Clemens Sedmak · Bernhard Babic Reinhold Bauer · Christian Posch Der Capability-Approach in sozialwissenschaftlichen Ko...
333 downloads
961 Views
693KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Clemens Sedmak · Bernhard Babic Reinhold Bauer · Christian Posch Der Capability-Approach in sozialwissenschaftlichen Kontexten
Clemens Sedmak · Bernhard Babic Reinhold Bauer · Christian Posch
Der Capability-Approach in sozialwissenschaftlichen Kontexten Überlegungen zur Anschlussfähigkeit eines entwicklungspolitischen Konzepts
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Die Publikation wurde mit Mitteln der Salzburg Ethik Initiative und SOS-Kinderdorf e. V. finanziert.
.1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch / Sabine Schöller Korrektorat: Brigitte Mayr / Günther Jäger VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17637-6
Inhalt
Bernhard Babic . Reinhold Bauer . Christian Posch . Clemens Sedmak Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Gunter Graf Der Fähigkeitenansatz im Kontext von Informationsbasen sozialethischer Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Clemens Sedmak Fähigkeiten und Fundamentalfähigkeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Ortrud Leßmann Verwirklichungschancen und Entscheidungskompetenz. . . . . . . . . . . . . . . 53 Bernhard Babic Ohne intellektuelle Redlichkeit kein Fortschritt. Kritische Anmerkungen zum Umgang mit dem Capability Approach aus erziehungswissenschaftlicher Sicht . . . . . . . . . . 75 Jean-Luc Patry Values and Knowledge Education (Vake) aus Sicht des Fähigkeiten-Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Holger Ziegler Soziale Arbeit und das gute Leben Capabilities als sozialpädagogische Kategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Stephan Sting Gesundheit als Basic Capability. Einflüsse von Armut und Benachteiligung auf das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Bernhard Schwaiger Frühkindliche Mentalisierung als eine zentrale »Capability« wider die Armut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
6
Inhalt
Christian Alt . Andreas Lange »Agency« in der mittleren Kindheit: Feldspezifik und Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Anton A. Bucher Kinder, die sich nicht biegen lassen. Psychologische Skizzen zur Resilienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
Vorwort Bernhard Babic · Reinhold Bauer · Christian Posch · Clemens Sedmak
Dem von Amartya Sen formulierten Capability Approach 1 (sowie seinen verschiedenen Ausdifferenzierungen) haben die Debatten um Armut, soziale Ungleichheit und um adäquate Ziele darauf bezogener Interventionen wichtige Impulse zu verdanken. Das gilt vor allem auf internationaler Ebene und mag den einen oder anderen erstaunen, angesichts des relativ simplen Grundgedankens, der diesem Ansatz zugrunde liegt. Vereinfacht gesagt schlägt Sen darin vor, vor allem danach zu fragen, inwieweit eine Maßnahme oder Entwicklung die Menschen, auf die sie abzielt oder einwirkt, in die Lage versetzt, tatsächlich das Leben zu führen, das sie führen möchten. Statt - wie es derzeit noch häufig geschieht - auf einzelne Aspekte wie das persönliche Einkommen, die Verfügungsgewalt über (Konsum-)Güter oder auf die Bedürfnisbefriedigung zu fokussieren, tritt Sen mit anderen Worten dafür ein, die individuelle Entscheidungsfreiheit (bzw. das Ausmaß in dem sie gefördert wird) für ein Leben gemäß der eigenen Wertvorstellungen zum Bewertungsmaßstab gesellschaftlicher Entwicklung zu machen. Das klingt sicherlich auch für viele, die sich nicht im selben Maße wie Sen der Sozialphilosophie oder (Wohlfahrts-)Ökonomie verbunden fühlen, vertraut und tatsächlich verweist nicht zuletzt die häufige Bezugnahme auf Aristoteles darauf, dass mit dem CA das Rad nicht völlig neu erfunden wurde. Die Werke dieses ›Klassikers‹ der Philosophie gehören schließlich in vielen Disziplinen zu den unverzichtbaren Grundlagen. Vielleicht ist der Verdienst der Vertreter/innen des CA daher angemessener charakterisiert, wenn wir davon ausgehen, dass sie ›das Rad‹ in gewisser Weise überarbeitet, in neue Zusammenhänge gestellt und dadurch mitgeholfen haben, den einen oder anderen festgefahrenen Diskurs wieder flott zu bekommen. Am deutlichsten ist das wahrscheinlich im Rahmen der Entwikklungsberichterstattung der Vereinten Nationen zu sehen. Denn dort ist der CA als grundlegendes Konzept eingeflossen, was nicht zuletzt im Human Development Index zum Ausdruck kommt, der allen Staaten hinsichtlich ihres Entwicklungsniveaus einen Rangplatz zuweist. Dieser Index kann als ein kon-
1
Vgl. Sen, Amartya (2001): Development as Freedom.
8
Bernhard Babic · Reinhold Bauer · Christian Posch · Clemens Sedmak
kreter - wenn auch längst nicht unumstrittener - Operationalisierungsversuch des CA betrachtet werden. Vor allem im Rahmen der nationalen Armuts- bzw. Wohlstandsberichterstattung ist dem CA zwischenzeitlich auch im deutschsprachigen Raum größere Aufmerksamkeit zuteil geworden. 2 Von dort ist zudem der Weg in die psycho-sozialen Arbeitsfelder naturgemäß recht kurz. Sie werden schließlich häufig mit der Bearbeitung der Problematiken betraut, die sich unter anderem aus einer Ungleichverteilung von Einkommen, Vermögen und den damit verbundenen Teilhabe(un)möglichkeiten ergeben können. Speziell angesichts des besorgniserregenden Anwachsens von (relativer) Kinderarmut in unseren Breiten, ist es daher nur konsequent, dass der Ansatz 2009 auch erstmalig in der bundesdeutschen Kinderund Jugendberichterstattung Erwähnung fand. 3 Dort, wie auch in den angrenzenden Arbeitsbereichen, trifft der CA aber gegenwärtig als ein noch relativ unbekanntes ökonomisches bzw. entwicklungspolitisches Konzept auf eine ganze Reihe gut etablierter Ansätze, die beispielsweise der Erziehungs- oder auch der Sozialarbeitswissenschaft, der Psychologie sowie der Soziologie entstammen. Oberflächlich lässt sich dabei sofort eine Reihe von Gemeinsamkeiten erkennen. Hierzu kann beispielsweise die häufig sehr deutliche Abgrenzung gegenüber utilitaristischen Vereinnahmungsversuchen gezählt werden. Für viele weniger genau zu erkennen ist demgegenüber, ob es sich bei diesen Ähnlichkeiten nicht etwa nur um ›falsche Freunde‹ handelt und in welchem Umfang der CA tatsächlich Vorteile gegenüber den bisher zur Anwendung gebrachten Konzepten bietet. Wie verhält er sich wirklich zum Bestehenden? Wo ist er in welcher Weise anschlussfähig und wo nicht? Und wo schießt er vielleicht sogar schon wieder über (s)ein Ziel hinaus? Einen der ersten Versuche, sich im deutschsprachigen Raum systematisch diesen Fragen anzunähern, stellte ein Fachgespräch dar, das 2009 am Internationalen Forschungszentrum (IFZ) in Salzburg durchgeführt wurde. Es fand vor dem Hintergrund eines Forschungsprojekts statt, das gegenwärtig vom IFZ in
2
3
Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.) (2005): Lebenslagen in Deutschland. Der 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung; Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.) (2008): Lebenslagen in Deutschland. Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung; Österreichische Gesellschaft für Politikberatung und Politikentwicklung (Hg.) (2008): 2. Armuts- und Reichtumsbericht für Österreich. Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) (2009): 13. Kinder- und Jugendbericht, S. 73f.
Vorwort
9
Zusammenarbeit mit SOS-Kinderdorf International durchgeführt wird. 4 Die schriftlich ausgearbeiteten Impulsreferate, die im Rahmen der bewusst informell gehaltenen Veranstaltung mit dem Titel »Theorienlandschaft des Fähigkeitenansatzes« gehalten wurden, bilden die Grundlage dieses Sammelbandes. 5 Sie wurden um einige Beiträge ergänzt, um die bei den jeweiligen Autoren gezielt angefragt wurde. Damit sollte zum einen eine größere Bandbreite an relevanten Themen abgedeckt und zum anderen Leserinnen und Lesern, die mit dem CA noch wenig vertraut sind, der Zugang erleichtert werden. Dementsprechend führt der Beitrag von Gunter Graf zunächst allgemein in die Thematik ein und stellt zunächst dar, was sich hinter dem Label »Capability Approach« nach derzeitigem Stand der Diskussion verbirgt. Darauf, dass den entsprechenden Konzepten gelegentlich ein Verständnis von Fähigkeiten zugrunde liegt, das ihrer identitätsbildenden Bedeutung für den einzelnen Menschen nicht gerecht wird, verweist Clemens Sedmak. Von besonderem Interesse dürfte es dabei sein, dass er dazu auf eben jene philosophischen Grundlagen zurückgreift, auf die sich auch der CA beruft. Ortrud Leßmann setzt sich daran anschließend mit einem weiteren zentralen Kritikpunkt am CA auseinander, die weitreichende Vernachlässigung des Faktors Zeit, und zeigt exemplarisch auf, inwiefern der Ansatz durch bildungstheoretische Überlegungen entsprechend ergänzt werden könnte. Komplementär widmet sich Bernhard Babic der Frage, was realistischerweise für die deutschsprachigen Debatten in der Erziehungswissenschaft von Seiten des CA an Bereicherungen erwartet werden kann. Ausgehend von der Frage nach den Gemeinsamkeiten zwischen CA und dem unabhängig davon entstandenen Konzept der Values and Knowledge Education (VaKE) vermittelt daraufhin Jean-Luc Patry einen Eindruck davon, wie eine Operationalisierung des CA im Bildungskontext konkret aussehen könnte. Holger Ziegler befasst sich danach aus sozialpädagogischer Perspektive grundlegend mit der Anschlussfähigkeit und den Potentialen des CA. Stephan Sting schreitet auf dem solchermaßen vorgegebenen Weg weiter voran, indem er darstellt, inwiefern und mit welchen Konsequenzen sich Gesundheit im Kontext sozialer Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen als eine grundlegende Capability verstehen lässt. In eine ähnliche Richtung weist auch der Beitrag von Bernhard Schwaiger,
4 5
Vgl. Babic/Germes Castro/Graf (2009): Approaching Capabilities with Children in Care. Das Programm der Veranstaltung kann unter http://www.ifz-salzburg.at/?p=575#more-575 abgerufen werden.
10
Bernhard Babic · Reinhold Bauer · Christian Posch · Clemens Sedmak
der allerdings anders als der vorangegangene Artikel das Konzept der frühkindlichen Mentalisierung in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellt. Die Beiträge von Andreas Lange und Christian Alt sowie von Anton A. Bucher verweisen schließlich beispielhaft mit der Kindheitsforschung und der Auseinandersetzung mit Fragen der Resilienz auf zwei weitere Kontexte, auf die bezogen es den CA noch zu denken gilt.
Literatur Babic, Bernhard/Germes Castro, Oscar/Graf, Gunter (2009): Approaching Capabilities with Children in Care, Innsbruck: SOS-Kinderdorf International; Online-Dokument (abrufbar unter: http://www.ifzsalzburg.at/uploads/CA-Projektkonzept-20090811-11.pdf). Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.) (2005): Lebenslagen in Deutschland. Der 2. Armutsund Reichtumsbericht der Bundesregierung, Berlin: BMAS. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.) (2008): Lebenslagen in Deutschland. Der 3. Armutsund Reichtumsbericht der Bundesregierung, Köln: Bundesanzeiger Verlag. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) (2009): 13. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschenund die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland, Berlin: BMFSFJ. Österreichische Gesellschaft für Politikberatung und Politikentwicklung (Hg.) (2008): 2. Armuts- und Reichtumsbericht für Österreich, Wien: ÖGPP. Sen, Amartya (2001): Development as Freedom, Oxford: Oxford University Press.
Der Fähigkeitenansatz im Kontext von verschiedenen Informationsbasen sozialethischer Theorien Gunter Graf
1. Einleitung Ein Blick in die einschlägige Literatur der Armutsforschung, Gerechtigkeitstheorie und Entwicklungsethik zeigt, dass der sogenannte »Fähigkeitenansatz« 1 dort seit geraumer Zeit eine gewichtige Stellung einnimmt und von verschiedenen Fachrichtungen intensiv wahrgenommen und diskutiert wird. Er wird von vielen als die angemessene theoretische Grundlage gesehen, um über Fragen der Ungleichheit, Lebensqualität und Entwicklungspolitik nachzudenken, und fand bekanntermaßen sogar Eingang in den jährlichen »Bericht über die menschliche Entwicklung« der Vereinten Nationen. Angesichts dieser starken Resonanz, auf die der Ansatz in der Fachwelt stößt, liegt es auf der Hand, nach seinem Verhältnis zu anderen theoretischen Konzepten und Möglichkeiten seiner Verwertbarkeit für die Praxis zu fragen. Dazu ist es aber sicherlich notwendig, sich zuerst Klarheit darüber zu verschaffen, was der Fähigkeitenansatz im Detail besagt bzw. was von ihm beansprucht wird. Denn erst dann scheint es sinnvoll zu sein, sich damit zu befassen, an welcher Stelle er ergänzt bzw. vervollständigt werden muss. Hier muss aber gleich einmal darauf hingewiesen werden, dass die weit verbreitete Rede von dem Fähigkeitenansatz zutiefst irreführend ist - ein Umstand, der die Untersuchung wesentlich erschwert. Sie erweckt den Anschein, als gäbe es genau eine exakt ausformulierte Fassung des Ansatzes, die von allen Diskussionsteilnehmern anerkannt wird. Wie so oft bei solch umfassenden und weitreichenden theoretischen Entwürfen ist das jedoch keineswegs der Fall: Es gibt verschiedene, mehr oder weniger klar ausgearbeitete Varianten des Ansatzes, die
1
Das englische Wort »Capability Approach« wird von verschiedenen Autoren unterschiedlich ins Deutsche übertragen. Neben der wohl am häufigsten verwendeten Bezeichnung »Fähigkeiten ansatz« tauchen auch die Terme »Befähigungsansatz«, »Verwirklichungschancenansatz« und »Capability-Ansatz« auf. Ich werde hier der Mehrheit der Autoren folgen und den Begriff »Fähigkeitenansatz« verwenden, auch wenn diese Bezeichnung - wie sich noch zeigen wird etwas irreführend ist.
C. Sedmak et al., Der Capability-Approach in sozialwissenschaftlichen Kontexten, DOI 10.1007/978-3-531-92749-7_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
12
Gunter Graf
zwar einerseits sicherlich Gemeinsamkeiten aufweisen, andererseits aber auch durch z.T. erhebliche Differenzen gekennzeichnet sind. Es ist daher zielführend, zunächst einmal zu den Anfängen des Ansatzes zurückzukehren und einen Blick darauf zu werfen, was Amartya Sen erreichen wollte, als er vor etwa drei Jahrzehnten damit begann, den Fähigkeitenansatz zu entwickeln.
2. Amartya Sen und die Basis sozialphilosophischer Theorien Als Sen begann, den Fähigkeitenansatz auszuarbeiten, beschäftigte ihn vor allem die Frage nach der Informationsbasis von sozialethischen Theorien, im Besonderen in Hinblick auf das Problem der Analyse und Beurteilung von Ungleichheit in einer Gesellschaft.2 Jede solche Theorie versucht, normative Begriffe zu klären, und kann dazu benutzt werden, Bewertungen von sozialen Einrichtungen durchzuführen. Dazu ist es natürlich nötig, gewisse Informationen als grundlegend zu berücksichtigen; irgendwelche Aspekte des menschlichen Lebens müssen als bedeutsam und wesentlich für die Bewertung des Aufbaus einer Gesellschaft erachtet werden. Erst dadurch wird es möglich, normative Urteile zu fällen und Aussagen darüber zu treffen, wie menschliches Zusammenleben am besten gestaltet werden sollte. Doch die Entscheidung, was einer sozialphilosophischen Theorie zugrunde liegen soll, ist selbst zutiefst evaluativ und keineswegs trivial. Nichtsdestoweniger ist sie von entscheidender Bedeutung, da es um die fundamentale ethische Kategorie einer solchen Theorie geht, im Lichte derer ihre zentralen Begriffe definiert und in weiterer Folge ja auch z.B. soziale Institutionen bewertet werden. Legt man nun eine bestimmte Informationsbasis für seine Theorie fest, spricht man sich damit gezwungenermaßen auch gegen die Berücksichtigung von Informationen aus anderen Bereichen aus; es wird ebenso festgelegt, was dezidiert keinen Einfluss auf die zu fällenden Werturteile haben soll. Der Ausschluss von bestimmten Informationen ist somit ein wesentlicher und charakteristischer Bestandteil jeder sozialethischen Theorie, auch wenn diese Entscheidung, was nicht ins ethische Kalkül zu ziehen ist, naturgemäß stillschweigend geschieht.3 Gemäß Sen sollte man bei den Informationsbasen zwischen zwei Typen von relevanten Informationen unterscheiden:4 Erstens muss entschieden werden, welche Art von Objekten, die als besonders wertvoll erachtet werden, der
2 3 4
Vgl. Sen, Amartya (1980): Equality of What? Vgl. Sen, Amartya (1999): Development as Freedom. Vgl. Sen, Amartya (1990): Justice: Means versus Freedoms, 111-121, hier: 113f.
Der Fähigkeitenansatz im Kontext von Informationsbasen sozialethischer Theorien
13
Theorie zugrunde liegen sollen. Beispiele hierfür, die traditionellerweise in gerechtigkeitstheoretischen Konzeptionen eine bedeutende Stellung einnehmen, sind materielle Güter bzw. Ressourcen, Freiheiten und Grundgüter im Sinne von John Rawls sowie Nutzeneinheiten (utilities), normalerweise verstanden als das Maß des Glücks, der Lust oder der Interessenbefriedigung eines Individuums. Zweitens gilt es dann aber auch noch festzulegen, nach welchem Prinzip die Wertobjekte kombiniert werden. Je nach Theorie und Zielsetzung kommen dabei laut Sen unter anderem Summierung, lexikographische Prioritäten in Verbindung mit der so genannten »Maximin-Regel« oder Gleichverteilung infrage. Der klassische Utilitarismus, um ein Beispiel zu nennen, erachtet persönliche Nutzeneinheiten als die einzig wichtigen Wertobjekte und benutzt die Summierung als kombinatorisches Prinzip 5.
2.1 Sens Kritik von alternativen Ansätzen Einer der zentralen Punkte Sens ist es nun, darauf aufmerksam zu machen, dass die zuvor erwähnten »klassischen« Informationsbasen - materielle Güter, Grundgüter und Nutzeneinheiten - mit erheblichen Problemen verbunden sind, wenn es darum geht, sozialphilosophisch bedeutsame Begriffen wie »Entwicklung«, »Wohlergehen« oder »Armut« zu analysieren oder Bewertungen von sozialen Institutionen durchzuführen. Was sind die Gründe dafür? Materielle Güter lehnt er ab, da sie nur bedingt Auskunft darüber geben, was jemandem tatsächlich zu tun oder zu sein möglich ist. Zwischen den Lebenslagen verschiedener Menschen bestehen nämlich zum Teil beträchtliche - durch persönliche, soziale und kulturelle Differenzen bedingte - Unterschiede, die sich darauf auswirken, welchen Gebrauch wir von einem bestimmten Güterbündel oder Einkommensniveau machen können, weshalb es zu massiven Verzerrungen kommt, wenn man eine solche Informationsbasis dazu benutzt, um zu beurteilen, in welcher Lebenslage sich jemand in einer Gesellschaft befindet. Dabei soll natürlich keineswegs geleugnet werden, dass verschieden geartete materielle Ressourcen benötigt werden, um seine Ziele erreichen zu können. Aber man soll diese Ressourcen gemäß Sen eben nur als ein Mittel
5
Obwohl es für Bewertungszwecke immer notwendig ist, beide Typen von Informationen zu berücksichtigen (die Art der Wertobjekte und das verwendete kombinatorische Prinzip), tendiert Sen an anderen Stellen dazu, die Informationsbasis einer Theorie einzig und allein über die Art der ihr zugrunde liegenden Wertobjekte zu charakterisieren. Vgl. etwa Sen, Development as Freedom, S. 56ff.
14
Gunter Graf
sehen - um ein Leben führen zu können, das man wertschätzt - und nicht als Zweck an sich.6 Werden materielle Güter als intrinsisch wertvoll erachtet - etwas, das laut Sen vor allem in der einschlägigen Literatur der Wirtschaftswissenschaft ständig vorkommt -, spricht er von einem »commodity fetishism«, und er wirft den Vertretern dieser Position vor, wichtige Zusammenhänge zwischen materiellen Gütern und dem eigentlichen Leben der Betroffenen zu übersehen: Wohlstand sei zwar wichtig, jedoch nur deswegen, weil er uns in der Regel mehr Freiheiten ermöglicht, das zu tun, was wir als erstrebenswert ansehen. »The reason of wealth lies in the things it allows us to do«7 , wie Sen sich ausdrückt. Etwas komplizierter steht es um Sens Kritik einer Basis, die sich aus Grundgütern zusammensetzt, wie sie von John Rawls in seinen gerechtigkeitstheoretischen Arbeiten vorgeschlagen wird.8 Rawls versteht Gerechtigkeit im Wesentlichen als Fairness und vertritt die Position, dass es verschiedene und z.T. nicht kompatible Auffassungen des Guten gibt, die alle von vollkommen rationalen und autonomen Personen gerechtfertigterweise vertreten werden können. Es sei daher zu überlegen, wie eine Gesellschaft zu ordnen ist, damit jeder Bürger seine eigene Vorstellung des Guten so gut wie möglich umsetzten kann. Dabei ist klar, dass die individuellen Lebensentwürfe begrenzt werden müssen; man muss sich einigen, was für Personen mit unterschiedlichen und sich widersprechenden Auffassungen des Guten gerecht bzw. fair ist 9. Auch wenn in einer Gesellschaft unterschiedliche Auffassungen über das Gute bzw. Erstrebenswerte herrschen, gibt es laut Rawls dennoch gewisse Dinge, die für alle Beteiligten von Wichtigkeit sind. Diese sogenannten »Grundgüter« versteht Rawls aber dezidiert nicht als verbindliche Werte, die jeder Bürger als intrinsisch wertvoll erachten sollte, sondern vielmehr als eine »schwache Theorie des Guten«, die die Voraussetzung für alle in einer Gesellschaft möglichen Lebensentwürfe bildet. Er definiert sie als »Dinge, von denen man annehmen kann, daß sie jeder vernünftige Mensch haben
6
7 8 9
Vgl. dazu Sen, Amartya (1983): Development: Which Way now?, S. 745-762, hier: 754; Sen, Amartya (1985): The Standard of Living: Lecture I, Concepts and Critiques, S. 1-19, hier: 14ff. sowie Sen, Development as Freedom, S. 70ff. Sen, Development as Freedom, S. 14. Vgl. Rawls, John (1975): Eine Theorie der Gerechtigkeit. Diese Überlegungen stehen natürlich in engem Zusammenhang mit Rawls' Gedankenexperi ment des Urzustandes, in dem rationale und in einem gewissen Sinn auch moralische Personen, die sich zu einer Gesellschaft zusammenschließen, unter einem Schleier des Nichtwissens hin sichtlich der eigenen Person und ihrer eigenen Stellung in der Gesellschaft Grundsätze des gesellschaftlichen Zusammenlebens festlegen.
Der Fähigkeitenansatz im Kontext von Informationsbasen sozialethischer Theorien
15
will«10, und führt eine Unterteilung in natürliche Grundgüter und gesellschaftliche Grundgüter durch. Die natürlichen - Rawls nennt Fantasie, Intelligenz und Lebenskraft als Beispiele - entziehen sich weitgehend dem direkten Einfluss der sozialen Institutionen und können deshalb nicht berücksichtigt werden, wenn es um vom Menschen veranlasste Verteilungsfragen geht. Wichtiger für den Kontext der Gerechtigkeitstheorie sind daher die gesellschaftlichen Grundgüter (in weiterer Folge einfach »Grundgüter« genannt), deren Distribution man unmittelbar beeinflussen kann. Als wichtigste Beispiele für diese Art von Gütern listet Rawls Freiheiten, Rechte, Chancen, Einkommen und Vermögen sowie Selbstachtung auf. Diese bilden gemäß Rawls die Grundlage für ein wünschenswertes Leben, unabhängig davon, welche Vorstellung man vom Guten hat bzw. welche konkreten Ziele man verfolgt, denn … vernünftige Menschen wünschen sich unabhängig davon, was sie sich sonst noch wünschen, bestimmte Dinge als Vorbedingungen der Ausführung ihrer Lebenspläne. Unter sonst gleichen Umständen haben sie lieber mehr als weniger Freiheit und Chancen, Vermögen und Einkommen. 11
Will man soziale Institutionen bewerten, muss man gemäß Rawls darauf achten, wie die genannten materiellen und immateriellen Grundgüter verteilt sind. Eine gerechte Gesellschaft erfordert eine faire Verteilung unter ihren Mitgliedern, die im Wesentlichen von Rawls' zwei Gerechtigkeitsgrundsätzen12 geleitet ist. Die Grundgüter bilden somit die Informationsbasis der Rawls'schen Theorie. Sie ermöglichen interpersonelle Vergleiche, da der gleiche Index an Grundgütern dazu benutzt werden kann, die soziale Situation jedes Bürgers zu bewerten.13 Wie reagiert nun Amartya Sen auf diese ausgefeilten Überlegungen von John Rawls? Ähnlich wie Sen auch schon bei einer rein materiellen Basis einer sozialphilosophischen Theorie anmerkte, besteht auch hier ein grundsätzliches Problem darin, dass Menschen sich in vielen Aspekten unterscheiden und daher in der Regel aus den gleichen Grundgütern verschiedene Vorteile ziehen. Wären wir alle hinreichend ähnlich, würde sich Rawls' Ansatz eignen, um interpersonelle Vergleiche auf der Basis von Grundgütern zu machen und den Vorteil des Einzelnen dadurch auszudrücken. Doch das ist laut Sen einfach nicht der Fall:
10 11 12 13
Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 83. Rawls, Theorie, S. 434. Diese Grundsätze finden sich z.B. bei Rawls, Theorie, S. 336. Vgl. Rawls, John (1982): Social Unity and Primary Goods, S. 163.
16
Gunter Graf
(...) making comparisons of the primary goods different people have is not quite the same as com paring the freedoms actually enjoyed by different persons, even though the two can be closely related. Primary goods are means to freedom, but they cannot represent the extent of freedom, given the diversity of human beings in converting primary goods into the freedom to pursue their respective objectives. 14
Rawls übersieht laut Sen also, dass Faktoren wie Alter, Geschlecht, genetische Voraussetzungen etc. massiv beeinflussen, welche tatsächlichen Möglichkeiten uns im Leben offenstehen, selbst wenn man über die gleichen Grundgüter verfügt. Eine Gleichverteilung an Grundgütern kann deshalb zu sehr großen Unterschieden in der realen Freiheit des Einzelnen führen. Beispielsweise braucht ein körperlich Behinderter in der Regel bedeutend mehr Ressourcen als eine »normale« Person, um das Leben führen zu können, für das er sich gemäß seiner persönlichen Vorstellung des Guten entscheidet. Eine angemessene Gerechtigkeitstheorie sollte sich daher laut Sen direkt auf die realen Chancen des Einzelnen konzentrieren, auf seine positive Freiheit, das zu tun, was er wertschätzt. Rawls dagegen konzentriere sich zu sehr auf eine faire Verteilung von Gütern (die laut Sen ja nur instrumentellen Wert besitzen), die zusammen mit der Garantie eines umfassenden Systems an negativen Freiheiten für reale Chancengleichheit unter den Mitgliedern einer Gesellschaft sorgen soll. Bei dieser Vorgangsweise kann es aus den zuvor angeführten Gründen aber zu massiven Verzerrungen kommen. Positive Freiheiten sind dabei solche, die berücksichtigen, aus welchen Optionen ein Mensch tatsächlich auswählen kann, wohingegen negative sich darauf konzentrieren, ob es gewisse Beschränkungen bzw. Hemmnisse (constraints) gibt, die eine Person (bzw. ein Staat oder eine Institution) gegenüber jemand anderem ausübt.15 Dazu ein Beispiel Sens: Kann ich nicht im Park spazieren gehen, da ich unter einer Behinderung leide, verfüge ich nicht über die positive Freiheit, das zu tun; meine negative Freiheit ist davon allerdings nicht betroffen. Ginge ich jedoch nicht, weil ich weiß, dass mir dort Verbrecher auflauern, die mich zusammenschlagen und ausrauben würden, würde dadurch auch meine negative Freiheit eingeschränkt sein.16 Ist man interessiert, einer Person eine Vielzahl echter Wahlmöglichkeiten zu geben - laut Sen das wichtigste Ziel einer gerechten Gesellschaft -, ist es unabdingbar, auch positive Freiheiten direkt (und nicht nur mittel-
14 15 16
Sen, Amartya (1990): Individual Freedom as a Social Commitment, S. 49-54, hier: S. 52. Vgl. Sen, Individual Freedom, S. 49. Man beachte, dass eine Einschränkung einer negativen Freiheit immer auch mit einer Verletzung einer positiven Freiheit einhergeht, aber nicht umgekehrt.
Der Fähigkeitenansatz im Kontext von Informationsbasen sozialethischer Theorien
17
bar, wie das bei Rawls der Fall ist) zu berücksichtigen, was aber nicht heißen soll, dass nicht auch negative von Bedeutung sind. Sens zentraler Kritikpunkt ist - ähnlich wie bei seiner Kritik einer rein materiellen Basis -, dass die Rawls'schen Grundgüter, inklusive des Gutes der negativen Freiheit, in erster Linie als Mittel zu sehen sind, die die Wahl einer bestimmten Lebensform ermöglichen. Es wäre laut Sen aber konsequenter, über diese Mittel hinauszugehen und positive Freiheiten bzw. Fähigkeiten im Sinn von Verwirklichungschancen als die angemessene Informationsbasis anzusehen. Gegen das Heranziehen von Nutzeneinheiten als grundlegender Kategorie sozialphilosophischer Theorien - ein Vorgehen, das typisch für den Utilitarismus in seinen verschiedenen Ausprägungen ist - führt Sen im Wesentlichen zwei Argumente an: Erstens weist er darauf hin, dass es nicht angemessen sei, das Wohlergehen (im Sinne von Glücks- oder Lustempfinden) als das einzig Wichtige im Leben zu betrachten.17 Denn es gebe viele Aspekte, die zentral für den Menschen seien und nicht durch eine Theorie, die psychischen Phänomenen eine so fundamentale Rolle zuweist, gefasst werden können. David Crocker fast diesen Kritikpunkt Sens folgendermaßen zusammen: Humans are not only experiencers or preference satisfiers; they are also judges, evaluators, and doers. They decide on and revise their conception of the good as well as satisfy desires based on those conceptions. And these basic aims often go well beyond the agent´s pursuit of utility (or any other conception of well-being or personal ›advantage‹).18
Will man die Lebenslage eines Menschen adäquat bewerten, muss man laut Sen somit wesentlich mehr berücksichtigen als den Umstand, wie glücklich er ist. Denn die Autonomie des Menschen ermöglicht es ihm, Ziele zu verfolgen, die er wertschätzt - und diese können durchaus dem eigenen Wohl übergeordnet sein (Ein Menschenrechtsaktivist etwa kann der Überzeugung sein, dass es geboten ist, an bestimmten Demonstrationen teilzunehmen, selbst auf die Gefahr hin, festgenommen oder zusammengeschlagen zu werden). Zweitens betont Sen in diesem Zusammenhang die Tatsache der Anpassung und psychischen Konditionierung.19 Damit ist gemeint, dass sich unsere Wünsche und unser Vermögen, Glück
17 18 19
Vgl. Sen, Amartya (1990): On Ethics and Economics. Crocker, David (1992): Functioning and Capability. The Foundation of Sen´s and Nussbaum´s Development Ethic, S. 584-612, hier: S. 60. Vgl. Sen, Development as Freedom, S. 62f.; Sen, Amartya (1999): Commodities and Capabilities, S. 14f.
18
Gunter Graf
zu empfinden, in sehr starkem Ausmaß an die jeweiligen Umstände anpassen. Ist man z.B. gewohnt, in Armut zu leben, und hat man darüber hinaus keinerlei Aussichten auf eine Verbesserung seiner Situation, gibt man sich gemäß Sen in der Regel mit wenig zufrieden - ganz einfach, um damit sein Leben trotz widriger Umstände erträglich gestalten zu können. Menschen können demnach massiv sozial benachteiligt und trotzdem glücklich und zufrieden sein. Aus einem utilitaristischen Blickwinkel, der ja die subjektiven Befindlichkeiten ins Zentrum rückt, gibt es deshalb keinen Grund, die Situation dieser Menschen zu verbessern, auch wenn sie objektiv gesehen erheblichen Mangel leiden. Interpersonelle Vergleiche hinsichtlich der Lebensqualität erscheinen auf dieser Grundlage zweifelhaft, da die besagten psychischen Zustände nur sehr beschränkt Auskunft über die tatsächlichen Lebenslagen geben. Das soll jedoch nicht heißen, dass Sen dem Wohlergehen der Betroffenen überhaupt keinen Stellenwert einräumt; er weist nur auf zwei Punkte hin, die ihm in diesem Zusammenhang am Utilitarismus als unhaltbar erscheinen: Erstens sei es nicht angemessen, Wohlergehen als den einzig wichtigen Wert zu erachten, und zweitens könne man es auch nicht eins zu eins mit dem Auftreten von bestimmten psychischen Zuständen wie Lust oder Glück gleichsetzen.
2.2 Der Fähigkeitenansatz als Alternative Sens Argumente gegen die vorgeschlagenen Informationsbasen zeigen, dass sie alle mit schwerwiegenden Mängeln einhergehen, wenn man die Freiheit des Menschen, verschiedene Entscheidungen treffen zu können, als wichtig erachtet. Er entwickelte deshalb ein Modell, auf das dem Anspruch nach eben genannte Einwände nicht zutreffen und das demzufolge eine wesentliche Verbesserung darstellt. Sen bezeichnete es als »Capability Approach«. Was ist nun so besonders an Sens Zugangsweise? Wie sich bei Sens Kritik an einer materiellen Informationsbasis zeigte, erachtet er Sachgüter (commodities) bloß als Mittel, um gewisse Zwecke, genauer: Funktionsweisen, die von der jeweiligen Person wertgeschätzt werden, zu erreichen. Funktionsweisen sind aufzufassen als Zustände (beings) bzw. Aktivitäten (doings), die analytisch gesehen das Leben einer Person ausmachen.20 Verschiedene Sachgüter eignen sich nun - je nachdem, wie sie beschaffen sind - für
20
Sen drückt das wie folgt aus: a) »Living may be seen as consisting of a set of interrelated ›func tionings ‹, consisting of beings and doings« (Sen, Amartya, 1992: Inequality Reexamined, S. 39); b) »A functioning is an achievement of a person: what he or she manages to do or to be. It reflects, as it were, a part of the ›state ‹ of that person« (Sen, Commodities, S. 7).
Der Fähigkeitenansatz im Kontext von Informationsbasen sozialethischer Theorien
19
die Realisierung unterschiedlicher Funktionsweisen und können von ihren Besitzern dementsprechend eingesetzt werden. Verfügt man z.B. über Essen, kann man die Eigenschaften dieses Gutes für verschiedene Ziele nutzen: um seinen Hunger zu stillen, um Genuss an der Nahrungsaufnahme zu empfinden, aber auch dazu, um Veranstaltungen verschiedenster Art angenehmer zu gestalten.21 Hier ist es wichtig, zu verstehen, dass der alleinige Besitz eines Sachgutes noch relativ wenig darüber aussagt, was die entsprechende Person damit anfangen kann. Denn verschiedene Faktoren beeinflussen die Überführung von Gütern in Funktionsweisen nachdrücklich. Die Vielfalt von Aspekten, die mit einer Funktionsweise einhergehen, erläutert Sen des Öfteren am Beispiel des Radfahrens22: Um diese Tätigkeit ausführen zu können, benötigt man zunächst einmal ein Rad, das als Sachgut aufzufassen ist. Man kann es besitzen, es anfassen und sogar auf ihm sitzen, ohne es tatsächlich zu fahren. Die Tätigkeit des Radfahrens einer Person - eine Funktionsweise im hier verstandenen Sinn - fällt dagegen in eine ganz andere Kategorie. Es handelt sich um eine zielgerichtete menschliche Aktivität, die zwar ein Rad voraussetzt, aber klarerweise von ihm unterschieden werden muss. Um Rad zu fahren, muss man entsprechende Fertigkeiten haben und einen Entschluss fassen - und dieser Entschluss setzt Entscheidungsfähigkeit voraus. Darüber hinaus müssen aber auch Bedingungen erfüllt sein, die unseren bewussten Entscheidungen weitgehend entzogen sind: Denn ohne ausreichende Gesundheit ist es einfach nicht möglich, sich auf einem Rad fortzubewegen. Die Funktionsweise des Radfahrens geht in der Regel auch mit mentalen Zuständen (Empfinden von Glück, Angst etc.) einher. Bei ihnen handelt es sich auch um Befindlichkeiten bzw. Zustände einer Person und folglich um Funktionsweisen, die aber in einem wichtigen Sinne anderen »functionings« nachgeordnet sind. An dieser Stelle sieht man auch, dass Funktionsweisen - wie es vielleicht irreführenderweise vom Beispiel des Radfahrens angedeutet wird - nicht darüber charakterisiert werden können, dass sie von einer entsprechenden Person gewollt und somit intentional herbeigeführt werden. Das Wichtige ist vielmehr, dass es sich bei Funktionsweisen um alle Zustände und Befindlichkeiten handelt, die das menschliche Leben konstituieren. Und folglich sind laut Sen so unterschiedliche Dinge wie, um zum obigen Beispiel des Essens zurückzukehren, (a) das Auswählen, Essen zu wollen, (b) die intentionale Aktivität des Essens, (c) die psychischen Zustände, die man beim Essen empfindet, (d) der Prozess des Verdauens, (e) der Zustand, gut genährt zu sein, und (f) alle Aktivitäten, wie z.B. Arbeiten oder Sport-
21 22
Vgl. Sen, Commodities, S. 6f. Vgl. Sen, Commodities, S. 6 und Crocker, David (2008): Ethics of Global Development, S. 164ff.
20
Gunter Graf
betreiben, die erst dadurch ermöglicht werden, dass man ausreichend ernährt ist, zur Kategorie der Funktionsweisen zu zählen.23 Für Sen ist es nun aber nicht genug, bei den tatsächlich erreichten Funktionsweisen stehen zu bleiben, wenn es darum geht, sich mit dem guten menschlichen Leben auseinander zu setzen. Wie zuvor schon angeklungen ist, erachtet er die Freiheit des Einzelnen, das Leben führen zu können, für das er sich nach eingehenden Überlegungen entscheidet, für ausschlaggebend. Und um diese Überlegung zu präzisieren, bringt er den Begriff der Fähigkeit (capability) ins Spiel: Closely related to the notion of functionings is that of the capability to function. It represents the various combinations of functionings (beings and doings) that the person can achieve. Capability is, thus, a set of vectors of functionings, reflecting the person´s freedom to lead one type of life or another. 24
Hier ist es angebracht, eine kurze Bemerkung zur Terminologie einzuschieben, um etwaige Missverständnisse zu vermeiden: In Sens älteren Arbeiten verwendet er den Term »Fähigkeit« (im Eigentlichen verstanden als »die Fähigkeit einer Person x«)25 ausschließlich als Funktionsausdruck, um damit die Menge (capability set) zu bezeichnen, die alle und nur die Kombinationen von Funktionsweisen26 als Elemente beinhaltet, die die entsprechende Person tatsächlich erreichen kann. Gemäß diesem Sprachgebrauch können Funktionsweisen entweder potenziell oder realisiert und damit aktual sein. Der Begriff wird von vielen jedoch auch anders verwendet. Sie bezeichnen damit die angesprochenen potenziellen Funktionsweisen und gehen davon aus, dass die Fähigkeitenmenge einer Person verschiedene Fähigkeiten beinhaltet. Nur in dieser Verwendungsweise des Wortes ergibt es Sinn, von Fähigkeiten einer Person im Plural zu sprechen. Beschäftigt man sich mit Sens Version des Fähigkeitenansatzes muss man beachten, dass er in seinen älteren Schriften ausschließlich die erste Bedeutungsvariante verwendet.
23 24 25 26
Vgl. Crocker, David (1995): Functioning and Capability: The Foundation of Sen´s and Nussbaum´s Development Ethic, Part 2, S. 153-198, hier: 154. Sen, Inequality, S. 39f. Vermutlich sollte man hier auch noch einen entsprechenden Zeitpunkt t explizit berücksichtigen, sodass der Funktionsausdruck wie folgt aussieht: »die Fähigkeit einer Person x zum Zeitpunkt t«. Jede solche Kombination - verstanden als n-Tupeln von Funktionsweisen (functioning n-tuples) beinhaltet jene Aktivitäten und Befindlichkeiten, die einen möglichen Lebensstil ausmachen (vgl. Sen, Justice, 113f.). Man beachte, dass gemäß diesem Sprachgebrauch die Fähigkeitenmenge einer Person irreführenderweise keine Fähigkeiten beinhaltet.
Der Fähigkeitenansatz im Kontext von Informationsbasen sozialethischer Theorien
21
In seinen neueren Arbeiten passt er sich z.T. jedoch an den heute üblicheren Sprachgebrauch an und benutzt den Term »Fähigkeit« in beiden angegebenen Bedeutungen.27 Der Begriff »Fähigkeit« bezieht sich bei Sen also auf die Lebensweisen (verstanden als unterschiedliche Kombinationen von Funktionsweisen), die einer Person tatsächlich offenstehen. Dadurch ist es möglich, die Entscheidungsfreiheit des Menschen und den Umstand der Wahlmöglichkeit begrifflich zu erfassen und ohne Verzerrungen wiederzugeben. Fähigkeiten sind für Sen also in erster Linie als Möglichkeiten bzw. Gelegenheiten zu verstehen, gewisse Funktionsweisen zu erreichen. Doch warum sollte man Fähigkeiten und nicht Funktionsweisen als die grundlegende ethische Kategorie ansehen? Dazu muss man zuerst noch einmal auf den engen Zusammenhang zwischen diesen beiden Begriffen hinweisen. Denn Fähigkeiten werden ja auf der Grundlage von Funktionsweisen definiert; sie sind nichts anderes als Kombinationen von Funktionsweisen, die echte Optionen für die jeweilige Person darstellen.28 Die Fähigkeitenmenge einer bestimmten Person beinhaltet somit natürlich auch Informationen über jene Kombination von Funktionsweisen, die die Person auch tatsächlich gewählt hat, da sie klarerweise auch unter den zugänglichen Optionen zu finden ist.29 Da es nun möglich ist, den Wert einer Menge über eines ihrer Elemente zu bestimmen30, kann man auch die Fähigkeitenmenge bei Bedarf über die realisierten Aktivitäten und Befindlichkeiten (die ja - aufgefasst als n-Tupel - ein besonderes Element der Menge sind) charakterisieren. Mit anderen Worten heißt das, dass eine Bewertung der Lebenssituation eines Menschen auf der Grundlage seiner tatsächlichen Funktionsweisen als ein Spezialfall einer Bewertung anhand der gesamten Fähigkeitenmenge verstanden werden kann.31 Damit ist sichergestellt, dass es zu keinem Verlust an relevanten Informationen kommt, wenn man Fähigkeiten anstatt tatsächlich gewählter oder erreichter Funktionsweisen als die Informa-
27 28
29 30
31
Vgl. Robeyns, Ingrid (2005): The Capability Approach: a Theoretical Survey, S. 93-114, hier: S. 100. »(…) capability is defined in terms of the same focal variables as functionings. In the space of functionings, any point represents an n tuple of functionings. Capability is a set of such functio ning n tuples, representing the various alternative combinations of functionings from which the person can choose one combination.« (Sen, Inequality, S. 50) Hier ist es natürlich nötig, die Fähigkeitenmenge vor der Entscheidung zu berücksichtigen. Sen nennt den Vorgang der Bewertung einer Menge anhand eines ihrer Elemente »elementary evaluation«. Besonders in der üblichen Fassung der Konsumtheorie wird dieses Verfahren ange wendet. Denn dort wird die Menge an möglichen Wahloptionen ausschließlich über den Wert des besten enthaltenen Elementes beurteilt. Vgl. dazu besonders Sen, Inequality, S. 50f.
22
Gunter Graf
tionsbasis einer normativen Theorie betrachtet. Doch Sens Forderung ist stärker. Er argumentiert dafür, dass Fähigkeiten als fundamentale ethische Kategorie Funktionsweisen nicht bloß gleichwertig, sondern Letzteren auch überlegen sind. Der Hauptgrund dafür ist gemäß Sen - wie zuvor schon kurz angedeutet - darin zu sehen, dass Fähigkeiten die Freiheit des Einzelnen ausdrücken, was sich für viele Analysen und Bewertungen zentraler sozialphilosophischer Begriffe verwenden lässt.32 Beschäftigt man sich etwa mit der Lebenssituation einer Person, sollte man laut Sen nicht nur berücksichtigen, welches Leben sie tatsächlich führt. Es ist auch von erheblichem Interesse, welche Funktionsweisen sie ausführen könnte, wenn sie nur wollte. Ein Mensch z.B. könnte hungern, weil er keinen Zugang zu Nahrungsmitteln hat oder sich dafür entscheidet, in einen Hungerstreik zu treten, um auf Menschenrechtsverletzungen hinzuweisen. Die tatsächlich erreichten Funktionsweisen wären in diesem Fall gleich, doch es ist offensichtlich, dass ein gewichtiger Unterschied in den jeweiligen Lebenslagen besteht. Fähigkeiten als Bewertungsbasis ermöglichen es, diesem Umstand gerecht zu werden und andere Aspekte (persönliche Ziele, Wertvorstellungen etc.) in die Evaluierung einfließen zu lassen. Darüber hinaus ist Sen der Auffassung, dass Chancen, die nicht ergriffen werden - wie das ja bei den meisten Elementen der Fähigkeitenmenge der Fall ist -, ein besonderer Wert zukommt. Er versteht das Wählen als eine wertvolle Funktionsweise und sieht einen großen Unterschied zwischen dem Besitzen eines Gegenstandes x, wenn keine denkbare Alternative auszumachen ist, und der bewussten Entscheidung für x, wenn wirkliche Alternativen bestehen.33
2.3 Der Fähigkeitenansatz als ergänzungsbedürftiger normativer Rahmen Wie deutlich wurde, handelt es sich beim Fähigkeitenansatz im Sinne Sens zuerst einmal um einen Vorschlag für eine Informationsbasis einer sozialethischen Theorie: Fähigkeiten bzw. Funktionsweisen sollen die grundlegende Kategorie bilden und dazu benutzt werden, die Bedeutungen von sozialphilosophisch und entwikklungsökonomisch bedeutsamen normativen Ausdrücken festzulegen. Nur so sei es möglich, die weiter oben kritisierten Verzerrungen alternativer Theorien zu vermeiden und zu angemessenen Informationen zu den Lebenslagen der Betroffenen vorzudringen. Es wird möglich, der Wahlfreiheit des Menschen einen Wert
32 33
Vgl. Sen, Inequality, S. 49ff. Vgl. Sen, Development as Freedom, S. 81.
Der Fähigkeitenansatz im Kontext von Informationsbasen sozialethischer Theorien
23
zuzuschreiben und so ein wesentlich differenzierteres Bild eines guten menschlichen Lebens zu entwickeln, als das bei den durch Sen kritisierten Ansätzen der Fall ist. Nun könnte man dazu geneigt sein, den Fähigkeitenansatz einzig und allein über seine Informationsbasis zu definieren - und in der Tat bezeichnet Sen jeden Ansatz, der diese Kategorien als grundlegend erachtet als »capability approach« 34. Doch damit ist sehr wenig ausgesagt und in der Tat entstehen die meisten theoretischen Streitpunkte dann, wenn versucht wird, (notwendige) Konkretisierungen des Ansatzes durchzuführen. Das ist wenig verwunderlich, da er um überhaupt gehaltvolle Aussagen liefern zu können - notgedrungen mit ethischen Theorien und gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen ergänzt werden muss: Es gilt, Stellung zu der alten Frage nach dem guten menschlichen Leben zu beziehen, inhaltliche Aussagen darüber zu treffen, was als erstrebenswert anzusehen ist, und auch zu überlegen, wen soziale Einrichtungen aus welchen Gründen beim Erwerb welcher Fähigkeiten unterstützen sollten. Und je nachdem, wie man den Ansatz in Hinblick auf diese Fragen spezifiziert, ergeben sich verschiedene Ausprägungen. Sen selbst war seit Beginn seiner Arbeiten bedacht darauf, wenig inhaltliche Vorgaben nach der Wertigkeit von bestimmten Funktionsweisen und Fähigkeiten zu machen, und betonte die Kulturabhängigkeit solcher Fragen.35 Es sei zwar offensichtlich, dass zentrale Fähigkeiten identifiziert werden müssen, um den Fähigkeitenansatz auf ein konkretes Problem anwenden zu können. Es gilt, wichtige von trivialen zu unterscheiden und - so weit wie möglich - eine Reihung der Fähigkeiten durchzuführen.36 Doch dabei müssten immer Kontext und Zielrichtung der angestrebten Untersuchung berücksichtigt werden. Denn die Wertigkeit von Funktionsweisen und Fähigkeiten lasse sich immer nur in Hinblick auf ein bestimmtes Unterfangen angeben und gelte nicht per se. Sen sieht nun eine wesentliche Stärke seiner Version des Fähigkeitenansatzes darin, dass von ihm keine Wer-
34
35 36
Sen, Amartya (1993): Capability and Well-Being, S. 30-53, hier: S. 48. Hier ist es interessant, festzuhalten, dass Martha Nussbaums Sozialphilosophie - für viele der Inbegriff des Fähigkeiten ansatzes - von diesem Standard abweicht. Die Informationsbasis ihrer Theorie unterscheidet sich nämlich wesentlich von der Sens (Eine Fähigkeit ist in ihrem Sprachgebrauch zu verstehen als ein allgemeines Vermögen oder eine Disposition, die im Wesentlichen in der Person selbst verankert ist, und nicht eine echte Wahlmöglichkeit, wie das bei Sen der Fall ist), was allerdings dadurch kaschiert wird, dass sie die gleichen Wörter wie Sen verwendet, aber andersartige Objekte damit bezeichnet (vgl. dazu Crocker, Ethics, S. 172f.). Vgl. Sen, Equality, S. 219. Vgl. Sen, Inequality, S. 44f.
24
Gunter Graf
tungen vorgegeben werden und er in diesem Sinne unvollständig (incomplete) ist. Wie gesagt betont er zwar, dass eine Bewertung von Fähigkeiten unerlässlich ist, wie diese aber im Detail auszusehen hat, darüber behält er Stillschweigen. Wichtig ist ihm nur, dass Wertungen explizit zu erfolgen haben und - speziell wenn es um die Festlegung eines Spektrums an Funktionsweisen und Fähigkeiten zu einer sozialen Bewertung geht (wie das beispielsweise bei sozialwissenschaftlichen Armutsstudien der Fall ist) - durch einen begründeten Konsens festgelegt werden. Dazu bedürfe es der öffentlichen Diskussion, eines demokratischen Verständnisses und der Akzeptanz.37 Die besagte Unvollständigkeit sei jedoch kein Grund zur Verlegenheit, sondern ein großer Vorteil seines Ansatzes: Denn er kann mit verschiedenen Verfahren zur Bewertung von Funktionsweisen und Fähigkeiten verbunden werden, was eine große Anwendungsbreite ermöglicht. Sens Reserviertheit gegenüber der Vervollständigung des Fähigkeitenansatzes (d.i. eine vollständige Auflistung an Funktionsweisen und Fähigkeiten, die ein gutes Leben auszeichnen) hat vor allem auch mit dem Pluralismus an faktisch vorhandenen ethischen Positionen zu tun. Es scheint so zu sein, dass sich Wertfragen vielfach nicht endgültig entscheiden lassen, und deshalb ist es laut Sen auch ratsam, prinzipiell offen gegenüber verschiedenen Positionen zu sein, solange sie Funktionsweisen bzw. Fähigkeiten als grundlegend erachten. Versuche, wie etwa jenen von Martha Nussbaum38, eine konkrete Liste von zentralen menschlichen Grundfähigkeiten zu begründen, die als Rechtfertigung für universell gültige politische Prinzipien dienen soll, sieht er als eine mögliche Vervollständigung des Fähigkeitenansatzes an. Er lässt aber auch keinen Zweifel daran aufkommen, dass er Nussbaums aristotelisch geprägte Argumentationsweise für fragwürdig hält: Denn eine so konkrete Angabe dessen, was als gutes menschliches Leben zu erachten ist, scheint ihm überspezifiziert und mit einer gewissen Scheinobjektivität verbunden zu sein.39 Dennoch kann darauf hingewiesen werden, dass auch Sen in seinen Arbeiten (vor allem in denen der letzten beiden Jahrzehnte) deutlich über die Minimalversion eines Fähigkeitenansatzes (d.i. die bloße Forderung, dass Funktionsweisen und Fähigkeiten die Informa-
37 38
39
Vgl. Sen, Development as Freedom, S. 78f. Vgl. dazu etwa Nussbaum, Martha C. (1999): Der aristotelische Sozialdemokratismus; Nussbaum, Martha C. (2000): Women and Human Development - The Capabilities Approach. Nussbaum argumentiert darin für die Gültigkeit gewisser Prinzipien, die jeder Verfassung zugrunde liegen sollten, und versucht auf diese Weise eine philosophische Begründung der Menschenrechte zu liefern. Vgl. Sen, Capability and Well-Being, S. 47.
Der Fähigkeitenansatz im Kontext von Informationsbasen sozialethischer Theorien
25
tionsbasis bilden sollten) hinausgeht und eine normative Perspektive entwickelt, die mit der Anerkennung (zumindest dem Anspruch nach) universell gültiger Werte verbunden ist.40 Er geht davon aus, dass die Autonomie des Menschen grundlegend ist und gefördert werden muss. Entwicklung, so ist es bei ihm zu lesen, kann als Prozess der Ausweitung der tatsächlichen Freiheiten verstanden werden, die den Menschen zukommen.41 Er argumentiert somit dafür, dass es gut ist, wenn Personen die Möglichkeit haben, sich für viele verschiedene Lebensweisen entscheiden zu können, - etwas, das er als kulturunabhängige Konstante zu befürworten scheint - und betont die Wichtigkeit der politischen Partizipation, was wiederum mit vielen weiteren Forderungen verbunden ist: Er ist der Meinung, dass allen Menschen der Zugang zu Bildung ermöglicht werden sollte, betont die Bedeutsamkeit von unzensierten Medien und plädiert dafür, dass jeder Mensch die Möglichkeit haben sollte, aus freien Stücken an sozialen Entscheidungen teilzunehmen (durch Wahlen, Referenda - oder einfach durch das Einsetzen von Zivilrechten).42 Somit wird auch klar, dass hinter seinen Argumenten ein Gleichheitsgrundsatz steht: Das Leben jedes Menschen hat den gleichen Wert und jeder Mensch hat den gleichen Anspruch - unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, religiöser Überzeugung, kultureller Zugehörigkeit etc. -, in seiner Entwicklung gefördert zu werden. Ein Prinzip der fairen Chancengleichheit scheint also grundlegend für Sens Ansatz zu sein. Daraus ergibt sich auch, dass Sens Konzeption mit einem ethischen Individualismus einhergeht: Der Einzelne und nicht Gruppierungen wie Familien oder andere gesellschaftliche Institutionen stehen im Mittelpunkt und bilden den Ausgangspunkt für weitere Überlegungen. Sens Ergänzungen zur Basisversion eines Fähigkeitenansatzes mit seiner Betonung der Autonomie des Menschen dürften sich somit auch gegen bestimmte Formen der in akademischen Kreisen weit verbreiteten Auffassung des ethischen Relativismus wenden - jener Position, die davon ausgeht, dass es unverträgliche Systeme43 moralischer Normen gibt, von denen keines bevorzugt gerechtfertigt werden kann44 und reichen weit in die politische Philosophie und Gerechtigkeitstheorie hinein. Sein Prinzip der fairen Chancengleichheit führt schließlich zu einer massiven
40 41 42 43 44
Vgl. Sen, Development as Freedom, S. 244ff. Vgl. Sen, Development as Freedom, S. 3. Vgl. Sen, Development as Freedom, S. 242. Ethische Systeme sind unverträglich, wenn sie miteinander unvereinbare moralische Urteile bei Gleichheit der unterstellten Situationsumstände beinhalten. Normalerweise wird davon ausgegangen, dass der ethische Relativismus durch folgende drei Punkte gestützt wird: (1) die Unmöglichkeit, Normen aus Tatsachen abzuleiten, (2) das unter-
26
Gunter Graf
Kritik an vielen faktisch vorhandenen Gesellschaftsformen und ist mit einem »anything goes« in moralischen Fragen nicht vereinbar. In Sens Denken ist die Frage, wie eine Gesellschaft organisiert sein muss, um jedem ihrer Mitglieder angemessene Entfaltungsmöglichkeiten zu bieten, von großer Wichtigkeit und er spricht sich für einen politischen Rahmen aus, der dem von Rawls in vielen Aspekten nicht unähnlich ist. Was heißt es nun, den Fähigkeitenansatz umzusetzen und für die Praxis brauchbar zu machen? Im Lichte des Gesagten dürfte klar geworden sein, dass diese Frage nicht leicht zu beantworten ist. Der Fähigkeitenansatz ist ein normativer Rahmen, der - außer einer Informationsbasis - relativ wenig vorgibt. Es ist ein Vorschlag, wie man Verzerrungen vermeiden kann, indem man direkt auf das Leben der Betroffenen und die Chancen, die ihnen offenstehen, blickt. Von seiner Umsetzung kann man in der Folge nur sinnvoll sprechen, wenn klar ist, durch welche weiteren normativen Annahmen er ergänzt wird und für welche Zwecke man ihn einsetzen will. Sens liberale Perspektive mit der Betonung der Autonomie des Menschen und dem Vorschlag, die Ausweitung der realen Freiheiten des Einzelnen als das eigentliche Ziel von politischen Maßnahmen zu machen,45 zeigt eine vielversprechende Perspektive auf, geht aber doch deutlich über eine »Minimalvariante« des Fähigkeitenansatzes hinaus und kann nicht aus seiner Informationsbasis abgeleitet werden. Beruft man sich nun auf Sens Version des Ansatzes und erachtet es als grundlegend, so vielen Menschen wie möglich ein Leben zu ermöglichen, das sie aus gutem Grunde wertschätzen, entsteht natürlich die Frage, wie das zu bewerkstelligen ist - und hier wird deutlich, dass auch der Rahmen, den Sen vorgibt, mit gehaltvolleren - sowohl normativen als auch empirischen - Theorien zu ergänzen ist. Es wird nötig sein, zu spezifizieren, welche Fähigkeiten für den jeweiligen Kontext relevant sind, und so etwas wie eine Hierarchie der Fähigkeiten aufzustellen. Wie dies freilich geschehen soll, ist umstritten und war in den letzten Jahren Gegenstand heftiger Debatten.46 Doch für die Anwendung des Ansatzes auf die Praxis ist es unausweichlich, sich diesen Wert-
45
46
stellte Vorhandensein individueller, kultureller und historischer Vielfalt der jeweils akzeptierten ethischen Prinzipien und (3) die Annahme, dass die Versuche einer naturrechtlichen oder vernünftigen Normenbegründung unzulänglich oder zur Stützung eines gehaltvollen ethischen Systems unzureichend sind (vgl. Carrier, M., 2004, Relativismus, S. 564f.). Fähigkeiten und Funktionsweisen als Informationsbasis ermöglichen es, die Freiheit des Einzelnen zu berücksichtigen. Daraus zu folgern, dass das Ziel von Entwicklung die Erweiterung der realen Freiheiten jedes Menschen ist, ist selbstredend wesentlich anspruchsvoller. Vgl. dazu Robeyns, Ingrid (2006): The Capability Approach in Practice, S. 355f.
Der Fähigkeitenansatz im Kontext von Informationsbasen sozialethischer Theorien
27
fragen zu stellen und sich damit auseinander zu setzen, wie ein gutes Leben in einem bestimmten soziokulturellen Kontext aussieht. Der Versuch, die betroffenen Menschen zu einem solchen Leben zu befähigen, bedarf in weiterer Folge Anstrengungen auf verschiedenen Ebenen. Die politische wurde vorher schon angesprochen und findet sich in Sens Arbeiten an prominenter Stelle wieder. Doch natürlich muss auch überlegt werden, welche konkreteren Möglichkeiten es gibt, die dazu beitragen, dass Menschen ihr Potenzial entwickeln und eine Lebensweise wählen können, die sie aus gutem Grunde wertschätzen - und hier liegt es auf der Hand, in einen Dialog mit Pädagogik, Sozialisationsforschung, Psychologie usw. zu treten. Denn dort finden sich die Experten, die wissenschaftlich fundierte Perspektiven aufzeigen können, wie man zentrale philosophisch-theoretische Einsichten in die Tat umsetzt.
Literatur Carrier, Martin (2004): Relativismus. In: Mittelstraß, Jürgen (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band 3. Stuttgart: J. B. Metzler, 564-565. Crocker, David (2008): Ethics of Global Development. Cambrige/New York: Cambridge University Press. Crocker, David (1992): Functioning and Capability: The Foundation of Sen´s and Nussbaum´s Development Ethic. In: Political Theory 20/4, 584-612. Crocker, David (1995): Functioning and Capability: The Foundation of Sen´s and Nussbaum´s Development Ethic, Part 2. In: Nussbaum, Martha/Glover, Jonathan (Hg.), Women, Culture, and Development. New York: Oxford University Press, 153-198. Nussbaum, Martha C. (1999): Der aristotelische Sozialdemokratismus. In: Pauer-Studer, Herlinde (Hg.), Gerechtigkeit oder das gute Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Nussbaum, Martha C. (2000): Women and Human Development - The Capabilities Approach. Cambridge/New York/Melbourne: Cambridge University Press. Rawls, John (1975): Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Rawls, John (1982): Social Unity and Primary Goods. In: Sen, Amartya/Williams, Bernard (Hg.), Utilitarianism and beyond. Cambridge: Cambridge University Press. Robeyns, Ingrid (2005): The Capability Approach: a Theoretical Survey. In: Journal of Human Development 6/1, 93-114. Robeyns, Ingrid (2006): The Capability Approach in Practice. In: The Journal of Political Philosophy, 14/3, 351-376. Sen, Amartya (1990): On Ethics and Economics. Oxford/Cambridge MA: Basil Blackwell. Sen, Amartya (1992): Inequality Reexamined. Cambrige MA: Harvard University Press.
28
Gunter Graf
Sen, Amartya (1999): Commodities and Capabilities. Oxford/New York: Oxford University Press. Sen, Amartya (1999): Development as Freedom. New York: Anchor Books. Sen, Amartya (1980): Equality of What? In: McMurrin, Sterling M. (Hg.), The Tanner Lectures on Human Values. Salt Lake City: University of Utah Press. Sen, Amartya (1983): Development: Which Way now? In: The Economic Journal 93/372, 745-762. Sen, Amartya (1985): The Standard of Living: Lecture I, Concepts and Critiques. In: Hawthorn, Geoffrey (Hg.), The Standard of Living. Cambridge: Cambridge University Press, 1-19. Sen, Amartya (1990): Individual Freedom as a Social Commitment. In: New York Review of Books 37, 10. Sen, Amartya (1990): Justice: Means versus Freedoms. In: Philosophy and Public Affairs 19/2, 111-121. Sen, Amartya (1993): Capability and Well-Being. In: Nussbaum, Martha/Sen, Amartya, The Quality of Life. Oxford: Clarendon Press, 30-53.
Fähigkeiten und Fundamentalfähigkeiten Clemens Sedmak
Die Fähigkeit, einen »Fähigkeitenansatz« zu entwickeln, ist eine andere Fähigkeit als jene, Texte von Amartya Sen und Martha Nussbaum zu lesen. Fähigkeiten liegen nicht auf derselben Ebene. Daraus ergeben sich auch Überlegungen in Bezug auf Fähigkeiten, die in besonderer Weise zu fördern sind. Der nachfolgende Text beschäftigt sich mit dem Begriff der Fähigkeit und entwickelt ein Verständnis von Fundamentalfähigkeiten, denen besondere Aufmerksamkeit zu schenken ist.
1. Begrifflichkeiten Eine Fähigkeit ist das Vermögen, einen Sachverhalt kausal zu beeinflussen. In diesem Sinne hat eine Fähigkeit mit »Transformation von Wirklichkeit«, »Herstellung von Situationen«, »Veränderung von Welt« zu tun. Oder: Eine Fähigkeit ist das Vermögen, einen bestimmten Weltzustand herzustellen. In diesem Sinne ist eine Fähigkeit verbunden mit Aspekten wie »Konstruktion von Wirklichkeit«, Intentionalität und Planbarkeit. Oder: Fähigkeiten sind Möglichkeitsvermögen - eine Fähigkeit ist das Vermögen, Möglichkeiten zu erschließen, Möglichkeiten zu transformieren und Möglichkeiten zu realisieren. In diesem Sinne kann eine Fähigkeit als eine Kraft, Möglichkeiten zu koordinieren, verstanden werden. Oder: Eine Fähigkeit ist das Vermögen, eine Möglichkeit in eine Wirklichkeit zu überführen. In diesem Sinne hat Fähigkeit mit der Eröffnung eines Handlungsraumes zu tun; mit der Eröffnung eines Spielraums, innerhalb dessen Handlungsmacht ausgeübt werden kann. Der Begriff der Fähigkeit soll in dieser Hinführung eng an den Begriff der Möglichkeit gebunden sein. Den theoretischen Rahmen für ein Nachdenken über das Verhältnis von Fähigkeiten und Möglichkeiten kann fürs Erste die aristotelische Philosophie bieten: Eine »dynamis« (Möglichkeit, Kraft) ist nach Aristoteles ein Prinzip dafür, dass eine Veränderung stattfinden kann.1 Eine Fähigkeit besteht darin, eine Quelle für Veränderung zu haben bzw. Quelle für Veränderung zu sein; mit
1
Vgl. Aristoteles, Metaphysik V 12, 1020a1ff; Metaphysik IX 1, 1046a11.
C. Sedmak et al., Der Capability-Approach in sozialwissenschaftlichen Kontexten, DOI 10.1007/978-3-531-92749-7_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
30
Clemens Sedmak
Bezug auf den besonderen Status der Veränderung kann man denn auch eine Fähigkeit als das Vermögen charakterisieren, eine Bewegung in Gang zu bringen oder zu beenden. Wir könnten daraus schließen, dass Fähigkeiten den Bewegungsraum den Handlungsspielraum eines Menschen - vergrößern oder auch, dass ein Sinn für »agency«, für Handlungsmacht, Handlungsfreiheit und Handlungsfähigkeit wesentlich für die Kultivierung von Fähigkeiten ist. Fähigkeiten bewegen Möglichkeiten. »Befähigung« hat denn auch mit der Ausbildung dessen zu tun, was Robert Musil seinerzeit einen »Möglichkeitssinn« genannt hat; dieser ist auch verbunden mit einem Sinn für die »Beweglichkeit« der Wirklichkeit. Fähigkeiten bewegen Situationen. Eine Bewegung wiederum ist eine Form eines Übergangs, die in einem räumlichen Rahmen als Bezugssystem stattfindet.2 Auch die Bewegung ist auf eine Entsprechung von Bewegtem und Bewegendem angewiesen - die Bewegung von Bewegendem und von Bewegtem erfolgt gleichzeitig.3 Damit ist gesagt, dass zur Ausübung einer Fähigkeit ein Wirklichkeitssinn, ein Verständnis für die Eigenschaften der vorliegenden Sachverhalte, erforderlich ist. Die Bewegung braucht einen Träger, also eine Substanz - und eine zugrunde liegende Materie (ein Substrat), an der sich die Bewegung vollzieht. Der Begriff der Veränderung bezieht sich nicht nur auf »Veränderung an etwas anderem«, sondern auch auf »Veränderung von und an sich selbst«. Wir werden noch sehen, dass dieser Sinn für die eigene Veränderbarkeit und Beweglichkeit als Fähigkeit zweiter Ordnung eine entscheidende Rolle bei der Ausbildung von Fähigkeiten spielt; oder auch: ein Sinn für die eigene Veränderbarkeit hängt mit dem Sinn für die Veränderbarkeit von Welt zusammen. Damit nun eine Veränderung stattfinden kann, bedarf es auf der einen Seite einer verändernden Kraft und auf der anderen Seite eines Materials, das sich verändern lässt? also Dinge, die die Eigenschaft haben, sich verändern zu lassen. Zwischen dem aktiven Vermögen zur Veränderung und dem passiven Vermögen zur Veränderung muss eine Entsprechung bestehen.4 Der angesprochene Wirklichkeitssinn hat mit der Einschätzung dieser Übereinstimmung zu tun. Die Potentialität liegt dabei als aktive im verändernden Subjekt und als passive im veränderten Objekt - um dies einmal in dieser Sprache auszudrücken. Auch die Fähigkeit, eine Veränderung zu erfahren, also die Fähigkeit der Formbarkeit und Empfänglichkeit, kann als Fähigkeit gedeutet werden. Wenn wir etwa den
2 3 4
Aristoteles zeigt diese Bewegung am Beispiel des Verfertigens eines Bronzestandbildes -Aristoteles, Physik III 1, 210a29ff. Vgl. Aristoteles, Physik VIII 1, 242a57ff. Vgl. Aristoteles, Metaphysik V 15, 1021a15-17.
