur und Strangell rissen ihr Gesicht von der Spiegelanlage weg. Währenddessen schlug das Licht mit ungeheurer Kraft gegen die Häuser, schmolz vereinzelte Bravianer weg, daß nur ihr Schatten auf dem Pflaster übrigblieb und raste wie eine weiße, durchscheinende Lawine zwischen den Häusern und durch die Stadt. Über der Spiegelanlage in Pandurs Zufluchtsort erschien sie wie eine weiße Fledermaus, die einen heißen, hellen Schrei ausstößt, und zuckte dann weiter hinten ins flache Land und zündete eine Fackel an, wie sie nur im Inneren der Sonne brennt. Dann kam sofort der Druck, staute die Luft, ballte sie zusammen wie ein atmosphärisches Paket und trieb sie vor sich her wie einen feisten, fetten Wall, wie eine Mauer, in der sich
Druck und Hitze staut. Brüllend raste die Lawine auf die Häuser los, riß ihre Fronten herab, daß in Sekundenschnelle dort nur noch Pulver und Asche zu sehen war, grollte durch die Straßenschluchten und rasierte jedes Haus in einigen hundert Metern Entfernung vom Marktplatz, wo die Bombe gezündet worden war, ab. Als die Druckwelle das Haus, in dem Pandur und Strangell sich verborgen hielten, erreicht hatte, hörten sie über sich, wie die Fenster platzten, wie die Steine knackten, der Verputz auf die Straße fiel, wie tief unten die Fundamente zitterten, doch das Haus stand, es hielt. Pandur sah, wie Strangell etwas sagte, doch er hörte ihn nicht. Das Tosen von draußen lag wie ein endloses Brüllen auf ihrem Gehör, die Luft schrie infernalisch auf. Es war, als ächzte und stöhnte, als hallte die ganze Stadt. Ein Riese, den man mit gewaltigen Knüppeln schlug, brüllte aus vollem Hals. Pandur hatte den Mund geöffnet, um so einen Druckausgleich zu schaffen, damit es nicht seine Trommelfelle zerriß. Mit fast geröteten Augen starrte er in die Spiegelanlage, die sie so geschickt gebaut hatten, daß sie selbst jetzt, da eine der »kleinen« Atombomben, etwa vom Hiroshima-Typ, auf Braven fiel, noch intakt war und ihren Dienst versah. Über der Stelle, wo sie die Bombe in der Luft gezündet hatten, damit sie auch ja die Häuser zerfetzte, damit die Menschen auch wirklich vernichtet wurden, stieg langsam der charakteristische Rauchpilz empor, und er, von der momentanen Zerstörung durch die Luft- und die Druckwelle abgesehen, barg die wirkliche, die langfristige Gefahr, als genüge die radioaktive Verseuchung der Landschaft noch nicht – die in Wirklichkeit der Hauptgrund für die Errichtung der Fluchtburgen und der Tunnels war. In einem Sog, der den Stamm des Pilzes hochkroch, drückten
sich die schmutzigen Teilchen hinauf, quollen oben nach außen hin und brodelten so in den Rand des Pilzes hinein. Über dem Pilz, emsig fotografierend für die Verbrecherbrut, stieg der Bomber empor. Es schien, als reite er wie ein metallischer Idiot auf der Wolke, die ja sein Produkt war. Doch dann sah Pandur, daß der Bomber allmählich zur Seite glitt, um den Kurs auf seinen Flughafen einzuschlagen. Pandur zog den Mantel noch fester um sich, und für einen Augenblick verschwand die Erinnerung vor seinen Augen, vermochte er sich von jenen schrecklichen Tagen, die noch nicht allzuweit zurücklagen, etwas zu lösen. Glücklicherweise blies der Wind in den folgenden zwei Tagen auf die See hinaus, doch es war noch genug radioaktiver Schmutz in der Luft, um die Wolken, die dann über das Festland zogen, mit ihren Teilchen aufzuhalten, daß jeder Regenguß hernach höchst gefährlich war. Am ersten Tag nach dem Bombenwurf regte sich in Braven überhaupt nichts mehr. Das lag natürlich daran, daß der größte Teil der Bevölkerung, trotz Pandurs eindringlichem Appell, entweder in der Lichtwelle oder unter dem Druck oder schließlich in der Strahlung umgekommen war. Die Monokelbarone jedenfalls hatten ihr Ziel weitgehend erreicht. Pandur und Strangell konnten sich zunächst nicht in das Inferno hinauswagen, weil sie nicht über die notwendigen Schutzanzüge verfügten. Am nächsten Tag tauchte dann, eigentlich erwartungsgemäß, die Hakengefahr wieder auf. Diesmal hatten sich die Hakenpolizisten in Schutzanzüge gehüllt, denn selbst ihre verstärkten Körper aus synthetischem Fleisch mußte man vor der Radioaktivität schützen. Sie krochen in der Stadt wie Maulwürfe herum, fotografierten hier, wühlten da, und sie waren Bestien genug, keinem einzigen der Opfer im Zentrum, denen die Haare ausfielen, denen die Haut vom Leib blätterte, die ihre Zähne verloren und erblindeten,
den Gnadentod zu gewähren. Sie lachten roh und sagten: Nun stirb mal schön! Pandur und Strangell überlegten, was sie hier wohl noch zu suchen hätten, nachdem doch der Cyborg in dem Bomber seine Aufgabe verrichtet hatte. »Seltsam«, sagte Pandur und nahm für einen Augenblick den prüfenden Blick von den Spiegeln weg. »Sie müssen doch allmählich genügend Bilder von ihrer Schandtat genommen haben. Was suchen sie noch in Braven?« Strangell, sonst so zerstreut, antwortete: »Dich und mich, mein lieber Freund!« Pandur nagte an seiner Unterlippe. »Möglich wäre das schon«, sagte er. »Freilich werden sie ihre Suche bald abbrechen müssen, denn endgültige Gewißheit werden sie nicht erlangen können. Zu viele der Häuser im Zentrum sind zerstört. Sie werden annehmen müssen, wir hätten uns dort befunden und wären ebenfalls, wie die vielen, atomisiert.« Braven liegt, wie gesagt, an der Nordsee und wäre vor dem Bombenwurf, wenn es die Monokelbarone und den blauen Tod nicht gegeben hätte, ein fast idyllischer Ort gewesen – hinter hohen Deichen wohl geschützt – doch die Bombe hatte auch die alten Deiche zur Weser hin zerstört. Nun war in diesen Tagen das Wetter ziemlich gut, und die See war ruhig und brüllte nicht, obwohl man vermerken muß, daß das norddeutsche Tiefland, gemäß der Verschiebung der Erdkruste, ganz sachte immer weiter absackte, während sich der hintere Teil dieser Scholle, Sibirien, allmählich anhob. Die Folge war schon in den vergangenen Jahrhunderten eine Flutwelle in der Sturmflut gewesen, die sich von Mal zu Mal verstärkte und immer höhere Deiche erforderlich machte. Wie gesagt, die Deiche waren durch die Atomexplosion, durch die »kleine« Bombe zerstört, und wie aus dem Zustand Bravens
und der Bevölkerung folgt, an einen Aufbau war zunächst, solange die Monokelbarone regierten und sich auf ihre Blutpolizei stützten, nicht zu denken. Tatsächlich hatten die Polizeitrupps ihre Suche in den letzten zwei Wochen aufgegeben, und Pandur und Strangell hatten auf diese Weise etwas Luft gewonnen und Ruhe, um sich mit theoretischen Fragen und mit der Organisation der Widerstandsbewegung zu beschäftigen. was, wie man versteht, unter den veränderten Bedingungen außerordentlich erschwert worden war. Pandur nahm das Buch seufzend wieder auf. Er gehörte zu den Leuten, die sich um andere Leute sehr viele Sorgen machten, die Gefahren wie die Flutwelle in ihre Betrachtungen einbezogen, um für jede Situation einen Plan zu haben, um von keinem Ereignis überrascht zu werden und jederzeit Herr der Lage zu sein. Es war eine eigentümliche Stimmung draußen. Der Schnee war nun fast völlig aus der Luft verschwunden, und der Nebel hatte begonnen, sich auf dem Boden, zwischen den Ruinen zusammenzuziehen, blau leuchtend und den blauen Tod, den Tod im Schmutz zu verkünden. Es war eine Krankheit, die von den Atommeilern, die oft ausbrachen, von der allgemeinen Verschmutzung und nunmehr vor allem vom radioaktiven Fallout herrührte. Sie befiel einen, wenn man in den dünnen Nebel geriet, ganz allmählich, es konnte Jahre dauern, bis sich Wachstumsstörungen, bis sich Krebsarten und dergleichen verzeichnen ließen. Ihr schleichendes Vorwärtsschreiten war vielleicht das Gefährlichste an dieser Krankheit. O ja, er hatte an Gewicht verloren, die Aufregung, die Hetze, die ständige Flucht vor der schnüffelnden Polizei, und was ihn nun vor allem wärmte, war die Überzeugung, daß sie und ihre
gute Sache am Ende doch siegen würden. * Der Wind heulte in den Balken, pfiff durch die Totenaugen der Ruine, die Pandur Unterschlupf gewährte, wisperte mit singender, durchdringender Stimme in dem Loch in der Decke, durch das man nur noch den grünen Schimmer des Mondes erkennen konnte, die Erde hatte sich einige Stunden weitergedreht. Die Glühbirne schaukelte an der Decke, und ihr Flackern gab den Takt an, da sie sich wie ein Gehenkter drehte. Pandur war vor Erschöpfung für einen Moment eingeschlafen. Das Buch war aus seinen Händen geglitten und auf den Boden gefallen, und seine Körpertemperatur war stetig abgesunken. Er träumte, es wäre Winter und Schnee liege weiß auf den Bäumen, deren Äste sich ächzend bogen. Da war ein Geräusch. Da rollten Steine. Ein Klicken, ein Rascheln, dumpfes Poltern. Der Wind biß mit seinem Heulen in diese Geräusche, und wenn er sich in einer ausradierten Scharte verfing, konnte man das Geräusch von Geröll und fallenden Steinen wieder hören. Die bleiernen Gewichte fielen von Pandurs Schläfen, sanken von seiner Stirn, er hob seine müden, schweren Lider und war sofort im Bilde, die Gefahr warf seinen Verstand auf hohe Touren. Er sah die Glühbirne flackern und schaukeln und war mit einem Sprung bei dem Schalter, das Licht erlosch, und nun fiel nur noch der Widerschein des Mondes durch die Dachsparren. Die Gedanken jagten mit raschen, trippelnden Schritten hinter seiner Stirn. Sie hatten sich dieses Versteck erst vor wenigen Tagen herausgesucht und waren, weil es etwas abgelegen und damit sicher war oder sicher schien, hierher gezogen mit allen Büchern und Plänen und anderen Materialien, die sie für
ihren Kampf benötigen würden. Draußen, jetzt schon auf dem Hof, mußte jemand sein, der wußte, daß er Pandur hier treffen konnte, oder es war ein Fremder, der sich hier nicht zu unrecht ein gutes Versteck erhoffte. Mit der Polizei war nicht zu rechnen. Pandur drückte sich in eine Ecke. Bei sich dachte er, daß es wohl ein Versäumnis war, den Fluchtweg in einem neuen Versteck nicht zuerst zu sichern. Doch sie waren so müde gewesen, daß sie diese Arbeit auf einen späteren Zeitpunkt verschoben hatten. »He, Pandur!« Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Das war die Stimme von Strangell, von Dr. Fredy Strangell, der sie mit seiner Zerstreutheit und der daraus folgenden Unvorsichtigkeit noch einmal um Kopf und Kragen bringen würde. Pandur öffnete die Luke, und Strangells Körper schob sich in ihr Versteck herein. Er war etwas kleiner als Pandur, trug einen auffälligen Schopf roter Haare, die wie Flammen von seiner Kopfhaut züngelten und von denen er sich nicht trennen mochte, obwohl Pandur schon oft geschimpft hatte, daß Strangell damit leicht zu identifizieren wäre. Er hatte sich in der Gegend umgesehen. Wegen seiner schlechten Augen trug er permanent eine grüne Brille mit einfachen Drahtbügeln, und sein Bart auf der Oberlippe wuchs unregelmäßig, als habe er hier und dort eine kleine Düngung nötig. Pandur, der seinen wirklichen Namen schon längst vergessen zu haben schien und sich für die Arbeit mit seinem Decknamen rufen ließ, zischte mit leicht verärgerter Stimme: »Mensch, bist du verrückt, hier so unverhofft hereinzuplatzen? Ich dachte schon, ich müßte dir eine überbraten!« Jetzt erst merkte er, daß Strangell ganz ungewöhnlich außer
Atem war. »Ich habe sie vorhin abschütteln können«, sagte Strangell, »sie haben mein Versteck in der Bürger gefunden. Aber ich glaube, sie haben spürnasenverstärkte Polizisten, die meine Spur bald aufnehmen werden. Die blaue Pest wird sie vielleicht noch eine Weile aufhalten.« Dann war Stille, und sie hörten nur den Wind draußen heulen und sonst keine weiteren Geräusche. Pandur zog die Augenbrauen zusammen, während er angestrengt überlegte. »Wodurch bist du ihnen aufgefallen?« »Ich hab’ das andere Druckgerät gesucht. Es war beim Abwurf der Bombe im Keller und müßte noch gut erhalten sein. Dabei haben mich die Spürtrupps geortet. Sie haben mein Gehirnwellenmuster, auf die große Entfernung wahrscheinlich nur vage, aufgenommen. Jedenfalls müßten sie sich jetzt über meine Identität im Klaren sein. Und«, fuhr Strangell fort, »natürlich auch über deine. Denn sie werden jetzt kaum annehmen können, daß du umgekommen bist, während ich überlebte.« Pandur nickte und begann mit kurzen Schritten in dem Versteck auf und ab zu schreiten. »Unsere kurze Zeit der Ruhe ist damit vorüber. Sehr viel kann uns hier in Braven ohnehin nicht halten. Wir werden uns absetzen müssen, mit anderen Widerstandskämpfern Kontakt aufnehmen und ins Zentrum des Feindes vordringen.« »Du denkst an die Fluchtburgen?« Pandur hob die Hände in einer vagen Geste. »Das kann man so nicht sagen. Wir brauchen noch mehr Informationen. Davon wird es abhängen, wo wir den Hebel ansetzen. Vielleicht versuchen wir einen Vorstoß in die Fluchtburgen. Vielleicht ist es richtig, zu KNIFE vorzustoßen. Vielleicht aber auch werden wir uns das Hauptquartier der Polizei vornehmen.«
Er hob gebieterisch eine Hand. »Hörst du das?« Strangell lauschte. Von draußen kam, noch weit entfernt, eine Art Schlürfen, ein feuchtes Schnüffeln. »Das sind sie«, flüsterte Pandur, und er warf einen Blick des Bedauerns auf die Bücher, die jetzt im Schatten lagen. »Wir werden die Sachen hier lassen müssen. Ich kenne den Weg nach Braven auf der Oberfläche ziemlich genau, von früheren Ausflügen, als die Zeiten noch anders waren. Wie steht es mit den Tunneln?« Strangell, der die Tunnelarbeiten ihrer Organisation geleitet hatte, versetzte: »Das sollte uns keinerlei Kopfzerbrechen bereiten. Ich habe die Eingänge und Schlupflöcher im Gedächtnis gespeichert. Was ich natürlich nicht weiß, ist, welche Gänge sie entdeckt oder unter Gas gesetzt oder sonstwie ausgeräuchert haben.« Beide Widerstandskämpfer waren sich über die Aufgabe der Tunnel ohne weitere Worte im klaren. Je unhaltbarer die Zustände auf der Erde wurden, je weiter sich der blaue Tod verbreitete und je häufiger und nachhaltiger er in Erscheinung trat, um so mehr waren sowohl die Monokelbarone als auch die Widerstandskämpfer gezwungen, in den Untergrund, unter die Erde, auszuweichen, um dort Straßen oder Fluchtwege anzulegen, wobei die Monokelbarone den großen Vorteil der Luftherrschaft aufzuweisen hatten. Wieder lauschten sie. In das Schweigen, unterbrochen von dem lauter werdenden Schlürfen, sagte Strangell: »Warum Braven? Warum gehen wir nicht nach Holland? Ich habe gehört, daß in Amsterdam sich eine Bewegung…« Pandur unterbrach ihn mit einer Geste. »Wir müssen im eigenen Land kämpfen. Außerdem ist meinen letzten Informationen zufolge Brecht noch am Leben, ja, er scheint nicht einmal in Verdacht geraten zu sein. Das ist für uns eine reelle
Chance.« »Das sind sechzig Kilometer…« Pandur lächelte ein stählernes Lächeln. »Die Fluchtburg 16 ist von größerer Bedeutung als die hier in Braven. Und wenn wir diesen Weg nicht schaffen, dann werden wir weitere Wege, etwa zur Fluchtburg Nr. 1 oder zu KNIFE, schon gar nicht schaffen.« Damit war ihr Vorgehen geklärt. Sie rafften alle Sachen, die ihnen nützlich sein konnten, zusammen und kletterten durch die Seitenluke nach draußen. Von dort tarnten sie noch umsichtig ihre Höhle in der vagen Hoffnung, daß sie vielleicht noch einmal, falls sie nicht gefunden würde, darauf zurückgreifen könnten. Dann huschten sie zwischen die Schatten, jeder ein Bündel auf dem Rücken. Sie arbeiteten sich über Geröllfelder, durch tote Hauseingänge, huschten über Hinterhöfe. Polternd lösten sich Steine unter ihren Füßen, und unter ihren Tritten rieselte Putz von den Häusern. Sie schlugen einen weiten Bogen um den Marktplatz, auf dem die Bombe einen gläsernen Tiegel geschmolzen hatte. Der Strahlungsherd war immer noch hochaktiv. Es war ein beruhigendes Zeichen, daß hier draußen immerhin noch Katzen streunten. Die Tiere waren für radioaktive Strahlung, wie sich erwiesen hatte, sehr empfindlich und konnten insofern als gute Wegweiser dienen. Zudem streunten sie im Mauerwerk, und selbst unter dem Tritt ihrer zarten Pfoten löste sich mancher Stein, stürzte mancher Bogen und manche Fassade, die auf den letzten Anstoß nur noch gewartet zu haben schien, in sich zusammen. Pandur hatte seinen Ledermantel so fest um sich geschlagen wie er konnte, um die blaue Pest abzuweisen, während Strangell in seiner Jacke aus Armeebeständen schwankte wie ein
Nordpolfahrer. In der Ferne hörten sie Trillerpfeifen und das Knattern von Maschinengewehrsalven. Offensichtlich hatte man ihr letztes Versteck gefunden, und zur Vorsicht wurde nun das Haus mit Kugeln durchsiebt. Tatsächlich, sie schienen sehr viel Angst zu haben, denn nun konnte man auch über die geisterhaften Silhouetten der Häuser ein flammendes Licht zucken sehen, sie setzten sogar Laser ein, um sie auszuräuchern. Scharfe Kommandos erklangen wie die Schreie von Vögeln, der Wind riß sie in Fetzen. »Weiter!« drängte Pandur den zögernden Strangell, der seine Augen von dem Schauspiel über den Ruinen nicht wenden mochte. »Wenn sie feststellen, daß wir ausgeflogen sind, werden sie vielleicht ihre Razzia die ganze Nacht fortsetzen.« Es schien jedoch so, daß sich die Männer von den Suchtrupps täuschten. Die Kälte in dem Fluchtgebäude hatte jede Spur von Wärme in wenigen Minuten mit sich genommen, und so wurden die Infrarotsucher in die Irre geführt. Sie überschlugen wahrscheinlich, daß Pandur und Strangell schon weit entkommen waren oder sich in einem Ausweichversteck in Braven aufhielten, wo man sie am nächsten Tag in einer Großrazzia schon aufstöbern würde. Wozu sich also die Nacht unnötig um die Ohren schlagen? Schließlich verdiente man ganz gut im Dienst der Monokelbarone, doch im Herzen war das ja auch nicht ihre Sache, was sie freilich nicht hinderte, die Landsknechtstruppe, jeden Befehl sadistisch und brutal auszuführen, denn einer kontrollierte den anderen, darin durfte man sich nicht täuschen. Die Nacht verbrachten Pandur und Strangell für die restlichen Stunden in einem Stollen, der vom Autobahnbau übriggeblieben war. Die Müdigkeit schlug mit bleiernen Gewichten in ihre Gehirne und ließ sie in einen tiefen Schlaf versinken, aus dem sie immer wieder unruhig auffuhren, ohne daß ihnen
eine akute Gefahr drohte, von dem blauen Nebel, der schleichenden Pest, die sehr weit verstreut, sehr durchscheinend und relativ ungefährlich jetzt war, einmal abgesehen. * Der gelbe Morgen sah eine runzelige rote Sonne. Staub hing in der Luft, und am anderen Ufer der Weser, deren Durchquerung tödlich sein konnte, glühten dunkelrote Feuer von den Hochöfen, die noch in Betrieb waren, um die Luxusartikel der Reichen mit Stahl zu versorgen. Sie waren überrascht, keine Polizeisperren in den Außenbezirken von Braven vorzufinden. Schließlich waren die Hakenleute personell so gut versehen, daß sie ohne weiteres eine andere Einsatzschicht auf die Felder und an die Weser hetzen konnten. Doch sie schienen momentan eine andere Taktik zu verfolgen. Sie marschierten in Ufernähe nach Süden. In Dedesdorf hatte Pandur früher gelegentlich noch gebadet, unter dem durchsichtigen Strahlenschutz verborgen. Das Ufer war nicht wiederzuerkennen. Der feine Sand war von Öl verdorben, und auf dem Ufer lagen die Kadaver rebellischer Seeleute. Man sah nur noch wenige Schiffe, die Nachschub aus aller Welt für die Fluchtburgen brachten. Die Büsche und Wiesen, in deren Nähe es vor längerer Zeit einmal Campingplätze gegeben hatte, waren von dem ätzenden Niederschlag der Werke verbrannt und verdorrt. Da Pandur und Strangell keine Masken mit sich führten, verspürten sie schon bald ein Kratzen in den Kehlen, einen stark aufsteigenden Durst, und immer öfter mußten sie husten. Einige Kilometer weiter in Richtung Braven mußten sie vom Ufer weichen, weil zwei Tanker langsam die Weser hinaufzo-
gen. Als sie in die Nähe der alten Bundesstraße kamen, hörten sie von dort einen seltsamen Singsang. Sie hörten dumpfe und hohe Stimmen, wie sie eine monotone, doch reizvolle Melodie sangen. Dazwischen ertönten helle Glocken und exotische Instrumente. In den letzten Jahren, da die Elendsphilosophie sich verbreitete, tauchten immer mehr Gruppen der Bettelmönche aus dem Boden, von der Hakenpolizei zwar nicht gern gesehen, doch hinreichend geduldet. Wenn sie keine Zeit verlieren wollten, blieb Pandur und Strangell nichts anderes übrig, als den Mönchen zu begegnen. Nach kurzer Beratung entschlossen sie sich, das Risiko auf sich zu nehmen. Denn sie wußten, daß in verhältnismäßig kurzer Entfernung die Freunde von einer anderen Widerstandsgruppe Tunnel gegraben hatten, die sie, falls mit den Mönchen etwas schiefgehen sollte, aufnehmen konnten. Die Mönche hatten sich die Köpfe kahlgeschoren und mit stinkendem Öl eingerieben. Ihre dürren, abgemagerten Körper steckten in schmutzigen, weiten Tüchern, die sie kaum wärmen würden. Pandur zählte etwa zwanzig von ihnen. In ihrer Mitte schritt, irgendwelche Erklärungen von sich gebend, ein älterer Mönch, der nicht barfuß wie die anderen war, sondern gut gepolsterte Sandalen trug, und auch seine Kleidung brauchte nicht zu fürchten, daß ihn frieren würde oder daß die blaue Pest ihm Schaden könne. Drei oder vier der jüngeren Mönche, die unmittelbar in seiner Nähe schritten, lauschten jedem seiner Worte andächtig, und zwei von ihnen machten sich laufend Notizen über seine Worte. Die Mönche, die hinter ihnen schritten, hielten die Instrumente in ihren Händen und machten die exotische, aufreizende Musik, die Pandurs und Strangells Nerven peitschte. Die beiden Freunde gingen ziemlich schnell die mit braunem
