Geister-
Krimi � Nr. 25 � 25
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Das Schloß der � versklavten Seelen �
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Geister-
Krimi � Nr. 25 � 25
Arno Skinner �
Das Schloß der � versklavten Seelen �
2 �
Es war Mitternacht. Der volle Mond tauchte Inverness in silbern schimmerndes Licht. Dumpf dröhnten von der Kathedrale St. Andrews zwölf hallende Glockenschläge über die schlafende Stadt. Schwankend stolperte der alte Pollock aus der ›Tree Tops Inn‹. Mac Culloch hatte ihn und einige seiner anderen Freunde zu einer Geburtstagsparty eingeladen. Siebzig Jahre war der alte Junge heute geworden. Heiliger Dunstan, war das eine Sauferei gewesen! In dem Whisky, den er allein getrunken hatte, konnte man eine Katze baden. Er mußte machen, daß er nach Hause kam. Sein Herr, Professor Argyll, dem er als Faktotum schon lange Jahre diente, brauchte von dieser nächtlichen Eskapade nichts zu wissen. Furcht kroch in ihm hoch. Das alte Scheusal konnte gemein und bösartig sein. Hoffentlich hatte er nichts gemerkt. Mühsam versuchte er, seine Schritte zu beschleunigen. Aber der genossene Alkohol schien seinen Füßen eigenes Leben verliehen zu haben. Sie wollten einfach nicht so, wie er wollte. Endlich erreichte er die Nicolson Street. Um seine zunehmende innere Beklemmung zu verscheuchen, krächzte er mit heiserer, mißtönender Stimme das Lied von ›Old merry Caledonian‹ vor sich hin. Schließlich kam er am alten Friedhof vorbei. Das leise Raunen des Windes in den hohen Pappeln und die huschenden Lichtreflexe auf den steinernen Grabdenkmälern ließen ihn innerlich schaudern. Jedesmal, wenn er hier vorbeikam, hatte er dasselbe unheimliche Gefühl. Dann hatte er auch dieses Stück hinter sich. Allmählich wurde ihm wohler. Die kühle Nachtluft tat ihm gut. Sein Kopf wurde langsam wieder frei. Die letzten zweihundert Yards bis zu dem stark verwilderten Park, in dessen Mitte Roslyn House stand, 3 �
schaffte er schon wesentlich leichter. Nachdem er in allen Taschen nach dem Schlüssel für das mächtige, verrostete Parktor gesucht hatte und ihn endlich nach vielen durch die Zähne gequetschten leisen Flüchen fand, schloß er auf und ging mit unsicheren Schritten auf dem stark verunkrauteten Weg auf ein kleines, unscheinbares Nebengebäude zu, in dem er hauste. In dem hellen Mondlicht glänzte die Fassade der schlößchenartigen Villa wie geschliffener weißer Marmor. Vom nahen Friedhof drang der klagende Ruf eines Käuzchens. Als Pollock die Tür seiner armseligen Behausung öffnen wollte, spürte er unvermittelt einen Strom eisiger, durchdringender Kälte von hinten auf sich zuwehen. Hastig drehte er sich um. Was er sah, ließ ihn vor Angst erstarren. Vor dem hohen Hausportal stand, in bleiches Licht getaucht, eine riesige schwarze Gestalt, die ihn mit glühenden Augen musterte. Eine Aura kalter Drohung ging von diesem Geschöpf aus, das urplötzlich, nach einer unmenschlich schnellen Bewegung, dicht vor Pollock stand. Aus dessen Kehle drangen wimmernde Angstlaute. Doch als er den Kopf hob und in das dämonische Antlitz über sich starrte, weiteten sich seine Augen in ungläubiger Überraschung. Dann beugte sich die unheimliche Gestalt über ihn. Bevor sein Bewußtsein in eine schwarze Tiefe versank, spürte er noch den scharfen, saugenden Schmerz an seinem Hals. Lange Minuten standen die beiden Wesen wie verschmolzen in enger leidenschaftlicher Umarmung. Als sie sich voneinander lösten, klappte Pollock zusammen und fiel wie ein Bündel Lumpen zu Boden. Das unmenschliche Geschöpf verharrt! noch einen Augenblick, dann öffnete es riesige Flügel und schwang sich mit mächtigen Schlägen in die Luft. 4 �
Pollock spürte nicht mehr den Druck der ungeheuren Explosion, die das Gebäude buchstäblich in Stücke riß und seinen Geist gebieterisch hinabzwang in die kalten Niederungen des Todes. Die schmetternde Wucht der Detonation griff gleich einer unheilvollen Woge nach dem nahen Bungalow des Bankiers Wilkie. Das Haus wurde wie von einer riesigen Faust durchgeschüttelt. Knallend zerplatzten die großen Glasflächen der vorderen Fensterfront. Türen wurden aus ihren Füllungen gerissen. Mit häßlichem Knirschen brachen Verstrebungen des Dachstocks, und die hoch in die Luft gewirbelten Ziegel zerbarsten nach dumpfem Aufprall. Susan Wilkie wurde aus ihrem Bett geschleudert. Benommen richtete sie sich auf und starrte um sich. Zuerst weigerte sich ihr Verstand, das Bild der Zerstörung um sie herum als Realität wahrzunehmen. In den Mauern klafften breite Risse. Die Schränke lagen umgestürzt auf dem Boden, das Fenster war aus seiner Verankerung gerissen worden, und die Decke sah seltsam schief aus. Das gibt’s doch nicht! dachte sie. Es ist sicherlich nur ein schrecklicher Traum, aus dem ich bald wieder erwache. Sie zitterte am ganzen Körper. Dann spürte sie den stechenden Schmerz an ihrem linken Oberschenkel. Unwillkürlich tastete sie mit ihrer Hand nach der Stelle. Auch das Nachthemd schien zerrissen. Ihre Finger fühlten die warme, klebrige Feuchtigkeit, und sie wußte blitzartig, daß kein Alptraum sie quälte. Sie mußte sich an den herumliegenden Glassplittern verletzt haben. Schlagartig brandeten Wellen der Angst durch ihren Körper. Sie schrie gellend auf. Doch kein Echo ertönte, niemand schien sie zu hören. Mit wankenden Knien stand sie auf und schleppte sich mühsam zur Tür. 5 �
Ihre Pulse schlugen heftig wie im Fieber. Nur raus aus diesem Zimmer! dachte sie. Nur raus aus diesem Haus, bevor es ganz zusammenbricht! Doch dann durchfuhr sie kaltes Entsetzen. Sie brachte die Tür nicht auf. Die mußte sich durch die starke Erschütterung verklemmt haben. Jetzt blieb nur noch der Weg durch das gähnende Fensterloch. Sie wandte sich um und lief, ohne auf die vielen Glasscherben zu achten, mit denen der Boden wie übersät war, darauf zu. Da geschah etwas Unheimliches. Die in das Zimmer eindringenden silbernen Lichtfinger des Mondes verschwanden urplötzlich wie abgeschnitten, und sie hörte das Schlagen mächtiger Flügel. Dann schwang sich eine schwarze Gestalt in den Raum. Ich muß wahnsinnig sein, hämmerte es verzweifelt in ihrem fiebernden Hirn, als sie mit schreckgeweiteten Augen auf das düstere Wesen vor sich starrte, das sich auf eine unfaßbare Art zu verwandeln begann. Unvermittelt zerflossen die Konturen des höllischen Geschöpfes in einem rötlich schimmernden Nebel. Die seltsame Prozedur erfaßte bald den ganzen Körper der dämonischen Erscheinung. Schließlich sahen die vor Grauen geweiteten Augen des wie versteinert dastehenden jungen Mädchens eine rötliche, heftig pulsierende Wolke, die sich immer mehr verdichtete. In einem grell aufzuckenden Blitz verschwand die magische Erscheinung, und an ihrer Stelle stand eingehüllt in einen tiefschwarzen Umhang die hohe, gebieterische Gestalt eines Mannes. Dunkle Augen richteten sich in machtvoller Stärke auf das junge Mädchen. Komm! rief es befehlend in ihrem Hirn. »Komm!« Von Susan fiel die Angst jäh ab wie ein lästiger Mantel. Eine eigentümliche schwere Süße ergriff Besitz von ihrem bebenden 6 �
Körper und trieb sie mit unwiderstehlicher Macht zu der Gestalt vor ihr. Ihre Augen wurden trunken, als sich der schwarze Umhang öffnete und um ihren Körper schloß. Eine Woge rasender Wollust durchfuhr sie bis zu den Zehenspitzen, als sich das teuflische Wesen über sie beugte und ihren Hals suchte. Immer tiefer senkten sich in der langen Umarmung ihre blonden Locken dem Erdboden zu, immer tiefer tauchte ihr Bewußtsein in ein Meer ekstatischer Lust, bis auch dieses Gefühl verging wie ein sanft verklingender Ton. Susan Wilkie hatte das Empfinden, als flöge sie über Länder und Meere, über Berge und Klüfte. Bevor es dunkel in ihr wurde, erfaßte ihr Gehirn noch die drohenden Türme eines alten Schlosses inmitten der düsteren Felsenlandschaft. * Mißmutig starrte Inspektor Glen Blair aus dem Fenster seines Büros in der Marischal Street. Er nahm keine Notiz von dem im Hochland so seltenen blauen Himmel, der sich makellos über Inverness wölbte. Dem imposanten Bild des hoch über der schäumenden Ness aufragenden Schlosses Inverness Castle schenkte er ebenfalls keinen Blick. Es war schlicht und einfach zum Kotzen! In der Angelegenheit um das rätselhafte Verschwinden von Professor Argyll und Miß Wilkie war er nicht eine Spur weitergekommen. Die durch die starke Explosion zertrümmerte Villa des spleenigen Professors, die scheußlich zugerichtete Leiche des alten Hausdieners und das spurlose Verschwinden des jungen Mädchens gaben ihm schier unlösbare Rätsel auf. Die verdammten Schreiberlinge der »Daily News« bewarfen 7 �
ihn jeden Tag ärger mit ihrem Schmutz. Aber daran war er schon gewöhnt. Er hatte keine Freunde unter diesen ränkeschmiedenden Provinzonkeln. Und womit sollten diese Burschen auch sonst ihre Sixpence verdienen. Sie glichen hungrigen Schakalen, die nach langem Fasten endlich die Spur eines ungefährlichen Wildes gefunden hatten und nun in der Verfolgung nicht mehr lockerließen. Das Widerwärtige daran war nur, daß sie alle Welt glauben machen wollten, sie wären einer höchst gefährlichen Bestie auf der Spur. Ein wütendes Funkeln trat in Blairs graue Augen. Chiefinspektor Bancroft hatte ihm tags zuvor unmißverständlich zu verstehen gegeben, daß er in allernächster Zeit in dieser Sache einen Erfolg sehen wolle. Abrupt drehte Glen Blair sich um und schaute in das grinsende Gesicht von Sergeant Dave Apsley. Der Sergeant war ein massiges Mannsbild mit dem Aussehen eines Preisringers aus der Schwergewichtsklasse, aber von einer seltenen Gutmütigkeit. Ihn jedoch deshalb zu unterschätzen, konnte für den Betreffenden äußerst nachteilige Folgen haben. Das hatten schon manche Knastbrüder, die ihm eine Nase drehen wollten, zu ihrem Leidwesen erfahren müssen. Aus einem kugeligen Schädel, auf dem nur noch wenige Haare ihr spärliches Dasein fristeten, schauten zwei vergißmeinnichtblaue Augen treuherzig zu Glen hinüber. Die Freundschaft zwischen diesen beiden grundverschiedenen Männern bestand seit dem Tag, als Apsley noch ein junger Streifenpolizist gewesen war. Glen war damals auf dem Weg zur Schule im Spiel mit seinen Kameraden fast in ein Auto hineingerannt. Bevor jedoch der Wagen den kleinen Dreikäsehoch erfassen konnte, riß ihn der herbeistürmende Apsley auf die Seite und rettete ihm so mit aller Wahrscheinlichkeit das Leben. 8 �
So bullig der Riesenkerl auch aussah, so rücksichtsvoll war er auch. Wenn sie beide allein waren, duzten sie sich. Aber es wäre Apsley nie eingefallen, dieses freundschaftliche Verhältnis prahlerisch in der Öffentlichkeit zu zeigen. Glen fand dieses Verhalten oft sehr übertrieben, doch so gutmütig der Dicke auch war, sein Dickschädel war mindestens ebenso ausgeprägt. In seine Augen trat ein besorgter Ausdruck, als er Glen musterte, der mit unruhigen Schritten und wütender Miene im Raum hin und her lief. »Hast du schon gefrühstückt?« fragte er mit sanfter Stimme. »Nein!« kam es knurrend zurück. »Dann wirst du es jetzt tun!« verlangte Dave energisch. »Ich werde Miß Jump bitten, dir einen starken Kaffee zu kochen, ein Sandwich wird das übrige tun.« Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er aus dem Zimmer. Der Inspektor setzte derweil seine unruhige Wanderung durch den Raum fort. Er war ein hochgewachsener, athletisch gebauter Mann mit einem energischen Gesicht, das von zwei skeptischen grauen Augen unter einem eigenwilligen dunklen Haarschopf beherrscht wurde. Er war zweiunddreißig Jahre alt und »immer noch zu haben«, wie er manchmal in spöttischer Selbstironie bemerkte. Inspektor Blair hatte zur Klärung mehrerer aufsehenerregender Fälle entscheidend beigetragen und war deshalb in bestimmten Kreisen sehr gefürchtet. Nur in diesem Fall wollte ihm einfach nichts gelingen. Er fluchte leise vor sich hin. Plötzlich kroch in seine Nase der verführerische, aromatische Duft starken Kaffees. Er blickte hoch und sah, wie die kleine, pummelige Miß Jump das Tablett mit dem dampfenden Getränk und einigen Sandwiches auf seinem Schreibtisch absetzte. Das ältliche Mädchen lächelte ihn schüchtern an. 9 �
»Guten Appetit!« sagte Miß Jump freundlich. »Der heiße Kaffee wird Ihnen sicher guttun.« Hastig, wie eine graue Maus, schlüpfte sie aus dem Zimmer. »So setz’ dich doch endlich und frühstücke!« sagte Apsley, der inzwischen wieder an seinem Schreibtisch Platz genommen hatte. »Du wirst sehen, wenn du etwas Warmes im Magen hast, denkt es sich wesentlich leichter.« Blair grinste schief. Die Logik dieser Worte schien ihm nicht so recht einzugehen. Widerstrebend setzte er sich hin und begann zu essen. Allmählich breitete sich ein Gefühl behaglicher Wärme in seinem Körper; aus. Die Unmutsfalten verschwanden von seiner Stirn. »Es gibt wohl kaum eine Stelle in den beiden Häusern, die wir nicht buchstäblich auf den Kopf gestellt hätten«, sagte er nachdenklich. »Und was haben wir gefunden außer der zerschmetterten Leiche des alten Pollocks nichts, was uns Auskunft über das rätselhafte Verschwinden des verrückten Argyll geben könnte. Wenn der Professor in dem Haus gewesen wäre, hätten wir doch seine Überreste finden müssen. Und was ist mit dem jungen Mädchen? Wir wissen von Mrs. Wilkie, daß Susan nach einem Besuch bei ihrer Freundin gegen zehn Uhr wieder zurück war und gleich nach oben in ihr Zimmer ging. Sie war erst seit ein paar Tagen von einer schweren Grippe genesen und daher noch etwas anfällig. Ihre Mutter ist noch gegen elf Uhr in ihrem Zimmer gewesen. Susan war bereits fest eingeschlafen. Kurz nach zwölf hat es dann geknallt. Der halbe Bungalow ging dabei zu Bruch.« Blair machte eine kurze Pause und zündete sich eine Zigarette an. »Es gibt noch einen weiteren Beweis dafür, daß diese Susan zu der fraglichen Zeit in ihrem Zimmer war. Auf dem mit Glassplittern bedeckten Fußboden wurden Blutspuren entdeckt, die 10 �
unzweifelhaft von Susan stammen. Wir haben im Labor einen Test gemacht und dabei festgestellt, daß dieses Blut dieselbe seltene Blutgruppe hat wie Miß Wilkie. Aber wo ist sie geblieben? Wir wissen, daß sie nicht zur Tür hinauskonnte. Es bleibt also nur noch das Fenster. Doch draußen war nicht die kleinste Blutspur zu entdecken…« »Und was ist mit der Wunde am Hals des alten Hausdieners?« unterbrach ihn Sergeant Dave Apsley. »Eine seltsame Wunde sei das, sagte doch Doc Larring, als er die Leiche untersuchte. Wie die Einstiche mehrerer Kanülen würde es aussehen.« Der Inspektor zuckte ratlos mit den Schultern. »Ich kann mir auch keinen Vers daraus machen. Genauso mysteriös sind ja auch die Spuren auf der steinernen Balustrade des Balkons vor dem Schlafzimmer des Mädchens. Man könnte annehmen, ein riesiger Raubvogel hätte seine Fänge in den Stein geschlagen. Während meines letzten Urlaubs in den Schweizer Alpen habe ich etwas Ähnliches gesehen. Ein mächtiger Steinadler hatte einen seiner Fänge so in einer Felsspalte verklemmt, daß er aus eigener Kraft nicht mehr loskam. Das Tier war schon völlig erschöpft, als wir es bei unserer Kletterei zufällig fanden und aus der tödlichen Umklammerung befreien konnten. Ich erinnere mich daran, dort ähnliche, wenn auch wesentlich kleinere Kratzspuren gefunden zu haben. Verursacht wurden sie durch die verzweifelten Befreiungsversuche des Tieres. Aber damit kommen wir auch nicht weiter.« Glen Blair gab sich einen Ruck. Der nachdenkliche Ausdruck in seinem Gesicht verschwand, und in seinen Augen funkelte es energisch. »Es ist einfach nicht anders denkbar! Die junge Miß hat nach ihrem schrecklichen Erwachen einen solchen Schock erlitten, daß sie ihr Gedächtnis verloren hat und sich irgendwo Versteckt hält, oder es liegt ein Verbrechen vor, das mit der Explosion im 11 �
Zusammenhang steht. Ich neige allerdings mehr zu der letzteren Annahme. Auf jeden Fall habe ich sämtliche Dienststellen im gesamten Distrikt alarmiert. Sie haben alle die genaue Beschreibung des Mädchens.« Sein jungenhaftes Gesicht wurde hart. »Wir sind zwar jetzt noch in der Rolle des Mannes, der mit der Stange im Nebel herumfährt, um sich zu orientieren. Aber auch der dickste Nebel löst sich einmal auf. Wenn die Explosion im Hause des Professors nicht das zufällige Ergebnis eines wahnwitzigen Versuchs gewesen ist, sondern Produkt eines Verbrechens, und wenn weiterhin das eigentümliche Verschwinden von Miß Wilkie damit zusammenhängen sollte, dann wird hoffentlich recht bald der Augenblick kommen, wo ich den Anfang des Fadens finden werde, um ihn aufzuspulen.« Unvermittelt wechselte er das Thema Blair, der oft im dozierenden Ton sprach. »Bitte, halte die Stellung, bis ich wieder zurück bin! Ich muß mir draußen ein wenig die Füße vertreten. Vielleicht gehe ich auch noch auf einen Sprung zu Doc Larring. Ich habe da noch so einige Fragen.« Er schaute freundlich auf den kahlen Scheitel seines Gegenübers, griff nach seinem Hut und ging. Der Sergeant blickte ihm schmunzelnd nach. Immer wenn Glen Blair irgendwo der Schuh drückte, konnte er die räumliche Enge des Büros nicht ertragen. Er machte dann stundenlange Spaziergänge im nahen Victoriapark und kam dann meist mit bester Laune und neuen Ideen zurück. Dave Apsley seufzte. Hoffentlich schafft es Glen auch dieses Mal. Der Fall schien wirklich sehr verwickelt zu sein. Apsley spürte verwundert, daß ihn ein leichter Schauder erfaßte, als er an die düsteren Ereignisse der letzten Tage dachte. 12 �
*
Während der Sergeant seinen tiefsinnigen Betrachtungen nachhing, stand Inspektor Glen Blair vor dem kleinen Anlagensee in der Mitte des Parks und beobachtete interessiert die eifrigen Versuche eines rothaarigen Dreikäsehochs, der mit stolzer Besitzermiene sein ferngesteuertes Modellsegelschiff vom Ufer aus manövrierte. Helle Freude glänzte in dem sommersprossigen Gesicht, als das kleine Schiffchen nach einem gelungenen Wendemanöver wieder auf ihn zubog. Blair war gerade im Begriff, dem Boy bei der Bergung seines stolzen Dreimasters zu helfen, da hörte er hinter sich eine tiefe, sonore Stimme, die ihn anredete. »Inspektor Blair!« Glen fuhr herum und sah vor sich einen großen, schlanken Mann mit einem scharf geschnittenen Wikingergesicht, das von zwei leuchtenden, graugrünen Augen unter einem Schopf weißblonder Haare und buschigen Augenbrauen beherrscht wurde. Der Inspektor überwand schnell seine Verblüffung. Es kam öfter vor, daß ihn wildfremde Menschen ansprachen. Sei es, daß ihn ein kleiner Zuhälter um Schutz vor seinen mißgünstigen Zunftbrüdern bat oder daß ihm irgendein Wichtigtuer blödsinnige Hinweise geben wollte. Aber dieser Mann paßte mit Sicherheit nicht in eine dieser beiden Kategorien. Bevor er jedoch antworten konnte, sagte der Fremde mit einem gewinnenden Lächeln: »Bitte, verzeihen Sie mir diese ungewöhnliche Art, mit Ihnen bekannt zu werden. Aber ich muß Sie unbedingt sprechen.« Sein Blick schweifte kurz, wie prüfend, umher. »Und dieser Park ist der beste Ort für unser Gespräch.« Das Gesicht des Fremden wurde von einem ernsten, düsteren 13 �
Ausdruck überschattet. »Es geht um den Fall Argyll«, sagte er, Blair dabei forschend ansehend. »Aber zuerst möchte ich mich vorstellen. Ich heiße Erik Rhianonn.« Der Inspektor schluckte vor maßloser Überraschung. Aber dann trat ein wachsamer Ausdruck in seine Augen. Erik Rhianonn? Den Namen kenne ich doch. Blitzschnell überlegte er, und dann erinnerte er sich. Das war der Privatgelehrte, der vor einem Jahr in dem Prozeß gegen Cliff Woodland für die großen Schlagzeilen gesorgt hatte. Rhianonn war in diesem Prozeß psychologischer Gutachter gewesen. Der Angeklagte hatte in der Nacht von Karfreitag auf Karsamstag seine Eltern und seine Geschwister mit dem Beil erschlagen. Rhianonn konnte in einem umfangreichen Gutachten nachweisen, daß der junge Woodland für diese grauenvolle Tat nicht verantwortlich gemacht werden konnte, da er zur Tatzeit zweifellos nicht Herr seiner Sinne gewesen war. Blair erinnerte sich dunkel an einige Passagen des Gutachtens, das damals in seinem vollen Wortlaut von der ›Daily News‹ veröffentlicht wurde. Es war da die Rede von einem geheimnisvollen Trancezustand, in den Woodland mehr und mehr verfiel, von der seltsamen Gleichgültigkeit, die von dem sonst so lebhaften jungen Mann immer öfter Besitz ergriff und seiner zunehmenden Willenlosigkeit. Auch parapsychologische Phänomene wurden erwähnt. Kurz, Rhianonn hatte ihn freibekommen und damit die Anklage zu Fall gebracht… Plötzlich zuckte Inspektor Blair wie elektrisiert zusammen. War in dem Gutachten nicht auch die Rede von Professor Argyll gewesen? Ja, richtig! Woodland war vor dem grausigen Geschehen wochenlang mit Ausbesserungsarbeiten in Roslyn 14 �
House beschäftigt gewesen. Er hatte scheinbar zu dieser Zeit den gesamten Außenputz der Villa erneuert. Die Zeitung schrieb über die ›knisternde Spannung‹, die sich im Gerichtssaal ausgebreitet hatte, als sich Rhianonn und Argyll, der als Zeuge geladen war, gegenübergestanden hatten. Nach den langen Berichten der »Daily News« zu schließen, mußte Rhianonn den Professor mit flammenden Worten angegriffen haben. Sieh einer an, das kann interessant werden! Warum der Privatgelehrte mich wohl sprechen will? »Gut!« sagte er, Rhianonn neugierig musternd, »schießen Sie los!« Aber wie auf ein Kommando begann es zu regnen. Blair blickte zum Himmel und sah dicke, schwarze Wolkenfelder, die sich immer bedrohlicher verdichteten. Es würde gleich anfangen, wie aus Kannen zu gießen. Rhianonn überlegte kurz und fragte dann: »Sind Sie einverstanden, wenn wir zu mir nach Hause fahren? Hier wird es sicher gleich sehr ungemütlich werden.« Er lächelte. »Ich kann Ihnen garantieren, daß meine Schwester uns einen ausgezeichneten Kaffee machen wird.« In dem Inspektor waren die Instinkte eines Jägers erwacht. Warum eigentlich nicht? Er würde mitgehen. Diesen Rhianonn hatte ihm der Himmel geschickt. Der Mann war ernst zu nehmen. Er konnte ihm sicherlich einige wertvolle Hinweise geben. Vielleicht erhielt er sogar durch ihn den Anfang des berühmten Fadens in die Hand. »Ich bin einverstanden«, sagte Inspektor Blair. Der Privatgelehrte sah ihn freundlich an. »Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen. Sie werden es nicht bereuen. Aber jetzt müssen wir uns beeilen«, fügte er nach einem kritischen Blick auf den immer dunkler werdenden Him15 �
mel hinzu. »Ich habe zwar meinen Wagen nicht bei mir«, sagte er wie entschuldigend, »meine Schwester hat ihn vorgestern halb zu Schrott gefahren, aber am Ausgang stehen ja mehrere Taxis.« Kaum saßen sie in der Geborgenheit des Wageninnern, da fing es so an zu schütten, daß selbst die Scheibenwischer größte Mühe hatten, die Wasserfluten soweit zu bändigen, daß der Taxifahrer ein wenig Sicht bekam. Sie fuhren auf der A 9 aus Inverness hinaus und erreichten nach einer Viertelstunde Beauly Firth. Kurz vor Beauly bogen sie links der alten Priorei-Ruinen ab. Die Fahrt ging dann noch einige hundert Yards leicht bergauf. Dann hielt das Taxi vor einem mächtigen, kunstvoll geschmiedeten eisernen Tor. Sie stiegen aus, und Rhianonn betätigte die Glocke. Kurz darauf ertönte ein leichtes Summen, und das Tor ließ sich öffnen. Blair blickte neugierig um sich. In dem Zwielicht konnte er zwar nicht mehr viel erkennen, aber der Garten um den Bungalow sah sehr gepflegt aus. Dann standen sie beide vor der Eingangstür. Ein Licht flammte auf, die Tür öffnete sich. Vor ihnen stand eine junge Frau von vielleicht fünfundzwanzig Jahren. Sie begrüßte zuerst ihren Bruder mit einem herzlichen Kuß und wandte sich dann dem Besucher zu. Erik Rhianonn stellte Blair vor. Der Inspektor stand da wie gebannt. So müssen die Feen aus den alten schottischen Sagen ausgesehen haben, ging es Blair durch den Kopf. Fasziniert starrte er sie an. Ihre Augen leuchteten in einem unwahrscheinlichen Blau. Ihr wie gemeißelt aussehendes Gesicht war umgeben von einer Flut lockiger Haare, die bis auf die Schultern hinunterfielen und in ihrer Färbung geschmolzenem Kupfer glichen. Sie hatte einen betont sinnlichen Mund in ihrem attraktiven Gesicht, und Blair spürte, wie es ihm sonderbar heiß in seiner Magengegend 16 �
wurde. Er ärgert sich über seine auch ihm ungewohnte linkische Art, die er hier an den Tag legte. Mit aller Macht riß er sich zusammen und murmelte einige Worte der Begrüßung. Die beiden Geschwister schienen von der jähen Gefühlsaufwallung ihres Besuchers nichts gemerkt zu haben. Sie führten ihn in einen mit kostbaren Stilmöbeln und wertvollen Teppichen reich ausgestatteten Raum. Dicht vor der großen Fensterfront, die einen herrlichen Panoramablick über den ganzen Beauly Firth ermöglichte, nahmen sie in einer Polstergarnitur Platz. Nachdem der Hausherr zwei harte Drinks gemixt hatte, sagte er zuprostend: »Sie werden sicher sehr gespannt sein auf das, was ich Ihnen über Argyll erzählen möchte. Und Sie werden sich auch fragen, warum ich dies tue.« Rhianonn sah Blair ernst an. »Ich muß Sie vorbeugend darauf hinweisen, daß ich über Dinge sprechen werde, die vom Verstand her nicht zu erfassen sind. Vielleicht werden Sie mich sogar auslachen. Ich bitte Sie deshalb, mich zunächst ruhig anzuhören. Ich hoffe sehr, daß ich Sie überzeugen kann. Wenn mir dies gelingt, dann können wir gemeinsam dem Wirken einer verderbenbringenden Macht ein Ende bereiten. Aber dies muß schnell, sehr schnell geschehen.« Der Inspektor konnte sich nur mit größter Mühe auf die Ausführungen seines seltsamen Gastgebers konzentrieren. Heiliger St. Patrik! Wie ein Blitz hatte es bei ihm eingeschlagen. Immer wieder wurde sein Blick wie magisch angezogen von der berückenden Gestalt neben dem Privatgelehrten. Der japanische Hosenanzug mit den bunten Drachenmustern brachte die knabenhafte, geschmeidige Figur vorteilhaft zur Geltung. Aus Blairs Blicken mußte die junge Frau gewisse Schlüsse 17 �
gezogen haben. Ein spöttisches Licht funkelten in ihren Augen auf, als sie ihn ansah. Dann erhob sie sich und verließ mit leisen Schritten den Raum. »… Argyll war eine bedeutende Kapazität auf einem Gebiet, das mit dem Begriff Parapsychologie nicht voll abgedeckt werden kann. Finsterer, dämonische Praktiken kommen noch hinzu. Er hat sich jahrzehntelang mit der Erforschung des Vampirismus befaßt und hier mit hoher Wahrscheinlichkeit übermenschliche Fähigkeiten erworben. Bei seinen Forschungen und Experimenten scheint er auf Dinge gestoßen zu sein, die schwarzer sind als die schwärzeste Magie. Um es kurz und nüchtern zu sagen: Argyll lebt! Nachdem er sein Forschungsziel erreicht hatte, sprengte er sein Haus in die Luft, um alles das, was auf seine finstere Tätigkeit hindeuten konnte, zu vernichten. Er brauchte das Haus nicht mehr. Argyll ist es, der vom Blut seines alten Hausdieners trank, und Argyll ist es sicher auch gewesen, der Miß Wilkie entführte. Woher ich das alles weiß?« Rhianonn lächelte grimmig. »Wenn ich Ihnen das erklären sollte, müßte ich Ihre Geduld über Gebühr beanspruchen. Deshalb bitte ich Sie um Ihr Vertrauen.« Erik Rhianonn hatte die letzten Sätze hastig, fast drängend gesprochen. Gespannt schaute er auf den Inspektor. Er konnte die starre Front des Unglaubens zwischen sich und dem Beamten fast körperlich spüren. In sein Gesicht trat ein Ausdruck grimmiger Enttäuschung. »Ob Sie mich für verrückt halten ist Ihre Sache. Der Kampf gegen eine finstere, lebenszerstörende Macht, die sich anschickt, wie eine riesige Spinne eine Unzahl von Menschen in ihr schreckliches Netz zu verstricken, dieser Kampf ist aber nicht nur meine, sondern auch Ihre Sache.« Rhianonn schüttelte sich voll innerem Schauder und sprach mit leiser Stimme: »Wollen Sie wissen, was dieser alte Teufel vorhat? 18 �
Ich kann es Ihnen verraten. Er will sich ein schauerliches Reich mit Sklaven schaffen, die ihm blindlings ergeben sind. Wenn ihm das gelingt, wird er zum Weltfeind Nummer eins.« Er unterbrach für einen Augenblick seine leidenschaftlichen Ausführungen, griff nach seinem Glas und trank langsam den Rest des Drinks. »Es ist wie bei einem Organismus, der vom Krebs befallen ist. Sobald eine bestimmte Schwelle überschritten ist, vermehren die Immunkräfte ihre Abwehrreaktion gegen die erkrankten Zellen. Der Körper geht zugrunde.« Forschend blickte er zu Blair hinüber. »Ich weiß, es ist schwer zu glauben, gerade in unserer so aufgeklärten Zeit. Was wissen wir denn schon über all die Dinge, die außerhalb unseres Horizonts liegen und die wir mit den Mitteln der Logik allein nicht klären können. Aber nun genug des Philosophierens. Es wird Ihnen sicher schwer fallen, meine Ausführungen für bare Münze zu halten. Sie als Kriminalist wollen Tatsachen sehen. Damit kann ich Ihnen…« Gellende, offenbar in höchster Not abgegebene Schreie, die in wimmerndes Heulen übergingen, waren plötzlich zu hören. Die beiden Männer saßen einen Augenblick wie zu Stein erstarrt. Dann schnellte sich Rhianonn mit einem mächtigen Satz aus seinem Sessel und stürmte aus dem Zimmer. Auch Blair war sofort hinter ihm her. Kaum stand Inspektor Blair in der Diele, sah er Laura. Ihr Gesicht war kalkweiß, und in ihren Augen flackerte nacktes Entsetzen. Mit taumelnden Schritten ging sie auf ihren Bruder zu. Als sie dicht vor ihm stand, rief sie mit erstickter Stimme: »Tante Amy! Oben!« Dann brach sie zusammen. Die beiden Männer konnten sie gerade noch auffangen. Vorsichtig betteten sie die Ohnmächtige auf ein kleines Sofa. Ihre 19 �
Blicke kreuzten sich wie auf ein geheimes Kommando. Dann hetzten sie die Treppe hinauf. Die Tür zu dem Schlafzimmer der Tante war angelehnt. Durch den Spalt drang schwaches Licht. Es war totenstill. Glen Blair fühlte, wie in ihm eisiger Schauder hoch kroch. Er gab sich einen Ruck. Mit einigen schnellen Schritten war er bei der Tür, stieß sie auf und trat hinein. Als er seine Augen auf das Bett richtete, sah er das Entsetzliche. Das ganze Bett war mit Blut besudelt. Inmitten der zerwühlten Kissen lag die bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte Leiche einer alten Frau. Arme und Beine waren buchstäblich aus den Gelenken gerissen worden und lagen in grausiger Unordnung neben dem Torso. Die schrecklich verzerrten Gesichtszüge unter den blutverschmierten weißen Haaren hatten nichts Menschliches mehr. Die toten Augen waren weit aus ihren Höhlen getreten und blitzten in stummer, blickloser Qual. Inspektor Blair war einiges gewöhnt, aber das fürchterliche Bild vor ihm sprengte den Rahmen seiner bisherigen Erfahrungen. Ein jäher Schauer durchfuhr ihn bis zu den Fußspitzen. Ein Mensch, und sei er auch noch so verbrecherisch, konnte dies nicht getan haben. Dieses Werk konnte nur satanischem Wahnsinn zugeschrieben werden. Die gräßliche Tat mußte schneller verrichtet worden sein als die Zeit, die für ein hastiges Vaterunser notwendig gewesen wäre. Er mußte seine ganze Willenskraft aufbieten, um angesichts dieses Bildes kalt zu bleiben. Blair ging zum Fenster. Es stand weit offen. Die frische Kühle des Abends drang belebend in das Zimmer. Plötzlich hatte er eine Idee. Er zog eine kleine, flache Taschenlampe aus seiner Jackentasche und richtete den Lichtkegel auf die Fensterbrüstung. 20 �
Ein leiser Ausruf der Überraschung entfuhr seinen Lippen. Er erkannte dieselben seltsamen Spuren wie bei Miß Wilkie. Gewaltsam löste er sich von seinen Gedanken. Er mußte jetzt zuerst dafür sorgen, daß die Formalitäten in Ordnung kamen. Sein Blick richtete sich auf Erik Rhianonn. In dem wachsbleichen Gesicht des Privatgelehrten bewegte sich kein Muskel. Nur seine Augen schienen zu leben. Tief in ihnen brannte es in verzehrender Glut. Er sah Blair an. »Nun?« fragte er mit tonloser Stimme. »Glauben Sie mir jetzt wenn ich Ihnen sage, daß dieser teuflische Unhold schon wieder zugeschlagen hat? Ich soll es wohl als Warnung auffassen«, setzte er mit leiser Stimme hinzu. Der Inspektor schaute auf das Bett mit den makabren Überresten und sagte ernst: »Ich bin Kriminalist, mich können nur Tatsachen überzeugen, aber das, was ich hier vor mir sehe, ist eine Tatsache.« Behutsam legte er eine Decke über die Leiche, faßte den erschütterten Mann am Arm und zog ihn aus dem Zimmer. »Kommen Sie bitte mit hinunter! Ich werde alles Nötige veranlassen, damit Sie möglichst schnell von diesem Anblick erlöst werden.« Als sie unten in der Diele standen, hatte sich Laura Rhianonn bereits wieder aufgerichtet. Sie saß völlig verstört in der Sofaecke und rauchte mit hastigen Zügen eine Zigarette, mit blicklosen Augen ins Leere starrend. Mit einem tiefen Gefühl der Innigkeit schaute Blair auf die zarte Gestalt und räusperte sich. »Miß Laura!« rief er leise. Sie schien ihn nicht zu hören. Erst nachdem er dicht vor ihr stand und sie an den Händen faßte, blickte sie hoch. Tief in ihren Augen hockte noch schwarzes Entsetzen. 21 �
»Darf ich mal Ihr Telefon benutzen?« Sie nickte abwesend. »Ich werde sofort einige Beamte zur Spurensicherung und den Polizeiarzt nach hier beordern. Es muß ein Totenschein ausgestellt werden.« Der Inspektor blickte tröstend in ihr bleiches Gesicht. »Es wird bald vorüber sein.« Dann schaute er zu Rhianonn hinüber, der in einer finsteren, brütenden Haltung verharrte. »Wir werden uns in den nächsten Tagen eingehend unterhalten müssen. Sie haben mir sehr viel über Dinge erzählt, mit denen ich mich bisher nicht beschäftigt habe. Ich schlage Ihnen vor, daß Sie für Ihren Bereich einen Plan ausarbeiten. Diesen Plan müssen wir abstimmen mit dem, was ich zu tun gedenke. Im übrigen müssen wir abwarten, bis unser Gegner nach Ihrer Ansicht ist es ja Professor Argyll einen Fehler macht, der uns auf eine Spur bringt. Ich hoffe, daß wir das Schlupfloch bald finden und ihn entlarven können.« Die Stimme des Inspektors wurde hart und schneidend. »Wir werden ihn kriegen, trotz der übermenschlichen Fähigkeiten, die Sie ihm nachsagen. Einmal macht auch er einen Fehler.« * Im ›Clansman‹, einer düsteren, verrauchten Pinte in Thursochillis, einem kleinen Dorf am Fuße des Ben Moore Assynth, drehten sich seit Monaten alle Gespräche um den neuen Besitzer von Glyndale Castle. Nachdenklich nahm der dicke Ellersly den ungefügen Humpen, in dem ein Liter Alp Platz fand, an den Mund, blies vorsichtig den Schaum weg und trank einen mächtigen Schluck. Er wischte sich mit dem behaarten Handrücken über die nas22 �
sen Lippen und sprach mit wichtigtuerischer Miene, einen bedeutungsvollen Blick in die Runde werfend: »Irgend etwas ist da oben nicht in Ordnung. Ich weiß nur nicht was«, fügte er nachdenklich hinzu. »Wie ihr alle wißt, ist das alte Räubernest vor einem knappen halben Jahr verkauft worden. Seit dieser Zeit wurden pausenlos Instandsetzungsarbeiten durchgeführt. Ich frage euch: hat einer schon den neuen Besitzer gesehen? Selbst die Handwerker, die das alte Rattennest wieder fertiggestellt haben, kannten ihn nicht. Er hat seine Aufträge mit den Firmen in Edinburgh telefonisch abgewickelt. Die Bezahlung erfolgte ebenfalls anonym.« Er wandte sich an den Wirt. »Ben, eigentlich müßtest du doch etwas wissen. Vor einer Woche habe ich deinen Tom gesehen. Er lief wie von Furien gehetzt durch das Schloßtor ins Freie, stürmte auf seinen Landrover zu und ist dann in halsbrecherischer Fahrt an mir vorbei hinunter ins Dorf gefahren. Er machte einen sehr verstörten Eindruck. Als ich ihn am nächsten Tag fragte, was denn passiert sei, hat er mir nur widerstrebend geantwortet. Er hätte den Kamin im alten Rittersaal des Schlosses gerichtet, und die neuen Bewohner des Schlosses seien nun da. Dann verschwand er, ohne weiteres zu sagen. Er hatte es auffallend eilig. Ich frage mich nur, wie die da oben ins Schloß hineingekommen sind, ohne daß sie hier unten bemerkt wurden. Eines steht jedenfalls fest: Autos sind in den letzten zwei Wochen nicht dort oben gewesen. Die Straße war durch die Regenfälle so verschlammt, daß die Reifen starke Spuren hinterlassen hätten. Aber davon war nichts zu sehen.« Die blaßblauen Augen in dem knochigen Gesicht Ben Braids blickten unwirsch zu Ellersly hinüber. »Geh’ mir doch weg mit deinem Gequatsche!« knurrte er mit bissiger Miene. 23 �
»Es ist mir doch völlig gleichgültig, wer dort oben wohnt und wie die Leute eingezogen sind. Bis jetzt haben sie mich noch nicht gestört. Vielleicht wird der eine oder andere von uns sogar mit denen Geschäfte machen können. Was sollen deine Anspielungen also? Aber du rührst ja immer gern in fremden Suppen herum«, schloß er boshaft. Dem Dicken stieg ob dieser Zurechtweisung die Zornesröte ins Gesicht. Ehe er aber seiner Empörung darüber freien Lauf lassen konnte, durchbrach die zittrige Stimme des alten Kyneakin die eingetretene Stille. »Seit Jahren weiden meine Schafe auf der kleinen Hochebene gegenüber dem Castle. Mir ist dort vor einigen Tagen etwas Unheimliches passiert. Ich hätte schon darüber erzählt, aber ich hatte Furcht, mich lächerlich zu machen. Das Geschehnis hatte mir solche Angst eingeflößt, daß ich die ganze darauf folgende Nacht nicht schlafen konnte. Es war gegen acht Uhr abends. Die Sonne war gerade untergegangen, und Glyndale Castle verschwand im Schatten des Assynth. Auf einmal sah ich es schwarz aus einer schmalen Felsenspalte herauszucken und auf meinen armen Nick zuschießen. Ihr kennt doch alle meinen treuen Hund, den ich seit zehn Jahren habe und der immer ein vortrefflicher Wächter war. Das schwarze Untier hat ihm mit einem Biß das Leben genommen. Riesige Augen hatte diese Bestie, sie glühten wie Höllenfeuer. Sie hatte entfernte Ähnlichkeit mit einem Wolf, war aber viel größer. Das höllische Biest ist anschließend zwischen meine Schafe gefahren und hat elf davon aus reiner Mordlust buchstäblich zerfetzt. Dem heiligen St. Patrik sei Dank, daß das Ungeheuer mich nicht sehen konnte. Ich hatte mich hinter einer kleinen Felsenklippe verbergen können. Ich stand da wie erstarrt, unfähig, mich zu rühren, als ich hinter mir Flügelschlagen vernahm. Mir 24 �
sträubten sich die Haare. Ein riesiges, fledermausähnliches Geschöpf schwebte herab und stand urplötzlich neben der schwarzen Bestie. Diese hatte sichtlich Angst vor dem Neuankömmling, ich hörte ihr furchtsames Winseln. Ich habe meinen Augen nicht trauen wollen, als sich der seltsame Vogel auf den Rücken des ›Wolfes‹ setzte und die beiden unheimlichen Geschöpfe durch das Tor in das Innere des Schlosses verschwanden. Kurz darauf vernahm ich ein durch Mark und Bein gehendes Heulen. Ich kann mir nicht helfen, aber es hörte sich an wie eine grausame Züchtigung. Ich habe dann gemacht, daß ich fortkam. Mir war es so, als ob mich ein schrecklicher Alpdruck gequält hätte. Nur war es kein Traum, sondern schreckliche Wirklichkeit.« In der kleinen Schankstube war es sehr still geworden. Das eben Gehörte schien auf die Gäste wie ein eisiger Hauch zu wirken. Die Worte des alten Schäfers hatten Gewicht in Thursochillis. Er war bekannt dafür, daß er kein Wort zuviel sagte und mit Urteilen sehr sparsam umging. Ein Besucher nach dem anderen stand auf und drückte sich an dem finster blickenden Wirt vorbei ins Freie. Es dauerte keine Viertelstunde, da war die Kneipe völlig leer. * Während im ›Clansman‹ die Lichter verlöschten und Ben Braid vor lauter Mißmut über das schlechte Geschäft des Abends nicht zum Schlafen kam, arbeitete James Craigh, alias Professor Argyll, angestrengt in seinem geheimen Laboratorium. Es war nach den modernsten Erkenntnissen der Wissenschaft eingerichtet und befand sich tief unter dem Schloß in einer 25 �
natürlichen Felsenhöhle. Hier hatten sich in früheren Zeiten die berüchtigten finsteren Verliese des räuberischen Geschlechtes der Mc Cormicks befunden. Es gab nur zwei Zugänge. Nur Argyll wußte von ihnen. Vom Schloß aus konnte man das Laboratorium nur über einen geheimen Aufzug erreichen, während ein langgestreckter, von einem längst versiegten Wasserlauf ausgewaschener Gang zum Fuß des kegelförmigen Berges hinführte, der an einer Felsenspalte endete. Argyll hatte die Spalte durch eine steinerne Platte versperren lassen. Sie war von außen der felsigen Nachbarschaft so täuschend nachempfunden, daß niemand hier einen Eingang vermutet hätte. Nur er selbst kann den Mechanismus, der die Platte zur Seite schwenken ließ, den Eingang freigebend. Es war ein richtiger Fuchsbau. Mit angespannter Miene hielt Argyll einen kleinen gläsernen Tiegel über die fauchende Flamme eines Bunsenbrenners. Aufmerksam beobachtete er den Inhalt des Gefäßes, der plötzlich heftig an zu brodeln fing. Grünliche Dämpfe stiegen hoch, ein stechender Geruch verbreitete sich. Hastig nahm er den Tiegel vom Brenner und schüttete die rauchende Flüssigkeit in einen Glaskolben, der zu zwei Dritteln mit einer wasserklaren Substanz gefüllt war. In den dunklen Augen unter der hohen Stirn begann es triumphierend zu leuchten. Das Elixier war fertig. Nun stand seinen Plänen nichts mehr im Wege. Der Anblick des unscheinbaren Glaskolbens weckte in ihm ein berauschendes Gefühl der Macht. So muß den alten, sagenhaften Hierophanten bei ihren Entdeckungen zumute gewesen sein, dachte er stolz. Niemand würde sich ihm mehr widersetzen kön26 �
nen Einen langen Augenblick stand er sinnend da, seinen Machtträumen hingegeben. Dann entnahm er einem Regal ein kleines Fläschchen, füllte es aus dem Glaskolben ab und verschloß es wieder sorgfältig. Anschließend betätigte er einen Schalter. Lautlos schwang ein Teil der hinter ihm liegenden Wand zur Seite, den Blick freigebend auf die Tür einer kleinen Aufzugskabine. Zielbewußt ging er darauf zu. Gleich einem belebendem Strom durchpulste heiße Erwartung seinen Körper. Jetzt würde er sie endgültig an sich fesseln. * Langsam wurde Susan Wilkie wach. Es kam ihr so vor, als ob ihr Bewußtsein sich durch einen klebrigen Brei an die Oberfläche kämpfen müßte. Die verschwommenen Konturen um sie herum verfestigten sich zusehends. Verständnislos schaute sie um sich. Dann schloß sie wieder die Augen. Sie schien noch zu träumen. Aber dann erfaßte sie jäh das Gefühl beklemmender Angst. Mit einem Ruck richtete sie sich auf. Das, was sie sah, ließ sie erzittern. Das war doch nicht ihr Zimmer! Das waren nicht ihre Möbel! Sie lag in einem großen Himmelbett, das auf einer fußhohen Estrade stand. Die Wände waren mit großen Gobelins behängt, die fratzenhafte, ihr unbekannte Tierungeheuer zeigten. Auf dem Boden vor der Estrade lag ein dicker, roter Teppich. Eine zierliche Frisiertoilette, mehrere Schränke, eine puppenhafte Polstergarnitur und ein großer Kristallüster vervollständigten die Einrichtung. 27 �
Die fremde Umgebung und die fehlende Erinnerung an den Grund ihres Hierseins fachte ihre Angst an wie ein Windstoß eine hochschießende Flamme. Sie schlüpfte aus dem Bett und eilte zu dem kleinen Fenster. Als sie es öffnete und einen Blick nach draußen warf, prallte sie schauernd zurück. Unter ihr gähnte eine bodenlose Tiefe. Vor ihren Augen lag eine düstere, bis zum Horizont reichende Felsenlandschaft, die sie hämisch anzugrinsen schien. Susan Wilkie wankte zurück zum Bett und setzte sich, preßte die Hände gegen ihren pochenden Schädel. Ich bin Susan Wilkie! Oder bin ich wahnsinnig? zuckte es heiß durch ihr Gehirn. Unwillkürlich schaute sie hoch und sah im Spiegel der Frisiertoilette ihr Gesicht, das ihr bleich entgegenstarrte. Ihre langen blonden Haare hingen aufgelöst bis tief über ihre Schultern, und ihre Augen blickten stumpf aus umschatteten Höhlen. Sie erschrak über den Anblick. Wie magnetisch angezogen stand sie auf und knipste das Licht an. Erst in diesem Moment kam es ihr zu Bewußtsein, daß sie nackt war. Als sie sich näher betrachtete, bemerkte sie an ihrer rechten Halsseite das feuerrote, taubeneigroße Mal. Erschrocken wich Susan zurück. Ihre Augen verloren den stumpfen Ausdruck. Endlich schien ihr Gehirn die Sinneseindrücke der letzten Minuten geordnet und verarbeitet zu haben. Hell loderte hilflose Verzweiflung in ihr hoch, und ihr Geist drohte unter dieser Belastung zusammenzubrechen. Da öffnete sich langsam die Tür. Ein Mann in einem langen schwarzen Umhang betrat das Zimmer. Dunkle, befehlende Augen richteten sich gebieterisch auf die Hingesunkene. Susan Wilkie spürte ihr entschwindendes Bewußtsein wieder 28 �
zurückkehren. Unbekannte, belebende Kraftströme durchfluteten ihren Körper und vertrieben die betäubende Mattigkeit aus allen Gliedern. Ein Glas wurde an ihre Lippen gehalten, und sie trank mit langen durstigen Zügen ein würzig schmeckendes Getränk, das auf der Zunge leicht brannte. Kurze Zeit verharrte ihr Körper in völliger Bewegungslosigkeit. Dann aber durchfuhr es sie wie ein starker Schock. Ihr war es auf einmal, als ob sie aus dunklem Nebel in helles Licht auftauchen würde. Sie hörte rauschende Akkorde und sah glühende Farben um sich. In ihr verschwand jegliches Gefühl der Angst. Susan fühlte sich von einem unwiderstehlichen Kraftstrom fortgerissen. Langsam öffnete sie ihre Augen und schaute auf die dunkle Gestalt vor sich. Dann hörte sie eine volle, tönende Stimme. »Nun gehörst du mir immer! Ich mache dich zu meiner Königin!« Sie fühlte sich von starken Armen emporgehoben und aufs Bett gelegt. Als er sich über sie beugte, brannten ihm ihre Sinne in heißem Feuer entgegen. * Mit zorngerötetem Gesicht saß Chiefinspektor Bancroft hinter seinem Schreibtisch. Vor ihm lag die neueste Ausgabe der ›Daily News‹. Auf der Titelseite des Blattes prangte es in großen fettgedruckten Lettern: Schon wieder ein schrecklicher Mord der Bestie! Im Hause des bekannten Privatgelehrten Erik Rhianonn wurde gestern ein gräßlicher Mord verübt. Für die Tat verantwortlich ist offenbar dasselbe wahnsinnige Ungeheuer, das schon die anderen rätselhaften Morde und Entführungen der letzten Zeit auf dem Gewissen hat. Einen interessanten Beigeschmack hat 29 �
dieses letzte Verbrechen dadurch erhalten, daß im Augenblick des Mordes Inspektor Blair zu Besuch bei Erik Rhianonn weilte. Ob ihn der Täter lächerlich machen wollte? Die Bestie konnte jedenfalls ihre grausige Tat ungestört verrichten. Wir fragen uns nun allen Ernstes, ob die Polizei diesem Geschehen machtlos ausgeliefert oder ob Inspektor Blair hier überfordert ist und blind mit der Stange im Nebel herumfährt. Es erscheint uns höchst bemerkenswert, daß die Einwohner von Inverness offenbar schutzlos dem Wüten eines Wahnsinnigen ausgeliefert sind. Die »Daily News« fühlt sich deshalb aufgerufen, Chiefinspektor Bancroft mit gebotenem Ernst zu fragen, was er zu tun gedenkt, um hier endlich Abhilfe zu schaffen… Wütend knallte Bancroft das Blatt auf die Schreibtischplatte und drückte auf einen Knopf. Kurz darauf klopfte es zaghaft an die Tür. »Herein!« schnauzte er. Die Tür öffnete sich. Miß Winters, die Sekretärin des Chiefinspektors, trat ins Zimmer. Aus ihrem ältlichen Gesicht schauten ängstliche Augen fragend auf den vor Wut puterroten Kopf hinter dem Schreibtisch. »Haben Sie Blair gesehen?« grollte es zu ihr hinüber. »Nein!« erwiderte sie mit beflissener Stimme. »Er war noch nicht im Büro.« Bancroft konnte sich nicht mehr beherrschen. Abrupt stand er auf und brüllte: »Dann suchen Sie ihn eben, verdammt noch mal! Sagen Sie auch Sergeant Apsley Bescheid, er soll ihn sofort herschicken! Ich muß ihn dringend sprechen.« Die unscheinbare Miß schien bei dem zornigen Ausbruch noch kleiner zu werden, als sie ohnehin schon war. »Selbstverständlich, Mr. Bancroft«, sagte sie mit schwacher 30 �
Stimme, »ich werde alles erledigen.« Sie schlüpfte aus dem Zimmer. Der Chiefinspektor lief erregt in seinem Büro hin und her. Gerade jetzt mußten diese mysteriösen Zwischenfälle passieren! Ungünstiger konnte es auch nicht kommen. Dabei wollte er sich nächste Woche mit Eileen, der Tochter des reichen Brauereibesitzers Mac Leod, verloben. Er fühlte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Mac Leod war sehr ehrenkäsig, und Eileen stand ihm in dieser Eigenschaft nicht viel nach. Mißerfolge waren für sie gleichbedeutend mit Nichtkönnen. Und was hatte er nicht alles unternommen, um die Fäden zu den Mac Leods immer stärker zu spinnen. Ein böses Lächeln trat auf seine Lippen. Er würde diese arrogante Ziege schon zähmen. Sie sollte ihm noch aus der Hand fressen. Diese Verbindung durfte einfach nicht schiefgehen. Für ihn hing viel zuviel davon ab. Der Chiefinspektor fluchte leise und trat ans Fenster. Draußen wehte ein stürmischer Wind. Unter sich sah er in der brodelnden Ness ein kleines Paddelboot, das sich mühsam seine Bahn durch die schäumende Gischt kämpfte. Bancroft wandte sich um und starrte ungeduldig auf die Tür. Wenn dieser Blair doch endlich käme. Er würde ihm gehörig Feuer unter seinen Hintern machen. Kaum hatte er diese Gedanken zu Ende gedacht, da klopfte es. Auf sein barsches »Herein!« trat Blair ins Zimmer. Dann standen sich die beiden Männer gegenüber. Blair fragte höflich: »Sie haben mich rufen lassen, Mr. Bancroft?« Der Chiefinspektor sah ihn verkniffen an. In seinen Augen glitzerte es böse. »Da!« stieß er wütend hervor und deutete auf den Schreibtisch, auf dem ausgebreitet die »Daily News« lag. 31 �
»Da! Was sagen Sie dazu?« Blair blickte belustigt auf den groß aufgemachten Bericht. »Was ich dazu sage? Sie kennen doch meine Meinung über diese Zeitung.« Er grinste spöttisch. »Und Sie wissen, wie gut man mich dort leiden kann.« Dann wurde seine Stimme ernst. »Nach all dem, was ich bisher recherchieren konnte, haben wir es hier mit Verbrechen zu tun, die völlig aus dem Rahmen des Gewohnten fallen. Die vermutlichen Motive sind derart außergewöhnlich, daß sehr viel Phantasie notwendig ist, um sie als Realität anzuerkennen.« Er berichtete über die rätselhaften Vorgänge der letzten Tage, über sein Gespräch mit Erik Rhianonn und über dessen Vermutungen. Als der Inspektor geendet hatte, sah er, daß es im Gesicht Bancrofts heftig arbeitete. Dann tönte es mit leiser Stimme, in der untergründig greller Hohn schwang: »Interessant, was Sie mir da berichten, wirklich sehr interessant. Und wann soll die Gespensterjagd losgehen? Vielleicht finden Sie auch noch einen alten Besen, um während der Jagd durch die Luft zu reiten oder einige alte Zaubersprüche, um den bösen Magier bannen zu können.« Unvermittelt änderte sich die Tonart. Aus dem vor mühsam zurückgehaltener Wut fast blauem Gesicht brüllte er los: »Heiliger Dunstan! Was erzählen sie mir da für Altweibergeschichten? Sind Sie eigentlich noch zu retten? Mensch, wir leben im zwanzigsten Jahrhundert, aber nicht mehr im Mittelalter, falls Sie das nicht bemerkt haben sollten. Glauben Sie, ich habe Lust, mich in ganz Schottland auslachen zu lassen?« Bancroft wurde blaß, als er unwillkürlich an Eileen denken mußte und an die Auswirkungen auf seine Pläne. Seine Stimme wurde eiskalt und drohend. »Ich verlange von Ihnen keine Geisterjagd, sondern präzise kri32 �
minalistische Arbeit. Ich gebe Ihnen noch eine Woche Zeit. Sollten Sie mir bis dahin nicht berichten können, daß Sie den Fall gelöst haben oder der Lösung zumindest sehr nahe gekommen sind, lasse ich mir Spezialisten entweder von Edinburgh oder vom Yard kommen. Was das für Sie bedeutet, können Sie sich ja vorstellen.« Höhnisch starrte er Blair in die Augen. »Sie können jetzt gehen.« Er wandte sich um und blickte angelegentlich aus dem Fenster. So unbewegt Blair während der Phillippika des Chiefinspektors einem Außenstehenden erscheinen mochte, so sehr stürmte es in seinem Inneren. Dieser opportunistische Schwätzer, dachte er grimmig. Nur nicht anecken, sich immer hübsch durch alle Fährnisse durchlavieren das war schon immer die Devise dieses Mannes gewesen. Die Untergebenen waren nur dazu da, für ihn die Lorbeerkränze zu flechten. Er war von einer rücksichtslosen Brutalität, wenn es um seine Interessen ging. Aber Glen Blair dachte nicht daran, sich so einfach wegschicken zu lassen. Er schluckte seinen Grimm hinunter und entgegnete mit ausdrucksloser Stimme: »Ich werde diesen Fall lösen. Aber Sie müssen mir schon gestatten, dies auf meine eigene Art zu tun.« Bancroft warf ihm einen abfälligen Blick zu. »Dann tun Sie es endlich! Aber tun Sie es gefälligst bald! Ich habe nicht die mindeste Lust, für Sie den Hanswurst in den Zeitungen zu machen.« * Die schweren Jalousien waren heruntergelassen und schirmten � den Raum von allen äußeren Einflüssen hermetisch ab. Einige � 33 �
Räucherkerzen verbreiteten einen angenehmen würzigen Duft und spendeten karges Licht. Mit nacktem, straffaufgerichteten Oberkörper saß Erik Rhianonn auf dem mit einem Fell bedeckten Boden, die Beine in der Lotosstellung verschränkt. Weiß glänzten die nach oben gerichteten Augäpfel aus ihren Höhlen. Die gewaltige mentale Anstrengung zur Vertiefung der Meditation ließ die Linien seines Gesichtes scharf hervortreten. Sein ganzer Körper war in Schweiß gebadet. Doch schließlich hatte es sein Wille geschafft. Langsam fühlte Erik Rhianonn, wie die letzte Verbindung zur physischen Außenwelt abbrach und sein Geist sich mehr und mehr von seinem Körper löste. Dann schwebte sein Astralleib über dem lästigen materiellen Gehäuse und schwang sich durch Wände und Mauern hoch empor. Sie bedeuteten keine Hindernisse für ihn. Sein Bewußtsein, durch die Unzulänglichkeit des menschlichen Körpers nicht mehr behindert, konnte sich nun frei und ungehemmt entfalten. Die Beengungen des Raum-Zeit-Gefüges waren für ihn gegenstandslos. Wie ein edler Jagdhund eine schwache Witterung aufnimmt, um sein Wild zu stellen, schwang sein Geist sich über Berge und Klüfte. Immer deutlicher wurde die unheilvolle Fährte. Dann war er am Ziel. Unter sich erblickte er eine düstere Felsenlandschaft, die in ihrer trostlosen Verlassenheit ein Gefühl der Traurigkeit in ihm wachrief. Auf einem Bergkegel, vor undenklicher Zeit durch vulkanische Tätigkeit entstanden, sah er ein kleines, hochragendes Schloß. Er spürte die Wolke des Übels und der Verwesung, die drohend darüber hing. Doch dann geschah es! Jäh packte ihn eine unerbittliche, übermächtige Gewalt und zog ihn gebieterisch nach unten. Ein dämonisches Netz schien 34 �
ihn eingefangen zu haben, dem er nicht mehr entrinnen konnte. Unvermittelt wechselte das Bild. Er sah sich in einen mit kostbaren Teppichen und Möbeln reich ausgestatteten Raum versetzt. Dann erblickte er die kleine, zerbrechlich wirkende Greisengestalt in dem tiefen Sessel auf der Estrade, die ihn mit spöttisch funkelnden Augen musterte. »Du siehst mich so, wie du mich in Erinnerung hast«, sagte die sanfte Stimme. »Heute sehe ich anders aus, heute sehe ich aus, wie ich will. Du wunderst dich, daß ich dich sehen und mit dir sprechen kann, obwohl dein Körper hier nicht weilt?« Jäh verlor die Stimme ihre Sanftheit, und dann tönte es voller Hohn: »Ich freue mich, daß du mich gefunden hast und mir auf diese Weise einen Besuch abstatten willst. Der alte Argyll scheint es dir angetan zu haben.« * Von der kleinen Gestalt ging zunehmend eine Ausstrahlung eisiger Drohung aus. Urplötzlich funkelten die Augen des Alten in wilder Wut. »Ich könnte dich vernichten. Ich könnte deinen Geist in die unteren Welten hinabschicken. Du würdest dort auf Ewigkeiten umherirren, ohne einen Rückweg zu finden. Nur die Rücksicht auf deinen Vater, der mir vor langen Jahren durch eine schwierige Operation das Leben rettete, bewahrt dich vor dieser Konsequenz. Du bist von mir schon einmal gewarnt worden. Heute ist das das zweite Mal. Eine dritte Warnung wird es nicht geben. Also hüte dich! Und jetzt gehe!« Die gnomenhafte Gestalt zeichnete magische Zeichen in die Luft, und Rhianonn fühlte sich von einem unfaßbaren Strudel fortgerissen. Mit rasender Geschwindigkeit strebte die geistige 35 �
Komponente seines Körpers zu ihrem Träger hin. Die Vereinigung vollzog sich blitzschnell. Rhianonn war sofort hellwach. Er erhob sich schwankend und setzte sich auf die Ottomane. Mit zitternden Fingern entnahm er einem kleinen, aus Elfenbein gearbeiteten Kästchen eine Zigarette. Mit langen, durstigen Zügen inhalierte er den aromatischen Rauch. Er schlüpfte in die Kleider, ging zum Fenster und genoß die kühle Abendluft. Es klopfte. Er ging zur Tür und öffnete. Seine Schwester stand vor ihm. Ihre Augen musterten ihn besorgt und forschend. »Ist dein Experiment geglückt?« fragte sie ihn ernst. Erik Rhianonn bat sie herein und erzählte. Verzweiflung überschattete sein Gesicht, als er geendet hatte. »Meine Waffen sind für diesen Satan nicht scharf genug«, sagte er unzufrieden. Er verharrte in nachdenklichem Schweigen. Dann beobachtete er Laura, wie sich die Linien seines Gesichts verhärteten. »Argyll scheint höllische Dinge auszubrüten. Ich habe es deutlich gefühlt.« Er musterte Laura kurz und fuhr fort: »Wir gehen morgen zu Inspektor Blair. Vielleicht gelingt es uns irgendwie, dieses Teufelsschloß zu lokalisieren. Nach der Landschaft zu schließen, muß sich der Schlupfwinkel im nördlichen Hochland befinden.« Angstvoll blickte sie in sein Gesicht. »Hast du noch nicht genug? Was kannst du schon gegen diesen Teufel ausrichten? Weißt du denn immer noch nicht, daß du dabei mit Sicherheit dein Leben verlieren wirst?« Laura zitterte, Tränen standen in ihren Augen. Er nickte. »Auf geistiger Ebene bin ich ihm nicht gewachsen. Aber vielleicht ist er zu überlisten. Mit Blair und diesem Sergeant Apsley 36 �
zusammen könnte es gehen. Diese Leute können eisenhart sein. Außerdem sind sie von einer geistigen Robustheit, die sie weniger anfällig macht gegen die magischen Kunststücke, Argylls.« Erik blickte seine Schwester zärtlich an. »Mach dir keine Sorgen. Wir werden schon einen Weg finden. Menschen wie Argyll stürzen oft aufgrund ihrer eigenen Überheblichkeit.« * Sergeant Dave Apsley saß vergnügt hinter seinem Schreibtisch und lutschte zufrieden an einem dicken Stück Schokolade, das er sich gerade in den Mund geschoben hatte. Es war ihm sichtlich behaglich zumute. Er hatte gerade ein ausgiebiges Frühstück hinter sich gebracht und blickte dankbar auf seinen Terminkalender, der für heute keine Eintragungen aufwies. Es sah nach einem beschaulichen Tag aus. Wie zum Spott schrillte das Telefon. Mit einem gemurmelten Fluch hob er den Hörer ab. »Kriminalpolizei! Sergeant Apsley!« meldete er sich vorschriftsmäßig. »Laura Rhianonn«, antwortete eine warme Frauenstimme. »Ist Inspektor Blair zu sprechen?« Apsley grinste. Die Anruferin war ihm aus den Erzählungen Glens keine Unbekannte mehr. Er wußte, wie es um seinen Freund stand. »Nein«, sagte er freundlich, »der Inspektor ist noch nicht hier. Aber ich erwarte ihn jeden Augenblick. Kann ich ihm etwas ausrichten?« »Ja, bitte!« kam die schnelle Antwort. »Bestellen Sie ihm doch, mein Bruder und ich müßten ihn dringend sprechen. Wir kämen in einer Stunde zu ihm. Glauben Sie, daß das möglich ist?« 37 �
»Ich denke doch«, antwortete der Sergeant. »Soviel ich weiß, ist er heute morgen die ganze Zeit im Büro.« Er hörte das erleichterte Aufatmen am anderen Ende. »Das ist gut! Vielen Dank, Mr. Apsley.« Dann klickte es. Sie hatte aufgelegt. Das Gesicht des Sergeant verzog sich zu einer schmerzlichen Grimasse. Mit dem erhofften beschaulichen Tag würde es wohl nichts werden. Bedauernd blickte er in den sonnigen Morgen hinaus. Der Fall schien immer größere Ausmaße anzunehmen. Glen hatte ihm über die Unterredung mit Bancroft erzählt, und heute erschien in der »Daily News« schon wieder ein Artikel, der sich mit zwei neuen, geheimnisvollen Vermißtenmeldungen befaßte. Auch hier schien der unbekannte Verbrecher seine Hände im Spiel zu haben. In dem einen Fall handelte es sich um eine junge Lehrerin, die während eines Klassenausflugs plötzlich verschwunden war. Im anderen Fall um eine siebzehnjährige Schülerin, die unter seltsamen Umständen den Unterricht verlassen hatte. Wie die Zeitung berichtete, sei das junge Mädchen während des Vortrags aufgestanden und in einem eigenartigen, trancehaften Zustand aus dem Klassenzimmer gegangen. Es kehrte nicht zurück sondern blieb spurlos verschwunden. Die verängstigten Eltern hatten sofort eine Vermißtenanzeige erstattet. Jeden Tag schlug die unheimliche Macht zu. Jetzt waren es schon achtzehn Personen, nach denen fieberhaft gesucht wurde. Seltsamerweise handelte es sich ausschließlich um Frauen und junge Mädchen. Glen war wirklich um diesen Fall nicht zu beneiden. Wenn sich hier nicht bald ein Erfolg abzeichnete, würde er in Teufels Küche kommen, dafür würde schon dieser widerliche Bancroft sorgen. Jäh wurde Apsley aus seinen Betrachtungen gerissen. Die Tür 38 �
hatte sich geöffnet, und der Inspektor stand im Zimmer. Sein Gesicht sah zergrübelt aus, um seinen Mund lag ein verbissener Zug. Der Sergeant berichtete ihm über den Anruf von Laura Rhianonn. In den Augen Blairs leuchtete es sekundenschnell warm auf. »Hast du erfahren können, warum die beiden herkommen wollen?« »Nein«, sagte Apsley. »Bevor ich das konnte, hatte sie schon aufgelegt.« Blair nickte, setzte sich an seinen Schreibtisch und blätterte lustlos in einigen Unterlagen. Dann schaute er zu seinem Freund hinüber. »Es ist zum Kotzen, Dave!« sagte er grimmig. »Ich habe die ganze Nacht wach gelegen und mir den Kopf über die Motive dieses Satans zerbrochen. Alle Personen, die bisher verschwunden oder ermordet worden sind, stehen zueinander in keinerlei Beziehung. Keiner wußte um die Existenz des anderen. Es sieht so aus, als ob der Täter wahllos zugegriffen hätte.« »Bis auf die Tatsache, daß es sich ausschließlich um Personen weiblichen Geschlechts handelt«, gab Apsley zu bedenken. »Richtig«, sagte Inspektor Blair. »Das ist das Sonderbare daran.« In seine Augen trat heißer Zorn. »Ich muß diesen Teufel kriegen«, stieß er verbissen hervor und ballte seine Hände. »Ich kenne keinen Fall aus der Kriminalgeschichte, der sich mit diesem hier auch nur entfernt vergleichen ließe. Jeden Tag verschwinden Menschen und bleiben wie vom Erdboden verschluckt.« Er wurde nachdenklich. »Ich habe mir auch die Ausführungen von Rhianonn überlegt. Ich muß dir sagen, Dave, daß ich mehr und mehr in diese Richtung denke und mir vorgenommen habe, sie bei unseren Nach39 �
forschungen stark zu berücksichtigen.« »Davon laß nur Bancroft nichts merken!« warnte ihn Sergeant Apsley. »Du weißt ja, der würde dich unbesehen den Wölfen zum Fraß vorwerfen.« Ein schmales Lächeln spielte um die Mundwinkel des Inspektors. »Wenn du mit den Wölfen die Schreiberlinge der ›Daily News‹ meinst, so muß ich dir recht geben.« Er schaute auf seine Armbanduhr. »Sie müßten gleich kommen«, überlegte er laut. »Ich bin sehr gespannt, was sie uns zu erzählen haben. Hoffentlich bringt es uns ein Stückchen weiter.« Da klopfte es an die Tür. Miß Jump trat ein und sagte: »Ein Mr. Rhianonn ist draußen mit seiner Schwester.« Fragend schaute sie auf den Inspektor. Blair blickte sie freundlich an. »Lassen Sie die beiden nur hereinkommen, sie sind angemeldet.« Mit ausgestreckten Händen ging er auf die Eintretenden zu und begrüßte sie. Dann machte er sie mit dem Sergeant bekannt. Mit einem versteckten Lächeln in den Augenwinkeln beobachtete Blair die bewundernden Blicke Apsleys, mit denen er die anmutige Besucherin bedachte. Er hüstelte, um seinen Freund abzulenken, und sagte: »Ich freue mich, daß Sie beide gekommen sind. Wir sind selbstverständlich sehr gespannt auf das, was Sie uns zu erzählen haben.« Sein Blick ruhte auf Laura, die in der Trauerkleidung und der Blässe ihres gemmenhaften Gesichtes so zart und schutzbedürftig aussah, daß er sie am liebsten in die Arme genommen hätte. Laura Rhianonn registrierte diesen Blick. Sie wäre keine Frau gewesen, wenn sie die warme Zuneigung, die ihr von diesem Mann entgegenstrahlte, nicht wahrgenommen hätte. Zartes Rot 40 �
stieg in ihre Wangen. Sie hob ihren Kopf und schaute Blair offen und ernst in die Augen. »Mein Bruder hat Ihnen einiges zu erzählen. Es erscheint uns sehr wichtig.« Erik Rhianonn unterbrach seine Schwester. »Ich muß Ihre Fantasie wieder einmal stark strapazieren, aber es bleibt mir keine andere Wahl.« Er berichtete ausführlich über sein Meditationserlebnis. Nachdem er geendet hatte, richtete er einen forschenden Blick auf die beiden Beamten. »Ich kann Sie verstehen, Wenn Sie das, was ich Ihnen eben geschildert habe, als Ausgeburt eines wilden Traumes bezeichnen. Eines muß ich Ihnen aber noch sagen, bevor Sie Ihre Ansicht äußern: Die zur Trennung von Geist und Körper erforderliche Yogatechnik wird in Tibet und Indien schon seit Jahrtausenden gelehrt. Es gibt nur wenige Menschen, die diese Fähigkeit bis zur Vollkommenheit ausgebildet haben. Ich darf mich, ohne Überheblichkeit an den Tag zu legen, zu diesem kleinen Kreis zählen.« Er hielt inne und blickte irritiert zu Blair hinüber, der mit einer schnellen Bewegung aufgestanden war und scheinbar planlos im Raum herumzulaufen begann. Plötzlich blieb er stehen, musterte mit funkelnden Augen den Privatgelehrten und sagte: »Ich mache Ihnen einen Vorschlag: betrachten wir doch Ihr Erlebnis als brauchbare Arbeitshypothese. Was uns jetzt zu tun bleibt, ist die Auffindung dieses Schlupfwinkels.« Er wurde von Sergeant Apsley abgelenkt, der während der Ausführungen immer nachdenklicher geworden war. »Ja!« murmelte der Sergeant wie im Selbstgespräch. »Das könnte es sein.« Alle schauten verwundert zu ihm hinüber. Seine Backen waren vor Erregung rot angelaufen, und seine Augen glänzten wie im 41 �
Fieber. »Ich glaube, ich hab’s!« sagte er mit triumphierender Miene. Er wandte sich an Rhianonn. »Sie sprachen von einem kegelförmigen Berg, auf dessen Spitze dieses Schlößchen steht, und von der düsteren, öden Felsenlandschaft um diesen Berg herum. Und dann erwähnten sie noch ein kleines Dorf am Fuße des Berges. Diese Beschreibung paßt haargenau auf Thursochillis. Ich glaube es wenigstens. Als ich noch zur Schule ging, wohnte dort eine inzwischen längst verstorbene Tante. Ich war dort oft in Ferien und habe mit anderen Kindern in den felsigen Schluchten Räuber und Gendarm gespielt. Es war eine schöne Zeit«, fügte er versonnen hinzu. Blair unterbrach den Dicken. »Einen Augenblick, Dave!« Er ging zum Schreibtisch und drückte auf einen Knopf. Sekunden später trat Miß Jump ins Zimmer. Sie schaute den Inspektor strahlend an. »Bitte, Miß Jump, gehen Sie doch ins Archiv zu Mr. Kerry und bitten Sie ihn, er möchte Ihnen eine Luftaufnahme von Thursochillis geben. Soviel ich weiß, ist ja ganz Schottland durch Luftaufnahmen erfaßt worden. Sie müßten also da sein. Seien Sie doch bitte so nett.« Sie lächelte ihn hingebungsvoll an. »Selbstverständlich Mr. Blair. Ich werde es gleich erledigen.« Eilig ging sie aus dem Zimmer, nicht ohne vorher einen spitzen Blick auf Miß Rhianonn geworfen zu haben. Kurze Zeit darauf war sie wieder zurück. Mit freundlicher Miene streckte sie dem Inspektor eine etwa zwanzig Zoll im Quadrat messende Luftbildaufnahme entgegen. Er legte sie auf den Schreibtisch und studierte sie mit großer Aufmerksamkeit. Dann warf er einen überraschten Blick auf Erik Rhianonn und sagte mit einem fassungslosen Unterton in seiner Stimme: 42 �
»Hier! Bitte, schauen Sie!« Er gab die Aufnahme den Geschwistern. Als Rhianonn die Luftbildaufnahme näher betrachtete, fühlte er, wie sein Unterbewußtsein sich jäh verkrampfte. Er zuckte zusammen. Mit tonloser Stimme sagte er: »Genau dies hier habe ich gesehen.« Er drehte sich zu Apsley, der ihm angespannt über die Schultern geblickt hatte. »Sie haben recht gehabt, Sergeant. Ich habe es mir schon gedacht, als Sie eben von diesem Dorf erzählten.« In die Augen des Privatgelehrten trat ein Leuchten. »Was sagen Sie nun, Inspektor Blair? Hoffentlich ist es mir gelungen, Sie endgültig zu überzeugen. Aber jetzt sind Sie am Zug. Was schlagen Sie vor?« Blair nickte mit funkelnden Augen und sagte: »Ich habe bereits eine Idee. Argyll und seine Geschöpfe haben das Schlößchen sicher nicht eher bezogen, bevor entsprechende Renovierungsarbeiten durchgeführt worden sind. Für die Verwirklichung meines Planes ist es notwendig, daß wir diejenigen Firmen finden, die mit den Instandsetzungsarbeiten betraut wurden.« Blair blickte Apsley fragend an. »Würdest du die dazu notwendigen Recherchen übernehmen?« Der Dicke nickte. »Ich werde mich gleich ans Telefon hängen«, versprach er. »Gut!« sagte Blair, dann entwickelte er den gespannt Zuhörenden seinen Plan… * Es war ein kühler, nebliger Donnerstagmorgen. Ben Braid stand � im Hof neben seiner Kneipe und betrachtete mit sauertöpfischer � 43 �
Miene die an vielen Stellen durchgerostete Dachrinne seines armseligen Hauses, die bei Regen eher wie eine Traufe, aber nicht wie ein Wasserabfluß wirkte. Braid war ein sparsamer Mann. Die allmählich, nicht mehr zu umgehende Geldausgabe, die da auf ihn zukam, wurmte ihn sehr. Da hörte er hinter sich das gequälte Quietschen alter Autobremsen. Er drehte sich um und sah dicht am Straßenrand einen grünlackierten Kombiwagen parken. »Harper and Smith Spezialmaschinenfabrik für Aufzüge« stand in dicken schwarzen Blockbuchstaben auf der Beifahrertür. Die Wagentür öffnete sich, und ein stämmiger Mann im blauen Monteursoverall stieg aus. Er fragte Braid freundlich nach dem nächsten Weg zum Schloß Glyndale Castle. In Ben Braids Gehirn schrillte es Alarm! Er dachte an den turbulenten Abend vor einigen Tagen, an die Vorwürfe Ellerslys und an die Erzählungen des alten Schäfers. Vielleicht konnte er etwas erfahren. Er nickte eifrig und legte sein Gesicht in freundliche Falten. »Wenn es nicht so neblig wäre, hätten Sie die Straße zum Schloß nicht übersehen können.« Er erklärte ihm den Weg und fragte dann harmlos: »Gibt es denn da oben immer noch zu tun? Über ein halbes Jahr ging es ja in dem Schloß zu wie in einem Ameisenhaufen.« Erwartungsvoll schielte er den Dicken an. Doch der schien nicht gesonnen, sich auf ein Gespräch einzulassen. Er grinste nur und sagte kurz: »Wir sind vom Kundendienst.« Dann fragte er unvermittelt: »Es ist möglich, daß wir einige Tage eine Unterkunft brauchen. Haben Sie noch ein Doppelzimmer frei?« Das Gesicht des Alten, das sich bei der kurzen Auskunft 44 �
umwölkt hatte, hellte sich sofort wieder auf. »Wir haben sehr gute Zimmer hier«, brüstete er sich. Dann setzte er hinzu: »Soll ich schon eins für Sie herrichten?« Der Dicke war bereits wieder im Wagen verschwunden und rief aus dem Fenster zu Braid hinunter: »Wir werden Ihnen in einigen Stunden Bescheid sagen.« Kurz darauf war der Wagen im dichten Nebel verschwunden. Der Wirt blickte finster hinterher. »Dieses großnäsige Stadtgelichter!« murmelte er wütend. Aber er würde es ihnen schon zeigen. Ein hämisches Lächeln huschte über sein Gesicht. Er würde die Zimmerpreise um ein saftiges Stück anheben. Eine andere Übernachtungsmöglichkeit gab es nicht in Thursochillis. Die Fremden waren wohl oder übel auf ihn angewiesen. Beim Hineingehen warf er noch einen scheelen Blick auf die Dachrinne. Vielleicht würden ihm die nächsten Tage das nötige Geld für die Reparatur einbringen. * Während Ben Braid hoffnungsfroh in seiner schäbigen Pinte verschwand, näherten sich die beiden Monteure Glyndale Castle. Sie hatten den Nebel bereits unter sich gelassen. Bald darauf standen sie vor dem mächtigen, eisernen Tor. Der schlanke, hochgewachsene Kollege des Dicken blickte suchend auf den Eckpfeiler. »Es muß doch eine Glocke oder so was Ähnliches hier zu finden sein«, murmelte er mürrisch. Erst nach längerem Hinschauen hatte er die vom Efeu völlig verdeckte Klingel gefunden. Er drückte energisch. Kurz darauf klickte es. Aus einem verborgenen Lautsprecher tönte eine rauhe Stimme: »Was wünschen Sie?« 45 �
»Wir sind vom Kundendienst der Aufzugsfirma ›Harper and Smith‹«, antwortete der dicke Monteur. »Unsere Firma hat uns für den heutigen Tag telefonisch bei Ihnen angemeldet. Wir müssen unbedingt den Aufzug nachsehen, der von unserer Firma im Schloß installiert wurde. Wir haben die Vermutung, daß einige Schaltungen nicht stimmen. Wenn das der Fall sein sollte, ist die Benutzung des Aufzugs lebensgefährlich.« Eine verdächtige Zeit lang blieb es im Lautsprecher ruhig. Dann kam endlich die Antwort. Wesentlich freundlicher als zu Beginn sagte die Stimme: »Es tut mir sehr leid, aber unser Herr, James Craigh, ist seit zwei Tagen verreist und kommt erst übermorgen zurück. Ich habe das auch Ihrer Firma während des Telefongesprächs mitgeteilt und um eine kurze Verschiebung Ihres Besuches gebeten.« Die beiden draußen sahen sich bedeutsam an. Dann sagte der Dicke: »So ein Pech! Das ist von der Firma versiebt worden. Uns wurde von der Verschiebung des Termins keine Mitteilung gemacht.« Er tat, als wenn er überlegen müßte, und sagte dann: »Wir haben zwar damit gerechnet, in Thursochillis übernachten zu müssen, denn in einem Tag ist eine etwaige Reparatur des Aufzugs nicht durchzuführen. Nun«, sagte er wegwerfend, »unser Geld kostet es ja nicht, bleiben wir eben einige Tage länger. Wir werden uns im ›Clansman‹ einmieten. Wenn Ihr Herr zurückkommt, sagen Sie ihm doch bitte Bescheid.« Als Erwiderung ertönte nur ein kurzes Brummen der Zustimmung. Dann klickte es wieder, der Lautsprecher war abgeschaltet. Mit unbewegten Gesichtern, ohne auch nur ein Wort zu sagen, gingen die beiden Monteure zu ihrem Wagen zurück und wendeten. Erst nach einigen Minuten, als sie sich immer mehr vom 46 �
Schloß entfernten, brachen sie ihr Schweigen. Der Dicke grinste und sagte zu seinem Beifahrer: »Na, Glen, wie bist du zufrieden?« Der hatte ebenfalls ein lustiges Funkeln in den Augen und sagte: »Es ist ganz so abgelaufen, wie ich es mir vorgestellt habe. Bis der hohe Herr wieder in sein Schloß zurückkehrt, haben wir Zeit, Erkundigungen einzuziehen und selber Beobachtungen zu machen.« »Pfui Teufel!« stieß Apsley hervor. »Wir müssen wieder in den verdammten Nebel hinein.« Konzentriert starrte er auf die schlecht erkennbare Straße vor ihm. Es dünkte ihm wie eine Ewigkeit, bis endlich die ersten Häuser von Thursochillis wie Schemen aus der Waschküche auftauchten. Eine Straße war das gewiß nicht gewesen, eher ein mit Schlaglöchern übersäter Weg. Endlich standen sie vor dem »Clansman«. Auf ihr Klingeln erschien eilfertig der Wirt. Blair grinste innerlich über den Versuch Braids, seinem knochigem Gesicht gewinnende Züge abzutrotzen. »Ich habe es geahnt, Gentlemen. Ich habe es geahnt und deshalb Ihr Zimmer schon hergerichtet. Es kostet drei Pfund pro Nacht«, nannte er mit schamlosem Lächeln seine Unverschämte Forderung. Als er sah, daß die beiden Fremden mit keiner Äußerung zu verstehen gaben, daß ihnen dieser Preis zu hoch sei, setzte er noch rasch hinzu: »Selbstverständlich ohne Frühstück.« Die beiden musterten ihn schweigend, und dem Wirt wurde es zusehends unbehaglicher. Er wußte nicht, wo er seine Augen lassen sollte, Schließlich quetschte er mühsam hervor: »Wie lange werden Sie bleiben?« Inspektor Blair schluckte mit Anstrengung seinen Grimm über diesen Wucherer hinunter. »Wahrscheinlich eine knappe 47 �
Woche«, sagte er kurz, »genau weiß ich es aber noch nicht.« »In Ordnung«, kam es beflissen zurück, »ich wollte ja auch nur die ungefähre Zeitdauer wissen. Aber so ist es recht, so ist es recht. Kann ich Ihnen jetzt zeigen, wo Sie Ihren Wagen abstellen können?« »Ja sicher, ja sicher«, äffte Apsley den Tonfall des Wirtes nach, »wir wollen ihn schnell von der Straße weghaben.« Braid sah ihn schief an und wandte sich mit beleidigter Miene an Blair. »Ich muß Ihre Personalien noch eintragen, Mister…?« Er wartete mit fragender Miene. »Warren, Tim Warren!« sagte Blair lächelnd. »Und das ist mein Kollege Collin Flanagan. Falls Sie noch mehr Daten brauchen sollten wir machen uns nur schnell frisch und kommen dann herunter. Können wir übrigens bei Ihnen ein Mittagessen bekommen?« Das Gesicht des Wirtes hellte sich wieder auf. »Gewiß«, sagte er, »gewiß, ich kann Ihnen eine große Portion Ham and Eggs und Bratkartoffeln machen. Dazu einen starken Kaffee. Wäre es Ihnen so recht?« Blair nickte zustimmend. Dann zog er eine bereitgehaltene Zehnpfundnote aus der Tasche und reichte sie dem Wirt. »Ein kleiner Vorschuß«, sagte er lächelnd. Braids Augen funkelten habgierig auf, als er den Geldschein in Empfang nahm und ihn wie durch Zauberei blitzschnell in eine seiner Taschen verschwinden ließ. »Vielen Dank, vielen Dank. Ich werde dafür sorgen, daß Sie sich bei mir wohl fühlen.« Dann war er aus dem Zimmer. Bevor Apsley seinem Zorn Luft machen konnte, hielt Blair warnend einen Finger vor den Mund. Auf Zehenspitzen ging er zur Tür und horchte angestrengt. Erst als er unten eine Tür heftig zuschlagen hörte, wandte er sich um und sagte mit einem leichten Vorwurf in der Stimme: »Du weißt doch, wir müssen hier 48 �
sehr vorsichtig sein. Jeder noch so kleine Fehler gefährdet unseren Plan. Du brauchst dir nur vorzustellen, daß dieser ehrenwerte Ben Braid mit dem frischgebackenen Schloßherrn in Verbindung steht. Ganz so abwegig ist das gar nicht. Der Wirt darf auch nicht die leiseste Spur eines Verdachtes schöpfen.« Blairs Blicke wanderten prüfend durch das Zimmer. »Abhörgeräte werden hier wohl kaum installiert sein. Trotzdem bin ich dafür, daß wir uns in diesem Haus nur über nichtssagende Dinge unterhalten. Über alles andere können wir im Freien reden. Aber jetzt sollten wir uns beeilen, ich verspüre ein nagendes Gefühl in meinen Eingeweiden.« In den Augen Dave Apsleys glühte immer noch ein düsteres Licht. Blair lächelte in sich hinein, als er den Dicken in dieser Gemütsverfassung sah. Er wußte, daß nur wenige Dinge Apsley so reizen konnten wie wucherischer, schmutziger Geiz. Begütigend klopfte er ihm auf die Schulter. »Komm, Dave! Ich weiß, was du denkst, ich gebe dir vollkommen recht. Aber schlucke den Kloß bitte hinunter.« Kurze Zeit später saßen sie beim Essen. Es war erstaunlicherweise sehr gut zubereitet. Der Wirt hatte anscheinend Angst, seine Gäste zu vergrämen. Er hatte daher solche Mengen aufgetafelt, daß selbst der Sergeant seine Portion nicht zwingen konnte. Als Braid nach dem Essen den Tisch abräumte, fragte ihn der Inspektor: »Können Sie uns einen hübschen Spazierweg nennen? Sie als Einheimischer können uns sicher einen guten Tip geben.« Er beugte sich vertraulich zu dem die Ohren spitzenden Mann hinüber und sagte mit leiser Stimme: »Wissen Sie, der neue Herr von Glyndale Castle ist einige Tage verreist, so daß wir unseren Kundendienst im Schloß nicht verrichten können. Wir müssen warten, bis er zurückkommt. Der Verwalter läßt uns nicht herein.« Aufmunternd sah er den Wirt 49 �
an. Das knochige Gesicht vor ihm verzog sich zu einem geschmeichelten Lächeln. »Ich wüßte schon einen«, sagte er. »Direkt gegenüber vom Castle ist eine kleine Hochebene, von der Sie einen ausgezeichneten Blick über das ganze Panorama haben. Sie kommen sehr leicht dorthin. Der Fußweg hinauf ist nicht schwer zu gehen. Sie brauchen ungefähr eine Stunde.« Er blickte prüfend aus dem Fenster. »Der Nebel hat sich inzwischen verzogen«, sagte er zu Blair. Den Sergeant beachtete er gar nicht mehr. Er schaute durch ihn hindurch, als ob er aus Luft wäre. Eine Stunde später standen sie auf dem Plateau. Gegenüber, auf dem kegeligen Ben Moore Assynth, reckte sich Glyndale Castle in den Himmel. Die Luft war wie reingewaschen. Das Plateau war von dem Schloß durch einen ungefähr hundert Fuß breiten und gut fünfhundert Fuß tiefen Einschnitt getrennt. Gegenüber an der Schloßmauer war mit rostigen Ketten eine mittelalterliche, schon stark verfallene Holzbrücke befestigt. Sie hatte sicher schon viele Generationen überdauert und mußte einst als Flucht- oder Ausfallweg über diesen schauerlichen Abgrund gedient haben. »Komm!« sagte Blair leise zu Apsley. »Gehen wir langsam zu der kleinen Felsengruppe. Dort können wir ungestört und vor allen Dingen ungesehen das Schloß beobachten.« Hinter einer kleinen Klippe bot sich ihnen der erhoffte Unterschlupf. Der Inspektor entnahm einem kleinen Lederetui ein Fernglas. »Wir wollen doch mal sehen, ob wir nichts ausspionieren können«, murmelte er vor sich hin. Langsam suchte er mit dem lichtstarken Glas die schroff aufragende dunkle Mauer ab, in denen die Fenster wie blitzende Augen saßen. Nichts war zu entdecken, kein noch so kleines Zeichen von Leben zeigte sich. Dem Inspektor war durch die unbequeme 50 �
Haltung der rechte Arm eingeschlafen. Vorsichtig richtete er sich auf und reichte Apsley das Glas. »Hier!« sagte er. »Beobachte du mal, besonders die Fenster! Vielleicht rührt sich irgendwo dahinter was.« Sie tauschten die Plätze. Blair setzte sich hin. Er lehnte sich bequem gegen einen Felsen, rupfte gedankenlos einen Grashalm aus einer Felsritze und zerfaserte ihn abwesend mit den Zähnen. Er dachte nicht mehr an das Schloß und die vor ihm liegende schwere Aufgabe. Das jäh in sein Bewußtsein getretene liebliche Bild Laura Rhianonns verdrängte jeden anderen Gedanken. Zärtliche Gedanken, vermischt mit leiser Resignation, stiegen in ihm hoch. Er wußte mit hellgesichtiger Klarheit: diesmal hatte es ihn gepackt. Er sah die anmutige Gestalt greifbar nahe vor sich: ihre leuchtenden Augen, ihren stolzen Gang. Er spürte verwundert, wie es bittersüß in ihm brannte. Da wurde er unsanft aus seinen Träumen gerissen. Apsley hockte vor ihm und rüttelte ungeduldig an seiner Schulter. »Heiliger Dunstan! Was ist los mit dir? Du träumst ja mit offenen Augen!« Mit erregter Miene streckte er ihm das Glas hin. »Hier!« zischte er leise. »Im rechten Turm das obere Fenster!« Im Nu war Blair wieder klar. Seine Augen blickten scharf wie die eines Jägers, der auf ein edles Wild anlegt. Er griff hastig nach dem Glas und schaute konzentriert in die angegebene Richtung. Was ersah, entlockte ihm einen jähen Ausruf tiefer Überraschung. Hinter dem Fenster erkannte er die bewegungslose Gestalt einer blonden Frau. Fieberhaft drehte der Inspektor an der Schärfeeinstellung des empfindlichen Glases. Jetzt hatte er sie ganz klar vor sich. Es war Susan Wilkie. Sie mußte es einfach sein. Ihr Aussehen war durch die Fahndungsbilder so in seinem Gedächtnis verankert, daß er sich vollkommen sicher war. 51 �
Doch dann fühlte er eine Gänsehaut über seinen Körper kriechen. Ein kleiner Spatz torkelte durch die Luft, verfolgt von einem Sperber, der gerade im Begriff war, auf seine schon sicher geglaubte Beute hinunterzustoßen. Mit schrillem, ängstlichen Piepsen konnte sich das Tierchen im letzten Augenblick in eine Ecke der schmalen Fensterbrüstung retten. Quarrend über die entgangene Mahlzeit strich der Raubvogel vorüber. Das Gesicht der blonden Frau hinter dem Fenster veränderte sich auf eine erschreckende Weise. Gierige, rote Augen starrten auf das kleine zitternde Federbündel. Der Mund war plötzlich wie zum Zubeißen geöffnet. Blair sah lange Eckzähne in einem Gesicht, das von tierischem Verlangen beherrscht wurde. Er nahm das Glas von den Augen und sah Apsley an. »Heiliger Sankt Patrik!« sagte er erschauernd. »Wir haben sie beide gesehen, also kann es keine Sinnestäuschung gewesen sein.« Ein düsteres Feuer glomm in seinen Augen. »Wenn es je noch einen letzten Rest des Zweifels bei mir gegeben hätte jetzt ist er ausgeräumt. Komm, Dave! Den Spaziergang haben wir nicht umsonst gemacht.« Vorsichtig entfernten sich die beiden Männer. Sie schwiegen. Ihr Bewußtsein mußte die Eindrücke der letzten Stunde erst verarbeiten. Sie waren kurze Zeit unterwegs, da hörten sie ein Trappeln wie von vielen Hufen und vereinzelte Mäh-Rufe. Dann erblickten sie die kleine Schafherde, die von einem struppigen, eifrig kläffenden Hund, der scheinbar alle möglichen Hunderassen in sich vereinigte, ruhelos umkreist wurde. Hinter der Herde schritt eine hagere Gestalt in einem alten verschossenen Umhang. Aus einem wettergegerbten, zerfurchten Gesicht richteten sich durchdringende helle Augen prüfend auf die beiden Männer. Dann tönte es voller Sarkasmus zu ihnen herüber: »So alt ich bin, Sie sind die ersten Spaziergänger, die ich hier 52 �
oben sehe.« Als er das umgehängte Fernglas bei Blair bemerkte, trat in seine Augen ein listiger Ausdruck. »Haben Sie sich das Schloß etwas näher angesehen?« fragte er anzüglich. Da hatte der Inspektor plötzlich eine seiner berühmten Ideen. Wenn er später nach den Motiven für diesen jähen Einfall gefragt wurde, murmelte er verlegen etwas von Intuition oder ähnlichem. Er konnte es selber nie ganz begreifen, daß er einen unbekannten Mann wie diesen Schäfer ins Vertrauen zog. »Wir beide sind von der Kriminalpolizei in Inverness. Ich bin Inspektor Blair, und das ist Sergeant Apsley.« Er deutete mit dem Kopf nach Glyndale Castle. »Da scheinen höchst merkwürdige Dinge vorzugehen, die dringend unser Interesse erfordern.« Der Alte schien von diesen Worten gar nicht überrascht zu sein. Sekundenschnell geisterte ein Lächeln über die runzeligen Züge. »Hihi!« kicherte er. »Ich habe mir schon so etwas gedacht als ich Sie dort oben zwischen den Felsen das Castle beobachten sah. So sehen gewiß keine Spaziergänger aus.« Dann wurde seine Stimme ernst. »Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen. Sie konnten nichts Besseres tun. Ich habe mit diesen seltsamen Schloßbewohnern auch schon meine bitteren Erfahrungen machen müssen.« Er berichtete in kurzen Worten über sein Erlebnis und die Ausführungen des dicken Ellersly im ›Clansman‹. »Vielleicht hilft Ihnen das ein wenig weiter. Wenn Sie mich noch mal brauchen sollten Sie können mich immer hier oben finden. Und noch etwas: Sie übernachten sicher im ›Clansman‹. Seien Sie vorsichtig! Ben Braid ist ein übler Geselle, ihm ist nicht zu trauen. Der wäre imstande, seinen eigenen Sohn zu verkaufen, wenn es ihm nur genügend Geld einbrächte.« Er nickte den beiden Beamten freundlich zu und eilte seinen Schafen 53 �
nach. Apsley sah Blair verblüfft an. »Sonderbare Dinge passieren hier: das eigenartige Gebaren des Wirts, der Spaziergang, die Beobachtung, daß sich Susan Wilkie auf dem Schloß befindet und jetzt noch der Schäfer mit seinen Enthüllungen. Ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll. Zuerst war ich ja fassungslos, als ich hörte, daß du den Alten ins Vertrauen zogst. Aber du hast unbewußt richtig gehandelt, es konnte uns wirklich nichts besseres passieren. Seine Ausführungen waren sehr aufschlußreich.« Er wurde nachdenklich. »Der Schäfer kennt doch sicher jeden Weg und Steg hier. Dieses Wissen kann uns noch sehr nützlich werden. Schon aus diesem Grund ist er für uns von großer Wichtigkeit.« * Am nächsten Morgen, nach den bedeutungsvollen Entdeckungen der beiden Beamten, kurvte ein dunkelgrüner Jaguar mit einem vierrädrigen Wohnanhänger durch die steinige Einöde in Richtung auf Thursochillis. Der Fahrer mußte höllisch aufpassen, um sein langes Gespann durch die engen Kurven zu steuern. Es war eine aufreibende, mühsame Fahrt. Endlich standen sie auf einer kleinen, durch enge Schluchten zerklüfteten Anhöhe. Ungefähr zwei Meilen vor ihnen sahen sie in einem kleinen Tal, unterhalb eines mächtigen kegelförmigen Berges, das kleine Dörfchen liegen. Laura Rhianonn atmete erleichtert auf. »Den Heiligen sei Dank!« sagte sie. »Wir haben es geschafft. Ich fühle mich wie zerschlagen. Vom Straßenbau hat man hier wohl keine Ahnung.« »Gedulde dich nur noch eine kurze Zeit«, sagte Erik Rhianonn 54 �
tröstend. »Du wirst dich bald ausruhen können. Wir müssen nur noch einen geeigneten Platz für die beiden Wagen finden.« Er stieg aus und ließ seine Blicke prüfend umherwandern. Nach einigem Suchen hatte er ein passendes Versteck gefunden. Kurze Zeit später standen die Wagen in einer engen Schlucht. Sie konnten von der Straße nicht ausgemacht werden. Erik Rhianonn schaute auf seine Armbanduhr. »Genau elf, wie es verabredet wurde«, sagte er mit zufriedener Miene. Einer schmalen Ledertasche entnahm er ein kleines Sprechfunkgerät und ging zu der Stelle zurück, die ihm einen freien Blick nach Thursochillis ermöglichte. Er zog die Antenne des Gerätes heraus, stellte auf Sendung und rief in das eingebaute Mikrofon während einer ganzen Minute in kurzen Abständen die Worte: »Hier ist Cäsar, bitte kommen!« Dann schaltete er um auf Empfang. Gleich beim erstenmal klappte es. Aus dem kleinen Lautsprecher ertönte die Stimme Blairs: »Hier ist Ramses! Wir haben euch verstanden!« Rhianonn wartete eine Minute, stellte dann wieder auf Sendung und gab Blair die notwendigen Informationen zum Auffinden ihres Standortes. Sie waren übereingekommen, nicht gemeinsam im ›Clansman‹ zu wohnen, es wäre zu auffällig gewesen. Und es erschien aussichtsreicher, von zwei getrennten Standorten zu operieren. Rhianonn packte das Gerät wieder in die Tasche und ging in das Versteck zurück. Seine Schwester war inzwischen in dem geräumigen und luxuriös ausgestatteten Wohnwagen mit dem Richten eines kleinen Imbisses beschäftigt. Noch ehe eine halbe Stunde vorüber war, hörten sie Motorgeräusche. Bald darauf saßen sie alle zusammen, und Inspektor Blair berichtete über ihre Informationen. Genußvoll trank Apsley seine zweite Tasse Kaffee aus und reichte die leere Tasse mit 55 �
einem bittenden Blick Laura Rhianonn hin, die ihn lächelnd bediente. Ihr Bruder hatte mit gespanntem Gesicht dem Inspektor zugehört und sagte, als dieser geendet hatte: »Wir scheinen das Wild gestellt zu haben. Es ging einfacher, als wir dachten. Aber hüten wir uns, deshalb anzunehmen, alles weitere sei ein Kinderspiel. Der schwerste Teil der Aufgabe liegt noch vor uns.« Er schwieg nachdenklich und fuhr nach einer Weile entschlossen fort: »Aber nun kurz zu meinen Erkundigungen. Wie ihr wißt, war ich in London und bin dort mit Professor Ipswich aus Oxford zusammengetroffen.« Er warf einen bittenden Blick zu seiner Schwester hinüber. Laura stand auf und holte aus einem Wandschränkchen eine kleine lederne Reisetasche. Rhianonn öffnete sie und nahm mehrere in Stanniolpapier verpackte Gegenstände heraus, die er auf den Tisch legte. Er wandte sich an Blair und Apsley und sagte: »Das, was ihr gestern gesehen und gehört habt, wird euch von der Notwendigkeit dieser Gegenstände überzeugen.« Unter den gespannten Blicken der beiden Männer packte er sie aus. Sie machten große Augen. Zum Vorschein kamen vier kleine silberne Kruzifixe und vier Taschenrevolver. »Professor Ipswich hat den Lehrstuhl für Parapsychologie an der Universität in Oxford inne«, sagte der Privatgelehrte. »Ich habe mit ihm ein langes Gespräch gehabt. Er hat mir dringend ans Herz gelegt, daß jeder von uns immer diese beiden Dinge mit sich führt. Während des letzten Teils unseres Plans sollen die Kruzifixe so um den Hals gehängt werden, daß sie deutlich erkennbar sind. Und diese Revolver hier«, Rhianonn lächelte grimmig, »sie sind nicht mit normalen Kugeln, sondern mit geweihten Hartholzkugeln geladen. Die Wesen dort oben auf dem Schloß sind gegen Metall gefeit, aber nicht gegen diese Art von Kugeln. Ich erachte, es für wenig sinnvoll, euch über die philosophisch56 �
religiösen Fragen zu unterrichten, die damit zusammenhängen und über die ich mit Professor Ipswich ausgiebig diskutiert habe. Die Hauptsache ist, daß ihr diese ›Waffen‹ ständig mit euch führt.« Apsley konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen, als er das Kruzifix und den Revolver einsteckte. »Jetzt fehlt nur noch ein vom Teufel gesalbter Besen, dann könnten wir sogar fliegen«, sagte er frotzelnd. Blair mußte sich Gewalt antun, um sich zu konzentrieren. Ihm gegenüber saß Laura. Er hatte einige Male ihre verstohlenen Blicke auf sich ruhen gefühlt. Wenn ich dieses Abenteuer glücklich beende, werde ich sie etwas fragen, dachte er sehnsüchtig, auch auf die Gefahr hin, daß sie mich auslachen sollte. »… welches weitere Vorgehen schlagen Sie nun vor?« hörte er Rhianonn fragen. Als er aufsah, blickte er in die schelmischen Augen Lauras, in denen goldene Funken zu tanzen schienen. Mühsam befreite er sich, von der Verzauberung, die von dieser Frau ausging. Sein Gesicht verlor die Weichheit und wurde wieder hart. »James Craigh, in dem wir alle Professor Argyll vermuten, soll morgen wieder im Schloß sein. Apsley und ich werden so gegen elf Uhr hinauf fahren. Wenn ich dann meinen ›Kundendienst‹ verrichte«, ein sparsames Lächeln umspielte seine Mundwinkel, »hoffe ich, so viel auszukundschaften, daß wir anschließend den letzten Teil unseres Plans in Angriff nehmen können. Sobald wir zurück sind, werden wir Sie über Sprechfunk unterrichten und dabei einen Termin ausmachen.« Der Privatgelehrte nickte zum Zeichen seines Einverständnisses. »All right!« sagte er. *
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Am nächsten Morgen saßen Inspektor Blair und Sergeant Apsley bei einem kräftigen Frühstück im ›Clansman‹. Dem Dicken schmeckte es sichtlich, nur der Inspektor stocherte lustlos in seinem Rührei herum. Er hatte nicht schlafen können. Bancroft würde ihm nur noch wenige Tage Zeit lassen. Konnte er in dieser Zeit keinen Erfolg vorweisen, war es für ihn zappenduster. Und er brauchte den Erfolg. Jetzt mehr denn je. Ohne, ihn mochte er nicht mit Laura sprechen. Da trat der Wirt hastig an den Tisch. »Mr. Warren!« rief er und schaute fragend auf Blair. »Vom Schloß wurde angerufen. Sie könnten kommen.« Blair hatte Mühe, seine Freude zu unterdrücken. Gott sei Dank! dachte er. Wieder ein Stückchen weiter. Um den Wirt zu täuschen, sagte er mit gespieltem Mißmut: »Schon? Das ist aber schade. Ich hatte schon gedacht, wir könnten noch einige Tage auf Kosten der Firma die Gegend hier genießen. Hat man eigentlich eine Uhrzeit genannt?« erkundigte er sich. »Nein«, erwiderte der Wirt. »Man hat nur gesagt, Sie möchten vormittags kommen.« Blair nickte. »Danke, Mr. Braid. Wir werden gleich hochfahren.« Als sie in ihren blauen Monteuranzügen ihre Unterkunft verließen und in den Kombi steigen wollten, stand plötzlich, wie hergezaubert, der alte Schäfer vor ihnen. Er trat dicht vor sie hin und raunte ihnen leise zu: »Ich muß Sie unbedingt sprechen. Bitte, nehmen Sie mich mit!« Dann sagte er mit lauter Stimme: »Bitte entschuldigen Sie, ist es Ihnen möglich, mich ein kurzes Stück mitzunehmen? Ich habe Schmerzen in meinem Fuß, muß aber dringend zu meiner Herde.« Vergnügt zwinkerte er ihnen zu. Blair schaltete sofort. »Aber selbstverständlich, wir haben im Führerhaus auch für 58 �
drei Platz. Steigen Sie nur ein.« Mit finsterem Gesicht stand Ben Braid hinter der Fensterscheibe und schaute ihnen nach. Er hatte eine Zeitung in der Hand, die ein vergeßlicher Fernfahrer am Vorabend hier liegengelassen hatte. Jetzt konnte er es diesen Burschen zeigen. Ein hämisches Lächeln überzog sein knochiges Gesicht, in seinen Augen funkelte boshafte Schadenfreude. Tom lag schon seit Stunden angespannt auf der Lauer. Inzwischen berichtete der alte Schäfer den gespannt aufhorchenden Männern von seinen neuesten Beobachtungen. »Meine Herde graste gestern am Fuße des Bergkegels. Plötzlich vermißte ich ein junges Schaf. Ich und Gordon das ist mein kleiner zehnjähriger Enkel haben es zwei Stunden lang suchen müssen, bis wir es endlich fanden. Dabei habe ich eine sonderbare Entdeckung gemacht, die Ihnen vielleicht nutzen wird. Als ich das Schaf inmitten der Klippen suchte, bin ich auch durch eine schmale Felsspalte gegangen, die hinter Dornenbüschen verborgen war. Ich weiß nicht, wie es geschehen konnte, auf einmal schwenkte vor meinen Augen eine Felsplatte zur Seite, und ich sah in eine tiefe, dunkle Höhle. Ich bin natürlich, so schnell es meine alten Beine zuließen, davongerannt. Einen Vers kann ich mir noch immer nicht daraus machen. Soll ich Sie zu der Stelle hinführen?« Er schaute fragend auf die beiden Beamten. Blair überlegte kurz und faßte schnell einen Entschluß. Er stoppte den Wagen und fragte: »Wie lange braucht man von hier bis zu dieser Stelle?« »Eine knappe halbe Stunde«, sagte der Alte bereitwillig. »Gut«, murmelte Blair. Er blickte Apsley an. »Wir ändern den Plan. Ich fahre allein aufs Schloß, und du schaust dir die Felsspalte des Schäfers an. Ich bin überzeugt davon, daß dieser Fuchsbau geheime Ausgänge hat. Vielleicht ist es einer. Das plötzliche Arbeiten des Öffnungsmechanismus hat der Schäfer 59 �
vielleicht durch eine unbeabsichtigte Berührung einer Stelle selbst hervorgerufen. Dein Hobby ist ja die Elektronik. Möglich, daß du den Mechanismus findest. Wir treffen uns dann heute nachmittag im ›Clansman‹.« Im Gesicht Dave Apsleys zeigte sich kein sonderliches Entzücken über diese Aufgabenverteilung. Er war wie eine Glucke und ließ Glen ungern in einer Gefahr allein. Andererseits wußte er aber auch, daß die Entdeckung der unterirdischen Höhle von besonderer Bedeutung werden konnte. Sollte sich nämlich tatsächlich herausstellen, daß Glen richtig vermutete, dann hatten sie einen unschätzbaren Vorteil in die Hände bekommen. Also schickte er sich in das Unabänderliche und nickte ergeben. »In Ordnung!« sagte er mit einem schiefen Grinsen. Blair schaute amüsiert. Er wußte, wo dem guten Sergeant der Schuh drückte. Er nahm die beiden noch ein kurzes Stück bis zu einer Abzweigung mit, dann ließ er sie aussteigen und fuhr allein weiter. Kurze Zeit später stand er wieder vor dem mächtigen Eisentor. Er läutete. Nicht ohne Staunen bemerkte er, wie sich das Tor lautlos, wie von Geisterhand bewegt, nach innen öffnete. Sicher ein unsichtbarer Motor, dachte er. Dann fuhr er mit dem Wagen in den Schloßhof. Bevor er die marmorne Freitreppe betreten konnte, öffnete sich auf dem Plafond eine große barocke Flügeltür. Die hochgewachsene Gestalt eines gebieterisch aussehenden Mannes blickte zu ihm herunter. Als Blair den Kopf hob und in die Augen über ihm sah, fühlte er den Kraftstrom, der von ihnen ausging, fast körperlich. Der Mann kam mit elastischen Schritten die Treppe herunter, schüttelte ihm mit herzlicher Gebärde die Hand und sagte freundlich: »Ich bin James Craigh. Mein Verwalter hat mich darüber unter60 �
richtet, daß Sie bereits vorgestern hier waren.« Er zuckte bedauernd mit den Schultern. »Ich hätte sicher nichts dagegen gehabt, wenn er sie hereingelassen hätte.« Er lächelte entschuldigend. »Sie wissen ja, wie es mit Dienstboten ist. Die meisten spuren nur bei genauen Anweisungen. Es gibt nur wenige, die selbst entscheiden können. Und die, die es können, bleiben nicht lange Dienstboten. Leider war ich während der telefonischen Anfrage Ihrer Firma nicht hier, sonst hätte ich sicher das Nötige veranlaßt. Aber kommen Sie doch herein, Mister…?« »Warren, Tim Warren«, antwortete Blair freundlich. »Ich bin Spezialmonteur für elektrische Aufzüge.« Er registrierte ein kurzes Zucken in dem Gesicht des anderen. »Die Firma hat durch einen Zufall festgestellt, daß bei der Schaltung des Aufzugs wahrscheinlich ein Fehler unterlaufen ist. Einige Schaltungen sind zu schwach dimensioniert und daher nicht genügend abgesichert. Deshalb erscheint uns eine Kontrolle unbedingt notwendig.« Craigh schaute verwundert und sagte nachdenklich: »Ich habe den Aufzug in den letzten Wochen fast täglich benutzt und nie etwas bemerkt, was mir Anlaß zur Sorge geben könnte.« Er zuckte mit den Schultern. »Es ist mir natürlich recht, daß Sie alles überprüfen. Ich bin immer für Gewißheit. Aber was stehen wir hier draußen herum. Kommen Sie! Sie können gleich mit der Inspektion beginnen.« Er richtete einen Blick auf die Ledertasche in Blairs linker Hand. »Ihr Werkzeug haben Sie wohl bei sich.« Blair nickte bestätigend. »Natürlich, Sir.« Sie gingen durch die Flügeltür in das Schloß. Blair gingen fast die Augen über, als er sich umschaute. Sie standen in einer großen, aus geschliffenem rötlichen Marmor bestehenden Vorhalle, die mit vielen goldumrandeten Kristallspiegeln, großen Deckenlüstern und wertvollen Persern geschmückt war. Craigh ging schnell weiter. Er schien nicht die Absicht zu haben, seinen 61 �
Besucher lange hier verweilen zu lassen. Nachdem sie mehrere holzgetäfelte schmale Gänge passiert hatten, standen sie endlich vor einer übermannshohen spitzbogigen Metalltür. Craigh zog einen sonderbar geformten Schlüssel aus der Tasche und öffnete. Sie befanden sich in seinem Wohntrakt. Eine zweite Tür wurde geöffnet, und sie betraten das Schlafzimmer des Schloßherrn. Blair zog scharf den Atem ein. In dem großen Raum stand ein riesiges Doppelbett mit einem Baldachin, der von einem Drachenkopf gehalten wurde. Die Nachttische zu beiden Seiten des Bettes stellten seltsame Tiergestalten dar. Das indirekte Licht und die in grellem Rot, Gelb und Grün gehaltenen Muster der Tapete gaben dem Raum ein barbarisches Aussehen. Craigh lächelte geringschätzig, als er das Erstaunen in den Augen seines Besuchers sah. Dann öffnete er die Tür eines Wandschranks. Inspektor Blair erkannte, daß die Rückwand Kabinentür für einen Aufzug war. »Hier ist er«, sagte Craigh. »Um zu der Schaltanlage zu gelangen, müssen wir erst ein Stückchen in die Hölle fahren.« Der Tonfall, mit dem er die an sich spaßige Bemerkung machte, klang aber so eigenartig, daß ihn Blair verwundert von der Seite anblickte. Er sah noch die häßliche Grimasse sekundenschnell über das Gesicht huschen, die aufglühenden Augen. »Wir müssen ziemlich tief hinunter«, erklärte Craigh. »Dort unten im Fels gibt es eine natürliche Höhle. Ich habe mir dort ein kleines chemisches Laboratorium eingerichtet. Die Chemie ist eine wunderbare Sache für den, der mit ihr umzugehen weiß«, sagte er dunkel, »man kann mit ihr viel anfangen. Die Höhle diente übrigens vor dreihundert Jahren als Verlies der Mc Cormicks, die damals auf Glyndale Castle hausten. Die Gefangenen waren dort unten lebendig begraben. Ihre einzige Gesellschaft war ein Heer von Ratten. Von denen sind sie dann langsam auf62 �
gefressen worden.« Er zuckte mit den Achseln. »Immerhin wurden ihre Leiden dadurch erheblich abgekürzt.« Blair, der mit innerem Schauder diesen gefühllosen Worten zuhören mußte, sah es in den Augen vor ihm gierig aufblitzen. »Ein richtiges Schlemmermahl war das für die kleinen Biester.« Craigh lachte mit hoher, kichernder Stimme. Unvermittelt wurde die einseitig geführte Unterhaltung durch ein saugendes Geräusch unterbrochen. Die Kabine hielt. Sie waren angelangt. Als Blair im Laboratorium stand, konnte er einen leisen Ausruf der Überraschung nicht unterdrücken. Er verstand zwar nicht viel von diesen Dingen, aber daß diese Anlage hier unten hochmodern war, konnte er sogar als Laie erkennen. »Na, wie gefällt Ihnen mein Spielzeug?« hörte er Craigh fragen. Der Inspektor legte sein Gesicht in bewundernde Falten. »Das habe ich nicht vermutet. Ich bin mir sicher, daß man eine solche Anlage auch in der Industrie lange suchen muß.« Seine klug berechneten Worte schienen Craigh wohlzutun. »Da haben Sie nicht unrecht«, sagte er selbstgefällig, »aber es hat mich auch eine schöne Stange Geld gekostet.« Er fixierte Blair scharf. »Mir fällt gerade ein, daß mir mein Verwalter sagte, Sie wären zu zweit gewesen. Wo ist denn Ihr Begleiter?« Die Frage kam ihm wie nebensächlich von den Lippen, aber Blair fühlte, daß er eine sehr präzise Antwort geben mußte, wollte er sich nicht verdächtig machen. Verdammt, dachte er, daß ich an diese Frage nicht gedacht habe. Er zermarterte sich sein Gehirn, endlich kam ihm die rettende Idee. Er lächelte Craigh herzlich zu. »Wir hatten auch die Absicht, beide zu kommen. Nach Ihrem Anruf im ›Clansman‹ sind wir zusammen losgefahren. Wir haben dann einen alten Schäfer ein kurzes Stück mitgenommen. Der Mann war ganz verzweifelt. Ihm sind mehrere Schafe verlo63 �
ren gegangen. Er hatte starke Schmerzen im Fuß und konnte die Tiere nicht selber suchen. Mein Kollege ist ein sehr hilfsbereiter Mann, er hat mich gebeten, dem Schäfer helfen zu dürfen. Ich konnte es ihm nicht abschlagen. Für diese Kontrolle hier benötige ich ihn ja auch nicht unbedingt. Falls die Anlage umgeschaltet werden muß, werden Sie ihn kennenlernen.« Gott sei Dank! dachte Blair, als er geendet hatte. Das ging gerade noch einmal gut. Er hatte sich bei seiner Erzählung dicht an die Wahrheit halten müssen. Daß sie beide zusammen losgefahren waren, konnte er nicht verheimlichen. Craigh hatte ihn während seiner erklärenden Worte forschend angesehen, schien aber mit seinen Ausführungen zufrieden. Aus seinen Augen verschwand das leise Mißtrauen. Er holte ein kleines Kästchen aus der Tasche seines Jacketts, drückte verschiedene Knöpfe und wartete. Ein leises, mahlendes Geräusch erklang, und Blair sah, wie im Hintergrund ein Stück Wand zur Seite schwenkte, einen Ausgang freigebend. Ein elektronischer Impulsgeber! ging es ihm durch den Kopf. »Kommen Sie nur!« rief Craigh. Als Blair auf der kleinen Treppe stand, sah er vor sich eine große natürliche Felsenhöhle, die von Neonröhren in strahlendes Licht getaucht wurde. An den Felswänden waren hier und da noch rostige Halterungen und Reste von Ketten zu erkennen. Craigh hatte seinen Blick bemerkt und sagte: »Sie haben richtig gesehen, dies war einmal der Raum für die Gefangenen. Nur gab es damals hier kein Licht. Vor Ratten brauchen Sie keine Angst zu haben, die gibt es hier schon lange nicht mehr. Vermutlich haben sie sich gegenseitig aufgefressen, nachdem sie keinen ›Proviant‹ mehr erhielten.« Wieder ertönte das grausame Kichern. Dann wurde die Stimme kühl und nüchtern. Craigh deutete 64 �
auf einen mächtigen, stählernen Behälter. »Das ist meine Transformatorenstation«, sagte er, »und das hier«, er ging auf einen in der Felswand verankerten Stahlschrank zu, »enthält Schaltungen verschiedener Geräte, darunter die für den Aufzug.« Er zog einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete den Schrank. Ein Gewirr von Leitungen und Kontakten starrte dem Inspektor entgegen. Gott sei Dank hatte Apsley gut vorgearbeitet, dachte Blair dankbar. Als er recherchiert hatte, daß »Harper and Smith« an dem Umbau im Schloß beteiligt waren, hatte er sofort den leitenden Direktor dieser Firma und ihn unter strengem Hinweis auf die Geheimhaltung ihres Gesprächsthemas darüber unterrichtet, daß die Kriminalpolizei nach einem inoffiziellen Weg suche, in das Schloß Glyndale Castle zu gelangen. Die Firma hatte sich sehr großzügig gezeigt, sie spielte bei dem Theater mit und hatte Apsley in großen Zügen mit dem Schaltplan des Aufzugs vertraut gemacht. Der Sergeant und Blair hatten anschließend Stunden über den Firmenunterlagen gebrütet, um bei möglichen Fragen gewappnet zu sein. Diese Maßnahme zahlte sich jetzt aus. Blair öffnete seine Ledertasche, holte einige Prüfgeräte heraus und begann mit den Kontrollen. Er sah sofort, wo sich die Schaltung für den Aufzug befand. Er arbeitete konzentriert, ohne auf den aufmerksam beobachtenden Craigh zu achten. Er berührte mit den Kontakten seines Gerätes einzelne Verbindungen und verglich die Wertanzeige auf der Skala mit den Werten einer Tabelle. Nach einer Stunde etwa stand er auf und sagte nachdenklich wie zu sich selbst: »Es stimmt alles. Die Schaltung ist in Ordnung.« Er wandte sich mit einer entschuldigenden Gebärde an Craigh, der ihn forschend ansah. »Ich habe keinen Fehler finden können, es tut mir leid, daß ich 65 �
Sie belästigen mußte.« Er zuckte ratlos seine Schultern. »In der Firma muß ein Irrtum vorgelegen haben.« Er packte seine Instrumente wieder zusammen und sagte: »Damit ist meine Mission bei Ihnen zu Ende, Mr. Craigh.« In dem glatten Gesicht vor ihm regte sich kein Muskel. Er schien keinen Verdacht geschöpft zu haben. Kurze Zeit darauf standen sie wieder in der marmornen Vorhalle. Craigh drückte auf einen Messingknopf in der Wand. Blair hörte es entfernt läuten. »Ich möchte Sie auf gar keinen Fall gehen lassen, ohne Ihnen eine kleine Erfrischung angeboten zu haben. Bitte, nehmen Sie doch Platz!« Blairs Gehirn signalisierte Alarm. Erik Rhianonn hatte ihm eindringlich eingeschärft, im Schloß auch nicht die geringste Kleinigkeit zu sich zu nehmen. In jedem Schluck, in jedem Bissen konnten tödliche Gefahren lauern. ›Es gibt auf diesem Gebiet teuflische Mittel, die Sie zu einem willenlosen Werkzeug dieses Satans machen können‹, hatte er mit ernstem Gesicht zu ihm gesagt. Bevor er entschuldigend ablehnen konnte, erschien ein vierschrötiger, livrierter Diener, der sich mit demutsvoller Gebärde seinem Herrn näherte. Er hatte seltsame, ins Rötliche gehende Augen und eine fahle Gesichtsfarbe. Als er Craigh nach dessen Begehr fragte, entblößte er lange, spitze Eckzähne. Blair mußte unwillkürlich an Dolche denken. »Nun, was darf ich Ihnen anbieten?« fragte Craigh freundlich. »Whisky, Sherry? Oder darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee bringen lassen?« Blair war die Absage zwar sehr peinlich, aber er wollte keinen Fehler machen. »Nein, danke, ich möchte nichts von alledem. Ich habe seit heute morgen ein derartig flaues Gefühl im Magen, daß ich 66 �
glaube, ihn mir verdorben zu haben. Ich bin dabei, eine kleine Fastenpause einzulegen.« Bei seinen Worten sah er Craigh fest an. Er spürte es in den Augen vor ihm unwillig aufblitzen. Dann kam die steife Antwort: »Nichts liegt mir ferner, als Sie nötigen zu wollen. Aber jetzt möchten Sie wohl gehen. Werden Sie noch heute nach Edinburgh zurückfahren?« erkundigte er sich wie nebenbei, als sie auf die Tür zugingen. »Nein, erst morgen früh«, sagte Inspektor Blair mit unbewegtem Gesicht. Endlich standen sie draußen. Glen Blair genoß die reine Luft. Er verbeugte sich kurz und wollte schon zu seinem Wagen gehen, als er plötzlich wie erstarrt stehenblieb. Im Erkerzimmer des Turms rechts neben der Freitreppe wurde mit knallendem Geräusch ein Fenster aufgerissen. Eine junge Frau mit aufgelösten schwarzen Haaren lehnte sich weit heraus und rief mit verzweifelter Stimme: »Bitte, retten Sie uns! Ich und viele andere werden hier gefangen gehalten. Dieser Mann da«, sie deutete auf Craigh, »ist kein Mensch, sondern ein…« Sie konnte den Satz nicht mehr zu Ende sprechen. Eine riesige, schwarzbehaarte Hand umschlang den Oberkörper der Unglücklichen und zog sie mit unwiderstehlicher Gewalt ins Innere des Zimmers zurück. Nur ein letzter Blick abgrundtiefer Verzweiflung traf Blair, der eine jähe Woge der Wut in sich hochsteigen fühlte. Dann hörte er klatschende Schläge, die von gellenden Schreien begleitet wurden, die allmählich in keuchendes Wimmern übergingen. Kurz darauf hörte man auch davon nichts mehr. Die flammende Wut in Blair suchte ein Ventil. Er sprang die Treppe zum Plafond hoch und stellte sich dicht vor Craigh, des67 �
sen Augen belustigt funkelten. Bevor der Inspektor zu einer Frage ansetzen konnte, sagte Craigh mit spöttischer Stimme: »Was wollen Sie? Wollen Sie etwa dem edlen Ritter Ivanhoe Konkurrenz machen? Ich bin zwar nicht verpflichtet, Ihnen eine Auskunft über diesen eigenartigen Vorfall zu geben, aber mit Rücksicht auf Ihr zartes Seelenleben möchte ich es doch tun.« Nackter Hohn funkelte in seinen Augen. Dann wurde die Stimme sanft und sehr leise. »In meiner Familie geht der Verfolgungswahn um. Was soll ich machen? Ich kann meine Verwandten doch nicht in Pflegeheimen zugrunde gehen lassen. Deshalb habe ich Pfleger engagiert und die armen Kranken bei mir untergebracht.« Resignierend zuckte er seine Schultern. »Aber Sie sehen ja, wohin das führt. Wenn ich Ihnen diesen Sachverhalt nicht erzählt hätte, könnten Sie annehmen, es würden hier gräßliche Dinge passieren.« Lächelnd schaute er auf Blair. Der Inspektor ließ sich durch die freundlichen Worte nicht täuschen. Er fühlte den stechenden Blick, der sich förmlich in ihn hineinbohren wollte. Er fühlte auch die seltsame Mattigkeit, die sich in ihm auszubreiten drohte. Sein Unterbewußtsein meldete schrille Warnsignale. Mit aller Kraft kämpfte er gegen die Lähmung an, die ihn zu übermannen drohte. Langsam wurde es wieder klar in ihm. Er spürte, wie der Druck in seinem Kopf nachließ. Jetzt mußte er unbedingt den Argwohn dieses Teufels besänftigen, sonst kam er niemals mehr hier hinaus. Er machte ein zerknirschtes Gesicht und sagte: »Ich bitte vielmals um Entschuldigung, aber das konnte ich natürlich nicht wissen. Selbstverständlich werde ich das Gesehene für mich behalten. Ich will Ihnen auf gar keinen Fall Unannehmlichkeiten bereiten.« Blair verbeugte sich mit gespielter 68 �
Unterwürfigkeit und ging zu seinem Wagen. Hoffentlich hat er keinen Verdacht geschöpft, hämmerte es in ihm. Er startete den Motor und wendete. Als er langsam auf das Tor zuhielt, sah er im Rückspiegel die Gestalt Argylls, der ihm nachzublicken schien. Jetzt kommt der entscheidende Moment! fieberte es in seinem Hirn. Er starrte auf das vor ihm liegende Tor. Langsam öffnete es sich. Als er das Tor passiert hatte und das Schloß immer weiter hinter ihm zurückblieb, merkte er, wie ein dumpfer Druck von ihm wich. Befreit atmete er auf und lächelte. Was der Dicke wohl erzählen würde? Vielleicht wartete er schon an der Abzweigung auf ihn. * Argyll stand immer noch nachdenklich auf der Freitreppe. Am liebsten hätte er diesen Kerl unschädlich gemacht. Er wäre mit Sicherheit ein würdiger Diener geworden. Der Gedanke daran entlockte ihm ein faunisches Lächeln. Aber es hätte mit Sicherheit Aufsehen erregt, und das konnte er zum gegenwärtigen Zeitpunkt überhaupt nicht brauchen. Plötzlich hörte er hinter sich ein leichtes Hüsteln. Er fuhr herum. Der Diener stand vor ihm. »Was gibt’s, Marlok?« knurrte Argyll unwirsch. Der Diener verbeugte sich ehrerbietig. »Der Wirt vom ›Clansman‹ in Thursochillis ist am Telefon. Er sagte, daß er Sie dringend sprechen müsse. Es sei sehr wichtig für Sie. Er könnte Ihnen einige interessante Einzelheiten über seine Gäste berichten.« Craigh überlegte kurz. Clansman, dachte er verwundert. Das war doch diese armselige Kneipe in dem noch armseligeren Kaff da unten, wo die Monteure wohnten. Plötzlich war er hellwach. 69 �
Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Er fühlte, wie ein finsterer Verdacht in ihm hochkroch. Allein der Gedanke, genasführt worden zu sein, bereitete ihm körperliche Pein. Wehe denen, die ihn hintergehen wollten! Seine Augen glühten vor Zorn. Aber jetzt wollte er Gewißheit. Mit langen Schritten stürmte er durch die Halle. * Als Inspektor Blair kurz vor Thursochillis an der Abzweigung vorbeikam, sah er eine dicke Gestalt aus dem Gebüsch treten und winken. Sergeant Apsley stieg zu. Er befand sich in einem Zustand starker Erregung. Er knuffte Glen freundschaftlich in die Rippen und sagte mit glänzenden Augen: »Du wirst es nicht glauben, aber ich habe dich vor ungefähr zwei Stunden mit Argyll gesehen.« Blair schaute ihn überrascht an und entgegnete: »Willst du mich auf den Arm nehmen? Das ist ausgeschlossen. Zu dieser Zeit war ich mit Argyll tief unter dem Schloß in seinem Laboratorium.« Der Sergeant grinste. »Ich sah dich und dieses üble Subjekt vor einem geöffneten Stahlschrank, in dem es von Drähten und Kontakten nur so wimmelte. Du warst gerade beim Überprüfen der Aufzugsschaltung. Argyll schaute dir offenbar sehr interessiert zu.« Er schwieg und blickte Glen schalkhaft an. »Na, glaubst du mir jetzt?« Der Inspektor war so überrascht, daß er das Fahrzeug am Straßenrand zum Stehen brachte und den Motor abstellte. Ein maßlos verblüffter Ausdruck zeigte sich in seinem Gesicht, als er Apsley fragte: »Wie ist denn das nur möglich? Wie kamst du in diese unterir70 �
dische Höhle? Ich habe dich doch gar nicht…« »Es ist besser, ich erzähle dir, wie es dazu kam«, unterbrach ihn der Sergeant. »Du weißt doch, daß ich mit dem alten Schäfer er heißt übrigens Kyneakin zu der Felsspalte gegangen bin. Der Höhleneingang war noch offen. Für mich war das ein Zeichen dafür, daß unsere Entdeckung noch nicht bemerkt wurde. Ich habe über eine Stunde nach dem Öffnungsmechanismus suchen müssen. Ich hätte ihn kaum gefunden, wenn mir der Schäfer nicht geholfen hätte. Er konnte mir ungefähr angeben, wo er gestern gestanden hatte, als die Felsplatte zur Seite schwenkte. Er konnte sich auch noch daran erinnern, daß er mit der Hand nach einem kleinen Felsvorsprung gegriffen hatte. Damit war das Geheimnis gelüftet. Nach genauerem Hinsehen entdeckte ich bald, daß dieses kleine Stückchen Fels eine täuschende Nachbildung war. Um den Öffnungsmechanismus in Gang zu setzen, muß es leicht angedrückt und dann nach rechts gedreht werden. Daß Kyneakin bei seinem Griff zufällig die erforderlichen Bewegungen machte, war reiner Zufall. Die Suche nach dem inneren Öffnungsmechanismus war eine Kleinigkeit. Während der Alte draußen blieb, um mir den Rücken zu decken, ging ich vorsichtig immer tiefer in die Höhle hinein. Innen herrschte eine ausreichende Helligkeit. Wahrscheinlich wird durch das öffnen des Höhleneingangs automatisch die Beleuchtung eingeschaltet. Nach einigen hundert Yards wurde der Gang zusehends schmaler. Ich kam schließlich nur noch mühsam vorwärts. Auf einmal sah ich, daß sich hinter einer besonders engen Biegung eine zweite, aber ungleich größere Höhle vor mir auftat. Sie war in strahlendes Licht getaucht. Dann hörte ich Stimmen, von denen mir eine besonders bekannt vorkam.« Apsley lächelte. »Du sagtest gerade zu Craigh, daß die Schaltung in Ordnung sei und die Firma sich geirrt habe.« Vor Freude über seine Entdeckung und das überraschte 71 �
Gesicht Glens klatschte sich der Dicke auf seine gut gepolsterten Oberschenkel. »Was sagst du dazu?« Er schaute den Inspektor triumphierend an. Bevor sein Freund aber antworten konnte, machte Apsley eine abwehrende Handbewegung. »Warte noch einen kleinen Augenblick! Es kommt noch etwas! Nach der Rückkehr aus der Höhle kam mir eine Idee. Ich fragte Kyneakin, ob es noch einen anderen Weg gäbe als die Straße, das Schloß zu erreichen. Stell dir vor, es gibt einen. Er hat mir einen uralten, wenn auch nicht ungefährlichen Pfad beschrieben, der durch das Felsengewirr nach Glyndale Castle führt. Dieser Weg soll schon vor einigen hundert Jahren mehreren Gefangenen der McCormicks das Leben gerettet haben.« Apsley zog ein weißes zusammengefaltetes Papier aus seiner Brieftasche. Als er es öffnete, konnte Blair eine Skizze erkennen. »Ich habe den Weg aufgezeichnet«, sagte der Sergeant. »Er ist so fest in meinem Kopf verankert, daß ich ihn jetzt auch blind finden könnte. So, das wär’s, nun weißt du alles«, sagte er und atmete befriedigt auf. »Aber wie ist es dir ergangen?« Forschend musterte er Glan Blair. »Hat sich der Besuch gelohnt?« Er mußte die Frage wiederholen, um Blair aus seinem Grübeln zu reißen. Der Inspektor berichtete kurz. Anschließend herrschte für eine kurze Zeit Schweigen im Führerhaus. Die hohe Anspannung der letzten Stunden machte sich bemerkbar. Blair unterbrach als erster das Schweigen. »Wir haben heute ungeheuer viel erfahren«, sagte er nachdenklich. »Rhianonn wird sehr überrascht sein, wenn wir ihm berichten werden.« Er klopfte Apsley auf die Schulter. »Das hast du gut gemacht, Dave.« Der Inspektor nahm aus dem Handschuhfach ein kleines Sprechfunkgerät. »Ich werde jetzt für heute nachmittag einen Treff vereinbaren.« 72 �
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Es war sechzehn Uhr, als die Tischrunde wieder im Wohnwagen zusammensaß. Der Duft frischgebackenen Kuchens erfüllte das gemütliche Wohnabteil. Sergeant Apsley schaute sehnsüchtig auf das appetitliche Erzeugnis weiblicher Backkunst, das von Laura Rhianonn gerade in tafelfertige Stücke geschnitten wurde. »Er hat schon wieder den gefräßigen Ausdruck im Gesicht«, stichelte Blair vergnügt, der den Blick seines Freundes richtig gedeutet hatte. »Ich habe genug gebacken«, sagte die junge Frau zu dem Inspektor, der sie begeistert anschaute. Sie sah aber auch wirklich reizend aus. Sie hatte ihr Haar mit einem gelben Seidentuch hochgebunden. Über ihrem lindgrünen Hosenanzug trug sie eine kleine bestickte Schürze. Ihre Blicke trafen sich wie magnetisch angezogen. Blair sah, wie eine zarte Röte über ihre Wangen huschte. Hastig wandte sie sich ab und beschäftigte sich angelegentlich mit ihrem Kuchen. Nach dem Kaffee berichteten Blair und Apsley über ihre neuesten Beobachtungen. In Rhianonns Augen leuchtete es auf. »Das ist ja weit mehr, als ich zu erhoffen wagte. Jetzt sollte uns auch der letzte Teil unseres Planes gelingen. Die Voraussetzungen sind jedenfalls denkbar günstig.« Er schaute Blair an. »Was meinen Sie?« Das Gesicht des Inspektors wurde hart. Unbewußt preßte er die Finger seiner rechten Hand so stark zusammen, als wollte er ein giftiges Insekt zerdrücken. »Ich glaube schon«, sagte er grimmig. »Ich habe mir heute nach dem Mittagessen überlegt, wie wir vorgehen sollten. Eins ist 73 �
jedenfalls sicher: wir müssen getrennt marschieren und vereint schlagen. Auf unseren konkreten Fall angewendet heißt das folgendes: eine Partei muß von oben und die andere von unten kommen. Im Schloßhof treffen wir uns und operieren gemeinsam weiter. Unser Ziel ist es, festzustellen, wie viele Menschen Argyll nach hier verschleppt hat und was mit ihnen geschehen ist. Daraus werden wir mit Sicherheit die notwendigen Anhaltspunkte bekommen, um Argyll unschädlich machen zu können. Für mich ist der schwierigste Teil unseres Unternehmens das ungestörte Hineinkommen ins Schloß. Deshalb das getrennte Vorgehen. Dazu mein Vorschlag: ich halte es für zweckmäßig, wenn ich und Sie, Mr. Rhianonn, den Weg durch die Höhlen nähmen und du, Dave, den Pfad des Schäfers benutzen würdest. Es ist die beste Lösung, denn ich kenne den Weg zum Laboratorium und über das Stück bis zum Ausgang hat mich Apsley genau unterrichtet.« Er blickte in die Runde. »Sind alle einverstanden?« »Nein!« rief Laura Rhianonn mit zorniger Stimme. »Ich bin gar nicht einverstanden. Es ist ganz ausgeschlossen, daß mein Bruder Sie begleitet. Er ist in einer viel größeren Gefahr als wir alle. Wissen Sie denn nicht mehr, daß ihm dieser Satan bereits zweimal gedroht hat? Nein!« rief sie mit bebender Stimme und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich lasse meinen Bruder nicht gehen. Er ist nur nach Thursochillis gekommen, damit er Sie beraten kann, aber nicht, um mit Ihnen nach Glyndale Castle zu gehen. Ich bin überhaupt zu der Ansicht gelangt, daß Sie keine Chance haben. Ich habe Angst, große Angst.« Sie schaute ernst auf die drei Männer. »Aber nicht nur um mich – um uns alle!« Einen Augenblick tauchte ihr Blick tief in die Augen Blairs. Dann sagte sie mit drängender Stimme: »Gehen wir doch von hier fort. Gehen wir zurück nach Inverness. Wir haben doch in den letzten Tagen so viel Material sammeln können, daß Sie einen großen 74 �
Bericht schreiben können, Mr. Blair. Wenn Ihnen dieser Bancroft Schwierigkeiten macht… Es müßte doch möglich sein, den Bericht der vorgesetzten Behörde zuzuleiten. Um dieses unmenschliche Geschöpf dort oben unschädlich zu machen, bedarf es mehr, viel mehr, als wir leisten können.« Sie schwieg nach diesen leidenschaftlichen Worten. Aber als sie dann in die Gesichter der drei Männer schaute, wußte sie, daß ihre Bitte keinen Widerhall gefunden hatte. Ein kurzes trockenes Aufschluchzen entrang sich ihrer Kehle, dann stand sie jäh auf und eilte aus dem Raum. Die drei sahen sich betreten an. Erik Rhianonn faßte sich als erster. Mit einem um Entschuldigung bittenden Lächeln sagte er: »Lassen wir uns durch die Worte meiner Schwester nicht beirren. Daß sie Angst hat nach dem schrecklichen Geschehen der letzten Tage, ist begreiflich. Sie wird sich bald beruhigen. Im übrigen bin ich nicht davon überzeugt, daß sie recht hat. Eher könnte das Gegenteil der Fall sein. Auch hier gilt der alte Spruch, daß viele Köche den Brei verderben.« Mit zustimmender Miene wandte er sich an Blair. »Ich bin mit ihrem Vorschlag vollkommen einverstanden. Selbstverständlich gehe ich mit Ihnen. Ich muß unbedingt dabeisein. Es ist mir so, als ob mich eine innere Gewalt treibt, mitzuhelfen, dieses Scheusal zu vernichten.« Seine Stimme senkte sich. »Aber eines dürfen wir nicht außer acht lassen. Dieser Mann ist mit gewöhnlichen Mitteln nicht unschädlich zu machen.« Er warf Inspektor Glen Blair einen kurzen Blick zu. »Sie wissen, was das bedeutet.« In den Augen des Inspektors blitzte es auf. »Natürlich«, sagte er mit harter Stimme. »Den Mann zu verhaften und hinter Gefängnismauern zu bringen, wäre etwa dem Versuch gleichzusetzen, einen Vogel in einen Käfig ohne Gitter zu sperren und dabei fest daran zu glauben, daß er nicht mehr fortfliegen könnte. Argyll hat viele magische Möglichkeiten, daß 75 �
alles andere als sein Tod keine Lösung ist. Er wäre im nächsten Augenblick wieder frei und würde hohnlachend sein düsteres Treiben an anderer Stelle fortsetzen.« Draußen begann langsam die Dämmerung einzusetzen. Zarte Nebelschwaden lösten sich vom Boden und drehten sich in dem leichten Wind zu einem gespenstischen Tanz. Blair sah den Privatgelehrten an und sagte: »Damit hätten wir es wohl für heute, oder?« »Ich denke auch«, erwiderte Rhianonn. »Aber eine Frage habe ich noch: auf welche Zeit soll ich das Funksprechgerät morgen einstellen?« »Schalten Sie es bitte auf siebzehn Uhr. Ich denke, das wird genügen, um den genauen Termin für morgen abend festzulegen.« Als sie sich verabschiedeten, zögerte Blair einen Augenblick. Dann gab er sich einen entschlossenen Ruck und sagte: »Bitte, grüßen Sie Ihre Schwester von mir.« Erik Rhianonn lächelte versteckt. Er wußte von Anfang an, was mit diesen beiden Menschen los war. »In Ordnung«, sagte er herzlich, »ich werde es gerne ausrichten.« Als sie später im Wagen saßen, sagte Apsley grinsend: »Ich glaube, das kleine Vögelchen hat große Angst. Aber wohl nicht nur um ihren Bruder, sondern hauptsächlich um dich.« Blair warf ihm einen schrägen Blick zu. »Du wirst dich sicher irren«, sagte er mit einer Stimme, in der deutlich die Verlegenheit mitschwang. »Welchen Anlaß sollte sie auch dafür haben.« Er schwieg. Apsley mußte sich sehr beherrschen, um nicht laut loszulachen. Wie unlogisch doch verliebte junge Leute sein konnten. Selbst der für sein präzises Denken bekannte Glen Blair war von dieser Eigenschaft nicht ausgenommen. Er lächelte in sich hinein. Liebe ist schon eine komische Angelegenheit, sie kann aus 76 �
harten Männern zagende Träumer und aus jungen Weibern reißende Tigerinnen machen. Er schielte zu Glen. Es schien ihn wirklich arg erwischt zu haben. * Nachdem der Wagen verschwunden war, tauchte hinter einem großen Felsen das lauernde Gesicht eines rothaarigen jungen Burschen auf, der sich mit vorsichtigen Schritten der kleinen Schlucht näherte. Langsam, sich dabei eng an die Felswand pressend, schlich er hinein. Die Dämmerung war mittlerweile so weit fortgeschritten, daß sich sein Körper kaum von dem steinigen Hintergrund abhob. Kurz darauf sah er die schwachen Umrisse eines Wohnwagens vor sich. Mit gleitenden Bewegungen schob er sich näher heran. Aber kurz bevor er ihn erreichte, stolperte er über eine Unebenheit und stürzte zu Boden. Mit einem unterdrückten Fluch rappelte er sich auf und preßte sich eng in eine kleine Felsnische Dann hörte er die Tür des Wohnwagens gehen und einige Sekunden später Schritte. Mit angehaltenem Atem verharrte er in seinem Versteck. Die Schritte kamen näher. Plötzlich wuchs einige Yards vor ihm eine dunkle Gestalt auf. Eine starke Taschenlampe flammte auf. Der junge Bursche fing vor Angst an zu schwitzen, als er sah, daß sich der Lichtkegel auf ihn zu bewegte. Kurz vor ihm kam endlich die ovale Helle zum Stehen. Unschlüssig zitterte sie noch eine Weile hin und her, dann wanderte sie weg von ihm. Später hörte er eine tiefe Männerstimme rufen: »Es ist nichts, es muß eine Ratte oder ein anderes Viehzeug gewesen sein.« Die Schritte entfernten sich wieder, eine Tür schlug und eine undeutliche weibliche Stimme sagte etwas. Mit zitternden Knien schlich sich der Junge aus der Schlucht. Als er am Ausgang angelangt war, fing er an zu rennen, als ob 77 �
eine Horde Teufel hinter ihm her wäre. Keuchend blieb er an einer bestimmten Stelle stehen, spitzte den Mund und stieß einen kurzen, scharfen Pfiff aus. Ein leises Wiehern antwortete. Galoppierende Hufe wurden laut, und in der Dunkelheit formten sich die Umrisse eines kleinen Ponys, das seine Nüstern am Ärmel des Burschen rieb. Er schwang sich auf den Rücken des Tieres, schnalzte mit der Zunge, und beide verschwanden in der Dunkelheit. * Während der Junge wie eine Windsbraut in das Dorf zurückgaloppierte, ohne auf die schmerzenden Lungen seines Pferdchens Rücksicht zu nehmen, stand Ben Braid mit unruhigem Gesicht in der Küche seiner Kneipe und schaute auf die Uhr. Es war neun. Wo Tom nur blieb? Er hätte schon längst zurück sein müssen. Es wurde ihm zunehmend unbehaglicher zumute. Was würden diese Fremden tun, wenn sie merkten, daß man ihnen nachspionierte? Als er aber an die Belohnung dachte, die ihm der Schloßherr für weitere Informationen versprochen hatte, verflogen seine Bedenken wie Spreu im Winde. James Craigh schien sehr großzügig zu sein. Es wäre eine Dummheit gewesen, sich nicht seines Wohlwollens zu versichern. Zufrieden rieb er sich die Hände, während ein gieriger Ausdruck in seine kalten Augen trat. Wenn das weiter so ging, konnte er bald an die Renovierungsarbeiten gehen. Zeit wurde es ja allmählich. Er warf einen schiefen Blick auf die fleckigen Wände, den zerkratzten Boden und die armselige Einrichtung. Plötzlich hörte er, wie es an der Fensterscheibe klopfte. Das mußte Tom sein. Er ging zur Tür und öffnete. »Hast du was gefunden?« fiel er über ihn her. Gespannt 78 �
schaute er in das Gesicht seines Sprößlings, der ihn abstoßend angrinste. »Ja«, sagte Tom mit langgezogener Stimme und starrte seinem Erzeuger frech ins Gesicht. »Nun rede schon endlich!« zischte der Alte ungeduldig. »Ich habe nicht viel Zeit und da drinnen warten Gäste.« Das Grinsen im Gesicht des jungen Burschen wurde nur noch stärker. Langsam hob er seine Hand und hielt die geöffnete Handfläche seinem Vater auffordernd entgegen. Der Alte fluchte unterdrückt, konnte aber das Gefühl einer, wenn auch widerwilligen, Hochachtung nicht unterdrücken. Es war jene Art der Hochachtung, die ein Halunke für den anderen empfindet. Seufzend holte er einige Münzen aus der Tasche und steckte sie Tom in die Hand. Der Bursche zählte erst bedächtig nach, bevor er sich endlich zu einer Antwort entschloß. Dann erzählte er seinem Vater von seinen Beobachtungen. Als er mit seinem Bericht fertig war, nickte sein Vater anerkennend. »Gut gemacht«, lobte er mit leiser Stimme. »Versorge jetzt rasch dein Pferd, gehe auf dein Zimmer und passe auf, daß man dich nicht sieht!« Als Tom aus der Küche war, blieb Braid noch einen Augenblick grübelnd stehen. Das würde diesen Craigh sicherlich ebenfalls sehr interessieren. Er beschloß, sofort zu telefonieren. * Es war kurz nach zehn Uhr. Mit bösem Lächeln saß James Craigh, alias Professor Argyll, in einem weichen Sessel. Er war gerade von diesem Ben Braid angerufen worden. Verächtlich schürzte er seine Lippen. So ein dreckiger kleiner Lump. Aber er hatte ihm gute Dienste getan. Er sollte dafür reichlich belohnt werden. Ein häßliches Licht glomm in seinen Augen. Die Belohnung 79 �
sollte ihm auf eine besondere Art zuteil werden. Er würde aus ihm einen ganz vorzüglichen Sklaven machen. Dann dachte er an die beiden Kriminalbeamten und an die Geschwister Rhianonn. Jetzt war endgültig Schluß mit seiner Langmut. Er würde sie gebührend bestrafen. Nur einen kurzen Augenblick sann er über die Art der Strafe nach. Schließlich lächelte er voller triumphierender Freude, und in seine Augen trat ein grelles Licht. Er würde Laura Rhianonn aufs Schloß nehmen. Sie war sehr schön. Er hatte sie früher schon einige Male gesehen. Ein genießerischer Ausdruck stahl sich in sein Gesicht. Ihre Lebenskraft würde ihm helfen, jung zu bleiben. Er spann seine Gedanken weiter. Morgen sollte es hier ein Fest geben für alle, die bei ihm waren und ihm dienten. Er rieb sich die Hände, es würde ein ekstatisches Liebesmahl werden. Absoluter Höhepunkt dieser Nacht sollte eine Schwarze Messe sein. Ein Gefühl der Trunkenheit packte ihn, als er an das Blut von Laura Rhianonn dachte, das während der Zeremonie über den weißen Opferstein fließen würde. Jäh richtete er sich auf. Nur noch zwei Stunden blieben ihm, um alle Vorbereitungen zu treffen. Er war mit seinen magischen Beschwörungen zur Verwandlung seines Körpers an bestimmte Zeiten gebunden, die er einhalten mußte. Als die Uhr über dem riesigen Kamin im alten Rittersaal zwölf dröhnende Schläge tat, öffneten sich die schweren Flügeltüren. Eine schwarze Gestalt trat auf den Balkon. Die bleichen Strahlen der silbernen Mondscheibe durchdrangen nur schwach die wogenden Nebelschleier, die wie zarte Wesen aus einer anderen Welt um die Balkonbrüstung tanzten. Die Gestalt verharrte minutenlang in völliger Bewegungslosigkeit. Endlich nahm sie von einem kleinen Tischchen eine blitzende Kristallschale, die mit einer rötlichen Flüssigkeit gefüllt 80 �
war. Sie goß ein wenig davon in ein silbernes Trinkgefäß, hob es dem Mond entgegen und flüsterte Worte, die in keiner Sprache zu finden waren. Dann nahm sie das Gefäß an die Lippen und trank es in einem einzigen gierigen Schluck leer. Langsam erstarrte das dämonische Wesen und stand schließlich da wie eine in Stein gehauene Statue. Der Verwandlungsprozeß begann. Die Konturen zerflossen, der Körper veränderte sich auf eine unfaßliche Weise. Aus den Schultern schwollen mit atemberaubender Geschwindigkeit große Auswüchse, die allmählich die Form mächtiger Schwingen annahmen. Auch die Füße machten eine Verwandlung durch. Da, wo sich sonst das warme Fleisch menschlicher Beine befand, bildeten sich plötzlich an starken hornigen Fängen messerscharfe Krallen. Auch der Kopf veränderte sich auf unheimliche Art. Er wurde dreieckig, die Stirn schrumpfte zusammen, die Haare verschwanden, schwarzem Gefieder Platz machend. Nur der Gesichtsausdruck und Augen, Nase und Mund blieben unverändert. Nach der Verwandlung stieß das Geschöpf einen heiseren Schrei aus, entfaltete seine Schwingen und schwang sich mit mächtigen Schlägen in die dunkle Nacht. * Unruhig warf sich Laura Rhianonn in ihrem Bett hin und her. Ihre Augenlider zuckten, ihr Atem ging stoßweise. Ihr Unterbewußtsein kämpfte gegen eine Macht an, die ihre Seele brutal umklammerte und unterwerfen wollte. Langsam und unerbittlich machte der Schlaf einem trancehaften Zustand Platz, der sie wie in einen dunklen Mantel einhüllte. Dann schlug die dunkle Macht zu und brach ihren letzten Widerstand. Komm! rief es gebieterisch in ihrem Gehirn. Komm nach drau81 �
ßen! Laura erhob sich wie ein Automat. Mit geschlossenen Augen ging sie zur Tür, öffnete die Verriegelung und stieg aus dem Wohnwagen ins Freie. Sie vernahm nicht die keuchenden, gequälten Atemzüge ihres Bruders, der sich in seiner Schlafkabine ruhelos von einer Seite auf die andere wälzte. Sie sah auch nicht die alptraumhafte schwarze Gestalt vor sich, die sie mit eisernem Griff packte und mit ihr pfeilschnell davonflog. Schaudernd wachte Erik Rhianonn auf. Es war kalt. Die Propangasheizung schien nicht zu funktionieren. Er erhob sich müde und schaute verwundert aus dem Fenster. Es war taghell. Dann blickte er auf die Uhr. Schon acht vorbei. Um diese Zeit hatte er immer das geschäftige Rumoren Lauras vernommen. Plötzlich sprang es ihn an wie ein wildes Tier. Angst durchflutete heiß seinen Körper. Er fühlte mit hellgesichtiger Klarheit, daß irgend etwas Furchtbares geschehen war. Er stürmte zur Tür und riß sie auf. Dann sah er es. Die Tür ins Freie stand weit offen und schwang im leichten Wind hin und her. Ungläubig starrte er auf das Schlafabteil seiner Schwester. Auch hier war die Tür weit geöffnet. Er sah das zerwühlte Bett. Voller Entsetzen ging er hinein und schaute nach. Es fehlte kein Kleid, auch die Schuhe standen an ihrem Platz. Nur sie selbst und ihr Schlafanzug fehlten. Mit nackten Füßen rannte er nach draußen. Hier rührte sich nichts. Die Stille wurde manchmal nur unterbrochen vom leisen Pfeifen des Windes, wenn er durch die schmalen Felsspalten wehte. Fast besinnungslos vor Verzweiflung stieg er mit wankenden Knien zurück in den Wohnwagen, verschloß die Tür und setzte sich mit an den Kopf gepreßten Händen an den Tisch. Minutenlang saß er so, dann stand er auf. 82 �
Die wenigen Minuten hatten genügt, um seinen Gesichtsausdruck total zu verändern. Tödlicher Zorn malte sich jetzt in seinen Zügen. Alle weiteren Gedanken in ihm wurden verdrängt von diesem heißen Gefühl, das wie glühendes Eisen brannte. Er zog sich rasch an und griff nach dem Funksprechgerät. Dann eilte er nach draußen zu dem Punkt, der ihm die besten Sendeund Empfangsmöglichkeiten bot. Hastig stellte er das Gerät auf ›Alarm‹ ein. Er wußte, daß die eingebaute Klingel im Gegensprechgerät jetzt schrill läuten mußte. Er ließ den Kontakt so lange bestehen, wie das rote Lämpchen in seinem Gerät brannte. Er mußte eine Minute warten, bis es erlosch. Er stellte sofort auf ›Sendung‹ um und rief mit drängender Stimme: »Hier ist Cäsar! Ramses, bitte kommen!« Dann schaltete er um auf »Empfang«. Sofort ertönte die leicht ungehaltene Stimme Blairs: »Hier ist Ramses! Mußte das sein? Sie wollten sich doch erst um fünf Uhr melden. Was ist denn los?« Rhianonn schaltete um auf »Sendung«. »Laura ist entführt worden! Ich habe es erst nach dem Aufwachen bemerkt. Meiner Schätzung nach muß es gegen Mitternacht gewesen sein. Ihr Bett war ganz kalt.« Als er auf »Empfang« umstellte, hörte er es am anderen Ende schwer atmen. Dann: »Kommen Sie bitte sofort! Bringen Sie das ganze Gespann mit! Versteckspielen hat jetzt keinen Sinn mehr.« Es klickte leise. Blair hatte den Kontakt unterbrochen. * Nach einer Stunde war Erik Rhianonn im ›Clansman‹. Der Wirt hatte zuerst ein grämliches Gesicht gezogen und was »vom Verstellen des Hofs« vor sich hin gemurmelt. Auf den wütenden Blick des Inspektors war er aber wie ein verprügelter Hund fort83 �
geschlichen. Jetzt saßen die drei Männer im Wohnwagen Und berieten über die neue Situation. In Blairs Gesicht erkannte man keine Gefühlsregung. Es sah hart, beinahe grausam aus. Sergeant Apsley drängte sich unwillkürlich ein Vergleich mit den biblischen Racheengeln auf, als er in das gnadenlose Gesicht seines Freundes blickte. In den langen Jahren ihrer gemeinsamen Zusammenarbeit hatte er ihn nur einige Male so erlebt. Niemand wußte besser als er, daß Blair in diesem Zustand einem verwundeten Tiger glich, doppelt gefährlich für seine Feinde. Rhianonn zog aus seiner Jackentasche ein zusammengefaltetes Stück Papier und reichte es Blair. »Bitte, lesen Sie«, sagte er mit tonloser Stimme. »Als ich abfahren wollte, lag es auf dem Fahrersitz. Wie es dort hinkommen konnte, ist mir ein Rätsel.« Der Inspektor nahm das Papier mit unbewegtem Gesicht entgegen, faltete es auseinander und legte es ausgebreitet auf den Tisch. Apsley, der links von Blair saß, sah grellrote Buchstaben auf weißem Grund. Ich hatte dich zweimal gewarnt, jetzt ist meine Geduld zu Ende. Du wirst Laura nicht wiedersehen. Sie wird auch nach einigen Tagen keine Lust mehr verspüren, zu dir zurückzukehren. Falls dein Inspektor und sein Assistent Todessehnsucht verspüren, sollen sie nur weiter versuchen, meine Kreise zu stören. Das Papier trug keine Unterschrift. Als sie alle das makabre Schreiben gelesen hatten, passierte etwas Seltsames. In Sekundenschnelle zerbröckelte das Papier, und die entgeisterten Männer sahen schließlich nur noch ein kleines Häufchen weißlicher Asche auf dem Tisch liegen. Blair wischte mit der Hand durch die Luft. »Laßt euch durch dieses Gaukelspiel nicht verwirren«, sagte er mit grimmiger Miene. »Argyll will uns Angst einjagen und mit 84 �
seinen Zauberkunststückchen glauben machen, er sei unüberwindlich.« Entschlossen fegte Blair die kleinen weißlichen Flocken vom Tisch. Heiße Wut brannte in seinen Augen, als er Rhianonn und Apsley anblickte. »Es muß uns jemand bei Argyll angeschwärzt haben. Ich kann mir schon denken, wer diese Judasarbeit getan hat.« »Ich auch«, sagte Apsley finster. »Eine solche Tat würde dem schurkischen Wirt genauso entsprechen wie sein rattengesichtiger Sohn, der das charakterliche Abziehbild seines Erzeugers ist.« Er wandte sich an Blair. »Was schlägst du vor?« »Wir gehen hinein und zwingen ihn auszupacken«, sagt der Inspektor eiskalt. Abrupt stand er auf. »Gehen wir! Braid hat im Augenblick keine Gäste. Er ist allein.« Der Wirt war in der leeren Gaststube damit beschäftigt, den Boden zu fegen. Es war ihm sehr unbehaglich zumute. Seitdem der Fremde seinen Wohnwagen hier abgestellt hatte, war dieses Gefühl besonders ausgeprägt. Auch dieser sogenannte Monteur Tim Warren Braid grinste schief hatte ihn vorher so sonderbar angeschaut. Ob er was ahnte? Aber wenn schon, dachte er trotzig, er würde ihm nichts beweisen können. Als er sich bückte, um mit dem Besen den Dreck auf die Schaufel zu kehren, erstarrte er. Die Tür hatte sich geöffnet. Die Männer, an die er gerade so sorgenvoll gedacht hatte, standen in der Gaststube. Er versuchte, seinem Gesicht einen gewinnenden Ausdruck zu geben und fragte mit leicht schwankender Stimme: »Womit kann ich Ihnen dienen? Haben Sie irgendeinen Wunsch?« Seine Stimme erstarb, als er in die unbewegten, eisigen Gesichter der auf ihn zutretenden Männer blickte. Er fühlte, wie würgend die Angst in ihm hoch kroch und sein Gesicht die Farbe verlor. 85 �
»Was wollen Sie von mir?« stieß er gepreßt hervor. Seine Blicke irrten umher, während er langsam zurückwich. Bevor er jedoch die hintere Tür erreichen konnte, stand Apsley nach einem blitzschnellen Satz davor, ihn höhnisch angrinsend. Gehetzt schaute er um sich. Die drei Männer bildeten die Spitzen eines gleichseitigen Dreiecks, in dessen Mitte sich Braid befand. »Was wollen Sie von mir?« stammelte er, mit entsetzten Augen in die harten Gesichter der Männer schauend. »Wir wollen nichts von Ihnen, Mr. Braid, gar nichts, wir möchten nur eine winzige Auskunft von Ihnen. Bitte erzählen Sie uns doch, was Sie James Craigh am Telefon über uns gesagt haben! Dann möchten wir auch noch wissen, woher Sie die Kenntnis von dem Standort des Wohnwagens draußen hatten und wann Sie Craigh darüber berichteten.« Blair hatte mit leiser, sanfter Stimme gesprochen, aber in seinen Augen funkelte eine solche Wut, daß Ben Braid haltsuchend hinter sich griff. Apsley hatte inzwischen einen Stuhl herangezogen und zwang den Wirt mit sanftem Druck, sich zu setzen. Dann herrschte er ihn an: »Fassen Sie sich, verdammt noch mal! Geben Sie endlich zu, daß Sie uns bei Craigh für ein paar Silberlinge verraten haben!« Blair unterbrach den Dicken und sagte: »Ich nehme an, daß Sie durch irgendeinen Umstand, den ich nicht kenne, erfahren haben, daß ich Kriminalbeamter bin. Trotzdem haben Sie unsere Ermittlungen entscheidend gestört. Ich hoffe, Sie wissen, was das bedeutet.« Da konnte sich Erik Rhianonn nicht mehr beherrschen. Mit beiden Händen riß er die knochige Gestalt vom Sitz hoch und schrie: »Wirst du wohl reden, du dreckiges Schwein! Sofort gibst du Antwort oder ich schlage dir den Schädel ein!« Der Privatgelehrte schien offensichtlich durchzudrehen. Beru86 �
higend faßte Blair ihn am Arm. »Inspektor! Inspektor!« gellte es da verzweifelt aus dem Mund des Wirtes. »Sie müssen mich schützen, dieser Mann ist ja verrückt!« Rhianonn ließ los, als ob er ein glühendes Eisen angefaßt hätte. Ben Braid sank auf dem Stuhl zusammen wie ein Häufchen Elend. Die Stimme des Inspektors wurde messerscharf. »Sie haben mich mit meinem Dienstrang angeredet. Ich habe also recht gehabt mit meiner Vermutung. Also, heraus mit der Wahrheit!« Der Wirt hatte innerlich aufgegeben. Er konnte nicht mehr. Er würde ihnen alles sagen, um so eher war er sie los. Mit unsicherer, brabbelnder Stimme erzählte er. Wie ein Sturzbach kam es von seinen Lippen. Als er geendet hatte, schauten sich die Männer an. Siedendheiß wallte der Zorn in ihnen auf. Was sollte nun werden? Dieser Lump hatte Argyll nur zu gut informiert. Und dazu noch Laura in der Gewalt dieses Satans, der sich jetzt ins Fäustchen lachen konnte über die dummen Tölpel, die er so einfach überlistet hatte. Blair mußte seine ganze Kraft aufbieten, um den hochschießenden Schmerz wieder zurückzudrängen. Laura hatte nur dann eine Chance, wenn sie kühl und überlegt handelten. Er richtete seine Augen auf die Jammergestalt vor ihm. »Sergeant Apsley wird mit Ihnen zum Telefon gehen. Sie werden sofort Craigh anrufen, und Sie sagen ihm das, was ich Ihnen auftrage! Anschließend wird das Telefon versiegelt. Um acht Uhr morgen früh wird das Siegel wieder entfernt. In der Zwischenzeit müssen Sie ohne Telefon auskommen.« Der Wirt nickte ergeben. »Ich tue, was Sie wollen«, sagte er mit schwacher Stimme. 87 �
Da schaltete sich Apsley ein. »Wo ist Ihr Sohn?« fragte er. »Tom ist heute mit dem Landrover nach Inverness gefahren, er will das bestellte Kühlaggregat abholen. Er kommt nicht vor morgen mittag zurück.« »Gut.« Der Sergeant nickte zufrieden und wandte sich an Blair. »Was soll Braid dem Kerl erzählen?« Blair blickte auf den Wirt und sagte mit eindringlicher, drohender Stimme: »Sie werden ihm sagen, daß Ihre Gäste nach Inverness abgereist seien. Ihr Sohn wäre mit dem Landrover eine ganze Weile hinter ihnen hergefahren, er hätte ihnen aber kaum folgen können, so schnell seien die Fremden gefahren. Sie werden auch sagen, daß ein Mr. Rhianonn sich den beiden Beamten angeschlossen hätte. Alle drei Männer seien sehr verstört und niedergedrückt gewesen.« Der Inspektor sagte ihm noch zweimal vor, was er zu reden hatte. »Jetzt wollen wir ihn telefonieren lassen. Komm, Dave! Nimm ihn mit, paß aber auf, daß er dich nicht aufs Kreuz legt.« »Keine Sorge!« sagte Apsley mit einer Miene, die seinem ruhigen Tonfall Hohn sprach. »Er wird sich bestimmt hüten, jetzt noch Tricks zu machen.« Braid blickte flehend zu dem Sergeant auf. »Nein, nein!« sagte er weinerlich. »Ich tue ja alles, was Sie mir sagen.« Sie gingen aus dem Zimmer. Einige Minuten später kamen sie zurück. »Es hat alles geklappt«, sagte Apsley, »ich habe mitgehört. Craigh schien nur wenig beeindruckt zu sein. Ich glaube sogar, er hat damit gerechnet.« »Hat er ihm noch weitere Anweisungen gegeben?« fragte Blair. »Nein, er hat nur davon geredet, daß er ihn königlich belohnen würde«, sagte Apsley. 88 �
»Ich kann mir schon denken, was er mit der königlichen Belohnung meint«, sagte Rhianonn zynisch. Dann trat er vor den Wirt und herrschte ihn an: »Mann, wissen Sie eigentlich, was Sie angerichtet haben? Ist Ihnen bekannt, daß meine Schwester letzte Nacht entführt wurde und sich in der Gewalt dieses Craigh befindet und daß dieses Scheusal schon einige Menschenleben auf dem Gewissen hat? Geht es in Ihr plattfüßiges Gehirn hinein, daß Ihre verfluchte Geldgier vielleicht schuld am Tod einer blühenden jungen Frau ist? Das eine versichere ich Ihnen: wenn ich meine Schwester nicht lebend wiedersehen sollte, geht es Ihnen an den Kragen!« Auf Ben Braid wirkten diese Worte wie Hammerschläge. Er schlug seine Hände vors Gesicht und wimmerte: »Das habe ich nicht gewußt, das habe ich nicht gewollt.« Den Inspektor überkam tiefe Verachtung für diesen Jämmerling. Mit schneidender Stimme sagte er: »Sie bleiben hier, in Ihrem Haus! Unterstehen Sie sich ja nicht, das Haus zu verlassen. Gnade Ihnen Gott, wenn ich Sie draußen erwischen sollte!« »Gehen wir zu mir in den Wohnwagen. Ich kann den Geruch in diesem Raum und den Anblick dieses Mannes nicht mehr ertragen«, sagte Rhianonn. Die beiden anderen nickten zustimmend. Als die drei bei der Tür waren, hörten sie hinter sich den Wirt sagen: »Bitte, warten Sie noch einen Augenblick! Ich habe Ihnen noch etwas mitzuteilen. Ich erzählte Ihnen schon, daß mein Sohn in Inverness ist. Er ist nicht nur wegen des Kühlaggregats nach dorthin gefahren. Ich hatte ihm noch den Auftrag gegeben, Chiefinspektor Bancroft anzurufen und ihn über die Vorgänge hier zu unterrichten.« Er schwieg, mit gesenktem Kopf auf die Tischplatte starrend. Die Männer an der Tür sahen sich überrascht an. Blair fühlte eisige Kälte in sich hochsteigen, als er an Bancroft 89 �
dachte. Wie er ihn kannte, würde er nicht lange fackeln und nach hier losfahren. Selbstverständlich in Begleitung, um Zeugen für die blamable Niederlage seines Inspektors zu haben. Verzweifelt zermarterte er sein Gehirn: »Wann ist Ihr Sohn nach Inverness gefahren?« fragte er den Wirt. »Gegen fünf Uhr früh«, kam die rasche Antwort. »Er ist mit dem Landrover sicher schon öfter in Inverness gewesen. Wie lange braucht er ungefähr für einen Weg?« wollte der Inspektor wissen. »So zwischen fünf und sechs Stunden«, antwortete der Wirt. Blair wurde es heiß bei dieser Auskunft. Es war direkt ein Wunder, daß Bancroft noch nicht hier war. Aber er konnte jeden Augenblick erscheinen. Blair überlegte einen Augenblick, dann hatte er eine Idee. Es war eine Idee, die aus der Verzweiflung geboren wurde. Aber sie bot eine kleine Chance, und besser eine kleine Chance als gar keine. Für das Leben Lauras würde ich noch eine wesentlich geringere Chance ergreifen, selbst wenn ich dazu den geschwänzten Teufel aus der Hölle ziehen müßte, dachte er grimmig. Er wandte sich wieder an Braid. »Gibt es sonst noch Kraftwagen hier in Thursochillis?« »Nein«, sagte der Wirt verwundert. »Ellersly hat wohl noch ein Motorrad, aber der Mann ist ebenfalls unterwegs und kommt kaum vor Ende der Woche zurück.« »Gut«, sagte Blair mit erleichtertem Aufatmen. Er blickte auf Apsley und Rhianonn. »Kommt!« drängte er. »Wir haben nicht mehr viel Zeit.« Die Tür wurde aufgemacht und wieder zugeschlagen, und dann saß Ben Braid allein im Gastzimmer, den Kopf in seine Arme vergraben und voller Angst vor James Craigh.
