Dragon - Söhne von Atlantis Nr. 10
Stadt der verlorenen Seelen von Hugh Walker
Die Hauptpersonen des Romans: Dragon –...
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Dragon - Söhne von Atlantis Nr. 10
Stadt der verlorenen Seelen von Hugh Walker
Die Hauptpersonen des Romans: Dragon – Der Atlanter stellt sich Zogors »Seeheer« entgegen. Zogor – Der König von Myra startet einen Rachezug. Zamoc – Cnossos in der Gestalt eines Magiers. Yina, Kim und Kano – Drei junge Menschen mit besonderen Fähigkeiten. Kelkari – Befehlshaber eines myranischen Heeres. Seit dem großen Inferno, in dem die kontinentgroße Insel Atlantis in den Fluten des Meeres versank, sind rund zwei Jahrtausende verstrichen. Obwohl dies für die größtenteils primitiven und barbarischen Völker auf den übrigen Kontinenten der Erde eine lange Zeitspanne ist, lebt unter den Menschen die Erinnerung an Atlantis noch fort. Legenden und Mythen gehen durch die Lande, in denen vom »Goldenen Zeitalter« berichtet wird. Selbst ein echter Atlanter existiert noch auf der Erde - Dragon, genannt der »Schlafende Gott«. Ihn erweckte Amee, Prinzessin von Urgor, zu neuem Leben und neuen Taten. Aber Dragon, der aufgrund seiner langen Hibernation noch nicht im Vollbesitz seiner Erinnerungen ist, hat es schwer, gegen den Balamiter zu bestehen. Denn Cnossos, Dragons alter Gegenspieler und Hauptverantwortlicher für den Untergang von Atlantis, hat während seines unfreiwilligen 2000jährigen Exils Zeit genug gehabt, sich an vielen Orten der Erde als mächtiger Herrscher zu etablieren. Dennoch hat der Atlanter es fertiggebracht, seinem Gegenspieler bereits mehrere empfindliche Schläge zu versetzen und Cnossos sogar fast gänzlich auszuschalten. Nun aber ist der Balamiter wieder am Zug. Ein mächtiger König wird zum Werkzeug eines Magiers, dessen Waffen Mord und Intrige sind. Und das Unheil, das sich Urgor nähert, nimmt seinen Ausgang in der STADT DER VERLORENEN SEELEN ...
1.
Sieben Reiter suchten ihren Weg durch die mondhelle Nacht. Die Welt um sie war eine von spitzen Schatten, von schmalen, trügerischen Pfaden und gefährlichen Abgründen. Dennoch war der Schritt der Pferde gleichmäßig und ohne Zaudern. Die Reiter selbst muteten wie ein Teil der Nacht an, in ihren schwarzen Umhängen und mit den kahlgeschorenen bleichen Schädeln. Obwohl es kalt war, daß der Atem der Pferde in kleinen, dampfenden Wolken von ihren Mäulern rauchte, schienen die Männer nichts davon zu fühlen. Nur der Anführer hatte die Kapuze seines Umhanges über den schwarzen Haarschopf gezogen. Sein Reittier war auch das einzige, das gelegentlich tänzelte und dem Reiter eine Kette halblauter Verwünschungen entlockte. Hinter ihnen ragte mächtig der Tafelberg hoch, auf dem sich die Ruinen Bo-gahs gegen den helleren Himmel abhoben. Als die Reiter den Talgrund erreichten, blickte der Anführer schaudernd hoch zu den ausgezackten Mauern, aber seine Gefährten drängten ihn schweigend voran. In raschem Tempo ritten sie nach Nordwesten. Sie folgten einem schmalen Rinnsal, das schließlich im Waldboden verschwand. Eine Stunde ritten sie einen kaum erkennbaren Weg entlang. Als die Reiter schließlich den Wald verließen, lag ebeneres Gelände vor ihnen – und eine Hütte, die aus groben Blöcken gefügt war.
Der Anführer hob die Hand. Die Pferde hielten schnaubend. Er hieß seine Begleiter absteigen. Eine Weile warteten sie, aber nichts regte sich in der Hütte. Auf ein weiteres Zeichen des Anführers schritten fünf der Männer auf die Behausung zu, während der sechste die Zügel der Pferde nahm. Gleich darauf hatten sie die Eingangstür erreicht. Das Pochen war deutlich bis zum Waldrand zu hören. Eine Weile war Stille – dann erneutes Pochen. Im nächsten Augenblick fiel ein Lichtschimmer durch die Ritzen der Fensterbalken. »Wer ist draußen?« fragte eine männliche Stimme. »Bist du Zamoc, der Magier?« fragte einer der Ankömmlinge. »Der bin ich. Und wer bist du?« »Wir sind Männer des Königs. Wir brauchen deinen Rat. Öffne uns getrost ...!« »Wessen Königs Männer seid ihr?« fragte der Magier vorsichtig. »Es gibt nur einen König in diesem Land, alter Mann. König Zogor. Und jetzt öffne endlich. Wir sind müde und frieren. Willst du die Getreuen des Königs noch länger vor deiner Tür stehen lassen?« Das Geräusch eines Riegels erklang, der zur Seite geschoben wurde. Dann ging die Tür knarrend auf. Eine hell gekleidete Gestalt kam heraus. »Bei allen Göttern, ihr scheint es aber ...« Die Worte erstarben auf seinen Lippen, als er erkannte, wem er gegenüberstand. Er wich zurück. Aber die Männer ergriffen ihn, bevor er in sein Haus zurückkonnte. Der Anführer der Männer setzte sich in Bewegung und ging auf die Gruppe zu. Er hatte es nicht eilig. Er winkte den Männern. Sie schoben den Alten ins Haus, ohne ihn loszulassen.
Er folgte ihnen und verriegelte die Tür. Der Raum war behaglich im ruhigen Licht der Ölflamme, und voll seltsamer Dinge – getrockneter Pflanzen, kahler Tierschädel, unzähliger kleiner Tonkrüge, gebrannter Figuren und anderer Gegenstände, deren Bedeutung nicht zu erraten war. »Wer ... seid ihr?« krächzte der alte Mann. Sein faltiges Gesicht war weiß wie sein Haar. Angst loderte in seinen Augen. Angst vor den starren, teilnahmslosen Gesichtern rundum und den kalten, unmenschlichen Fäusten, die ihn hielten. »Kennst du sie nicht, die Diener des einzigen wahren Gottes?« sagte der Anführer. »Dann sind die alten Legenden wahr?« stammelte der Alte. »So wahr wie die Götter selbst. Der Gott der vielen Namen ist zurückgekehrt nach Bo-gah. Und er hat mich, Urak, seinen obersten Priester, zu dir gesandt, um dich zu holen.« »Mich zu holen?« rief Zamoc aus. »Ja, Alter. Er hat große Pläne mit dir.« Urak lachte kalt. »Du wirst ihm sehr nützlich sein ...« Wütend schüttelte der Alte sich, ohne aus den Griffen der Männer freizukommen. »Sage diesem Scharlatan der vielen Namen und seinen bedauernswerten untoten Dienern, daß er wohl meinen Körper beherrschen mag mit seinen unheiligen Kräften, aber niemals meinen Geist ...!« Urak grinste, während er sein Schwert zog. »Der Körper genügt ganz und gar, Alter. Den Geist kannst du mit dir nehmen!« Er lachte und stieß Zamoc das krumme Schwert in die Brust. Der alte Magier öffnete den Mund zu einem Schrei, aber kein Laut kam. Seine Augen weiteten sich mit der Erkenntnis des Todes. Er bäumte sich auf und sank mit
einem langen, röchelnden Seufzen zusammen. Von den Untoten kam keine Regung. Sie hielten den Sterbenden teilnahmslos fest und wichen nicht aus, als Urak sein Schwert herauszog und ein breiter Blutstrahl ihre Füße mit dunklem Rot übergoß. Eine Weile starrte Urak auf den leblosen Körper. Der Spott war aus seinen kleinen Augen gewichen und hatte einer Genugtuung Platz gemacht. Er reinigte sein Schwert an dem grauen Gewand des Magiers. »Er ist tot. Schafft ihn auf die Pferde!« Vier der Untoten hoben ihn hoch und trugen ihn aus der Hütte. Der fünfte starrte Urak mit funkelnden schwarzen Augen an und sagte mit deutlichem Spott in der Stimme: »Ah, mein Priester. Hast du es genossen?« Urak schrak zusammen. Er erkannte, daß es Cnossos‘ Stimme war, die aus dem Uh-toth sprach. »Was, Herr?« »Die Macht, mein Priester! Die Macht über Leben und Tod!« »J-ja, Herr.« »Oder war es nur das Töten?« Urak zitterte. »N-nein. Gewiß nicht, Herr ...« »Warum hast du ihn getötet? Sagte ich nicht, du solltest ihn tot oder lebendig nach Bo-gah schaffen?« »Es ... war so leicht ... und ... er verhöhnte dich, Herr ...« »Du hast gehandelt, als hätte er dich verhöhnt.« »Der Hohn, der dir gilt, gilt auch mir, Herr.« »Dein Herz ist immer rascher als dein Verstand, mein Priester. Das habe ich schätzen gelernt.« Cnossos lachte, und Urak atmete auf. Er wußte, daß Spott die menschlichste Regung war, der diese mächtige Gottheit aus dem Kosmos jenseits der Welt der Menschen jemals Ausdruck verlieh. Und es bedeutete, daß er seinem Priester nicht zürnte.
»Beseitigt das Blut. Nichts soll auf Gewalt hinweisen.« »Ja, Herr«, erwiderte Urak gehorsam. Der Untote begann mit einer der Decken des Lagers den Boden zu säubern, und Urak erkannte erleichtert, daß Cnossos ihn verlassen hatte. So beruhigend es war, zu wissen, daß sein Gott über ihn wachte, so beunruhigend war es andererseits, jeden seiner Schritte beobachtet zu wissen. Es war nicht leicht, der erste Diener seines Gottes zu sein. Wie früher auf Koroskhyr hatte er auch hier in Bo-gah keine menschlichen Geschöpfe in seiner Gesellschaft. Was an den Untoten einst menschlich gewesen war, blieb nun allein dem göttlichen Ergötzen vorbehalten, denn äußerlich war ihre Gestalt das einzige, das entfernt an Menschen erinnerte. Ihre Blutlosigkeit, ihre kalte Bleiche, ihre schweigenden Kehlen und Lungen, ihr magisches Fleisch, das sich nach einem Schwertstreich wieder schloß, ihre schwarzen Augen, die niemals schliefen – das alles ließ ihn schaudern, wenn er es bewußt wahrnahm. Daß Cnossos‘ Kraft in ihnen schlummerte, machte sie zu übermenschlichen, wenn auch nicht unsterblichen Begleitern und Helfern. Aber Urak war zu sehr Mensch, um nicht die uralte Angst der Menschen vor Dämonen und Wesen zwischen Leben und Tod zu empfinden. Bo-gah – die Stadt der verlorenen Seelen. Bo-gah, von der die Menschen am Kisil erzählten, daß in mondhellen Nächten die Toten in ihren Gräbern flüsterten und Antwort gaben auf die Fragen der Lebenden. Als Urak und seine Begleiter mit dem toten Magier durch das verfallene Steintor ritten, flüsterte nur der Wind in den alten rissigen Mauern. Doch Urak dachte
schaudernd, daß es wie Stimmen klang, und sein Blick glitt zum hellen Mond empor. Ja, es war solch eine Nacht! Er schüttelte die instinktive Furcht ab. Was in diesen Ruinen atmete und lebte – oder nicht atmete und ebenso lebte, war Cnossos‘ Geschöpf und würde sich nicht gegen seinen Priester wenden. Die nächtlichen Ruinen schienen zu lauern mit ihren faltigen, uralten Gesichtern, mit schwarzen, leeren Fensteröffnungen wie die Augen der Untoten, und mit alten, lockenden Toren durch die seit Jahrhunderten niemand trat und die in steinübersäte Gärten führten, in denen seltsame Sträucher wucherten. Sie ritten eine breite Säulenallee entlang, wohl einst die Prunkstraße Bo-gahs, auf der Könige und Fürsten in die Stadt zogen und Soldaten einer längst vergangenen Zeit paradierten. Nun lagen überall Steinblocke und Schutt, und auf den wenigen ganz gebliebenen Säulen sah man nur noch Reste von kauernden Figuren, die einst Götter oder Könige gewesen sein mochten. Überall war deutlich, daß die Stadt ein gewaltsames Ende gefunden hatte. Nicht Menschenhand, sondern die Dämonen der Erde selbst hatten sie vernichtet. Ein zwölf Schritte breiter, tiefer Spalt trennte die Stadt in zwei Teile. Die Legende berichtete, daß der letzte König zwei Söhne hatte, die von Herrschsucht getrieben ihren Vater erschlugen und dann um das Erbe in Zank gerieten. Sie stachelten das Volk zu einem Bruderkrieg auf. Aber in der Nacht vor dem blutigen Kampf erbebte die Erde, und der Boden öffnete sich und verschlang viele, die sich zum Kampf gerüstet hatten. Und nach dem Willen der Götter zerfiel die Stadt in zwei gleiche Teile. Die Bewohner aber flohen. Vor dem Palast, der am meisten der Zerstörung standgehalten hatte, stiegen Urak und seine untoten Begleiter
von den Pferden. Sie trugen Zamocs Leiche die steilen Treppen hoch und durch das gewaltige Tor ins Innere. In der prunklosen, notdürftig gesäuberten Halle warteten bereits mehrere Uh-toths, die den Ankommenden die Leiche abnahmen. Einer sprach mit Cnossos‘ Stimme zu Urak: »Laß einige meiner Diener Wache halten. Du selbst magst ruhen, mein Priester ...« Urak lachte lustlos. »Ruhen, Herr?« Er schüttelte sich. »Wie soll man in dieser verdammten Stadt Ruhe finden? Warum befiehlst du ihnen nicht zu schweigen, Herr?« »Wem sollte ich das wohl befehlen? Meine Diener schweigen ...« »Nein, ich meine nicht deine Uh-toths, Herr. Ich meine jene da draußen unter der Erde, unter den Steinen ... die Toten, Herr ... sie flüstern und tuscheln ... und wenn man aufmerksam lauscht, vermeint man ihre Worte zu verstehen ...« »Hast du aufmerksam gelauscht?« »Nein, Herr ...« »Warum nicht, mein Priester?« »Ich habe Angst davor ...« Cnossos lachte mit dem Mund des Untoten. »Da ist niemand unter der Erde, der zu flüstern vermöchte. Nur der Wind fährt in den Spalt und in die unterirdischen Kammern und Gänge. Und die Sprache des Windes hat noch keiner zu deuten vermocht, auch wenn er noch so aufmerksam lauschte. Sei guten Mutes, mein Priester. In wenigen Tagen werde ich bereit sein. Dann verlassen wir diese Stadt.« »Wir gehen fort, Herr?« fragte Urak erfreut. »Wir werden den König von Myra in unsere Dienste nehmen. An dieses Jahr der Schlange werden die Men
schen noch lange denken. Es wird Urgor in Flammen sehen – und Dragon in meiner Hand ...« »Und Amee in meiner ...?« wagte Urak einzuwerfen. Der Gott der vielen Namen lachte erneut. »Und Amee in deiner, mein Priester«, stimmte er zu. In der Mittagssonne brütete Bo-gah wie ein riesiges steinernes Ungeheuer inmitten der Berge. Es lag wohl daran, daß auf den umliegenden Hängen stellenweise Wald war, während auf der Hochebene von Bo-gah kein Baum und kein Strauch wuchsen. Und wie auch im Mondlicht warfen die großen ausgezackten Blöcke und halbzerfallenen Mauern düstere Schatten, in denen Gewürm nistete und Spinnen so groß wie die Hand eines Mannes. Urak empfand keinen Ekel, nur eine ständig lauernde Angst. Daß der Wind durch die Kluft in die unterirdischen Gänge dringen konnte und das Flüstern und Zischeln von ihm kam, leuchtete dem Priester ein. Dennoch fühlte er eine ungreifbare Drohung, die von der Stadt ausging. Diese langen Tage und Nächte in Bo-gah, während Cnossos in den unterirdischen Gewölben des Palastes geheimnisvolle Vorbereitungen traf, fand Urak keine Ruhe. Es stimmte, was die Menschen sagten: Die toten Seelen machten jeden verrückt, der in der Stadt länger verweilte. Viele hatten es versucht, auf der Suche nach Schätzen in den Trümmern. Aber nur wenige waren zurückgekehrt, und ihr verwirrter Geist berichtete von den Seelen der Toten, deren Stimmen niemals verstummten. Vielleicht, dachte Urak, hatten sie die Untoten gesehen, die seit Jahrhunderten in den Ruinen hausten und zu ihrem Scheinleben erwachten, wenn ihr Meister in der Nähe war. 10
Auch die Tatenlosigkeit machte Urak zu schaffen. Während sein Herr den Körper regenerierte, empfand Urak die Einsamkeit als drückende Last. Er, der sich immer abgesondert hatte, sehnte sich nun nach einem Gefährten in diesen dämonischen Gefilden. Er dachte an das Tempelleben in Urgor zurück, an die anderen dunklen Wächter, an die Intrigen, die nächtlichen, blutigen Geschäfte unter und in den Straßen Urgors. Einsamkeit mitten unter den Menschen war etwas anderes als Einsamkeit in dieser Wildnis aus Stein und Tod. Nur die festen Bande hielten ihn, die ihn an seinen Gott knüpften: Furcht und das zeitweilige Gefühl der Macht, mit dem sein Gott seine Treue lohnte! Und das Bewußtsein, daß er der oberste Priester des Gottes der vielen Namen war – wenigstens in diesem Teil der Welt. Was auch kommen mochte, er würde diesen Platz behaupten ... Aus dem Palast trat eine Gestalt. Urak kniff die Augen zusammen. Ein alter Mann mit weißem Haar und einem schmutziggrauen Umhang ... Urak sprang auf. Hastig sah er sich um und erkannte fluchend, daß keiner der Uh-toths in Sicht war. Sie standen Wache an den Stadtmauern und am Tor. Der alte Mann kam auf ihn zu. Uraks letzte Zweifel schwanden. Da kam Zamoc einhergeschritten, als hätte er nie das kalte Eisen des Schwertes gefühlt! Er merkte, wie Kälte in seinem Rücken hochkroch. Was war geschehen? Hatte Cnossos ihn wiedererweckt? Oder – aber nein, das war absurd! Der Magier war tot gewesen, daran bestand kein Zweifel. Oder besaß der alte Kauz Kräfte, die man seiner gebrechlichen Gestalt nicht ansah? Kalter Schweiß ließ ihn frösteln! Dann kam der Alte, um sich zu rächen ...! 11
Urak riß sein Schwert aus der Hülle und trat auf die Straße. Diesmal würde er dafür sorgen, daß es keine Rückkehr ins Leben gab. Er würde ihn töten wie einen Uh-toth: ein Schnitt quer über die Kehle, der den Kopf vom Rumpf trennte ... Zamoc kam furchtlos heran. Ein spöttischer Blick war in seinen Augen. »Denkst du, daß dein Schwert diesmal mehr vermag?« sagte er. Urak starrte ihn unsicher an. »Vielleicht«, gab er zur Antwort. »Mit Cnossos Hilfe!« Der Magier sah ihn starr an. »Cnossos ist nicht mehr. Es gibt nur noch Zamoc. Merke es dir wohl ...« »Was soll das bedeuten: Cnossos ist nicht mehr?« rief Urak grimmig. Und als der Alte keine Antwort gab, fuhr er fort: »Es gibt nur noch Zamoc, nah?« Er hob blitzschnell das Schwert und schlug zu. Der Schädel des Magiers rollte in den Staub. »Da irrst du gewaltig, alter Narr ...!« Er hielt inne, als er sah, daß kein Blut aus dem Halsstumpf kam. Es war, als hätte er einen Untoten enthauptet! Hatte Cnossos einen Untoten aus ihm gemacht? Sein Grauen stieg noch, als der Kopflose sich bückte, nach dem Schädel griff und ihn auf den Rumpf setzte, wo der Schnitt sofort zu verschmelzen begann. Das war mehr als die Uh-toths vermochten. Im nächsten Augenblick sprach der Magier wieder, und nahm Urak alle Zweifel, wen er vor sich hatte. »Dein Schwert ist immer rascher als dein Verstand, mein Priester ...« »Herr!« entfuhr Urak. Er sank in die Knie. »Herr, verzeih mir. Ich dachte, es ...« »Es wäre wahrhaftig Zamoc?« Cnossos lachte. »Auferstanden von den Toten, um an dir Rache zu nehmen? Das ist wohl eine eurer größten Ängste – daß die Toten wiederkehren könnten, um Rache zu nehmen! Ist nicht 12
die Wirklichkeit naheliegender, daß ich Zamocs Gestalt annahm? Bin ich nicht auch in Obads Gestalt erschienen, um die Falle für Dragon vorzubereiten? Damals fiel es dir leichter, deinen Gott zu erkennen« »Da wußte ich, daß Obad tot war. Herr ...« »Wußtest du nicht auch, daß Zamoc tot war? Hast du ihn nicht selbst getötet?« »Ja, Herr ... und dennoch ...« Urak schüttelte verwundert den Kopf. »Zweifelst du an meiner Macht, Priester?« Cnossos‘ Stimme klang kalt. »Nein, Herr ...!« beeilte sich Urak zu versichern. »Aber nun sind wir schon mehr als drei Monde in dieser verfluchten Stadt, und das ist mehr als ein Mensch ertragen kann. Ich weiß nicht mehr, was wirklich ist, und was Spuk.. Zamoc – Cnossos musterte seinen Priester spöttisch. Dann sagte er: »Du hast recht, mein Priester. Wir wollen keine Zeit mehr vergeuden. König Zogor dürstet nach Rache. Er soll sie haben, seine Rache. Mir aber soll er einen Tempel bauen. Den größten, den Myra je gesehen hat. Und Dragon wird das erste Opfer sein, das seinen Altar ziert ...!«
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2.