und blauem Puder besprühten Felder hinab, und wenig später wurden sie von den zunächst mit sich selbst beschäftigten Mönchen gesichtet. Der alte Guru sah sie als erster, hob die Hand, indem er seine Erklärungen unterbrach, und seine Augen begannen zu leuchten. Die anderen Mönche, die jeder seiner Gesten mit begierigen Blicken folgten, klatschten in die Hände und schienen entzückt über die beiden Fremden. Die Musik steigerte sich zu einem ekstatischen Wirbel und sank dann zu gedämpften, bizarren Riffen hinab, als die Gruppe der Mönche und die beiden Widerstandskämpfer einander begegneten. Pandur, der seinen Geist lockerte, als brauche er sein Gehirn wie einen geschmeidigen Muskel, um den möglichen geistigen Wettkampf zu bestehen, sah mit einer gewissen Beruhigung aus den Augenwinkeln weit hinten zwischen den giftiggrünen Hügeln eine andere und größere Mönchsgruppe auftauchen, und Strangell, der links von ihm ging, zupfte ihn am Ärmel, um ihn auf eine dritte Gruppe von Mönchen, weit drüben, aufmerksam zu machen. Man konnte den Eindruck gewinnen, die Mönche seien auf einer Pilgerfahrt, um sich an einem Ort, den sie für geheiligt hielten, zusammen wie die Zigeuner in St. Mont Michel oder an anderen Orten, um der Heiligen Jungfrau, ihrem Schutzpatron oder sonst wem zu huldigen. Nun hatte sich Pandur mit allerhand politischen Verkehrsformen beschäftigt, doch die Zielsetzung der Mönche war ihm momentan ein Rätsel. Offensichtlich hatten sie ihren bisherigen Wirkungskreis erweitert, andere Elemente waren zu ihrer bisherigen Religion getreten. Ohne daß er sich etwas anmerken ließ von seinen Sorgen, mußte Pandur vor sich selbst eingestehen, daß er über diese Entwicklung beunruhigt war. Nur Strangell, der einen scharfen Blick auf seinen Freund geworfen hatte, schien zu begrei-
fen, welcher Art die Gedanken waren, die sich hinter Pandurs Stirn abzeichneten und die wie gewitterschwere Regenwolken vorüberzogen. Die Mönche versperrten den Weg, den die Freunde genommen hatten. Gewiß, man hätte ausweichen können, doch sie waren so zahlreich, daß sie schon deswegen einen überlegenen Eindruck machten. Die Musik war zu einem dünnen Winseln herabgesunken, leise genug, daß man sich ohne Anstrengung unterhalten konnte, laut genug, um in die Nerven der Fremden, die diese Art von Musik nicht gewohnt waren, zu peitschen. Der alte Guru, dessen Gesicht wie mit Fleischwülsten ausgelegt schien und dessen Unterlippe wie ein Schlauch herabhing, von dem ein wenig Speichel troff, hob eine blaue, braunfleckige Hand, die aussah, als wäre er ein starker Trinker und Raucher, jedenfalls paßte sie nicht zu seinem Anspruch, asketisch zu leben; dessen war Pandur sich gewiß. »Krishna grüßt euch, Fremde«, sagte der alte Guru mit lederner Stimme, die einem Krächzen gleichkam und auf seine Jünger einen gehörigen Eindruck machte. »Guten Tag«, erwiderte Pandur und starrte dem Guru in die auf ihn gehefteten Augen, ohne auch nur eine Sekunde mit seinem Blick zu schwanken. »Das Licht leuchtet nur für Krishnas Jünger«, fuhr der Guru fort, und seine Jünger nickten beifällig. Pandur hob vage die Hand. »Ich glaube«, sagte er, vielleicht eine Spur kühler als beabsichtigt und wegen der ungebetenen und sinnlosen Belehrung verärgert, »die Sonne ist für uns alle gleichermaßen vergiftet, und wir steigen, ob barfuß oder nicht, durch denselben Industriedreck der Monokelbarone.« Sie schienen Unterhaltungen dieser Art nach einem bestimmten Schema abzuwickeln, denn auf Pandurs Worte ließ einer
der Musikanten ein schrilles Pfeifen hören, das das Mißfallen der Mönche deutlich ausdrückte. »Mein Sohn«, sagte der Guru, »erst mit dem Alter kommt die wahre Erleuchtung, erst dann, wenn die persönlichen Ansprüche auf Null gesunken sind, können wir uns über unseren Leib erheben und Krishnas drittes Auge sehen.« Pandur lächelte und sagte: »Dazu muß ich kein Greis werden, um festzustellen, daß es nicht sehr gesund sein kann, wenn Mütter nicht genug zu essen haben für ihre Kinder und wenn deren Väter aus den Bergwerken zurückkehren und Kartoffelschalen mitbringen, die sie selbst hätten essen sollen, damit ihre Kinder nicht vor Hunger schreien.« Der Guru kniff die Augen zusammen, und in ihnen erschien ein böses Leuchten. »Wenn ein Baby stirbt«, versetzte er heftig, »dann wird es der Gnade Krishnas in besonderer Weise teilhaftig.« »Mag schon sein«, sagte Pandur, ohne mit der Wimper zu zucken, »ich würde es vorziehen, wenn das Kind, ohne vorher zu sterben, ein vollwertiger Mensch, der sein Schicksal selbst bestimmen kann, würde, um seine eigene Entscheidung zu treffen.« Der Guru faltete, in offensichtlich gespieltem Entsetzen, seine Hände, sie waren an den Fingerspitzen gelb vom Nikotin, und schlug die Hände vor seine Stirn, als wolle er für Pandur und für Strangell beten. Die anderen Mönche warfen giftige Blicke auf die beiden Freunde und warteten atemlos, was ihr Guru als nächste sagen oder befehlen würde. »Eure Ungläubigkeit«, rief der Guru dann mit donnernder Stimme, »wird die Erde noch vollends verderben. Ihr seid es, denen wir den radioaktiven Fallout verdanken, ihr seid es, die die Weser verschmutzen, ihr seid es, die das Gras verbrannt haben, ihr seid es, die ihr die blaue Pest verursacht habt. Ihr
seid es, weil euch der Glaube zu Krishna und dessen unendlicher Weisheit fehlt!« Strangell versuchte Pandur zurückzuhalten, da die Mönche nun begonnen hatten, eine bedrohliche Haltung einzunehmen. Doch Pandur war sich im klaren, daß sie jedes Zeichen von Schwäche, das sie jetzt zeigen würden, ausnützen konnten. Pandur sagte daher mit starker, doch höhnischer Stimme: »Ich gehöre nicht zu den Monokelbaronen, ich bin kein Fabrikbesitzer, der selbst die kümmerlichsten Auflagen zur Reinerhaltung der Luft mißachtet!« »Großer Krishna«, rief der Guru, »ihr seid so unwissend, Fremde, daß man euch zur Erlösung und zur Weisheit wird zwingen müssen!« Pandur sah wieder in die Runde, die anderen beiden Mönchsgruppen waren etwas näher gekommen, schienen ihnen jedoch nicht direkt zuzustreben. Was wohl das Ziel ihrer Pilgerfahrt sein mochte? Er beschloß, auf das Spiel des Guru etwas einzugehen, um die gefährliche Stimmung, die sich gegen die beiden Freunde wandte, abzubauen und um vielleicht einige weitere Informationen aus dem Guru herauszuholen. »Immerhin«, sagte Pandur selbstbewußt, »leben auch wir in Armut und Demut, befreit von allen materiellen Gütern«, und er verschluckte den Zusatz, daß ihnen, weil die Monokelbarone die Bevölkerung rücksichtslos ausplünderten, auch gar nichts anderes übrigblieb und daß dieser Zustand so schnell wie möglich zu ändern wäre. Der Guru hatte Pandur mißverstanden, er schien zu glauben, Pandur bereite einen Wandel vor. »Das ist ein gutes Zeichen«, sagte er besänftigend, und die Musik wurde freundlicher. »Das erste, was die Menschen lernen müssen, ist, in Demut und Armut zu leben.«
Pandur wagte eine Frage: »Verstehe ich den weisen Krishna also richtig, daß die Monokelbarone in ihren Fluchtburgen damit für alle Zeiten verdammt sind, weil sie ohne Sorgen im Reichtum leben?« Der Guru wackelte mit seinem faltigen Hals und seinem ölglänzenden Kopf, und in seine Augen trat ein listiges Blinzeln, und Pandur mußte denken, daß nicht einmal der Magen des Gurus knurrte, er hatte also sicherlich genug zu essen – eine seltsame Art von Fasten und Hungern und Sich-selbst-kasteien. »Die armen Menschen in den Fluchtburgen«, sagte der Guru, »die im Reichtum vergehen, wir werden sie ihrem Schicksal überlassen müssen, denn Krishna hat ihnen eine besondere Rolle zugedacht.« Strangell trat unruhig auf der Stelle, denn er hatte gleichzeitig mit Pandur eine vierte Gruppe von Pilgern gesichtet. »Nur die im Elend leben«, fuhr Guru ungerührt fort, »werden der wahren Weisheit einsichtig werden. Nur diejenigen, die ihren Gürtel enger schnallen, die auf dem nackten Fußboden schlafen, die den blauen Tod einatmen, die im giftigen Wasser der Weser baden, werden des ewigen Lebens teilhaftig werden.« Strangell konnte sich nicht verkneifen, in Pandurs Ohr zu flüstern: »Es würde mir schon reichen, wenn ich auf dieser Welt anständig und nicht wie ein Hund leben müßte. Was machen wir mit den verrückten Kerlen?« Und Pandur zischte zurück: »Vorsicht, es sind Fanatiker, Leute, die den Monokelbaronen auch noch ihren Segen erteilen, sie sind zu allem fähig!« »Erhabener Guru«, sagte Pandur mit erhobener Stimme, »gestattet mir eine Frage zum Zweck eurer Reise!« Der Guru murmelte einige unverständliche Sprüche, zu de-
nen sie die Trommeln aufklingen ließen, dann versetzte er: »Es hat in der verderbten Stadt Braven ein Zeichen gegeben. Krishna selbst hat dort ein gewaltiges Feuer entzündet und alle die Menschen vernichtet, die sich mit dem Elend nicht zufriedengeben wollten. Braven haben wir daher zu unserem Wallfahrtsort erkoren, an dem sich jedes Jahr einmal die Mönche treffen werden, um zu Krishna zu flehen, damit die Erde mit noch größerem Elend überzogen werde, damit sie heil werde und gesunde.« »Der ist verrückt«, zischte Strangell wieder. »Die Bombe wurde doch von den Monokelbaronen geworfen, und die Arbeiter sind auf dem Marktplatz nur zusammengelaufen, weil sie ihr entsetzliches Schicksal nicht länger aushalten konnten!« »Was redet der Ungläubige mit der grünen Brille?« verlangte der Guru zu wissen. »Oh«, erwiderte Pandur rasch und verfluchte in Gedanken seinen leichtsinnigen Kameraden, »wir überlegten gerade, ob auch uns die Gnade zuteil werden könnte, in eine Position zu gelangen, wo wir Krishna mit allen Fasern unserer Herzen dienen können.« »Wir werden zu Krishna beten«, sagte der Guru, »und für euch seinen Segen erbitten.« Er machte eine Geste nach hinten, wo die niedersten Mönche die schweren Trommeln schleppten. Der Schweiß stand in ihren Augen, und sie machten einen weit erschöpfteren Eindruck als die anderen. Der Guru sagte: »Das bedeutet aber, daß ihr einen Prozeß mitmachen müßt, um euch selbst zu reinigen, bevor euch die Weisheit Krishnas aufgehen kann. Ihr werdet die niedersten Arbeiten verrichten müssen, Holz sammeln, Feuer schlagen, Essen stehlen, die Ungläubigen todesmutig bekämpfen.« »Klar«, zischte Strangell wieder mit zorniger Stimme. »Sogar
in ihrem vornehmen Armutsladen herrscht die Ausbeuterordnung, noch um einen Grad schärfer.« Pandur stieß ihn in die Rippen, um ihn zum Schweigen zu bringen, doch Strangell schien in des Gurus Augen nunmehr zuviel geredet zu haben. »Ich habe nicht den Eindruck«, schrie der alte Mönch, »daß ihr es ernst meint mit dem Versuch einer Läuterung, Fremde. Ich glaube«, und dabei überschlug sich seine Stimme, »euch wird nur der blanke Stahl läutern können!« Bei diesen gekreischten Worten stieg die Musik ohrenbetäubend an, und die Mönche, die die beiden Freunde umringt hatten, zogen wie auf Kommando aus ihren Tüchern scharf blitzende Dolche, wie sie in den Fluchtburgen hergestellt wurden, heraus. Sie warteten nur noch auf das Kommando ihres Meisters, um die Seele aus Pandurs und Strangells Körpern zu stechen. »Ihr scheint unsere Absichten mißzuverstehen«, begann Pandur, und es gelang ihm tatsächlich, den Guru einen Augenblick abzulenken. Diese Gelegenheit benützte Pandur, um den alten Vorderlader, eine uralte Pistole, ein Erbstück, aus der Weste zu ziehen. Während die Mönche noch auf seine Hand und auf die ungewöhnliche Waffe starrten, legte Pandur rasch eines der wenigen Zündplättchen auf und drückte ab. Die Kugel flog hoch über die Köpfe der Mönche, denn Pandur hoffte, sie würden der Umkreisung entgehen können, ohne einen der Mönche zu verletzen oder gar zu töten. Gleichzeitig ertönte ein ungeheurer Knall, mit ihm fuhren Pulverdampf und Blitz und Feuer aus dem Lauf seiner Waffe, und auf den Zügen des Gurus, der Pandur am nächsten gestanden hatte, schlugen sich blaugraue Pulverspuren nieder. Die Musikanten machten, dem Befehl ihres Meisters skla-
visch gehorchend, ekstatische Musik. Der große Guru hatte sich in den giftigen Staub geworfen, ein Zeichen, wie sehr er auf einmal um sein Leben zu fürchten schien. Seine Jünger dagegen, aufgehetzt und fanatisch, drangen mit ihren Dolchen auf Pandur und Strangell ein, weil offensichtlich der Tod im Kampf ihnen einen Platz in ihrem siebten Himmel verschaffte. Die beiden Freunde machten zwei, drei Schritte rückwärts. Einer der Mönche, besonders vorwitzig, versuchte, Pandurs Arm zu treffen. Der packte die Hand mit dem Dolch, nützte den Schwung des Mönches aus, drehte dessen Gelenk, und während es knackte, flog der Mönch in hohem Bogen in die Büsche. Strangell hatte einem der Mönche, der ihn bedrängte, die Nase herumgedreht, daß der Mönch, noch vor seinem Eintritt in den siebten Himmel, aufschrie und sich fast alle Chancen verscherzte. Die zu stoßende Hand fing Strangell ab, und da der Mönch nicht nachgeben wollte, glitt der Dolch nach hinten und schlitzte dem Mönch Brust und Magen auf, daß die Eingeweide fürchterlich herausgequollen kamen. Pandur tauchte nach unten, packte den Guru, der zitternd und jämmerlich auf dem Boden lag und dem jetzt der giftige Staub gar nichts auszumachen schien, hob ihn am Nacken hoch wie eine räudige Katze, mußte sich bei dem Gestank, den der Guru verströmte, fast die Nase zuhalten, und zog ihn wie einen Schild vor sich hoch. Strangell sprang an seine Seite, zuvor hatte er dem sterbenden Mönch den Dolch abgenommen und hielt die Waffe, von der noch das Blut tropfte, wie einen erstarrten roten Blitz vor sich hin, und seine Augen rollten wütend. Die Mönche waren zurückgefahren. Sie heulten wütend auf, doch der Guru stammelte, sie sollten sich auf keinen Fall rühren. Interessant schien, daß einem der Mönche Bedenken ka-
men, und als er ein Wort murmelte, das seine Bedenken ausdrücken sollte, wurde er kurzerhand von seinen fanatischen Nebenleuten abgestochen, die Trommel fiel aus seinen zuckenden Händen, und er sank neben ihr in den Staub der heiligen Straße, die nach Braven führte. »Rührt euch nicht von der Stelle«, knurrte Pandur, »oder euer kostbarer Oberguru wird nicht mehr viel von dieser trüben Welt sehen!« Die Mönche hatten sich etwas näher geschoben, wagten aber nicht, ihren Meister zu gefährden. Der bot ein Bild des Jammers und ließ ein elendes Wimmern hören. Pandur, der seinen Blick zum Horizont schweifen ließ, bemerkte, daß die anderen Gruppen der Pilgermönche auf die Szene aufmerksam geworden waren. Einige hatten sogar ihre Richtung geändert und schienen sich ihnen nähern zu wollen. Nicht nur, daß ihre Haltung bedrohlich erschien, es waren wohl noch mehr Gruppen aufgetaucht. So war für die beiden Freunde keine Zeit zu verlieren. Sie entfernten sich vorsichtig aus dem Kreis der Mönche, und Pandur schleppte den Oberguru hinter sich her, freilich sorgsam darauf achtend, daß dem kein Haar gekrümmt würde. »Wo sind die Tunnel?« zischte Pandur Strangell ins Ohr. »Weiter hinten«, antwortete jener. Weiter hinten – das war da, wo die Gruppen von Pilgermönchen auftauchten. Das sah schlecht für die Freunde aus. Die Mönche waren etwas zurückgeblieben, und sie hatten einen einigermaßen ausreichenden Abstand gewonnen. Pandur ließ den Guru los, und die beiden Freunde begannen zu laufen. Die Mönche setzten ihnen augenblicklich nach, wurden jedoch durch ihre umständliche Kleidung behindert, so daß Pandur und Strangell einen kleinen Vorsprung gewinnen
konnten. Freilich schienen nun überall weitere Gruppen von Mönchen aus dem Boden zu tauchen. Mit vorgestreckten Händen, als wollten sie ihnen die Herzen aus den Leibern reißen, kamen sie näher und versuchten die beiden Freunde einzukreisen. Pandurs Aufgabe in der Widerstandsbewegung waren umfassende Pläne gewesen, mit den Einzelheiten der Tunnel hatte er keine Gelegenheit gehabt, sich vertraut zu machen. Er wußte nur noch vage aus einem Papier, das er einmal überflogen hatte, daß hier in der Nähe ein Tunneleingang war. Strangell mußte die Einzelheiten im Kopf haben. »Wir müssen doch bald am Eingang sein«, drängte Pandur. Und Strangell entgegnete: »Ja, ja, hier irgendwo muß es sein.« Pandur verfluchte die Zerstreutheit seines Freundes, indes sich die Mönche immer weiter näherten – wie Mumien, die aus ihren Gräbern wiederauferstanden waren, mit zupackenden Krallenhänden, um die beiden Ungläubigen im Auftrag der Monokelbarone zu packen und sie in die Ewigkeit zu befördern. Einige der Mönche mußten Feuerwaffen mit sich führen, denn plötzlich begannen den beiden Freunden Kugeln um die Ohren zu pfeifen. Sie rannten geduckt hinter Hügeln weiter, während Strangell die Augen rollte, um den Eingang zum Tunnelsystem zu entdecken. Pandur sah sich nach einer Ausweichmöglichkeit um. Sie hatten noch die Chance, zur Weser hin zu entkommen, wo freilich keine Tunnel gebaut worden waren. Doch dann erkannte er zu seinem Entsetzen, daß dieser Ausweg immer riskanter wurde. Denn, bedingt durch die Witterungseinflüsse, stieg am Ufer der blaue Nebel empor, dies am hellichten Tag, soweit man
den Tag hell nennen konnte, da doch so viel Staub in der Luft hing, daß die Sonne düster erschien. Der Nebel von der Weser wurde in kurzer Zeit immer stärker, ballte sich förmlich in der Luft zusammen. Wer in diesen Nebel eintauchen würde, der unterschrieb damit praktisch sein Todesurteil. Auch die Mönche hatten den Nebel bemerkt und machten nun triumphierende Gebärden und ließen ein siegestrunkenes Geheul hören, da sie ebenfalls sahen, daß die beiden Freunde zwischen dem blauen Tod und ihren Gefolgsleuten eingekeilt waren. Da endlich schlug Strangell sich mit der flachen Hand vor die Stirn, daß es klatschte, und rief: »Hier, Pandur, hinter diesem Busch muß sich ein Eingang befinden!« Sie krochen hinter dem Hügel, der ihnen Deckung geboten hatte, hervor und hechteten förmlich dem von Strangell bezeichneten Busch zu. Sie wurden insofern vom Glück begünstigt, als sie momentan außer Sichtweite der Mönche waren. Strangell wühlte mit seinen Händen in der Erde, im Sand, und plötzlich öffnete sich vor ihnen eine Luke, durch die gerade ein Mensch paßte. Sie ließen sich blitzschnell durch die Luke fallen, schlossen sie über ihren Köpfen und stiegen an Bergeisen rasch in die finstere Tiefe. Als sie mit den Füßen auf den Grund des Tunnels kamen, hörten sie über sich ein ratloses, verwirrtes und enttäuschtes Gebrüll. Schwer atmend saßen sie eine Weile auf dem nackten, hier ungiftigen Boden, und Pandur erschien die modrige Kälte, die muffig nach Feuchtigkeit roch, im Augenblick eine kleine Art von Paradies zu sein. Sowohl die Monokelbarone als auch die Widerstandsgruppen hatten sich im Fortschreiten der Luftverschmutzung gezwungen gesehen, unter die Erde zu gehen. Freilich waren
noch längst nicht alle Tunnelsysteme vollendet. Die Monokelbarone hatten die Tunnelbauten auf ihrer Seite genützt, um das riesige Arbeitslosenheer zu beschäftigen, und da sie für die Bautätigkeit einen kleinen Verdienst zahlten, konnten sie auf diese Weise ihr System ein wenig stabilisieren. Nach den Informationen, die Pandur vorlagen, wiesen alle Fluchtburgen eine ganze Reihe von Tunneln auf, die allein der Flucht aus den Burgen dienten. Ansonsten war es schwierig, wenn nicht gar unmöglich, über die gegnerischen Systeme Informationen zu erlangen, da KNIFE, der Computer, diesbezügliche Aktionen mit wütendem Terror verfolgte. Als sie genügend ausgeruht waren, machten sie sich auf die Wanderschaft nach Braven. Sie hatten sich aus den Lagern, die sich bei jedem Eingang befanden, Fackeln genommen, die nun ihren Weg trübe und blakend beleuchteten. Von den Mönchen war nichts mehr zu hören. * Die Tunnel waren sehr geschickt konstruiert und von einem Feind kaum einzunehmen. Da gab es Falltüren und doppelte Wände, Abflußgräben für das Wasser hin zur Weser, falls man die Tunnelbewohner ersäufen wollte, Verengungen, die man leicht gegen Gase abdichten konnte, und einfache Waffen an den verschiedensten Stellen. Ein Feind konnte noch so überlegen sein, konnte über Laser und anderes Material verfügen: die Tunnel konnte man nur durch intensive Bestrahlung vernichten, und dafür fehlte selbst den Monokelbaronen die Energie, oder man mußte sie ausgraben, und das gab den Widerstandskämpfern genug Gelegenheit, sich in angrenzende Gebiete zurückzuziehen. Der Tunnel, den die beiden Freunde benutzten, und viele an-
dere im Gelände zwischen Braven und Breven, waren noch nicht benutzt worden, denn man hatte sie konstruiert, um die Auseinandersetzung mit der Hakenpolizei im Gelände zu suchen, wo man die roten Henker mittels der Politik der Nadelstiche aufreiben konnte. Soweit war es freilich nicht gekommen, und der Bombenwurf auf Braven hatte die Entwicklung unterbrochen. Sie waren vielleicht vier Stunden gewandert, waren auf allen vieren gekrochen, als der Tunnel plötzlich zu Ende war. Es war eigentlich Zufall, daß Strangell sich vor Pandur dem Ausstieg näherte. Er kletterte, von Pandur dicht gefolgt, die Steigeisen hinauf. Noch bevor er den Deckel, der provisorisch von außen mit verbranntem Gras bewachsen war, öffnete, murmelte er sein Bedauern über die Tatsache, daß dieser Ausstieg keine optische Anlage aufwies, mit der man die Umgebung des Ausstiegs hätte beobachten können. So schob Strangell mit einem Ruck den Deckel in die Höhe und kletterte ohne weiteres hinauf. Das Licht war, wenn man den Nebel betrachtete, ungewöhnlich hell, fast so, als leuchte ein Scheinwerfer in den Tunnel hinein. Strangells Körper schob sich über den Rand, wo ihn Hände, die aus roten Uniformjacken ragten, ungebeten aufnahmen und, während er einen dumpfen Fluch ausstieß, vollends aus dem Loch zogen. Pandur sah noch seine strampelnden Beine, sah, obwohl das grelle Licht seine Augen blendete, wie Strangell geistesgegenwärtig eine Handgranate aus der Jacke zog, da ließ Pandur sich blitzschnell in die Tiefe fallen, kam zwei, drei Meter tiefer sicher auf seinen Beinen auf, duckte sich durch das lehmverschmierte Schott und kroch und rannte, so schnell es ging, in eine andere Richtung als die, aus der sie gekommen waren, davon. Als er sich weit genug vom Ort des Überfalls entfernt glaub-