Fähigkeiten und Fundamentalfähigkeiten
31
Begriff der »Leidensfähigkeit« heranziehen5, also die Fähigkeit, auf würdige und gute Weise mit Erfahrungen des Erleidens umzugehen, kann auch das Vermögen, sich von Erfahrungen formen zu lassen, als Fähigkeit ausgewiesen werden. »Geduld« und »Duldsamkeit« hängen ebenso mit dieser Fähigkeit, Veränderungen zu erfahren, zusammen, wie das Vermögen, sich durch eine ernsthafte Beziehung verändern zu lassen. Der Raum von Fähigkeiten wird damit nicht mit dem Raum von Gestaltungsmöglichkeiten allein ausgeschöpft; auch die Vermögen, die mit »Formbarkeit« zu tun haben, sind den Fähigkeiten zuzuzählen. Auf Seiten des Vermögens zur aktiven Veränderung können vernünftige und nichtvernünftige Träger dieses Vermögens unterschieden werden. Wenn wir es - wie im paradigmatischen Fall eines Menschen - mit einem vernünftigen Träger eines Veränderungsvermögens zu tun haben, kommt als zusätzlicher Aspekt der Veränderung der Wille oder die Entscheidung hinzu.6 Fähigkeiten sind damit auch in der aristotelischen Analyse mit »Fähigkeitsvermögen« verbunden, also mit der Fähigkeit, sich reflexiv zu Fähigkeiten und dem Einsatz von Fähigkeiten zu verhalten. Die Entscheidungsfähigkeit erscheint als grundlegende Fähigkeit im Umgang mit Fähigkeiten, also als fundamentale Fähigkeit zweiter Ordnung. Halten wir fürs Erste fest: Fähigkeiten bewegen und verändern. Ein Vermögen ist eine Kraft zur Veränderung. Diese Kraft hat eine aktive und passive Seite und kann auf verschiedenen Ebenen (Fähigkeiten erster und zweiter Ordnung) angesiedelt werden. Eine Fähigkeit ist also allgemein gesagt ein angeborenes oder erworbenes Vermögen, einen Sachverhalt kausal zu beeinflussen. Dieser Sachverhalt kann in der äußeren Wirklichkeit bestehen; davon ist etwa die Rede, wenn es heißt, jemand sei fähig, Fahrrad zu fahren oder ein Haus zu bauen. Fähigkeiten können sich aber auch auf innere Zustände beziehen, z.B. auf den Umgang mit Leid oder mit Erinnerungen. Eine Kombination beider Gesichtspunkte liegt wohl bei Fähigkeiten vor, welche unsere Beziehungen zu anderen betreffen. Wir werden den daraus entstehenden Zusammenhang von »Fähigkeiten« und »Identität« noch näher betrachten. Eine Fähigkeit ist weiters nicht nur das Vermögen, handelnd in einen Sachverhalt einzugreifen, sondern ebenso das Vermögen, einen Sachverhalt zu begreifen, entsprechend: Möglichkeitssinn und Wirklichkeitssinn auszuprägen, was natürlich wiederum die Grundlage dafür bildet, handelnd in Situationen einzugreifen. Fähigkeiten haben an der Schnittstelle von »Potentialität« (Anlagen zur Veränderung im Handlungssubjekt; subjektbezogene Potenzen) und »Possibilität« (Anlagen zur Veränderung im Sachverhalt; situationsbezogene Möglichkeiten)
5 6
Vgl. Sedmak, C./Unterrainer Chr. (2010): Leid verstehen, S. 123-132. Vgl. Aristoteles, Metaphysik IX 5, 1048a7-15.
32
Clemens Sedmak
eine subjektive und eine objektive Komponente; der Primat kommt dabei aber wohl dem subjektiven Aspekt zu: Im eigentlichen Sinne ist eine Fähigkeit etwas Subjektives, d.h. das Vermögen eines empfindenden, denkenden und handelnden Subjektes. Fähigkeiten sind mithin von objektiven Gegebenheiten zu unterscheiden, also von Möglichkeiten, die in der äußeren Wirklichkeit bestehen. Hier kann man Brücken zur Armutsforschung erkennen: Fähigkeiten auf der subjektiven Ebene sind auf Bedingungen, die über das Subjekt hinausgehen, angewiesen. Die Fähigkeit, ausgezeichnet Tischtennis zu spielen, ist in ihrer Realisierung auf Tisch, Schläger, Ball - und in der Regel einen Gegenspieler - angewiesen. Umgekehrt liegen Possibilitäten brach, wenn sie nicht durch subjektgebundene Potenzen genutzt werden können. Nach einer aristotelischen Analyse kann eine Fähigkeit als das Vermögen, theoretische Möglichkeiten in reale Gegebenheiten zu verwandeln, beschrieben werden; also als das Vermögen, etwas Mögliches in etwas Wirkliches zu überführen. Um eine Möglichkeit zu realisieren, müssen gewisse Sachverhalte - als Vorliegen und dezidiertes Nichtvorliegen von Tatsachen - realisiert sein. Wenn ich etwa die Fähigkeit, meinem Neffen bei der Lateinhausaufgabe zu helfen, realisieren möchte, darf die Tatsache, dass ich an Migräne leide, nicht gegeben sein; mein Neffe muss willens sein, sich von mir helfen zu lassen; die Lernsituation verlangt eine gewisse Ruhe, usw. Fähigkeiten sind also in ihrer Realisierung auf Ressourcen angewiesen. Damit werden Fragen nach dem Zugang zu Fähigkeiten durchaus auch Fragen sozialer Gerechtigkeit: Zugang zu Fähigkeiten zu ermöglichen, verlangt einen Zugang zu subjektiven Aspekten (Möglichkeitssinn, Wirklichkeitssinn, Entscheidungsfähigkeit und damit Fähigkeiten zweiter Ordnung) und einen Zugang zu objektiven Aspekten (Bestehen von Sachverhalten als Kombination aus bestehenden und nichtbestehenden Tatsachen) - ein Zugang zu Möglichkeiten ist stets mit einem Zugang zu Ressourcen verbunden. Das Fehlen eines Vermögens7 wiederum kann auf zweifache Weise gedeutet werden: Etwas fehlt, weil es dem Gegenstand nicht zukommt (ein Beispiel könnte hierfür der Umstand sein, dass einem Kühlschrank die Eigenschaft fehlt, »sehend« zu sein; oder aber etwas fehlt, weil es dem Gegenstand nicht zukommt, aber kraft seiner Natur zukommen sollte? wie dies etwa im Fall des fehlenden Sehsinns bei einem blinden Menschen zutrifft). Im zweiten Fall ist das Nichtvorhandensein des Vermögens vom erfolgten Verlust zu unterscheiden und hier wiederum kann Verlust auf nichtintentionale oder auf intentionale Weise im Sinne einer Beraubung erfolgen (etwa im unschönen Fall, dass jemand geblendet wird und auf diese Weise um sein Augenlicht kommt). Hier deuten sich Hin-
7
Vgl. Aristoteles, Metaphysik V 12, 1019b 15-20; ebd., V 22. 1022b15-1023a5.
Fähigkeiten und Fundamentalfähigkeiten
33
weise an, die zu einer Bestimmung von Armut als »Beraubung von Fähigkeiten« führen können.8 Dies hat offensichtlich mit dem »Matthäuseffekt« und dem »Matildaeffekt« zu tun. Der Matthäuseffekt geht auf Mt 25,29 zurück und besagt, dass denjenigen, die haben, gegeben wird.9 Anders gesagt: Wenn nämlich jemand über eine Fähigkeit verfügt, dann kann er Ressourcen erschließen. Und mit diesen Ressourcen kann er weitere Fähigkeiten realisieren bzw. sich auch weitere Fähigkeiten aneignen. Wenn ich, um das Beispiel der Lateinaufgabenhilfe weiterzuspinnen, Lateinkenntnisse habe, dann kann ich Nachhilfestunden anbieten, mir etwas dazuverdienen, um mir mit diesem Geld ein Arabischlehrbuch zu kaufen, damit ich mir Grundkenntnisse des Arabischen aneigne, die ich wiederum als freiberuflicher Übersetzer anwenden könnte, um dadurch wieder Ressourcen zu erwerben, mit denen ich … und so weiter. Fähigkeiten und Ressourcen sind offensichtlich wechselseitig miteinander verschränkt. Diese wechselseitige Verschränkung wirkt sich im Sinne des »Matildaeffekts« aus, der - ebenfalls in Anlehnung an Mt 25,29 - besagt, dass denjenigen, die nichts haben, auch das, was sie haben, genommen wird.10 Menschen, die über einen restringierten Zugang zu Fähigkeiten verfügen - etwa, weil Ressourcen vorenthalten werden oder weil der Zugang zu Fähigkeiten zweiter Ordnung erschwert ist -, sind in einer Situation sozialer Verwundbarkeit, die ihnen auch die Fähigkeiten, über die sie verfügen, absprechen oder abhanden kommen lassen. Menschen, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind, bauen oftmals Fähigkeiten ab - nicht nur, weil sie keinen Zugang zur Ausübung bestimmter Fähigkeiten haben, sondern auch, weil sie in ihrer Identität beschädigt sind und die (nicht bloß äußeren, sondern auch inneren) Voraussetzungen für die Kultivierung und den Erhalt von Fähigkeiten nicht mehr mitbringen; dazu kommt, dass der Matildaeffekt dort umso stärker einsetzen kann, wo Menschen gesellschaftlich als »Versager« oder dergleichen abgestempelt werden. An diesem Punkt stoßen wir auf Fragen sozialer Gerechtigkeit (etwa: Fairness in der Verteilung von Zugängen zu Fähigkeiten) und auf Fragen der Macht. Denn Fähigkeiten wie Ressourcen bedeuten Handlungsmacht. Fähigkeiten sind »powers«, die
8 9
10
Vgl. Sen, Amartya (1999), Development as Freedom, Kap. 4. Robert K. Merton hat diesen Effekt in den 1960er Jahren für die Zitationspraktiken festgestellt - vgl. Merton, R.K. (1968): The Matthew Effect in Science, S. 56-63. In der weiteren Folge wurde dieser Effekt oder dieses Prinzip auch unter Formulierungen wie »success breeds success« oder »richer get richer« bekannt gemacht. Margaret Rossiter hat den Matildaeffekt für die Wissenschaftsgeschichte identifiziert, als das Phänomen, dass herausragende Leistungen, selbst wenn sie von Frauen erbracht worden sind, Männern zugeschrieben wurden - vgl. Rossiter, M. (1993): The Matthew Matilda Effect, S. 325-341.
34
Clemens Sedmak
von »agents« getragen und durch das Hilfszeitwort »können« ausgedrückt werden. Sie hängen mit Potentialität, Kompetenz und Opportunität zusammen - und damit mit der Möglichkeit, dem Mandat und der Gelegenheit, eine Situationsveränderung herbeiführen zu können. Eine Fähigkeit zu besitzen, heißt die Macht zu haben, eine Situation zu verändern. So gesehen ist eine Fähigkeit Transformationsgewalt, die einen Gestaltspielraum erschließt und eine Situation umformen lässt, gleichzeitig aber auch einen Spielraum voraussetzt - nämlich die Möglichkeit, zu entscheiden, ob die Fähigkeit zur Anwendung gebracht wird oder nicht. Die Sicherung dieses Spielraums ist auf Ressourcen angewiesen, die Menschen erst in die Lage versetzen, darüber zu entscheiden, ob sie eine Fähigkeit ausüben wollen oder nicht. Was nun die Ausübung einer Fähigkeit betrifft, so kann dies in einer rechten und in einer unrechten Weise geschehen. Dies erfolgt im Rahmen einer Ordnung, die mit dem Begriff der Entelechie angedeutet werden kann.11 Ein Vermögen kann dabei auf verschiedene Weise eingesetzt werden; beispielsweise kann die ärztliche Kunst sowohl Gesundheit als auch Krankheit bewirken.12 Das Vorliegen einer Fähigkeit zeigt sich in der Handlung, auch wenn dies nicht notwendig dafür ist, jemandem eine Fähigkeit zuzusprechen. Jemand ist auch ein Baumeister, wenn er nicht baut, wie das Beispiel des Aristoteles lautet.13 Freilich können Menschen ihrer Fähigkeiten auch verlustig gehen und auch ein arbeitsloser Baumeister ist vor Matthäusprinzip und Matildaeffekt nicht gefeit. Wieder stoßen wir auf die Frage der Handlungsmacht. Handlungsmacht ist von innen her und von außen her strukturiert. Fähigkeiten werden von innen her durch innere Ressourcen, durch Einstellungen und Motivationen, Ziele und Überzeugungen strukturiert. Von außen her wird die Handlungsmacht nicht nur durch das Offenstehen von Möglichkeiten bestimmt, sondern es wird auch vor dem Hintergrund sozialer und kultureller Werte beurteilt, ob dabei eine Fähigkeit als solche vorliegt oder nicht. Nach Aristoteles der hier eine dezidierte Wertung vornimmt - sind alle Künste, alle produktiven Formen von Wissen als Vermögen anzusehen - weil sie Veränderung in einem Gegenstand oder im Künstler bzw. Wissenden bewirken.14 Dieser Hinweis auf die Bedeutung von Fähigkeiten, die zur Selbsttransformation führen, wird uns
11 12 13 14
Vgl. Aristoteles, Metaphysik IX 3, 1047a30-31 - Streben zur Wirklichkeit, zur Aktualität als Zielzustand. Vgl. Aristoteles, Metaphysik IX 1, 1046b5-7. Vgl. Aristoteles, Metaphysik IX 3, 1046b30-31. Vgl. Aristoteles, Metaphysik IX 1, 1046b4-5.
Fähigkeiten und Fundamentalfähigkeiten
35
in der Frage nach Fundamentalfähigkeiten noch beschäftigen. Wir bekommen dadurch Anhaltspunkte für entscheidende Fähigkeiten an die Hand.15 Fähigkeiten gestalten Möglichkeitsräume und Wirklichkeit. Sie bewegen und sie verändern. Sie sind in einen sozialen Kontext, aber auch in einen Rahmen subjektiver Zielsetzungen eingebunden. Nach Aristoteles wird das höchste Lebensziel, das Glück (eudaimonia), bekanntlich als entscheidender Rahmen menschlichen Strebens und Selbstverständnisses beschrieben und vor allem: als eine Form des Tätigseins, als ein Tätigsein der Seele.16 Daraus ergeben sich Hinweise auf die glücksentscheidenden Fähigkeiten - es sind also jene Fähigkeiten, die ein Tätigsein der Seele bewirken (im Sinne der ihr wesenhaften Tüchtigkeit) - hierfür ist das Lernen ganz entscheidend - wir könnten auch sagen: Der Aufbau von »Innerlichkeit« und damit das Erreichen einer gewissen Unabhängigkeit von äußeren Gütern.17 Als entscheidende glücksbringende Fähigkeiten sind weiter die Fähigkeit, nach dem höchsten Ziel zu streben, und die Freundschaftsfähigkeit zu nennen.18 Nach diesen Überlegungen könnten wir festhalten: Eine Fähigkeit eines vernunftbegabten Subjekts kann als ein aktives Vermögen zur intendierten Veränderung beschrieben werden; impliziert a) das Vorliegen der Potenz, b) die Identifikation eines geeigneten Objekts, das über die entsprechende passive Potenz verfügt (und damit die Identifikation einer Possibilität, wie wir sagen könnten), c) den Willensentschluss der Umsetzung - man kann hier noch zwei weitere Momente hinzufügen, nämlich d) die Kenntnis der aktiven Potenz und e) die angemessenen Ressourcen zur Realisierung der aktiven Potenz - denn aus bloßen Möglichkeiten lässt sich keine Möglichkeit realisieren, es bedarf bereits verwirklichter Möglichkeiten, um dies leisten zu können. Die Fähigkeiten von vernunftbegabten Subjekten können im Sinne der Bedeutung für das Streben nach hohen und höchsten Zielen hierarchisch geordnet werden, wobei die Fähigkeit des Lernens, die Fähigkeit des Strebens nach Hohem und die Freundschaftsfähigkeit als entscheidende Fähigkeiten zu nennen sind.
15
16 17 18
Die Fähigkeit, mit widrigen Situationen umzugehen, hat wesentlich mit inneren Faktoren zu tun - vgl. Sedmak, C. (2009): Coping Strategies and Epistemic Resilience, S. 23-44. Auch diese Überlegungen können bei der Bestimmung von Fundamentalfähigkeiten fruchtbar gemacht werden. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik I 13, 1102a5f; Politik VII 8, 1328a37-38. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik I 10, 1099b9ff. Vgl. Stemmer, P. (1992): Aristoteles' Glücksbegriff in der Nikomachischen Ethik, S. 85-110.
36
Clemens Sedmak
2. Eigenschaften von Fähigkeiten: Leise Kritik am Fähigkeitenansatz Fähigkeiten haben bestimmte Eigenschaften, die berücksichtigt werden müssen, wenn Fähigkeiten befördert werden sollen. Ich möchte fünf solcher Eigenschaften unterscheiden und anführen: Erstens sind Fähigkeiten subjektbezogen. Fähigkeiten kommen nicht als solche vor, sondern treten im Rahmen des Lebensvollzugs eines Handlungssubjekts auf. Fähigkeiten wie etwa das Schreiben oder das Lesen werden in einer spezifischen Form von Handlungssubjekten angeeignet. Diesen Gedanken kann man in Analogie zu Michael Polanyis Begriff des »personal knowledge«19 verfolgen: Polanyi hatte mit dem Begriff des »persönlichen Wissens« eine Form des Wissens bezeichnet, die lebensformprägend und identitätsstiftend geworden ist und nicht einfach vom wissenden Subjekt abgetrennt werden kann. Wenn ich etwas in einem persönlichen Sinne weiß, dann ist dieses Wissen nicht bloße Information, die ich auch ohne weiteres vergessen kann, sondern das Wissen wurde in meine Persönlichkeitsstruktur integriert. Ähnlich sind Fähigkeiten nicht wie Kleidungsstücke anzusehen, die angezogen und ausgezogen und auch ausgeliehen und getauscht werden können; Fähigkeiten sind nicht »akzidentelle Anhängsel«, die an einem Subjekt hängen wie ein Anzug an einem Kleiderhaken; Fähigkeiten sind mit der Identität des Subjekts in einer zweifachen Weise verbunden: Das Subjekt wird durch seine Fähigkeiten mitgeprägt (wenn auch nicht erschöpfend bestimmt)20, das Subjekt prägt die Fähigkeiten: Bach und Mozart haben die Fähigkeit des Komponierens in einer einzigartigen Weise geprägt, um nur einen Punkt zu nennen; aber auch in einem mehr alltäglichen Sinn: So wie sich Menschen einen bestimmten Stil zu eigen machen und damit die Fähigkeit des Schreibens und Ausdrückens in je individueller Weise kultivieren, lässt sich dies beim Tennisspiel oder beim Unterrichtsstil ebenso beobachten. Fähigkeiten sind subjektbezogen und sollen nicht als flottierende Entitäten, die verteilt werden müssen wie Brot oder Wasser, verstanden werden. Zweitens sind Fähigkeiten verankert. Eine Fähigkeit tritt nicht isoliert, sondern im Rahmen eines Bündels von Fähigkeiten auf. Wenn jemand etwa über die
19 20
Polanyi, M. (1958): Personal Knowledge: Towards a post-critical philosophy. Dieser Hinweis scheint wichtig zu sein, weil sich menschliche Identität nicht allein über »doings«, sondern gerade auch über »beings« verstehen lässt. Eine Alzheimerpatientin mag viele Fähigkeiten einbüßen, ist aber immer noch Person mit identitätsstiftenden Beziehungen (etwa als Ehefrau, Mutter, Freundin, Großmutter, Tante, etc.) - vgl. Sedmak/Unterrainer, Leid verstehen, S. 36-40; vgl. Sedmak, C. (2010): Autonomien des Alterns, S. 25-35, v.a. S. 31f.
Fähigkeiten und Fundamentalfähigkeiten
37
Fähigkeit der freien Rede verfügt und sich die Fähigkeit aneignet, Karikaturen zu zeichnen, kann er diese beiden Fähigkeiten miteinander verbinden und wird entsprechende Vorträge halten können. Wenn jemand Fußballspielen kann und diese Kunst entsprechend pflegt und dann einen Kurs in Erster Hilfe belegt, so werden Beispiele seiner Aneignung wie auch Interessen, Perspektiven und Anwendungsgebiete von den bestehenden Fähigkeiten geprägt werden. Wieder stoßen wir auf das bereits angesprochene Matthäusprinzip: Ein Mensch, der über ein breites Spektrum an Fähigkeiten verfügt, wird kaum Schwierigkeiten haben, sich weitere Fähigkeiten anzueignen. Wenn George Steiner, der »Meisterleser«, ein Buch liest, auf der Grundlage der vielen Bücher, die er bereits gelesen hat, wird er diesem einen Buch wohl Tieferes und Weiteres abgewinnen können als ein junger Mensch, der am Beginn des Studiums steht. Ähnlich: Ein Dichter wird Gedichte anders lesen, eine Theologin wird Predigten anders hören, etc. Eine Fähigkeit tritt nicht als isolierte auf, sondern in einem Bündel von Fähigkeiten und Unfähigkeiten; eben dies gilt auch für Unfähigkeiten - die Fähigkeit, zu lesen, geht etwa mit der Unfähigkeit einher, den Text eines Werbe- oder Wahlplakates nicht zu lesen; die Unfähigkeit, zu sehen, geht häufig mit der Fähigkeit einher, Braille zu lesen, etc. Auf diese Weise verschwimmen nicht nur die Konturen einzelner Fähigkeiten, die nicht mehr isoliert betrachtet werden können, sondern auch die vermeintlich klare Unterscheidung zwischen Fähigkeit und Unfähigkeit.21 Fähigkeiten sind in einem Bündel von Fähigkeiten und Unfähigkeiten verankert und können nicht sinnvollerweise isoliert betrachtet werden wie etwa das neue Fahrrad, das als Geburtsgeschenk angeschafft werden soll. Die Fähigkeit, mit diesem Rad zu fahren, ist eingebettet in eine Reihe von Fähigkeiten, die etwa mit Verkehrssicherheit zu tun haben, und in eine Reihe von Unfähigkeiten, wie sie sich etwa bei einem Kind, das freudestrahlend ein Fahrrad in Empfang nimmt, aus der Unfähigkeit, Auto zu fahren, ergeben können. Fähigkeiten sind also in einen Möglichkeitsraum hinein gesenkt, einen Raum von Potentialitäten und Possibilitäten. Drittens sind Fähigkeiten gewertet. Fähigkeiten haben unterschiedlichen sozialen und kulturellen Wert. Nicht alle Fähigkeiten werden im sozialen, kulturellen oder politischen Raum gleichermaßen hoch geschätzt. Mehr noch: Die
21
Diese Frage kann man in einigem Detail am Briefwechsel der beiden Philosophen Bryan Magee und Martin Milligan verfolgen - der sehende Magee und der blinde Milligan unterhalten sich in philosophisch ausgefeilten Briefen über das Verhältnis von »sight« und »blindness« - vgl. Magee, B./Milligan, M. (1995): On Blindness. Hier verschwimmen die Konturen zwischen Fähigkeiten und Unfähigkeiten. Die Unfähigkeit zu sehen, ist gleichzeitig eine Fähigkeit, in einer anderen Weise wahrzunehmen etc.
38
Clemens Sedmak
Wertschätzung von Fähigkeiten ändert sich ständig. Wurde etwa lange Zeit die Fähigkeit, in kurzer Zeit sehr viel hinunterzuschlingen, eher kritisch gesehen oder sogar als unmoralisch abgewertet, ist diese Fähigkeit, Wettessen zu bestreiten, inzwischen kurz davor, sich als Sportart zu etablieren. Umgekehrt verliert die Fähigkeit, Gras an einem steilen Abhang mit der Sense zu mähen, durch die Entwicklung der Welt an sozialem Gewicht (wie übrigens auch die Fähigkeit, Latein zu verstehen). Fähigkeiten haben keinen stabilen Wert; ihre soziale Wertschätzung ist vielmehr von einer Reihe von Faktoren abhängig, unter anderem von der jeweiligen Situation. Davon zeugt die Geschichte eines Arztes, der einem Restaurantgast am Nachbartisch, der drohte, an einer Fischgräte zu ersticken, das Leben rettete. Auf die Frage »Was bin ich schuldig?« antwortete der Lebensretter: »Geben Sie mir die Hälfte dessen, was Sie mir geben wollten, als die Gräte in Ihrem Hals steckte«… Der Wert von Fähigkeiten ist abhängig von der vorliegenden Situation. Fähigkeiten liegen nicht alle auf derselben Ebene. Analog zur Unterscheidung zwischen »disability« und »handicap« könnte die Unterscheidung zwischen »Fähigkeit« und »erwünschtem Können« bzw. zwischen »ability« und »advantage« gemacht werden. Bekanntlich wird eine »disability« vor allem nach sozialem und kulturellem Urteil zu einem Handlungsnachteil, zu einem Handicap. Ähnlich entscheidet dieses soziale und kulturelle Urteil darüber, welche Fähigkeit erwünscht und begehrt wird, welche Fähigkeit also zum Handlungsvorteil gereicht. Dies können wir uns am Begriff der sozialen Ausgrenzung klar machen. Ein Mensch wird sozial ausgegrenzt, wenn er an standardisierten kulturellen Aktivitäten nicht teilhaben kann; wenn er also nicht über die entsprechenden Ressourcen bzw. Fähigkeiten verfügt, die im Rahmen einer Kultur als selbstverständlich gelten. So muss z.B. ein Analphabet in unserer Gesellschaft viele Verheimlichungs- und Überspielungsstrategien entwickeln, um soziale Ausgrenzung zu vermeiden. Das Fehlen einer Fähigkeit wird also zum Handlungsnachteil (zum »handicap«), wenn das soziale Urteil entsprechend ausfällt. Ich kann beispielsweise nicht mit den Fingern schnippen. Das kann, wenn man etwa unterrichtet, eine durchaus nützliche Fähigkeit sein. Zu unserem Glück ist unsere Gesellschaft jedoch nicht so strukturiert, dass solche Fähigkeiten zum selbstverständlichen Repertoire zählten. Würden wir uns in unserer Gesellschaft darauf einigen, einander mit Fingerschnippen zu begrüßen, würde die Unfähigkeit, mit den Fingern zu schnippen, offenkundig werden und mir zum Nachteil gereichen. (In Klammern sei angemerkt: Natürlich würde dann auch der Druck steigen und ich müsste mich der systematischen Anstrengungen unterziehen, mir diese »Mindestfähigkeit« anzueignen). Das zeigt: Eine Fähigkeit wird vor allem durch kulturelle Kontexte zu einem Handlungsvorteil, wie sie auch in ihrem Fehlen durch den kulturellen Kontext zum »handicap« wird. Hier haben wir es also mit einer Dif-
Fähigkeiten und Fundamentalfähigkeiten
39
ferenzierung zu tun, die uns unterscheiden lässt zwischen (i) »Mindestfähigkeiten«, die im Rahmen einer Kultur als selbstverständlich vorausgesetzt werden müssen, (ii) sozial neutralen Fähigkeiten, die zu haben ganz nett oder zumindest nicht schlecht ist, die in der Regel keine Vorteile, aber auch keine Nachteile mit sich bringen (etwa die Fähigkeit, alle Torschützen sämtlicher Spiele aller Fußballweltmeisterschaften aufzählen zu können) und (iii) hoch geschätzten seltenen Fähigkeiten (der Fähigkeit etwa, komplizierte Operationen auszuführen oder schwierige Berechnungen anzustellen). Dazu kommt pikanterweise aber (iv) das Bündel von Fähigkeiten, das sich nachteilig auswirkt. Man denke an die Geschichte der Hexenjagden oder an die von Ludwig Thoma in seinen Lausbubengeschichten geschilderte Fähigkeit, Ameisenhaufen in die Luft zu sprengen, usw. Kurz, Fähigkeiten sind ähnlich wie Währungen in ihrer Handlungsmacht in Situationen abhängig von Konventionen und kulturellen Börsenspielen. Halten wir fest: Analog zur Unterscheidung zwischen »disability« und »handicap« könnte die Unterscheidung zwischen »Fähigkeit« und »erwünschtem Können« - oder auch zwischen »ability« und »advantage« - gemacht werden. So ergibt sich eine Hierarchie von Fähigkeiten, die keineswegs alle auf derselben Stufe liegen. Jeder Mensch verfügt über ein je spezifisches Bündel von Fähigkeiten. Das verfügbare Bündel von Fähigkeiten prägt de facto den sozialen Status eines Menschen, auch wenn das Fähigkeitenbündel - man denke an den oft klaffenden Graben zwischen Fähigkeitskompetenz und Zuständigkeitskompetenz - nicht allein über den sozialen Rang entscheidet. Bestimmte Fähigkeiten und bestimmte Menschen mit bestimmten Fähigkeiten sind de facto sozial erwünscht, andere nicht. Bestimmte Fähigkeiten sind als kulturelle Minimalkompetenz unbedingt erforderlich, um an den standardisierten kulturellen Aktivitäten einer Gesellschaft teilnehmen zu können. Daraus ergeben sich, wenn man so will, erwünschte und »würdige« aber auch unerwünschte und »unwürdige« Fähigkeiten. Der Umstand, dass Fähigkeiten gewertet werden, geht aber noch weiter: Es werden nicht nur Fähigkeiten gewertet und damit in eine implizite Hierarchie gebracht - auch der Ausweis eines Veränderungsvermögens als »Fähigkeit« (und nicht etwa als »Unfähigkeit«) hat mit diesen Wertungsprozessen zu tun. Auch in der Wertung einer Fähigkeit als Fähigkeit ist soziales Urteil entscheidend. Man denke an den Taoismus - die Fähigkeit des Machens, Tuns und Managens kann hier durchaus als Unfähigkeit rekonstruiert werden, loszulassen, sein zu lassen, geschehen zu lassen. Man denke an den Islam: Die Fähigkeit, wie Hiob mit Gott zu hadern, mag hier durchaus als die Unfähigkeit, Gott gegenüber Gehorsam zu zeigen, verstanden werden. Hier sind es also auch kulturelle Faktoren, die darüber entscheiden, welches Vermögen als Fähigkeit und welches als Unfähigkeit einzustufen ist. Viertens sind Fähigkeiten dynamisch. Fähigkeiten entwickeln sich. Fähigkeiten liegen nicht einfach vor, sondern sind in der Regel auf einem Kontinuum
40
Clemens Sedmak
angesiedelt, das Wachstum und Verbesserung ermöglicht. Natürlich gibt es Antworten auf die Entscheidungsfrage »Kannst du lesen?«. Aber die Lesefähigkeit kann auf verschiedenen Niveaus in einem nach oben hin offenen Kontinuum (schauspielerisch versiertes Lesen; gebildetes Lesen; meditatives Lesen etc.) angesiedelt werden. Die Antwort auf die umgangssprachliche Frage »Kannst du Italienisch?« ist hier schon schwieriger und deutet die Dynamik von Fähigkeiten an. Fähigkeiten können insofern mit »Künsten« verglichen werden, als sie verbessert werden können, als sie zu einer Veränderung des Künstlers als Person führen bzw. identitätsstiftend sein können, als sie Beziehungen und sozialen Status mitstrukturieren, als sie gepflegt und deswegen auch zur Kultivierung geliebt werden müssen. Fähigkeiten sind nicht Güter, über die man verfügt wie über ein Einfamilienhaus, dessen Kreditraten man tapfer bedient hat, bis es in das volle Eigentum übergegangen ist. Fähigkeiten kann man nicht ablegen und horten; sie sind - weil auf Tätigsein ausgerichtet - auf Tätigsein angewiesen. Aus diesem Grund eignet sich der Fähigkeitsbegriff auch als Hilfsbegriff für ein Verständnis von Entwicklung: Entwicklung ist die Erweiterung von menschlichen Fähigkeiten. Fähigkeiten können auch verkümmern. Dieser Aspekt ist in der Frage nach der Förderung von Fähigkeiten entscheidend. Das angesprochene Matthäusprinzip hat diese Dynamik von Fähigkeiten, die in einem schillernden Bündel von situations- und lebensphasenabhängigen Wertigkeiten und Wichtigkeiten einzelner Fähigkeiten auftreten, bereits angedeutet. Die Dynamik von Fähigkeiten darf freilich nicht mit »Flüchtigkeit« gleichgesetzt sein, sondern muss mit »Kontinuität« zusammengebracht werden. Eine Fähigkeit entwickelt sich; wir schreiben sie dann zu, wenn sie eine gewisse Stabilität hat. Wir schreiben etwa einer Person, die Fähigkeit, vom Elfmeterpunkt aus eine Konservendose in das Kreuzeck eines Fußballtores zu schießen, wohl kaum dann zu, wenn die Person dies einmal bei fünftausend Versuchen erreicht. Hier spielt das Moment der Wiederholbarkeit und damit Aktivierbarkeit der Fähigkeit eine Rolle. Dass wir hier - im Sinne der Dynamik, die Fähigkeiten auf einem Kontinuum vergleichbarer Qualitätssteigerungen ansiedelt auch auf Grauzonen stoßen (»sollen wir der Person A die Fähigkeit X zuschreiben?«), steht außer Streit. Fünftens sind Fähigkeiten potentiell kompetitiv. Fähigkeiten konkurrieren miteinander; einzelne Fähigkeiten können nicht in derselben Intensität gepflegt werden. Die Verwaltung von Fähigkeiten, der Aufbau einer Fähigkeitskultur - um das Wort »Fähigkeitsmanagement« zu meiden - verlangt nach Prioritätensetzungen. Ich kann nicht gleichzeitig die Fähigkeit zum Marathonlauf und die Fähigkeit zum Sprint optimieren. Ich kann aufgrund ihrer Sprachverwandtschaft nur schwer gleichzeitig Italienisch und Spanisch lernen. Ich kann nicht gleichzeitig acht Stunden Klavier üben, um es hier zur Perfektion zu bringen, und acht Stun-
Fähigkeiten und Fundamentalfähigkeiten
41
den auf dem Tennisplatz stehen, um sportlich weiter zu kommen. Fähigkeiten sind durchaus in Konflikten miteinander. Man wird sich deswegen im Rahmen der Frage nach der Förderung von Fähigkeiten durchaus überlegen müssen, welche Kosten welche Fähigkeit mit sich bringt. Tatsächlich fallen auch hier Opportunitätskosten an - die Kultivierung der Fähigkeit A kann die Kultivierung der Fähigkeiten B-N kosten. Der Konflikt zwischen Fähigkeiten kann aber noch weitergehen: Ich möchte hier den Begriff der Abrogation von Fähigkeiten einführen. Fähigkeiten können einander überschreiben - will heißen: Die Aneignung einer Fähigkeit A kann den Verlust einer Fähigkeit B mit sich bringen. Die Fähigkeit, sich in kindlicher Aufregung auf den Weihnachtsmann zu freuen und Geräusche von draußen als Spuren des Rentierschlittens zu deuten, wird mit bestimmten Aufklärungen ebenso verloren gehen wie die Fähigkeit, beglückt oder bestürzt auf einen vorbeiziehenden Storch zu blicken. Die Kompetitivität von Fähigkeiten wird in der Frage nach der Identifikation von Fundamentalfähigkeiten eine wichtige Rolle spielen. Warum laufen diese Überlegungen auf eine leise Kritik am Fähigkeitenansatz oder auch am Menschenbild von Amartya Sen und Martha Nussbaum hinaus? Es geht meines Erachtens um das Gesellschaftsverständnis und um das Menschenbild. Die angeführten Eigenschaften von Fähigkeiten lassen davor warnen, in einen »Kommoditätsfetischismus« mit Fähigkeiten zu verfallen, als ob Fähigkeiten isolierbare Güter wären, die an Menschen, die wiederum isolierbare Individuen sind, hängen wie besagte Kleider an einem Kleiderhaken. Man könnte die auf diesem Hintergrund mögliche Kritik an bestimmten Lesarten des Fähigkeitenansatzes im Rahmen einer liberalen Philosophie indirekt und behutsam vorbringen, und vielleicht auch ein wenig feige, indem man die Kritik von Michael Sandel an John Rawls heranzieht. Michael Sandel bringt in seiner Kritik an Rawls Theorie der Gerechtigkeit zwei Kritikpunkte vor, die ich hier anführen möchte: Erstens geht es um das Verständnis von Gesellschaft, das in einem liberalen Modell, wie es prominenterweise John Rawls vorgebracht hat, eine Trennung von »Recht« und »Gut« ermöglicht. In seinen BBC Reith Lectures 2009 über »A New Citizenship« hat Michael Sandel explizit für den Primat des Guten vor dem Rechten argumentiert. Ein möglicher relevanter Blick auf Gesellschaften kann über die Frage erfolgen - was wird in dieser Gesellschaft überhaupt als Fähigkeit angesehen? Und welche Fähigkeiten haben den Charakter von Mindestfähigkeiten oder von Schlüsselfähigkeiten? Diese Frage lässt sich kaum ohne Antwort auf die Frage »Welche Konzeption des Guten verfolgt diese Gesellschaft« beantworten. Fähigkeiten sind gegenüber den sozialen Wertungen, die sich aus den impliziten oder expliziten Konzeptionen des Guten ergeben, nicht neutral. Bereits die Bestimmung eines Vermögens als »Fähigkeit« lässt tief in diese Konzeptionen des guten Lebens blicken. Dies kann man sich etwa im Ver-
42
Clemens Sedmak
ständnis der Begriffe »Arbeitsfähigkeit« bzw. »Arbeitsunfähigkeit« vor Augen führen, und zwar anhand der Ansprüche, die ein Gemeinwesen an ein Individuum heranträgt bzw. mittransportiert. Zweitens geht es Sandel um das Verständnis von Identität, Selbst und Person. Personalität erscheint als »black box«. Das Selbst erscheint als »concatenation of various contingent desires, wants, and ends« mit der Konsequenz, »there would be no non-arbitrary way, either for the self or for some outside observer, to identify these desires, interests, and ends, as the desires of any particular subject. Rather than be of the subject, they would be the subject.«22 Damit: »The Rawlsian self is (…) an antecedently individuated subject, standing always at a certain distance from the interests it has.«23 Es ist also dem Eindruck, dass das handelnde Subjekt neben den Fähigkeiten, über die es verfügt, stehen würde, entgegen zu treten. Fähigkeiten sind identitätsbildend und werden in einer je personalen Weise angeeignet, verwaltet und ausgeübt. Es sind nicht isolierbare Individuen, sondern beziehungsverankerte Personen, die Fähigkeiten kultivieren oder verlieren. Gehen wir nach diesen leisen Andeutungen einen Schritt weiter: Welche Fähigkeiten sind »fähiger« als andere?
3. Fundamentalfähigkeiten Fähigkeiten liegen nicht auf derselben Ebene. Sie sind gemäß sozialen Wertungen hierarchisch geordnet. Dies legt die Frage nahe: Lassen sich fundamentale Fähigkeiten identifizieren, die in besonderer Weise zu fördern sind? Die Antwort auf diese Frage kann bei Versuchen der Operationalisierung des Fähigkeitenansatzes eine wichtige Rolle spielen. Fundamentalfähigkeiten sind solche, die in besonderer Weise zu fördern sind. Der Begriff der Fundamentalfähigkeit soll nicht »basic capabilities« ansprechen, nicht »Mindestfähigkeiten«, sondern: »Schlüsselfähigkeiten«. Fundamentalfähigkeiten sind Fähigkeiten, die Grundlage für den guten Umgang mit Fähigkeiten sind, »Kardinalfähigkeiten« sozusagen, aus denen weitere Fähigkeiten folgen. Die Kennerin und der Kenner werden unschwer erkennen, dass dieser Begriff ideengeschichtlich dem christlichen Gedankengut der »Wurzelsünde« bzw. der griechischen Idee der »Kardinaltugend« verpflichtet ist. Wurzelsünden sind Sünden, die weitere Sünden gebären (berühmtes Beispiel: die »avaritia«24);
22 23 24
Sandel, M. (2008): Liberalism and the Limits of Justice, S. 20. Sandel, Liberalism, S. 62. Die »avaritia« - der Geiz, die Habsucht - zählt im (katholischen) Christentum zu den sieben Hauptlastern oder -sünden, die als die Wurzeln von Todsünden betrachtet werden.
Fähigkeiten und Fundamentalfähigkeiten
43
Kardinaltugenden sind Tugenden, die Grundlage für tugendhaftes Leben überhaupt sind und den Nährboden für tugendgemäßes Handeln in sämtlichen Lebensbereichen darstellen und anderen Tugenden den Weg bereiten. Fundamentalfähigkeiten sind dementsprechend Fähigkeiten, die den guten Umgang mit Fähigkeiten sicherstellen, ein »fähigkeitsorientiertes Leben« und Zugang zu weiteren Fähigkeiten ermöglichen. Unter einem »fähigkeitsorientierten Leben« verstehe ich eine Lebensform, die auf einer Grundentscheidung zum persönlichen Wachstum beruht, die das Leben gestaltend wahrnimmt. Diese Art von Leben könnte man »anspruchsvolles Leben« nennen, ein Leben, das unter dem Anspruch von Wachstum und Entwicklung steht. Erziehungsprozesse sind vor allem auch als Einladungen zu einem anspruchsvollen Leben zu verstehen. Welche Fähigkeiten bieten sich als Fundamentalfähigkeiten an? Diese Frage ist nicht neu. Melanie Walker etwa schlägt als entscheidende Fundamentalfähigkeit im pädagogischen Prozess vor, dass Schülerinnen und Schüler zu »strong evaluators« werden, die die Fähigkeit haben, reflektierte und informierte Entscheidungen darüber zu treffen, worin ein gutes Leben für sie besteht.25 Ich möchte zwei Hinweisen auf Fundamentalfähigkeiten nachgehen: Paul Ricoeur liefert wertvolle Hinweise für die Identifikation von Fundamentalfähigkeiten.26 Ricoeur arbeitet mit vier grundlegenden Fähigkeiten: a) der Fähigkeit zu sprechen, b) der Fähigkeit zu handeln, c) der Fähigkeit zu erzählen, d) der Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme. Letzere impliziert »imputation«, also die Fähigkeit, sich selbst als Autor/in der eigenen Handlungen zu erkennen und sich entsprechend als verantwortlich zu sehen. Diese Fähigkeit schließt auch die Fähigkeit ein, ein reflexives Verhältnis zu sich selbst einzugehen und entsprechend an der eigenen Identität und dem eigenen Selbstverständnis zu arbeiten. Auch die Fähigkeit zu sprechen (a) hat nach Ricoeur mit Identität und Selbstreflexivität zu tun, weil mit Aussagen der ersten Person Singular selbstreferentielle Aussagen getroffen werden.27 Durch die Rede binde ich mich an das, was ich gesagt habe eine Überlegung, die bereits Robert Brandom mit seinem Konzept der diskursiven Verpflichtungen angestellt hat.28 Der Akt des Sprechens hat mit Selbstpositionierung im sozialen Raum zu tun, er nimmt eine Perspektive ein und kann nicht »neutral« vollzogen werden. In diesem Sinne ist nach Ricoeurs Verständnis die Fähigkeit zur Artikulation eine Fundamentalfähigkeit. Die Fähigkeit zu handeln (b) ist insofern identitätsrelevant, als Menschen sich durch diese Fähigkeit als Subjekte,
25 26 27 28
Vgl. Walker, M. (2008): Widening participation; widening capability, S. 267-279. Vgl. Ricoeur, P. (2005): The course of recognition; ders. (2006): Capabilities and rights. Vgl. Ricoeur, The course of recognition, S. 94; ders., Capabilities and rights, S. 18. Vgl. Brandom, R. (1994): Making It Explicit.
44
Clemens Sedmak
als »agents« erfahren, die die Umwelt verändern und gestalten. Sie verstehen sich als »Besitzer/innen« (»possessors«) ihrer Handlungen.29 Und sie verstehen sich vor allem als Personen, die etwas beginnen können: »This ability to do comes down to the ability to begin«.30 Damit verstehen sich Menschen als diejenigen, die einen Neuanfang setzen können: Menschen können aus eigener Initiative tätig werden. In diesem ursprünglichsten und allgemeinsten Sinne ist Handeln und etwas Neues Anfangen dasselbe; jede Aktion setzt vorerst etwas in Bewegung, sie agiert im Sinne des lateinischen agere, und sie beginnt und führt etwas an im Sinne des griechischen ȐȡȤİȚȞ. Weil jeder Mensch auf Grund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen.31 Menschen, die sich als »agents« erfahren, erfahren sich als Subjekte, die Transformationen einleiten können, um einen Raum zu strukturieren, innerhalb dessen die Kultivierung von Fähigkeiten erst möglich wird. Die Fähigkeit zu erzählen (c) ist ein Schlüssel zur identitätsstiftenden Selbstreflexion. Das eigene Leben als Lebensgeschichte erzählen zu können, ist eine Schlüsselfähigkeit, die Erfahrungen in ein Gesamt einweben lässt. Damit wird eine reflektierende Haltung zu sich selbst und zur eigenen Rolle im Weltgeschehen eingenommen und gleichzeitig zur Artikulation gebracht - mit der Absicht, sich verständlich zu machen. Die Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme (d) ist die Fähigkeit, sich selbst als »Autor« der eigenen Handlungen zu sehen und demgemäß auch die Verantwortung für die Konsequenzen des eigenen Tuns zu übernehmen. Verantwortungsübernahme ist eine identitätsstiftende Schlüsselfähigkeit, die die Verortung des Selbst als Handlungssubjekt ermöglicht und damit auch den Sinn von Verantwortung für das eigene Leben und die eigenen Fähigkeiten erlaubt. Diese Überlegungen können für einen pädagogischen Kontext fruchtbar gemacht werden.32 Soweit die Vorschläge von Paul Ricoeur.
29 30 31
32
Vgl. Ricoeur, The course of recognition, S. 98. Ricoeur, The course of recognition, S. 99. Vgl. Arendt, H. (1997): Vita activa oder vom tätigen Leben, S. 215. Arendts Theorie menschlichen Handelns kann für die Identifikation von Schlüsselfähigkeiten auch insofern fruchtbar gemacht werden, als für Arendt die Fähigkeit, ein Versprechen abzugeben, und die Fähigkeit zu verzeihen entscheidend für die Gestaltung des fragilen Raumes sind, in dem menschliches Handeln stattfindet (vgl. ebd., S. 300-317). Somit würden im Rahmen von Hannah Arendts Handlungstheorie Versprechen und Verzeihen als soziale Schlüsselfähigkeiten ausgewiesen werden können. Vgl. Honerød Hoveid, M./Hoveid, H. (2009): Educational Practice and Development of Human Capabilities, S. 461-472.
Fähigkeiten und Fundamentalfähigkeiten
45
Einen anderen Vorschlag in Bezug auf Schlüsselfähigkeiten unterbreitet Peter Morgan, der, stärker von einem entwicklungspolitischen Interesse geleitet, fünf »core capabilities« anführt.33 Diese Fähigkeiten sind auf einer institutionellen Ebene angesiedelt. Es sind dies a) die Fähigkeit zu handeln (und damit die Fähigkeit, Entscheidungen zu implementieren, Handlungsorientierung auszubilden, einen Sinn für Handlungsautonomie aufzubauen); b) die Fähigkeit, Entwicklungsresultate zu erzielen (und damit die Fähigkeit, substantielle »outcomes« zu generieren, die Nachhaltigkeit von Ergebnissen zu verbessern); c) die Fähigkeit, sich in Beziehung zu setzen und Beziehungen einzugehen (und damit die Fähigkeit, Kerninteressen zu beschützen bzw. die Fähigkeit, in Aushandlungsprozesse einzutreten); d) die Fähigkeit zur Adaptation und zur Selbsterneuerung (und damit die Fähigkeit, zu lernen und Vertrauen in Veränderungsprozesse zu entwickeln sowie die Fähigkeit, Stabilität und Veränderung auszubalancieren); e) die Fähigkeit, Kohärenz zu erzielen (und damit die Fähigkeit, Strukturen zu etablieren und eine Vision zu entwickeln). Diese fünf Fähigkeiten führen gemeinsam zur Sicherstellung von erfolgreichem »capacity-building«, wie es im Kontext von Entwicklungszusammenarbeitsprozessen im Gespräch ist. Treten wir einen Schritt zurück und sehen wir uns die Landkarte der Vorschläge an, die sich bislang gezeigt haben und die natürlich erweitert und fortgesetzt werden könnten: Aristoteles kann in dem Sinne verstanden werden, dass der Fähigkeit des Lernens, der Fähigkeit des Strebens nach Hohem und der Freundschaftsfähigkeit besondere Bedeutung einzuräumen ist. Hannah Arendt könnte man so interpretieren, dass die Fähigkeit zu einem Neuanfang sowie die Fähigkeiten, zu versprechen und zu verzeihen, Schlüsselfähigkeiten im sozial strukturieren menschlichen Handlungsraum sind. Melanie Walker hat die Fähigkeit, reflektierte und informierte Entscheidungen darüber zu treffen, worin ein gutes Leben für das fragende Subjekt besteht, als Schlüsselfähigkeit ausgewiesen. Paul Ricoeur arbeitet vier fundamentale Fähigkeiten heraus: die Fähigkeit zu sprechen; die Fähigkeit zu handeln; die Fähigkeit zu erzählen; die Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme. Peter Morgan führt Handlungsfähigkeit, Resultatsfähigkeit, Beziehungsfähigkeit, Adaptionsfähigkeit und Kohärenzfähigkeit als Schlüsselfähigkeiten an. Die Liste ließe sich selbstverständlich fortsetzen und könnte den Eindruck aufkommen lassen, im besten Fall dem pluralen Spektrum verschiedener Theoriegebäude, im schlechtesten Fall schlichter Willkür ausgeliefert zu sein. Jedenfalls hat sich gezeigt, dass Fundamentalfähigkeiten mit dem Rahmen der Theorie des gelingenden menschlichen Lebens bzw. der akzeptierten Theorie
33
Vgl. Morgan, P. (2006): The Concept of Capacity, S. 8-16.
46
Clemens Sedmak
menschlichen Handelns - man denke an Aristoteles, Arendt und Ricoeur - verbunden sind. Einen solchen Theorierahmen hat dieser Beitrag im Dialog mit Aristoteles skizziert. Wenn wir die Erarbeitung des Fähigkeitsbegriffs, wie er in den Abschnitten 1 und 2 wenigstens andeutungsweise erfolgt ist, als Referenzpunkt akzeptieren, ergeben sich von dieser Analyse folgende Einsichten für Schlüsselfähigkeiten: Fähigkeiten fallen nicht vom Himmel, sondern müssen kultiviert werden. Dazu sind Schlüsselfähigkeiten notwendig. Schlüsselfähigkeiten sind Fähigkeiten, die den Zugang zu weiteren Fähigkeiten erschließen; sie bilden die Grundlage für die Ausbildung von und den Umgang mit Fähigkeiten; sie sind Fähigkeiten, die zu Fähigkeiten befähigen. Die Hinweise auf das Matthäusprinzip haben die Bedeutung von Schlüsselfähigkeiten noch unterstrichen. Nach einem aristotelischen Modell sind solche Schlüsselfähigkeiten die Fähigkeit, die subjektbezogenen Potentialitäten und die situationsbezogenen Possibilitäten einschätzen zu können; weiters die Fähigkeit, nach hohen und höchsten Zielen zu streben; und die Fähigkeit, im Sinne dieses Strebens Entscheidungen über Prioritäten zu treffen. Eine Schlüsselfähigkeit im Umgang mit Fähigkeiten ist denn auch - dies wurde im zweiten Abschnitt deutlich - die Fähigkeit zur Einschätzung und Bewertung von Fähigkeiten, die ja als subjektbezogen, verankert, gewertet, dynamisch und potentiell kompetitiv dargestellt wurden. So legt sich nahe, Schlüsselfähigkeiten als Fähigkeitsfähigkeiten anzusehen; als Fähigkeiten, mit Fähigkeiten umzugehen. Ich möchte hierfür die bereits angedeutete Unterscheidung zwischen Fähigkeiten erster Ordnung und Fähigkeiten zweiter Ordnung bemühen. Fähigkeiten zweiter Ordnung sind Fähigkeitsfähigkeiten; sind Fähigkeiten, die sich auf Fähigkeiten beziehen. Fähigkeiten erster Ordnung beziehen sich auf das Vermögen, Situationen zu transformieren, während Fähigkeiten zweiter Ordnung die Eigenschaft haben, Fähigkeiten verändern zu können. Radfahren ist eine Fähigkeit erster Ordnung; die Reflexion auf die Bedeutung dieser Fähigkeit ist eine Fähigkeit zweiter Ordnung. Fußballspielen ist eine Fähigkeit erster Ordnung die Fähigkeit, davon zu erzählen, welchen Stellenwert diese Fähigkeit im eigenen Leben hat, ist eine Fähigkeit zweiter Ordnung. Menschliche Gesundheit kann beispielsweise als Fähigkeit zweiter Ordnung angesehen werden, als die Fähigkeit, mit den eigenen Fähigkeiten und der eigenen Ausstattung bestmöglich umzugehen.34 Ich
34
Vgl. Nordenfelt, N. (1995): On the Nature of Health. Nordenfelts Bestimmung des Gesundheitsbegriffs lautet: »A is healthy if, and only if, A has the second-order ability, given standard circumstances, to realize all his vital goals [i.e. the set of goals which are necessary and together sufficient for his minimal happiness]« (ebd., S. 148).
Fähigkeiten und Fundamentalfähigkeiten
47
möchte also vorschlagen, Schlüsselfähigkeiten als Fähigkeiten zweiter Ordnung anzusehen. Es ist durchaus auffallend, dass die von Aristoteles gewonnenen Fundamentalfähigkeiten ebenso wie die vier Fundamentalfähigkeiten nach dem Verständnis Ricoeurs als Fähigkeiten zweiter Ordnung angesehen werden könnten. Nun stellt sich natürlich die Frage, welche Fähigkeiten zweiter Ordnung nun als Fundamentalfähigkeiten ausgewiesen werden sollen. Dazu möchte ich folgenden Vorschlag machen: Der zweite Abschnitt hat zu zeigen versucht, dass Fähigkeiten mit der Identität der jeweiligen Person verbunden sind. Fähigkeiten sind im Sinne personaler Fähigkeiten mit dem jeweiligen »agent« verbunden. Fähigkeiten sind nicht äußere und entsprechend ablösbare und austauschbare Eigenschaften wie das Tragen bestimmter Kleidungsstücke. Fähigkeiten sind Identitätsressourcen. Im Mittelpunkt des Nachdenkens über Fähigkeiten steht also die Person. Die Frage nach Fundamentalfähigkeiten ist im Dialog mit einer Identitätstheorie zu beantworten. Fundamentalfähigkeiten sind Fähigkeiten, die die Arbeit an Identität ermöglichen. Nun ist hier nicht der Ort, um in die Auseinandersetzung mit Identitätstheorien einzusteigen. Grundsätzlich hat Identität damit zu tun, einen »Lebensplatz« aufzubauen, an dem die Einzigartigkeit (an)erkannt und die Möglichkeit begründeten Handelns erschlossen wird. Anders gesagt: Die Suche nach Identität kann als die Suche nach der Herausbildung und Anerkennung eigener Besonderheit verstanden werden; und zweitens als die Suche nach einer Lebensform, in der das Leben in einer Weise gestaltet werden kann, die man nach eigenen Standards rechtfertigen kann. Die Umsetzung dieser beiden Anliegen wird auch vielfach beansprucht: Identitätsansprüche sind einerseits der Anspruch, als besonderer Mensch anerkannt zu werden, andererseits der Anspruch, moralisch handeln zu können (d.h. gemäß selbst anerkannter Standards moralischer Bewertung und Begründung das Leben zu gestalten). An diesem Punkt berühren Aspekte der Identität auch Fragen sozialer Gerechtigkeit. Hier geht es um den Zugang zu Identitätsressourcen. Identitätsressourcen sind Quellen, von denen Aufbau, Stabilisierung und Verteidigung von Identitätsansprüchen gespeist werden. Zumindest drei Identitätsressourcen sind zu nennen: Erstens die Zugehörigkeit zu identitätsstiftenden Gruppen und Gemeinschaften (Identitätsressource: Zugehörigkeit und Anerkennung); zweitens die Einbettung des eigenen Lebens in einen umfassenden Rahmen einer Sozial- und Welttheorie, in eine größere Erzählung, von der aus die eigene Existenz Tiefe, Bedeutung und Gewicht erhält (Identitätsressource: Rahmen und Erzählung); drittens die Sorge um Anliegen und Menschen, die »wirklich wichtig« sind und ein entsprechend engagiertes und ernsthaftes Leben ermöglichen (Identitätsressource: Sorge und Anteilnahme). Um diese Identitätsressourcen erschließen zu können, sind soziale Rahmenbedingungen wie auch Identitätsarbeit notwendig. Identitätsarbeit ist jene Form von
48
Clemens Sedmak
Engagement, die notwendig ist, um die genannten Identitätsressourcen erschließen und offen halten zu können. Sowohl für die Erschließung von Gemeinschaftszugehörigkeit als auch für die Stabilisierung der Zugehörigkeit sind bestimmte Formen von Praxis notwendig. Wenn jemand beispielsweise zur Gemeinschaft der Richterinnen und Richter gehören möchte, ist dies ganz offensichtlich mit anspruchsvollen Arbeiten wie auch mit sozialen Rahmenbedingungen verbunden. Ähnliches gilt für die Arbeit an einer Weltanschauung (Rahmen und Erzählung). Für den Aufbau von Ordnungen innerer Anteilnahme ist emotionales Engagement erforderlich. Fundamentalfähigkeiten - so mein Vorschlag - sind jene Fähigkeiten zweiter Ordnung, die Identitätsarbeit verrichten lassen. Damit geht es um die Frage: Welche Fähigkeiten sind entscheidend dafür, an einem »Lebensplatz« bauen zu können, der den betreffenden Menschen als besonderen und einzigartigen Menschen ausweist, der in einem Handlungsraum moralisch begründet auftreten kann? Es geht hier offensichtlich um die Fähigkeit zur (i) Nischenbildung und (ii) zur Erschließung eines Handlungsraumes. Eine entscheidende Frage lautet aber auch: Welche Fähigkeiten sind grundlegend dafür, (iii) Zugehörigkeit, (iv) Rahmung und (v) Strukturen von Sorge aufzubauen? Damit sind wir bei fünf Anliegen angelangt, auf die Fundamentalfähigkeiten Antwort geben sollen: Ich möchte dementsprechend vorschlagen, fünf Fundamentalfähigkeiten auszuweisen: a) Selbstreflexionsfähigkeit als Fundamentalfähigkeit für den Aufbau von Besonderheit b) Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit als Fundamentalfähigkeit für den Aufbau von Handlungsraum c) Freundschaftsfähigkeit als Fundamentalfähigkeit für Zugehörigkeit d) Fragefähigkeit als Fundamentalfähigkeit für den Aufbau von Welttheorie e) Anteilnahmefähigkeit als Fundamentalfähigkeit für den Aufbau von besonderem Engagement. Diese fünf Fähigkeiten sind »Fähigkeitsfähigkeiten«, sie erlauben es - weil sie Kenntnis von Selbst und Welt sowie Zugehörigkeit ermöglichen -, mit Fähigkeiten umzugehen. Die Selbstreflexionsfähigkeit (a) ist auch verbunden mit der Entscheidung zu persönlicher Entwicklung und Wachstum, Verpflichtung auf Selbsterkenntnis und Selbstkenntnis. Die Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit (b) ist auch verbunden mit der Fähigkeit, wohlerwogene Urteile fällen und Prioritäten setzen zu können. Die Freundschaftsfähigkeit (c) ist auch verbunden mit der Fähigkeit zu anspruchsvollen personalen Beziehungen und Identifizierungen. Die Fragefähigkeit (d) ist die erkenntnistheoretisch grundlegende Fähigkeit, ein »Warum« einzu-
Fähigkeiten und Fundamentalfähigkeiten
49
klagen und Alternativen zum Status Quo zu suchen. Die Anteilnahmefähigkeit (e) ist die Fähigkeit, am eigenen Leben engagiert teilzuhaben. Ich habe hier nicht die Möglichkeit, dies näher auszuführen. Der Illustration halber darf ich anführen, dass Ismail Kadare - als Hinweis zur Fragefähigkeit - in seinem Roman Der Palast der Träume 35 die Erfahrung von »Hölle« interessanterweise als die Erfahrung eines Ortes beschreibt, an dem man nicht die Frage »Warum?« stellen darf. Oder auch: Hölle ist ein Ort, an dem identitätsstiftende Fundamentalfähigkeiten nicht realisiert werden können. Ebenso der Illustration dient der Hinweis - in Bezug auf die Anteilnahmefähigkeit -, dass Paul Auster in seiner Schilderung des Lebens seines Vaters, Portrait of an Invisible Man 36, seinen Vater als einen Menschen beschreibt, der wie ein Tourist im eigenen Leben war; der an seinem eigenen Leben emotional nicht beteiligt war - zwar höflich den Freunden und Verwandten gegenüber, aber eben ohne innere, gefühlsmäßige Anteilnahme. Zusammenfassend: Ich möchte also auf dem Hintergrund eines Verständnisses von »Fähigkeit« und »Fähigkeitskultivierung« bestimmte Fähigkeiten als fundamentale ausweisen. Fundamentalfähigkeiten sind Schlüsselfähigkeiten, die den Umgang mit und den Zugang zu Fähigkeiten ermöglichen und gestalten. Diese Fundamentalfähigkeiten sind Fähigkeiten zweiter Ordnung, also Fähigkeiten, mit Fähigkeiten umzugehen. Sie sind in besonderer Weise zu fördern. Da die Kultivierung von Fähigkeiten nicht von Identitätsfragen abgelöst werden kann (geht es doch um die je besondere Kultivierung von Fähigkeiten bzw. die Kultivierung je besonderer Fähigkeiten), sind vor allem jene Fähigkeiten zweiter Ordnung in den Blick zu nehmen, die Identität stiften und Identitätsaufbau möglich machen und prägen. Explizit möchte ich auf dem Hintergrund einer hier nur angedeuteten Identitätstheorie fünf Fundamentalfähigkeiten anführen: Selbstreflexionsfähigkeit, Entscheidungsfähigkeit, Freundschaftsfähigkeit, Fragefähigkeit und Anteilnahmefähigkeit. Sie sollen dementsprechend auch in den Mittelpunkt der Bemühungen um die Arbeit mit Fähigkeiten gestellt werden.
4. Schlussbemerkung: Fundamentalfähigkeiten fördern Die genannten Fundamentalfähigkeiten sind in besonderer Weise zu fördern. Erziehungsprozesse sind in besonderer Weise aufgerufen, Fähigkeiten zweiter Ordnung - und hier: Fundamentalfähigkeiten - zu kultivieren.37 Martha Nuss-
35 36
Kadare, I. (2003): Der Palast der Träume. Auster, P. (1982): Portrait of an Invisible Man.
50
Clemens Sedmak
baum hat die Fähigkeit, ein geprüftes Leben zu führen, die Fähigkeit, in Begriffen allgemeiner Menschheit zu denken, und die Fähigkeit zur narrativen Vorstellungskraft als grundlegende Fähigkeiten zweiter Ordnung ausgewiesen, die pädagogische Prozesse kultivieren sollen.38 Dies hat auch soziale und politische Implikationen. Die Förderung von Fähigkeiten kann zu einer Erweiterung von Teilhabemöglichkeiten führen, wie denn auch »widening participation« mit »widening capability« zusammengebracht werden kann.39 Die genannten Fundamentalfähigkeiten sind nicht nur Grundlage einer Identitätstheorie, sondern auch in Dialog zu bringen mit einer Theorie der guten Gesellschaft bzw. des guten Lebens. Die Förderung von Fähigkeiten ist damit auch ein politisches Unterfangen, das Bindungen an ein Verständnis von Gesellschaft und menschlichem Leben einschließt. Abschließend sei noch eine Einsicht in das Fördern von Fähigkeiten genannt, die wir in einem Brief von Ignatius von Loyola aus dem Jahr 1548 finden. Ignatius schreibt, dass es die Sorge von Oberen zu sein pflegt, »daß er einen jeden nach Begabung und Kräften, Fähigkeit und Geistesneigung (wenn diese nicht auf etwas Böses geht) in den verschiedenen Aufgaben in der Bestellung des Weinbergs des Herrn einsetzt« 40. In diesem kurzen Satz ist wenigstens viererlei über die Förderung von Fähigkeiten gesagt: (i) Der Umgang mit Fähigkeiten ist eine Sorge (»cura«). Sorge impliziert Aufmerksamkeit und Wachstum, genaues Zuhören (in diesem Sinne muss ein Oberer dem Anvertrauten gegenüber auch in einem ignatianischen Sinn gehorsam sein). Sorge impliziert innere Beteiligung, Interesse am Blühen des anvertrauten Menschen. Wir könnten es auch so ausdrücken: Die Förderung von Fähigkeiten verlangt Generativität. (ii) Fähigkeiten (»facultates«) sind zu unterscheiden von Begabung (»ingenium«), Kraft (»vis«) und Geistesneigung (»propensio animi«), aber mit diesen familienverwandt. Unter »ingenium« können wir die je individuelle Disposition zur Kultivierung von Fähigkeiten verstehen; »vis« steht für das Bündel an gesundheitlichen und auch moralischen Ressourcen, die Vitalität und Orientierung, die einem Menschen zur Verfügung stehen, um für die Arbeit an Fähigkeiten gerüstet zu sein. »propensio animi« meint ein Hingeneigtsein des Geistes, der eine gewisse Vorliebe hat und deswegen - durch
37 38 39
40
Vgl. Sedmak, C. (2010) Bildung und innere Armut, S. 119-130. Vgl. Nussbaum, M. (1997): Cultivating Humanity. Vgl. Walker, Widening participation; widening capability: Melanie Walker verfolgt in diesem Beitrag die Idee, dass Erziehung zu einer Erweiterung von Teilhabemöglichkeiten führen soll und diese wiederum durch eine Erweiterung von Fähigkeiten erfolgen kann. Ignatius von Loyola (1993): Briefe und Unterweisungen, S. 240.
Fähigkeiten und Fundamentalfähigkeiten
51
diese Präferenz, die wie ein Gewicht wirkt - in eine Richtung geneigt wird. Den Nährboden für die Kultivierung von Fähigkeiten bilden persönliche Begabung, Vitalität und moralische Orientierung, Neigungen und Interessen. Oder auch: Die Förderung von Fähigkeiten muss auf diese Eigenarten einer Persönlichkeit Rücksicht nehmen. (iii) Die Förderung von Fähigkeiten ermöglicht die Einbettung eines menschlichen Lebens in einen größeren Zusammenhang, dem dieses Leben auch dienen kann. (iv) Die Förderung von Fähigkeiten hat auf moralische Betrachtungen Rücksicht zu nehmen, da sich menschliches Vermögen auch, wie es hier heißt, »auf etwas Böses« (»ad malum«) richten kann. Hier bedarf es offensichtlich auf Seiten derjenigen, die den Prozess der Fähigkeitsförderung begleiten, entsprechende Fähigkeiten zweiter Ordnung - etwa die Fundamentalfähigkeit zum moralischen Urteil. Es ist dann wohl darauf zu achten, dass die genannten Fundamentalfähigkeiten bei denjenigen, die pädagogische Verantwortung tragen, in besonderer Weise realisiert sind. Damit schließt sich der Kreis zum Beginn: Die Fähigkeit, den Fähigkeitsansatz zu operationalisieren, ist eine andere Fähigkeit als die Fähigkeit, Sen und Nussbaums Texte zu lesen.
Literatur Arendt, H. (1997): Vita activa oder vom tätigen Leben. 9. Auflage. München: Piper. Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung. 19 Bde. Akademie Verlag (Hg.). Berlin 1965ff. Auster, P. (1982): Portrait of an Invisible Man. In: The Invention of Solitude. New York: Sun Press. Brandom, R. (1994): Making It Explicit. Cambridge, Mass: Harvard UP. Honerød Hoveid, M./Hoveid, H. (2009): Educational Practice and Development of Human Capabilities. In: Studies in the Philosophy of Education 28, 461-472. Ignatius von Loyola: Briefe und Unterweisungen. P. Knauer (Hg.), Würzburg 1993. Kadare, I. (2003): Der Palast der Träume. Zürich: Ammann. Magee, B./Milligan, M. (1995): On Blindness. Oxford: UP. Merton, R.K (1968): The Matthew Effect in Science. In: Science 159, 3810, 56-63. Morgan, P. (2006): The Concept of Capacity. Maastricht: European Center for Development Policy Management. Nordenfelt, N. (1995): On the Nature of Health. Dordrecht: Kluwer. Nussbaum, M. (1997): Cultivating Humanity. Cambridge, Mass.: Harvard University Press. Polanyi, M. (1958): Personal Knowledge: Towards a post-critical philosophy. Chicago: UP. Ricoeur, P. (2005): The course of recognition. Cambridge, Mass: Harvard UP. Ricoeur, P. (2006): Capabilities and rights. In: Deneulin, S./Nebel, M./Sagovsky, N. (eds.), Transforming unjust structures. The capability approach. Doordrecht: Springer, 17-26.