Mehr als ein hundert Dutzend Öllampen und Fackeln und Kerzen ließen den Königspalast hoch über der Stadt in der Abenddämmerung wie ein kostbares Juwel erstrahlen. Auch die Stadt war heller als sonst, und ihre Lichter funkelten im ruhigen Wasser des Hafens, wo die schlanken Händlerboote mit den bunten Segeln ankerten und die bauchigen Kolosse der Galeeren für den Eroberungszug nach Dan bereitlagen. Kaum einer schlief in dieser Nacht der Festlichkeit in Myra. Der König feierte seinen Sieg über Urgor – der noch nicht errungen war – und nur die Götter mochten wissen, was alles geschah. Zwar war dieser Marsch gegen Urgor ein Kriegszug der Eitelkeit, das wußten nicht nur die Klügeren wohl zu deuten, aber solange Zogor über das myranische Reich herrschte, war seine Eitelkeit wie die Launen der Götter etwas Heiliges, Achtbares. So lautete das Gesetz. So befahl es die Furcht. Aber das Wort Eroberung besaß auch etwas Magisches – den Geschmack von Macht und Reichtum. Fast ein halbes Tausend Hundertschaften lagerte vor den Toren der Stadt, ein waffenstarrender Haufen, wie ihn Myra seit Jahrzehnten nicht mehr auf einem Fleck gesehen hatte. Und noch immer kamen Scharen von Kriegern aus dem Landesinnern, denn des Königs Boten hatten guten Sold versprochen und reiche Beute. So wuchs Zogors Heer von Stunde zu Stunde. Das Fest, das der König seinen Daikanen, seinen fürstlichen Statthaltern, gab, war jedoch nicht nur eine Demonstration der äußeren Macht des Reiches, sondern auch der inneren Gewalt, mit der er herrschte. Und wie 14
jeder gute Despot verstand er sie zu erschrecken und zu begeistern zugleich, denn er hatte zweierlei gelernt in den Jahren seiner Regentschaft: daß Furcht die beste Fessel war, und Begeisterung der beste Sklave. Er war sich aber einer Tatsache vollauf bewußt, über die auch keine noch so stürmische Begeisterung hinwegzutäuschen vermochte: Es gab keinen am Hof und keinen in Myras Mauern, der einen Funken Liebe für seinen König empfand. Seit er vor zwei Jahrzehnten den Thron gewaltsam an sich gerissen hatte, hatte er das myranische Reich wie ein Dämon regiert. Die Menschen fürchteten ihn. Aber mehr noch als ihn fürchteten sie, die starke Faust zu verlieren, mit der er das Reich zusammenhielt und im Laufe seiner Regentschaft erweiterte. Während er die gewaltige Halle von seinem Thronstuhl aus überblickte, wirkte er träge – eine behäbige, fette Kröte in einem leichten Musselin-Überwurf in den Staatsfarben. Sein jugendlich geschminktes Gesicht war starr, nur um seine Lippen war die Andeutung eines Lächeln. Die Finger seiner Linken spielten scheinbar gedankenverloren mit den Locken seines dunklen Haares. Aber ein Beobachter aus nächster Nähe konnte bemerken, daß seine Aufmerksamkeit auf den ersten der drei riesigen Tische gerichtet war, die die düstere Halle mit ihrem Licht wie breite goldene Pinselstriche teilten. Dort saßen die drei taurunischen Daikane in einem angeregten Gespräch begriffen; Sungur, der Statthalter Ermunoks, dessen geschorener Kopf den knöchernen Schädel glich, die den untersten ornamentalen Kranz des gewaltigen geschmiedeten Leuchters bildeten, der im Zentrum der Halle hing; neben ihm Kongli, der Daikan von Meynaral, ein hagerer Mann mit verschlossenem Gesicht und schlohweißem Haar; beiden gegenüber El 15
Haleb, Fürst der Siliker-Stämme, die sich vor kaum zwei Jahrhunderten an den Ufern des Göver-Flusses niedergelassen hatten. Seine schrägen Augen und die hohen Backenknochen wiesen auf eine Abstammung hin, die weit im Osten liegen mußte, woher die Händler Kunde von schlitzäugigen Reitervölkern brachten. Er war der jüngste der drei und der lebhafteste. Nicht einen Augenblick während des Gesprächs ruhten seine Hände. Seine Kleidung war die farbenprächtigste. Sein karmesinroter Umhang schien im Fackellicht zu fließen wie ein steter Strom von Blut, nur hie und da ausgelöscht von den Strähnen des langen schwarzen Haares. Einen großen Teil des Tisches hatten ihre Gefolgsleute mit Beschlag belegt. Gerade drei Dutzend zählten die Vasallen Myras. Und sie alle waren mit ihrem Gefolge an den drei Tafeln der Festhalle versammelt, um des Königs Pläne und Anordnungen zu erfahren. Nur ein gutes Dutzend hatte myranisches Blut in den Adern. Die anderen waren meist Nachkommen der einstigen Herrscher und Häuptlinge kleinerer Stadt – und Stammeskönigtümer, die dem Druck der ostwärtsströmenden myranischen Eroberer auf die eine oder andere Weise nachgeben mußten. Sklavinnen eilten zwischen den Tafeln hin und her und gossen aus großen Krügen dunkelroten, süßlichen Wein in die Becher. Zwischen dem Thron und den Tafeln befand sich ein freier Platz, auf dem zuvor drei schwarzhäutige Sklavinnen getanzt hatten. Aber dunkle Flecken auf den marmoren Platten ließen ahnen, daß dort nicht allein solch harmlose Vergnügungen stattfanden. Vor dem Thron saßen mit gekreuzten Beinen drei dunkelhäutige Männer von kleinen, fast zartem Wuchs. Ihre Augen waren demütig gesenkt, ihre Lippen verschlossen. Einer zupfte 16
an den Saiten eines lautenähnlichen Instrumentes, der zweite blies auf einer mehrlöcherigen Pfeife und der dritte schlug in langsamem Takt mit den Handflächen auf zwei Krüge, deren Öffnungen mit Tierhaut bespannt waren. Kaum einer achtete auf die leise, melodische Folge der Töne. Nur die reglose Gestalt am Thron schien sie zu vernehmen. Ein Gong ließ für einen Augenblick alle Gespräche ersterben. Eine Reihe Sklaven in einheitlichen weißen, knielangen Gewändern begannen Schüsseln und Speisereste des Festmahls von den Tafeln zu räumen und in riesigen Körben hinauszutragen. Langsam schwoll das Stimmengewirr wieder an. Zogor sah stirnrunzelnd, wie auch die drei Vertreter der südlichen Provinzen Ermunok, Meynaral und Silikhur ihr Gespräch wieder aufnahmen. Die ganze Zeit über, da er sie heimlich beobachtet hatte, war Mißtrauen in ihm gewachsen. Gewiß, die Provinzen an der Sudküste waren dem Reich ergeben und hatten nie Anlaß zum Einschreiten der Truppen gegeben. Das mochte auf die abschreckenden Maßnahmen zurückzuführen sein, mit denen er die Aufstände in Khisar und Akhir niedergeschlagen hatte. Vielleicht war sein Verdacht auch unbegründet. Doch wußte er, daß die Provinzen Seehandel mit dem östlichen Dan unterhielten. Es mochte auch mehr sein. Es galt, Vorsicht walten zu lassen und das Schwert nicht zu locker zu halten. Wenn er sie erschlug, mochte ihn das die Sympathien vieler anderer kosten. Das wäre im Augenblick kein gutes Omen. Aber es war ohnehin unwahrscheinlich, daß diese Kriecherbrut, die um seine Gunst buhlte, die Hand gegen ihn erhob. Da unten an der Küste standen fünfzigtausend Krieger bereit, auf sein Zeichen loszumarschieren. Vielleicht nicht für ihren König, aber doch für guten Sold und 17
Aussicht auf Beute. Was sollte es wohl diesseits oder jenseits der myranischen Grenzen geben, das ihn aufhalten konnte? Plötzlich sah er, wie eine der Weinsklavinnen sich diesem Ende der Tafel näherte und sich über El Halebs Schulter beugte. Keiner der drei Männer beachtete sie. Und das erschien dem König seltsam, denn sie tänzelte mit einer aufregenden Bewegung ihrer Hüften um den Silikerfürsten herum und beugte sich über Sungur, um einzuschenken. Als auch der keine Notiz nahm, zuckte sie die Achseln und begab sich an die nächste Tafel, wo ein junger Marmali-Krieger sie auf seinen Schoß zerrte. Zogor grinste. Er stieß den Pfeifer zu seinen Füßen unsanft. »Bring sie her!« »»Ja, Erhabener«, stammelte der Musikant und eilte auf die Tafel zu. Wahrlich, sie mußten ein wichtiges Gespräch führen, wenn sie das herausfordernde Gebaren der Sklavin nicht bemerkten! Er beobachtete den Pfeifer, der zögernd auf den Tisch zutrat und sich eine Weile vergeblich bemerkbar zu machen versuchte. Grinsend sah er, wie der kleine Kerl sich endlich ein Herz faßte und nach der Sklavin griff und sie den Fäusten des Kriegers zu entwinden versuchte. Nun wurde auch der Krieger aufmerksam und erwachte rasch aus seinem Taumel. Einen Augenblick schien es, als wollte er den Pfeifer schlagen. Er wußte nicht, wie nah er seinem Tod war, denn er sah nicht des Königs Hand halb hochzucken und die Bogenschützen in der schwindelnden Höhe einer Balustrade nahe der Decke der Halle ihr Ziel suchen. Ein warnender Zuruf seiner Kameraden hielt ihn zurück. Dann erst schien in sein Bewußtsein zu dringen, was vorging. Sein Gesicht wur18
de aschfahl, als er den Blick des Königs auf sich gerichtet sah. Er gab die Sklavin frei und wich von ihr zurück. Erheitert blickte Zogor der Sklavin entgegen, die nicht minder bleich mit dem Pfeifer auf den Thron zukam. Sie sank auf die Knie, preßte die Stirn auf den Boden, daß ihr langes, schwarzes Haar wie ein Schleier über ihr Haupt fiel und auf den Marmor. So verharrte sie schweigend. Die Stimmen waren verstummt. Aller Augen folgten dem Geschehen. Der König starrte stumm in die Runde. Dann klatschte er in die Hände. »Musik! Tänzer! Rasch!« Die drei Spielleute am Fuß des Throns setzten augenblicklich ein. Aus einem Gemach hinter dem Thron erschienen sieben junge Männer. Sie trugen rote Beinkleider und breite Gürtel, aus denen sie im Lauf krumme Schwerter rissen. Ein Kampf begann im Rhythmus der Trommel. Das Klingen der Schwerter wurde zu einem eingewebten Takt. Ihre Leiber tänzelten, zuckten im Schlag der Trommel. Plötzlich ein Aufstöhnen, das sich unter den Zuschauern fortsetzte. Einer der Tänzer sank zu Boden. Aus einem Schnitt quer über die Brust quoll Blut und tropfte auf den Marmor. Als König Zogor sah, daß die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf die jungen Tänzer gerichtet war, wandte er sich der Sklavin zu. »Wie heißt du?« »Dajna, erhabener Herr«, sagte sie, ohne den Kopf zu heben. »Laß dein Gesicht sehen, Sklavin!« Gehorsam sah sie zu ihm hoch, bleich und unsicher. Die Aufmerksamkeit des Königs war gefährlich, das 19
hatte sie am Hof schnell gelernt. Es mochte Glanz und Reichtum, aber auch Qual und raschen Tod bedeuten. »Du bist noch nicht lange im Palast ...?« »Zwanzig Tage, Herr.« »Wer hat dich gebracht?« »El Dschafar, der Dieb«, sagte sie verächtlich. Zogor lächelte. »Man sagt, er sei ein mutiger Mann. Du scheinst aber keine sehr hohe Meinung von ihm zu haben ...« »El Dschafar mutig?« rief sie. »Er ist ein feiger, hinterhältiger Hund, der mit den Lippen lächelt und mit den Händen mordet ...! »Später wirst du mir mehr über ihn erzählen«, unterbrach Zogor sie. »Jetzt sag mir noch eines: Wurdest du geraubt?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Herr. El Dschafar gewann mich im Spiel vom Besitzer einer Schenke in Marmal ...« »Wo bist du geboren?« Traurig schüttelte sie erneut den Kopf. »Das weiß ich nicht, erhabener Herr.« »Du weißt, daß dein Leben verwirkt ist, wenn du deinen König belügst?« Schluchzend sank das Mädchen zusammen. »Ich belüge Euch nicht, Herr!« stammelte sie. Er nickte. Vier der Tänzer lagen bereits reglos am Boden, aus leichten Schnittwunden blutend, die sich wie Peitschenstriemen über ihre nackten Oberkörper zogen. Es blieb nicht mehr viel Zeit für eine unauffällige Unterhaltung. »Der Fürst der Siliker scheint dein Interesse erregt zu haben«, stellte er fest. Das Mädchen nickte. »Er ist ein sehr schöner Mann. Schade«, seufzte sie. »Er bemerkte mich nicht ...« 20
»Er unterhielt sich. Worüber sprachen die Männer?« fragte er schärfer als beabsichtigt. Die Sklavin erschrak. »Ich weiß es nicht, Erhabener!« »Du lügst!« »Nein«, sagte sie rasch. »Bei den Göttern, ich schwöre Euch, ich weiß nicht, was sie sagten. Ich hatte nur Augen für ihn ...!« Seine Züge entspannten sich, und das Mädchen wagte wieder zu atmen. Als der König fortfuhr, klang seine Stimme ruhig und unbewegt, doch Dajna verspürte eine unbestimmte Drohung. Sie wußte, daß sie vorsichtig sein mußte. »Du wirst herausfinden, was diese Männer planen!« »Wie, Herr ...?« wagte sie einzuwenden. »Heute nacht wirst du mit El Haleb das Lager teilen.« Sie hielt unwillkürlich den Atem an. Ihre Augen wurden groß. »Das wird er niemals tun«, stieß sie hervor. Der König lächelte. »Er wird es gewiß tun. Denn ich selbst werde es ihm befehlen. Es liegt an dir, ob er es bereut. Geh jetzt. Ein durstiger Mann ist ein schlechter Schwätzer.« Er winkte, und das Mädchen erhob sich und nahm ihren Krug wieder auf, gerade als der sechste Tänzer blutend zu Boden sank. Der letzte wirbelte das krumme Schwert bis fast an die Decke und fing es unter Beifallsrufen. Als die Musik endete, sprangen die Reglosen vom Boden auf und trugen den Sieger auf ihren Schultern hinaus. Der Klang großer Hörner erfüllte den Palast und drang weit über Stadt und Hafen und gab ein vielfaches Echo in den marmornen Mauern. Alle in der Festhalle verstummten, Daikane und Gefolgsmänner gleichermaßen. Als Stille eingetreten war, ergriff der König das Wort. 21
»Merkt meine Worte wohl: Das Jahr der Schlange wird ein Jahr des Glanzes sein für das myranische Reich, und bevor es zu Ende geht, wird Zunt in unseren Händen sein und Dan ein Ankerplatz für unsere Flotte und Urgor den Tag verfluchen, da es meinen Zorn auf sich lud ...« Er hielt einen Augenblick inne. Nur Schweigen folgte seiner Erklärung. Der König nahm es mit einem feinen Lächeln zur Kenntnis. »Mit anderen Worten«, fuhr er fort. »Wir werden die Fackel des Krieges weit nach Osten tragen, und nach Norden und nach Süden ...! »Nach Norden, König?« rief einer. »Sollen wir uns mit Weibern schlagen?« Unruhiges Gemurmel folgte dem Zwischenrufer. Der Gedanke schien allgemein Unbehagen zu erzeugen. Zogor grinste breit. »Das Schwert macht keinen Unterschied zwischen dem Blut eines Mannes und einer Frau. Oder fürchtet ihr eure eigenen Weiber?« Das Gemurmel vertiefte sich, bekam einen wütenden Unterton. Der König lachte lauthals. »Fürchtet ihr, daß sie euch den Kriegszug verbieten ...?« »Wärest du nicht der König«, murmelte einer zwischen zusammengebissenen Zähnen, und in der Stille waren seine Worte deutlich zu vernehmen. Zogors Lachen brach ab. Er musterte den Mann aus halbgeschlossenen Lidern. »Sag mir deinen Namen, damit in dieser Halle kein Fremder stirbt«, sagte er kalt. Das Gesicht des Mannes wurde aschfahl, doch der Wein ließ ihn die Vorsicht vergessen, und Haß war schwer in seiner Stimme, als er antwortete. »Kevmein aus Silif ... Herr!« Verachtung lag in diesem »Herr«. Der König nickte. »Wenn du vor deinem Tod noch etwas zu sagen hast, so sage es jetzt ...« 22
Der Siliker-Krieger erhob sich von der Tafel. »Ich möchte wissen«, sagte er mit schwerer Stimme, »ob es in Myra einen Menschen gibt, der dir nicht die Klinge wünscht, mein König!« Er spie auf den Boden voller Verachtung und wandte sich um. »Wollt ihr wahrlich für einen Narren in den Krieg ziehen, der sich Gott dünkt und euer Leben so wenig achtet wie das eines Tieres? Seht ihr nicht euren wirklichen Feind ...?« »Ergreift ihn!« befahl Zogor. Wachsoldaten strömten auf den Tisch zu und faßten den zurückweichenden Siliker, in dessen Augen nun Furcht kam. Auch seine Gefährten sprangen auf. El Haleb blickte starr zum Thron. Einen Augenblick schien es, als wollte Tumult losbrechen, aber die dichten Reihen der Wachen schreckten rasch vor Unbedachtsamkeit zurück. »Wir wollen die Glut seiner Leidenschaft kühlen, die es ihn wagen läßt, seinem König zu drohen. Bindet ihn an seinen Stuhl und setzt ihn in den Teich. Dort mag er mit den Fischen tafeln und von ihnen die Weisheit lernen, die in kaltem Blut liegt. Aber wählt den Ostteich, damit das Wasser im Brunnen des Palastes keinen Schaden nimmt ...« Die Wachen machten sich daran, den Siliker im Stuhl festzubinden, da ergriff der Daikan der Siliker das Wort. »Halt ein, König!« Er stand auf, die Faust am Griff seines Schwertes. »Wagst du es, mich zu rügen?« El Haleb nahm die Hand vom Schwert. »Es ist keine Rüge, nur eine Bitte, mein König.« Zogor lehnte sich zurück, gebot aber den Wachen keinen Einhalt. »Rede.« 23
Die Stimme des Daikans bebte. »Es ist ein altes Recht der Götter und Könige, Leben zu nehmen, und eine uralte Pflicht der Gefolgschaft, das Leben zu geben, als hier um ein paar unbedachter Worte willen, für die der Wein verantwortlich ist ...« Zoger entblößte die Zähne in einem Grinsen. »Weißt du es nicht, Daikan, daß des Königs Wort Gesetz ist in Myra? Und unwiderruflich?« »So laß ihm Gnade angedeihen. Sie liegt in deiner Hand ...!« Zogors Grinsen erstarb. Eine Weile starrte er brütend auf den Gefesselten, der den Blick starr vor stummem Entsetzen erwiderte. Endlich sagte der König: »Bindet ihn los!«, und ein Seufzer ging durch die Menge der Versammelten. »Du hast recht, Daikan«, fuhr der König fort. »Dem Gesetz muß Genüge getan werden. Das Wort ist gesprochen. Es muß erfüllt werden. Aber wir wollen Gnade walten lassen. Die Furcht ist kalt in deinem Herzen. Wir wollen ihm die Kälte des Teiches ersparen. Die Glut des Weines hat seine Zunge gelöst. Die Glut des Feuers soll sie für immer zum Verstummen bringen. Vorwärts!« Der Gefangene begann sich zu wehren, als die Wachen ihn auf die große Feuerschale zuschoben, in deren Glut die Fackeln entzündet wurden. Einer seiner Kameraden riß sein Schwert aus dem Gürtel und sprang hinterher. Zogors Hand zuckte hoch. Ein großer myranischer Bogen sang. Ein rotweiß gefiederter Schaft ragte aus dem Rücken des Silikers. Als er den Mann fallen sah, zuckte El Halebs Hand zum Schwert. Sungur fiel ihm in den Arm. Auch Kongli sprang halb auf. Das schien den Silikerfürsten zur Besinnung zu bringen. Mit einem Ausdruck von Qual in den Zügen entspannte sich seine Gestalt. Er schüttelte 24
die Fäuste des Ermunekers ab und starrte mit lodernden Augen auf den König, während die Wachen den Gefolgsmann vor die große steinerne Schale führten. Furcht und Stolz mischten sich in dessen Gesicht. Sein Körper krümmte sich in Erwartung des Unausbleiblichen. Er öffnete den Mund, um zu sprechen. In diesem Moment gab der König das Zeichen. Die Wachen rissen den Gefangenen vorwärts und drückten ihn auf die Glut nieder. Ein hundertkehliges Aufstöhnen kam von den langen Tafeln. Dann löste sich ein entsetzlicher Schrei aus dem Mund des Verurteilten. El Haleb stand reglos, mit geballten Fäusten. Als der Körper des Verurteilten erschlaffte, wandte er sich ab und schritt, gefolgt von seinen verbliebenen beiden Begleitern, auf den Ausgang zu. Auf ein Zeichen des Königs versperrten Wachen mit erhobenen Schwertern den Männern den Weg ins Freie. »Es ist nicht üblich«, sagte der König, »daß die Gäste das Fest verlassen, bevor der König die Tafel aufhebt. Ich betrachte es auch als einen Akt der Feindschaft, wenn du den Kriegsrat vorzeitig verläßt!« Und spöttisch fügte er hinzu: »Oder muß ich bereits am Göver mit meinem Eroberungszug beginnen?« El Haleb maß den König kalt und furchtlos. Er deutete auf die beiden Toten. »Kevmein und Wordag waren die Söhne eines der reichsten und einflußreichsten Männer am Göver. Deine Truppen mögen das Land erobern, aber du verläßt es nicht lebend, wenn du den Fuß auf diese Erde setzt ...!«, Der König erbleichte. Ein Raunen ging durch die Reihen. Wütend sprang Zogor auf. Seine Hand zuckte hoch, verhielt aber mitten in der Bewegung. »Werft sie ins Verlies!« befahl er.
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Die Wachen ergriffen die drei Siliker, die keine Bewegung der Abwehr machten, und führten sie aus der Halle. Eine Weile saß der König grübelnd da, während die Stille im Saal fast greifbar wurde. Dann rief er nach Wein, den ihm ein Sklave eilig brachte. Er leerte den Kelch in einem Zug. »Teilt einer die Meinung des ehemaligen Daikans der Siliker?« fragte er ruhig. Niemand in der Halle gab Antwort.
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3.
»Die Flotte wird in drei Tagen auslaufen und Kurs auf Dan nehmen erklärte Zogor. »Warum erst in drei Tagen?« unterbrach einer. Der König maß ihn mißbilligend. »Ich erwarte Späher aus Dan. Ihr Bericht wird den Angriff nicht unerheblich erleichtern. Kelkari wird die Flotte führen. Ich selbst werde mit der Hauptmacht nach Urgor reiten. Wenn ihre Mauern gefallen sind, werden wir nach Zunt vordringen. Das wird uns den Zugang zur Blauen See öffnen und zu den reichen Küsten im Norden. So haben wir auch das Weiberreich in der Zange, das uns bisher den Schritt nach Norden verwehrt hat..« Das Tor am fernen Ende der Halle öffnete sich. Eine weißhaarige Gestalt trat ein in Begleitung zweier Wachsoldaten, die sie direkt zum Thron führten. Es war ein alter Mann in einem grauen, knöchellangen Gewand, der einen schweren Stock erstaunlicher Leichtigkeit handhabte. Der König blickte ihm neugierig entgegen. Der Alte hielt vor dem Thron an und verneigte sich tief. »Laß mich dir den Gruß entbieten, erhabener König«, sagte er. »Nenne mir deinen Namen, alter Mann. Und sage mir, wie du in den Palast gekommen bist, obwohl ich Anordnung gab, nur dringende Boten einzulassen, solange die Beratung wahrt«, sagte Zogor. Der Alte lächelte. »Der Weisheit des Alters, o König, öffnet sich manche Tür. Ich bin Zamoc, Herr, ein Magier aus den Bergen Akyrjas. Und ich habe in der Tat eine 27
Botschaft für dich. Dein Leben ist in Gefahr, und ich bin gekommen, um es zu schützen ...« Ein Raunen ging durch die Reihen der Anwesenden. »Mein Leben?« entfuhr es Zogor. Dann lachte er. »Du mußt dich irren, Magier.« Er schüttelte den Kopf. »Alle Macht ist in meiner Hand – wie in der Hand eines Gottes ...« »Man haßt dich, o König!« »Sterben die Götter, wenn man sie haßt?« erwiderte Zogor hochmütig. »Sieh sie dir an!« Er deutete auf die versammelten Daikane und Gefolgsleute. »Sie alle hassen mich. Viele wünschen mir den Tod, das weiß ich. Aber sie haben nicht den Mut und nicht die Macht. Sie haben nur Furcht. Mehr als meinen Tod wünschen sie meine Gunst ...« »Dennoch solltest du dich meiner Weisheit nicht verschließen, erhabener König. Auch ich besitze Macht, wenn auch nicht die des Schwertes. Aber ich sehe ferne Welten und ferne Zeiten und tief in die Seelen der Menschen. Es gibt Zeiten, da ist auch der Feige mächtig, und es gibt Mittel auch für den, der zu feige ist, den Dolch zu heben. Nimm dieses Amulett, König von Myra. Es wird dich warnen vor jeder Gefahr!« Aus den Falten seines Gewandes zog er eine feingliedrige, goldglänzende Kette, an der ein kunstvoll gearbeitetes Amulett hing, das zwei engumschlungene Schlangen darstellte. Der König ergriff es und betrachtete es sinnend. »Möge es dir im Jahr der Schlange Glück bringen und Schutz vor dem Neid der Götter und der Menschen«, fuhr der Magier fort. »Lege es um den Hals. Und wenn du ein Brennen auf der Haut fühlst, so daß du es am liebsten von deinem Hals reißen möchtest, dann wisse, daß jemand dir nach dem Leben trachtet ...« 28
Geschmeichelt von den Worten des Magiers, legte der König das Amulett um seinen Hals. Im Licht der Fackeln funkelte es an seiner Brust. Zamoc schüttelte den Kopf. »Das ist kein Schmuck, König, wiewohl es die Geister des Feuers und der Erde kunstvoll formten. Du mußt es an deiner nackten Haut tragen, sonst verliert es seinen Zauber. Zogor stellte den Weinkelch zur Seite und schob das Amulett in den Ausschnitt seines Hemdes. Als er nach dem Kelch griff, hielt er verblüfft inne. Seine Augen weiteten sich. »Es ist heiß. Bei allen Göttern, wenn das ein Scherz ist, Alter, sollst du ihn mir büßen ...!« Er riß sein Hemd auf, als wäre glühendes Eisen an seinem Leib, und faßte nach der Kette. Der Magier sprang auf das Thronpodest und entriß der Faust des Königs den Weinkelch mit einer raschen Bewegung, und niemand sah seine Hand über der roten Flüssigkeit schweben. »Gift!« rief er. »Jemand hat Gift in deinen Wein getan!« Zogor erstarrte mitten in seiner hastigen Bewegung. »Gift?«‚ wiederholte er ungläubig. »Das ist unmöglich. Du mußt dich irren, Magier. Ich habe drei Vorkoster für meine Speisen und meinen Trank. Auch trinke ich bereits den ganzen Abend aus diesem Krug ...« Zamoc beugte sich über den Krug, der neben dem Thron stand. Seine Rechte griff ins Innere. Als er sie zurückzog, waren seine Finger rötlich benetzt. Er betrachtete sie und sagte nach einem Augenblick: »Kein Zweifel, König, der Wein in diesem Krug ist vergiftet!« Zogors Gesicht wurde aschfahl. »Und wenn mich nicht alles täuscht, ist dies der erste Becher, der daraus eingeschenkt wurde ...« 29
Deutlich sah man im nächsten Augenblick, daß nicht Angst, sondern Zorn für die Bleiche im Gesicht des Königs verantwortlich war. »Bringt die Vorkoster her!« schrie er. Mehrere Wachen verließen die Halle durch die Tür hinter dem Thron und kehrten gleich darauf mit drei Sklaven wieder, die vor Zogor auf die Knie fielen. »Erhabener Herr!« rief einer. »Bist du nicht zufrieden mit uns, die wir deinen Tod zu sterben auserkoren sind?« Zogor lachte wütend. »Zufrieden? Es ist Gift in meinem Wein! Warum habt ihr Hunde ihn nicht gekostet?« Der Sprecher wurde bleich. »Die Götter sind unsere Zeugen, daß wir deinen Wein kosteten. Und er war gut. Wollten die Götter, ich hätte einen Becher davon für mich allein ...« »Wahrhaftig, du Hund, das ist es, was die Götter wollen. Hier, trink!« Er reichte dem zitternden Sklaven den königlichen Kelch. Der nahm ihn und leerte ihn in durstigen Zügen. Als er ihn absetzte, war sein Gesicht verklärt. »Ein edler Trunk, erhabener König!« sagte er. Aber während er noch den Kelch zurückreichte, weitete Furcht seine Augen. Er setzte zum Sprechen an, aber bevor seine Lippen sich öffnen konnten, sank er nach vorn, krümmte sich, fiel zu Boden und regte sich nicht mehr. Zogor und die beiden Vorkoster starrten in purem Entsetzen auf die reglose Gestalt. »Wer gab euch den Wein?« fragte der König drohend. »Dein Senir, wie immer, Erhabener«, stammelte einer der beiden Vorkostersklaven. »Avalik? Hund, wagst du es, meinen Kanzler zu verleumden?« Zogor war bei diesen Worten aufgesprungen. 30
»Erbarmen, Herr. Ich sage nur die Wahrheit. Der Kanzler gab uns den Wein. Aber sicher war er es nicht, der ihn vergiftete, denn wir sahen beide Gato trinken, und es geschah im nichts ...« »Warum trankt ihr nicht auch?« herrschte Zogor sie an. »Er war an der Reihe, Herr.« »Habt Ihr nicht einen Neffen, erhabener König«, warf der Magier ein, »der Ermyas genannt wird?« »Den habe ich«, erklärte Zogor. »Was hat diese Ratte damit zu tun?« »Wenn der Geist wandert, sieht er viele Dinge ...« »Was willst du damit sagen, Alter?« rief Zogor. »Daß die Götter den Weisen die Augen öffnen. Und ich sah Ermyas im Hause Avaliks ... zu ungewöhnlicher Stunde ... zu einer Stunde, da die Dämonen uns näher sind als die Götter und, Mord ein Wort ist mit mächtigen Schwingen ...« »Genug!« Der König stemmte seinen fülligen Körper hoch. »Ich will sie sehen. Beide! Sie sollen mir Rede stehen!« Während eifrige Wachen sich auf den Weg machten, um den Senir und den Neffen des Königs herbeizuholen, saß der König nachdenklich, den Blick auf den toten Sklaven gerichtet. Der Magier verharrte stumm, mit einem kaum merklichen Lächeln des Triumphes auf den Lippen. Der tote Vorkoster wurde aus der Halle geschafft, seine beiden lebenden Gefährten warteten zitternd vor dem Thron. Sie wußten, daß ihnen alle myranischen Götter zusammen nicht helfen konnten, wenn der König ihnen befahl, zu trinken. Der einzige Trost lag darin, daß es ein rascher Tod war.
