PABEL
Vampir Horror-Roman Band 257
JACK READ
Die Stadt der toten Seelen
Die Hauptpersonen des Romans: Michael Ronfi...
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PABEL
Vampir Horror-Roman Band 257
JACK READ
Die Stadt der toten Seelen
Die Hauptpersonen des Romans: Michael Ronfield – Der Chef des Magic-Kommandos schickt seine Helfer ins Verderben. Mark Thorn – Manche kennen den MAK-Agenten unter einem anderen Namen – aber seine Schlagkraft kennen alle. Maureen Carrington – Sie verfügt über eine geheimnisvolle Kraft – dennoch gerat sie in tödliche Gefahr. Tork of Kilmarn – Er ist der Herr der toten Seelen in einer Stadt ohne Zukunft. Edward Logan – Als Hoteldirektor kommt er seinen Gästen seltsam vor – und sie fürchten ihn, als er seine wahre Natur enthüllt.
»Por favor, Señor Thorn – hier ist ein dringender Brief für Sie.« In mein gemütliches Dösen drang die helle Stimme des Hotelboys wie eine der unheilvollen Trompeten von Jericho. Ich war sofort hellwach und erhob mich aus meinem Strandstuhl. Das kleine, putzig aussehende Kerlchen schaute mich aus großen, dunklen Augen achtungsvoll an. Seine Kinderhände umfaßten einen kunstvoll ziselierten silbernen Teller. Der Service im Viersternehotel »El Parador« war über jeden Zweifel erhaben. »Muchas gracias.« Ich bedankte mich mit ernstem Gesicht und nahm den Brief an mich. Der Boy machte eine artige Verbeugung und entfernte sich. Das graue Allerweltspapier des Umschlags verriet mir sofort den Absender. Ich wußte es – wußte es mit einer fast hellseherischen Klarheit... Mein erst vor einer Woche angetretener Urlaub ging heute zu Ende. »... und erholen Sie sich gut. Vier Wochen haben Sie Zeit dazu«, hatte mir mein Chef vorher eingeschärft. Und Michael Ronfield – wir nannten ihn unter uns nur Mike – sagte so etwas nicht oft. Ansonsten war der Boß des Magic-Kommandos – kurz MAK genannt – nämlich ein ausgeprägtes Rauhbein. Wir sind eine Art Sonderabteilung des legendenumwitterten Federal Bureau of Investigation, der weiten Öffentlichkeit besser unter der Abkürzung FBI bekannt. Ronfield hatte die MAK 1970 gegründet. Manche Leute hatten falsche Vorstellungen von uns. Sie hielten uns für einen verklemmten, abergläubischen Verein von Wald- und Wiesenzauberern. Aber nichts wäre falscher als eine solche lächerliche Annahme. Jeder Skeptiker würde allein durch die Ausbildung, die diesem Job vorangehen muß, widerlegt werden.
Da ist zunächst die »normale« FBI-Ausbildung, die immerhin, sechs Jahre umfaßt, in denen einem nichts geschenkt wird. Erst dann – jedoch nur bei einem hervorragenden Abschluß – kann es dem verwunderten Absolventen passieren, daß er zu einer MAK-Eignungsprüfung geladen wird. Diese Prüfung ist so streng, daß nur sehr wenige sie bestehen. Begreiflich, denn zum Bestehen dieses Tests muß man über außergewöhnliche parapsychologische Begabungen verfügen. Denen, die nicht bestanden haben, wird in lapidarer Kürze erklärt, sie hätten lediglich an einem wissenschaftlichen Experiment teilgenommen, das für sie selbst aber bedeutungslos sei. Selbstverständlich wurde ihnen für ihre Teilnahme mündlich – und schriftlich – gedankt. Keiner von ihnen hatte auch nur eine blasse Ahnung von der wahren Bedeutung dieses »Experiments«. Die wenigen erfolgreichen Kandidaten erfuhren dann die näheren Einzelheiten. Sie wurden in kleinen Gruppen zusammengefaßt und erhielten ihre weitere Ausbildung an einem völlig neutralen Ort. Diese Magic-Schulung dauerte noch einmal vier Jahre. Vorher mußte sich jeder von ihnen mit einem Hypno-Block einverstanden erklären. Der Hypno-Block hatte eine Schutzfunktion, denn er verhinderte eine Enttarnung. Ob naher oder entfernter Verwandter, Bekannter oder Freund – niemand erfuhr auch nur die geringste Kleinigkeit. Selbstverständlich geschah alles auf freiwilliger Basis. Es würde zu weit führen, alle Einzelheiten zu schildern, die dem alten Ronfield vor sieben Jahren zur Gründung des MAK veranlaßten. Mit Sicherheit hatten ihn schon damals die Forschungsergebnisse der Parapsychologie und die aus ihr resultierenden Möglichkeiten zur Verbrechensbekämpfung beeindruckt. Daneben spielten wahrscheinlich auch die vielen Tatbestände eine Rolle, die vom Verstand her nicht erklärbar sind und nur mit Hilfe unserer Methoden aufgedeckt werden
können. Jedenfalls hat es die letzte Ausbildungsetappe in sich. Wir wurden zum Beispiel in alle möglichen Geheimkulte eingeführt: angefangen von der Dämonologie und den Lehren mittelalterlicher Alchemie bis hin zu den magisch-religiösen Riten des Voodoo mit seinem grausigen Analogiezauber. Hinzu trat eine gründliche parapsychologische Schulung. Sie war besonders wichtig, da magische Manifestationen fast ausschließlich parapsychologisch erklärt werden können. Aber dafür konnten wir uns nach unserem Abschlußdiplom mit Fug und Recht als »Eingeweihte hohen Grades« bezeichnen. Unsere Gruppe war naturgemäß klein. Die genaue Stärke kannten mit Sicherheit nur Ronfield und die Zentrale. Wahrscheinlich waren es nicht mehr als dreißig bis vierzig Personen, die das MAK bildeten. Doch diese kleine Truppe hatte ihre Schlagkraft bereits eindeutig unter Beweis gestellt. Ihre Erfolge hatten dem Chef recht gegeben. Die wenigen, die von unserer Existenz eine Ahnung hatten – nur die Spitzen der Regierung und des FBI –, standen jedenfalls vorbehaltlos hinter uns. Unschlüssig wedelte ich mit dem Brief durch die Luft. Schließlich gab ich mir einen Ruck. Einmal mußte es ja doch sein. Ich öffnete den Umschlag, zog den unscheinbaren Bogen heraus und begann zu lesen. »Liebes Katerchen«, lautete die geistreiche Anrede. Ich runzelte die Stirn. Die Burschen in der Zentrale wollten mich anscheinend ein wenig ärgern. »Zwei Monate habe ich gebraucht, bis ich Deine Adresse erfuhr«, las ich weiter. »Ich finde es gar nicht nett von Dir, daß Du alter Schurke Dich so heimlich von mir ›abgesetzt‹ hast. Gut, daß mir Deine Ma die Urlaubsanschrift von Dir gab. Sie hat es nicht besonders gern getan.
Bitte erschrick jetzt nur nicht. Unser zärtliches Wochenende in Miami – erinnerst Du Dich noch daran, ich jedenfalls viel zu oft – ist nicht ohne Folgen geblieben. Der Doc sagte mir, ich sei im dritten Monat. Damit Du es genau weißt: ich will es haben. Es wäre zu diesem Zeitpunkt unanständig von Dir, wenn Du nicht sofort Deinen Urlaub abbrechen würdest. Bitte komm – ich freue mich sehr. Und wehe Dir, wenn Du nicht die nächste Maschine nimmst. Ein besonders zärtliches Küßchen, Deine Kitty.« Meine Ahnung hatte mich also nicht getrogen. Wie eine heiße Woge stieg Empörung in mir hoch. In meinem Hals formte sich ein dicker Kloß. Aber als ich auf den Brief in meiner Hand blickte, verzog ich mein Gesicht zu einem matten Grinsen, Selbstverständlich war alles nur Tarnung, jede Zeile. Aber eine solche Geheimniskrämerei gab es nur bei besonders schweren Fällen. Schließlich hätte man mir auch durch das Telefon mit wenigen unverfänglichen Worten alles Nötige sagen können. Das ungute Gefühl in meiner Magengrube verstärkte sich. Da schien ein dicker Brocken auf mich zu warten. Ich wußte zu genau, daß Ronfield solche Kaliber mit Vorliebe mir zuschanzte. Er lobte mich zwar nie, aber ich wußte durch solche »Auszeichnungen«, daß er meine Arbeit schätzte. Ich hatte also die nächste Maschine zu nehmen. Ich schaute auf meine Armbanduhr. Es war genau vierzehn Uhr. Ich hatte den Flugplan im Kopf. Das nächste Flugzeug startete in zwei Stunden. Ich mußte mich etwas beeilen. Mein bedauernder Blick schweifte über den makellosen Sandstrand vor mir. Die feinen gelben Körnchen nahmen sich im Licht der Sonnenstrahlen wie Milliarden winziger blitzender Nuggets aus. Dahinter die endlose blaue Weite des
Stillen Ozeans. Bei diesem Anblick seufzte ich unwillkürlich auf. Eine Woche Acapulco war entschieden zu wenig. Ich hatte gerade erst angefangen, mich einzuleben. Eigentlich – so ging es mir durch den Kopf – hatte ich verdammt wenig von meinen großzügig bemessenen Bezügen. Ich hätte mir – vom reinen Geldwert aus gesehen – ein Leben in Luxus leisten können. Aber als MAK-Mann fand man einfach nicht die Zeit dazu. Aber wollte ich es denn anders haben? Ich fühlte, wie sich bei dieser Frage der Kloß in meiner Kehle löste und in Sekundenschnelle verging. Nein, weiß Gott nicht. Für die Trampelpfade des Alltags war ich nicht geschaffen. *** Die große Schiebetür glitt zurück, und ich schritt auf den mächtigen Schreibtisch meines obersten Brotherrn zu. Die hellen Augen in dem haarlosen, kantigen Schädel, dem etwas von einer Bulldogge anhaftete, musterten mich prüfend. »Mein Lieber, Sie scheinen sich in den paar Tagen schon ganz gut erholt zu haben.« Er konnte mir meinen Ärger vom Gesicht ablesen, denn er lächelte verhalten. Das tat er immer, wenn er sich über jemand lustig machte. »Ich hatte auch eine lange Woche Zeit dazu«, antwortete ich voller Sarkasmus. Um den schmallippigen Mund huschte ein winziges Zucken. »Ausgezeichnet, demnach sind Sie wieder bestens gerüstet.« Seine Augen zogen sich überlegend zusammen. Minutenlang verharrte er in dieser nachdenklichen Haltung. Er schien auf einen imaginären Punkt hinter meinem Rücken zu starren.
Ich beobachtete ihn lauernd, während sich in meinem armen Schädel die Gedanken jagten. Warum sprach er nicht endlich? Er mußte doch wissen, daß mein Gemütszustand einer angespannten Feder glich. Oder konnte es sein, daß er bezüglich meines Einsatzes noch zu keinem klaren Entschluß gekommen war? Der nachdenkliche Gesichtsausdruck verschwand endlich und sein Blick schweifte zu mir zurück. »Setzen Sie sich doch endlich«, fuhr er mich gereizt an. »Unser Gespräch wird eine ganze Weile dauern.« Das weiße, knochige Gesicht vor mir wurde von einer Sekunde zur anderen hart und ausdruckslos. Ronfield setzte diese Miene immer dann auf, wenn er einen seiner Agenten in einen schwierigen Einsatz schickte. »Vor vier Tagen war Charles Donovan von unserer englischen Konkurrenz bei mir.« Ronfield sah mich starr wie ein Krokodil an. »Er hat mich um Hilfe gebeten. Die Herrschaften kommen allein nicht weiter.« Ich brauchte nicht zu rätseln, wer »Donovan« war. Er war der Chef von Scotland Yard. Und die baten uns um Hilfe... Eigentlich unbegreiflich. »Was ist das für ein Fall?« »Äußerst mysteriös. Sie haben bei den Ermittlungsarbeiten schon vier Beamte verloren«, gab mir Ronfield langsam zur Antwort. Und ich werde vielleicht der fünfte sein, fuhr es mir durch den Kopf. Denn daß Ronfield mich für diese »Hilfsmission« auserkoren hatte, war mir jetzt schon sonnenklar. Ich hatte urplötzlich die Empfindung eines kalten Luftstroms, der langsam an meinem Körper vorüberstrich. Mich schauderte. Ich beschloß, präzise zu fragen. »Um was für ein Verbrechen handelt es sich, und wie kam es zum Tod der Beamten?«
»Ich kann mir selber keinen richtigen Vers aus dem machen, was mir Donovan erzählte«, sagte Ronfield. »Sicher ist nur, daß hier Dinge mitspielen, die uns angehen.« Seine Stimme verlor die grimmige Note und wurde kalt. »Die Fakten sind schnell erzählt. Die makabre Handlung spielt im Nordwesten Schottlands, mitten im Hochland von Wester Ross und Sutherland, ziemlich genau fünfzig Kilometer nordwestlich von Inverness. Dort liegt das Stammschloß der Earls von Kilmarn...« Ein sparsames Lächeln huschte um seinen strengen Mund, als er sich kurz unterbrach. »Sie werden es bald kennenlernen. Jedenfalls baute der jetzige Earl dieses Schloß vor fünf Jahren um und machte es zu einem Luxushotel. Die Preise sollen derart gesalzen sein, daß sich nur die High Society dort einen Aufenthalt leisten kann.« Er schwieg und groß sich ein Glas Mineralwasser ein. Ich mußte ihn wohl ziemlich verständnislos angesehen haben, als er das Glas mit kleinen Schlucken leerte, mich dabei spöttisch musternd. »Warten Sie ab, Sie werden auf Ihre Kosten kommen. Und das nicht zu knapp.« Er setzte das Glas ab und fuhr fort: »Schon wenige Monate nach der Eröffnung des Hotels begann es in der Gesellschaft zu summen wie in einem Bienenschwarm. Allmählich drangen Einzelheiten nach außen. Ich will sie auf einen kurzen Nenner bringen: Mehr und mehr häuften sich Fälle, daß Hotelgäste nicht mehr nach Hause wollten, sondern im Schloß wohnen blieben. Parallel dazu scheint eine totale Persönlichkeitsveränderung der Betroffenen zu verlaufen. Sie verlieren jeden Kontakt zu ihrem früheren Leben – werfen jede Bindung von sich. Über zweihundert sollen es bereits nach einem Jahr gewesen sein.« »Aber das ist doch nicht verboten«, warf ich ein.
Mein Chef bedachte mich mit einem undefinierbaren Blick. »Sicher nicht. Das haben auch Beamte des Yard den verzweifelten Angehörigen gesagt, die um Hilfe baten. Erst als eine weitere Häufung eintrat, wurde das Hotel näher unter die Lupe genommen. Und was glauben Sie, was die beiden Beamten dort vorfanden?« Bevor ich mich äußern konnte, hörte ich Ronfield gallig auflachen. »Nichts Erwähnenswertes. Wenigstens gaben sie das zu Protokoll. Alles sei stinknormal. Die Hotelgäste hätten sich dagegen mit bitteren Worten über ihre Angehörigen beklagt. Ausdrücke wie ›Erbschleicher‹ und ›Schlangengezücht‹ seien noch sehr milde Bezeichnungen gewesen. Auch der Psychiater, den sie mit dabei hatten, konnte nichts Verdächtiges feststellen. Es sei zwar sonderbar, wenn so viele Leute fast gleichzeitig den überwältigenden Wunsch verspürten, ihr bisheriges Leben wie einen alten Lumpen wegzuwerfen, aber gesetzlich wäre dagegen nichts einzuwenden.« Ich wollte eine Frage stellen, aber Ronfield winkte ungeduldig ab. »Bevor Sie nicht alles wissen, ist jede Frage sinnlos. Sie sollten mehr Geduld haben.« Er schaute mich mit einem strafenden Blick an und fuhr dann fort: »Anschließend hatte es Monate hindurch den Anschein, als ob die Angelegenheit im Sand verlaufen würde. Die Angehörigen hatten sich anscheinend damit abgefunden, daß sie keine Handhabe besaßen und ließen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nichts mehr von sich hören. Ruhe kehrte ein. Doch dann begann eine neue Phase. Zu Füßen des Schlosses wurde plötzlich gebaut – Haus um Haus – in einer völlig ungewohnten, düsteren Bauweise. Erkundigungen ergaben, daß eine erst vor kurzer Zeit gegründete Baugesellschaft hier eine kleine Stadt baute. Das war vor genau drei Jahren. Heute
wohnen dort schon an die zweitausend Menschen. Das Seltsame dabei ist, daß auch sie von überall herbeigeströmt sind, um hier – wie sie sagen – ein neues Leben zu beginnen. Abseits vom grauen Alltag. Sie können sich ausmalen, was jetzt auf den Yard zukam. Aus allen Himmelsrichtungen eilten verzweifelte Frauen, Töchter, Söhne und Mütter herbei und schrien nach Hilfe. Verständlich, daß die Zeitungen sich dieses gewinnträchtigen Themas liebevoll annahmen und gehörig ausschlachteten.« »Und?« fragte ich drängend. »Nichts ist passiert, wenigstens zunächst nicht«, sagte Ronfield. »Wieder drohte alles im Sand zu verlaufen. Der Earl hatte den Grund ordnungsgemäß erworben und ihn nur mit geringem Gewinn weiterverkauft. Der Mann muß ungeheuer reich sein. Alle Maßnahmen der Infrastruktur wie Straßenbau, Errichtung eines kleinen Kraftwerks, Hallenschwimmbad und anderes wurden von ihm bezahlt. Die Reporter fingen bald an, ihn als einen großen Menschenfreund zu feiern. Im Yard wartete man währenddessen ab. Doch dabei blieb es auch. Es ergaben sich einfach keine Ansatzpunkte, die ein Eingreifen rechtfertigten. Doch in diesem Augenblick ohnmächtiger Hilflosigkeit kam der Zufall zu Hilfe. Eine ganz Schottland peinigende GrippeEpidemie verschonte auch diese neue Ansiedlung – sie trägt übrigens den seltsamen Namen Acher – nicht. Aus Inverness kam eine fahrbare Medizinalstation mit zwei Ärzten zur Behandlung der Kranken. Eine ganze Woche waren sie dort. Kurz bevor sie ihre Zelte wieder abbrachen, übergab einer der letzten Patienten einem der Ärzte einen zusammengeknüllten Brief. Er war an Scotland Yard adressiert. Der Arzt wollte in seiner verständlichen Verblüffung noch einige Fragen stellen.
Aber der Mann hat beschwörend einen Finger auf seinen Mund gelegt und dabei so flehend geschaut, daß er davon absah. Und der Zufall spielte weiter mit. Als der junge Arzt am nächsten Tag wieder nach Inverness zurückkehrte, erfuhr er auf dem Polizeirevier, wo er den Brief abgeben wollte, daß der Chef des Yard, Mister Charles Donovan, in Inverness sei. Man würde ihm den Brief gleich zustellen. Und so geschah es auch. Was der Unbekannte schrieb, hat Donovan mir vorgelesen. Ich habe es aufgeschrieben.« Er hielt sich einen kleinen Zettel dicht unter die Nase – er war kurzsichtig, wollte es aber nicht wahrhaben – und las vor: Niemand von uns ist freiwillig hier. Wir werden alle geistig versklavt von diesem Teufel. Helft uns, sonst sind wir verloren. Das Ungeheuer frißt unsere Seelen. »Mein Gott, das ist ja...« »Fällt doch einwandfrei in unser Ressort, nicht wahr?« unterbrach er mich. Ich nickte. »Ich nehme nicht an, daß ein Verrückter diese Zeilen geschrieben hat. So was schreibt nur ein tief verzweifelter Mensch.« Ich schaute den Chef an. »Sie erwähnten zu Beginn vier getötete Beamte...« »Sie wollten unbedingt den Schreiber identifizieren. Der Arzt hatte ihnen eine Personenbeschreibung geliefert, in der er sie auf eine breite Narbe hinter dem linken Ohr aufmerksam machte. Die Aussichten waren also gar nicht schlecht. Aber die beiden Beamten, die von der Zentrale in Marsch gesetzt wurden, sollten ihr Ziel erst gar nicht erreichen. Kurz nach Inverness prallte ihr Wagen auf einen Baum. Beide waren sofort tot. Wie später durch Zeugenaussagen festgestellt werden konnte, passierte das Unglück auf einem völlig übersichtlichen Straßenabschnitt. Aber es kommt noch dicker. Selbstverständlich brachte man diesen tragischen Vorfall nicht in Verbindung mit der
Nachricht des Unbekannten. Eine Woche später erhielten zwei andere Beamte den Auftrag, den ihre Vorgänger nicht hatten ausführen können.« Ronfield schaute mich mit brennenden Augen an. »Nun, Mr. Thorn, können Sie sich vorstellen, was den beiden passiert ist?« Ein eisiger Schauder rann mir über den Rücken. »Sie sind ebenfalls verunglückt.« »Können Sie mir auch sagen, wo es passiert ist?« »Doch wohl nicht an der gleichen Stelle«, gab ich mit leiser, betroffener Stimme zur Antwort. »Sie haben richtig geraten. An der gleichen Stelle.« Er erhob sich aus seinem Sessel und umrundete mit schweren Schritten den mächtigen Schreibtisch. »Und deshalb war Donovan bei mir. Ich habe ihn bereits vor Jahren über die Existenz unserer Spezialeinheit informiert – natürlich mit Einverständnis des Innenministers sowie des Präsidenten.« Er wandte sich um und ging mit langsamen Schritten auf die acht Meter lange Glasfront zu, von deren Mitte eine breite Flügeltür auf den riesigen Balkon führte. Gleich daneben wuchs das grüne Blättermeer einer alten Kastanie in die Höhe. Unsere Zentrale war eine alte Villa, deren graues Gemäuer durch Umbau und Renovierung nicht gerade an Schönheit gewonnen hatte. Trotzdem war sie für unsere Zwecke hervorragend geeignet. Sie stand in der Mitte einer kleinen, sorgfältig gepflegten Parkanlage. In dem kleinen Städtchen Danbury – der Ort liegt achtzig Kilometer nordöstlich von New York – ahnte niemand von unserer wahren Existenz. Bundesbehörde für Katasterwesen stand verschämt auf dem kleinen Schild neben dem Eingang. »Ich habe Sie vorgeschlagen.« Ronfield saß wieder hinter seinem Schreibtisch und sah mich mit einem Ausdruck an, der
mich an eine griesgrämige Eule erinnerte. Seine Augen blickten sorgenvoll. Er hob die Schultern. »Wir müssen ihnen helfen. Auch in unserem Interesse.« »Und wie stellen Sie sich meine Arbeit dort vor?« Ein winziges Lächeln umspielte das strenge Gesicht. »Sie werden nicht allein sein.« Er drückte auf einen Knopf der Schaltanlage, die seinen Schreibtisch verunzierte. »Carrington bitte!« Den Namen Carrington hörte ich zum erstenmal. Aber so war es eben bei unserem Klub. Jeder war auf sich allein gestellt, wußte nichts von den Aufgaben, die sonst noch anlagen, geschweige den Personen, die auf diese Aufgaben angesetzt wurden. Ich war so in meine Gedanken vertieft gewesen, daß ich das leise Zischen der zurückgleitenden Tür völlig überhört hatte. Erst der eigenartige Gesichtsausdruck meines Chefs, mit dem er über meine Schultern auf den eintretenden Agenten blickte, ließ mich herumfahren. Carrington war über die Maßen hübsch, hatte bläulich schimmernde, bis auf die Schultern fallende Haare, die den schmalen Schädel wie einen Helm umgaben. Die Haut hatte einen warmen Bronzeton. Wahrscheinlich war Carrington gerade aus dem Urlaub zurückgekehrt, dachte ich überflüssigerweise. Die grünen Augen schauten spöttisch, vielleicht sogar ein wenig zynisch, als hätten sie in ihrem kurzen Leben zu viel gesehen und zu wenig vergessen. Carrington war geschmackvoll angezogen, vielleicht eine winzige Note zu frech. Die zartrosa Bluse hatte in der Mitte einen Ausschnitt, der einen makellos gerundeten Busen dahinter vermuten ließ. Der nur leicht über die Knie fallende Rock zeigte vollendet gewachsene Hüften. Aber erst die Beine brachten mich dazu, meine Augen vor Bewunderung noch weiter aufzureißen.