52
Clemens Sedmak
Rossiter, M. (1993): The Matthew Matilda Effect. In: Social Studies of Science 23, 325-341. Sandel, M. (2008): Liberalism and the Limits of Justice (11th ed.). Cambridge: UP. Sedmak, C. (2009): Coping Strategies and Epistemic Resilience. In: Hamilton C. et al. (eds.), Facing Tragedies. Berlin: Lit-Verlag, 23-44. Sedmak, C. (2010): Autonomien des Alterns. In: Imago Hominis 17/1, 25-35. Sedmak, C. (2010): Bildung und innere Armut. In: Schmidhuber, M. (Hg.), Formen der Bildung. Frankfurt /Main: Lang, 119-130. Sedmak, C./Unterrainer, Chr. (2010): Leid verstehen. Augsburg: Sankt Ulrich. Sen, Amartya (1999): Development as Freedom. New York: Anchor. Stemmer, P. (1992): Aristoteles´ Glücksbegriff in der Nikomachischen Ethik. In: Phronesis 37, 85-110. Walker, M. (2008): Widening participation; widening capability. In: London Review of Education 6/3, 267-279.
Verwirklichungschancen und Entscheidungskompetenz Ortrud Leßmann
Der von Amartya Sen und Martha Nussbaum entwickelte Capability Ansatz (CA) ist ein international zunehmend diskutierter Ansatz zur Analyse individuellen Wohlergehens und sozialer Wohlfahrt. Der CA lässt sich als allgemeiner theoretischer Rahmen mit vielen Anwendungsmöglichkeiten sehen, er lässt sich auch als Kritik an der Wohlfahrtsökonomie und anderen Ansätzen zur Bewertung des Wohlergehens lesen oder aber als Vorschlag für eine neue Grundlage für interpersonelle Vergleiche des Wohlergehens.1 Es sind die vielen Anwendungs- und Interpretationsmöglichkeiten, die viele verschiedene Disziplinen mit diesem Ansatz arbeiten lässt. Die Erziehungswissenschaft gehört dazu und hat ein steigendes Interesse am CA. Dieser Aufsatz plädiert jedoch dafür, dass der CA umgekehrt auch davon profitieren würde, erziehungswissenschaftliche Überlegungen mit einzubeziehen. Der erste Teil des Aufsatzes widmet sich der Aufgabe, zu zeigen, warum und wo die Erziehungswissenschaft - oder genauer gesagt eine Theorie des Lernens2 - im CA nötig ist. Dies geschieht in drei Schritten: Der erste Abschnitt vermittelt einen kurzen Überblick über die Kernbegriffe von Sens CA. Der Abschnitt zur Rolle von Auswahlentscheidungen geht auf die unterschiedlichen Aspekte ein, die Sen und Nussbaum im Zusammenhang damit aufbringen und inwiefern ihre Behandlung Schwächen und Mängel aufweist. Daraus zieht der dritte Abschnitt die Fol-
1 2
Vgl. Robeyns, Ingrid (2005): The Capability Approach: a Theoretical Survey, S. 93-114. Diesem Aufsatz liegt ein englischer Aufsatz zu Grunde - vgl. Leßmann, O. (2009): Capability and Learning to Choose, S. 449-460. Für die englische Version wurde mir von Kollegen empfohlen, von »a theory of learning« statt von einer »educational theory« zu sprechen. Im Deutschen hin gegen klingt »Theorie des Lernens« etwas sperrig. Allerdings würde die Bezeichnung »Lernthe orie« auf einen entwicklungspsychologischen Zusammenhang hindeuten (siehe Beitrag von JeanLuc Patry in diesem Band), den ich nicht herstelle. Die Bezeichnung »Bildungstheorie« wiederum erzeugt einen Klärungsbedarf hinsichtlich der Bedeutung des Begriffs »Bildung«, der den Rahmen dieses Aufsatzes deutlich sprengt. Den Hinweis auf diese sprachlichen Feinheiten verdanke ich Bernhard Babic, der die Thematik anhand seines Beitrags in diesem Band ebenfalls behandelt.
C. Sedmak et al., Der Capability-Approach in sozialwissenschaftlichen Kontexten, DOI 10.1007/978-3-531-92749-7_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
54
Ortrud Leßmann
gerung, welche Anforderungen eine Theorie des Lernens erfüllen muss, um mit dem CA vereinbar zu sein. Der zweite Teil des Aufsatzes stellt Deweys Bildungstheorie, welche »Erfahrung« in den Mittelpunkt stellt, als möglichen Kandidaten für eine Lerntheorie vor, welche zum CA passen würde. Zunächst werden im Abschnitt über »Auswahlmöglichkeiten, Erfahrung und Bildung« Deweys Konzepte eingeführt. Dann erörtert der Abschnitt über »Erfahrung als Kategorie für den CA«, inwiefern Deweys Theorie zu Sens Ansatz passt. Auf den ersten Blick sind es drei Punkte, welche die beiden Theorien verbinden: die Bedeutung von Freiheit für den Menschen, die Rolle von Partizipation in der Bildung und die Notwendigkeit, innere und äußere Faktoren sowie deren Zusammenwirken zu betrachten, wenn Auswahlsituationen analysiert werden sollen. So offensichtlich diese Verbindungen zwischen Deweys Theorie des Lernens und Sens CA auf den ersten Blick sind, so sehr ist weitere Forschung von Nöten, um diese Verbindungen genauer zu untersuchen. Der letzte Abschnitt skizziert daher den weiteren Forschungsbedarf.
1. Die Kernbegriffe aus Sens Capability Ansatz Nach dem CA hängt das Wohlergehen davon ab, was ein Mensch tut oder ist - seinen erreichten Funktionen (achieved functionings) -, und dem, was ein Mensch zu tun oder zu sein in der Lage ist - seinen Verwirklichungschancen (capabilities). Dies sind die Kernbegriffe des CA. Die Beispiele für Funktionen reichen dabei von elementaren Zuständen und Tätigkeiten wie wohlgenährt sein, essen und trinken bis hin zu solch komplexen Funktionen wie am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und sich selbst achten.3 Um eine Funktion, wie beispielsweise »wohlgenährt zu sein«, zu erreichen, muss das Individuum sowohl bestimmte Güter oder Ressourcen zur Verfügung haben (wie z.B. Lebensmittel) als auch befähigt sein, diese Güter zu nutzen (also Nahrung zu sich nehmen zu können). Formal sind daher die Verwirklichungschancen einer Person abhängig von ihren Ressourcen (abgebildet in Form der Budgetmenge) einerseits und von Fertig- und Fähigkeiten sowie ihren Behinderungen (abgebildet als Menge persönlicher Technologien) andererseits.4 Doch das Niveau, das eine Person bezüglich einer Funktion erreicht, wird durch das Zusammenspiel von Budgetmenge und persönlichen Technologien nicht
3 4
Vgl. Sen, Amartya K. (1999): Development as Freedom, S. 75. Vgl. Sen, Amartya K. (1985): Commodities and Capabilities, S. 11.
Verwirklichungschancen und Entscheidungskompetenz
55
vollständig determiniert. Es ist möglich, verschiedene Niveaus einer Funktion zu erreichen und verschiedene Kombinationen von Funktionen zu verwirklichen, wobei jede Kombination von Funktionen eine Lebensweise darstellt. Zum Beispiel mag eine Lebensweise ein hohes Niveau an körperlicher Arbeit, ausreichende Ernährung und einen guten Gesundheitszustand mit sich bringen, während eine andere, ebenfalls erreichbare Lebenssituation wenig körperliche Arbeit, weniger Ernährung und einen schlechteren Gesundheitszustand beinhaltet. »Wohlgenährt zu sein« ist daher in Kombination mit anderen Funktionen wie »körperlich arbeiten« und »gesund sein« usw. zu sehen. Sen versteht unter der Menge an Verwirklichungschancen (capability set) die Menge all jener Lebensweisen, die sowohl aufgrund der materiellen Bedingungen als auch von persönlichen Eigenschaften her für eine Person erreichbar sind.5 Er nimmt dann an, jede Person wähle eine Kombination an Funktionen, eine Lebensweise, aus der Menge an Verwirklichungschancen. Insofern spiegelt die Menge an Verwirklichungschancen nach Sen die Freiheit wider, entweder die eine oder andere Lebensweise zu führen. Jede dieser Lebensweisen ist eine Verwirklichungschance und steht damit der Person zur Wahl. Weiter schreibt Sen der Möglichkeit, sich zwischen verschiedenen Lebensweisen zu entscheiden, einen intrinsischen Wert zu (im Gegensatz zu ihrem instrumentellen Wert als Mittel zur Erreichung eines bestimmten Ziels). Insofern Wahlfreiheit selbst ein Ziel ist (also einen intrinsischen Wert besitzt), beeinflusst sie das Wohlergehen positiv.6 Folglich hängt das Wohlergehen einer Person nach dem CA sowohl von der erreichten Lebensweise als auch von der Freiheit, sich für eine Lebensweise entscheiden zu können, ab. Um daher das Wohlergehen einer Person bewerten zu können, müssen also sowohl die erreichten Funktionen als auch die Menge an Verwirklichungschancen bzw. der Grad der Wahlfreiheit betrachtet werden. Beispielsweise stuft der CA das Wohlergehen einer Person, die fastet, höher ein als das einer hungernden, weil erstere die Möglichkeit hat, Nahrung zu sich zu nehmen, während letztere über diese Möglichkeit nicht verfügt, also geringere Wahlfreiheit hat.
5 6
Vgl. Sen, Commodities, S. 13f. Vgl. Sen, Amartya K. (1988): Freedom of Choice: Concept and Content, S. 269-294, hier: S. 270.
56
Ortrud Leßmann
2. Die Rolle von Auswahlentscheidungen im Capability Ansatz 2.1 Entscheiden bei Nussbaum Die Möglichkeit, Auswahlentscheidungen treffen zu können, ist von zentraler Bedeutung für den CA. Sie eröffnet die Chance, ein Leben zu führen, das man wertschätzt. Die Fähigkeit, Auswahlentscheidungen zu treffen, bezeichnet Nussbaum als praktische Vernunft (practical reason). »Fähigkeit« ist hier die Übersetzung von »capability«, denn anders als Sen analysiert Nussbaum jede Fähigkeit zu einer Funktion für sich genommen und nicht als »Verwirklichungschance« in Kombination mit anderen Funktionen.7 Nussbaum spricht der praktischen Vernunft zusammen mit der Fähigkeit, ein Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln (social affiliation), die besondere Rolle »architektonischer Fähigkeiten«8 zu. Alles, was wir tun, tun wir überlegt und im Hinblick auf andere. Insofern durchdringen diese beiden Fähigkeiten alle anderen. Grundsätzlich sind Fähigkeiten angeboren und müssen durch Bildung und Training entwickelt werden, um ein Niveau zu erreichen, das Nussbaum als »wahrhaft menschlich« 9 bzw. eines Menschen würdig bezeichnet. In der Entwikklung von Fähigkeiten unterscheidet Nussbaum drei Niveaus: grundlegende, interne und kombinierte Fähigkeiten.10 Unter »grundlegenden Fähigkeiten« fasst Nussbaum all das zusammen, was bereits bei der Geburt in uns angelegt ist, aber noch entwickelt werden muss wie beispielsweise die Fähigkeit, zu sprechen. Mit »interner Fähigkeit« bezeichnet Nussbaum das Niveau der Fähigkeit, über das eine Person aktuell aufgrund ihrer Bildung und Entwicklung verfügt. Interne Fähigkeiten sind intellektuelle, charakterliche und körperliche Eigenschaften, welche die Person in die Lage versetzen, Funktionen auszuüben, wenn sie dies möchte. Damit erhält die Person die Möglichkeit, sich zu entscheiden, ob sie ihre Fähigkeit verwirklicht oder nicht (und darin liegt die Verbindung zu Sens Konzept von »capability« als Verwirklichungschance). Diese Chance, bewusst zu handeln, kann der Person dennoch verwehrt sein, wenn die äußeren Bedingungen ungünstig sind. Zum Beispiel hindern repressive nicht-demokratische Regime ihre Bürger an der Verwirklichung ihrer Fähigkeit, zu denken, ihre Meinung zu formulieren und sie auch zu vertreten. Daher
7
Vgl. Leßmann, Ortrud (2007): Konzeption und Erfassung von Armut - Vergleich des LebenslageAnsatzes mit Sens ›Capability‹-Ansatz, S. 156. 8 Nussbaum, Martha C. (2000): Women and Human Development - The Capabilities Approach, S. 82. 9 Nussbaum, Women, S. 73. 10 Vgl. Nussbaum, Martha C. (1988): Nature, Function, and Capability: Aristotle on Political Distribution, S 145-184, hier: S. 160-166; Nussbaum, Women, S. 84f.
Verwirklichungschancen und Entscheidungskompetenz
57
führt Nussbaum das Konzept »kombinierter Fähigkeiten«11 ein, welches das Niveau einer Funktion beschreibt, das eine Person aufgrund der Kombination aus ihren internen Fähigkeiten mit den äußeren Bedingungen erreichen kann. Interne und kombinierte Fähigkeiten können insofern nicht trennscharf voneinander unterschieden werden, weil günstige äußere Bedingungen eine notwendige Voraussetzung für die Bildung und Entwicklung von internen Fähigkeiten ist. Menschen brauchen die Möglichkeit zum öffentlichen Disput, um die Fähigkeit, zu argumentieren, auszubilden. Auch wenn sie die Menge an Möglichkeiten, die einer Person offen stehen, nicht in derselben Form wie Sen explizit modelliert, spielt sie doch auch in Nussbaums Konzeption eine wichtige Rolle. Auch die Fähigkeit, Auswahlentscheidungen zu treffen (die praktische Vernunft anzuwenden), kann in den drei Niveaus vorliegen. Sie ist uns von vorneherein als grundlegende Fähigkeit gegeben, muss aber zur internen bzw. kombinierten Fähigkeit noch weiter ausgebildet werden. Zugleich nimmt sie jedoch eine besondere Position ein, weil jegliche interne Fähigkeit dadurch gekennzeichnet ist, dass die Person wählen kann, ob sie die Funktion ausübt oder nicht. Ein gewisses Maß an praktischer Vernunft stellt somit eine Vorbedingung dar, um interne Fähigkeiten ausüben zu können. In dieser Weise durchdringt sie alle anderen Fähigkeiten und bestimmt das Niveau interner Fähigkeiten. Um ein hohes Niveau interner Fähigkeiten zu erreichen, müssen die äußeren Umstände günstig sein. Im Falle der praktischen Vernunft heißt dies, dass die Person Wahlmöglichkeiten haben muss, um Auswahlentscheidungen zu treffen und Entscheidungskompetenz auszubilden. Die Ausbildung praktischer Vernunft geschieht unter anderem dadurch, dass die Person über die Ausübung ihrer internen Fähigkeiten entscheidet. Soweit schildert Nussbaum, wie Fähigkeiten sich im Allgemeinen entwickeln und insbesondere die praktische Vernunft ausgebildet wird.
2.2 Bedingungen für Auswahlentscheidungen bei Sen Wie erwähnt, unterscheidet sich Nussbaums Verständnis von »capability« von jenem Sens insbesondere dadurch, dass sie nicht Kombinationen von Funktionen
11 Zunächst sprach Nussbaum von »externen Fähigkeiten«, reagierte aber auf die Arbeiten von a) Crocker, David, (1995): Functionings and Capability / Part II und b) Gasper, Des (1997): Sen´s Capability Approach and Nussbaum´s Capability Ethic, S. 281-301, die darauf hinweisen, dass es dabei nicht nur um externe Bedingungen geht, sondern um das Zusammenspiel interner und externer Bedingungen.
58
Ortrud Leßmann
analysiert, sondern die einzelnen Fähigkeiten separat betrachten will. Der Grund hierfür ist die normative Überlegung, dass jede einzelne dieser Fähigkeiten wichtig für ein gutes Leben ist und daher die Fähigkeiten nicht gegeneinander aufgewogen werden dürfen. Zugleich betont sie, dass die Fähigkeiten auf vielerlei komplexe Art miteinander in Verbindung stehen.12 Die Modellierung der Auswahlmenge bei Sen als Menge an Verwirklichungschancen berücksichtigt die Verbindungen zwischen Funktionen implizit, weil jede Verwirklichungschance eine Lebensweise - und keine einzelne Funktion - ist. Kaufman hebt diese Eigenschaft des Senschen Ansatzes hervor, indem er darauf hinweist, dass es bei Sen um die Wahl zwischen verschiedenen Kombinationen von Funktionen gehe, die gleichzeitig verwirklicht werden können.13 Die Größe der Menge an Verwirklichungschancen hängt dabei von Zweierlei ab 14: (1) der Budgetmenge (als äußerer Bedingung) und (2) den Konversionsfaktoren (als Mischung aus äußeren und inneren Bedingungen). Sen stellt jedoch weder die Fähigkeit, Auswahlentscheidungen treffen zu können - die Entscheidungskompetenz der Personen -, in Frage noch untersucht er die Bedingungen, unter denen sich diese Fähigkeit entwickelt. Cohen kritisiert daher, dass Sen mit den Auswahlentscheidungen den Handlungen der Individuen eine solch große Bedeutung für das Erreichen ihres Wohlergehens gibt. Cohen nennt es »athletisch«, dass jedes Individuum um sein eigenes Wohlergehen zu sichern, aktiv werden muss und sich zwischen verschiedenen Auswahlmöglichkeiten entscheiden muss. Nach Cohen misst Sen damit der (Wahl-)Freiheit und den eigenen Handlungen eine zu große Rolle bei.15 Auch wenn ich die Kritik von Cohen in Bezug auf die große Rolle von Freiheit für das Wohlergehen nicht teile, so denke ich doch, dass er einen wichtigen Punkt angesprochen hat, nämlich die Tatsache, dass Sen annimmt, jeder verfüge über Entscheidungskompetenz. Egal, ob eine Lebensweise aktiv gestaltet oder eher passiv angenommen wurde, Sen interpretiert sie als das Ergebnis einer Auswahlentscheidung zwischen verschiedenen Verwirklichungschancen. Wenn aber das Treffen von Auswahlentscheidungen selbst eine Funktion ist, wie Sen selbst erwägt, dann liegt eine Zirkularität vor, wie Sen auch zugibt.16 Die Person muss darüber entscheiden,
12 Vgl. Nussbaum, Women, S. 81. 13 Vgl. Kaufman, Alexander (2006): Capabilities and Freedom, S. 289-300, hier: S. 299. Vgl. auch Sens eigene Klarstellung in Sen, Amartya K. (2009): The Idea of Justice, S. 233 Fußnote. 14 Vgl. Sen, The Idea of Justice, S. 233 Fußnote. 15 Vgl. Cohen, Gerald A. (1993): Equality of What? On Welfare, Goods and Capabilities, S. 25. 16 Vgl. Sen, Amartya K. (1987): The standard of living, S. 37; Sen, Amartya K. (1984): Well-being, Agency and Freedom: The Dewey Lectures, S. 169-221, hier: S. 202.
Verwirklichungschancen und Entscheidungskompetenz
59
wie gut sie entscheiden will, bzw. welches Maß an Entscheidungskompetenz sie erwerben möchte. Sen spielt die Bedeutung der Zirkularität herunter, indem er sie als ein Problem der formalen Charakterisierung bezeichnet. Es sei wichtiger, die grundsätzliche Bedeutung von (Wahl-)Freiheit für das Wohlergehen anzuerkennen.17 Seither wurde diese Zirkularität nicht weiter beachtet und erst recht nicht aufgelöst. (Wahl-)Freiheit wird hingegen bei der Bewertung der Lebenssituation eines Menschen hinsichtlich seines Wohlergehens eine Bedeutung eingeräumt, wenn auch eher als theoretische Zielsetzung, deren praktische Umsetzung in empirische Forschung sich nur schwer gewährleisten lässt.18 In Sens Modell fehlt die Beschreibung intertemporaler Zusammenhänge. Es ist ein komparativ-statischer Ansatz. Sen betrachtet Auswahlsituationen, aber stellt keinen Zusammenhang zwischen einer Auswahlsituation und der nächsten her. Freilich lassen sich Auswahlsituationen hinsichtlich ihrer Menge an Verwirklichungschancen und der gewählten Lebensweise vergleichen, aber ein näherer Zusammenhang lässt sich nicht herstellen. Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, wie sehr Sen den Prozess-Aspekt von (Wahl-)Freiheit betont.19 Berücksichtigt man jedoch die Analogie zwischen seinem Ansatz und den volkswirtschaftlichen Modellen der Konsumentscheidung, so scheint es, Sen genüge es, den ProzessAspekt in Form der Auswahlentscheidung zwischen verschiedenen Verwirklichungschancen zu modellieren.
2.3 Bildung, Auswahlentscheidungen und soziale Konditionierung Anders als Sen weist Nussbaum explizit auf die intertemporalen Zusammenhänge hin, indem sie die Bedeutung von Bildung für die Entwicklung von Fähigkeiten hervorhebt. Auf die Bedeutung von Bildung für eine Ausweitung individueller Verwirklichungschancen macht auch Sen aufmerksam,20 aber weder Nussbaum noch er gehen weiter. Wie Unterhalter 21 bemerkt, ist die theoretische Behandlung des
17 Vgl. Sen, The standard, S. 37. 18 Vgl. z.B. Basu, Kaushik (1987): Achievement, Capabilities and the Concept of Well-Being, S. 6976, hier: S. 75. 19 Vgl. z.B. Sen, Development, S. 17. 20 Vgl. Sen, Development, S. 295. 21 Vgl. Unterhalter, Elaine (2001): The Capability Approach and Gendered Education: An Examination of South African Contradictions, Beitrag zur Konferenz zu »Justice and Poverty« (1.Capablity Konferenz).
60
Ortrud Leßmann
Themas Bildung im CA ungenügend. Im Falle von Sen nimmt er die Fähigkeit, Auswahlentscheidungen zu treffen - die Entscheidungskompetenz -, als gegeben an, ohne zu diskutieren, wie Entscheidungskompetenz entsteht. Zugleich zieht er die Entscheidungskompetenz einiger Menschen in Zweifel. Dies wird an dem Beispiel zur Gesundheitssituation indischer Witwen und Witwer nach der Bengalischen Hungersnot 1943 deutlich. Wie Sen berichtet, haben die Männer in einer Befragung sich viel häufiger über ihren Gesundheitszustand beklagt als die Frauen. Sen meint, objektiv sei die Situation der Frauen viel gravierender gewesen, und er interpretiert daher ihre Selbsteinschätzung als ein Ergebnis »sozialer Konditionierung« 22. Wenn aber bestimmte Entscheidungen nicht ernst zu nehmen sind, weil sie das Ergebnis sozialer Konditionierung sind, wie sind sie dann von »mündigen« Entscheidungen zu unterscheiden? Bei dem großen Vertrauen, das Sen in die Entscheidungskompetenz der Menschen hat, wäre es wichtig, Bedingungen für gute Entscheidungen und den Aufbau von Entscheidungskompetenz zu benennen.
3. Anforderungen an eine Theorie des Lernens im CA Im CA fehlt eine Erklärung dafür, wie Menschen entscheiden, wie sie leben wollen, und wie sie lernen, diese Entscheidung zu fällen. Funktionen und Verwirklichungschancen stehen in einem zirkulären Verhältnis zueinander, insofern die Funktion, Auswahlentscheidungen zu treffen, eine Voraussetzung für die Wahl einer Lebensweise aus der Menge an Verwirklichungschancen ist. Die Entscheidungskompetenz als praktische Vernunft ist übrigens auch bei Nussbaum eine Vorbedingung für die Erlangung eines höheren Niveaus interner Fähigkeiten somit liegt auch bei ihr eine Zirkularität vor. Ein Modell der intertemporalen Zusammenhänge zwischen Funktionen und Verwirklichungschancen (Fähigkeiten) könnte diese Zirkularität auflösen. Soll eine Theorie des Lernens diese Lücke im CA füllen, so muss sie den bestehenden Charakter des Ansatzes bewahren, der in Abbildung 1 zusammengefasst ist. Sowohl in Sens wie auch in Nussbaums Version des CA nimmt die (Wahl-)Freiheit einen zentralen Platz ein; selbst entscheiden zu können, ist nach Ansicht beider Autoren ein bedeutendes Merkmal menschlichen Lebens.
22 Das Beispiel findet sich in Sen, Commodities, Appendix. Das Problem »adaptiver Präferenzen« diskutiert Sen an vielen Stellen. Die Bezeichnung »soziale Konditionierung« verwendet er z.B. in Sen, Amartya K. (1992): Inequality Re-examined, S. 149f.
Verwirklichungschancen und Entscheidungskompetenz
61
Nussbaum: praktische Vernunft
Sen: Wahlfreiheit
Innere Bedingungen
Interne Fähigkeiten
Menge an persönlichen Technologien
Äußere Bedingungen
Kombinierte Fähigkeiten (äußere Bedingungen)
Budgetmenge Menge an persönlichen Technologien (äußere Konversionsfaktoren)
Ja, durch Bildung und Training
Nein, nur Wahl einer Lebensweise aus der Menge an Verwirklichungschancen
Intertemporaler Zusammenhang?
Abbildung 1: Entscheiden im CA (Eigene Darstellung)
Sen geht über Nussbaum insofern hinaus, als er die (Wahl-)Freiheit in Form der Menge an Verwirklichungschancen, aus der eine Person ihre Lebensweise unter vielen auswählen kann, modelliert. Nussbaum hingegen spricht die Entwicklung von Fähigkeiten und insbesondere auch der Entscheidungskompetenz (bzw. der praktischen Vernunft) an. Sie zeigt damit die Notwendigkeit, die intertemporalen Zusammenhänge zu modellieren, und geht insofern über Sen hinaus. Beide betonen, dass die Auswahl- oder Entscheidungssituation von internen und externen Faktoren definiert wird. Sen berücksichtigt äußere Bedingungen zunächst in Form der Budgetmenge und der Ressourcen, die einer Person zur Verfügung stehen. Des Weiteren schildert er, wie die jeweiligen Umstände - die sozialen, geographischen und klimatischen Bedingungen - das individuelle Leben beeinflussen - ohne jedoch den Einfluss im engeren Sinne zu modellieren. In Form der Menge an persönlichen Technologien berücksichtigt Sen ferner auch interne Einflüsse - die Talente und Fähigkeiten wie auch Mankos einer Person. Nussbaum hingegen spricht direkt von den internen Fähigkeiten und den äußeren Bedingungen, die gemeinsam mit den internen Fähigkeiten das Ausmaß an kombinierter Fähigkeit bestimmen. Eine Theorie des Lernens für den CA muss zuallererst eine Theorie darüber sein, wie Menschen entscheiden lernen. Sie muss das starke Gewicht, das Sen und Nussbaum auf Auswahlentscheidungen legen, beachten. Sie sollte vereinbar mit den formalen Anforderungen des Modells von Auswahlmengen bei Sen sein.23 Sie sollte die Ideen von Sen und Nussbaum zum Einfluss interner und externer
23 Die Verbindung zwischen Sens Konzept einer Menge an Verwirklichungschancen und der Literatur zu Auswahlmengen stellt nicht nur Sen selbst her, sondern auch Pattanaik, Prasanta/Xu,
62
Ortrud Leßmann
Faktoren widerspiegeln. Und sie sollte eine explizite Vorstellung von der Entwicklung von Entscheidungskompetenz beinhalten. Die Veränderungen und intertemporalen Zusammenhänge zwischen früheren Entscheidungen und heutigen Auswahlsituationen sowie zwischen inneren und äußeren Bedingungen sollte klarer modelliert werden, eventuell indem man sich Abfolgen von Mengen an Verwirklichungschancen anschaut. Im Folgenden wird die Lerntheorie von John Dewey, wie er sie in seinem Buch »Experience and Education« dargelegt hat, als mögliche Kandidatin zum Füllen der Lücke im CA präsentiert.
4. Auswahlmöglichkeiten, Erfahrung und Bildung 4.1 Erfahrung als Kernbegriff Erfahrung ist der Kernbegriff von Deweys Bildungstheorie. Ihm geht es um eine »neue«, »progressive« Bildung durch Erfahrung. Anstatt Wissen in »traditioneller« Weise durch das Lesen von Büchern und Wiederholung zu vermitteln, ist es das Ziel der »neuen« Bildung, Schülern/innen die Gelegenheit zur Erfahrung zu geben, wie die Dinge zusammenhängen, und ihre eigenen Schlüsse daraus zu ziehen.24 Natürlich stellen auch die »traditionellen« Lehrmethoden eine Erfahrung für die Schüler/innen dar, aber Dewey befürchtet, es seien in der Regel nicht die richtigen Erfahrungen. Nach Dewey hängt die Qualität einer Erfahrung davon ab, ob sie unmittelbar als angenehm oder unangenehm empfunden wird und sich daher auf spätere Erfahrungen auswirkt.25
Yongchen (1990): On Ranking Opportunity Sets in Terms of Freedom of Choice, S. 383-390. Sugden, Robert (1998): The Metric of Opportunity, S. 307-337, interpretiert Auswahlmengen als formale Modellierung von Freiheit und nennt den CA als ein Beispiel. Einen Überblick über die verschiedenen Anwendungen des Konzepts von Auswahlmengen geben Barbera, Salvador/Bossert, Walter/Pattanaik, Prasanta (2001): Ranking Sets of Objects. 24 Das Büchlein von Dewey erschien erstmals 1938 und war ein Beitrag zu einem aktuellen Diskurs über Reformpädagogik. Im Jahr 1896 hatte er eine Experimentierschule in Chicago gegründet und erforschte darin die Tragfähigkeit seiner Ideen. 25 Vgl. Dewey, John (1938/1997): Experience and Education, S. 26f.
63
Verwirklichungschancen und Entscheidungskompetenz
situation
situation
oth er pe r ob jec sons ts
oth er pe r ob jec sons ts
objective conditions
oth er pe r ob jec sons ts
principle of interaction
situation
internal conditions principle of continuity
Abbildung 2: Deweys Konzept der Erfahrung (Eigene Darstellung)
Nach Dewey werden Erfahrungen von zwei Prinzipien bestimmt: dem Prinzip der Kontinuität und dem Prinzip der Interaktion (principles of continuity and interaction). Das erste Prinzip besagt, dass jede Erfahrung etwas aus früheren Erfahrungen aufgreift und die Qualität aller späteren Erfahrungen beeinflusst.26 Vergangene, gegenwärtige und zukünftige Erfahrungen stehen also in Verbindung miteinander. Aufgrund von Erfahrungen bilden die Menschen Vorlieben aus, entwickeln ihre Haltung gegenüber neuen Erfahrungen und bewirken deren Einschätzung. Zugleich beeinflussen vergangene Erfahrungen auch die objektiven Bedingungen, unter denen neue Erfahrungen entstehen. Dewey schreibt: »Jede genuine Erfahrung besitzt eine aktive Seite, welche zu einem bestimmten Grad die objektiven Bedingungen verändert, in denen man Erfahrungen macht.« 27 Zum Beispiel macht ein Kind, das Lesen und Schreiben lernt, eine neue Erfahrung und erweitert zugleich das Spektrum an Methoden, um später Neues zu lernen (zu erfahren). Es gibt aber auch Erfahrungen, welche das Lernvermögen des Kindes beeinträchtigen, z.B. wenn die Eltern dazu tendieren, ihr Kind zu verwöhnen, und das Kind daher die Erfahrung macht, dass es nichts selbst machen muss, sondern alles von anderen getan wird.
26 Vgl. Dewey, Experience, S. 35. 27 Dewey, Experience, S. 39, eigene Übersetzung.
64
Ortrud Leßmann
Das zweite Prinzip, das Prinzip der Interaktion, besagt, dass Erfahrungen auf der Interaktion zwischen dem Individuum, Objekten und anderen Personen beruhen.28 Dieses Prinzip weist darauf hin, dass jede Erfahrung ihre Gestalt durch Ursachen außerhalb des Individuums erhält, sei es durch Personen oder Objekte. Das Individuum reagiert auf diese von außen gegebenen Reize. Es gibt also innere und äußere, objektive Bedingungen, welche Erfahrungen beeinflussen. Innere und äußere Bedingungen zusammengenommen bilden, was Dewey eine »Situation« 29 nennt. In einer Situation trifft das Individuum mit seinem Schatz an vergangenen Erfahrungen auf eine Umwelt, die aus Personen, mit denen sie beispielsweise spricht, und Objekten wie Spielzeugen, Büchern oder den Zutaten für einen Kuchen besteht. Das Individuum interagiert in einer solchen Situation mit seiner Umwelt. Das Leben ist nun nichts anderes als eine Abfolge solcher Situationen. In einer Welt zu leben, ist nach Dewey gleichbedeutend damit, eine Abfolge von Situationen zu durchleben.30 Das Zusammenspiel des Prinzips der Interaktion mit jenem der Kontinuität sieht also wie folgt aus: Was eine Person in einer Situation lernt, nimmt sie mit in die nächste Situation als Bestandteil ihrer inneren Bedingungen für neue Situationen. Das Wissen und die Fähigkeiten, die eine Person in früheren Situationen erworben hat, ermöglichen ihr, spätere Situationen zu verstehen und effektiv auf sie zu reagieren. Wenn dieser Prozess erfolgreich ist, integriert die Person die verschiedensten Erfahrungen aus der Abfolge an Situationen und konstruiert eine Welt aufeinander bezogener Objekte. Diese Welt bildet den Hintergrund für jede weitere Erfahrung, welche wiederum die Beziehung zwischen den Objekten näher bestimmen hilft und so zur genaueren Konstruktion der Welt beiträgt.
4.2 Die Freiheit des Lernenden Lernen ist also ein aktiver Prozess bei Dewey. Der Lernende verändert die Bedingungen, unter denen er Erfahrungen macht, insofern seine Sicht der Welt den Hintergrund für jede neue Erfahrung bildet. Lernen ist daher eins mit dem, was Dewey die »Freiheit der Intelligenz« 31 (freedom of intelligence) nennt, welche seines Erachtens auch die einzig bedeutende Freiheit darstellt. Es ist Freiheit im
28 29 30 31
Vgl. Dewey, Experience, S. 43. Dewey, Experience, S. 42. Vgl. Dewey, Experience, S. 43. Dewey, Experience, S. 61.
65
Verwirklichungschancen und Entscheidungskompetenz
positiven Sinne (Berlin), nämlich Freiheit als »das Vermögen, Absichten zu fassen, klug zu urteilen, Wünsche danach zu bewerten, welche Folgen sie nach sich ziehen, an ihrer Erfüllung zu arbeiten; das Vermögen, Mittel auszuwählen und anzuordnen, um gewählte Ziele in die Tat umzusetzen«.32 Am Anfang steht immer ein Impuls, der zu einem Wunsch (desire) wird, wenn man ihm nicht unmittelbar nachgeben kann. Wünsche sind, was uns letztlich zum Handeln antreibt, aber sie sind nicht das Endziel des Handelns. Die Intensität der zugrunde liegenden Wünsche bestimmt zwar, welche Mühen man unternimmt, um diese Wünsche zu erfüllen 33, aber ein Wunsch ist an und für sich noch keine Absicht (purpose). Eine Absicht zu fassen, beinhaltet das Voraussehen von Ereignissen, die vermutlich passieren würden, wenn man seinen Impulsen nachgeben würde.34 Insofern beinhaltet es Beobachtungen (observations) der tatsächlichen Umstände, Erinnerung (memory/recollection) an vorhergehende ähnliche Erfahrungen und schließlich Beurteilung der Folgen dieses speziellen Wunsches.
thinking: postponement of execution
impulse
reflection: observation (interaction) and memory (continuity)
desire
purpose
Abbildung 3: Selbstkontrolle bei Dewey (Eigene Darstellung)
Es ist dieses Vermögen, über verschiedene Möglichkeiten nachzudenken, bevor man einem Impuls nachgibt, die Dewey Selbstkontrolle (self-control) nennt. »Nachdenken schiebt Handlungen auf, indem es die innere Kontrolle des Impulses durch die Zusammenführung von Beobachtungen und Erinnerungen bewirkt, wobei diese
32 Dewey, Experience, S. 64, eigene Übersetzung. »Absicht« ist hierbei die deutsche Übersetzung von »purpose«. 33 Die Wunscherfüllung bei Dewey ist deutlich von der Wunschbefriedigung in utilitaristischen Theorien zu unterscheiden. Anders als bei diesen spielen Wünsche bei Dewey eine rein instrumentelle Rolle. Sie haben keinen Wert an sich, sondern sind nur ein Baustein der Selbstkontrolle. 34 Vgl. Dewey, Experience, S. 67.
66
Ortrud Leßmann
Zusammenführung den Kern des Nachdenkens bildet.« 35 Nach Deweys Meinung zielt Bildung idealerweise auf die Ausbildung dieses Vermögens der Selbstkontrolle (self-control) ab. Im Laufe der Verwandlung eines Impulses in einen Wunsch und in der Folge in eine Absicht übt der Lernende seine Freiheit der Intelligenz aus, indem er innehält, über seinen Impuls nachdenkt, die Folgen seines Wunsches abschätzt und schließlich eine Absicht fasst, welche seine Handlungen im Lernprozess anleitet. »Solche Freiheit ist wiederum gleichbedeutend mit Selbstkontrolle.« 36 Insofern lässt sich das Ziel von (»progressiver«) Bildung auch anders formulieren als Freiheit (der Intelligenz).
4.3 Äußere Bedingungen und soziale Kontrolle Die Theorie des Lernens bei Dewey ist eine Bildungstheorie. Lernen ist bei ihm eine Aufgabe, bei der der Lernende und der Lehrende zusammenarbeiten. Lehrer/innen lenken den Lernenden und unterstützen ihn dabei, Absichten zu fassen. Diese Art, den Lernenden zu lenken, schränkt dessen Freiheit nicht ein, sondern befördert sie.37 Grundlage des Lernens ist jedoch die Erfahrung. Aufgabe der Lehrenden ist es folglich, die Lernsituation zu betrachten, die internen und objektiven Bedingungen (siehe Abbildung 2). Die internen Bedingungen des Lernens werden vom Prinzip der Kontinuität regiert. Das Prinzip der Interaktion hebt die Bedeutung äußerer Bedingungen im Allgemeinen und die des sozialen Umfelds im Besonderen hervor. Menschliche Erfahrung sei letztlich immer sozial vermittelt, sie schließt den Kontakt und die Kommunikation mit anderen Menschen ein.38 Das unmittelbare und direkte Interesse des Lehrers gilt den Situationen, in denen interagiert wird. Das Individuum, das als Faktor darin auftaucht, ist, was es zu der gegebenen Zeit ist. Es sind die anderen Faktoren - die objektiven Bedingungen - die sich in einem gewissen Grad vom Lehrer beeinflussen lassen.39
35 36 37 38 39
Dewey, Experience, S. 64, eigene Übersetzung. Dewey, Experience, S. 67, eigene Übersetzung. Vgl. Dewey, Experience, S. 71. Vgl. Dewey, Experience, S. 38. Dewey, Experience, S. 45, eigene Übersetzung.
Verwirklichungschancen und Entscheidungskompetenz
67
Dewey weist darauf hin, dass unter der Bezeichnung »objektive Bedingungen« vieles subsumiert wird, angefangen von der Ausstattung mit Büchern und Materialien, über Aufgabenstellungen und Spielregeln bis hin zum Ton, in dem etwas gesagt wird, und dem sozialen Aufbau einer Situation. Nach Dewey formt also der Lehrende Situationen im großen Umfang. Er verfügt über die direkte Kontrolle über einige objektive Bedingungen wie Materialien, Aufgabenstellungen und seine eigenen Handlungen. Ferner kann er den sozialen Aufbau einer Situation beeinflussen und sollte die Bedingungen, die der Lernende als interne Bedingungen mitbringt, berücksichtigen: Das Prinzip der Interaktion macht deutlich, dass die Auswahl von Materialien, die den Bedürfnissen und Fähigkeiten des Lernenden entsprechen, ebenso misslingen kann und einen negativen Effekt auf die Bildung haben kann wie die misslungene Anpassung des Individuums an das Lehrmaterial.40
Lehrer/innen können also einige objektive Bedingungen festlegen, um dem Lernenden eine Erfahrung zu ermöglichen, die ihn weiter bringt. Dennoch ist der Lehrende kein Vorgesetzter oder Diktator, sondern übernimmt eine Leitungsfunktion in der Gruppe. Bildung ist eine gemeinschaftliche Aufgabe. Der Lehrende leitet, aber er ist auch Teil der Gruppe. Seine spezielle Verantwortung gilt den Menschen, die an der Situation beteiligt sind, und dem Thema, das zu bearbeiten ist. Dazu gehört, diese Individuen zu kennen und um ihre internen Bedingungen zu wissen, also um ihre früheren Erfahrungen, ihren Wissensstand und ihr Verständnis der Welt. Dazu gehört auch, ein Thema auszuwählen, zu dem alle etwas beitragen können und an dem sich alle beteiligen. Letztlich sind es die gemeinsamen Aktivitäten der Gruppe, welche die Kontrolle haben: »(…) die Kontrolle liegt hauptsächlich in der Natur der gemeinschaftlich unternommener Arbeit begründet, zu der gehört, dass alle individuell die Möglichkeit haben, beizutragen und dass sich alle verantwortlich dafür fühlen«.41 Diese Art der Kontrolle - der sozialen Kontrolle - steht nicht im Widerspruch zu individueller Freiheit, insofern diejenigen, die sich an dem gemeinschaftlichen Unternehmen des Lernens beteiligen, nicht den Eindruck haben, von einem Individuum herumkommandiert zu werden oder dem Willen einer außen stehenden wichtigeren Person unterworfen zu sein, sondern eine Gruppe formen, die gemeinsam
40 Dewey, Experience, S. 46f., eigene Übersetzung. 41 Dewey, Experience, S. 56, eigene Übersetzung.
68
Ortrud Leßmann
eine Erfahrung macht.42 Dewey illustriert das am Beispiel von Kindern, die gemeinsam spielen. Spiele beinhalten Regeln - »keine Regeln, kein Spiel«43. Es gehört zum Spiel, die Regeln zu akzeptieren und nach ihnen zu handeln, denn nur dann ist es möglich, sich über einen anderen Spieler zu beschweren, wenn er sich nicht an die Regeln hält. Spielregeln sind standardisierte Konventionen und können ihre Wirkung nur entfalten, wenn sie von vielen Spielern anerkannt werden.
5. Erfahrung als Kategorie für den Capability Ansatz? In einigen Punkten stimmen Deweys Lerntheorie und der CA offensichtlich überein und passen gut zueinander: Beide heben die Bedeutung von Freiheit im Leben von Menschen hervor. Beide betonen die aktive Rolle der Individuen bei der Entscheidungsfindung. Beide unterscheiden innere und äußere Faktoren einer Entscheidungssituation. Dennoch könnten diese Übereinstimmungen nur oberflächlich sein. Dewey schreibt nicht über das Entscheiden an und für sich. Er skizziert die aktive Rolle, die ein Lernender im Lernprozess spielt. Insbesondere geht es Dewey darum, wie Absichten gefasst und in die Tat umgesetzt werden. Der Lernende wandelt einen Impuls in diesem Prozess durch Nachdenken in einen Wunsch um und, indem er über die Folgen seines Wunsches nachdenkt, bewertet er seinen Wunsch und entscheidet darüber, ob er seine Erfüllung anstrebt, also eine Absicht fasst. In diesem Sinne geht es bei Dewey um einen Entscheidungsprozess. Die Entscheidung, die der Lernende trifft, bezieht sich auf die Erfüllung oder NichtErfüllung seines Wunsches und die Art und Weise, wie er dies umsetzt. Tatsächlich steht bei Dewey der Entscheidungsprozess im Mittelpunkt und es ist nicht klar, inwiefern es darum geht, eine Option aus einer Menge an Optionen auszuwählen. Dennoch gibt es deutliche Ähnlichkeiten zwischen Sens Konzept einer Menge an Verwirklichungschancen und Deweys Konzept einer »Situation«: Gekennzeichnet ist die Situation bei Dewey durch objektive (äußere) Bedingungen, welche eine Erfahrung ermöglichen, und innere Bedingungen, die bestimmen, wie ein Mensch die Erfahrungen erlebt. Die Menge an Verwirklichungschancen bei Sen ist definiert durch das Zusammenwirken von Budgetmenge und der Menge persönlicher Technologien, die einem Menschen zur Verfügung stehen. Die Budgetmenge umfasst dabei die materiellen Aspekte (»Objekte«) von
42 Vgl. Dewey, Experience, S. 53. 43 Dewey, Experience, S. 52, eigene Übersetzung.
Verwirklichungschancen und Entscheidungskompetenz
69
Deweys objektiven Bedingungen. Die sozialen Aspekte des Lernprozesses sind bestenfalls in der Menge persönlicher Technologien angedeutet, die aber vor allem die inneren Bedingungen widerspiegeln, die ein Mensch mitbringt. Die Besonderheiten eines Menschen, die durch diese Menge an persönlichen Technologien bei Sen eingefangen werden sollen, erklärt Dewey teilweise, indem er auf den persönlichen Schatz vergangener Erfahrungen und deren Einfluss auf die inneren Bedingungen eingeht. Bezüglich der intertemporalen Zusammenhänge gibt es eine Übereinstimmung zwischen Nussbaum und Dewey: Beide gehen auf den zeitlichen Aspekt individueller Entwicklung ein. Dewey erklärt die Reaktion in einer Situation mittels des Prinzips der Kontinuität und stellt einen Zusammenhang zu früheren Erfahrungen und Beobachtungen her. Insofern schildert er in expliziterer Form als Nussbaum, wie sich Entscheidungskompetenz entwickelt. Entscheidungssituationen beschreibt Dewey mittels seines Konzepts einer Situation jedoch - ähnlich wie Sen - weitaus komplexer als Nussbaum dies tut. Lernen ist bei Dewey ein Prozess der Integration aufeinander folgender Erfahrungen und der Konstruktion einer entsprechenden Vorstellung von der Welt als einer Welt in Verbindung stehender Objekte. Lernen findet daher in einer Abfolge von Situationen statt, wobei die Situationen durch das Prinzip der Kontinuität miteinander verbunden sind. Zugleich lenkt das Prinzip der Interaktion die Aufmerksamkeit auf jene Aspekte, welche Situationen einzigartig machen und von anderen unterscheiden. Überträgt man diese Gedanken auf den CA, so bedeutet dies, Lernen als das Ergebnis des Erlebens aufeinander folgender Auswahlentscheidungen zu begreifen. Das Individuum wählt eine Lebensweise aus seiner Menge an Verwirklichungschancen aus. Diese Möglichkeiten stehen ihm aufgrund der in seiner Budgetmenge liegenden Güter und seiner individuellen Möglichkeiten zur Verwendung dieser Güter, die in der Menge persönlicher Technologien wiedergegeben sind, offen. Deweys Theorie ergänzt dieses Modell darum, wie Menschen durch Erfahrung Erkenntnisse erwerben und welche Rolle dabei das soziale Umfeld neben den materiellen Bedingungen spielt. Die Kompetenz dazu, Entscheidungen zu treffen - im Sinne von Absichten zu fassen -, entwickelt sich im Laufe der Zeit durch die Auswahl der (aktuellen) Lebensweise aus zeitlich miteinander verknüpften Mengen an Verwirklichungschancen.
6. Schluss Bisher stellt der CA noch keine Theorie bereit, wie Menschen lernen, Entscheidungen zu treffen, obwohl es zu den Kernthesen des CA gehört, dass jeder Mensch
70
Ortrud Leßmann
darüber entscheidet, wie er leben will. Dass dem CA eine Theorie des Entscheiden-Lernens fehlt, sieht dieser Aufsatz als einen Mangel an und führt Gründe auf, weshalb der CA eine solche Theorie braucht: (1) Der CA sollte die Annahme, dass Menschen (grundsätzlich) Entscheidungskompetenz besitzen, also in der Lage sind, Entscheidungen zu treffen, erklären und begründen, weil ihr Wohlergehen laut CA eben davon abhängt. (2) Entscheidungen nehmen einen zentralen Platz im CA ein, sowohl in Sens wie auch in Nussbaums Version. Dieser Funktion (functioning) gebührt daher eine genauere Betrachtung und Untersuchung ihrer Voraussetzungen und Wir kungen. (3) Zwischen Funktionen und Verwirklichungschancen bzw. Fähigkeiten esteht insofern ein zirkuläres Verhältnis, als dass die Funktion des Entscheidens eine Voraussetzung ist, um eine Lebensweise und damit insbesondere auch ein Niveau an Entscheidungsfähigkeit auszuwählen. Diese Zirkularität muss aufgelöst werden. (4) Nussbaum - und teilweise auch Sen - beschreibt die Entwicklung und Ausbildung von Fähigkeiten und Verwirklichungschancen, ohne jedoch ein formales Modell vorzulegen. Das formale Modell von Sen ist bestenfalls komparativstatisch. Nussbaum modelliert ihre Ideen zur Entwicklung von Fähigkeiten nicht formal. Insbesondere behandelt sie nicht die Frage, inwiefern sich mehrere Fähigkeiten gleichzeitig realisieren oder steigern lassen. Daher bleiben ihre Gedanken lückenhaft. (5) Es herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass es dem CA an einem Modell intertemporaler Zusammenhänge mangelt, aber keiner der wenigen Beiträge zu dem Thema stellt die zeitliche Verknüpfung über die Auswahlmen- gen, also die Mengen an Verwirklichungschancen in Sens Modell her.44 (6) Da der CA betont, dass menschliches Leben darin besteht, etwas zu sein und zu tun, also Funktionen zu erreichen, sollte er daran interessiert sein, wie Menschen lernen, etwas zu sein und zu tun - und es gut zu tun! - bzw. Funktionen auszuüben. Deweys Buch »Experience and Education« enthält einige Ideen darüber, wie Menschen lernen und Entscheidungskompetenz entwickeln. Erfahrung spielt in diesem Prozess laut Dewey eine entscheidende Rolle. Zwei Prinzipien beherrschen die
44 Diese Aussage muss ich eventuell einschränken, siehe Bartelheimer, Peter et al. (2009): Towards Analysing Individual Working Lives in a Resource/Capabilities Perspective.
Verwirklichungschancen und Entscheidungskompetenz
71
Erfahrung: (1) Das Prinzip der Kontinuität besagt, dass frühere Erfahrungen den Grund für spätere Erfahrungen eines Menschen legen. (2) Das Prinzip der Interaktion besagt, dass jede Erfahrung in einem spezifischen Kontext stattfindet und wegen der objektiven Bedingungen, die diesen Kontext ausmachen, so sind, wie sie sind. Insofern tragen zu jeder Erfahrung zwei Arten von Faktoren bei: innere Faktoren, die mit früheren Erfahrungen des Individuums zu tun haben, und äußere, objektive Faktoren in Form des materiellen und sozialen Umfelds. Da auch Sen und Nussbaum diese beiden Faktoren bei der Beschreibung der Entscheidungssituation unterscheiden, lassen sich beide Theorien auf den ersten Blick gut verbinden. Allerdings muss noch eingehend geprüft werden, inwieweit sich Deweys Ideen mit der formalen Darstellung von Auswahlmengen vereinbaren lassen. Der Aufsatz bringt Deweys Konzept einer Situation mit Sens Konzept der Menge an Verwirklichungschancen in Verbindung, das als Auswahlmenge gesehen werden kann. Folglich muss geprüft werden, ob sich Deweys Abfolge von Situationen auch als Abfolge von Auswahlmengen interpretieren lässt. Dabei geht es nicht nur um die Überprüfung der Vereinbarkeit von Dewey Konzepten mit den formalen Anforderungen der Literatur zu Auswahlmengen, sondern auch um die Vereinbarkeit mit bereits vorhandenen Ideen zur zeitlichen Verknüpfung von Auswahlmengen, wie sie beispielsweise unter dem Stichwort »Präferenz für Flexibilität« entwickelt worden sind.45
Danksagung Den Hinweis auf Deweys Büchlein »Experience and Education« und eine mögliche Nähe zum Capability Ansatz verdanke ich Matthew Braham und Manfred Holler. Für Ermutigung und Kommentare zur englischen Version möchte ich mich bei Geoff Hinchliffe, Caroline Hart, John Cameron und Elaine Unterhalter bedanken. Für ihre Kommentare zur Deutschen Version gilt mein Dank Thomas Uebel und Bernhard Babic.
45 Zur intertemporalen Verknüpfung von Auswahlmengen siehe Träger, Christian (2003): Wahlfreiheit und die Struktur intertemporaler Entscheidungen (Diplomarbeit). Vgl. auch Fußnote 22.
72
Ortrud Leßmann
Literatur Barbera, Salvador/Bossert, Walter/Pattanaik, Prasanta (2001): Ranking Sets of Objects. In: Barbera, Salvador/Hammond, Peter/Seidl, Christian (Hg.), Handbook of Utility Theory, Bd. 2, Extensions. Dordrecht: Kluwer Academic Publishers. Bartelheimer, Peter et al. (2009): Towards Analysing Individual Working Lives in a Resource/Capabilities Perspective. In: Bartelheimer, Peter/Büttner, René/Moncel, Nathalie (Hg.): Sen-sitising Life-Course Research? - Exploring Amartya Sen´s Capability concept in comparative research on individual working lives, actes de sommaire de CAPRIGHT; Net.Doc.50. Basu, Kaushik (1987): Achievement, Capabilities and the Concept of Well-Being. In: Social Choice and Welfare 4, 69-76. Cohen, Gerald A. (1993): Equality of What? On Welfare, Goods and Capabilities. In: Nussbaum, Martha/Sen, Amartya (Hg.), The Quality of Life. Cambridge: Clarendon Press. Crocker, David (1995): Functionings and Capability, Part II. In: Nussbaum, Martha/Glover, Jonathan (Hg.), Women, Culture and Development. Oxford: Clarendon Press. Dewey, John (1938/1997): Experience and Education. New York: Touchstone. Gasper, Des (1997): Sen´s Capability Approach and Nussbaum´s Capability Ethic. In: Journal of International Development 9, 281-301. Kaufman, Alexander (2006): Capabilities and Freedom. In: Journal of Political Philosophy, 14, 289-300. Leßmann, Ortrud (2007): Konzeption und Erfassung von Armut - Vergleich des Lebenslage-Ansatzes mit Sens ›Capability‹-Ansatz. Berlin: Duncker & Humblot. Leßmann, Ortrud (2009): Capability and Learning to Choose. In: Studies in Philosophy and Education 28, 449-460. Nussbaum, Martha C. (1988): Nature, Function, and Capability: Aristotle on Political Distribution. In: Oxford Studies in Ancient Philosophy (supplementary volume), 145-184. Nussbaum, Martha C. (2000): Women and Human Development - The Capabilities Approach. Cambridge: Cambridge University Press. Pattanaik, Prasanta/Xu, Yongchen (1990): On Ranking Opportunity Sets in Terms of Freedom of Choice. In: Recherches Economiques de Louvain 56, 383-390. Robeyns, Ingrid (2005): The Capability Approach: a Theoretical Survey. In: Journal of Human Development 6, 93-114. Sen, Amartya K. (1985): Commodities and Capabilities. Amsterdam: North-Holland. Sen, Amartya K. (1987): The standard of living. Cambridge: Cambridge University Press. Sen, Amartya K. (1992): Inequality Re-examined. Oxford: Oxford University Press. Sen, Amartya K. (1999): Development as Freedom. New York: Alfred A. Knopf Inc. Sen, Amartya K. (2009): The Idea of Justice. Cambridge, Mass.: Belknap Press. Sen, Amartya K. (1985): Well-being, Agency and Freedom: The Dewey Lectures, 1984. In: Journal of Philosophy 82, 169-221.
Verwirklichungschancen und Entscheidungskompetenz
73
Sen, Amartya K. (1988): Freedom of Choice: Concept and Content. In: European Economic Review 32, 269-294. Sugden, Robert (1998): The Metric of Opportunity. In: Economics and Philosophy 14, 307-337. Träger, Christian (2003): Wahlfreiheit und die Struktur intertemporaler Entscheidungen. Diplomarbeit, Universität Heidelberg. Unterhalter, Elaine (2001): The Capability Approach and Gendered Education: An Examination of South African Contradictions. Beitrag zur Konferenz zu »Justice and Poverty« (1. Capability Konferenz), Cambridge.
Ohne intellektuelle Redlichkeit kein Fortschritt. Kritische Anmerkungen zum Umgang mit dem Capability Approach aus erziehungswissenschaftlicher Sicht Bernhard Babic
1. Einleitung Auf die herausragende Stellung, die der von Amartya Sen begründete Capability Approach (CA) in verschiedenen Bereichen bereits seit längerem einnimmt, ist schon vielfach hingewiesen worden. In einem gewissen Widerspruch dazu steht der Umstand, dass dieser wirtschaftswissenschaftliche Ansatz - wie unter anderem Leßmann1 oder auch Otto und Ziegler2 bemerken - offenkundig erst seit relativ kurzer Zeit nennenswerte Aufmerksamkeit von Seiten der Erziehungswissenschaft erfährt. Es wäre sicherlich interessant, den Gründen hierfür nachzuspüren. Doch im Mittelpunkt dieser Betrachtung soll zunächst eine mutmaßliche Folge dieses Phänomens stehen und weniger seine möglichen Ursachen. Komplementär zur bislang selten gestellten Frage, wie durch erziehungswissenschaftliche Erkenntnisse der CA theoretisch vervollständigt werden könnte,3 soll hier dem ebenfalls nur sehr vereinzelt angesprochenem Aspekt nachgegangen werden, was sich die Erziehungswissenschaft möglicherweise vom CA erwarten darf. Hat er tatsächlich das Potenzial, zu einer neuen Orientierung in der Erziehungswissenschaft zu werden, wie Otto und Ziegler 4 es in Aussicht stellen? Um sich der Beantwortung dieser Frage anzunähern, wird im Folgenden kurz auf den Entstehungshintergrund des Ansatzes eingegangen und ein Blick darauf geworfen, wie sich der CA gegenwärtig in groben Zügen darstellt. Soweit das im begrenzten Rahmen eines solchen Beitrags möglich ist, wird anschließend erörtert, inwiefern
1 2 3 4
Vgl. Leßmann, Ortrud, Verwirklichungschancen und Entscheidungskompetenz (Beitrag in diesem Band). Vgl. Otto, Hans-Uwe/Ziegler, Holger (2006): Capabilities and Education, S. 269-287. Vgl. Leßmann, Verwirklichungschancen (Beitrag in diesem Band). Vgl. Otto, Hans-Uwe/Ziegler, Holger (2008): Der Capabilities-Ansatz als neue Orientierung in der Erziehungswissenschaft, S. 9-13.
C. Sedmak et al., Der Capability-Approach in sozialwissenschaftlichen Kontexten, DOI 10.1007/978-3-531-92749-7_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
76
Bernhard Babic
er im deutschsprachigen Raum bereits Eingang in erziehungswissenschaftliche Debatten gefunden hat und an welchen Stellen er in welchem Ausmaß anschlussfähig zu sein scheint. Abschließend werden einige Schlussfolgerungen gezogen, die sich meines Erachtens aus den hier dargestellten Zusammenhängen für die weitere erziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem CA ergeben.5
2. Zum Entstehungshintergrund des CA Nach Clark 6 hat der CA seine Ursprünge vor allem in Sens Kritik an einer Wohlfahrtsökonomie, die menschliches Wohlergehen (engl.: well-being) mit Wohlstand (engl.: opulence), im Sinne eines hohen Einkommens bzw. der Verfügungsgewalt über materielle Güter, oder mit utilitaristischen Größen (engl.: utility) wie dem Glücksempfinden und der Lustbefriedigung gleichsetzt. Beiden Denkansätzen wirft er - vereinfacht gesagt - vor, der tatsächlichen Komplexität ihres Gegenstandes bei weitem nicht gerecht zu werden. In eine ähnliche Richtung, wenn auch deutlich verhaltener und differenzierter, zielt letztlich auch Sens Kritik an der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls, den er im Übrigen nicht nur als den größten Moralphilosophen des 20. Jahrhunderts bezeichnet 7, sondern dessen Ansatz er zugleich auch zu einem wesentlichen Ausgangspunkt seiner eigenen Überlegungen macht.8 Diese münden in dem Vorschlag, sich zur Beurteilung des Wohlergehens und darauf abzielender (politischer) Maßnahmen in erster Linie an den individuellen Freiheiten (bzw. an deren Ausweitung oder Einschränkung) einer Person zu orientieren, die es ihr im Idealfall ermöglichen, ein Leben zu führen, das sie - ausgehend von ihren eigenen Wertvorstellungen - auch wirklich füh-
5
6 7 8
Viele wichtige Anregungen zu diesem Beitrag entstammen einem sowohl fachlich als auch menschlich ungemein bereichernden Gedankenaustausch, den ich hierzu mit Frau Professor Irmgard Bock führen durfte und für den ich mich an dieser Stelle ganz ausdrücklich bedanke. Darüber hinaus danke ich auch Frau Ortrud Leßmann für die erhellenden Diskussionen einzelner Aspekte des Capability Approach, die mir bei der Formulierung einer eigenen Position ebenfalls sehr geholfen haben. Vgl. Clark, David (2005): The Capability Approach: Its Development, Critiques and Recent Advances, S. 3. Vgl. Sen, Amartya (1999): A Decade of Human Development, S. 8. Für nähere Einzelheiten hinsichtlich Sens Argumentation siehe Graf, Gunter, Der Fähigkeitenansatz im Kontext von verschiedenen Informationsbasen sozialethischer Theorien (Beitrag in diesem Band).
Ohne intellektuelle Redlichkeit kein Fortschritt
77
ren möchte.9 Der Ausdifferenzierung dieser normativen Grundidee nach Alkire 10 folgend, beruht persönliches Wohlergehen dabei in erster Linie auf functionings, im Sinne von Handlungen und Zuständen, der eine Person grundsätzlich Wertschätzung entgegenbringt. Von besonderem Interesse sind dabei vor allem die tatsächlich verwirklichten functionings, als diejenigen Zustände und Handlungen, die eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt genießt bzw. ausübt. Individuelle Freiheit spiegelt sich vor diesem Hintergrund in den capabilities wider, womit letztlich die unterschiedlichen Kombinationen von Zuständen und Handlungen gemeint sind, die zu verwirklichen eine Person in der Lage ist. Die Verwirklichbarkeit hängt dabei sowohl von den persönlichen Fähigkeiten einer Person ab als auch von einer entsprechenden, objektiv hierfür gegebenen Verwirklichungsmöglichkeit, die von Seiten der Gesellschaft/des jeweiligen Umfelds eingeräumt werden muss.11 Sens Kritiker stellen nach Clark 12 vor allem die tatsächliche Anwendbarkeit des CA in Frage. Ihre Zweifel entzünden sich dabei nicht zuletzt daran, dass Sen bislang keine schlüssige Liste zentraler capabilities vorgelegt hat. Nussbaum 13 hat vor diesem Hintergrund versucht, den CA entsprechend zu ergänzen. Das brachte ihr jedoch umgehend den Vorwurf ein, dass es doch reichlich paternalistisch sei, wenn eine nordamerikanische Philosophin für sich in Anspruch nehme, kultur- und gesellschaftsübergreifend relevante capabilities festlegen zu können.14 Die Frage, wie capabilities im jeweiligen Zusammenhang identifiziert bzw. ausgewählt werden sollen, ist folglich bis heute umstritten. Nach Schokkaert 15 haben sich in diesem Zusammenhang zwischenzeitlich zwei Extrempositionen herausgebildet. Nussbaum steht dabei exemplarisch für jene, die für die Notwendigkeit einer vorab definierten Liste essentieller und weitgehend allgemeingültiger capabilities eintreten, während Sen als exponierter Vertreter der konträren Position betrachtet werden kann, welche für entsprechende Festlegungen im Rahmen demokratischer Prozesse bzw. öffentlich geführter Diskurse eintritt, in die auch möglichst die jeweils unmittelbar betroffenen Personengruppen
9 10 11 12 13
Sen, Amartya (2001): Development as Freedom, S. 18. Vgl. Alkire, Sabina (2005): Briefing Note. Capability and Functionings: Definition & Justification, S. 2. Vgl. Heinrichs, Jan-Hendrik (2008): Capabilities: Egalitaristische Vorgaben einer Maßeinheit, S. 54. Vgl. Clark, The Capability Approach, S. 5. Vgl. Nussbaum, Martha (2000): Women and Human Development: The Capabilities Approach; Nussbaum, Martha (2006): Frontiers of justice: disability, nationality, species membership. 14 Vgl. Clark, The Capability Approach, S. 7. 15 Vgl. Schokkaert, Erik (2008): The capabilities approach, S. 16f.
78
Bernhard Babic
direkt eingebunden werden sollten.16 Schokkaert selbst nimmt in diesem Zusammenhang als Empiriker eine eher ausgleichende Haltung ein, die teilweise am Sinn der Debatten um capabilities-Listen zweifeln lässt.17 Er geht davon aus, dass (...) the translation of (...) abstract capabilities in implementable terms will depend on the specific social, cultural and economic context, but it remains true that such essentially perfectionist approaches [gemeint ist hier Nussbaums Ansatz; Anm. d. Verfassers] leave little room for interindividual differences in opinions about what constitutes a good life. Consensus seems to be within reach when one remains at the level of abstract formulations, but soon crumbles down when one turns to more specific applications. A priori defined lists of capabilities are useful, because they provoke debate and discussion, but they do not seem to offer a solid foundation for scientific analysis.18
Der CA stellt sich vor diesem Hintergrund gegenwärtig weniger als eine in alle Einzelheiten sorgsam ausgearbeitete einheitliche Theorie dar, sondern, wie Robeyns 19 vor allem unter Bezugnahme auf die von Sen ausgearbeitete Variante ausführt, als »broad normative framework for the evaluation of inividual well-being and social arragements, the design of policies and proposals for social change in society«.
16 Der bereits mehrfach zitierte Clark tritt in diesem Zusammenhang übrigens für eine ›empirische Philosophie‹ ein, die danach trachten sollte, abstrakte Konzepte menschlichen Wohlergehens und der gesellschaftlichen Entwicklung mit den jeweils real vorzufindenden Wertvorstellungen und Erfahrungen zu konfrontieren (vgl. Clark, The Capability Approach, S. 8). Ungeachtet der Vorbehalte und Kritik gegenüber seinem eigenen entsprechenden Umsetzungsversuch (vgl. Clark, David A. (2002): Visions of Development. A Study of Human Values) stimmt Robeyns (vgl. Robeyns, Ingrid/Clark, David Alexander (2002): Visions of Development. A Study of Human Values) ihm hinsichtlich der grundsätzlichen Notwendigkeit einer stärkeren empirischen Orientierung im Rahmen des CA zu. 17 Schrödter und Ziegler schwingen sich in einer Fußnote sogar zu der letztlich etwas skurril anmutenden Annahme auf, dass Sen und Nussbaum sich an dieser Stelle ohnehin nur eine Scheindebatte liefern würden. Denn letztlich - so behauptet das Autorenduo - seien sich »beide darin einig, dass eine Liste niemals vollständig sein kann, keine allgemeingültigen Rangfolgen zwischen den Fähigkeiten festlegen darf, dass sie immer in Hinblick auf ein spezifisches wissenschaftliches, professionelles oder politisches Interesse konzipiert werden und vor allem, dass sie durch öffentliche Debatten konkretisiert werden müssen« (Schrödter, Mark/Ziegler, Holger (2006): Was wirkt in der Kinder- und Jugendhilfe? Internationaler Überblick und Entwurf eines Indikatorensystems von Verwirklichungschancen, S. 31). 18 Schokkaert, The capabilities approach, S. 16f. 19 Robeyns, Ingrid (2003): The Capability Approach: An Interdisciplinary Introduction, S. 5.
Ohne intellektuelle Redlichkeit kein Fortschritt
79
Von nicht zu unterschätzender Bedeutung dürfte es dabei sein, dass der CA auch Eingang in die seit gut zwanzig Jahren vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNPD) herausgegebenen Berichte über die menschliche Entwicklung (Human Development Reports) gefunden und damit maßgeblichen Einfluss auf die Ausgestaltung des Human Development Index genommen hat.20 Den aus seiner Sicht unerwartet großen Erfolg dieser Berichtsreihe erklärt sich Sen dabei nicht zuletzt mit der Offenheit des zugrunde gelegten und durch das Einbringen des CA von ihm wesentlich mitgeprägten Konzepts der Berichte 21, das allgemein als Human Development Approach bezeichnet wird. In Übereinstimmung damit bezeichnet auch Clark die von vielen als Schwäche charakterisierte Unvollständigkeit des CA gerade als seine Stärke. Nur so sei es ihm zufolge schließlich möglich gewesen, die Menschen wieder in den Mittelpunkt der Evaluation gesellschaftlicher Entwicklung zu rücken, statt sie lediglich als ein Mittel zur Verwirklichung eines hohen Bruttosozialprodukts oder anderer ökonomischer Maßzahlen zu begreifen, und dabei konsequenterweise auch anzuerkennen, dass unterschiedliche Völker, Kulturen und Gesellschaften auch unterschiedliche Wertvorstellungen und Erwartungen haben dürfen.22
3. Aspekte der bisherigen Rezeption des CA im deutschsprachigen Raum Wenn - wie im vorherigen Abschnitt gezeigt wurde - selbst in den Feldern, für die der CA konzipiert wurde und wo er sich nach Ansicht vieler Autoren/innen auch hervorragend bewährt hat, teilweise noch intensiv die Frage seiner tatsächlichen Anwendbarkeit diskutiert wird, sollte sich ein entsprechend kritisches Nachhaken von Seiten der Erziehungswissenschaft erst recht von selbst verstehen. Soweit sich das zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch überblicken lässt, werden entsprechende Rückfragen innerhalb der Disziplin augenblicklich kaum formuliert. Das hat sicherlich damit zu tun, dass der CA in unseren Breitengraden noch vergleichsweise neu ist. In Deutschland und in der Folge auch in Österreich wurde der CA, basierend auf den Vorar-
20 Vgl. UNDP (Hg.): Human Development Report 1990. Concept and Measurement of Human Development. 21 Vgl. Sen, A Decade of Human Development. 22 Vgl. Clark, The Capability Approach, S. 5.