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Inzwischen erklärte Inspektor Blair seine Idee. Sie waren sofort einverstanden. In aller Eile wurden die Fahrzeuge klar gemacht. Minuten später verschwand die kleine Autokarawane in der beginnenden Dämmerung. Kurz hinter dem Dorf bog Blair in einen schmalen, nach rechts abbiegenden Feldweg ein und fuhr auf eine riesige Scheune zu, die an die vierhundert Yards von der Straße entfernt sein mochte. Als die Fahrzeuge hinter der Scheune standen, waren sie so gut verdeckt, daß sie von der Straße nicht gesehen werden konnten. Anschließend nahmen sie alle drei im Wagen des Inspektors Platz. »Bancrofts Wagen sehen wir hier zwar nicht, aber dafür seine Scheinwerfer«, gab Blair zu verstehen. »Wir müssen jetzt warten. Ich bin sicher, daß es nicht lange dauern wird. Für den Chiefinspektor ist diese Gelegenheit, mir eins auszuwischen, ein wahres Zuckerlecken.« Die Männer schwiegen und hingen ihren Gedanken nach. Plötzlich fuhr Rhianonn in die Höhe und sagte mit erregter Stimme: »Um Gottes willen! Das Telefon! Bancroft wird das Siegel sofort entfernen. Er wird Braid alles glauben, was der über uns erzählt. Anschließend wird er Argyll, sprich Craigh, anrufen und ihn vor uns warnen. Braid wird ihn sicher dazu anhalten, um sich bei Craigh in gutes Licht zu setzen.« Auch Apsley zuckte bei diesen Worten erschrocken zusammen und blickte ratlos auf den Inspektor. »Keine Angst«, murmelte der. »Erinnert euch nur! Ich kam kurze Zeit nach euch in den Wohnwagen. Ich habe in dieser Zeit das Telefonkabel abgerissen und den Apparat in die Jauchegrube hinter dem Haus geworfen. Da wird ihn sicher niemand 91 �
suchen, und ein anderes Telefon gibt es hier nicht.« Sergeant Apsley schluckte. Er entdeckte völlig neue Eigenschaften an Glen. Daß seine Handlungsweise strafbar war, wußte er sicher selber. Aber hier ging es um viel mehr als um ein Telefon. Eine Stunde war vergangen, die Dämmerung hatte bereits der Dunkelheit Platz gemacht, da zuckte es plötzlich weit vor ihnen hell auf. Das Licht verschwand und wurde wieder sichtbar. So ging es einige Male. Dann wurden Motorengeräusche hörbar. Die Männer hatten den Wagen geöffnet und waren ausgestiegen. In geduckter Haltung warteten sie, bis das Fahrzeug vorbei war. Apsley machte sich noch einen Augenblick am Werkzeugkasten des Wagens zu schaffen. Danach pirschten sie sich vorsichtig an das Gasthaus heran. Sie kamen von der Rückseite und sahen das Fahrzeug mit abgestelltem Motor im Hof stehen. Als sie näher am Haus waren, hörten sie die keifende Stimme Ben Braids. Wie der Inspektor richtig vermutet hatte, war Bancroft nicht allein gekommen. Es waren zwei oder drei Personen. Genau konnte man das von draußen nicht erkennen. Allmählich wurde die schimpfende Stimme des Wirtes leiser. Blair sah, daß er Krüge und Teller vor seine Gäste stellte. Der Inspektor lächelte verächtlich. Das war typisch für Bancroft, zuerst wurde der Körper gepflegt, alles andere konnte warten. Blair legte Apsley leicht die Hand auf die Schulter. »Jetzt wäre der richtige Augenblick«, flüsterte er ihm zu. »Sei um Himmels willen vorsichtig und laß, dich nicht erwischen! Du weißt, was davon abhängt.« Apsley nickte stumm, richtete sich auf und war im nächsten Augenblick in der Dunkelheit verschwunden. Den beiden Männern klopfte das Herz bis zum Hals. Gespannt sahen sie auf den Wagen im Hof, an dem plötzlich ein huschen92 �
der Schatten auftauchte. Kurz darauf hörten sie es leise klicken und sahen für Sekundenbruchteile eine Taschenlampe aufblitzen. Die Minuten schienen sich zu einer Ewigkeit auszudehnen. Dann wieder das Klicken und der huschende Schatten. Wenig später stand der Sergeant wie aus dem Boden gewachsen vor ihnen. Apsley atmete schwer. Trotz der Dunkelheit konnte Blair erkennen, wie es in den Augen vor ihm funkelte. »Die fahren mit dem Wagen keinen Meter mehr«, stieß der Sergeant grimmig hervor. »Dann nichts wie los und zurück zum Wagen!« drängte Blair. Kurz darauf saßen sie im hellen, nach außen abgedunkelten Wohnwagen und aßen eine Kleinigkeit. Appetit hatte weiß Gott keiner von ihnen, aber sie wußten, daß ihr Körper Nahrung brauchte, um die kommenden schweren Stunden voll durchzustehen. Nach dem frugalen Mahl blickte Blair auf seine Armbanduhr. »Es ist kurz vor neun. Wir haben alle drei die Einzelheiten unseres Planes so im Kopf, daß wir sie im Schlaf herunterbeten könnten. Wir fahren mit beiden Wagen aus dem Ort. Es könnte peinlich werden, wenn wir einen Wagen zurückließen und der dann zufällig entdeckt würde. Nur der Wohnwagen bleibt hier. Eine Gewißheit können wir jedenfalls beruhigt auf den Weg nehmen: Bancroft kann uns keine Schwierigkeiten machen. Er kann Argyll nicht anrufen und auch nicht aufs Schloß fahren. Eine Fußwanderung ist bei ihm nicht drin.« Die Männer schlüpften in dunkles, eng anliegendes Drillichzeug und zogen weiche Stiefel mit griffigen Sohlen über die Füße. Blair klappte ein Etui auf, in dem zwei Armbanduhren lagen. Eine davon gab er Apsley. »Du weißt Bescheid?« fragte er. Apsley nickte. Erklärend wandte sich Blair an Rhianonn. 93 �
»Diese beiden Armbanduhren sind kleine Meisterwerke optischer und funktechnischer Präzisionsarbeit. In jeder Uhr ist ein kleiner Sender und Empfänger eingebaut. Die Reichweite ist allerdings begrenzt, aber für unser Vorhaben dürfte sie sicher ausreichen. Wer zuerst oben ist, meldet sich.« Als der Inspektor sah, daß alles bereit war, sah er Rhianonn und Apsley ernst an. »In den nächsten Stunden wird es sich entscheiden, ob wir diesem Teufel dort oben den Garaus machen und Laura aus seinen Klauen befreien können. Wir wissen nicht, ob wir alle den Weg schaffen. Aber daran wollen wir jetzt nicht denken. Das ganze Unternehmen ist sowieso eine Art Himmelfahrtskommando. Aber wir haben keine andere Wahl.« Er nickte den beiden aufmunternd zu, löschte das Licht aus und öffnete die Tür nach draußen. Wenige Augenblicke später starteten die beiden Wagen. * Zur gleichen Zeit, als die drei Männer sich anschickten, ihr waghalsiges Unternehmen in die Tat umzusetzen, bekam Chiefinspektor Bancroft einen Tobsuchtsanfall. Mit blau angelaufenem Gesicht stand er vor Ben Braid und herrschte ihn zornbebend an: »Menschenskind! Verstehen Sie mich denn nicht? Ich will telefonieren! Wie oft soll ich Ihnen das noch sagen! Wo haben Sie Ihr Telefon?« Der Wirt machte eine bedauernde Geste. »Glauben Sie mir es doch bitte, ich weiß es nicht. Vor zwei Stunden war es noch da.« Dann wurde seine Stimme giftig. »Da hat bestimmt Ihr ehrenwerter Inspektor Blair die Finger drin. Er muß das Telefon entfernt haben. Er hat wohl Angst, Sie könnten mit dem Schloß telefonieren.« 94 �
Bancroft ließ sich verzweifelt in einen Stuhl fallen. Gerade das hatte er vorgehabt. Er wollte sich bei James Craigh für die wirren Fantasien seines Untergebenen entschuldigen. Er fluchte leise vor sich hin. Dann mußte er eben zum Schloß hinauffahren. Anmelden konnte er sich allerdings nicht. Er wandte sich an Inspektor Samuelson, einem kleinen, wichtigtuerisch aussehenden Männchen, der mit den beiden Sergeants O’Kelly und Brian das Gefolge Bancrofts bildete. »Kommen Sie!« sagte er mit barscher Stimme. »Wir fahren sofort aufs Schloß.« Sie gingen zum Wagen, und Brian startete. Nichts rührte sich. Brian versuchte es wieder und wieder. Auch das Ziehen der Luftklappe half nichts. Der Motor blieb stumm. Brian fühlte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Wieder startete er vergeblich. Hilflos wandte er sich an den in eisiger Ruhe neben ihm sitzenden Chiefinspektor und sagte stotternd: »Ich weiß nicht, was mit dem Motor los ist.« »Dann schauen Sie nach! Tun Sie endlich etwas!« zischte Bancroft mit wutbebender Stimme. »Aber beeilen Sie sich gefälligst! Wenn Sie fertig sind, sagen Sie mir Bescheid.« Er stieg aus dem Wagen und ging zurück in die Gaststube. Er kam gerade noch zurecht, um Braid daran zu hindern, die Tür zu verschließen. »Ich mache zu. Bin müde und will ins Bett«, sagte der Wirt trotzig. »Nichts da! Die Tür bleibt offen«, erwiderte Bancroft mit bissiger Stimme. Er ging in die Stube hinein und setzte sich. Mißvergnügt schielte ihn das bleiche Knochengesicht von unten herauf an. Dann schlurfte die hagere Gestalt hinter die primitive Theke und setzte sich ergeben auf einen Hocker. Bancroft hatte das Gesicht in die Hände gestützt und brütete vor sich hin. Ab und zu hörte er von draußen das Gerede der Männer und das Klappern von Werkzeugen. Allmählich machte 95 �
sich ein eisiges Gefühl in seiner Magengegend breit. Was sollte er nur machen, wenn auch das Auto ausfiel? Er schluckte. Das alles hatte ihm der verdammte Blair eingebrockt. Aber jetzt war endgültig Schluß mit dem Kerl. Nun hatte er einen begründeten Vorwand, um diesen ehrgeizigen Streber loszuwerden. Da öffnete sich die Tür. Seine Männer kamen mit schmutzverschmierten Händen und roten Gesichtern in die Gaststube. »Ich habe den Fehler gefunden, aber er läßt sich hier nicht reparieren. Es fehlen mehrere Kabel, und der ganze Verteiler ist innen demoliert. Da hat uns jemand mit Absicht den Wagen kaputt gemacht.« Aus Braids Miene sprach fassungslose Entrüstung. Das Gesicht des Chiefinspektors wurde nach dieser niederschmetternden Eröffnung totenbleich. Daß ihm dies nicht sofort klar geworden war, dachte er in eisiger Wut. Das Telefon war verschwunden, der Wagen unbrauchbar. Das paßte doch haarscharf zusammen. Blair hatte ihn jetzt völlig isoliert. Er rief barsch nach dem Wirt. »Wir müssen bei Ihnen übernachten, richten Sie uns etwas her!« Braid atmete auf. Nun konnte er wenigstens bald ins Bett, und verdienen würde er auch noch. Mit falscher Freundlichkeit sagte er zu dem verstörten Beamten: »Ich werde gleich alles für Sie und Ihre Männer richten, und was Ihren Wagen angeht…« »Was meinen Sie damit?« fragte Bancroft ungeduldig. »Mein Sohn kommt morgen mit dem Landrover aus Inverness zurück. Er kann Sie und Ihre Leute nach dort zurückbringen. Es wird zwar ein wenig eng werden, aber das ist die einzige Möglichkeit.« »O nein!« sagte Bancroft. Ein düsteres Licht glomm in seinen 96 �
Augen. »Ihr Sohn wird uns zuerst aufs Schloß fahren. Vielleicht � kann ich Blair und Konsorten doch noch das Handwerk legen.« � * Inspektor Blair und Rhianonn standen vor der Felsspalte. Gespannt schaute Rhianonn auf den Inspektor, der mit seiner Hand das künstliche Felsstückchen umschloß und den Mechanismus betätigte. Mit einem saugenden Zischen schwenkte die Felsplatte zur Seite, den Blick freigebend auf eine dunkle Höhle, die waagerecht in den Berg hineinführte. Als die beiden Männer hineingingen, mußte irgendein Kontakt ausgelöst worden sein, denn plötzlich flammte Licht auf. Blair hatte die innere Schließvorrichtung nach den Angaben Apsleys bald gefunden. Langsam schwenkte die Platte wieder zurück und verschloß den Ausgang. Vorsichtig, mit angespannten Sinnen, gingen sie durch die langgestreckte Höhle. Es war genau so, wie es Apsley in seiner Schilderung beschrieben hatte. Sie verengte sich zusehends. Die Wände wuchsen immer enger zusammen. Zuletzt wurde die Höhle so schmal, daß sie nur noch hintereinander dem Gang folgen konnten, der sie endlich, nach mehreren Windungen, an die Stelle führte, wo Apsley gelauscht hatte. Sie mußten sich noch durch eine schmale Spalte zwängen, bevor sie in der eigentlichen Höhle waren. Obwohl Blair aus den Erzählungen Apsleys informiert war, stieß er doch einen leisen Laut der Überraschung aus. Da stand der Transformator, und hinten an der Wand hing der große Stahlschrank mit den Schaltanlagen. Auf der anderen Seite sah er die rostigen Kettenglieder liegen. Bis hierhin hat es ja gut geklappt, dachte Glen Blair, aber nun 97 �
kommt die erste Schwierigkeit. Er richtete seinen Blick auf die große dunkle Metalltür, die ihnen das Weiterkommen unmöglich zu machen schien. Blair entnahm einer Segeltuchtasche eine steingraue Masse, die er mit den Händen zu einer langen Schnur formte. Dann brachte er den Plastiksprengstoff so an, daß er in der Fuge zwischen Fels und Metall um die ganze Tür herum zu liegen kam. »Ich stelle jetzt den Zündmechanismus so ein, daß die Ladung in drei Minuten detoniert«, sagte der Inspektor. Rhianonn sah ihn verblüfft an. »Wird man den Krach denn nicht im Schloß hören können?« »Kaum«, sagte Blair, »dazu liegt das Laboratorium viel zu tief. Gewiß wird es eine kleine Erschütterung geben, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß sich Argyll über deren Ursache im klaren sein wird. Im übrigen bleibt uns keine andere Möglichkeit.« Er stellte den Zündmechanismus ein. Anschließend zogen sich die beiden Männer rasch in die enge Vorhöhle zurück, aus der sie gekommen waren. Dann legten sie sich dicht hinter eine vorspringende Klippe auf den Boden. Kurz darauf spürten sie eine heftige Erschütterung und hörten einen schmetternden Schlag. Sie warteten einen Augenblick und eilten zurück. Es hatte funktioniert. Die Metalltür lag verbogen auf dem Boden. Ätzender Rauch hing in dichten Schwaden in der Luft. Die Beleuchtung war durch die Explosion ebenfalls zerstört worden. Blair richtete den Lichtkegel seiner Taschenlampe in das Innere des Laboratoriums. Jetzt galt es, schnell den Schalter für den Aufzug zu finden. Als er mit Argyll hier unten war, hatte er jede Bewegung von ihm mit Argusaugen verfolgt. Er hatte noch den blitzschnellen Griff hinter einen Laborschrank in Erinnerung, bevor sie wieder nach oben gefahren waren. Nach kurzem Suchen fand Blair den Knopf, drückte und 98 �
seufzte schwer. Jetzt kam es darauf an. Wenn Argyll den Aufzug abgestellt hatte oder er aus anderen Gründen nicht funktionierte, dann war alles aus. Warum schwenkte eigentlich noch nicht das Stück Wand zur Seite? Blair spürte, wie ihm der Angstschweiß ausbrach. Wieder drückte er auf den Knopf, und dann stöhnte er erleichtert auf, als mit ruckartigen Bewegungen ein Stück der Stirnwand nach hinten schwenkte und die Aufzugskabine sichtbar wurde. Wahrscheinlich hatte die Druckwirkung der Detonation den Mechanismus durcheinandergebracht. So nahe können Erfolg und Mißerfolg nebeneinander liegen, schoß es dem Inspektor durch den Kopf. Sie konnten bei dem Licht der Taschenlampe zwar nichts Genaues erkennen, aber das Laboratorium mußte stark gelitten haben. Sie sahen wirre Haufen zertrümmerter Apparaturen auf dem Boden liegen und mußten auf dem Weg zur Kabine förmlich durch splitterndes Glas waten. Der ätzende Geruch wurde immer stärker. Inspektor Blair verschloß eilig die Kabinentür und drückte auf denselben Knopf, wie Argyll es getan hatte. »Auf diesem Weg können wir nicht mehr zurück«, sagte er zu Rhianonn. »Unten kommen jetzt alle möglichen chemischen Ingredienzien zusammen. Wer weiß, welche höllischen Dinge Argyll dort unten aufbewahrt hatte.« Es gab einen sanften Ruck, die Kabine hielt. Vorsichtig drückte Blair die Kabinentür nach außen. Er wußte, daß sich vor ihm eine Schranktür befinden mußte, die den Lift tarnte. Er leuchtete mit seiner Taschenlampe. Richtig, da war sie. Hoffentlich konnte er sie ohne Gewalt von innen öffnen. Da war auch der Türknopf. Er umfaßte ihn und drehte. Es klickte leise und er spürte, daß die Tür nachgab. »Kommen Sie!« flüsterte er Rhianonn zu. 99 �
Vorsichtig stiegen sie aus dem Schrank. Das durch die kleinen Fenster dringende schwache Mondlicht ließ die Konturen der Gegenstände im Raum nur unscharf hervortreten. »Halten Sie sich dicht hinter mir!« flüsterte Blair. Langsam und vorsichtig tasteten sie sich vorwärts und standen endlich an der hohen, spitzbogigen Metalltür. Der Inspektor holte aus seiner Umhängetasche einen länglichen, dünnen Gegenstand. Er kniete sich hin und führte vorsichtig das eigenartig geformte Instrument in das Schlüsselloch ein. Er wußte noch ungefähr, wie der Schlüssel zu dieser Tür ausgesehen hatte. Vorsichtig tastete er mit den Fühlern des Instrumentes die inneren Halterungen des Schlosses ab und drehte mit angespannter Aufmerksamkeit an den Einstellrädern des Spezialdietrichs. Die Prozedur wiederholte sich einige Male, dann sah Rhianonn, wie sich Blair aufrichtete und ihm schwer atmend zuflüsterte: »Ich habe es geschafft. Wir können die Tür öffnen.« Er verharrte noch einen Augenblick, um sich von der Anstrengung zu erholen, dann drehte er den Dietrich langsam im Schloß herum. Als er behutsam gegen das Metall drückte, gab es lautlos nach. »Jetzt haben wir es geschafft«, flüsterte er, »aber bevor wir aktiv werden, möchte ich doch erst…« Er schaute auf sein Handgelenk und drehte an einem kleinen Rädchen der Spezialuhr. Nichts geschah, es erfolgte keine Reaktion. »Wir müssen noch etwas warten, Apsley wird mit dem Aufstieg sicher einige Schwierigkeiten haben.« Rhianonn hörte den besorgten Unterton in der Stimme. Die Minuten verrannen. Beide saßen wie auf glühenden Kohlen. Nach einer Stunde und mehreren erfolglosen Kontaktversuchen sagte Blair mit tonloser Stimme: »Kommen Sie, wir müssen es jetzt allein versuchen!« Er stieß die Tür auf. Rhianonn sah einen schmalen, schwach 100 �
erleuchteten Gang vor sich. Knapp zwanzig Yards vor ihnen machte der Gang einen scharfen Knick. Kurz davor hörten sie plötzlich Schritte. Die beiden Männer sahen sich fragend an. Rhianonn bemerkte, daß sich das Gesicht Blairs seltsam verwandelt hatte. In diesen Zügen war auch nicht mehr ein Funken von Sanftmut mehr zu erkennen, nur noch harte, erbarmungslose Entschlossenheit. Kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende gedacht, sah er eine vierschrötige livrierte Gestalt mit tierischen Gesichtszügen um die Ecke kommen. Als die rötlichen Augen sie erblickten, funkelte es wild und gierig in ihnen auf. Mit einem heiseren Aufschrei stürzte das Wesen auf sie zu. Bevor es sie jedoch erreichen konnte, zeigte sich Blair als eine vollendete Kampfmaschine. Blitzschnell tänzelte er zur Seite und ließ eine stahlharte Handkante auf das Genick des Angreifers niedersausen. Sie hörten ein knackendes Geräusch, das Geschöpf sank zu Boden. Da griff Rhianonn ein. »Schnell!« zischte er Blair zu. »Zurück mit ihm in den Raum da hinten!« Ohne lange zu fragen nickte Blair. Er wußte, daß im Augenblick der Privatgelehrte zuständig war. Sie griffen das reglose Wesen und schleppten es so schnell sie konnten in den Raum zurück, aus dem sie gekommen waren. Als Blair die Tür hinter sich geschlossen hatte, sagte Rhianonn mit leiser, gehetzt klingender Stimme zu ihm: »Richten Sie den Lichtkegel Ihrer Taschenlampe auf die Herzgegend des Ungeheuers!« Blair folgte sofort der Aufforderung. Als er im Schein der Lampe die Gestalt näher betrachtete, zuckte er jäh zusammen. Sie fing wieder an, sich zu bewegen. Die Augen öffneten sich weit und blitzten in mörderischer Wut. Da schlug Rhianonn sei101 �
nen Revolver an und drückte zweimal ab. Sie hatten ihre Schußwaffen mit Schalldämpfern versehen. Das kurze trockene Plopp war von außen kaum zu hören. Hartholzkugeln, schoß es Blair durch den Kopf. Gespannt beugte er sich vor. Was er sah, erregte tiefe Übelkeit in ihm. Das seltsame Geschöpf fing buchstäblich an, auseinanderzufließen, dabei einen pestilenzartigen Geruch verbreitend. Nur der Kopf schien längeren Widerstand leisten zu wollen. Wild schlug er hin und her, die glühenden Augen öffneten und schlossen sich krampfhaft, die gerafften Lippen gaben lange, dolchartige Eckzähne frei. Aber dann ereilte auch ihn sein Schicksal. Die Bewegungen hörten auf, die Augen wurden trübe und stumpf. Nur wenige Minuten vergingen, und von dem höllischen Geschöpf zeugte nur noch eine Dieneruniform, die in einer übelriechenden Lache schwamm. Bevor sie den Raum verließen, versuchte Blair einen Kontakt mit Apsley herzustellen. Es war wieder vergeblich. Er preßte die Lippen zusammen und sagte mit rauher Stimme zu Rhianonn: »Kommen Sie! Ihre Waffen haben sich bewährt, jetzt geht es dem Satan an den Kragen.« Diesmal kamen sie ungehindert an der Ecke vorbei. Vorsichtig gingen sie weiter. Kurz darauf standen sie am Ende des Ganges vor einer Tür. Behutsam drückte Blair die Klinke herunter. Sie war nicht verschlossen. Hinter ihr öffnete sich eine kleine, runde Halle. Sie ähnelte der Vorhalle, die Blair von seinem ersten Besuch her kannte. Auch hier der rötliche Marmor, die schweren Perserteppiche, die kostbaren Gobelins und die blitzenden Kristallüster. Plötzlich horchte der Inspektor überrascht auf. »Hören Sie die Musik?« fragte er leise. Rhianonn lauschte angestrengt. Tatsächlich, dachte er. 102 �
Schwach drangen Geräuschfetzen einer eigenartigen, wilden Melodie an seine Ohren. »Die Musik ist unser Wegweiser«, raunte Blair. Er schaute sich suchend um. Vier Türen führten aus der Halle. Wenn man die eine abzog, durch die sie selbst gekommen waren, blieben noch drei Möglichkeiten. Die ersten zwei, die sie öffnen wollten, waren verschlossen. Erst die dritte sie war größer und wuchtiger als die beiden anderen ließ sich öffnen. Sie standen am Anfang eines breiten, holzgetäfelten Korridors, der eine Länge von etwa zwanzig Yards haben mochte. Zu beiden Seiten standen in kurzen Abständen irdene Tröge mit großen Blattpflanzen. Die Musik war lauter geworden. Da bewegte sich am anderen Ende des Korridors ein breites Portal. Blitzschnell huschten die beiden Männer in den Schutz eines ausladenden Philodendron, die sie mit ihren großen gezackten Blättern ausreichend verdeckte. Als sie sahen, wer aus der Tür herauskam, schauten sie sich verblüfft an. Es war ein Mann in einem Frack mit einer roten Nelke auf der linken Brustseite. Er kam direkt auf sie zu. Als er kurz vor ihnen war, sahen sie durch das Blattgewirr hindurch seine rötlich glühenden Augen und den giererfüllten Ausdruck in seinem Gesicht. Sein Gang mutete irgendwie automatenhaft an. Er ging an ihnen vorüber und verschwand nach wenigen Schritten hinter einer Tür. Das Portal, aus dem er gekommen war, stand noch halb offen. Aus dem Raum dahinter drangen wilde, noch nie gehörte Rhythmen und schwaches, rotes Licht. »Wir müssen irgendwie da hinein«, zischelte Blair. Rhianonn nickte. »Ich weiß, es scheint die einzige Möglichkeit zu sein, den Dingen hier näher auf den Grund zu gehen. Es kommt mir so vor, als ob die hier irgendeine magische Kulthandlung begehen wollen.« 103 �
»Dann ist der ganze Haufen ja beieinander«, sagte Blair mit grimmiger Miene. Mit einigen schnellen Schritten waren sie bei dem Portal. Blair warf einen vorsichtigen Blick hinein. Rhianonn wurde allmählich nervös. Wenn der Mann mit dem Frack zurückkam, mußte er sie hier sehen. Doch da drehte sich Blair um und flüsterte: »Es wird gehen. Der ganze Orden hockt da drinnen beisammen und ist anscheinend mit den Vorbereitungen für eine Art Teufelsanbetung beschäftigt. Im Moment haben die für nichts anderes Augen und Ohren. Das ist unsere große Chance. Passen Sie jetzt genau auf! Ungefähr fünf Yards rechts neben diesem Portal befinden sich breite, bis auf den Boden reichende Vorhänge, hinter denen wir gut gedeckt sind. Also, jetzt!« Kurz darauf standen sie hinter den schweren Fenstervorhängen. Rhianonn erschien es wie ein Wunder, daß man sie immer noch nicht entdeckt hatte. Sie waren wohl gerade im richtigen Augenblick gekommen. Vorsichtig schob er den Vorhang ein winziges Stück zur Seite. Er blickte in einen prächtig geschmückten Rittersaal, der von wenigen Räucherkerzen nur spärlich erhellt wurde. An den Längsseiten waren alte Rüstungen aufgestellt. Die farbigen Fresken an den Wänden zeigten blutiges Schlachtgetümmel. Wo Argyll nur die Mittel her hat für diesen Aufwand? schoß es Rhianonn durch den Kopf. Am anderen Ende des Saales waren mehrere Tische in Hufeisenform zusammengestellt worden. Sie waren mit kostbarem weißen Damast bedeckt. Im Inneren des Hufeisens stand ein grob zubehauener weißer Block, der etwa sieben Fuß lang und zwei Fuß breit sein mochte. Rhianonn zählte nach. An den Tischen saßen genau vierzig Personen. Er sah zwanzig Abendkleider und neunzehn Fracks. Mit dem Hinausgegangenen war 104 �
die Parität der Geschlechter also genau gewahrt. Neben Argyll, der das Präsidium hatte, erkannte Rhianonn eine wunderschöne, blonde Frau. Das mußte Susan Wilkie sein, dachte er. Außer Argyll zeigten alle den eigenartigen starren Gesichtsausdruck und diese unnatürlichen roten Augen, in denen keine menschliche Regung mehr schimmerte. * Jetzt ist der große Moment endlich gekommen, dachte Argyll frohlockend. Nur wenige Augenblicke würden vergehen, bis er eine neue Sklavin hatte. Er schaute zufrieden in die Runde. Er hatte sie alle zu Geschöpfen der Nacht gemacht. Erst in der Nacht fingen sie an zu leben. Mit ausnahmen seiner Diener, die er durch schwierige Manipulationen befähigt hatte, auch tagsüber um ihn zu sein, schliefen alle anderen während der Zeit des Lichts einen totenähnlichen Schlaf. Er brauchte diese Sklaven. Nur durch sie war es ihm möglich, sein Leben beliebig zu verlängern und ständig in voller Mannesblüte zu stehen. Nur einige wenige würde er eines Tages auswählen, um mit ihnen einen ›Engeren Kreis‹ zu bilden. Dann war die Zeit zur Ausdehnung seines dunklen Reiches gekommen. Er lächelte geringschätzig. Dies hier war nur ein kleiner Anfang. Er hörte stampfende Schritte und blickte hoch. Durch das weit geöffnete Portal kamen vier Diener herein, die eine große Sänfte trugen. Hinter ihnen ging ein Mann in einem Frack, der ein silbernes Tablett mit einer großen kristallenen Karaffe vor sich her trug. Vor dem Opferstein kam die Sänfte zum Stehen. Die vier Diener stellten sie ab und hoben aus ihrem Inneren eine bleiche, junge Frau, die in ein kostbares Brautgewand gehüllt war. Vorsichtig legten sie die anscheinend Bewußtlose in die leichte Höh105 �
lung des Opfersteins. Die roten Haare züngelten wie eine Flamme darüber hin. Das junge Weib sah in ihrer Schönheit aus wie eine Göttin. Argyll genoß diesen Anblick. Ich werde die Zeremonie schnell zu Ende bringen, schon morgen soll sie keinen einzigen Gedanken mehr an ihren Bruder verschwenden. Ein häßliches Lächeln überzog sein Gesicht. Seine Widersacher waren jetzt sicher schon in Inverness und hielten sich wie Mäuse verkrochen. Wer wollte ihm auch widerstehen? Ein berauschendes Gefühl der Macht durchpulste seinen Körper. Er stand auf, griff nach dem Arztbesteck und ging auf die stille Gestalt zu. * Langsam erwachte Laura Rhianonn. Zuerst sah sie nur schattenhafte Bewegungen um sich herum und ein schwaches, rötliches Leuchten. Was nur mit ihrem Bett los war? Es fühlte sich an wie harter, kalter Stein. Sie versuchte, sich auf die andere Seite zu drehen, aber irgend etwas hielt sie gewaltsam fest. Sie wurde plötzlich hellwach. Mit weit geöffneten Augen starrte sie verständnislos um sich. Wo bin ich denn nur? Das ist doch nicht der Wohnwagen! Als sie die vier stummen Gestalten neben sich sah, die sie mit stumpfen Gesichtern an Armen und Beinen festhielten, durchzuckte sie eisiges Entsetzen. Verzweifelt wand sie sich hin und her. Aber die Hände, die sie festhielten, waren wie Fesseln aus Eisen. Mein Gott, dachte sie, warum hilfst du mir nicht gegen diese teuflischen Wesen? Da trat eine hohe Gestalt an das Ende ihres sonderbaren Lagers. Dunkle, befehlende Augen richteten sich auf sie. Eine tönende Stimme rief: »Dir zu Ehren, Fürst aller dämonischen 106 �
Mächte, beginnen wir jetzt mit der Schwarzen Messe. Das Blut dieser Frau, von dem auch wir trinken werden, sei dir geweiht.« Mit feierlicher Gebärde hob die schreckliche Gestalt vor ihr das dunkelrote Götzenbild empor, das ihm einer der Diener demutsvoll reichte, und küßte es mit inbrünstiger Hingabe. Als Laura diese grausigen Worte hörte, fing sie an, ihre Angst gellend hinauszuschreien. * Nachdem Sergeant Apsley sich von Inspektor Blair und Rhianonn getrennt hatte, strebte er mit ausgreifenden Schritten der Stelle zu, die ihm der alte Kyneakin beschrieben hatte. Gut, daß das Wetter mitmacht, dachte er dankbar nach einem prüfenden Blick zum Himmel. Die helle Scheibe des Vollmonds gab so viel Licht, daß er keine Schwierigkeiten hatte, sich zurechtzufinden. Der Schäfer hatte ihm den Weg so gut erklärt, daß er kaum fehlgehen konnte. Nach einer halben Stunde stand er vor der kleinen Schlucht, durch die er gehen mußte, um den Anfang des Pfades zu erreichen. Dunkel gähnte ihm der schmale Einschnitt entgegen. Ein unbehagliches Gefühl beschlich ihn. Er schaltete sie an und ging vorsichtig hinein. Er mußte aufpassen, überall lagen kleinere und größere Felsbrocken herum. Trotzdem kam er gut voran und war nach einer weiteren halben Stunde am Ende der Schlucht angelangt. Jetzt galt es, die bewußte Felsnase zu finden, die ihm Kyneakin beschrieben hatte. »Am Ende der Schlucht werden Sie rechts einige verkümmerte Fichten sehen. Ungefähr fünfzig Yards lotrecht darüber ist ein sichelförmiger Felsvorsprung zu erkennen. Dort müssen sie hinauf, da beginnt der Pfad.« 107 �
Apsley blickte angestrengt in die angegebene Richtung. Tatsächlich, da standen die Fichten. Sein Blick wanderte nach oben. Da war auch dieser vorspringende Felsen. Er hob sich gegen das Mondlicht ab wie eine zum Schnitt bereite Sichel. Aber wie sollte er da hinaufkommen? Als er hinter der Fichtengruppe vor der schroff ansteigenden Felswand stand, sah er das schmale Felsband, von dem ihm der Schäfer erzählt hatte. Es war nur einen Fuß breit. »Sie können unbesorgt da hinaufgehen. Das Band führt bis zu dem Felsen.« Dann hatte ihm der Alte noch eingeschärft, ja nicht nach unten zu schauen und beim Vorwärtsgehen auf Tuchfühlung mit der Wand links von ihm zu bleiben. Entschlossen konzentrierte er sich. Eine wahre Himmelsleiter ist das, dachte Apsley grimmig. Langsam und stetig schob er sich voran, mit der Lampe in seiner Rechten Fuß um Fuß ausleuchtend, während er sich mit der Linken an der Wand entlang tastete. Das Felsband verlief schnurgerade auf den Vorsprung zu. Nicht mehr lange, dann habe ich es geschafft, dachte er aufatmend. Die steinerne Sichel war schon greifbar nahe. Dave lehnte sich an den Felsen und verstaute die Taschenlampe. Er brauchte sie nicht mehr, von hier ab war der Mondschatten zu Ende. Als er sich anschicken wollte, die letzten Yards hinter sich zu bringen, stockte sein Atem. Er fühlte kalten Schweiß aus seiner Stirnhaut austreten. Auf den letzten zehn Yards bis hin zu dem Felsvorsprung war das schmale Band mit Geröll wie zugedeckt. Die Füße darauf zu setzen, hieß einen Absturz direkt herausfordern. Apsley fluchte unterdrückt. Wahrscheinlich ein Steinschlag, registrierte er. Daß das ausgerechnet jetzt passieren mußte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als das verdammte Zeugs mit den Füßen wegzuräumen. 108 �
Diese letzten Yards waren die längsten seines Lebens. Zoll um Zoll kämpfte er sich vorwärts, mit seinem rechten Fuß die Steine in den Abgrund befördernd. Mehrmals mußte er keuchend innehalten und sich erschöpft an den Felsen lehnen. Als er seine Augen einmal unwillkürlich nach unten richtete, sah er in eine wallende Schwärze, die ihn magnetisch anzuziehen schien. Er spürte, wie seine Knie weich wurden. Es kostete ihn große Anstrengung, seine Augen zu schließen und sich fest an den Felsen zu pressen. Dave atmete tief. Allmählich wurde ihm wohler. Vorsichtig kämpfte er sich weiter. Krachend schlug der steinerne Regen am Boden der Schlucht auf. Endlich hatte der Sergeant es geschafft. Schwer keuchend von der schweren Strapaze legte er sich auf eine glatte Felsplatte. Heiliger Dunstan, hier mochte er nicht noch einmal hinaufsteigen. Hoffentlich waren bis zum Schloß nicht ähnliche Schwierigkeiten zu überwinden. Seufzend schaute er auf das Leuchtzifferblatt seiner Spezialuhr. Schon elf, dachte Dave Apsley sorgenvoll. Wie er bis Mitternacht oben sein wollte, wußten die Götter. Der Aufstieg war wesentlich leichter, als er vermutet hatte. Wahrscheinlich hatte Kyneakin den Schwierigkeitsgrad des ersten Stücks heruntergespielt, um ihn nicht zu entmutigen. Wesentliche Vorbedingung für den weiteren Weg bis zum Bergkegel war die Kenntnis verschiedener natürlicher Wegemarken. Einmal war es ein einzelner, bizarr geformter Felsen, hinter dem er sich rechts halten mußte. Ein anderes Mal war es eine kleine Ansammlung von Krüppelkiefern, durch die er mitten hindurch mußte, um auf einer schmalen, natürlichen Felsbrücke einen tiefen Einschnitt zu überwinden. Vierzehn Merkmale mußte er beachten, um auf dem richtigen Weg zu bleiben. Nachdem Dave das letzte Kennzeichen drei mächtige Felsblöcke, die wie von Menschenhand aufeinandergetürmt schienen hinter sich hatte, lag das letzte Stück des mühsamen Weges vor ihm. Es war 109 �
auch das leichteste. In einer Viertelstunde hatte er die schwach ansteigende nackte Felsplatte überwunden und stand unterhalb der schroff aufragenden Schloßmauer. Rechts sah er die schmale Straße, die zum Schloß führte. Zielbewußt ging er darauf zu. Vielleicht wäre er auch nicht entdeckt worden, wenn er sie von Anfang an benutzt hätte. Aber das Risiko wäre doch zu groß gewesen. Wer konnte schon wissen, ob Argyll hier nicht irgendwelche Sicherungen eingebaut hatte, die ihn über das Kommen von Besuchern frühzeitig unterrichtete. Bald darauf stand der Sergeant neben dem Schloßtor im Schutz einer hochaufragenden Tanne. Vorsichtig kletterte er den Stamm hoch. In Höhe der Mauerkrone hatte die Tanne einen dicken, weit ausladenden Ast, der tief in das Innere des Schloßhofes hineinragte. Kyneakin ist einfach unbezahlbar, dachte Dave Apsley dankbar. Als er auf der Mauerkrone saß, entrollte er ein langes Nylonseil, daß er während des Aufstiegs um seinen Leib geschlungen hatte. Er knotete den Anfang am Ast fest und ließ sich langsam in den Hof hinuntergleiten. Als er auf dem Boden stand, holte er tief Luft. Das wäre geschafft, dachte er mit freudiger Genugtuung. Ob die beiden anderen auch schon oben waren? Aber das ließ sich ja schnell feststellen. Er nahm einige Einstellungen an der kleinen Spezialuhr vor. Unvermittelt hatte er das Gefühl einer drohenden Gefahr. Er schaute hoch und sah vor sich einen riesigen schwarzen Hund mit glühenden Augen. Apsley spürte, wie sich ihm die Haare sträubten. Das war doch der schwarze Unhold aus der Erzählung des Schäfers, fuhr es ihm sekundenschnell durch den Kopf. Gewaltsam zwang er sich zur Ruhe und tastete vorsichtig nach seinem Revolver im Gürtel. Da sprang die Bestie. Wie ein schwarzer Blitz zuckte es auf den Sergeant zu, der von der Wucht des Aufpralls zu Boden 110 �
geschleudert wurde. Der harte Aufschlag raubte ihm fast die Besinnung. Im Nu war der schwarze Schatten über ihm. Apsley wehrte sich verzweifelt gegen den aufgerissenen Rachen des Ungeheuers, das gierig nach seiner Kehle suchte. Er merkte, daß er trotz der beträchtlichen Kraft seines Körpers diesem wilden Ansturm nicht lange widerstehen kannte. Die Bestie lag so unglücklich auf ihm, daß er an den Revolver, der links in seinem Gürtel steckte, nicht heran konnte. Blieb also nur noch das Hartholzmesser auf der rechten Seite. Mit aller Kraft, deren er fähig war, wehrte er mit dem linken Arm den zottigen Schädel ab und tastete mit der rechten Hand nach dem Holzmesser. Endlich fühlte er den Griff und umfaßte ihn. Es kann nur noch wenige Sekunden dauern, dann ist es aus mit mir, dachte Dave verzweifelt. Nur noch wenige Zoll trennten die rasiermesserscharfen Zähne von seiner Kehle. Ein ekliger Gestank drang aus dem Schlund des Ungeheuers. Die scharfen Krallen rissen und fetzten an seiner Kleidung. Endlich hatte er das Messer frei. Dann stieß er zu, stieß wieder und wieder zu und fühlte, wie es warm und übelriechend aus dem Leib der Bestie hervorquoll. Augenblicklich ließ der auf ihm lastende Druck nach. Aus dem Rachen des höllischen Geschöpfes drang klagendes Heulen, das schnell schwächer und schwächer wurde. Mit einem wilden Ruck schleuderte Apsley den schlappen Körper von sich. Mühsam, mit wankenden Knien, stand er auf und lehnte sich an die Mauer. Erschöpft schloß er für einen kurzen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete und zu der Stelle hinschaute, wo das riesige schwarze Ungetüm liegen mußte, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Das Geschöpf war weg. Da, wo es gelegen hatte, war nur noch eine kleine Pfütze zu erkennen, von der grünliche Dämpfe hochstiegen. Der Sergeant fühlte einen Schauer über seinen Rücken laufen. Gewaltsam 111 �
schüttelte er die unheimliche Beklemmung ab. Jetzt aber nichts wie weg hier! Er mußte hinein ins Schloß. Doch zuerst wollte er Blair melden, daß er angekommen war. Als er auf die Uhr schaute, mußte er entsetzt feststellen, daß der Kampf sie ruiniert hatte. Das Glas war zersplittert, die kleinen Zeiger waren abgerissen und die Stellrädchen verbogen. Zuerst stand er da wie betäubt. Er kannte seinen Freund. Glen würde allein versuchen, mit diesem Satan fertig zu werden. Aber das konnten Blair und Rhianonn kaum schaffen. Apsley richtete sich auf und schaute finster auf das dunkle Gemäuer vor sich. Es läßt sich nicht ändern, dachte er sorgenvoll. Ich muß es versuchen. Vielleicht treffe ich die beiden, bevor es losgeht. * Unterdessen näherte sich die düstere Zeremonie auf Glyndale Castle ihrem Höhepunkt. Aufpeitschende wilde Musik erfüllte den alten Rittersaal, ohne das ein Orchester zu bemerken war. Argyll hatte sich in die Mitte eines auf dem Boden gezeichneten Hexagramms gesetzt. Er schloß die Augen und konzentrierte sich. »Wann soll es denn endlich losgehen?« zischte Blair, der wie Rhianonn das Geschehen durch eine schmale Spalte des Vorhangs fiebernd verfolgte. Es hatte nicht viel gefehlt, und er wäre herausgestürmt, als Laura in der Sänfte hereingetragen wurde. »Vertrauen Sie mir doch«, sagte Rhianonn mit beschwörender Stimme. »Überlassen Sie mir die Wahl des Zeitpunktes. Sie müssen sich noch gedulden. Ich muß den günstigsten Moment abwarten, nur dann haben wir Aussicht auf Erfolg.« »Hoffentlich wird es dann für Laura nicht zu spät. Warum gehen wir nicht einfach hin und schießen Argyll über den Hau112 �
fen?« »Dann wären Laura und wir mit Sicherheit verloren«, kam es zurück. »Sie würden über uns herfallen wie ein Rudel Wölfe. Ich weiß auch nicht, ob Argyll so einfach unschädlich zu machen ist wie der Diener. Es gibt für uns nur eine Möglichkeit, Laura zu retten. Ich kenne das Zeremoniell der Schwarzen Messe. Es gibt da eine ganz bestimmte Stelle, wo wir eingreifen können.« Inspektor Blair seufzte ergeben. Als er kurz zuvor die angstvollen Schreie Lauras gehört hatte, hatte er sich die Ohren zuhalten müssen. Das sind doch keine Menschen, dachte er in heißer Wut. Selbst ein reißender Tiger muß gegenüber diesen finsteren Kreaturen direkt für liebenswert gelten. Da hörte er, wie Rhianonn scharf den Atem einzog. Er blickte angestrengt durch den Spalt. Was er sah, ließ ihn an seinem Verstand zweifeln. Über dem starr aufgerichteten Oberkörper Argylls bildete sich aus dem Nichts schwacher Rauch, der bald die Form einer schwarzen Wolke annahm. Sie wurde immer größer und dichter. Unvermittelt hörte ihr Wachstum auf, und sie strebte, wie von unsichtbaren Händen gelenkt, zielbewußt unter die Decke. Genau über dem Opferstein blieb sie stehen und verharrte wie ein Raubvogel, der unter sich sein wehrloses Opfer sieht und für das Hinunterstoßen noch einen günstigen Zeitpunkt abwartet. Im selben Augenblick verschwand die Starre aus der sitzenden Gestalt inmitten des Hexagramms. Mit einer elastischen Bewegung erhob sich Argyll. Triumphierend schaute er auf die schwarze Substanz hoch unter der Decke, die in wenigen Augenblicken in den Körper der bleichen Gestalt eindringen und von ihrem Leib und ihrer Seele Besitz ergreifen würde. Nichts konnte sie mehr vor diesem Schicksal retten. Aber zuerst mußte das Blutopfer gebracht werden. Auf seinen herrischen Wink hin entblößte ein Diener Lauras 113 �
herunterhängenden Arm und umschloß ihn oberhalb der Armbeuge mit einer Gummimanschette. In diesem Augenblick erwachte das Opfer aus seiner Bewußtlosigkeit, in die es das tiefe Entsetzen nach dem ersten Aufwachen gestoßen hatte. Laura sah Argyll dicht neben sich stehen und registrierte voller Furcht, daß er sich anschickte, eine große Hohlnadel in ihre Vene zu stechen, um Blut abzuzapfen. Bevor ihr wieder die Sinne schwanden, rief sie mit gellender Stimme: »Erik! Glen! Helft mir doch!« Begierig und rücksichtslos stach Argyll zu. Wie ein kleiner roter Wasserfall ergoß sich die rauchende Flüssigkeit in die von einem Diener gehaltene Kristallkaraffe. Aufmerksam beobachtete Argyll das immer wächserner werdende Gesicht der stillen Gestalt. Nachdem er ihr einen Liter entnommen hatte, hielt er inne und zog die Kanüle aus der Vene. Wieder öffnete sich die Portaltür, ein Diener trat herein. Er trug vorsichtig einen kleinen silbernen Kessel, aus dem es heftig dampfte. Mit demütiger Gebärde stellte er das Gefäß vor Argyll ab. Der nahm mit feierlicher Miene die Kristallkaraffe und schüttete den Inhalt in das dampfende Gefäß. In dem Kessel fing es heftig an zu brodeln, rötlicher Dampf entwich in starken Schwaden. Im selben Augenblick kam in die bewegungslos verharrende dunkle Wolke an der Decke gespenstisches Leben. Blitzschnell sandte sie einige Fühler aus, die gierig nach dem hochsteigenden Dampf griffen. Er war im Nu aufgesogen. Langsam, zollweise senkte sich die unheimliche Schwärze nach unten. Inzwischen war der Inhalt des kleinen Kessels auf die bereitstehenden Gläser verteilt worden. Dunkelrot schimmerte es durch die glitzernden Wände. Hoch hob Argyll sein Glas empor und rief mit ekstatischer Stimme: 114 �
»Trinken wir auf das neue Mitglied unseres Ordens, das bald völlig zu uns gehören wird!« Er blickte auf das dunkle Gebilde, das sich immer mehr auf Laura herabsenkte. Dann trank er das Glas in einem Zuge leer. Seine Sklaven folgten dem Beispiel. Kurz darauf setzte die Erneuerungsphase ein. Argyll spürte es als erster. Gleich würde die Erstarrung eintreten. Während dieser Zeit würde er zwar sehen und hören, aber sich nicht rühren können. Er wußte, daß dies seine Achillesferse war. Alle Versuche, die er bisher unternommen hatte, um den Erstarrungsvorgang zu verhindern, waren ergebnislos geblieben. Trotzdem nahm er diesen Zustand gerne in Kauf, denn nur durch diese ständigen Erneuerungen konnte er ewiges Leben gewinnen. Fast sein ganzes bisheriges Leben hatte er gebraucht, um diese Mixtur zu finden. Er fühlte, wie die Starre in ihm hochkroch und sich mehr und mehr in seinem Körper auszubreiten begann. Gut, daß dieser unangenehme Zustand nur wenige Minuten währte. Bei seinen vierzig »Jüngern« hatte der Trank schon gewirkt. Starr aufgerichtet saßen sie in ihren Sesseln, bekleideten Wachsfiguren vergleichbar. * Auf diesen Augenblick hatte Rhianonn gewartet. »Schnell!« zischte er zu Blair hinüber. »Der Zeitpunkt ist gekommen!« Sie verließen ihre schützende Deckung und rannten, ohne auf die starren Gestalten zu achten, auf den weißen Block mit der bleichen Gestalt zu. Kurz bevor sie ihr Ziel erreichten, sah Rhianonn, daß es in der dampfähnlichen schwarzen Substanz über Laura unruhig wurde. An mehreren Stellen bildeten sich tentakelähnliche Fühler, die nach dem Körper der Frau tasteten. 115 �
Das höllische Zeug scheint Angst zu haben, daß ihm sein sicher geglaubtes Opfer noch entrissen wird, dachte Rhianonn mit bösem Lächeln. Er reagierte gedankenschnell, riß seinen Revolver hoch und schoß mehrere der geweihten Projektile in die wild wogende Schwärze. Das Kruzifix hing deutlich sichtbar auf seiner Brust. In dem dunklen Dampf begann es zu arbeiten. Wie von schweren Krämpfen geschüttelt, zuckte er unruhig hin und her, als wollte er sich von einer unsichtbaren Fessel befreien, die ihn gewaltsam festhielt. Plötzlich zog er sich blitzschnell zusammen und breitete sich jäh wieder aus. Dies wiederholte sich einige Male. Dann wurde die Bewegung schwächer, kraftloser. Langsam begann das Gebilde kleiner zu werden. Je mehr von der »Wolke« im Nichts verschwand, um so schneller verlief der Schrumpfungsprozeß. Nur noch wenige Sekunden dauerte es, bis das finstere Gebilde vollends verschwunden war. Blair hatte diesen schaurigen Vorgang nur halb wahrgenommen. Seine ganze Aufmerksamkeit galt Laura, die wie eine Tote auf ihrem steinernen Bett lag. Mit heißer Angst faßte er nach ihrem Handgelenk. Erleichtert spürte er ein mattes, langsames Klopfen. Gott sei Dank, sie lebt! Er raffte einen kleinen Teppich vom Boden und wickelte sie rasch darin ein. Unwillkürlich blickte er zu der starren Gestalt Argylls hinüber. Er prallte zurück vor dem Strom heißen Hasses, der ihm aus dessen Augen entgegenlohte. Als er den Blick abwandte und zu den stummen Gestalten an den Tischen hinübersah, fühlte er es eisig seinen Rücken hinunterlaufen. Die Zerstörung der schwarzen Substanz hatte auch für die Sklaven Argylls eine grausige Konsequenz. Sie alterten mit unbeschreiblicher Geschwindigkeit. Der ekelhafte Zerfallprozeß 116 �
begann bei den Augen. Die aus ihnen leuchtende rote Glut verschwand und wurde stumpf. Langsam versanken die Augäpfel in ihren Höhlen. Die Gesichtshaut wurde zuerst faltig, dann rissig und runzelig, später löste sie sich und fiel als feiner weißer Staub zu Boden. Die eleganten Abendkleider und Fracks saßen nach kurzen Augenblicken nur noch auf Skeletten. Die Knochen lösten sich voneinander und krachten polternd auf den Boden, bedeckt von schwarzem Tuch und weißer Seide. Dann überstürzten sich die Ereignisse. Eine Fensterscheibe zerbrach mit lautem Klirren, und es fielen mehrere Schüsse. Von Inspektor Blair wich die Lähmung, die ihn bei dem unfaßlichen Anblick befallen hatte. Er wirbelte herum. Hinter ihm stand ein livrierter Diener mit einem erhobenen Beil. Am Fenster, knapp fünf Schritt von dem Diener entfernt, stand Sergeant Apsley mit einem Revolver in der ausgestreckten Hand. Er hatte geschossen, als er sah, daß Blair in Gefahr war, erschlagen zu werden. Der Diener hatte sich von hinten an ihn herangeschlichen. Doch die Schüsse des Sergeant hatten gut getroffen. Das Beil fiel ihm aus der Hand, er stürzte. Kurz darauf zeigten sich dieselben Auflösungserscheinungen, die Blair schon von seinem ersten Erlebnis her kannte. Die Diener mußten scheinbar anders geartet sein als die Lebewesen, deren Asche jetzt vor den Tischen liegt, dachte Blair. Auch die seltsame Musik war seit dem Tod von Argylls Sklaven nicht mehr zu hören. Kaum hatte Blairs Gehirn diese Eindrücke verdaut, hörte er ein höhnisches Lachen von der Seite. Es war Argyll, der die Erstarrungsphase überwunden hatte. Mit großen Sätzen eilte er dem Ausgang zu. Wie auf ein geheimes Kommando hoben Rhianonn und der Inspektor ihre Revolver und schossen mehrmals hintereinander auf die fliehende Gestalt. Doch was bei seinen Dienern so erfolgreich funktioniert hatte, versagte hier völlig. Die Kugeln 117 �
prallten von seinem Körper ab und fielen wirkungslos zu Boden. Wieder ertönte das höhnische Lachen. Als Argyll die Tür erreicht hatte, drehte er sich um und schüttelte drohend seine Fäuste. Dann war er verschwunden. »Hinterher! Schnell!« Mit großen Schritten rannte Rhianonn dem Flüchtenden nach. »Bringe Laura in Sicherheit!« rief Blair dem Sergeant zu. Dann machte er sich ebenfalls an die Verfolgung. Rhianonn war dicht hinter Argyll. Die Jagd führte durch den breiten Korridor, die kleine Vorhalle, den schmalen Gang zu der spitzbogigen Metalltür, die noch offen stand. Der Professor stürmte in den dunklen Raum. Rhianonn kam zu spät. Als er in Argylls Schlafzimmer stand, konnte er gerade noch sehen, wie sich die Schranktür vor dem Aufzug schloß. Dann hörte er, wie innen die Verriegelung zuschnappte. Sollte mir dieser Satan doch noch entkommen? dachte er verzweifelt. Er riß ein kleines marmornes Tischchen hoch und schmetterte es mit verbissener Wut so lange gegen die Tür, bis ein Stück der Füllung ausbrach. Als er durch das Loch schaute, konnte er gerade noch den Aufzug in die Tiefe gleiten sehen. Da kam Blair. »Was ist mit ihm?« fragte er. Im Gesicht des Privatgelehrten stand bittere Enttäuschung geschrieben. Mit einer müden Handbewegung wies er auf die halbzertrümmerte Tür und sagte tonlos: »Er ist mir entwischt.« Kaum hatte er den Satz beendet, schwankte unter ihnen der Boden. Die entsetzten Männer vernahmen tief unter sich ein unheilverkündendes Grollen. Eine riesige Stichflamme schoß den Aufzugschacht nach oben. Die Wucht der Explosion war so stark, daß die Schranktür auseinanderbrach wie ein morsches Stück Holz und die Fenster aus ihren Füllungen gerissen wurden. Ätzender, gelblicher Qualm 118 �
drang durch die Schachtöffnung in den Raum. Blair und Rhianonn hatten fluchtartig das Zimmer verlassen und rannten um ihr Leben. Links und rechts von ihnen schwankten die Mauern, das Gebälk ächzte und stöhnte. Der brandige Geruch wurde immer stärker. Tief unten im Berg mußte die Hölle los sein. Wieder bebte der Boden. Von irgendwoher hörten sie ein schmetterndes Krachen. Nur schnell weg, bevor der ganze Kasten zusammenkracht! dachte Blair, Hastig schaute er sich nach Rhianonn um. Er war dicht hinter ihm. Hoffentlich war Dave mit Laura in Sicherheit. Quälende Sorge erfüllte ihn. Als sie endlich den Schloßhof erreichten, wurde die Erde wie von schweren Krämpfen geschüttelt. Der ganze Boden geriet in wellenförmige Bewegung. Die wenigen heil gebliebenen Fensterscheiben zersprangen mit hellem Klirren, das dumpfe Geräusch berstender Mauern erfüllte die Luft. Die beiden Männer stürmten dem rettenden Ausgang zu. Das Tor war durch die heftigen Erschütterungen aus der Verankerung gerissen worden und lag verbogen auf der Erde. Sie hetzten nach draußen. Kaum waren sie einige hundert Yards weiter, fühlten sie sich wie von einer riesigen Faust gepackt und zu Boden geworfen. Als sie sich mühsam aufgerappelt hatten und zurückschauten, sahen sie den Ort der Verwüstung in hochschießende Flammen eingehüllt. Glyndale Castle war in kürzester Zeit so vollkommen wie nur möglich vernichtet worden. Ein Wunder, daß sie verschont geblieben waren. Als sie quälende Gedanken an Laura und Apsley überfallen wollten, hörten sie eine heisere Stimme vor sich nach ihnen rufen. Es war Apsley. Er saß auf dem Boden und hatte Lauras Kopf in seinem Schoß liegen. Ihr Körper war immer noch in den Teppich eingehüllt, den ihr Blair im Schloß umgelegt hatte. Sie war noch bewußtlos. 119 �
Mit rauchgeschwärzten Gesichtern starrten die drei Männer in das wabernde Flammenmeer. »Ob der alte Satan das wohl überstanden hat?« fragte Blair halblaut. »Ich kann es mir nur schlecht vorstellen«, erwiderte Rhianonn. »Selbst seine finsteren Fähigkeiten dürften ihn vor seinem Schicksal nicht bewahrt haben.« »Es muß im Laboratorium angefangen haben«, murmelte Blair nachdenklich. »Unsere Sprengung hatte dort unten viel zertrümmert. Substanzen werden sich vereinigt haben, die in ihrer Verschmelzung ein höllisches Gebräu abgeben, Wahrscheinlich ist Argyll mit der Aufzugkabine direkt in die Detonation hineingefahren.« »Man kann auch sagen, Argyll ist in die Hölle gefahren und von seinem Herrn und Meister unten behalten worden«, bemerkte Apsley. Wieder schwiegen die drei Männer. Die schrecklichen Geschehnisse in den vergangenen Stunden hafteten noch zu stark in ihrem Gedächtnis und machten sie stumm. Unendlich behutsam nahm Blair Laura vom Boden hoch. Dann machten sich die Männer auf den langen Weg nach Thursochillis. * Es war zwei Monate später. Der beginnende Herbst malte seine farbigen Ornamente. Vom Hochland wehte ein rauher Wind über Inverness. Inspektor Apsley schaute verdrießlich aus dem Fenster seines Büros, das er jetzt allein benutzen durfte. Die räumliche Trennung von Glen paßte ihm überhaupt nicht. Irgendwie kam er sich in dem großen Raum verloren vor. Aber es ging nicht 120 �
anders, und er gönnte Glen die Beförderung zum Chiefinspektor. In seinen Augen funkelte es voller Schadenfreude. Bancroft war nach Edinburgh strafversetzt worden. Nicht nur die unmögliche Behandlung des Falles Argyll hatte dazu geführt, sondern auch andere Verfehlungen, die durch verschiedene Zufälle aufgedeckt wurden. Aus der Heirat mit der reichen Brauereitochter war ebenfalls nichts geworden. Selbst Glens besondere Freunde von der ›Daily News‹ hatten wenn auch sicher mit sauren Gesichtern nicht umhin können, ihm nach der Rettung von Laura Rhianonn seitenlange Reportagen zu widmen. Der Inspektor lächelte spitzbübisch. In zwei Wochen war Verlobung. Er freute sich. Es war höchste Zeit, daß Glen unter die Haube kam. Aus ihm wäre sonst noch ein mißlauniger ewiger Junggeselle geworden. Heiliger Dunstan! Endlich hatte es ihn erwischt. ENDE
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