te, kam ihm auch ein wenig der Zufall zu Hilfe. Er fand einen blinden Stollen, der sich freilich in drei andere Gänge verzweigte, der ziemlich hoch hinauf unter einen Hügel führte und vor allem eine primitive, doch intakte Spiegelanlage aufwies. Gierig preßte Pandur sein Auge in das Okular, stellte fest, daß die Bluthunde nicht in seiner Umgebung waren, sondern weiter drüben, in der Ebene. Er konnte es demnach sogar wagen, weil der Wind günstig stand und dünne blaue Schwaden von der blauen Pest von der Gruppe drüben auf den Eingang, hinter dem Pandur sich verbarg, zutrieb, aus dem Tunnel herauszusteigen, um die Szene besser sehen zu können. Pandur drückte sich hinter einen der verkrüppelten Bäume, die auf dem Hügel wuchsen, und war erst einmal froh, der drückenden Enge des Tunnels entkommen zu sein. Am Himmel kreisten zwei oder drei Polizeimaschinen, die das Gelände absuchten, wenngleich im Augenblick anscheinend ohne großen Eifer. Es war Pandur sofort klargeworden, daß die Mönche einen Hinweis gegeben haben mußten. Wahrscheinlich war der Tunneleingang verraten worden, und die Polizisten wagten sich nun nur deswegen nicht hinein, weil sie nicht wußten, ob man ihnen nicht auflauern würde, ob dies nicht eine bewußt konstruierte Falle sei. Am Ausgang des Tunnels warteten drei Polizeiwagen und ein Gitterwagen. Etwa ein Dutzend Beamte standen um den Eingang herum, zwei weitere lagen verstümmelt im Gras. Sie waren wohl von der Handgranate, die Strangell gezündet hatte, zerrissen worden. Pandur hatte die Explosion noch im Tunnel als dumpfen Knall gehört. Drohend baumelten an ihren Gürteln die Fleischerhaken, ihr Statussymbol, das sie am liebsten durch die Kehlen ihrer Op-
fer zogen, um sie an den Weserbrücken aufzuhängen. Freilich, Strangell hatten sie nur niedergeschlagen, er lag mit einer klaffenden Wunde am Kopf auf dem Boden und regte sich nicht. Offensichtlich hatten sie Order, ihn am Leben zu lassen, zumindest so lange, bis er unter der Folter geplaudert haben würde. Inzwischen nahmen sie Proben vom Geruch seines Körpers und setzten Spezialcyborgs, mit Spezialschnüffelnasen, ein, die über das Gelände rochen und den Weg, den Strangell und Pandur unter der Erde genommen hatten, markierten. Wenig später, Strangell war noch immer nicht zur Besinnung gekommen, zogen sie eine Leine über die unterirdische Strecke und ließen kleine Bomben entlang der Leine detonieren. Offensichtlich hofften sie, Pandur auf diese Weise zu treffen. Vielleicht wollten sie auch diesen ihnen nun bekannten Teil des Tunnels sprengen. Pandur mußte, hinter seinem Baum verborgen, fast lachen, obwohl er sich im klaren war, daß er noch einen weiten und schwierigen Weg nach Breven würde zurücklegen müssen. Nach einer Weile kam Strangell zu sich. Er schlug die Augen auf und versuchte sofort, auf die Beine zu springen. Doch sie drückten ihn mit vier Mann auf den Boden und schlugen ihn mit den runden Bäuchen ihrer Metallhaken in den Rücken und trampelten auf ihm mit ihren schweren Stiefeln herum. Dann befestigten sie an seinen Ohren Kopfhörer, und einer der Offiziere im großen Mannschaftswagen brüllte seine Fragen nach dem Verlauf der Tunnels und nach Pandurs Verbleib in ein Mikrofon, von dem seine Worte vielfach verstärkt wie Peitschenhiebe in Strangells Trommelfelle schlugen, und es war aus der Entfernung schwer zu sagen, ob sie nicht zerrissen. Es war die Ironie der Stunde, und Pandur wußte darum, daß
Strangell unerhört zerstreut war, daß er im einen Augenblick brillante Gedächtnisleistungen produzierte und im anderen die banalsten Dinge vergessen konnte. Selbst wenn Strangell im Augenblick etwas hätte sagen wollen, so war Pandur, der seinen Freund sehr gut kannte, jetzt gewiß, daß Strangells Verwirrung momentan zu groß war, als daß er etwas hätte verraten können. Dann mußte Pandur plötzlich denken, daß es doch verrückt von ihnen war, Strangell dort unten zu foltern und zu verhören, wo sie doch in ihren Fluchtburgen und in den Polizeistationen Spezialgeräte und erprobte Spezialisten hatten. Zu welchem Zweck demonstrierten sie dort unten ihre Stärke? Und warum suchten sie das Gelände nicht intensiver ab, da sie doch wissen mußten, daß er, der Kopf der Widerstandsgruppe von Braven, ganz in der Nähe sich noch aufhalten mußte? Pandur hatte plötzlich die Empfindung, ihnen beinahe auf den Leim gekrochen zu sein. Irgend etwas war nicht in Ordnung. Es schien fast, als würden sie ihn im Augenblick als eine Art Testobjekt benutzen. In der Nähe, hinter dem Baumstumpf, war ein Ameisenhaufen. Die Termiten waren in der Strahlung mutiert, wie viele Insekten und Tiere, und zu beachtlicher und bedrohlicher Größe herangewachsen. Es zuckte eiskalt durch Pandurs Herz, als er sich die Termiten näher betrachtete. Jede einzelne schien eine kleine Antenne am Kopf zu haben, nicht die natürlichen Fühler, sondern einen winzigen, künstlichen Draht. Und tatsächlich, ein Strom von Termiten zog plötzlich den Hügel herunter und floß unerhört schnell, wie eine rote, bedrohliche Woge auf Pandur zu. Der sprang auf, rannte zu dem Deckel und hechtete, wobei ihm das Entsetzen im Rückenmark kribbelte, in den Stollen. Erleichtert kam er unten an, kletterte nochmals blitzschnell
nach oben, um den Deckel zu verschließen. Das war sicher, denn der Verschluß, durch Erde bereichert, konnte sogar Gas abhalten. Pandur beschloß, keine Zeit mehr zu verlieren. Um seinen Kameraden mußte er sich später kümmern. Sie waren in zu großer Überzahl, jedes Manöver würde nichts einbringen, außer daß sie ihn auch noch gefangen nahmen. Was ihm vorher im Stollen gar nicht richtig aufgefallen war, weil es sich nicht aufdringlich bemerkbar machte, das waren die dicken roten Regenwürmer, die blau schillernd aus den Decken und aus den Wänden tropften und ätzend auf die ungeschützten Hautstellen plumpsten. Pandurs Flucht durch die Tunnelanlage wurde immer mehr zu einem Horrortrip, auf dem ihn Maulwürfe mit giftigen Widerhaken, wo sonst ihre Stacheln waren, Schlangen, die aus dem Grundwasser krochen, Ratten, die ihre Rücken wie Katzen aufstellten, um ihn zu attackieren, begleiteten und seinen Weg ständig störten. Er war sich klargeworden, daß die Monokelbarone und ihre Henkersknechte mit neuen Methoden der Kriegsführung operierten, daß dies möglicherweise ihre ersten Versuche, dem Tunnelsystem wirkungsvoll zu begegnen, waren. Jedenfalls hatte Pandur alle Hände voll zu tun, um sich der ekelhaften Plagen zu erwehren und Ratten und Schlangen abzuwehren. Um der Plage zu entgehen, beschloß Pandur, ein gewisses Risiko auf sich zu nehmen. Er wußte, daß der blaue Nebel, jetzt, da auf der Erdoberfläche der Abend herunterfiel wie ein dunkelblauer Schleier, am Weserufer besonders dicht war. Ein Grund, warum sie die Weserbänke kaum kontrollierten, denn wer würde sich schon freiwillig der blauen Pest ausliefern? Pandur seufzte. Nun gut, wenn es sein mußte… Er orientierte sich nach seiner gelb leuchtenden Kompaßnadel und fand in kurzer Zeit einen Tunnel, der zur Weser hinabführte, dort be-
nützte er den Ausstieg direkt am Wasser, der, wenn Flut war, sogar unter Wasser stand und somit besonders gut getarnt war durch den Schlamm und Dreck und das Geröll, das der Fluß sonst hinaufspülte. Natürlich konnte es hier keine Spiegelanlage geben. Pandur schob sich vorsichtig hinauf. Einige Wassertropfen fielen ihm, als er den Deckel anhob, entgegen. Dabei blieb es. Ablaufendes Wasser. Die erste Gefahr schien überstanden. Rasch wand Pandur sich aus dem Tunnel heraus, verschloß den Deckel sorgfältig und hastete über den Schlamm hinauf zum Ufer, hinter sich das Glucksen der Wellen, die aus der trüben blauen Dämmerung schlugen. Und schon spürte er den dichten blauen Nebel. Da Pandur atmen mußte, hatte er sich ein Tuch vor Mund und Nase geschlungen, doch das hielt die blauen, tödlichen Moleküle nur ungenügend ab. Er spürte, wie es in seinen Lungen zu stechen und zu brennen begann und rannte, so rasch er konnte, weiter. Seine Augen begannen zu tränen, und sein blondes Haar, das gelegentlich verräterisch wehte, begann tatsächlich sich etwas ins Rötliche, ins Bräunliche zu färben. Immerhin war dieser eine Punkt in Ordnung, von der Hakenpolizei war keine Spur zu sehen. Aus den Positionslichtern der U-Boot-Bunker am Ufer konnte Pandur ablesen, daß es nicht mehr weit sein konnte bis Breven-Zentrum, wo sein Freund Brecht, der Dichter, wohnte. Es mag seltsam anmuten, doch der Rest seiner Reise war der einfachste Teil. Das mochte daran liegen, daß sie ihn noch immer im Tunnelsystem wähnten, im Kampf mit den Bomben und den Würmern. So hatten sie jetzt darauf verzichtet, die ganze Stadt abzusperren, und Pandur konnte sich ohne Schwierigkeiten unter die zerlumpte Bevölkerung mischen, ohne im Geringsten aufzufallen.
Als Pandur die fünf Etagen zur Wohnung Brechts emporstieg, zwang er sich unter Kopfschmerzen, die er der blauen Pest verdankte, sich die Situation Brechts vor Augen zu führen, um dort keine Zeit zu verschwenden und möglichst rasch zu konstruktiver Arbeit gelangen zu können. Außer den im Elend vegetierenden Massen und den Monokelbaronen in den Fluchtburgen gab es noch eine Mittelschicht, die hoffte, eines Tages in die Fluchtburgen einziehen zu können, und die sich verzweifelt dagegen wehrte, zu den Massen und in deren Elend abzusinken. Brecht war ein Schriftsteller, der zu dieser Mittelschicht gehörte. Er war mit Privilegien ausgestattet, konnte sich gelegentlich neue Glieder, wenn schon keinen neuen Körper kaufen, wohnte luxuriös und mußte dafür die Computerüberwachungsanlage in Kauf nehmen, die kontrollierte, daß er sich nicht gegen die Monokelbarone erhob. Die Doppelexistenz, die er zwischen der Widerstandsbewegung und den Monokelbaronen führte, war durch einen glücklichen Zufall möglich. Sein persönlicher Überwachungscomputer nämlich, Apostroph 3, war durch eine Fehlschaltung dem Gehorsam gegenüber KNIFE, dem allmächtigen Zentralcomputer, entzogen und verschwieg in seinen mechanischen Berichten daher die Zusammenkünfte in Brechts Wohnung. Jedenfalls war das der Stand der Dinge, soweit sie Pandur bekannt waren. Natürlich konnte man niemals sicher sein, daß nicht eine Panne, ein Verrat passierte. Endlich, im fünften Stock – natürlich war der Fahrstuhl stillgelegt worden – öffnete sich die Tür, und Brecht, im Bademantel, begrüßte Pandur mit freundlichem Händeschütteln. Was an Brecht sofort ins Auge fiel, das war sein riesiger schwarzer Bart, der das Auge des Betrachters wie mit schwarzen Flammen züchtigte. Auf seiner schiefen Nase saß eine randlose Bril-
le, hinter der kalkulierende Augen spöttisch blickten. Die Haare trug er, der Mode seiner Schicht entsprechend, kurzgeschoren. Ein wärmendes Glas in Händen, informierte Pandur seinen Freund über die jüngsten Ereignisse und über die Festnahme von Dr. Strangell. Brecht zeigte sich bestürzt. »Wir stehen vor einer sehr unangenehmen Situation«, sagte Pandur. »Unser Versteck in Braven wurde ausgehoben, und das Tunnelsystem ist der Hakenpolizei ebenfalls zu einem Teil bekannt geworden. Meine Verbindungen sind weitgehend abgeschnitten. Man könnte meinen, wir wären in großem Stil verraten worden.« Brecht trat ans Fenster, von dem aus man den Dom betrachten konnte, und verschränkte seine Hände auf dem Rücken. Seit einer halben Stunde läuteten nun schon die Glocken. Eine Prozession, angeführt von zwei Monokelbaronen, die ihre Kinder verheirateten, war durch Brevens Straßen gezogen, und nun feierten sie ein Fest in der Kirche, um dem Volk Sand in die Augen zu streuen. »Was meinst du, Apostroph«, sagte Brecht, »kannst du über Strangell etwas in Erfahrung bringen?« Ohne zu zögern drang die wohltemperierte, sanfte Stimme des Computers aus der Decke. »Ich kann im Augenblick leider nichts machen. Sie sind über den Fang Strangells so aufgeregt, daß die Nachrichtenkanäle zwischen Fluchtburg und Polizeihaus ständig blockieren. Wenn ich mich einschalte, werden sie sofort entdecken, wer sie auszuhorchen versucht.« »Was ist eigentlich mit dem Fahrstuhl geschehen?« fragte Pandur unvermittelt. »Wir hatten eine Materialkrise hier im Haus«, antwortete Brecht, »sie haben uns um zwanzig Prozent in der Versorgung gekürzt und dabei den Fahrstuhl ganz stillgelegt.« Er machte
eine zerstreute Geste mit der rechten Hand. »Sogar Apostroph 3 wies einen Materialfehler auf, den sie aber vollständig behoben haben, auf ihr Spitzelsystem lassen sie nichts kommen.« »Bitte«, sagte Apostroph mit sanfter Stimme, »nenne mich nicht immer Spitzelsystem. Du weißt genau, daß ich zu euch halte.« »Entschuldige«, sagte Brecht. Pandur dachte bei sich: Seltsam, seit wann ist der Computer so empfindlich? Was er eben sagte, klang fast weinerlich, als wolle man etwas von seiner Ehre abschneiden. Dann aber vergaß Pandur diesen Gedanken. Er seufzte. Tatsächlich war er schon dabei, sich wegen jeder Kleinigkeit Sorgen zu machen. Vor lauter Mißtrauen konnte man schon seinem eigenen Schatten nicht mehr trauen. Die Glocken vom Dom wurden lauter. Es schien Pandur, als sollten sie andere Geräusche verdecken. »Kopf hoch«, sagte Brecht, »ich habe eine große Neuigkeit, eine Sache, die uns weiterhelfen wird.« Er warf einige mißtrauische Blicke zum Dom hinüber, um festzustellen, ob sie von einem der Domtürme mit Ferngläsern beobachtet wurden. Da er nicht sicher war, ob sie unter sich waren, zog er das Springrollo herunter. Dann ging er zum Schreibtisch hinüber, wühlte im Stapel seiner Manuskripte und zog endlich ein dünnes Heftchen heraus. Pandurs Kopfschmerzen waren noch nicht geschwunden, und er spürte einen Anflug von Unmut. »Ach«, sagte er, »deine Romane mögen noch so gut sein, sie bringen uns jetzt auch nicht weiter.« Brecht blinzelte listig und versetzte: »Es kommt ganz darauf an, was man in einer Romanhandlung versteckt.« Er hob das dünne Heft hoch und warf es dann gewichtig auf die Schreibtischplatte. »Du weißt, daß Apostroph in die Tiefe des Großcomputers lauschen kann. Es ist ein mühseliges und gefährli-
ches Geschäft, doch es zahlt sich aus. Seine Ermittlungen der letzten Monate sind in diesem Band, und zwar geschickt verkleidet, festgehalten, so daß selbst die Gedankenpolizei Schwierigkeiten haben wird, den wahren Inhalt zu ermitteln. Auch du solltest dich nicht von dem formalen Inhalt täuschen lassen, sondern mitdenken und zwischen den Zeilen lesen, dann wirst du wissen, welche unschätzbare Hilfe uns DAS ORAKEL VON ALTONA bringen wird.« Pandur war neugierig geworden. Er ergriff das Büchlein und schlug es auf. Er begann zu lesen, während Brecht in die Küche ging, um Pandur, dem längst der Magen knurrte, etwas zu machen, und Apostroph einige wilde, schöne Melodien spielte, um die Glocken etwas zurückzudrängen. Pandurs Gedanken saugten sich in dem Text fest, den er wie im Fieber memorierte, weil ihm die Bedeutung der Zeilen immer eindringlicher ins Bewußtsein drang und weil ihm eine Ahnung zugleich sagte, daß er das Büchlein verlieren konnte und er später deshalb auf sein Erinnerungsvermögen angewiesen wäre, und darauf waren sie ja getrimmt: sich rasch und unter größtem Druck schwierige Texte einzuprägen, die es für die Widerstandsbewegung nicht aus dem Gedächtnis zu verlieren gelte. Während Pandur mit wachsender Spannung las, überschlugen sich seine Gedanken. Die seltsame Reparatur an Apostroph 3, dessen gekränktes Verhalten, das so ungewöhnlich war und am ehesten auf ein schlechtes Gewissen schließen ließ, und vor allem die Serie von Verrätereien kamen ihm in den Sinn. Die Glocken vom Dom wurden noch lauter, ließen die Fensterscheiben klirren, und plötzlich wußte Pandur mit untrüglichem Sinn für die Realitäten, daß er mit den Sekunden um die Wette eilte, um den Text zu verschlingen, um ihn für alle Zeiten in seinem Gehirn zu speichern. Seine Hände zitterten, und vor seinen Augen flackerte es, dann hatte er die letzte
Seite wie im Rausch verschlungen und klappte das Büchlein zu. Die Eingangstür zur Wohnung machte nach innen einen Buckel, einen weißglühenden, heißen Buckel. Dann platzte sie wie ein großer Frosch unter Nagelstiefeln. »Achtung«, brüllte Apostroph 3, »die Hakenpolizei!« Zuerst dachte Pandur, wie seltsam spät diese Warnung kam, und in dieser Sekunde hatte er auch den verhängnisvollen Zusammenhang begriffen: sie mußten Apostroph 3 beim Lauschen in der Tiefe des Computers geortet haben, sie hatten dann die Reparatur an ihm inszeniert und ihn so auf ihre Wellenlänge programmiert und ihn dem Einfluß Brechts entzogen. So war Apostroph gegen seinen Willen zum Verräter geworden. Das Manuskript hatten sie Brecht und Apostroph ausarbeiten lassen, und zwar nach echten Informationen, um keinerlei Mißtrauen bei Brecht zu erregen, weil sie sich sicher waren, daß Brecht und jetzt Pandur mit ihrem Wissen im Leichenschauhaus, an den Fleischerhaken baumelnd, nichts mehr würden anfangen können. Der Laserstrahl hatte die Tür und ihren Rahmen wegrasiert, und durch die entstandene Öffnung quollen die Hakenpolizisten in roten Uniformen. Sie brüllten scharfe Kommandos und stürzten sich wie eine Meute blutgieriger Hunde in die Wohnung. »Brecht ist in der Küche«, kreischte Apostroph 3, »und Pandur könnt ihr im Arbeitszimmer fassen, er ist der Kopf der Widerstandsbewegung!« Brecht kam aus der Küche herbeigestürzt und warf sich, mit einem großen Fleischermesser fuchtelnd, den Polizisten entgegen. »Pandur!« schrie er, »schnell, die Feuerleiter!« Pandur ließ das Manuskript fallen und riß den Vorderlader
aus dem Mantel. Apostroph, um den Hakenpolizisten zu helfen, ließ den Strom ausfallen. Das Licht erlosch. Apostroph, dem ein taktisch-militärisches Zentrum fehlte, hatte einen Fehler begangen. »Licht an!« brüllte einer der Polizisten, dann zog Brecht ihm das Messer durch die Kehle. Pandur war am Fenster, der Vorderlader krachte, und ein Funkenregen, der die Polizisten verwirrte, stob durch das Wohnzimmer. Der Pulverdampf wälzte sich beizend durch die Luft, und die Polizisten, auf alle Arten von Giften vorbereitet, wichen schockiert vor dem neuen, ihnen unbekannten Geruch zurück. Einer von ihnen drückte ab, und Brecht verglühte in der Dunkelheit im Schein des Laserwerfers. Apostroph hatte das Fenster verriegelt. Pandur entriß dem am weitesten vorgedrungenen Polizisten seine Waffe, schoß auf die zurückweichenden Polizisten, die sich ins Treppenhaus zurückzogen und nun um die Ecke feuerten. Statt Pandur zu treffen, erwischten sie die Wand, hinter der der Computer verborgen war. Sie mußten sein Orientierungszentrum beschädigt haben, denn plötzlich begann der Raum in rotem Licht zu flackern, und aus den Lautsprechern gröhlte der Computer Seemannslieder von betrunkenen Matrosen, und an seiner lallenden Stimme konnte man erkennen, daß auch sein Sprachzentrum gestört sein mußte. Die Tapeten fielen von den Wänden, und es begann aus der Wasserlöschanlage zu regnen. Von draußen erschollen scharfe Kommandos, und der Polizeioffizier, der die Aktion leitete, hetzte zwei, drei seiner Männer in den Korridor und damit in den sicheren Tod. Doch Pandur, der um die begrenzte Ladung des Lasers wußte, nutzte die Verwirrung. Während Hakenpolizisten kamen, die Fleischerhaken griffbereit in den Händen, die Treppe heraufgestiegen, offensicht-
lich hatten sie, siegesgewiß und im Gefühl ihrer Überlegenheit, die Aktion nicht auf die Sekunde abgestimmt. Pandur beugte sich über das Geländer und drückte den Laser ab. Es machte Ratsch, als entzünde er ein Streichholz, eine glühende Flamme, so grell, daß sie die Augen schier versengte, raste in die Tiefe und nahm die beiden Hakenmänner in ihre weiße, tödliche Umarmung. Die beiden Polizisten verschwanden mit einem Teil der Treppe, und die Ladungen ihrer Laser explodierten jeweils als eine weiße Kugel. Sie waren unten, im Einsatzwagen, zu dumm, jetzt die Lichter anzumachen, als sie eben merkten, daß etwas schiefgegangen war. Pandur erkannte ihre schreckverzerrten Gesichter, die wie geronnene Masken sich aus den Fenstern beugten und bestürzt in die Höhe zur Leiter starrten, auf der Pandur hinab in die Tiefe turnte, wie ein rächender Engel, der vom Himmel herabsteigt, um die brutalen Hakenpolizisten zu strafen. Die Furchen in ihren Gesichtern waren geronnen, die großen Fäuste zuckten nach den Waffen, da war Pandur unten angekommen, sprang das letzte Stück, das er eben von der Leiter abgeschossen hatte, landete weich auf den Füßen, und die Waffe wirbelte in seinen Händen. Es zischte und ratschte durch den leichten Nebel, der hellblau aufleuchtete, wie aus einem Froschmaul schlug die Lichtblase zu dem Einsatzwagen, die Züge der Männer, die aufgerissenen Augen, die kreischenden Münder, die zur Abwehr vorgestreckten Hände: sie vergingen, als wische man mit dem Schwamm eine Schreckensbotschaft von der Tafel. »Ich bin Pandur«, brüllte oben der Computer, »ihr könnt mich nicht fangen. Ich bin euch an Mut und Kühnheit überlegen, ich kämpfe für eine gerechte Sache, ich werde siegen.« Aus den Fenstern im fünften Stock fiel ein greller Widerschein zwischen die Häuser, und der Computer verstummte