80
Bernhard Babic
beiten von Arndt et al.23 und Volkert 24, beispielsweise erst im Zuge der nationalen Armuts- und Reichtumsberichterstattung in nennenswertem Umfang auch außerhalb der Wirtschaftswissenschaften zur Kenntnis genommen.25 Für die Sozialpädagogik dürften dann Schrödter und Ziegler 26 das Konzept erstmalig (fach-)öffentlichkeitswirksam in einem erziehungswissenschaftlichen Handlungsfeld aufgegriffen haben.27 Die Fakultät für Pädagogik der Universität Bielefeld, der beide Autoren zuzurechnen sind, hat sich in der Folgezeit zwar durch ihr Center for Education and Capability Research, der teilweise ebenfalls dort beheimateten Research School Education and Capabilities sowie verschiedene Publikationen zu einem zentralen Ort der erziehungswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem CA in Deutschland entwickelt und damit sicherlich auch einen gewissen Anteil daran, dass dieses Konzept 2009 Eingang in die nationale Kinder- und Jugendberichtserstattung der deutschen Bundesregierung 28 fand. Trotz dieser beeindruckenden Fortschritte und der hohen Relevanz sowie des großen Potenzials, das dem CA da wie dort bescheinigt wird, fehlt es derzeit 29 aber noch an überzeugenden Untersuchungen, deren Ziel es meines Erachtens beispielsweise sein müsste, zu klären, - inwiefern sich der CA tatsächlich mit erziehungswissenschaftlichen Vorstellungen in Einklang bringen lässt,
23 Vgl. Arndt, Christian/Dann, Sabine/Kleinmann, Rolf/Strotmann, Harald/Volkert, Jürgen (2006): Das Konzept der Verwirklichungschancen (A. Sen) - Empirische Operationalisierung im Rahmen der Armuts- und Reichtumsmessung - Machbarkeitsstudie. 24 Vgl. Volkert, Jürgen (Hg.) (2005): Armut und Reichtum an Verwirklichungschancen. Amartya Sens Capability-Konzept als Grundlage der Armuts- und Reichtumsberichterstattung. 25 Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.) (2005): Lebenslagen in Deutschland. Der 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung; Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.) (2008): Lebenslagen in Deutschland. Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung; Österreichische Gesellschaft für Politikberatung und Politikentwicklung (Hg.) (2008): 2. Armutsund Reichtumsbericht für Österreich. 26 Vgl. Schrödter/Ziegler, Was wirkt in der Kinder- und Jugendhilfe?, S. 29f. 27 Die Gelegenheit dazu bot sich ihnen im Rahmen einer Expertise für das Bundesmodellprogramm »Wirkungsorientierte Jugendhilfe« zur Legitimierung einer Indikatorenliste, die ihrer Meinung nach künftig Evaluationen in der Kinder- und Jugendhilfe zugrunde gelegt werden sollte. 28 Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) (2009): 13. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinderund Jugendhilfe in Deutschland, S. 73f. 29 Stand: Dezember 2009.
Ohne intellektuelle Redlichkeit kein Fortschritt
81
- wie er zu bereits bestehenden Wissensbeständen und Konzepte in Beziehung steht, - ob er vor diesem Hintergrund überhaupt für eine Anwendung in den verschiedenen Bereichen der Erziehungswissenschaft geeignet ist und - welcher Mehrwert davon gegebenenfalls zu erwarten ist. Das im Frühjahr 2009 von SOS-Kinderdorf International, dem deutschen SOSKinderdorf e.V. und dem Internationalen Forschungszentrum Salzburg (IFZ) gestartete Projekt »Approaching Capabilities with Children in Care« 30 stellt hier in gewisser Weise eine Ausnahme dar. Es wird für Teilbereiche der ambulanten und stationären Kinder- und Jugendhilfe auch sicherlich interessante Erkenntnisse generieren können. Da diese jedoch im Rahmen von andernorts 31 durchgeführten Feldstudien erarbeitet werden, bleibt abzuwarten, inwiefern sie tatsächlich geeignet und in der Lage sein werden, die deutschsprachigen Fachdebatten zu bereichern. Zudem sind die zuvor formulierten Fragen auch viel zu komplex, um durch ein einzelnes Projekt oder einen einzelnen Artikel hinreichend beantwortet werden zu können. Um in diesem Zusammenhang nennenswerte Fortschritte erzielen zu können, wird es daher deutlich umfangreicherer Bemühungen bedürfen. Deren Notwendigkeit soll exemplarisch an zwei aus erziehungswissenschaftlicher Sicht problematischen Aspekten des CA verdeutlicht werden. Auf die Frage, wie der CA auf Kinder angewandt werden kann, angesichts der Tatsache, dass Kinder nicht reif genug seien, um eigenständig Entscheidungen zu treffen, antwortet Sen nach Saito mit folgendem Beispiel: If the child does not want to be inoculated, and you nevertheless think it is a good idea for him/her to be inoculated, then the argument may be connected with the freedom that this person will have in the future by having the measles shot now. The child when it grows up must have more freedom. So when you are considering a child, you have to consider not only the child's freedom now, but also the child's freedom in the future.32
30 Vgl. Babic, Bernhard/Germes Castro, Oscar/Graf, Gunter (2009): Approaching Capabilities with Children in Care; Graf, Gunter/Germes Castro, Oscar/Babic, Bernhard (2010; in Druck): Approaching Capabilities with Children in Care - An international project to identify values of children and young people in care. 31 In Namibia und Nicaragua. 32 Saito, Madoka (2003): Amartya Sen's Capability Approach to Education: A Critical Exploration, S. 25.
82
Bernhard Babic
Saito folgert daraus, dass aus dem Blickwinkel des CA im Umgang mit Kindern das Augenmerk stärker auf deren künftigen statt ihren gegenwärtigen Freiheiten ruhen sollte.33 Das ist jedoch eine Position, die (nicht nur) aus erziehungswissenschaftlicher Sicht fragwürdig ist. Denn auch wenn eine entsprechende Interpretation sicherlich dem zuwiderlaufen dürfte, was Saito damit aussagen wollte, kann diese Schlussfolgerung als Rechtfertigung für den Einsatz von Erziehungsmitteln und -methoden aufgefasst werden, die nach unserem heutigen Verständnis inakzeptabel sind, weil sie beispielsweise das Recht eines Kindes auf geistige und körperliche Unversehrtheit missachten. Sie könnte also zu dem Schluss verleiten, dass der mutmaßlich gute Zweck auch ein schlechtes Mittel heilige. Damit würde tendenziell auch einem intentionalen Erziehungsbegriff Vorschub geleistet, der davon ausgeht, »dass ein ›fertiger‹ Erwachsener ein ›noch nicht fertiges‹ Kind auf seine Höhe ›hinaufzieht‹ «34. Ein solches Verständnis vernachlässigt jedoch zum einen, »dass Kindsein etwas qualitativ anderes ist als nur ›weniger erwachsen sein‹ «35 und zum anderen, (…) dass es auch andere pädagogische Einflüsse als die intentionalen Erziehungsakte gibt, dass pädagogisches Tun ein wechselseitiges Geschehen ist, bei dem der Educandus immer aktiv ist, und vor allem, dass auch der Erwachsene vor ständig neuen Aufgaben der Lebensführung und des Werdens steht, zu deren Erfüllung er der Hilfe anderer bedarf.36
Kindheit stellt daher heute aus erziehungswissenschaftlicher Sicht eine eigenständige, dem Erwachsensein wenigstens gleichwertige Lebensphase dar. Einer grundsätzlichen Priorisierung künftiger Freiheiten gegenüber den gegenwärtigen muss vor diesem Hintergrund eine klare Absage erteilt werden. Ein verantwortungsvoller Umgang mit Kindern erfordert es vielmehr, gegenwärtige und künftige Freiheiten möglichst gleichermaßen im Blick zu behalten und im Zweifelsfall äußerst sorgsam gegeneinander abzuwägen. Vielleicht sogar mehr als Sens zuvor zitierte Antwort weist die ihr vorangegangene Frage darüber hinaus auf einen weiteren problematischen Aspekt hin. Nicht nur hier, sondern auch andernorts scheint in der Literatur zum CA immer wieder ein relativ undifferenziertes Verständnis von Kindern bzw. von Kindheit
33 34 35 36
Saito, Sen's Capability Approach to Education, S. 26. Bock, Irmgard (2001): Pädagogische Anthropologie, S. 116. Bock, Pädagogische Anthropologie, S. 116. Bock, Pädagogische Anthropologie, S. 116.
Ohne intellektuelle Redlichkeit kein Fortschritt
83
auf.37 Es scheint, dass Sen - entsprechend dem zuvor erwähnten intentionalen Erziehungsbegriff - Kindern grundsätzlich nicht zugesteht, Entscheidungen treffen zu können.38 Dass Kinder nicht einfach irgendwann Erwachsene sind, sondern bis zum Erreichen dieses (zudem schwer eingrenzbaren) Stadiums Entwicklungs- und Reifeprozesse durchlaufen und dabei auch zunehmend mündiger, d.h. entscheidungsfähiger werden, findet keine explizite Berücksichtigung. Ähnliches lässt sich nach Leßmann 39 auch über Sens und Nussbaums Haltung gegenüber dem Erlernen bzw. der Entwicklung von capabilities festhalten. Sens Vorstellungen hierzu seien »bestenfalls komparativ-statisch«, d.h. auch capabilities tauchen dort im Wesentlichen nur als etwas auf, das entweder gegeben ist oder nicht. Nussbaums Vorstellungen gehen diesbezüglich zwar über die Sens hinaus, werden aber nicht hinreichend präzisiert. Dem CA fehlt mit anderen Worten ganz grundsätzlich eine angemessene Berücksichtigung von zeitlich bedingten Wechselwirkungen und Veränderungen. Das mag für ein Rahmenkonzept, das handlungsfeld- und kulturübergreifend nur grobe Leitlinien zur Orientierung vorgeben möchte, vertretbar sein. Aus Perspektive einzelner Handlungsfelder und Kulturräume, die sich dieses Ansatzes bedienen möchten, ergibt sich daraus jedoch die dringende Notwendigkeit, diese offenen Fragen für sich in angemessener Form zu beantworten.
4. Bildungsbegriff und Erziehungsziele als Beispiele für offene Fragen in der Erziehungswissenschaft Noch viel weniger als sich angesichts der unterschiedlichen Varianten des Ansatzes einheitlich von dem CA sprechen lässt, kann bei genauerer Betrachtung von einer einheitlichen Erziehungswissenschaft gesprochen werden. Auch sie zerfällt in eine Vielzahl von ›Glaubensrichtungen‹ und Handlungsfeldern, was durch die Vielzahl der sogenannten Bindestrich-Pädagogiken besonders augenfällig wird. In seiner an Studienanfänger/-innen gerichteten Einführung in das Fach beschreibt Lenzen 40 den vorherrschenden Theorienpluralismus geradezu als ein grundlegendes Charakteristikum der Erziehungswissenschaft seit
37 38 39 40
Vgl. Graf et al., An international project. Vgl. Sen, Amartya (2006): Children and Human Rights, S. 9. Vgl. Leßmann, Verwirklichungschancen (Beitrag in diesem Band). Vgl. Lenzen, Dieter (2000): Erziehungswissenschaft - Pädagogik. Geschichte - Konzepte - Fachrichtungen, S. 27.
84
Bernhard Babic
1975. Die daraus resultierende Uneinigkeit in einer Vielzahl von Fragen bezieht sich dabei nicht nur auf eher marginale Aspekte, sondern auch auf so zentrale Begriffe des Fachs, wie den der Bildung.41 Andresen, Otto und Ziegler 42 sehen hier dennoch einen möglichen Anknüpfungspunkt zum CA und schlagen vor, Bildung im Sinne eines critical concept mit emanzipatorischem Gehalt zu verstehen. Sie versuchen sich damit ausdrücklich gegenüber einem aus ihrer Sicht elitären und sozialer Ungleichheit Vorschub leistenden Bildungsbegriff abzugrenzen, wie ihn aus ihrer Sicht wohl Humboldt formuliert hat. Nun ließe sich sicherlich darüber streiten, inwiefern dem ›klassischen‹ Bildungsbegriff durch diese Abgrenzung nicht auch ein wenig unrecht getan wird. Davon abgesehen wird durch sie aber ebenfalls deutlich, dass der vorgeschlagene Bildungsbegriff nur eine von v ielen denkbaren Alternativen ist. Zudem gestehen auch Andresen et al. zu, dass der CA keine stimmige pädagogische Theorie, geschweige denn ein unmittelbar anwendbares Erziehungsprogramm zur Verfügung stellt.43 Er wird, mit anderen Worten, also gar nicht konkret genug, um nicht auch mit anderen Vorstellungen von Bildung vereinbar zu sein, wie der von Leßmann 44 vorgeschlagene Rückgriff auf Deweys Bildungstheorie zur Vervollständigung des CA beispielhaft verdeutlicht. Es kann daher in Frage gestellt werden, ob sich aus der Literatur zum CA für die Erziehungswissenschaft wirklich - wie Andresen et al. annehmen - brauchbare Anregungen hinsichtlich der Identifizierung grundlegender capabilities ergeben. Denn zum einen sind die dort gemachten Vorschläge noch nicht einmal innerhalb der CA-Gemeinde konsensfähig.45 Und zum anderen handelt es sich dabei aus Sicht der Erziehungswissenschaft nicht um eine neue Frage, die erst der CA aufgeworfen hätte. Im Rahmen einer erziehungswissenschaftlichen Konkretisierung des CA wäre sie meines Erachtens vielmehr mit dem altbekannten Problem gleichzusetzen, wie und in welchem Ausmaß Erziehungs-/Bildungsziele verbindlich festge-
41 Vgl. Langewand, Alfred (2000): Bildung, S. 69-98; aber letztlich auch Reinhartz, Petra, Rezension von: Otto, Hans-Uwe/Oelkers, Jürgen (Hrsg.) (2006): Zeitgemäße Bildung. Herausforderung für Erziehungswissenschaft und Bildungspolitik, o.S. 42 Vgl. Andresen, Sabine/Otto, Hans-Uwe/Ziegler, Holger (2008): Bildung as Human Development: An educational view on the Capabilities Approach, S. 168. 43 Vgl. Andresen et al., Bildung, S. 189. 44 Vgl. Leßmann, Verwirklichungschancen (Beitrag in diesem Band). 45 Vgl. Abschnitt 2 zum Entstehungshintergrund des CA.
Ohne intellektuelle Redlichkeit kein Fortschritt
85
legt und konkretisiert werden können. An Versuchen, solche Ziele allgemein verbindlich zu definieren, besteht in der Erziehungswissenschaft kein Mangel, weshalb sich auch die Bereitschaft, in diesem Zusammenhang auf Nussbaums (fachfremde) Liste zurückzugreifen, in gewissen Grenzen halten dürfte. Wolfgang Klafki hat beispielsweise im Rahmen der von ihm begründeten kritisch-konstruktiven Didaktik/Pädagogik weitreichende und innerhalb der Disziplin vielbeachtete Vorschläge hierzu gemacht. 46 Sie erheben den Anspruch, auch außerhalb der Schulpädagogik - mit der Klafkis Name in erster Linie verknüpft wird - anwendbar zu sein und würden insofern vielleicht auch in den Debatten um eine erziehungswissenschaftliche Konkretisierung des CA mehr Aufmerksamkeit verdienen. Es ließen sich in diesem Zusammenhang aber sicherlich auch noch andere Namen und Ansätze nennen. Daher soll hier von einer detaillierteren Darstellung der kritisch-konstruktiven Didaktik/Pädagogik Abstand genommen und stattdessen ohne weitere Umschweife in den Blick genommen werden, welche Schlussfolgerungen sich meines Erachtens aus dem bereits Gesagten ergeben.
5. Fazit Die wachsende Popularität des CA innerhalb der Erziehungswissenschaft kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Ansatz letztlich nicht geeignet ist, die bislang unbewältigten Probleme der Disziplin und ihrer Handlungsfelder zu lösen. Meines Erachtens erhebt er diesen Anspruch in seiner ursprünglichen Variante aber auch gar nicht. Vielmehr scheint es sich dabei um eine an ihn herangetragene Unterstellung bzw. Erwartung zu handeln, der sich zumindest Sen bislang immer konsequent verweigert hat. Sowohl der normative Anspruch des CA, als auch alle anderen Fragen, die seine Anwendbarkeit betreffen, bedürfen folglich der sorgfältigen handlungsfeld- bzw. fachspezifischen Konkretisierung, die durch den Rückgriff auf die wenigen theoretischen Vorannahmen des CA in der Regel nicht in hinreichendem Maße geleistet werden kann. Um den Titel des bereits in der Einleitung zitierten Beitrags von
46 Vgl. Klafki, Wolfgang (2007): Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Beiträge zur kritisch-konstruktiven Didaktik; Klafki, Wolfgang (1994): Schlüsselprobleme als Kern internationaler Erziehung; Klafki, Wolfgang (1998): Aufgaben und Möglichkeiten der Erziehungswissenschaft bei der Bestimmung von Zielen der Erziehung. 47 Otto/Ziegler, Der Capabilities-Ansatz als neue Orientierung, S. 9-13.
86
Bernhard Babic
Otto und Ziegler nochmals aufzugreifen 47, könnte man sagen, er ist inhaltlich viel zu vage und folglich gar nicht geeignet, selbst zu einer neuen Orientierung in der Erziehungswissenschaft zu werden. Er kann die Erziehungswissenschaft jedoch möglicherweise genau deswegen zu einer neuen und meines Erachtens auch dringend notwendigen Debatte über ihre Orientierung anregen. Die sich aus entsprechendem Nachdenken ergebende Orientierung wird sich jedoch nicht zwingend aus dem CA ableiten lassen, sondern muss - wie bereits angedeutet - in erster Linie von der Disziplin selbst erarbeitet und verantwortet werden. Aus meiner Sicht stellt die Empirie einen Weg dar, auf dem dies erreicht werden könnte. Das Ergebnis entsprechender erfahrungswissenschaftlicher Untersuchungen wird aber ebenfalls immer nur eine sowohl zeitlich, als auch soziokulturell limitierte Interpretation jener groben Leitlinien sein können, die der CA enthält. Solange der grundlegende normative Anspruch des CA, nämlich die Freiheit des Einzelnen, genau das Leben zu führen, das er/sie auch wirklich leben möchte, zum Maßstab und Bezugspunkt einer Gesellschaft zu machen, auf hinreichende Zustimmung stößt, lässt sich daraus für die Erziehungswissenschaft dessen ungeachtet die Aufgabe ableiten, gezielt den im jeweiligen soziokulturellen Kontext vorherrschenden Wertvorstellungen sowie den Möglichkeiten ihrer Verwirklichung nachzugehen und ihnen in Bildung und Erziehung einen entsprechenden Stellenwert einzuräumen. Der große Erfolg und die damit verbundene Popularität, die der CA wohl nicht zuletzt wegen seiner unspezifischen Ausgestaltung in verschiedenen Bereichen errungen hat, sind in diesem Zusammenhang Chance und Risiko zugleich. Beides trägt zum einen ganz offenkundig dazu bei, dass sich unter seinem Namen auch in Bereichen Diskussionen um die eigene normative Ausrichtung anregen lassen, die lange - wie einige Teilbereiche der Ökonomie - resistent für Selbstzweifel aller Art wirkten oder - wie vielleicht die Erziehungswissenschaft - der Selbstvergewisserungen überdrüssig geworden sind. Das aus meiner Sicht damit verbundene Risiko ergibt sich daraus, dass sich an den entsprechenden Diskursen - wie wir spätestens seit Foucault wissen - eben nicht alle jeweils Betroffenen gleichberechtigt beteiligen können. Für einzelne hinreichend potente Interessengruppen dürfte die Versuchung daher groß sein, ihre partikulare Sichtweise in ihrem Fachbereich als die alleingültige Lesart des CA zu etablieren, was seinen eigentlichen Intentionen jedoch völlig zuwider liefe. Ob sich auf der Grundlage des CAs also tatsächlich Fortschritte innerhalb der Erziehungswissenschaft und ihrer Handlungsfelder erzielen lassen, hängt in erster Linie von der (intellektuellen) Redlichkeit derer ab, die sich an den in diesem Zusammen-
Ohne intellektuelle Redlichkeit kein Fortschritt
87
hang zu führenden Diskursen beteiligen. Oder um es mit Poppers Worten zu sagen: Ich bin der Überzeugung, dass wir - die Intellektuellen - fast an allem Elend Schuld sind, weil wir zu wenig für die intellektuelle Redlichkeit kämpfen. (Am Ende wird deshalb wohl der sturste Anti-Intellektualismus den Sieg davon tragen).48
Literatur Alkire, Sabina (2005): Briefing Note. Capability and Functionings: Definition & Justification. Boston: Human Development and Capability Association (Online-Dokument, abgerufen am 29.01.2009, unter http://www.capabilityapproach.com). Andresen, Sabine/Otto, Hans-Uwe/Ziegler, Holger (2008): Bildung as Human Development: An educational view on the Capabilities Approach. In: Otto, Hans-Uwe/Ziegler, Holger (Hg.), Capabilities - Handlungsbefähigung und Verwirklichungschancen in der Erziehungswissenschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 165-197. Arndt, Christian/Dann, Sabine/Kleinmann, Rolf/Strotmann, Harald/Volkert, Jürgen (2006): Das Konzept der Verwirklichungschancen (A. Sen) - Empirische Operationalisierung im Rahmen der Armuts- und Reichtumsmessung - Machbarkeitsstudie. Tübingen: Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung e.V. Babic, Bernhard/Germes Castro, Oscar/Graf, Gunter (2009): Approaching Capabilities with Children in Care. Innsbruck: SOS-Kinderdorf International; Online-Dokument (abrufbar unter: http://www.ifzsalzburg.at/ uploads/CA-Projektkonzept-20090811-11.pdf). Bock, Irmgard (2001): Pädagogische Anthropologie. In: Roth, Leo (Hg.), Pädagogik. Handbuch für Studium und Praxis. München: Oldenbourg, 112-122. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.) (2005): Lebenslagen in Deutschland. Der 2. Armutsund Reichtumsbericht der Bundesregierung, Berlin: BMAS. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.) (2008): Lebenslagen in Deutschland. Der 3. Armutsund Reichtumsbericht der Bundesregierung. Köln: Bundesanzeiger Verlag. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) (2009): 13. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland, Berlin: BMFSFJ.
48 Popper, Karl Raimund (1971): Wider die großen Worte. Ein Plädoyer für intellektuelle Redlichkeit, in: Die Zeit, 24.09.1971.
88
Bernhard Babic
Clark, David A. (2002): Visions of Development. A Study of Human Values. Cheltenham: Edward Elgar. Clark, David A. (2005): The Capability Approach: Its Development, Critiques and Recent Advances. Oxford: GPRG; Online-Dokument (URL: http://www.gprg.org). Graf, Gunter/Germes Castro, Oscar/Babic, Bernhard (2010): Approaching Capabilities with Children in Care - An international project to identify values of children and young people in care. In: Leßmann, Ortrud/Otto, Hans-Uwe/Ziegler, Holger (Hg.), Closing the Capabilities Gap. Leverkusen: Budrich (im Druck). Heinrichs, Jan-Hendrik (2008): Capabilities: Egalitaristische Vorgaben einer Maßeinheit. In: Otto, Hans-Uwe/Ziegler, Holger (Hg.), Capabilities - Handlungsbefähigung und Verwirklichungschancen in der Erziehungswissenschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 54-68. Klafki, Wolfgang (1994): Schlüsselprobleme als Kern internationaler Erziehung. In: Seibert, Norbert/ Serve, Helmut (Hg.), Bildung und Erziehung an der Schwelle zum dritten Jahrtausend. Multidisziplinäre Aspekte, Analysen, Positionen, Perspektiven. München: PimS-Verlag, 135-161. Klafki, Wolfgang (1998): Aufgaben und Möglichkeiten der Erziehungswissenschaft bei der Bestimmung von Zielen der Erziehung. In: Klafki, Wolfgang (Hg.), Erziehung - Humanität - Demokratie. Erziehungswissenschaft und Schule an der Wende zum 21. Jahrhundert. Neun Vorträge. Marburg: Universitätsbibliothek; Online-Dokument (abrufbar unter: http://archiv.ub.uni-marburg.de/sonst/ 1998/0003). Klafki, Wolfgang (2007): Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Beiträge zur kritisch-konstruktiven Didaktik. Weinheim: Beltz. Langewand, Alfred (2000), Bildung. In: Lenzen, Dieter (Hg.), Erziehungswissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek: Rowohlt, 69-98. Lenzen, Dieter (2000): Erziehungswissenschaft - Pädagogik. Geschichte - Konzepte - Fachrichtungen. In: Lenzen, Dieter (Hg.), Erziehungswissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek: Rowohlt, 11-41. Nussbaum, Martha (2000): Women and Human Development: The Capabilities Approach. Cambridge: Cambridge University Press. Nussbaum, Martha (2006): Frontiers of justice: disability, nationality, species membership. Cambridge, Mass.: Harvard University Press. Österreichische Gesellschaft für Politikberatung und Politikentwicklung (Hg.) (2008): 2. Armuts- und Reichtumsbericht für Österreich, Wien: ÖGPP. Otto, Hans-Uwe/Ziegler, Holger (2006): Capabilities and Education. In: Social Work & Society, 4/2, 269-287. Otto, Hans-Uwe/Ziegler, Holger (2008): Der Capabilities-Ansatz als neue Orientierung in der Erziehungswissenschaft. In: Otto, Hans-Uwe/Ziegler, Holger (Hg.), Capabilities - Handlungsbefähigung und Verwirklichungschancen in der Erziehungswissenschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 9-13. Popper, Karl Raimund, Wider die großen Worte. Ein Plädoyer für intellektuelle Redlichkeit. In: Die Zeit, 24.09.1971.
Ohne intellektuelle Redlichkeit kein Fortschritt
89
Reinhartz, Petra (2007): Rezension von: Otto, Hans-Uwe/Oelkers, Jürgen (Hrsg.) (2006): Zeitgemäße Bildung. Herausforderung für Erziehungswissenschaft und Bildungspolitik. München: Ernst Reinhardt. In: Erziehungswissenschaftliche Revue 6/3, Online-Dokument (abrufbar unter: http://www. klinkhardt.de/ewr/49701846.html). Robeyns, Ingrid/Clark, David Alexander (2002): Visions of Development. A Study of Human Values. Cheltenham: Edward Elgar. In: Ethique economique/Ethics and economics, 1 (2003) OnlineDokument (abrufbar unter: http://ethiqueeconomique.neuf.fr/RecensionClark.pdf). Robeyns, Ingrid (2003): The Capability Approach: An Interdisciplinary Introduction, Boston: Human Development and Capability Association; Online-Dokument (abrufbar unter: http://www.capabilityapproach.com). Saito, Madoka (2003): Amartya Sen's Capability Approach to Education: A Critical Exploration. In: Journal of Philosophy of Education, 37/1, 17-33. Schokkaert, Erik (2008): The capabilities approach. New York: SSRN; Online-Dokument (abrufbar unter: http://ssrn.com/abstract=1084821). Schrödter, Mark/Ziegler, Holger (2006): Was wirkt in der Kinder- und Jugendhilfe? Internationaler Überblick und Entwurf eines Indikatorensystems von Verwirklichungschancen. Münster: Institut für Soziale Arbeit. Sen, Amartya (1999): A Decade of Human Development. New York: Human Development Report Office. Online-Dokument (abrufbar unter http://hdr.undp.org/en/media/A%20Decade%20of%20 Human%20Development.pdf). Sen Amartya (2001): Development as Freedom. Oxford: Oxford University Press. Sen, Amartya (2006): Children and Human Rights. New Delhi: Institute for Human Development. UNDP (Hg.) (1990): Human Development Report 1990. Concept and Measurement of Human Development. New York: Oxford University Press. Volkert, Jürgen (Hg.) (2005): Armut und Reichtum an Verwirklichungschancen. Amartya Sens Capability-Konzept als Grundlage der Armuts- und Reichtumsberichterstattung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Values and Knowledge Education (VaKE) aus Sicht des Fähigkeiten-Ansatzes Jean-Luc Patry
Das didaktische Prinzip Values and Knowledge Education (VaKE)1 wurde ausgehend von den Theorien von Kohlberg 2 und von Piaget 3 entwickelt 4, also völlig unabhängig vom Fähigkeiten-Ansatz von Amartya Sen 5 und Martha Nussbaum 6. Die beiden Konzepte weisen aber große Ähnlichkeiten auf. Im vorliegenden Aufsatz geht es darum, sie miteinander zu vergleichen und den Fähigkeiten-Ansatz als Heuristik für die Weiterentwicklung von VaKE zu verwenden. Zunächst wird VaKE dargestellt. Der Fähigkeiten-Ansatz braucht demgegenüber im vorliegenden Zusammenhang nicht ausführlich präsentiert zu werden, vielmehr geht es im zweiten Kapitel darum, jene Elemente herauszuarbeiten, welche für den Vergleich von besonderer Bedeutung sind. Im dritten Kapitel wird sodann der Vergleich durchgeführt, und im vierten Kapitel erfolgt die Diskussion, die sich vor allem darauf bezieht, ob sich auf Grund der Analyse Verbesserungsmöglichkeiten für VaKE ergeben.
1 2
3 4 5
6
Patry, Jean-Luc (2000): Werterziehung und Wissensbildung - lässt sich das vereinigen?, S. 423-440. Vgl. z.B. Kohlberg, Lawrence (1981): Essays on moral development. Vol. 1: The philosophy of moral development. Moral stages and the idea of justice; Kohlberg, Lawrence (1984): Essays on moral development, Vol. 2: The psychology of moral development. Vgl. z.B. Piaget, Jean (1976): Die Äquilibration der kognitiven Strukturen. Vgl. Patry, Jean-Luc/Weyringer, Sieglinde/Weinberger, Alfred (2007): Combining values and knowledge education, S. 160-179. Vgl. z.B. Sen, Amartya (2002): Capability and well-being, S. 30-53; Sen, Amartya K. (32005): Development as freedom. Deutsch Ökonomie für den Menschen: Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft. Vgl. z.B. Nussbaum, Martha (2006): Frontiers of justice. Disability, nationality, species membership; Nussbaum, Martha (2001): Women and equality. The capabilities approach, S. 45-65.
C. Sedmak et al., Der Capability-Approach in sozialwissenschaftlichen Kontexten, DOI 10.1007/978-3-531-92749-7_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
92
Jean-Luc Patry
1. Grundlagen von VaKE VaKE (Values and Knowledge Education) ist eine theoriebasierte didaktische Methode, mit der sowohl Moral- und Werterziehung im Sinne von Kohlberg 7 als auch Wissenserwerb im Sinne des Auftrags der Schule realisiert werden; im Gegensatz zum traditionellen Unterricht handelt es sich allerdings um Wissenserwerb auf konstruktivistischer Grundlage 8 und mit offenem Unterricht, wo die Lehrerin oder der Lehrer »orchestrator«9 und nicht »information transmitter«9 ist und die Schülerinnen und Schüler weitgehend selbst für ihr Lernen verantwortlich sind. Die theoretischen Grundlagen (und damit sozusagen der Stammbaum von VaKE) sind in Abbildung 1 dargestellt. Ausgangspunkt sind konstruktivistische Konzepte (a in Abb. 1), die in der Philosophie schon lange als bedeutsam angesehen werden; man kann hier beispielsweise auf Immanuel Kant 10 und dessen Antwort auf die Frage »Was kann ich wissen?« verweisen. Kant war der Überzeugung, dass sich die menschliche Erfahrung nicht nach den Gegenständen richtet, sondern dass es umgekehrt die Anschauungen und die Begriffe des Menschen sind, die den Gegenständen der Erfahrung ihre Bedeutung geben. Diese philosophische Konzeption hat eine Entsprechung in der Wahrnehmung.11 Das bedeutet letztlich, dass Menschen Wissen nicht entdecken (und schon gar nicht im Sinne des Nürnberger Trichters vermittelt bekommen), sondern es erfinden, ausgehend von den schon existierenden Begriffsstrukturen (man kann auch von subjektiven Theorien im Sinne von Groeben et al.12 sprechen).
7 8 9
Vgl. Kohlberg, moral development. Vgl. z.B. Glasersfeld, Ernst von (1995): Radical constructivism: A way of knowing and learning. Salomon, Gavriel (1992): The changing role of the teacher: From information transmitter to orchestrator of learning, S. 35-49. 10 Kant, Immanuel (1989): Kritik der reinen Vernunft. Kritik der praktischen Vernunft. Kritik der Urteilskraft. 11 Vgl. z.B. Bruner, Jerome S. (1957): On perceptual readiness, S. 123-152. 12 Vgl. Groeben, Norbert/Wahl, Diethelm/Schlee, Jörg/Scheele, Brigitte (1988): Forschungsprogramm subjektive Theorien. Eine Einführung in die Psychologie des reflexiven Subjekts.
Values and Knowledge Education (VaKE)
93
a) Konstruktivismus Kant etc.
b) Kognitive Entwicklung Piaget
d) Moralische Entwicklung Kohlberg
c) Konstruktivistischer Unterricht Glasersfeld
e) Moralerziehung Blatt & Kohlberg
f) VaKE
Abbildung 1: »Stammbaum« von VaKE
1.1 Kognitives Lernen, Entwicklung und Unterricht Lernen und Entwicklung im kognitiven Bereich (b in Abb. 1) folgen nach Piaget dem Prinzip von Assimilation, Desäquilibrium und Akkommodation. Die Wahrnehmung einer Situation, eines Ereignisses, eines Textes etc. (Beispiel: ein Film über Delfine) führt bei hinreichender Motivation zu einer Prüfung, ob die dadurch erhaltene Information in die angesprochene subjektive Theorie passt, also nicht mit dieser im Widerspruch steht (im Beispiel: Kann der Delfin als Fisch interpretiert werden?). Ist dies der Fall, erfolgt die so genannte Assimilation: Die Information wird in die subjektive Theorie integriert (der Delfin wird als Beispiel für die Kategorie »Fische« aufgenommen). Wird die Information akzeptiert, passt aber nicht in die Theorie (viele Merkmale des Delfins sind anders als bei den Fischen), gibt es einen Widerspruch, eine Inkonsistenz oder, wie Piaget sagt, ein Ungleichgewicht (Desäquilibrium). Menschen versuchen in der Regel, solche Ungleichgewichte auszugleichen, d.h. ins Gleichgewicht zurückzufinden. Dies erfolgt durch die so genannte Akkommodation: Die subjektive Theorie wird verändert, angepasst (im genannten Beispiel wird die subjektive Theorie über Säugetiere beispielsweise dahingehend erweitert, dass es nicht nur Land-Säuger gibt, wie bislang angenommen, sondern auch Meeressäuger, mit den Delfinen als pro-
94
Jean-Luc Patry
totypischem Beispiel); dies ist die oben genannte Erfindung i.S. von Foerster. Ist diese Erfindung brauchbar, wird sie in das System der subjektiven Theorien integriert: Das entsprechende Wissen wird gelernt bzw. es findet kognitive Entwikklung statt. Darauf aufbauend kann man den Unterricht konzipieren (c in Abb. 1): als Problemlösungsprozess.13 In der Unterrichtssituation sehen sich die Schülerinnen und Schüler mit einem Problem konfrontiert (das beispielsweise von der Lehrerin oder dem Lehrer vorgegeben wird, es kann sich aber auch um ein sich spontan ergebendes Problem - einen so genannten »fruchtbaren Moment« 14 handeln), das nicht in seine subjektive Theorie passt (Desäquilibrium); die Schülerinnen und Schüler suchen nach einer möglichen Lösung (sie erfinden diese), und wenn sie sich bewährt, wird sie in die subjektiven Theorien integriert: gelernt. Bei dieser Erfindung kann die Schülerin oder der Schüler unterstützt werden (so genannte »fokussierende Einflüsse«15), und es ist die Aufgabe der Lehrerin oder des Lehrers, Möglichkeiten zu bieten, damit die Schülerinnen und Schüler prüfen können, ob ihre Erfindung brauchbar ist oder nicht (so genannter »Viabilitäts-Check«16) - begabte Schülerinnen und Schüler tun dies spontan 17.
1.2 Moralische Entwicklung und Moralerziehung Im Bereich der Moral wurde das konstruktivistische Prinzip von Kohlberg im Rahmen eines Forschungsprogramms systematisch untersucht (d in Abb. 1). Im Vordergrund stehen dabei moralische Urteile, d.h. die Argumente (bzw. Argumentationsmuster), die Menschen zugunsten oder gegen Normen und Werte gebrauchen. Es geht also nicht um bestimmte Normen und Werte, sondern darum, warum jemand einen bestimmten Wert befürwortet. So kann für den gleichen Wert ganz unterschiedlich argumentiert werden. Kohlberg und Mitarbeiterinnen
13 Vgl. dazu z.B. Patry, Jean-Luc (2001): Die Qualitätsdiskussion im konstruktivistischen Unterricht, S. 73-94. 14 Copei, Friedrich (61962): Der fruchtbare Moment im Bildungsprozess. 15 Patry, Qualitätsdiskussion im konstruktivistischen Unterricht. 16 Patry, Jean-Luc, Viabilität. Manuskript in Vorbereitung. 17 Vgl. Weinberger, Alfred (2006): Kombination von Werterziehung und Wissenserwerb. Evaluation des konstruktivistischen Unterrichtsmodells VaKE (Values and Knowledge Education) in der Sekundarstufe I.
Values and Knowledge Education (VaKE)
95
sowie Mitarbeiter 18 unterscheiden dabei sechs Stufen der moralischen Argumentation: - Stufe 1: Heteronome Moralität: Im Vordergrund stehen Belohnung oder Strafe. Moralisch richtig ist also, was positive, moralisch falsch, was negative Sanktionen nach sich zieht. Die überlegene Macht der Autoritäten wird anerkannt und nicht hinterfragt. Es besteht überhaupt keine Autonomie. Die berücksichtigte Personengruppe ist sehr eingeengt: Es geht nur um mich und um eine als übermächtig wahrgenommene Autorität, die Universalität (Geltung für mehr Personen) ist nicht gegeben. Beispiel: Die Hausregeln werden befolgt, weil jedes Übertreten bestraft wird. - Stufe 2: Individualismus, Zielbewusstsein und Austausch: Regeln sind zu befolgen, aber nur dann, wenn es den unmittelbaren Interessen von jemandem dient; es geht darum, die eigenen Interessen und Bedürfnisse zu befriedigen und andere dasselbe tun zu lassen. Gerecht ist auch, was ein gleichwertiger Austausch, ein Handel oder ein Übereinkommen ist. Es gibt hier erste Ansätze zur Autonomie. Nur zwei Protagonisten haben anerkannte Interessen: ich und die Person(engruppe), der ich etwas Gutes tue und die mir zum Ausgleich auch Vorteile zukommen lässt (sehr eingeschränkte Universalität). Beispiel: Die Hausregeln sollen befolgt werden, weil dies die Lehrerinnen und Lehrer positiv stimmt und sie mich dann auch unterstützen und weniger schlechte Noten geben. Sanktionen sind nicht einfach hinzunehmen, wie in Stufe 1, sondern können zum wechselseitigen Nutzen eingesetzt werden. - Stufe 3: Wechselseitige Erwartungen, Beziehungen und interpersonale Konformität: Den Erwartungen, die nahe stehende Menschen oder Menschen überhaupt an mich als Träger einer bestimmten Rolle (Sohn, Bruder, Freund usw.) richten, sollen befolgt werden. »Gut zu sein« ist wichtig und bedeutet, ehrenwerte Absichten zu haben und sich um andere zu sorgen. Es bedeutet, dass man Beziehungen pflegt und Vertrauen, Loyalität, Wertschätzung und Dankbarkeit empfindet. Im Vordergrund steht die Gruppe, zu der man selber gehört; wer außerhalb dieser Gruppe steht, hat keine Bedeutung. Die Autonomie ist hier an die Gruppe gebunden, deren Interessen ausschließlich berücksichtigt werden (beschränkte Universalität). Beispiel: Wenn die Norm der Peer-Gruppe, der man sich zugehörig fühlt, darin besteht, die Grenzen der Hausordnung auszutesten, wird man es als gerechtfertigt ansehen, das selber auch zu tun. Der wechselseitige Nutzen (Stufe 2) wird auf die ganze Gruppe ausgedehnt. - Stufe 4: Gesetze sind zu befolgen, weil sie der Regelung des sozialen Zusammenseins dienen: Das Recht steht im Dienste der Gesellschaft, der Gruppe oder der Institution. Wenn die Gesetze anderen festgelegten sozialen Verpflichtungen widersprechen, die für das Zusammenleben wichtiger sind, haben letztere Vor-
96
Jean-Luc Patry
rang. Die Autonomie besteht u.a. darin, selber zu entscheiden, ob und inwieweit die Regeln der Gesamtheit dienlich sind und gegebenenfalls Regeln abzulehnen, die dies nicht tun. Die Universalität bezieht sich auf die Gesellschaft, für die die entsprechende Regel relevant ist, unabhängig davon, welche Gruppen diese umfasst, zu welcher dieser Gruppen ich gehöre und zu welchen ich allenfalls in Opposition stehe. Beispiel: Die Hausordnung erfüllt den Zweck, Probleme im Zusammenleben zu minimieren; sie gelten dann nicht nur für die eigene Gruppe, wie in Stufe 3, sondern für alle Mitglieder der betreffenden Gesellschaft gleichermaßen, beispielsweise für Lehrerinnen und Lehrer wie für Schülerinnen und Schüler, außer es gibt gute Gründe für gruppenspezifische Regelungen. Wenn die Regeln als willkürlich und sinnlos wahrgenommen werden, müssen sie nicht eingehalten werden. - Stufe 5: Sozialer Kontrakt bzw. die gesellschaftliche Nützlichkeit, zugleich individuelle Rechte: Die Person ist sich der Tatsache bewusst, dass Menschen viele unterschiedliche Werte und Normen vertreten, und dass diese meistens gruppenspezifisch sind. Diese »relativen« Regeln sollten im Allgemeinen im Interesse der Gerechtigkeit befolgt werden; es sind diese sozusagen Vereinbarungen oder Kontrakte, an die man sich sinnvollerweise hält. Doch gewisse absolute Werte und Rechte wie Leben und Freiheit müssen in jeder Gesellschaft und unabhängig von der Meinung der Mehrheit respektiert werden. Die Autonomie besteht darin, selber zu entscheiden, welche Prioritäten man diesbezüglich setzen will. Die Regeln sind so formuliert, dass die Bedürfnisse aller Menschen angemessen berücksichtig werden. Beispiel: Hausregeln sind einzuhalten, wenn sie (im Sinne von Stufe 4) angemessen sind. Wenn sie allerdings diskriminierend sind, muss man sie ablehnen und bekämpfen. - Stufe 6: Universale ethische Prinzipien: Die Entscheidung beruht auf selbstgewählten ethischen Prinzipien. Spezielle Gesetze oder gesellschaftliche Übereinkünfte sind im Allgemeinen deshalb gültig, weil sie auf diesen Prinzipien beruhen. Wenn Gesetze gegen diese Prinzipien verstoßen, dann handelt man in Übereinstimmung mit dem Prinzip. Bei den erwähnten Prinzipien handelt es sich um universale Prinzipien der Gerechtigkeit: Alle Menschen haben gleiche Rechte und die Würde des Einzelwesens ist zu achten. Die Person glaubt an die Gültigkeit universaler moralischer Prinzipien und ein Gefühl persönlicher Verpflichtung ihnen gegenüber. Autonomie und Universalität sind vollumfänglich gegeben; die in Abschnitt 4 genannten Prinzipien Gerechtigkeit, Fürsorge, Wahrhaftigkeit, Reversibilität und Menschenwürde werden so weit wie möglich berücksichtigt. Beispiel: Gerechtfertigte Hausregeln werden beachtet (Stufe 5), doch hält man sich insbesondere an selbstgesetzte Regeln, die allen nützen. Die ersten zwei Stufen werden als »präkonventionell« bezeichnet, die Stufen drei und vier als »konventionell«, weil sie in der Gesellschaft am häufigsten ver-
Values and Knowledge Education (VaKE)
97
treten sind, und die Stufen fünf und sechs als »postkonventionell«, weil sie weiter gehen als die konventionellen Stufen. Die Entwicklung erfolgt nach der Theorie Kohlbergs dadurch, dass die betreffende Person mit moralischen Problemen konfrontiert ist, die mit dem verfügbaren Argumentationsrepertoire (auf der entsprechenden Stufe) nicht befriedigend gelöst werden kann (Desäquilibrium). Auf der Suche nach besseren Lösungsmöglichkeiten erfindet die Person neue Argumentationsformen; wenn sie sich bewähren (das sind in der Regel Argumentationsformen der nächsthöheren Stufe), werden sie beibehalten: Akkommodation. Längsschnittstudien 19 zeigen, dass die ontogenetische Entwicklung nach der oben dargestellten Stufenfolge geschieht, deshalb können die Stufen auch als Entwikklungsstufen bezeichnet werden. Die moralischen Probleme weisen die Form von Dilemmata auf. 20 Ein Dilemma ist eine Situation, in der eine Person eine Entscheidung zwischen den Optionen A und B treffen muss; entscheidet sich die Person für Option A, werden bestimmte der Person wichtige Aspekte nicht berücksichtigt; bei Entscheidung B werden diese Aspekte einbezogen, dafür andere vernachlässigt, die bei Entscheidung A zum Zuge kommen. Welche Entscheidung auch immer getroffen wird, wichtige persönliche Anliegen der Person werden nicht berücksichtigt. Moralische Dilemmata sind Situationen, in denen Werte oder Normen zur Diskussion stehen, die je nach Entscheidung gebrochen werden. Der oben dargestellte Prozess des moralischen Desäquilibriums und der moralischen Akkommodation wurde von Kohlbergs Doktorand Moshe Blatt 21 bei der Konzeption einer Interventionsmethode zur Förderung der moralischen Entwikklung verwendet (e in Abb. 1). Die Schülerinnen und Schüler werden in Gruppen mit einem moralischen Dilemma konfrontiert. In der Diskussion über mögliche Lösungen konfrontieren sich die Schülerinnen und Schüler gegenseitig mit Argumenten verschiedener Stufen der moralischen Urteilsfähigkeit. Diese Argumente führen zu Desäquilibrium und Akkommodation. Der Übergang von einer Stufe auf die andere braucht Wochen, oft Monate. Die dargestellte Interventionsmethode kann die Entwicklung, die ohnehin stattgefunden hätte, beschleunigen; wenn aber die Umwelt ohne Intervention keine weiteren moralischen Herausforderungen
19 Vgl. Colby, Anne/Kohlberg, Lawrence/Gibbs, John/Lieberman, Marcus (1983): A longitudinal study of moral judgment (Monographs of the Society for Research in Child Development. 20 Vgl. Patry, Jean-Luc/Weinberger, Alfred/Weyringer, Sieglinde: Fächerübergreifende Ansätze: Atmosphäre, Dilemma-Diskussionen, VaKE und Just Community (dzt. im Druck). 21 Vgl. Blatt, M./Kohlberg, L. (1975): The effects of classroom moral discussion upon children´s level of moral judgement, S. 129-161.
98
Jean-Luc Patry
gestellt hätte (oder diese vom Individuum nicht wahrgenommen worden wären), kann die Dilemmadiskussion zu einer Entwicklungsförderung führen, die sonst nicht stattgefunden hätte.
2. VaKE Die Erfahrungen mit Dilemmadiskussionen zeigen, dass (i) Schülerinnen und Schüler sehr motiviert sind, an solchen Diskussionen mitzumachen, aber bei Dilemmata, die ein bestimmtes Wissen voraussetzen 22, (ii) häufig Informationsdefizite aufweisen, was die Argumentation erschwert. Auf dieser Grundlage wurde deshalb das Konzept der Kombination von Moral- und Werterziehung auf Basis der Dilemmadiskussion und des Wissenserwerbs entwickelt: »Values and Knowledge Education« 23 (VaKE; f in Abb. 1).
2.1 Die Schritte von VaKE Die einzelnen Schritte bei VaKE sind in Tabelle 1 zusammengestellt. Die ersten drei Schritte entsprechen denjenigen der Moralerziehung nach Blatt und Kohlberg. Der vierte Schritt leitet zum Wissenserwerb über: Es geht um die Formulierung von Problemen, die den konstruktivistischen Lernprozess (c in Abb. 1) über ein Desäquilibrium auslösen. Die Schülerinnen und Schüler suchen dann selbstständig in kleinen Gruppen das Informationsdefizit zu beheben, vor allem im Internet (Schritt 5). Da unterschiedliche Gruppen unterschiedliche Informationen recherchiert haben, ist es notwendig, dass sie sich gegenseitig darüber austauschen (Schritt 6). Mit verbessertem Wissensstand kann dann im siebten Schritt die Dilemmadiskussion (als Wertediskussion) weitergeführt werden. Die Ergebnisse werden sodann zusammengefasst (Schritt 8), und bei Bedarf (und falls genügend Zeit zur Verfügung steht) können die Schritte 4 bis 8 wiederholt werden. Den Abschluss bilden eine Synthese, die sich auf den gesamten Prozess bezieht, sowie Aktivitäten, die auf die Verallgemeinerung der Erkenntnisse abzielen (etwa werden konkrete Aktionen unternommen).
22 Etwa historische Dilemmata wie »War Ludwig XVI. schuldig im Sinne der damaligen Anklage?«: Um dies kompetent diskutieren zu können, müssen die Schülerinnen und Schüler um diese Anklage wissen und auch die Rahmenbedingungen kennen. 23 Vgl. Patry, Werterziehung und Wissensbildung.
99
Values and Knowledge Education (VaKE)
Schritt
Handlung
Aufteilung
1
Dilemma einführen
Welche Werte stehen zur Diskussion?
Klasse
2
Erste Entscheidung
Wer ist dafür, wer ist dagegen?
Klasse
3
Erstes Argumentieren (Dilemma-Diskussion)
Warum bist du dafür, warum dagegen? Welche Argumente zählen für euch?
Gruppe
4
Austausch über Erfahrungen und fehlende Inforamtion
Austausch der Argumente; wie könnte man mein Argument verstärken? Welche Fragen sind offen?
Klasse
5
Suche nach Information
Sucht adäquate Information unter Zuhilfenahme verschiedener Informationsquellen!
Gruppe
6
Austausch von Information
Präsentiert eure Ergebnisse! Sind sie ausreichend?
Klasse
7
Zweites Argumentieren
Warum bist du dafür, warum dagegen?
Gruppe
8
Synthese der Information (Dilemma-Diskussion)
Austausch der Argumente auf der Basis des neuen Wissens
Klasse
9
Wiederholung von 4 bis 8 - wenn nötig
Sind noch Fragen offen?
Gruppe / Klasse
10
Endprodukt, Synthese
Zu welchem Ergebnis sind wir gelangt?
Klasse
11
Generalisation
Diskussion über andere verwandte Themen
Klasse
Tabelle 1: Prototypischer Ablauf von Vake 24; kursiv: Moral- und Werterziehung; unterstrichen: Wissenserwerb.
2.2 Wichtige Prinzipien von VaKE Dem Vergleich mit dem Fähigkeitenansatz können mehrere Prinzipien zu Grunde gelegt werden, die für VaKE konstituierend sind. Wo entsprechende Untersuchungen verfügbar sind, wird auf diese verwiesen. Die Themen sind allerdings so vielfältig, dass es bislang nicht möglich war, sie alle zu untersuchen. Deshalb werden in anderen Bereichen anekdotische Erfahrungen berichtet, von denen nicht beansprucht wird, dass sie repräsentativ seien, die aber als prototypisch betrachtet werden können.
24 Vgl. Patry, Jean-Luc/Weinberger, Alfred (2004): Kombination von konstruktivistischer Werterziehung und Wissenserwerb, S. 35-50 und online.
100
Jean-Luc Patry
2.2.1 Konstruktivistische Grundlage Wie oben dargelegt, beruhen die theoretischen Grundlagen auf dem Konstruktivismus (a in Abb. 1). Im vorliegenden Zusammenhang wesentlich ist aber, dass der Konstruktivismus nicht nur eine Grundlage für Lern- und Entwicklungstheorien (b und d in Abb. 1) bzw. für Unterrichts- und Erziehungstheorien (c und e in Abb. 1) und damit auch für VaKE, sondern auch eine wissenschaftstheoretische Grundlegung ist. Eine zentrale Frage ist hierbei, ob es eine oder mehrere Wirklichkeiten gibt, und wenn ja, wie diese aussieht oder aussehen. In VaKE wird von folgender Vorstellung ausgegangen 25: - Ob es eine reelle Welt gibt oder nicht, und wenn ja, ob es eine oder mehrere gibt, sind irrelevante Fragen weil wir ohnehin keine Chance haben, Aussagen über mögliche Wirklichkeiten zu testen. Da diese Fragen nicht beantwortet werden können, ist es sinnlos, sie weiter zu verfolgen. - Sowohl im Alltag als auch in der Wissenschaft haben wir Theorien (analog den oben diskutierten subjektiven Theorien), welche davon ausgehen, dass es eine reelle Welt gibt und wie diese aussieht. Es ist dies jeweils eine Konstruktion des Individuums. - Der Anspruch ist nicht, dass die Theorie die Wirklichkeit angemessen repräsentiert. Vielmehr ist die Theorie bislang viabel 26 gewesen, und wir waren in der Lage, mit Hilfe dieser Theorien erfolgreich zu handeln. Wären die Theorien nicht viabel gewesen, hätten wir sie durch eine bessere ersetzt, sonst hätten wir nicht überlebt 27. Diese Überlegungen haben weitgehende Konsequenzen, auf die hier allerdings nicht eingegangen werden kann.
2.2.2 Kooperation Ein wesentliches Merkmal von VaKE ist die Kooperation bei der Erarbeitung von Wissen und von moralischen Prinzipien. Die Schülerinnen und Schüler tun 25 Vgl. z.B. Berkeley, George (1998): A treatise concerning the principles of human knowledge; Kant, Kritik der reinen Vernunft; Popper, Karl R. (1965): Conjectures and refutations. The growth of scientific knowledge; Putnam, Hilary (1996): Realism and reason; u.a.m. 26 Vgl. Patry, Viabilität. 27 Es gibt Menschen mit nicht-viablen Theorien, die mit Hilfe und Unterstützung anderer Menschen überleben können, etwa psychisch kranke Menschen.
Values and Knowledge Education (VaKE)
101
(im Sinne des Konstruktivismus) die entscheidende Lern- und Entwicklungsarbeit und unterstützen sich dabei gegenseitig. Die Moraldiskussionen unter Peers waren schon von Blatt and Kohlberg 28 als entscheidendes Element identifiziert, allerdings sollte dabei auch die Lehrerin oder der Lehrer Argumente beisteuern in VaKE hält sich die Lehrperson diesbezüglich stark zurück. In Untersuchungen 29 hat sich gezeigt, dass die Förderung des Teamworks zu einer Erhöhung des Wissenserwerbs führt; das angeeignete Wissen wird auch stärker in neuen Situationen angewendet. Auch die Zufriedenheit und andere positive Dimensionen sind in der Gruppe mit Teamwork-Förderung höher als in der Gruppe, in der das Teamwork nicht gefördert wurde. Im moralischen Bereich hat das Teamwork keinen Einfluss; man kann vermuten, dass bei den Moraldiskussionen die Schülerinnen und Schüler spontan kooperieren, während im Wissensbereich die Schülerinnen und Schüler spontan als Einzelkämpferinnen und -kämpfer 30 auftreten. Die Peers sind auch die wichtigsten Quellen für Viabilitäts-Checks. Dies hat die wichtige Konsequenz, dass die Schülerinnen und Schüler nicht versuchen, herauszufinden, was die Lehrerin oder der Lehrer hören will (Lehrerin oder Lehrer als Viabilitäts-Kriterium), sondern ihre Argumente an den Peers messen. Es ist wohl nicht auszuschließen, dass des dabei den Schülerinnen und Schülern darum geht, ihre Peers zu beeindrucken; ob das mit Argumenten oder mit anderen Mitteln 31 geschieht, müsste empirisch weiter untersucht werden.
2.2.3 Multiperspektivität Durch die Diskussionen werden sowohl im moralischen Bereich wie auch bezüglich der Information gleiche Umstände aus ganz unterschiedlichen Sichtweisen betrachtet. Die Dilemmadiskussion beruht auf der Auseinandersetzung
28 Vgl. Blatt/Kohlberg, Classroom moral discussion. 29 Vgl. z.B. Gastager, Angela/Weinberger, Alfred (2009): Zur Wirksamkeit von Teamwork in einer innovativen Lernumgebung im Schulunterricht, S. 249-276. 30 Kämpferinnen und Kämpfer im wahrsten Sinne des Wortes, kämpfen die Schülerinnen und Schüler doch häufig im Unterricht gegeneinander statt miteinander, weil die schlechtere Leistung des Peers zu einer besseren Benotung der eigenen Leistung führen kann (soziale Bezugsnorm). 31 Etwa sich einem opinion leader anschließen (»basking«) oder die Ansicht eines unbeliebten Peers ablehnen (»blasting«), vgl. dazu etwa Richardson, Kenneth D./Cialdini, Robert B. (1981): Basking and blasting: Tactics of indirect self-presentation, S. 41-53.
102
Jean-Luc Patry
zwischen verschiedenen Denkweisen und Überzeugungen. Auch bezüglich des Wissens erarbeiten sich die Schülerinnen und Schüler unterschiedliche Informationen, die sie dann austauschen. Hinzu kommt, dass im Internet zum gleichen Gegenstand ganz unterschiedliche, häufig sogar gegensätzliche Information angeboten wird. Die Schülerinnen und Schüler sind deswegen mit den verschiedensten Perspektiven konfrontiert und merken dabei, dass verschiedene Perspektiven durchaus sinnvoll sein können. Dabei werden verschiedene Bereiche angesprochen (Interdisziplinarität). In einer VaKE-Diskussion zur Frage, ob Woyzeck aus Büchners Drama des Mordes an seiner Verlobten Marie schuldig zu sprechen sei,32 wurde beispielsweise wie folgt argumentiert: Woyzeck war Versuchskaninchen eines Arztes, der ihm eine Erbsendiät verschrieb (Literatur). Erbsen haben einen sehr geringen Anteil an Jod (Lebensmittelchemie). Jodmangel führt beim Menschen zu einer geistigen Beeinträchtigung (Neurophysiologie). Geistige Beeinträchtigung ist ein Grund für Unzurechnungsfähigkeit (Rechtswissenschaft). Deshalb ist Woyzeck nicht schuldig. In diesem Argumentationsstrang kommen also ganz unterschiedliche Disziplinen vor und werden aufeinander bezogen - und dies ist generell der Fall. In VaKE gibt es nicht nur ein einziges Qualitätskriterium: Die Viabilität einer Aussage wird immer nach ganz unterschiedlichen Kriterien beurteilt - von unterschiedlichen Schülerinnen und Schülern, aber häufig auch von der gleichen Schülerin oder vom gleichen Schüler. Beispielsweise wurde in einer VaKE-Diskussion ein Gerichtsverfahren im Rollenspiel durchgeführt; dabei spielte der gleiche Schüler einmal den Angeklagten, dann den Zeugen der Anklage, dann einen Gutachter. Andere wechselten die Rolle ebenfalls mit der Notwendigkeit, einmal zu Gunsten, dann wieder gegen die gleiche Position zu argumentieren, also die Perspektive zu wechseln. Dies gehört zum Standard bei VaKE.
2.2.4 Grundbedingungen des Menschen Das Menschenbild, das VaKE zu Grunde liegt, wurde im Rahmen des Forschungsprogramms Subjektive Theorien 33 formuliert. Der Mensch wird als Erfinder und
32 Vgl. Weinberger, Alfred/Kriegseisen, Gerhard/Loch, Alexander/Wingelmüller, Petra (2005): Das Unterrichtsmodell VaKE (Values and Knowledge Education) in der Hochbegabtenförderung: Der Prozess gegen Woyzeck, S. 23-40 und online. 33 Vgl. Groeben et al., Forschungsprogramm subjektive Theorien.
Values and Knowledge Education (VaKE)
103
Benutzer von Theorien gekennzeichnet; dabei wird davon ausgegangen, dass der Mensch die folgenden vier Fähigkeiten hat: - Die Fähigkeit zur Kommunikation: Menschen können innere Theorien anderen mitteilen, um Konfrontation und/oder Bestätigung zu erreichen. - Die Fähigkeit zur Autonomie: Sie können den Lernprozess in die eigene Hand nehmen, seine Wirksamkeit prüfen und die Lernwege selbst steuern; der Fokus liegt u.a. auf den Grenzen der Autonomie. - Die Fähigkeit zur Integration von Denken, Fühlen und Agieren. - Die Fähigkeit zur Reflexivität: Subjektive Theorien dienen der Handlungssteuerung und bieten Erklärungen an, so dass große Netze von Erklärungstheorien entstehen. Dazu gehört auch, dass das Individuum Ziele hat, verfolgt und die eigenen Möglichkeiten zu verwirklichen sucht. Es geht also darum, dass nach diesem Menschenbild der Mensch nicht nur sein Wissen und seine kognitive Struktur konstruiert, wie oben im Zusammenhang mit dem Konstruktivismus dargestellt, sondern auch die eigenen Talente und Begabungen verwirklichen kann. So haben wir VaKE einerseits in der Begabtenförderung eingesetzt - und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben es genossen, für einmal mit Ihresgleichen (d.h. anderen Begabten) umgehen zu können.34 Aber auch in der Regelschule kann VaKE erfolgreich eingesetzt werden; dies wurde von Weinberger in mehreren Untersuchungen für die Hauptschule gezeigt.35 Erfahrungen bestehen in allen Altersstufen vom Kindergarten 36 bis zur Hochschule 37, und das Anforderungsniveau wurde von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern entsprechend den eigenen Möglichkeiten gewählt, wobei die Dilemmata alters- und themenspezifisch gewählt wurden.
2.2.5 Freiheiten Offener Unterricht, wie in VaKE praktiziert, bedeutet, dass der Schülerin und dem Schüler ein Maximum an Freiheit gewährt wird. Das bedeutet u.a., dass die Schü-
34 Vgl. Weyringer, Sieglinde (2008): Die Anwendung der VaKE-Methode zur Entwicklung eines Europäischen Bürgerbewusstseins - dargestellt am Platon Jugendforum (Dissertation). 35 Vgl. die verschiedenen Arbeiten von Weinberger. 36 Vgl. Hörtenhuber, Birgit Anna (2008): VaKE im Kindergarten (Bacherlor-Arbeit). 37 Vgl. Ali, Sahar Nabil Abbas (2006): The Values and Knowledge Education (VaKE) approach and its impacts on teaching and moral judgment competences of pre-service primary school science teachers (Dissertation).
104
Jean-Luc Patry
lerinnen und Schüler selber entscheiden, wohin sie das Schwergewicht ihrer Untersuchung legen wollen. So haben die Schülerinnen und Schüler in der oben dargestellten Woyzeck-Diskussion 38 entschieden, die Thematik »Erbsendiät« weiter zu verfolgen und nicht die meist thematisierte Thematik »soziale Unterdrükkung« - diese wurde zwar auch diskutiert, war aber letztlich nicht entscheidend. Bei Bedarf - beispielsweise wenn dies durch curriculäre Anforderungen erforderlich ist - kann die Lehrerin oder der Lehrer steuernd eingreifen, wobei sie/er nach unserer Konzeption diese Steuerung transparent machen soll, was unserer Erfahrung nach auch sehr gut aufgenommen wird. Eine solche Freiheit und die Möglichkeit, eigene Wege zu gehen, ist für konstruktivistisches Lernen eine grundlegende Voraussetzung. Wenn Schülerinnen und Schüler Wissen und moralische Strukturen konstruieren sollen, muss man ihnen auch die Möglichkeit geben, sich in diejenige Richtung zu bewegen, die ihnen wichtig ist - nur so ist Lernen möglich. Auch die oben genannte Steuerung muss deswegen so erfolgen, dass sie für die Schülerinnen und Schüler nachvollziehbar und akzeptierbar ist, also transparent und im Einklang mit dem Interessensfokus der Schülerinnen und Schüler steht. Gleichzeitig bedeutet diese Freiheit immer auch Herausforderungen und Infragestellungen des Bestehenden. So sind zum einen Lehrerinnen und Lehrer nicht mehr (alleinige) Besitzer des richtigen Wissens (ein solches entspricht ja auch nicht einem konstruktivistischen Ansatz), sondern ihre Vorstellungen sind selber immer wieder in Frage gestellt. Es zeigt sich wiederholt, dass die Schülerinnen und Schüler nach einer VaKE Einheit mehr wissen als die Lehrerin oder der Lehrer vor dieser Einheit (beispielsweise über die Wirkung von Erbsendiät). Die Lehrerin oder der Lehrer ist deswegen immer auch eine lernende Person. Der Verlust des Wissensmonopols ist für viele Lehrerinnen und Lehrer ein Problem, weil er zu Kontrollverlust führt. Er ist aber für diese Art von Unterricht unabdingbar - in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung und -weiterbildung ist es deswegen notwendig, die Lehrerinnen und Lehrer darauf vorzubereiten.
2.2.6 Faktenwissen, Werte und die Verbindung Im Hinblick auf die Wissensaneignung geht es bei VaKE um nicht-träges Wissen; träges Wissen 39 ist Wissen, das in der Schule gelernt wurde, aber außerhalb
38 Vgl. Weinberger et al., Woyzeck. 39 Vgl. z.B. Renkl, Alexander (1996): Träges Wissen: Wenn Erlerntes nicht genutzt wird, S. 78-92.
Values and Knowledge Education (VaKE)
105
der Schule nicht mehr verwendet wird. In der Schule wird in der Regel mit den unteren Ebenen der Lehrzieltaxonomie nach Bloom 40 - also dem Wissen - begonnen, und die weiteren Ebenen (meist allerdings nur bis Ebene 3) werden systematisch aufgebaut. Bei VaKE ist es umgekehrt: Ausgehend von einer Bewertungsfrage (Ebene 6) werden systematisch nach unten Fragen gestellt und diese dann wieder von unten nach oben beantwortet. Damit wird jedenfalls verhindert, dass das Wissen zusammenhangslos aufgenommen und damit träge wird. Die Bedeutung des Lernzusammenhanges wird in konkreten Erfahrungen deutlich. So berichtete eine Lehrerin, dass die Schülerinnen und Schüler bei der Lösung von Problemen, die ein in VaKE erworbenes Wissen erfordert, auf die dieser VaKE Einheit zu Grunde liegende Dilemma-Situation verwiesen. Man kann in diesem Zusammenhang von Anchored Instruction bzw. situated cognition 41 sprechen. Um deren Grenzen zu überwinden, wurde der elfte Schritt im VaKE Ablauf formuliert (vgl. Tab. 1); dessen Wirkung wurde aber bislang noch nicht untersucht. Ausgangspunkt für jeden VaKE Prozess ist ein Werte-Dilemma und dessen Diskussion. Eine Auseinandersetzung mit Werten ist deswegen grundlegend. Es sei zugestanden, dass dies von vielen Lehrerinnen und Lehrern, die erstmals mit VaKE konfrontiert werden, nicht erkannt wird und dass sie dann ein Dilemma einführen, bei dem nicht Werte im Vordergrund stehen; es ist denn auch nicht immer leicht, angemessene Dilemmata zu formulieren. Dies entspricht aber nicht der Intention von VaKE, wo es wesentlich eben auch darum geht, Werterziehung zu betreiben. Dabei geht es - ganz in der Kohlberg´schen Tradition - um die Begründung von Werten und nicht um die Vermittlung bestimmter Werte. In der Schule wird Werterziehung zwar in den Lehrplänen meist gefordert, aber von den Lehrerinnen und Lehrern kaum realisiert. Dafür können sie viele Gründe angeben,42 u.a. fehlender Konsens über Inhalte, Primat fachlicher Inhalte, Stofffülle, Zeitmangel, Notendruck und mögliche Konflikte mit Erziehungsberechtigten. VaKE kann viele dieser Argumente entkräften; so werden die Fachinhalte nicht nur berücksichtigt, sondern die Schülerinnen und Schüler lernen häufig
40 Die Taxonomie ist als Hierarchie gedacht und lautet wie folgt: 1. Wissen; 2. Verstehen; 3. Anwenden; 4. Analyse; 5. Synthese und 6. Bewertung. Vgl. Bloom, Benjamin S./Englehart, Max D./Furst, Edward J./Hill, Walker H./Krathwohl, David R. (1965): Taxonomy of educational objectives. The classification of educational goals. Handbook I: Cognitive domain. 41 Vgl. Cognition and Technology Group at Vanderbilt (1990): Anchored instruction and its relationship to situated cognition, S. 2-10. 42 Vgl. Gruber, Michael: Hindernisse schulischer Werteerziehung aus Lehrersicht. Bestandsaufnahme und Empfehlungen (dzt. im Druck).