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Avalik, der Senir und engste Vertraute des Königs von Myra, war ein kleiner, dicklicher Mann mit klugen Augen und spärlichem Haarwuchs. In seiner äußeren Erscheinung glich er dem König in gewissem Maß. Doch man sah auf den ersten Blick, daß er gute zwei Dutzend Jahre älter sein mußte, und die Falten in seinem rundlichen Gesicht stammten vom Lachen. Solche plötzlichen Audienzen zu ungewöhnlicher Stunde schienen für ihn nichts Ungewöhnliches zu sein. Er warf einen verwunderten Blick auf Zamoc und verbeugte sich vor dem König. »Erhabener.« Zogor maß ihn düster. Dann streckte er die Hand mit dem Kelch aus. »Gießt ein für den Senir!« Einer der Vorkoster sprang auf und goß Wein aus dem Krug. Avaliks Verwunderung stieg. Die unsichtbare Drohung, die im Saal über den Menschen hing, wurde ihm langsam bewußt. Aber er war zu klug, um Angst zu zeigen, und schon zu lange am Hof, um nicht genau zu wissen, daß Angst schon als halbes Eingeständnis der Schuld galt. So wartete er gleichmutig ab. »Bevor du trinkst von Amyrons Wein«, ergriff Zogor wieder das Wort, »sag mir eines: War Ermyas in deinem Haus?« »Amyrons Wein?« entfuhr es dem Kanzler. »Was hat das zu bedeuten, Erhabener ...?« »War Ermyas in deinem Haus?« wiederholte der König ungerührt. Avalik nickte zögernd. »Das war er, o König ...« »Um Mitternacht?« Wiederum nickte Avalik. »Was hat er gewollt?« 32
Bevor der Kanzler antworten konnte, wurde das Tor aufgestoßen, und der Neffe des Königs stürmte herein, gefolgt von mehreren Wachen. Er war jung, keine zwei Dutzend Sommer; oder Winter, wollte man genau sein, denn er war im Mond des Wolfes geboren worden. Die Züge des Jungen zeigten höchste Erregung. Mit geballten Fäusten trat er vor den Thron. »Mein Onkel scheint zu vergessen, daß die Mitglieder des königlichen Hauses ...« »Schweig!« herrschte Zogor ihn an. Dem Jungen blieb der Mund offen. Er suchte verzweifelt nach einer passenden Erwiderung, fand keine, sah sich hilflos um und nahm zum erstenmal den Kanzler wahr. Sein dunkles Gesicht wurde bleich und verzerrte sich einen Augenblick lang vor Haß. »Was suchtest du im Haus des Senirs? Sprich rasch, bevor das geringe Maß meiner Geduld sich erschöpft ...« »Geduld, Onkel?« Der Junge lachte trocken. »Wann hatte einer von uns beiden je Geduld? Wann je ausgeharrt, bis der rechte Augenblick war ...« »Du gestehst es also ein?« rief Zogor. »Was, mein erhabener Onkel?« Spott lag in dem Wort »erhabener«, den keiner in der Halle überhören konnte. »Was der Kanzler bereits gestand«, warf Zamoc ein. Ermyas wandte sich Avalik zu und spuckte vor seine Füße: »Schwätzer!« stieß er hervor. »Es bestand kein Grund zu reden. Wir waren uns einig ...!« »Gewiß, Herr«, stammelte der Kanzler. »Und nichts lag mir ferner als das. Aber man sah uns zusammen in meinem Haus ...« »Und da bekamst du Angst, alter Narr ...! Der König mag wohl auf einen geschwätzigen Kanzler verzichten ...« Er wandte sich zum König um. »Mein Onkel, was die33
ser Mann dir auch erzählte, es ist falsch, das schwöre ich bei den Göttern. Es war sein Plan. Ein guter Plan wohl, aber ein schlechter Augenblick, jetzt, da Myra einen starken König mehr denn je braucht ...« Des Königs Gesicht verfinsterte sich. Avalik wurde bleich. Ermyas war plump in die Falle gegangen, die der Magier gestellt hatte. Der Kanzler sah mit Schaudern, daß es keinen Ausweg mehr gab. Er fühlte sich zwar frei von Schuld, denn wahrhaftig war der Plan, den König zu vergiften, von dem Jungen ausgegangen, und er, Avalik war es gewesen, der ihm abgeraten hatte. Aber andererseits hatte er es auch unterlassen, den König auf die Gefahr hinzuweisen, die ihm von seinem Neffen drohte eine unverzeihliche Unterlassung, gewiß, aber die Zeiten waren unsicher, und wenn Zogor starb, wurde Ermyas König, und nur Narren machten sich einen zukünftigen König zum Feind. Der Teufel mochte wissen, woher der Magier von der mitternächtlichen Unterredung erfahren hatte. Amyrons, des Totengottes, Wein hatte Zogor gesagt. Bedeutete es, daß jemand wahrhaftig Gift in des Königs Wein getan hatte? Dann mußte der erste Verdacht auf ihn fallen. »Was hast du darauf zu erwidern, Senir?« »Ich bin ohne Schuld, Erhabener ...« »Du irrst, Senir. Keiner ist frei von Schuld, der zwei Herren dient. Trink diesen Wein. Es ist Gift in ihm. Es kam durch deinen Unbedacht hinein ...« Avalik wich zurück. »Herr ...!« rief er entsetzt. »Laß mich nicht für die schurkischen Taten anderer büßen. Ich war dir immer treu ...« »Nicht treu genug«, erwiderte der König ungerührt. »Trink, bevor ich deine Dienste vergesse und deinen Tod phantasievoller gestalten lasse.« 34
Avalik nahm zitternd den Kelch und hielt ihn einen Augenblick in verkrampften Händen. Er sah sich um, aber von den Anwesenden kam keine Hilfe. Sie saßen stumm, den Blick auf ihn gerichtet. Es gab keinen Ausweg, und der Tod durch diesen Wein war der einfachste. Mit einem halben Lächeln setzte er den Kelch an und leerte ihn auf einen Zug. Zogor beobachtete ihn mitleidlos, als er fiel und starb. Dann starrte er grinsend auf seinen Neffen, in dessen Augen deutlich Furcht stand. »Angst, Ermyas?« Er lachte schallend. »Doch nicht vor dem Tod? Oder ging er dir noch nie so nahe?« Als er sich schließlich beruhigte, wurde sein Blick wieder kalt. »Du hast recht, von uns hatte keiner je viel Geduld und Lust zu warten. Aber du bist noch jung, du wirst es lernen.« Er winkte einige Wachen herbei. »Der Prinz möchte nachdenken. Schafft ihn in den Kerker!« Einen Augenblick schien es, als wollte der Junge aufbegehren. Seine Fäuste ballten sich. Aber dann fiel sein Blick auf den Kanzler, und er schwieg. Stumm folgte er den Wachen aus der Halle. »So bleibt noch eins zu tun«, fuhr Zogor fort, an Zamoc gewandt. »Ich stehe tief in deiner Schuld. Es liegt Weisheit in deinen Worten. Willst du mein Kanzler sein, Magier?« Zamoc gelang es nur mühsam, seinen Triumph zu verbergen. »Ja, das will ich, erhabener König«, erwiderte er. Die Pläne liefen gut. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der König ganz in seiner Hand war.
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4.
Mit der Morgendämmerung erloschen die letzten Fackeln im Königspalast von Myra. Die Stadt war längst dunkel, und die Feuer des gewaltigen Kriegslagers am Strand waren verloschen. Das große Fest war vorbei, und im Palast war nicht das einzige Blut in dieser Nacht geflossen. Der Wein hatte manches Messer und manche Zunge gelockert. Aber es gab jeden Tag und jede Nacht Tote in den Straßen Myras, und was machte es schon für einen Unterschied, ob Hunger oder ein Dolch oder ein Schwert die Ursache war. Für die Armen war der Tod ein vertrauter Begleiter, für die Reichen ein stetes Risiko. Es waren unsichere Zeiten in Myra. Den König kümmerte Gewalttätigkeit wenig, war er doch derjenige, der täglich deutlich machte, wie wenig ein Menschenleben galt. Daß Zogor trotz seiner beinahe unmenschlichen Willkür nach all den Jahren immer noch herrschte, lag vor allem an Myras Reichtum. Zogor kannte die Mentalität seines Volkes recht genau. Ein Krieger dient lieber einem König, der guten Sold bezahlt, als einem aufständischen General, der am Patriotismus rührt. Andererseits bewirkte seine Schreckensherrschaft, daß die Steuergelder rechtzeitig aus den Provinzen kamen. Es gab nur zwei Arten von Statthaltern – einen amtierenden oder einen toten. So besehen, war El Haleb ein toter Daikan, auch wenn er mit seinen beiden Gefolgsleuten in der feuchten Luft des Kerkergewölbes noch atmete. Er gab sich keinen Träumereien hin. Dieses finstere Loch würde keiner von ihnen mehr verlassen – und wenn, dann nur, um zu 36
sterben. Er verfluchte Kevmeins Unbeherrschtheit. Der Pakt mit Sungur und Kongli war fast perfekt gewesen – ein geheimes Schutzabkommen gegen den König, gegen Willkür und Gewalt, gegen mörderische Strafexpeditionen, wie sie vor ein paar Jahren in Khisar und Akhir stattgefunden hatten. Mit dem, befreundeten Dan im Rücken wäre dieses Bündnis der erste entscheidende Schritt gegen die Gewalt des Königs gewesen. Aber nun war Dan das erste Angriffsziel der myranischen Flotte. Allein würde ihr die Stadt nicht widerstehen können Sie aber offen zu unterstützen hätte bedeutet, sich nicht nur gegen den König, sondern gegen das eigene Land zu stellen. Das hätte wenig Sympathien eingebracht, denn nicht überall war der König so verhaßt wie am Göver-Fluß und in den südlichen Provinzen, wo die Menschen stolzer und ungebeugter waren – und wilder. Wenn Zogors Heer bereits aus mehr als vierzigtausend Kriegern bestand, dann konnten weder Dan, noch Urgor, noch das nördliche Zunt hoffen, daß ein Stein auf dem anderen blieb, wenn sie Widerstand wagten. Am Ende wurde die Gewalt in ihnen herrschen wie überall im myranischen Reich. Er wußte, daß er zu wenig Myraner war um die Schmählichkeit eines Verrats bei dem Gedanken zu fühlen: Dan mußte gewarnt werden! Das war es, was er den Daikanen von Ermunok und Meynaral klarzumachen versucht hatte. War es vergeblich gewesen? Er zweifelte an Sungur. Den Daikan von Ermunok hatte nur die Angst vor einem Schicksal wie Khisar und Akhir dazu getrieben, sich dichter an Meynaral und das Göver-Gebiet anzuschließen. Er war Myraner, Nachkomme einer alten Adelsfamilie aus der Hauptstadt des Reiches. Er fühlte myranisch und dachte myranisch. Doch die Bevölke37
rung seiner Provinz war gemischt aus östlichen Stammen, aus Nachkommen des alten Volkes, das längst hier siedelte, bevor Myras Heere das Land eroberten, und zu einem Drittel etwa aus Myranern selbst. Nein, Sungur würde nicht von sich aus handeln. Mit Kongli war das anders. Meynaral trieb Seehandel mit Dan. Dans Untergang wurde einen empfindlichen Schlag gegen seine Schatzkammer bedeuten. Das war schon einen kleinen Tip wert. Aber sie alle besaßen nicht so brennende Motive wie El Haleb, nun da Kevmein tot war – ein Tod, der nur mit Blut gesühnt werden konnte. Des Königs Blut mußte fließen, des Mörders Blut. Der König hingegen würde die Indolenz der Vertreter der Siliker nicht auf sich beruhen lassen. Früher oder später würde er am Göver nach dem Rechten sehen – mit dem Schwert. Wenn Dan erst gefallen war, war es für eine Flucht zu spät. Nicht nur Dan mußte gewarnt werden, sondern auch die Stammesoberhäupter der Siliker ... Da war diese Sklavin gewesen ... Der Gedanke an sie beunruhigte El Haleb am meisten. Hatte sie sich nur in ihrer Nähe aufgehalten, um für den König zu spionieren? Das mochte Sungurs und Konglis Schicksal besiegeln – in der Tat schon besiegelt haben! Nagende Zweifel quälten ihn, und die Hilflosigkeit schien ihm unerträglich, während kostbare Zeit verrann. So saß er mit geballten Fäusten in der Finsternis und lauschte auf den Atem seiner Gefährten. Der Schatten, der lautlos durch die marmornen Korridore des Palastes glitt, war Dajna. Die Dämmerung gab kaum Licht durch die großen Fenster, dennoch fand sie ihren Weg ohne Schwierigkeiten. Ein vager Lichtschimmer kam aus den Gemächern 38
des Königs. Das Mädchen beschleunigte seinen Schritt. Undeutlich sah sie die beiden Wachen vor dem Eingang. Sie standen starr und aufrecht und wachsam. Da gab es kein ungesehenes Vorbeikommen, obwohl der Gang breit und dunkel war. Enttäuscht druckte sie sich eng an die Mauer. Noch hatten sie sie nicht entdeckt. Sie überlegte fieberhaft. Es gab nur noch einen Weg zu den Verliesen: durch eines der Fenster am anderen Ende des Ganges, jenseits der Wachen. Aber das würde eine gefährliche Kletterei über glatte Mauern bedeuten, die wenig Halt boten. Mehr noch – in weniger als einer Stunde war es hell genug, daß jedermann sie sehen konnte. Aber da war noch eine Möglichkeit – eine nicht weniger gefährliche, aber weitaus mühelosere. Hatte ihr der König der Silikerfürsten nicht für diese Nacht versprochen? Warum ihn nicht beim Wort nehmen? Sie lächelte und schauderte zugleich bei dem Gedanken. Aber er ließ sie nicht mehr los. Der König schlief offenbar noch nicht. Rasch schritt sie auf die Wachen zu, die ihr den Weg versperrten, sie aber erkannten, als sie ganz nah war und das Licht auf ihr Gesicht fiel, und passieren ließen. Der König rief oft nachts Sklavinnen in seine Gemächer. Im Vorraum verharrte sie einen Augenblick. Die Wachen konnten sie nicht mehr sehen. Durch den schweren Vorhang am Eingang in die inneren Gemächer kamen gedämpft die Stimmen zweier Männer. Der König war nicht allein! Das würde die Sache nicht gerade begünstigen. Schon wollte sie den Vorhang zur Seite schieben, als sie die Stimme erkannte, die mit dem König sprach: Sie war jene des alten Magiers – des neuen Kanzlers. Sie kannte ihn aus der Zeit, da er noch in Akyrja weilte, bevor er nach Osten wanderte und sich jenseits des 39
Kisil in die Berge zurückzog. Damals war er ein weiser, freundlicher, alter Mann gewesen. In der Halle hingegen war er ihr unheimlich erschienen, mit einem Zug von Härte und Grausamkeit um die welken Lippen. Vielleicht waren die Dämonen von Bo-gah in ihm, die er einst verlacht hatte. Neugierig lauschte sie. Es mußte wichtig sein, wenn der König sich zu solcher Stunde mit dem Kanzler besprach. Es mochte Katmahzar, das Land ihres Volkes betreffen, denn Zamoc hatte beinahe sein ganzes Leben im Gebiet des Kisil verbracht – des »Reinen Wassers«, wie die Katmahzari-Kriegerinnen den Fluß nannten, der ihr Reich im Osten von dem der Männer trennte. Er mußte vieles wissen, das dem König für seinen Angriff dienlich sein konnte. Daß er einen Angriff auf Katmahzar plante, wurde offenbar, als sich zu Beginn des Wolfsmondes die Truppenstärke in Akyrja verdoppelte und weiter wuchs und Kundschafter nach Norden vorstießen, von denen allerdings kaum einer zurückkehrte. Es war nicht leicht, die nuschelnde Stimme des alten Magiers zu verstehen, aber nach einem Augenblick gewöhnte sich das Ohr an den Klang. Den Vorhang zu berühren oder zur Seite zu schieben wagte Dajna nicht. »... besteht keine Gefahr«, sagte die Stimme des Königs zuversichtlich. »Sicher, man weiß in der Stadt und in den umliegenden Provinzen von der Aufstellung des Heeres. Und man weiß hier seit einigen Tagen auch, daß wir gegen Dan und Urgor ziehen und die nördlichen Küsten im Auge haben ...« Er lachte. »Ich wette, daß Asmyra längst nicht mehr so zuversichtlich auf ihrem Thron sitzt, seit meine Streitmacht in Akyrja wächst. Sie und ein paar ihrer männerfeindlichen Heerführerinnen waren mir im Palast willkommen. Ich bin sicher, sie 40
würden mich nicht langweilen ...« Er lachte unterdrückt, und Dajna tastete unwillkürlich nach dem Dolch unter den kurzen seidenen Sklavenröckchen. »Aber sei beruhigt, Alter. Kein Schiff verläßt den Hafen ohne meine Erlaubnis. In Marmal ist es nicht anders. Und bis die Nachricht auf dem Landweg nach Dan oder gar Urgor gelangt, ist es langst zu spät, denn die Flotte wird nicht erst in drei Tagen auslaufen, wie ich den Statthaltern heute nacht verkündete, sondern bereits am Mittag des heutigen Tages. Sie wird am Abend in Marmal sein und von dort am nächsten Morgen verstärkt aufbrechen. Aber das weiß niemand, selbst Kelhari nicht. Die Fußtruppen des Landheeres formieren sich in diesem Augenblick und werden sich mit dem ersten Sonnenstrahl nach Osten in Marsch setzen – erst nach Akyrja. Und dort muß entschieden werden, ob wir den Kisil aufwärts oder abwärts marschieren. Von Händlern weiß ich, daß es eine wundersame Stadt mit dem Namen Barakar nahe der Mündung des Kisil gibt. Ich habe ein Heer von Kundschaftern den Kisil abwärts gesandt, um diese Stadt zu finden und auch einen geeigneten Weg für das Heer. Wenn wir diese Stadt erreichen und erobern könnten, wäre viel gewonnen. Dort muß es Schiffe geben, mit denen Zunt in wenigen Tagen zu erreichen wäre. Dann wäre Urgor zwischen zwei Mühlsteinen – dem Heer aus Zunt und jenem aus Dan ...« »Wenn etwas davon übrigbleibt«, unterbrach ihn Zamoc eindringlich. »Der Plan ist nicht weise, König. Verzeih, wenn ich das sage ...« Es entstand eine Pause, aber Zogor gab keine Antwort. Wahrhaftig hatte der Magier ihn beeindruckt. Er schätzte sein Wort. »Es scheint mir, du unterschätzt Asmyras Heer bei weitem. Auch ist das Gebiet am Unterlauf des Kisil unwegsam. Der Verteidiger wäre in einem gewaltigen 41
Vorteil. Auch kehrten nur zwei deiner Kundschafter zurück, und sie ohne Zunge. Sie werden dir nichts berichten können. Wenn ich dir raten darf, laß Verteidiger in Akyrja, aber marschiere geradewegs nach Siev und warte dort auf dein Heer aus Dan. Mit dieser geballten Macht wird es dir leicht gelingen, Urgor zu nehmen, ohne große Verluste zu erleiden. Von dort aus magst du nach Zunt marschieren. Und von Zunt aus ist Barakar und die Mündung des Kisil leicht und ohne viel Mühen zu erreichen. Der Angriff wird Asmyras Reich um so überraschender treffen ...« Dajna hielt den Atem an. Der Zufall hatte ihr jene Informationen eröffnet, hinter denen sie in diesen zwanzig Tagen der Sklaverei vergeblich her war. Furcht, man könnte sie vorzeitig entdecken, ließ ihr Herz laut pochen. Mühsam zwang sie sich zur Ruhe. Wenn nur die Wachen nicht nach ihr sahen. Der König hatte wieder das Wort ergriffen. »Ein guter Plan, Zamoc, obwohl es mir scheint, daß Urgor auch mit der Hälfte der Männer zu nehmen ist und ein Teil des Heeres längst in Zunt sein könnte ...« »Ich kenne Urgor«, warf der Magier ein, leidenschaftlich, schien es Dajna, als kettete ihn ein alter Haß an diese Stadt, und das erschien ihr seltsam für einen Mann, der fast seit mehr als zwei Jahrzehnten das Gebiet des Kisil nicht verlassen hatte. Er war wohlbekannt in Akyrja als Einsiedler, der jedem Rat gab, der sich die Mühe machte, seine einsame Klause in den Bergen aufzusuchen. Viele kamen. Viele Geheimnisse, Neuigkeiten und Nachrichten fanden Eingang über seine Schwelle. So weit drang sein Ruf, daß er auch in Asmyras Kriegerlager Kaleir bald bekannt war und kleine Trupps der schwarzhaarigen Kriegerinnen zu ihm kamen, um Neuigkeiten über Ayazar, das »Männerreich«, wie sie das myrani42
sche Reich nannten, zu erfahren. Und Zamoc gab jedem, was er zu wissen begehrte. Eines Tages aber wurde sein Haus überfallen, und er floh. Wanderer berichteten, daß sie ihn in der Nähe Bo-gahs gesehen hätten, der Stadt der verlorenen Seelen, einer toten Stadt, in der Dämonen Unterschlupf gefunden hatten. Katmahzari und Myraner gleichermaßen hatten ihn aus den Augen verloren, bis zu jenem Augenblick, da er in Myra am Hof des Königs erschienen war und auf so makabre Weise Kanzler wurde. Dajna verstand die Zusammenhänge noch nicht, aber sie wußte, daß die Anwesenheit des Magiers an Zogors Hof eine große Gefahr für Katmahzar bedeutete – denn es gab keinen Mann, der nur annähernd soviel über das Reich der Kriegerinnen wußte wie Zamoc. Seine Stimme riß sie aus ihren Überlegungen. »Urgor ist stärker, als du ahnst. Königin Amee hat einen General, wie es in ganz Myra keinen gibt – Dragon. Sie nennen ihn den Sohn von Atlantis ...« »Pah«, erwiderte der König. »Weder Dragon noch dieser Atlantis ist mir je zu Ohren gekommen ...« »Atlantis ist ein altes Reich, dessen Name heute fast niemand mehr kennt ...« »Um so weniger fürchte ich ihn. Wären diese Feldherren von Atlantis wahrhaftig so gut, wie du sagst, wäre ihr Reich heute nicht vergessen, Alter!« »Es liegt Weisheit in deinen Worten, o König«, stimmte Zamoc zu, doch es lag ein widerstrebender Ton in seiner Stimme. »Dennoch muß ich dich warnen. Sie besitzen Verbündete, die sie stärker machen, als Krieger es je konnten ...« Der König lachte. »Wer sind diese Verbündeten? Dämonen ...?«
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»Keineswegs – obwohl gesagt werden muß, daß sie Kräfte besitzen, die nicht ganz menschlich sind. Sie nennen sich die Weisen der Berge ...« »Weise, sagst du?« Des Königs Stimme klang nachdenklich. »Und sie tragen einfache Gewänder wie du und leben in den Bergen ...? Und lehren die Leute, daß Furcht vor Dämonen nur Furcht vor sich selbst sei, und daß einst eine goldene Zeit kommen werde ...?« »Sie sind dir bekannt?« rief Zamoc. Der König lachte wieder. »In Myra selbst, gerade eine Reitstunde außerhalb der Stadt nisten sie in einem alten Tempel. Sie fielen mir nie auf ...« »Sie verstehen es meisterhaft, im dunkeln zu bleiben. Aber sie haben ihre Spione überall. Sie sind gefährlicher als ein Heer, gefährlicher als eine Flotte ...« »Ich führe keinen Krieg mit ihnen ...« »Sie kennen keine Grenzen, König. Sie fühlen nicht myranisch oder urgoritisch oder mit dem Herzen der Daniter. Reiche bedeuten ihnen nichts. Es gibt nur ein Reich, das für sie Bedeutung hat: Atlantis, das Goldene Zeitalter. Dafür arbeiten sie, daß es wieder aufersteht in seinem alten Glanz. Sie nennen sich die Söhne von Atlantis, und Dragon ist ihr Gott – über den es zu Lebzeiten bereits mehr Legenden gibt als über manchen toten König. Wenn du Urgor angreifst, wirst du Dragon gegenüberstehen. Und mit ihm den Söhnen von Atlantis, wo sie auch sein mögen. Sie sind Geschwüre im Fleisch des myranischen Leibes ...« »So werden wir sie herausschneiden und ausbrennen, wo immer wir sie finden. Urgor muß fallen! Ich will diese Königin in Ketten nach Myra bringen, und dieser Dragon mag ihr tragen helfen, denn es werden Ankerketten sein ...«, knurrte der König. »Aber gut, ich will deinen Rat befolgen. Wir werden auf raschestem Weg 44
nach Osten marschieren, nach Siev und von dort quer durch die Berge bis an die Quellen des Euphir. Dort soll Kelkari ein Lager bauen und auf uns warten. Von dort aus können wir Urgor in wenigen Tagen erreichen ...« Eine nachdenkliche Stille folgte. »Um diese Söhne von Atlantis werde ich mich noch heute kümmern. Aber erst soll Kelkari Nachricht erhalten, daß die Flotte sich zum Auslaufen bereitmacht ... Laß dir vom Hofmeister Gemächer geben ...« »Er wird schon schlafen ...« »So wecke ihn. Eine der Wachen mag dich hinführen. Aber halte dich bereit. Ich schätze dein Wort und deine Dienste. Ich werde deinen Rat zu allem hören – wenn auch nicht immer befolgen. Avalik war ein Narr. Du siehst, wie es Narren ergeht an meinem Hof. So hüte dich, einen Narren aus dir zu machen ...« Schritte erklangen, und Dajna fuhr zurück. Der alte Magier erwiderte etwas, doch sie verstand es nicht. Rasch huschte sie zurück und näherte sich erneut mit festen Schritten. Die Männer vernahmen sie auch, denn sie verstummten und blickten ihr entgegen, als sie den Vorhang zur Seite schob und eintrat. »Erhabener!« Sie sank in die Knie und berührte mit der Stirn den Boden, und solcherart grüßten nicht nur Sklaven den König. »Habe ich nach dir gesandt?« fragte er verwundert. »Nein, Herr«, erwiderte Dajna und richtete sich auf, so daß er ihr Gesicht sehen konnte. Einen Augenblick starrte er sie befremdet an, dann schien er sich zu besinnen, und die Erinnerung erheiterte ihn ungemein. »Sag mir eines, Kanzler, ist es eines Königs würdig, närrische Versprechen zu halten?« 45
Zamoc dachte nach und sagte dann mit aller Vorsicht: »Es ist närrisch genug, einer Sklavin etwas zu versprechen, mein König; du vergibst nichts mehr von deiner Würde, wenn du es hältst ...« Der König nickte grinsend. »So komm, Sklavin, Wir wollen sehen, was El Haleb mehr erwärmt – dein Anblick, oder meiner ...« Der Silikerfürst und seine Gefährten merkten nichts von der Morgendämmerung. In diese Verliese kam kein Licht von außen. Nur gelegentlich drang vages Flackern von Fackelschein durch die vergitterten Öffnungen der schweren Eisentür, wenn einer der Wächter aus der Wachkammer trat, um sich zu erleichtern oder frischen Wein zu holen. An Geräuschen indes mangelte es nicht. Es war, als ob der Fels vibrierte von den vielfältigen Lauten des festlichen Palastes. Allmählich aber starben auch die Geräusche, und es wurde so still und kalt und stumm, wie es in den Herzen der Gefangenen war. Später vernahmen sie dann leisere, klagende Laute und ahnten, daß sie nicht die einzigen in diesen Verliesen waren. Und nach all dem sinnlosen Zorn, der Verzweiflung und Resignation fanden ihre Gedanken zu jenem Problem, das alle Gefangenen aller Zeiten früher oder später beschäftigte: Flucht! Aber sie mußten auch bald genug feststellen, daß sie ohne Hilfe von außen ihre Zelle nicht verlassen konnten, und die Wachen waren nicht zu bewegen, auch nur in die Nähe zu kommen, oder nach dem König zu senden. So blieb nur noch übrig, auszuharren und den Moment zu nützen, da jemand an oder durch die Tür kam. Das währte indes nicht lange. 46
Kurz nachdem die Geräusche im Palast langsam verebbten, knarrten die schweren Türen zu den Verliesen, und Bewegung kam in die Wachen. Dann fiel Fackelschein in die finsteren Korridore und versetzte die Siliker in Bereitschaft. Die Waffen waren ihnen abgenommen worden, aber sie besaßen noch die breiten Ledergürtel, die ihre Felljacken in der Mitte zusammenhielten, und nur wenige wußten, welch fürchterliche Waffe dieser beschlagene Gurt in der Hand eines geübten Mannes sein konnte. In der Tat schien der Besuch ihnen zu gelten. Die Lichter und Stimmen kamen näher. Im Schein der Fackeln schob sich ein Gesicht vor das Gitter der Tür. Das Gesicht eines Mädchens. Die Verblüffung der Gefangenen war groß. Aber El Haleb erkannte das Gesicht auch sofort als das der Sklavin, die in verdächtiger Weise an ihrer Tafel zu lauschen versucht hatte. Er winkte seinen Gefährten warnend zu. Das Gesicht des Mädchens verschwand und gab den Blick frei auf ein halbes Dutzend Wachen mit gezogenen Schwertern, die in einem Halbkreis die Zellentür umstanden. Dahinter stand der König und neben ihm ein alter Mann, den El Haleb noch nie zuvor gesehen hatte. Etwas Dämonisches lag in seinen funkelnden Augen. Unwillkürlich schauderte El Haleb. »Siliker, hörst du mich?« kam die Stimme des Königs. »Ja, ich höre dich!« antwortete dieser. Der König grinste. »Es scheint, als hättest du das Herz einer meiner Sklavinnen gebrochen. Sie möchte, daß du sie liebst, bevor du stirbst. Willst du sie haben?« Einige der Wachen lachten. El Haleb glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Dann rötete der Zorn sein Gesicht. Aber er unterdrückte ihn 47
rasch. Mit offenem Spott erwiderte er: »Bist du so einfältig, König, daß du nicht weißt, daß das einzige Fleisch, nach dem es mich verlangt, deines ist?« »Ich weiß die Glut deiner Leidenschaft zu würdigen, Siliker. Aber laß dir sagen, daß es mich nicht nach dir verlangen würde, wenn ich des Königs Sklavin wäre ...« Wieder lachten die Wachen. »Du wärst auch nicht meine Auserwählte, selbst wenn du des Königs Tochter wärst, denn wir Siliker lieben die Frauen schlank und blutvoll – und unsere Könige nicht minder ...!« Diese Worte fanden ihr Ziel. El Haleb sah, wie der König die Fäuste ballte. Da kam die Stimme des Mädchens – bittend: »Herr, bitte ... ich möchte, daß er mich sieht ... dann mag er entscheiden ...« Die Wut schwand nur langsam aus Zogors Zügen. Die Szene belustigte ihn trotz allem. »Ah, meine Sklavin, du hast recht. Er soll dich ansehen. Er wird lange suchen müssen in Amyrons Reich, bevor er deinesgleichen findet. Er winkte lachend. »Öffnet die Tür!« Eine der Kerkerwachen schob den schweren Riegel zur Seite und stieß die Tür auf. El Haleb starrte unsicher auf das Mädchen, das eben ihren Umhang abnahm. Er hielt den Gürtel halb verborgen hinter seinem Körper. Die beiden Gefolgsmänner folgten seinem Beispiel. El Haleb sah, daß das Mädchen wunderschön war – von kräftigem Wuchs. Ein triumphierendes Lächeln lag um ihren Mund. Langsam schob sie die knöchellangen Röcke hoch, was den umstehenden Männern ein brüllendes Lachen entlockte. Aber nur El Haleb und die beiden anderen Siliker konnten sie von vorn sehen. 48
Und nur sie sahen den Dolch am Schenkel des Mädchens. »Nun?« rief der König ungeduldig. »Wie ist es, Siliker?« Statt einer Antwort trat El Haleb auf die Sklavin zu. Nach einem Augenblick des Zögerns nahm er sie in die Arme, was mit Beifallsrufen von den Zuschauern bedacht wurde. Während die Hände des Silikers am Leib des Mädchens nach unten wanderten und langsam den Dolch aus der Hülle zogen, legten sich ihre Arme um seinen Nacken und zogen sein Gesicht nahe an ihres. Er fühlte ihren heißen Atem und ihre kosenden Lippen, und dann hörte er ihre flüsternde Stimme nahe seinem Ohr: »Ich werde auf die erste der Wachen zugehen. Hast du den Dolch?« El Haleb antwortete ebenso flüsternd, während er ihren Hals mit Küssen bedeckte: »Ja.« »So stoß zu und nimm sein Schwert. Alles andere liegt in den Händen der Götter ...« Nach den letzten Worten taumelte sie und riß den Siliker halb mit. Einer der Soldaten griff nach ihr, um sie aufzufangen, aber es bekam ihm schlecht, denn im nächsten Augenblick war der Korridor ein Schlachtfeld. Das Mädchen rammte ihm die Knie in den Leib, daß er zusammenklappte, während El Haleb dem Danebenstehenden den Dolch in die Brust stieß, bevor dieser begriff, daß Amyrons Schatten über ihm schwebte. Der Siliker entriß dem Sterbenden das Schwert und schwang es wie ein Berserker. Die Wachen sprangen schreiend zurück. Hinter ihm erklang das Pfeifen der Gürtel seiner Gefährten, gefolgt von Schmerzensschreien. Und dann die Stimme des Mädchens mit einem langgezogenen, schmetternden Ruf, der den Siliker herumfahren 49
ließ. Der Kampfruf der Katmahzari-Kriegerinnen. Aus den Augenwinkeln sah er sie mit einem Schwert auf die Soldaten einstürmen. Die behindernden Röcke hatte sie von sich geschleudert. Dann hatte er selbst zu tun. Und als sein Gegner fiel, sah er, daß der König verschwunden war. Er gewahrte eine Gestalt am düsteren Ende des Korridors. Gehetzt sah er sich um. Der letzte der Soldaten wandte sich zur Flucht aber die Gefährten holten ihn rasch ein. Als er in den Korridor stürmte, stellte sich ihm eine Gestalt in den Weg: der Alte. »Den König von Myra töten die Götter, nicht die Hand eines Verurteilten«, sagte er schnarrend. »Meinst du?« keuchte El Haleb und stieß ihm das krumme Schwert in den Leib. Als er es herausriß, griff jähe Furcht nach ihm. Die klaffende Wunde schloß sich wie durch Zauberei. Das Mädchen stand plötzlich neben ihm. Sie hielt eine Fackel in ihrer Hand und leuchtete das faltige Gesicht des Alten an. »Du bist nicht Zamoc«, flüsterte sie. Der Magier lachte. »Ah, aber ich bin Zamoc, solange es mir gefällt ...« »Vielleicht nicht«, knurrte El Haleb und stürzte vor, führte einen gewaltigen Streich gegen den Schädel Zamocs und spaltete ihn. Kein Tropfen Blut kam aus dem Fleisch, während die Siliker entsetzt starrten. »Bei den Göttern!« rief El Haleb aus und wich entsetzt zurück, als die Hände des Alten nach seiner Kehle griffen. Das war kein Mensch, das war ein Dämon. Das Schwert entfiel seiner Faust. Da sprang Dajna vor und stieß die brennende Fackel in das bereits wieder verwachsene Gesicht. Ein gequälter Aufschrei folgte, und die Hände gaben den Siliker frei. 50
»Rasch!« rief das Mädchen und eilte voran, während Zamoc mit brennendem Haar und geblendeten Augen gegen die Wand fiel und mit einem unmenschlichen Wimmern zu Boden sank. Als die Siliker das Mädchen einholten, sagte sie: »Ich hoffe, das hält ihn eine Weile auf. Was immer er auch ist, Mensch oder Teufel, er ist gefährlicher als der König ...« »Der König ...!« knirschte El Haleb. »Wir müssen ihn finden ...!« »Keine Zeit!« rief das Mädchen scharf. Das brachte den Silikerfürsten zur Besinnung. »Wir müssen fliehen. Ich kenne alle Pläne des Königs. Ich habe das Gespräch zwischen ihm und seinem neuen Kanzler belauscht. Es ist wichtiger, daß wir Dan warnen und Urgor und mein Volk und daß wir uns wahren – oder wir werden alle untergehen. Uns bleibt nicht viel Zeit. Die Flotte wird heute mittag auslaufen ...« »Dann ist es zu spät«, rief El Haleb. »Niemand könnte früher als die Flotte in Dan sein ...« »Uns bleibt nur ein Weg. Wenn es uns gelingt, aus der Stadt zu kommen, müssen wir den alten Tempel finden, in dem die Weisen leben ... die Söhne von Atlantis ... Zamoc selbst sagte, sie besäßen geheimnisvolle Kräfte. Sie können vielleicht helfen ...« Der Palast schien zu erwachen. Stimmen kamen auf. Das spornte die Flüchtenden zur Eile an. Das Mädchen hatte recht, dachte El Haleb, während sie durch den stillen Palastgarten liefen. Hier würde sich keine Gelegenheit mehr bieten, den König zu töten. Und es würde die Heere nicht aufhalten, selbst wenn es ihm gelang. Er mußte auf schnellstem Wege nach Silif.