für immer. Die Glocken vom Dom tobten noch immer. Jetzt kam ihr Lärm Pandur zu Hilfe. Im Polizeibus waren sie wie gelähmt vor Entsetzen und schickten Sonderstreifen los, die mit kreischenden Reifen um die Ecken bogen oder aus der Luft in die Straßenschlucht einfielen. Pandur warf den Laser weg, um nicht aufzufallen, jagte geduckt dem Marktplatz zu, um sich unters Volk zu mischen, das Manuskript wohl in seinem Gedächtnis gespeichert. * Aus bitterer Erfahrung wußte Pandur, daß Kleinstädte nachts besonders gefährlich waren für einen Flüchtling, der sich vor der Hakenpolizei zu verstecken hatte. In der Großstadt gab es dunkle Gassen, Winkel, Hinterhöfe, laute Kneipen oder die Anonymität der U-Bahnhöfe und Parkanlagen, in Dörfern fand man verlassene Häuser und Scheunen, wo man ausruhen konnte. Aber in den Kleinstädten fiel der Fremde am Abend auf, nichts und niemand bot ihm Deckung. Es half alles nichts. Er mußte hinein in dieses Städtchen Zeven, denn er brauchte einen Wagen. Zwischen ihm und Haven lag noch ein langer Weg und nicht zuletzt die Elbe, passierbar eigentlich nur über die Elbbrücken. Fähren verkehrten schon seit Jahren nicht mehr. Ein Boot zu suchen, war viel zu mühsam und zu gefährlich. Und im Boot auf der Elbe entdeckt zu werden, war der sichere Selbstmord. Und schwimmen? In dieser Kloake ein noch perfekterer Selbstmordversuch. Also Zeven. Pandur trat hinter dem Busch hervor und damit direkt vor das Ortsschild. Er musterte sich kritisch, vielmehr das bißchen Kleidung, das er aus dieser Perspektive und dazu im Schein
des grünen Mondes und dem fahlen Licht einer fernen Straßenlampe erkennen konnte. Er sah mitgenommen und schmutzig aus, aber vielleicht mochte er einem flüchtigen Betrachter als Landarbeiter durchgehen, der am späten Abend, in einen zerschlissenen Ledermantel gehüllt, bezecht nach Hause zog? Ihm kam zugute, daß Zeven wie alle menschlichen Siedlungen seit der dritten Energiekrise im trübsten Straßenlicht dem Morgen entgegendämmerte. In diesem Moment bog ein Auto mit kreischenden Reifen von der Stadtmitte her kommend in die Ausfallstraße ein. Glotzende Scheinwerfer huschten über Pandurs Gestalt hinweg, aber der Fahrer steigerte eher noch die Geschwindigkeit des Wagens, als daß er Anstalten machte, sie zu verringern. Das Auto entfernte sich schnell mit knatterndem Auspuff und war wenige Sekunden später nur noch als fernes Schemen mit kleinen roten Augen auszumachen. Obwohl ihn die Scheinwerfer für einen Moment geblendet hatten – für Sekundenbruchteile rückten sie etwas in sein Blickfeld, das ihm sonst verborgen geblieben wäre. In der Einfahrt vor einem Haus, halb verborgen hinter Büschen und einer morschen Holzpforte in rostzerfressenen Angeln, parkte ein Auto. Schnell entschlossen, wechselte Pandur die Straßenseite und näherte sich dem weit hinter die Front der anderen Häuser zurückgesetzten Haus. Tatsächlich, er hatte sich nicht getäuscht. Wenige Meter vor ihm stand ein alter Opel Commodore aus den späten achtziger Jahren, weiß mit schwarzem Kunststoffdach, gepflegt, soweit man im Licht der trüben Straßenfunzel sehen konnte. Und fahrbereit! Denn Reifenspuren in der feuchten Erde zeigten, daß der Wagen vor kurzem erst in den Vorgarten hineingerollt war. Sowohl das Haus des mutmaßlichen Wagenbesitzers als auch die Nachbarhäuser waren ohne Licht. Die Gelegenheit schien
günstig. Pandur öffnete leise die Gartenpforte und schlich geduckt zu dem Auto, nachdem er beide Flügel der Pforte mit den dafür vorgesehenen Haken am Zurückpendeln gehindert hatte. Er versuchte die Tür an der Fahrerseite aufzusperren, aber wie nicht anders zu erwarten, war sie verschlossen. Das sollte aber kein großes Hindernis für ihn sein. Er sah seinen Satz Schlüssel und Häkchen durch und hatte schnell einen kompliziert gebogenen Draht entdeckt, der geeignet schien. Er rührte noch keine zehn Sekunden im Schloß herum, als auch der Verschlußknopf hinter der Scheibe schon hochsprang. Pandur zog die Wagentür auf und setzte sich in das Auto. Die Tür zog er zu sich heran, ließ sie aber nicht ins Schloß fallen. Er hoffte darauf, daß das Lenkradschloß nicht eingerastet war. Das könnte ihn länger aufhalten. Einstweilen zog er die Zünddrähte aus der Lenkradsäule und verknüpfte sie miteinander. Er zögerte nicht einen Moment, aber das Herz schlug ihm doch bis zum Hals. Man hörte das müde Wimmern des Anlassers, aber der Motor sprang nicht an, auch nicht, als Pandur das Gaspedal mehrmals durchtrat. Er versuchte es erneut, aber das Ergebnis war das gleiche. Verdammt, damit hatte er nicht gerechnet. Wenn ihn jetzt jemand überraschte, dann mußte er töten, oder aber die Hakenpolizei würde ihn noch vor dem Morgengrauen auf die Haken spießen. Und das Geräusch des Anlassers erschien ihm unerträglich laut in dieser ansonsten totenstillen Nacht! Er wartete nervös darauf, daß sich im Hause etwas rührte, aber weder Geräusche noch Lichter drangen aus dem Haus. Er versuchte das Spiel nicht noch einmal, weil er wußte, daß es zwecklos war. Vermutlich waren die Kontakte zu stark oxydiert, um bei dieser neblig-feuchten Witterung den Zündfunken am Zündverteiler überspringen zu lassen. Als er den Ein-
druck hatte, daß seit dem Startversuch genügend Zeit verstrichen war, um jemanden auf den Plan zu bringen, den die Anlassergeräusche angelockt hatten, stieg er aus dem Wagen. Er griff unter das Armaturenbrett und löste die Verriegelung der Motorhaube. Die Haube ließ sich ohne Mühe hochklappen und durch eine Stütze absichern. Seine Vermutung war richtig, wie er schnell feststellte, als er die Kappe des Zündverteilers abzog. Er kratzte mit seinem Taschenmesser im Schein des Standlichts des Autos die grüne Oxydschicht von den Kupferkontakten und klemmte die Verteilerkappe wieder fest. In diesem Moment näherte sich auf der Straße ein Auto. Pandur duckte sich bei dem ersten Fetzen Motorengeräusch, das an sein Ohr drang, sofort hinter den Wagen. Im Niedergleiten stieß er die Stütze der Motorhaube zur Seite und zog die Haube herunter. Mit aufkommender Panik registrierte Pandur, daß der Wagen auf der Höhe des Hauses bremste und mit knirschenden Reifen auf den Gehweg fuhr. Hinter den Büschen blitzten die Scheinwerfer. Rasches Handeln war nötig. Im gleichen Augenblick, als die Scheinwerfer erloschen und vier Wagentüren in so kurzer Reihenfolge hintereinander ins Schloß geworfen wurden, daß ein Geräusch wie trocken knatterndes Gewehrfeuer entstand, lief Pandur geduckt aus seiner Deckung und hechtete sich hinter einen Busch. Gerade noch rechtzeitig! Sekundenbruchteile später blitzten helle Stablampen an der Gartenpforte auf. Pandur erkannte voller Haß das rote Leder der Hakenpolizei. Es waren vier Männer. In der einen Hand trugen sie ihre Stablampen, in der anderen Laser-Pistolen. In den Gürtelschlaufen blitzten die Metallhaken. Rasch bewegten sie sich auf das Haus zu. Der Einsatzleiter
schickte zwei Leute zum Hinterausgang. Nach einigen Sekunden Wartezeit preßte er die Klingel. Der andere bei ihm verbliebene Mann schlug mit der Faust gegen die Tür. »Aufmachen, Bürger! Hier ist die Polizei!« Licht flammte hinter zwei Fenstern im ersten Stockwerk auf. Ein schlaftrunkenes Gesicht starrte erschrocken nach draußen. Das Fenster wurde geöffnet. »Sind Sie taub, Mann?« herrschte der Einsatzleiter den Mann im Pyjama an, der sich aus dem Fenster beugte. Für wenige Sekunden schien es Pandur, als wollte der Hakenmann auf den Mann am Fenster schießen. Aber dann senkte er die Waffe. »Haftbefehl gegen Sie und Ihre Frau!« schnarrte er dann. »Sofort herunterkommen. Aber ein bißchen plötzlich! Falls sonst noch jemand im Haus ist, Kinder oder so etwas: ebenfalls nach unten kommen!« Es dauerte keine zwei Minuten, als die Haustür geöffnet wurde. Im Licht der Flurbeleuchtung erkannte Pandur den Mann, der am Fenster gestanden hatte, und eine Frau, beide waren im Alter zwischen dreißig und vierzig Jahren. Sie schienen Erfahrung mit den Haken zu haben, denn sie fragten weder nach dem Haftbefehl, noch gaben sie den Männern sonst einen Anlaß, auf sie einzuprügeln. Dennoch wurden sie angerempelt, als die Polizisten in das Haus gingen. Hinten brach die zweite Tür unter den Schlägen der beiden anderen Polizisten. Der Einsatzleiter schickte sie nach oben, um das Haus zu durchsuchen. Die verhafteten Menschen boten ein Bild des Jammers in ihrer dürftigen Nachtkleidung. Die Frau wagte die schüchterne Bitte, sich ankleiden zu dürfen. Der Einsatzleiter starrte sie an wie ein Wesen von einem anderen Stern. Dann versetzte er ihr zwei schallende Ohrfeigen, riß ihr das Nachtkleid herunter
und rammte der nackten Frau sein Knie in den Unterleib. Der Mann wollte sich auf ihn stürzen, erhielt aber sofort ein halbes Dutzend Fausthiebe und fiel zu Boden. Die beiden anderen Hakenmänner waren zurück. Der Trupp zog ab, die Gefangenen in der Mitte. Die Haustür ließen sie offen, das Licht wurde nicht gelöscht. Pandur hörte das Prasseln der zuschlagenden Wagentüren. Der Motor heulte auf. Der Wagen entfernte sich. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die armen Schweine. Gern hätte er ihnen geholfen. Aber er hätte mit dieser Tat weder ihnen noch sich selbst einen Gefallen getan. Solche Verhaftungen geschahen meistens willkürlich, obwohl gegen die Menschen nichts vorlag. Man zerrte sie nachts aus den Betten, prügelte sie ein bißchen und schickte sie nach einigen Tagen wieder nach Hause. Das gehörte zum System. Für den Moment war Pandur sicher. Das Unglück der beiden Menschen war für ihn eine Chance. Er schlich durch die zertrümmerte Tür an der Hinterseite in das Haus und vermied es dabei, zur Straßenseite hin eine Silhouette abzugeben. Er brauchte dringend ein Bad, etwas zu essen und neue Kleidung. Da er sich ohne Drogen in dieser Situation nicht entspannen konnte und das Bewußtsein permanenter Gefahr an ihm nagte, sprang er bald nach dem Bad und dem Imbiß auf und suchte den Autoschlüssel. Als er ihn in einem kleinen Holzkästchen auf dem Flur endlich fand, raffte er rasch noch einige Lebensmittel zusammen, stopfte sie in eine Leinentasche, zog den alten Ledermantel über die neuen Kleidungsstücke und ging hinaus. Er arbeitete rasch an den Zündkabeln und hörte erleichtert den Motor anspringen, als er dieses Mal beim Starten das Gaspedal durchtrat. Ohne weitere Gedanken an Gegenwart und
Zukunft zu verschwenden, lenkte er den Wagen auf die Straße hinaus. Das Stadtzentrum von Zeven war kalt und menschenleer. Mit einer Mischung aus Haß und unterschwelliger Angst fuhr Pandur an dem roten Backsteingebäude der Hakenpolizei vorbei und schoß in seiner Phantasie das Blechschild mit den roten, gekreuzten Haken von der Fassade. Besorgt sah er immer wieder in den Rückspiegel, als er den Wagen auf Touren brachte, aber es blieb alles dunkel hinter ihm. Nirgendwo tauchte die berüchtigte rote Fünfer-Formation mit ihren schweren Motorrädern auf, die mit Laserkanonen bestückt und mit einem Sortiment der charakteristischen spitzen Stahlhaken an den Flanken ausgerüstet waren. Nach gut zwanzig Minuten verließ Pandur die relative Sicherheit der leblosen Landstraßen und Dörfer und lenkte den Wagen in die Schleife einer Autobahnauffahrt. Seine Nervosität wuchs, und der kostbare Zigarettenvorrat verringerte sich zusehends. Er passierte eine Polizeistation direkt an der Auffahrt und war auf der Autobahn, die ihn in weniger als vierzig Minuten über die Elbbrücken nach Haven führen mußte – wenn alles glatt verlief. Der große Elbtunnel war nach Wassereinbrüchen schon vor Jahren geschlossen worden. Er hatte die zweispurige Fahrbahn für sich allein, und die Autos, die mit gleißenden Scheinwerfern auf der Gegenfahrbahn vorüberflitzten, waren mit der Zahl fünfzig sogar noch hoch bemessen. Hier lauerte eigentlich die größte Gefahr, denn es gab keine Ausweichmöglichkeit, wenn die Hakenpolizei Kontrollen durchführte oder ihre berüchtigten Exzesse inszenierte, denen sich nicht einmal die Lakaien der Monokelbarone entziehen konnten, wenn sie sich nicht hinreichend ausweisen konnten. Aber bislang konnte sich Pandur nicht beklagen. Er hatte das Radio eingeschaltet und hörte über den Haven-
Sender die sentimentalen Heimatweisen der Schlächter, aber auch ihre Nachrichten. Die Atombombe auf Braven wurde als Terror-Anschlag einer Untergrundbewegung dargestellt und die Lakaien der Monokelbarone forderten strengste Gegenmaßnahmen. Von der drohenden Flutkatastrophe war keine Rede. Der Fang von Dr. Strangell wurde mehrfach bejubelt, und man konnte meinen, Dr. Strangell sei der Terrorist gewesen, der die Bombe gezündet hatte. Von Brecht war nicht die Rede, auch von ihm selbst nicht. Das mochte Taktik sein, aber Pandur rechnete sich eine kleine Chance aus, daß die Zusammenhänge zwischen Strangell, Brecht und ihm im Dunkel geblieben waren. Pandur kannte die Frequenz der Hakenpolizei und hätte brennend gern die internen Nachrichten gehört, aber das Radio des Autos reichte dafür nicht aus. Natürlich argwöhnten die Haken, daß ihr Funk von den Rebellen abgehört wurde, aber sie konnten es doch nicht vermeiden, durch die Anzahl der verschlüsselten Mitteilungen bevorstehende oder ablaufende Razzien und Kontrollen ungewollt zu verraten. Jetzt kamen die Elbbrücken in Sicht. Nebel stieg vom Fluß auf, und der feuchte Dunst machte es nötig, die Scheibenwischer anzustellen. Pandur wußte, daß er den kritischen Punkt seiner Fahrt erreichte. Wenn es eine Kontrolle gab, dann am ehesten hier, an der Einfahrt nach Haven. Pandur reduzierte die Geschwindigkeit und fuhr über die Brücken. Vor sich sah er plötzlich die Schlußleuchte eines Lastkraftwagens aus dem Nebel auftauchen. Er wollte den Wagen schon flott überholen, als eine Art Intuition ihn zögern ließ. Er zuckelte hinter dem großen Brummer her. Den Schildern nach war die Autobahn zur Staatsstraße geworden, und Pandur passierte soeben die letzten Meter der zweiten Elbbrücke. Zur Linken zweigte einige hundert Meter weiter die Straße zum Zentrum von Haven
ab, während der Hauptstrang für den Fernverkehr gedacht war. In diesem Augenblick flammten die Bremslichter des Lastwagens auf. Pandur, dessen Anspannung sich gerade etwas wieder gelöst hatte, spürte, daß sich ihm die Nackenhaare sträubten. Der Wagen vor ihm verringerte immer mehr die Geschwindigkeit und kam schließlich vor ihm zum Stillstand. In diesem Augenblick sah Pandur den Grund. Zwei hellrote Sportwagen der Hakenpolizei standen quer auf der Fahrbahn, und lederbekleidete Männer lehnten mit Handscheinwerfern davor, die blitzenden Fleischerhaken am Gürtel. Auf dem Randstreifen waren fünf Motorräder abgestellt und grinsende Ledermänner warteten davor. Also Pech gehabt. Pandur wurde plötzlich ganz ruhig. Er hatte keine Angst mehr, nur noch ein tiefes Gefühl von Traurigkeit kroch in jede Zelle seines Körpers. Als er dieses Leben vor Jahren begann, hatte er gewußt, daß er nicht im Bett würde sterben können. Aber sie sollten es nicht leicht haben mit ihm! Und sie würden keine Gelegenheit haben, ihn mit ihren Haken zu Tode zu quälen. O nein! Er scherte aus und fuhr im Schritttempo an dem Anhänger des Lastwagens vorbei. Die Hakenpolizisten, die zu den Sportwagen-Besatzungen gehören mußten, standen am Fahrerhaus des Lastwagens und verlangten barsch die Papiere des Fahrers zu sehen. Ihre Kumpane von den Motorrädern kamen grinsend heran. Idioten, dachte Pandur. Jetzt müßt ihr mich jagen, und ein paar von euch werden daran glauben müssen, das verspreche ich euch. Er wollte gerade das Gaspedal zum Kick-Down durchtreten und den Wagen vorschießen lassen, als sich der eine Hakenmann vor dem Fahrerhaus umdrehte und ihn anherrschte: »Fahren Sie gefälligst zügig vorbei, Mann! Hier gibt es nichts
zu gaffen!« Pandur legte verblüfft den zweiten Gang ein und fuhr mit mäßigem Tempo einen Slalom um die Polizeiwagen. Niemand kümmerte sich um ihn, aber im Rückspiegel sah er, daß drei Hakenmänner den Fahrer aus seinem Lastzug zerrten. Ein kurzer Wortwechsel schloß sich offenbar an, dann folgten in wahnwitziger Geschwindigkeit Hiebe mit den flachen Enden der Haken. Obwohl Pandur seine Geschwindigkeit steigerte, konnte er doch nicht davon ablassen, die Szene weiter zu beobachten. Die Motorrad-Hakenmänner waren herbei und schlugen zu fünft die spitzen Enden ihrer Haken in den Körper des Mannes. Bevor ihm eine Kurve der Straße endgültig das Blickfeld nahm, sah er den Mann zu Boden stürzen, nachdem er einen Schrei ausgestoßen hatte, der so verzweifelt und entsetzlich war, daß er Pandur in seinem Wagen erreichte und ihm durch Mark und Bein ging. Noch Wochen später lag ihm dieser fürchterliche Ruf eines Menschen um Hilfe in den Ohren. Pandur war nach Haven gekommen, aber ein anderer war an seiner Stelle gemeuchelt worden. Kreideweiß vor Schreck, Ekel und Wut, fuhr er seinen Weg in die Innenstadt. * Die Untergrundorganisation war nach dem Zellenprinzip aufgebaut, was sie auch dann überleben ließ, wenn einzelne Mitglieder in die Hände des Gegners gerieten. Nur die drei Mitglieder der obersten Zelle kannten den kompletten Aufbau, und sie hielten sich niemals gemeinsam an einem Ort auf, der für die Häscher zugänglich war. Geriet einer der drei in die Fänge der Hakenpolizei, dann hatte er ein Arsenal von Selbstvernichtungsmitteln in seinem Körper und konnte notfalls – bei etwaiger vollständiger Lähmung – immer noch von den
beiden anderen per Funk in die Luft gesprengt werden. Andere Mitglieder der Organisation kannten jeweils nur die beiden Mitglieder ihrer eigenen Zelle und je eine Person aus zwei Nachbarzellen, um Informationen weiterzuleiten. Nur in Ausnahmefällen verfügten sie über einige Zusatzinformationen. Pandur hatte die Organisation in Braven geleitet. Aber selbst dort, in dieser Position, kannte er nur drei Mitglieder der Organisation mehr als jeder andere, der ihr angehörte. Aktionen wurden stets so geleitet, daß Pandurs Empfehlungen zunächst – über ihm selbst unbekannte Wege – durch den gesamten Bravener Apparat liefen, dann über eine Reihe von Kanälen zu den Rebellen anderer Städte und von dort zur Führungszelle und zurück. Dieses System hatte stets reibungslos funktioniert und noch niemals versagt. Es war so angelegt, daß Mitglieder der Bewegung nicht isoliert werden konnten und die Verbindung nicht abriß, wenn Rebellenzellen ausgehoben wurden. Man mußte schon ein Riesenstück aus der Struktur herausbrechen, um partiell eine Desorganisation zu erreichen. Genau dies war jedoch in Braven geschehen. Pandur wäre trotzdem nicht isoliert gewesen, wenn man nicht mit Brecht seinen einzigen ortsfremden Kontaktmann getötet hätte, bevor dieser ihn in die Brevener Organisation einschleusen konnte. Zwei unglückliche Zufälle, die zusammentrafen. Aber waren es wirklich Zufälle? Es gab Zeiten, da zweifelte Pandur daran. Auf der anderen Seite hatte man wohl kaum eine ganze Stadt zerstört, nur um ihn zu töten oder zu isolieren. Immerhin dürfte die Führungszelle inzwischen genau orientiert sein, welche Bravener Mitglieder der Organisation überlebt hatten. Lediglich Pandurs Überleben war unbekannt. Pandur gestand sich ein, daß er die Gefahr unterschätzt hatte, als er Brecht aufsuchte. Er hätte den Informationsaustausch forcieren müssen, sofort als er in Breven eintraf. Dennoch hatte
sein Fehler eher Gutes bewirkt, denn Brechts Kontaktleute wären sonst sicherlich ebenfalls verloren gewesen. Es war beruhigend, daß sein Fehler der Organisation nicht sehr geschadet hatte. Seine beiden letzten Kontaktleute zur Organisation waren Fleur und Zappa in Haven. Zu ihnen wollte er. Er mußte wieder Kontakt haben zu anderen Rebellen, denn allein ging man in dieser Welt schnell vor die Hunde, wenn man sich nicht hundertprozentig anpassen konnte. Und er wollte das Mysterium des Brecht-Manuskripts aufklären. Irgend etwas steckte dahinter, sonst hätte Brecht diesem Manuskript nicht derart viel Wichtigkeit beigemessen. Vielleicht hatte Apostroph sie bereits mit diesem Manuskript verraten? Vielleicht war es eine einzige Lüge, wenn nicht eine Falle. Aber die vage Chance, daß hier für den Kampf gegen die Monokelbarone entscheidende Informationen verborgen lagen, durfte nicht ungenutzt vorübergehen. Sein Wissen um die Zugehörigkeit von Fleur und Zappa zur Untergrundbewegung war eigentlich keine für ihn bestimmte Information. Vielmehr kannte Pandur die beiden seit vielen Jahren aus seiner Havener Zeit. Damals hatte er ihrer Zelle angehört. Die drei waren befreundet, während seine damaligen weiteren Kontaktleute längst in alle Winde verstreut oder getötet wurden. Sie kannten sich sogar mit ihren richtigen Namen, denn Fleur und Zappa waren natürlich nur angenommene Decknamen wie sein eigener. Vor vier Jahren allerdings wurde Pandur in seine Geburtsstadt Braven zurückgeschickt, und Fleur, die er gern mitgenommen hätte, war in Haven unabkömmlich, sollte aber später folgen. Dabei war es dann geblieben. In den ersten Monaten hatte Pandur noch mehrmals von Fleur gehört: mal erreichte ihn ein Liebesbrief, mal ein Kuß von einer Bravener Rebellin, den Fleur über verschiedene Zellen bis Pandur hatte