»Nun, haben Sie sich sattgesehen?« Das Lächeln in den betörenden Augen wurde noch zynischer. »Entschuldigen Sie!« Ich war vollkommen verdattert. »Schauen Sie nur, ansehen kostet ja nichts.« Komplexe schien sie sicher nicht zu haben. Ich bin gewiß kein Vertreter übertriebener Höflichkeit, aber was Carrington anstellte, hatte sich von uns noch keiner erlaubt. Ohne ein Wort der Frage ließ sie sich in den zweiten Besuchersessel fallen, zog eine Schachtel »Camel« aus ihrem kleinen Fummel von Handtasche und paffte Sekunden später fröhlich drauflos. »Möchten Sie auch eine?« Warum nicht? Auf Ronfields Reaktion war ich gespannt. Ich grapschte mir eine und zündete sie an. Aus den Augenwinkeln schielte ich auf den Chef, der in den blauen Rauchschwaden zu verschwinden schien. Doch in seinem Gesicht verzog sich kein Muskel. Wahrscheinlich wollte er uns den Abschied nicht vermiesen. Ich wußte jedenfalls, daß er Tabakrauch nicht ausstehen konnte. Ich gab meiner Stimme einen ironischen Klang. »Ist das meine Unterstützung?« »Ja, das soll sie sein«, gab er mir mit ernster Miene zur Antwort. »Miß Maureen Carrington zählt zu meinen besten Agenten. Sie ist eine ausgezeichnete Telepathin und dazu noch ein hervorragendes Medium. Ohne diese beiden Parabegabungen wäre Ihr Einsatz nicht denkbar. Erst das Bündel Ihrer beiderseitigen Fähigkeiten gibt Ihnen eine gewisse Chance. Und jetzt wollen wir endlich zu den Einzelheiten kommen. Sperren Sie also Ihre Ohren auf...« Zwei Stunden dauerte es, bis diese »Einzelheiten« besprochen waren. Aber Ronfield war genau und liebte präzise Arbeit.
Es dunkelte schon, als er zum Schluß kam. »... wenn Sie feststellen, daß es sich um dämonische Wesenheiten handelt, die höherdimensionaler Natur sind, dann tritt sofort ›Omega‹ in Kraft. Sie wissen, was Sie dann zu tun haben.« Wir nickten stumm. Ronfield hüstelte. »Da Miß Carrington Ihre Schwester zu spielen hat, versteht es sich von selbst, daß Sie sich duzen.« Als er mein Grinsen bemerkte, schaute er mich voller Spott an. »Niemand hat was dagegen, wenn Sie Ihre brüderliche Liebe an Miß Carrington in reichem Maße verschwenden.« Aus den Augenwinkeln sah ich ein blitzschnelles Lächeln über ihr Gesicht huschen. Auch ihr war die auffällige Betonung des Wörtchens »brüderliche« nicht entgangen. Die Stimme Ronfields wurde geschäftsmäßig. »Sie fliegen morgen früh um acht Uhr vom Kennedy Airport ab. Die Plätze sind schon gebucht. Wegen der Zeitverschiebung ›gewinnen‹ Sie ungefähr sechs Stunden, werden also gegen neun Uhr mitteleuropäischer Zeit in London eintreffen. Ein Hubschrauber des Yard erwartet Sie dort. Er bringt Sie unverzüglich nach Inverness. Dort treffen Sie auf Donovan, der mit Ihnen weitere Einzelheiten durchgehen wird.« Plötzlich lastete tiefe Stille im Raum. Es war jene Art von Schweigen, das immer dann aufzutreten pflegt, wenn ein Abschied bevorsteht, der leicht unwiderruflich werden kann. Bei solchen Gelegenheiten zeigt es sich, daß Menschen gefühlsbetonte Wesen sind – auch bei noch so guten Jalousien. Was Ronfield sonst nie tat, heute machte er die große Ausnahme. Er begleitete uns bis zur Tür. Bevor er sie zurückgleiten ließ, sagte er mit leiser Stimme: »Paßt auf, Kinder. Und vergeßt um Himmels willen nicht, daß ihr es mit Wesen zu tun haben werdet, die aus anderen Bereichen
kommen, als die, die ihr gewöhnt seid.« Er sah uns fest an und drehte sich abrupt um. Wahrscheinlich war ihm seine offensichtliche Rührung peinlich. Nie war mir Ronfield so sympathisch gewesen wie in diesem Augenblick. Als sich die Tür hinter uns wieder schloß, schwiegen wir. Erst als wir den Park verlassen hatten, legte sich die eigenartige Stimmung. »Gehen wir noch eine Kleinigkeit essen?« wandte ich mich an meine schweigende Begleiterin. »Der Tag ist noch so jung. Es kann lange dauern, bis wir wieder hier sind.« Sie drehte ihren Kopf zu mir. Im matten Licht der Straßenlaternen sah ich nur das weiße Oval ihres Gesichtes. Ihre Antwort war gerade nicht geeignet, mir den Abschied von Danbury zu versüßen. »Möglich, daß Sie recht haben. Aber ich habe keinen Appetit.« Sie winkte einem vorüberfahrenden Taxi. »Im übrigen wird es Ihnen sicher auch allein schmecken.« Ihre Stimme war spitz und abweisend zugleich. Das war eine Abfuhr. Warte nur, dachte ich grimmig und rief der Einsteigenden spöttisch nach: »Dann schlaf mal schön, Schwesterchen!« Ich konnte sehen, daß ihr meine Antwort einen Ruck gab. Das freute mich. Fröhlich pfeifend verließ ich die Stätte meiner Niederlage. *** Der Flug nach London verlief ohne besondere Vorkommnisse. Wir waren beide bestrebt, die kleine Verstimmung des gestrigen Abends aus unserem Gedächtnis zu tilgen. War auch besser so. Wir würden in Zukunft mit Sicherheit sehr aufeinander angewiesen sein.
In London wartete schon – wie uns der Chef gesagt hatte – der blaue Hubschrauber des Yard auf uns. Es war neblig. Das ekelhafte Wetter begleitete uns den ganzen Flug über. Wir brauchten deshalb gute vier Stunden, bis wir durch den Dunst endlich nach Inverness hinunterstießen. Der Pilot, ein junger und drahtiger Mann, deutete auf einen großen, hufeisenförmigen dunklen Gebäudekomplex unter uns. »Das ist die Kaserne der Zweiten Schottischen Polizeidivision. Da müssen wir landen.« Ich mußte ihn verdutzt angesehen haben, denn er fügte hinzu: »In diesem Gebäude befindet sich auch unser Office.« Ein Grinsen huschte über das sommersprossige Jungengesicht. »Dort brauchen wir keine Miete zu bezahlen.« Ich lachte. Ich hatte die schottische Sparsamkeit bis heute immer für ein Gerücht gehalten. »Himmel – dieser Idiot!« hörte ich plötzlich den Piloten schreien. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, auf einmal schwerelos geworden zu sein. Aber nur für einen Augenblick, dann krachte etwas gegen meinen Schädel, und ich stürzte zu Boden. Lange Sekunden tanzten bunte Kreise in allen Farben des Spektrums vor meinen Augen. Ich schüttelte den Kopf, um die Benommenheit zu verscheuchen. Hinter mir hörte ich Maureen stöhnen. Mühsam richtete ich mich auf. Einer alten Regel folgend atmete ich tief ein und aus. Langsam wurde mir besser. Das bunte Feuerwerk in meinem Schädel verschwand. Aus den fließenden Schatten um mich wurden wieder reale Gegenstände. »Was war los?« wandte ich mich ächzend an den Piloten, dem das Blut über die Stirn lief. »Sportflugzeug. Fast Zusammenstoß. Riesenschwein gehabt«, kam die abgerissene Entgegnung. »Ist die Maschine in Ordnung?« fragte ich weiter.
Er nickte. »In zwei Minuten landen wir.« Ich drehte mich um. Maureen schien den Vorfall noch nicht ganz verdaut zu haben. Sie hielt ihren Kopf in beiden Händen und stöhnte. Auf der linken Seite war ihre Stirn aufgeschürft. Ich sah die Anschwellung. Das würde eine nette Beule geben. »In dem kleinen Tank dort ist Wasser«, hörte ich den jungen Mann leise sagen. »Wenn Sie ein Taschentuch haben, dann...« Er brach ab. Er mußte sich anscheinend auf das Landemanöver konzentrieren. Sekunden später legte ich das nasse Tuch auf Maureens lädierte Stirn. »Danke«, flüsterte sie. »Mir wird schon besser.« Ich fühlte mich erleichtert. Nicht auszudenken, daß wir um ein Haar jetzt mit zerschmetterten Knochen unten liegen könnten. Eine Gänsehaut lief über meinen Rücken. Ob das vielleicht der erste Angriff der Wesen war, die wir bekämpfen sollten? Aber dann wies ich diesen Gedanken weit von mir. Diesen dämonischen Kreaturen standen andere Möglichkeiten zur Verfügung. Sie hatten halbe Sachen nicht nötig. Ein leichter Ruck ließ den Helikopter erzittern. Wir hatten aufgesetzt. Durch das Bordfenster sah ich auf die grauen Mauern der Polizeikaserne. Wir waren in Inverness – nicht weit entfernt vom Wirken jener finsteren Kräfte, mit denen wir zwei uns messen wollten. Ich blickte zu Maureen hinüber, die sich gerade von ihrem Sitz erhob. Das Mädchen schien Qualitäten zu haben. Ich war mir sicher: Sie würde eine gute Kampfgefährtin abgeben. Ein prickelndes Gefühl durchströmte mich. Ich kannte es von meinen früheren Einsätzen. Ich hatte die Fährte aufgenommen. ***
»Ihr Chef hat Ihnen ja schon den ersten Überblick gegeben. Mir bleibt noch die Feinarbeit.« Mr. Donovan hatte langsam und nachdenklich gesprochen. Wir saßen in dem nüchtern eingerichteten Büro der schottischen Außenstelle des Yard. Mit Ausnahme des Besuchs in Danbury weilte der oberste Boß von Scotland Yard bereits seit einem Monat hier. »... und das wird wohl noch einige Zeit so bleiben«, hatte er uns kurz nach unserem Zusammentreffen erklärt. Donovan war noch relativ jung für diese verantwortungsvolle Aufgabe. Ich schätzte ihn nur wenig über vierzig. Er war knapp mittelgroß. Neben mir mit meinen stolzen zwei Metern nahm er sich wie ein Zwerg aus. Aber vielleicht machte ihn das so gefährlich für viele kleine und große Gauner, die ihn deshalb unterschätzten. Jedenfalls habe ich nur selten einen Menschen kennengelernt, der auf mich einen so energiegeladenen Eindruck gemacht hat wie dieser Mann. Es klopfte. Auf Donovans »Herein« öffnete sich die Tür und eine kleine, mausgesichtige Sekretärin kam herein. Sie trug ein Tablett, das mit Tassen, Tellern und Sandwiches beladen war. Der aromatische Duft frischen Kaffees kitzelte meine Nase. Während wir es uns schmecken ließen, teilte uns der Superintendent seine Ansichten mit. Seine durchdringenden hellgrauen Augen hielt er während seines ganzen Berichtes forschend auf uns gerichtet, so, als ob er auch die kleinste Reaktion von uns nicht unbeobachtet lassen wollte. Ich hatte dieses Angestarre gar nicht gern, ließ mir aber meine Abneigung dagegen nicht anmerken. »... und so war ich bis vor kurzer Zeit noch überzeugt davon, es mit ›normalen‹ Gangstern zu tun zu haben. Heute weiß ich es besser.« Ein bitteres Lächeln zog seine Mundwinkel nach unten. »Nur laut sagen kann ich es nicht.
Und schon gar nicht den Zeitungsleuten. Können Sie sich die hohnvollen Artikel in den Gazetten vorstellen? Sie würden alles tun, um mich fertig zu machen.« Er schwieg einen Augenblick. Wir unterbrachen ihn nicht. Ich blickte kurz zu Maureen hin. Sie schien den Schock vor der Landung überstanden zu haben. »Nur mit einem befreundeten Psychologen, der sich mit der Erforschung übersinnlicher Phänomene beschäftigt, habe ich gesprochen. Erst danach wußte ich, daß ich mich unbedingt sofort mit Ronfield in Verbindung setzen mußte. Zum Glück hat er Sie geschickt.« Ich spürte wieder seinen forschenden Blick. So ganz schien er von unseren Qualitäten nicht überzeugt zu sein. Ich nahm es ihm nicht übel. Er kam mit seinem ganzen riesigen Apparat nicht weiter – und jetzt wollten wir zwei Leutchen uns anschicken, die Arbeit allein, gewissermaßen im Handumdrehen, zu erledigen. Ein demütigendes Gefühl... Ich beschloß einzugreifen. »Sind bereits Vorbereitungen getroffen worden?« Er nickte. »Wir haben Glück gehabt. In dem Schloß – Sie wissen, daß es zu einem Luxushotel umgebaut worden ist – sind zwei kleine Appartements frei geworden. Die seitherigen Bewohner sind ausgezogen und haben sich in der neuen Stadt – sie heißt Acher – ein Haus gekauft. Ich habe gleich zugegriffen und auf Ihren Namen gemietet – natürlich unter Ihren neuen Namen.« Er lächelte leicht. »Mr. Mark Tonder und Schwester, Miß Eleonore Tonder.« Donovans Gesicht wurde ernst. »Ich kann Ihnen nur raten, Ihre richtigen Namen ab sofort zu vergessen. Sie dürfen sich nicht ein einziges Mal versprechen.«
Ich bemühte mich, meine aufkommende Belustigung zu verbergen. Was uns eben eingeschärft wurde, gehörte bei uns zum kleinen Einmaleins. »Sie werden morgen früh Punkt neun Uhr von einem hoteleigenen Wagen am Bahnhof abgeholt. Zwei Minuten vorher läuft der von London über Edinburgh kommende Intercity-Zug ein. Auf dem Bahnsteig befindet sich eine Unterführung. Warten Sie unten so lange, bis der Zug einläuft. Kommen Sie bitte erst dann auf den Bahnsteig, wenn ein Großteil der Leute bereits ausgestiegen ist.« »Woran erkenne ich den Wagen?« fragte ich. »Oh, die Herrschaften sind sehr vornehm«, antwortete er grimmig. »Auf Sie beide wartet ein schwarzer Rolls-Royce. Selbstverständlich sitzt hinter dem Volant ein livrierter Chauffeur. Die Fahrt dauert ungefähr eine Stunde.« Ich nickte dankend. »Was mich noch beschäftigt, ist die Frage nach dem Essen. Haben Sie die Möglichkeit gehabt, es zu untersuchen? Es könnten ja irgendwelche Drogen beigemischt sein.« Auf dem schmalen Gesicht erschien ein schwaches Lächeln. »Wurde bei unserer damaligen Kontrolle bereits erledigt.« Er schaute mich fragend an. »Ihr Chef hat Sie doch über unseren damaligen Besuch im Schloß informiert?« Als ich bestätigend nickte, fuhr er fort: »Die Beamten haben heimlich einige Proben mitnehmen können. Die Analyse ist negativ verlaufen.« Das hatte ich erwartet. »Welche Vollmachten haben wir?« fragte ich. »Keine«, gab er mit ernster Stimme zur Antwort. »Überlegen Sie doch nur: Von Ihrem Einsatz weiß hier in Schottland niemand außer uns. Bei irgendwelchen Vollmachten hätten dritte Personen informiert werden müssen.«
Ich atmete auf. Donovan hatte völlig richtig gehandelt. Eine unserer Stärken war die Anonymität. Wir hielten uns noch eine knappe Stunde auf und besprachen verschiedene Einzelheiten. Anschließend verabschiedeten wir uns. »Sie wissen, daß Sie sich auf eine gefährliche Sache einlassen«, sagte Donovan, als er uns die Hände schüttelte. »Denken Sie immer daran: Vier Männer sind bereits ums Leben gekommen...« »Wir wollen auch noch nicht ins Gras beißen«, antwortete ich. Wir begaben uns auf unsere Zimmer. Da wir uns unmöglich in der Stadt zeigen konnten, waren wir auf die Gastfreundschaft der Polizei angewiesen. Natürlich war alles nur ein Provisorium. Jeder von uns bewohnte einen kleinen Schulungsraum, in dem ein Feldbett aufgeschlagen war. In der Zimmerecke war ein kleines Waschbecken. Auch ein Handtuch und sogar ein Spiegel waren vorhanden. Mich hätte nur interessiert, welche Version der Superintendent den Leuten hier aufgetischt hatte. Die Wahrheit hatte er ihnen ja nicht auf die Nase binden können. Maureen-Eleonore und ich unterhielten uns noch einige Zeit über nichtssagende Dinge. Warum hätten wir uns auch den Kopf zerbrechen sollen über Fragen, die uns erst morgen zu beschäftigen hatten. Gegen neun Uhr verabschiedete ich mich von ihr und ging auf mein Zimmer. Mein Bett war zwar nur ein Behelfsbett, aber es war weich und besaß eine leichte und flauschige, warme Zudecke. Ich löschte das Licht aus und wälzte mich solange von einer Seite auf die andere, bis ich die richtige Lage gefunden hatte. Müdigkeit überkam mich. Ohne daß es mir bewußt wurde, glitt mein Bewußtsein in die dunklen Tiefen des Schlafes. Ich weiß nicht, wie es begann. Jedenfalls hatte ich plötzlich
das Gefühl, von einer brutalen Kraft erfaßt und hochgerissen zu werden. Seltsamerweise spürte ich meinen Körper überhaupt nicht, obwohl ich ihn wahrnehmen konnte. Ein ungeheures Gefühl der Leichtigkeit durchflutete jede Fiber meines Seins. Ich schwebte. Über mir war ein unwirklich violett leuchtender Himmel, und unter mir eine nur schemenhaft erkennbare Landschaft. Von der Gewalt, die mich nach hier befördert hatte, merkte ich im Augenblick nichts mehr. Ich spürte nur, daß ich mit hoher Geschwindigkeit in eine bestimmte Richtung flog. Instinktiv versuchte ich, diese Richtung zu ändern, wieder auf den Erdboden zu gelangen. Umsonst, jede Anstrengung dieser Art war vergebens. Ich war wie ein Blatt, im Wind taumelnd und ihm ausgeliefert. Angst überkam mich. Der Himmel verlor jäh seine violette Färbung, wurde plötzlich blutrot. Gleichzeitig verlangsamte sich mein seltsam schwereloser Flug. Ich sank dem Erdboden entgegen. Das rote Licht wurde grell und stechend. In seinem unnatürlichen Schein erkannte ich unter mir ein scharfgezacktes Felsmassiv, das einem kleinen See vorgelagert war. Sein Wasser sah aus wie rotes Blut. Hinter dem See ragte ein düsteres Schloß empor, dahinter erkannte ich eine Anzahl sonderbar aussehender Häuser. Meine Angst wurde noch größer, als ich erkannte, daß ich genau dem riesigen, finsteren Gebäude zustrebte, von dem das giftig-grelle rote Licht ausging. Ein unbeschreibliches Gefühl des Ekels packte mich. Mit aller Kraft versuchte ich, die Richtung meiner Fahrt zu ändern. Es gelang mir nicht. Erst als ich so dicht über dem Schloß schwebte, daß ich die Fugen der zyklopischen Mauern deutlich erkennen konnte, merkte ich, daß mein Flug von einem Augenblick zum anderen zum Stillstand gebracht wurde. Ich schwebte buchstäblich auf der Stelle.
Kaum war dieser Zustand erreicht, als auf dem höchsten Turm ein Wesen erschien, das in seiner Scheußlichkeit den tiefsten Tiefen der Hölle angehören mußte. Vor Grauen wurde mir so kalt, daß ich fürchtete, das Bewußtsein zu verlieren. Das schreckliche Geschöpf sah aus wie eine Kreuzung zwischen einer Riesenspinne und einem Tausendfüßler, nur um ein Vielfaches scheußlicher. Seine Gliedmaßen leuchteten fahl, wie faulendes Holz in der Dunkelheit, Dann hob es den unmenschlichen Kopf. Voller Entsetzen sah ich die zwei Reihen mörderischer Hauer, die das Ungeheuer bleckte. Es blieb mir keine Zeit zum Nachdenken. Das Scheusal erhob sich in die Luft und schwebte auf die Häuser zu. Ob ich wollte oder nicht – wie an einem festen Seil wurde ich hinterher gezogen. Langsam senkte sich die Bestie hinab. Sie verharrte erst, als sie sich dicht über einem dieser fremdartig anmutenden Häuser befand. Minutenlang, so schien es mir, konnte ich keine Bewegung erkennen. Was sollte das alles? Welche Gewalt hatte mich nach hier befördert, und warum hatte sie es getan? In mein Grübeln hinein tönte plötzlich ein jammervolles Heulen und Stöhnen, vermischt mit flehentlichen Bitten. Dann verebbten diese Äußerungen der Qual und verstummten schließlich ganz. Entsetzt beobachtete ich, daß das Untier ein wenig von seiner bleichen Färbung verloren hatte, daß es nunmehr von einem schwachen rötlichen Glanz umgeben wurde. Bevor ich mir Gedanken über dieses seltsame Phänomen machen konnte, erhob sich das grauenvolle Geschöpf wieder, um sich auf ein anderes Haus hinabzusenken. Auch hier wiederholte sich dasselbe gräßliche Schauspiel: die klagenden schmerzlichen Laute, die schließlich verstummten und der weiter zunehmende rötliche Glanz, der dieses infernalische
Wesen umgab. Noch einige Male wiederholte sich die schaurige Prozedur. Erst als die Aura der Bestie dermaßen strahlte, daß ich meine Augen abwenden mußte, um nicht geblendet zu werden, ließ sie von ihrem vampirischen Tun ab. Daß dieses schreckliche Geschöpf ein Vampir war, zog ich nicht in Zweifel. Sie raubte ihren Opfern die Lebenskraft, ohne die es nicht sein konnte – ließ ihnen nur soviel, daß sie nicht starben und sich langsam wieder erholten. Dann würde diese Prozedur wahrscheinlich seine Fortsetzung finden. Kaum hatte ich diesen Gedanken gedacht, da wurde es dunkel um mich. Mit einem Schrei wachte ich auf. Ich fand mich nicht gleich in der Wirklichkeit zurecht. Vielmehr dachte ich, daß ich aus der Wirklichkeit gerissen worden wäre. Instinktiv griff ich zum Lichtschalter. Erst als das Licht aufflammte, wurde mir klar, daß mich ein Alptraum geplagt hatte. War es wirklich ein Alptraum? Träume haben oft ihre Bedeutung, warum nicht auch dieser? Ich schaute auf die Uhr. Erst vier. Um sieben wollte ich aufstehen. Ich hatte also noch drei Stunden Zeit. Nach wenigen Minuten war es mir gelungen, die letzten Reste meiner Traumbilder zu verdrängen. Der Schlaf umgab mich wie wärmende Watte. *** Was sonst nie vorkam, an diesem Morgen passierte es: Meine innere Uhr ließ mich im Stich. Als ich aufwachte, zeigte meine Uhr kurz vor acht. Mit einem lauten Fluch sprang ich aus dem Bett. Mein liebes Schwesterchen würde wahrscheinlich schon munter beim Frühstück sitzen und schadenfroh auf mein Erscheinen warten. Und so war es auch. Als ich in die Kantine kam, sah ich sie
gerade genußvoll damit beschäftigt, das letzte Stück ihres Honigbrötchens zu verspeisen. »Schlange!« zischte ich sie an, als ich mich setzte. Sie sah mich unschuldig an. »Das hat man nun von seiner Rücksichtnahme«, erwiderte sie pikiert. Aber in ihren Augen tanzten tausend Teufelchen. Ich mußte grinsen. Wer konnte diesem Mädchen böse sein? Nach dem Frühstück zündete ich mir eine Zigarette an. Plötzlich fiel mir mein seltsamer Traum wieder ein. Ich erzählte kurz. Ich war so sehr damit beschäftigt, nur keine Einzelheiten auszulassen, daß es mir gar nicht auffiel, wie sehr sich Eleonores Gesicht veränderte. Hatte es zu Beginn meiner Erzählung noch einen eigenartig gespannten Ausdruck gehabt, so veränderte sich dieser nun zum fassungslosen Staunen. Endlich fiel es mir auch auf. »Was ist los mit dir?« fragte ich. Das Du bereitete mir keine Schwierigkeiten. Sie sah mich aus großen Augen an. »Ich habe genau den gleichen Traum gehabt«, sagte sie langsam. Einen Augenblick fühlte ich mich von einer eisigen Wolke umgeben. Ich hatte es geahnt. Was auch immer dahinterstecken mochte – wir mußten es als Warnung nehmen. »Um Himmels willen, es ist zehn vor neun, wir müssen zum Bahnhof!« Unwillkürlich war mein Blick auf die große Kantinenuhr gefallen. Das Taxi würde schon warten. Als wir nach draußen hetzten, sahen wir den Wagen vor dem Kaserneneingang stehen. Der Fahrer hatte bereits die vier schweren Koffer verstaut. Wir hatten sie über Nacht im Büro stehen lassen und uns mit unseren kleinen Reisetaschen begnügt. Es klappte. Sogar auf die Minute. Alles geschah wie verabredet. Als der Zug einlief, warteten wir eine Weile. Erst
dann gingen wir die Treppe hoch auf den Bahnsteig und mischten uns unter die Reisenden. Das Gepäck war verdammt schwer. Ich trug die beiden größten Koffer, aber auch Eleonore hatte tüchtig zu schleppen. Diese Strapaze hatte ein Ende, als mit vornehmer Lautlosigkeit der Rolls nahte. Der Chauffeur sprang aus dem Wagen, schaute uns fragend an und wollte gerade den Mund aufmachen, als ich abwinkte. »Ja, wir sind's – Tonder ist mein Name.« Das Gesicht vor uns verzog sich zu einer zufriedenen Grimasse. Dem schiefen Mund entrangen sich ein paar undefinierbare Laute, während er die Wagentüren öffnete. Wir stiegen ein. Unsere Fahrt hätte einen Romantiker begeistert. Wir fuhren an einsamen Seen und Gebirgstälern vorüber. Dazwischen immer wieder ausgedehnte Heide- und Moorflächen. Manchmal kamen wir an kahlen Felsen und zerklüfteten Klippen vorbei. Es war eine wilde Gegend. Die Straße war eng. Aber das spielte hier keine große Rolle. Es gab keinen nennenswerten Gegenverkehr. Nach einer Dreiviertelstunde zog sich die Straße in scharfen Serpentinen eine bewaldete Anhöhe hoch. »Sin' gleich da«, quetschte das Faktotum neben mir durch seine Lippen. Ich betrachtete den Mann heimlich von der Seite. Selbst die schwarze Livree mit den silbernen Knöpfen und den dunkelroten Aufschlägen brachte es nicht fertig, ihm auch nur einen Hauch von Würde zu verleihen. Dazu hatte das Gesicht einen viel zu tierischen Ausdruck. Ich bin sicher keiner von denen, die einen Menschen nur nach ihrem Äußeren beurteilen. Aber dieser Mann flößte mir einen unerklärlichen Abscheu ein. Wir hatten inzwischen den Gipfelpunkt der Anhöhe erreicht. Plötzlich machte die Straße einen scharfen Knick – auf beiden Seiten wuchsen schroffe Felswände hoch. Die Straße wurde so
schmal, daß wir nur im Schrittempo vorwärts kamen. Das ging ungefähr hundert Meter so. Dann öffnete sich der Einschnitt, die Felsen traten zurück und nach einer weiteren scharfen Linkskurve lag vor meinen erstaunten Augen ein großer Talkessel, umrahmt von bizarren Felsformationen. Unwillkürlich schluckte ich bei dem Anblick. Sofort dachte ich an meinen Traum. Eine Gänsehaut lief über meinen Rücken, als ich den kleinen See und dahinter das scharf gezackte Felsmassiv bemerkte. Wie von einem Magnet angezogen, wanderte mein Blick weiter, hin zu dem schloßartigen Gebäude, das mit seinen wuchtigen vier Ecktürmen, von denen einer die anderen weit überragte, einen düster drohenden Anblick bot. Das warnende Gefühl in mir verstärkte sich weiter, als ich die fremdartige »Stadt« zu Füßen des Schlosses bemerkte. Nie hatte ich eine solche Bauweise gesehen. Trotzdem formte sich in mir eine dumpfe Erinnerung, jedoch nur nebelhaft und unklar. Die Häuser sahen alle gleich aus. Sie glichen Miniaturpyramiden. Statt einer Spitze hatten alle eine kleine Plattform. Fenster konnte ich nicht erkennen. Es stimmte genau... Bis auf geringe Abweichungen sah die Szenerie vor mir so aus wie meine Traumlandschaft. Nur das überwältigende rote Leuchten fehlte. Ich drehte mich um – und sah in Eleonores Augen, in denen sich ebenfalls das Entsetzen spiegelte. In ihrer starken Sensibilität empfand sie den Eindruck mit Sicherheit noch wesentlich stärker. Ich lächelte ihr beruhigend zu. Wir mußten uns unbedingt unsere Nervenkraft bewahren, dieser Auftakt durfte uns nicht verwirren. Auf uns würden andere Dinge zukommen, gegen die das hier vergleichsweise harmlos sein würde. Mit einem sanften Ruck hielt der schwere Wagen.