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5.
In Urgor fiel der Regen mit Urgewalt vom düstergrauen Himmel. Er hob den Raxos über die Ufer und verwandelte ihn in ein reißendes, schlammiges Meer. Im Audienzraum des Palastes saß die Königin Amee mit drei Männern. Einer war Parthos, der Kommandant der stetig wachsenden Herrschaar Urgors. Zwischen ihm und der Königin saß Dragon. Sein Blick war nachdenklich auf den dritten Mann gerichtet, der ihm gegenüberstand und fröstelnd die Hände am Feuer wärmte, das in dem offenen Kamin brannte. Es war dies der private Audienzraum der Königin, in dem sie vertraute Besucher empfing. Und jener, der am Feuer stand und sein nasses, weißes Gewand trocknete, das ihn als einen der Weisen der Berge auswies, war ein alter Vertrauter: Dilorn. Es war keine besondere Audienz, denn er kam nicht von weit her. Er wohnte in Iwas Haus seit zwanzig Tagen, und seine seltsamen Kräfte, mit denen er noch vor wenigen Tagen, mit denen er noch vor wenigen Monden vor Dragons und Amees erstaunten Augen am Ah‘rath die Späher des Gottes der vielen Namen abgewehrt hatte, waren nun in der Stadt von großem Nutzen. Sein unglaublicher Geist erhielt Nachrichten, die durch Botschafter erst viele Tage später angekommen wären. Anfangs hatte es wohl Zweifel ob der Richtigkeit gegeben. Aber sie verebbten rasch. Was blieb, war Magie – die Magie der wandernden Gedanken! War es nicht so? 52
Da stand Dilorn mit einer Botschaft vom Ah‘rath. Der Ah‘rath aber lag jenseits des Raxos. Und niemand vermochte diese reißende Flut zu überqueren! »Ich kann es nur wiederholen«, stellte Dilorn fest. »Romon will mit allem Volk den Ah‘rath verlassen und nach Urgor ziehen ...« »Aber das ist Wahnsinn«, unterbrach ihn Dragon heftig. »Nirgendwo werden sie so sicher sein wie in dieser Bergfestung ...« »Alle Weisheit ist letztendlich ohne Kraft. Jahrtausende mögen am Ah‘rath vergehen, und Atlantis wird nicht greifbarer sein als jetzt und die Goldene Zeit nicht näher. In dir Dragon, schlummert der Funke, der alles entzünden mag. Ein Mann kann nur einer Liebe dienen (Amee errötete bei diesen Worten). Dem Schwert oder der Weisheit. Noch dienst du dem Schwert, und das ist gut, denn du hast die Weisheit an deiner Seite. Romon sagte, du bist unser Gott! Der Herrscher über ein Volk; die Söhne von Atlantis, wo immer sie auch verstreut sein mögen. Wir brauchen dein Schwert, Dragon, deine Macht und die der Königin über das Volk. Gemeinsam haben wir einen Sieg über Cnossos errungen. Gemeinsam mögen wir auch über König Zogor siegen und über den Unverstand der Menschen. Wir müssen es, wenn diese Zeit der Barbarei ein Ende haben soll. Die Söhne von Atlantis werden dir ein treues Volk sein, und mag ihre Zahl auch klein sein ... ihre Weisheit macht manches wett ...« Dragon nickte. »Ich zweifle nicht daran, Dilorn. Du selbst bist ein gutes Beispiel dafür. Dennoch ist es Wahnsinn. Ein myranisches Heer wird vor diesen Toren stehen. Und niemand weiß, ob die Mauern diesem Ansturm standhalten werden ...« »Sie werden, Dragon«, warf Partho zuversichtlich ein. »Zweitausend Männer habe ich gelehrt, ein Schwert zu 53
führen und zu reiten wie Teufel. Und du findest keine besseren Krieger mit dem Bogen in ganz Myra. Unsere Schmieden arbeiten unermüdlich. Ein weiteres Tausend Männer ist wohlausgerüstet. Und noch immer bringen unsere Botschafter Scharen von Kriegern in die Stadt. Ganz zu schweigen von jenen, die am anderen Ufer des Flusses lagern und nur darauf warten, ihn überqueren zu können. Und wir wissen noch nichts von Nabib und Mejchal. Das mag wohl noch eine Weile dauern. Nur eines denke ich, wird nicht Erfolg haben: unsere Botschafter in Katmahzar. Aber das bekümmert mich nicht. Es kann nicht gut sein, wenn Weiber ein Schwert führen ...« Er schüttelte den Kopf. »Eine gerade Klinge noch dazu, wie ich Nabib erzählen hörte ...« Er schüttelte erneut den Kopf. »Was vermag eine gerade Klinge, was eine Axt nicht besser könnte ...?« »Stechen«, sagte Dragon ohne Zögern. Amee schauderte unwillkürlich. »Man führt nur selten einen Stoß«, erwiderte Partho. »Das Schwert ist für den Hieb. Nein, ich fürchte, sie werden uns keine große Hilfe sein, wenn sie unserem Ruf überhaupt Folge leisten.« Plötzlich grinste er. »Aber wenn sie tatsächlich mit entblößten Brüsten kämpfen, wie die Gerüchte sagen, werden die Feinde wertvolle Augenblicke verlieren ...« »Nicht die Myraner«, wandte Amee lächelnd ein. »Ihre Frauen bekleiden ihre Brüste nicht. Aber vielleicht werden es unsere Männer sein, deren Blicke gefangen sein werden, mein guter Partho ...« Dragon lachte. »Das ist noch etwas, auf das du die Soldaten Urgors vorbereiten mußt, Freund Partho!« »Man sagt, daß sie wild sind im Kampf und alles Weibliche verlieren ...«, murmelte Partho. 54
»Verlieren wir nicht auch alles Männliche, wenn wir töten?« wandte Dilorn ein. »Allein in der Liebe gibt es wahrhaft Männliches und Weibliches. Sonst ist nur Menschliches in uns ... oder Dämonisches. Und wie unmenschlich uns das Schwert erscheint, es mag auch menschlich sein und Erlösung geben. Wie wahrhaft menschenwürdig uns der Geist erscheint, er mag von einer solchen Dämonie sein, daß alle Weisheit faulig ist und krank. Ihr seht meine Freunde, die Werte sind nicht fest. Es ist eine falsche Weisheit, die uns lehren will, der Gleichlauf der Welt läge im Gebären des Weibes und im Töten des Mannes.« »Mag sein«, stimmte Partho zu, »daß ich die Dinge zu einfach sehe. Ich bin nur ein Krieger. Ich kenne mein Handwerk und ich kenne die Weiber. Und für letztere lege ich für meinen Teil das Schwert aus der Hand.« »Sei unbesorgt, Partho«, sagte Amee lächelnd. »Sie werden nicht auf der Seite des Feindes stehen, das ist gewiß. Du wirst also dein Schwert nicht gegen sie erheben müssen. Und du wirst wenig Begehrenswertes an ihnen finden, denn die Katmahzari-Kriegerinnen, so habe ich sagen hören, sind kräftige, muskulöse Mannweiber, in deren Busen keine Zärtlichkeit schlummert ...« Dragon grinste. »Ich wäre nicht so sicher. Sie haben über dem Töten das Gebären nicht vergessen. Und nichts wird aus sich selbst geboren ...« »Aber dazu bedarf es keiner Liebe«, widersprach Amee. »Sag mir eines. Bruder Dilorn. Wann werden Romon und seine Schar eintreffen?« »In wenigen Tagen schon, Majestät. Sie sind bereits aufgebrochen. Aber es hängt davon ab, wann das Wasser des Raxos genügend sinkt, daß sie ihn überqueren können ...« »Wie viele zählen sie?« 55
»Mehr als zehn Dutzend.« »Eine stattliche Anzahl ...« »Ihr werdet keine Mühe mit ihnen haben ... mit uns haben«, sagte Bilorn rasch. »Das weiß ich, Bruder«, antwortete Amee. »Und ihr seid uns mehr als willkommen.« Dilorn lächelte dankend. »Wir werden euch mit allen unseren Kräften unterstützen ...« »Besitzen alle solche Teufelskralle wie du?« fragte Partho, den der Gedanke unbehaglich stimmte. Dilorn schüttelte den Kopf. »Aber nein. Wir nehmen alle auf, die zu uns kommen, weil sie in Krieg und Gewalt keine Erfüllung finden. Aber wir sind auch immer auf der Suche nach Talenten. Einige habt ihr ...« er nickte Dragon und Amee zu, »bereits am Ah‘rath bei der Arbeit gesehen. Den alten Gormas ... aber seine Kräfte schwinden langsam dahin. Er ist sehr alt. Und dann Fren, der wie ich Gedanken auffangen kann, die jemand mit einem anderen Talent an ihn richtet. Er ist nicht sehr stark. Vielleicht weil er noch zu jung ist. Ich vermag zu, hören‘, was Kim oder Kano am Ah‘rath denken, wenn sie alle Kraft aufbieten. Das ist eine Entfernung von mehr als vier Tagesritten. Fren ist bereits nach einem Tagesritt so taub wie jeder Normale. Verzeiht mir dieses Wort. Dafür vermag er manchesmal in den Gedanken seines Tischnachbarn zu lesen, wenn diese Gedanken frei fließen. Und dann haben wir Yina. Sie ist sechzehn Sommer und unscheinbar und still. Ihre Anwesenheit fällt niemandem auf, denn sie ist zu häßlich und zu schweigsam, um Aufmerksamkeit zu erregen. Aber sie vermag die Gedanken aller zu lesen, die ihr Auge erfaßt. Einen besseren Späher als sie werdet ihr niemals finden ...« »Wer sind Kim und Kano?« fragte Dragon. 56
»Zwillinge. Sie gleichen einander wie ein Ei dem anderen. Ihre Gedanken finden immer zueinander, selbst wenn sie viele Tagesritte voneinander getrennt sind.« Dragon war begeistert. »Sie könnten uns über jede Bewegung des myranischen Heeres, seine Stärke, seine Gliederung, seine Absichten ohne Verzögerung berichten. Es ist phantastisch!« Dilorn nickte zustimmend. »Ja, das wäre in der Tat leicht für sie. Aber du mußt sie behüten wie deinen Augapfel. Ihr Talent ist kostbar. Kostbarer als alles Gold, kostbarer als alle Schätze Myraniens. Mit ihrer Hilfe werden wir die verstreuten Scharen der Söhne von Atlantis verschmelzen. Aber sie sind noch jung – kaum dreizehn Sommer. Und im Gegensatz zu Yina sind sie noch Kinder. Und doppelt verwundbar: denn einer fühlt den Schmerz des anderen ...« Amee sah ihn erschreckt an. »Wie meinst du das?« »Stoße einem ein Messer in die Brust, und sie werden sich beide in Qualen winden und vielleicht auch zusammen sterben. Aber nun muß ich gehen. Ich versprach Iwa die Rezepte einiger Kräutermixturen, und sie läßt nun nicht mehr von mir ab ...« Partho lachte. »Iwa und ihre Wässerchen. Hast du nicht Angst, daß sie eines Tages die Gewürze mit den Giften verwechselt?« Auch Dilorn grinste. Bewundernd sagte er: »Keiner vermag Speisen so zuzubereiten wie sie. Sie ist eine Göttin. Und bevor ich es vergesse, Kommandant: Agrion läßt dir einen Gruß bestellen.« Er verneigte sich grüßend vor der Königin und wollte sich zum Gehen wenden. »Warte noch, Dilorn«, rief Dragon »Sag uns noch eines: Als wir mit der befreiten Königin nach Urgor zurückkehrten, da wußtet ihr bereits, daß König Zogor ein Heer zusammenstellte. Wie war das möglich?« 57
»Wir haben Brüder in Myra selbst, am Rande der Stadt in einem alten Tempel Ihnen bleibt nicht verborgen, was der König plant, und noch weniger könnte es ihnen verborgen bleiben, daß sich ein gewaltiges Heer an der Küste sammelte. Sie verstehen es, Vögel zu zähmen, die im Gebiet des Karavanna Sees nisten und während des Löwen – und Hirschmondes aus klärlichen Gründen bis an die Westküste ziehen. Sie befestigen kleine Schriftröllchen an ihren Beinen. Die Uska-Nomaden verbringen den größten Teil des Jahres am Karavanna See. Sie sehen regelmäßig nach dem Futterhaus, das die gezähmten Vögel anfliegen. Wir helfen ihnen, wenn sie Rat brauchen oder Heilung für kranke Menschen und Tiere. Dafür überbringen sie uns die Botschaften. Auf diese Weise wissen wir seit mehr als zwei Jahrzehnten von allen größeren Dingen, die in Myra geschehen.« Dragon schüttelte voller Bewunderung den Kopf. »Wie lange braucht so eine Nachricht, bis sie den Ah‘rath erreicht?« »Drei Tage. Manchmal vier. Das letzte Stück zum Ah‘rath ist ein beschwerlicher Ritt. Und wenn das Wetter ist wie jetzt, dann mag es auch zehn dauern. Aber das ist immer noch schneller, als ein Botschafter von Dan reiten könnte. Und selbst die Flotte würde bei günstigem Wind zehn Tage von Myra nach Dan benötigen ...« »Das bedeutet, daß wir Dan nicht mehr warnen können«, unterbrach ihn Dragon. »Unsere Warnung würde auf jeden Fall zu spät kommen!« »Sie werden ihre eigenen Kundschafter haben«, erwiderte Dilorn. »Ja, das denke ich auch«, sagte Partho. »Wir werden mehr wissen, wenn unser Botschafter aus Dan zurückkommt.« 58
Zwei Tage später schlossen sich die Schleusen des Himmels, und am dritten Tag sank der Raxos. Gegen Abend wagten die ersten die Überquerung eine Marschstunde flußaufwärts, und nach und nach traf ein halbes Tausend Männer ein, die aus der Umgebung zusammengekommen waren, um dem Ruf Urgors zu folgen. Gerüchte von König Zogors Gewalttätigkeit und Grausamkeit waren längst über die Berge nach Osten gedrungen, so daß die nomadisierenden Stämme des Raxostales und vereinzelte Stämme aus dem Gebiet des Euphir und Tigerflusses sich bereitwillig Urgor anschlossen, weil sie nur allzu deutlich ahnten, daß nichts mehr die myranischen Scharen aufhalten konnte, wenn Urgor fiel. Selbst die wenigen Bauern der Umgegend riefen ihre Sippen zum Anschluß an Urgor auf. Und daß Urgor guten Sold versprach und eine gute Summe bereits zum Einstand bezahlte, sprach sich rasch herum. Es gab ein Fest an diesem Abend in der Stadt, in das unter gewaltigem Jubel Nabib mit zweitausend Kriegern aus Zunt platzte. Siegesgewißheit breitete sich unter den Menschen aus, die noch nie zuvor eine solch gewaltige Anzahl von Soldaten in ihrer Stadt erlebt hatten: Sechstausend. Sechstausend Krieger und die Berge! War König Zogor ein Narr, daß er es gegen solch eine Macht aufnahm? Auch Partho wirkte siegessicher. Und sein Optimismus stieg noch gewaltig, als er erkannte, wie wohlausgerüstet und ausgebildet die Zunter waren. Auch Amee atmete freier seit Nabibs erfolgreicher Rückkehr. Nur Dragon schien noch nicht gewillt, die allgemeine Begeisterung zu teilen. Mehrmals in diesen Tagen suchte er Dilorn auf, um immer wieder die gleichen Fragen zu stellen: Wie viele 59
Krieger hatte der myranische König?Waren seine Truppen schon auf dem Weg? Gab es Nachrichten aus Myra? Aber Dilorn wußte keine Antworten auf diese Fragen. Es kamen keine Botschaften von den Brüdern in Myra mehr. Ein Bote war zu den Uska gesandt worden mit der Nachricht, daß die Weisen den Ah‘rath verließen und nach Urgor zogen. Romons Karawane würde die Stadt am nächsten Mittag erreichen. Nein, keine Nachricht aus Myra. Keine Nachricht über die Stärke des myranischen Heeres. Vor zwanzig Tagen waren es noch zwanzigtausend gewesen. Zwanzigtausend! Und jetzt? Dreißig – oder gar vierzigtausend? Nein – Dragon fühlte sich alles andere denn siegesgewiß. Das Jahr der Schlange zeichnete sein Abbild in das Antlitz der Erde: den endlosen Wurm myranischer Krieger, der sich nach Osten wand ... Am Mittag des nächsten Tages traf, wie durch Dilorn bereits angekündigt, Romon mit den Weisen, den Söhnen von Atlantis, ein. Auf Dragons Rat ließ die Königin sie im Palast unterbringen. Es gab viel zu besprechen, und Dragon wußte, daß die Klugheit und die Kräfte der Weisen die fehlenden Mannen wettmachen mußten. Er wollte sie zur Hand haben, wenn immer er eines Rates bedurfte. Romon war zuversichtlich. Seine Karawane bescherte Dragon eine Unzahl von Dingen, deren Wert oft nicht auf den ersten Blick zu erkennen war, und Dragon hatte das Gefühl, daß nichts am Ah‘rath zurückgeblieben war, das Freund oder Feind von Nutzen sein konnte. Da waren Krüge mit jenem gewaltigen Götterfeuer, dem selbst Cnossos nicht widerstanden hatte; Krüge mit 60
Donnerpulver, das Fels auseinanderzureißen vermochte; Krüge mit einer rauchenden Flüssigkeit, die einen scharfen Geruch ausströmte, der in der Nase biß und die Augen zum Tränen brachte. Dann gab es Krüge mit Öl und Salz und Getreide und jenem köstlichen Wein, der selbst Drachen betrunken machte; und es gab Gold ... Gold! Der Umwandler ...! Dragons Gedanken hielten abrupt an. Umwandler ...? Ein vertrautes Wort. Aber was bedeutete es? Unbewußt ballte er die Fäuste. Da waren wieder die Erinnerungen ... sorgsam verschlossen; wie hinter Glas – greifbar und doch nicht zu berühren ... Ein logisches Wort. Etwas wurde umgewandelt ... Aber das war zu einfach. Alles in der Natur wandelte sich um. Doch das war kein natürlicher Wandel ... Als schlösse sich eine Tür, verschwand auch das Gefühl der Nähe der Erkenntnis. Was blieb, war nur das Wort ... Umwandler. Aber es weckte nichts mehr. Die unbegreifliche Vergangenheit lag wieder verschlossen. Dieser Spalt, der sich für Augenblicke auftat, und der doch nichts erkennen ließ, quälte ihn immer häufiger. Manchmal war es ihm, als müsse er daran verzweifeln. Die Menschen in Urgor nannten ihn einen Gott, den »Schlafenden Gott«, der eines Tages in einem Schrein aufwachte, dessen gläserne Wände härter als Eisen waren und reiner als die klarste Luft. Er erwachte wie ein Neugeborener – ohne Erinnerung, aber erwachsen im Handeln und Denken. Und er wußte mit dem Instinkt des Tieres: Dies war nicht seine Welt. Doch was war seine Welt? Wie war seine Welt ... außer, daß sie einfach anders war? War es jenes Goldene Zeitalter, von der die Weisen träumten? Atlantis? 61
Es gab nur diese eine Tür. Und die Götter hielten sie verschlossen. Und quälten ihn damit, daß sie ihm die Gewißheit gaben, daß sich etwas dahinter befand. Elektrizität war eines der Worte von drüben. Und nun Umwandler. Der Kasten-der-alles-kann, wie ihn Romon bezeichnete; der aus Stein und Erde Gold schuf ... Dieser mußte sich noch am Ah‘rath befinden, vermutlich sorgsam verborgen. Doch Romon schüttelte den Kopf. »Nein, Dragon. Er ist einer der Grunde, warum wir unsere Festung am Berg so lange Jahrhunderte bewohnten. Aber die Kraft des Kastens ist erloschen. Mit einemmal kam kein Gold mehr, obwohl dieses Summen in seinem Innern noch fortdauerte. Wir drehten an einigen der Hebel, und dann begann diese rauchige Flüssigkeit aus dem Schnabel zu fließen. Wir fingen sie in Krügen. Aber zwei meiner Männer verloren ihre Hände unter großen Qualen ...« »Sie verloren ihre Hände?« fragte Dragon erstaunt. Romon nickte. »Es war, als ob sie verbrennen würden. Selbst die Knochen begannen sich aufzulösen. Es war grauenvoll, denn wir konnten nichts tun. Wir mußten zusehen. Als es nicht mehr zu ertragen war, schlugen wir ihnen die Hände ab und stillten das Blut mit Feuer und nähten die Haut mit Därmen, wie wir es von unseren Vätern lernten. Sie werden leben, auch ohne ihre Hände. Aber du magst dieses Wasser vielleicht brauchen ... wenn es Zogor wirklich gelingt, die Mauern Urgors zu erreichen. Dann wird so mancher verfluchen, dem König von Myra gedient zu haben ...« Dragon schauderte. »Wir brachten den Kasten zum Schweigen«, fuhr Romon fort. »Und als er schließlich schwieg, konnte ihn keiner mehr zum Leben erwecken. Nun hält uns nichts 62
mehr am Ah‘rath. Aber hier werden wir sehr nützlich sein ...« »Welche Nachrichten bringst du mir?« Romon schüttelte bedauernd den Kopf. »Keine, Dragon, die dir nicht Dilorn längst mitgeteilt hätte. Aber Pläne habe ich dir zu unterbreiten – Pläne, wie wir uns die wichtigen Nachrichten verschaffen können. Du hast genügend Männer in der Stadt, die hier nur ungeduldig werden. Ungeduld ist ein schlechter Kämpfer ...« »Ich weiß«, stimmte Dragon zu. »Partho klagte bereits darüber. Ich werde deshalb Kundschaftertrupps aussenden, die den Raxos aufwärts reiten sollen ...« »Das war es, was ich dir vorschlagen wollte«, fiel Romon eifrig ein. »Sie müssen stark genug sein, daß sie einer feindlichen Vorhut im Notfall gewachsen sind, und doch klein genug und damit beweglich. Und sie werden Kano mit sich nehmen. Dann erhalten wir alle wichtigen Beobachtungen von Kim ohne Verzögerung.« Dragon nickte. »Wir werden Zogor nicht nur beobachten. Wir werden ihm den Weg so beschwerlich wie möglich machen. Wir werden diesen myranischen Soldaten die Lust nehmen, nach Urgor zu marschieren. Ah, Romon, wie sehr ich deine Hilfe schätze ...« Der oberste der Söhne von Atlantis lächelte. »Ich werde Partho rufen«, fuhr Dragon fort, mehr zu sich selbst. »Sie sollen meinen Plan erfahren. Ich brauche auch Dilorn. Und schaffe mir die Zwillinge herbei!« Er ballte die Fäuste und schlug mit den Knöcheln der Finger aneinander. Im nächsten Augenblick schien er seine letzten Zweifel abgeschüttelt zu haben. Er sah Romon an und nickte. »Noch in dieser Stunde werden wir handeln ...!«
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Kim und Kano blickten Dragon bewundernd an. Ihre braunen Gesichter strahlten. »Romon meinte, wir sollten Onkel zu dir sagen«, erklärte Kim grinsend. »Aber die Frage ist ...« »Kannst du uns als Neffen brauchen?« ergänzte Kano. »Was wärt ihr denn gern?« fragte Dragon lachend. »Meine Brüder?« »Oh, nein!« rief Kim. »Brüder und Schwestern haben wir genug!« rief Kano. Dragon schüttelte zweifelnd den Kopf. »Ob Königin Amee viel Freude haben wird, wenn ihr sie Tante nennt ...?« »Oh!« riefen die Zwillinge enttäuscht. »Es klingt ... hm, ein wenig alt. Und Alter ist bei Mädchen immer ein wunder Punkt. So eine alte Tante ...« »Mit zwanzig bin ich gern Tante«, erklärte Amee, die lächelnd eintrat. »Wenn ihr versprecht, mich in zehn Sommern als eure Tochter anzunehmen ...« »Mann«, sagte Kim. »Wir sind mit einer Königin verwandt«, ergänzte Kano. »Er schüttelte den schwarzen Haarschopf. »Wenn das die Maus wüßte ...« »Die Maus?« fragte Amee. »Wer ist das?« Kim deutete mit einer ausholenden Geste um sich. »Eine unserer zahllosen Schwestern. Wir nennen sie Maus, weil ... weil sie eben einer Maus ähnlich ist ...« »Sie meinen Yina«, erklärte Dilorn, der, noch ein wenig keuchend vom raschen Gang, im Audienzraum eintraf. Die beiden Knaben begrüßten ihn stürmisch. Kurz darauf erschien auch Partho, und Dragon begann sofort seinen Plan zu erklären. 64
»Wir werden noch heute ein halbes Dutzend Spähertrupps aussenden. Alles in allem dreihundert Männer. Können sie in ein oder zwei Stunden aufbrechen?« »Sicher«, stimmte Partho zu. »Aber haben wir nicht bereits mehr als zwei Hundertschaften auf wichtige Beobachtungspunkte verteilt?« Dragon schüttelte den Kopf. »Sie sind zu nah. Wenn sie den Feind erkennen, vermag ihn nichts mehr aufzuhalten. Wir müssen diesen zwanzigtausend Kriegern den Marsch zur Hölle machen. Nicht umsonst sind die Berge unsere Welt ...« »Zwanzigtausend!« Amee erbleichte. »Das ist Unsinn«, erklärte Partho, aber seine Miene sagte deutlich, daß er nicht so sicher war, wie er die anderen glauben machen wollte. »Er wird Truppen in Myra lassen müssen und in Akyrja ...« »Er mag wesentlich mehr haben, als diese zwanzigtausend, von denen wir vor geraumer Zeit erfuhren. Es ist besser, wenn wir mit dem Schlimmsten rechnen ...« »Und das Schlimmste sind zwanzigtausend?« sagte Amee tonlos. »Das denke ich«, bestätigte Dragon. »Wir müssen sie so in Atem halten, daß diese Stadtmauern, wenn sie sie schließlich erreichen, ihnen unüberwindlich erscheinen ...« »Das werden diese dreihundert niemals schaffen«, warf Partho ein. »Das ist wahr. Und ich hatte sie auch nicht dafür vorgesehen. Sie müssen so rasch wie möglich nach Westen, bis Siev, wenn es sein muß. Sie werden jeden Kontakt mit den Myranern unter allen Umständen vermeiden. Zogor darf nicht ahnen, daß er beobachtet wird. Sicher erwartet er auch nicht, daß wir ihm so weit entgegen65
kommen. Sie beobachten das Heer nur und melden alles, was geschieht ...« »Melden wem und wie ...?« »Kano ...« Er nickte ihm ernst zu. »Kano wird bei diesen Spähern sein. So kann Kim hier in der Stadt alle Nachrichten empfangen, die Kano mit seinen Gedanken an ihn schickt.« Er wandte sich an Dilorn. »Habe ich dich so recht verstanden?« Dilorn nickte zustimmend. Dragon sah Partho auffordernd an. »Was meinst du?« Der Kommandant nickte nachdenklich. »Ja«, sagte er dann. »Wenn es wirklich so einfach ist, wie es deine Worte machen ...« »Das ist es, Partho.« »Wer aber wird dem feindlichen Heer zusetzen auf seinem Weg?« fragte Partho. »Zweitausend Krieger unter deinem Kommando«, erklärte Dragon. Partho stieß pfeifend die Luft aus. »Das sind zuwenige ...« Dragon schüttelte den Kopf. »Für einen offenen Kampf würden auch alle sechstausend nicht genug sein, die sich in Urgor versammelt haben. Du mußt einen Kampf unbedingt vermeiden, sie in Hinterhalte locken. Wir haben das Donnerpulver, das Berge in tödliche Felslawinen verwandeln kann. Sie werden Hunger leiden, denn du wirst ihnen alles Wild verjagen, ihre Jäger töten. Und niemals sollen sie einen deiner Männer zu Gesicht bekommen. Ein unsichtbarer Feind, dessen Stärke und Pläne niemand kennt, birgt viele Schrecken. Wir werden die Einzelheiten noch besprechen ...« Partho nickte mit einem nachdenklichen Lächeln. 66
»Dilorn«, fuhr Dragon fort, »wie weit sagtest du, könntest du Gedankenstimmen hören?« »Vier bis fünf Tagesritte ...« »Das wäre in westlicher Richtung bis in die Berge, in denen die Quellen des Euphir liegen ...?« Dilorn schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich kenne sie nicht ...« »Das ist der kürzeste Weg nach Siev«, erklärte Romon. Dragon nickte zustimmend. »Ich habe einen Plan gezeichnet nach Auskünften der Nomadenstämme und Händler. Sie kennen alle Straßen genau ...« »Ich kenne das Gebiet gut genug«, erklärte Partho. »Ich würde Siev in dunkler Nacht finden ...« »So weit wirst du vorerst nicht vorstoßen«, stellte Dragon fest. »Du brichst in zwei Tagen mit deinen Männern auf. Dilorn wird dich begleiten. Ihr werdet so weit reiten, wie Dilorn mit Kano in Verbindung bleiben kann. Dann werdet ihr lagern und abwarten, bis wir von Kano die ersten Berichte über Zogors Streitmacht haben und an Dilorn weitergeben. Dann weißt du genug, um zu handeln, ohne unliebsame Überraschungen zu erleben. Dilorn wird bei dir bleiben. Er wird dir sehr nützlich sein, denn er wird schließlich Verbindung mit Kano von den Spähertrupps erhalten und dich laufend über jede kleinste Bewegung des Gegners unterrichten können, so daß du in aller Ruhe planen und vorbereiten kannst ...« »Ein weiser Plan«, stimmte Romon zu. Amee und Dilorn nickten überzeugt. Partho hieb mit der Faust auf den Tisch. »Das wird ein Feldzug, der selbst den Göttern gefallen muß – wenn sie zusehen. Dennoch wünschte ich, ich hätte mehr Männer ...« Dragon grinste. »Ich auch«, sagte er trocken. »Und solange wir die genauen Pläne Zogors nicht kennen, muß 67