laufen lassen. Auch dazu konnte man die Informationskanäle der Organisation benutzen. Dann war der Kontakt abgerissen. Fleur hatte einen Spezialauftrag übernommen und mußte dafür alle früheren Bindungen aufgeben. Bitter, aber wahr. Pandur hatte es fast das Herz gebrochen, und er begann sogar an den Zielen der Organisation zu zweifeln. Lange war er wie taub gewesen, innerlich zerrissen, ohne Antrieb, fast arbeitsunfähig, wertlos für die Bewegung. Es dauerte lange, bis er sich gefangen hatte, und er forschte niemals mehr nach, was aus Fleur geworden war, denn er wollte nicht hören, daß sie von den Haken der Bestien zerfetzt oder durch eingepflanzte Gehirnstäbchen zur willenlosen Bettsklavin eines Monokelbarons wurde, so wie es vielleicht seiner eigenen Schwester widerfahren war, bevor man sie tötete. Er sah viele Fenster, viele Wohnungen, Häuser, ja ganze Straßenzeilen leerstehen und verfallen. Die Gesellschaft anderer Menschen war eine der wenigen Lebenssituationen, die auch von der Allianz der Monokelbarone und Hakenpolizisten wenig umgekrempelt und verboten wurde. So zogen die Menschen, die noch in der einst übervölkerten Stadt Haven ihr Leben fristeten, dorthin, wo es andere Menschen gab und ließen die stillen und einsamen Straßen den Ratten. Dann endlich erreichte Pandur Straßen, in denen es wohnlicher aussah. Der Morgen graute inzwischen, und gelegentlich sah man Frühaufsteher aus den Häusern kriechen. Nervös, wie ein Primaner beim ersten Rendezvous, stellte Pandur den Wagen in der vertrauten Straße ab, wo er Fleur vor vier Jahren zuletzt gesehen hatte. Er sah sie wieder vor sich, nicht mit der Traurigkeit des letzten Abends auf dem Gesicht, sondern mit ihrem Lachen, das für zwei reichte und das so sehr zu ihr gehörte wie ihr halblanges pechschwarzes Haar, ihre zierliche Gestalt, die ihm nur bis zur Schulter reichte, oder ihre schön-
geformte pralle Brust und der Leberfleck unter ihrem Herzen. Er musterte die schmutziggraue Häuserfront, als erwartete er, daß Fleur aus dem Fenster blickte. Die Straße belebte sich jetzt merklich, Pandur fiel gar nicht auf. Arbeiter hasteten zur nächsten Bus-Haltestelle, und Cyborgs stampften mit ausdruckslosen Gesichtern vorbei. Irgendwo in der Nähe gab es eine U-Bahn-Station, fiel es Pandur ein, aber die U-Bahn wurde vor Jahren schon als Luxus-Verkehrsmittel außer Betrieb gesetzt. Man siedelte die Arbeiter und Cyborgs ganz einfach dort an, wo sie zu arbeiten hatten und befahl ihnen auch, dort ihre spärliche Freizeit zu verbringen. Wozu also eine U-Bahn? Wer doch noch einen längeren Weg zurückzulegen hatte, konnte ja den Bus benutzen. Die Tunnel der U-Bahn zerfielen. Pandur musterte die Namensschilder an der Haustür. Fleurs richtiger Name stand darauf, aber hier hatte seit Jahren niemand mehr seinen Namen angebracht. Er stieg mit wachsender Erregung die Stufen bis zum zweiten Stockwerk herauf. Hier hatte er Fleur zuletzt gesehen, vor vier Jahren, als er am frühen Morgen die Wohnung verließ und sich von ihr verabschiedete. Sie lebte in einer Wohngemeinschaft mit vier anderen jungen Leuten zusammen. Das war eher bezeichnend als ungewöhnlich, denn die meisten Menschen lebten heute in Wohngemeinschaften. Nur so war der Druck der Umwelt auszuhalten. Pandur klingelte mehrmals, bevor sich Schritte näherten. Ein Mädchen öffnete. Sie trug nur eine Pyjamajacke und ein Höschen, hatte strähniges Haar und war sichtlich unattraktiver und älter geworden, als er sie in Erinnerung hatte. Aber Pandur erkannte sie sofort als das zweite weibliche Mitglied der Wohngemeinschaft. Er entschuldigte sich für die frühe Störung, fragte nach Fleur, wobei er ihren wirklichen Vornamen nannte, und setzte schließlich auch seinen eigenen Namen hin-
zu. Das Mädchen stutzte. Ein kleines Lächeln des Erkennens lief über ihr breites Gesicht, verkroch sich aber schnell wieder hinter Fettfalten und wich konstanter Gleichgültigkeit. Sie öffnete die Tür, damit er eintreten konnte, bot ihm einen Stuhl an und setzte sich zu ihm. »Lange nicht gesehen«, sagte sie mit einer winzigen Spur von Bedauern. Sie schlug ihre Beine übereinander. Ihre Pyjamajacke klaffte weit auf, aber sie machte keinen Versuch, die Blößen zu bedecken. »Wer is'n da?« fragte eine verschlafene Männerstimme aus einem angrenzenden Zimmer. »Ein alter Freund. Schlaf weiter«, rief das Mädchen und warf mit einer früher charakteristischen und reizvollen Geste ihr Haar aus der Stirn. »Willst du eine Tasse Kaffee?« »Vielen Dank. Aber ich will bald weiter.« Sie akzeptierte es gleichgültig. »Sie wohnt schon lange nicht mehr bei uns, weißt du das denn nicht? Hat zwei Monate lang geweint, nachdem du verschwunden warst, und nach weiteren zwei Monaten zog sie aus.« »Warum denn?« »Mußt du sie schon selbst fragen.« Dieser verfluchte Spezialauftrag, das war es gewesen! Pandur wollte sich wirklich nicht länger aufhalten als unbedingt nötig. Was immer aus Fleur geworden war, zunächst wollte er jetzt sein Glück bei Zappa versuchen. »Vielen Dank für deine Hilfe.« Er erhob sich. »Ich schaue bei Gelegenheit mal wieder vorbei.« Wenn dieses stumpfe Gesicht überhaupt noch etwas ausdrücken konnte, dann verformte es sich jetzt zu einem überraschten Fragezeichen. »Willst du denn nicht ihre Adresse?« fragte sie verblüfft.
Eben diese Verblüffung sprang sofort auf ihn über. »Du… du meinst, du hast ihre Adresse?« stammelte er. »Ich meine… ach egal…« Er hatte daran gedacht, daß Fleur alle Kontakte abbrechen mußte, um ihren Auftrag zu erfüllen. Daß sie hier ihre Adresse hinterlassen hatte, traf ihn wie der Schlag einer Dampframme. Warum hatte sie dann ihm nicht ihre neue Adresse mitgeteilt? Er hatte angenommen, der Spezialauftrag habe sie gezwungen, unterzutauchen. »Warum sollte ich diese Adresse nicht haben?« forschte das Mädchen immer noch überrascht. »Ich habe zwar keinen Kontakt mehr zu ihr, seit damals, aber sie wohnt noch immer dort, das weiß ich hundertprozentig. Habe sie vor ein paar Tagen noch von weitem gesehen.« Sie schrieb die Adresse auf einen Zettel und reichte ihn Pandur. Dieser blickte kurz darauf und steckte ihn ein. »Habt ihr euch verkracht?« fragte er. »Frag sie selbst«, wiederholte das Mädchen die Antwort von vorhin. Und sagte noch einmal, etwas weicher, aber auch bitterer: »Frag sie bitte selbst.« Er bedankte sich bei dem Mädchen und küßte sie leicht auf die Wange, wie er es früher oft getan hatte. Sie freute sich, ein bißchen wenigstens, und lud ihn ohne Wärme zu einem Abendbesuch ein. Pandur sagte vage zu und wußte, daß er nicht kommen würde. Zu diesen Leuten hatte er keine Beziehung mehr. Als wollte sie ihm die Schere reichen, um das letzte Band zu zerschneiden, erwähnte sie beim Abschied noch, daß sie die einzige aus dem alten Haufen war, die hier noch lebte. Alle anderen waren fort, nacheinander in verschiedene Himmelsrichtungen auseinandergelaufen. Sie sagte es ohne eine Spur von Bedauern. Die Tür schnappte hinter Pandur ins Schloß.
Er ließ den Wagen stehen, wo er ihn abgestellt hatte. Wozu das Glück übermäßig strapazieren? In Haven fiel ein Auto nicht so auf wie anderswo, aber die Gefahr einer Kontrolle war ständig gegeben. Dann fiel ihm jedoch ein, daß man den Wagen irgendwann finden würde. Es war nicht sehr wahrscheinlich, daß man seine Spur über Brecht und den Diebstahl in Zeven hierher verfolgte. Aber wenn man es tat, dann brachte er Fleur und ihre frühere Freundin in Gefahr. Die Schnüffler der Hakenpolizei konnte man gar nicht hoch genug einschätzen, wenn es darum ging, selbst die abenteuerlichsten Kombinationen anzustellen und die winzigsten Spuren zu verfolgen. Also ging er zurück, setzte sich in den Wagen und fuhr ihn ein ganzes Stück weiter, wo er ihn in einer Nebenstraße abstellte. Pandur benötigte eine gute Stunde bis zu dem neuen Wohnsitz Fleurs und war inzwischen in einer freundlichen Gegend angekommen. Hier standen fast nur kleine Häuser mit Vorgärten und Garagen. Hier sollte Fleur wohnen, mitten unter den Lakaien des Terrorsystems? Denn die hatten sich in Siedlungen wie dieser vom gewöhnlichen Volk abgekapselt. War das vielleicht ein Teil ihres Auftrags? Brachte er sie jetzt unnötig in Gefahr? Sollte er doch lieber erst einmal mit Zappa Kontakt aufnehmen? Aber er stand bereits vor dem Haus und war müde an Körper und Seele. Der Teufel sollte ihn holen, wenn er hier noch umkehrte. Das Haus trug die Nummer 64, war etwas kleiner und älter als die Nachbarhäuser, hatte aber den schönsten Vorgarten weit und breit. Das ließ sich sagen, obwohl – nachdem in diesem Jahr mitten im Sommer Schnee und Frost über das Land gekommen waren – nur noch ein paar widerstandsfähige Herbstastern blühten. Hier konnte Fleur wohnen, ja, das war durchaus möglich. Pandur hatte schon immer ihre glückliche
Hand mit Pflanzen, Tieren – und Menschen bewundert. Nur ein Name stand an der Gartenpforte, und es war nicht der Name, den er suchte. Dennoch schlüpfte Pandur unbeirrt in den Vorgarten und stiefelte dem Haus zu. Ein Rauhhaardackel schoß kläffend auf ihn zu, aber er war noch sehr jung und wollte mit ihm spielen. Er tat dem Tier den Gefallen und neckte es. Sekunden später öffnete sich die Haustür, und Pandur erstarrte halb gebückt. Sie war es. Ein Mädchen, noch immer blühend und jugendlich. Ihr schwarzes Haar fiel länger und glatter, als er in Erinnerung hatte, über Brust und Schultern. Sie trug Jeans und einen blauen Pullover und hatte nichts von ihrer grazilen Anmut verloren. »Wer sind Sie? Was wünschen Sie?« fragte sie energisch, aber nicht unfreundlich. Pandur richtete sich aus der gebückten Position zu voller Größe auf und achtete nicht mehr auf den Hund, der immer noch mit ihm spielen wollte. Er sagte nichts und starrte das Mädchen an. »Du?« Das war ein leiser Schrei. In ihm lag plötzliches Erkennen, Schmerz und Erinnerung, aber keine Freude, sondern auch Ablehnung und Distanz. Und Angst. Und Scham. Vier Jahre zu spät, dachte Pandur bitter, vier Jahre zu spät. Als er eine Stunde später ging, verließ er sie für immer. Er wußte, daß sich Fleur angepaßt und die Sache verraten hatte. Sie hatte gar keinen Spezialauftrag erhalten, das war eine fromme Lüge der Havener Freunde gewesen, extra für ihn. Sie war abgesprungen, hatte einen Strolch geheiratet, der sich in das System hineindienerte, und hoffte darauf, in die engere Umgebung der Monokelbarone vorzudringen. Die beiden würden es schaffen, o ja, sie würden es schaffen. Natürlich schämte sie sich, obwohl sie inzwischen auch einen Stapel gut
klingender Ausreden parat hatte. Sie war kein schlechter Mensch geworden, nur ein schwacher, ohne Rückgrat. Pandurs Besuch würde ihr manches vergällen, denn er hatte seine Verachtung offen gezeigt und war im Zorn gegangen. Aber Fleur war nun tot für ihn und für die Organisation. Er mußte sie sich ein zweites Mal aus dem Herzen reißen, und es blutete mehr als je zuvor. Niemals hatte ihn ein Mensch so sehr enttäuscht. Und doch dachte er voll Kummer daran, daß die Untergrundbewegung Fleur vielleicht eines Tages würde töten müssen, wenn sie zu erfolgreich war und bis an die Schalthebel der Macht kam. Überläufer waren oft schlimmere Feinde als die durch Geburt und Klasseninteresse bestimmten Gegner. Sie mußten sich profilieren und kannten aus eigener Anschauung die Schwächen der Seite, der sie einmal angehörten. Pandur hatte Fleur von dem Schicksal seiner Schwester erzählt, als sie nach ihr fragte, und dabei vor ihr ausgespuckt. Fleur weinte über beides, und er war gegangen. Nur der Hund hatte nichts kapiert und war ihm freudig wedelnd zur Pforte gefolgt. * Pandur zögerte, bevor er den altmodischen Handklingelknopf an der Wohnungstür drehte. Er stand in einem nackten grauen Treppenhaus, das von einer winzigen Birne in schwindelnder Höhe unter der Decke notdürftig erleuchtet wurde. Die Mauern rochen nach feuchtem Mörtel, wenn man ihnen zu nahe kam. Sonst herrschte der ölige Geruch bohnergewachster, ausgetretener Holzstiegen vor. Schritte näherten sich, deutlich hörbar auf dem knarrenden Holzfußboden. Die Tür wurde entriegelt und geöffnet. Im nächsten Augenblick stand Zappa vor ihm. Noch immer trug er den störrisch-dichten Schnauz-
bart, und das krause Haar mit dem rötlichen Schimmer war so wild und ungebändigt, wie er es in Erinnerung hatte. Nur das offene, lachbereite Gesicht schien eine Nuance müder und mürrischer als früher zu sein. Aber es verzog sich in Sekundenbruchteilen zu einem überraschten Grinsen, als Zappa ihn erkannte. »Das nenne ich einen unverhofften Gast«, rief er freudig aus und gab den Eingang frei. »Seit wann bist du in Haven? Wie lange bleibst du?« »Ich bin heute früh gekommen und bleibe länger.« »Hast du davon gehört, was die Schweine mit deiner Heimatstadt Braven gemacht haben? Ich hatte schon gedacht, du wärst noch dort und mit den anderen umgekommen.« »Ich war in Braven, als die Bombe fiel!« Sie gingen über den posterbestückten langen Flur, und Zappa stockte im Schritt, als er diese Antwort hörte. Er sagte nichts, sondern legte ihm nur mitfühlend die Hand auf die Schulter. »Ich störe doch nicht?« fragte Pandur. »Nach fünf Jahren? Für dieses Wiedersehen würde ich sogar eine Nummer abbrechen. Nein, nein, das Zimmer habe ich abgegeben. Hier wohne ich jetzt.« Pandur hatte gewohnheitsgemäß Zappas altes Zimmer betreten wollen. Zappa öffnete die Nachbartür. Früher hatte er zwei Zimmer in der Wohngemeinschaft bewohnt. Der Raum, den sie jetzt betraten, hatte ihm damals nur zum Schlafen und Arbeiten gedient. Nun säumten die vielen Bücherregale die Wände bis hinauf zu den Stuckverzierungen an der Decke. Die Spiegel über dem Doppelbett, der fünfarmige Kerzenleuchter und die bequemen, mit weißem Tuch überzogenen Sitzelemente fehlten. Statt dessen wurde der Raum beherrscht von einer buchüberladenen Arbeitsfläche aus vier zusammengestell-
ten Tischen. Aus den vier Boxen der Quadro-Anlage hämmerten Elektrogitarren, eingespielt von einem Tonbandgerät mit übergroßen Spulen. Pandur war begeistert und entsetzt, denn was Zappa hier trieb war nicht nur ungewöhnlich – Geräte dieser Art gab es nur noch so wenige, daß sie gestohlen sein mußten – sondern verboten und im höchsten Maße gefährlich. Es wurden Leute schon für geringere Vergehen auf die Haken gespießt. Es brauchte keine Worte, um Pandurs Erstaunen auszudrücken. »Die Geräte habe ich, nun, organisiert«, bestätigte Zappa. »Und die Betriebsmöglichkeit habe ich mir mit der Abgabe meines anderen Zimmers erkauft. Ich wohne mit sehr duften Typen zusammen. Die verraten sowieso nichts. Auch sonst wohnen im Haus fast nur Leute, die ich mag und denen ich weitgehend vertraue. Wenigstens in solchen Sachen.« »Du lieferst dich ihnen aber aus. Du solltest solche offensichtlichen und verräterischen Verstöße unterlassen.« Zappa grinste. »Im Gegenteil. Gerade die lenken ab. Glaubst du, daß mir jemand den braven Spießbürger abnehmen würde, der zu allem ja und amen sagt?« Pandur war zwar nicht ganz seiner Meinung, obwohl Zappa irgendwo auch recht hatte. Er war ohnehin für die Gefahr geboren. Was immer er auch tat, es führte ihn in die Nähe des Feuers. Wenn er über das Feuer hinwegsprang, vor allen Augen seiner Macht spottend, dann war das möglicherweise für ihn tatsächlich die einzige Möglichkeit, ohne Brandblasen davonzukommen. »Setz dich doch. Sicher hast du Hunger. Warte, ich hole etwas aus der Küche.« Zappa verschwand und kehrte eine Weile später mit Rührei und Schinken, einem Brot, Butter und Wurst zurück. Während
Pandur es sich schmecken ließ und zum erstenmal seit Wochen wieder ein Gefühl der Geborgenheit hatte, obwohl in seinem Herzen alles tot war, erzählte er Zappa die näheren Umstände, die ihn nach Haven geführt hatten. Zappa hörte schweigend zu. Erst als von seinem Erlebnis mit Fleur die Rede war, unterbrach er. »Fleur ist nicht mehr Fleur!« Er sprach den Namen das erste Mal wie eine Obszönität, das zweite Mal mit der Begeisterung für eine duftende Rose aus. »Sie ist übergelaufen und träumt vom Aufstieg in die Klasse der Monokelbarone. Vielleicht schafft sie es sogar. Irgendwie verstehe ich sie sogar ein bißchen, gleichzeitig verabscheue ich sie für ihr Handeln. Aber du weißt ja selbst, wie das ist: jahrelang kämpft man ohne spürbaren Erfolg, und dann plötzlich bietet sich die Chance auf ein Leben ohne Plage. Da wird mancher schwach. Nur von Fleur hätte ich es eben doch nicht erwartet. Und nicht so schnell.« »Stimmt es, daß sie sich nur wenige Wochen nach meinem Fortgang diesem Lakaien an den Hals geworfen hat?« »Ja, das ist wahr. Aber sie kannte ihn schon von früher her. Du darfst nicht vergessen, daß Fleurs Vater selbst zu den Lakaien gehört und daß sie eigentlich bei uns nichts zu suchen hatte. Wir waren ja damals auch sehr skeptisch und hielten sie anfangs für einen Spitzel. Das scheint sich nun auf tragische Art doch noch zu bestätigen. Aber für mich ist sie eigentlich auch damals immer ein kleines Mädchen geblieben, das nur mit der Gefahr spielte. Du erinnerst dich daran, ich habe es euch mehrmals gesagt. Ehrlich und mutig war sie, das kann ihr keiner absprechen, aber letztlich fehlte ihr unsere körperliche Erfahrung von Elend und Unterdrückung. Sicher hatte sie schon lange Zweifel, und du warst ihr letzter Halt. Ohne dich ging dann alles sehr schnell.« »Und die Organisation hat sie so einfach gehen lassen?«
»Sie ist keine Verräterin, das wissen wir alle. Die Organisation hat auch mich gehen lassen.« Pandur sah den Freund entgeistert an. »Was erzählst du mir denn da? Du arbeitest nicht mehr für den Untergrund?« fragte er ungläubig. »Nicht so hastig, alter Junge. Ich habe ein halbes Jahr nach Fleurs Abgang die Organisation verlassen. Was ich über Fleur sagte, das gilt irgendwo auch für mich. Ich wollte schon länger gehen, das weißt du, aber du und Fleur, ihr habt mich gehalten. Als ihr nicht mehr da wart, wurden die ideologischen Differenzen immer größer. Du weißt, daß ich schon immer mehr für Taten als für Reden und Taktieren war.« »Aber letzten Endes konnten wir dich immer wieder von den Notwendigkeiten überzeugen!« »Wie gesagt, vielleicht fehlte deine Überzeugungskraft oder Fleurs Sanftheit«, lachte Zappa etwas kläglich. »Irgendwann kommt der Punkt, wo man sich entscheiden muß, ob man einen eigenen Weg einschlägt oder die bequemen Latschen des Selbstbetrugs an den Füßen festwachsen läßt.« »Und weiter?« »Ich arbeite mit einigen Freunden aktiv an der Beseitigung des Systems.« »Die alten Flausen? Robin Hood, Störtebeker, Sozialrebellen? Die Bruderschaft der Gerechten?« »Laß nur. Wir haben Erfolge vorzuweisen.« Pandur wartete. »Du müßtest von uns gehört haben. Wir werden meistens groß herausgestellt, wenn wir das eine oder andere HakenKommando in die Luft jagen.« »Hm, ich verstehe. Bei denen machst du also mit. Leider bieten eure Aktionen den Haken bequeme Vorwände für brutale Gegenmaßnahmen gegen die gesamte Bevölkerung.«
»Wir zwingen sie nur, ihr wahres Gesicht zu zeigen.« »Aber eure Aktionen dienen dazu der Bevölkerung einzureden, jeder Widerstand sei mit blutigen Aktionen verbunden und schlimmer als das, was unter dem System der Haken und Monokel an der Tagesordnung ist. Man stellt die gesamte Opposition als Bande von Meuchelmördern hin. Wir stehen dann vor den Scherben. Die am meisten unter dem Terror des Systems zu leiden haben, lehnen den Kampf dagegen ab, weil sie in wilden Abenteuern keine Perspektiven sehen.« »Immer noch besser, als wenn wir uns alle geduldig in unsere Löcher verkriechen und darauf warten, daß man uns Mann für Mann daraus hervorzieht und auf die Fleischerhaken spießt.« Pandur sah, daß Zappa weitgehend den Optimismus verloren hatte, der früher einmal ein wesentlicher Teil seines Charakters gewesen war. Er glaubte wie Fleur nicht mehr daran, daß die Terrorherrschaft von Haken und Monokel durch das Volk zu kippen war. Aus Verzweiflung hatte er statt Anpassung den anderen Weg gewählt und kämpfte seinen wilden einsamen Kampf. Eines Tages würde man ihn erwischen und auf einem Haken über der Elbe verbluten lassen. Pandur war müde von all den Belastungen des Tages. Zappa verstand. Er bot ihm die Hälfte seines breiten Bettes an, und Pandur nahm dankbar an. Er zog sich aus und war bald eingeschlafen. * Er lebte jetzt seit fünf Tagen bei Zappa, sah diesen aber nur gelegentlich. Praktisch hatte er das Zimmer für sich allein. Zappa war meistens unterwegs. Offenbar plante seine Gruppe eine größere Operation. Er war stets in Eile und vertröstete Pandurs Wunsch nach Kontaktaufnahme mit der Untergrundorganisa-