»Wir sind da«, bedeutete mir der Chauffeur. Er mühte sich, seinem Gesicht eine freundliche Note zu geben. Ich schaute ihn ruhig an. Tief in seinen nachtdunklen Augen sah ich ein gelbes Licht. Unwillkürlich mußte ich an Wolfsaugen denken. Als wir ausstiegen, wurden wir von zwei Hausdienern und einem schlanken Mann in mittleren Jahren erwartet. Er trug einen makellos sitzenden Frack. »Die Geschäftsleitung heißt Sie und Ihre Schwester recht herzlich willkommen«, sagte er mit freundlichem Lächeln. »Wir hoffen, daß Ihnen die Schönheit der Landschaft und unser Bestreben, Ihnen alle Wünsche zu erfüllen, die notwendige Erholung verschaffen wird. Wenn Sie erst einige Zeit hier sind, werden Sie gar nicht mehr weg wollen.« Hatte ich richtig gesehen oder gaukelte mir meine Phantasie ein Trugbild vor? Bei seinen letzten Worten schien es mir so, als ob es in seinen Augen nur für den Bruchteil einer Sekunde grell aufgeleuchtet hätte. Auch in seiner Stimme glaubte ich einen höhnischen Unterton zu erkennen. Ich ließ mir nichts anmerken. Anerkennend ließ ich meinen Blick über das Panorama wandern und antwortete: »Ich bin jetzt schon davon überzeugt, daß es uns hier gefallen wird. Wir wollen sechs Wochen hier bleiben. Schließlich muß es sich auch lohnen, Mister...« Ich schaute ihn fragend an. »Logan, Edward Logan, zu Ihren Diensten«, antwortete der Kerl mit öliger Stimme. »Ich bin der Hotelmanager.« Er verbeugte sich. »Es ist Ihnen sicher recht, wenn ich Ihr Gepäck in Ihre Zimmer bringen lasse?« Ich nickte zustimmend. »Selbstverständlich. Wir wollen uns gleich frisch machen.« Er verbeugte sich wieder. »In zwei Stunden wird zum Lunch geläutet. Bis dahin empfehle ich Ihnen einen Spaziergang am See entlang. Es wird Ihnen bestimmt
gefallen.« *** Das Appartement war luxuriös eingerichtet. Es hatte eine kleine Diele, ein pompöses Bad, ein kleines Schlafkabinett und einen großen Wohnraum. Leider waren die Fenster nicht besonders groß. Sie glichen besseren Luken. Dafür war die Einrichtung allererste Qualität. Nachdem ich mir einen bequemen Freizeitanzug angezogen hatte, holte ich Eleonore ab. Daß sie zwei Stock tiefer wohnte, gefiel mir nicht. Diese Tatsache konnte unsere Pläne empfindlich stören. Wir machten den empfohlenen Spaziergang. Dabei hatten wir aber so viel zu bereden, daß wir für die wilde Schönheit der Landschaft auch nicht einen Blick fanden. Maureen-Eleonore kaute nachdenklich an einem Grashalm. »Ich glaube, ich habe eine Idee.« »Laß hören«, ermunterte ich sie. »Nach Ronfields und Donovans Theorie ist es doch so, daß alle, die sich hier erholen wollen, einer relativ schnellen Persönlichkeitsveränderung unterliegen. Sie muß durch irgendeine Maßnahme – wahrscheinlich ist es eine magische Art – bewirkt werden. Wenn wir nun das Glück hätten, diese Persönlichkeitsumwandlung bei einem Hotelgast beobachten zu können...« Sie brach ab und schaute mich hilfesuchend an. »Völlig richtig«, sagte ich. »Voraussetzung wäre allerdings, daß der Betreffende uns gleich nach seiner Ankunft bekannt sein müßte. Nur dann können wir annehmen, daß sein Geist noch nicht manipuliert ist.« Sie zuckte mit den Schultern. »Wir müssen eben abwarten. Es wird uns schon etwas einfallen.« Sie drehte sich zu mir und schaute mich mit ihren grünen Märchenaugen fest an. »Und wie ist es mit uns? Werden wir
der Beeinflussung widerstehen können?« Ihre Stimme vibrierte ein klein wenig bei dieser Frage. »Ich hoffe es«, erwiderte ich ernst. »Unsere Ausbildung dürfte einem starken Panzer gleichkommen. Außerdem haben wir ja auch noch unsere Mittelchen.« Ich sah sie mahnend an. »Vergiß nie, dein Zimmer vor dem Schlafengehen magisch zu sichern. Und vor allen Dingen: Denke an die Tropfen.« Sie nickte unwillig. »Über Selbstverständlichkeiten sollten wir uns nicht unterhalten.« Bevor in mir der Ärger hochstieg über die patzige Antwort, hakte sie sich bei mir ein. »Mein Magen verlangt nach Atzung«, sagte sie und strahlte mich an. »Komm, es ist Lunchzeit.« Mein Unmut verrauchte in Sekundenschnelle. Es ist verteufelt schwer, einem außergewöhnlich hübschen Mädchen böse zu sein. *** Der Speisesaal war pietätloserweise in der früheren Ahnengalerie der Earls of Kilmarn untergebracht. Es war ein riesiger, langgestreckter Saal. Die Ahnen hingen immer noch an den Wänden. Männer und Frauen mit starren Gesichtern – einige höfisch in Samt und Seide gekleidet, andere entweder in blinkenden Rüstungen oder im geistlichen Gewand. Wir zwei hatten einen Tisch für uns allein. Ich zählte nach. Ohne uns waren es sechzig Gäste, die schweigend ihr Essen einnahmen. Sicher wohnten weit mehr im Hotel. Viele würden sich den Lunch aufs Zimmer bringen lassen. Ich war so in meine Rechnerei vertieft, daß ich die Versuche Eleonores, meine Aufmerksamkeit zu erregen, erst bemerkte, als sie mit einem ihrer spitzen Schuhe mein Schienbein bearbeitete.
»Au!« rief ich empört. »Was soll das?« Sie lächelte mich unschuldsvoll an. Aber in ihren Augen lag ein Ausdruck, der mich stutzig machte. »Schau nach links«, flüsterte sie. »Der übernächste Tisch in unserer Reihe. Der Herr dort.« Ich schaute unauffällig hin. Ein junger, pausbackiger Mann mit strohblonden Haaren saß da. Er unterhielt sich gerade mit einem befrackten Ober. Sofort kam mir die Erleuchtung. »Glaubst du, daß er neu hier ist?« »Mit Sicherheit«, gab sie leise zur Antwort. Ihre Stimme wurde ein wenig boshaft, als sie fortfuhr: »Während du mit dem Zählen der Anwesenden beschäftigt warst, habe ich aufgepaßt. Ich habe ihn zu dem Kellner sagen hören, daß er erst vor einer Stunde angekommen sei.« Ich überlegte. Dieser Glücksfall mußte unbedingt genutzt werden. Und dann hatte ich eine Eingebung. Ich winkte dem Ober. Er war jung, kaum über dreißig. Was mir an ihm aber genauso auffiel wie bei allen anderen Bediensteten, die ich bisher gesehen hatte, war der eigenartige starre Blick. Mich beschlich immer ein komisches Gefühl, wenn ich einen von diesen Herrschaften ansah. »Der blonde Herr dort am Tisch scheint auch erst heute angekommen zu sein. Wie ich sehe, ist er allein. Bitte fragen Sie ihn doch, ob er sich zu uns setzen möchte. Er ist herzlich eingeladen.« Im Gesicht des Kellners zuckte kein Muskel. Das einzige Zeichen dafür, daß er mich verstanden hatte, war eine kurze Verbeugung. Gespannt beobachtete ich ihn, als er an den Tisch des neuen Gastes zurückging und mit ihm redete. Kurz darauf lächelte der Blonde in unsere Richtung, erhob sich von seinem Platz und kam auf uns zu. »George Sandringham«, stellte er sich höflich vor und wartete.
Ich nannte unsere Namen – die angenommenen – und bot ihm einen Platz an. »Wir haben Sie so allein dort sitzen gesehen, daß unser Mitleid geweckt wurde«, scherzte ich. Die grauen Augen vor mir funkelten lustig, als er erwiderte: »Ich bin Ihnen sehr verbunden. So ganz allein hier – wirklich ein ekelhaftes Gefühl. Ich wollte fast schon wieder abreisen.« Er verschlang während seiner abgerissenen Worte Eleonore fast mit seinen Blicken. Das konnte heiter werden, das Jüngelchen schien flirten zu wollen. Ich fühlte ihm weiter auf den Zahn. »Abreisen?« tat ich erstaunt. »Wie lange sind Sie denn schon hier?« »Seit fast zwei Stunden«, erwiderte er fröhlich. Er warf Eleonore einen schmelzenden Blick zu. »Aber wenn es Sie nicht stört, wenn ich an Ihrem Tisch meine Mahlzeiten einnehme, dann bleibe ich sehr gern.« »Wie kamen Sie auf dieses Hotel?« forschte ich weiter. »Neugierde, pure Neugierde«, entgegnete er lebhaft. »Die Zeitungen haben über das Schloßhotel und die Stadtgründung berichtet.« Er zögerte einen Moment, ehe er weitersprach: »Ich habe auch von Andeutungen gehört, daß es hier nicht mit rechten Dingen zugehen soll.« Er sah mich freimütig an. »Meine Neugierde wurde noch größer. Ich habe Zeit genug und kann es mir leisten, mir selber ein Bild zu machen. Und abgesehen davon, wollte ich immer schon Ferien in Schottland machen.« »Wir sind auch erst heute eingetroffen«, sagte Eleonore. »Mein Bruder und ich« – ein spöttischer Blick traf mich – »wir wollen uns hier erholen.« Sie strahlte ihn an. »Nett, daß Sie auch da sind.« In mir kochte es. Was dachte sich diese Gans eigentlich? Schließlich waren wir nicht zum Flirten hierhergekommen.
Als sich Sandringham später verabschiedete, um, wie er sagte, »eine kleine Mütze voll Schlaf zu nehmen«, mußte ich mich gewaltig zusammennehmen, um meinen Ärger nicht zu zeigen. Schließlich wollte ich mich nicht lächerlich machen. Aber so ganz schien es mir nicht zu gelingen, das zeigte mir der versteckte Spott in Eleonores grünen Augen. »Besser konnte es gar nicht laufen«, sagte sie später leise. Wir hatten es uns in einem kleinen Kaminzimmer gemütlich gemacht. Der Bordeaux schmeckte ausgezeichnet. Ich hatte mich tief in den weichen Sessel vergraben und rauchte eine Zigarette. Mildes Behagen durchströmte meinen Körper. Meine Erregung war völlig abgeflaut. Ich nickte bestätigend. »Fortuna scheint uns sehr gewogen zu sein. Wir werden bald wissen, ob unsere Theorie stimmt.« Ich schaute auf die Uhr. Es war fünf Minuten vor vier. Eleonore stand auf. In ihrem Gesicht zeigte sich Müdigkeit. »Ich gehe nach oben«, sagte sie. »Ich habe meine Sachen noch einzuräumen. Anschließend werde ich mich ein wenig ausruhen.« Sie lächelte mich an. »Ich werde rechtzeitig zum Dinner unten sein.« Ich schaute ihr nach, als sie mit ihrem schwingenden Gang den Raum verließ. Gedanken und Wünsche machten sich in meinem Inneren bemerkbar, die mein Blut schneller durch die Adern schießen ließ. Mühsam verdrängte ich diese Gefühle. Daß ich mich in Maureen-Eleonore verknallte, hatte mir gerade noch gefehlt. Ich zwang meine Gedanken in eine andere Richtung. Etwas machte mir Sorge. Eleonore hatte es bereits ausgesprochen. Würden wir der Beeinflussung widerstehen können, die uns sicher bald wie eine Woge überschwemmen würde? War die dämonische Kraft, die zweifellos hier am Werk war, so stark, daß unsere Schutzmaßnahmen wirkungslos wurden? Unwillkürlich zuckte ich mit den Schultern. Ich sann nach
und versuchte dabei, die verschiedensten Möglichkeiten durchzuspielen. Aber ich gab es bald auf. Es führte zu nichts. Die Karaffe war inzwischen leer geworden. Im Aschenbecher häuften sich die Zigarettenkippen. Langsam wurde es dämmerig. Müdigkeit begann mich einzuhüllen wie ein dickes warmes Tuch. Wie lange ich vor mich hingedöst hatte, bis ich jäh hochschreckte, war mir im ersten Augenblick gar nicht bewußt. Jedenfalls war es draußen bereits dunkel. Schon glaubte ich, einem Traum aufgesessen zu sein, als ich wieder das jammervolle Ächzen und Stöhnen hörte. Es folgte ein Schrei – so voller Entsetzen – daß es mir kalt den Rücken herunterlief. Die Laute klangen so gedämpft, daß sie nicht aus unmittelbarer Nähe stammen konnten. Einer plötzlichen Idee folgend, legte ich mich auf den Boden und preßte mein Ohr gegen die alten Eichenbohlen. Wenig später hatte ich Gewißheit. Ich vernahm es jetzt viel deutlicher. Neben dem schmerzerfüllten Jammern hörte ich barsche Stimmen und triumphierendes Gelächter. Ein unbestimmtes Gefühl warnte mich. Ich sprang hoch, knipste das Licht an und setzte mich wieder in den Sessel. Mit ruhigen Händen zündete ich mir eine Zigarette an und griff nach einer Illustrierten. Im gleichen Augenblick wurde die Tür aufgerissen – Mister Logan stand im Zimmer. So sehr er sich auch bei meinem Anblick zusammennahm, er brachte nur eine mehr oder weniger freundliche Grimasse zustande. Seine Augen musterten mich forschend und, wie mir schien, mit einer Spur Mißtrauen. Anscheinend mußten die Herrschaften allerhand zu verbergen haben. Ich lächelte ihn freundlich an. »Hier scheint wohl die Schlafkrankheit umzugehen«, scherzte ich mit harmloser Miene. »Stellen Sie sich vor, über eine Stunde habe ich in dem
Sessel geschlafen. Gerade eben erst bin ich aufgewacht.« Ich hielt die Hand vor meinen Mund und gähnte. »Sehen Sie, es fängt schon wieder an.« Seine Miene entspannte sich. Anscheinend war sein Mißtrauen verflogen. Ein öliges Lächeln machte sein breitflächiges Gesicht noch unsympathischer. »Ich suche einen Hausknecht«, sagte er in gespielter Erregung. »Seit Stunden vermisse ich ihn schon. Der faule Kerl wird sicher in irgendeiner Ecke liegen und schlafen.« Ich nickte weise. »Es ist überall dasselbe mit den Hausangestellten«, pflichtete ich ihm bei. »Ohne dauernde Kontrolle geht es nicht.« Ich sah, wie sein Blick noch einmal blitzschnell durch den Raum schweifte, kurz auf dem fast vollen Aschenbecher und der leeren Karaffe verweilte und dann zu mir zurückkehrte. Ich merkte, daß er nachdachte. Anscheinend suchte er nach Worten, um mir etwas mitzuteilen. Eine leise Ahnung durchzog mich. Logan legte seine Stirn in bedauernde Falten. Seine Stimme klang sanft und sichtlich besorgt. »Langeweile war es. Glauben Sie mir, reine Langeweile hat Sie so müde gemacht. Dieses Kaminzimmer wird von unseren Gästen gemieden.« Er schaute mich beschwörend an. Seine Stimme wurde leiser. »Man sagt, daß es hier spukt. Schon seit Jahrhunderten.« Sein Blick wurde forschend. Anscheinend wartete er auf meine Reaktion. Ich tat ihm den Gefallen und zeigte ein erschrockenes Gesicht. »Um Himmels willen, hier soll es spuken? Dann bin ich das letztemal in diesem Raum gewesen.« »Das haben Sie auch gar nicht nötig«, versuchte Logan mich zu beruhigen. »Wir haben im ersten Stock zwei große Salons – Sie werden sich dort sicher sehr wohl fühlen.