die Hauptmacht in Urgor bleiben. Wir wissen nichts von seiner Flotte, und wir haben keine Nachricht aus Dan. Wenn Dan uns in den Rücken fällt, müssen wir auch nach dem Süden gerüstet sein ...« Nachdenklich fügte er hinzu: »Wenn Zogor sein Heer geteilt hat, liegt es an uns, daß die Teile nicht mehr zusammentreffen ... aber es wird schwer sein ... verdammt schwer ...« »Wir wollen umkehren, Agrion«, rief Partho und hielt sein Pferd an. Das Mädchen nickte. Ihr Gesicht war gerötet vom raschen Ritt. Sie kam zu Partho zurück, lehnte sich weit aus dem Sattel und küßte den Kommandanten mit einer plötzlichen Wildheit. Als sie ihn losließ, sah sie ihn lange an. »Vielleicht sehen wir uns nicht wieder, Partho«, murmelte sie. Er lachte nur, aber es klang ein wenig unsicher. Der schmerzliche Ausdruck verschwand aus ihren Augen. Sie strich ihre braunen Locken aus der Stirn und löste sich sanft aus seinen Armen. Ein feines Lächeln war auf ihren Lippen. »Der Krieg macht Sklaven aus Männern, und das Schwert Narren.« Sie seufzte. »Seit ich frei bin, weiß ich nicht mehr so recht, was Freiheit ist. Wünsche und Sehnsüchte sind wie starke Ketten. Als Sklavin fühlte ich das nie. Da gab es wenig für mich selbst zu entscheiden. Aber nun ... Vielleicht liebe ich dich doch weit über diese Zuneigung hinaus, die wir uns gestanden ...« »Wären das nicht neue Ketten?« sagte er. »Aus hartem Eisen«, lachte sie, »Ah, ich weiß es nicht, Partho. Ich werde so vieles vermissen in den kommenden Tagen ...« Er nickte. 68
Aus dem nahen Wald tauchte ein Reiter auf, der in raschem Galopp auf die beiden zukam. »Ubali kommt«, murmelte Agrion und richtete sich im Sattel auf. »Und er scheint es eilig zu haben.« Der Schwarze winkte heftig, als er heransprengte, »Krieger!« rief er. »Das ganze Raxostal ist voller Krieger. Sie marschieren auf Urgor zu.« »Was sagst du da?« entfuhr es Partho. »Kommt mit. Nicht weit von hier hat man einen guten Überblick über einen großen Teil des Tales ...« Und schon sprengte er voran, so daß Partho und Agrion gar nichts anderes übrigblieb, als zu folgen. Sie durchquerten das kleine Wäldchen, aus dem Ubali aufgetaucht war. Am Waldrand sprang er vom Pferd. »Es ist besser, wenn wir absteigen. Ihre Späher beobachten vielleicht die Felsen.« Sie folgten seinem Beispiel und banden die Pferde an die Bäume. Dann eilten sie vorsichtig hinter dem Schwarzen her. Das Rauschen des Raxos wurde rasch lauter. Auf einen warnenden Wink Ubalis huschten sie geduckt zwischen den letzten Felsen hindurch. Abrupt tauchte der Rand der Schlucht vor ihnen auf. Flach zwischen den Steinen liegend, spähten sie hinab auf die Ufer des silbernen Raxos. Die Reiter fielen sofort auf, denn sie bildeten einen schier endlosen Wurm von zwei oder dreien nebeneinander. Mehr ließ das schmale Ufer nicht zu. »Das können keine myranischen Krieger sein«, meinte Partho bestimmt. »Nicht nur, daß sie zu früh kommen und daß unsere Späher sie bemerkt haben müßten – sie sind auch zu unvorsichtig für ein feindliches Heer. Kein vernünftiger Haufen würde im Feindesland durch solch eine Schlucht reiten und das Risiko eines Hinterhalts eingehen ...« 69
»Du meinst, sie haben die Absicht, sich Urgor anzuschließen?« fragte Agrion. »Es sieht so aus«, erwiderte Partho. Plötzlich grinste er. »Kneift mal die Augen zusammen und seht sie euch genauer an ...!« Verwundert starrten Ubali und das Mädchen in die Tiefe, und nach einigen Augenblicken erkannten sie, was Partho meinte. Das waren Frauen, die da unten in vollem Kriegskleid ritten ... Kriegerinnen aus Katmahzar. Einige Hunderte. »Wenn das nur gutgeht«, knurrte Partho, »und meine Männer nicht den Krieg vergessen ...« »Sie werden sich rasch besinnen!« stellte eine Stimme hinter ihnen fest. Sie fuhren herum. »Liegen bleiben!« schnarrte die Stimme. Die drei sahen sich von wenigstens drei Dutzend Kriegerinnen umstellt, und ließen sich wieder zurücksinken. Aufspringen und Laufen war nicht besonders reizvoll im Hinblick auf ein Dutzend gespannter Bogen. Statt dessen musterten sie die Frauen neugierig. Sie waren ausnahmslos von stattlicher Größe und kräftigem Wuchs. Ihre Arme und Beine waren muskulös, ihr braunes Haar kurz, so daß es kaum unter den ledernen Helmen hervorhing. Sie trugen kurze, rote Wollröcke, in deren grobes Gewebe ein Geflecht von kleinen Eisenringen so geschickt gearbeitet war, daß kein noch so leises Klirren zustande kam. Ihr Oberkörper waren in lederne, mit Metallschienen versteifte Harnische geschnürt. Scharfe, spitze Schalen aus blankem Metall bedeckten die Brüste. Handbreite Gürtel waren um ihre Mitte geschlungen. An ihnen hingen die kurzen, geraden Schwerter, von denen Partho so wenig hielt. Die meisten trugen außerdem noch schmale Dolche mit ungewöhnlich breiter Pa70
rierstange; und alle bis auf die Anführerin der kleinen Schar hielten einen mittelschweren Bogen bereit mit einem gefiederten Pfeil an der Sehne. Ihre Beine steckten in Stiefeln oder bis übers Knie hochgeschnürten Sandalen mit Zehen, Fersen – und Schienbeinschutz aus Metall. Ihre Pferde waren ohne Sättel, sah man von einem festen Geflecht lederner Riemen ab, von dem steigbügelähnliche Schlaufen hingen. Vorn waren zusammengerollte Felljacken festgeschnürt und ein kleiner runder Schild aus Leder und Eisen. »Wer seid ihr?« fragte die Anführerin und stemmte die Fäuste in die Hüften. »Du, rede!« Sie deutete auf Partho. Partho zeigte auf den schwarzhäutigen Krieger an seiner Seite. »Das ist Ubali, ein Krieger aus Shi-but. Und das ist Agrion, die Vertraute der Königin von Urgor. Und ich bin Partho, der Kommandant des Heeres«, knurrte er. »Darf man erfahren, wer du bist?« Die Anführerin nickte. »Ich bin Noemara, ich führe dieses Späherkommando. Steigt auf eure Pferde, aber laßt die Finger von den Waffen. Wir werden euch zu Prinzessin Jnessa bringen. Sie entscheidet, was geschehen soll. Vorwärts!« Partho wollte aufbegehren, doch Agrion ergriff ihn warnend am Arm. Und da auch Ubali keine Anstalten des Widerstandes machte, fügte auch er sich in die Lage. Als sie die Spitze des kleinen Heeres erreichten, lag die Schlucht bereits hinter ihnen, und hinter den nächsten Hügeln konnte man bereits Urgor sehen. Wo blieben nur die urgoritischen Späher? dachte Partho. Würde man diese verdammten Weiber in die Stadt einreiten lassen und danach erst feststellen, ob sie in friedlicher oder in feindlicher Absicht kamen? 71
Im Gegensatz zu Noemara war Prinzessin Jnessa alt. Sie mochte an die fünfzig Sommer zählen. Sie war hager, fast knöchern und musterte die Ankommenden mit den scharfen Augen eines Adlers. Ihre Stimme war nicht unfreundlich. »Wen bringst du da, Neom?« »Die Prominenz von Urgor, erlauchte Prinzessin«, erklärte Neomara lächelnd. »Der hier ist der Kommandant des Heeres, Partho. Die Kleine will Agrion sein, eine Vertraute der Königin. Die Schwarzhaut ist nur ein Krieger. Laßt sie alle drei laufen, Jnessa, wir hatten seit Tagen kein ordentliches Vergnügen mehr ... und der Schwarze kann uns sicher so manches lehren ...« Sie maß ihn grinsend. Ubali entblöste seine weißen Zähne in Erwiderung des Grinsens und blickte sich ungeniert um. Die Prinzessin wandte sich an Partho. »Sag mir eines, und wenn du wahrhaftig Partho bist, wirst du nicht zögern. Wen hat deine Königin als Botschafter nach Katmahzar gesandt?« »Ein Dutzend Männer unter der Führung Merogons, eines der Weisen aus Urgor. Und wie es euer Brauch verlangte, begleitete ein unberührtes Mädchen namens Melara den Botschafter. Genügt Euch das, Prinzessin? Oder wollt Ihr uns als Gefangene nach Urgor bringen – zum Gespött meiner Männer ...?« Neomara wurde bleich. Jnessa verneigte sich. »Willkommen Kommandant. Ihr müßt das Mißtrauen meiner Kriegerinnen verzeihen. Sie sind manchmal ein wenig ungestüm. Wir müssen alle viel lernen in diesen Tagen, wenn wir Seite an Seite streiten wollen. Bereitet Eure Männer darauf vor, Kommandant Partho, daß diese Kriegerinnen rasch mit dem Dolch sind, wenn ihnen Männerhände zu nahe kommen. 72
Die Zeit des Zeugens ist im Sommer, und die Katmahzari-Frauen sind es gewohnt, ihre Gatten zu wählen ...« »Wir müssen alle umdenken lernen. Prinzessin Jnessa, und Nachsicht ist eine Tugend ohne Geschlecht«, erwiderte Partho und verneigte sich ebenso höflich. Die Prinzessin nickte. »So sind wir uns einig, Kommandant. Wißt Ihr einen guten Lagerplatz in der Nähe?« »Es ist nicht mehr notwendig, daß wir lagern. Urgor liegt hinter diesen Hügeln. Wir werden die Stadt ohne Mühe vor Sonnenuntergang erreichen ...« »So reitet an meiner Seite und geleitet uns in Eure Stadt. Laßt Euren dunkelhäutigen Gefährten voranreiten.« Partho nickte Ubali zu, der sich sofort auf den Weg machte. »Und du, Schwester«, fuhr Jnessa fort, »bist Agrion, die Sklavin der Königin ...?« »Nicht die Sklavin, erlauchte Prinzessin«, unterbrach Agrion sie. »Ich bin frei ...« »Du bist sehr jung ...« »Achtzehn Sommer, Prinzessin.« »Weißt du, daß es viele Kriegerinnen dieses Namens in Katmahzar gibt? Daß dies einer der häufigsten Namen unseres Volkes ist?« »Nein, erlauchte Prinzessin.« »Auch dein Haar gleicht dem unseres Volkes. Kann das Zufall sein ...?« »Ich weiß es nicht, erlauchte Prinzessin.« »Liebst du die Männer?« Agrion starrte nachdenklich in Jnessas faltiges Gesicht. Dann sagte sie fest: »Ja, das tue ich. Ich liebe die Männer.« 73
Jnessa wandte sich ab. »Wollen wir reiten, Kommandant?« Partho nickte erleichtert und gleichzeitig von Unbehagen erfüllt. Er ahnte, daß die kommenden Tage manche Probleme bringen würden. Dagegen mochte selbst der Krieg gegen zwanzigtausend Myraner eine simple Sache sein ... Inzwischen gab es Neuigkeiten in Urgor. Ein Bote der Uska war eingetroffen mit einer Botschaft aus Myra, die viele Fragen beantwortete und viele neue aufwarf. Hastig wurden die Heerführer zu einer Beratung berufen, bei der Dragon als erstes durch Romon die Botschaft aus Myra verlesen ließ. Sie war ungewöhnlich lang. Wir wissen, daß diese Botschaft Urgor erreichen wird, und das ist mehr, als wir zu hoffen wagen konnten. Wir, das sind El Haleb, der Fürst der Siliker, zwei seiner Gefolgsleute und ich, Dajna, die Nichte Asmyras, der Königin von Atmahzar. Wir flohen aus dem Palast des Königs. Wir kennen alle seine Pläne und die seines neuen Kanzlers Zamoc, der großen Einfluß auf den König hat und nur ein Ziel kennt: den Untergang Urgors und der Bruderschaft von Männern und Frauen und Kindern, die sich die Söhne von Atlantis nennen, oder die Weisen der Berge, die über unerklärliche Kräfte verfügen sollen und damit die Macht des Königs untergraben. Wir flohen zum Tempel des Yesur und suchten diese Weisen auf und hofften, daß sie uns mit ihren Kräften helfen wurden. Aber die Schergen des Königs kamen uns zuvor. Sie erschlugen die Männer und schleppten die Frauen und Kinder in die Verliese. Einer lebte noch, als wir kamen, und er lebte lange genug, um uns zu sagen, wie wir unsere wichtige Botschaft an euch weitergeben können, die ihr sie braucht, um zu überleben. 74
Auf Zamocs Rat soll Asmyras Reich erst später auf dem Seeweg von Zunt her angegriffen werden. Das Ziel ist Barakar an der Mündung des Kisil. Der erste Angriff erfolgt mit der Flotte auf die Hafenstadt Dan, während ein Landheer über Siev nach Osten zieht. Beide Heere sollen einander schließlich am Euphir treffen und gemeinsam gegen Urgor marschieren. Die Flotte bricht noch heute auf. Das ist der letzte Tag des Falkenmondes. Das Heer ist gewaltig. Man erzählt, daß fünfhundert Hundertschaften am Rande der Stadt lagerten. Sicher werden nicht alle nach Osten ziehen. Der König hat nur wenige Schiffe. Wenigstens zweihundert Hundertschaften bleiben in Myra. Und die Besatzung in Akyrja soll verstärkt werden. Hier ist überall Blut. Der verlassene Tempel gleicht einem Schlachtfeld. Aber es gibt nur Tote in weißen Gewändern. Keinen Soldaten. Die Söhne von Atlantis haben kein Schwert erhoben. Dies ist alles das Werk Zamocs. Er ist ein unheimlicher Mann. Ich kannte ihn einst, da lebte er am Kisil als Magier und Heiler, der vielen Menschen half. Eines Tages vertrieb man ihn. Er verschwand. Etwas ist mit ihm geschehen. Er hat sich verändert. Es ist, als ob etwas Fremdes in ihm wäre – ein Dämon. El Haleb stieß ihm das Schwert in den Leib. Wir erschraken alle, denn er blutete nicht, und die Wunde schloß sich vor unseren Augen wie durch Zauberei. Erst als ich die Fackel in sein Gesicht stieß, litt er Qual. Wo immer ihr ihm begegnet an des Königs Seite, wisset, daß das Schwert ihm nichts anzutun vermag, nur das Feuer. Es ist dunkel, und wir müssen die Nacht nutzen. El Haleb wird zu seinen Stämmen am Gover zurückkehren. Er wird sich, gegen den König stellen und Dan unterstützen, wenn es noch nicht zu spät ist. Aber dafür besteht wenig Hoffnung. Und ich werde nach Kaleir reiten, um unsere Königin von Zogors Plä75
nen zu unterrichten. Möge Matra über euch wachen wie über uns ... Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Dann brach ein Gewirr von Stimmen los, und Dragon hob die Arme. Nur mühsam beruhigten sich die Gemüter. »Ich habe diese Botschaft bereits ein Dutzendmal gelesen«, erklärte Dragon. »Laßt mich die wichtigsten Erkenntnisse noch einmal aufzählen und einige Schlüsse ziehen ...« Die Versammelten nickten zustimmend. »Die Botschaft spricht von einer gewaltigen Rekrutierung von fünfzigtausend Männern. Zwanzigtausend sollen in Myra bleiben. Einige Tausend werden in Akyrja bleiben und in den Grenzgarnisonen. Wir müssen uns demnach darauf vorbereiten, daß die Hälfte, das sind fünfundzwanzigtausend Krieger, nach Osten zieht – nach Dan und Urgor. Mehr als zehntausend mag er auf seiner Flotte nicht unterbringen. Wir wissen nichts von Dan. Damos ist noch nicht zurück. Wenn er vor dieser Übermacht kampflos aufgibt, werden acht – oder neuntausend Krieger nach Norden marschieren, zum Euphir, um sich mit dem Landheer zu treffen. Das ist es, was wir unter allen Umständen verhindern müssen. Wir haben nicht viel mehr als sechstausend Krieger in Urgor. Für eine offene Schlacht sind wir zu schwach, und eine Belagerung stehen wir nur begrenzt durch. Wir dürfen nicht warten, bis sie vor den Toren der Stadt stehen. Wir werden sie langsam zermürben auf dem Weg hierher. Wir haben dabei viele Vorteile auf unserer Seite. Die Berge stehen immer auf der Seite des Verteidigers. Partho wird morgen früh mit zweitausend Kriegern nach Westen aufbrechen. Ist Prinzessin Jnessa damit einverstanden, daß sie und ihre Kriegerinnen das Heer begleiten?« Die Prinzessin nickte zustimmend. »Gut. Wei76
tere zweitausend Männer werden mit mir nach Süden reiten, dem Heer aus Dan entgegen. Das ist mein Plan. Einzelheiten werden wir während des Rittes besprechen können. Ein Bote nach Dan ist bereits unterwegs, aber ich glaube nicht, daß er noch rechtzeitig eintreffen wird. Doch vielleicht können wir mit den Stämmen der Siliker Verbindung aufnehmen ...« »Sechstausend gegen fünfundzwanzigtausend?« Trelyk, der Anführer der Zunter schüttelte den Kopf, als könne er es nicht fassen. »Sie werden uns zertreten wie Ameisen. Woher nimmst du nur diese Zuversicht? Ich bin ja auch ein ruhiger Mensch, der sich durch besonnene Überlegung längst zu der Ansicht durchgerungen hat, daß es gleichgültig ist, ob ich vor Urgor sterbe, oder einen Mond später vor Zunt. Aber wenn ich meinen Männern da draußen sage, wie die Sache wirklich steht, werden sie nur noch lachen können, aber nicht mehr kämpfen ...« »Das ist der Unterschied zwischen euch Zuntern und uns«, erwiderte Partho in einem Anflug von Galgenhumor, »daß wir lachen, wenn wir siegen, während ihr lacht, statt zu siegen ...« »Sagtest du wahrhaftig, siegen, Partho?« Der Zunter schüttelte erneut den Kopf. »Wir sind nicht sehr viele, das stimmt«, erklärte Dragon. »Und was uns an Kriegern fehlt, müssen wir durch Klugheit ersetzen. Wir haben kleine Heere und sind dadurch beweglicher. Und der myranische König hat keine Ahnung, wie viele, oder wie wenige wir sind. Darüber müssen wir ihn unter allen Umständen im unklaren lassen. Die Berge sind unsere Welt. Wir bestimmen das Wann und das Wie und das Wo! Wir schlagen zu und verschwinden. 77
Ein unsichtbarer Feind ist auf die Dauer ein schrecklicher Feind. Und wir haben Helfer, deren unglaubliche Kräfte Tausende von Männern wettmachen: Romon und seine Brüder. Die Söhne von Atlantis ...« Erregte Stimmen wurden laut. Dragon hob die Hand. »Ich will es euch beweisen. Dilorn, kannst du Kano hören?« Dilorn lauschte einen Augenblick wie in sich hinein. Dann nickte er. »Wir sandten gestern am frühen Nachmittag die ersten Spähertrupps nach Westen«, fuhr Dragon fort. »Bei ihnen befindet sich ein kleiner Junge von kaum dreizehn Sommern. Er vermag mit Gedanken über weite Entfernungen zu rufen. Sein Zwillingsbruder befindet sich noch in Urgor, hier im Palast. Sie vermögen über Tagesritte hinweg miteinander zu sprechen mit ihren Gedanken. Auch Dilorn hier vermag diese Gedanken zu hören. Sag uns, wo die Späher sich befinden » Dilorn lauschte wiederum einen Augenblick wie auf eine innere Stimme. Dann sagte »Sie haben das Tal des Raxos verlassen und lagern tief im Gebirge. Sie hoffen, daß sie morgen mittag die Quellen des Euphir erreichen, dann wird der Weg weniger beschwerlich sein ...« Schweigen herrschte nach diesen Worten. »Später mag sich jeder überzeugen, daß Dilorn kein Schwindler ist, sondern wahrhaftig die Gedanken des Knaben zu hören vermag. Eines ist nun deutlich zu sehen: daß der Beweglichkeit unserer Heere keine Grenzen gesetzt sind. Was also sollten wir noch fürchten? Einen plumpen Riesen, der vergeblich nach uns greift, während wir ihm Stich um Stich versetzen ...?« 78
Dragon verstand es, seine Kommandanten zu überzeugen, und selbst der Anführer der Zunter ließ sich schließlich zu einer anerkennenden Bemerkung hinreißen. Selbst Prinzessin Jnessa musterte Dragon bald mit wohlgefälliger Hochachtung. Am Ende hatte Dragon nicht nur vermocht, geheime Ängste und Zaudern aus den Herzen der Männer zu verbannen und in ungestüme Bereitschaft zu verwandeln. Ungeduldig drängten sie zum Aufbruch. Gegen Ende der Beratung gab es eine Unterredung, die alle überraschen sollte. Eine von Jnessas Kriegerinnen erschien in der Beratungskammer und bat um eine private Unterredung mit Jnessa. Die Prinzessin verließ die Beratung, und Partho, der nichts Gutes ahnte, bemerkte: »Dragon, du solltest ein Auge auf Ubali haben ...« »Auf Ubali?« fragte Dragon erstaunt. »Wenn mich nicht alles täuscht, ist er hinter einer dieser Kriegerinnen her – Neomara. Wie ich diese Weiber kenne, wird sie ihn schlachten, wenn er so unklug ist, sich nicht bis zum Sommer zu gedulden ...« Trelyk grinste zustimmend. »Wir haben bereits einige Erfahrungen mit den Katmahzari. Der Dolch sitzt ihnen verdammt locker. Sie sind recht umgänglich, wenn man sie als seinesgleichen behandelt und nicht als Weiber. Und sie kämpfen wie die Teufel. Was sie aber schätzen ...« Er verstummte, als die Prinzessin wieder eintrat, gefolgt von Agrion, in deren Gesicht grenzlose Verwirrung zu lesen war. »Ist es erlaubt, eine Sache von großer Wichtigkeit vorzubringen ...?« 79
Dragon nickte verwundert. Partho warf einen erstaunten Blick auf Agrion. »Kommandant Partho«, wandte sich Jnessa an ihn. »Ihr kennt dieses Mädchen seit der ersten Stunde, da es in den Palast kam ...?« »Ja«, sagte Partho überrascht. »Sie war sechs Sommer, als Nirad, der Sklavenhändler, sie in die Stadt brachte und König Alac sie kaufte und mit seinen Töchtern aufzog ...« »Als Sklavin?« »Als Sklavin.« Partho nickte zustimmend. »Erst seit der König tot ist und seine Tochter regiert, ist Agrion frei ...« Jnessa nahm Agrions Hand und hob sie hoch, so daß alle im Raum den Ring sehen konnten, der einen runden, schimmernden Stein in einer kunstvollen Fassung aus Gold hielt. »Woher stammt dieser Ring?« »Er hing an einer feinen, bemerkenswerten Kette um den Hals des Kindes ...« »Wie bemerkenswert? Könnt Ihr das erklären ...?« »Gewiß. Sie bestand aus runden Gliedern, nicht ovalen, wie die meisten Ketten. Die Glieder waren auch nicht gleich. Einige waren aus einem seltsamen schweren Metall, das ich nicht kannte, und andere aus Gold. Aber seht sie Euch doch selbst an, Prinzessin. Agrion trägt sie um den Hals. Der König gab sie ihr zurück, bevor er starb. Der Ring selbst war jahrelang verschwunden, bis zu dem Tage, da ein sterbender Einsiedler ihn mir übergab.« Mit einer hastigen Bewegung griff die Prinzessin an Agrions Nacken und zog die Kette aus dem weißen Kleid hervor. Andächtig betrachtete sie dieser, musterte die feinen Glieder, die an den Enden der Kette schwarz 80
waren und immer mehr zu Gold wurden, bis sie in der Mitte aus reinem Gold bestanden. »Der Ring und die Kette des Mondes«, murmelte sie. »Es kann keinen Zweifel geben ...« Sie sank vor Agrion auf die Knie und küßte ehrerbietig den Saum des bodenlangen weißen Gewandes. Dann erhob sie sich und verkündete stolz: »Agrion ist die verlorengeglaubte Thronfolgerin von Katmahzar!« Als sich die Aufregung der Anwesenden gelegt und Jnessa vor den Göttern beschworen hatte, daß kein Zweifel darüber bestehen konnte, beschloß Königin Amee, zu Ehren Agrions ein mitternächtliches Fest im Palast zu geben. Das Mädchen gewöhnte sich rasch an den Gedanken, Thronfolgerin zu sein. Ihr Leben bekam plötzlich ein Ziel, ein hochgestecktes Ziel, eines, wie sie es immer erträumt hatte, seit sie frei war. Dennoch war ein banges Gefühl in ihrem Herzen, das sich nicht verdrängen ließ, denn es war eine fremdartige, unbegreifliche Welt, die vor ihr lag, in die sie gehen sollte – eine Welt ohne Partho; eine Welt ohne Männer ... Eine Welt mußte das sein, in der sie sehr einsam sein würde! Manchmal an diesem Abend fühlte sie Parthos lächelnde, resignierte Augen auf sich gerichtet, und sie ahnte, was sie verlor. Aber Jnessas devotes Gebaren ließ sie ahnen, daß eine mächtige Zukunft vor ihr lag, für die es sich lohnte, Opfer zu bringen. Sie sah die Ketten nicht, die ihrer harrten. Sie sah nur die Lockungen, eine Königin zu sein, zu herrschen wie Amee. Und sie zögerte nicht, zuzugreifen. Sie wußte nicht, daß sie gar keine andere Wahl hatte, daß Jnessa sie eher getötet als zurückgelassen hätte ... 81
Während des Festes, das in den kleinen Audienzräumen des Palastes stattfand und für das Dragon einen Teil des Weines stiftete, den Romon vom Ah‘rath mitgebracht hatte, übertrug Prinzessin Jnessa Agrion das Kommando über die vierhundert Kriegerinnen. Der Gedanke, daß sie mit Parthos Heer reiten würde, stimmte sie zuversichtlich. Sie erfuhr auch, daß ein weiteres« wesentlich größeres Heer von Kriegerinnen bereit sei, wenn die den Göttern geweihten Monde des Gebärens vorüber seien. Es mochte vielleicht zu spät kommen, um Urgor zu helfen, aber es würde den Myranern den Rückweg abschneiden und empfindliche Wunden schlagen können ... Tief im Morgen, als das Fest langst zu Ende war, saßen Amee, Romon, Dragon, Partho und Agrion noch in den königlichen Gemächern und besprachen letzte Einzelheiten vor dem Aufbruch. Da man nun wußte, daß auch aus Dan feindliche Truppen kommen wurden, war es überflüssig, daß Parthos Heer am Euphir auf Nachrichten aus Urgor wartete. Statt dessen sollte er ohne Unterbrechung in einem Abstand von drei Tagesritten hinter den Spähertrupps bleiben. So wurde Dilorn ohne Schwierigkeiten Kanos Nachrichten »hören« können. Parthos Heer 82
sollte sich aus tausend Zuntern, tausend Urgoritern und den vierhundert Katmahzari-Kriegerinnen zusammensetzen. Außer Dilorn ritten noch zwei weitere von Romons Männer mit. Sie wußten mit dem Götterfeuer und dem Donnerpulver umzugehen. Romon war es, der zum Schluß noch warnte und alle sehr nachdenklich stimmte: »Es will mir nicht aus dem Sinn, was uns die Botschaft aus Myra über Zogors Kanzler sagt ...« »Zamoc?« fragte Dragon. »Denkst du ...?« Romon nickte düster. »Jedes Wort Dajnas deutet darauf hin, daß ein alter Feind wieder auferstanden ist ...« »Cnossos!« flüsterte Amee. »Ja, Cnossos. Und der König von Myra tanzt nach seiner Pfeife ...«
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6.