106
Jean-Luc Patry
mehr als im normalen Unterricht, und da nicht bestimmte Werte, sondern Begründungen im Vordergrund stehen, kann es auch nicht zu Konflikten mit den Werten kommen, die von den Eltern vertreten werden, sondern allenfalls zu Diskussionen im Elternhaus um die Begründung der Werte, was aus unserer Sicht zu befürworten ist. Bei VaKE werden die Fakten und die Werte zwar letztlich aufeinander bezogen, aber in der Diskussion getrennt behandelt; dies ist uns deshalb wichtig, weil wir nach Möglichkeit den naturalistischen Fehlschluss vermeiden wollen. Allerdings begehen die Schülerinnen und Schüler diesen Fehlschluss immer wieder 43 - es wird deshalb in Hinkunft notwendig sein, diesem Aspekt stärkere Beachtung zu schenken. Es ist uns aber ganz wichtig, dass die Werte und die Fakten aufeinander bezogen werden. Werte sind ja nicht als Abstraktum relevant, sondern in konkreten Situationen, die durch bestimmte (faktische) Rahmenbedingungen gekennzeichnet sind.
2.2.7 Verantwortliches Handeln Als letzter Punkt sei noch darauf hingewiesen, dass die Schülerinnen und Schüler nach VaKE Prozessen nicht selten spontan beschließen, es nicht bei Diskussionen wichtiger aktueller Probleme zu belassen, sondern eigene Aktionen zu setzten, beispielsweise Leserbriefe zu schreiben, Unterschriften zu sammeln u.a.m. Andere Erfahrungen zeigen, dass beispielsweise nach einer Diskussion zu Abfalltrennung oder Massentierhaltung einzelne Schülerinnen und Schüler beschließen, die Werte, zu denen sie in den Diskussionen gekommen sind, in ihrem Alltag konkret umzusetzen. Das Handeln ist also nicht der primäre Fokus von VaKE, fördert aber die Tendenz, das Gelernte auch konkret umzusetzen. Es gibt aber Möglichkeiten, die im Einklang mit den Überlegungen von VaKE stehen und auf Kohlbergs Entwicklungstheorie aufbauen: die Just Community 44. Hier geht es darum, über moralische Fragen zu diskutieren, die die betreffende Gemeinschaft (beispielsweise die Klasse oder die Schule) betreffen, und dann gemeinsam (sowohl Schülerinnen und Schüler als auch Lehrerinnen und Lehrer)
43 Vgl. Patry, Jean-Luc/Weyringer, Sieglinde/Weinberger, Alfred: Kombination von Moral- und Werterziehung und Wissenserwerb mit VaKE - wie argumentieren die Schülerinnen und Schüler? (dzt. im Druck). 44 Kohlberg, Lawrence (1985): The Just Community approach to moral education in theory and practice, S. 27-87.
107
Values and Knowledge Education (VaKE)
gut begründete Beschlüsse zu fassen, die dann auch umgesetzt werden. Diese handlungsorientierte Moralerziehung wurde denn auch erfolgreich mit VaKE kombiniert.45
3. VaKE und der Fähigkeitenansatz im Vergleich Der Fähigkeitenansatz soll hier nur in Form einer Abbildung dargestellt werden 46 - aus Platzgründen und weil dies an anderer Stelle in diesem Band in ausreichendem Maße geschieht, wird auf eine differenzierte Darstellung verzichtet, vielmehr sollen die Prinzipien (2.2.1. bis 2.2.7.) mit den entsprechenden Positionen im Fähigkeitenansatz verglichen werden, ohne dabei jeweils differenziert auf die Arbeiten von Sen und Nussbaum zu verweisen.47
Social context: Social institutions
Preference formation mechanisms
Social and legal norms Other people´s behaviour and characteristic
Social influences on decision making
Personal history and psychology
Environmental factors (and many, many more...)
Non-market production
Capability set Goods
Individual
Market production
and
conversion
Capabilities
Net income
services
factors
(i.e. opportunity set of achievable functionings)
Transfer-in-kind
Means to achieve (capability inputs)
Freedom to achieve
Choice
Achieved functionings
Achievement
Abbildung 2: Eine stilisierte nicht-dynamische Darstellung der menschlichen Fähigkeiten und ihres sozialen und persönlichen Kontextes
45 Vgl. z.B. Weinberger, Alfred (2007): Gewaltprävention durch positives Sozialklima: die »Just Community« auf Klassenebene, S. 788-795. 46 Vgl. Robeyns, Ingrid (2005): The Capability Approach: A Theoretical Survey, S. 93-114 und online. 47 Vgl. insbesondere http://www.capabilityapproach.org/index.php; ferner Sen, Capability; Sen, Development as freedom; Nussbaum, Frontiers of justice; sowie z.B. Robeyns, Capability Approach; Deneulin, Séverine/Shahani, Lila (2009): An introduction to the human development and capability approach. Freedom and agency.
108
Jean-Luc Patry
3.1 Wissenschaftstheorie Martha Nussbaum vertritt einen internalistischen Essentialismus nach Putnam: Es gibt zwar eine vom Menschen unabhängige Wirklichkeit, die aber dem Menschen nicht zugänglich, sondern von diesem immer interpretiert ist. Das entspricht der in 2.2.1. dargestellten erkenntnistheoretischen Überzeugung (auf Unterschiede in Detailfragen kann hier nicht eingegangen werden). Dies entspricht auch der konstruktivistischen Konzeption für die Konstruktion von Strukturen im Wertewie auch im Inhaltsbereich und dem methodischen Vorgehen, wobei kein Anspruch auf Wahrheit aufgestellt wird, sondern auf rationale Akzeptiertheit oder Viabilität.
3.2 Kooperation Eine der wichtigsten Prioritäten des Fähigkeitenansatzes ist die Wertschätzung des Mitmenschen; letztlich geht es Sen um die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen unter Berücksichtigung der verschiedensten diesbezüglich relevanten Bereiche, von den (klassischen) ökonomischen Bedingungen (etwa pro-Kopf Einkommen bzw. reale Kaufkraft pro Einwohner) über Lebenserwartung, Alphabetisierung und Schuleinschreibung bis hin zu Menschenrechten und der Bemühung einer Gesellschaft, aktiv zur Entwicklung eines besseren Lebens der einzelnen Mitglieder beizutragen. Dazu gehören ganz wesentlich die politische Freiheit und Partizipation mit besonderer Betonung der Würde des Menschen. Dies beinhaltet insbesondere auch angemessene Formen des Umgangs miteinander. Es geht auch nicht ausschließlich um Gerechtigkeit, sondern auch um Fürsorge. In beiden Ansätzen werden somit wichtige humane Werte wie Respekt, Toleranz, Würde des Menschen, und Wertschätzung als Bedingungen des Zusammenlebens thematisiert. Hinzu kommt bei Sen explizite, in VaKE immer mitgedacht, dass der Selbstrespekt auch eine soziale Basis hat. In VaKE stärker thematisiert ist demgegenüber der Wert des Beitrags des jeweils anderen zur eigenen Entwikklung. All diese Faktoren werden in beiden Ansätzen als Basis für politische Partizipation gesehen.
3.3 Multiperspektivität Im Fähigkeitenansatz gibt es nicht nur ein einziges Kriterium (etwa das Bruttosozialprodukt GNP), sondern eine Kombination, wobei die Ausweitung der Frei-
Values and Knowledge Education (VaKE)
109
heiten, die zur Bereicherung des Lebens beitragen, im Vordergrund steht. Auch die Fähigkeitenliste wurde von Sen offen gelassen, während Nussbaum eine abgeschlossene Liste präsentierte, ohne aber rigide darauf zu beharren. Auch in allen anderen Bereichen, die im Fähigkeitenansatz thematisiert werden, werden die Prinzipien nicht ein für allemal festgelegt, sondern von Fall zu Fall und unter Berücksichtigung der verschiedensten Sichtweisen argumentiert. Auch diesbezüglich besteht eine Übereinstimmung zwischen VaKE und dem Fähigkeitenansatz. Es gilt nie ein einzelnes Kriterium, sondern es ist immer eine Kombination von unterschiedlichen, unter Umständen auch widersprüchlichen Kriterien relevant. Die Gewichtung der einzelnen Kriterien kann dabei von Umstand zu Umstand, von Situation zu Situation unterschiedlich sein 48 und ist von Fall zu Fall neu zu argumentieren. Ein wesentlicher Unterschied liegt darin, dass im Fähigkeitenansatz die gesellschaftliche Perspektive im Vordergrund steht: Es geht um Lebensqualität und (Selbst-)Verwirklichung und um die diesbezüglichen Rahmenbedingungen in der Gemeinschaft. Demgegenüber thematisiert VaKE die Bildung und die Selbstverwirklichung, ausgehend vom Individuum; die Gesellschaft wird nur thematisiert, insofern diese für das Individuum relevant ist, es wird aber gehofft, dass die so gebildete Person mittelfristig Einfluss auf die Gesellschaft nimmt.
3.4 Grundbedingungen des Menschen Als Grundbedingungen des Menschen werden im Fähigkeitenansatz u.a. die notwendigen Fähigkeiten thematisiert, um die eigenen Ziele zu erreichen; diese sind insbesondere die (Selbst-) Verwirklichung und die Lebensqualität. Demgegenüber geht es bei VaKE nicht um Lebensqualität, sondern - wie bei Nussbaum - um die Ermöglichung des Möglichen ohne Einschränkung durch äußere Umstände, also auch um Selbstverwirklichung, aber erneut individuell und nicht gesellschaftlich orientiert.
3.5 Freiheiten Der Freiraum angesichts der persönlichen und gesellschaftlichen Bedingungen und der Kontrollmöglichkeiten ist das zentrale Thema des Fähigkeitenansatzes.
48 Vgl. dazu die Theorie der Situationsspezifität: Patry, Jean-Luc (1991): Transsituationale Konsistenz des Verhaltens und Handelns in der Erziehung.
110
Jean-Luc Patry
Dabei gibt es Wechselwirkungen mit dem Entwicklungsprozess: Die Erweiterung der Freiheiten ist ein Ziel der Entwicklung, aber gleichzeitig sind Freiheiten Bedingungen für Entwicklung und für Wertbildung. Hier kommt auch die Wechselwirkung zwischen Individuum und Gesellschaft zum Tragen: Freiheiten sind immer Freiheiten des Einzelnen, aber auch Freiheiten in der Gesellschaft. Auch in VaKE sind Freiheiten grundlegend: nur durch diese können Voraussetzungen für individuelles Lernen und Entwicklung sowohl im Informations- als auch im Wertebereich geschaffen werden. Auch die freie Verfügbarkeit von Werten und Information (im Sinne eines Angebotes, auf das die Schülerinnen und Schüler bei Bedarf zurückgreifen können) ist für VaKE konstituierend, wobei die Schülerinnen und Schüler letztlich frei entscheiden, ob und inwieweit sie von diesem Angebot Gebrauch machen wollen. Allerdings sind die Freiheiten in den beiden Ansätzen auf unterschiedlichen Ebenen situiert. In VaKE bezieht sich die Freiheit nur auf den Unterricht - wenn dies verwirklicht werden kann, ist dies aber schon immens viel. Auf der anderen Seite gibt es Vergleichbarkeit in einer Vielzahl von eher prozeduralen Aspekten wie die Betonung der Demokratie, die Möglichkeiten, eigene Konzepte zu verwirklichen, Transparenz u.a.m.
3.6 Information, Werte und die Verbindung Im Fähigkeitenansatz ist Wissen eine wichtige Dimension der Entwicklung und gilt als eine Voraussetzung für Freiheiten. Dies wird in VaKE ganz ähnlich gesehen. Allerdings thematisiert VaKE zusätzlich den Erwerb der Information. Das Analoge gilt für die Werte: Sie sind in beiden Ansätzen wichtig und müssen explizit gemacht werden; der Unterschied besteht darin, dass im Fähigkeitenansatz die Werte ausschließlich von der ethischen oder politischen Perspektive aus thematisiert werden, während in VaKE die persönlichen Werte der Schülerinnen und Schüler und die diesbezüglichen Argumente im Vordergrund stehen, die ethischen Überlegungen aber im Hintergrund immer mitberücksichtigt werden: Die Entwicklung der Moral ist immer eine Entwicklung im Hinblick auf eine ethisch gesehen bessere Moral.49 Inwiefern im Fähigkeitenansatz (insbesondere von Nussbaum, die sich wohl stärker mit der Ethik befasst hat als Sen) das Risiko des naturalistischen Fehlschlusses thematisiert wird, konnte ich nicht feststel-
49 Vgl. Kohlberg, Lawrence (1981): From is to ought: How to commit the naturalistic fallacy and get away with it in the study of moral development, S. 101-189.
Values and Knowledge Education (VaKE)
111
len (Hinweise gibt es etwa bei Donovan 50). Bezüglich der Verbindung der Fakten und Werte ist für den Fähigkeitenansatz zu betonen, dass die Kriterien immer wertabhängig bestimmt werden. Wie in VaKE ist die Verbindung wichtig, aber an anderen Stellen: im Fähigkeitenansatz ist dies bei der Konzeption von Gesellschaft und deren Rahmenbedingungen relevant, also bei denjenigen Personen, die diesbezüglich Entscheidungen treffen. Die Fähigkeiten thematisieren aber ausdrücklich die Verbindung von Fakten und Werten beim Individuum.51 In VaKE ist die Verbindung demgegenüber beim Zielpublikum angestrebt, bei den Schülerinnen und Schülern - also zunächst einmal die Personen, über die im System entschieden wird (mit Ausnahme der VaKE Einheiten, vgl. Punkt 3.5 »Freiheiten«). Es wird aber gehofft, dass diese Personen selber einmal Entscheider werden und dann die entsprechenden Fähigkeiten zum Tragen kommen.
3.7 Verantwortliches Handeln Im Fähigkeitenansatz geht es nicht zuletzt darum, dass Menschen über die Fähigkeit verfügen, verantwortlich zu handeln. Thematisiert werden insbesondere die politische Partizipation und das soziale Engagement, aber auch die Verantwortung für die Umwelt. In beiden Ansätzen werden somit Voraussetzungen für verantwortliches Handeln angesprochen und so weit als möglich realisiert. Eigenverantwortung wird betont und (zumindest bei VaKE) ermöglicht, wenn auch nicht in Form von Tun (d.h. dass die Schülerinnen und Schüler selber in einem relevanten Kontext aktiv werden) ausdrücklich gefordert; Letzteres wird aber bei Eigeninitiative der Schülerinnen und Schüler sicher nicht behindert.
4. Diskussion VaKE und der Fähigkeitenansatz beziehen sich auf unterschiedliche Bereiche: VaKE zielt auf das Individuum (in der Gesellschaft), auf seine Entwicklung und sein Lernen ab; demgegenüber liegt der Fokus des Fähigkeitenansatzes auf der
50 Vgl. Donovan, James M. (2007): Human nature constraints. Upon the realistic utopianism of Rawls and Nussbaum, online. 51 Z.B. die Fähigkeiten nach Nussbaum, Women and equality, S. 54: »6. Practical Reason. Being able to form a conception of the good and to engage in critical reflection about the planning of one´s life (which entails protection for the liberty of conscience).«
112
Jean-Luc Patry
gesellschaftlichen Perspektive und der Lebensqualität, im Hinblick auf die und innerhalb derer die Fähigkeiten als (Selbst-) Verwirklichungsmöglichkeiten gesehen werden.52 Auch ist die Perspektive unterschiedlich: VaKE wurde bislang nur wenig auf Entwicklungs- und Schwellenländer angewandt,53 deswegen wurden die Prioritäten anders gelegt. So ist die Lebensqualität bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern an VaKE Prozessen nicht problematisch und wird deswegen im Gegensatz zum Fähigkeitenansatz nicht thematisiert; wohl aber können sich die Diskussionen auf die Lebensbedingungen der Protagonisten des jeweiligen Dilemmas 54 beziehen, was wahrscheinlich zu einer Sensibilisierung der Jugendlichen bezüglich dieses Themas führt. Auf der anderen Seite steht in VaKE die individuelle Entwicklungsförderung in den Fakten- wie in den Wertebereichen im Vordergrund und ist theoretisch gut verankert, was im Fähigkeitenansatz nicht der Fall ist. Wie die Analyse im Kapitel 3 gezeigt hat, bestehen zwischen den beiden Ansätzen keine Gegensätze. Wo keine Übereinstimmung besteht, ist dies einerseits auf den unterschiedlichen Fokus und andererseits darauf zurückzuführen, dass jeweils ein Ansatz Lücken aufweist, die durch den anderen gefüllt werden können. Das bedeutet, dass sich die beiden Ansätze grundsätzlich ergänzen können. Für VaKE jedenfalls gilt, dass der Fähigkeitenansatz viele Ansatzpunkte für weitere Verbesserungen beinhaltet. - Erstens gilt dies im Bezug auf die verschiedenen Komponenten, die in Abbildung 2 dargestellt sind: VaKE zielt insbesondere auf die Entwicklung der Fähigkeiten im Sinne des Fähigkeitenansatzes ab - also als »opportunity set of achievable functioning« -, die anderen Komponenten werden bezüglich der Rahmenbedingungen der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler demgegenüber nur vereinzelt berücksichtigt. So fanden viele VaKE Veranstaltungen in Sommerakademien mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus mehreren mittel- und osteuropäischen Ländern statt; der jeweilige Hintergrund kann in die Komponente oben rechts in der Abbildung 2 aufgenommen werden: als Teil der social institutions, der social and legal norms und insbesondere als
52 Vgl. dazu den »Social context« in Abbildung 2. 53 Die einzige diesbezügliche Anwendung betraf Ägypten (vgl. Ali, Impact). 54 Dies gilt nicht nur für die aktuellen Lebensbedingungen etwa in der Türkei (anlässlich einer Dilemma-Diskussion über den Bau eines Staudammes), sondern auch für historische Lebensbedingungen oder solche, die in der Literatur beschrieben werden (etwa Woyzeck, vgl. Weinberger et al., Woyzeck).
Values and Knowledge Education (VaKE)
113
Teil des many, many more. Ein Beispiel für Letzteres ist der Einfluss der Sprache 55: Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht-deutscher Muttersprache hatten in mehrfacher Hinsicht (hypothesengemäß) mehr Schwierigkeiten bei den Diskussionen auf Deutsch als die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die in ihrer eigenen Muttersprache debattieren konnten. - Zweitens können Themen des Fähigkeitenansatzes problemlos zum Thema von VaKE Einheiten gemacht werden. Sen hat das Konzept ja angesichts schwerwiegender Probleme in der Welt konzipiert, die auf Konflikten zwischen Werten beruhen - also auf Dilemmata. Um diese aber kompetent diskutieren zu können, müssen die entsprechenden Informationsgrundlagen bekannt sein, etwa die Bruttonationalprodukte verschiedener Länder (u.a. Entwicklungsländer) und dazu muss man wissen, was das BNP ist, etc. Für eine VaKE Einheit wäre dies also ideal. - Drittens schließlich kann man die VaKE Einheiten als Verwirklichung einiger Elemente des Fähigkeitenansatzes im Kleinen ansehen. Insbesondere das »achievable functioning« (vgl. Abb. 2) ist in VaKE Prozessen möglich, einerseits weil es die Rahmenbedingungen (»social influences on decision making«) zulassen, andererseits weil die Teilnehmerinnen und Teilnehmer über einige relevante Fähigkeiten verfügen und diese angemessen einsetzen können (insbesondere »practical reasoning, affiliation, other species, control over one´s environment«)56. Die Befassung mit dem Fähigkeitenansatz hat sich also für VaKE als äußerst fruchtbar erwiesen, und die entsprechenden Überlegungen sollen in die Weiterentwicklung einfließen. Umgekehrt kann m.E. VaKE auch für den Fähigkeitenansatz wertvolle Hinweise geben, vor allem wenn es darum geht, entsprechende Fähigkeiten und Umsetzungsmöglichkeiten nicht nur zu fordern, sondern Möglichkeiten zu formulieren, diese auch beim Einzelnen zu entwickeln.
55 Patry, Jean-Luc/Weyringer, Sieglinde/Weinberger, Alfred (2007): Values and Knowledge Education (VaKE) in European summer camps for gifted students: Native vs. non-native speakers. Paper read at the 12th Biennial Conference of the European Association for Research on Learning and Instruction (EARLI) in Budapest 2007. 56 Die Fähigkeiten wurden aus den Arbeiten von Nussbaum übernommen, weil ihre Liste nicht so offen ist wie die Listen bei Sen.
114
Jean-Luc Patry
Literatur Ali, Sahar Nabil Abbas (2006): The Values and Knowledge Education (VaKE) approach and its impacts on teaching and moral judgment competences of pre-service primary school science teachers. Dissertation, University of Salzburg. Berkeley, George (1998): A treatise concerning the principles of human knowledge. Oxford: Oxford University Press. Blatt, M./Kohlberg L. (1975): The effects of classroom moral discussion upon children´s level of moral judgement. In: Journal of Moral Education, 4, 129-161. Bloom, Benjamin S./Englehart, Max D./Furst, Edward J./Hill, Walker H./Krathwohl, David R. (1956): Taxonomy of educational objectives. The classification of educational goals. Handbook I: Cognitive domain. New York: Longmans Green. Bruner, Jerome S. (1957): On perceptual readiness. In: Psychological Review, 64, 123-152. Cognition and Technology Group at Vanderbilt (1990), Anchored instruction and its relationship to situated cognition. In: Educational Researcher, 19/6, 2-10. Colby, Anne/Kohlberg, Lawrence (1987): The measurement of moral judgement. Vol 1: Theoretical foundations and research validation. Cambridge: Cambridge University Press. Colby, Anne/Kohlberg, Lawrence/Gibbs, John/Lieberman, Marcus (1983): A longitudinal study of moral judgment (Monographs of the Society for Research in Child Development, 48, Nos. 1-2; Serial No. 200). Chicago: University of Chicago Press. Copei, Friedrich (1962): Der fruchtbare Moment im Bildungsprozess, 6. Auflage. Heidelberg: Quelle & Meyer. Deneulin, Séverine/Shahani, Lila (eds.) (2009): An introduction to the human development and capability approach. Freedom and agency. London: Earthscan. Donovan, James M. (2007): Human nature constraints. Upon the realistic utopianism of Rawls and Nussbaum. http://works.bepress.com/cgi/viewcontent.cgi?article=1047&context=james_donovan (30. November 2009) Gastager, Angela/Weinberger, Alfred (2009): Zur Wirksamkeit von Teamwork in einer innovativen Lernumgebung im Schulunterricht. In: Empirische Pädagogik, 23, 249-276. Glasersfeld, Ernst von (1995): Radical constructivism: A way of knowing and learning. London: The Farmer Press. Groeben, Norbert/Wahl, Diethelm/Schlee, Jörg/Scheele, Brigitte (1988): Forschungsprogramm subjektive Theorien. Eine Einführung in die Psychologie des reflexiven Subjekts. Tübingen: Francke. Gruber, Michael (2010): Hindernisse schulischer Werteerziehung aus Lehrersicht. Bestandsaufnahme und Empfehlungen. In: Zierer, Klaus (Hrsg.), Kompendium Schulische Werteerziehung (Arbeitstitel) (im Druck). Hörtenhuber, Birgit Anna (2008): VaKE im Kindergarten. Bacherlor-Arbeit, Universität Salzburg, Fachbereich Erziehungswissenschaft.
Values and Knowledge Education (VaKE)
115
Kant, Immanuel (1989): Kritik der reinen Vernunft. Kritik der praktischen Vernunft. Kritik der Urteilskraft. (Hrsg. v. Gottfried Martin). Stuttgart: Reclam. Kohlberg, Lawrence (ed.) (1981): Essays on moral development. Vol. 1: The philosophy of moral development. Moral stages and the idea of justice. San Francisco: Harper & Row. Kohlberg, Lawrence (1981): From is to ought: How to commit the naturalistic fallacy and get away with it in the study of moral development In: Kohlberg, Lawrence (ed.), Essays on moral development. Vol. 1: The philosophy of moral development. Moral stages and the idea of justice. San Francisco: Harper & Row, 101-189. Kohlberg, Lawrence (ed.) (1984): Essays on moral development, Vol. 2: The psychology of moral development. San Francisco: Harper & Row. Kohlberg, Lawrence (1985): The Just Community approach to moral education in theory and practice. In: Berkowitz Marvin W./Oser, F. (eds.), Moral education: Theory and application. Hillsdale, NJ: Erlbaum, 27-87. Nussbaum, Martha (2001): Women and equality. The capabilities approach. In: Loutfi, Martha Fetherolf (ed.), Women, gender and work. What is equality and how do we get there? Geneva: International Labour Office, 45-65. Nussbaum, Martha (2006): Frontiers of justice. Disability, nationality, species membership. Cambridge: Harvard University Press. Patry, Jean-Luc (1991): Transsituationale Konsistenz des Verhaltens und Handelns in der Erziehung. Bern: Lang. Patry, Jean-Luc (2000): Werterziehung und Wissensbildung - lässt sich das vereinigen? In: Metzger, Christoph/Seitz, Hans/Eberle, Franz (Hg.), Impulse für die Wirtschaftspädagogik. Festschrift zum 65. Geburtstag von Prof. Dr. Rolf Dubs. Zürich: Verlag des Schweizerischen Kaufmännischen Verbandes, 423-440. Patry, Jean-Luc (2001): Die Qualitätsdiskussion im konstruktivistischen Unterricht. In: Schwetz, Herbert/Zeyringer, Manuela/Reiter, Anton (Hg.), Konstruktives Lernen mit neuen Medien. Beiträge zu einer konstruktivistischen Mediendidaktik. Innsbruck: StudienVerlag, 73-94. Patry, Jean-Luc/Weinberger, Alfred (2004): Kombination von konstruktivistischer Werterziehung und Wissenserwerb. In: Salzburger Beiträge zur Erziehungswissenschaft, 8/2, 35-50. URL http:// www.sbg.ac.at/erz/salzburger_beitraege/herbst2004/patry_weinberger_04_2.pdf (07. Februar 2006). Patry, Jean-Luc/Weyringer, Sieglinde/Weinberger, Alfred (2007): Combining values and knowledge education. In: Aspin, David N./Chapman, Judith D. (eds.), Values education and lifelong learning. Dordrecht: Springer, 160-179. Patry, Jean-Luc/Weyringer, Sieglinde/Weinberger, Alfred (2007): Values and Knowledge Education (VaKE) in European summer camps for gifted students: Native vs. non-native spea-kers. Paper read at the 12th Biennial Conference of the European Association for Research on Learning and Instruction (EARLI) in Budapest 2007.
116
Jean-Luc Patry
Patry, Jean-Luc/Weinberger, Alfred/Weyringer, Sieglinde (2010): Fächerübergreifende Ansätze: Atmosphäre, Dilemma-Diskussionen, VaKE und Just Community. In: Zierer, Klaus (Hg.): Kompendium Schulische Werteerziehung (Arbeitstitel) (im Druck). Patry, Jean-Luc/Weyringer, Sieglinde/Weinberger, Alfred (2010): Kombination von Moral- und Werterziehung und Wissenserwerb mit VaKE - wie argumentieren die Schülerinnen und Schüler? In: Latzko, Brigitte/Malti, Tina (Hg.), Moralentwicklung und -erziehung in Kindheit und Adoleszenz (Arbeitstitel). Göttingen: Hogrefe (im Druck). Piaget, Jean (1976): Die Äquilibration der kognitiven Strukturen. Stuttgart: Klett. Popper, Karl R. (1965): Conjectures and refutations. The growth of scientific knowledge, 2d. ed. New York: Basic Books. Putnam, Hilary (1996): Realism and reason (first published 1983). Cambridge: Cambridge University Press. Renkl, Alexander (1996): Träges Wissen: Wenn Erlerntes nicht genutzt wird. In: Psychologische Rundschau, 47, 78-92. Richardson, Kenneth D./Cialdini, Robert B. (1981): Basking and blasting: Tactics of indirect self-presentation. In: Tedeschi, James T. (Ed.), Impression management theory and social psychological research. New York: Academic Press, 41-53. Robeyns, Ingrid (2005): The Capability Approach: A Theoretical Survey. In: Journal of Human Development, 6, 93-114. URL: http://omega.cc.umb.edu/~pubpol/documents/RobeynsJHDoncapabilities.pdf (24. November 2009). Salomon, Gavriel (1992): The changing role of the teacher: From information transmitter to orchestrator of learning. In: Oser, Fritz/Dick, Andreas/Patry, Jean-Luc (eds.), Effective and responsible teaching: The New Synthesis. San Francisco: Jossey-Bass, 35-49. Sen, Amartya (2002): Capability and well-being. In: Nussbaum, Martha/Sen, Amartya (eds.), The quality of life (reprinted in 7th edition). Oxford: Oxford University Press, 30-53. Sen, Amartya K. (2005): Development as freedom. Deutsch Ökonomie für den Menschen: Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft. Ungekürzte Ausg., 3. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Weinberger, Alfred (2006): Kombination von Werterziehung und Wissenserwerb. Evaluation des konstruktivistischen Unterrichtsmodells VaKE (Values and Knowledge Education) in der Sekundarstufe I. Hamburg: Kovac. Weinberger, Alfred (2007): Gewaltprävention durch positives Sozialklima: die »Just Community« auf Klassenebene. In: Erziehung und Unterricht, 157, 788-795. Weinberger, Alfred/Kriegseisen, Gerhard/Loch, Alexander/Wingelmüller, Petra (2005): Das Unterrichts modell VaKE (Values and Knowledge Education) in der Hochbegabtenförderung: Der Prozess gegen Woyzeck. In: Salzburger Beiträge zur Erziehungswissenschaft, 9, 1/2, 23-40. http://www. sbg.ac.at/erz/salzburger_beitraege/fh_2005/Weinberger%20et%20al..pdf (21. November 2009). Weyringer, Sieglinde (2008): Die Anwendung der VaKE-Methode zur Entwicklung eines Europäischen Bürgerbewusstseins - dargestellt am Platon Jugendforum. Dissertation an der Universität Salzburg, Fachbereich Erziehungswissenschaft.
Soziale Arbeit und das gute Leben Capabilities als sozialpädagogische Kategorie Holger Ziegler
1. Gerechtigkeit und Soziale Arbeit Soziale Gerechtigkeit gilt als ein zentraler Wert der Sozialen Arbeit. Geht man davon aus, dass die Lebensaussichten von Individuen der Gegenstand einer gerechten Verteilung sind, so lässt sich argumentieren, dass es für die Soziale Arbeit typisch sei, diese Lebensaussichten im Sinne des Wohlergehens oder eines gelingenden Lebens ihrer AdressatInnen in den Blick zu nehmen. Sofern dies zutrifft, ist die Frage nach sozialer Gerechtigkeit für die Soziale Arbeit mit der Frage nach dem »guten Leben« verknüpft. Eine Metrik der Gerechtigkeit, die einen Begriff des guten Lebens fokussiert, unterscheidet sich von Ansätzen, die die Verfügung über »Grundgüter« (Rawls) oder eine Gleichheit von Ressourcen (Dworkin) als Maßeinheit zur Bestimmung einer gerechten Verteilung von Lebensaussichten vorschlagen. In der Tat steht der sozialarbeitstypische Fokus auf ein gutes Leben in einem Spannungsverhältnis zu liberalen Programmen sozialer Gerechtigkeit, die den Vorrang des Rechten vor dem Guten betonen (vgl. Rawls 1975). Die liberale Formulierung von Gerechtigkeit richtet sich im Wesentlichen auf die Umstände menschlichen Lebens, d.h. die formalen und materiellen Bedingungen der Lebensaussichten der Betroffenen.1 Darüber hinaus gilt das Verdikt »Individuum est ineffabile« (vgl. Kersting 1997). Unterstellt man jedoch, dass Soziale Arbeit eine gesellschaftliche Einrichtung ist, deren Aufgabe in der Förderung bestimmter - d.h. nicht beliebiger - Formen der Lebensführung, Fähigkeiten und Persönlichkeitszustände besteht (vgl. Oelkers et al. 2008), so stößt dieses liberale
1
Soziale Gerechtigkeit aus der liberalen Perspektive, so erläutert Fleurbaey, Marc (2008: 7) »consists in allocating resources in a fair way, letting individuals make use of the resources at their disposal according to their own conception of the good life. If one ignores differences in internal resources (talent, disabilities), the fair distribution is that which maximizes the smallest share of resources - the market valuation appearing the most convenient for the comparison of resource shares.«
C. Sedmak et al., Der Capability-Approach in sozialwissenschaftlichen Kontexten, DOI 10.1007/978-3-531-92749-7_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
118
Holger Ziegler
Gebot an Grenzen. Der liberalen Perspektive auf Gerechtigkeit geht es vor allem um den »Einfluss institutioneller Umstände auf individuelle Lebensführungen« (Kersting 1997: 76). Dieser gilt normativ-politisch nur insofern als bedeutsam, wie er »die Lebenschancen derjenigen bestimm[t …], die in […seinem] Schatten leben, wie […er] also nicht individuell-biographisch, sondern Standard-biographisch wirksam« (Kersting 1997: 76) ist. In diesem Sinne fokussiert die liberale Perspektive offensichtlich eher die »ökonomischen« und »rechtlichen«, als die »pädagogischen Interventionen« des Wohlfahrtsstaats (vgl. Kaufmann/ Rosewitz 1983). Begründen lässt sich mit der liberalen Formulierung von Gerechtigkeit demnach zwar die Absicherung »materieller Standardrisiken durch sozialversicherungsförmig organisierte Sicherungssysteme« (Olk/Otto 1987: 6). Eine sozialpädagogische Wohlfahrtsproduktion, die darauf gerichtet ist, Motivationen, Orientierungen und Kompetenzen und d.h. Personen zu verändern, steht demgegenüber in einem immanenten Spannungsverhältnis zu liberalen Prämissen. Sofern soziale Ungleichheiten ihre praktische Relevanz aber nicht nur hinsichtlich des Ausmaßes an Gütern und Ressourcen entfalten, über die Individuen verfügen, sondern vor allem durch ihre Wirkungen auf das Leben, das Menschen leben möchten, und die Dinge, Beziehungen und Praktiken, die sie wertschätzen (vgl. Sayer 2005: 117), scheint der Fokus auf rein äußere Bedingungen von Lebensaussichten unzureichend. Denn es ist kaum zu bezweifeln, dass individuelle Menschen unterschiedliche Möglichkeiten haben, ihre Mittel und Ressourcen effektiv zu nutzen, um ein Leben nach ihren Vorstellungen zu realisieren. Auf die Realisierungsmöglichkeiten eines gelingenden Lebens wirken offensichtlich Varianzen der natürlichen und kulturellen Umwelt sowie ein ganzes Bündel von Unterschieden in der körperlichen und geistigen Konstitution ein (vgl. Roemer 1998; Sen 2009). Wenn solche Variationen der empirische Normalfall sind, während der »normalfunktionierende Bürger« ein Ausnahmefall ist, der - falls überhaupt - nur auf bestimmte Zeitspannen im Leben einiger Menschen zutrifft, ist es für Gerechtigkeitsurteile nicht ausreichend, lediglich die Mittel in den Blick zu nehmen (vgl. Oelkers et al. 2010) und von Individuen »mit einer konkreten Geschichte, Identität und affektiv-emotionalen Verfassung« (Benhabib 1989: 460) zugunsten einer Konstruktion ›austauschbarer Individuen‹ zu abstrahieren2. Sofern davon auszugehen ist, dass unterschiedlich viele Ressourcen von Menschen benötigen werden, um als Gleiche auftreten zu können, ist eine gerechte
2
Diese austauschbaren Individuen sind nun nicht einfach »neutral citizen«, sondern, wie eine ganze Reihe von KritikerInnen verdeutlicht hat, erwachsene »bearer of an identity coded white, male, bourgeois, able-bodied, and heterosexual« (Heyes 2002).
Soziale Arbeit und das gute Leben
119
Verteilung von Lebensaussichten nicht nur auf standard-biographisch modellierbare politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Institutionen verwiesen, sondern wird erst mit Blick auf konkrete, individuelle Biographien und Lebensführungen empirischer Individuen wirksam. Es spricht also viel dafür, auch Deutungen, Motive und Aspirationen sowie emotionale, praktische und kognitive Fähigkeiten als relevante Informationsbasis für Gerechtigkeitsurteile zu formulieren. Mit Blick auf diese internen Fähigkeiten ist neben einer Gestaltung gerechter Basisinstitutionen einer wohlgeordneten Gesellschaft (vgl. Rawls 1975) und anderer objektiver Merkmale der Lebensordnung und Verteilung von Lebenschancen auch die Frage einer Bearbeitung von Lebensführung bedeutsam, die auf personale Bewältigungsstrategien bzw. eine »Änderung des physischen und psychischen Status von Personen« (Olk/Otto 1987: 7) zielt. Diese Bearbeitung ist der Gegenstand Sozialer Arbeit, der vor allem dort eine wesentliche Rolle zukommt, wo es nicht nur um »Umverteilung von Geld, sondern um die mittel- und langfristige Änderung einer Kultur, also von Haltungen, Einstellungen und symbolisch artikulierten Lebensentwürfen geht« (Brumlik 2007: 82). Für die Frage der Gerechtigkeit im Feld der Sozialen Arbeit scheint daher eine Perspektive auf Gerechtigkeit geboten, die die Vielschichtigkeit und Diversität menschlicher Lebenspraxis und vor allem die sozialen Möglichkeitsbedingungen und »ethische[n] Voraussetzungen der Sicherung von Individualität« (Sturma 2000: 272) zum Gegenstand hat, die den Kernbereich Sozialer Arbeit markieren (vgl. Winkler 1988)3. Diese Perspektive scheint vor allem an Ansätze anschlussfähig, die die Möglichkeit von Wohlergehen und die Möglichkeiten der Verwirklichung eigener Lebensentwürfe als Maßeinheit sozialer Gerechtigkeit formulieren 4 (vgl. Arneson 1990; Cohen 1989, 1990; Roemer 1998) und damit »a conception of well-being (good life) rather than as a specification of the goods with which justice is concerned« (Vallentyne 2005: 360).
3 4
Es geht, wie es Winkler (1988) formuliert, um die Aneignung und Realisierung von Subjektivität im Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft. Dies gilt insbesondere für aristotelische Perspektiven, aber im Prinzip auch für solche, die sich auf subjektives Wohlbefinden richten. Hier treten »die von den Betreffenden selbst abgegebenen Einschätzungen über spezifische Lebensbedingungen und über das Leben im allgemeinen [in den Mittelpunkt]. Dazu gehören insbesondere Zufriedenheitsangaben, aber auch generelle kognitive und emotionale Gehalte wie Hoffnungen, Ängste, Glück und Einsamkeit, Erwartungen und Ansprüche, Kompetenzen und Unsicherheiten, wahrgenommene Konflikte und Prioritäten.« (Zapf 1984: 23)
120
Holger Ziegler
2. Die Erfassung menschlichen Wohlergehens Doch wie lässt sich Wohlergehen oder das gute Leben konzeptionell erfassen? Hierzu finden sich zwei grundlegende Perspektiven: Die hedonistischen bzw. ›wunschtheoretischen‹ Perspektiven auf Wohlergehen stellen die prudentiellen Dimension des erlebten Wohlbefindens bzw. die Befriedigung subjektiver Präferenzen in den Mittelpunkt. Wohlergehen wird dabei hinsichtlich der »ratio of positive to negative feelings« (Myers 2004: 522), d.h. als ein Zustand formuliert, in dem die empfundene Zufriedenheit oder Freude der Subjekte ihr Leid überwiegt (vgl. Bentham 1996 [1789]). So genannte eudaimonistische Sichtweisen stellen demgegenüber wünschenswerte Realisierungen menschlicher Entfaltungspotenziale in den Mittelpunk. Wohlergehen ist hier ein Element praktischer Lebensführung im Sinne komplexer Zustände, Handlungsweisen und -ziele, die auf ein ›objektiv‹ erfülltes, gedeihliches Leben (›human flourishing‹) verweisen (vgl. Arneson 1999). »The central feature of well-being«, argumentiert etwa Amartya Sen (1985: 200), im Sinne einer modernen eudaimonistischen Perspektive, sei »the ability to achieve valuable functionings 5. The need for identification and valuation of the important functionings cannot be avoided by looking at something else, such as happiness, desire fulfillment, opulence, or command over primary goods.« (Sen 1985: 200) In der gegenwärtigen sozial- und humanwissenschaftlichen Debatte überwiegen hedonistische Perspektiven auf Wohlergehen. Dies kann vor dem Hintergrund der Probleme einer eudaimonistischen Formulierung von Wohlergehen nicht verwundern. Denn mit Objektivitätsansprüchen versehene, inhaltliche Ausformulierung menschlichen Wohlergehens stellen häufig die - moralisch »elitäre« (vgl. Rawls 1975) - Legitimation konservativer politisch-pädagogischer Versuche einer Kultivierung des Charakters und der Einübungen in das ›Sich-gut-Verhaltens‹ tugendhafter Individuen dar. Letzen Endes lassen sich Versuche, Individuen zu einer bestimmten Konzeption des guten Lebens zu zwingen, als perfide Form des Despotismus verstehen. Gegenüber der anti-pluralistischen Anmaßung aus einer ›Beobachterperspektive‹ über das Gute und die menschliche Vervollkommnung allgemeinverbindlich zu entscheiden und die Lebensziele beliebiger Einzelner von außen zu dekretieren (vgl. Habermas 1996: 44), besteht die hedonistische Perspektive darauf, dass die betroffenen Menschen selbst beurteilen sollen, welche Zustände und Lebensweisen sie als wünschenswert erachten: Die Beurteilun-
5
Functionings sind »beings and doings that people value and have reason to value« (Alkire 2008: 5).
Soziale Arbeit und das gute Leben
121
gen der Qualität des eigenen Lebens »must be in the eye of the beholder« (Campbell 1972: 442). Diese Perspektive mündet konsequenterweise im Verdikt, dass die »only defensible definition of quality of life (…) a general feeling of happiness« (Milbrath 1978: 36) sei. Eine solche subjektive Konzeption von Wohlergehen hat entscheidende Vorteile. Sie verspricht der Pluralität moderner Gesellschaften sowie der Tatsache Rechnung zu tragen, dass Vorstellungen eines guten Lebens »nicht allgemeingültig sind, sondern Personen in ihrer Individualität kennzeichnen und deshalb unaufhebbar partikular sind« (Brumlik 1999: 15). Im Kontext der sozialpädagogischen Praxis stellt diese Position den normativen Hintergrund der Kritik an monologischen, expertokratischen und/oder wohlfahrtsbürokratisch verordnenden Formen der Interpretation von Bedürfnissen der betroffenen Subjekte dar 6. In diesen Kontext gehört auch die Forderung, Leistungen der Sozialen Arbeit aus NutzerInnensicht bzw. mit Blick auf den subjektiv wahrgenommenen Nutzen und d.h. in letzter Instanz mit Blick auf den Beitrag Sozialer Arbeit zum subjektiven Wohlbefinden ihrer AdressatInnen zu evaluieren 7 (kritisch: Schrödter 2007). Eine Konjunktur der Forschung zu subjektivem Wohlergehen findet sich gegenwärtig jedoch vor allem im Kontext der Psychologie und Ökonomie. So gilt etwa in der neueren ökonomischen Mikro-Theorie subjektive Lebenszufriedenheit als taugliche Proxy-Variable, um die mit Blick auf rationales Wahlhandeln entscheidende Kategorie des individuellen Nutzens zu erfassen (vgl. Frey/Stutzer 2002). Auch in der sozialwissenschaftlichen Wohlfahrts- und Sozialindikatorenforschung sind ›subjektive Lebensqualität‹, Zufriedenheit und
6
7
Darüber hinaus gewinnt die subjektive Konzeption menschlichen Wohlergehens vor dem Hintergrund der - empirisch indes kaum haltbaren - Vorstellung an Bedeutung, dass industriekapitalistische Strukturen der Ungleichverteilung objektiver Lebenschancen einer Vielfalt frei gewählter Lebensstile gewichen seien. Hierauf sei mit ›Life Politics‹ zu reagieren, in der den subjektiven Formulierungen von Wohlergehen die höchste politische Relevanz zuzusprechen sei. Es spricht viel dafür, die Kategorie des »subjektiven Nutzen« in den Kontext eines Fokus auf subjektives Wohlergehen einzuordnen. Ich halte, so argumentiert etwa Richard Easterlin (2003) »the terms wellbeing, utility, happiness, life satisfaction and welfare to be interchangeable«. Andere argumentieren, dass im Kontext des Diskurses um eine ›NutzerInnenprivilegierung‹ vor allem eine Art ethischer Prozeduralismus verfochten werde, in dem jedoch utilitaristische Argumentationsmuster latent wirksam bleiben und in letzter Instanz durchaus ähnliche Referenzen und Problematiken deutlich werden, wie in subjektiven Wohlfahrtstheorien (vgl. dazu Oelkers et al. 2008).
122
Holger Ziegler
Glück zu einem festen Bestandteil geworden 8. Entsprechende Skalen finden sich u. a. in maßgeblichen Befragungen wie dem Wohlfahrtssurvey, dem Euro-Barometer, dem World Value Survey und selbst dem sozio-oekonomischen Panel (SOEP).
3. Subjektives Wohlergehen in der empirischen Forschung Im Kontext der empirischen Glücksforschung findet sich eine kaum überschaubare Zahl von Glücks- und Zufriedenheitsskalen, die subjektiv empfundenes Glück als eine einzige, metrisch skalierbare Dimension in den Blick nehmen, die die unterschiedlichsten Formen des Gut- und Schlechtfühlens umfasst. Subjektive Zufriedenheit erweist sich dabei als eine empirisch valide messbare Formulierung von Wohlergehen. Ein wesentliches Ergebnis der Forschungen zu subjektiver Zufriedenheit ist sicherlich das so genannte ›Income-Happiness Paradox‹. Dies verweist darauf, dass es - wenn überhaupt - nur einen schwachen Zusammenhang zwischen materiellem Wohlstand und subjektivem Glück gibt (vgl. Easterlin 1974, 1995; Oswald 1997). Trotz der gewaltigen Entfaltung der Produktivkräfte des wirtschaftlichen Wachstums sowie einer bisher ungekannten Zunahme des Konsumniveaus und Wohlstands in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts habe sich der gesamtgesellschaftliche Mittelwert subjektiver Lebenszufriedenheit in den letzten dreißig Jahren praktisch nicht verändert. Vor allem in relativ wohlhabenden Gesellschaften bleibt das Niveau an Lebenszufriedenheit im Lebensverlauf von Individuen weitgehend stabil und wird langfristig nicht durch Steigerungen in Einkommen und Wohlstand beeinflusst (vgl. Kahneman et al. 2006). Insgesamt legen Studien nahe, dass die ökonomischen bzw. ressourcenbezogenen Verhältnisse von Menschen einen deutlich geringeren Einfluss auf ihre Lebenszufriedenheit haben als beispielsweise ihre sozialen Beziehungen und Bindungen (vgl. Heady 2006). Insofern scheint der Wert, den die Soziale Arbeit auf soziale und kommunikative Kompetenzen sowie auf die aktive Teilhabe am Gemeinschaftsleben legt, durchaus Bestätigung zu finden. Dass offenbar vor allem den lebensweltlichen, affektiven und symmetrischen (Freundschafts-)Beziehungen eine große Bedeutung für das subjektive Wohlbefinden zukommt (vgl. Ziegler 2010), ist als eine Bestätigung des Stellen-
8
Richard Layard (2006) geht so weit, das Herausfinden dessen, was subjektive Zufriedenheit fördert oder hemmt, als die Hauptaufgabe der Sozialwissenschaften insgesamt zu bestimmen.
Soziale Arbeit und das gute Leben
123
werts jener Form des ›Sozialkapitals‹ interpretiert worden (vgl. Helliwell/Putnam 2005), dem auch z.B. im Kontext einer ›sozialräumlichen Orientierung‹ in der Sozialen Arbeit hohe Relevanz zugewiesen wird. So weisen auch die Ergebnisse einer in der AG Soziale Arbeit der Universität Bielefeld durchgeführten Untersuchung in ›sozial benachteiligten‹ Stadtteilen darauf hin, dass das nicht formelle, lokale Sozialkapital in einer deutlichen Beziehung zur subjektiven Lebenszufriedenheit steht (vgl. Tabelle 1)
Standardisierte Beta-Koeffizienten Sozio-ökonomischer Status
.055 (ns)
Alter
.061 (ns)
›lokales Kapital‹ 9
.312 **
Zeit verbringen mit FreundInnen, Bekannten, KollegInnen etc. (›weak ties ‹)
.108 *
Zeit verbringen mit Familie und Verwandten (›strong ties‹ )
.118 **
* Signifikant auf dem Niveau von 0,05; ** Signifikant auf dem Niveau von 0,01
Tabelle 1: Lineare Regression zur subjektiven Zufriedenheit (eigene Besprechung der Daten des DFG-Forschungsprojekts ›Räumlichkeit und soziales Kapital in der Sozialen Arbeit‹ N = 491)
9
Lokales Kapital ist ein Faktor, der das Ausmaß beschreibt, in dem Menschen in ihre Nachbarschaft eingebettet sind und dort Solidarität und die Abwesenheit von Konflikten wahrnehmen. Er umfasst die Zustimmung zu folgenden Einzelitems bzw. Aussagen: ›Ich fühle mich in [Ort] ›zu Hause‹ ?‹ »Wenn Sie in [Ort] unterwegs sind, z.B. einkaufen oder spazieren gehen, wie wahrscheinlich oder unwahrscheinlich ist es, dass Sie dabei dann Freunde und Bekannte treffen? »Ich bin ein wichtiger Teil meiner Nachbarschaft.« »Die Menschen hier helfen sich gegenseitig.« »Hier kennen sich die Menschen gut.« »Die Menschen hier halten zusammen.« »Die Menschen hier kommen schlecht miteinander aus.« »Die Menschen hier haben keine gemeinsamen Werte.« und »Die Menschen hier haben keinen Respekt vor Gesetz und Ordnung.« »Sie unterhalten sich mit Ihren Nachbarn.« »Sie und Ihre Nachbarn besuchen sich gegenseitig.« »Sie tun einem Ihrer Nachbarn
124
Holger Ziegler
Neben solchen Beziehungs- und Sozialkapitaldimensionen gelten in der empirischen Glücksforschung vor allem personale Eigenschaften und Persönlichkeitsindikatoren als die wesentlichen Prädikatoren subjektiver Lebenszufriedenheit. Ferner weisen Studien darauf hin, dass z.B. gläubige Menschen in der Regel zufriedener als AtheistInnen sind und auch die eheliche Form der Partnerschaft mit Zufriedenheit korreliert. Eindeutig ist auch ein starker negativer Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und subjektivem Wohlergehen (vgl. Clark/Oswald 1994; Di Tella et al. 2001; Winkelmann/Winkelmann 1998). Aus diesen Ergebnissen, so argumentiert etwa das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend »können klare Handlungsempfehlungen für die Politik abgeleitet werden, wie zum Beispiel die aktivierende Arbeitsmarktpolitik ›Welfare to Work‹« aber auch die Stärkung von »bürgerschaftliche[m] Engagement und soziale[m] Kapital« (BMFSFJ 2009: 14, 13). Darüber hinaus verträgt sich die subjektive Formulierung von Wohlbefinden offensichtlich gut mit individualistischen und kulturalistischen Diskursen über soziale Ungleichheit und der damit legitimierten Umgestaltungen des Sozialstaats. Paradigmatisch hierfür steht die von Anthony Giddens als ›positive welfare‹ geforderte Form der Sozialpolitik, die nicht zuletzt sozialpädagogischen Interventionslogiken folgt. Ein in »mental-health terms« definiertes Konzept von »wellbeing« fungiert dabei als »core principle around which a new vision of positive welfare could be organised« (Hoggett 2000: 145) und liefert die Basis einer Wohlfahrtsproduktion, die »nicht darauf [zielt], dass man die äußere Welt beherrscht, sondern dass man sein Innenleben in den Griff bekommt« (Giddens 1997: 244) und so weit gegen äußere Umstände resistent wird, dass man selbst noch »trostlosen Lebensbedingungen befriedigende oder gar bereichernde Erfahrungen abzugewinnen« (Giddens 1997: 246) vermag. Während sich liberale Formulierung von Gerechtigkeit (etwa von Rawls oder Dworkin) im Wesentlichen auf die Umstände menschlichen Lebens konzentrieren, rückt diese für die VertreterInnen subjektiven Wohlergehens in den Hintergrund. Einige ForscherInnen argumentieren, dass äußeren Lebensumständen - seien dies Einkommen und materieller Besitz, Zivilstatus, Wohnortfaktoren oder das meterologische Klima - zusammengenommen eine Varianzaufklärung von 15-20 % des subjektiven Wohlergehens zuzuschreiben seien, andere halten den (langfristigen) Einfluss jener objektiver Lebensumstände für gänzlich vernachlässigbar (vgl. Veenhoven 2007). In jedem Falle scheint für eine Gestaltung öffentlicher Wohl-
einen Gefallen.« »Einer Ihrer Nachbarn tut Ihnen einen Gefallen.« »Sie und Ihre Nachbarn leihen sich gegenseitig Werkzeug oder Lebensmittel oder andere Dinge aus«.
Soziale Arbeit und das gute Leben
125
fahrt nach den Prämissen einer Steigerung subjektiven Wohlergehens eine sozialstaatliche Ressourcenumverteilung nicht den probaten Weg zur ›Geatest Happiness‹ zu beschreiben. Es ist nicht verwunderlich, dass ProtagonistInnen der ›Neuen Rechten‹ die Ergebnisse der Glücksforschung aufgreifen und gegen wohlfahrtstaatliche Politiken in Stellung bringen. Die Interpretation lautet dann, dass soziale Ungleichheit ein viel »kleineres Problem in modernen Gesellschaften zu sein scheint, als die meisten Soziologen glauben« (Veenhoven 2007: 8). Dabei wird zwar nicht bestritten, dass sich die soziale Ungleichheit in der Verfügung materieller Ressourcen in den letzten Jahrzehnten deutlich erhöht hat, aber diesem Faktum wird wenig Relevanz beigemessen, da der Blick auf materielle Ressourcen eine beschränkte Perspektive impliziere. Denn die gängigen relativen Ungleichheits- und Armutskonzepte würden verkennen, dass Lebensglück nicht unbedingt mit materiellen Ressourcen zusammenhängt (vgl. Miebach 2005). Sie würden sich auf die falsche Surrogatebene der Mittel reduzieren, welche jedoch nur indirekte und irreführende Indikatoren für etwas anderes, nämlich Wohlergehen und Glück, seien. Zieht man nun ultimativen ›Outcome‹ - das Wohlbefinden - als den unmittelbar relevanten Maßstab von Ungleichheit heran, habe sich Ungleichheit keinesfalls erhöht. Vielmehr scheinen die zwanzig Jahre Neo-Liberalismus zu einem historisch bisher unbekannten Maß an Gleichheit geführt zu haben (vgl. Veenhoven 2005). Der Wohlfahrtstaat habe allerdings wenig hierzu beigetragen: Weder die Reichweite sozialer Rechte noch das Ausmaß wohlfahrtstaatlicher Umverteilung, noch der Grad an Universalismus in den Zuteilungslogiken von Wohlfahrtsleistungen beeinflusse das subjektive Wohlergehen (vgl. Veenhoven 2005, 2007). Die Ergebnisse einer solchen ›ungleichheitsanalytischen‹ Wohlergehensforschung sprächen, so betonen ihre ProtagonistInnen, klar gegen eine sozial-demokratische Agenda. Sie legen stattdessen zweifelsfrei nahe, »that increasing income inequality can go together with decreasing inequality in happiness and this conclusion provides moral support for governments developing modern market economics« (Ott 2005: 397). Auch die Forschungen der Deutschen Bank legen nahe, dass - im Nationenvergleich - ein geringer Schutz von Arbeitsplätzen und deregulierte Märkte (»extensive economic freedom«) positiv mit Zufriedenheit korrelieren (vgl. Bergheim 2007). Als Argumente für eine Verstärkung einer ›neo-liberalen‹ Gestaltung der Sozialpolitik werden auch andere Ergebnisse der empirischen Glücksforschung herangezogen. So beispielsweise Mihaly Csikszentmihalyis Konzept des ›Flow‹ (Csikszentmihalyi 1990). Flow-Erlebnisse fänden sich dann, wenn Menschen aus eigenen Kräften Aufgaben und Anforderungen meistern. Wesentlich sei dafür die Einsicht, dass das subjektive Glück in einem hohen Maße mit der »Disposition« der Menschen zusammenhänge »die Verantwortung für ihre eigenen Errungen-
126
Holger Ziegler
schaften und ihr eigenes Scheitern zu übernehmen« (Heady 2006: 22). Diese Deutung fügt sich ausgezeichnet in eine neo-liberale Umgestaltung der Sozialpolitik 10 (vgl. Ziegler 2008). Analytisch besteht ein zentrales Problem subjektiver Konzeptionen von subjektivem Wohlergehen darin, dass subjektive Bewertungsstandards, Präferenzen und Erwartungen ungleich verteilt sind und im Sinne habitueller Verinnerlichungen erlebter gesellschaftlicher Wirklichkeit systematisch durch soziale Privilegierungen und Benachteiligungen strukturiert werden. Dies ist eine solide Erklärung dafür, dass sich ›objektiv‹ widrige Lebensumstände oder ungünstige Lebenslagen nur wenig in Bewertungen des subjektiven Wohlbefindens der Betroffenen widerspiegeln. Die objektive Formbarkeit subjektiver Wertmaßstäbe impliziert zugleich, dass eine Bestimmung von Gerechtigkeit auf der Basis subjektiven Wohlergehens Ungleichheiten, Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse möglicherweise systematisch verschleiert. Sozialwissenschaftlich gibt es kaum Zweifel an der Existenz von Adaptions- bzw. Habituationsprozessen, d.h. Prozessen der Anpassungen von Ambitionen, Beurteilungsmaßstäben, Grundhaltungen, Empfindungen, Überzeugungen und ästhetischen Vorlieben an die eigenen ›objektiven‹ Lebenssituationen und -möglichkeiten (vgl. Olsaretti 2006). Zielsetzungen und Bedürfnisse von Menschen sind demnach keinesfalls einfach ›subjektiv‹, sondern zu den objektiven Chancen und sozialen Strukturen relationiert, die die Lebensführungspraktiken der Betroffenen strukturieren. Je länger sozial und materiell deprivierende Situationen andauern, desto stärker tendieren die Betroffenen dazu, ihre Aspirationen und Neigungen dieser Situation anzugleichen. Menschen mögen demnach auch in marginalisierenden Lebenslagen ein beachtlich hohes Maß an Zufriedenheit und Aspirationsbefriedigung angeben, dies geschieht jedoch häufig auf der Basis von »preferences that have adjusted to their second-class status« (Nussbaum 2003: 33). Gerade mit Blick auf die typischerweise wenig privilegierten AdressatInnen Sozialer Arbeit scheint die im wesentlichen utilitaristische, subjektive Wohlergehensmetrik der empirischen Glücksforschung daher unangemessen. Im schlechtesten Fall ist sie insofern zynisch, wie sie die »gesellschaftlich am tiefsten verankerten und wirksamsten Vorurteile gegenüber benachteiligten Gruppen [… bedient, nämlich] dass diese
10 So argumentieren z.B. Thomas Petersen und Tilmann Mayer (2005), dass der Ausbau von sozialen Rechten und Sicherungen das Wohlergehen nicht befördere, sondern durch eine Unterminierung von Eigenverantwortung und des Einsatzes der eigenen Kräfte eingeschränkt habe. Vor diesem Hintergrund sei ein Abbau von Sozialstaatlichkeit als ein wirksames Programm zur Steige rung des Glücks zu verstehen.
Soziale Arbeit und das gute Leben
127
eigentlich gar nicht so hohe Ansprüche an ihr Leben stellen und sich mit einem bescheidenen Lebensstandard letztlich sehr wohl zufrieden geben« (Groh/Keller 2001: 196). Politisch besteht das Ziel, subjektives Wohlbefinden in den Mittelpunkt öffentlicher Wohlfahrtsproduktion zu stellen demnach häufig darin, dass sich Wohlbefinden und subjektive Zufriedenheit auch durch eine systematische Minderung von Ansprüchen befördern lässt. BefürworterInnen einer solchen Bestimmung menschlichen Wohlergehens müssten konsequenterweise indifferent zwischen Politiken sein, die die Möglichkeiten der Menschen erhöhen oder ihre Ansprüche und Hoffnungen senken, sofern beide vergleichbare Wirkungen auf das subjektive Wohlbefinden haben. Wird diese Perspektive zum entscheidenden Evaluationskriterium erhoben, hätten soziale Programme und Interventionen, die die soziale Lage und Lebenschancen ihrer AdressatInnen nicht verbessern, aber deren soziale Erwartungen und Aspirationen senken, als ›objektiv erfolgreich‹ zu gelten, während Programme, die Lebenschancen verbessern aber zugleich auf (uneingelöste) Ansprüche verweisen und über verdeckt gebliebene Ungleichheiten aufklären, als ›objektiv erfolglos‹ zu betrachten wären. Konsequent zu Ende gedacht, legt die Metrik subjektiven Wohlergehens nahe, dass eine Verschleierung von Ungerechtigkeit und Unterdrückungsverhältnissen deren Aufhebung ethisch-politisch ebenbürtig sei. Für eine emanzipatorische Soziale Arbeit führt der Subjektivismus demnach systematisch in die Irre. Eine bemerkenswerte Alternative bietet demgegenüber eine auf »Capabilities« gerichtete Perspektive auf Wohlergehen.
4. Perspektiven des Capabilities Ansatzes Der Capabilities Ansatz als Grundlage einer sozialpädagogischen Perspektive auf menschliches Wohlergehen lässt sich zunächst als ein ›objektiver‹ Ansatz verstehen, der jedoch die Anmaßung vermeidet, aus der ›Beobachterperspektive‹ über das Gute beliebiger Anderer verbindlich zu entscheiden. Vielmehr fragen VertreterInnen dieses Ansatzes (…) aus der hypothetischen Perspektive eines beliebigen einzelnen, was es für sie oder ihn bedeuten kann, nach Wohlergehen und Glück zu streben und Leid, Not, Unglück (soweit es denn geht) zu vermeiden. Die Frage, der sie nachgehen, lautet weder: ›Was wollen die Leute wirklich?‹, auch nicht: ‚Was wäre für alle Menschen das Beste‹, sondern vielmehr, für ein beliebiges ›Ich‹: ›Was kann ich (im Vollzug meines Lebens) wollen?‹ (Seel 1998: 114).
128
Holger Ziegler
Für die öffentliche Wohlfahrtsproduktion geht es aus dieser Perspektive weder darum, Menschen zu einer bestimmten Form des Lebens und der Lebensführung zu drängen, noch darum, ihre Glücks- und Zufriedenheitsgefühle zu erhöhen, sondern um das Bestreben, »jedem Bürger die materiellen, institutionellen sowie pädagogischen Bedingungen zur Verfügung zu stellen, die ihm einen Zugang zum guten menschlichen Leben eröffnen und ihn in die Lage versetzen, sich für ein gutes Leben und Handeln zu entscheiden« (Nussbaum 1999: 24). Die Capabilities Forschung fokussiert nicht die Frage sozialer Gerechtigkeit der Verfügbarkeit über ungleiche Ressourcen, sondern die Aussicht auf die Realisierung eines »guten Lebens«, das ungleiche Ressourcen einer Person eröffnen können. Es geht demnach um die Entwicklung von Entfaltungsmöglichkeiten und Verwirklichungschancen der Individuen. Mit dem Begriff der Capabilities rückt demnach die Autonomie von Handelnden in Form ihres empirisch zu ermittelnden Spektrums effektiv realisierbarer und hinreichend voneinander unterscheidbarer Handlungsalternativen (um das Leben führen zu können, das sie mit guten Gründen erstreben) in den Mittelpunkt. Damit ergibt sich ein analytischer Ausgangspunkt, der der Pluralität von Werten und Lebensstilen moderner Gesellschaften Rechnung trägt und darauf verzichtet, Wohlergehen substanziell oder inhaltlich festzuschreiben und so auf die Lebensführung Dritter zu dekretieren. Im Zentrum der Analyse steht vielmehr das reale Vermögen von Menschen, für die eigene Konzeption eines guten Lebens wertvolle »Funktionen«, d.h. Tätigkeiten und Seinsweisen, praktisch realisieren zu können. Nicht selten wird der Begriff der Capabilities mit Kompetenzen oder Fähigkeiten übersetzt. Eine solche Übersetzung ist nicht falsch, aber sie droht in die Irre zu führen. Sachlich angemessener erscheinen Übersetzungen wie z.B. »Verwirklichungschancen«, »Entfaltungsmöglichkeiten« oder »Befähigungsgerechtigkeit«. Dabei geht es weniger um semantische Finessen, sondern um gegenstandsbezogene Grundfragen. Denn die Rede von Kompetenzen impliziert in der Regel individualisierende Deutungen, die dem Capabilities Ansatz kaum gerecht werden. Die theoretische Begründung von Capabilities besteht darauf, dass Verwirklichungschancen nicht auf individuelle Eigenschaften oder Dispositionen zu reduzieren sind, sondern auf das komplexe Zusammenspiel von Infrastrukturen, Ressourcen, Berechtigungen und Befähigungen verweisen (vgl. Andresen et al. 2007; Bonvin 2009). Die Capabilities-Perspektive geht davon aus, dass (…) individuelle Chancen (…) gesellschaftlich strukturiert [werden]: Ökonomische Ressourcen und institutionelle Anspruchsvoraussetzungen (›Umwandlungsfaktoren‹) bilden zusammen die kollektiven Unterstützungsstrukturen, von denen die Auswahlmenge an Verwirklichungschancen und die Wahlmöglichkeiten bei der individuellen Lebensführung abhängen. (Bartelheimer 2009: 51)
Soziale Arbeit und das gute Leben
129
Vor diesem Hintergrund ist es nicht unproblematisch, wenn z.B. der 13. Kinderund Jugendbericht (2009) die Metrik der Verwirklichungschancen (d.h. von Capabilities) in einen Zusammenhang mit anderen Konzepten, wie dem der Salutogenese, der Resilienz oder der Selbstwirksamkeit, stellt. Denn diese Konzepte scheinen sich vor allem auf die Frage zu beziehen, wie effektiv soziale Akteure in der Lage sind, sich an ungünstige Bedingungen anzupassen und handlungsfähig zu bleiben. Demgegenüber geht es der Capabilities-Perspektive gerade nicht um solche Adaptionsfähigkeiten, sondern um das Ausmaß an Verwicklungschancen, die bestimmte soziale Arrangements eröffnen oder verschließen. Die Capabilities-Perspektive macht darauf aufmerksam, dass Handlungsoptionen systematisch an verfügbare Ressourcen zurückgebunden sind, auch wenn Ressourcen die Varianz von realistisch realisierbaren Handlungsoptionen nicht alleine determinieren und Ressourcen nur in Form von »Capabilities« praktisch ungleichheitsrelevant werden. Ungleichheitsrelationen im Bezug auf Verwirklichungschancen beinhalten Ressourcen, weisen aber über eine ressourcenorientierte Perspektive hinaus, indem sie den Fokus auf »das Wirken strukturell verfestigter Machtpotentiale« (Kreckel 2006: 15) lenken. Über materielle Ressourcen zu verfügen, so das Argument aus der Capabilities Perspektive, sei zwar ohne Zweifel eine wesentliche Grundbedingung, aber eben nicht alleine dafür entscheidend, welche Lebenschancen und Entfaltungspotenziale unterschiedliche AkteurInnen lebenspraktisch auch tatsächlich realisieren können. Andere institutionelle, kulturelle - inklusive Fragen von politischer Kultur, die sich in solchen Aspekten wie demokratische Grundfreiheiten oder Möglichkeiten zur politischen Teilhabe niederschlagen können (vgl. Scholtes 2005) - und gesellschaftliche aber auch personale Aspekte erweisen sich hierfür als ebenso wesentlich. Statt auf Ressourcen - als Mittel zur Zielerreichung - solle sich der Blick daher auf die tatsächlich realisierbaren Funktionsweisen, d.h. auf die Kombinationen jener Tätigkeiten und Zustände einer Person richten, die diese begründet wertschätzt (vgl. Sen 1992). VertreterInnen des Capabilities-Ansatzes haben daher argumentiert, die Frage sozialer Ungleichheit mit Blick auf die Ungleichheit der Verteilung von tatsächlichen Handlungsbefähigungen und Verwirklichungschancen, d.h. von Capabilities, in den Blick zu nehmen. Auch die Frage der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung erhält über die analytischen Dimensionen der Capabilities eine fundamentale, normative Zieldimension. Dabei legt der Capabilities-Ansatz eine relationale Perspektive nahe. Denn diese Perspektive verlangt den materiell und institutionell strukturierten Raum gesellschaftlicher Möglichkeiten zu einem akteursbezogenen Raum individueller Bedürfnisse und Handlungsbefähigungen mit Blick auf die Ermöglichung einer
130
Holger Ziegler
selbstbestimmten Lebenspraxis in Beziehung zu setzen (vgl. Otto/Ziegler 2008). Im Sinne einer solchen relationalen Perspektive ist der Capabilities-Ansatz an die Soziale Arbeit besonders anschlussfähig, weil er - über materielle Aspekte hinaus - auch Anerkennungsverhältnissen und der Frage nach »Kultur« im Sinne von Haltungen, symbolisch artikulierten Lebensentwürfen und sinngebenden Praktiken eine systematische Bedeutung zuweist. Für die Soziale Arbeit angemessen ist die Capabilities-Perspektive auch deshalb, weil sie sich auf die Komplexität von Lebenswelten und Lebensführungen von leibhaftigen, mehr oder weniger abhängigen, verwundbaren AkteurInnen »mit einer konkreten Geschichte, Identität und affektiv-emotionalen Verfassung« (Benhabib 1989) bezieht. Dabei bietet die Capabilities-Perspektive einen evaluativen Rahmen für die Soziale Arbeit, der an verschiedene Theorien und analytische wie empirische sozialpädagogische Perspektiven anschlussfähig ist. Die Grundidee einer Bestimmung des Nutzens bzw. der Qualität Sozialer Arbeit aus einer Capabilities-Perspektive besteht darin, den Beitrag Sozialer Arbeit zur Erhöhung der Verwirklichungschancen ihrer AdressatInnen in den Blick zu nehmen. Eine wichtige analytische Unterscheidung ist dabei die zwischen »Funktionsweisen« und »Capabilities« (vgl. Nussbaum 2000a, 2006; Sen 1999). Funktionsweisen verweisen auf tatsächlich realisierte wertgeschätzte Zustände und Handlungen, die für das eigene Leben als wertvoll erachtet werden und die die Grundlagen der Selbstachtung nicht in Frage stellen. Bei den Capabilities geht es hingegen um die realen praktischen Freiheiten, sich für - oder gegen - die Realisierung von unterschiedlichen Kombinationen solcher Funktionsweisen selbst entscheiden zu können. Martha Nussbaum hat in einer überzeugenden Weise darauf Aufmerksam gemacht, dass sich ein gutes und vollständiges Leben menschlicher AkteurInnen letztlich zwar nicht nur in hypothetischen, potentiellen Optionalitäten, sondern nur in der Form des tatsächlich verwirklichten real gelebten Lebens manifestieren könne, aber es (…) für politische Zielsetzungen nichtsdestoweniger angemessen [sei], dass wir auf die Befähigungen zielen - und nur auf diese. Ansonsten muss es den BürgerInnen freigestellt sein, ihr Leben selbst zu gestalten. [... Denn] selbst wenn wir sicher wüssten, worin ein gedeihliches Leben besteht und dass eine bestimmte Funktionsweise dafür eine wichtige Rolle spielt, würden wir Menschen missachten, wenn wir sie dazu zwängen, diese Funktionsweise zu realisieren. (Nussbaum 2000a: 87f.)