Außerdem gibt es noch Fernseh- und Spielzimmer. Warum sollen Sie Ihre Nerven strapazieren? Sie wollen sich doch hier erholen, nicht wahr?« Er warf mir einen aufmunternden Blick zu, erwies mir mit einer leichten Verbeugung seine Reverenz und verließ den Raum. Als die Tür sich hinter ihm schloß, atmete ich tief auf. Himmel, das war knapp gewesen. Viel hatte nicht daran gefehlt, daß diese widerliche Kreatur mich bäuchlings auf dem Boden liegend überrascht hätte. Natürlich wäre sofort sein Verdacht geweckt worden. Meine Gedanken kehrten zu den qualvollen Lauten zurück. Daß ich sie nur sehr gedämpft hatte wahrnehmen können, ließ auf tiefe Kellerräume schließen. Wir waren noch nicht einmal einen Tag hier und schon ein solches Erlebnis... Immer mehr wurde mir klar, auf was ich mich da eingelassen hatte. Besorgt dachte ich an Eleonore. Ich war mir auf einmal nicht mehr so ganz sicher, ob es richtig gewesen war, uns gemeinsam diese Aufgabe zu übertragen. *** Wir trafen uns beim Dinner. Eleonore erschien, als ich gerade Platz genommen hatte. »Nun, herzliebes Schwesterlein, gut geschlafen?« neckte ich sie. Sie sah mich mutwillig lächelnd an. »Ausgezeichnet, gestrenger Herr Bruder«, erwiderte sie mit einem koketten Augenaufschlag. Sie sah zauberhaft aus in ihrem cremefarbenen Kleid mit der grünen Paspelierung. Außer einem bescheiden wirkenden silbernen Kettchen, das ihren Hals schmückte, und einem Weißgoldring mit einem kleinen Brillanten trug sie keinen
Schmuck. Sie sah hinreißend aus. Wieder sah ich das spöttische Licht in ihren Augen auffunkeln, als sie meinen begeisterten Bück bemerkte. Es wirkte auf mich wie ein Wasserstrahl. Sofort wurde ich kalt wie ein Eisblock. Wir aßen schweigend. Das Menü war ausgezeichnet. Als Vorspeise gab es hausgebeizten Lachs mit Sahnemeerrettich. Der Hauptgang bestand aus Entrecote mit Kartoffelbällchen und einer feinen Gemüseplatte. Zum Dessert gab es Vanilleeis mit heißen Himbeeren. Ich erzählte ihr von dem Vorfall. Bevor sie sich jedoch dazu äußern konnte, erschien der junge Sandringham. »Oh«, sagte er mit bedauernder Miene, »Sie haben schon gespeist.« Er schaute uns bittend an. »Sie bleiben doch noch, bis ich...« Eleonore und ich nickten lächelnd. Er hatte einen gesunden Appetit. Als er zu Ende gegessen hatte, lehnte er sich zufrieden zurück. Dann kniff er nachdenklich die Augen zusammen und sagte mit einer Stimme, in der eine Spur von Ratlosigkeit schwang: »Es ist eigenartig. Haben Sie schon mal die anderen Gäste genauer angesehen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Sie machen alle so einen ausgemergelten Eindruck. Merkwürdig, finden Sie nicht auch? Und dann dieser seltsame rötliche Glanz in ihren Augen... Sie kommen mir vor wie Gespenster.« Unwillkürlich schaute ich zum Nebentisch hin, an dem der Kellner mit dem Abräumen des Geschirrs beschäftigt war. Es kam mir plötzlich so vor, als ob er seine Arbeit verzögern würde, um sich ja kein Wort des redseligen Mannes entgehen zu lassen. Ein unheimliches Gefühl kroch in mir hoch, als ich den sengenden Blick bemerkte, der aus den Augen des Kellners zu
uns herüberzuckte. Ich ließ mir aber nichts anmerken, obwohl ich wußte, daß wir nun doppelt vorsichtig sein mußten. Es gelang uns nur mit großer Mühe, Sandringham begreiflich zu machen, daß wir müde seien und zeitig schlafen gehen wollten. Er wandte seine ganze Überredungskunst an, um uns noch in die Bar zu schleppen. Erst nach langem Hin und Her gab er es auf. Beleidigt ging er, um sich den kleinen Schlaftrunk allein zu genehmigen. Wenig später spazierten Eleonore und ich am Rand des Sees entlang. Es war bereits zehn Uhr. Die silberne Scheibe des vollen Mondes stand hoch am schwarzen Samt des Himmels. Der Wasserspiegel vor uns leuchtete wie ein riesiges Auge. Es herrschte jene bedrückende Stille, die oft die Vorahnung kommenden Unheils in sich birgt. »Ich spüre es, ab jetzt wird es gefährlich«, sagte Eleonore leise. Im Halbdunkel konnte ich ihr Gesicht nur undeutlich erkennen. »Glaubst du, daß der Kellner zu der Verbrecherbande gehört?« »Ich bin überzeugt davon«, entgegnete sie mit fester Stimme. »In solchen Dingen hat mein Gefühl noch nie versagt.« Ich glaubte ihr aufs Wort. Unsere Schulung hatte die Wahrnehmungsfähigkeit für übersinnliche Phänomene maximal entwickelt. »Es hilft alles nichts«, sagte ich langsam, »wir müssen noch abwarten. Solange wir den roten Faden nicht gefunden haben, müssen wir uns gedulden.« Sie nickte leicht. *** Bevor ich mich schlafen legte, traf ich einige wichtige
Vorbereitungen. Die Ausbildung im MAK hatte dafür gesorgt, daß mir diese Dinge in Fleisch und Blut übergegangen waren. Die Gegner, gegen die wir zu kämpfen hatten, waren meist mit gewöhnlichen Waffen nicht zu besiegen. Ich entnahm einer kleinen Spezialtasche, die ich immer auf der bloßen Haut trage, ein dünnes Röhrchen und einen superflachen Zerstäuber. In dem Röhrchen war ein gelblicher Staub enthalten. Vorsichtig schraubte ich den Verschluß ab, eine notwendige Maßnahme, wollte ich verhindern, daß das Zeug durch einen geringen Stoß wie Dampf herausquoll. Mit Hilfe der gelben Substanz malte ich auf dem Fußboden – dicht vor der Tür – ein Pentagramm. Vor dem Fenster wiederholte ich diese Prozedur. Nunmehr konnte ich gewiß sein, daß es den sogenannten niederen Geistwesen unmöglich war, mein Apartment zu besuchen. Aber damit war ich noch nicht fertig. Ich mußte auch noch mit höherentwickelten Geistwesen rechnen – solchen etwa, die an beliebiger Stelle zu einem Körper materialisieren können. Ein einfaches Pentagramm bot hier keinen Schutz. Doch dazu hatte ich den Zerstäuber. In ihm war eine Flüssigkeit enthalten, die ein Materialisieren verhinderte. Die Wirkung hielt eine ganze Nacht an. Welche Ingredienzien für diese beiden Mittel verwendet werden, weiß ich nicht. Es ist mir bis heute ein Rätsel, was für ein teuflisches Zeug unser Magic-Labor da zusammengemixt hatte. Jedenfalls war sicher, daß die gräßlichen und unappetitlichen Mixturen des Mittelalters, die zur Teufelsaustreibung gedient hatten, sich dagegen wie harmlose Wässerchen ausnahmen. So hatte mir jedenfalls einer dieser Labormenschen auf eine diesbezügliche Frage von mir geantwortet. Ich drückte mehrmals auf den kleinen silbernen Knopf – zischend fuhr ein feiner, sich sofort zerteilender Strahl aus dem
flachen Gefäß. Anschließend verstaute ich die beiden Behältnisse wieder. Erst jetzt zog ich mich aus. Nachdem ich den Raum versiegelt hatte, konnte ich einigermaßen beruhigt schlafen gehen. Ich lag kaum im Bett, als ich schon so müde wurde, daß ich die Leuchtröhre über meinem Bett ausknipste. Sekunden später war ich eingeschlafen. An diesen Schlaf sollte ich noch lange denken. Es kam mir vor, als seien nur wenige Sekunden vergangen, bis das traumlose Dunkel, das mich schützend einhüllte, aufriß wie ein morscher Fetzen. Im gleichen Augenblick sah ich mich inmitten grausiger Schlangenungeheuer, die gierig nach mir schnappten. Ekliger, stinkender Geifer floß aus den aufgerissenen Rachen der Bestien. Als ich merkte, daß ich ihnen nicht mehr entrinnen konnte, packte mich schreckliche Todesangst. Verzweifelt schrie ich auf – und fand mich wach, aber völlig verschwitzt im Bett liegend. Es dauerte Minuten, bis ich mich von den Nachwirkungen erholt hatte. Aber dieses Traumerlebnis sollte nur das Präludium für weitere Ereignisse darstellen. Mit offenen Augen lag ich da, auf ein erneutes Einschlafen mit freundlicheren Träumen hoffend, als sich auf dem Gang vor meiner Tür schwere Schritte näherten. Plötzlich brachen die Geräusche ab. Ich knipste das Licht wieder an. Im gleichen Augenblick polterte und dröhnte es laut gegen die Tür. Ich kniff die Augen zusammen. Tatsächlich, die Klinke bewegte sich. Nun reichte es mir. Mit einem Satz war ich aus dem Bett. Während es an der Tür weiter klopfte und hämmerte, holte ich in fliegender Eile den Zerstäuber aus der Tasche und ging vorsichtig zur Tür. Ich stellte mich in den Mittelpunkt des Pentagramms – mit meinen Händen konnte ich gerade das Schlüsselloch erreichen – und spritzte mehrere kräftige
Strahlen der wasserklaren Flüssigkeit nach draußen. Der Erfolg war im wahrsten Sinne des Wortes durchschlagend. Jammerndes Heulen und miauende Aufschreie drangen an meine Ohren. Trappelnde und stampfende Geräusche wurden laut, die allmählich verklangen. Dann herrschte Ruhe. Das war also der erste Angriff gewesen. Ohne Versiegelung hätten sie mich gehabt. Aber warum jetzt schon? Ich begriff dieses Vorgehen nicht ganz. Diesmal dauerte es länger, bis ich Schlaf finden konnte. Draußen zeigte sich bereits das erste Tagesgrauen. Aber ich sollte mich getäuscht haben, wenn ich annahm, die nächtliche Tortur hätte nun ein Ende gefunden. Kaum hatte sich mein Geist wieder in die Gefilde begeben, die mit freundlichen Träumen Ruhe und Erquickung schenken, da fühlte ich mich wieder von jener Gewalt gepackt, die mir seit dem Wachtraum der gestrigen Nacht nur allzugut bekannt war. Wieder schwebte ich neben dem höchsten Turm des Schlosses, wieder erschien das entsetzliche Spinnenwesen mit seinen vielen langen Beinen und wieder senkte es sich hinab. Diesmal aber nicht auf eines der Pyramidenhäuser, sondern auf den Schloßhof. Das rötliche Licht – diesmal war es nicht grell und stechend, sondern eher düster – erhellte den Boden, auf dem eine menschliche Gestalt stand. Sie schien vor Schreck und Angst wie gelähmt zu sein. Jedenfalls erwartete sie starr und in unnatürlicher Ruhe die Bestie, die sich langsam und unerbittlich näherte. Bevor jedoch das Untier seine Beute völlig verdeckte, riß mich die rätselhafte Kraft tiefer. Dicht vor mir sah ich das Gesicht, in dem fassungsloses Grauen und namenlose Angst geschrieben stand. Es war das Gesicht von George Sandringham.
Und dann sah ich noch mehr. Plötzlich war die herunterschwebende Bestie von anderen Menschen umgeben. Einige davon kamen mir bekannt vor. Alle hatten diese rötlichglimmenden Augen, und alle starrten mit tierischer Gier auf das Opfer. Ich konnte diesen Eindruck noch mitnehmen, bevor ich wieder ins Dunkel zurückfiel. Endlich konnte ich schlafen. *** Trotz meiner gestörten Nachtruhe wachte ich auf wie sonst. Im Nu hatte ich mich geduscht und angezogen. Ich war aufs höchste gespannt. Wie wohl Eleonore die Nacht überstanden haben mochte? Diese Frage beantwortete sich mir von selbst, als ich den Frühstückssalon betrat. Eleonore saß schon dort. Sie sah blaß und sehr übernächtigt aus. Es schien sie ganz schön erwischt zu haben. Ich begrüßte sie nur kurz und warf ihr einen Blick zu, der Schweigen bedeutete. Sie verstand sofort. Wir hatten uns in der kurzen Zeit schon hervorragend aufeinander eingespielt. Es schmeckte uns beiden nicht besonders. Wir zwangen uns förmlich dazu, den Kaffee auszutrinken, um etwas Anregendes in den Magen zu bekommen. Dann standen wir auf und gingen nach draußen. Es blieb uns keine andere Möglichkeit, wenn wir nicht Gefahr laufen wollten, belauscht zu werden. Und ich würde jede Wette darauf eingehen, daß man uns bereits mit hochgezogenen Brauen betrachtete. Die Ereignisse von heute nacht waren nicht von ungefähr gekommen. Ihr Fehlschlagen hatte sich gewiß schon herumgesprochen. Langsam wanderten wir am See entlang. Es war schönes Wetter. Die Sonne stand am wolkenlosen Himmel. Mit lautem Quarren strich eine Kette Wildgänse über uns hinweg.
Die Landschaft machte den Eindruck tiefsten Friedens. Ich blieb stehen und schaute Eleonore forschend an. »Ich brauche wohl nicht lange zu fragen, wie es dir heute nacht ergangen ist. Ich jedenfalls werde die Stunden nach Mitternacht so bald nicht vergessen.« Ich brauchte nur wenige Sätze, um ihr meine Erlebnisse zu schildern. Sie war anscheinend gar nicht erstaunt. Ich hatte es auch nicht erwartet. Trotzdem irritierte mich ihr Schweigen. »Ich ahne es – du hast Ähnliches erlebt, stimmt's?« In ihr eigenartig verschlossenes Gesicht kam Leben. Sie sah mich an. Erschrocken bemerkte ich Tränenspuren in ihren Augen. Wahrscheinlich hatte es sie noch schlimmer heimgesucht als mich. Aus einer Augenblicksaufwallung heraus legte ich meinen Arm um ihre Schultern. »Nun erleichtere dich. Es wird dir guttun.« Ich drückte sie leicht an mich. »Es war furchtbar«, brach es aus ihr heraus. Stockend erzählte sie. Im großen und ganzen handelte es sich um dieselben Geschehnisse, die auch mir passiert waren. Nur ein einziger Unterschied schien zu bestehen: Sie war länger gequält worden. »Aber du siehst doch, daß sie uns nichts anhaben können. Kein Haar konnten sie uns krümmen.« Sie lehnte sich an mich. »Ich hatte nicht den Eindruck, daß sie ernst machen wollten. Ich glaube vielmehr, daß sie uns vorläufig nur quälen wollen. Denen stehen andere Möglichkeiten zur Verfügung als das, was sie uns heute nacht vorgeführt haben.« Sie schwieg einen kurzen Augenblick und setzte dann leise hinzu: »Das ist es, was mir Sorgen macht. Ich wittere förmlich, daß auf uns etwas zukommt, was ungleich schlimmer ist...« Sie brach ab und wandte mir ihr Gesicht zu. Tief in ihren grünen Augen sah ich Angst und Entsetzen.
Wahrscheinlich spürte sie auf Grund ihrer besonderen Parabegabung – sie sollte ja ein ausgezeichnetes Medium sein – die Gefährlichkeit der Wesen, die uns bedrohten. Hier mußte sofort etwas getan werden. Waren wir erst psychisch angeknackst, dann hatte man mit uns leichtes Spiel. Mir tat es leid, ich mußte sie jetzt hart anfassen. »Das hat uns gerade noch gefehlt«, erwiderte ich, mich bemühend, meiner Stimme einen zornigen Tonfall zu geben. »Das klingt ja so, als ob du von unserer Niederlage bereits überzeugt wärest.« Ich faßte sie bei den Schultern und zwang sie, mich anzuschauen. »Was würde wohl Ronfield sagen, wenn er dich so verzagt reden hörte? Er würde dich augenblicklich feuern. Erinnere dich an eines unserer Hauptgebote.« Langsam, in dozierendem Ton, sagte ich: »Wenn bei einer Aufgabe das Gefühl der Unterlegenheit gegenüber dem Gegner aufkommen sollte, muß unverzüglich mit den Mitteln des Konzentrationstrainings dagegen angekämpft werden.« Ich versuchte, Zuversicht und Kraft in sie einströmen zu lassen. »Du kannst das doch nicht vergessen haben«, sprach ich mit drängender Stimme weiter. Heißer Zorn stieg in mir hoch. Hatte dieses verdammte Pack es doch tatsächlich fertiggebracht, einen MAK-Agenten in Angst und Schrecken zu versetzen. In ihren Augen lag ein eigenartiger Ausdruck, als sie antwortete: »Du täuschst dich in mir. Von Verzagen kann keine Rede sein. Du wirst es vielleicht später einmal verstehen.« Wieder blickte sie mich so eigenartig an, daß es mir ganz anders wurde. Ein winziges Lächeln zuckte dabei um ihre Mundwinkel.
Ihr scharfes Aufatmen ließ mich herumfahren. Mit langsamen Schritten kam jemand auf uns zu. Ohne Zweifel, es war Sandringham. Kurz vor uns blieb er stehen. Eleonore und ich schauten uns betroffen an. Die Veränderung im Aussehen des jungen Mannes war wirklich erschreckend. Sein Gesicht war bleich und eingefallen. Die Haut spannte sich über den Backenknochen. Doch erst die Augen... Alle Fröhlichkeit war aus ihnen gewichen. Sie blickten angstvoll und unstet. Ich zog meine Zigarettenschachtel aus der Hosentasche und reichte sie ihm. Er griff wie ein Ertrinkender danach. Gierig pumpte er den Rauch in seine Lungen. Dabei wirkte sein Blick wie erloschen. Wir hatten gar nicht das Gefühl, angeschaut zu werden. »Was ist denn nur los mit Ihnen?« fragte ich ihn. Ich erhielt keine Antwort. Anscheinend hatte ihn die Frage gar nicht erreicht. Ich wußte sofort, was nun zu tun war. Wir mußten seine seelische Verkrampfung lösen. Ich schaute Eleonore an. Sie nickte mir zu. Wir verstanden uns ohne Worte. Ich trat dicht vor Sandringham hin, umfaßte dabei mit meinen Händen sein Gesicht. Seine Zigarette hatte ich ihm aus den Fingern genommen. Eleonore stellte sich hinter ihn und nahm ihn bei den Händen. Wie ein mächtiger Strom ergoß sich unsere vereinte magnetische Kraft in Sandringhams Geist. Dabei redete ich ihm beruhigend zu. In bestimmten Zeitintervallen berührten meine Fingerspitzen bestimmte Punkte seines Kopfes. Eleonore unterstützte mich bei meinem Tun. Sie redete nichts, hielt ihre Augen geschlossen. Am Zucken ihrer Augäpfel erkannte ich das Ausmaß der Anstrengung, die sie aufwandte, um den Schock in ihm zu neutralisieren. Denn daß irgendein aufwühlendes Erlebnis ihm einen schweren Schock
zugefügt hatte, war uns sonnenklar. Langsam hatten wir Erfolg. In seine ausdruckslosen Augen kehrte allmählich wieder Leben ein. Wir verstärkten unsere Anstrengungen, soweit das überhaupt noch möglich war. Nach weiteren langen Minuten war es dann endlich soweit. Sein Blick zeigte jähes Erkennen. Einen Augenblick schaute er fassungslos um sich. Er wußte anscheinend nicht, wie er hierher gekommen war. »Ihnen war ein wenig übel«, kam ich ihm zuvor. »Wahrscheinlich hat Ihnen Ihr Kreislauf einen Streich gespielt.« Er sah mich bei meinen in harmlosem Ton gesprochenen Worten forschend an. Anscheinend traute er ihnen nicht so recht. Ein grübelnder Ausdruck trat in seine Augen. »Nein, das war es nicht.« Er sah uns mit hilfloser Miene an. »Ich verstehe das nicht. Mir ist so, als ob ich schreckliche Dinge erlebt hätte... Nur erinnern kann ich mich nicht.« Ich konnte mir denken, was dem armen Kerl passiert war. Mit Sicherheit hatten sie ihm in der Nacht einen Besuch abgestattet. Ich betrachtete ihn forschend. Seinem Aussehen nach mußten sie ihn kräftig zur Ader gelassen haben. Die Anzeichen der Schwäche waren bei ihm einfach nicht zu verkennen. Wieder tauschte ich einen Blick mit Eleonore. Sie nickte mir unmerklich zu. »Es ist gleich ein Uhr«, versuchte sie vom Thema abzulenken. »Wir sollten zurückgehen. Sicher wird es schon zum Lunch geläutet haben.« Sandringham nickte geistesabwesend. Er dachte wohl immer noch über seine rätselhafte Gedächtnislücke nach. Als meine Augen das vor uns liegende Schloß umfaßten, empfand ich übermächtig die düstere Aura, die es ausstrahlte. Eigenartig, daß dies trotz des wunderschönen Wetters der Fall war. Die Sonne hatte den Zenit gerade überschritten. Immer noch strahlte sie von einem makellos blauen Himmel. Und
doch dieser Eindruck der Düsternis... Ob es von den alten, zyklopenhaften Mauern herrührte? Oder waren die nackten, bizarren Felsformationen daran schuld, die den Hintergrund bildeten und sich bis zum Horizont fortsetzten? Nein, dachte ich mir. Mit Sicherheit kam es nicht daher. Für dieses Gefühl war allein die geistige Ausstrahlung seiner seltsamen unheimlichen Bewohner verantwortlich. Schweigend legten wir das letzte Stück des Weges zurück. Als wir die Rezeption betraten, sah ich Logan beim Portier stehen. Die beiden schienen in ein wichtiges Gespräch vertieft zu sein. Sie bemerkten uns erst, als wir fast an ihnen vorbei waren. Mir fiel sofort der Ausdruck fassungslosen Staunens in den beiden Gesichtern auf, als sie Sandringham in unserer Gesellschaft sahen. Blitzschnell züngelte ein Blick zu Eleonore und mir, in dem Überraschung, Wut und abgrundtiefe Bosheit lagen. Ich ließ mir nichts anmerken und grüßte freundlich. Man soll es seinen Gegnern nie zu leicht machen. Mein Grinsen wurde unverschämt, als ich Logan betrachtete, der nur sehr mühsam sein Gesicht in freundliche Falten legen konnte. Ich konnte nicht widerstehen, die beiden ein wenig zu ärgern. »Mister Sandringham hatte anscheinend Schwierigkeiten mit seinem Kreislauf. Jetzt fühlt er sich aber schon wieder besser.« Ich wartete einen Augenblick. Dann fuhr ich mit harmloser Miene fort: »Ich bin heute nacht auf üble Art und Weise geweckt worden. Wahrscheinlich waren es Betrunkene, die an meiner Tür pochten und mich nicht schlafen ließen.« Ich schaute den Portier scharf an. »Eigentlich hätte das Ihr Kollege vom Nachtdienst hören müssen. Aber wahrscheinlich hat er geschlafen.« Ich wandte mich an Logan, der mich aus glimmenden Augen sprachlos anstarrte. »Für ein Hotel dieser Klasse ein unmöglicher Zustand, meinen Sie nicht auch?«
Ich spürte die grelle Wut dieser beiden fast körperlich. Am liebsten hätten sie mir hier an Ort und Stelle den Garaus gemacht. Mein Grinsen mußte ihnen auch sagen, daß ich sie durchschaut hatte. »Also sorgen Sie bitte für Abhilfe. Wenn ich hier nicht gut schlafen kann, muß ich leider abreisen.« Ich setzte eine arrogante Miene auf, und ließ die beiden einfach stehen. Als mein Blick kurz Eleonore streifte, sah ich es in ihren Augen lustig funkeln. Ein Stein fiel mir vom Herzen. Sie hatte sich anscheinend von ihrer depressiven Stimmung befreit. Seltsam, ich fühlte mich plötzlich wie neugeboren und bereit, den Kampf mit der ganzen Welt aufzunehmen. Der Lunch schmeckte mir ausgezeichnet. Am Essen war wirklich nichts auszusetzen. Auch Maureen-Eleonore schien es sichtlich zu schmecken. Nur Sandringham stocherte lustlos in seinem Teller herum. Er kam anscheinend von seiner Grübelei nicht los. Nach dem Essen verabschiedete er sich. »Ich werde mich noch ein wenig aufs Ohr legen. Bin schrecklich müde.« Als er hinausging, fiel mir sein Gang auf. Er hatte etwas Schleppendes an sich. »Er wird wohl ihr nächstes Opfer werden«, sagte Eleonore mit leiser Stimme, als wir im Salon bei einer Tasse Kaffee saßen. »Glaubst du, daß sie ihn schon in der vergangenen Nacht...« Sie zögerte. »Mit Sicherheit«, gab ich ihr zur Antwort. »Sein Aussehen sagt doch alles.« »Dieser eigenartige Trancezustand, in dem er sich befand, als er bei uns auftauchte – warum wohl haben sie ihn darin gelassen?« Das hatte ich mich auch schon gefragt. Im gleichen Augenblick fuhr es wie ein Blitz der Erleuchtung durch meinen Schädel. So mußte es sein. Wenigstens war es die logischste
Deutung. Maureen hatte mir angemerkt, daß mir eine Idee gekommen war. »Nun, hast du eine Erklärung?« Ich schaute sie ernst an. »Es war eine Falle. Und wir sind blindlings hineingetappt.« Sie schaute mich verständnislos an. »Überlege doch«, sprach ich mit beschwörender Stimme weiter, »wer kommt denn auf die Idee, bei diesem Zustand an eine Schockwirkung zu glauben und hypnotisch die Verkrampfung zu lösen?« Ich ließ ihr keine Zeit zur Antwort und setzte hastig hinzu: »Nur auf Grund unserer eigenen nächtlichen Erlebnisse konnten wir doch den Verdacht schöpfen, daß es ihm genauso ergangen war. Nur war er im Gegensatz zu uns nicht in der Lage, sich zu schützen.« »Du meinst also, daß sie unsere Fähigkeiten testen wollten?« fragte sie. »Genau!« Ich zuckte mit den Schultern. »Natürlich kann es sein, daß sie mit uns spielen – so wie die Katze mit der Maus. In etwa hast du ja diese Ansicht geäußert, bevor wir Sandringham trafen...« »Vielleicht will es nur ihr Herr und Meister. Die unteren Chargen wissen vielleicht nicht, daß ihr Oberhäuptling mit uns zu spielen beabsichtigt.« Ihre Stimme wurde lebhafter. »Kann es nicht sein, daß sie sich ärgern, mit uns nicht allein fertig werden zu können und ihn um Hilfe bitten zu müssen?« Sie schaute mich erwartungsvoll an. Ich hatte Mühe, ihr zu folgen. Nicht, weil ich begriffsstutzig gewesen wäre. Es war einfach ihr Anblick, der mich verzauberte. Ich hüstelte, als ich die schmale Falte auf ihrer Stirn bemerkte und entgegnete: »Klingt sehr einleuchtend. Ich bin mir direkt sicher, daß es so ist...« Mir kam ein weiterer Gedanke. »Bestimmt wird er jetzt bald selber in Erscheinung
treten. Ich kann mir gut vorstellen, daß er sich darauf freut, uns seine Macht zu demonstrieren.« Maureens Gesicht wurde sehr ernst. »Das heißt, daß die Entscheidung dicht bevorsteht?« Ich nickte bejahend. »So ist es. Wir werden bald merken, ob es uns gelingt, den nahen Verwandten des Urians wieder in jene Gefilde zurückzuschicken, in die er gehört.« *** Während unseres Gesprächs hatte sich der Himmel überraschend schnell bewölkt. Starker Wind war aufgekommen, der dicke graue Wolken vor sich herjagte. Kurz darauf klatschten dicke Tropfen gegen die Scheiben. Ich trank den letzten Rest des Kaffees. Er war schon kalt geworden. Müdigkeit wollte mich überkommen. »Nur eins verstehe ich noch nicht so richtig«, sagte ich mit nachdenklicher Stimme. »Wir sind erst so kurz hier. Sie hätten doch soviel Zeit – warum diese Eile?« »Anscheinend ist ihr Bedarf an frischer Lebensenergie so groß, daß sie vor lauter Gier einfach nicht warten können«, meinte Eleonore. Ich stand auf. »Mit deiner Vermutung dürftest du richtig liegen. Aber laß uns jetzt gehen. Ich habe das Gefühl, daß wir uns ein wenig ausruhen sollten. Die vergangene Nacht hatte es doch ganz schön in sich.« Bevor wir den Salon verließen, schaute ich mich nochmals um. Wir waren nicht die einzigen Gäste. Aufgefallen war mir allerdings schon beim Lunch, daß ich nur eine Handvoll Menschen hatte sitzen sehen. Es waren auch nicht mehr Gedecke aufgelegt gewesen. So, als ob das Personal nicht mit mehr Personen gerechnet hätte. Ich schüttelte den Kopf. Auch noch ein Phänomen, das mir Rätsel aufgab.