Der Glanz der Morgensonne lag auf dem Hafen Dans und verwandelte das glatte Meer in einen gleißenden Spiegel. Ein großer Teil der Schiffe und Boote lag noch im Dunkel der hohen Hafenmauer, aber die weißen, getünchten Häuser, die die Hügel bedeckten, lagen mit ihren Säulen, den Trümmern und Zinnendächern bereits im Morgenlicht, wenn der ganze Hafen noch dunkel war. Die Vielzahl der Geräusche aus dem Stadtteil am Hafen, aus dem sich das Klingen der Schmiedehammer am deutlichsten hervorhob, kündete davon, daß die Stadt längst erwacht war. Eine Galeere löste sich aus dem Gewirr der Schiffe und glitt langsam auf die Hafenausfahrt zu, vorsichtig von wenigen Rudern bewegt. Eine zweite schloß sich an, und zwei weitere folgten, als die erste bereits die Kettentürme passiert hatte. Als sie das offene Meer erreicht hatten, öffneten sich die großen, orangefarbenen Segel und füllten sich in der frischen Morgenbrise. Die Schiffe gewannen rasch an Fahrt und entschwanden dem Auge hinter den westlichen Hügeln. Zwei Männer standen vor einem Spitzbogenfenster im Turm von Beigals Haus. »Da segeln sie«, knurrte der eine, ein großer Mann in einem einfachen weißen Gewand, das von einem Gürtel um die Mitte gerafft war. »Ah. Beigal, es sieht so aus, als wäre wenigstens ein Teil meiner Worte auf fruchtbaren Boden gefallen ... Vielleicht sollte ich noch warten ...« 84
»Worauf, Damos? Auf den Untergang der Stadt? Laß dir eines sagen, von einem, der den Menschenschlag hier kennt – und Poras wäre nicht vierzig Jahre König in Dan, wenn er nicht wie das Volk dachte und fühlte: Sie werden nicht kämpfen, sondern verhandeln. Dan ist ein kleines Königreich. Es will den myranischen Riesen nicht zum Feind. Auch nicht, wenn er das Schwert zuerst erhebt. Eher werden sie ihren Hals mit Unterwürfigkeit retten, als ihr kostbares Blut vergießen. Später vielleicht werden sie anders denken, wenn sie Zogors Joch fühlen. Aber bis dahin wird noch viel Zeit vergehen ...« Beigal schwieg und starrte auf das Meer hinaus. Er war ein kleiner Mann in der typischen Tracht der Daniter, obwohl er weder vom Herzen noch vom Blut her einer war. Er stammte aus Kagata, aber er lebte seit seinem zehnten Sommer in Dan und gehörte zu den wohlhabenden Bürgern der Stadt. »Aber ich kam, um dir zu sagen, daß gestern am späten Abend ein Kauffahrer aus Ronos mit zwei Schiffen eintraf. Und was er anzubieten hatte, waren keine Waren, sondern Nachrichten. Und Poras kaufte. Wie du weißt, hat Ronos starke Verbündete und ist darum ziemlich sicher vor Myra, obwohl das kleine Inselkönigreich verdammt nah an der myranischen Küste liegt. Es hat ein immer wachsames Auge auf Marmal gerichtet, die zweite Residenz Zogors. Der langen Worte kurzer Sinn: Auch in Marmal liegt eine beachtliche Flotte, und sie wartet auf die Hauptmacht aus Myra, um sich Kelkaris Kommando zu unterstellen. Ihr Ziel ist Dan, die Absicht unbekannt ...« Er lächelte. »Ronos ist zu vorsichtig, um sich die Zunge zu verbrennen. Aber man braucht wohl nicht erst zu raten, was die myranische Flotte in Dan will ...« 85
»Darum die Späherschiffe«, murmelte Damos. »Was werden sie tun?« »Sich ergeben«, sagte Beigal ohne Zögern. »Diese verdammten Narren!« knurrte Damos. Wie ein Löwe im Käfig begann er auf und ab zu schreiten. »Ich werde noch einmal zu ihnen reden ...« »Sie werden nicht auf dich hören, wie weise deine Worte auch sind ...« Damos fuhr herum. »Wie denkst du? Du hast zu verlieren ...« Beigal zuckte die Achseln. »Ich bin kein Daniter. Ich fühle nicht wie sie. Zwei meiner Söhne haben die Stadt vor Tagen verlassen. Und komme es, wie es mag, ob nun Dan übergeben wird oder fällt, mein flüssiger Reichtum ist in Sicherheit. Und meine Schmieden werden arbeiten, solange ich guten Lohn zahle, daran wird auch Zogor nichts ändern können. Aber wie ich dir bereits sagte – ich bin kein Daniter. Das Schicksal ist ihr Herr, und ihr Herr ihr Schicksal. Daß sie noch frei sind, verdanken sie ihrem Reichtum, hinter dem jedermann auch Macht vermutet, und nicht zuletzt der Tatsache, daß niemand ihren Fatalismus kennt. Als du kamst und dem König und dem Stadtrat von der Gefahr berichtetest, in der Urgor schwebte, und sie um Hilfe batest, da erkannten sie nicht, daß nicht nur Urgor sich in Gefahr befindet, sondern jede reiche, eroberungswerte Stadt im Osten. Daß in Myra zwanzigtausend Krieger standen, hätte sie nachdenklich stimmen müssen. Und selbst wenn sie dir die Hilfe versagten, so hätten sie beginnen müssen, die Stadt zu befestigen. Bei den Göttern, keiner kann also sagen, daß dieser Angriff überraschend kommt ...« Er ballte die Fäuste und starrte aus dem Fenster. Nach einem Augenblick fuhr er fort: »Aber nichts geschah. Nichts!« Er wandte sich zu Damos um. »Nur eines: Man 86
fing den Boten, den du nach Urgor zurücksandtest, und warf ihn in den Kerker ...« Damos faltiges Gesicht erstarrte. »Man hat waaas ...?« »Beruhige dich. Freund Damos. Natürlich weißt du nichts. Sicher willst du mir, der ich dein Freund bin, Ärger ersparen. Ziehe also den Nutzen allein aus dem Wissen, daß Urgor noch keine Nachricht von der Absage Dans erhalten hat.« »Seit wann weißt du das?« »Seit gestern abend, Freund Damos.« Ein wenig ängstlich fügte er hinzu: »Du behältst dieses Wissen doch für dich ...?« Damos starrte ihn erregt an. Schließlich entspannten sich seine Züge. »Hab keine Furcht, Beigal. Ich werde nichts tun, das dir schaden könnte. Meinst du, sie werden versuchen, auch mich zurückzuhalten?« »Könnte wohl sein. Es käme auf einen Versuch an ...« Damos begann wieder auf und abzugehen. »Wenn so lange keine Botschaft kam, wird Dragon sicher die richtigen Schlüsse ziehen ...« Er nickte zu sich selbst. »Ich werde noch hierbleiben und abwarten. Ich muß sehen, wie die Dinge verlaufen ...« Am Nachmittag des dritten Tages kamen die Schiffe zurück. Sie brachten die Nachricht, daß zwei Dutzend myranische Galeeren bereits in greifbarer Nähe seien – kaum eine Tagesreise bei günstigem Wind. Aber der Wind war nicht günstig, und es mochte wohl noch bis zum Abend des nächsten Tages währen, ehe die Flotte eintraf. Doch das wußten vorerst nur der König und seine Berater – und sie schwiegen vor dem Volk. Die hastige Beratung, die in den Gemächern des Königs abgehalten wurde, war gezeichnet von jenem Fatalismus, von dem Beigal gesprochen hatte. Es gab kaum 87
einen, der eine andere Möglichkeit ins Auge faßte, als Übergabe unter möglichst günstigen Bedingungen. An diesem Abend wurde auch Damos zur Audienz verlangt. König Boras bedachte ihn mit einem unfreundlichen Blick. »Damos, du behauptest, einer der weisen Männer des Landes zu sein. Morgen abend stehen da draußen auf dem Meer die myranischen Schiffe, und wenn das Auge meines Flottenführers gut ist, so hat es wohl seine Wahrheit, daß achttausend Krieger auf diesen Schiffen sein werden. Hältst du es noch immer für klug, das Schwert gegen sie zu heben ...?« »Ich weiß nur eines: daß Zeit genug gewesen wäre, Vorbereitungen zu treffen und Dan zu retten. Auch eine kampflose Übergabe wird die Willkür des Eroberers nicht dämmen. Eroberer wollen Beute, keinen Frieden ...« »Du bist ein Narr, Damos, kein Weiser. Wenn wir das Schwert erheben, wird es auch auf uns herabfallen ...« »Und wer sich treten läßt, den wird man treten«, unterbrach ihn Damos verächtlich. Das Gesicht des Königs rötete sich. »Geh zurück nach Urgor«, sagte er gepreßt, »und sage deiner Königin, daß Dan ein gutes Beispiel für den Frieden gibt und nicht die Hand heben wird gegen einen übermächtigen Feind und damit vermeiden wird, das Blut des Volkes zu vergießen. Und sage ihr noch eines: Wenn sie ihr Volk wahrhaft liebte, hätte sie sich geopfert, statt die Rache des myranischen Königs herauszufordern. Und jetzt geh! Ich will nicht sagen, daß es Urgors Schuld ist, daß die myranische Flotte vor Dan steht, aber es ist gewißlich nicht Dans Schuld, wenn Urgor einen aussichtslosen Kampf verliert. Wir jedenfalls werden den Myranern ...« 88
»Entgegenkriechen und die Stiefel lecken«, unterbrach ihn Damos wütend, »und beten, daß die Hundepeitsche ausbleibt ... ah, König, seid Ihr blind, daß Ihr Euch verkauft und Euer geliebtes Volk dazu ...?« Voll Zorn war der König aufgesprungen bei Damos Worten. »So wirst du hierbleiben und mitansehen, was geschieht!« Er klatschte in die Hände, und mehrere Palastdiener eilten herbei. »Werft ihn in den Kerker!« Beigal kam am Abend des nächsten Tages in das Verlies. Er war außer sich. »Wie konntest du Narr nur den König beleidigen?« Damos lächelte. »Ich hatte schon Zeit genug, es zu bereuen. »Es war der gerechte Zorn, der meine Vernunft hinwegfegte. Aber sag mir, was ist geschehen? Durch das kleine Fenster vermag ich kaum etwas zu sehen. Da war ein Geschrei in den Straßen vor einigen Stunden. Aber es verstummte wieder, und seither ist die Stadt still wie ein Grab. Ist die myranische Flotte eingetroffen?« Beigal nickte. »Sie liegt im Hafen. Niemand weiß noch, was geschehen wird. Der König und einige seiner Statthalter haben Dan übergeben, und Kelkari, der Kommandant der Flotte, hat angenommen. Wie die Verhandlungen verliefen, weiß keiner, und der König schweigt. Ich habe jedenfalls heute meine Schmieden geräumt und die Waffen aus der Stadt gebracht ...« Er grinste. »Es mag sein, daß wir sie noch eines Tages brauchen. Und ich habe auch ein paar Männer, die damit umzugehen wissen ...« »Beigal!« sagte Darnos eindringlich. »Jemand muß nach Urgor reiten und Dragon berichten, was hier geschehen ist ...!« »Ist das so wichtig? Was ändert es für Urgor, ob Dan fällt oder nicht?« 89
»Siehst du es nicht. Beigal? Sie werden hier keinen Mann verlieren und die Stadt mit wenigen Männern besetzen. Der Hauptteil des Heeres aber wird weiterziehen ...« Beigal nickte nachdenklich. »Ja, du magst recht haben. Das gibt mir auch Hoffnung für Dan. Gut, ich werde sehen, was ich tun kann ...« Als die Dunkelheit fiel, wurde auch die Stadt wieder lebendig. Damos fühlte es in seinem Kerker. Nach einiger Mühe gelang es ihm, das hohe Fenster zu erreichen. Der Arkadenhof war menschenleer. Von den Straßen kam Lärm – Stimmen, Schreie. Der Tumult stieg von Augenblick zu Augenblick, und Damos ahnte was nun begann. Das Volk Dans bezahlte für die Unvernunft seines Königs. Langsam näherte sich der Lärm und das Schreien der Gegend des Gefängnisses. Damos fühlte keine Angst, nur Zorn darüber, daß seine Hilflosigkeit ihn in die entwürdigende Rolle des Zuschauers drängte. Dennoch vermochte er nicht, den Blick vom Fenster abzuwenden. Eine der Türen in den Hof flog auf und knallte krachend gegen die Wand. Ein Mann stürzte in den Hof. Ein großer, roter Fleck färbte sein helles Gewand am Rücken. Er hielt eine Küchenaxt in den Händen. Ein myranischer Soldat folgte, mit einem blutigen Schwert in der Rechten. Ein zweiter kam hinterher. Langsam näherten sie sich dem Taumelnden im Hof. Der Schrei einer Frau schien neue Kräfte in ihm zu wecken. Er wandte sich seinen Gegnern zu. Gleich darauf erschien ein Mädchen in der Tür. Ihre Augen waren vor Entsetzen geweitet. Ein dritter Soldat erschien hinter ihr und erstickte ihre Schreie mit den Fäusten. 90
Da kam Bewegung in den Verwundeten. Er schwang die Axt mit einem Aufbrüllen, parierte den Schwertstreich des ersten Gegners, erreichte den zweiten und streckte ihn mit einem gewaltigen Axthieb nieder. Dann waren die anderen beiden über ihm und stießen die Schwerter in seinen Körper. Er rief ein Wort, das Damos nicht verstand, und starb. Dann schien es einen Augenblick, als würden die Eroberer in die Verliese eindringen, und Damos wappnete sich. Wenn es eine Chance gab, würde er sie nutzen und wenigstens kämpfend sterben, wie der Unbekannte jenseits im Hof. Rufe und Kampflärm erfüllten die Gänge, erstarben aber nach einer Weile wieder, während sich draußen der Tumult zu steigern schien – und wie am Tag zuvor noch der Klang der Schmiedehämmer am deutlichsten zu hören gewesen war, so klangen nun die Todesschreie über den tosenden Lärm, mit dem ein Meer von Gewalt die Stadt überspülte. Der beißende Gestank von Rauch drang durch das Fenster. Als Damos aufblickte, sah er daß der nächtliche Himmel rot war. Die Stadt brannte. Welch eine Vergeudung, dachte Damos. Welch eine Vergeudung an Kraft und Leben und Schätzen. Welch eine Vergeudung an Tränen, die niemanden rührten ... Währte es Stunden, oder nur Augenblicke ...? Damos saß an den kalten Stein der Zelle gelehnt und lauschte auf die Geräusche des Sterbens, die mit dem Rauch und dem Geruch von brennendem Holz durch die Öffnung des Fensters drangen. Es war, als hielten die Götter die Zeit an, als währte diese Hölle ewig. Da waren Augenblicke, in denen es ruhiger war, in denen die Stadt Atem zu holen schien – aber es war kein Aufatmen, es war nur das Luftholen für einen neuen Schrei ... 91
Als sich die Tür des Verlieses öffnete, sprang Damos auf. Erleichtert erkannte er, daß Beigal mit zwei Männern eintrat. Sein Gesicht war bleich, in seinen dunklen Augen loderte eine kalte Glut, wie sie Damos an ihm noch nie gesehen hatte. »Rasch, Damos«, sagte er. »Wenn es noch eine Flucht gibt, dann jetzt.« Er ergriff Damos am Arm und schob ihn aus der Zelle. Die beiden Männer folgten. Sie öffneten die Kerkertüren auf dem Weg nach oben, und die Gefangenen quollen mit blassen Gesichtern ins Freie. Sie bestürmten ihre Befreier, aber Beigal schob Damos hastig durch. Die Straßen vor dem Gebäude des Kerkerturms war von rötlichem Qualm erfüllt, der von einem Haus hügelabwärts aufstieg. Leichen lagen auf dem Pflaster. Beigal drängte ihn vorwärts. Jetzt erst fiel Damos auf, daß sie myranische Kleider und Waffen trugen. Aus einem der nächsten Häuser winkte jemand. Beigals Männer sahen sich vorsichtig um und schoben Damos ins Innere. Dort befanden sich ebenfalls einige von Beigals Männern. Sie begrüßten einander hastig und drückten Damos ein Bündel in die Hand. »Du mußt dich umziehen, sonst kommen wir niemals aus der Stadt ...« Damos nickte und begann die Kleider anzulegen, was nicht leicht war, denn er war nicht gewohnt, Waffenrock und Korsett zu tragen und die schweren gepanzerten Soldatenstiefel. Der Helm verbarg seine weiße Mähne nur unvollkommen, und der wallende Bart würde ihn leicht genug verraten. Aber die Nacht verhüllt viele Einzelheiten. »Da ist Blut dran«, murmelte Damos.
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»Ja«, knurrte Beigal. »Und es ist myranisches Blut. Und es wird noch mehr fließen, bei den Göttern, das schwöre ich ...!« Er zupfte Damos ungeduldig am Arm. »Fertig?« »Fertig«, sagte er zustimmend. »Dann los. Ruhig gehen und nicht laufen. Wir halten uns nach Osten. Das ist der kürzeste Weg aus der Stadt. Und keine Narrheiten. Wir müssen blind und taub durch die Straßen gehen, oder wir kommen niemals lebend heraus. Kannst du ein Schwert führen?« »Es ist zwar lange her ... aber ich denke, daß ich meinen Mann stehen werde«, erklärte Damos und wog die krumme Klinge prüfend in der Faust. »Wir werden Pferde brauchen ...« Beigal nickte. »Wir kriegen sie am Stadtrand, von Cayhan, einem alten Freund ... wenn sie sein Haus noch nicht niedergebrannt haben. Aber das wird ihnen nicht so leicht gelingen, denn das Haus ist eine kleine Festung aus Stein, und es gibt nichts, das sie von außen in Brand stecken könnten. Kommt jetzt ...« Die Straße war noch immer verlassen, als sie aus dem Haus traten. Der Qualm war dichter geworden, ein Umstand, der den Fliehenden zugute kam. Der Teil der Stadt, durch den sie schritten, schien wie ausgestorben – im wahrsten Sinne des Wortes, denn man sah überall Tote, meist Männer, die versucht hatten, ihr Haus vor den mordenden Soldatenbanden zu verteidigen. Dann hatten sie den leeren Stadtteil hinter sich und kamen in eine Zone des Mordens und Brennens, in der der Tod noch reiche Ernte hielt. Sie eilten durch diesen Tod hindurch wie blinde, taube Schatten. Es war nicht leicht, blind und taub zu bleiben. Allein das Bewußtsein, daß es ein rasches Ende bedeutet hätte, sich einzumischen, und keine Hilfe, und daß es galt, Kunde von diesem Irrsinn nach Irgor zu tra93
gen, ließ Damos an sich halten und legte eine schützende Taubheit um seine Sinne. Niemand hielt sie auf. Daniter fluchteten vor ihnen, da sie aufgrund ihrer Kleidung für Eroberer hielten, und die Myraner waren zu sehr beschäftigt, um auf ihresgleichen zu achten. Nur zum Schluß, als sie die Zone des Grauens beinahe hinter sich hatten, vermochte Damos nicht mehr an sich zu halten. Drei Soldaten zerrten ein Mädchen aus einem der letzten Häuser der Straße. Ihre Schreie ließen Damos herumfahren. Es gelang ihr, sich loszureißen, doch die Männer holten sie ein. Damos setzte sich in Bewegung, ohne daß es ihm zu Bewußtsein kam. Er zog sein Schwert, nahm es in beide Fäuste und ließ es auf den Schädel des ersten niedersausen, der ihn kommen hörte und ihm grinsend entgegensah. Die anderen ließen das Mädchen fallen und griffen nach ihren Schwertern. Als sie auf ihn einstürmten, waren Beigal und seine Männer bereits an Damos Seite. Die beiden Myraner fielen unter ihren Streichen. Die Fliehenden sahen sich hastig um. Fünf Häuser hinter ihnen tauchten die ersten Fackeln der Myraner auf. Aber sie kamen nicht so rasch näher. Die Menschen in diesem Teil der Stadt begannen langsam aus dem ersten Schock zu erwachen und Widerstand zu leisten. Die drei Toten waren ihren Gefährten zu weit vorausgeeilt. Ihr Schicksal würden noch viele erleiden, und der Gedanke brachte einige Genugtuung mit sich. Das Mädchen stöhnte zu ihren Füßen. Damos hob sie hoch. Einen Augenblick war das Entsetzen in ihren Augen, dann sah sie Damos begütigende Miene und gewahrte die Leichen der Myraner. Schluchzend klammerte sie sich an ihren Retter. Eine Tür knarrte in einem der Häuser. 94
»Rasch!« flüsterte Beigal. »Wenn man uns sieht, wird man uns für myranische Soldaten halten ...« Er eilte voran, seine Männer hinter ihm her. Damos nahm das Mädchen kurzerhand am Arm und zog sie mit sich. Der Rest des Weges war dunkel. Da sie die Eroberer hinter sich hatten, riet Beigal, die Uniformen abzulegen. So liefen sie nur spärlich bekleidet durch die nächtlichen Straßen des Stadtrandes von Dan und atmeten erleichtert auf, als Beigal auf den dunklen Koloß eines Hauses deutete, der auf einer Anhöhe in den Nachthimmel ragte, und erklärte, das sei Cayhans Haus. Der westliche Himmel flackerte rot, und Damos glaubte zu erkennen, daß es der Palast war und der Kerker, die nun in Flammen standen. Der ganze tiefer liegende Mittelteil der Stadt schien zu glühen. Das Tor zu Cayans Haus stand offen, und nun erkannten sie auch, warum sie am Stadtrand kaum einem Menschen begegnet waren: Männer, Frauen, Kinder und Haustiere hatten die Häuser verlassen, die ihnen keinen Schutz bieten konnten. Hier würden sie den mörderischen Horden Widerstand leisten können. Beigal und seine Männer beschlossen ebenfalls zu bleiben. Jede starke Hand wurde gebraucht. Mehr als tausend Menschen lagerten in Cayhans Festung und bereiteten sich auf Verteidigung vor. Und es gab noch Platz für ein weiteres Tausend. Das Mädchen, das Damos gerettet hatte, berichtete unter Tränen, daß die Männer ihren Vater erschlagen hätten und ihren Bruder, bevor sie sie ins Freie gezerrt hatten, um sie ebenfalls zu töten. Sie hieß Meora und zählte vierzehn Sommer. Sie beschwor Damos, sie mitzunehmen – wohin immer er ging. Sie wollte ihm dienen wie eine Sklavin. 95
Damos begeisterte der Gedanke nicht. Er wollte so schnell wie möglich nach Urgor, und sicherlich würde das Mädchen seinen Ritt behindern. Aber ihren bittenden, traurigen Augen konnte er nicht widerstehen. Er erkannte, daß sie in ihm wohl den verlorenen Vater sah. Und dann sagte er sich, mehr um sich zu rechtfertigen, durfte man ein Leben nicht einfach wieder wegwerfen, das man eben gerettet hatte. Und sie war noch jung. Er würde sie zu Romon bringen. In der Bruderschaft der Weisen würde sie diese Schrecknisse rasch vergessen. Die meisten der hier Versammelten wußten noch nicht genau, was eigentlich vorging. Sie hatten von der Ankunft der myranischen Flotte erfahren und von der Übergabe der Stadt. Als die Welle der Plünderer sich in die Stadt ergoß, zogen sie die richtigen Schlüsse aus dem Schreien und Lärmen, und selbst die noch immer Zögernden wurden schließlich von den brennenden Häusern davon überzeugt, daß am Marktplatz keine Verbrüderungsfestlichkeiten stattfanden. Cayhan, einer der Gegner der Politik Poras hatte schon vor Tagen verkünden lassen, daß sein Haus jedem Schutz gewähren würde. Aber nun erfuhren sie durch Beigal von den Greueln, die im Bereich des Hafens und des Palastviertels stattgefunden hatten. Cayhan, ein großer, besonnener Mann, nickte nur. Er hatte Ähnliches erwartet. »Was tut der König?« fragte er nur. »Er versuchte mit einigen seiner Berater Kelkari zu erreichen, der auf den Schiffen geblieben war. Aber sie fingen sie auf halbem Weg und hängten sie vor den Toren des Palastes ...« »Was ist Kelkari nur für ein Mann, daß er solches geschehen läßt ...?« murmelte Damos. 96
Der Gedanke beschäftigte ihn noch, als er mit dem Mädchen nach Nordosten ritt und das brennende Dan hinter den Hügeln verschwand.