Ein solcher Rekurs auf Capabilities als Zielgröße wohlfahrtsproduzierender Praxis verspricht für die Soziale Arbeit eine adressatInnenorientierte Perspektive zu eröffnen, die über die Frage subjektiver Zufriedenheit und Wunscherfüllung hin-
Soziale Arbeit und das gute Leben
131
ausgeht. In den Mittelpunkt rückt stattdessen das Ausmaß und die Reichweite des sozialpädagogisch eröffneten Spektrums effektiv realisierbarer und hinreichend voneinander unterscheidbarer Möglichkeiten und Handlungsbemächtigungen (vgl. Sturma 2000), über die AkteurInnen verfügen, um das Leben führen zu können, welches sie mit guten Gründen erstreben. Damit unterscheidet sich diese Perspektive auch von der konventionellen Wirkungs- und Evaluationsforschung, die in der Regel das Ausmaß messen, in dem pädagogische Interventionen ihre AdessatInnen zu vorab definierten und inhaltlich fixierten Daseins- und Handlungsweisen hin verändert haben. Die Frage nach den eröffneten Freiheits- und Autonomiespielräumen rückt hier jedoch in den Hintergrund, während sie aus einer Capabilities-Perspektive den wesentlichen Aspekt des Nutzens Sozialer Arbeit darstellt. Der Bestimmungs- und Evaluationsmaßstab aus einer Capabilities-Perspektive ist der Beitrag Sozialer Arbeit zur qualitativen und quantitativen Erweiterung des Raums an Möglichkeiten und Fähigkeiten ihrer AdressatInnen, sich für die Verwirklichung unterschiedlicher Handlungs- und Daseinsweisen entscheiden zu können, für die aus der Sicht des eigenen Lebensplans gute Gründe sprechen. Ein Problem der Capabilities Perspektive ist indes ihre potentielle Uferlosigkeit. So ist der Raum potentiell förderbarer Möglichkeiten und Fähigkeiten sehr vielfältig. Da jedoch nicht alle davon gleichermaßen fundamental sind, scheint es sinnvoll, einen Kernbereich von Capabilities zu begründen, die öffentliche Wohlfahrts- und Bildungsinstitutionen fördern sollten. Ein viel beachteter Vorschlag für eine solche Eingrenzung ist eine Liste, dem Anspruch nach universeller Basic-Capabilities, die Martha Nussbaum (2000a, 2006) begründet hat: Diese Liste von »Befähigungen«, die für ein erfülltes menschliches Leben notwendig seien, umfasst folgende zehn Aspekte (vgl. (Nussbaum, 1999: 57-58): 1. Die Fähigkeit, ein volles Menschenleben bis zum Ende zu führen; 2. Gesundheit insbesondere als Ernährung, Wohnen, Sexualität und Mobilität; 3. Fähigkeit, unnötigen Schmerz zu vermeiden und freudvolle Erlebnisse zu haben; 4. Fähigkeit, fünf Sinne zu benutzen, sich etwas vorstellen und denken zu können; 5. Bindungen zu Dingen und Personen einzugehen, zu lieben, zu trauern, Sehnsucht und Dankbarkeit zu empfinden; 6. Sich Vorstellungen vom Guten zu machen und kritisch über die eigene Lebensplanung nachzudenken; 7. Für andere und bezogen auf andere zu leben, verschiedene Formen familiärer und sozialer Beziehungen einzugehen;
132
Holger Ziegler
8. Verbundenheit mit Tieren und Pflanzen und der ganzen Natur zu (er-)leben; 9. Fähigkeit zu lachen, zu spielen und Freude an Erholung zu haben; 10. Das eigene Leben und nicht das eines anderen zu leben; 10a. Fähigkeit, sein eigenes Leben in seiner eigenen Umgebung und seinem eigenen Kontext zu leben. Sozialpädagogisch relevante Aspekte dieser Liste reichen von der Befähigung zur Ausbildung sensorischer Fähigkeiten und grundlegender Kulturtechniken über die Möglichkeit und Fähigkeit zur Bindungen mit anderen Menschen bis hin zur Befähigung zur Ausbildung praktischer Vernunft und einer eigenen revidierbaren Konzeption eines gelungenen Lebens im Wissen um die eigenen Umstände und Wahlmöglichkeiten. Nussbaum geht es mit dieser Liste um Berechtigungen, die sie als Aufgaben für öffentliche Institutionen formuliert. Diese Liste zielt explizit nicht darauf, in einer wertbezogenen Weise Wohlergehen verbindlich zu definieren. Vielmehr geht es darum, allgemeine Voraussetzungen für Wohlergehen vorzulegen. Diese sind in ihrer Konkretisierung an die kulturellen und sozialen Erfahrungsbereiche gebunden, in denen Menschen ihr Leben führen. Aus der Perspektive des Capability Ansatzes ist es demnach die Aufgabe der öffentlichen Institutionen, sicher zu stellen, dass sich die Individuen unter vernünftigen und zumutbaren Konditionen für die Verwirklichung dieser Capabilities frei entscheiden können. Es ist aber nicht die Pflicht der Individuen, sich für die Realisierung dieser Möglichkeiten auch tatsächlich zu entscheiden. Für moderne Gesellschaften verweist Elizabeth Anderson (2000) noch auf zwei weitere Capabilities, die als notwendig betrachtet werden können, um AkteurInnen zu befähigen, aus sozialen Deprivations- und Marginalisierungsverhältnissen zu entkommen (vgl. Heite et al. 2007), und die zugleich eine befähigungsorientierte Perspektive auf die Idee einer gleichberechtigten demokratischen Teilhabe (vgl. Fraser 2003) eröffnen. Anderson schlägt vor, politisch vor allem die Ermöglichung jener Capabilities zu fokussieren, die es Menschen erlauben, die Funktionsweise als gleichberechtigte TeilnehmerInnen an einem System kooperativer Produktion zu realisieren und damit die materiellen Bedingungen ihrer Existenz beeinflussen zu können. Diese Ermöglichung einer Teilnahme an kooperativer Produktion ist nicht als die Legitimation von Welfare-to-Work-Maßnahmen zu verstehen. Es geht im Gegenteil um das, was Jean-Michel Bonvin (2007: 15) als »capability for work«, als »Fähigkeit zu sinnstiftender Arbeit« beschreibt. Im Mittelpunkt steht dabei die Capability der realen Freiheit, »jene Arbeit zu wählen, die man begründet als sinnvoll erachtet«. Diese Capability beinhaltet sowohl »die Möglichkeit, eine Arbeit abzulehnen, die man als sinnlos erachtet (bei annehmbarer Exit-
Soziale Arbeit und das gute Leben
133
Option), [… als auch] die Möglichkeit, effektiv an der Festlegung der konkreten Arbeitsaufgaben, der Arbeitsorganisation und -bedingungen, der Entlohnung etc. mitzuwirken« (Bonvin 2007: 15). Eine zweite wesentliche Capability richtet sich darauf, die Funktionsweise als BürgerInnen eines demokratischen Staates zu ermöglichen (vgl. Anderson 2000) und damit sicherzustellen, dass die Betroffenen nicht von der Partizipation an kollektiven Entscheidungen ausgeschlossen sind, die sie selbst betreffen und den Rahmen ihrer Selbstbestimmung darstellen (vgl. Steinvorth 1999). Diese Capabilities in Anlehnung an Martha Nussbaum und Elizabeth Anderson als Maßeinheiten zur Bestimmung des Nutzens Sozialer Arbeit zu formulieren, legt weder völlige Beliebigkeit und Willkür noch eine standardisierte Festlegung sozialtechnologischer Interventionen nahe, die der Tatsache einer (konfliktuösen) Pluralität von Haltungen, Auffassungen und Lebensentwürfen (zu) wenig Aufmerksamkeit schenken. Demgegenüber erlaubt und erfordert es die Capabilities Perspektive, auf individuelle, fallspezifische Konstellationen und soziale Einbettungen der AdressatInnen einzugehen, und sie eröffnet eine relationale Alternative zu Ansätzen, die sich alleine auf Zufriedenheit und subjektives Wohlbefinden richten, aber auch zu Ansätzen die eine bestimmte Form von Lebensführung oktroyieren. Dabei nimmt der Capabilities-Ansatz ein klassisches Motiv Sozialer Arbeit auf: Die Ermöglichung von Autonomie der Lebenspraxis (vgl. Andresen et al. 2008) und damit den zentralen Gegenstand sozialpädagogischer Professionalität.
Literatur Alkire, S. (2008): The Capability Approach to the Quality of Life. Background report prepared for the Commission on the Measurement of Economic Performance and Social Progress, Paris (www.stiglitz-sen-fitoussi.fr/documents/capability_approach.pdf). Anderson, E. (2000): Warum eigentlich Gleichheit? In: Krebs, A. (Hg.), Gleichheit oder Gerechtigkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Andresen, S./Otto, H.-U./Ziegler, H. (2008): Bildung as Human Development: An educational view on the Capabilities Approach. In: Otto, H.-U./Ziegler, H. (Hg.), Capabilities - Handlungsbefähigung und Verwirklichungschancen in der Erziehungswissenschaft. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften. Arneson, R. (1990): Liberalism, Distributive Subjectivism, and Equal Opportunity for Welfare. In: Philosophy and Public Affairs 19, 158-94.
134
Holger Ziegler
Arneson, R. (1999): Human Flourishing Versus Desire Satisfaction. In: Social. Philosophy and Policy 16, 113-142. Bartelheimer, P. (2009): Verwirklichungschancen als Maßstab lokaler Sozialpolitik? In: Sozialer Fortschritt, 2/3, 48-55. Benhabib, S. (1989): Der verallgemeinerte und der konkrete Andere. Ansätze zu einer feministischen Moraltheorie. In: List, E./Studer, H. (Hg.), Denkverhältnisse. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bentham, J. (1996 [1789]): An Introduction to the Principles of Morals and Legislation. Oxford: University Press. Bergheim (2007): The happy variety of capitalism. Deutsche Bank Research. Frankfurt a.M.: VSVerlag. Bonvin, J-M. (2007): Entspricht die Europäische Beschäftigungsstrategie dem Ansatz der Verwirklichungschancen? Eine vorläufige Einschätzung. In: Filipic, U. (Hg.), Arbeitsmarktpolitik in Europa. Wien: Arbeiterkammer. Bonvin, J-M. (2009): Der Capability Ansatz und sein Beitrag für die Analyse gegenwärtiger Sozialpolitik. In: Soziale Passagen, 1, 8-22. Brumlik, M. (1999): Selbstachtung und nationale Kultur. In: Treptow, R./Hörster, R. (Hg.), Sozialpädagogische Integration. Weinheim/München: Juventa. Brumlik, M. (2004): Advokatorische Ethik. 2. Auflage. Berlin: Philo-Verlag. Brumlik, M. (2007): Soll ich je zum Augenblicke sagen... Das Glück: Beseligender Augenblick oder erfülltes Leben? In: Kessel, F./Reutlinger, C./Ziegler, H. (Hg.), Erziehung zur Armut? Soziale Arbeit und die ›neue Unterschicht‹. Wiesbaden: VS-Verlag. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2009): Wissenschaftliche Bestandsaufnahme der Forschung zu ›Wohlbefinden von Eltern und Kindern‹. Monitor Familienforschung Nr. 19. Berlin. Campbell, A. (1972): Aspiration, Satisfaction and Fulfilment. In: Campbell, A./Converse, Ph. (Hg.), The Human Meaning of Social Change. New York: Russell Sage Foundation. Clark, A./Oswald, A. (1994): Unhappiness and unemployment. In: The Economic Journal 104, 648-659. Cohen, G.A. (1989): On the Currency of Egalitarian Justice. In: Ethics 99, 906-944. Cohen, G.A. (1990): Equality of What? On Welfare, Goods, and Capabilities. In: Recherches Economiques de Louvain 56, 357-382. Csikszentmihalyi, M. (1990): Flow. The Psychology of Optimal Experience. New York: Harper & Row. Di Tella, R./MacCulloch, R. Oswald, A. (2001): Preferences over inflation and unemployment: Evidence from surveys of happiness. In: The American Economic Review 91, 335-341. Easterlin, R. (1974): Does economic growth improve the human lot? Some empirical evidence. In: David, R./Reder, R. (eds.), Nations and Households in Economic Growth: Essays in Honor of Moses Abramovitz. New York: Academic Press. Easterlin, R. (1995): Will raising the incomes of all increase the happiness of all? In: Journal of Economic Behavior and Organization, 27, 35-47.
Soziale Arbeit und das gute Leben
135
Fleurbaey, M. (2008): Beyond GDP: Is There Progress in the Measurement of Individual Well-Being and Social Welfare? Paris (www.stiglitz-sen-fitoussi.fr/documents/Beyond_GDP.pdf). Fraser, N. (1998): Social Justice in the Age of Identity Politics: Redistribution, Recognition and Participation. In: Peterson, G. (Hg.), The Tanner Lectures on Human Values, 19. Salt Lake City: University of Utah Press. Frey, B./Stutzer, A. (2002): What can economists learn from happiness research? In: Journal of Economic Literature, 40, 402-435. Giddens, A. (1997): Jenseits von Links und Rechts. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Groh, O./Keller, C. (2001): Armut und symbolische Gewalt. In: Rademacher, C./Wiechens, P. (Hg.), Geschlecht, Ethnizität, Klasse. Zur sozialen Konstruktion von Hierarchie und Differenz. Opladen: Leske & Budrich. Habermas, J. (1996): Eine genealogische Betrachtung zum kognitiven Gehalt der Moral. In: Habermas, J.: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Heite, C./Klein, A./Landhäußer, S./Ziegler, H. (2007): Das Elend der Sozialen Arbeit - Die »neue Unterschicht« und die Schwächung des Sozialen. In: Kessel, F./Reutlinger, C./Ziegler, H. (Hg.), Erziehung zur Armut? Soziale Arbeit und die ‚neue Unterschicht'. Wiesbaden: VSVerlag. Helliwell, J./Putnam, R. (2005): The social context of well-being. In: Huppert, F. et al. (Hg.), The Science of Well-Being. London: NICE. Heyes, C. (2002): Identity Politics. In: Zalta, N. (Hg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2002 Edition) http://plato.stanford.edu/archives/fall2002/entries/identity-politics. Hoggett, P. (2000): Social Policy and the Emotions. In: Lewis, G. et al. (Hg.), Rethinking Social Policy. London: Sage. Kahneman, D. et al. (2006): Would You Be Happier If You Were Richer? A Focusing Illusion. CEPSWorking Paper 125. Princeton. Kaufmann, F.-X./Rosewitz, B. (1983): Typisierung und Klassifikation politischer Maßnahmen. In: Mayntz, R. (Hg.), Implementation Politischer Programme II. Opladen: Westdeutscher Verlag. Kersting, W. (1997): Gleiche gleich und Ungleiche ungleich: Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit. In: Dornheim, A. et al.(Hg.), Gerechtigkeit. Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Kreckel, R. (2006): Soziologie der sozialen Ungleichheit im globalen Kontext. Der Hallesche Graureiher 2006 - 4 Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Institut für Soziologie. Halle. Layard, R. (2005): Happiness. London: Lane. Layard, R. (2006): Happiness and Public Policy: A Challenge to the Profession. In: The Economic Journal, 116, 24-33. Miebach, M. (2007): Arm und Reich im 21. Jahrhundert. In: Berliner Republik. 7/1, 23-26. Milbrath, L. (1978): Indicators of Environmental Quality. In: UNESCO (ed.), Indicators of Environmental Quality and Quality of Life. Paris: Unesco. Myers, D. (2004): Psychology. New York: Worth Publishers. Nussbaum, M. (1999): Gerechtigkeit oder das gute Leben. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
136
Holger Ziegler
Nussbaum, M. (2000): Women and Human Development. The Capabilities Approach. Cambridge: Cambridge University Press. Nussbaum, M. (2003): Capabilities as fundamental entitlements: Sen and social justice. In: Feminist Economics, 2/3, 33-60. Oelkers, N./Steckmann, U./Ziegler, H. (2008): Normativität in der Sozialen Arbeit. In: Ahrens.J./Beer, R./Bittlingmayer, U.H./Gerdes, J. (Hg.), Beschreiben und/oder Bewerten. Bd. 1: Normativität in ausgewählten sozialwissenschaftlichen Forschungsfeldern. Münster: Lit-Verlag. Oelkers, N./Schrödter, M./Ziegler, H. (2010): Capabilities und Grundgüter als Fundament einer sozialpädagogischen Gerechtigkeitsperspektive. In: Thole, W. (Hg.), Grundriss Soziale Arbeit. 3. vollständig überarbeitete Auflage. Wiesbaden: VS (im Erscheinen). Olk, Th./Otto, H.-U. (1987): Institutionalisierungsprozesse sozialer Hilfe - Kontinuitäten und Umbrüche. In: Olk, Th./Otto, H.-U. (Hg.), Soziale Dienste im Wandel. Band 1: Helfen im Sozialstaat. Neuwied/Frankfurt a.M.: Luchterhand. Olsaretti, S. (Hg.) (2006): Preferences and Well-Being. Royal Institute of Philosophy Supplements, 59. Cambridge: University Press. Oswald, A. (1997): Happiness and economic performance. In: Economic Journal, 107, 1815-1831. Ott, J. (2005): Level and Inequality of Happiness in Nations: Does Greater Happiness of a Greater Number Imply Greater Inequality in Happiness? In: Journal of Happiness Studies, 6, 397-420. Otto, H.-U./Ziegler, H. (Hg.) (2008): Verwirklichungschancen und Befähigungsgerechtigkeit in der Erziehungswissenschaft. Zum sozial-, jugend- und bildungstheoretischen Potential des Capability Approach. Opladen: Westdeutscher Verlag. Petersen, T./Mayer, T. (2005): Der Wert der Freiheit. Deutschland vor einem neuen Wertewandel? Freiburg: Herder. Rawls, J. (1975): Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Roemer, J. (1998): Equality of Opportunity. Cambridge: Harvard University Press. Sayer, A. (2005): The Moral Significance of Class. Cambridge: University Press. Scholtes, F. (2005): Warum es um Verwirklichungschancen gehen soll: Amartya Sens CapabilityAnsatz als normative Ethik des Wirtschaftens. In: Volkert, J. (Hg.), Armut und Reichtum an Verwirklichungschancen. Wiesbaden: VS-Verlag. Schrödter, M. (2007): Soziale Arbeit als Gerechtigkeitsprofession. Zur Gewährleistung von Verwirklichungschancen. In: neue praxis, Bd. 37, Nr. 1, 3-28. Seel, M. (1999): Wege einer Philosophie des Glücks. In: Schummer, J. (Hg.), Glück und Ethik, Würzburg: Königshause und Neumann. Sen, A. (1992): Inequality Re-examined. Oxford: Oxford UP. Sen, A. (1999): Development as Freedom. Oxford: Oxford UP. Sen, A. (2009): The Idea of Justice. Cambridge, Mass.: Harvard University Press. Sen, A. (1985): Well-Being, Agency and Freedom: The Dewey Lectures 1984. In: The Journal of Philosophy, 82, 169-221.
Soziale Arbeit und das gute Leben
137
Steinvorth, U. (1999): Gleiche Freiheit. Politische Philosophie und Verteilungsgerechtigkeit. Berlin: Akademie-Verlag. Sturma, D. (2000): Universalismus und Neoaristotelismus. A. Sen und Martha C. Nussbaum über Ethik und soziale Gerechtigkeit. In: Kersting, W. (Hg.), Politische Philosophie des Sozialstaats. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Vallentyne, P. (2005): Capabilities vs. Opportunities for Well-being. In: Journal of Political Philosophy 13, 359-371. Veenhoven, R. (2005): Return of inequality in modern society? Test by dispersion of life-satisfaction across time and nations. In: Journal of Happiness Studies, 6, 457-487. Veenhoven, R. (2007): For a Better Quality of Life. In: Deflem, M. (Hg.), Sociologists in a global Age: Biographical Perspectives. Ashgate: Publishing Ltd. Winkelmann, L./Winkelmann, R. (1998): Why are the unemployed so unhappy? Evidence from panel data. In: Economica 65, 1-15. Winkler, M. (1988): Eine Theorie der Sozialpädagogik. Stuttgart: Klett. Zapf, W. (1984): Individuelle Wohlfahrt: Lebensbedingungen und wahrgenommene Lebensqualität. In: Glatzer, W./Zapf, W. (Hg.), Lebensqualität in der Bundesrepublik. Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag. Ziegler, H. (2008): Nach dem Neo-Liberalismus: Skizzen einer post-sozialstaatlichen Formierung Sozialer Arbeit. In: Bütow, B./Chassé, K. A./Hirt, R. (Hg.), Soziale Arbeit nach dem sozialpädagogischen Jahrhundert. Entwicklungen im Post-Wohlfahrtsstaat. Opladen/Farmington Hills: Budrich. Ziegler, H. (2010): Subjective and capabilities views on the well-being of young persons. In: Andresen, S. et al. (eds.), Children and the Good Life: New Challenges for Research on Children. New York.
Gesundheit als Basic Capability. Einflüsse von Armut und Benachteiligung auf das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen Stephan Sting
»Gesundheit« stellt im capability approach eine »basic capability« (Nussbaum 1999: 57) dar. Sie gilt als zentrale Verwirklichungschance für eine positive individuelle und soziale Entwicklung. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) versucht schon seit einigen Jahrzehnten, ein breites Verständnis für Gesundheit als Voraussetzung für eine befriedigende und gelingende Lebenspraxis zu etablieren. Gesundheit wird über die bloße Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen hinaus als umfassendes »körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden« (www.api.or.at 2009) definiert. Wohlbefinden ist dabei einerseits ein an das Individuum gebundenes Kriterium; Wohlbefinden und Gesundheit realisieren sich nicht in Gruppen oder Gesellschaften, sondern nur in der je einzelnen Person. Andererseits erschöpft sich Wohlbefinden nicht in der rein subjektiven Lebenszufriedenheit oder in einer positiven Selbsteinschätzung des eigenen Gesundheitszustands. Durch den Bezug auf objektivierbare medizinische Daten im Hinblick auf die somatische und psychische Gesundheit erhält das Wohlbefinden eine die subjektive Wahrnehmung überschreitende Bedeutung, die zugleich offen ist für normative Vorgaben und Leitvorstellungen. Der WHO-Begriff des »Wohlbefindens« deckt sich weitgehend mit dem Konzept des »Wohlergehens«, wie es Ziegler aus dem capability approach ableitet und mit dessen Hilfe er versucht, nicht-subjektivistische Kriterien für »reale Verwirklichungschancen« zu erstellen (vgl. Ziegler 2009: 136f.). Die Förderung des Wohlergehens verbindet sich im capability approach programmatisch mit der Betonung von Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit (vgl. Nussbaum 1999: 77ff.) ein Zugang, der sich mit Grundanliegen des sozialpolitisch ausgerichteten Konzepts der Gesundheitsförderung deckt. Zugleich kann Gesundheit aufgrund ihres objektivierbaren Charakters und ihrer Sichtbarkeit als Indikator für das Wohlergehen insgesamt, auch für das Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen, betrachtet werden. Daher erscheint mir das Feld der Gesundheit in besonderer Weise geeignet, exemplarisch auf Möglichkeiten und Grenzen des capability approach hinzuweisen. C. Sedmak et al., Der Capability-Approach in sozialwissenschaftlichen Kontexten, DOI 10.1007/978-3-531-92749-7_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
140
Stephan Sting
1. Gesundheit im Wandel der somatischen Kultur Die gegenwärtig diskutierten Gesundheitsprobleme von Kindern und Jugendlichen wie Übergewicht, Stress, Bewegungsmangel oder Substanzkonsum sind Indikatoren für eine generelle Besorgnis um die Entwicklungspotentiale und Verwirklichungschancen von Heranwachsenden in unserer Gesellschaft (vgl. z.B. Homfeldt/Sting 2006: 139). In pädagogischen Zusammenhängen wird die Bedeutung des Körpers für Entwicklungs- und Bildungsprozesse zunehmend erkannt. Im Säuglingsalter z.B. öffnet erst die Befriedigung elementarer körperlicher Bedürfnisse den Horizont für Explorationen und Selbstbildungsaktivitäten. Bei Kleinkindern sind der Körper und motorische Körpererfahrungen Bezugspunkt für die Selbst- und Welterkenntnis und damit Basis für die Entwicklung zahlreicher kognitiver, emotionaler, sozialer und sprachlicher Fähigkeiten. Im Jugendalter stellt die Verarbeitung der massiven körperlichen Veränderungen in der Pubertät eine wichtige Weichenstellung für die weitere psychosoziale Entwicklung dar. Zugleich wird der Körper zu einem zentralen Medium der Selbstvergewisserung und Identitätsbildung (vgl. Sting 2007). Die neue Aufmerksamkeit auf Körper und Gesundheit in Pädagogik und Sozialer Arbeit geht mit einem Wandel der somatischen Kultur einher, bei dem tradierte Praktiken im Bereich der Ernährung, der Sexualität, der Körperstilisierung, des Umgangs mit Gesundheit und Krankheit ihre Selbstverständlichkeit verlieren und der Selbstverfügung im Rahmen pluraler Gestaltungsmöglichkeiten überlassen werden (vgl. Rittner 1999). Familiäre Essgewohnheiten, Formen der Bewegung im und der Rhythmisierung des Alltags pluralisieren sich, wobei die Orientierung auf die Gesundheit und die Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder neu reflektiert und hergestellt werden muss. Im Jugendalter wird der Körper durch seine Verbindung mit dem Gefühl, der Steigerung von Empfindungen und dem Spüren von körperlichen Grenzen und physischem Schmerz zum »Wahrheitskriterium für die eigene Identität« (v. Kardorff/Ohlbrecht 2007: 165). Durch Selbsterprobungen wie Rauschtrinken oder Drogenkonsum, durch »body modifications« mittels Bodybuilding, Tattoos, Piercing oder Diäten, z.T. auch durch Selbstverletzungen werden Grenzen des Körpers ausgetestet und überschritten und wird der Körper zur formbaren Gestaltungsmasse für Selbstinszenierungen (vgl. Kasten 2006). Rittner betont zu Recht, dass die Selbstverfügung über den Körper nur scheinbar dem Einzelnen überlassen bleibt. Zugleich geht es auch um die Herstellung des »richtigen Körpers« (Rittner 1999: 108), der einerseits Individualität und Lebensstil demonstriert und der andererseits gesellschaftliche Idealbilder von Glück, Schönheit, Erfolg, Jugendlichkeit, Attraktivität und Gesundheit ver-
Gesundheit als Basic Capability
141
körpert. Wie der Körper erscheint auch Gesundheit zunehmend als Resultat einer dynamischen, aktiven »Herstellung« (Laaser/Hurrelmann 1998: 402) durch die Subjekte. Labisch hat schon vor einiger Zeit die Herstellbarkeit von Körper und Gesundheit als eine neue Etappe im historischen Prozess der Körperdisziplinierung und -formierung bezeichnet (vgl. Labisch 1992: 321f.). Die Zwänge der gegenwärtigen Arbeitswelt stellen hohe Anforderungen an Mobilität, Kommunikationsfähigkeit und allzeitige Arbeitsbereitschaft. Der »flexible Mensch« wird für den Erhalt und die Reproduktion seiner körperlichen Leistungsfähigkeit selbst verantwortlich erklärt. Er benötigt dazu einen »flexiblen Körper«, dessen Ausdruck die Körpertransformationen des body modification sind und der Gesundheit und Fitness zur unabdingbaren Voraussetzung hat. Die Zwänge, die mit dieser Entwicklung verbunden sind, zeigen sich z.B. bei pubertierenden Mädchen, die entgegen ihrer biologischen Reifung, die eine Anreicherung des Fettgewebes im Körper zur Folge hat (vgl. Fend 2003: 235), einem Schönheitsideal ausgesetzt sind, das sich an der Grenze zur Magersucht bewegt und extreme Formen der Selbstdisziplinierung im Ess- und Bewegungsverhalten nahe legt. Im Kontext des Wandels der somatischen Kultur wird bei Kindern und Jugendlichen eine »neue Morbidität« (Ravens-Siebener et al. 2007: 871) konstatiert, die weniger durch akute Infektionskrankheiten und Folgen von Mangelerscheinungen wie z.B. unzureichender Ernährung gekennzeichnet ist als vielmehr durch chronisch-degenerative Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Atemwegserkrankungen und Allergien, durch eine Zunahme psychischer Erkrankungen und durch eine neue Bedeutung gesundheitsgefährdender Lebensstile und Verhaltensweisen. Eine Konsequenz der aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen besteht darin, dass sich nach sozialepidemiologischen Studien die gesundheitliche Situation der Heranwachsenden, insbesondere im Jugendalter, verschlechtert hat - entgegen des sonstigen Trends zur Verbesserung der Gesundheitsdaten. Diese Entwicklung lässt sich für Österreich z.B. mit Hilfe der Daten der HBSC-Studien (»Health Behaviour in School Aged Children«) erkennen (vgl. Dür et al. 2007). Ein erheblicher Teil der Gesundheitsprobleme im Kindes- und Jugendalter gilt als Resultat eines über kollektive Lebensweisen vermittelten, eher kontingenten Fehlverhaltens, das durch soziale und individuelle Anstrengungen prinzipiell veränderbar erscheint. Da die frühen Lebensabschnitte für die Herausbildung handlungsbestimmender Lebensstile entscheidend sind und sich in dieser Zeit ein körperlicher Habitus sowie gesundheitsrelevante Verhaltensweisen und Einstellungen etablieren (vgl. Lohaus 1993: 25; Palentien et al. 1998: 79), scheint die Berücksichtigung gesundheitlicher Themen in der pädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen unumgänglich. Die »Internationale Arbeitsgemeinschaft für
142
Stephan Sting
Jugendfragen« (IAGJ) hat deshalb eine »öffentliche Verantwortung« für Gesundheitsprobleme von Kindern und Jugendlichen eingefordert, die in einem Bündnis aus Kindergarten, Schule und Jugendhilfe wahrgenommen werden soll (vgl. IAGJ 2004). Nur so könne das in der UN-Kinderrechtekonvention verankerte Recht jedes Kindes auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit (vgl. UN-KRK, Art. 24, Abs. 1) umgesetzt werden.
2. Gesundheitsförderung und capability approach Zur Aufrechterhaltung und Sicherstellung von Gesundheit als basic capability und Voraussetzung positiver Entfaltungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen scheinen also besondere Anstrengungen erforderlich zu sein, denen die WHO seit nunmehr gut 20 Jahren mit dem Konzept der »Gesundheitsförderung« gerecht zu werden versucht. Das Konzept der Gesundheitsförderung nimmt nicht explizit auf den capability approach Bezug, ist aber insofern interessant, als hier von Anfang an eine Verbindung aus Ressourcenorientierung und Kompetenzförderung, aus sozialpolitischen und Individuum- bzw. verhaltensbezogenen Interventionen angestrebt worden ist. Die Potenziale und Schwierigkeiten, die sich in der Gesundheitsförderung bei Kindern und Jugendlichen zeigen, können daher aktuellen Diskussionen zum capability approach als Reflexionsfolie dienen. Zugleich stellt sich die Frage, inwiefern der capability approach zur Weiterentwicklung der Gesundheitsförderung beitragen kann. Mit der Verabschiedung der »Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung« im Jahr 1986 erklärte die WHO die Förderung von Gesundheit jenseits der Vermeidung von Risiken und Krankheiten zu einer eigenständigen, positiven Aufgabe. Sie vertrat einen im Kern sozialpolitischen Ansatz, der die Selbstbestimmung und Partizipation ins Zentrum rückte. Gesundheitsförderung sollte die Menschen in ihren alltäglichen Lebenszusammenhängen ansprechen, auf die aktive Mitwirkung und Selbstbestimmung der Bevölkerung setzen, da jeder Experte seiner eigenen Gesundheit ist und Einfluss auf die Gesundheit in seiner unmittelbaren Umgebung nehmen kann, und sie sollte übergreifende Rahmenbedingungen von Gesundheit wie Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit, Frieden und Befriedigung von Grundbedürfnissen (z.B. Wohnen, Arbeit, Lebenssinn) einbeziehen (vgl. OttawaCharta 1995). Gesundheitsförderung wird in den Horizont sozialer Lebensbedingungen eingebettet und mit der Stärkung persönlicher Lebenskompetenzen und sozialer Ressourcen verknüpft. Sie setzt eher auf die Förderung der »capabilities«, der Fähigkeiten und Befähigungen, als auf die Beeinflussung der Tätigkeiten und Verhaltensweisen (vgl. Nussbaum 1999: 40f.). Sie ist nicht nur Aufgabe des Indi-
Gesundheit als Basic Capability
143
viduums, sondern eine gesamtgesellschaftliche Querschnittsaufgabe unterschiedlicher Politik- und Handlungsfelder, bei der die Erschließung sozialer Ressourcen und Partizipationschancen mit der Erweiterung gesundheitsbezogener Entfaltungsund Handlungsmöglichkeiten einhergeht (vgl. Franzkowiak/Wenzel 2001: 718). Das WHO-Konzept zur Gesundheitsförderung erfuhr breite Zustimmung von unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteuren; dennoch werden inzwischen im Verlauf der Umsetzung eine Reihe von Problemen und Kritikpunkten diskutiert. Der scheinbare Vorteil - Anschlussfähigkeit in alle Richtungen zu bieten - verkehrt sich in den Nachteil, an niemand Konkreten gerichtet zu sein, der die Gesundheitsperspektive gegen andere Lebensinteressen (z.B. ökonomische) sozialpolitisch durchsetzt. In der Praxis der Gesundheitsförderung dominieren deshalb individuumzentrierte Zugänge zur Beförderung eines gesundheitskonformen Verhaltens, zur Stärkung des Gesundheitsbewusstseins und zur Entwicklung gesundheitsrelevanter Lebenskompetenzen. Der ursprünglich auf Selbstbestimmung und Partizipation setzende Ansatz droht dabei in eine Sozialdisziplinierung umzukippen, bei der die positive Orientierung auf Gesundheit in eine »Pflicht zur Gesundheit« (Herzlich 1991: 298) und zur individuellen Verantwortung für sein eigenes Wohlbefinden umschlägt. Zur Erklärung dieser Transformation der Gesundheitsförderung lassen sich zwei Grundprobleme anführen: Das erste Problem betrifft das Postulat, dass die »Selbstbestimmung über Gesundheit« quasi zwangsläufig zum Engagement für die Verbesserung der Gesundheit führt. Dem ist leider nicht so. Schon Gehlen hat darauf hingewiesen, dass es sich bei Gesundheit um eine »sekundäre Zweckmäßigkeit« handelt, die den Menschen unintendiert zuwächst und kein direktes Handlungsmotiv darstellt. Gesundheit lässt sich demnach »nur über Umwege« fördern, z. B. als Nebeneffekt von »Ich-Stärke, Sinnhaftigkeit, erwartungssicheren Sozialstrukturen etc.« (Bauch/Bartsch 2003: 5). Aus der Sicht des capability approach bedeutet dies, dass Gesundheit als »capability« nicht in gesundheitsbezogene »functionings« (Tätigkeiten) umgewandelt wird (vgl. Bonvin 2009: 9ff.). In vieler Hinsicht ist Gesundheit auf der Ebene der capabilities aber wiederum nur unter Berücksichtigung entsprechender functionings bzw. gesundheitsbezogener Praxisformen herstellbar. Das zweite Problem betrifft die positive Orientierung auf Gesundheit: Zwar sind im Rahmen der Entwicklung der Gesundheitsförderung eine ganze Reihe von positiven Zugängen zur Kompetenz- und Ressourcenförderung und zur Stärkung von Protektivfaktoren entstanden, aber der zentrale Wert - Gesundheit selbst - bleibt dunkel. Über die Abwesenheit von Krankheit hinaus ist Gesundheit nicht spürbar; sie bedarf zu ihrer Wahrnehmung der Inszenierungen, Symbolisierungen und Substitute (z.B. Fitness, Stärke, Natürlichkeit; vgl. Zimmermann 1996). Gesundheit ist
144
Stephan Sting
im Kern eine historisch wandelbare soziale Konstruktion mit hohen fiktiven Sinnüberschüssen, die mit einer sozialen und kulturellen Formierung des Körpers und des körperlichen Habitus verbunden ist. Das Gesundheitsdispositiv des körperlich attraktiven, vitalen und sozial kompetenten Menschen, das Laaser und Hurrelmann zum Zweck einer positiven Imagebildung von Gesundheit aufstellen, ist gesundheitswissenschaftlich nicht begründbar, sondern es ist Ausdruck der von Labisch skizzierten neuen »biologischen Normativität« (Labisch 1992: 321f.), die die gegenwärtige Veränderung der Lebensbedingungen und Lebensweisen mit sich bringt. Gesundheitsförderung bewegt sich also im Spannungsfeld von individuellen Bestrebungen zur Steigerung und Erhaltung des Wohlbefindens und normativen gesellschaftlichen Anforderungen an den Organismus und dessen Erhaltung. Betrachtet man Gesundheit aus der Perspektive des capability approach, dann wird deutlich, dass Gesundheit eine zentrale Kategorie für das individuelle Wohlbefinden oder Wohlergehen darstellt. Es bleibt aber offen, wie die Balance zwischen subjektivem Wohlbefinden und objektivierbarer Gesundheit hergestellt werden kann, ohne dass die Erweiterung der Verwirklichungschance »Gesundheit« (capability-Ebene) in eine repressive Durchsetzung gesundheitsbezogener Normalitätserwartungen der Gesellschaft abgleitet (functioningEbene) und welche gesellschaftlichen Akteure die Einhaltung dieser Balance garantieren können.
3. Gesundheitsförderung bei sozialer Benachteiligung Ein Indiz dafür, dass Gesundheit eine starke soziale Komponente enthält und damit den Horizont individueller Verantwortlichkeiten überschreitet, liefert der Zusammenhang von sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit. Seit den 1990er Jahren weisen sozialepidemiologische Studien immer deutlicher darauf hin, dass ein Zusammenhang zwischen sozialem und gesundheitlichem Status besteht. Wer sozial benachteiligt ist, zeichnet sich durch einen schlechteren Gesundheitszustand aus. Im Zuge der zunehmenden gesellschaftlichen Polarisierung ist die soziale Kluft in Bezug auf viele gesundheitliche Belastungen angestiegen. D.h. die sozial besser gestellten Bevölkerungsgruppen haben proportional stärker von der Verbesserung der Gesundheitssituation profitiert als die sozial schwächeren Bevölkerungsgruppen (vgl. Mackenbach 2006: 8). Für Österreich gibt es hierzu kaum substantielle Studien, aber die wenigen vorhandenen Daten (z.B. die EUSILC-Daten; vgl. Statistik Austria 2009) bestätigen diesen internationalen Trend.
Gesundheit als Basic Capability
145
In dem Zusammenhang sind zwei Aspekte bemerkenswert: Gesundheitliche Ungleichheit lässt sich nicht nur an den höheren Belastungen in den sozial benachteiligten und armutsgefährdeten Bevölkerungsgruppen festmachen. Vielmehr durchzieht die Ungleichverteilung von Gesundheit und Krankheit die gesamte Sozialstruktur einer Gesellschaft. So existiert ein deutlicher sozialer Gradient in der Sterblichkeit, d.h. mit einer stufenweisen Abnahme des Einkommens erhöht sich das Risiko frühzeitiger Sterblichkeit kontinuierlich. (Richter/Hurrelmann 2006: 14)
Zwischen sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit besteht also eine kontinuierliche, lineare Verknüpfung. Zugleich tritt gesundheitliche Ungleichheit nicht erst in späteren Lebensjahren in Erscheinung, sondern sie ist bereits im Kindesalter erkennbar und beeinflusst Entwicklungs- und Bildungsprozesse von Heranwachsenden. Für eine Reihe von gesundheitlichen Belastungen ist die ungünstigere Situation bei Heranwachsenden aus sozial niedrigeren Statusgruppen belegt: für Säuglingssterblichkeit, psychische Gesundheit, Unfälle und Verletzungen, Kopfschmerzen, Adipositas, Bewegungs- und Ernährungsverhalten, Rauchen und für verschiedene Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten (vgl. z.B. Lampert/Richter 2006: 203ff.; Ravens-Siebener 2007: 875; Kurth et al. 2007: 746). Alle aufgezählten Belastungen sind lebensstilabhängig und damit mit gesundheitsrelevanten Einstellungen, Handlungsformen und Werthaltungen verschränkt (vgl. Hradil 2006: 49). So hängt z.B. Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen unmittelbar mit dem Ernähungs- und Bewegungsverhalten zusammen. Es steht also in der Begrifflichkeit des capability approach in enger Beziehung zu den functionings, zum faktisch realisierten Gesundheitshandeln. Vor dem Hintergrund liegt es nahe, dass Gesundheitsförderung sich an der Beeinflussung des individuellen Gesundheitsverhaltens orientiert. Eine Analyse der Umsetzung des WHO-Rahmenkonzepts »Gesundheit 21«, das explizit auf Chancengleichheit, Solidarität und Teilhabe verpflichtet ist (WHO 2005: 13f.), ergab für Deutschland, dass sich die realisierten Maßnahmen für das »gesunde Aufwachsen« von Kindern und Jugendlichen auf die Themen »Bewegung, Ernährung und Stress« konzentrieren. Ein Blick in die Liste der durch den »Fond gesundes Österreich« geförderten Projekte oder in den Aktivitätenkatalog des »Gesundheitslands Kärnten« zeigt, dass die Prioritäten in Österreich ganz ähnlich liegen (vgl. www.fgoe.org 2009; www.gesundheitsland.at 2009). In der Praxis der Gesundheitsförderung dominiert ein medizinisch orientiertes Interventionsmodell, das gesellschaftliche Gesundheitsprobleme in individuelle Symptomatiken transformiert und eine individualisierende Problembearbeitung betreibt (vgl. Sting 2009: 97ff.). So wird z.B. das Szenario einer »globalen Über-
146
Stephan Sting
gewichtsepidemie« (Homfeldt/Sting 2006: 137) entworfen, dem dann mit der Förderung eines »gesunden Ernährungsverhaltens« vom Kindesalter an in Familien, Kindergärten und Schulen begegnet wird. Auf die »Verhältnisse« oder Strukturen bezogene Maßnahmen erschöpfen sich in Aktivitäten zur »Unterstützung gesunden Ernährungsverhaltens«, zur Reduktion der »Zahl der Verführer« und zur Bereitstellung von »Angeboten für fehlernährte Kinder« (BMG 2008: 27ff.). Spezifische Maßnahmen zur »Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten« verfolgen in der Regel keine anderen Zielstellungen, sondern sie versuchen mittels Vernetzung und gemeinwesenbezogenen Strategien »geeignete Zugangswege für schwer erreichbare Kinder, Mütter und Väter« zu erschließen (BMG 2008: 27-33). Evaluationen bisheriger Präventions- und Gesundheitsförderungsprogramme bringen allerdings zum Vorschein, dass sie gerade bei sozial benachteiligten, von Armut betroffenen Bevölkerungsgruppen scheitern. Gesundheitsförderung scheint - ebenso wie andere Bildungs- und Entwicklungsangebote - sozial ungleiche Wirkungen hervorzurufen. Sozial besser gestellte Bevölkerungsgruppen profitieren eher von Gesundheitsförderung, wodurch sie entgegen ihres sozialpolitischen Anspruchs zur Verstärkung gesundheitlicher Ungleichheit beiträgt. Bauer bezeichnet diesen Effekt am Beispiel des schulischen Präventionsprogramms »Erwachsen werden« als »Präventionsdilemma« (Bauer 2005: 14): Obwohl Heranwachsende in sozial benachteiligter Lebenslage von einem erhöhten Risiko der Ausbildung selbst- und fremdschädigender Verhaltensweisen betroffen sind, ist die Erreichbarkeit dieser Klientel mit Angeboten der Gesundheitsförderung besonders defizitär. (Bauer 2005: 14)
Möchte Gesundheitsförderung ihrem sozialpolitischen Anspruch gerecht werden und zur Verbesserung der Gesundheitschancen von sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen beitragen, dann muss sie weniger auf die kurzfristige Veränderung der functionings (des Gesundheitsverhaltens) als vielmehr auf eine breit angelegte Verbesserung der capabilities setzen. In dem Zusammenhang geht es vor allem um die Erweiterung des Raums für gesundheitsförderliche Entscheidungs- und Handlungsspielräume. Die Erweiterung der capabilities gelingt nur im Rahmen einer langfristigen Entwicklungs- und Bildungsarbeit mit Heranwachsenden. Dafür spricht die Verflechtung von Gesundheit mit der Persönlichkeitsentwicklung insgesamt. Nach Antonovsky (1997: 33ff.) stellt das Kohärenzgefühl einen zentralen Faktor für Gesundheit dar. Als positives Selbst- und Lebensgefühl verstärkt es die »Resistenz« der Menschen und trägt so zur Verbesserung der Gesundheitschancen bei. Die Herausbildung des Kohärenzgefühls ist von sozialen Rahmenbedingungen abhängig. Es entsteht im Entwicklungsprozess auf der Grundlage von kohä-
Gesundheit als Basic Capability
147
renten Lebenserfahrungen, die nach Keupp für Heranwachsende generell und für sozial Benachteiligte im Besonderen schwierig geworden sind. Für sozial Benachteiligte führt die Propagierung pluraler Lebensoptionen in Verbindung mit der individualisierenden Zuschreibung der Verantwortung für das eigene Leben bei gleichzeitiger Verknappung der Ressourcen zur »Demoralisierung« (vgl. Keupp 2000). Demgegenüber müssten entlang der differentiellen Entwicklungsverläufe Perspektiven einer »positiven Jugendentwicklung« eröffnet und mit konkreten Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe verknüpft werden (vgl. Weichold/Silbereisen 2007), um kohärente Lebenserfahrungen hervorzubringen. Ein zentraler Aspekt kohärenter Erfahrungen ist der Erwerb sozialer Anerkennung. Von Kardorff und Ohlbrecht (2007) betrachten z.B. Essstörungen bei Heranwachsenden nicht als Folge individuellen Fehlverhaltens, sondern als Resultat von »Statusstress« und als »soziosomatisches Phänomen«. Adipositas (krankhaftes Übergewicht) wird als ein »Reaktanzphänomen auf wahrgenommene Überforderung, etwa als ein Aus-dem-Feld-Gehen und/oder als Reaktion auf Misserfolge im Bildungssystem und in der beruflichen Eingliederung sowie als Reaktion auf veränderte Familienwelten« beschrieben. Die Diskrepanz zwischen den gesellschaftlich kursierenden Körperbildern und Lebensstilvorgaben und der eigenen Erfahrung des Scheiterns führt zu nicht nur psychologisch, sondern soziologisch rekonstruierbaren Reaktionen des Widerstands oder der Verweigerung. Essstörungen sind damit Ausdruck einer gesellschaftlich produzierten »körperlichen Unordnung«. (vgl. Kardorff v./Ohlbrecht 2007: 159-165) Gesundheitsförderung in Bezug auf Adipositas erfordert also zunächst eine Auseinandersetzung mit Statusstress und sozialen Ausgrenzungserfahrungen. Soziale Anerkennung und Teilhabe stellen auf der Ebene der capabilities wesentliche Momente einer Gesundheitsförderung bei sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen dar. Zugleich lässt sich aber die Ebene der functionings nicht ausblenden; denn insbesondere im Kindes- und Jugendalter steht der dicke Körper einer Rückgewinnung von sozialer Anerkennung im Weg. Der Körper blockiert als eigener Faktor Teilhabe und Inklusion. Die Beschäftigung mit Körper und Gesundheit -auf der Ebene der functionings - muss in die Gesundheitsförderung einbezogen werden, nicht im Sinne einer repressiven Verhaltenssteuerung, sondern im Sinne einer langfristigen Bildungsarbeit, die sich als Anregung zur Selbstbildung und Selbstbestimmung begreift. Die Förderung gesundheitsrelevanter Tätigkeiten und Verhaltensweisen stellt jedoch nur ein Element von Gesundheitsförderung dar, das um die Ebene der capabilities ergänzt werden muss: um die Sicherstellung gesundheitsbezogener Ressourcen im Hinblick auf die Gesundheitsversorgung sowie auf die sozioökonomischen Rahmenbedingungen für eine gesundheitsbezogene Lebensweise
148
Stephan Sting
(vgl. Nussbaum 1999: 65), um die Bereitstellung »kultureller Gesundheitsressourcen« in Form von Gesundheitswissen und gesundheitsrelevantem kulturellen Kapital (vgl. Abel et al. 2006) und um die soziale und entwicklungsbezogene Beförderung von psychosozialen Verwirklichungschancen wie Anerkennung, Teilhabe und Kohärenz.
Literatur Abel, T./Abraham, A./Sommerhalder, K. (2006): Kulturelles Kapitel, kollektive Lebensstile und die soziale Reproduktion gesundheitlicher Ungleichheit. In: Richter, M./Hurrelmann, K. (Hg.), Gesundheitliche Ungleichheit. Wiesbaden: VS-Verlag, 185-198. Antonovsky, A. (1997): Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: dgvt verlag. Bauch, Jost/Bartsch, Norbert (2003): Gesundheitsförderung als Zukunftsaufgabe. In: Prävention (26. Jg.), H. 1, 3-6. Bauer, Ulrich (2005): Das Präventionsdilemma. Potentiale schulischer Kompetenzförderung im Spiegel sozialer Polarisierung. Wiesbaden: VS. Bonvin, J.-M. (2009): Der Capability Ansatz und sein Beitrag für die Analyse gegenwärtiger Sozialpolitik. In: Soziale Passagen (1), H. 1, 8-22. Bundesministerium für Gesundheit (BMG) (2008): gesundheitsziele.de. Maßnahmen des Bundesministeriums für Gesundheit zur Umsetzung der nationalen Gesundheitsziele. In: www.gesundheitsziele.de, 26.09.2008. Dür, W./Griebler, R. (2007): Gesundheit der österreichischen SchülerInnen im Lebenszusammenhang. Ergebnisse des WHO-HBSC-Survey 2006. Wien: Bundesministerium für Gesundheit, Familie und Jugend 2007. Fend, H. (2007): Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Wiesbaden: VS. Franzkowiak, P./Wenzel, E. (2001): Gesundheitserziehung und Gesundheitsförderung. In: Otto, H. U./ Thiersch, H. (Hg.), Handbuch Sozialarbeit/Sozialpädagogik. Neuwied/Kriftel: Luchterhand, 716-722. Herzlich, C. (1991): Soziale Repräsentationen von Gesundheit und Krankheit und ihre Dynamik im sozialen Feld. In: Flick, U. (Hg.), Alltagswissen über Gesundheit und Krankheit. Heidelberg: Asanger Roland Verlag, 293-302. Homfeldt, H. G./Sting, S. (2006): Soziale Arbeit und Gesundheit. Eine Einführung. München: Reinhardt. Hradil, S. (2006): Was prägt das Krankheitsrisiko: Schicht, Lage, Lebensstil? In: Richter, M./Hurrelmann, K. (Hg.), Gesundheitliche Ungleichheit. Wiesbaden: VS, 33-52. IAGJ (Internationale Arbeitsgemeinschaft für Jugendfragen) (2004): Neue Gesundheitsrisiken bei Kindern als Herausforderung für die Kinder- und Jugendhilfe (Abschlusserklärung der 14. Arbeitstagung der IAGJ in Garderen/NL, 2004). www.agj.de, 26.07.2007.
Gesundheit als Basic Capability
149
Kardorff, E. v./Ohlbrecht, H. (2007): Essstörungen im Jugendalter - eine Reaktionsform auf gesellschaftlichen Wandel. In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung (2), H. 2, 155-168. Kasten, E. (2006): Body-Modification. Psychologische und medizinische Aspekte von Piercing, Tattoo, Selbstverletzung und anderen Körperveränderungen. München: Reinhardt. Keupp, H. (2000): Gesundheitsförderung als Ermutigung zum aufrechten Gang. Eine salutogenetische Perspektive. In. Sting, S./Zurhorst, G. (Hg.), Gesundheit und Soziale Arbeit. Weinheim/München: Juventa, 15-40. Kurth, B.-M./Schaffrath Rosario, A. (2007): Die Verteilung von Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland. In: Bundesgesundheitsblatt-GesundheitsforschungGesundheitsschutz, H. 5-6, 736-743. Laaser, U./Hurrelmann, K. (1998): Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention. In: Hurrelmann, K./Laaser, U. (Hg.), Handbuch Gesundheitswissenschaften. Weinheim/München: Juventa, 395-424. Labisch, A. (1992): Homo Hygienicus. Gesundheit und Medizin in der Neuzeit. Frankfurt a. M./New York: Campus. Lampert, T./Richter, M. (2006): Gesundheitliche Ungleichheit bei Kindern und Jugendlichen. In: Richter, M./ Hurrelmann, K. (Hg.), Gesundheitliche Ungleichheit. Wiesbaden: VS, 199-220. Lohaus, A. (1993): Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention im Kindes- und Jugendalter. Göttingen: Hogrefe. Mackenbach, J. P. (2006): Health Inequalities: Europe in Profile. Rotterdam: ERASMUS MC University Medical Center Rotterdam. Nussbaum, M. C. (1999): Gerechtigkeit oder Das gute Leben. Gender Studies. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung. In: Göpel, E./Schneider-Wohlfart, U. (Hg.), Provokationen zur Gesundheit. Frankfurt a.M.: Mabuse 1995, 279-283. Palentien, C./Settertobulte, W./Hurrelmann, K. (1998): Gesundheitsstatus und Gesundheitsverhalten von Kindern als Grundlage der Prävention. In: BZgA (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung) (Hg.), Gesundheit von Kindern. Epidemiologische Grundlagen. Köln 1998, 79-89. Ravens-Siebener, U./Wille, N./Bettge, S./Erhart, M. (2007): Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. In: Bundesgesundheitsblatt-Gesundheitforschung-Gesundheitsschutz, H. 5-6, 871-878. Richter, M./Hurrelmann, K. (2006): Gesundheitliche Ungleichheit: Ausgangsfragen und Herausforderungen. In: Richter, M./Hurrelmann, K. (Hg.), Gesundheitliche Ungleichheit. Wiesbaden: VS, 11-31. Rittner, V. (1999): Körper und Identität. Zum Wandel des individuellen Selbstbeschreibungsvokabulars in der Erlebnisgesellschaft. In: Homfeldt, H. G. (Hg.), »Sozialer Brennpunkt« Körper. Baltmannsweiler: Schneider, 104-116. Statistik Austria (Hg.) (2009): Einkommen, Armut und Lebensbedingungen. Ergebnisse aus EU-SILC 2007. Wien 2009. Sting, S. (2007): Der Körper als Bildungsthema. In: Homfeldt, H. G. (Hg.), Soziale Arbeit im Aufschwung zu neuen Möglichkeiten oder Rückkehr zu alten Aufgaben? Baltmannsweiler: Schneider, 102-112.
150
Stephan Sting
Sting, S. (2009): Gesundheitsprävention und Gesundheitsförderung im Kindes- und Jugendalter. Soziale Arbeit als Erfüllungsgehilfin der Gesundheitswissenschaften? In: Behnisch, M./Winkler, M. (Hg.), Soziale Arbeit und Naturwissenschaften. München: Reinhardt, 86-105. Weichold, K./Silbereisen, R. K. (2007): Positive Jugendentwicklung und Prävention. In: Röhrle, B. (Hg.), Prävention und Gesundheitsförderung Bd. III für Kinder und Jugendliche. Tübingen: dgvt verlag, 103-125. Weltgesundheitsorganisation (WHO) (Hrsg.): Das Rahmenkonzept »Gesundheit für alle« für die Europäische Region der WHO: Aktualisierung 2005. Kopenhagen. URL: http://www.euro.who. int/Document/E87861G.pdf?language=German, 26.09.2008. Ziegler, H. (2009): Human Development und Capabilities - Wohlergehen als Maßeinheit zur Bestimmung des Nutzens Sozialer Arbeit. In: Homfeldt, H. G./Reutlinger, C. (Hg.), Soziale Arbeit und Soziale Entwicklung. Baltmannsweiler: Schneider, 126-147. Zimmermann, R. (1996): Symbolisation und Vermarktung von Gesundheit. In: GesundheitsAkademie Bremen, Landesinstitut für Schule und Weiterbildung, NRW (Hg.), Neue Provokationen zur Gesundheit. Frankfurt a. M.: Mabuse, 109-122.
Links WHO-Definition von Gesundheit: URL: http://www.api.or.at/sp/download/whodoc/who%20verfassung%201946.pdf, 03.12.2009. Fonds gesundes Österreich - Förderprojekte: http://www.fgoe.org/projektfoerderung/gefoerderte-projekte, 03.12.2009. Gesundheitsland Kärnten - Aktivitätenkatalog: http://www.gesundheitsland.at, 03.12.2009.
Frühkindliche Mentalisierung als eine zentrale »capability« wider die Armut Bernhard Schwaiger
1. Einleitung und Fragestellung Ein 15-jähriger Jugendlicher aus armen Familienverhältnissen, den ich psychotherapeutisch begleitete, tat sich schwer, innere Zustände wie Gefühle, Wünsche, Überzeugungen sowohl bei sich als auch bei anderen Menschen wahrzunehmen, zu beschreiben, zu unterscheiden und sie in seinen Handlungsentscheidungen zu berücksichtigen. Er reagierte viel eher auf äußere Merkmale von Situationen und war aus diesem Grund in seinem Handeln sehr abhängig von den sich gerade ergebenden Konstellationen. Er verfügte über keinen inneren Spielraum, um negative Emotionen wie Ärger, Zorn, Enttäuschung oder Trauer zu bearbeiten und zu regulieren. Stattdessen verfiel er in oft heftige verbale und körperliche Aktionen, griff seine Umgebung an und war für seine ErzieherInnen schwierig zu führen. Die in der Literatur genannten typischen Begleitsymptome von Kinderarmut wie Kleinkriminalität und Rückzug aus dem Bildungssystem traten deutlich hervor. Er war zwar prinzipiell gewillt, einen Lehrberuf zu erlernen, hatte dazu auch die intellektuellen Voraussetzungen, war aber ständig in Gefahr, von seinem Lehrherrn wegen seiner mangelnden Impulskontrolle gekündigt zu werden und wie alle seine näheren Verwandten ein Leben in Armut am Rand der Gesellschaft zu führen. Meine These zu dieser Fallskizze: Wenn das Vermögen, eigene mentale Zustände - vor allem Affekte - und solche von anderen Menschen im Handeln automatisch berücksichtigen zu können (= Mentalisierung1), eingeschränkt ist, stellt dieser Mangel eine Form von Armut im Sinne des capability approach 2 dar und führt häufig zu Armut im herkömmlichen Sinne, nämlich materieller Armut.
1 2
Vgl. Fonagy, Peter/Gergely, György/Jurist, Elliot L./Target, Mary (2004): Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Vgl. Nussbaum, Martha C. (2000): Women and human development. The capabilities approach; Sen, Amartya (32005): Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft.
C. Sedmak et al., Der Capability-Approach in sozialwissenschaftlichen Kontexten, DOI 10.1007/978-3-531-92749-7_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
152
Bernhard Schwaiger
Freilich führt auch materielle Armut nicht selten zu Veränderungen des Familienklimas, welche »… sich generalisierend als Rückfall in oder Verstärkung von autoritären Interaktionsstrukturen auf der Basis traditioneller Geschlechtsrollenverteilung kennzeichnen (lassen)« 3, und materielle Armut kann somit einem Mangel an Mentalisierung Vorschub leisten. Die kognitive Neurowissenschaft hat sich, ausgehend von den schon lange bekannten Zusammenhängen zwischen sozioökonomischem Status (socioeconomic status = SES) und Intelligenz sowie Schulleistungen, der Frage zugewandt, ob Unterschiede im SES mit Unterschieden in bestimmten neurokognitiven Systemen einhergehen.4 So gibt es etwa experimentelle Hinweise, dass ein Zusammenhang zwischen niederem SES und klinisch auffälligen EEG-Mustern im präfrontalen Kortex von 9-10-jährigen Kindern besteht.5 Der präfrontale Kortex ist ein wichtiges Kontrollzentrum für die Handlungssteuerung und Regulierung von Emotionen. Sein optimales Funktionieren liegt der Fähigkeit zur Mentalisierung zu Grunde.6 Unterschiedlich beantwortet wird die Frage, worauf diese Zusammenhänge zurückzuführen sind. Verursacht der je unterschiedliche SES eine je unterschiedliche Gehirnentwicklung und wie soll man sich im Einzelnen diesen Einfluss vorstellen? Oder geben Eltern mit unterschiedlichem SES jeweils unterschiedliche genetische Informationen an ihre Kinder weiter, welche sich dann in unterschiedlichen Gehirnentwicklungen manifestieren? Ich schätze bei der Behandlung dieser Fragen den Einfluss des psychosozialen Faktors auf die Gehirnentwicklung als bedeutsam ein und schließe mich dabei den Argumenten an, die Fonagy et al.7 vorgetragen haben. Aufschlussreich sind deren Überlegungen im Hinblick auf die Frage, ob und wie sich nachteilige äußere Umstände auf die psychische Entwicklung von Kindern auswirken. Offensichtlich spielen rein äußere (oder genetische) Umstände nicht die ihnen oft zugedachte entscheidende Rolle. Vielmehr kommt es darauf an, ob Kinder frühzeitig und ausreichend von ihren Bezugspersonen mentalisiert werden, d.h. ob sie als Wesen behandelt werden,
3 4 5 6 7
Beisenherz, H. Gerhard (2002): Kinderarmut in der Wohlfahrtsgesellschaft. Das Kainsmal der Globalisierung, S. 84. Vgl. Hackman, Daniel A. / Farah, Martha J. (2009): Socioeconomic status and the developing brain, S. 65-73. Vgl. Kishiyama, Mark M./Boyce, W. Thomas/Jimenez, Amy M./Perry, Lee M./Knight, Robert T. (2009): Socioeconomic disparities affect prefrontal function in children, S. 1106-1115. Vgl. Bateman, Anthony W./Fonagy, Peter (2004): Psychotherapy for Borderline Personality Disorder: Mentalization-based treatment, S. 80. Vgl. Fonagy et al., Affektregulierung, S. 105-150.
Frühkindliche Mentalisierung als eine zentrale »capability« wider die Armut
153
deren mentale Zustände wahrgenommen und in der Interaktion berücksichtigt werden. Mentalisierung wird von Fonagy et al. als eine Fähigkeit definiert, »sich mentale Zustände im eigenen Selbst und in anderen Menschen vorzustellen« 8, und hat - weil eben als Fähigkeit verstanden - zumindest begrifflich eine Nähe zum so genannten Fähigkeitenansatz von Amartya Sen und von Martha Nussbaum. Ob über die bloß begriffliche Nähe inhaltlich aufschlussreiche Zusammenhänge zwischen diesen Konzepten bestehen, möchte ich im Folgenden beleuchten. Ich gehe so vor, dass ich den Fähigkeitenansatz von Martha Nussbaum als Gerüst verwende und das Konzept der Mentalisierung an Hand dieses Gerüsts abzubilden versuche. Dies deshalb, um zu sehen, ob eine wechselseitige Erhellung, Ergänzung oder Kritik der Konzepte sichtbar wird.
2. Capabilities nach Martha Nussbaum Martha Nussbaum 9 schlägt eine Liste von basalen Fähigkeiten für ein gelingendes menschliches Leben vor, welche ich als Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen verwende 10. 1. Life [Fähigkeit, ein volles Menschenleben bis zum Ende zu führen (…)] 2. Bodily Health [Fähigkeit, sich guter Gesundheit zu erfreuen; sich angemessen zu ernähren (…)] 3. Bodily Integrity [Fähigkeit, unnötigen Schmerz zu vermeiden und freudvolle Erlebnisse zu haben (…)] 4. Senses, Imagination, and Thought [Fähigkeit, die fünf Sinne zu benutzen, sich etwas vorzustellen, zu denken und zu urteilen (…)] 5. Emotions [Fähigkeit, Bindungen zu Dingen und Personen außerhalb unserer selbst zu haben (…)] 6. Practical Reason [Fähigkeit, sich eine Vorstellung vom Guten zu machen, sein Leben danach einzurichten und kritisch über die eigene Lebensplanung nach zudenken (…)]
8 Fonagy et al., Affektregulierung, S. 31. 9 Vgl. Nussbaum, Women, S. 78-80. 10 Ich übernehme die Übersetzungen von Jörn Müller (2006, S. 151-152) und kürze die Beschreibungen der einzelnen Fähigkeiten etwas ab, wobei ich diese Kürzungen durch Klammerausdrücke (…) kennzeichne; vgl. Müller, Jörn (2006): Physis und Ethos. Der Naturbegriff bei Aristoteles und seine Relevanz für die Ethik.
154
Bernhard Schwaiger
7. Affiliation: A) Being able to live with and toward others (…), B) Having the social bases of self-respect and non-humiliation (…) [Fähigkeit für andere und bezogen auf andere zu leben; Fähigkeit eine soziale Basis zu haben für Selbstrespekt und Ausbleiben von Demütigungen] 8. Other Species [Fähigkeit, in Verbundenheit mit Tieren, Pflanzen und der ganzen Nattur zu leben] 9. Play [Fähigkeit zu lachen, zu spielen und Freude an erholsamen Tätigkeiten zu haben] 10. Control over One´s Environment: A) Political (…), B) Material (…) [Fähigkeit, effektiv an politischen Entscheidungen teilnehmen zu können; Fähigkeit, Eigentum an Land und beweglichen Gütern zu haben]. Nussbaum unterscheidet in ihrer Konzeption drei Ebenen von Fähigkeiten, nämlich basic capabilities, internal capabilities und combined capabilities. Die Erstgenannten stellen grundlegende Fähigkeiten im Sinne angeborener Anlagen und Entwicklungsmöglichkeiten für den Erwerb weiterer Fähigkeiten dar, welche sich durch Reifung und/oder Unterstützung durch die Umwelt entwickeln und der zweiten Ebene (internal capabilities) zugerechnet werden. Die dritte Ebene beschreibt, wie interne Fähigkeiten durch externe Umweltbedingungen in ihrer praktischen Realisierung gefördert oder behindert werden. Der so konzipierte Aufbau menschlicher Fähigkeiten steht in der Tradition des aristotelischen Denkens über den Zusammenhang von Physis und Ethos11. Nussbaum versteht die von ihr vorgelegte Liste von Fähigkeiten als eine Liste kombinierter Fähigkeiten. Die grundlegende Idee ihres Fähigkeitenansatzes besteht darin »that certain human abilities exert a moral claim that they should be developed«12. Die von ihr vorgeschlagenen Fähigkeiten sieht Nussbaum als untereinander nicht ersetzbar an, d.h. man könne z.B. nicht eine Fähigkeit zu Lasten einer anderen ausbauen. Dennoch misst sie zwei Fähigkeiten eine zentrale Bedeutung zu, nämlich practical reason und affiliation, denn »they both organize and suffuse all the others, making their pursuit truly human«13. Wer nicht die Möglichkeit habe, seine Fähigkeiten zu entfalten, sei in Gefahr, ein Leben zu führen, das eigentlich als ein nicht wirklich menschliches zu bezeichnen sei. Auf die Armutsforschung angewendet, könnte man dann von einem Leben in Armut sprechen.14
11 12 13 14
Vgl. Müller, Physis, S. 148ff. Nussbaum, Women, S. 83. Nussbaum, Women, S. 82. Vgl. Böhler, Thomas (2004): Der Fähigkeiten-Ansatz von Amartya Sen und die »Bevorzugte Option für die Armen« in der Befreiungstheologie - Zwei Ansätze auf dem Weg zur ethischen Begründung von Armutsforschung und Armutsreduktion (Working Papers).