Kaum hatten wir den Salon verlassen, als von der links nach oben führenden Treppe – Privataufgang, las ich an der Wand – mit federnden Schritten eine männliche Gestalt herunterkam. Als sie unten angelangt war und nur knappe zwei Meter vor uns stehen blieb, wußte ich, daß ER es war. Der Eindruck war überwältigend. Im wahrsten Sinne des Wortes. Er war so groß wie ich, aber noch breitschultriger. Sein Antlitz hatte etwas Majestätisches an sich. Die Züge sahen wie gemeißelt aus und erinnerten mich in ihren Proportionen an griechische Götterskulpturen. Dieser vollendete Eindruck wurde allerdings total zerstört durch die glühenden Augen, die unter dichten schwarzen Brauen lagen und eine erschreckende Wildheit ausstrahlten. Er schaute uns mit einem Blick an, der mich unwillkürlich an einen hungrigen Tiger denken ließ, der seine Beute taxiert, bevor er sie reißt. Bei Eleonores Anblick veränderte sich sein Ausdruck. Ich bemerkte den lüsternen Blick und sah mit Schaudern, daß er für einen kurzen Augenblick seine Oberlippe hochzog – makellose, strahlendweiße Zähne zeigend. Wie herbeigezaubert stand Logan neben uns. »Darf ich vorstellen, das ist Earl Tork of Kilmarn.« Seine Stimme war voller Demut. »Und das hier – seine Stimme klang wieder wie gewohnt – »ist Miß Eleonore Tonder mit ihrem Bruder Mark.« Er wies auf uns. Den Gesetzen der Höflichkeit entsprach sein Verhalten keineswegs. Dazu hatte sich sein Tonfall zu auffällig verändert. Was erlaubte sich dieser Wicht eigentlich. Mühsam bändigte ich meinen Ärger. Ich blickte hoch – und schaute in die Augen des Earls, die voller Spott auf mich gerichtet waren. Schien er vielleicht auch noch Gedanken lesen zu können? Ich mußte mich anstrengen, um mich von der übermächtigen Aura nicht zu stark beeinflussen zu lassen. Das Gefühl absoluter, imperialer Macht, das sie vermittelte, war
allein schon eine Waffe, die nicht zu unterschätzen war. Sie hatte hypnotischen Charakter. Als er uns ansprach, war ich überrascht von der Sanftheit seiner Stimme. »Ich freue mich sehr über Ihr Kommen.« Wie eine zustoßende Viper zuckte sein Blick zu Eleonore hin. Ich sah blitzschnell zu ihr hinüber. Ihr Gesicht sah gänzlich unbeteiligt aus, so, als ob sie von dem Eindruck, den sie ohne Zweifel auf den Earl gemacht hatte, nichts merken würde. Wir nickten dankend. »Ich hoffe, Sie werden sich wohl fühlen«, sprach er mit einer Höflichkeit weiter, die mir zu glatt vorkam. Deutlich sah ich in den gelb-rötlich gesprenkelten Augen offenen Hohn und Spott lauern. Eine solche Behandlung schätze ich nicht besonders. Ich beschloß, ihn mit derselben Münze zu bezahlen. »Das hängt sehr davon ab, ob das nächtliche Gepolter sich nicht wiederholt. Heute nacht habe ich kaum ein Auge zugetan. Dann war noch das gräßliche Ächzen und Stöhnen. Als ob einige dumme Jungen mir einen Schrecken hätten einjagen wollen.« Ich deutete mit dem Kopf auf Eleonore. »Ihr ist es nicht anders ergangen.« Aus den Augenwinkeln sah ich in Logans Gesicht eine rote Welle der Wut schießen. Sein Brustkorb hob sich unter stürmischen Atemzügen. Himmel, wie mir der Haß in seinen Augen guttat. Ich mußte nur höllisch aufpassen, nicht in seine Finger zu geraten. Dafür, daß ich ihn vor seinem Herrn derart lächerlich gemacht hatte, würde er eine solche Gelegenheit dazu benutzen, sich fürchterlich zu rächen. Mein Hauptaugenmerk aber galt dem Earl. Einen verschwindenden Augenblick glaubte ich nach meinen anklagenden Worten in seinen Augen Anerkennung aufblitzen zu sehen. Mit harmloser Miene sprach ich weiter: »Ich bin
städtebaulich interessiert. Diese Stadt vor ihrem Schloß...« Ich verbesserte mich: »Ich wollte sagen, diese seltsamen Häuser – sie sehen aus wie Miniaturausgaben von alten peruanischen Opfertempeln. Sie wissen es sicher: Bei den schaurigen Kulthandlungen wurde den armen Opfern bei lebendigem Leib das Herz herausgerissen. Wieso haben Sie diese Bauweise gewählt?« Ich lachte ihm ins Gesicht. »Sie haben doch hoffentlich nicht vor, Ihre Gäste ähnlich zu behandeln?« Die Wirkung meiner Frage war erstaunlich. Mit zwei raschen Schritten war der Earl bei mir. Er stand mir so dicht gegenüber, daß seine brennenden Augen nicht mehr als eine Kopflänge von den meinen entfernt waren. Es war wie eine glühende Woge, die auf mich zubrandete. Vorgeschmack dessen, was mich noch erwartete. Noch nie in meinem Leben hatte ich Augen gesehen, die in einem derart mörderischen Licht leuchteten. Trotz aller Kraft, die ich aufwendete, war es mir unmöglich, seinen dämonischen Blick länger auszuhalten. Meine Augen irrten ab. Im gleichen Augenblick drang ein melodisches Lachen an meine Ohren. Ich stemmte mich gegen den Zwang, der jäh über mich hereinbrach – aber es war mir unmöglich, ihm zu widerstehen. Mein Kopf hob sich wie von selbst, so lange, bis ich seinen schrecklichen Blick mit meinen Augen ertragen mußte. Diesmal waren es keine belanglosen Worte. Es schien ihm sogar daran gelegen, mich wie durch einen Vorhangspalt einen Blick auf das Schicksal tun zu lassen, das er mir bereiten wollte. »Das Herz werden wir Ihnen nicht herausreißen. Das wäre doch zu primitiv, finden Sie nicht auch?« Seine Augen flammten in grausamer Freude. »Sie sind zu etwas anderem bestimmt. Auf Sie wartet sogar eine große Aufgabe.« Der Hohn in seiner Stimme war nicht mehr zu überbieten. »Und
was die Häuser meiner Stadt anbetrifft – Sie werden bald ihre Funktion verstehen. Bereits in wenigen Tagen.« Er schwieg. Aber sein Blick ließ mich nicht los. Er war wie eine glühende Flamme, die sich in meinen Kopf hineinbohrte. Ich stöhnte laut auf unter den plötzlich einsetzenden Schmerzen, die sich sengend in mich hineinfraßen. Ich begann zu schwanken, vor Schmerzen fast das Bewußtsein zu verlieren, als der Satan wieder sein höhnisches Lachen ertönen ließ. »Nun, erkennst du jetzt deine Grenzen? Habe ich dich überzeugt? Und du wolltest mir Widerstand leisten?« Wieder das schreckliche Gelächter, das mich vor Scham und Wut noch schlimmer peinigte als die grauenhaften Schmerzen. Noch einmal vernahm ich die verhaßte Stimme. »Nütze die Stunden, die dir noch bleiben. Viele sind es nicht mehr.« Jäh verschwand der unerträgliche Druck in meinem Kopf. Ich blickte hoch, der Teufel war verschwunden. Nur Logan stand noch da. Er blickte mich gehässig an. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und fragte ihn mit rauher Stimme: »Wo kann ich hier telefonieren?« Er verbeugte sich höhnisch. »Von der Rezeption, von der Telefonzelle im ersten Stock und selbstverständlich auch von Ihrem Zimmer.« Er brach in lautes, gellendes Gelächter aus und sagte dann triumphierend: »Probieren Sie es nur, Sie werden es nicht können.« Immer noch lachend drehte er sich um und ließ mich stehen. Mit verständnislosem Blick wandte ich mich an Eleonore. »Hast du das begriffen?« Sie stand immer noch auf dem gleichen Fleck. In ihren Gesichtszügen las ich tiefe Konzentration. Leise wiederholte ich meine Frage. Diesmal hatte sie verstanden. Sie schaute mich lange an und
antwortete: »Ich vermute, daß der Earl eine Sperre in dir errichtet hat. Es ist denkbar, daß deine Hand den Hörer nicht halten kann oder daß du nicht imstande bist, die richtige Nummer zu wählen. Probiere es erst gar nicht. Ich fühle es – es wird dir nicht gelingen. Du würdest vielleicht sogar Schaden dabei nehmen.« Was ich noch nie in den Jahren meiner Zugehörigkeit zum MAK gespürt hatte, diesmal fühlte ich es, fühlte es mit grausamer Wucht. Es war nicht die normale Angst, die man mit Zuversicht und Willenskraft besiegen kann. Es war vielmehr jene Angst, die kreatürlicher Natur ist, Angst, die die Augen stumpf macht und die Glieder zucken und schlottern läßt – Angst, die tiefstem Grauen entspringt. Es war wie ein epileptischer Anfall. Sofort war Eleonore bei mir und legte mir ihre Hände auf beide Schläfen. Ich spürte den beruhigenden Kraftstrom, der in mich hineinfloß und das Grauen aus meinem Körper hinausjagte. Mir wurde schnell besser. Nach wenigen Minuten hatte ich es überstanden. Ich schloß die Augen und machte einige tiefe Atemzüge. Der letzte Rest der verbliebenen Benommenheit verschwand. Dankbar griff ich nach ihrer Hand. Sie las in meinen Augen, was mich bewegte. Und dann tat sie etwas, was mich jäh mit einem ungeheuren Glücksgefühl erfüllte: Sie kam zu mir, legte mir die Arme um den Hals und küßte mich. In ihren Augen las ich, daß sie es nicht aus rationalen Erwägungen heraus tat – etwa um mich innerlich wieder zu festigen oder aus dem Gefühl eigener Verlassenheit heraus. Ich wußte es: ihre Handlungsweise war Ausdruck eines tiefen Gefühls, das jetzt spontan zum Ausbruch kam. Während ich sie in meinen Armen hielt, dachte ich dankbar an Ronfield. Es durchzuckte mich. Oder hatte er vielleicht die starke psychische Kraft der Liebe in seine Berechnungen mit einkalkuliert? Zuzutrauen war es ihm.
Langsam und zart löste sich Eleonore von mir. In ihren grünen Smaragdaugen lag ein Ausdruck, der mich tief bewegte. Seltsam, dachte ich, daß auch in Augenblicken höchster Gefahr das mächtige Gefühl der Liebe zwischen zwei Menschen alles andere überdecken kann. Sie sah mich forschend an. »Seinen Worten war zu entnehmen, daß wir nur noch einige Stunden vor uns haben. Wir müssen uns sehr schnell etwas einfallen lassen.« Meine Bewunderung stieg. Sie dachte anscheinend nicht im entferntesten an eine Niederlage. Sicher war sie davon überzeugt, daß wir uns irgendwie schon heraushauen würden. »Ronfield hat doch von der Möglichkeit gesprochen, daß du als gutes Medium und Telepathin dich mit bekannten Personen gedanklich in Verbindung setzen könntest. Diese würden dann eine Art magnetische Kette bilden, die imstande sei, deine psychischen Kräfte zu vervielfachen. Das könnte doch die Lösung unseres Problems bedeuten.« Ich schaute sie fragend an. Sie zuckte mit den Schultern. »Da hast du nicht unrecht. Aber eine solche Kontaktaufnahme ist nur zu einer ganz bestimmten Uhrzeit möglich. Du weißt doch: genau eine Stunde vor Mitternacht. Zu diesem Zeitpunkt konzentrieren sich meine Kontaktpersonen auf mich – zehn Minuten lang, nicht mehr. Eine längere Zeitspanne würde zuviel Kraft kosten. Sie würde uns sonst vielleicht gerade dann fehlen, wenn wir sie dringend benötigen.« Ich machte ein langes Gesicht und schaute auf die Uhr. Bis um elf waren es noch genau sechs Stunden. Bis dahin konnte allerhand passieren. Ich zermarterte mir meinen Schädel nach einer anderen Lösung. Aber so sehr ich meiner Phantasie auch die Zügel schießen ließ, mir fiel nichts ein. Denn daß unsere »normalen« Methoden hier fehl am Platz waren, konnte nach allem, was in den letzten Stunden vorgefallen war, nicht mehr
bestritten werden. Unsere ganze Ausrüstung – Stolz des MAK und Schrecken niederer Geistwesen – war hier weniger als ein Schuß Pulver wert. Die einzige Möglichkeit, diesem Dämonenfürsten vielleicht doch Paroli bieten zu können, konnte nur die magnetische Kette bieten. Aber es fragte sich, ob man uns bis dahin ungeschoren ließ. Während unserer Überlegungen hatten wir unwillkürlich den Weg zum See genommen. Im Gegensatz zu heute morgen sah seine Oberfläche jetzt wie geschmolzenes Blei aus. Schlapp hingen die Blätter an den wenigen Bäumen. Die Natur schien Atem zu holen. *** Ich blieb abrupt stehen. Mir war ein Gedanke gekommen. »Weißt du was, wir sehen uns diese mysteriöse Stadt mit ihren seltsamen Häusern einmal aus der Nähe an. Vielleicht hilft uns das weiter.« Ich schaute Eleonore fragend an. »Schaden kann es nicht«, antwortete sie. »Auf jeden Fall ist es besser, als nichts zu tun und abzuwarten, bis es den Herrschaften gefällt, den Reigen zu eröffnen.« Wir beschleunigten unsere Schritte. Aber je näher wir der Ansammlung dieser eigenartigen Gebäude kamen, um so bedrohlicher kamen sie uns vor. Sie sahen unsäglich fremdartig aus. Als ob sie nicht von menschlichen Händen gebaut worden wären. Es stimmte – alle hatten die unheimlich wirkende Pyramidenform, aber keines dieser Gebäude besaß eine Spitze. Die vier schrägen, nach oben verlaufenden Flächen endeten im letzten Drittel in einer Plattform. Der einzige Unterschied bestand in der stark wechselnden Größe der Baulichkeiten. Manche waren sehr klein – vom
Erdboden bis zur Oberkante der Plattform nur an die fünf Meter messend. Andere hatten dagegen die drei-, einige sogar die vierfache Höhe aufzuweisen. »Und diese Ansammlung von Steinklötzen soll als Stadt bezeichnet werden! Ich kann noch nicht einmal Fenster und Türen entdecken. Geschäfte sehe ich ebenfalls keine, auch nicht Betriebe oder sonstige Fertigungsstätten.« Ich hatte diese Worte kaum ausgesprochen, als ich bemerkte, daß sich Eleonore schüttelte. Ich empfand es als ein Schütteln des Ekels oder auch des Grauens – so wie beim Anblick eines furchterregenden Reptils. »Was ist mit dir?« fragte ich sie trotzdem. »Auf mich wirkt die Ausstrahlung hier wie ein übler Dunst. Sogar das Atmen fällt mir schwer.« Eleonores Stimme klang belegt. Auf genau diese Reaktion hatte ich gewartet. Sie mußte einfach eintreten. Ihr sensibles Reagieren sagte mir alles. Der Titel eines Romans fiel mir ein, den ich vor Monaten einmal gelesen hatte. »Stadt der Toten« hatte in flammendroten Lettern auf der Umschlagseite gestanden. Ein jähes Frösteln überzog meinen Körper bei dieser Erinnerung. Waren diese tempelartigen düsteren Gebäude in Wirklichkeit nichts anderes als eine Ansammlung von Totenhäusern oder vielleicht sogar von Opferstätten? Aber wozu diese große Anzahl? Irgendwie ergab es keinen Sinn. »Kannst du dir daraus einen Vers machen?« fragte ich sie. Eleonore schüttelte ratlos den Kopf. »Ich fühle nur, daß die Luft buchstäblich geladen ist. Ich spüre Verzweiflung, Schmerz und teuflische Grausamkeit.« Sie hob ihre Schultern. »Aber was sich hier abspielt...« Sie sah mich hilflos an. »Ich weiß es nicht.« Sekunden später passierte es. Was mir in meiner langen Tätigkeit beim MAK noch nie widerfahren war – hier fühlte
ich es zum erstenmal. Eine eiskalte Hand schien nach meinem Herzen zu greifen, als sich eine der schrägen Wände wie von Geisterhand bewegt öffnete. Eleonores Hand ergriff meinen Arm und verkrallte sich in mein Jackett. Aus der Schwärze trat ein Wesen, das trotz seines menschlichen Aussehens wenig mit einem Menschen gemein hatte. Es war ein Mann. Bekleidet war er mit einem Umhang. An den Füßen trug er Sandalen. Über Stirn und Schläfen lief ein fingerbreites, silbern schimmerndes Band. Bis hierhin war alles – abgesehen von der sonderbaren Bekleidung – relativ normal. Erst der Blick in das Gesicht dieses Mannes mußte einen schaudern lassen. Es schien völlig unbewegt, glich in seiner Starre eher dem Kopf einer Statue als dem eines Menschen. Und dann die Augen: Hier war auch nicht der geringste Ausdruck zu erkennen. Wenn Augen die Fenster der Seele sein sollen – hier konnte davon keine Rede sein. In ihrer Blicklosigkeit waren sie von Totenaugen nicht zu unterscheiden. Das Wesen trat hinaus. Mit einem seltsam hölzernen Gang, dem etwas Maschinenmäßiges anhaftete. So mußten Roboter sich bewegen, dachte ich. Als es im Freien stand, schloß sich die Öffnung hinter ihm. Selbst bei angestrengtem Hinschauen konnte ich in der schrägen, trapezförmig nach oben verlaufenden Wand keine Fuge erkennen. Es schien uns gar nicht zu bemerken. Wie einem geheimen Befehl folgend trottete es weiter, einem Gebäude zu, das alle anderen weit überragte. Als es dicht davor stand, öffnete sich ein schmaler Spalt in der Wand, in dem es verschwand. »Komm, laß uns gehen! Ich habe ein ungutes Gefühl.« Eleonore hatte leise, fast im Flüsterton, gesprochen. Ich sah ihr an, daß ihre feinen Sinne eine Gefahr witterten.
Mit schnellen Schritten entfernten wir uns. Auch ich fühlte mich erleichtert, als wir mehrere hundert Meter zwischen uns und den Häusern gelegt hatten. »Ist dir etwas eingefallen?« fragte Eleonore nach einer Weile. Ich schaute sie mit einem Blick an, der ihr die Röte der Verlegenheit ins Gesicht trieb. Aber nach ihrem impulsiven Kuß konnte ich sie einfach nicht anders als zärtlich anschauen. »Nichts besonderes«, erwiderte ich. »Aber ich spiele schon seit gestern abend mit einem Gedanken. Nach den heutigen Vorkommnissen bin ich erst recht der Überzeugung, daß wir ihn in die Tat umsetzen sollten.« »Und was ist das für ein Gedanke?« In ihren Augen sah ich ein Licht aufblitzen. »Du erinnerst dich – ich war gestern abend noch kurze Zeit im Kaminzimmer. Irgendwie war mir plötzlich so, als ob ich Stöhnen und Schreie hörte. Ich habe mich dann auf den Boden gelegt, weil ich der Überzeugung war, diese Laute kämen von unten. Ich hatte richtig vermutet. Ich hörte es jetzt viel deutlicher. Dann warnte mich ein unbestimmtes Gefühl. Ich sprang auf, knipste das Licht an und nahm wieder Platz. Sekunden später wurde die Tür aufgerissen, und Logan stand im Zimmer. Das weitere ist dir bekannt.« Sie nickte bejahend. »Und was hast du vor?« »Nachschauen, was da los ist. Ich bin überzeugt davon, daß sich dort der Eingang zu irgendwelchen Kellerräumen verbirgt. Den möchte ich finden.« »Und wenn du ihn gefunden hast?« »Dann will ich versuchen, die Quelle der rätselhaften Laute zu ergründen. Ich habe so eine Ahnung, daß wir dort unten das Geheimnis dieses dämonischen Earls entschleiern können.« »Du bist dir aber doch klar darüber, daß dein Unternehmen
mit Gefahren förmlich gepflastert sein wird«, gab Eleonore zu bedenken. »Hinzu kommt«, sprach sie weiter, »daß wir es hier nicht mit harmlosen Poltergeistern oder primitiven gewöhnlichen Vampirwesen zu tun haben, sondern mit dämonischen Ungeheuern, die ein anderes Kaliber aufweisen.« »Ich weiß. Wir haben es in unserer ganzen bisherigen Praxis nur mit den harmlosen Geistwesen zu tun gehabt. Du hast recht, diese hier sind höherdimensionaler Natur.« Ich hob meine Schultern. »Aber was sollen wir anderes tun? Wir dürfen uns einfach nicht in die Defensive drängen lassen. Denn dann sind wir ganz gewiß verloren. Bedenke auch, daß uns eine große Hoffnung bleibt. Gelingt es uns nämlich, die Zeit bis um elf Uhr – also eine Stunde vor Mitternacht – zu überbrücken, dann...« Sie unterbrach mich: »Dann besteht die Möglichkeit der Kontaktaufnahme.« Sie sah mich nachdenklich an. »Erwarte davon aber keine Wunderdinge. Schon wenn es uns gelänge, den Earl und seine finstere Dämonenschar durch unser plötzlich gestiegenes Kraftpotential so zu überraschen, daß wir diesen Effekt zur Flucht ausnützen könnten...« »Daran glaubst du doch selbst nicht«, unterbrach ich sie. »Und wenn wir unsere Flucht bis zum Südpol fortsetzen würden – seine Machtmittel erlauben es ihm, uns zu vernichten, wo es ihm gefällt.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß noch nicht, wie wir es anstellen sollen, aber eines ist mir sonnenklar: Wir müssen dieser Bande unbedingt den Garaus machen.« Ich schaute sie ernst an. »Glaube mir, es gibt dazu keine Alternative.« Sie hatte mich während meiner weitschweifigen Erklärung dauernd angeschaut, nachdenklich und forschend zugleich. Als ich geendet hatte, lächelte sie. Ich konnte mir beim besten Willen keinen Vers darauf machen und mußte sie wohl ziemlich blöde angeschaut haben, denn ihr Lächeln ging in ein
lautes, klingendes Lachen über. Sie lachte wie ein beschenktes Kind. Eine irrsinnige Situation, fuhr es mir blitzschnell durch den Schädel. Da blecken uns grausame und tödliche Gewalten an, bereit zum jederzeitigen Zustoßen, und wir benehmen uns wie kleine Kinder. Doch im gleichen Augenblick glitt jäher Ernst über ihr Gesicht. Es sah aus wie eine Jalousie, die beim Herunterlassen den Raum dunkel werden läßt. »Bitte verzeih, ich wollte dich nicht kränken. Aber ich konnte einfach nicht anders.« Sie machte eine kurze Pause. Ich sah es ihrem Gesicht an, daß sie sich bemühte, ihre Gedanken in die richtige Ordnung zu bringen. »Ich verstehe nur nicht, was du dort unten zu finden hoffst und was es uns helfen könnte.« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es selbst nicht. Ich weiß nur, daß wir etwas tun müssen. Und vielleicht finden wir was.« »Also gut«, gab sie zur Antwort. »Aber dazu bedarf es einiger Vorbereitungen.« »Die können wir nach dem Dinner treffen«, warf ich ein. »Du hast recht.« Sie nickte ihr Einverständnis und hängte sich bei mir ein. »Beeilen wir uns, ich habe ausgesprochenen Hunger. Mein Magen knurrt ganz grausig.« Ich legte meinen Arm um ihre Schultern und gab ihr einen herzhaften Kuß. Selbstverständlich ohne vorher um Erlaubnis zu fragen. Aber ihrem Gesicht sah ich an, daß dies sehr unnötig gewesen wäre. *** Als wir an unserem Tisch Platz genommen hatten, sahen wir, daß Sandringhams Gedeck fehlte. Unwillkürlich mußte ich schlucken. Er schien endgültig in ihren Fängen zu sein.