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7.
Dragon kniff die Augen zusammen. Drei Reiter kamen über die Kuppe des Hügels vor ihm. Einer von ihnen war Ubali, die anderen beiden offenbar Fremde, ihrer Kleidung nach zu schließen. Als sie näherkamen, erkannte er auch den zweiten, und Freude und Erwartung ließen ihn der Gruppe entgegenreiten. Damos! Und mit ihm die lange erwartete Botschaft aus Dan. Dann sah er, daß der dritte Reiter ein Mädchen war. Die Sonne stand schon tief am westlichen Himmel. Auch schien ihm diese Hochebene, über die sie nun bereits seit einer guten Stunde ritten, ein guter Lagerplatz. So gab er Befehl anzuhalten und schickte Ubali zur Vorhut zurück, um sie davon zu unterrichten. An diesem Abend, als Damos von den Geschehnissen in Dan berichtete, lauschten die Männer mit bleichen Gesichtern. Sie ahnten, daß Urgor ein ähnliches Schicksal treffen würde, wenn es den myranischen Heeren gelang, die Stadt zu erobern. Und wer in Dragons Streitmacht nicht für Urgor bangte, der bangte um Zunt, das als nächstes an der Reihe war. Wenn einer angesichts der myranischen Übermacht Gedanken an eine friedliche Beilegung hegte, der verwarf sie nun endgültig. Dragon rief Kim zu sich und hieß ihn, in Gedankenverbindung mit seinem Bruder zu treten. Dann bat er ihn, Damos‘ Bericht an Kano zu übermitteln. Auf diese Weise erfuhren auch Partho und seine Männer und Agrions Kriegerinnen von der barbarischen Grausamkeit des Feindes. 98
Das mußte sie anheizen für den kommenden Kampf. Das würde ihnen klarmachen, daß es keine Gnade gab. Während Damos und das Mädchen unter der Begleitung zweier zuntischer Krieger nach Urgor weiterritten, folgte Dragons Heer dem stetig wachsenden Rinnsal des Euphir abwärts. Am zweiten Tag nach der Begegnung mit Damos meldeten die Späher, die weit gefächert in einem Abstand von einem halben Tag vorausritten, das Auftauchen einer großen Schar von Kriegern, deren uneinheitliche Kleidung die Beobachter stutzig machte. Sie sahen nicht aus wie myranische Soldaten, wenigstens in der Mehrzahl. Dragon befahl Kim, mit Yina in Verbindung zu bleiben und ließ den Vormarsch des Heeres stoppen. Kurze Zeit danach meldete die Vorhut, daß es sich um etwa tausend Krieger handelte, und daß es allem Anschein nach Daniter waren. Aber es mochte ebenso gut eine Falle sein. Dragon mahnte zur Vorsicht. Nach einer weiteren Stunde meldete sich Yina erneut. Sie lag in einem Versteck in Sichtweite der vorüberziehenden Schar und las in den Gedanken der Krieger. – Verzweiflung über den Untergang Dans und Hoffnung, in Urgor Hilfe zu finden, waren die alles überlagernden Gedanken, auf die sie stieß. Der Anführer der Schar hieß Cayhan. Er hoffte, Damos noch einzuholen, denn sie wußten nicht genau, wo Urgor lag. Nur, daß sie den Euphir aufwärts reiten mußten, bis sie die Quellen erreichten, und dann nach Osten, bis sie auf den Raxos stießen. Aber sie fürchteten die myranischen Verfolger und die Ungewißheit, vielleicht kostbare Zeit mit der Suche nach Urgor zu verlieren. Etwas aber schrie deutlich aus ihren Seelen: sie lechzten nach Vergeltung ... Kim sah Dragon fragend an, nachdem er das alles übermittelt hatte. 99
»Sag Yina, daß ich stolz bin auf unsere, ›Maus‹. Und Ubali mag sie mitteilen, daß ich seinen schwarzen Hals umdrehe, wenn ihr irgend etwas zustößt. Die Vorhut soll sich mit den Danitern in Verbindung setzen. Sie sollen lagern, bis wir zu ihnen stoßen ...« Kim saß mit abwesendem Blick, während er die Botschaft an Yina »ausstrahlte«. Schließlich nickte er grinsend. »Onkel, ich fürchte, du hast unsere, ›Maus‹ in einen Pfau verwandelt. Sie wird platzen vor Größenwahn, wenn du sie weiter so lobst ...« Dragon lächelte. »Bist du nicht auch ein wenig stolz auf sie? Ist sie nicht ein tapferer Kerl?« Der Knabe nickte eifrig. »Für ein Mädchen ganz gewaltig. Kann ich noch was für dich tun, Onkel?« Dragon überlegte. »Nichts Dringendes. Aber wenn du Kano rufen kannst ...?« »Das ist leicht«, meinte Kim wegwerfend. »Leichter als mit Yina zu denken. Sie muß ich immer erst suchen. Aber Kano, ›sehe‹ ich immer ...« Seine Augen funkelten vor innerer Spannung. Nach einem Augenblick sagte er: »Sie haben den Kisil erreicht. Keine Spur vom Feind. Mein Bruder hofft, daß Dilorn alle Nachrichten erwischt. Er meint, es wäre ein dummes Gefühl, eine Nachricht zu denken, auf die man keine Antwort erhält, und nicht sicher sein kann, ob sie gekommen ist. Aber er wiederholt sie mehrmals am Tag. Bis jetzt ist ohnehin noch nichts geschehen, was aufregend gewesen wäre. Die Nachricht von dem Gemetzel in Dan hat die Männer in Kanos Spähergruppe ganz schön wütend gemacht. Was ihn sehr interessieren würde, ist, wie Partho mit den Kriegerinnen zurechtkommt ...« Kim grinste. »Das hätte ich auch gern gewußt. Mir gefallen sie.« Dragon konnte ein Lächeln nicht verbeißen. »Ich glaube nicht, daß es die Katmahzari sind, die unseren 100
wackeren Partho mürrisch stimmen, sondern vielmehr, daß Agrion eingewilligt hat, nach Barakar zu gehen als Thronfolgerin des Frauenreiches ...« »Da ist etwas, das ich dir zu sagen vergaß, Onkel«, entfuhr es Kim. »Yina hatte vor Tagen im Lager der Kriegerinnen herumgeschnüffelt und dabei Gedanken dieser Prinzessin Jnessa aufgeschnappt. Dadurch erfuhr sie, daß man Agrion getötet hätte, wenn sie sich nicht für ihr angeborenes Amt entschieden hätte ...« Dragon wurde ernst. »Sie muß es unbedingt erfahren, und Partho ebenfalls. So wie ich Partho kenne, wird er versuchen, das Mädchen umzustimmen, und sie ist verliebt genug in ihn, daß es ihm gelingen mag. Sag Kano Bescheid und laß es ihn nicht vergessen.« »Ja, Onkel.« »Und dann behalte mit Yina Verbindung, bis wir wissen, wie sich die Daniter verhalten ...« Kurze Zeit später meldete die »Maus« an Kim, daß die Daniter voller Begeisterung auf Dragons Heer warteten und ein Lager am Ufer des Euphir errichteten. Ob die Myraner Dan bereits verlassen hatten, wußten sie nicht – aber sie nahmen es an. Sie schätzen auch, daß nicht mehr als eine Tausendschaft als Besatzung der Stadt zurückgeblieben war. Das bedeutete, daß siebentausend Krieger nach Urgor marschierten. Aber sie würden langsam sein, wenn sie sich nicht teilen wollten, denn sie hatten auf ihren Schiffen keine Pferde mitgebracht. In Dan gab es wohl Pferde, deren sich die Eroberer bemächtigt hatten. Aber nicht siebentausend ...
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Dragons Heer setzte sich nach Zusammenschluß mit der Daniterschar grob geschätzt aus tausend Zuntern unter Trelyks Kommando, tausend urgoritischen Kriegern und nun tausend Danitern zusammen; dreitausend also – eine ansehnliche Schar. Das Zusammentreffen mit den Kriegern aus Dan war auch noch aus anderen Gründen ein glücklicher Umstand. Sie kannten das Gebiet, und wußten, wo man den Gegner günstig in eine Falle locken konnte. Trotz der Übermacht des Feindes waren sie zuversichtlich, als sie von Dragons Plan erfuhren. Zuschlagen und verschwinden! Das wurde zum geflügelten Wort im Heerlager Dragons. Und Dragon schürte diese Zuversicht. An diesem Tag ließ er ein wenig des Donnerpulvers ausprobieren. Die Zunter und Urgoriten waren damit längst vertraut. Und es schien ihm ratsam, auch die Daniter darauf vorzubereiten – mochte es doch sonst geschehen, daß sie das gleiche Entsetzen packte wie den Feind und sie Hals über Kopf die Flucht ergriffen. In der Tat starrten sie entsetzt auf die große Menge Gestein, die sich mit gewaltigem Donner in Bewegung setzte und in einer rasch wachsenden Lawine zu Tal stürzte. Da Dragon sie vorbereitet hatte, hielt sich der Schrecken in Grenzen, und als sie diesen überwunden hatten und die Macht erkannten, die ihnen damit in die Hand gegeben war gegen den verhaßten Feind, gerieten sie beinahe in einen ekstatischen Taumel der Begeisterung. Dieser Dragon besaß vielleicht ein kleines Heer, aber gewaltige Kräfte standen ihm zu Gebot. Nannten ihn seine Soldaten nicht manchmal den »Schlafenden Gott«? Vielleicht war er kein Gott – aber doch ein mächtiger Mann, der die Götter auf seiner Seite hatte ... 102
Bereits am frühen Nachmittag ließ Dragon ein Lager errichten. Er hielt es für besser, abzuwarten und der Vorhut einen größeren Abstand zu verschaffen, so daß ihm wenigstens ein Tag für Vorbereitungen blieb. Noch meldete Yina nichts Auffälliges. Von Kano kam die Botschaft, daß Parthos Vorhut Siev erreicht hatte und seit Stunden beobachtete. Auch dort schien noch nichts Bemerkenswertes zu geschehen. Wohl waren genügend Krieger dort, um die Garnisonstadt selbst gegen größere Angriffe zu verteidigen, aber nicht die erwarteten zehn – oder fünfzehntausend Mann, die unter König Zogors Führung auf dem Marsch nach Siev waren. Am nächsten Mittag endlich kam Yinas Botschaft. Sie waren überraschend auf einen myranischen Trupp gestoßen. Nein, die Myraner hatten sie nicht bemerkt. Sie waren etwa vierhundert, alle beritten. Offenbar handelte es sich um die Vorhut. Sie zogen am Ufer des Euphir entlang, würden es aber, da es eine Stunde stromaufwärts ungangbar wurde, verlassen müssen. Sie schienen sich sehr sicher zu fühlen, denn sie ritten in einer langen Kolonne im Flußtal entlang, scheinbar ohne Späher auf den Hängen. Wenigstens waren noch keine zu sehen gewesen, offenbar erwarteten sie nicht, daß ihnen der Feind entgegenkam. Der Feind war schwächer – und alle Erfahrungen bewiesen, daß starke Mauern den Schwachen stärkten. Die Urgoriten würden hinter ihren Mauern warten, zweifellos. Dragon ließ sich das Gebiet genau beschreiben, in dem sich die myranische Vorhut nun bewegte. Er wies Ubali und seine Männer an, herauszufinden, in welchem Abstand die Hauptmacht folgte, aber vorsichtig zu Werke zu gehen und sich keinesfalls zu zeigen. Dann 103
besprach er sich mit Cayhans Männern, die dieses Gebiet gut kannten. Nicht weit vom augenblicklichen Standort von Dragons Heer verlief der Euphir durch ein Felsental, dessen Umgehung einen weiten Umweg nach Westen bedeuten würde. Da der sorglose Vormarsch der Myraner darauf schließen ließ, daß sie hier keinen Feind erwarteten, würden sie auch das Risiko eingehen; mit dem die Durchquerung eines solchen Tales im Gebiet des Feindes immer verbunden war. Außerdem mochten sie denken, daß sie mit ihrer Stärke von vier Hundertschaften einen im Hinterhalt liegenden Feind so lange festnageln konnten, bis die Hauptmacht heran war. Dragon nickte. Diese Schlucht war günstig. Er übergab Trelyk den Befehl über das Heer, mit dem Auftrag, zu lagern, aber sich zum raschen Aufbruch bereitzuhalten. Dann ritt er mit Cayhan und Kim und fünfzig Männern, darunter ein Dutzend Daniter, flußabwärts. Der verhältnismäßig ebene Grund des letzten Marschtages ging in ein steiles Gefälle über, das den Fluß schäumend zu Tal stürzen ließ. Dennoch gab es einen gut gangbaren Weg, und nach zwei Stunden serpentinenartigen Abstiegs wurde das Land wieder eben. Nur der Fluß schien sich mit dieser Tatsache nicht abfinden zu wollen und hatte ein mehr als hundert Mannshöhen tiefes Tal in das Land gekerbt. Entlang des Flußlaufes war ein Abstieg auch mit Pferden, selbst mit Wagen bequem möglich. Diese Schlucht war ein Teil der alten Händlerstraße nach Zunt – eine Straße, die das Land durchquerte von einem Meer zum anderen. Dragon aber interessierte sich nicht für den Weg nach unten. Er folgte der Felsenebene am Rand der Schlucht und erreichte nach einer weiteren Stunde das Ende des Tafellandes. Befriedigt sah er die Worte der Daniter be104
stätigt. Das Land brach hier steil ab, und diese steile, ungangbare Wand erstreckte sich nach Westen, soweit das Auge reichte. Er hieß seine Schar umkehren und fand drei geeignete Stellen, die weit genug auseinanderlagen, an denen man ein Stück hinabklettern konnte. Er wies seine Männer an, Löcher in den Fels zu schlagen, so tief, daß ein Schwert darin versank, und sie mit dem Donnerpulver vollzustopfen. Eine dünne weiße Spur des Pulvers, etwa vier Mannslängen weit, sollte dem Krieger, der es auf ein Zeichen mit der Fackel entzündete, Gelegenheit geben, in sichere Entfernung zu gelangen. Vier Stunden später, als dies geschehen war, meldete sich Yina wieder. Ubali war mit seinen Männern auf eine zweite Vorhut der Myraner gestoßen – ein wesentlich stärkerer Haufen, beinahe tausend Mann. Von der Hauptmacht noch immer keine Spur. Und sicherlich konnte das noch nicht alles sein. Ubali hatte einen günstigen Beobachtungsposten bezogen, an dem er und seine Männer verhältnismäßig sicher waren. Es wollte noch abwarten, bis die Hauptmacht in Sicht kam. Dragon stimmte zu. Er war recht zufrieden. Die Dinge entwickelten sich günstig. Die tausend Myraner folgten etwa vier Stunden hinter der Vorhut. Sie würden den Donner hören, aber dies bestimmt nicht mit einer Aktivität des Feindes in Verbindung bringen. Selbst dann nicht, wenn sie auf ihre toten Kameraden stießen. Es würde sie aufhalten, und Dragon und seinen Männern Gelegenheit geben, zu ihrem Heer zurückzukehren. Vorerst konnten sie nur warten. Als die Sonne hinter dem westlichen Horizont verschwand, meldete sich Yina wieder. Eine riesige Anzahl von Kriegern war aufgetaucht: die myranische Haupt105
macht. Ihre Zahl war schwer zu schätzen, aber fünftausend mußten es wohl sein. Dragon riet Ubali, sich zurückzuziehen. Ubali stimmte zu. Er wagte jedoch nicht, seine Beobachtungsstellung vor Einbruch der Dunkelheit zu verlassen. Auch die erste Vorhut der Myraner erreichte die Schlucht nicht mehr vor Anbruch der Nacht, so daß Dragon schon vermeinte, sie hätte sich doch für den Umweg entschieden. Später entdeckte er aber weit draußen in der Dunkelheit die flackernden Lichtpunkte dreier Lagerfeuer. Er mußte sich also bis zum Morgen gedulden. Er sandte einen Boten an Trelyk mit der Nachricht, daß er die Nacht an der Schlucht verbringen wollte, und daß die Hauptmacht gesichtet worden sei. Die Nacht wurde alles andere denn ruhig. Kim weckte Dragon kurz nach Mitternacht. »Eine Botschaft von Yina, Onkel.« Dragon war sofort hellwach. »Was ist geschehen?« »Sie hat das Lager erreicht«, sagte Kim. »Welches Lager?« Kim lauschte und wurde blaß. »Das vorderste Lager der Myraner ...« »Der Hauptmacht ...?« entfuhr es Dragon. Wieder lauschte der Knabe. Dann nickte er. »Ja, der Hauptmacht. Es ist Kelkaris Lager ...« Dragon war außer sich. »Sie muß umkehren. Sage ihr das. Das ist ein Befehl. Was hat sie sich eigentlich dabei gedacht?« Nach einem Augenblick sagte Kim: »Sie kann nicht umkehren; wenigstens nicht sofort. Sie muß warten, bis die Feuer niedriger brennen. Sie liegt seit der Dämmerung in einem Versteck ...« 106
»Allein?« »Ja«, antwortete Kim. »Verdammt, warum tut sie das?« »Sie hörte Ubali sagen, daß es äußerst interessant zu wissen wäre, was Kelkari im einzelnen plant. Darum machte sie sich bei Einbruch der Dämmerung auf den Weg. Die Feuer und Wachen haben ihr dann allerdings den Rückweg abgeschnitten ...« »Wo ist Ubali?« »Sie weiß es nicht ...« Dragon ballte die Fäuste. Welch ein Wahnsinn! Wenn sie das Mädchen entdecken und die richtigen Schlüsse zogen, waren sie gewarnt, und es würde verdammt schwer werden, sie in eine Falle zu locken. »Sie bittet dich, ihr nicht böse zu sein, Onkel. Sie hat inzwischen eingesehen, daß sie eine Dummheit begannen hat. Aber sie wollte ja auch nur kurz lauschen, was im Lager gedacht wurde, und sofort wieder zurückkehren. Daß es gefährlich werden könnte, war ihr gar nicht in den Sinn gekommen ...« »Hat sie Angst?« fragte Dragon, dessen Besorgnis den ersten Zorn rasch überwand. Kim zögerte mit der Antwort. »Ja«, sagte er dann.« Rasch fuhr er fort: »Sie hat auch einiges erfahren, das ihr wichtig erscheint. Kelkari hat den Auftrag, an der Quelle des Euphir ein befestigtes Lager zu errichten. Von dort aus soll der Angriff auf Urgor erfolgen, sobald das Landheer unter Zogors Führung eingetroffen ist. Und noch etwas: Kelkari fühlt eine unbestimmte Furcht ...« »Wovor?« entfuhr es Dragon, der schon fürchtete, von seinen Plänen könnte etwas durchgesickert sein. Kim schüttelte nach einem Augenblick des »Lauschens« den Kopf. »Sie weiß es nicht, weil er es selbst 107
nicht weiß. Es ist als ... fürchtete er den Zorn der Götter ...« Dragon schüttelte verwundert den Kopf. »Den Zorn der Götter ...?« murmelte er. »Frag sie, ob sie glaubt, daß sie unentdeckt bleiben wird, Kim.« Der Knabe übermittelte die Frage und gab die Antwort ein wenig zitternd. »Sie versucht, so klein wie eine Maus zu sein. Aber da ist eine Schar von Kriegern eingetroffen mit der Nachricht von der Vorhut, daß alles ruhig sei. Sie haben ein Feuer ganz in ihrer Nähe entzündet ... die Gedanken der Männer sind nicht gut. Sie hat Angst vor ihnen ...« Kims Augen füllten sich mit Tränen. »Ruhig, Kim« schalt Dragon. »Wie soll sie Trost finden, wenn du ihr etwas vorheulst ...!« »Ihre Gedanken ...«, sagte Kim stockend, »waren plötzlich so ... voll Furcht, daß ich sie spürte wie am eigenen Leib ...« Dragon nickte. »Sie muß jetzt sehr tapfer sein ...« »Das wird sie«, sagte der Knabe. Dragon lächelte. »Sagt sie das ... oder du?« Kim wurde rot. »Sie wird es!« wiederholte er nachdrücklich. »Sag ihr, daß sie unter keinen Umständen verraten darf, daß sie nicht allein hier ist ... was auch immer geschieht!« Kim nickte. »Und«, fuhr Dragon fort, »wenn man sie entdeckt, soll sie sich als Junge ausgeben ...« »Das ist in ihrem Fall nicht schwer«, nickte Kim. »Sie soll sagen, daß sie den Kriegern aus Dan nachgeritten ist, weil sie den Mörder ihrer Eltern auf der Spur bleiben wollte. Das ist ein überzeugendes Argument. Wenn man sie fragt, ob sie sie wiedererkennen würde, mag sie sagen, daß sie nicht sicher sei. Ein einzelner Jun108
ge ist harmlos genug und hat große Chance, am Leben zu bleiben. Und sag ihr noch eines: Wir werden sie nicht befreien und wir werden versuchen, auch Ubali davon abzuhalten. Es würde das Ende unserer Pläne bedeuten.« Nach einer Weile fragte er: »Versteht sie es ...? Wenn sich nur der Funken einer Chance ergibt, werden wir ihr helfen ...« Kim nickte. »Sie hofft, daß Ubali so klug handelt wie du«, sagte er leise. Dragon versuchte vergeblich, ein Auge zuzutun. Seine Gedanken kamen nicht von Yina los, die in großer Gefahr schwebte. Wenn man bedachte, was in Dan geschehen war, und wie wenig den Myranern ein Menschenleben bedeutete ... Aber je mehr er darüber nachdachte, um so mehr wurde ihm klar, daß er nichts unternehmen durfte! Oder ...? Doch es mochte einen Weg geben, der die Pläne nicht gefährdete. Er hatte Männer aus Dan bei sich. Sie konnten versuchen, das Mädchen zu befreien. Wenn man sie fing, mochte das den Feind wohl auf den Gedanken bringen, daß sich noch mehr danitische Horden herumtrieben und auf eine Gelegenheit warteten, sich an den Myranern zu rächen. Aber sie würden vermutlich kaum die richtigen Schlüsse ziehen. Das war es! Die Daniter mußten es versuchen ... Kim schrie neben ihm leise auf. »Oh, Onkel ... sie haben sie entdeckt ...!« Dragon fuhr hoch. »Sie zerren sie ans Feuer«, schluchzte der Knabe. Dragon sprang auf und weckte den nächsten Krieger, gegen den er in der Dunkelheit stieß. Er zerrte den Schlaftrunkenen hoch. »Rasch! Reite zum Heer zurück 109
und bring mir Cayhan und ein Dutzend seiner Männer ... die mutigsten ... Bei den Göttern, zögere nicht ...!« »J-ja, Dragon«, stammelte der Soldat benommen, aber der dringende Ton in Dragons Worten machten ihn rasch munter. »Cayhan und ein Dutzend seiner mutigsten Männer ...!« wiederholte er, während er bereits auf die Pferde zueilte. Als der Hufschlag des Boten in der Finsternis verhallte, wandte sich Dragon wieder dem Knaben zu. Der saß mit starren Augen reglos. »Was ist geschehen?« Dragon rüttelte ihn leicht. »Einer der Männer entdeckte sie, als er das Feuer kurz verließ, um sich zu erleichtern. Er brachte sie ans Feuer ...« flüsterte Kim. »Was taten sie ...?« Der Knabe ballte die Fäuste. »Yinas Angst ist so groß ... daß ich kaum etwas anderes in ihren Gedanken lesen kann. Sie streiten ... jetzt geht einer, um Kelkari zu holen ... jetzt werden ihre Gedanken wieder klarer ...« Er stöhnte auf. »Einer hat sie geschlagen, als sie sich wehrte ...« »Wissen sie, daß sie ein Mädchen ist?« »Ich glaube nicht ... nein ... einer nannte sie einen verdammten Bengel ...« Bis zur Morgendämmerung lauschte Dragon Kims Worten, die oft mit solcher Eindringlichkeit aus einem Mund kamen, als redete Yina selbst. Kim gab ihre Gedanken wieder, so wie er sie auffing ... Wortfetzen, hastige Überlegungen, fremde Gedankenbilder aus den myranischen Soldaten um sie, manch innerer Aufschrei ... Mit jedem Augenblick wurde Kims Bindung zu ihr stärker und tiefer, und es gab Momente, da er selbst ihre Gefühle empfand und wiederspiegelte, da Entsetzen sei110
ne Augen weit aufriß oder Scham und Zorn wie dunkle Schatten über seine Züge glitten. Die Männer behandelten ihren Gefangenen mit stoischer Brutalität, als sie ihn zum Sprechen zu bringen versuchten. So lebendig war der Bericht des Knaben, daß es Dragon zeitweilig schien, als hätte er die Szene vor sich und sähe Yinas Gesicht vor sich, die Züge verzerrt von Schmerz und Furcht. Und dennoch klang ein heimlicher Triumph durch die Schleier von Empfindungen, und Dragon bewunderte das Mädchen, das kaum sechzehn Sommer zählte und da draußen in Kelkaris Lager mehr Mut und Klugheit bewies, als mancher Krieger. Denn Wort für Wort ließ sie sich jene Geschichte abringen, die Kim ihr von Dragon übermittelt hatte: daß sie aus Dan kam und die Mörder ihrer Eltern suchte. Sie spie es ihnen fast entgegen. Und triumphierte. Denn in den Gedanken der Männer fand sie keine Zweifel. Plötzlich aber wurde Kim still Seine Augen weiteten sich. Er versuchte sich abzuwenden, und vergaß, daß die Bilder nicht vor ihm, sondern in ihm waren. Er schien nicht loszukommen und starrte schweigend ins Leere, die kleinen Fäuste geballt ... »Kim!« rief Dragon. »Kim, was ist?« Er antwortete nicht, auch nicht, als Dragon ihn schüttelte und ihn verzweifelt aus dem gespenstischen Traum zu rütteln versuchte. Plötzlich aber sank er zusammen, schluchzend. Als er aufblickte, erkannte Dragon, daß der Knabe frei war von den Gedanken Yinas. »Ist sie ... tot?« fragte er leise. Kim schüttelte verneinend den Kopf. »Sie denkt nicht mehr, aber sie lebt noch ...« »Sie ist ohnmächtig?« 111
Kim nickte. »Sie haben herausgefunden, daß sie ein Mädchen ist und sie ...« Er stockte. Dragon nickte düster. »Wirst du sie hören, wenn sie aufwacht?« »Sicher, Onkel.« »Dann werde ich jetzt die Männer wecken. Die myranische Vorhut wird nicht mehr lange auf sich warten lassen. Und wir wollen diesem machttrunkenen myranischen Heer einen ersten Vorgeschmack kommender Bitternis geben ... Es ist besser, wenn du noch zu schlafen versuchst. Du wirst deine Kräfte brauchen ...« »Schlafen?« rief der Knabe und schüttelte sich. »Wie könnte ich schlafen nach allem, was ich gesehen habe ...?«
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8.