Frühkindliche Mentalisierung als eine zentrale »capability« wider die Armut
155
3. Basic capabilities für Mentalisierung Sowohl Philosophen 15 als auch Kognitionspsychologen 16 haben sich mit der Frage auseinander gesetzt, wie sich unsere Fähigkeit, anderen Menschen kausale mentale Zustände zuzuschreiben, entwickelt. Diese Fähigkeit ermöglicht uns, Vorhersagen über das Verhalten von Akteuren zu treffen und stellt(e) einen evolutionären Vorteil dar. Zumeist wurden Überzeugungen (z.B. false beliefs über einen faktischen oder möglichen Sachverhalt) oder Wünsche (Vorstellungen über künftige Verhältnisse) untersucht. Zu mentalen Zuständen sind aber auch Gefühle zu zählen, denn auch sie haben intentionalen Charakter, d.h. sie beziehen sich auf einen Gegenstand, sind ebenfalls durch die semantische Eigenschaft der referentiellen Opazität gekennzeichnet und zeichnen sich dadurch aus, dass man jemandem, dem man ein Gefühl zuschreibt, auch eine Verhaltensdisposition zuordnet, die es ermöglicht, ihr/sein Verhalten vorherzusagen. Das Konzept der Mentalisierung erfasst vor allem die Wahrnehmung und Regulierung von Gefühlszuständen. Folgende Fragen ergeben sich an die Säuglingsforschung: (a) Wie lernen Säuglinge, welchen dispositionellen Inhalt Gefühle haben? (b) Wie erkennen sie, worauf sich der emotionale Zustand bezieht? (c) Wann beginnen sie, anderen diese Informationen zuzuschreiben, um über Verhalten besser nachdenken zu können? (d) Wie lernen sie die Bedingungen kennen, unter denen die Attribution von Emotionen an andere - oder auch an sie selbst - gerechtfertigt ist? 17
In geraffter Form kann man diese Fragen wie folgt beantworten: Das Neugeborene bringt ein Set von Basisemotionen mit (nachgewiesen sind jedenfalls die Emotionen Interesse, Freude, Ekel, Überraschung und Kummer). Von Anfang an richten sich diese Basisemotionen an die Mutter und beide (Mutter und Baby) bilden ein affektives Kommunikationssystem, in welchem die Mutter die zentrale Aufgabe hat, die Affekte des Babys zu regulieren. Die Regulation durch die Mutter ist unverzichtbar, denn die vom Baby mitgebrachten Regulationsmechanismen (z.B. Abwenden oder Daumenlutschen) reichen nicht aus, um die oft intensiven Gefühlsstürme selbstständig bewältigen zu können. Die genetisch grundgelegte Ausstattung mit Basisemotionen stellt - so könnte man mit Martha Nussbaum sagen - eine basic capability für die Mentalisierung dar.
15 Vgl. Dennett, Daniel (1987): The Intentional Stance. 16 Vgl. Perner, Josef (1991): Understanding the representational mind. 17 Fonagy et al., Affektregulierung, S. 156.
156
Bernhard Schwaiger
Als eine weitere grundlegende Fähigkeit ist der so genannte Kontingenzentdeckungsmechanismus, ein basaler Lernmechanismus, zu nennen. Gergely und Watson 18 haben die Existenz eines angeborenen Kontingenzentdeckungsmoduls postuliert, welches durch zwei voneinander unabhängig variierende Mechanismen charakterisierbar ist, dem Hinlänglichkeitsindex (HI; prognostisch ausgerichtet) und dem Notwendigkeitsindex (NI; retrospektiv ausgerichtet). Illustrierbar ist der damit verbundene Grundgedanke am bekannten Säuglingsexperiment Schnur am Beinchen, bei welchem ein Mobile durch eine Schnur bewegt wird. Wenn das Mobile nur durch die am Beinchen befestigte Schnur bewegt wird, sind HI und NI für das Baby gleich 1.0 (= perfekte Kontingenz). Wenn es auch durch den Experimentator bewegt wird, bleibt HI gleich und NI sinkt vielleicht auf 0.5. Starke These: Der Säugling experimentiert aktiv, wenn er merkt, dass HI und NI unterschiedlich ausfallen, indem er entweder die von ihm untersuchte Reaktionskategorie reduziert (wenn NI > HI) oder erweitert (HI > NI). Beispiel: Der Säugling bemerkt - während er mit beiden Beinen strampelt -, dass das Mobile, welches nur an einem Bein befestigt ist, sich wie HI=0.5, NI=1.0 verhält. Er wird nun die von ihm untersuchte Reaktionskategorie vielleicht reduzieren, d.h. er strampelt nur mit dem Bein, an dem die Schnur befestigt ist und optimiert dadurch HI in Richtung 1.0. Untersuchungen an Säuglingen deuten darauf hin, dass diese in den ersten drei Lebensmonaten besonders an perfekten Kontingenzen interessiert sind. Perfekte Kontingenzen ergeben sich zwischen körperlichen Aktionen und dem daraus resultierenden Feedback (aus der Muskulatur, Tiefensensibilität etc.) und weniger bei der Wahrnehmung von Reizen aus der äußeren Welt. Es könnte also sein, dass Säuglinge in den ersten drei Lebensmonaten eine primäre Repräsentanz des Körperselbst in Abgrenzung zur Umwelt aufbauen. Nach drei Monaten scheint sich der Kontingenzentdeckungsmechanismus reifungsbedingt auf zwar hohe, aber nicht perfekte Grade an (sozialer) Kontingenz umzustellen, wie sie typischerweise im Austausch mit den ersten Bindungsfiguren erlebbar sind. In der sozialen Situation mit der Mutter werden realistischerweise HI und NI nicht perfekt sein, denn selbst die feinfühligste Mutter ist nicht immer gleich zur Stelle (HI<1.0) und reagiert auch manchmal falsch (NI < 1.0). Es erfolgt also eine Art Verlagerung von der intensiven Selbsterforschung zur Erforschung und Repräsentanz der sozialen Welt. Eine zentrale Funktion des Kontingenzentdeckungsmechanismus besteht in dieser Entwicklungsphase darin, dass der Säugling für Reizhinweise auf innere Zustände (Affekte) sensibilisiert wird, die er - zunächst
18 Vgl. Gergely, György/Watson, John S. (1999): Early social-emotional development: Contingency perception and the social biofeedback model, S. 101-137.
Frühkindliche Mentalisierung als eine zentrale »capability« wider die Armut
157
ohne sie klar wahrzunehmen - aufgrund angeborener Reaktionsmuster (Basisemotionen) einfach via Mimik, Vokalisierung etc. abführt. Auf die solcherart distanzlos - d.h. ohne für sie sekundäre Repräsentationen zur Verfügung zu haben gezeigten Emotionen reagiert die Mutter durch markierte Spiegelung derselben und der Kontingenzentdeckungsmechanismus ermöglicht dem Säugling, einen Zusammenhang zwischen den von der Mutter gespiegelten Emotionen und seinen inneren Zuständen herzustellen. Dieser Vorgang wird im Punkt 4.1 noch näher beschrieben.
4. Internal capabilities für Mentalisierung In etwas schematischer Form lassen sich die bisherigen Überlegungen in folgender Weise zusammenfassen. Die genetisch grundgelegten Fähigkeiten des Säuglings, Basisemotionen zu äußern und über ein Kontingenzentdeckungsmodul zu verfügen, stellen basic capabilities im Sinne von Martha Nussbaums Konzept dar. Diese Fähigkeiten können nun in der Interaktion mit den primären Bezugspersonen zu weiteren Fähigkeiten (internal capabilities) entwickelt werden, dabei besonders zur Mentalisierung. Wie kann man sich das nun vorstellen, dass der Säugling die zunächst implizit (automatisch, unbewusst, prozedural, primärprozesshaft) ablaufenden emotionalen Regungen nun langsam in eine explizite (kontrollierte, bewusste, deklarative, sekundärprozesshafte) Repräsentationsform bringt und dadurch die Hinweisreize für seine inneren Zustände bewusst registrieren und zum Schluss den Gegenstand der Emotion und spezifische dispositionelle Emotionszustände identifizieren kann?
4.1 Das soziale Biofeedbackmodell der mütterlichen Affektspiegelung Dieser Entwicklungsschritt wird durch das so genannte soziale Biofeedbackmodell der mütterlichen Affektspiegelung zu erklären versucht. Die äußere Präsentation (Spiegelung) eines Gefühlszustandes des Säuglings durch die Mutter wird vom Säugling als mit seinem aktuellen inneren Zustand kontingent identifiziert. Aber wieso sollte das so funktionieren? Man kann zur Veranschaulichung auf einen bekannten Prozess verweisen, der Strukturähnlichkeiten mit dieser These hat, nämlich dem Trainingsverfahren des Biofeedbacks. Dabei werden innere Zustände (z.B. Blutdruck), die zunächst nicht wahrnehmbar und auch nicht kontrollierbar sind, durch kontinuierliche Messungen äußerlich sichtbar gemacht. »Das wiederholte Erleben einer solchen externalisierten Repräsentanz des inneren Zustandes
158
Bernhard Schwaiger
führt schließlich zur Sensibilisierung für den inneren Zustand und ermöglicht in bestimmten Fällen sogar die Kontrolle über ihn.«19 Bei der mütterlichen Affektspiegelung läuft ein analoger Prozess ab. Die Mutter bietet dem Säugling intuitiv einen mit dem Zustand des Säuglings - bestehend aus inneren, physiologischen Zustandsveränderungen, Ausdrucksverhalten und dessen Rückmeldung - kontingenten äußeren Biofeedback-Hinweis durch ihre empathische Widerspiegelung des zustandsexpressiven Emotionsausdrucks des Säuglings. Durch wiederholte Spiegelungserfahrungen lernt der Säugling durch nachträgliche (NI) und vorausgreifende (HI) Kontingenzanalyse innere und äußere Hinweisreize bei sich zu identifizieren, zu einer Selbstzuschreibung zu kommen und sie zu einer Gruppe (Erweiterung oder Verkleinerung der Kategorie je nach Verhältnis von NI und HI) zusammenzufassen, die sich durch denselben dispositionellen Zustand auszeichnet. Der zentrale Lernmechanismus, der diesem Biofeedbacktraining zugrunde liegt, ist der schon besprochene Mechanismus der Kontingenzentdeckung und Kontingenzmaximierung. Eine empathische Mutter wird auf die unlustvollen Affektäußerungen ihres Kindes nicht so reagieren, dass sie sofort und beständig jeden Affekt spiegelt, sondern es wird Pausen geben, in denen sie das Kind auf andere Weise beruhigt (durch Halten, Schmusen etc.). Spiegelung erfolgt also zyklisch, empathische Reaktionen sind eher kurze Gesten (auch zwischen Erwachsenen). Das bedeutet aber im Sinne der Kontingenzmaximierungshypothese, dass der NI höher ist als der HI, was den Säugling veranlasst, die Reaktionsklasse zu reduzieren, (…) um zu sehen, ob er damit eine höhere Übereinstimmung zwischen den beiden Indizes erreichen kann, und um den wirklichen Grad seiner kontigenten Kontrolle über das Spiegelungsverhalten der Mutter zu identifizieren. Infolgedessen wird der Säugling das Set und/oder die Häufigkeit und Intensität von Emotionsreaktionen, die er produziert, verkleinern. Der Nettoeffekt seines Versuchs, den maximalen Grad seiner kontingenten Kontrolle über das Spiegelungsverhalten zu identifizieren, ist also die Reduzierung der Häufigkeit und Intensität des negativen Gefühlsausdrucks, und diese führt zur Regulierung (Abschwächung) des negativen Affektzustandes.20
Hinzu kommt vermutlich, dass durch die Erfahrung der kausalen Effektanz bei der Kontrolle und Erzeugung von affektspiegelnden Äußerungen der Mutter ein positiver Affekt beim Säugling erzeugt wird, weil das Erleben von Kontingenzkontrolle in ihm seit jeher eine positive Erregung erzeugt. Auch dadurch wird der
19 Fonagy et al., Affektregulierung, S. 169. 20 Fonagy et al., Affektregulierung, S. 180.
Frühkindliche Mentalisierung als eine zentrale »capability« wider die Armut
159
negative Affekt abgeschwächt. Der Säugling wird sich bei dieser Form der Affektregulierung, bei welcher er selbst durch sein Bestreben nach Kontingenzmaximierung so aktiv involviert ist, als aktiven Urheber der Regulierung erleben. Fortwährende Erfahrungen dieser Art schaffen die Grundlage für ein Gewahrsein des Selbst als selbstregulierender Akteur. Andere Formen von Affektregulierung unterscheiden sich in dieser Hinsicht oft deutlich, etwa die disruptive Form von Beruhigung. Bei dieser wird einem negativen Affekt ein intensiver positiver Affekt entgegengesetzt, etwa durch Kitzeln oder In-die-Luft-Werfen des Babys. Bei solchen Formen von Beruhigung dürfte sich das Baby nicht als selbstregulierender Akteur erleben.
4.2 Die Markierungshypothese Wenn der Säugling in einem negativen Affektzustand ist, wie kann man sich das dann vorstellen, dass die Spiegelung dieses negativen Affekts durch die Mutter eine Beruhigung beim Baby erzeugen kann? Müsste es nicht vielmehr zu einer Art Negativspirale, einer Eskalation kommen? Woher weiß das Baby, dass die Spiegelung durch die Mutter nicht ein Ausdruck des Affektzustandes der Mutter ist (und damit potentiell bedrohlich, z.B. bei Wut oder Furcht), sondern dass sich die Spiegelung auf den eigenen Zustand bezieht? Dieses Zuschreibungsproblem wird durch ein spezifisches Wahrnehmungsmerkmal der affektiven Äußerung der Mutter gelöst, welches als Markierung bezeichnet wird. »Die Markierung wird in der Regel dadurch erreicht, daß die Mutter eine übertriebene Version ihres realistischen Gefühlsausdrucks produziert« 21. Dies wird etwa erreicht durch eine erhöhte Stimmlage, eine übertriebene Stimmlagenmodulation (Babytalk; Ammensprache) und einen übertriebenen mimischen Ausdruck. Durch die Markierung wird die Zuschreibung des Affekts an die Mutter gehemmt und der mit dem Affekt verbundene dispositionelle Zustand von der Mutter abgekoppelt (referentielle Entkoppelung). Der solcherart abgekoppelte Gefühlsausdruck wird vom Säugling durch den hohen Grad an kontingenter Beziehung zwischen Mutter und Säugling referentiell in ihm selbst verankert, d.h. als Selbstzustand.
21 Fonagy et al., Affektregulierung, S. 184.
160
Bernhard Schwaiger
5. Combined capabilities und Mentalisierung Martha Nussbaum versteht unter combined capabilities eine Kombination von internal capabilities und dazugehöriger Passung der externen Bedingungen.22 So können Menschen zwar die Fähigkeit zu freier Rede entwickeln, vermögen diese aber unter bedrängenden politischen Rahmenbedingungen oft nicht zu aktualisieren. Die politische Stoßrichtung des Ansatzes von Nussbaum in Richtung auf die Herstellung und Verbesserung demokratischer Gesellschaftsstrukturen wird dabei deutlich. Der Versuch, das Mentalisierungskonzept unter die so verstandene Rubrik combined capabilities einzuordnen, gelingt eher nicht. Wer unter einem nichtdemokratischen Regime aufwächst, aber von seinen Eltern mentalisiert worden ist, wird auf diese Fähigkeit auch (oder gerade) unter schwierigen politischen Rahmenbedingungen zurückgreifen, weil sie eine Art Puffer, einen Schutz vor Traumatisierung bietet. Denkbar wäre, dass die schon erworbene Mentalisierungsfähigkeit in Extremfällen vom Individuum dann nicht aktualisiert wird, wenn die Einfühlung in die Innenwelt des Anderen allzu bedrohlich scheint. Stellt man allerdings in Rechnung, dass für Nussbaum die Unterscheidung zwischen internal und combined capabilities ohnehin nicht so scharf ausfällt, wie es die bisherigen Überlegungen nahelegen, »because developing an internal capability usually requires favorable external conditions« 23, erweist sich die Frage der Einordnung als beinahe überflüssig, weil die Unterscheidung zwischen internal und combined capabilities selbst verschwimmt. »Where there is lifelong deprivation, the distinction is not so easy to draw: persistent deprivation affects the internal readiness to function.« 24
6. Mangel an Mentalisierung und der Bezug zu Armut Im Folgenden will ich dem Zusammenhang von Mangel an Mentalisierung, d.h. Armut im Sinne des capability approach, und Armut im herkömmlichen Sinne, nämlich materielle Armut, umrisshaft nachgehen. Dazu stelle ich zuerst einige typische Mangelkonstellationen dar und zeige in einem zweiten Schritt den Zusammenhang zur Armutsthematik auf.
22 Vgl. Nussbaum, Women, S. 84-85. 23 Nussbaum, Women, S. 85. 24 Nussbaum, Women, S. 85.
Frühkindliche Mentalisierung als eine zentrale »capability« wider die Armut
161
6.1 Mangel an Mentalisierung Ein Mangel an Mentalisierung kann dann auftreten, wenn die primären Bezugspersonen nicht in ausreichendem Maße in der Lage sind, die vom Säugling gezeigten Affekte markiert zu spiegeln. Die Mutter produziert dann den gleichen - kategorial kongruenten - Emotionsausdruck in unmarkierter, realistischer Version. Das hat zur Konsequenz, dass das Baby a) den Affekt, weil er nicht von der Betreuungsperson via Markierung abgekoppelt ist, ihr als reales Gefühl zuschreibt, b) keine sekundäre Repräsentanz des primären Emotionszustandes herstellen kann, was zu einer defizienten Selbstwahrnehmung und defizienten affektiven Selbstkontrolle führt, c) den eigenen Affekt als draußen, als zum Anderen gehörend erlebt und d) nicht beruhigt, sondern tendenziell traumatisiert wird. Im Fall der so genannten fehlenden kategorialen Kongruenz erfolgt die Affektspiegelung zwar markiert, aber verzerrt, d.h. der Säugling wird im Endeffekt eine verzerrte sekundäre Repräsentation seines primären Emotionszustandes herstellen. Vom Säugling gezeigte Gefühle der Freude und Lust werden z.B. mit »heute bist du aber wieder böse« kommentiert. Ein auf diese Weise entstehendes falsches Selbst kann zu einer kritischen Abhängigkeit von der physischen Präsenz des Anderen als Träger der Externalisierung insofern führen, als der verfolgende, misshandelnde Teil des Anderen, welcher internalisiert wurde, vom Kind / Jugendlichen / Erwachsenen im Wege der projektiven Identifizierung nach außen verlagert wird, um dadurch zumindest für eine gewisse Zeit ein Erleben von Selbstkohärenz zu erzeugen. Ein Mangel an Mentalisierung zeigt sich auch darin, dass die so heranwachsenden Kinder in der Wahrnehmung und Unterscheidung von äußerer und innerer Wirklichkeit Schwierigkeiten haben. Im so genannten Äquivalenzmodus nimmt das Kind die äußere Realität als mit seinen Gedanken und Gefühlen übereinstimmend wahr. Es kann sich nicht vorstellen, dass z.B. ein böse drein schauender Erwachsener nur so tut, als ob er böse wäre. In der Entwicklung des Säuglings zwischen 18 Monaten und dem vierten Lebensjahr ist daher der spielerische Umgang mit Gedanken und Affekten sowie deren Ausdruck von großer Bedeutung. Der Ausdruck im Spiel und die Antwort der Bezugsperson ersetzt hier die Spiegelung der ersten Säuglings- und Kleinkindphase. Im Als-Ob-Spiel übt das Kind die neu entdeckten Innenseiten ein, die Betreuungspersonen stellen die Verbindung zwischen Spiel und Wirklichkeit her und verhelfen ihm so zur Integration dieser neuen Fähigkeit. Ist es dem Kind nicht möglich, seine Affekte im Spiel auszudrücken, oder wird es beispielsweise durch Gewalterfahrungen in der Familie gezwungen, die Realität zu ernst zu nehmen, lernt es nicht, seine Gedanken als Repräsentation der Wirklichkeit anzunehmen.
162
Bernhard Schwaiger
Insgesamt können Mängel in der Mentalisierung als strukturelle Mängel der menschlichen Psyche bezeichnet werden 25 und liegen diagnostisch gesehen vor allem den so genannten Persönlichkeitsstörungen zugrunde. Eine Borderline-Persönlichkeitsstörung etwa ist als strukturelle Störung zu verstehen, in der dem Betroffenen wichtige Grundlagen für den sozialen Austausch, aber auch für die reflexive Erfassung der eigenen Selbststruktur fehlen.
6.2 Bezug zu Armut Chassé, Zander und Rasch 26 unterscheiden bei Kindern im Grundschulalter drei Typen von möglichen Armutskonstellationen. - Beim Typ 1: Elterliche Armut - Kindliche Kompensation gelingt den Kindern trotz schwieriger materieller Rahmenbedingungen ein insgesamt erstaunlich gesundes Heranwachsen verbunden mit dem Erwerb differenzierter Bewältigungsmöglichkeiten, dem Eingehen förderlicher Sozialkontakte, dem Erzielen guter Schulleistungen usw. Eine solche Entwicklung kann aus der Sicht der AutorInnen dann stattfinden, »wenn Anerkennung das übergreifende Prinzip in den sozialen Erfahrungsfeldern der Kinder darstellt« 27. Das Hauptunterscheidungsmerkmal der Kinder dieses Typs von Kindern der beiden anderen Typen sehen sie »in der deutlich positiven Eltern- (bzw. Mutter-)KindBeziehung (…); auf dieser Basis ist eine gute Beziehung zum Kind und Anteilnahme an dessen Leben möglich« 28. Die von den AutorInnen gewählten Formulierungen weisen mehr oder weniger direkt auf das hier interessierende Phänomen der Mentalisierung hin. Mentalisierung bietet so etwas wie eine Immunisierung, einen Schutz vor Traumatisierung durch Armut, denn durch den entstehenden inneren Spielraum schlagen mögliche äußere (Armuts)Attacken nicht so ohne weiteres verletzend auf das Selbst durch. Sie können bedacht, interpretiert, abgefedert etc. werden, während etwa im Modus der psychischen Äquivalenz kein derartiger Filter vorhanden ist und das Handeln vom
25 Vgl. dazu die Achse Struktur in der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD): Arbeitskreis OPD (Hrsg.) (1996): Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik. Grundlagen und Manual, S. 63-73 und S. 154-177. 26 Vgl. Chassé, Karl August/Zander, Margherita/Rasch, Konstanze (32007): Meine Familie ist arm. Wie Kinder im Grundschulalter Armut erleben und bewältigen, S. 267ff. 27 Chassé et al., Meine Familie, S. 275. 28 Chassé et al., Meine Familie, S. 276.
Frühkindliche Mentalisierung als eine zentrale »capability« wider die Armut
163
Individuum als nicht selbst steuerbar erlebt wird und die durch die Armut ausgelösten Affekte als nicht bewältigbar. - Der Typ 2 (Das Mittelfeld): kindliche Benachteiligungen in unterschiedlichen Kombinationen steht zwischen Typ 1 und Typ 3 und wird hier nicht näher betrachtet. - Hingegen erinnert der von Chassé et al. geschilderte Typ 3: Elterliche strenge Armut - starke und mehrfache Belastung der Kinder in vielen Merkmalen an die zuvor skizzierten Varianten von mangelnder Mentalisierung. Das Fehlen von Spiegelung kommt etwa in folgender Fallskizze eines Jungen (Frank, 8 Jahre) zum Ausdruck: Allerdings dürften die Eltern ihn bei der Entwicklung und Verfolgung von Interessen auch wenig unterstützen. Seine Äußerungen und Wünsche finden bei den Eltern kein Echo und bleiben ohne Rückhalt. So fehlt ihm die Möglichkeit, Interessen gleichsam vor sich selber wahrzunehmen, zuzulassen und zu entwickeln. Das Wechselspiel zwischen Eltern und Kind bleibt hier aus. So scheint es, dass Frank, gerade weil er ungestützt und insofern abhängig von den Eltern bleibt, wenig Selbständigkeit in Bezug auf sein Kinderleben und die Eigengestaltung entwickeln kann.29
Die AutorInnen finden aus meiner Sicht mit der Wortschöpfung von der strukturellen Vergleichgültigung eine treffende Formulierung für die den Nöten dieser Kinder zugrunde liegenden Ursachen: »Eine strukturelle ›Vergleichgültigung‹ in der Eltern-Kind-Beziehung von Seiten dieser Eltern scheint ein wesentliches Kennzeichen von Familien in vielfach belasteten Lebenslagen zu sein.« 30 Die bisherige Armutsforschung hat somit das Konzept der Mentalisierung implizit durchaus schon berücksichtigt. Die explizite Einführung dieses Konzeptes in die Armutsforschung bietet aus meiner Sicht eine theoretische Präzisierung und eine empirische Unterfütterung bisheriger Untersuchungen. Darüber hinaus kann dieses Konzept auch für weiterführende Überlegungen fruchtbar gemacht werden. So dürften sich Resilienzkinder dadurch auszeichnen, dass sie einen hinreichend hohen Grad an Mentalisierung erreicht haben, z.B. durch familienfremde Personen, die ihnen eine Beziehung, d.h. Spiegelung anbieten.31 Die Erklärung des Phänomens der transgenerationalen Weitergabe von Armut erfährt durch das Mentalisierungskonzept ebenfalls eine Vertiefung. Mangelnde Mentalisierung
29 Chassé et al., Meine Familie, S. 278. 30 Chassé et al., Meine Familie, S. 285. 31 Brooks, Robert B. (2006): The Power of Parenting, S. 297-314.
164
Bernhard Schwaiger
dürfte durch Eltern erfolgen, die selber in diesem Bereich Defizite aufweisen und deshalb ihren Kindern keine Mentalisierung anbieten können. Gravierende Defizite in der Mentalisierung äußern sich in Form von Persönlichkeitsstörungen, welche sich bekanntermaßen armutsgefährdend auswirken können. Wenn man die quantitativen Angaben zu sicherer und unsicherer Bindung als Indikator für die Häufigkeit des Auftretens von Mangel an Mentalisierung in der Bevölkerung heranzieht, kann man mutmaßen, dass gravierende Mentalisierungsdefizite in der Bevölkerung in einem Ausmaß von etwa 15 % vorhanden sind.32 Bedenkenswert scheint mir, dass ein Mangel an Mentalisierung nicht nur mit einem Verbleiben oder Abdriften in materielle(r) Armut und damit an dem/den unteren Rand der Gesellschaft verbunden sein muss. Mentalisierungsdefizite dürften sich - um bei dieser Einteilungsschablone zu bleiben - auch im oberen Bereich der Gesellschaft finden, etwa dort, wo sich Akteure in Politik und Wirtschaft aus einem problematischen Narzissmus heraus an keine sie begrenzenden Regeln mehr halten. Die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise spülte solche Gestalten in das Blickfeld der überraschten Öffentlichkeit. Eine empirische Untersuchung dieses Phänomens bzw. Zusammenhangs steht allerdings noch aus.
6.3 Interventionsmöglichkeiten Welche Möglichkeiten, der durch mangelnde Mentalisierung verursachten Armut gegenzusteuern, gibt es? Ich verweise hier exemplarisch auf eine Möglichkeit, nämlich die so genannte Entwicklungspsychologische Beratung (EPB) 33. Diese greift das bindungstheoretische Konzept der Feinfühligkeit auf. Letztere wird definiert als Fähigkeit der primären Bezugspersonen, die Signale des Kindes wahrnehmen, sie richtig interpretieren und prompt und angemessen auf sie reagieren zu können. Feinfühligkeit der Eltern wird als zentral für die emotionale Entwicklung
32 Vgl. dazu die Metaanalyse von IJzendoorn, Marinus H. Van/Goldberg, Susan/Kroonenberg, Pieter M./Frenkel, Oded J. (1992): The relative effects of maternal and child problems on the quality of attachment: A meta-analysis of attachment in clinical samples, S. 840-858. Nach dieser sind rund 15 % der Kinder in der Normalbevölkerung unsicher-desorganisiert gebunden. Dieser Bindungsstil führt mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Mangel an Mentalisierung, weil er häufig mit Traumatisierungen auf Seiten der Kinder einhergeht. Solche Konstellationen verhindern quasi ex definitione eine Mentalisierung des Kindes. 33 Vgl. Ziegenhain, Ute/Fries, Mauri/Bütow, Barbara/Derksen, Bärbel (22006): Entwicklungspsy chologische Beratung für junge Eltern. Grundlagen und Handlungskonzepte für die Jugendhilfe.
Frühkindliche Mentalisierung als eine zentrale »capability« wider die Armut
165
des Kindes angesehen. Das verwandte Konzept der Mentalisierung betont die Innenseiten der an feinfühligen Interaktionen beteiligten Akteure, nämlich deren mentale Zustände wie Affekte, Wünsche und Überzeugungen. In der entwikklungspsychologischen Beratungspraxis steht die Perspektive des Kindes im Mittelpunkt, erfahren die Eltern etwas über die allgemeine Entwicklung von Säuglingen und Kleinkindern, beobachten und verstehen die Eltern die Fähigkeiten und Stärken ihres eigenen Kindes und werden die Eltern in ihrer Elternrolle bestärkt. Das Ziel der EPB besteht in der Unterstützung der Eltern, feinfühliger und damit letztlich mentalisierend mit ihrem Kind umzugehen. Dabei hat sich der Einsatz von Film- bzw. Videosequenzen inzwischen bewährt und etabliert.
7. Erbringt die Einordnung des Mentalisierungskonzepts in den capability approach weiterführende Aufschlüsse? Die von Martha Nussbaum vorgelegten Unterscheidungen zwischen verschiedenen Fähigkeiten und deren Ebenen haben programmatischen Charakter und sind nicht als taxative Auflistung zu verstehen. Das Konzept der Mentalisierung kann der Fähigkeitenliste nicht eindeutig zugeordnet werden. Die Fähigkeiten Nr. 5 (Emotions) und 7 (Affiliation) weisen inhaltlich deutliche Verbindungen auf. 34
34 Der Vollständigkeit halber möchte ich diese Fähigkeiten noch einmal zur Gänze anführen; vgl. dazu Nussbaum, Women, S. 79-80: »5. Emotions. Being able to have attachments to things and people outside ourselves; to love those who love and care for us, to grieve at their absence; in general, to love, to grieve, to experience longing, gratitude, and justified anger. Not having one´s emotional development blighted by overwhelming fear and anxiety, or by traumatic events of abuse or neglect. (Supporting this capability means supporting forms of human association that can be shown to be crucial in their development.) (...) 7. Affiliation. A. Being able to live with and toward others, to recognize and show concern for other human beings, to engage in various forms of social interaction; to be able to imagine the situation of another and to have compassion for that situation; to have the capability for both justice and friendship. (Protecting this capability means protecting institutions that constitute and nourish such forms of affiliation, and also protecting the freedom of assembly and political speech.) B. Having the social bases of self-respect and non-humiliation; being able to be treated as a dignified being whose worth is equal to that of others. This entails, at a minimum, protection against discrimination on the basis of race, sex, sexual orientation, religion, caste, ethnicity, or national origin. In work, being able to work as a human being, exercising practical reason and entering into meaningful relationships of mutual recognition with other workers.«
166
Bernhard Schwaiger
Bei der Fähigkeit Nr. 5 steht der Gedanke einer möglichst ungehinderten emotionalen Entwicklung im Zentrum von Nussbaums Überlegungen. Dieser allgemeine Gedanke kann ohne Schwierigkeit mit dem Mentalisierungskonzept in Verbindung gebracht werden. Bei der Fähigkeit Nr. 7 thematisiert Nussbaum das Vermögen, soziale Beziehungen differenziert und kompetent zu gestalten und im konkreten Miteinander respektvoll zu agieren. Dafür ist die Fähigkeit, eigene und fremde mentale Zustände berücksichtigen zu können eine unabdingbare Basis und insofern kann das Mentalisierungskonzept auch dieser Fähigkeit zugeordnet werden. Darüber hinaus besteht auch zur Fähigkeit Nr. 6 (Practical Reason) 35 insofern eine Affinität, als das Nachdenken über die Konzeption des Guten und den eigenen Lebensentwurf zur Voraussetzung hat, dass man in der Lage ist, die eigene Selbststruktur reflexiv zu erfassen. Diese Fähigkeit wiederum ist ein Resultat gelungener Mentalisierung. Nussbaum weist - wie bereits eingangs erwähnt - den Fähigkeiten Nr. 6 (Practical Reason) und Nr. 7 (Affiliation) - nicht hingegen Nr. 5 (Emotions) - eine zentrale Bedeutung zu, denn »they both organize and suffuse all the others, making their pursuit truly human« 36. Wenngleich sie die Rolle der Emotionen unterschätzt, indem sie diesen nicht dieselbe zentrale Bedeutung zumisst wie den Fähigkeiten Nr. 6 und 7, trifft sie mit ihrer Einschätzung etwas Richtiges, ohne im Einzelnen genauer zu erläutern, warum gerade diesen Fähigkeiten ein derart organisierendes, menschlich zentrales Gewicht zukommen soll. Das Mentalisierungskonzept bietet sich an dieser Stelle an, eine empirische Begründung für die vorgenommene Gewichtung zu liefern. Wer in seinem Heranwachsen mentalisiert worden ist, verfügt in ihrer/seiner psychischen Struktur über eine basale Fähigkeit, welche vorbewusst in praktisch alle Handlungsvollzüge hineinwirkt. Wer nicht mentalisiert worden ist, dem fehlt ein entscheidender Mosaikstein zu einem vollen menschlichen Leben. Wenn Mentalisierung somit eine Art Basisausstattung der psychischen Struktur darstellt, wird die organisierende und vermenschlichende Strahlkraft dieser Fähigkeit in Richtung auf die anderen Fähigkeiten verständlich. Insgesamt scheint es mir notwendig zu sein, die Liste der von Martha Nussbaum vorgeschlagenen Fähigkeiten um die (Fähigkeit zur) Mentalisierung zu ergänzen. In welcher Form das geschieht, ob als bloße Hinzufügung oder als Metakonzept, ist vielleicht zweitrangig. Der Fähigkeitenansatz profitiert jedenfalls, wenn die narrativ aus Mythen, Dramen und Märchen eruierte Fähigkeitenliste für
35 Vgl. Nussbaum, Women, S. 79: »6. Practical Reason. Being able to form a conception of the good and to engage in critical reflection about the planning of one´s life (This entails protection for the liberty of conscience.).« 36 Nussbaum, Women, S. 82.
Frühkindliche Mentalisierung als eine zentrale »capability« wider die Armut
167
eine empirische Überprüfung geöffnet wird, indem empirisch bewährte Konzepte, wie das Mentalisierungskonzept eines ist, an sie herangetragen werden. Die Einordnung des Mentalisierungsansatzes in die drei von Martha Nussbaum vorgeschlagenen Ebenen war nicht immer trennscharf möglich. Vor allem die Einordnung der markierten Affektspiegelung erwies sich als schwierig. Gehört sie zu den basic oder den internal capabilities? Auch combined capabilities und Mentalisierung ließen sich nicht zwanglos zueinander fügen. Das hat seinen Grund u.a. darin, dass das komplexe Ineinandergreifen von genetisch mitgebrachten Fähigkeiten und deren Entfaltung durch eine förderliche Umwelt durch den Drei-Ebenen-Ansatz von Nussbaum in ein zu starres Schema gepresst wird. Auch hier müsste man weitere Überlegungen anstellen. Umgekehrt lassen sich auch für das Konzept der Mentalisierung aus dem capability approach Anregungen ableiten. Die Einordnung in einen größeren Zusammenhang von anthropologisch relevanten Fähigkeiten ermöglicht eine Art Ortsbestimmung für das Mentalisierungskonzept. Zum einen - das geht aus den bisherigen Überlegungen hervor - bestätigt sich die Einschätzung, dass dieses Konzept eine besonders wichtige menschliche Fähigkeit thematisiert. Zum anderen rücken durch den Blick auf andere Fähigkeiten der Nussbaum´schen Liste Forschungsfragen für das Mentalisierungskonzept in den Vordergrund, die ansonsten vielleicht übersehen würden. Als untersuchenswert erachte ich Zusammenhänge zwischen Mentalisierung und lebenszeitlichem Verlauf (Inwieweit beeinflussen z.B. Abbauprozesse im Alter die Mentalisierung?), körperlicher Gesundheit (Inwieweit verändert sich z.B. das Körpererleben durch Mentalisierung; gibt es Auswirkungen auf das Gesundheitsverhalten?), Bewältigung schmerzlicher Lebensereignisse (Coping) oder Humor und Spiel (Wie hängen z.B. Mentalisierung und Freizeitverhalten zusammen?).
Literatur Arbeitskreis OPD (Hg.) (1996): Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik. Grundlagen und Manual. Bern: Hans Huber. Bateman, Anthony W./Fonagy, Peter (2004): Psychotherapy for Borderline Personality Disorder: Mentalization-based treatment, New York: Oxford University Press, 80. Beisenherz, H. Gerhard (2002): Kinderarmut in der Wohlfahrtsgesellschaft. Das Kainsmal der Globalisierung, Opladen: Leske & Budrich. Böhler, Thomas (2004): Der Fähigkeiten-Ansatz von Amartya Sen und die »Bevorzugte Option für die Armen« in der Befreiungstheologie - Zwei Ansätze auf dem Weg zur ethischen Begründung von Armutsforschung und Armutsreduktion, Working Papers »Facing Poverty«, University of Salzburg.
168
Bernhard Schwaiger
Brooks, Robert B. (2006): The Power of Parenting. In: Goldstein, Sam/Brooks, Robert B. (eds.), Handbook of Resilience in Children. New York: Springer, 297-314. Chassé, Karl August/Zander, Margherita/Rasch, Konstanze (2007): Meine Familie ist arm. Wie Kinder im Grundschulalter Armut erleben und bewältigen (3. Aufl.). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Dennett, Daniel (1987): The Intentional Stance, Cambridge, MA: Bradford Books/MIT Press. Fonagy, Peter/Gergely, György/Jurist, Elliot L./Target, Mary (2004): Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst, Stuttgart: Klett-Cotta. Gergely, György/Watson, John S. (1999): Early social-emotional development: Contingency perception and the social biofeedback model. In: Rochat, Philippe (ed.), Early social cognition: understanding others in the first months of life. Hillsdale, NJ: Erlbaum, 101-137. Hackman, Daniel A./Farah, Martha J. (2009): Socioeconomic status and the developing brain. In: Trends in Cognitive Sciences 13/2, 65-73. Ijzendoorn, Marinus H. van/Goldberg, Susan/Kroonenberg, Pieter M./Frenkel, Oded J. (1992): The relative effects of maternal and child problems on the quality of attachment: A meta-analysis of attachment in clinical samples. In: Child Development, 63, 840-858. Kishiyama, Mark M./Boyce, W. Thomas/Jimenez, Amy M./Perry, Lee M./Knight, Robert T. (2009): Socioeconomic disparities affect prefrontal function in children. In: Journal of Cognitive Neuroscience 21/6, 1106-1115. Müller, Jörn (2006): Physis und Ethos. Der Naturbegriff bei Aristoteles und seine Relevanz für die Ethik. Würzburg: Königshausen & Neumann. Nussbaum, Martha C. (2000): Women and human development. The capabilities approach. Cambridge: Cambridge University Press. Sen, Amartya (2005): Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft. 3. Aufl. München: DTV. Ziegenhain, Ute/Fries, Mauri/ Bütow, Barbara/Derksen, Bärbel (2006): Entwicklungspsychologische Beratung für junge Eltern. Grundlagen und Handlungskonzepte für die Jugendhilfe. 2. Aufl. Weinheim: Juventa.
»Agency« in der mittleren Kindheit: Feldspezifik und Konsequenzen Christian Alt · Andreas Lange
1. Konzeptimport und Interdisziplinarität als Impulse für die Kindheitsforschung Die Lebenslage von Kindern ist seit etwa zehn bis fünfzehn Jahren im Rahmen von empirischen Studien und konzeptionellen Betrachtungen verstärkt analysiert worden. Detailreich wird abgebildet, welche Ressourcen sowohl Familien als auch Gesellschaft für Kinder zur Verfügung stellen, welche Problemkonstellationen kindliches Aufwachsen erschweren und wie sozial-ökologische Kontexte den Erwerb von Kompetenzen fördern. Im Rahmen tief greifender sozial-struktureller wie gesellschaftlicher Veränderungsprozesse zeichnet sich ab, dass in Zukunft vermehrt Individuen als Träger wichtiger gesellschaftserhaltender Fertigkeiten gefragt sein werden. Dies ist ein Grund dafür, Überlegungen anzustellen, wie die Kinder einerseits dazu befähigt werden können, diese Ansprüche zu meistern, und andererseits dazu in die Lage versetzt werden können, ihre Potenziale und eigenen Interessen zu entwickeln, um auch ihre Lebensziele im weiteren Lebenslauf realisieren zu können. In diesem Zusammenhang erscheinen zwei Konstrukte diskussionswürdig, die in jüngerer Zeit in die Bildungs-, Sozialisations-, Kindheits- und Jugendforschung importiert werden: nämlich die Konstrukte Agency und Capability. Wir orientieren uns im Folgenden an dem soziologisch-sozialwissenschaftlichen Konstrukt der »Agency« (Lange 2008), das in normativer und gerechtigkeitstheoretischer Hinsicht eine Fortschreibung und Ergänzung in den Überlegungen zu den »Capabilities« (Otto/Schrödter 2009) findet. Eine Kombination und Zusammenführung beider Konzepte ist in späteren Arbeiten zu leisten. Das Interesse an neuen Herausforderungen, die an Kinder als Akteure im gesellschaftlichen Wandel gestellt werden, verknüpfen wir hier mit einem disziplinenpolitischen Ansinnen. Es geht uns darum, neue Wege für die Kindheitsforschung zu bahnen. Diese hat sich in den letzten zehn Jahren rasant entwickelt und dabei mehrere unterscheidbare Phasen durchlaufen. Theoretische Zugangsweisen sowie inhaltliche Schwerpunkte haben sich in diesem Prozess stark ausdifferenziert (Lange/Alt 2009). Nach einer intensiven Phase der Konstitution der Kindheitsforschung als einer von den üblichen Kinderwissenschaften getrennten UnterC. Sedmak et al., Der Capability-Approach in sozialwissenschaftlichen Kontexten, DOI 10.1007/978-3-531-92749-7_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
170
Christian Alt · Andreas Lange
nehmung (Schweizer 2007) geht es künftig um Weichenstellungen für empirische wie konzeptionelle Weiterentwicklungen des Feldes. Gangbar sind dabei im Prinzip drei Pfade, die hier kurz umrissen werden sollen. Der erste Pfad besteht in einer abgrenzenden, hermetisch gedachten Kindheitssoziologie, die sich konzeptionell in Opposition zu den anderen als »Kinderwissenschaften« qualifizierten Disziplinen begibt und vor allem konstruktivistisch bzw. dekonstruktivistisch operiert. Bevorzugt bearbeitete Themen sind Diskurse über Kindheiten im sozialen und politischen Raum, insbesondere auch unter Aspekten des Machtgefälles zwischen den Generationen (vgl. Hengst/Zeiher 2005). Der zweite, eher pragmatische Pfad verläuft entlang der Aufarbeitung einer Vielzahl von unterschiedlichen empirischen Problemen. Man bedient sich hier der Methoden und Ergebnisse vielfältigster kinderwissenschaftlicher Bezüge, ohne dabei allzu große theoretische Ambitionen zu verfolgen. Hier stehen sowohl das jeweilige Thema im Vordergrund als auch eine Reihe von »materialen« Wissenschaften. Sport- und Medienwissenschaften, Pädagogik und Medizin sind hier als wichtige Wissenslieferanten zu nennen. Ein dritter Pfad, den wir hier näher ausflaggen wollen, verläuft entlang von interdisziplinären Methoden- und Konzeptimporten, die im Rahmen einer größtmöglichen Passfähigkeit zu erarbeiten und umzusetzen sind. Darüber hinaus sollen sie - in unserem Falle - die Überprüfung der heuristischen Potenz von »Agency« ermöglichen. Wir gehen davon aus, dass eine solche Orientierung der Kindheitsforschung dazu verhilft, die Bedeutsamkeit der jeweiligen sozialen Kontexte für die tatsächlichen Handlungs-, Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeiten von Kindern noch dezidierter in den Blick zu nehmen. Interdisziplinärer Bezug meint insbesondere den Brückenschlag zur Sozialisationsforschung und zu anderen Gebieten, die Instrumente und Einsichten zur Modellierung der Agency sowie der darauf abstrahlenden unabhängigen Variablen und deren Konsequenzen anzubieten haben. Damit kann der Gefahr einer »Essentialisierung«, also einer starken Zuschreibung einer irgendwie von sich aus wirksamen Handlungsmacht, quasi als urwüchsiger Gegenstruktur zur Gesellschaft - ohne Kontext -, und auch einer, wie wir meinen, einseitigen Überzeichnung der Agency von Kindern (vgl. Prout 2003) entgegengewirkt werden. Kinder werden, unter ausdrücklichem Rekurs auf die neuere Kindheitssoziologie, zu eigenständigen Akteuren »ihrer« Entwicklungs- und Sozialisationsprozesse konzeptualisiert. Die Betonung liegt zum einen auf ihrer aktiven Rolle im Individuations- und Vergesellschaftungsprozess. Gleiches gilt für die in der Entwicklungspsychologie und Sozialisationsforschung schon seit geraumer Zeit mitbedachte Einsicht in die Eigenanteile des Kindes, in deren Ent-
»Agency« in der mittleren Kindheit
171
wicklung von allgemeinen Lebensführungs- bzw. Handlungskompetenzen (vgl. Lerner/Theokos/Jelicic 2005). Zum anderen wird innerhalb dieses dritten Pfads berücksichtigt, dass die aufwogende Euphorie, die zu Beginn der Entdeckung des Kindes als Subjekt der Gesellschaft in den Anfängen der Kindheitssoziologie hierzulande merklich spürbar war, in den letzten Jahren deutlich relativiert worden ist (vgl. Albus u.a. 2009). Es hat sich durch die Zunahme der empirischen Forschungsarbeiten insbesondere zur mittleren Kindheit herausgestellt, dass Mädchen und Jungen durchaus ein hohes Maß an Selbstständigkeit für einige Lebensbereiche zugestanden bekommen und dies von ihnen auch ausgelebt wird. In anderen Bereichen sind Kinder jedoch stark von den umgebenden materialen und sozialen Umfeldern abhängig. Diesem Spannungsfeld werden wir näher nachgehen und gewissermaßen »agency-resonante« und »agency-non-resonante« soziale Strukturen und Felder unterscheiden. Nach der Positionierung im Feld der Kindheitswissenschaften diskutieren wir in Abschnitt 2 die aktuellen Diskurse um Agency. Abschnitt drei veranschaulicht dann ausgewählte Felder, in denen sich Agency entfalten kann bzw. auf Resonanzen trifft, und solche Felder, in denen Agency blockiert wird, wobei wir dies gleichzeitig mit Aussagen zu bestimmten Populationen von Kindern, auch unter Aspekten der Ungleichheit, verknüpfen.
2. Agency - heuristische Potenziale für die Kindheitsforschung Mit den aktuellen Debatten um »Agency« öffnet sich eine neue Zugangsweise für die Kindheits- und Jugendforschung zur Rekonstruktion der Handlungsbefähigungen. Sie kann mit Überlegungen zur sozialisatorischen Praxis als Grundlage der Persönlichkeitsentwicklung verbunden werden und knüpft an die allgemeine Sozialökologie menschlicher Entwicklung sowie an Thesen zur besonderen sozialisatorischen Potenz generationaler Beziehungen an (vgl. Bronfenbrenner/Morris 2000; Lüscher/Liegle 2008). Diese sind wiederum folgendermaßen zu verknüpfen: mit zeitdiagnostischen Überlegungen zur Relevanz und Ausdifferenzierung neuer sozialer Felder der Agency (vgl. Bertram/Bertram 2009) sowie mit den gleichzeitig zunehmenden Anforderungen und vermehrten Spielräumen für Agency aufgrund von Destandandardisierungen von Alltagswelt und Lebenslauf (vgl. Heinz 2009; Settersten/Ganon 2009) und schließlich mit aktuellen Entwicklungen der gesellschaftlichen Lage im Zusammenhang mit der Wirtschafts- und Finanzkrise (vgl. Mansel/Spaiser 2010). »Agency« verstanden als Handlungsbefähigung (Emirbayer/Mische 1998), die strukturellen Einschränkungen unterworfen ist,
172
Christian Alt · Andreas Lange
spielt mittlerweile auch eine Rolle in aktuellen kindheitswissenschaftlichen Debatten (vgl. Eßer 2008). Wegweisend waren hierzu die Arbeiten von Corsaro (2005), der die einzelnen Elemente kollektiver Agency anhand teilnehmender Beobachtungen rekonstruiert und diese in enger Anlehnung an die Überlegungen von Emirbayer und Mische (1998) für Vorschulkinder wie folgt abbildet: »Corsaros Verdienst ist es, eine differenzierte Beschreibung des Prozesses zu liefern, in dessen Rahmen die Kinder unter Heranziehung kultureller Muster und Praktiken sowie materialer Artefakte gemeinsam eine geteilte Handlungsebene hervorbringen.« (Eßer 2008: 140). Solle Agency aber auch als Begriff verwendet werden, der eine Beurteilung kindlicher Lebenslagen einschließt, dann müssen, so Eßer (2008) weiter, die Bedingungen ausgelotet werden, unter denen Kinder tatsächlich bestimmte Handlungsmöglichkeiten haben. Genau das wiederum ist im Rahmen der bestehenden kulturellen und generationalen Ordnungen jeweils differenziert zu bestimmen, wozu wir in Teil 3 detaillierte Vorschläge unterbreiten werden. Über diesen kindheitswissenschaftlichen Rahmen hinaus hat der AgencyBegriff zeitdiagnostisch-gesellschaftstheoretische Wurzeln und rekurriert darauf, dass aufgrund des partiellen Orientierungsverlustes, mit der Offenheit der Entscheidung und der Pluralität der Sinngebungsmöglichkeiten, die Anforderungen für eigenverantwortliche Lebensgestaltung im Prinzip in allen Lebensaltern steigen - sowohl auf der Ebene praktischer Herausforderungen als auch auf einer diskursiven Ebene. Mehr als früher wird menschliche Agency, d.h. individuelles Gestaltungsvermögen und -handeln, verlangt, wodurch Information und Wissen als Handlungsressourcen an Bedeutung gewinnen (vgl. Kaltenborn 2001). Neuere soziologische Ansätze (vgl. Hitlin/Elder 2007; Hitlin/Long 2009) konzeptionalisieren Agency als eine voraussetzungsreiche Handlungsbefähigung, die im Schnittpunkt von äußerlichen Handlungsbedingungen und inneren Persönlichkeitsmerkmalen entsteht und damit nahezu zwangsläufig interdisziplinär zu betrachten ist. In den konkreten Handlungsvollzügen verbinden sich diese Momente in den handlungsvorbereitenden und handlungsreflektierenden Interpretationen und führen zu neuen strukturellen Konstellationen, die dann wiederum auf den Akteur - das Kind - zurückwirken können, womit der Gedanke der in der Literatur heftig debattierten Figur der Selbstsozialisation (vgl. Lange 2007; Zinnecker 2002) eingeführt ist. Überdies wird deutlich, dass das Vorhandensein von Möglichkeiten zur Ausübung von Agency in vielen Bereichen des alltäglichen Lebens eine Grundbedingung für die Erfahrung der Selbstwirksamkeit darstellt - eine Erfahrung, die mit einer Reihe von positiven Entwicklungskonsequenzen verbunden ist (vgl. Bandura 2006; Bundesministerium 2009). Mitgedacht werden sollte bei aller notwendigen Betonung der Eigenaktivitäten und Potenziale der Kinder immer auch der Aspekt der Ko-Konstruktion von
»Agency« in der mittleren Kindheit
173
Handlungsbefähigungen sowie spiegelbildlich dazu die »Resistenzen« intentionaler wie nicht-intentionaler Natur gegenüber den Handlungsprojekten von Kindern. Sowohl in der konzeptuellen Arbeit wie auch in der empirischen Forschung geht es um das Aufdecken des jeweiligen relativen Anteils, der vom Kind her in Prozessen der Interaktion mit der Umwelt, die beispielsweise in Felder und Settings ausdifferenziert werden kann, verstehbar ist. Es gilt jene Strukturen herauszuarbeiten, die Kinder generell zu bestimmten Handlungen und daran anschließend zu bestimmten Entwicklungen und Kompetenzen befähigen. Dies wirft die Frage nach den gesellschaftlichen Erwartungen an die Handlungsfähigkeiten von Kindern auf. Wo werden ihnen welche »Handlungsmächtigkeiten« eingeräumt? In welchen Arenen wird definiert, welches die erwünschten Agencies von Kindern sind? Welche Akteure positionieren sich hier? Hitlin/Long (2009: 150) prägen dafür den Begriff der »agency norms« und machen die damit verbundenen Spannungsfelder beispielhaft deutlich: If a young child exerts too much agency, without regard of norms proscribed by the parents or teachers, that child would most likely face punishment for disobedient or nonconforming behavior. The same child might, later in life, be admonished for ›not trying hard enough‹ on an academic or extracurricular activity. (Hitlin/Long 2009: 150)
Vor dieser Folie betrachten wir im Folgenden wichtige Handlungsfelder und bestimmen anhand vorliegender empirischer Literatur jeweils das Verhältnis von »Resonanz« und »Resistenz«. Wir operieren dabei mit der Figur des modernen Durchschnittskindes, wohl wissend, dass ethnische und sozialstrukturelle sowie insbesondere milieuspezifische Differenzierungen (vgl. Grundmann 2006b) die Ausprägung der Agency wesentlich mitbestimmen.
3. Familie, Medien, Sport und Schule: Felder und Resonanzen von Agency in der mittleren Kindheit 3.1. Familie Das erste Feld kindlicher Agency ist die Familie, das gilt auch in der mittleren Kindheit. Allerdings hat die Familienforschung diese Sichtweise lange Zeit verdeckt, weil primär die Eltern als die Akteure des Familienlebens im Vordergrund standen und die Kinder als passive »Rezipienten« elterlicher Sozialisationsimpulse angesehen wurden (vgl. Morrow 2003). Mittlerweile ist dieser Bias überwunden und es zeigt sich, dass Kinder je nach deren Alter und dem Ermessen der
174
Christian Alt · Andreas Lange
Eltern in Entscheidungen sowie in die Gestaltung familialer Routinen und Rituale einbezogen und ihre Interessen mehr oder weniger stark berücksichtigt werden (vgl. Baumann 2009). Damit ist über die Akzeptanz kindlicher Interessenslagen hinaus auch die Möglichkeit gegeben, dass - innerhalb bestimmter Grenzen kindliches Handeln weitgehend selbstkontrolliert ablaufen kann. Kinderleben erfährt so eine Aufwertung an Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit. Gelungene Aushandlungsprozesse führen zu vermehrter Partnerschaftlichkeit und erhöhen die Bereitschaft, die Entscheidungsbeteiligung der Kinder im Laufe der Zeit zu erweitern. Im Rahmen des DJI-Kinderpanels konnten diese Zusammenhänge teilweise empirisch abgebildet werden (vgl. auch Alt u.a. 2005). Eine allgemeine Einschätzung der Beteiligungsberereitschaft der Eltern wurde mit zwei Fragen erhoben, die das Kind jeweils in Bezug auf Mutter und Vater beantworten sollte. Die erste Frage »Wie oft fragt deine Mutter (dein Vater) dich nach deiner Meinung, bevor sie (er) etwas entscheidet, was dich betrifft?« fokussiert auf die Autonomie des Kindes, d.h. auf Mitbestimmungsmöglichkeiten bei Belangen, die ausschließlich die Person des Kindes betreffen. Etwa zwei Drittel der Kinder geben an, dass die Mutter sie häufig oder sehr oft nach ihrer Meinung fragt, bevor sie Dinge entscheidet, die sie als Kind betreffen. Jedes vierte Kind (26 Prozent) wird manchmal gefragt und nur knapp zehn Prozent der Kinder geben an, selten oder nie nach ihrer Meinung gefragt zu werden. Bereits dieser erste empirische Befund macht deutlich, dass Kinder in hohem Maße in der Interaktion mit der Mutter Gehör finden und Einfluss auf Entscheidungen nehmen, die sie betreffen. Die Entscheidungsspielräume der Kinder variieren allerdings je nachdem, um welche Angelegenheiten es sich handelt. 52 Prozent der Kinder im Alter von neun bis zehn Jahren können selbstständig darüber entscheiden, was sie anziehen, 64 Prozent darüber, wofür sie ihr Taschengeld ausgeben und fast 40 Prozent darüber, was sie mit dem Computer machen. Es gibt jedoch auch Bereiche, in denen die Eltern keine Mitsprache zulassen: Die meisten Mütter und Väter entscheiden, wann ihre Kinder abends zuhause sein müssen (83 Prozent) und wie aufgeräumt das Kinderzimmer sein soll (58 Prozent). Grundschulkinder werden heute in großem Umfang von ihren Eltern um ihre Meinung gefragt, wenn es um Dinge geht, die sie unmittelbar betreffen. Da dieses Interesse an den kindlichen Bedürfnissen weitgehend unabhängig von Bildung, Familienstand oder sozioökonomischem Status ist, kann diese Art der Beteiligung auch als typisch für die heutige Kindheit gelten. Moderne Kindheit ist damit zu einem Gutteil eine partizipatorisch bestimmte Kindheit. Mitwirkungsmöglichkeiten in Familienangelegenheiten sind teilweise abhängig von sozialstrukturellen Bedingungen: Für die Vorgehensweise von Müttern und Vätern zeigt sich hinsichtlich des sozioökonomischen Status und der Höhe des
»Agency« in der mittleren Kindheit
175
Haushaltseinkommens ein signifikanter Zusammenhang. Eltern mit höherem Einkommen bzw. höherem sozioökonomischen Status lassen ihre Kinder häufiger an Familienentscheidungen mitwirken als Mütter und Väter aus einkommensschwächeren bzw. statusniedrigeren Familien. Darüber hinaus lässt sich ein Zusammenhang mit der Bildung der Mutter in der erwarteten Richtung konstatieren: Je höher ihr Schulabschluss, desto häufiger berücksichtigt die Mutter die Meinung des Kindes. Damit gilt auch die Annahme als empirisch belegt, dass Partizipation in jenen Angelegenheiten, welche die Familie als Ganzes betreffen, schichtabhängig variiert. Mit steigendem Einkommen - und damit einhergehend mit steigendem sozioökonomischem Status - nimmt die Bereitschaft zu, die Interessen der Kinder in der Familie zu beachten. Diese Zusammenhänge werden durch weitere Studien untermauert und verfeinert: Fatke und Schneider (2005, 2007) finden in einer speziellen Befragung zur Partizipation heraus, dass Kinder und Jugendliche nach eigener Einschätzung in der Familie viel mitbestimmen können und mit den Ergebnissen ihrer häuslichen Mitbestimmung insgesamt zufrieden sind. Die ZDF-Studie »Kinder ohne Einfluss« erhärtet dies und arbeitet heraus, dass Kindern die Mitbestimmung zu Hause wichtig ist und Kinder mit der Mitbestimmung daheim sehr zufrieden sind (vgl. Schneider/Stange/Roth 2009: 11).
3.2. Medien Heute kann man sich den Alltag, die Freizeit- oder Arbeitsaktivitäten, das Familienleben oder das Beisammensein mit Freunden nicht mehr ohne die Güter der Konsum- und Unterhaltungsindustrie und schon gar nicht ohne Medien- und Kommunikationstechnologien vorstellen (vgl. Livingstone 2009). Nur in einer Konsumgesellschaft im weitesten Sinne ist eine dispositive Lebensführung möglich, in der über die unmittelbare Sicherung der materiellen Existenz hinaus Wahlakte hinsichtlich konkreter Produkte für immer mehr Menschen, tendenziell auch für Kinder, zum selbstverständlichen Teil der Lebenswelten werden; in einer solchen Gesellschaftsform ist auch eine Akzeptanz bestimmter Tätigkeiten von Kindern als deren legitime Freizeitbeschäftigung anerkannt und der »Catwalk des Konsums« zur Entwicklungsaufgabe geworden (vgl. Ekström 2009). In der öffentlichen Diskussion finden sich viele Stimmen, die in der Verbreitung neuer Medien und Medientechnologien einen Verfalls- und Degenerationsprozess sehen. Heute stehen besonders die so genannten neuen Medien im Verdacht, das soziale und kulturelle Leben zu deformieren. In der wissenschaftlichen Diskussion ist demgegenüber unstrittig, dass Neue Medien und softwarebasierte Umge-
176
Christian Alt · Andreas Lange
bungen, sowohl in der Arbeitswelt als auch im Bereich der Freizeit, zu einem integralen Bestandteil unseres alltäglichen Handelns werden, ohne dass breitflächige Degenerations- und Zerfallsprozesse zu konstatieren wären. Vor diesem Hintergrund sollten sie bei der Untersuchung gesellschaftlicher Strukturen und des Sozialraums eingeblendet werden (vgl. Unger 2010). Medien haben heute zweifelsfrei eine herausragende Bedeutung für den Alltag der Kinder und Jugendlichen erlangt. Einerseits vertreiben sie die Langeweile oder sind eine kostengünstige Freizeitbeschäftigung, für den Einzelnen wie auch für ganze Gruppen. Andererseits bieten sie Anknüpfungspunkte dafür, Wissen zu erlangen und geben Orientierung, Vorbildfunktion, Projektionsrahmen und Wertorientierungen. Sie stellen dabei eine wertvolle Unterstützung bei der Bewältigung von Alltagsproblemen und Entwicklungsthemen und somit zur individuellen Entwicklung dar. Wegener (2010) sieht denn auch den Mediengebrauch als Ausdrucks- und Kommunikationsmittel, welcher wesentlich dazu beiträgt, ein (neues) Selbstbild herauszubilden. Dieses wird in sozialen Kontexten zur Ausformulierung einer eigenen Identität eingesetzt. Vorlieben, die Art und Weise der Wissensrezeption und das daraus resultierende (soziale) Handeln dienen nicht selten dazu, eine entsprechende Anerkennung in der jeweiligen sozialen Umwelt (Peers, Familie, Schule) zu erfahren. Das »richtige« Medium und das richtige Medienformat sind nicht selten ausschlaggebend für die Gruppenzugehörigkeit und einen entsprechenden sozialen Status (vgl. Wegener 2010). Übersetzt in eine allgemeinsoziologische Formulierung heißt dies, dass der vielfältige und ausdifferenzierte Mediengebrauch, die Ausschöpfung der Agency als eine Quelle der Selbstermächtigung von Mädchen und Jungen fördert: »Mediale Praktiken sind Trainingsfelder der Wahrnehmung und der Kognition und der Affektivität und werden vom modernen Subjekt primär als solche Räume der Selbstformierung eingesetzt.« (Reckwitz 2006: 59). In besonderem Maße ist dies der Fall, wenn Kinder an Formen aktiver Medienarbeit partizipieren. Die Medienpräferenzen und -aktivitäten Jugendlicher treffen jedoch häufig auf konträre Vorstellungen der Eltern. Diese wünschen sich nämlich oft, dass wegen der zu erwartenden negativen Auswirkungen neuer Medien auf das Lernen und den Schulerfolg stattdessen der Umgang mit Büchern einen größeren Stellenwert einnehmen sollte. Dennoch zeigt sich bei der Befragung der Jugendlichen nach den Absprachen, die mit ihren Eltern bezüglich der Mediennutzung getroffen werden, dass in nahezu gleicher Art und Weise und im selben Umfang Einvernehmen hergestellt wird.
»Agency« in der mittleren Kindheit
177
3.3 Sport Stecher und Zinnecker (2007) haben herausgearbeitet, dass sich in modernen Gesellschaften neben Beruf und Bildung weitere Handlungssysteme herausgefiltert haben, in denen Statuserfolg bzw. sozialer Aufstieg möglich ist. Zu diesen »statusbedeutsamen« Handlungssystemen zählen sie die Felder der Musik, Kirche/Religion sowie den Sport. Daraus kann man schließen, dass sich das Feld der Kultur auch für Kinder ausdifferenziert hat und neben dem schulischen Kanon ein außerschulisches Bezugsfeld für den Transfer und den Erwerb von kulturellem Kapital verfügbar wurde. Dies gilt in besonderer Weise für den Sport. Schmid (2008) hat im Rahmen des Zweiten Deutschen Kinder- und Jugendberichtes die hierfür wesentlichen Daten und Argumente zusammengetragen: Demnach manifestiert sich die zentrale Rolle sportiver Orientierungen im Kindesalter, also die Bewegung »vom spielenden zum sportiven Kind«, zuerst einmal in der Mitgliedschaft in Sportvereinen. Es gibt dementsprechend keine andere soziale Altersgruppe, die so stark in das System des Sports inkludiert ist wie Kinder in der späten Kindheit, also die etwa 10- bis 13-Jährigen. Schmidt (2008: 374) dokumentiert anhand der einschlägigen Studien einen eindrucksvollen Zuwachs der Rekrutierungsquote von Kindern in den Sportvereinen bis hin zur heutigen markanten Ziffer: Fast neun von zehn Kindern sind in ihrer Kindheit mehrere Jahre Mitglieder in Sportvereinen; andere Vereine bringen es hingegen kaum auf fünf Prozent. Sportliche Bewegungsaktivitäten spannen damit für Kinder ein besonders attraktives und wichtiges Handlungsfeld auf (vgl. Podlich 2008). Hier haben sie die Möglichkeit, leistungsthematische Situationen aufzusuchen und ihre Fähigkeiten darin zu erproben. Zu unterstreichen ist die große Bedeutung der intrinsischen Motivation, die von einem Interessengebiet ausgehen kann und ganz besonders dazu beiträgt, sich anzustrengen und die Grenzen der eigenen Fähigkeiten zu überschreiten. Über sportliche Bewegungsaktivitäten, sei es in traditionellen, sei es in den neuen Trendsportarten, werden weit mehr als nur körperliche und motorische Fähigkeiten entwickelt. Kognitive, soziale, emotionale und motivationale Kompetenzen können ausgeformt und in die Identität integriert werden, was sich nachhaltig auf das Selbstkonzept auswirken wird. Ebenso ist Sport ein wichtiges Beispiel für die oben angeschriebenen Praktiken der Subjektivierung. Immer mehr wird auch der Bildungswert sportlicher Aktivitäten betont. Komplettiert wird das Bild sportiver Kindheiten durch die ebenfalls für den Zweiten Deutschen Kinder- und Jugendbericht zusammengetragenen Überlegungen und Daten zum nicht vereins- und schulgebundenen informellen Sport (Burrmann 2008): Demnach beteiligt sich die überwiegende Mehrzahl der Kinder auch im informel-
178
Christian Alt · Andreas Lange
len Rahmen an der Sportkultur. Im informellen Sport dominieren alltagskulturelle sportliche Praktiken, die sich insbesondere deshalb als alltagstauglich erweisen, weil sie jederzeit in variablen sozialen Konstellationen und in der näheren oder weiteren Wohnumgebung praktiziert werden können. Die vor allem von Vertretern kulturkritischer Defizithypothesen vorgebrachte Skepsis bezüglich der Lebens- und Bewegungswelt heutiger Kindergenerationen lässt sich mittels empirischer Befunde zu den Aufenthaltsorten und zur Nutzungsdauer natürlicher Bewegungsräume für Kinder nur bedingt aufrechterhalten. Sport hat sich im Verlauf der Moderne und insbesondere der späten Moderne als eigenständiges Handlungsfeld heraus differenziert (vgl. Cachay/Thiel 2000) und übt auch auf Kinder eine zunehmende Attraktionskraft auf. Insbesondere für die Phase der Kindheit wird das Körperkonzept als wesentliches Teilkonzept des Selbstkonzepts bezeichnet. Durch bewertende Prozesse, die die körperlichen und motorischen Fähigkeiten betreffen, leitet das Kind Anteile seines Selbstkonzepts ab. Insbesondere Kinder im Übergang zur Jugendphase brechen nicht selten aus den Räumen des formellen Sports aus, der sie auch in der Moderne gerne in hochstrukturierte Lernorte integrieren und auf den Leistungscode »Sieg und Niederlage« verpflichten will. Freizeitpräferenzen folgen dieser Entwicklung hin zu einer Performanz individuellen Könnens und Vermögens. Dabei wird der institutionelle Rahmen der Vereine verlassen, stattdessen werden die Straße oder die Hinterhöfe, die Spielplätze oder die Einkaufszentren zu neuen Orten sportlicher Aktivitäten ausgewählt. Selbstgewählte Formen sportlicher Aktivitäten finden so eine neue Ausdrucksform, in der die Kinder nach selbstgestalteten Inszenierungen aktiv sein können (vgl. Gutman/Coninck-Smith 2008).