»Kommt Mister Sandringham nicht?« fragte ich mit unschuldigem Gesicht unseren Ober. Ich tat so, als ob es den heutigen Nachmittag nicht gegeben hätte. In den Reptilaugen funkelte es bösartig auf. »Abgereist!« hörte ich ihn nur dumpf knurren. Aber mit dieser Auskunft wollte ich mich nicht abspeisen lassen. »Das ist ausgeschlossen«, protestierte ich. »Mister Sandringham wollte mich unbedingt noch sprechen. Und außerdem war er heute mittag, als er uns verließ, so müde, daß er sich schlafen gelegt hat. Er kann also noch gar nicht abgereist sein.« »Leider irren Sie sich da«, hörte ich eine mir verhaßte Stimme hinter meinem Stuhl sprechen. Ich drehte mich um. Logan stand da, in seinen Augen leuchtete greller Hohn. »Wenn Sie es auch behaupten, dann glaube ich es unbesehen.« Ich grinste ihn spöttisch an. In seinen Augen glomm schwarze Wut auf. »Ich wünsche Ihnen eine besonders gute Nacht«, zischte er mich an. Dann wandte er sich um und ging. »Also sind wir heute nacht dran«, stellte ich trocken fest. »Logans Worte lassen wirklich keine andere Deutung zu«, fügte Eleonore hinzu. Eigenartig, trotzdem schmeckte es mir. Mehr und mehr glaubte ich, ein Traum würde mich narren. Aber als ich auf Eleonore schaute, freute ich mich doch, daß es nicht so war. »Hast du es noch nicht gemerkt?« fragte sie. »Was?« »Schau dich doch nur einmal um, dann weißt du, was ich meine.« Ich tat es. Im selben Moment verstand ich sie, und es fiel mir wie Schuppen von meinen Augen. Außer uns war niemand beim Essen. Ich sah auf den
anderen Tischen nicht ein einziges Gedeck liegen. Wieder mußte ich schlucken. Immerhin waren es gestern abend noch an die sechzig Personen gewesen, die hier ihre Mahlzeit eingenommen hatten. Ich schaute auf meine Armbanduhr, um mich noch einmal zu vergewissern. Es stimmte. Genau zur gleichen Zeit hatten wir gestern auch hier gesessen. »Aber sie können doch nicht alle...«, wandte ich mich an Eleonore. »Vielleicht wären wir auch nicht mehr hier, wenn wir uns gestern nacht nicht so erfolgreich hätten wehren können«, antwortete sie flüsternd. »Aber sie können sie nicht einfach umgebracht haben«, sagte ich. Ich spürte siedendheiße Wut in mir hochsteigen. Gleichzeitig wuchs in mir der Wille ins Ungemessene, diese Kreaturen des Teufels wieder in jene finsteren Schlünde zurückzujagen, in die sie gehörten. Die Wut schüttelte mich förmlich bei dem Gedanken an die vertrauensvollen Menschen, die hier Ruhe und Erholung finden wollten und statt dessen an diesem höllischen Ort von finsteren Dämonen ein grauenvolles Schicksal gefunden hatten. Mir schmeckte es plötzlich nicht mehr. Auch Eleonore hatte genug. Schweigend standen wir auf. Als wir den Dinnerroom verließen, begegnete uns Logan. Der Hohn, mit dem er uns zuwinkte, war nicht mehr zu überbieten. Anscheinend war er felsenfest von unserer zukünftigen Bestimmung überzeugt. Dieser Anblick verursachte mir einen dicken Kloß im Hals. Ich dachte nicht daran, ihn zu behalten. Mit zwei schnellen Schritten stand ich vor Logan. Meine Stimme klang honigsüß, als ich ihm zuraunte: »Nur wer zuletzt lacht, lacht am besten. Freuen Sie sich nicht zu früh! Auch Ihnen eine gute Nacht.« Ein gelber Blick des Hasses zuckte wie eine Flamme zu mir
herüber. *** Die Vorbereitungen zu meiner Exkursion waren abgeschlossen. Wir hatten sie in Eleonores Appartement getroffen. Wir wollten soviel zusammenbleiben wie eben nur möglich. Zuerst rieb ich mir den ganzen Körper mit einer grünen Salbe ein. Durch sie sollte ich von der Wahrnehmung durch Geistwesen geschützt werden. Diese Salbe hatte mir schon oft wertvolle Hilfe geleistet. Gegen gewöhnliche Vampire, Poltergeister und andere Gespenster wirkte es wie eine Art Tarnkappe – es war ihnen unmöglich, uns auszumachen, wenn wir uns damit behandelt hatten. Anschließend machte ich verschiedene Konzentrationsübungen zur Stärkung meiner eigenen Wahrnehmungsfähigkeit. Dann legte ich mir eine feine silberne Kette um den Hals, an dem ein kleines goldenes Pentagramm hing. In diesem Anhänger war durch eine komplizierte magische Zeremonie ein großes Potential geistiger Energie gespeichert. Sie kam dann zum Einsatz, wenn meine eigene verbraucht war. Wie lange sie vorhielt oder wie groß ihre Kapazität war, kann ich nicht sagen. Bisher hatte ich noch nie ein Erschlaffen ihrer Kraft feststellen können. Trotzdem war ich der festen Überzeugung, daß sie der geistigen Stärke des Earls nicht gewachsen war. Gut, daß ich die Kette heute nachmittag nicht getragen hatte. Vielleicht wäre sie vernichtet worden. Mit Eleonore hatte ich vereinbart, daß sie das Zimmer nicht verlassen dürfe. Sie hatte während dieser Worte gelächelt und gesagt: »Ich wollte es dir schon selber vorschlagen. Mit meinen Fähigkeiten kann ich dir am besten von hier aus
helfen.« Auf meinen ungläubigen Blick hin war ihr Lächeln rätselhaft geworden. »Warte es nur ab«, hatte sie gesagt, »ich werde dir Nachricht geben, wenn dir Gefahr droht.« An diese Worte mußte ich denken, als ich mich in das Kaminzimmer schlich. Übrigens: Eine Taschenlampe hatte ich natürlich auch bei mir. Sie war sehr klein und ihr Strahl fast so dünn wie ein Bleistift. Eigentlich ging es recht schnell. Schon nach zehn Minuten hatte ich den Einstieg entdeckt. Meine Ahnung fand sich bestätigt. Der Kamin war nur eine Attrappe. Zwar eine recht kunstvolle, aber von geübten Augen doch schnell auszumachen. Mit einem leisen Knirschen schwenkte der gesamte Kamin auf die Seite, als ich gegen den rotgemaserten Marmoraufsatz drückte. Ein dunkles Loch zeigte sich, aus dem leichter Modergeruch drang. Ich schaute zuerst nach, ob es an der Rückwand eine Vorrichtung gab, um den Öffnungsmechanismus auch von innen zu öffnen. Als ich ihn gefunden hatte, probierte ich ihn zuerst aus. Er funktionierte. Beruhigt schwenkte ich den Kamin wieder in seine frühere Lage zurück und begann mit dem Einstieg. Die Treppe, die nach unten führte, war feucht und glitschig. Auch die uralten, aus unbehauenen Steinen zusammengefügten Mauern zu meinen beiden Seiten glänzten vor Nässe. Als ich das Ende der Treppe erreicht hatte – es waren genau neunzig Stufen –, lag ein gewundener Gang vor mir. Kaum hatte ich eine leichte Biegung hinter mich gebracht, da hörte ich plötzlich die Laute, wegen denen ich mich hier hinunterwagte. Ich fühlte einen Schauer nach dem anderen meinen Körper überlaufen, als das schreckliche Ächzen und Stöhnen von Schritt zu Schritt lauter und durchdringender
wurde. Nur etwas fiel mir dabei auf: Von dem wilden, höhnischen Gelächter hörte ich diesmal nichts. Ich hatte noch zwei weitere Biegungen zu durchqueren, ehe ich mein Ziel erreicht hatte. Ich prallte unwillkürlich zurück, als sich nach der letzten Biegung der unterirdische Gang plötzlich verbreiterte. Es war ein Saal, der sich meinen erstaunten Blicken zeigte. Gewiß, ein unterirdischer Saal, aber seine Ausmaße waren deshalb nicht geringer als solche an der Oberwelt. Das fahle rötliche Licht verlieh dem riesigen Raum eine Atmosphäre düsterer Drohung. Die schrecklichen Laute dröhnten hier derart stark, daß ich mein Papiertaschentuch zerriß und kleine Pfropfen formte, die ich mir in die Ohren steckte. Ich atmete auf – jetzt war es erträglicher. In meinem ganzen Leben hatte ich soviel Jammer und Elend noch nicht gesehen. Zu beiden Seiten des Saales – er mochte dreißig Meter lang und zehn Meter breit sein – befanden sich boxenartige Räume. Auf jeder Seite waren es fünfzehn. Vorn waren sie offen. In jedem Raum erkannte ich eine menschliche Gestalt. Seltsamerweise war keine von ihnen gefesselt. Trotzdem machten sie den Eindruck, sich nicht rühren zu können. Alle lagen auf schmalen Holzpritschen, die neben einem unbequemen Holzstuhl und einem einfachen Tisch aus demselben Material die spartanische Einrichtung bildeten. Ich spürte, wie mir bei dem Anblick heiß wurde. Mit zwei raschen Schritten war ich bei der ersten Box. Ich ging hinein, auf den Liegenden zu. Als ich dicht vor der Pritsche stand und in das Gesicht unter mir blickte, wurde mir fast übel. Geifer stand in dichten weißen Flocken um den Mund des Unglücklichen. Die Augen waren unnatürlich weit aufgerissen. Aus einer Eingebung heraus
bückte ich mich, um den Augenausdruck zu prüfen. Er sah nicht aus wie der des Menschen, den Eleonore und ich in der »Stadt« gesehen hatten. Aber es war auch zu erkennen, daß es bis dahin nicht mehr lange dauern würde. Ein Gedanke schoß mir durch den Kopf. Konnte es vielleicht sein, daß dieser Saal als eine Art Zwischenstation fungierte? Und wenn es so war, was passierte hier? Wieder bückte ich mich und faßte nach den Händen des Mannes. Er reagierte überhaupt nicht. Ich griff härter zu, zuletzt so hart, daß jeder normale Mensch aufgeschrien hätte. Aber ich merkte an keinem Anzeichen, daß der Mann auch nur die geringste Kleinigkeit gespürt hatte. Ich ging zur nächsten Box. Es war dasselbe. Auch hier das Schreien und Stöhnen – aber sonst keine Reaktion. Genauso erging es mir bei den übrigen Verschlägen dieser Reihe. Und dann untersuchte ich die andere Reihe. Als ich die erste Box aufsuchte und den Strahl meiner Taschenlampe auf das Gesicht auf der Pritsche fallen ließ, hatte ich Mühe, einen Aufschrei zu unterdrücken. Sandringham lag dort. Sein Gesicht sah krank und eingefallen aus. Er hielt die Augen geschlossen und atmete schwer. Seltsamerweise war er völlig ruhig. Mir kam ein Einfall. Schnell ging ich hinaus und besuchte kurz die Unglücklichen auf dieser Seite. Gleich darauf wußte ich es: Hier waren alle ruhig. Keiner gab auch nur einen Laut von sich. Ich ging wieder zu Sandringham. Alles Rütteln und Schütteln war auch hier vergebens. Ich zog ein Lid hoch. Einen Besen würde ich fressen, wenn das nicht ein durch Hypnose erzwungener Zustand war. Ich hatte schon zu oft Hypnotisierte gesehen. Sie machen alle einen ähnlichen Eindruck. Nicht zu glauben, welch komplizierte Denkprozesse durch entsprechende Gedanken ausgelöst werden können. Kaum war
mir nämlich diese Eingebung gekommen, als ich von einem Augenblick zum anderen zu fieberhafter Tätigkeit erwachte. Meinem Futteral entnahm ich den Zerstäuber. Einen Moment wog ich ihn unschlüssig in der Hand. Durfte ich es wagen? Das Höllengebräu konnte ihn wahnsinnig machen, wenn die Ungeheuer an ihm herummanipuliert hatten. Aber andererseits: Da dieses »Hexenwasser« – wir vom MAK nannten die glasklare Flüssigkeit so – auf alles ansprach, was auch nur im entferntesten nach dunklem Zauber und blutdürstigen Vampiren roch, und dabei eine sehr durchschlagende Wirkung erzielte, konnte es doch nur nützen. Ich durfte mich einfach nicht länger besinnen. Kurz entschlossen drückte ich auf den Knopf. Mit leisem Zischen schoß ein feiner Strahl auf das Gesicht Sandringhams zu. Die Wirkung war mehr als erstaunlich. Ein gellender Schrei löste sich von seinen Lippen. Gleichzeitig vollführten die Augäpfel unter den geschlossenen Lidern einen wilden, konvulsivischen Tanz. Beine und Arme gerieten ebenfalls in zuckende Bewegung. Ich sah Schaum aus dem Mund heraustreten. Ich begann mir schon Vorwürfe zu machen, als Sandringham jäh ruhig wurde. Ehe ich mir dieses neue Phänomen erklären konnte, schlug er auch schon die Augen auf. Sein klarer Blick zeigte mir, daß er völlig bei Sinnen war. In seinen Augen zeigte sich zuerst starke Verwunderung, als er mich und dann seine Umgebung musterte. Dies dauerte aber nur wenige Sekunden. Anschließend sah ich Entsetzen in seine Augen schießen. Er keuchte laut. Seine Glieder zitterten. Es war ein Zittern der Angst. Ich kannte diese Reaktionen und wußte, was zu tun war. Ich kniete mich neben ihn, hob sanft seinen Kopf und redete leise und beruhigend auf ihn ein. Gleichzeitig wandte ich die Technik der magnetischen Striche an, um die beruhigende
Wirkung zu verstärken. Die Wirkung dieser Behandlung zeigte sich bereits nach wenigen Minuten. Sandringhams Atem ging ruhiger und leichter und aus seinen Augen verschwand allmählich dieser eigentümliche Glanz – untrüglicher Vorbote eines beginnenden geistigen Kurzschlusses. Sein Blick wurde wieder klar. Und diesmal war die Wirkung von Dauer. Nach weiteren Minuten setzte er sich auf. Ich hörte ihn leise stöhnen. »Ist es also doch kein Traum gewesen. Oh, diese Teufel!« Er schaute mich mit einem gehetzten Ausdruck an. »Wie kommen Sie hierher? Gnade Ihnen Gott, wenn die Sie finden!« Er stand auf. Ich sah, daß er schwankte und stützte ihn. »Wir verschwinden von hier«, sagte ich leise zu ihm. »Werden Sie es schaffen?« Ich schaute ihn besorgt an. Es war noch kein halber Tag vergangen, daß wir ihn gesehen hatten. Diese Schweine mußten allerhand mit ihm angestellt haben, daß ihn diese wenigen Stunden so entkräften konnten. »Ich muß es einfach«, sagte er mit keuchender Stimme. »Noch einmal möchte ich diesen Bestien nicht in die Hände fallen.« Ich spürte sein Schaudern. »Also dann nichts wie weg hier!« Ich legte meinen Arm um seine Schultern und führte ihn aus dem unterirdischen Gefängnis. Als wir wieder in den Gang einbogen, verstärkte sich das Stöhnen und Schreien derart, daß ich mir wieder die Pfropfen in die Ohren steckte. Aus dem Rest des Papiertaschentuchs fertigte ich welche für Sandringham. Er sah mich mit einem dankbaren Blick an. Wir kamen nur langsam voran. Es wurde die längste Strecke meines Lebens. Endlich – eine Ewigkeit schien mir vergangen – tauchte die lange Treppe vor uns auf. Sie erschien mir wie ein erlösender Finger, der zum Licht zeigt. Ich machte mir
überhaupt keine Gedanken darüber, wie ich Sandringham ungesehen in mein Zimmer hineinbringen konnte. Ich war mir sicher, es würde sich ein Weg finden lassen. Wir hatten gerade die ersten Stufen hinter uns gebracht, als es geschah. Ich verspürte plötzlich einen verwehenden warmen Hauch an meinem Gesicht vorüberstreichen und mußte eigenartigerweise sofort an Eleonore denken. Damit schien ein Kontakt geschlossen zu sein, denn ich hörte ihre Stimme. Ich hörte sie nicht mit meinen Ohren, sondern tief in meinem Inneren. Angst schwang in ihr. »Kommt schnell! Beeilt euch! Ihr habt nur noch wenige Minuten Zeit. Sie wollen die Gefangenen aufsuchen.« Wieder spürte ich den warmen Hauch. Dann war die Verbindung abgerissen. Ich mobilisierte meine letzten Kräfte, nahm Sandringham über meine Schultern und stapfte die restlichen achtzig Stufen nach oben. Dabei überlegte ich. Wie konnte Eleonore wissen, was Logan und seine Leute Minuten später tun wollten? Besaß sie etwa auch die Gabe der Hellsichtigkeit? Ich verdrängte diesen Gedanken und kroch mühselig weiter. Endlich hatte ich es geschafft. Ich lehnte Sandringham gegen die Wand und schärfte ihm ein, sich an den Mauersteinen festzuhalten. Danach betätigte ich den Mechanismus. Langsam schwang der Verschluß nach hinten zurück. Wir waren im Kaminzimmer. Das Glück stand uns auch weiterhin zur Seite. Es vergingen keine zwei Minuten, dann waren wir in Eleonores Appartement. ***
Aus unserer kleinen, aber sehr gut bestückten Reiseapotheke hatten wir zuerst ein schnell wirkendes Stärkungsmittel entnommen. Es zeigte bereits jetzt – eine knappe halbe Stunde nach unserer Rückkehr – seine Wirkung bei Sandringham. Sein Gesicht schien mir schon besser durchblutet zu sein. Ich bot ihm eine Zigarette an. Kurz darauf inhalierte er in tiefen Zügen. Bis zu diesem Augenblick hatte er kein Wort mehr gesprochen. Er hatte nur vor sich hin gestarrt. Wir hatten ihn nicht gestört. Er mußte zuerst zu sich zurückfinden. Doch jetzt begann er zu reden. Zuletzt war es wie ein Sturzbach, der auf uns niederprasselte. »Nach dem Lunch hatte ich mich hingelegt. Ich war müde und wollte ein wenig schlafen. Plötzlich standen sie im Zimmer. Logan und noch zwei andere. Mein Gott, diese Augen...« Neu erwachende Angst ließ ihn schaudern. Sein Gesicht wurde fahl. Ich gab ihm keine Gelegenheit, seine Furcht zu vertiefen und fragte deshalb sofort: »Hat Logan etwas gesagt, als er vor Ihrem Bett stand?« »Nichts weiter als ›komm‹.« Ich las Verständnislosigkeit in seinem Blick, als er fortfuhr: »Ich habe gar nichts darauf entgegnen können. Ich brachte einfach kein Wort heraus. Mein Wille war wie gelähmt.« »Und dann sind Sie in den Keller geschleppt worden?« Wieder glomm in seinen Augen das Nichtverstehen auf. »Ich habe mich überhaupt nicht gewehrt. Es war mir so, als müßte das so sein.« Er hob ratlos seine Schultern. »Glauben Sie mir, ich habe so etwas noch nie erlebt. Diese eigenartige Benommenheit – und dann die hündische Ergebenheit, die ich diesen Teufeln entgegenbrachte...« Ein Zug grenzenlosen Ekels trat in sein Gesicht. »Und wie ging es unten weiter?« fragte ich behutsam. »Ich mußte mich auf diese Holzpritsche legen. Dann sagte
Logan zu mir, daß ich mich nun bereithalten müsse. Ich kann mich nur an Bruchstücke von dem erinnern, was er sagte. So sprach er von einem neuen Reich, das errichtet werden müsse – von seinem Gebieter und seinen Getreuen, die sich durch bewußte Reinkarnation aus dunkler Vergangenheit in die heutige Zeit versetzt hätten. Ihre Aufgabe könnten sie aber nur dann erfüllen, wenn andere Menschen ihnen von ihrer geistigen Lebenskraft abgäben.« Mein Blick traf sich mit dem Eleonores. In ihren Augen las ich Entsetzen. Auch mir machte diese Eröffnung schwer zu schaffen. »Und dann?« fragte ich drängend. Sandringham dachte angestrengt nach. Als er mich wieder anblickte, sah ich ihm die Unsicherheit an. »Ich weiß nicht so recht«, sprach er zögernd. »Mir kommt es so vor, als hätte er noch von einem Ort geredet, wo ich später dienen dürfe. Er sagte etwas von einem Tempel...« Wie ein greller Blitz fuhr es durch meinen Kopf. Ich sah hinüber zu Eleonore. Auch sie schaute mich an. Nun wußten wir Bescheid. Abgesehen von den Einzelheiten war uns der große Rahmen nun kein Geheimnis mehr. Einen Augenblick drohte mich der Mut zu verlassen. Was konnte ich denn schon gegen diese dämonischen Mächte ausrichten? Selbst das gesamte MAK war hier mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit machtlos. Wenn die fähig waren, das geistige Potential von Menschen quasi als Nahrung zu verwenden... Jetzt verstand ich die Nachricht, die uns ein Verzweifelter über die »Seelenfresser« hatte zugehen lassen. Es bedurfte einer großen Kraftanstrengung, um das Gefühl der Verzagtheit in mir erfolgreich zu bekämpfen. Verlorene Zuversicht ist gleichbedeutend mit verlorener Kraft. Und ohne sie waren meine Chancen gleich null.