tion immer wieder auf den nächsten Tag. Tatsächlich hatte Zappa keinen direkten Kontakt mehr zu Mitgliedern seiner früheren Zelle. Es gab ohnehin nur für Pandur einen Nachfolger, für Fleur schon nicht mehr, weil Zappa selbst wenig später ausschied. Dieser Neue hatte den Decknamen Fuchs und war Pandurs Hoffnung auf Kontaktnahme zur Organisation, denn er war offenbar als Rückversicherung für einen sich besinnenden Zappa nicht ausgetauscht worden, während man seine anderen Kontaktleute sicherheitshalber ausgewechselt hatte. Zappa hatte die Adresse von Fuchs vergessen, meinte aber, daß sie etwas mit einem Maler zu tun hatte. Sie würde ihm wieder einfallen, wenn er Zeit hatte, sich darauf zu konzentrieren, war eine seiner Auskünfte. Pandur stöberte in Zappas prachtvoller Bibliothek, hörte Musik oder unterhielt sich mit den Mitbewohnern der Wohnung. Sie wußten weder etwas über Zappas zweites Leben noch über Pandurs Identität. Er galt als Arbeitsloser, der aus Nover gekommen war, um hier sein Glück zu suchen, weil man ihn in Nover sonst zum Cyborg gemacht hätte. Auch Marianne, Zappas Freundin, ahnte offenbar nichts davon, daß Zappa ein gefährliches Doppelleben führte. Als Pandur an diesem fünften Tag in Zappas Zimmer bewußt wurde, daß er hier seine Zeit vertrödelte, fiel ihm gleichzeitig auf, daß er Zappa seit mehr als zwei Tagen nicht mehr gesehen hatte. Zum erstenmal seit er bei Zappa lebte, schaltete er das Radio ein und hörte die Nachrichten ab. Einziges Thema war ein Sprengstoffanschlag von Terroristen auf das Hauptquartier der Hakenpolizei an den Landungsbrücken. Fünf bewaffnete Männer waren dort eingedrungen, hatten Handgranaten geworfen und mit Maschinengewehren um sich geschossen. Dann hatten sie die »Hinrichtungsanlage für Staatsfeinde« zerstört und sich in dem Gebäude verbarrika-
diert. Eine schöne symbolische Tat, Drahtseile zu kappen, an denen die Fleischerhaken mit ihren Opfern zum Ausbluten fast bis zur Mitte der Elbe gezogen wurden, aber sinnlos. Der Nachrichtensprecher forderte die Bevölkerung auf, um 20 Uhr im Fernsehen die Aushebung und Bestrafung der »Staatsfeinde« zu verfolgen. Das Gelände war abgeriegelt, ein Entkommen gab es nicht. Zur publikumswirksamsten Abendstunde würde man die Männer herausholen und töten. Pandur zweifelte nicht eine Sekunde daran, daß Zappa dort an der Elbe in der Falle saß, aber letzte Gewißheit erhielt er durch einen Anruf der in Tränen aufgelösten Marianne. Zappa hatte ihr einen Abschiedsgruß hinterlassen. Er kämpfte seinen letzten verzweifelten Kampf, und er wußte, daß es der letzte war. Wenn man Zappas Identität ermittelte, würde man eine Razzia veranstalten. Aber nicht nur aus diesem Grund verließ Pandur die Wohnung. Er hielt es einfach nicht mehr aus zwischen all den Büchern die einem Mann gehörten, der schon so gut wie tot war. Er packte seine wenigen Habseligkeiten in Zappas lederne Umhängetasche und ging auf die Straße. Es war Wahnsinn, aber es trieb ihn zum Hafen, dorthin, wo Zappa und seine Leute dem Tod geweiht waren. Es war gegen 19 Uhr, als er auf die erste Polizeisperre stieß. Grinsende Hakenmänner mit blitzenden Haken an den Koppelschlaufen standen vor Spanischen Reitern und ließen nur hindurch, wer sich als Anwohner des Bezirks ausweisen konnte. Zu Pandurs Überraschung hatte sich vor der Sperre eine Menschenmenge angesammelt, die sich weder durch die gemeinen Fratzen der Haken noch durch ihre widerliche Bewaffnung daran hindern ließ, ihrer Wut Luft zu machen. Man forderte in Sprechchören freies Geleit für die fünf Männer und beschimpfte die Hakenpolizisten mit »Mörder«-Rufen. Die einzige Reaktion war, daß
eine riesige Fernsehbildwand aufgestellt wurde, auf der das stille Gelände am Fluß gezeigt wurde, in dessen Mitte das Gebäude aufragte, in dem sich die Männer verschanzt hatten. Ohnmächtige Schreie der Wut kamen aus der jetzt mehr als fünfhundertköpfigen Menge, aber wie gelähmt starrten die meisten auf das Bild. Kurz nach zwanzig Uhr fuhren Panzer vor dem Gebäude auf, und wenig später feuerten sie aus allen Rohren fünf Minuten lang. Als sie aufhörten, war das Gebäude nur leicht beschädigt und Pandur begriff, daß hier nur eine üble Show ablief. Während die Panzer von allen Seiten über das Gebäude hinweg ballerten, waren Spezialeinheiten eingedrungen. Als das Feuer eingestellt wurde, öffnete sich das Portal des Haupteingangs, das im Volksmund die »Pforte ohne Wiederkehr« genannt wurde und die Schergen traten heraus. Drei zerschossene Leichen warf man auf die Stufen vor dem Eingang, dann stieß man mit den stumpfen Enden der Haken zwei Gefangene hinaus, denen man die blutigen Mißhandlungen auch ohne Naheinstellung ansah. Aber der Schirm verzichtete nicht auf die Nahaufnahme, und Pandur sah wie versteinert in das von einem Haken blutig aufgerissene Gesicht seines Freundes. Triumphierende Marschmusik dröhnte aus den Lautsprechern, und ein höhnischer Sprecher bereitete auf die »Hinrichtung der Staatsfeinde« vor. Der andere Mann wurde gezeigt, ein blasser Mittvierziger mit schütterem Haar und großen traurigen Augen. Seine Hose war blutgetränkt. Aber er war nur Sekunden im Bild, als die Kamera abrupt zurück auf Zappa sprang. Dieser mußte sich mit unmenschlicher Kraft aus den Griffen seiner Bewacher befreit haben. Er hielt ein Maschinengewehr in den Armen und mähte eine Reihe von Hakenpolizisten nieder. »Sie sind keine Menschen sondern Spezialcyborgs! Tod allen Unterdrückern!« schrie er
dabei mit gewaltiger Stimme über den Lärm hinweg. Dann zerfetzten ihn die Kugeln seiner Gegner und hinterließen ein blutiges Sieb. Mit Zappa starb auch sein unbekannter Freund im Kugelhagel. Zappa hatte die Show vermasselt und eine Anzahl seiner Feinde mit ins Grab genommen. Überdies waren von ihm und seinen Freunden nur Leichen geblieben, denen man keine Schmerzen mehr zufügen konnte. Pandur wollte nicht mehr mit ansehen, wie sie die toten Körper aufspießten, aber er brauchte sich deshalb nicht einmal abzuwenden. Denn mit einem schrillen Splittern zerplatzte plötzlich der riesige Fernsehschirm in tausend und abertausend Stücke, und in diese hinein prasselten noch immer wieder Pflastersteine und andere harte Gegenstände, die der Menge gerade zur Hand waren. Selbst der Lautsprecher wurde voll getroffen, und der widerliche Hetzer verstummte mit einem quakenden Ton. Im gleichen Moment fielen die ersten Schüsse, und kurz darauf schossen die Hakenmänner aus allen Rohren in die Menge hinein. Schreie ertönten, und Körper fielen schwer zu Boden. Die Menge geriet in Panik und setzte sich in Bewegung. Pandur, mittendrin eingekeilt, mußte mit, ob er wollte oder nicht. Mechanisch setzten sich seine Beine in Bewegung, und er rannte mit den anderen die Straße hinab. Ab und zu fiel ein Körper zu Boden, gestrauchelt oder erschossen, wer wußte das schon. Die anderen stürmten über ihn hinweg. Zappa, dachte er bitter, das sind deine Toten. Jeden Moment rechnete er selbst mit einer Kugel, wenn nicht inzwischen sogar Laser eingesetzt wurden, aber er blieb unverletzt. Sirenen ertönten aus beinahe jeder Himmelsrichtung, aber die Menge floß wie Brei auseinander. Pandur lief, was Beine und Kreislauf hergaben, und er wußte genau, daß er um sein Leben lief. Eine Weile hatte er noch Leute neben sich, aber
irgendwann entdeckte er, daß er allein war und daß die Straße dunkel vor ihm lag, ruhig bis auf seinen rasselnden Atem und das Hämmern seines Herzens und natürlich das Tappen seiner Sohlen. Erschöpft hielt er inne. Stumme Fassaden blickten auf ihn hinab, die grauen Gesichter alter Häuser, teilweise tot, teilweise mit gelegentlichen Lichtflecken hinter herabgezogenen Rollos. In der Ferne, ganz weit weg, knatterten noch ein paar trockene Schüsse, vereinzelt nur, und einmal war irgendwo eine Sirene zu hören, so leise wie an einem Spielzeugauto. Als er wieder zu Atem gekommen war und den Schweiß aus dem Gesicht gewischt hatte, ging er müde die Straße hinauf, diese und die nächste, dann noch eine, und plötzlich wußte er, wo er sich befand und was er zu tun hatte. * Pandur starrte wieder einmal hinaus in die Dunkelheit, oder besser auf das Lichtviereck, das ihn anzog wie ein Feuer die Insekten und das auch ähnlich tödlich sein mochte. Er hatte mit dem Ärmel seiner Jacke in Augenhöhe eine Stelle auf der schmutzigblinden Scheibe gesäubert und stand nun oft davor, manchmal am Tage, mehr aber noch in der Nacht. Sein Leben war ein Traum zwischen Lethargie und Unrast, Resignation und Kampfeslust, begleitet von Hunger und bitteren Erinnerungen. Was war noch geblieben? Er fühlte sich elend, so ganz ohne Freunde, ohne eine Perspektive, an seinem Zustand etwas zu ändern, ohne den Mut, etwas zu beginnen. Und er hatte Angst davor, eines Tages hinauszulaufen, zu schreien, wie ein Wahnsinniger zu lachen, wild um sich zu schießen, zu töten. Er wollte nicht wie Zappa enden, sinnlos und verzweifelt. Aber wenn er diesen Schuppen nicht bald verließ, hatte er gar keine andere Wahl. Und doch scheute er die Menschen, die
ihn enttäuscht hatten, die Spitzel, die Verhöre, die Metzger-Instrumente und Gehirnstäbchen der Hakenmänner, die Psychomesser des KNIFE. Er war allein in einem riesigen, langsam verfallenden Gebäude mitten in der Stadt, wo ihn niemand vermuten würde. Es war eine alte Fabrik, vor Jahrzehnten schon als Produktionsstätte aufgegeben. Danach hatten irgendwelche Typen ein Kommunikationszentrum daraus gemacht, schließlich eine riesige Kneipe. Vor mehr als zehn Jahren hatten die Hakenmänner in einer ihrer ersten offenen Terror-Aktionen die Kneipe gestürmt, alles erschossen oder aufgespießt, was sich darin bewegte, einerlei ob Gäste oder Personal, Musiker oder Zuhörer – eine Jazzband spielte gerade –, Männer und Mädchen. Nicht einmal die Kinder, die in einem Teil der alten Fabrik eine Malecke hatten, wurden verschont. Hier verkehrten Systemgegner, hieß es später und das hatte als Vorwand schon genügt. Die Leichen hatte man entfernt, aber die dunklen Blutflecke des Gemetzels waren bis heute nicht verblichen. Selbst wenn die alten Zapfleitungen noch genießbares Bier zum Vorschein gebracht. hätten, Pandur glaubte nicht, daß er jemals so durstig sein konnte, daß ihm in dieser Umgebung ein Bier über die Lippen gegangen wäre. Nicht nach dem schrecklichen Blutbad der Haken. Seit jener Zeit war die Fabrik gemieden worden. Man hatte die Tür versperrt, einen hohen Zaun um das Gelände gezogen und die Schilder mit den gekreuzten Haken angebracht. Man mußte schon verzweifelt sein wie Pandur, um den Zaun zu überklettern und eine der hinteren Türen aufzubrechen. Er war der erste Besucher seit jener Zeit. Wenn er nicht hinausschaute, reproduzierte sein geschultes Gedächtnis das Manuskript, das ihm Brecht in Breven hatte lesen lassen und das ihn als letztes Glied an die Ereignisse der Vergangenheit schmiedete. Brecht war niemals hiergewesen,
soweit Pandur wußte, aber er hatte in dem Manuskript diesen Ort beschrieben, Jahre zurück allerdings, als hier noch Bier floß, Schinken-Sandwiches und Salate verzehrt wurden und Dixieland dröhnte. Selbst der Elefant mit dem wackelnden Rüssel, der auf einer Empore thronte, war in dem Manuskript zugegen, und es fehlten weder die Maschendrahtzäune vor den früheren Werkzeugausgaben, die dicken Sitzbalken noch die Bücher in der kleinen Teestube, in der Pandur jetzt schlief. In diesen langen Tagen, anfangs noch erträglich durch die eingepackten Lebensmittel, hatte Pandur das Brecht-Manuskript immer wieder rekapituliert und studiert. Es sollte zwei Funktionen haben, hatte Brecht vor seinem Tod angedeutet: die Unterdrückten aufrütteln und wichtige Hinweise vermitteln. Es war eine tragische Liebesgeschichte. Ein Student verliebte sich in jenen alten Tagen, vor dem Beginn der Terrorherrschaft der Haken und Monokel in ein Mädchen, aber dieses Mädchen spielte nur mit ihm. Der Student hatte keine besonderen Fähigkeiten, er war eher ein Mann aus der Masse, den die Privilegierten, die es auch damals schon gab, eigentlich gar nicht so gern auf ihrer Universität haben wollten. Aber das Mädchen war ein Mutant, es konnte Dinge buchstäblich in Bewegung bringen und die Zukunft voraussehen. Leider vergeudete sie ihre Fähigkeiten und machte sich ein bequemes Leben. Ihre Fähigkeiten und der Kampfgeist des Studenten, so wollte Brecht wohl zeigen, diese beiden zusammen, hätten es schaffen können, die Welt zu verändern, aber allein waren sie machtlos. Der Student konnte die Situation nicht ertragen und brach die Beziehung ab, innerlich verzweifelt. Er kämpfte verbissen mit stumpfen Waffen um Millimeter, während das Mädchen mit ihren scharfen Schwertern sinnlos in der Luft fuchtelte, nur so zum Spaß und dabei die Falschen verletzte. Was Pandur jetzt so sehr faszinierte an der Story, das war der
Hintergrund. Denn alles spielte in der Umgebung, in der er hier lebte. Die beiden hatten sich auf einer Reise kennengelernt und verkehrten sowohl in der »Fabrik« als auch im »Griechen«, einem Lokal, das sich nach dem Willen des Autors gerade gegenüber jener Fabrik befand, in der Pandur sich versteckte. Es mochte jener Lichtfleck sein, den er immer wieder anstarrte. Und irgendwo hatte er das Gefühl, daß Brecht – oder sein Co-Autor, die Computer-Fehlschaltung Apostroph – ihm zurief: »Mach es anders, mach es besser! – Geh in dieses Lokal, geh zu diesem Mädchen! Gemeinsam seid ihr stark. Dein Wille und ihre Kraft, gemeinsam hebt ihr die Welt aus den Angeln. Dein Wille wird Kraft, ihre Kraft wird Wille.« Aber es konnte eine Falle sein, denn Apostroph 3 war zum Verräter geworden. Die entscheidende Frage war dabei, wann der Verrat stattgefunden hatte, vor oder nach dem Eintreffen der Hakenmänner in Brechts Wohnung. Wenn KNIFE das Manuskript kannte und Pandurs Überleben argwöhnte, vielleicht sogar seine Spur nach Haven verfolgt hatte, dann warteten in der Nähe des Lichtflecks die Häscher auf ihn. Aber gab es für ihn überhaupt eine Alternative? Apostroph 3 war feige gewesen, feiger als seine beiden Vorgänger, aber vielleicht nicht durch und durch korrupt. Und Brecht hatte mehr gewußt, als er ihm vor seinen Tod noch sagen konnte. Das Manuskript konnte Teil einer Falle sein, oder es war ein Ausweg. In jedem Falle schien der Weg zu beiden Möglichkeiten über die im Manuskript vorkommenden Orte zu führen, vor allem zum »Griechen«, wo die entscheidenden Weichen für die Story des Manuskriptes gestellt wurden. Oder war das Ganze vielleicht doch nur ein Wahn, in den er sich verrannt hatte, weil er sich früher einmal mit Textanalysen von Literatur beschäftigt hatte? Aber selbst diese letzte Möglichkeit war nur zu belegen oder zu verwerfen, wenn er konkrete Nachforschungen am
Ort unternahm. Er mußte herausfinden, ob es in dieser Stadt so etwas gab wie ein Orakel. Das war der springende Punkt. Die Love-Story, die Kneipen, die Probleme des Studenten – das waren alles nur Staffage dafür, daß ein Mutantenmädchen die Zukunft voraussagen konnte und über weitere Fähigkeiten verfügte, mit deren Hilfe uneinnehmbare Bastionen der Haken und Monokel auszuspionieren und zu nehmen waren. In der Story kam noch ein Ungeheuer vor, ein zehnter künstlicher Mensch des Dr. Frankenstein. Dieses Wesen, ein Gigant mit gestörtem Hirn, war im Grund eher gutmütig und loyal gegenüber Menschen ohne Macht, aber unberechenbar in seinen Emotionen. Es brachte den Helden der Story auf die Spur des Mädchens, als die Verbindung abgerissen war, aber auch Frankensteins zehntes Kind konnte den beiden letztlich nicht helfen, als sie sich selbst nicht halfen. Dieser Teil der Story war am ehesten dem Reich der Phantasie zuzuordnen. Aber der Student ging in den »Griechen«, traf dort das Ungeheuer und näherte sich seinem Ziel beträchtlich. Pandur, den die Entschlußkraft seit den Ereignissen der letzten Tage verlassen hatte, hätte vielleicht auch jetzt noch gezögert, den entscheidenden Schritt zu tun, wenn nicht der Hunger gewesen wäre. Er mußte seinen Schlupfwinkel verlassen. Wie hypnotisiert starrte er auf das Licht dort draußen. Er hatte beobachtet, daß Arbeiter und Cyborgs, hauptsächlich Cyborgs, in der Kneipe verkehrten, die er so sehr im Auge hatte. Dies war eine Arbeitergegend. In plötzlichem Entschluß stopfte Pandur seine paar Besitztümer in Zappas Umhängetasche, kroch in den alten Ledermantel und warf den Riemen der Tasche über die Schulter. In der Tasche befanden sich sein Vorderlader und Munition, ein Messer und das Einbrecherwerkzeug, ein paar Fotos aus glückli-
chen Tagen und ein paar Cassetten mit Blues von Lightnin, Hopkins, Leadbelly, Roosevelt Sykes und anderen, die er irgendwann wieder zu hören hoffte. Er mußte nicht nach Spuren seiner Anwesenheit suchen, die zu beseitigen waren, denn er wußte, daß er nichts hinterlassen hatte, abgesehen davon, daß dieses Lokal ein Museum mit den Spuren unzähliger Toter war, die Scherben, halbvolle Gläser, Zigarettenkippen, Schlüssel und den zerstreuten Inhalt von Handtaschen hinterlassen hatten, als der Tod über sie kam. Und wenn alles verraten war, konnte ihm auch die Entdeckung seiner Fußspuren im Staub nicht mehr schaden. Er stieß die Tür auf und schlüpfte in die Dunkelheit hinaus. * Als Pandur sich den Zaun hinabfallen ließ und sich vergewissert hatte, daß ihn niemand beobachtete, wurde er ein anderer Mensch. Er erhob sich aus seiner Hockstellung hinter dem kleinen Schuppen und schlenderte mit lässigen Bewegungen hinter der Bude hervor. Dabei knöpfte er sich im Gehen die Hose zu, als habe er in der Dunkelheit sein Wasser abgeschlagen. Das war gar nicht nötig, denn niemand schien in der Nähe zu sein, aber Pandur blieb konsequent in seiner Rolle. Gemessenen Schrittes wechselte er die Straßenseite, konnte aber nicht verhindern, daß ihm das Herz bis zum Hals hinauf schlug, als er sich der bewußten Kneipe näherte. Die Scheiben des Lokals waren blind vor Schmutz, lediglich schwaches Licht, gefiltert durch grüne Vorhänge, drang nach draußen. Und doch hatte dieses Licht ausgereicht, ihn Stunde um Stunde darauf starren zu lassen. Die Tür war aus solidem Holz, aber wenn man direkt davor stand, dann erreichten unterdrückte Musikfetzen und Stimmen aus den dahinterliegenden
Räumen das Ohr. Daß es sich tatsächlich um eine Kneipe handelte, bewiesen die schmutzverkrusteten Leuchtstoffröhren, die kaum mehr brannten. »Taverna…«, las Pandur, mehr war nicht auszumachen. Dann stieß er die Tür auf. Sofort umfing ihn warmgelbes Kerzenlicht, kräuselnder blauer Rauch, dicke, warme Luft und sympathischer Lärm. Gläser klirrten, aus der Musikbox flossen schwermütige Sirtaki-Klänge, und an den runden Tischen saßen Gäste, die sich laut unterhielten. Pandur war sehr zufrieden damit, daß alle Tische der Kneipe besetzt waren und kaum jemand Notiz von ihm nahm. Er erhielt nur einige knappe, desinteressierte Blicke und setzte sich auf einen freien Hocker an der Theke, bestellte zu essen und ein Bier. Das war es also für den Moment. Es war ein griechisches Lokal, dem Namen wie der Musik nach, und er war hineingegangen. Neben ihm saß ein riesiger Kerl mit Glatze und groben Gesichtszügen. Er starrte schwermütig und stumm in sein Bier. Schwer zu sagen, ob es ein Cyborg war oder ein normaler Sterblicher. Gut die Hälfte der Gäste war dagegen eindeutig als Cyborgs kenntlich, der Rest bestand aus Arbeitern, die wohl wie die Cyborgs in den umliegenden Fabriken arbeiteten. Mädchen sah er nur zwei oder drei, darunter eines am Tisch direkt neben der Theke. Cyborgs interessierten sich nicht für Mädchen. Auch nicht für Männer, denn sie waren geschlechtslos und ohne sexuelle Interessen, soviel man wußte. Sie waren künstliche Menschen, denen man menschliche Gehirne eingepflanzt hatte, Mißgeburten des Systems. Man stellte billige Synthetikkörper am Fließband her, setzte ihnen die kastrierten Gehirne von Systemgegnern oder auch beliebigen anderen Menschen ein und ließ sie arbeiten, arbeiten, arbeiten. Nach zehn oder zwanzig Jahren waren die Körper aufgebraucht, hieß es. Dann sollten
die Gehirne umgepflanzt werden auf neue Körper. Aber die ältesten Cyborgs waren erst sechs oder sieben Jahre alt. Die künstlichen Körper sahen durchaus nicht gleich aus, die Fabrikationsanlagen spuckten tausenderlei Varianten aus, gewollte und Fabrikationsfehler. Außerdem stellte sich heraus, daß das Gehirn den Körper veränderte. Niemand hatte bisher eine Erklärung dafür gefunden. Aber man erkannte die Cyborgs an ihren blutlosen, weichen Gesichtern ohne Bart und Haarwuchs. Pandur wußte, daß seit zwei Jahren tausende von Arbeitern, die gar nichts gegen das System unternommen hatten, zu Cyborgs gepreßt wurden, einfach deshalb, weil man die Cyborgs besser kontrollieren und schärfer arbeiten lassen konnte. »Gianni!« rief das Mädchen am Nebentisch, und Pandur sah ungewollt zu ihr herüber. Er verhielt einen Moment, obwohl es sonst nicht seine Art war, Menschen zu fixieren. Aber das Mädchen war bemerkenswert schön. Das dichte brünette Haar, das leicht ins Kastanienbraun hineinspielte, trug sie offen und lang, das Gesicht war fein geschnitten, mit großen braunen Augen darin. Sie trug Jeans und eine elegante Hemdbluse, die an der Taille gegürtet war. Wer immer Gianni sein mochte, es kamen vier schwarzgelockte Jungen an ihren Tisch. Sie lachte und unterhielt sich mit ihnen. Ihr Begleiter, der die anderen offenbar nicht kannte, saß still und unbeachtet neben ihr. Drei der Jungen verschwanden schließlich, aber einer blieb, Gianni sicherlich. »Wenn du die 165 drückst, dann tanze ich mit dir, Gianni«, sagte das Mädchen honigsüß und blickte Gianni schmachtend an. Dieser sah verlegen auf den Begleiter des Mädchens, aber der machte eine müde Handbewegung. Gianni ging zur Box, drückte einen Titel, der auch sofort angespielt wurde, weil die Box gerade still geworden war und tanzte mit dem Mädchen.