Der Euphir war ein silberner Streifen in der Tiefe, in dem sich der morgenhelle Himmel spiegelte. Dragons Männer saßen auf ihren Pferden in sicherer Entfernung von der Schlucht. Nur Dragon selbst und drei Urgoriter lagen am Rande der Kluft und starrten in die Tiefe. Ein vierter hielt ihre Pferde in erreichbarer Nähe. Die myranischen Reiter der Vorhut kamen eben in das Tal. Sie ritten dichtgedrängt, bemerkte Dragon mit Genugtuung. Aber gleich darauf hielten sie an. Eine kleine Gruppe von sechs Reitern löste sich und galoppierte voran. Sie durchquerten die Schlucht, warfen wachsame Blicke auf die Felswände, schienen aber nichts Verdächtiges zu entdecken. Auf halber Höhe hielten sie an und winkten zurück. Die Kolonne setzte sich in Bewegung. Dragon atmete auf. Einen Moment hatte er befürchtet, sie konnten in kleinen Gruppen durchreiten. Als alle die erste Stelle des Donnerpulvers passiert hatten, gab er das Zeichen. Der Soldat hielt die Fackel an den weißen Pulverstreifen, sprang hastig auf, während das Feuer zischend den Streifen entlangeilte, und hetzte hinter Dragon her auf die Pferde zu. Sie erreichten sie in dem Augenblick, als das Donnerpulver seinem Namen alle Ehre machte und den Boden erbeben ließ. Die Pferde scheuten. Die Männer hatten Mühe, der eigenen instinktiven Furcht und jener der Pferde Herr zu werden. Die Schlucht hallte wider vom Getose hinabstürzender Felsmassen. Undeutlich vermeinte Dragon die Schreie von Menschen zu vernehmen. Jetzt, dachte er. 113
Jetzt geben sie ihren Pferden die Sporen und rasen vorwärts. Er hob die Hand. Fünfhundert Schritte weiter nahm der zweite Soldat die Fackel und gleichzeitig der dritte in der doppelten Entfernung. Die Flammen zuckten. Die Männer sprangen auf und hetzten über den steinigen Boden, der im nächsten Augenblick gewaltiger als zuvor erbebte. Risse taten sich auf, während Dragon und seine Gefährten erstarrt standen – und zehn, fünfzehn Schritte breit senkte sich der felsige Boden in die Schlucht hinab. Ein Grollen wie von einem mächtigen Gewitter kam mit einer wirbelnden Staubwolke empor. Dann Stille. Selbst das Rauschen des Flusses schien auszusetzen. Vorsichtig wagte Dragon sich an den neuen ausgezackten Rand der Kluft heran. Es währte lange, ehe der Staub sich soweit setzte, daß der Blick auf das Chaos am Grund des Tales fallen konnte. Der Talgrund war ein Trümmerfeld, auf dem drei, vier Mann hoch gewaltige Felsblocke lagen, die selbst das Bett des Euphir aufgefüllt hatten, so daß der Fluß sich einen neuen Weg suchen mußte. Der Wasserspiegel stieg rasch und flutete über die Felsen, und was wie durch ein Wunder unter den Trümmern noch leben mochte, fand einen nassen Tod. »Das war die Vorhut«, murmelte einer. Dragon nickte. Durch dieses Tal würden weder Karawanen noch Armeen je wieder reiten. Während des Rittes zurück zum Lagerplatz des Heeres kam Nachricht von Yina. Kim ritt plötzlich aufgeregt an Dragons Seite. Er strahlte. »Sie ist aufgewacht!« rief er. »Sie lebt!« Und er berichtete Dragon, daß Yina auf einem Pferd gefesselt aufgewacht sei in der unmittelbaren Gefolg114
schaft Kelkaris. Inzwischen hatte man ihr die Fesseln abgenommen! Sie fühlte sich schwach, aber die Gedanken der Männer um sie beschäftigten sich nicht mit ihr. Kelkari zweifelt nicht an ihrer Geschichte. Es ist ihm auch gleichgültig, ob sie stimmt. Sie meint, daß sie ziemlich sicher sei, solange sie nicht zu fliehen versucht. Kelkaris Gedanken liegen offen vor ihr, und die seiner Untergebenen. Sie bittet dich inständig, nichts zu unternehmen und auch Ubali zu warnen. Dies ist die Chance, die Urgor braucht. Alle Pläne Kelkaris weißt du in dem Augenblick, in dem er sie ersinnt ... Der Gedanke war verlockend. So verlockend in der Tat, daß Dragon einwilligte, wenn auch schweren Herzens. Kurz darauf tauchte Cayhan mit seinen Männern vor ihnen auf, und Dragon berichtete ihm, was geschehen war, und daß vorläufig nichts zu Yinas Befreiung unternommen werden sollte. Die Stimmung im Heer stieg gewaltig, als die Männer vom Untergang der feindlichen Vorhut und Yinas waghalsiger Tat erfuhren. Nun würde sie nichts mehr aufhalten. Dragon dachte realistischer. Er dachte an die tausend Mann, die sich nun irgendwo zwischen ihnen und Kelkaris Heer befanden. Einen Boten loszusenden, um Ubalis Trupp zu suchen, schien wenig ratsam. Die Gefahr, daß der Bote den Myranern in die Hände lief, war groß. So stellte er eine neue Vorhut aus hundert danitischen Kriegern unter Cayhans Führung zusammen, die den tausend Myranern entgegenreiten und ihren Vormarsch beobachten sollten. Dann setzte Dragon das Heer in Marsch, in einem Abstand von zwei Stunden hinter Cayhan. Um Mitternacht kam der erste Bote von Cayhan. Die Vorhut, hatte den Lagerplatz der tausend Myraner ge115
funden. Sie lagerten fünf Stunden westlich des Euphir am Fuß der Steilwand. Sie hatten also bereits bemerkt, daß die Schlucht am Euphir, die alte Karawanenstraße unpassierbar war. Welche Schlüsse hatten sie daraus gezogen? Von den Danitern erfuhr er, daß ein Aufgang eine weitere Stunde westlich des Myranerlagers in die Berge führte, den Pferde schaffen konnten. Mit größter Wahrscheinlickeit würden sie es dort versuchen. Eignete sich der Platz für einen Hinterhalt? Die Daniter meinten ja. Der Weg führte über eine schmale Hochebene, die rechts und links des Weges so steil abfiel, daß weder Mensch noch Tier den Abstieg wagen konnten. Dieser Felsweg endete in einem Wald. Dort mochten sich gut und gern tausend Krieger verbergen, ohne daß die Ankommenden sie sehen konnten. Wenn es gelang, ihnen den Rückweg abzuschneiden, waren sie einer Schar Bogenschützen hilflos ausgeliefert. Dragon erwog den Plan. So einfach wie in dieser Schlucht würde es diesmal nicht sein. Das erste Blut würde nun auf seiner Seite fließen. Denn selbst wenn es gelang, einige hundert im Pfeilhagel zu töten, der große Rest würde sich verzweifelt formieren und den Wald stürmen. Die Beratung wurde unterbrochen durch Kim, der eine Nachricht von Yina empfangen hatte. Boten waren von der zweiten Vorhut aufgetaucht, die meldeten, daß von der ersten Vorhut jede Spur verloren war. Auch seien die Ufer des Flusses nicht länger gangbar, und es müsse ein Weg im Westen gefunden werden. Keine Spur eines Feindes. Keine Ansiedlungen oder Dörfer. Es sah so aus, als stoße man in eine Wildnis aus Stein vor. So lauteten die Worte der Boten. 116
Kelkaris Furcht wuchs. Wenn er es auch vor seinen Männern verbarg, Yina entging es nicht. Worin wurzelte diese Furcht? In einem alten Kriegerwort seiner Ahnen, das besagte, daß die Götter selbst zum Schwert griffen, um den Feigen zu bestrafen. Die Götter selbst! Und Kelkari war feige gewesen! Zu feige, um sich des Königs unsinnigem Befehl zu widersetzen: der lautete: »Plündert Dan! Auch wenn es sich ergibt. Ich versprach meinen Soldaten Beute. Und Beute sollen sie haben! Laß sie das Töten lernen, damit in Urgor keiner mehr zaudert!« Das war nur eine der vielen Unehrenhaftigkeiten, zu der ihn sein König getrieben hatte; sein König und seine Feigheit. Mochte es sein, daß das Maß voll war? Mochte es sein, daß die Götter bisher Nachsicht mit ihm gehabt hatten, weil er im Grunde edlen Herzens war und nur zu schwach? Aber das Blut von Khisar und Akhir und nun von Dan klebte an seinen Fingern, obwohl er nicht einen einzigen Streich selbst geführt hatte! Und nicht einen verhindert. Aber nun hatte die Erde sich aufgetan und seine Vorhut verschlungen. (Er wußte nicht, wie nahe er der Wahrheit damit kam, dachte Dragon!) Und so absurd es in einem Moment klang, so dämonisch wahrscheinlich erschien es ihm im nächsten. Die Vorhut war verschwunden. Nicht ein einziger Mann war übriggeblieben! Und seine Späher berichteten, daß das Land leer und wild war. Von einem Feind keine Spur. Was blieb, wo waren die Götter? Sie waren überall. Kein Zweifel, frohlockte Yina, Kelkaris Furcht stieg. Dragon mußte ihr neue Nahrung geben. Dragons Männer waren erfreut von der Entwicklung der Dinge und bestürmten den Knaben, Yina Dank und Bewunderung zu übermitteln. Es gab kaum einen 117
in Dragons Heer, der das Mädchen nicht in sein Herz geschlossen hatte, und das, obwohl sie alles andere als eine Schönheit war, und den Spitznamen »Maus« nicht nur wegen ihrer zierlichen Flinkheit trug. Und Dragon wußte, wie er diese Furcht des Heerführers der Myraner schüren konnte. Auch die zweite Vorhut mußte sich in Nichts auflösen, ohne Spuren eines Kampfes zu hinterlassen ... Dem Plan der Daniter folgend, besetzte Dragons Heer den Wald am Ende des Felsenweges, während Cayhan und seine Männer das Myranerlager im Auge behielten. Dragon ließ drei Feuer entzünden, die einiges Licht für die Vorbereitungen spendeten. Vom Tal aus konnten die Feuer nicht gesehen werden. Es war ein Aufstieg von guten drei Stunden. Wenn die Myraner am Morgen vor Sonnenaufgang aufbrachen, mußten sie den Wald zu einem Zeitpunkt erreichen, da die Sonne ihnen genau ins Gesicht schien. So würden sie das Götterfeuer erst bemerken, wenn der Boden in Flammen aufging. Das Problem, die Wassersäcke mit dem Götterfeuer ohne Wurfmaschinen in die Masse der Myraner zu schleudern, lösten die Zunter mit einer alten Methode ihrer Väter. Junge Stämme wurden herabgekrümmt und mit den Wipfeln am Boden festgebunden. Daran befestigte man die Beute. Dragon achtete darauf, daß keiner mit einer Fackel zu nahe kam, als sie die Beute füllten. Als die Sonne aufging, war alles bereit. Cayhan erschien bald darauf mit der Vorhut. Das war das Zeichen dafür, daß die Myraner in wenigen Augenblicken die Felsebene erreichen mußten. Die Daniter teilten sich. Ein gutes Dutzend verschwand in einer Felshöhle am Beginn des Felsenweges. Die anderen gesellten sich zur 118
Hauptmacht im Wald. Die Ebene lag reglos und unberührt im Licht der Morgensonne. Die ersten myranischen Reiter erschienen. Sie hatten es nicht eilig, waren wohl aber erleichtert darüber, daß der beschwerliche Aufstieg nun bald ein Ende nahm. Langsam füllte sich der Felsenweg. Die Reiter genossen den majestätischen Ausblick, der sich ihnen bot. Als die letzten Nachzügler auf die Ebene kamen, tauchten die ersten Reiter in das Schußfeld. Noch regte sich nichts. Waren die Myraner blind? Sollte eine Vorhut nicht wachsamer sein? In diesem Augenblick hielten die Myraner an. Der Wald schien ihnen nicht geheuer zu sein. Eine Gruppe von zwei Dutzend Männern schickte sich an, hineinzureiten. Da erhob sich eine unsichtbare Stimme von gewaltiger Kraft. Dragon stand verborgen hinter einem der Felsen. Er hielt einen Sprechtrichter an die Lippen, wie die Daniter sie bei Nebel im Hafen verwendeten, um Schiffe zu warnen. Diesen Trichter – ein einfaches Rohr, das sich nach vorne verbreiterte und aus Metall war – hatten die Daniter bei sich gehabt, als sie zu Dragons Truppen stießen. Es verstärkte die Kraft der Stimme und gab ihr einen unheimlichen Beiklang. »Myraner! Legt die Waffen nieder, oder die Götter werden euch mit ihrem Feuer strafen ...!« Ein wütendes Geschrei begann. Die Männer rissen ihre Waffen aus den Gürteln, aber nicht, um sie wegzuwerfen, sondern drohend gegen den unsichtbaren Feind zu schwingen. Die großen, urgoritischen Bogen begannen im Wald zu singen und hielten gefiederte Ernte. Mehr als hundert fielen unter den ersten Salven. Die vordere Hälfte der myranischen Streitmacht geriet in heillose Verwir119
rung. Sie drängte gewaltsam zurück, schneller, als der Mittelteil der Kolonne zurückweichen konnte. Männer und Pferde wurden über den Rand des Felsenweges gedrängt und fielen schreiend in die Tiefe. Dann endlich merkten auch die letzten, daß vorn nicht alles stimmen konnte und kehrten um. Doch da flammte der Boden plötzlich vor ihnen auf. Der Fels brannte in dämonischem Feuer und versperrte ihnen den Rückweg. Haushoch waren die Flammen, und magisch loderten sie aus dem nackten Stein. Auch die hintersten Reihen bemerkten das Feuer und hielten rechtzeitig an. Befehle des Anführers hallten über den allgemeinen Lärm. Die Myraner versuchten sich auf der schmalen Ebene zu formieren. Sie sahen den anderen Tod, den der Wald ausspie, erst, als er in ihre Reihen griff. Die brennenden Beutel kamen direkt aus dem Glanz der Sonne, schlugen auf, platzten auseinander und besprühten Felsen, Reiter und Pferde. Überall, auf der gesamten Länge des Felsenweges kam der feurige Tod aus dem Himmel und riß entsetzliche Wunden in die dichten Reihen. Als das Feuer ausbrannte, standen kaum mehr als hundert Myraner und ein Dutzend Pferde. Kein Jubelgeschrei erscholl von Dragons Männer. Die schreckliche Gewalt des Götterfeuers hatte sie selbst tief entsetzt. Als Dragon die Myraner erneut zur Waffenniederlegung aufforderte, schleuderten sie ihre Schwerter von sich. Sie hatten keinen einzigen Feind gesehen – und dennoch lagen neun Hundertschaften im Staub! Die Götter mußten sie strafen für das Blut, das sie in Dan auf Befehl Kelkaris vergossen hatten. Kein Zweifel, die Götter zürnten ihnen ... Sie sanken in den Staub und flehten zu den Göttern. 120
Dragons Männer blickten beinahe mit Mitleid auf den erbärmlichen Haufen der Feinde. Das Verhalten der Myraner ließ in Dragon einen neuen Plan reifen. Er befahl seinen Truppen, sich nicht zu zeigen und sie nicht zu verfolgen, wenn sie die Flucht ergriffen. Ihre Erzählung mußte in Kelkaris Lager nicht ohne Wirkung bleiben. Nach und nach, als sich nichts mehr regte, als die Götter schwiegen, sprangen vereinzelte kleine Gruppen der myranischen Krieger auf und wagten zögernd den Ruckzug. Mehr und mehr folgten, während ihnen die verborgenen Urgoriten und Zunter und Daniter ein wenig zweifelnd nachblickten. War es gut, eine Hundertschaft fliehen zu lassen? Diese Krieger mochten später in der Hauptmacht des myranischen Heeres nützlich sein. Aber sie wußten auch, daß die Wirkung dieses einzigartigen Hinterhalts verloren war, wenn die Myraner erkannten, daß sie nur einem menschlichen Feind in die Falle gegangen waren. So blickten sie ihnen nur nach, wie sie schließlich wie von Teufeln gehetzt von der Stätte der Vernichtung flohen. Dragon schickte Späher hinter den Fliehenden her, um sich zu vergewissern, daß sie auch tatsächlich verschwanden und nicht heimlich umkehrten, um einen genaueren Blick auf die vermeintlichen Götter zu werfen. Aber sie flohen geradewegs nach Südwesten – Kelkaris Hauptmacht entgegen. Als die Felsenebene von den Leichen gesäubert war, gönnte Dragon seinen Männern die wohlverdiente Rast. Sie hatten den Schlaf einer Nacht nachzuholen. Und jetzt war der Augenblick dafür. Sie konnten nur warten.
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Mehrere Stunden später meldete sich Yina. Hundert Krieger, so berichtete sie mit Kims Hilfe, waren zum Heer gestoßen. Es handelte sich um Männer der zweiten Vorhut. Und sie berichteten eine wirre Geschichte von den Göttern, die mit unlöschbarem Feuer neun Hundertschaften erschlagen hätten. Kelkari zweifelte erst, aber die übereinstimmenden Einzelheiten in den Erzählungen der Männer versetzten nach und nach nicht nur Kelkari, sondern auch den überwiegenden Teil des Heeres in Aufregung. Besonders diese Flucht war seltsam – die Tatsache, daß niemand sie verfolgte. Lauerte ein Feind da oben in den Felsen, so überlegten sie, würde er nicht eine ganze Hundertschaft fliehen lassen. Die Götter hingegen kümmerte der einzelne wenig, wenn sie straften – das war es, was Kelkari dachte. Eine Unsicherheit aber breitete sich im ganzen Heer aus. Die Frage, was wohl mit der ersten Vorhut geschehen sein könnte, wurde nun bedeutungsvoll. Mehrmals während der nächsten Stunde übermittelte Kim Berichte des Mädchens. Danach steigerte sich die Unsicherheit im myranischen Heer so weit, daß die Männer sich weigerten, eine neue Vorhut zu bilden und in den Bergen nach dem Rechten zu sehen. Sie mißachteten seine Befehle. Sie kämpften gegen Urgor und Zunt. So war es abgemacht. Aber nicht gegen die Götter. So ließ Kelkari vorzeitig lagern und beriet sich mit seinen Kommandanten. Aber als die Nacht kam, hatte die Beratung noch immer zu keinem Ergebnis geführt. Ein Fluch der Götter lag auf dem Heer. Darin waren sich alle einig, auch wenn sie es nicht kundtaten. Aber Yina, die tief in ihre Gedanken sah, entging nichts.
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Das Sprechrohr der Daniter schien Dragon nun die beste Waffe. Nicht Gewalt, sondern Furcht würde den Myranern in der augenblicklichen Lage am meisten zusetzen. Der Ostwind, der von den Bergen strich, war wie von den Göttern gesandt. Während der Hauptteil seiner Krieger in den Bergen blieb, schlich Daragon mit Kim und zweihundert Männern hinab zum myranischen Lager. Kim weckte Yina und berichtete ihr von Dragons Plan. Das Mädchen berichtete, daß im Lager die Unruhe längst nicht erloschen sei. Am ruhelosesten von allen aber sei Kelkari – mehr denn je erfüllt von nagenden Zweifeln und innerer Furcht ... Kelkari, dachte Dragon, das ist gut. Er setzte das Sprechrohr an die Lippen. »Kelkari ....« Es war wie ein Flüstern über dem Wind. Nach einem Augenblick erneut. »Kelkari ... wir rufen dich ...!« Dragon war nicht sicher, ob der Wind die Worte bis ins Lager trug, und ob er kräftig genug sprach. Doch Yinas Botschaft beruhigte ihn und stachelte ihn an. »Sie sagt, er klingt unheimlich«, flüsterte Kim neben ihm. Dragon nickte. »Ich muß nun jedes Wort wissen, das er sagt. Berichte das unserer, Maus‘.« Nach einem Augenblick nickte Kim. »Sie sagt, die meisten Männer sind wach und haben die Stimme gehört. Auch Kelkari. Er denkt, daß er nicht ganz bei Sinnen ist ...« »Den Eindruck werden wir verstärken«, sagte Dragon grinsend. Er setzte das Rohr an. »Kelkari ...«, diesmal lauter. »Hörst du ...?« »Er stammelt«, flüsterte Kim. »Er sagt ja.« Und gleich darauf: »Irgend etwas geht vor, aber sie kann es nicht erkennen ... ah, jetzt. Die Überlebenden der Vorhut berich123
ten, daß sie diese Stimme bereits gehört hätten, bevor das Feuer der Götter vom Himmel fiel ...« »Wie lange willst du deine Männer noch in den Tod führen, Kelkari ...?« »Er denkt nicht vernünftig«, murmelte Kim. »Er hat nur Angst. Er tritt vor sein Zelt. Er blickt zum Himmel auf. Er brüllt: Wer ist es, der zu Kelkari spricht?« Dragon lachte in das Rohr. »Es klingt, als ob Dämonen lachten«, berichtete Kim Yinas Worte. »Kennst du mich nicht, Kelkari ...?« »Erwartest du mich nicht, Kelkari ...?« »Ist die Stimme Amyrons nicht dein ständiger Begleiter gewesen ...?« Ein Todesschrei folgte diesen Worten, den der Wind über die Ebene trug. Nach einem Augenblick der Stille ließ Dragon das Lachen folgen – ein spöttisches, amüsiertes, kaltes Lachen ... Tumult erhob sich in Kelkaris Lager und steigerte sich rasch. »Kelkari ist starr vor Angst«, sagte Kim. »Er flüstert immer nur den Namen des Totengottes. Er sinkt in die Knie ... Eine Schar von Kriegern in Kelkaris Nähe hat die Flucht ergriffen. Überall haben Soldaten zu laufen begonnen ... Die Überlebenden der Vorhut stacheln die Krieger zur Flucht an ... Sie haben es nicht schwer ... Panik ist in aller Herzen ... Wer anfangs noch vernünftig dachte, wird nun mitgerissen ... Irgendwo kämpfen sie sogar ...« »Soll Feuer vom Himmel fallen, Kelkari, um dich und dein Heer zu verschlingen ...?« Dragon gab das Zeichen. Fünfzig Bogenschützen legten die vorbereiteten Pfeile, die mit prallgefüllten Kuhdärmen versehen waren, an die Sehnen. Nicht alle trafen ihr Ziel: das erste der großen Feuer des myranischen Lagers. Aber viele fuhren zischend in die Flammen. Die 124
Därme platzten, das entzündete Götterfeuer versprühte auf Menschen und Zelte, brachte auch jene Geschosse zur Entzündung, die ihr Ziel verfehlt hatten. Im Nu stand ein Großteil des Lagers in Flammen. Eine Stimme brüllte über das Tosen des Feuers, daß sie selbst Dragon und seine Männer hören konnten. »Amyron! O Amyron! Nimm Kelkari! Aber verschone uns ...!« »Er hat Kelkari erdolcht«, flüsterte Kim bleich. »Er ist einer der Kommandanten ... Tokjar ...« »Tokjar!« donnerte Dragon durch das Sprechrohr. »Wagst du es, das Werk Amyrons zu tun?« Er gab erneut ein Zeichen, und die Bogenschützen sandten ihre zweite tödliche Ladung in das Heerlager. Als die Glut aufflammte, rief er: »Löst dieses Heer auf, damit das Andenken Kelkaris erlischt, oder ganz Myra wird für das Blut bezahlen, das seine Feigheit vergoß ...« »Löst es auf, oder es wird mit Donner und Feuer ein Ende finden und in Amyrons Reich gegen die Dämonen marschieren ...!« Auf sein drittes Zeichen traten die zuntischen Schleuderer in Aktion. Sie warfen kleine Behälter mit Donnerpulver in das Flammenmeer, die mit gewaltigem Getobe barsten und Zelte und Männer zu Boden fegten. Es gab keinen mehr in Kelkaris Heerlager, der daran zweifelte, daß die Götter selbst dem Heer zu Leibe rückten, allen voran Amyron, der Gott des Todes. Sie flohen – sie stoben auseinander, wie Laub im Wind. Sie trampelten einander nieder und schlugen einander um die Pferde. Sie rasten aus dem Lager wie von Furien gehetzt. »Da rennt es, das stolze myranische Heer«, murmelte einer der Zunter grinsend. »Welch ein Sieg ...!« 125
»Sieg?« erwiderte Dragon. »Täuscht euch nicht. Sie sind zwar verstreut und führerlos, aber immer noch Feinde, und immer noch sechstausend, wenn auch vielen die Lust vergangen sein mag und noch vergehen wird, gegen Urgor zu ziehen. Ich denke nicht, daß sie es wagen werden, sich wieder zu sammeln. Wir werden sie im Auge behalten ...« Er lächelte und klopfte gegen sein Sprechrohr »Amyron kann jederzeit wieder auferstehen. Auch hat Yina mir verraten, daß ein nicht unbedeutender Teil dieses Heeren nicht aus Myranern sondern Söldnern bestand Ihnen mag es gleich sein, woher sie ihren Sold beziehen ...« Er hielt nachdenklich inne. »Und dann«, fuhr er schließlich fort, »werden wir an die Quellen des Euphir reiten und unsere größte Falle vorbereiten: das befestigte Truppenlager, das der König von Myra seinem General Kelkari dort zu errichten befahl.« »Hallo« – sagte eine leise, zaghafte Stimme. Die Männer blickten auf. Vor ihnen in der Dunkelheit stand Yina, klein und verloren. Die Begrüßung war nicht nur stürmisch – sie war lebensgefährlich! Das sogenannte »Seeheer«, das von Süden aus nach Urgor vorstoßen sollte, ist zerschlagen. Noch aber existiert das ungleich mächtigere Landheer, das der König von Myra selbst in Richtung Urgor führt. An des Königs Seite befindet sich Cnossos in der Gestalt des Magiers Zamoc. Sie reiten dem Sieg entgegen – so glauben DER KÖNIG UND DER MAGIER. DER KÖNIG UND DER MAGIER so lautet auch der Titel des nächsten Dragon-Bandes. Verfasser des Romans ist Ernst Vlcek.
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