In Eleonores Gesicht war während meines gedanklichen Monologs ein angespannter Ausdruck getreten. Es schien mir so, als ob sie in sich hineinhorchen würde. Kurz darauf hob sie mit einer jähen Bewegung den Kopf und schaute mich mit einem Ausdruck an, der mir nicht recht gefallen wollte. In ihrem Gesicht las ich unbeugsame Entschlossenheit, aber tief in ihren Augen glaubte ich auch Verzweiflung zu erkennen. Ihre Stimme war hastig: »Er muß sofort fliehen. Keine fünf Minuten darf er mehr hierbleiben.« Sandringham nickte ergeben. Er konnte sich denken, daß er uns keine Hilfe war. »Versuchen Sie, die A 9 zu erreichen«, schärfte ich ihm ein. »Der Autoverkehr ist in dieser Gegend zwar nicht üppig, aber zu lange werden Sie nicht warten müssen.« »Und dann werde ich gleich die Polizei verständigen, damit die den Laden hier ausräuchern können«, antwortete er eifrig. Sein Gesicht hatte wieder Farbe. Anscheinend glaubte er felsenfest an seine Chance. Das beruhigte mich. Vielleicht hatte er sogar Glück. Aber ein Blick auf Eleonore machte mir das Utopische meiner Überlegung wieder klar. Es war unmöglich, sie konnten ihn einfach nicht entkommen lassen. Und wenn wir ihn hier behielten – auch das war unmöglich. So oder so würde er in ihre Hände fallen. Nur würde er uns im letzten Fall so stark behindern, daß wir selbst den letzten Hauch einer Chance verlieren würden. Es war ein Teufelskreis. Ich ging zum Fenster und öffnete es. Frische Nachtluft strömte herein. Ich sah, wie Eleonore zusammenschauerte. »Kommen Sie«, flüsterte ich. Sekunden später war Sandringham verschwunden, aufgesogen von der Dunkelheit. »Sie werden gleich hier sein«, sagte Eleonore übergangslos. Obwohl ich damit gerechnet hatte, fühlte ich, wie sich alles
in mir zusammenkrampfte. Ich schaute auf die Uhr. Es stimmte, der große Zeiger stand auf eine Minute vor elf. Und um Punkt elf hatten sie sich angesagt. »Ich komme mir vor wie ein Schaf, das sich mit freudigem Geblöke zur Schlachtbank begibt«, versuchte ich zu scherzen. Ich ging zu ihr und zog sie an mich. Worte kamen keine über meine Lippen. Auch sie sprach nicht, schmiegte sich nur eng an mich. Diese traumhaftverlorenen Sekunden wurden jäh abgeschnitten. Diesmal war es kein Poltern, durch das die dämonische Horde ihr Kommen ankündigte. Diesmal waren es ganz normale Schritte, die sich der Tür näherten. Als sie davor stehen blieben, umfaßte ich Eleonores Kopf mit beiden Händen und schaute ihr tief in die Augen. Auch hier bedurfte es keiner Worte. Je länger ich sie anschaute, um so mehr wußte ich, daß ich so kämpfen würde wie nie zuvor. Während sich diese Gewißheit wie ein stählerner Block in mir verfestigte, fühlte ich auch die Kraft in mir wachsen. Mit einem Lächeln sah ich, wie sich die Tür wie von selbst öffnete. Der Earl trat herein. Die Szenerie hatte alptraumhaften Charakter. Einen verschwindenden Augenblick hatte ich den Eindruck, in eine andere Zeit versetzt zu sein – in eine bösartig-magische Welt, wie sie vielleicht vor langen Jahrtausenden einmal bestanden hatte. Ob ich mich zwicken sollte, um die Realität des Geschehens zu überprüfen? »Lassen Sie diesen Gedanken ruhig wieder fahren«, sagte der Earl mit einem zynischen Lächeln. »Es hat alles seine Richtigkeit. In kurzer Zeit werden Sie das noch mehr spüren.« Offener Hohn schwang in seinen Worten. Sein »Gefolge«, das sich ins Zimmer drängte – es bestand aus Logan und drei weiteren Figuren –, brach bei den Worten des Earls in lautes Lachen aus. »Sandringham ist übrigens schon wieder da, wo Sie ihn
gefunden haben. Wenn ich gewollt hätte, dann wäre Ihnen der Weg zu unserer Station unmöglich gewesen.« Er machte eine spöttische Geste. »Aber ich wollte Sie gewähren lassen. Warum auch nicht... Immerhin haben Sie dadurch einen nützlichen Einblick gewonnen. Nützlich insofern, als daß Sie nun wohl erkannt haben, daß alles Sichwehren gegen meine Pläne vergeblich ist.« Seine Stimme wurde herrisch. »Doch jetzt ist Schluß mit dem Gerede. Hinunter mit Ihnen!« Ich sah den Blick, mit dem er prüfend meinen Körper betrachtete. Wie ein Metzger, der ein Stück Schlachtvieh taxiert, mußte ich denken. »So ganz unrecht haben Sie mit Ihren Gedanken nicht«, höhnte die verhaßte Stimme weiter. »Mehr sind Sie für mich auch nicht. Natürlich mit Ausnahme Ihrer schönen Gefährtin.« Er verbeugte sich leicht vor Eleonore und fuhr fort: »Mit ihr habe ich besseres vor. Sie wird nur noch wenige Stunden in Ihrer Gesellschaft sein. Ich lasse sie nur so lange in der Station, bis ihr Widerstand gebrochen ist. Aber dann« – seine Augen glitten lüstern über sie hin – «dann werde ich sie Künste lehren, die sie mit Ihnen nie zu schmecken bekäme.« Ich strengte mich an, um diese Worte zu überhören. Im Augenblick quälte mich ein anderes Problem. Der Kerl konnte Gedanken lesen. Jetzt sah alles ganz anders aus. Aus einem Impuls heraus dachte ich an meinen Anhänger. In der gleichen Sekunde fühlte ich es auf meiner Brust warm werden. Wie warme Wellen strömte es durch meinen Körper, ein jähes Gefühl der Hoffnung in mir weckend. Krampfhaft wartete ich auf seine Reaktion. Als sie nicht kam, wußte ich Bescheid. Ganz ungeschützt war ich also nicht. Ich durfte nur nicht den geistigen Kontakt mit der in dem Pentagramm eingebetteten Kraft verlieren. Sie umgab mich mit irgend etwas Unerklärlichem, das seinen Geist daran hinderte,
in mich einzudringen. Auch die Sorge, ob dieser Teufel uns schon seit unserem Eintreffen geistig überwacht hatte, ließ ich fahren. Ich war mir sicher, daß er sonst wesentlich schneller reagiert hätte. Wahrscheinlich war die Fähigkeit des Gedankenlesens bei ihm entfernungsmäßig begrenzt. Vielleicht konnte er nur den Gedankeninhalt der Personen kontrollieren, die sich in seiner unmittelbaren Nähe befanden. Aber ich mußte mich vorsehen. Ganz durfte ich mich ihm nicht entziehen, er würde sonst sicher mißtrauisch werden. Kannte er erst einmal die Ursache, dann war ich meinen Schutz sofort los. »Und nun wollen wir uns zum Ort Ihrer Bestimmung begeben«, sprach der Earl mit spöttischer Stimme. Mit einer lässigen Handbewegung warf er uns etwas entgegen, das sich sofort zu einer rötlichen Wolke ausbreitete, zielgerichtet auf uns zustrebte und uns einhüllte. Im gleichen Augenblick gehorchte mir außer den Augenmuskeln kein anderer Muskel meines Körpers mehr. Regungslos stand ich da, wie ein Automat, der auf die Fernsteuerungsbefehle seines Herrn warten muß. Meine geistigen Fähigkeiten blieben davon unberührt. Ich konnte denken wie vorher auch. Gut, daß ich mein magisches »Besteck«, abgelegt hatte. Eleonore hatte mich dazu gedrängt. »Es könnte dich selbst gefährden. Wir wissen nicht, wie es auf diese Wesen reagiert.« Das waren ihre Worte gewesen. Zuerst hatte ich mich gesträubt, aber jetzt war ich doch sehr froh. Ohne sich wehren zu können, stakste mein Körper vorwärts. Ich fühlte mich dabei wie ein Zuschauer. Meine Schritte müssen so ähnlich aussehen wie die des Menschen in der Stadt, der auf uns wie ein Roboter gewirkt hatte, dachte ich mir. Während unseres Ausflugs in die unteren Regionen
vernahm ich nicht ein einziges Wort des Earls oder seiner Begleiter. Nur das immer stärker werdende Schreien und Stöhnen machte mir klar, daß zumindest mir das gleiche Schicksal zugedacht war. Trotz dieser Erkenntnis machte sich keine Panikstimmung in mir breit. Immer noch brannte die Flamme der Hoffnung in mir. Wie magnetisch angezogen, wanderte mein Blick zu dem Satan an meiner Seite. In dem rötlichen Licht, das immer greller wurde, je mehr wir uns der Station näherten, sah er aus wie der oberste Höllenfürst persönlich. Und dann standen wir in dem großen Saal, den ich erst vor wenigen Stunden mit dem bedauernswerten Sandringham verlassen hatte. Wo er wohl stecken mochte? »Sie werden ihn sehen können, wenn ich Ihnen Ihre Unterkunft zugewiesen haben werde«, hörte ich den Earl sagen. Für einen kurzen Augenblick verzerrte sich sein Gesicht zu einem wölfischen Grinsen. Nach diesen Worten sah ich ihn die Hand heben – wie abgeschnitten verstummten die Laute der Qual um uns herum. Gespenstisch wirkende Ruhe senkte sich auf uns herab. Dann deutete er auf zwei leere Boxen. »Eine davon ist für Sie bestimmt – die andere für Ihre Schwester.« Bei dem Wort »Schwester« sah ich ein spöttisches Licht in seinen Augen auffunkeln. Auch das wußte er also. Wieder hob er die Hand – ich konnte mich plötzlich bewegen. Die Lähmung war wie weggeblasen. Ich atmete tief ein und aus. Es war eine unendliche Wohltat, wieder ein Mensch sein zu dürfen. Mein erster Blick galt Eleonore. Außer ihrer Blässe konnte ich keine weitere Veränderung an ihr feststellen. Anscheinend war es ihr genauso ergangen wie mir. Den Bruchteil einer Sekunde ruhte ihr Blick auf mir. Ich war beruhigt. Ihre Augen
sahen sehr lebendig aus. »Bevor Sie gleich Ihre Plätze einnehmen, bedarf es noch einiger klärender Worte.« Der Earl lehnte sich an einen der starken hölzernen Pfosten zwischen zwei Boxen. Einen Augenblick musterte er mich schweigend, dann wanderte sein Blick zu Eleonore. Ich sah es in seinen Augen rot aufglühen. »Sie wissen mittlerweile, daß wir uns trotz unseres menschlichen Aussehens nicht wie Menschen ernähren. Wir sind zwar als Menschen geboren worden und haben auch jahrelang als solche gelebt. Aber schon seit dem ersten Tag unserer neuen Existenz besaßen wir einen voll entwickelten Geist. Der gezielte Sprung unserer Geistkörper in diese jetzige Daseinsform bot uns die Möglichkeit der Mitnahme aller Gedächtnisinhalte unseres damaligen Lebens. Erst seit unserer ›körperlichen‹ Geburt besitzen unsere dämonischen Geistkörper eine menschliche Umhüllung. Was uns Jahrtausende verwehrt war – endlich haben wir es geschafft. Es gab Anpassungsschwierigkeiten, während denen wir wie normale Menschen leben mußten. Sie sind seit einigen Jahren vorbei. Jetzt benötigen wir eure grobstoffliche Nahrung nicht mehr.« Ein angeekelter Zug legte sich kurz um die grausamen Lippen. »Die Speise, die wir nun zur Erhaltung unserer Energie brauchen, ist unendlich kostbarer.« Er unterbrach sich und bedachte mich mit einem Blick, in dem sich grausame Freude und wölfische Gier zu paaren schienen. »Wir gehören nicht zu den primitiven niederen Vampirwesen – wir nähren uns nicht von Blut wie diese. Unsere Speise ist unvergleichlich anderer Art.« Er hielt einen Augenblick inne. Ich las den Triumph in seinen Augen, als er kurz darauf weitersprach: »Wir verzehren den menschlichen Geistkörper. Er allein spendet uns die Kraft, die wir zu unserer
fortwährenden Regeneration benötigen.« Ich konnte nicht mehr an mich halten und fragte: »Welche Ziele verfolgen Sie?« Einen verschwindenden Augenblick lang glaubte ich Überraschung in seinem Blick zu lesen, bevor er antwortete: »Dein Gehirn ist zu klein, um unsere Ziele zu verstehen. Eines davon will ich dir aber verraten: es ist die Wiedererrichtung der ältesten Stadt dieser Welt – die Wiederherstellung von Acheron.« »Und diese seltsamen Häuser am Fuße des Sees sind der Anfang davon?« Ich bedachte gar nicht mehr, wo ich mich befand und was diese unmenschliche Kreatur mit uns vorhatte. Ich fühlte es: Es würde keine bessere Gelegenheit geben, um die letzten Einzelheiten des teuflischen Plans zu erfahren. Anscheinend war auch dieser Dämonenfürst nicht frei von Eitelkeit. »Du weißt weit mehr über uns als jeder andere Mensch«, sagte der Earl langsam. Sein durchdringender Blick griff nach mir wie eine sengende Flamme. Ich hatte jäh das Empfinden unerträglicher Schmerzen. Einen Augenblick hielt ich es aus, dann begann ich zu schwanken. Schwärze wollte mich umhüllen. Bevor mein Bewußtsein unter der schrecklichen Pein endgültig zusammenbrach, ließ die Bestie ab von mir. Mühsam richtete ich mich aus meiner zusammengesunkenen Haltung wieder auf. Ich fühlte mich naß von kaltem Schweiß. Leises melodisches Lachen drang an meine Ohren. Tork of Kilmarn stand immer noch an der gleichen Stelle. Er musterte mich amüsiert. »Ihr Menschen seid aus keinem harten Holz gemacht«, spöttelte er. »Eine Winzigkeit genügt schon, um euch in die Knie zu zwingen.« Er machte eine ungeduldige Handbewegung. »Aber nun genug des Geschwätzes.« Er wies auf eine der beiden Boxen und sah mich dabei scharf an.
Wie von selbst drehte ich mich um und marschierte in die angegebene Richtung. Als ich innen angelangt war, legte ich mich unaufgefordert auf die Pritsche. Dann hörte ich seine näherkommenden Schritte. Als er dicht vor mir stand und gewiß sein konnte, daß ich ihn sehen mußte, verzerrte sich sein Gesicht zu einer Fratze grenzenloser Grausamkeit. »Wir werden dir nur so viel von deinem geistigen Inhalt lassen, daß es zu einer Tätigkeit als Diener in Acher ausreicht.« Er lachte höhnisch und fügte hinzu: »Wenn ich dich das nächstemal sehe, wirst du eine leere Puppe sein.« Noch einmal ertönte das Lachen, dann wandte er sich um und ging hinaus. *** Kaum hatte sich das unmenschliche Geschöpf entfernt, begann ich fieberhaft zu überlegen. Ich wußte, es konnte nicht lange dauern, bis ich durch irgendeine Prozedur auf mein geistiges Ende vorbereitet wurde. Sandringham hatte sich bereits in dieser ersten Phase befunden, als ich ihn entdeckte. Dabei waren nur wenige Stunden vergangen seit seiner Gefangennahme. Meine Gedanken wurden brutal unterbrochen durch das plötzliche Wiedereinsetzen des Stöhnens und des Heulens auf der anderen Seite. Sie befanden sich wahrscheinlich schon in der zweiten Phase. Ihr Jammern und Klagen war mit Sicherheit aus dem langsamen, aber unerbittlichen Verlust ihres geistigen Wesens heraus zu verstehen. Eile war also dringend geboten. Ich wollte nach meinem Pentagramm greifen, stellte aber zu meinem Entsetzen fest, daß ich wie angeschmiedet auf der Pritsche lag. Ich konnte auch nicht einen einzigen Finger bewegen. Panikstimmung wollte mich wie eine gewaltige Woge überfluten. Nur ein letzter Rest kühler Überlegung stellte sich
als schwacher Damm dem von mir nicht mehr steuerbaren Verhängnis entgegen. Ich fühlte es mit einer geradezu hellsichtigen Klarheit: Gleich würde das Schreckliche Wahrheit werden, mein Verstand sich verwirren, nicht mehr fähig sein des Denkens. Ich nahm das Wenige an Kraft zusammen, das mir noch verblieben war und konzentrierte es auf das Pentagramm. Vor einer knappen Stunde hatte es mir auch geholfen, mich der gedanklichen Kontrolle des Earl zu entziehen. Aber hier benötigte ich eine ungleich größere Menge an psychischer Energie. Ich wußte es: Wenn mein Versuch nicht zum Erfolg führte, dann würde der Damm in mir zusammenbrechen wie faules, brüchiges Holz. Vor Anstrengung trat mir kalter Schweiß aus der Stirnhaut. Aber nichts passierte. Der Anhänger erwärmte sich nicht einmal. Ich hörte auf mit meinen Versuchen. Matt und apathisch lag ich da, von aller Kraft entblößt. Ich bemühte mich, an nichts zu denken, denn jeder Gedanke an die nächsten Stunden würde die Verzweiflung in mir hochlodern lassen wie ein Funke, der auf trockenen Zunder fällt. Doch dieses Mühen war vergeblich. Ich spürte, wie sich das Grauen näherschob, einer giftigen Schlange vergleichbar, die sich auf ihr Opfer zuwindet. Als mich die Woge der Verzweiflung erreicht hatte und über mir zusammenzuschlagen drohte, dachte ich einen bitteren Augenblick lang an MaureenEleonore. Wie mochte es ihr gehen? War sie auch nahe dem Ende? Kaum hatte ich diesen Gedanken gedacht, als wieder jener warme Hauch in meinem Gesicht vorüberstrich, der mir schon einmal heute geholfen hatte. Ich erkannte ihn sofort. Widerwillig entfernte sich die Woge. Ich fühlte meinen Lebensfunken erwachen. Wäre es möglich, daß sie...
Wieder streifte mich der warme Hauch. Er schien mir diesmal intensiver geworden zu sein. Und dann hörte ich ihre Stimme. Es war genau wie bei der Treppe, die ich Sandringham hochschleppte. Sie klang zart, doch ich spürte Stärke und Zuversicht in ihr. »Ich habe dein Pentagramm aktivieren können. Du kannst jetzt die in ihm wohnende psychische Kraft benützen. Ich werde mit meinem das gleiche tun. Schnell, wir müssen uns beeilen. In wenigen Minuten ist der Zeitpunkt der Kontaktaufnahme gekommen. Wenn wir ihn verpassen, sind wir unwiderruflich verloren.« Wie abgeschnitten brach ihre Stimme ab. Ich konzentrierte mich sofort wieder auf den »PsychoAkku«, wie Ronfield den Anhänger scherzhaft zu nennen pflegte. Diesmal war es ganz einfach. Die Erwärmung, ein Zeichen für seine Bereitschaft, gelang auf Anhieb. Sofort war die Schwäche in mir wie weggeblasen. Ein Gefühl der Stärke erfüllte jede Fiber meines Körpers. Um so kräftiger wurde auch der gedankliche Impuls, den ich wieder und wieder in das Pentagramm hineinjagte. Dadurch wurde auch sein »Echo« immer stärker. Ich versuchte, mich von meinem Lager zu erheben. Es gelang mir zwar noch nicht, aber ich hatte deutlich gespürt, daß die geistigen Fesseln, die mich auf diese Liegestatt bannten, sich zu lösen begannen. Endlich war es soweit. Mit einer nochmaligen kraftvollen Anstrengung schaffte ich es. Einen kurzen Augenblick hatte ich das Gefühl von dünnen Schlangen, die ihre Ringe um meinen Körper lösten. Dann war ich frei. Mit schnellen Schritten war ich in der Nachbarbox. Eleonore kam mir schon entgegen und fiel mir in die Arme. Aber sie machte sich sofort wieder los. Ihr Gesicht war sehr erregt. »Es ist soweit! Wir müssen den Kontakt aufnehmen. Die
Kraft des Pentagramms ist aufgebraucht. Es kann uns jetzt nicht mehr helfen. Also los, du weißt, was du zu tun hast?« Ich nickte. Mir war der angstvolle Blick nicht entgangen, den sie auf den Eingang zu der Station geworfen hatte. Anscheinend würde jetzt ein Wettlauf zwischen unserem Vorhaben und der finsteren Horde beginnen, die dies natürlich verhindern wollten. Eleonore hatte sich inzwischen wieder auf die Pritsche gelegt. Ich sah, daß sie sich bereits in tiefer Trance befand. Nun begann meine Aufgabe. Ich faßte sie an beiden Händen und konzentrierte mich völlig auf ihre geistigen Schwingungen. Dabei spürte ich den starken Kraftstrom, der diesen grazilen Körper verließ. Meine Hilfestellung hatte den Sinn, sie von kräftezehrenden negativen Wellenfronten der Umgebung abzuschirmen, um ihre eigene Effektivität zu erhöhen. Und wie notwendig diese Hilfe gerade hier war, merkte ich an der Kraft, die ich aufwenden mußte, um sie abzuschirmen. Ich beobachtete sie sorgfältig. Bis jetzt ging alles nach Plan. Ihr Atem war kaum zu spüren, ein Zeichen dafür, daß ihr Geist den Körper verlassen hatte. Nun kam es darauf an, daß nicht durch hindernde Einflüsse die Kontaktaufnahme verhindert wurde. Es konnte durchaus möglich sein, daß der Earl mit seinen ungeheuerlichen Gedankenkräften eine Art psychisches Netz zu spannen in der Lage war. Ich verscheuchte diese Gedanken. Sie waren unnütz und schadeten überdies. Die Armbanduhr an Eleonores Handgelenk zeigte eine Viertelstunde nach elf. Eigentlich sollte es geklappt haben, dachte ich bei mir. Sie wäre sonst sicher wieder zurückgekommen. Ich horchte auf. Kein Zweifel, Schritte näherten sich. Ein eisiges Gefühl überzog meinen Körper. Nur noch wenige Sekunden würde es dauern, bis sie entdeckten, daß wir uns
befreit hatten. Meine Gedanken fieberten. Sollte alles umsonst gewesen sein? Ich wollte es nicht glauben. Ein schneller Blick in das bleiche Gesicht sagte mir aber, daß ihre Rückkehr auf keinen Fall vor Ablauf der nächsten ein oder zwei Minuten erfolgen würde. Soweit kannte ich mich aus. Ich überlegte krampfhaft. Damit war ein Gelingen unseres Plans unwahrscheinlich, und es galt nun, eine andere Möglichkeit zu finden. Ein bitteres Gefühl stieg in mir hoch. An andere Möglichkeiten zu glauben war purer Selbstbetrug. Jetzt hatten sie uns endgültig. Was sollte uns noch retten können? In meine düsteren Gedanken hinein drang plötzlich eine erregte Stimme. Sie redete in einer Sprache, die ich noch nie gehört hatte. Sie hatte etwas Zischendes an sich. Eine andere Stimme antwortete. Das Zischen wurde zu einem Schrillen. Hastige Schritte näherten sich. Ich hörte einen Aufschrei der Überraschung. Logan stand vor der Box und schaute mich mit fassungslosen Augen an. Ich sah, daß ihn die Tatsache, daß ich frei war, stark mitnahm. Eine Idee schoß blitzschnell durch meinen Kopf. Wenn es mir gelang, ihn nur wenige Augenblicke hinzuhalten... Er hatte von dem wahren Zustand Eleonores keine Ahnung und glaubte sie mit Bestimmtheit immer noch in der Starre. Ich schaute ihn an und rief in drohendem Ton: »Sie stirbt! Unternimm augenblicklich etwas! Was wird dein Gebieter sagen wenn er von ihrem Tod erfährt?« Meine Worte erschütterten Logan nur einen kurzen Augenblick. In seinen Augen zeigte sich Wut über meine Unverschämtheit, ihm derart respektlos Anweisungen zu erteilen. Aber diese Anwandlung ging rasch vorüber. Seine Miene wurde höhnisch und überheblich zugleich. »Daß du dich von den Fesseln freimachen konntest, wird dir nichts helfen. Ein zweites Mal wird es dir nicht gelingen...«
Ich wollte Zeit gewinnen und unterbrach ihn: »Es geht nicht um mich, sondern um diese hier. Wenn sie stirbt...« »Sie stirbt nicht«, schnitt er mir das Wort ab. »Mein Herr kann das verhindern.« Er winkte seinen beiden Helfershelfern, die ihn unterwürfig ansahen. »Schafft ihn wieder in seine Gemächer zurück.« Er machte eine spöttische Verbeugung und hob seine Hand. Ich fühlte, daß mich gleich wieder die schreckliche Lähmung packen würde und rief deshalb mit einer Stimme, die ich selber als sehr heiser empfand: »Laß das! Ich gehe freiwillig.« Gleichzeitig drehte ich mich in seine Richtung, um meinen guten Willen zu zeigen. Dabei streifte mein Blick einen Moment über Eleonores Gesicht. Ihre Lider zuckten schon, sie mußte in den nächsten Sekunden ihre Augen aufschlagen. »So schau doch nur!« rief ich mit einer Stimme, der ich den Ausdruck panischer Angst gab. »Sie ist bereits gestorben – auch dein Herr hat es nicht verhindern können.« Ich fieberte. Ob er auf meine List hereinfiel? Gott sei Dank konnte er nicht meine Gedanken lesen. Bei seinem Herrn und Meister hätte ich so etwas nicht wagen dürfen. Ich fühlte jedenfalls einen Stein von meinem Herzen fallen, als ich die Betroffenheit in seinem Gesicht las. Augenblicklich ließ er seine Hand sinken und war mit drei schnellen Schritten bei der Pritsche. Er beugte sich über Eleonore und betrachtete sie einige Sekunden. Dann richtete er sich wieder auf und schaute mich mit wütenden Augen am »Was fällt dir ein! Du hast mich belogen! Fort mit dir!« Wieder hob er seine Hand. Abermals begann das teuflische Spiel. Jetzt wußte ich nicht mehr weiter. Wenn nicht... Ein jäh aufzuckender blauer Lichtschein stoppte meine beginnende Resignation. Er war von einer derartigen Intensität,