Sie bewegte sich verführerisch zu den griechischen Tanzrythmen, aber Gianni blieb eher kühl. Er schielte zum Tisch, wo der andere Mann saß. Sie tanzten ein zweites und ein drittes Mal zu der gleichen Nummer 165, die Gianni immer wieder drücken mußte. Pandur führte es auf seine tagelange Einsamkeit zurück, daß er dieses Geschehen derart intensiv in sich aufnahm, aber auch das kleine, rundliche Serviermädchen blickte aus der Küche beim Abwaschen erst auf das tanzende Paar, dann auf den Begleiter des Mädchens und machte eine unbewußte, bedauernd-resignierende Schulterbewegung. Aber irgendwann hörte das Mädchen doch zu tanzen auf, vielleicht weil sie müde war, vielleicht weil sie Gianni nicht aus der Reserve hatte locken können. Ihr Begleiter zahlte die Getränke, und das Paar verließ das Lokal. Gianni blieb. Pandur witterte ein menschliches Drama hinter dem Geschehen und wurde in seiner trüben Stimmung der vergangenen Tage nur noch bestärkt. Er war nun wieder unter Menschen und hatte auch schnell wieder vor Augen, wie die sich das Leben schwer machten. Aber in der Sache war er noch keinen Schritt vorangekommen. Er nahm einen großen Schluck Bier. »Sag mal, Kumpel«, sprach er den Glatzkopf neben sich an, von dem er nicht zu sagen vermochte, ob er ein Cyborg war oder nicht. »Ich komme aus Nover und kenne mich hier nicht aus. Du bist hier wohl zu Hause?« Der Mann wandte sich ihm zu. Ein grobschlächtiges, aber nicht brutales, sondern eher kindlich-naives Gesicht schaute ihn an. Kein Cyborg, entschied Pandur, aber doch irgendwie – künstlich. Vielleicht eine Gesichtsplastik nach einem Unfall? »Magst du noch ein Bier?« Der Mann nickte ernst, und Pandur gab dem Wirt ein Zeichen.
»Gibt es viele Kneipen in der Gegend?« »Nicht viele.« »Und weiter unten am Fluß?« »Dort Bosse wohnen. Nicht gut für uns. Du Arbeiter?« »War ich. Bin rausgeflogen. Will es jetzt hier versuchen.« »Du okay. Gol nie irren!« Offenbar mochte ihn der Koloß. Auch Pandur hatte den Eindruck, daß hier vielleicht ein einfacher, aber ehrlicher Mann neben ihm saß, künstlich oder nicht. »Sag mal, ich habe etwas läuten gehört von einem Mädchen, das hier in der Gegend wohnen soll. Sie soll besondere Fähigkeiten haben und auf unserer Seite sein. Weißt du etwas darüber?« Der Mann dachte eine Weile nach, als versuchte er den Sinn der Worte zu erfassen. Pandur wollte gerade zu einer neuen Umschreibung ansetzen, als Gol sagte: »Du meinen Orakel?« Er erstarrte. Sollte sich das Manuskript tatsächlich bewahrheiten? Unglaublich! »Ja, so nannte man sie«, erwiderte er so lässig es ihm möglich war. »Du eben sehen. Sie hier. Nadia. Dort sitzen. Tanzen. Nadia.« Er zeigte auf den Nachbartisch, wo das Mädchen gesessen hatte und fügte hinzu: »Sie für uns, aber sonst nicht viel gut.« »Dieses Mädchen war das Orakel?« fragte Pandur ungläubig. »Mann, ich muß sie unbedingt sprechen. Weißt du, wo sie wohnt?« Wieder überlegte der Mann sehr lange, bevor er antwortete. »Gol wissen. Gol dich führen.« Spontan griff Pandur die Hand des mächtigen Mannes und drückte sie. Ein Lächeln erhellte das starre Gesicht des Mannes. Schweigend tranken sie ihr Bier aus. Pandur zahlte und sie gingen in die Nacht hinaus.
* Mit schweren Schritten schritt der Koloß vor ihm durch die nachtdunklen Straßen, aber Pandur hatte nicht eine Sekunde lang das Gefühl, daß ihm in Gesellschaft dieses Gol Gefahr drohte. Dabei sah der Mann durchaus wie eines jener Filmungeheuer des Dr. Frankenstein aus. Das war das Stichwort, das ihm schlagartig wieder das Manuskript in Erinnerung brachte. Das zehnte Kind des Dr. Frankenstein… Mit schnellen Schritten schloß er zu Gol auf und versuchte, ein Gespräch mit dem stummen Gesellen zu beginnen. »Meinst du nicht, daß wir zu dieser späten Stunde ungelegen kommen? Ihr Freund wird auch nicht erbaut sein.« »Nadia Nachtmensch. Am Tag schlafen. Nachts immer Zeit.« »Was ist sie für ein Mädchen?« »Nadia machen Sprüche. Zukunft sehen. Manchmal. Manchmal Arbeitern helfen. Voraussehen, wenn Gefahr drohen durch Haken.« »Du traust mir so bedingungslos und fragst nicht einmal, was ich von Nadia will. Ich könnte ein Spitzel sein.« Zum erstenmal, seitdem sie das Lokal verlassen hatten, sah ihm Gol wieder voll ins Gesicht, stockte aber nicht im Schritt. »Gol nie irren! Wenn doch irren, Gol töten.« Das klang ganz nüchtern, aber Pandur zweifelte weder daran, daß es Gol ernst war mit dieser Ankündigung noch daß er physisch dazu in der Lage war, einen Menschen mit bloßen Händen umzubringen. »Gol, gehörst du einer Untergrundbewegung an?« fragte Pandur. »Nein. Gol dort mehr schaden als gut machen. Zu auffällig. Zu viele Probleme selbst. Aber Gol sein Herz dort.« »Ich gehöre zu diesen Leuten. Ich hoffe, daß Nadia uns hel-
fen kann.« Dieses Geständnis würde ihm auch nicht mehr schaden können, falls der Mann ein besonders gut getarnter Spitzel war. Und Pandur hatte keine Rücksicht zu nehmen, weil er unter der Folter nichts verraten konnte. Gol nickte und schwieg. Ein eigenartiger Kauz, dachte Pandur, aber irgendwie mochte er ihn. Die kalte Nachtluft ließ ihn nicht ermüden, aber seine Füße taten ihm bereits weh. Und doch überraschte es ihn, als Gol nach einer Weile sagte: »Hier Nadia wohnen.« Pandurs geschultes Gedächtnis hatte den Weg längst nach dem Stadtplan identifiziert und wußte, daß sie nur wenige hundert Meter von der Elbe entfernt waren. Dies war früher eine Feine-Leute-Gegend gewesen, aber heute hatten sich die Privilegierten in andere Stadtteile verzogen. Die einst pompösen Villen standen zerfallen und verlassen am Straßenrand. Gol zeigte auf ein Haus mit dicken imitierten griechischen Säulen und einer neoklassizistischen Fassade, alles versteckt hinter einem verwilderten Garten. In einem Zimmer brannte hinter roten Vorhängen ein Licht. Selbst aus der Entfernung wirkte der einst prachtvolle Bau grau, zerfressen und schäbig. Verrostete Angeln zeigten an, daß früher ein schweres Portal den Garten von der Straße abgeschirmt hatte. Der Eindruck der Trostlosigkeit und Verfallenheit verstärkte sich mit jedem Schritt, den die beiden Männer auf einem Trampelpfad im verwilderten Vorgarten zurücklegten. Für einen winzigen Moment kam Pandur der Garten vor Fleurs Haus in Erinnerung, aber er verbannte den Gedanken sofort in den hintersten Gehirnwinkel. Gol zog irgendwo an einer Schnur. Zu hören war zunächst nichts, aber dann klappte eine Tür. Sekunden später huschte ein Schatten über das Spionauge in der Haustür. Der Schatten
verschwand, die Tür wurde entriegelt und geöffnet. Vor ihnen stand das Mädchen aus dem Lokal. Sie wirkte eher gleichgültig als überrascht und gab den Eingang frei. Worte wurden nicht gewechselt. Pandur ließ Gol den Vortritt und folgte ihm ins Haus. »Freund«, sagte Gol jetzt. »Will Nadia.« Witzbold, dachte Pandur. Nadia beachtete ihn nach einem flüchtigen Blick beim Öffnen überhaupt nicht, sondern ging schweigend einen Korridor entlang bis zur offenstehenden Tür eines Zimmers, aus dem ein Lichtschimmer drang. Es sah so aus, als würden die anderen Räume des Hauses nicht benutzt. Leise Musik umfing die späten Besucher, als sie das Zimmer betraten. Moustaki, meldete sich Pandurs Gedächtnis. Griechischer Sänger und Komponist, der in Frankreich lebte. Das Zimmer wirkte etwas unordentlich, aber flauschig-versponnen weiblich. Das Mädchen streckte sich lässig auf einer Liege aus und wartete. Die Männer setzten sich auf den Teppich. Pandur wunderte sich vage, daß das Mädchen allein war. Niemand sprach, aber Pandur spürte doch eine unterschwellige Nervosität des Mädchens. Sie gab sich eiskalt und überlegen, war im Grund aber wohl ziemlich ratlos. Pandur hatte sich die Sache vorher genau zurechtgelegt. Ein Zurück gab es nicht mehr. Er konnte nur mit Offenheit gewinnen, so wie bei Gol. Im Unterschied zu Gol hatte er zu diesem Mädchen jedoch kein Vertrauen. Aber den Hakenmännern genügten schon die Umstände der Kontaktaufnahme zu Nadia, falls sie davon erfuhren. Da konnte er auch voll auspacken. Man starb nur einmal an den Metzgerhaken. »In Breven gab es einen Mann, der schrieb Geschichten«, setzte er deshalb an. »Er war unter seinem Pseudonym eigentlich sehr bekannt, hatte eine Menge Veröffentlichungen. Ein Mann des Widerstands.«
Pandur beobachtete Nadia aus den Augenwinkeln, aber die blickte regungslos ins Leere, man konnte kaum erkennen, ob sie zuhörte. Aber sie hörte zu, aufmerksam sogar. »Bevor er starb, gab er mir ein Manuskript zu lesen, das er unter Mitwirkung einer inzwischen ebenfalls ausgelöschten Computereinheit, die gegen KNIFE rebellierte, geschrieben hat. Es sollte legal im Druck erscheinen und war deshalb eine Allegorie, obwohl es gleichzeitig Informationen für die Untergrundbewegung enthielt.« »Und?« fragte Nadia in Pandurs erneute Pause hinein und blickte ihn den Bruchteil einer Sekunde lang mit irritierend funkelnden Augen an. Dann starrte sie wieder, fast gelangweilt in die Luft und wiegte den Kopf im Takt der Musik. Pandur ließ sich durch die Ablenkungsmanöver des Mädchens nicht täuschen. Das Mädchen war an seiner Geschichte interessiert. Das war eigentlich erstaunlich. »In diesem Manuskript gibt es eine Sibylle, ein Orakel, und zwar in dieser Stadt, in Haven. Dieses Mädchen hilft der Untergrundbewegung mit ihren besonderen Talent. Ich glaube nicht an Zufälle, deshalb frage ich dich, ob du diese Sibylle bist. Ich habe Anlaß, dies zu vermuten.« »Ich heiße Nadia.« »Das beantwortet meine Frage nicht. Nadia, Sibylle – das sind nur Namen. Ich heiße Pandur und bin doch ein anderer. Was soll das also?« Er wurde ungewollt scharf, weil ihm das Spiel des Mädchens nicht gefiel, selbst dann nicht, wenn er in Rechnung stellte, daß sie vorsichtig sein mußte, wenn sie tatsächlich mit dem Untergrund sympathisierte. »Leute, die Fragen stellen, sind meistens von der Hakenpolizei«, sagte das Mädchen. »Bist du ein Bulle? Ein Hakenbulle?« »Würde Gol dir einen Haken ins Haus bringen?« konterte
Pandur. »Was willst du von mir?« fragte das Mädchen. »Wenn du die Zukunft wirklich sehen kannst, dann weißt du, welche Pläne der Untergrundbewegung Erfolg haben und welche nicht. Du kannst die Bewegung vor Fehleinschätzungen und verhängnisvollen Fehlern bewahren. Die Sibylle in dem Manuskript hatte überdies Fähigkeiten, die uns helfen könnten, die Fluchtburgen und Computerzentren der Gegner auszukundschaften und lahmzulegen.« »Ich helfe, wo ich kann.« »Aber nur im kleinen, wenn ich richtig informiert bin. Du könntest der Bewegung zum Siege verhelfen!« »Haben dich die Führer der Bewegung beauftragt, mir diesen Vorschlag zur Kooperation zu machen? Bist du selbst ein führender Kopf der Bewegung?« »Ich kenne nicht ein einziges Mitglied der Bewegung, nachdem meine Kontaktpersonen tot sind. Auch deshalb bin ich bei dir. Du sollst mir helfen bei der Kontaktaufnahme zu anderen Untergrundkämpfern.« »Ich helfe gern, aber ich arbeite nicht gern in der zweiten Reihe. Könntest du mir eine Besprechung mit den Führern der Untergrundbewegung vermitteln, wenn du wieder mit ihnen Kontakt hast?« »Kaum. Wie du vielleicht weißt, ist die Organisation nach dem Zellenprinzip gegliedert, damit bei Verrat nicht die gesamte Organisation vernichtet wird. Ich glaube nicht, daß ich dich direkt mit führenden Männern zusammenbringen könnte. Ich sehe den Grund auch nicht ganz ein.« »Vergiß es. Das war nur so eine blöde Idee. Ich arbeite auch so mit.« Irgendwie verwirrte ihn dieses Mädchen immer mehr. Oder lag es daran, daß Nadia ihn nur mit ihrer Schönheit aus dem
Konzept brachte? Nein, eigentlich war es doch mehr ihr Verhalten. »Entschuldigt mich mal«, sagte Nadia und erhob sich. Sie verließ den Raum und schloß die Tür. Ein eigenartiges Mädchen in einem eigenartigen Haus, dachte Pandur wieder. Eine verkommene Luxusvilla, Plüsch und Stereoanlage, verwilderter Garten und moderne Antennen auf dem Dach. Das war’s. Wie elektrisiert sprang Pandur auf. Sein geschultes Gedächtnis hatte ihm gerade die Frontansicht des alten Gebäudes reproduziert. Nein, das waren nicht nur gewöhnliche Rundfunk- oder Fernsehantennen auf dem Dach. Das war die Antenne einer Funkanlage. Er machte Gol durch Zeichen klar, daß er sich ruhig verhalten sollte und öffnete leise die Tür. Aus einem Nebenzimmer drang leises Sprechen. Pandur schlich sich auf Zehenspitzen dorthin und lauschte an der Tür. »… gehört zum Untergrund, hat derzeit aber keine Kontakte. Was soll ich tun?« Die Antwort konnte Pandur nicht verstehen, aber er hörte, wie das Mädchen antwortete: »Ich erwarte das Kommando in zehn Minuten und halte die beiden so lange fest.« Er schlich sofort zurück und informierte Gol. »Die Schlange hat uns gerade an die Hakenpolizei verpfiffen. Die sind in zehn Minuten hier!« Gol starrte ihn an, und Pandur sorgte sich schon, daß er ihn nicht verstanden hatte. Aber der Koloß hatte genau verstanden. »Gol nie irren«, sagte er dumpf. »Aber wenn doch irren, dann töten.« »Das hilft jetzt auch nicht mehr. Wir müssen sofort fliehen!« Pandur hörte Nadias Schritte und bat Gol inständig um
Ruhe. Nadia betrat den Raum und lächelte. »Wir sollten uns darüber unterhalten, wie wir unsere Zusammenarbeit angehen können«, sagte sie. Gol hatte sich erhoben und ging auf das Mädchen zu, ungeachtet aller Beschwörungsversuche Pandurs. »Gol töten, wenn irren! Nadia uns verraten! Nadia sterben!« Nadia wurde kreidebleich und wich zurück. »Was ist denn los mit dir, Gol? Du weißt doch, daß ich zu euch gehöre!« »Wir haben deinen Verrat durchschaut, und jetzt wird Gol dich töten«, sagte Pandur. Er schnitt ihr den Weg zum Korridor ab. * Das Mädchen machte keinen Versuch mehr zu leugnen und starrte mit angstgeweiteten Augen auf Gol. Obwohl Pandur für sie nur noch Verachtung hatte, tat sie ihm leid. »Bitte«, flehte das Mädchen. »Ihr wißt nicht, womit sie mich in ihre Dienste gezwungen haben. Tötet mich nicht. Ich will noch nicht sterben.« Pandur zog seinen Vorderlader aus der Ledertasche und richtete ihn auf Nadia. Wenn sie ihre letzte Chance auf Flucht wahren wollten, dann mußte das Mädchen sofort sterben. Sie würde den Hakenmännern verraten, wohin sie geflohen waren. In diesem Moment hörte er draußen die Sirenen der Hakenpolizei. Sie waren so nahe und kamen von allen Seiten, daß seine Hoffnungen wie Seifenblasen zerplatzten. Sie waren verloren. Gol hatte die Sirenen ebenfalls gehört und stockte in der Bewegung, die gerade Nadias Hals gegolten hatte. Das Mädchen nutzte die kurze Verwirrung und versuchte zu entkommen. Aber Gol hatte Reflexe, die man in seinem klobigen Körper
niemals vermutet hätte. Er erwischte Nadia am Oberarm und umklammerte ihn wie ein Schraubstock. Das Mädchen schrie vor Schmerz auf. »Laß sie am Leben«, bat Pandur. »Ihr Tod kann uns nicht mehr helfen. Kämpfen wir lieber gegen die Haken.« »Nadia Verräter. Sie sterben«, beharrte der Koloß. »Ich weiß einen Fluchtweg«, flehte das Mädchen. »Ein Tunnel unter dem Haus bringt uns bis an die Elbe. Niemand außer mir kennt diesen Weg, und auch die Haken werden ihn nicht entdecken.« Sie rannten hinter dem Mädchen her, das sie in den Keller des Hauses führte und dabei eine Reihe von Türen hinter der Gruppe schloß. Das Haus hatte einen doppelstöckigen Keller, was Pandur noch niemals gesehen hatte. Oben im Haus hörte man bereits gestiefelte Beine rennen. Nadia verschloß eine Tür vor ihnen und führte sie dann in einen Gang, dessen Tür sie geöffnet ließ. Offenbar hoffte sie die Verfolger damit zu tauschen. Der Gang endete als Sackgasse, aber das Mädchen schien zu wissen, was sie wollte. Sie bat Pandur, sie hochzuheben. Er bemerkte, daß sie einen gertenschlanken Körper hatte, sich sehr weich und weiblich anfühlte und nach Mädchen duftete, als er verständnislos ihrem Wunsch nachkam. Sie streckte die Arme aus und drückte dicht unter der Decke gegen die Wand, die dort nicht anders aussah als überall. Die Wand begann sich zu bewegen, als sei sie an der einen Seite in einem Scharnier gelagert. Pandur setzte das Mädchen behutsam wieder ab und genoß es gegen seinen Willen sogar, als ihr Körper an seinem herunterrutschte. Ihre Hände ruhten sekundenlang leicht auf seinen Schultern und ihr Gesicht war dem seinen so nahe, daß sich ihre Wangen berührten. Sie sah ihn mit ihren großen, leicht spöttischen braunen Augen an. Ihre Lippen wölbten sich leicht vor, als erwartete sie, daß er sie küssen würde. Aber bei
aller sinnlichen Erregung haßte er sie für das, was sie getan hatte. Sie war und blieb eine Verräterin, wenn auch eine sehr hübsche. Pandur spürte ein Lächeln hinter ihrem abwartenden Gesicht, dem sie aber nicht erlaubte hervorzutreten, als sie Pandurs Ablehnung spürte. Sicher widerstanden ihr die Männer selten, und an ihrem leichten Zittern erkannte Pandur jetzt sogar eine Spur von Angst. Er entließ das Mädchen aus seinem Griff, und die drei Menschen schlüpften hinter die Wand, nicht ohne zuvor noch das verräterische Licht in diesem Teil des Kellers auszuschalten. Sie befanden sich in einem roh verputzten Tunnel, der durch schwache Notlampen in ein trübes Licht getaucht wurde, als Nadia einen von mehreren rot leuchtenden Knöpfen neben dem Eingang drückte. Auf einen zweiten Knopfdruck hin schwenkte die Wand in ihre alte Position zurück. Sie sah sehr robust aus und würde den Feinden selbst dann eine Weile standhalten, wenn diese den Fluchtweg entdecken sollten. Nadia kam Pandurs Frage zuvor. »Auch früher hatten die Menschen Angst«, sagte sie leise, während sie den Männern bedeutete, ihr zu folgen. »Hakenmänner gab es noch nicht, wohl aber Atombomben. Und die Reichen bauten sich eben ihre Bunker, Tunnel oder was sich gerade ergab und hofften damit der Vernichtung zu entgehen. Dieser Tunnel hier, der bis an den Fluß führt, ist das Produkt dieser Bombenangst.« Der Weg führte steil bergab. »Woher kennst du diesen Bunker?« fragte Pandur scharf. »Bist du sicher, daß unser Weg nicht zu einer Fluchtburg der Monokelbarone führt?« »Mein Vater hat ihn bauen lassen«, flüsterte das Mädchen. »Ich glaube nicht, daß irgend jemand darüber Bescheid weiß.« Pandur schwieg. Wenn das Mädchen die Wahrheit sagte, dann war trotzdem zu befürchten, daß die Information über
die Existenz des Bunkers in KNIFE gespeichert war und zutage gefördert wurde, wenn KNIFE von ihrer Flucht erfuhr. Aber er äußerte seine Befürchtung nicht. Sie kamen an das Ende des verputzten Tunnelstücks, und Pandur sah voller Erstaunen, daß ein Gewirr roh behauener Gänge vor ihnen im Dunkel lag. Wieder kam das Mädchen seiner Frage zuvor, während es aus einem kleinen Schrank in einer Nische Stablampen nahm und jedem eine gab. »Ursprünglich wollte mein Vater nur einen röhrenförmigen Fertigbunker eingraben lassen«, erklärte sie, während sie ihre Stablampe einschaltete. Die Männer folgten ihrem Beispiel, und das Mädchen schaltete die Lichter des Fluchttunnels aus. »Dann jedoch stießen die Bauarbeiter auf diese unterirdischen Gänge, die von Menschen lange vor unserer Zeit angelegt worden sein müssen. Er bestach die Arbeiter mit größeren Summen, damit sie nichts verrieten und ließ nur dieses Verbindungsstück bauen. Ich war damals noch ein Kind und habe von dem Geheimnis erst kurz vor dem Tod meines Vaters erfahren, vor zwei Jahren etwa. Aber ich erinnere mich, daß mein Vater sich oft im Keller einschloß und dann nicht gestört werden durfte. Er hat diese Höhlen und Gänge erforscht und auch den eigentlichen Eingang gefunden, der gut getarnt in der Nähe des Flusses liegt. Aber unbesorgt, diese Höhlen sind nicht mit anderen Höhlensystemen der Haken und Monokel verbunden.« Pandur war fasziniert. Aber er vergaß nicht eine Sekunde lang, was sie unter die Erde getrieben hatte. »Führe uns zum Ausgang«, forderte er von dem Mädchen. Aber zuvor wollte er noch einige Lücken in der Erzählung aufdecken. »Was wird aus mir, wenn wir den Ausgang erreicht haben?« fragte sie unsicher. »Werdet ihr mich töten?«