3.4 Beteiligung in der Grundschule Beteiligung in der Grundschule unterliegt nicht nur den persönlichen Erziehungsvorstellungen der jeweiligen Lehrkraft, der Ausprägung ihres Kinderbildes oder einer mehr oder weniger partnerschaftlichen Grundhaltung, obwohl diesen Aspekten sicherlich große Bedeutung zukommt. Vielmehr wird sie in ihren Möglichkeiten durch schulische und gesetzliche Vorgaben bestimmt. Solch formale Verfahren der Mitwirkung sind allerdings in den meisten Bundesländern erst ab der Sekundarstufe verbindlich vorgesehen. Für die Grundschule dagegen sind diese Formen oft nicht vorgesehen, teilweise auch explizit ausgeschlossen - sicherlich aufgrund der Vorstellung, dass eine solche Mitwirkung jüngere Kinder überfordern würde.
»Agency« in der mittleren Kindheit
179
Beteiligung in der Grundschule richtet sich demnach weniger auf formale Verfahren, sondern findet ihren Platz in der Gestaltung des Klassenlebens und des Unterrichts. Grundlegend dafür ist das umfassende Bildungsverständnis der Grundschule, das sich nicht nur auf die Vermittlung von Kulturtechniken, sondern auch auf die Entwicklung der Persönlichkeit richtet. In jüngerer Zeit wurde eine stärkere Individualisierung gefordert, die mehr Möglichkeiten zu selbsttätigem Lernen, aber auch eine Verstärkung des sozialen Lernens beinhaltet. Offener Unterricht, Freiarbeit, handelndes Lernen oder projektorientierter Unterricht gehören zu den pädagogisch-didaktischen Ansätzen für eine »innere Reform« der Grundschule, die auf eine stärkere Beteiligung der Kinder setzen und damit auch ihre Rolle als eigenständige Akteure stärker hervorheben. Inwieweit diese neuen Ansätze aufgenommen werden, ist abhängig von Vorgaben der Schulbehörden, von Klima und Konzepten der jeweiligen Schulen und vom Engagement einzelner Lehrkräfte. Der Bertelmannstudie 2007 (Fatke 2007) kann man eine ganz ähnliche Aussage entnehmen. Gesellschaftliche Modernisierungsprozesse führen zu Verunsicherungen, beispielsweise durch eine gesteigerte Bindungslosigkeit, durch ungewisse offene Biographien und gesellschaftliche Desintegrationsprozesse. Die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen z.B. in der Schule zielt darauf ab, den negativen Folgen gesellschaftlicher Individualisierungsprozesse entgegen zu wirken. Partizipation von Kindern und Jugendlichen wird in diesem Kontext als Modus der sozialen und politischen Integration angesehen. Versucht man aber den Möglichkeiten und Grenzen der Partizipation in der Schule näherzukommen, stellt sich alsbald heraus, dass Schülern wenige Möglichkeiten geboten werden, sich Partizipationskompetenzen anzueignen. Nur 15 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen geben an, in der Schule viel oder sehr viel mitzubestimmen (vgl. Fatke/Schneider 2005). In der ZDF-Partizipationsstudie (Schneider/Stange/Roth 2009: 16ff) ergibt sich ein analoges Bild - und insbesondere auch ein markanter Kontrast zu den Verhältnissen in der Familie: Auch die Analyse der themenbezogenen Mitbestimmungsintensität belegt das sehr geringe Mitbestimmungsniveau von Kindern in der Schule. Während in der Familie bei sieben der insge samt 13 abgefragten Themen ein Wert größer als 2,5 - dem Skalenmittelpunkt - zu verzeichnen war, (…) liegen im Bereich Schule alle Themen deutlich unter diesem Schwellenwert. (Schneider/Stange/Roth 2009: 16f)
Obwohl sich in den letzten Jahrzehnten immer mehr die Einsicht durchgesetzt hat, dass insbesondere von den Lehrern erwartet wird, sich nicht mehr autoritär zu verhalten (vgl. Zeiher 2009: 121), sondern Kinder in ihrer Agency ernst zu nehmen
180
Christian Alt · Andreas Lange
und zu unterstützen, sind diese Reformbemühungen immer wieder an Grenzen gestoßen. Um hier einen fundamentalen Wandel in Gang zu setzten, erfordert es neben pädagogischen Bemühungen auch ein Aufbrechen der stark verfestigten Organisationsstrukturen. Die aktuellen Anstrengungen auf diesem Gebiet sind, wie die zitierten Studien zeigen können, noch nicht weit gediehen. Erst die älteren Kinder können davon profitieren, weil für sie eine Beteiligung formal vorgesehen ist. Interessant sein wird, inwiefern die immer breitere Durchsetzung der Ganztagsschulen hier veränderte Formen von Partizipation und der Eröffnung von »agency-resonanten« Räumen mit sich bringen kann und auch wird (vgl. Coelen 2009).
4. Konsequenzen und Schlussfolgerungen: »Wirkungen« von Agencyerfahrungen Nachdem die Strukturen der Agency, die Resonanzen auf kindliche Handlungsimpulse wie auch Resistenzen exemplarisch von uns beschrieben worden sind, soll nun abschließend auf die Konsequenzen mehr oder weniger starker Resonanz von Agency eingegangen werden. Dazu knüpfen wir an die neuere Glücks- und Wohlbefindensforschung an, um zu umreißen, welche Indizien sich hier für die Folgen der unterschiedlichen Handlungsfelder und die in ihr zum Tragen kommende Agency auffinden lassen. Die Kindheitsglückssurvey - durchgeführt von Anton Bucher (2001, 2009) mit 1.319 Schulkindern im Bundesland Salzburg - verweist auf Folgendes: Jungen und Mädchen im Alter von elf Jahren bilanzierten ihr bisheriges Leben mehrheitlich positiv: 54 Prozent als total glücklich, 39 Prozent als glücklich. Besonders glücklich sind sie in den Ferien, draußen im Freien, bei Tieren und ihren Freunden sowie in ihren Familien; weniger glücklich hingegen fühlen sie sich in der Schule. Primärer Zweck der Studie war es, Faktoren zu eruieren, die das Wohlbefinden von Kindern bestimmen. Es zeigte sich, dass die üblichen soziodemografischen Variablen (Geschlecht, Wohnumgebung etc.) dies kaum leisten (sechs Prozent erklärte Varianz). Bedeutsam sind hingegen Tätigkeitsvariablen, die man in Annäherung als »erlebte Agency« interpretieren kann. Sie erklären 45 Prozent der Varianz. Besonders glücklich sind demnach Kinder, die in ihrer Freizeit aktiv und in Bewegung sind, mit Freunden und ihrer Familie viel unternehmen, dafür auch gelobt werden und Anerkennung erfahren. Bezieht man diesen Befund auf die eben beschrieben Handlungsfelder, lassen sich die dabei gewonnen Erkenntnisse wie folgt zusammenfassen: Die Agency von Kindern variiert stark mit den vorzufindenden »Resistenzen« auf Seiten
»Agency« in der mittleren Kindheit
181
der erwachsenen Akteure, die sich durch andere Ziele für die Kinder und andere Ziele mit den Kindern erklärt. Trifft man auf eine mehr oder weniger starke KoProduktion, führt das in der Konsequenz zu einem deutlichen Anstieg eigenverantwortlichen Handelns auf Seiten der Kinder und zu einer förderlichen Rahmung für die Ausbildung eigener Identität. Dies verdeutlicht die Beschreibung der familialen Lebenssituation der Kinder und der Partizipationsbestrebungen in Angelegenheiten, die die Kinder oder die Familie betreffen. Wird die Agency eingeschränkt, sei es durch Formalien oder durch eine rigide institutionelle Struktur, weichen Kinder auf weniger strukturierte Felder aus, sofern es, wie im Sport, diese Möglichkeit gibt. Im schulischen Kontext werden die Lernfelder und Erfolge dann gelegentlich außerhalb der Institution gesucht, indem Lernen auf eigene Faust und mit Hilfe elektronischer Medien bewerkstelligt wird. Räumt man den Kindern eigene Kompetenzen und Wissensvorsprünge ein, wie im Bereich der Medien, können sie sich eigene Handlungsfelder erobern, in denen die Eltern als Ko-Produzenten nicht selten als zweiter Sieger vom Platze gehen. Gleichzeitig trifft zu, dass Kinder immer dann mit großer Hingabe an der Ausübung ihrer Agency interessiert sind, wenn ihr Verhalten - und sei es auch in institutionalisierten Kontexten - auf Anerkennung stößt, wenn sie als verantwortliche Wesen behandelt werden und man mit ihnen verhandelt, statt ihnen nur Anweisungen zu geben. Dies belegt auch eine amerikanische Studie, die mit qualitativen wie quantitativen Methoden vorgegangen ist. Sie bestätigt den Zusammenhang zwischen eigeninitiierten Tätigkeiten von Kindern, ihrem Selbstwert sowie Wohlbefinden: Es schält sich ein Muster balancierter Lebensführung für Kinder heraus: The majority of children and their families in our study had attained a measure of »balance«, meaning that they were involved in activities and organizations beyond the family… According to our definitions, such children had one or two activities, and the total weekly time in such activities was less than 4 hours over the two diary days. Such involvement appears to be both normal and valuable to child development; it was associated with lower stress and higher self-esteem on a variety of measures. (Hofferth u.a. 2008: 35)
Für die Forschung stellt sich damit abschließend die Aufgabe, das Bedingungsgeflecht zwischen Agency, sozialen Feldern und den jeweiligen sozialen Ressourcen der Kinder näher zu erforschen, denn es ist unbestritten, dass damit ein wichtiger Vermittlungszusammenhang zwischen makrogesellschaftlichen Strukturen und individueller Entwicklung sowie individuellem Wohlbefinden aufgedeckt werden kann.
182
Christian Alt · Andreas Lange
Literatur Alanen, Leena (2003): Childhoods: the generational ordering of social relations. In: Mayall, Berry/ Zeiher, Helga (Hg.), Childhood in Generational Perspective. University Of London, Institute of Education, 27-45. Alt, Christian/Teubner, Markus/Winklhofer, Ursula (2005): Partizipation in Familie und Schule Übungsfeld der Demokratie. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (41), 24-31. Albus, Stefanie/Andresen, Sabine/Fegter, Susann/Richter, Martina (2009): Wohlergehen und das ›gute Leben‹ in der Perspektive von Kindern. Das Potenzial des Capability Approach für die Kindheitsforschung. In: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 29/4, 346-358. Bandura, Albert (2006): Toward a Psychology of Human Agency. In: Perspectives on Psychological Science, 1/2, 164-180. Baumann, Maurice (2009): Ritualisierung und Religiosität der erzählten Familiengeschichte. In: Baumann, Maurice/Hauri, Roland (Hg.), Weihnachten - Familienritual zwischen Tradition und Kreativität. Stuttgart: Kohlhammer, 25-63. Bertram, Hans/Bertram, Birgit (2009): Familie, Sozialisation und die Zukunft der Kinder. Opladen, Barbara Budrich. Bronfenbrenner, Urie/Morris, Pamela (2000): Die Ökolologie des Entwicklungsprozesses. In: Lange, Andreas/Lauterbach, Wolfgang (Hg.), Kinder in Familie und Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Stuttgart: Lucius & Lucius, 29-58. Bucher, Anton (2001): Was Kinder glücklich macht. Historische, psychologische und empirische Annäherungen. Weinheim, Juventa. Bucher, Anton (2009). Psychologie des Glücks. Ein Handbuch. Weinheim: Beltz. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) (2009). Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland - 13. Kinder- und Jugendbericht. Berlin: BMFSFJ. Burrmann, Ulrike (2008): Bewegungsräume und informelle Bewegungs-, Spiel- und Sportaktivitäten der Kinder. In: Schmidt, Werner (Hg.), Zweiter Deutscher Kinder- und Jugendsportbericht. Schwerpunkt: Kindheit. Schorndorf: Hofmann, 391-408. Cachay, Klaus/Thiel, Ansgar (2000): Soziologie des Sports. Zur Ausdifferenzierung und Entwikklungsdynamik des Sports der modernen Gesellschaft. Weinheim: Juventa. Coelen, Thomas (2009): (Vor-)Politische Sozialisation. Partizipation und Demokratiebildung im Kindes- und Jugendalter. In: Behnken, Imbke/Mikota, Jana (Hg.), Sozialisation, Biografie und Lebenslauf. Eine Einführung. Weinheim: Juventa, 121-139. Corsaro, William A. (2005): Collective Action and Agency in Young Childrens Peer Cultures. In: Qvortrup, Jens (Hg.), Studies in Modern Childhood. Society, Agency, Culture. New York: Palgrave, 231-247. Ekström, Karin (2009): Auf dem »Catwalk des Konsums«. Kinder und Eltern in der Konsumkultur. In: Televizion, 22/2, 18-22.
»Agency« in der mittleren Kindheit
183
Emirbayer, Mustafa/Mische, Ann (1998): What is Agency? In: American Journal of Sociology, 103/1, S. 962-1023. Eßer, Florian (2008): Agency und generationale Differenz. Einige Implikationen der Kindheitsforschung für die Sozialpädagogik. In: Homfeldt, Hans-Günther/Schröer, Wolfgang/Schweppe, Cornelia (Hg.), Vom Adressaten zum Akteur. Soziale Arbeit und Agency. Opladen: Barbara Budrich, 133-153. Fatke, Reinhard/Schneider, Helmut (2005): Kinder- und Jugendpartizipation in Deutschland. Daten, Fakten, Perspektiven. Gütersloh: Bertelsmann. Fatke, Reinhard/Schneider, Helmut (2007): Die Beteiligung junger Menschen in Familie, Schule und am Wohnort. In: Bertelsmann Stiftung (Hg.). Kinder- und Jugendbeteiligung in Deutschland. Entwicklungsstand und Handlungsansätze. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, 59-84. Grundmann, Matthias (2006a): Sozialisation. Konstanz: UVK. Grundmann, Matthias (2006b): Milieuspezifische Handlungsbefähigung sozialisationstheoretisch betrachtet. In: Grundman, Matthias/Dravenau, Daniel/Bittlingmayer, Uwe H. (Hg.), Handlungsbefähigung und Milieu. Zur Analyse milieuspezifischer Alltagspraktiken und ihrer Ungleichheitsrelevanz. Münster: Lit-Verlag, S. 47-73. Grundmann, Matthias/Dravenau, Daniel/Bittlingmayer, Uwe H. (2006): Milieuspezifische Handlungsbefähigung an der Schnittstelle zwischen Sozialisation, Ungleichheit und Lebensführung? In: Grundman, Matthias/Dravenau, Daniel/Bittlingmayer, Uwe H. (Hg.), Handlungsbefähigung und Milieu. Zur Analyse milieuspezifischer Alltagspraktiken und ihrer Ungleichheitsrelevanz. Münster: Lit-Verlag, S. 237-251. Gutman, M./Coninck-Smith, N. (Hg.) (2008): Designing Modern Childhoods. History, Space and the Material Culture of Children. New Brunswick: Rutgers University Press. Heinz, Walter R. (2009): Transitions: Biography and Agency. In: Heinz, Walter R./Huinink, Johannes/ Weymann, Ansgar (Hg.), The Life Course Reader. Individuals and Societies Across Time. Frankfurt a.M.: Campus, 456-472. Hengst, Heinz/Zeiher, Helga (Hg.) (2005): Kindheit soziologisch. Wiesbaden: VS. Hitlin, Steven/Elder, Glen H. (2007): Time, Self, and the Curiously Abstract Concept of Agency. In: Sociological Theory, 25/2, 170-191. Hitlin, Steven/Long, Charisse (2009): Agency as a Sociological Variable: A Preliminary Model of Individuals, Situations, and the Life Course. In: Sociology Compass, 3/1, 137-160. Hoffert, Sandra/Kinney Dadid A./Janet Dunn (2008): The »Hurried« Child: Myth vs. Reality. University of Maryland, Department of Family Science. Working Paper. Kaltenborn, Karl-Franz (2001): Aufwachsen mit familialen Übergängen. Expertenwissen und kindliche agency in posttraditionalen Gesellschaften. In: Behnken, Imbke/Zinnecker, Jürgen (Hg.), Kinder. Kindheit. Lebensgeschichte. Ein Handbuch. Seelze: Kallmeyer, 502-521. Lange, Andreas (2007): Von der Fremd- zur Selbstsozialisation? Chancen und Risiken der Entgrenzung von Kultur und Ökonomie für Kinder und Jugendliche seit 1960. In: Gebhardt, Miriam/Wischermann, Clemens (Hg.), Familiensozialisation seit 1933 ? Verhandlungen über Kontinuität. Stuttgart: Steiner, 183-203.
184
Christian Alt · Andreas Lange
Lange, Andreas (2008): Agency - eine Perspektive für die Jugendforschung. In: Homfeldt, H.G./ Schröer, Wolfgang/Schweppe, Cornelia (Hg.), Vom Adressaten zum Akteur. Soziale Arbeit und Agency. Opladen: Barbara Budrich, 155-179. Lange, Andreas/Alt, Christian (2009): Kindheitsforschung. In: Macha, Hildegard/Witzke, Monika (Hg.), Handbuch der Erziehungswissenschaft. Band III/1. Familie - Kindheit - Jugend - Gender. Paderborn: Schöningh, 59-75. Lerner, Richard M./Theokas, Christina/Jelicic, Helena (2005): Youth as Active Agents in Their Own Positive Development: A Developmental Systems Perspective. In: Greve, Werner (Hg.), The Adaptive Self. Personal Continuity and Intentional Self-Development. Göttingen: Hogrefe, 31-47. Liegle, Ludwig/Lüscher, Kurt (2008): Generative Sozialisation. In: Hurrelmann, Klaus/Grundmann, Matthias/Walper, Sabine (Hg.), Handbuch Sozialisationsforschung. Weinheim: Beltz, 141-156. Livingstone, Sonia (2009): Junge Menschen und Neue Medien. Prozesse der Verbreitung, Aneignung und Nutzung. In Schorr, Angela (Hg.), Jugendmedienforschung. Forschungsprogramme, Synopse, Perspektiven. Wiesbaden: VS, 301-333. Mansel, Jürgen/Spaiser, Viktoria (2010): Ängste und Kontrollverluste. Zusammenhänge mit Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. In: Heitmeyer, Wilhelm (Hg.), Deutsche Zustände. Folge 8. Berlin: Suhrkamp, 49-71. Morrow, Virginia (2003): Perspectives on Children's Agency Within Families. In: Kuczynski, Leon (Hg.), Handbook of Dynamics in Parent-Child Relations. Thousand Oaks: Sage, 109-129. Otto, Hans-Uwe/Schrödter, Mark (2009): Befähigungs- und Verwirklichungsgerechtigkeit im PostWohlfahrtsstaat. In: Kessl, Fabian/Otto, Hans-Uwe (Hg.), Soziale Arbeit ohne Wohlfahrtsstaat? Zeitdiagnosen, Problematisierungen und Perspektiven. Weinheim: Juventa, 173-190. Podlich, Carola (2008): Selbstgewolltes Leisten. Der Einfluss sportlicher Bewegungsaktivitäten auf das Selbstkonzept von Kindern. Weinheim, Juventa. Prout, Allan (2003): Kinder-Körper: Konstruktion, Agency und Hybdridität. In: Hengst, Heinz/Kelle, Helga (Hg.), Kinder - Körper Identitäten. Theoretische und empirische Annäherungen an kulturelle Praxis und sozialen Wandel. Weinheim: Juventa, 33-50. Reckwitz, Andreas (2006): Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Weilerswist: Velbrück. Rohlfs, Carsten (2006): Freizeitwelten von Grundschulkindern. Eine qualitative Sekundäranalyse von Fallstudien. Weinheim: Juventa. Schmidt, Werner (2008): Zur Bedeutung des Sportvereins im Kindesalter In: Schmidt, Werner (Hg.), Zweiter Deutscher Kinder- und Jugendsportbericht. Schorndorf: Hofmann, 373-390. Schneider, Helmut/Stange, Waldemar/Roth, Roland (2009): Kinder ohne Einfluss? Eine Studie des ZDF zur Beteiligung von Kindern in Familie, Schule und Wohnort in Deutschland 2009. Mainz: ZDF. Schweizer, Herbert (2007): Soziologie der Kindheit. Verletzlicher Eigen-Sinn. Wiesbaden: VS. Settersten, Richard A./Gannon, Lynn (2005/2009): Structure, Agency, and the Space between: On the Challenges and Contradictions of a Blended View of the Life Course. In: Heinz,
»Agency« in der mittleren Kindheit
185
Walter R./Huinink, Johannes/Weymann, Ansgar (Hg.), The Life Course Reader. Individuals and Societies Across Time. Frankfurt a.M.: Campus, 456-472. Stecher, Ludwig/Zinnecker, Jürgen (2007): Kulturelle Transferbeziehungen. In: Ecarius, Jutta (Hg.), Handbuch Familie. Wiesbaden: VS, 389-404. Unger, Alexander (2010): Virtuelle Räume und die Hybridisierung der Alltagswelt. In: Grell, Petra/ Marotzki, Winfried/Schelhowe, Heidi (Hg.), Neue digitale Kultur- und Bildungsräume. Wiesbaden: VS, 99-117. Wegener, Claudia (2010): Identität. In: Vollbrecht, Ralf (Hg.), Handbuch Mediensozialisation. Wiesbaden: VS, 55-63. Zeiher, Helga (2009): Ambivalenzen und Widersprüche der Institutionalisierung von Kindheit. In: Honig, Michael-Sebastian (Hg.), Ordnungen der Kindheit. Problemstellungen und Perspektiven der Kindheitsforschung. Weinheim: Juventa, 103-126. Zinnecker, Jürgen (2002): Selbstsozialisation - ein Essay über ein aktuelles Konzept. In: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 20/3, 272-290.
Kinder, die sich nicht biegen lassen. Psychologische Skizzen zur Resilienz Anton A. Bucher
Wie entwickelt sich ein Mädchen, das als siebtes von zehn Kindern geboren wird, die Mutter ohne Schulabschluss, heimlich tagsüber Schnaps trinkend, der Vater meist arbeitslos und ein schwerer Trinker, ein Säugling, den die Mutter nicht stillte, weil dies Zeitverschwendung sei. Gleichwohl zeigte das kleine Mädchen - mit dem Namen Amy, 1955 auf der Hawaii-Insel Kauai geboren -, panische Ängste, wenn es von der Mutter getrennt wurde, bis hin zum Erbrechen. Mutter und Vater stritten häufig, worauf erstere wieder trank oder hysterisch umher schrie, auch Selbstmord androhend.1 Gemäß psychologischen Alltagstheorien, die durch trivialisierte Traumatheorien geprägt sind 2, trägt dieses Mädchen, das in den ersten Lebensjahren immer wieder die schreienden und streitenden Eltern hörte, eine schwere Hypothek ins Leben. Orale Beeinträchtigungen - prädisponiert für Suchterkrankungen. Frühe Augenzeugin körperlicher Gewalt - eine höhere Wahrscheinlichkeit, sich später an solchen Modellen zu orientieren. Mangelndes Urvertrauen später weniger Optimismus und ein grundsätzliches Misstrauen dem Leben - und auch anderen Menschen - gegenüber. Doch es kam anders. In seiner Schulzeit war das Mädchen zwar zurückgezogen, schüchtern und ängstlich, aber es lernte leicht und gut, gelegentlich angeleitet von ihrer ältesten Schwester, die beteuerte, fest an Amy zu glauben. In der Jugend unternahm sie zwar einen Suizidversuch, erholte sich aber und erlernte einen Beruf in der Verwaltung. Als 35-jährige Frau war sie, nach einem fünfjährigen Konkubinat, um sich ihres Partners sicher zu sein, verheiratet; sie hatte Kinder, denen sie sich intensiv widmete, und ihre Ehe war, trotz gelegentlicher Konflikte, die nie vor den Kindern ausgetragen wurden, stabil. Für die Entwicklungspsychologin Emmy Werner ist Amy ein Musterbeispiel für ein Kind, das Resilienz an den Tag zu legen vermochte. »Resilienz« bezeich-
1 2
Beispiel aus: Werner, Emmy/Smith, Ruth (1982): Overcoming the odds - High risk children from birth to adulthood. Vgl. Nuber, Ursula (1995): Der Mythos vom frühen Trauma. Über Macht und Einfluss der frühen Kindheit.
C. Sedmak et al., Der Capability-Approach in sozialwissenschaftlichen Kontexten, DOI 10.1007/978-3-531-92749-7_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
188
Anton A. Bucher
nete ursprünglich Spannkraft (wie bei einem Pfeilbogen), oder Elastizität, und damit die Fähigkeit, nach einer Einwirkung wieder in den Ausgangszustand zurückzukehren. Resilient ist infolgedessen auch ein Getreidehalm, den der Wind gebogen hat, der sich wieder aufwärts richtet und gerade steht. Oder ein Boxer, der einen schweren Hieb einsteckt, taumelt, sich aber wieder aufrafft, fasst und die Fäuste ballt, um zurückzuschlagen. Oder im psychischen Bereich: Eine Person, die schwer gekränkt wird, dies wegstecken und ihren Tätigkeiten weiter nachgehen kann. In die Psychologie eingeführt wurde »Resilienz« erst von Fritz Redl 3 im Jahre 1969. Das damit Bezeichnete ist aber wesentlich älter 4. Schon Hildegard Hetzer 5, in ihrer klassischen Studie über Kinder, die in teils bitterer Armut aufwuchsen, beobachtete, dass sich viele von ihnen ganz vorzüglich entwickelten, obschon sie im Vergleich zu anderen Jungen und Mädchen schwer benachteiligt waren, materiell ebenso wie psychisch. In der psychologischen Forschung bedeutete Resilienz ursprünglich die Fähigkeit speziell von Kindern, sich auch in solchen Settings einigermaßen gesund zu entwickeln, an denen andere zerbrochen wären. Mittlerweile wird der Begriff aber weiter gefasst: Nicht nur die psychische Widerstandskraft in Extremsituationen - beispielsweise Kinder in Konzentrationslagern, wie sie von Anna Freud untersucht und in ihrer weiteren Entwikklung begleitet wurden 6 -, sondern auch im Alltag, beispielsweise der Schule, am Arbeitsplatz. Von daher wird auch verständlich, dass dem Begriff »Resilienz« gegenüber »Coping« der Vorzug gegeben wird: Letzteres bezieht sich auf die Bewältigung situativer kritischer Lebensereignisse, etwa Verlust eines Elternteils, wohingegen Resilienz auch als überdauerndes stabiles Persönlichkeitsmerkmal aufgefasst wird. Diskutiert wurde in dem Zusammenhang auch der von Emmy Werner angesprochene Begriff der »Invulnerabilität«, der Unverwundbarkeit. Er hat sich deswegen nicht durchgesetzt, weil traumatisierte und verwahrloste Kinder sehr wohl Resilienz entwickeln können, auch wenn sie in ihrer Psyche faktisch schwer verwundet wurden. Zu Recht sprechen die Autorinnen der KauaiStudie von zwar »verletzlichen, aber unbesiegbaren« Kindern 7.
3 4 5 6 7
Vgl. Redel, Fritz (1969): Adolescents - just how do they react. Vgl. Tusaie, Kathleen/Dyer, Jancye (2004): Resilience: A historical review of the construct, S. 3-10. Vgl. Hetzer, Hildegard (1935): Kindheit und Armut. Vgl. Freud, Anna (1965): The writings of Anna Freud, Volume 5, Research at the Hampstead Child-Therapy Clinic and other papers. Vgl. Werner, Emmy/Smith, Ruth (1982): Vulnerable, but invincible. A longitudinal study of resilient children and youth.
Kinder, die sich nicht biegen lassen
189
Im Folgenden werde ich zunächst wichtige Studien zu Resilienz skizzieren, als erste die bereits erwähnte Studie von Emmy Werner und Ruth Smith, sodann die Bielefelder-Erlangen-Studie, durchgeführt mit Kindern und Jugendlichen, die in Heime kamen, gut die Hälfte als resilient eingestuft, die andere als auffällig. In Abschnitt 2 kommen die bisher eruierten biologischen Faktoren zur Sprache, die sich bei resilienten Personen nachweisen ließen, und in Abschnitt 3, bisher umfangreicher untersucht, die psychologischen Korrelate dieser Widerstandskraft, welche bewirkt, dass niedergebogene Kinder und Jugendliche sich doch wieder aufrichten. Abgeschlossen wird der zugegebenermaßen fragmentarisch bleibende Beitrag mit pädagogischen Implikationen, wobei eine vorwegzunehmen ist: Resiliente Personen berichten in aller Regel, eine Bezugs- bzw. Bindungsperson gekannt zu haben, die an sie glaubte; für die eingangs geschilderte Amy war das ihre älteste Schwester, ohne die sie die Verletzungen ihrer Kindheit und die Irrungen und Wirrungen ihrer Jugend niemals überstanden hätte.
1. Klassische Studien zu Resilienz Die Resilienz eines Hartgummiprodukts lässt sich in einem einmaligen Experiment untersuchen, das Studium psychologischer Resilienz hingegen, sofern es zu wirklich kausalen Aussagen führen soll, erfordert longitudinale Daten. Die wohl bedeutendste Längsschnittstudie begannen Emmy Werner und Ruth Smith im Jahre 1955, indem sie alle in diesem Jahre geborenen Einwohner der kleinen Hawaii-Insel Kauai untersuchten (N = 698).8 Eine Vielzahl von Merkmalen wurde auch nach dem ersten Lebensjahr erhoben, sodann ein Jahr später, in der Mitte der Kindheit (im Alter von 10 Jahren), am Ende der Jugend und abschließend im 32. Lebensjahr. Knapp ein Drittel dieser Kinder wuchs in denkbar ungünstigen Verhältnissen auf: Chronische Armut, prä- und perinatale Schwierigkeiten, Alkoholismus oder psychische Krankheit eines Elternteils etc., etc. Von diesen Jungen und Mädchen wuchs ein Drittel zu kompetenten, selbstbewussten, verantwortungsvollen Jugendlichen und jungen Erwachsenen heran, genau gleich, wie die deutliche Mehrheit derjenigen Kinder, die in wohlbehütete Verhältnisse hinein geboren worden waren.
8
Aus der umfangreichen Literatur: Werner/Smith: Vulnerable, but invincible; Werner, Emmy (1995): Risk, resilience, and recovery: Perspectives from the Kauai longitudinal study, S. 503515. Sekundärdarstellungen: Dornes, Martin (2000): Die emotionale Welt des Kindes, S. 113-117.
190
Anton A. Bucher
Was unterscheidet diese resilienten Kinder von denjenigen, die in der Jugend in ernsthafte Probleme gerieten (zumeist depressive Verstimmungen), Verhaltensauffälligkeiten zeigten, bis hin zu Straffälligkeit, speziell aufgrund von Drogen und Diebstahl? Im Kleinkindalter wurden sie von ihren Bezugspersonen als sehr aktiv beschrieben, die Mädchen als anschmiegsam, die Jungen als gutmütig und pflegeleicht - offensichtlich hängt Resilienz, wie noch zu erörtern ist, auch von genetischen Faktoren ab, speziell den Temperamenten, die von der stärker sozialisationsorientierten Entwicklungspsychologie vernachlässigt wurden, aber in den letzten Jahren eine Rehabilitierung erfuhren.9 In der Vorschulkindheit erlebten nur die wenigsten der resilienten Kinder eine längere Trennung von den Bindungspersonen; vielmehr konnten »alle (…) eine feste Bindung zu mindestens einer Bezugsperson ausbilden«10, die vielfach als Ersatzeltern fungierten, sei es ein Großelternteil, seien es ältere Geschwister oder Nachbarn. In der Grundschule kamen sie mit ihren Klassenkameraden gut zurecht, blieben in ihren Leistungen nicht hinter den anderen zurück; vor allem aber hatten alle mindestens einen engen Freund und darüber hinaus - was schon in der frühen Kindheit besonders hilfreich war - eine erwachsene Bezugsperson, die an sie glaubte und sie unterstützte, sei es ein Lieblingslehrer, der ein Rollenvorbild, Freund oder Vertrauter wurde, sei es ein Jugendleiter, ein Pfarrer, Leute in einer kirchlichen Gruppe, ein Sozialarbeiter (damals auf Kauai kaum vorhanden). Im Erwachsenenalter schließlich waren die Resilienten leistungsorientierter und fast ausnahmslos eingebunden in eine feste Arbeit; sie hatten häufiger eine eigene Familie, die resilienten Frauen zu 85 %, die Männer hingegen mit 40 % deutlich seltener. Überdurchschnittlich ausgeprägt waren bei den Resilienten internale Kontrollüberzeugungen, deren Effekt auf psychische Gesundheit nicht zu unterschätzen ist 11, und häufiger als die in behüteten Verhältnissen Aufgewachsenen gaben sie an, aus religiös-spirituellen Ressourcen Unterstützung erhalten zu haben 12. Gefragt, ob sie mit ihrem jetzigen Leben zufrieden seien, bejahten sie dies mehrheitlich, häufiger sogar als die Gruppe ohne Entwicklungsrisiken. Ein möglicher Grund dafür besteht in der Genugtuung, es doch geschafft zu haben.
9
Vgl. Zentner, Marcel (1995): Die Wiederentdeckung der Temperamente. Eine Einführung in die Kinder-Temperamentsforschung. 10 Lösel, Friedrich/Bender, Doris (1997): Schutz- und Risikofaktoren der gesunden Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in der Familie und deren Umfeld, S. 57. 11 Vgl. Flammer, August (1990): Erfahrung der eigenen Wirksamkeit. Einführung in die Psychologie der Kontrollmeinung. 12 Vgl. Bucher, Anton (2007): Psychologie der Spiritualität.
Kinder, die sich nicht biegen lassen
191
Insgesamt rechtfertigt die Kauai-Studie zwei Schlüsse: - Erstens: Prekäre Kindheitsumstände erhöhen die Wahrscheinlichkeit von Fehlentwicklungen im Kindes- und Jugendalter. Zwei Drittel der von Werner und Smith nach der Geburt und in den ersten Lebensjahren als hochriskant eingestuften Kinder entwickelten sich ungünstig: häufigeres Versagen in der Schule, Verhaltensauffälligkeiten, psychische Probleme (speziell Depressionen), bis hin zu Devianz und Konflikten mit dem Strafgesetz. Dass nicht alle Kinder es schaffen, schädliche Kindheitseindrücke abzustreifen, ist deshalb zu betonen, weil gelegentlich eine weitgehende Reversibilität der Folgen frühkindlicher Traumatisierungen behauptet wird.13 - Zweitens: Desolate Kindheitsumstände führen aber nicht zwingend dazu, dass sie im weiteren Lebenslauf gleichsam fortgeschrieben werden. Eine nicht unbeträchtliche Quote von Kindern (ca. ein Drittel) verkraftet traumatisierende Lebensumstände besser als ein von der Psychoanalyse (Traumatheorie) inspiriertes Denken voraussagen würde. Eine im deutschen Sprachraum durchgeführte Studie zu Resilienz (Querschnitt und prospektiver zweijähriger Längsschnitt) verdanken wir Friedrich Lösel und Mitarbeitern 14, die sogenannte Bielefeld-Erlangen-Studie. Sie untersuchten Jugendliche (Durchschnittsalter 15,6 Jahre) aus Heimen der Jugendhilfe und bildeten nach gründlichen Diagnosen zwei Gruppen: Resiliente (mit bislang relativ gesunder psychischer Entwicklung), und Auffällige, die schwerwiegende Erlebens- und Verhaltensprobleme entwickelt hatten. In der Querschnittstudie stellten sich die Resilienten als flexibler heraus, zudem als intelligenter, ruhiger und zugleich selbstwirksamer; vor allem aber konnten sie auf ein größeres und tragfähigeres soziales Netzwerk zurückgreifen. Dem gegenüber zeigten sich bei den Auffälligen vor allem signifikant höhere Werte auf den Skalen des externalisierenden Syndroms, speziell bei Aggressivität und Delinquenz.15 Je schwächer die soziale Einbettung war, desto geringer das Selbstwertgefühl.
13 Vgl. Nuber, Der Mythos vom frühen Trauma; Hemminger, Hansjörg (1982): Kindheit als Schikksal? Die Frage nach den Langzeitfolgen frühkindlicher seelischer Verletzungen. 14 Vgl. Lösel, Friedrich (1994): Protective effects of social resources in adolescents at high risk for antisocial behavior, S. 281-301. 15 Vgl. Achenbach, Thomas/Edelbrock, Craig (1986): Manual for the teacher´s report form and teacher version of the child behavior profile.
192
Anton A. Bucher
Besonders interessant war die prospektive Studie, maßgeblich ausgeführt von Doris Bender 16. Nach zwei Jahren zeigten sich bei gut einem Drittel der Resilienten Hinweise auf Erlebens- und Verhaltensprobleme. Einmal festgestellte Resilienz ist keine Garantie für eine störungsfreie Weiterentwicklung. Hingegen schaffte es von den als auffällig und riskant eingestuften Jugendlichen ein Drittel - ähnlich wie in der Kauai-Studie -, sich positiv zu entwickeln und das Problemverhalten zu überwinden, und zwar sowohl internalisierendes (Sucht, melancholische Verstimmung) als auch externalisierendes (Aggressivität, Devianz, Vandalismus) 17.
2. Biologische Faktoren von Resilienz Dass wir Menschen auch biologische Wesen sind, hervorgegangen aus einer Evolution, die spätestens vor gut 65 Millionen Jahren mit mäuseähnlichen Säugetieren begann, die die Dinosaurier überlebten, wird aus dem psychologischen Schrifttum nicht immer hinreichend ersichtlich 18. Entsprechend konstatieren Holtmann und Stadler: »Dass auch biologische Faktoren die individuelle Widerstandsfähigkeit gegen Belastungen beeinflussen, scheint seit langem unzweifelhaft. Bemerkenswerterweise wurde aber erst in den vergangenen Jahren diesen biologischen Aspekten der Resilienz vermehrt Beachtung geschenkt.«19 Ein möglicher Grund dafür könnte in der Befürchtung liegen, ein biologischer Zugang zu Resilienz führe zu einem biologistischen Determinismus, der pädagogische Fördermaßnahmen als zweitrangig oder obsolet erscheinen lässt. Was ist bisher zur Biologie der Resilienz bekannt? Zum einen, dass die Geschlechtsvariable nicht zu unterschätzen ist. Deutlich mehr Jungen als Mädchen sind von Dyslexie betroffen, von autistischen Störungen, dem viel strapazierten Aufmerksamkeits-Defizit/Hyperaktivitätssyndrom - Beeinträchtigungen, die die Resilienz nach psychischen Verletzungen erschweren. Holtmann und Haupt räumen diesbezüglich ein, über die zugrunde liegenden kausalen Mecha-
16 Vgl. Bender, Doris (1995): Psychische Widerstandskraft im Jugendalter: Eine Längsschnittstudie im Multiproblem-Milieu (Dissertation). 17 Zu dieser Differenzierung: Flammer, August (2002): Entwicklungspsychologie der Adoleszenz. Die Erschließung innerer und äußerer Welten im Jugendalter. 18 Vgl. Birbaumer, Niels (42006): Biologische Psychologie. 19 Holtmann, Martin/Stadler, Christina (2007): Wider die künstliche Dichotomie. Über biologische Resilienzfaktoren, S. 8-11.
Kinder, die sich nicht biegen lassen
193
nismen (Hormone?) sei »noch wenig bekannt«20.Wenn Kinder etwas Schreckliches erleben - beispielsweise: ein Kindergartenkamerad fällt vom Klettergerüst, verletzt sich und muss notärztlich versorgt werden -, ist zu beobachten, dass einige Jungen und Mädchen nach kurzer Zeit weiterspielen, als ob nichts geschehen wäre, andere hingegen längere Zeit vor Schreck wie erstarrt (und zumeist blass) sind. Entsprechend ist nachgewiesen, dass der Schreckreflex - die »rasche, protektive Antwort der Muskulatur auf überraschende Reize«21 - schon im Kindesalter unterschiedlich beschaffen ist. Kinder, bei denen sich im linken Stirnlappen eine stärkere Aktivität zeigt (was bereits im Alter von zehn Monaten nachgewiesen werden kann), verfügen über eine effektivere affektive Resilienz als jene, bei denen sich eine stärkere Aktivität in der rechten Hälfte zeigte. Bezeichnenderweise wurde auch festgestellt, dass an positiven Emotionen (Glück, Freude, Neugier, Begeisterung) die linke Hemisphäre des Neocortex stärker beteiligt ist, an den negativen Emotionen (Angst, Melancholie, Scheu) hingegen stärker die rechte Hemisphäre.22 Auch die Dunedin-Studie, ein epidemiologischer Längsschnitt von der frühen Kindheit bis ins Alter von 26 Jahren, widmete sich der Frage, warum belastende Lebensereignisse von einigen Individuen besser verarbeitet werden, andere Männer und Frauen hingegen in depressive Verstimmungen hinuntergezogen werden. Caspie und Mitarbeiter fanden bei jungen Erwachsenen, die Krisen wie Arbeitslosigkeit, Ende von Beziehungen, finanzielle Probleme bis hin zu Obdachlosigkeit überstanden, ohne nennenswert depressiv zu werden, einen Polymorphismus des Serotonin-Transporter-Gens (5-HTT) 23. Personen, in denen dieses Gen nur in einer kurzen Version vorhanden war, gerieten aufgrund kritischer Lebensereignisse - wie den eben erwähnten - viel häufiger in klinisch manifeste Depressionen, bis hin zu Suizidgefährdung. Auch über die genauen Wirkweisen von Serotonin, das im (populärwissenschaftlichen) Volksmund als Glückshormon gepriesen wird, ist noch immer zu wenig bekannt; dennoch ist das geschilderte Faktum ein eindrücklicher Beleg dafür, dass Resilienz auch von biologischen, speziell hormonellen Faktoren abhängt. Männer und Frauen spüren, wenn sie in Stress geraten, dass sich der Pulsschlag beschleunigt und der Blutdruck steigt. Von Personen, bei denen dies leichter und zeitlich länger geschieht, nimmt der psychologische Hausverstand an,
20 21 22 23
Holtmann/Stadler, Wider die künstliche Dichotomie, S. 9. Holtmann/Stadler, Wider die künstliche Dichotomie, S. 10. Vgl. Bucher, Anton (2009): Psychologie des Glücks. Ein Handbuch, bes. S. 57. Vgl. Caspi, Avshalom et al. (2003): Influence of life stress on depression: moderation by a polymorphism in the 5-HTT gene, S. 386-389.
194
Anton A. Bucher
dass ihre Hemmschwelle für aggressives und deviantes Verhalten - ein gängiger Indikator für weniger Resilienz - niedriger liegt. Doch wie die Metaanalyse zahlreicher entsprechender Studien zeigt, ist das Gegenteil der Fall.24 Ein niedriger Ruhepuls ist einer der am besten replizierten neurophysiologischen Prädiktoren für aggressives Verhalten. Raine und Mitarbeiter konnten in einer Längsschnittstudie zeigen, dass bei solchen Jugendlichen, die mit 15 Jahren wegen ihrer Aggressivität ernsthafte Probleme hatten, aber mit 29 Jahren friedliche, unauffällige Bürger geworden waren, bereits während der Adoleszenz der Ruhepuls erhöht und die kardiovaskuläre Reaktivität flexibler war als bei denjenigen, die sich weiterhin deviant verhielten.25 Erwiesenermaßen ist das autonome Nervensystem, das die Herzfrequenz regelt, stark genetisch determiniert. Wiederholt bestätigt ist zudem, dass Kinder mit vererbter niedriger MAOAAktivität (Monoaminooxidase, ein für Neurotransmitter relevantes Enzym), wenn sie Traumaopfer werden (z.B. Tod eines Elternteils, lange Trennung, Alkoholismus etc.), in der Adoleszenz doppelt so häufig deviant werden wie - ebenfalls traumatisierte - Kinder ohne diese genetische Variante.26 Auch wenn Holtmann und Stadler einräumen, die Relevanz von biologischen Faktoren für Resilienz sei alles andere als ausreichend erforscht, steht außer Zweifel, dass solche in Rechnung zu stellen sind. Dies umso mehr, als Resilienz auch von Temperamentseigenschaften abhängt, die in einem beträchtlichen Ausmaß bei der genetischen Lotterie bei der Zeugung festgelegt werden. Der Resilienz wenig förderlich sind Temperamente mit einer ausgeprägten Neurotizismuskomponente. Hinzu kommt - was folgenschwerer ist -, dass Bindungspersonen bei einigen Temperamentseigenschaften von Kindern eher so reagieren, dass dies ihrer Resilienz förderlich ist. Dies ist besonders der Fall, wenn die Babys nicht leicht irritierbar, sondern ruhig und pflegeleicht sind.27 Anders hingegen schwierige Babys, die oft schreien und leicht verunsichert sind - sie sind häufiger die Zielscheibe elterlicher Kritik, Reizbarkeit und Feindseligkeit.28 Psychologischen Mechanismen, die der Resilienz förderlich sind, wenden wir uns im Folgenden zu.
24 Vgl. Raine, Adrian (1996): Autonomic nervous system activity and violence, S. 145-168. 25 Vgl. Raine, Adrian et al. (1995): High autonomic arousal and electrodermal orienting at age 15 years as protective factors against criminal behaviour at age 29 years, S. 1595-1600. 26 Vgl. Frazzeto, Giovanne et al. (2007): Early trauma and increased risk for physical aggression during adulthood: The moderating role of MAOA genotype, e486. 27 Vgl. Schwartz, Charles E. et al. (1996): Early childhood temperament as a determinant of externalizing behaviour in adolescence, S. 527-537. 28 Rutter, Michael (1990): Psychosocial resilience and protective mechanism, S. 181-214.
Kinder, die sich nicht biegen lassen
195
3. Psychologische Faktoren, die Resilienz begünstigen Als Erstes ist zu nennen und zu unterstreichen: »Emotional sichere Bindung an eine Bezugsperson«29. Spätestens seit den epochalen Forschungen von John Bowlby ist bekannt, wie günstig eine sichere frühestkindliche Bindung für die weitere Psychogenese ist.30 Kinder, wenn sicher gebunden, nehmen früher und häufiger explorative Tätigkeiten auf und erkunden beispielsweise, was hinter dem Gebüsch auf dem Spielplatz sein könnte; sie geraten nicht in Stress - begleitet von Kortisolausschüttung -, wenn die Mama kurz die Szenerie verlässt, wie dies bei unsicher oder ambivalent gebundenen Kindern der Fall ist. Wie sehr es eine sichere Bindung Kindern erleichtert, Krisen zu bewältigen und sich eine Traumatisierung zu ersparen, ist vielfältig belegt, so bei Kindesmissbrauch 31, Scheidung 32 und nicht zuletzt multiplen Problembelastungen 33. Kritisch wird eine enge Beziehung erst dann, wenn sie zu emotionaler Abhängigkeit in einem Lebensalter wird, in dem der/die Heranwachsende die Schritte in die Autonomie (selber) gehen muss. Begünstigt wird Resilienz durch ein Erziehungsklima, das anregend, emotional warm und gut strukturiert ist, auch und gerade mit Regeln, die in der emanzipatorischen Pädagogik vielfach diskreditiert wurden. Besonders dann, wenn das übrige soziale Umfeld durch ein hohes Ausmaß an (chaotischer) Anomie charakterisiert ist, sind klare Verhaltensregeln, wie von ErzieherInnen eingeführt und auch argumentativ begründet, der Entwicklung (und Resilienz) besonders förderlich.34 Auch wenn für das kleine Kind die Kernfamilie die Welt schlechthin ist, stellte die Resilienzforschung überzeugend heraus, wie wichtig auch die soziale Unterstützung von außerhalb ist - die Kauai-Studie belegte dies ebenso eindrücklich wie die Bielefeld-Erlangen-Studie. Großeltern, Lehrer, Personen in der Nachbarschaft etc. können zu Modellen werden, an denen zu ersehen ist, wie
29 Lösel/Bender, Schutz- und Risikofaktoren der gesunden Entwicklung von Kindern, S. 58. 30 Vgl. Bowlby, John (2004): Bindung als sichere Basis. Grundlagen und Anwendung der Bindungstheorie. 31 Vgl. Farber, Ellen/Egeland, Byron (1987): Invulnerability among abused and neglected children, S. 253-288. 32 Vgl. Neighbors, B. (1993): Resilient adolescents and interparental conflict, S. 462-471. 33 Vgl. Wyman, Peter/Cowen, Emory/Work, William/Parker, Gayle (1992): Developmental and family milieu correlates of resilience in urban children who have experienced major life stress, S. 405-426. 34 Vgl. Baldwin, James et al. (1990): Stress resistant families and stress resistant children, S. 257-280.
196
Anton A. Bucher
auch widrige Lebensumstände bewältigt und Krisen gelöst werden können. In dem bekannten Song »Großvater« der STS (Steinbäcker-Timischl-Schiffkowitz) erinnert sich der Sänger: »Und durch die Art, wie du dein Leben g´lebt hast, hab i a Ahnung ´kriegt, wie man´s vielleicht schafft.« Wie wichtig Modelle, traditionell: Vorbilder sind, darauf verwies in den letzten Jahren eindrücklich die Gehirnforschung, speziell anhand der Spiegelneuronen 35.Untersucht wurden auch zahlreiche psychologische Korrelate von Resilienz. Nebst den bereits besprochenen Temperamentseigenschaften sind es insbesondere soziale Kompetenzen, die heranwachsenden Kindern Resilienz erleichtern. Kinder, wenn sie mehr Empathie aufbringen können und zugleich in der Lage sind, sich emotional auszudrücken, stecken traumatische Beeinträchtigungen leichter weg.36 Weniger konsistent sind die Ergebnisse bezüglich der Intelligenz. Mehr davon garantiert keineswegs mehr psychische Widerstandskraft und weniger Problemverhalten, im Gegenteil: Masten et al. fanden, dass besonders intelligente Kinder, wenn in widrige Lebensumstände verstrickt, häufiger zu internalisierendem Problemverhalten neigen (deprimierendes Grübeln etc.) 37 als weniger intelligente Kinder - möglicherweise deswegen, weil sie ihre soziale Umwelt differenzierter wahrnehmen und infolgedessen auf Belastungen sensibler reagieren. Jedoch scheint es der Fall, dass Intelligenz im Falle von Traumatisierungen ein Schutzfaktor im Hinblick auf externalisierendes Problemverhalten ist (Aggressivität, Vandalismus) 38. Kinder und Jugendliche, die als resilient diagnostiziert wurden, zeigten mehr Selbstvertrauen, ein positiveres Selbstwertgefühl sowie stärkere Selbstwirksamkeitsüberzeugungen 39 - gerade letztere sind hinsichtlich der psychischen Gesundheit und Widerstandskraft nicht hoch genug zu veranschlagen, wie zumal die Forschungen von Bandura 40 zeigten. Solche als ursächlich für Resilienz zu behaupten, ist jedoch problematisch, weil gerade die Erfah-
35 Vgl. Bauer, Joachim (2007): Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneuronen. 36 Vgl. Luthar, Sunyia/Zigler, Edward (1991): Vulnerability and competence; A review on research on resilience in childhood, S. 6-22. 37 Vgl. Masten, Anne (1988): Competence and stress in school children: The moderating effects of individual and family qualities, S. 745-764. 38 Vgl. Radke-Yarrow, Marian/Brown, Earnestine (1993): Resilience and vulnerability in children of multiple-risk families, S. 581-592. 39 Vgl. Cowen, Emory/Parker, Gale/Wyman, Peter (1990): The Rochester Child Resilience Project: Overview and summary of first Year findings, S. 193-212. 40 Vgl. Bandura, Albert (1994): Self efficacy. The Exercise of Control.
Kinder, die sich nicht biegen lassen
197
rung, an widrigen Umständen nicht zu zerbrechen, nicht nur dem Selbstwertgefühl enorm förderlich ist, sondern auch die Gewissheit stärkt, die Kontrolle nicht zu verlieren, und dass es letztlich gut ausgeht. Ein weiteres, gut gesichertes Korrelat von Resilienz ist das Konstrukt Kohärenzsinn (»sense of coherence«) von Antonovsky 41. Dieser Sinn geht mit dem grundsätzlichen Vertrauen einher, dass 1.) die Anforderungen im Lebenslauf vorhersagbar und erklärbar sind, 2.) Ressourcen zur Verfügung stehen, um sie zu managen, bestenfalls zu bewältigen, und 3.) es lohnenswert ist, sich den Herausforderungen zu stellen. Religiöse und spirituelle Einstellungen begünstigen Kohärenzsinn, und damit auch Resilienz.42 Ob Resilienz gelingt, hängt auch von den Kausalattribuierungen der widrigen Lebensumstände bzw. Traumas ab. Ungünstig ist, wenn sich Personen primär als Opfer fühlen, sich oft selber als solche beklagen und bejammern, und sich so mitunter noch mehr in die Tiefe ziehen - die Psychologin des Grübelns, Susan Nolen-Hoeksema, präsentiert zahlreiche, nachdenklich stimmende Fallbeispiele.43 Von daher ist Ursula Nuber Recht zu geben, wenn sie an den vielen populären Kind-in-uns-Therapien kritisiert, dass diese primär das Jammern darüber intensivieren, was uns als Kinder alles angetan worden ist, und zu wenig konstruktiv in die Zukunft blicken.
4. Pädagogische Implikationen Solche lassen sich mühelos aus den bisher geschilderten psychologischen Resilienzfaktoren herleiten. Erziehung steht und fällt mit anthropologischen Vorausannahmen, insbesondere mit dem Bild des Kindes. Resilienzförderliche Erziehung 44
41 Vgl. Antonovsky, Aaron/Franke, Alexa (1997): Salutogenese: zur Entmystifizierung der Gesundheit. 42 Vgl. Anthony, E. James (1987): Risk, vulnerability, and resilience: An overview, S. 3-48. 43 Vgl. Nolen-Hoeksema, Susan (2008): Wege aus der Frustfalle. Warum Frauen zu viel grübeln, zu viel essen und zu viel trinken. 44 Vgl. Jaede, Wolfgang (2008): Kinder für die Krise stärken. Selbstvertrauen und Resilienz fördern; Opp, Günter/Fingerle, Michael (2008): Was Kinder stärkt. Erziehung zwischen Risiko und Resilienz.
198
Anton A. Bucher
geht von der grundsätzlichen Annahme aus, dass das Kind ein aktives Wesen ist, dessen Hirn regelrecht begierig ist, neue Erfahrungen zu sammeln und stets zu lernen 45. In metaphorischer Weise spricht auch die große Pädagogin Montessori vom Kinde als dem »Baumeister seiner selbst«46, und Piaget attestierte dem Kinde, die Wirklichkeit je neu aufzubauen. Ob Resilienz - wenn aufgrund von Schicksalsschlägen, widrigen Umständen erforderlich - gelingt, hängt entscheidend davon ab, ob ein Kind sicher gebunden ist. Gemäß der jüngeren Psychologie des Kleinkindes kommt dieses nicht mit angeborenem Neid (etwa auf die Mutterbrust: so die Kinderpsychoanalytikerin Melanie Klein 47) zur Welt, sondern mit einem tief sitzenden Bedürfnis, gehalten und getragen zu werden und sich zu binden.48 Nichts ist natürlicher als Säuglinge oft zu tragen - keine Schimpansenmutter käme auf die Idee, ihr Neugeborenes in einen Wagen zu legen und vor sich her zu schieben. Solche Erziehung kann insofern als spirituell gewürdigt werden, als eine Kernkomponente von Spiritualität in der Verbundenheit bestimmt wurde 49. Resilienzförderliche Erziehung wird sich bemühen, Kindern immer wieder die Erfahrung des Gelingens zu ermöglichen. Hilfreich dafür ist das Konzept des flow-Kanals, wie ihn der aus Ungarn gebürtige Glückspsychologe Csikszentmihalyi 50 eingebracht hat. Dieser besagt, dass Menschen dann die optimalsten Erfahrungen machen, wenn ihre Fähigkeiten maximal beansprucht werden bzw. wenn - wie schon Rousseau Glück definierte - ein Gleichgewicht zwischen Wollen und Können besteht. Bei Kindern trifft dies zu, wenn sie auf der Schaukel so kräftig schwingen wie möglich, oder wenn ihr Turm aus Holzklötzen schon so hoch ist, dass sie die Zehenspitzen strecken müssen, um noch einen Baustein platzieren zu können. Nach solchen Erfahrungen, die zu Recht an die Polarisation der Aufmerksamkeit nach Montessori erinnern, stellt sich, auch bei Kindern, ein tiefes Gefühl von Glück und Freude ein, was - so die Erweiterungs- und Aufbautheorie positiver Emotionen 51 - der Bildung weiterer Ressourcen förderlich ist. Und wünschenswert ist nicht zuletzt, wenn Kinder, wenn sie etwas geleistet haben, auch gelobt werden.
45 46 47 48 49 50
Vgl. Spitzer, Manfred (2002): Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Montessori, Maria (51977): Die Entdeckung des Kindes. Vgl. Klein, Melanie (1987): Die Psychoanalyse des Kindes. Vgl. Dornes, Martin (1997): Die frühe Kindheit. Entwicklungspsychologie der ersten Lebensjahre. Vgl. Bucher, Anton (2007): Wurzeln und Flügel. Wie spirituelle Erziehung für das Leben stärkt. Vgl. Csikszentmihalyi, Mihaly (1995): Dem Sinn des Lebens eine Zukunft geben. Eine Psychologie für das 3. Jahrtausend. 51 Vgl. Bucher, Psychologie des Glücks.
Kinder, die sich nicht biegen lassen
199
Dies ist keineswegs selbstverständlich; fast täglich gelobt werden allenfalls 13 Prozent 52 der Kinder in der Bundesrepublik Deutschland. Bei Lob ist jeweils angemessen, allgemein zu formulieren: »Du machst das immer gut!« Singulär-episodisch wäre zu formulieren, wenn an Kindern etwas zu tadeln ist: »Ich verstehe, dass du heute gestritten hast …«. Nur zu oft erfahren Kinder genau das Umgekehrte und deshalb wirkt Erziehung daran mit, dass sich später Menschen in therapeutische Praxen begeben und dort klagen: »Ich mache immer alles falsch, ich kann nichts«, etc. Viele Kinder verfügen über erstaunliche Resilienzkräfte, trotz der vielen Demütigungen, die ihnen immer wieder angetan werden. Piaget schrieb gegen Ende seiner Studie »Das moralische Urteil beim Kinde«: »Das Kind stellt das Verzeihen über die Rache, weil es mit der Rache nicht fertig würde.«53
Literatur Achenbach, Thomas/Edelbrock, Craig (1986): Manual for the teacher´s report form and teacher version of the child behaviour profile. Burlington: University of Vermont. Anthony, E. James (1987): Risk, vulnerability, and resilience: An overview. In: Anthony, E. James/ Choler, Bertram J. (Hg.), The vulnerable child. New York: Guilford Press, 3-48. Antonovsky, Aaron/Franke, Alexa (1997): Salutogenese: zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: Dgvt-Verlag. Baldwin, James et al. (1990): Stress resistant families and stress resistant children. In: Rolf, J. et al. (Hg.), Risk and protective factors in the development of psychopathology. Cambridge: Cambridge University Press, 257-280. Bandura, Albert (1994): Self efficacy. The Exercise of Control. New York: Freeman. Bauer, Joachim (2007): Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneuronen. München: Heyne. Bender, Doris (1995): Psychische Widerstandskraft im Jugendalter: Eine Längsschnittstudie im Multiproblem-Milieu. Dissertation: Universität Erlangen. Birbaumer, Niels (42006): Biologische Psychologie. Berlin: Springer. Bowlby, John (2004): Bindung als sichere Basis. Grundlagen und Anwendung der Bindungstheorie. München: Reinhart.
52 Vgl. Bucher, Anton (2009): Was Kinder glücklich macht? Eine glückspsychologische Studie des ZDF, S. 94-195, hier S. 140. 53 Piaget, Jean (1954): Das moralische Urteil beim Kinde, S. 367.
200
Anton A. Bucher
Bucher, Anton (2007): Psychologie der Spiritualität. Weinheim: Psychologie Verlagsunion. Bucher, Anton (2007): Wurzeln und Flügel. Wie spirituelle Erziehung für das Leben stärkt. Düsseldorf: Patmos. Bucher, Anton (2009): Psychologie des Glücks. Ein Handbuch. Weinheim: Psychologie Verlagsunion. Bucher, Anton (2009): Was Kinder glücklich macht? Eine glückspsychologische Studie des ZDF. In: Schächter, Markus (Hg.), Wunschlos glücklich? Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, 94-195. Caspi, Avshalom et al. (2003), Influence of life stress on depression: moderation by a polymorphism in the 5-HTT gene. In: Science 301, 386-389. Cowen, Emory/Parker, Gale/Wyman, Peter (1990): The Rochester Child Resilience Project: Overview and summary of first Year findings. In: Development and Psychopathology 2, 193-212. Csikszentmihalyi, Mihaly (1995): Dem Sinn des Lebens eine Zukunft geben. Eine Psychologie für das 3. Jahrtausend. Stuttgart: Klett-Cotta. Dornes, Martin (1997): Die frühe Kindheit. Entwicklungspsychologie der ersten Lebensjahre. Frankfurt a.M: Fischer. Dornes, Martin (2000): Die emotionale Welt des Kindes. Frankfurt a.M.: Fischer, 113-117. Farber, Ellen/Egeland, Byron (1987): Invulnerability among abused and neglected children. In: Anthony, E. James/Cohler, Bertram J. (Hg.), The invulnerable child. New York: Guilford Press, 253-288. Flammer, August (1990): Erfahrung der eigenen Wirksamkeit. Einführung in die Psychologie der Kontrollmeinung. Bern: Hans Huber. Flammer, August (2002): Entwicklungspsychologie der Adoleszenz. Die Erschließung innerer und äußerer Welten im Jugendalter. Bern: Hans Huber. Frazzeto, Giovanne et al. (2007): Early trauma and increased risk for physical aggression during adulthood: The moderating role of MAOA genotype. In: PLoS ONE 5, e486. Freud, Anna (1965): The writings of Anna Freud, Volume 5, Research at the Hampstead ChildTherapy Clinic and other papers. New York: International Universities Press. Hemminger, Hansjörg (1982): Kindheit als Schicksal? Die Frage nach den Langzeitfolgen frühkindlicher seelischer Verletzungen. Reinbek: Rowohlt. Hetzer, Hildegard (1935): Kindheit und Armut. Leipzig: Hirzel. Holtmann, Martin/Stadler, Christina (2007): Wider die künstliche Dichotomie. Über biologische Resilienzfaktoren. In: Psychoscope 28, 8-11. Jaede, Wolfgang (2008): Kinder für die Krise stärken. Selbstvertrauen und Resilienz fördern. Freiburg: Herder. Klein, Melanie (1987): Die Psychoanalyse des Kindes. Frankfurt a.M.: Fischer. Lösel, Friedrich (1994): Protective effects of social resources in adolescents at high risk for antisocial behavior. In: Kerner, Hans J./Weitekamp, Elmar G. (Hg.), Cross-national longitudinal research on human development and criminal behavior. Dordrecht: Kluwer, 281-301.
Kinder, die sich nicht biegen lassen
201
Lösel, Friedrich/Bender, Doris (1997): Schutz- und Risikofaktoren der gesunden Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in der Familie und deren Umfeld. ÖIF-Materialsammlung Heft 5, 5364 (ÖIF: Österreichisches Institut für Familienforschung). Luthar, Sunyia/Zigler, Edward (1991): Vulnerability and competence; A review on research on resilience in childhood. In: American Journal of Orthopsychiatry 6, 6-22. Masten, Anne (1988): Competence and stress in school children: The moderating effects of individual and family qualities. In: Journal of Child Psychology and Psychiatry 29, 745-764. Montessori, Maria (51977): Die Entdeckung des Kindes. Freiburg: Herder. Neighbors, B. (1993): Resilient adolescents and interparental conflict. In: American Journal of Orthopsychiatry 63, 462-471. Nolen-Hoeksema, Susan (2008): Wege aus der Frustfalle. Warum Frauen zu viel grübeln, zu viel essen und zu viel trinken. Frankfurt a.M.: Eichborn. Nuber, Ursula (1995): Der Mythos vom frühen Trauma. Über Macht und Einfluss der frühen Kindheit. Frankfurt a.M.: Fischer. Opp, Günter/Fingerle, Michael (2008): Was Kinder stärkt. Erziehung zwischen Risiko und Resilienz. München: Reinhardt. Piaget, Jean (1954): Das moralische Urteil beim Kinde. Zürich: Rascher. Radke-Yarrow, Marian/Brown, Earnestine (1993): Resilience and vulnerability in children of multiplerisk families. In: Development and Psychopathology 5, 581-592. Raine, Adrian et al. (1995): High autonomic arousal and electrodermal orienting at age 15 years as protective factors against criminal behaviour at age 29 years. In: American Journal of Psychiatry 152, 1595-1600. Raine, Adrian (1996): Autonomic nervous system activity and violence. In: Stoff, David M./Cairns, Robert B. (Hg.), Neurobiological approaches to clinical aggression research. Mahwah, New Jersey: Erlbaum, 145-168. Redel, Fritz (1969): Adolescents - just how do they react? In: Coplena G./Debovici S. (Hg.), Adolescence: Psychological Perspectives. New York: Basic Books. Rutter, Michael (1990): Psychosocial resilience and protective mechanism. In: Rolf, Jon/Masten, Ann S./ Cicchetti, Dante (Hg.), Risk and protective factors in the development of psychopathology. Cambridge: Cambridge University Press, 181-214. Schwartz, Charles E. et al. (1996): Early childhood temperament as a determinant of externalizing behaviour in adolescence. In: Development and Psychopathology 8, 527-537. Spitzer, Manfred (2002): Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Tusaie, Kathleen/Dyer, Jancye (2004): Resilience: A historical review of the construct. In: Holistic Nursing Practice 18, 3-10. Werner, Emmy (1995): Risk, resilience, and recovery: Perspectives from the Kauai longitudinal study. In: Development and Psychopathology 5, 503-515.
202
Anton A. Bucher
Werner, Emmy/Smith, Ruth (1982): Overcoming the odds - High risk children from birth to adulthood. Ithaca/London: Cornell University Press. Werner, Emmy/Smith, Ruth (1982): Vulnerable, but invincible. A longitudinal study of resilient children and youth. New York: McGraw Hill. Wyman, Peter/Cowen, Emory/Work, William/Parker, Gayle (1992): Developmental and family milieu correlates of resilience in urban children who have experienced major life stress. In: American Journal of Community Psychology 19, 405-426. Zentner, Marcel (1995): Die Wiederentdeckung der Temperamente. Eine Einführung in die KinderTemperamentsforschung. Frankfurt a.M.: Fischer.
Autorenverzeichnis
Christian Alt ist stellvertretender Leiter der Abteilung Zentrum für Dauerbeoachtung und Methoden am Deutschen Jugendinstitut in München. Dort beschäftigt er sich mit Prozessen des Aufwachsens von Kindern und den Folgen von Deprivationen vor dem Hintergrund sich verändernder Lebenswelten. Bernhard Babic ist Research Advisor und Leiter des Forschungsprojekts »Approaching Capabilities with Children in Care«, SOS-Kinderdorf International Innsbruck. Reinhold Bauer ist Geschäftsführer und Pädagogischer Leiter von SOS-Kinderdorf e.V. in München. Anton A. Bucher ist Universitätsprofessor für Religionspädagogik (Fachbereichsleiter Praktische Theologie) und Lehrbeauftragter an den Fachbereichen Erzie hungswissenschaften und Psychologie der Universität Salzburg. Arbeitsschwerpunkte: Empirische Untersuchungen zur religiösen Entwicklung von Kindern und zum Religionsunterricht; Evaluation der Ethikschulversuche in Österreich; Glücksforschung; Psychologie der Spiritualität; Spirituelle Erziehung. Gunter Graf ist Research Fellow am Internationalen Forschungszentrum Salzburg. Andreas Lange ist Grundsatzreferent für Familienwissenschaften in der Abteilung Familie und Familienpolitik am Deutschen Jugendinstitut in München. Dort beschäftigt er sich mit Prozessen der Entgrenzung von Arbeit sowie der Mediatisierung der Lebenswelten im Hinblick auf familiale Lebensführung. Ortrud Leßmann ist freie Wissenschaftlerin und Lehrbeauftragte an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg sowie an der Hamburg School of Business Administration. Jean-Luc Patry ist Universitätsprofessor für Pädagogik an der Universität Salzburg. Arbeitsbereiche: soziale Interaktion in der Erziehung (v.a. Situationsspezifität), Moral- und Werterziehung (mit diversen Projekten, u.a. vom Jubiläumsfonds der Nationalbank und vom FWF); Fragen der Forschungsmethoden. C. Sedmak et al., Der Capability-Approach in sozialwissenschaftlichen Kontexten, DOI 10.1007/978-3-531-92749-7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
204
Autorenverzeichnis
Christian Posch ist Internationaler Direktor »Programme Development« von SOS-Kinderdorf International mit Sitz in Innsbruck. Bernhard Schwaiger ist Assistenzprofessor am Fachbereich Philosophie der Katholisch-Theologischen Fakultät an der Universität Salzburg. Clemens Sedmak ist Leiter des Zentrums für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg sowie Präsident des ifz-salzburg - internationales forschungszentrum für soziale und ethische fragen. Stephan Sting ist Professor für Sozial- und Integrationspädagogik am Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Arbeitsschwerpunkte: Soziale Arbeit und Gesundheit, Suchtprävention, Sozialpädagogische Bildungsforschung, Sozialpädagogik im Kindesund Jugendalter. Holger Ziegler ist Professor an der Abteilung für Sozialarbeit und Sozialpädagogik an der Universität Bielefeld. Arbeitsschwerpunkte: der Wandel in der Jugendhilfe sowie die Wechselwirkung zwischen einer »Erziehung zur Armut« und der Entstehung einer »neuen Unterschicht« in der Gesellschaft.