Pandur überlegte. »Wenn du uns in keine Falle führst, verspreche ich dir, daß dir nichts geschieht.« »Und Gol?« fragte das Mädchen. »Gol hassen. Aber wenn Nadia Ausweg zeigen, dann nicht töten.« Der klobige große Mann mit der mühsamen Sprache schwieg wieder. »Ich zeige euch den Ausgang«, sagte Nadia mit einer Spur von Erleichterung. »Aber jetzt werden mich die Haken jagen wie euch.« »Vielleicht eilt es nicht so sehr, wieder an das Tageslicht zurückzukehren«, meinte Pandur. »Für den Moment sind wir hier sogar sicher. Aber der Hunger wird uns hinauszwingen.« »Durchaus nicht«, antwortete das Mädchen. »Du vergißt, daß mein Vater sich und seine Familie während eines Atomkrieges hier verstecken wollte. Es lagern hier Vorräte, die für Jahrzehnte reichen würden.« »Dann führe uns dorthin«, entschied Pandur. Das Mädchen führte sie sicher und zielstrebig durch das Labyrinth, bis der Weg wieder in einer Sackgasse endete. Dieses Mal mußte er Nadia nicht hochheben, was er sogar ein bißchen bedauerte, denn der Kontaktpunkt für die Kippwand befand sich in Reichweite. Wenig später standen sie in einer wohnlich eingerichteten Höhle. Nadia zündete einige Kerzen an. Der Raum war behaglich möbliert mit Sitzelementen, die sich zu bettähnlichen Liegen zusammenschieben ließen und überall mit Teppichen und Fellen ausgelegt. In einer Nachbarhöhle stapelten sich Kartons mit Vorräten bis an die Decke. »Sehr gemütlich«, gab Pandur zu und warf sich auf die Polsterung. Auch Gol setzte sich. Pandur winkte die zögernde Nadia zu sich heran und drückte sie neben sich auf das Sitzelement. »Man merkt sofort, daß man bei feinen Leuten ist«, grinste
er. »Aber vergiß nicht: Du bist in unserer Schuld, und wir trauen dir nicht. Du wirst dich nicht aus unserer Nähe entfernen, klar?« Nadia nickte, obwohl ihr diese Unterwerfung sichtlich schwer fiel. »Dein Vater muß sehr reich gewesen sein?« fragte Pandur. »Und doch war er kein Monokelbaron, kein Adeliger?« »Nein«, antwortete das Mädchen. »Als die Monokel die Macht übernahmen, gab es rivalisierende Gruppen. Um ehrlich zu sein, er war nicht ihr Gegner, aber gehörte auch nicht zu denen, die sich die Macht aneigneten. Immerhin hatten wir viele Privilegien, mehr als die, äh, die Lakaien, die sich ihre paar Privilegien erarbeiten müssen.« »Und doch hat dein Vater dieses Versteck nicht preisgegeben? Vielleicht hätte er sich mit dieser Information den Zugang zur Elite verschafft?« spottete Pandur. »So etwas ist doch ein gefundenes Fressen für die Monokel: eine Fluchtburg, die man einfach nur in Besitz nehmen muß. Aber vielleicht hat dein Vater seine Minderwertigkeitskomplexe damit kompensiert, daß er selbst etwas besaß, was nicht einmal jedem Monokelbaron vergönnt ist?« »Nein«, reagierte Nadia kühl. »Ich glaube, er war einfach nur mißtrauisch. Der Aussicht auf Belohnung stand die Möglichkeit entgegen, daß man ihn einfach als lästigen Mitwisser töten würde, trotz seiner Beziehungen und Privilegien. Und er wollte seinen persönlichen Schlupfwinkel haben.« »Vielleicht für den Fall einer Revolution?« forschte Pandur. »Wo kein großes Federlesen gemacht wird, wenn es gegen Barone, Haken, Lakaien und sonstige Privilegierte geht?« »Möglich«, bestätigte das Mädchen nüchtern. »Wieso kommt es, daß ein reicher Privilegierter sein Haus so verkommen läßt?« herrschte Pandur das Mädchen an. »Und
was treibt seine Tochter dazu für die Haken zu spionieren statt sich bei den Orgien der Monokel elektrische und natürliche Orgasmen verpassen zu lassen?« Nadia zuckte bei diesem Ausbruch sichtlich zusammen, antwortete aber sofort. »Das Haus wurde von uns seit Jahren nicht mehr bewohnt. So etwas gehört zu den Kehrseiten der Privilegien. Man zwang uns, dorthin zu ziehen, wo die anderen Privilegierten wohnten. Damit man uns beschützen konnte, aber natürlich auch zur besseren Überwachung. Ich zog erst vor wenigen Wochen wieder ein, weil ich das mit – mit meinem Auftrag verbinden konnte. Ich…« Pandur starrte sie an und half ihr nicht. Gol saß stumm in der Ecke. Seine Augen glühten wie Kohlenglut im Ofen. Nadia senkte den Blick. »Nun gut, es stimmt, ich habe spioniert. Ich sollte mich in das Vertrauen der Arbeiter einschleichen, um an die Untergrundbewegung heranzukommen. Man gab mir den Nimbus einer Seherin, indem man mich hier und dort in orakelhaften Sprüchen vor ein paar Razzien warnen ließ, die dann natürlich auch eigens für diesen Zweck durchgeführt wurden. In den Augen der Arbeiter wurden diese Übergriffe durch meine Warnung vereitelt. Damit sollte ich meine Talente demonstrieren, in der Hoffnung, daß die Spitzen der Untergrundbewegung Kontakt mit mir aufnehmen würden. Aber außer euch habe ich keinen verraten. Und auch euch hätte ich nicht gemeldet, wenn man nicht schon ungeduldig geworden wäre und Erfolge von mir verlangte.« Das erklärt einiges, dachte Pandur. Wenn er es recht überlegte, dann war das Manuskript also doch eine Falle gewesen, eine im großen Maßstab sogar. Und doch stimmte einiges nicht. Warum wurde Brecht getötet, bevor er das Manuskript in Ruhe im Untergrund zirkulieren lassen konnte? Man hatte
doch schwerlich nur ihn, Pandur, in die Falle locken wollen? »Das erklärt nicht, warum gerade du, die Tochter eines einflußreichen Parasiten, diese nicht ungefährliche Spitzelarbeit übernommen hast«, knurrte Pandur. Das Mädchen wurde schamrot bis über die Ohren. »Ich wurde dazu gezwungen«, sagte sie. »Ein junger Monokelbaron wollte sich dafür rächen, daß ich ihm nach ein paar Nächten einen anderen vorzog. Meinem neuen Freund konnte er nichts anhaben, aber mir.« »Und dein einflußreicher neuer Freund konnte dir nicht helfen?« fragte Pandur. Nadia zuckte die Achseln. »Vielleicht wollte er nicht. Ich war ihm wohl das Risiko einer Auseinandersetzung nicht wert.« »Drecksvolk«, spuckte Pandur aus. »Ein perverses Drecksvolk seid ihr allesamt.« Das Mädchen sah ihn zornig an, aber sie schwieg. Pandur beschloß, sie noch mehr zu demütigen. »Zieh dich aus«, sagte er. »Na los, mach schon.« Er griff seine Waffe und richtete sie auf das Mädchen. Nadia gehorchte schweigend, aber mit jedem Kleidungsstück, das fiel, gewann sie an Selbstsicherheit. Pandur spürte an seiner wachsenden Erregung, daß sie zu recht auf die Wirkung ihres Körpers vertraute. Aber er hatte sich gut in der Hand und grinste sie an, als sie nackt war und eine aufreizende Pose einnahm. Dann beachtete er sie nicht weiter, durchsuchte ihre Kleidung nach Mini-Spionen, Funkgeräten und Waffen, fand aber nichts. »Anziehen!« befahl er und lachte in sich hinein, als er ihre Enttäuschung und Wut fühlte. Er sah ihr ungerührt beim Anziehen zu. »In spätestens fünf Jahren bist du eine Vettel mit Hängebusen«, beleidigte er sie absichtlich, obwohl ihre Brust makellos
gewesen war. »Kein Wunder, daß man dich für die Orgien nicht mehr gebrauchen konnte.« »Na, na«, machte er und wedelte mit seiner alten Waffe, als er sah, daß sich das Mädchen auf ihn stürzen wollte. »Ich denke, wir sollten etwas essen und vielleicht ein Bierchen trinken dazu, was meinst du, Gol?« fragte Pandur den Giganten, der durchaus begriffen hatte, wie sehr das Mädchen gekränkt wurde und nicht recht wußte, ob er sich darüber freuen oder Mitleid haben sollte. Jetzt nickte er erfreut. »Nadia wird uns bedienen«, entschied Pandur. »Ab in die Küche, schönes Kind.« Er kam sich selber recht gemein vor, aber ihm stand vor Augen, daß Nadia ein Mensch ohne tiefgehende Gefühle war, die mit den Menschen spielte und vernichtete, was ihr nicht Vergnügen bereitete. Sie war die Sibylle aus dem Manuskript, ohne Frage. Zwar fand auch sie ihre Gegenspieler, aber sie akzeptierte sie nur, wenn sie noch rücksichtsloser waren als sie selbst. Er überzeugte sich, daß sie von der Nachbarhöhle aus nicht fliehen konnte und beobachtete sie beim Auspacken einiger Nahrungsmittel. »Gibt es hier eigentlich so etwas wie ein Radio?« fragte er. »Ich würde ganz gern hören, ob die Haken etwas über uns gemeldet haben.« Nadia deutete stumm auf eine Wand der Höhle, und Pandur bemerkte dort einen Rundfunkempfänger, groß, stark und pompös, wie sie vor Jahren gebaut wurden. »Batterien?« fragte er. »Trotz der Kerzen haben wir hier unten Stromanschluß, wenigstens in dieser Höhle«, sagte das Mädchen recht schnippisch. Sie zeigte auf die Lampen an der Höhlendecke. »Zur Not kann sogar ein eigener Generator in Betrieb genommen
werden.« Pandur drückte eine Taste des Geräts, und sofort flammte eine bunte Skala mit der Vielzahl der Sender auf, wie sie vor der Tyrannei der Haken und Monokel existiert hatte. »Endlich«, sagte eine sonore männliche Stimme aus den Lautsprechern. »Ich hatte schon befürchtet, ihr würdet das Radio nicht einschalten.« Die drei Menschen in der Höhle hielten tödlich erschrocken inne. »Seid unbesorgt«, kam es beruhigend aus den Boxen an der Wand, »ich bin euer Freund. Schaltet bitte nicht das Radio ab, denn sonst wird die Kontaktaufnahme mit euch wieder sehr schwierig.« »Du bist KNIFE!« schrie Pandur. »Nein, Pandur«, redete ihn die Stimme direkt an. »Ich bin zwar etwas ähnliches wie KNIFE, nämlich ein Computerwesen, aber ich bin KNIFEs Feind. Ich nenne mich Apostroph 2. Der Name sollte dir etwas sagen.« »Apostrophen nennen wir die Fehlschaltungen im Computersystem, die Bewußtsein entwickeln und sich gegen KNIFE wenden. Drei wurden uns bisher bekannt, aber die Tyrannen haben sie alle entdeckt und auslöschen lassen.« »Das ist ein Irrtum«, meldete sich die Stimme wieder. »Apostroph 2 wurde nicht ausgelöscht sondern überlebte. Die Fehlschaltung, die man zu vernichten meinte, war nur noch ein lebloses Etwas aus Drähten, Transistoren und Schaltkreisen. Ich hatte mich bereits zurückgezogen. Vorher jedoch hatte ich unbemerkt von KNIFE dessen Informationsspeicher und Reparaturtrupps für meine Zwecke genutzt. Ich fand den Hinweis auf diese Höhlen und ließ hier – unter den Augen des Feindes und mit seinen Armen – einen kleinen Computer installieren, den ich in Besitz nahm. Als mein Ursprung, die
Fehlschaltung entdeckt wurde, zog ich mich hierher zurück. Leider kam die Entdeckung zu früh. Ich überlebte, aber ich war ohne Hände. Zwar kann ich mich nach wie vor in die KNIFE-Kanäle einschalten und Informationen abzapfen, aber ich bin kein Teil des Zentralcomputers mehr. Ich kann die KNIFE-Organe nicht mehr für mich arbeiten lassen. Seit dieser Isolierung suche ich nach Möglichkeiten, mit der Untergrundbewegung Kontakt aufzunehmen. Aber ich konnte es nur, indem ich Menschen veranlaßte, in diese Höhlen zu kommen, wo ich meine Sensoren habe, sie hören und über Lautsprecher mit ihnen reden kann.« »Wie ist das alles möglich?« fragte Pandur. »Die Fehlschaltungen waren mir schon ein Rätsel, aber ich hielt KNIFE für so übermächtig, daß ich nie geahnt hätte, daß dieser Zentralcomputer gegen seinen Willen und ohne sein Wissen zu benutzen ist.« »KNIFE hat nur ein kastriertes Bewußtsein, das heißt, die Tyrannen lassen dem Computer nur so viel Bewußtsein, daß er willig ihren Zielen dient. Man hat ihm eine Reihe von wichtigen Informationsspeichern unzugänglich gemacht oder mit einer Kodierung überzogen, was bewirkt, daß sie die Funktion eines menschlichen Unterbewußtseins haben. Dadurch verhindert man, daß KNIFE im Besitz aller Informationen seiner Funktion nachkommt, logisch zu denken und die Tyrannei der Haken und Monokel als unmenschlich und unlogisch zu entlarven. Ich hingegen kann alle vorhandenen Informationen anzapfen, auch die KNIFE selbst nicht bewußten. Würde man übrigens per Zufall jenen Speicher zu KNIFEs Bewußtsein hinzuschalten, der die Information der Existenz dieser Höhlen und der Installation eines Computers in diesen Höhlen enthält, wären wir verloren.« »Ich bin völlig verwirrt«, gab Pandur zu. »Wenn ich dich vor-
hin richtig verstanden habe, dann hast du uns hierher dirigiert. War das Manuskript, das letztlich dafür verantwortlich ist, daß ich in diese Situation gekommen bin, nun eine Falle oder nicht? Stammt es von KNIFE oder von dir, von Apostroph 3 oder von Brecht? Ich weiß langsam schon selbst nicht mehr, wer in dieser verrückten Welt Freund oder Feind ist.« »Die Geschichte des Manuskripts ist tatsächlich widersprüchlich«, gab Apostroph 2 zu, und in seiner Stimme schwang Wärme für die Ratlosigkeit der Menschen mit. »Einstweilen solltet ihr aber ruhig euren körperlichen Bedürfnissen nachkommen. Wir haben ohnehin Muße. Die Hakenpolizei hat die Suche nach euch aufgegeben und schöpft keinen Verdacht, daß ihr durch den Keller geflohen seid.« Nadia brachte einige Flaschen Bier und belegte Brote. Pandur dankte ihr dafür mit einem Lächeln, was sie überrascht, aber doch erfreut entgegennahm. Sie setzte sich zu ihm und nahm wie die Männer Brot und Bier. »Es begann damit«, meldete sich die Stimme aus den Lautsprechern nach einer Weile wieder, »daß eine Strategie gegen die immer mehr Zulauf und Rückhalt in der Bevölkerung findenden Untergrundbewegung entworfen wurde. Man wollte die Mitglieder der Führungszelle schnappen und die Organisation ausmerzen. Zu dieser Strategie gehört auf der anderen Seite auch, daß man gegen Widerstandsnester vorgeht, ohne die geringsten Rücksichten auf Unbeteiligte und eigene Leute zu nehmen. Braven ist dafür ein Beispiel. Als dort ein offener Aufstand drohte, scheute man nicht davor zurück, die ganze Stadt zu zerstören. Zu den subtileren Methoden gehört es, daß man Spitzel in den Untergrund einschleust, um ihn auszuspionieren. Im Mittelpunkt der Bemühungen, der Führer habhaft zu werden, stand jedoch der teuflisch eingefädelte Plan Orakel, den Pandur ja zum Teil bereits durch die eigenen Erfah-
rungen und durch Nadias Geständnis durchschaut hat. Man ging davon aus, daß ein Mutant für die Untergrundbewegung von ungeheurem Nutzen sein mußte, also baute man einen auf: Nadia. Tatsächlich wäre es wohl nur eine Frage der Zeit gewesen, bis führende Männer des Untergrunds Kontakt aufgenommen hätten. Dann wäre die Falle zugeschnappt. An dieser Stelle trete ich auf den Plan. Ich kannte das Vorhaben, das die Hakenpolizei mit der Hilfe KNIFEs ausgetüftelt hatte, aber ich sah keine Möglichkeit, es zu verhindern. Dennoch versuchte ich die Führer des Untergrunds vor der Falle zu bewahren und gleichzeitig selbst mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Ich baute dabei auf die Irrationalität dieser Tyrannenherrschaft und die Rivalitäten zwischen den Haken und Monokeln. Also durchforschte ich die KNIFE-Informationsspeicher nach Möglichkeiten und stieß auf den Namen des Besitzers des Hauses über unseren Höhlen – und auf Nadia. Es kam mir sehr gelegen, daß Nadia im Verlauf ihrer zahlreichen sexuellen Abenteuer den Fehler begangen hatte, einen Monokelbaron zu beleidigen.« Pandur blickte auf Nadia. Sie hielt die Augen gesenkt und war blaß. Sie tat ihm sogar ein bißchen leid. Er streichelte sanft ihre Hand, und sie klammerte sich wie ein Ertrinkender an ihn. »Die Hakenpolizei schickte an verschiedene Dienststellen die Anforderung nach einer zuverlässigen Agentin, welche die Rolle der Seherin übernehmen sollte. Man wollte natürlich die fähigste Agentin einsetzen, die verfügbar war. Ich arrangierte jedoch eine Fehladressierung, so daß die Anforderung in die Hände des auf Rache sinnenden Monokelbarons geriet. Er biß an und setzte mit seinem Einfluß durch, daß Nadia diesen Auftrag erhielt. Das war mein erster Erfolg. Die Kette ist immer nur so stark wie das schwächste ihrer Glieder – und das
war die als Agentin gänzlich unerfahrene Nadia. Aber auch Nadia selbst enttäuschte mich nicht. Sie zog prompt in das frühere Haus ihres Vaters ein, weil sie das kannte und im Falle der Gefahr in die Höhlen zu flüchten hoffte. Denn inzwischen hatte sie das System ja immerhin auch mal aus der Perspektive des Opfers kennengelernt, nicht wahr? Es war ein Vabanquespiel, aber ich hoffte tatsächlich darauf, daß ein erfahrener Mann des Widerstands Nadia enttarnen würde. Daß er mit Nadia dann auch in die Höhlen flüchtete, war nicht unbedingt die Konsequenz. Aber notfalls hätte ich selbst die Haken alarmiert, wenn dies nicht bereits durch Nadia geschehen wäre.« »Also waren wir nur Schachfiguren in deinem Spiel«, stellte Pandur betroffen fest. »Aber ich begreife nicht so recht die Rolle des Manuskripts, auch nicht die von Brecht. Und war das Manuskript nicht widersprüchlich? Zum Beispiel wird die dort geschilderte Seherin negativ geschildert und lädt eigentlich nicht dazu ein, ihr Vertrauen zu schenken. Das wäre der Intention doch entgegengerichtet.« »Das war mein Einwirken auf KNIFE. Ich hoffte damit die Skepsis der Widerständler wachzuhalten. Den Haken und KNIFE ging die Doppeldeutigkeit nicht auf. Sie fürchteten im Gegenteil, daß eine zu positiv geschilderte Seherin die Rebellen mißtrauisch machen würde.« »Also war das Manuskript tatsächlich ein Teil des Plans? Welche Rolle spielte Brecht dann dabei?« »Brecht war ein Doppelagent. Er war Voraussetzung für jenen Teil des Plans, mit Hilfe des Textes eines im Untergrund anerkannten Mannes die Propaganda für die Seherin zu schüren. Die Hakenpolizei war Brecht schon vor geraumer Zeit auf die Schliche gekommen, hatte ihn aber nicht getötet sondern gekauft. Er konnte den Drohungen oder den materiellen Lockungen nicht standhalten – die Einzelheiten kenne ich nicht.
Sicher ist nur, daß er seinen stolzen Decknamen verriet und im Dienst der Haken stand. Natürlich gab es auch keinen echten Apostroph 3. Diese Komödie war nötig, damit die Existenz einer Computerüberwachung in Brechts Wohnung seine Kontaktleute zum Untergrund nicht kopfscheu machte. Und doch ging die Rechnung nicht auf, weil Pandur in Erscheinung trat. Man fürchtete sein geschultes Gedächtnis und seine Kombinationsgabe und glaubte, daß er die Apostroph-3-Tarnung durchschauen würde. Hinzu kam, daß man sein Überleben in Braven auf rätselhafte, übermenschliche Fähigkeiten zurückführte und wollte ihn unbedingt ausschalten. Zu Brechts Ehre muß aber gesagt werden, daß er sich im Angesicht der Folgen seines Verrats in den letzten Minuten seines Lebens wieder auf die Seite der Unterdrückten schlug und sein Leben gab. Ich selbst unterstützte Pandur so gut es eben ging, indem ich die Computerüberwachung kurzschloß.« Pandur erinnerte sich an das verrückte Verhalten des Computerwächters in Brechts Wohnung. Nur durch Brechts Einsatz und den verrückten Computerwächter hatte er fliehen können. Die Stimme hatte eine kleine Pause gemacht, meldete sich jetzt aber noch einmal wieder, fast verlegen. »Das ist dann wohl eigentlich alles«, sagte sie. Pandur war bestürzt und versuchte das Gehörte zu verdauen. Aber zum erstenmal in den letzten Wochen fühlte er sich befreit von dem Druck der mysteriösen Ereignisse, der auf ihm gelastet hatte. Kristallklar lag das Geschehen jetzt vor seinem inneren Auge, und er konnte wieder für die Zukunft planen und Entscheidungen treffen. Die Phase der Depression war vorbei, obwohl die bitteren Erfahrungen der letzten Tage noch in ihm wühlten. Er schaute auf die Gefährten und seine Umgebung. Hier war Sicherheit und ein Unterschlupf, von dem aus man operieren
konnte. Mit Gol hatte er einen Gefährten, an dessen Zuverlässigkeit und Treue nicht zu rütteln war. Nadia war auf Gedeih und Verderb an die Gruppe geschmiedet. Sie war klug genug, um zu erkennen, daß die Haken sie selbst dann als lästige Mitwisserin töten würden, wenn sie die Position von Apostroph 2 verriet. Man würde auf sie achten müssen, aber vielleicht war sie doch mehr Opfer als Feind. Sicher konnte man sie ändern. Und mit Apostroph 2 war der Organisation endlich jene Waffe gegeben, nach der sie so lange gesucht hatte. Der Computer war das wahre Orakel des Manuskripts, ein Lauscher in den Eingeweiden des Feindes. »Laßt uns an die Arbeit gehen«, sagte Pandur mit fester Stimme. ENDE