daß ich meine Augen bis auf einen kleinen Spalt schließen mußte. Das Licht strömte aus Eleonores Körper, aus jeder einzelnen Pore schien es herauszuquellen, immer stärker zunehmend, immer reißender werdend. Ihre Augen hatte sie weit geöffnet, sie strahlten in einem unirdischen Feuer. Wie von selbst wanderte mein Blick zu den dämonischen Gestalten hin. Ich konnte kaum noch ihre Körperkonturen feststellen. Sie wurden mehr und mehr von dem sich verdichtenden blauen Licht verhüllt, das sich wie eine lebende Substanz um sie legte. Festgebannt von dieser ungeheuren Manifestation magischer Kraft starrte ich auf das unwirkliche Schauspiel. Das blaue Leuchten hatte sich inzwischen so stark verdichtet, daß es mir fast wie ein massiver blauer Block vorkam. Irgendwelche Laute des Schmerzes hörte ich jedoch nicht. Auch das schreckliche Heulen und Jammern der armen Opfer war völlig verstummt. Anscheinend zeigten die Kräfte, die Eleonore einsetzte, auch hier ihre vernichtende Stärke. Mit Sicherheit verschafften sie ihnen Erleichterung von Schmerzen und Qual. Wieder zuckte ein greller blauer Blitz auf. Einen Augenblick schloß ich meine Augen. Als ich sie wieder öffnete, war der blaue Block verschwunden. Verschwunden waren auch die drei dämonischen Geschöpfe. Verwundert schaute ich an mir herunter. Ich sah meinen Körper von einem zarten blauen Schein umgeben. Bei Eleonore beobachtete ich dieselbe rätselhafte Erscheinung. Ob der Kampf schon entschieden war? Ich glaubte nicht so recht daran. Was wäre wohl gewesen, wenn der Earl dabeigewesen wäre. Mit Sicherheit hätte ein titanischer Kampf stattgefunden. Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter. Eleonore hatte sich erhoben und stand neben mir. Ich sah sie an. Trotz des
eben errungenen Sieges über die drei dämonischen Kreaturen bemerkte ich den sorgenvollen Ausdruck in ihrem Gesicht. Eigenartig, dachte ich. Erst vor wenigen Minuten hatten wir das Ende unserer geistigen Existenz fürchten müssen. Wie Puppen ohne Inhalt – ausgesaugt von vampirischen Dämonen – wären wir gewesen. Ihre willenlosen Diener in einem Gemeinwesen, das sie voller Hochmut Acher nannten. Zu alter dämonischer Herrlichkeit sollte sie erwachen, diese Nachfolgerin einer im Staub der Jahrtausende vergangenen Stadt. Doch trotz unserer Befreiung konnte ich mich noch nicht so recht freuen. Auch Eleonore schien es so zu gehen. Wir wußten es beide: Solange Tork of Kilmarn nicht besiegt war, solange konnten wir nicht triumphieren. *** »Laß uns versuchen, Sandringham zu befreien«, sagte Eleonore leise. Wir standen vor seiner Pritsche. Er lag dort in der gleichen Haltung, in der ich ihn schon einmal angetroffen hatte. Noch nicht einmal ein Tag war seitdem vergangen. Mir schien es wie eine Ewigkeit. »Aber wie sollen wir ihn aus seiner Starre lösen?« Ich sah fragend auf Eleonore. Ohne den Zerstäuber kam ich mir im Hinblick auf dieses Vorhaben ziemlich hilflos vor. Sie lächelte mich an. »Wir haben jetzt eine andere Möglichkeit.« Voller Spannung verfolgte ich ihr weiteres Handeln. Sie setzte sich auf den kargen Holzrost. Fast eine Minute schaute sie nur auf den Liegenden. Dann legte sie ihm beide Hände so auf die Stirn, daß die Finger auf die Schläfenwurzeln zu liegen kamen. Sie schloß ihre Augen. Wieder vergingen lange Sekunden, in denen ich keine
Veränderung im Zustand Sandringhams wahrnehmen konnte. Meine Spannung wuchs. Wieder mußte ich an einen blauen Strom denken, als sich der blaue Schein um Eleonore verdichtete und im Körper des Mannes verschwand. Es sah wirklich aus wie eine fließende Substanz, die den Körper der Frau zur Quelle hatte. Der Erfolg der Behandlung war gänzlich anderer Art als die von mir durchgeführte. Diesmal gab es kein Zucken und Aufbäumen. Hier gab es im Gegensatz dazu ein geradezu normales Erwachen. Langsam schoben sich die Lider nach oben, die Augen darunter zeigten nur einen Moment Verwirrung und Angst. Dann wich dieser Ausdruck – Freude und Dankbarkeit Platz machend. Als er sprach, wirkte seine Stimme zwar belegt, aber durchaus nicht schwach. »Diese Bestien hatten mich bereits geschnappt, als ich erst wenige Schritte vom Schloß entfernt war«, berichtete er über den Versuch seiner Flucht. »Sie haben mich gleich hierher zurückgebracht.« Das blasse Gesicht wurde nachdenklich. »Bis dahin kann ich mich erinnern. Weiter weiß ich nichts. Anscheinend habe ich tief und traumlos geschlafen.« Eleonore lächelte ihn an. »Das ist nicht der Fall. Ich habe nur die Erinnerung an Ihre Traumerlebnisse gelöscht, um Ihnen einen psychischen Schock beim Erwachen zu ersparen.« Sandringham sah sie fassungslos an. Bevor er aber eine Frage stellen konnte, winkte Eleonore ab. »Dazu haben wir im Augenblick keine Zeit. Wir müssen uns beeilen.« Sie schaute auf die Uhr. Ich sah, daß sie erschrak. »Was ist?« fragte sie. »Ich kann den psychischen Kontakt nur noch eine Stunde aufrechterhalten«, gab sie mir zur Antwort. »Das ist die äußerste Zeitspanne. Die Menschen, die uns bis jetzt geholfen
haben, sind dann an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angelangt. Eine weitere Belastung könnte ihnen schwere seelische Schäden verursachen. Auch der blaue Stein würde aller Voraussicht nach überfordert werden.« »Der blaue Stein... Was für ein blauer Stein?« fragte ich verblüfft. Sie winkte hastig ab. Ein flehender Blick traf mich. »Nicht jetzt«, flüsterte sie. Ich nickte ihr beruhigend zu. Selbstverständlich hatte die Beantwortung meiner Frage Zeit. In der nächsten Stunde würde es für uns buchstäblich um die nackte Existenz gehen. *** »Und wie soll es nun weitergehen?« fragte ich Eleonore. Ich akzeptierte ohne weiteres ihre Führungsrolle. Es war ja auch gar nicht anders denkbar. Schließlich war sie die Trägerin der Kontaktenergie, die uns bis zu diesem Augenblick vor der geistigen Auflösung beschützt hatte. Nur sie konnte diese geheimnisvolle Kraft steuern. Deshalb mußte sie auch die Führung übernehmen. Sie warf mir einen dankbaren Blick zu. Anscheinend kannte sie meine Gedanken. Nette Aussichten waren das für später. »Wir müssen ihn sofort aufsuchen.« »Ihn aufsuchen...«, echote ich verständnislos. »Ja, das müssen wir«, sprach sie geduldig weiter. »Wenn die Stunde vorüber ist, haben wir keine Chance mehr gegen ihn.« Ich ärgerte mich über meine Begriffsstutzigkeit. Aber ich stellte rasch noch eine Frage: »Was ist mit Sandringham?« »Er wird uns begleiten. Helfen kann er uns bei der geistigen Auseinandersetzung nicht. Aber durch sein Dabeisein kann der Earl vielleicht ein klein wenig abgelenkt werden. Auch das
würde schon sehr viel helfen.« Bevor wir diese unterirdische Stätte des Grauens verließen, warf ich unwillkürlich noch einen Blick auf eines der bedauernswerten Opfer. Verblüfft beugte ich mich vor. Hatte mich ein Trugbild genarrt? Eben war mir so gewesen, als ob ein Zucken über das Gesicht gelaufen wäre. Ich spürte es: Hier unten hatte sich irgend etwas geändert. Auch die schrecklichen Laute waren seit dem Augenblick der Vernichtung der Dämonen verstummt. Für den Weg nach oben brauchten wir nur wenige Minuten. Es war auch höchste Zeit. Wir durften keine Sekunde mehr verschenken. Als wir das Kaminzimmer verließen und durch die Rezeption auf die Treppe zueilten, die zu den Privaträumen des Earls führten, sah ich keinen einzigen Menschen. Alles machte den Eindruck der Verlassenheit. Auch nicht das leiseste Geräusch kündete von der Tätigkeit geschäftiger Menschen. »Sie sind alle oben«, sagte Eleonore. »Ihr Herr hat sie um sich versammelt.« »Ob er Bescheid weiß um das, was unten passiert ist?« »Sicher«, erwiderte Eleonore mit Bestimmtheit. »Aus diesem Grund hat er alle nach oben befohlen. Auch er will sein Potential verstärken.« Die Wendeltreppe zog sich schier endlos nach oben. Wir hatten den Lift aus einleuchtenden Gründen nicht benützen wollen. Der dicke rote Läufer verschluckte das Geräusch unserer Tritte fast vollständig. Ein hohes Portal aus vor Alter schwarzgewordenem Eichenholz bildete den Abschluß der Wendeltreppe. An der Tür hing ein schwerer Bronzeklopfer. Es war eine künstlerisch hervorragende Arbeit. Der geschuppte Leib eines geflügelten Drachen wirkte so täuschend ähnlich – die gelbgesprenkelten Topasaugen waren so lebensecht –, daß ein schwaches Gemüt sicher gezögert hätte, den Klopfer in die Hand zu nehmen.
Ich will es nicht beschönigen – auch ich hatte ein seltsames Gefühl, als ich ihn anfaßte. Eigentlich mußte das Metall sich wesentlich kühler anfühlen. Doch dann erfaßte mich Ärger über diese Regung. Ich hob die metallische Drachenfigur bis zum Anschlag hoch und ließ sie erst dann wieder los. Der dumpfe Ton beim Aufprall dröhnte lange nach. Hoffentlich läutete er das Ende der Bestie ein, die uns hinter drin Portal erwartete. »Wieviel Zeit haben wir noch?« fragte ich Eleonore hastig. »Noch eine gute halbe Stunde.« Als ich sie bei meiner Frage anblickte, zeigte sich mir ein Gesicht, in dem die Augen in einem grünen Feuer zu leuchten schienen. Auch unsere seltsame Rüstung – das zarte blaue Licht, das uns überall umgab – geriet in ein wallendes Pulsieren. Schon jetzt begann das geistige Vorgeplänkel. Lautlos öffnete sich das Portal. Als es aufschwang, sahen wir einen breiten Gang, in dem ein unwirklich rotes Licht herrschte. Er sah aus wie in rote Glut getaucht. Der Gang mochte eine Länge von ungefähr zehn Metern aufweisen. An seinem Ende befand sich wieder eine Tür. Sie hatte das gleiche Aussehen wie die, die wir eben durchschritten hatten. »Ich rieche es förmlich, der Gang ist nicht ungefährlich«, sagte Eleonore leise. »Wir müssen aufpassen.« Wir nahmen Sandringham in die Mitte. Er hatte seit seiner Befreiung kein Wort mehr über die Lippen gebracht. Sein Gesicht war kalkigweiß. Vorsichtig gingen wir durch die Tür. Ich ging zuerst hinein. Ich kam fast bis zur Mitte. Schon waren meine Gedanken bei der gegenüberliegenden Tür, als das Ereignis eintrat, das uns unser Unterbewußtsein von Sekunde zu Sekunde schriller signalisiert hatte. Die Drachenfiguren an den beiden Gangwänden wurden
plötzlich lebendig. Aus den riesigen Goldrahmen züngelten gifttriefende Reptilienmäuler und schnappten nach uns. Neben mir schrie Sandringham gellend auf. Er wollte fortlaufen. Ich packte ihn, brüllte ihn an und riß ihn wieder an seinen Platz in unserer Mitte zurück. »Nein!« rief Eleonore. »Er muß zurück! Das kann er nicht durchhalten!« Ich sah, wie der Türflügel sich hinter uns zu bewegen begann. Ohne lange nachzudenken, packte ich Sandringham mit beiden Händen und warf ihn mit einem mächtigen Schwung nach draußen. Seinen Aufprall konnte ich nicht mehr erkennen – mit einem schmetternden Schlag schlug die Tür wieder ins Schloß. Die grausigen Ungeheuer an den Wänden schienen über diese gelungene Tat in noch größere Wut zu geraten. Wir fühlten uns wie von einem rasenden Inferno eingehüllt. Doch tun konnten sie uns nichts. Jedesmal, wenn sie uns zu nahe kamen, schoß ein blauer Blitz auf sie zu, der den Kopf, die Klauen oder was es sonst war, in blendendem Feuer zu Asche verbrannte. Trotzdem wurde unser Vorwärtskommen behindert. Ich erfaßte die Strategie des verfluchten Höllenhundes vor uns. Jede Behinderung verschaffte ihm einen Zeitgewinn. Er konnte sich triumphierend ausrechnen, wann wir ihm hilflos ausgeliefert sein würden. Endlich hatten wir die nächste Tür erreicht. Wir atmeten hastig. Im Gang roch es infernalisch nach verbranntem Fleisch. Schwarze Asche bedeckte den Boden. Aber von den gräßlichen archaischen Geschöpfen war nichts mehr zu sehen. Nur ihre in den Rahmen hängenden unversehrten Abbilder glotzten uns bösartig an. »Schneller!« rief Eleonore mit atemloser Stimme. »Wir haben nicht mehr viel Zeit.«
Voller Besorgnis sah ich in ihren Augen einen Ausdruck, der mir gar nicht gefiel. Erster Anflug beginnender Verzweiflung, dachte ich erschüttert. Heiße, tobende Wut durchpulste mich plötzlich. Was hatte dieses tapfere Geschöpf in den letzten Stunden nicht alles geleistet. Sollte der Dämon wirklich die Oberhand behalten? Wieder betätigte ich den Klopfer. Er hatte ein ähnliches Aussehen wie der erste. Mit einem Schwung ließ ich ihn fallen. Der dumpfe hallende Ton beim Aufschlag war kaum verklungen, als sich auch diese Tür öffnete. Meinem Mund entfuhr ein irres Stöhnen, als ich wieder einen Gang erkannte. Er unterschied sich kaum von dem, den wir eben durchschritten hatten. Ohne lange zu überlegen, packte ich Eleonore, schwang sie hoch und legte sie mir über die Schulter. Dann warf ich mich mit einem Satz durch die Tür, der einem Tiger Ehre gemacht hätte. Kaum war ich drinnen, glaubte ich, in einen zähen Brei gefallen zu sein. Wie sehr ich mich auch anstrengte – ich kam nur zentimeterweise voran. Meine Augen konnten nichts erkennen, aber trotzdem spürte ich die klebrige Masse überall an mir haften, bestrebt, mir das Weiterkommen so schwer wie möglich zumachen. Zu zweit wäre es noch zeitaufwendiger geworden. Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis wir auch dieses Hindernis bewältigt hatten und vor der nächsten Tür standen. Ich atmete schwer, als ich Eleonore wieder vorsichtig auf den Boden stellte. Ich mußte schlucken, als ich sie fragte, wieviel Minuten uns noch blieben. »Nur noch acht«, antwortete sie mit brüchiger Stimme. »Wahrscheinlich sind es noch weniger, denn die Beanspruchung während unseres Durchgangs durch die
Drachengalerie hat viel Kraft gekostet. Ich erwarte jeden Augenblick ein Zusammenbrechen unseres Schutzschildes. Aber sieh selber...« Sie deutete auf sich und sah mich dann mit einem Blick an, der mir ihre völlige Hoffnungslosigkeit verriet. Ich erkannte gleich die Quelle ihrer Verzweiflung. Das blaue Licht sah nicht mehr stabil aus. Es zuckte vielmehr unruhig hin und her, verlöschte an einigen Stellen des Körpers ganz, flackerte schließlich wieder auf und machte dabei den Eindruck, als ob es jeden Augenblick erlöschen würde. Bei diesem Anblick, der einem endgültigen Urteil glich, stieß ich einen scharfen Atemzug aus. Selbstverständlich wußte ich sofort, was das Ausbleiben der Kontaktenergie für uns bedeutete. »Sind denn keine Ersatzpersonen vorhanden, die in die Bresche springen könnten?« Sie schüttelte mutlos den Kopf. »Nein, es gibt keine. Nur wenige sind dazu geeignet. Und selbst wenn es sie gäbe, würde uns das nichts helfen. Der blaue Stein – ein Kristall, der psychische Kräfte bündeln und dabei wie eine Art Richtstrahler wirken kann – muß auf jeden Teilnehmer zuerst abgestimmt werden. Diese Prozedur ist sehr langwierig.« Sie schwieg. Ich fühlte, daß sie völlig ausgebrannt war. In diesem verzweifelten Augenblick wurde die unheilvolle Stille durch jene höhnische Stimme unterbrochen, die ich in den letzten zwei Tagen nur allzugut kennengelernt hatte. »Nun seid ihr endgültig am Ende angelangt. Ich muß zugeben, daß eure Gegenwehr die härteste war, die ich während meiner langen Reihe von Existenzen erlebt habe. Aber diese Erkenntnis wird euch nichts nützen. Für mich ist sie jedoch sehr wertvoll. Die hohe geistige Kraft, die in euch beiden ruht, ist derart stark, daß ich sie für mich reservieren werde.« Er unterbrach sich mit einem Lachen satter
Befriedigung und fuhr dann fort: »Laßt euch dies zur Ehre gereichen und nun – kommt herein!« Langsam schwang das Portal nach innen zurück. Ich mußte einen Augenblick die Augen schließen vor dem grellen roten Licht, das Eleonore und mich jäh überfiel. Leise, puffende Geräusche ließen mich die Augen wieder öffnen. Was ich sah, war jedoch nicht geeignet, meine Zuversicht zu steigern. Unser Schutzschild bestand nicht mehr. Der blaue Energiemantel war buchstäblich zerplatzt. Wir waren dem grausamen Unhold vor uns auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Der Raum, in dem wir beide standen, hatte ein wildes, zum Teil sogar barbarisches Aussehen. Der Marmorboden war mit Fellen von Tieren bedeckt, von denen ich auch nicht die geringste Vorstellung besaß. Und erst das Mobiliar: Sein Aussehen war derart fremdartig, daß ich mir mit dem besten Willen keinen Reim über den Verwendungszweck der seltsam verboten aussehenden Stücke machen konnte. An den Wänden hingen neben obszönen Darstellungen präparierte Tierköpfe und magische Symbole. Im Hintergrund sah ich eine breite Liegestatt, ebenfalls mit weichen Fellen bedeckt. Darüber hing eine runde Scheibe, die einen Durchmesser von einem knappen halben Meter haben mochte. Sie war von einer derartigen Schwärze, wie ich sie noch nie geschaut hatte. So schwarz konnte noch nicht einmal das Dunkel zwischen den Sternen sein. In der Mitte der Scheibe glühte ein riesiger Rubin wie ein drohendes düsteres Auge. Ich empfand die unheilvolle Wellenfront, die von diesem magischen Symbol ausging. Nur um ein solches konnte es sich handeln. Meine Augen glitten über die Wesen hinweg, die sich hier versammelt hatten. Das gesamte dämonische Pack stand vor mir. Eine unbeschreiblich bösartige Aura ging von ihm aus. Ekel erfüllte mich über die gierigen Blicke, die an unseren
Körpern herunterglitten und sie taxierten. Aber das alles wurde durch meine nächste Entdeckung weit in den Schatten gestellt: Aus der Menge der etwa zwanzig Kreaturen lösten sich drei, die mir nur allzugut bekannt waren. Neben mir hörte ich einen erstickten Aufschrei. Eleonore hatte ihn ausgestoßen. Auch sie starrte mit geweiteten Augen, in deren Tiefe Entsetzen und Nichtverstehen zu erkennen waren, auf Logan, der uns höhnisch ansah. Zuerst glaubte ich, von einem Trugbild genarrt zu werden. Ich schloß meine Augen für kurze Sekunden und öffnete sie dann wieder. Doch Logan stand immer noch da. Neben ihm erkannte ich seine beiden Spießgesellen. Der unglaubliche Anblick raubte mir fast den Verstand. Ich hatte diese drei doch deutlich in dem Block aus blauem Licht vergehen sehen. Und doch standen sie jetzt hier – völlig unversehrt. Wie magnetisch angezogen wanderte mein Blick zu dem Earl. Welche gewaltige Macht mußte dieses Ungeheuer in seinen Händen haben, um so etwas tun zu können. Neben mir hörte ich einen leisen Seufzer von Maureen-Eleonore. Auch sie mußte erkannt haben, daß wir diesem dämonischen Oberhaupt selbst mir einer wesentlich stärkeren Kontaktenergie nicht beigekommen wären. Eine schreckliche Entdeckung, festzustellen, daß er seit dem Augenblick, als er die unterirdische Station verließ, mit uns gespielt hatte. Es mußte ihm eine satanische Freude bereitet haben, unseren Kampf zu beobachten und die Blume der Hoffnung in uns aufblühen zu sehen. Aber so ein Geschöpf war bis in die letzten Fasern seines Seins zutiefst sadistisch. Es war wie das Spiel der Katze mit der Maus. Ein schneller Verlust unserer geistigen Potenz – gleichbedeutend mit dem Verlust unserer Persönlichkeit – hätte ihm dieses teuflische Vergnügen nicht bescheren können. »Deine Analyse stimmt«, rief der Earl mit volltönender Stimme. »Ich hätte den Vorgängen unten sofort Einhalt
gebieten können. Daß Logan und seine beiden Helfer urplötzlich verschwanden, war mein Werk. Ihnen drohte tatsächlich die Vernichtung durch die Energie, die ihr zur Anwendung brachtet. Aber es war mir ein leichtes, sie dem blauen Licht zu entreißen.« Er schaute mich lächelnd an. »Du kannst es mir glauben, selten hat mir etwas so viel Spaß gemacht wie dieses Schauspiel, das ich in vollen Zügen genoß. Jetzt seid ihr wohl auch endlich davon überzeugt, daß es für die, die in meine Hände gefallen sind, kein Entrinnen mehr gibt. Ich kann dir versichern, daß ihr...« Abrupt unterbrach er sich. In seinem Gesicht zeigte sich der Ausdruck ungläubigen Erstaunens. Ich beobachtete ihn aufmerksam. Was wohl passiert sein mochte? Eine wilde, durch nichts begründete Hoffnung schoß in mir hoch wie eine heiße Flamme. Sein Blick zuckte zu mir herüber. Ich sah den abgrundtiefen Spott in seinen Augen und stöhnte unwillkürlich auf. Ich konnte nicht mehr verhindern, daß er in meinen Gedanken las wie in einem offenen Buch. Das Pentagramm hatte seine psychische Kraft verloren, es konnte mir daher nicht mehr helfen. Und dann hörte ich den näherkommenden Lärm, der schnell zu einem wahren Getöse anschwoll. Das Gesicht des Earls veränderte sich jäh zu einer Fratze hemmungsloser Wut. Aus seinen glühenden Augen schossen Blitze. Mit zischenden Lauten, die ich nicht verstand, gab er Anweisungen. Sein Gefolge erstarrte zu unnatürlicher Ruhe. Aber es war eine Ruhe, in die Verderben eingefaltet ist. Auch Tork of Kilmarn stand regungslos, einer meisterhaft gearbeiteten Statue ähnelnd. Draußen barst und krachte es, ein reißendes Splittern ertönte, und das Portal brach auseinander wie morsches Holz.
Ich drehte mich um, gleichzeitig bemüht, keine Gedanken aufkommen zu lassen. Was ich sah, war dermaßen gespenstisch, daß ich nach Luft schnappen mußte. Im Eingang drängten sich jene Geschöpfe, die zu den Opfern des Earls und seiner Bande gehörten. Die meisten ähnelten in ihrem starren, leblos wirkenden Gesichtsausdruck sowie ihrer Haltung dem Mann, den Eleonore und ich in der Stadt bemerkt hatten. Und was die anderen anbetraf – mir quollen fast die Augen aus den Höhlen, als ich einige davon erkannte. Sie hatten noch vor einer guten Stunde in ihren Boxen gelegen. Mir fiel die Veränderung ein, die ich vor dem Verlassen des Saales dumpf und unbestimmt empfunden hatte. Trotzdem begriff ich nicht, welches Ereignis imstande gewesen war, diesen versklavten Wesen den Impuls zu ihrem Amoklauf zu vermitteln. Mir war auch ein Rätsel, wie sie durch die Drachengalerie gekommen waren. Es sah schaurig aus, wie sie sich nach vorn schoben, hin zu dem Punkt, wo mit bösem Lächeln der Earl wartete. Anscheinend fühlte er sich völlig sicher, obwohl ich vorher in seinem Gesicht maßlose Überraschung erkannt hatte. Irgendwie tröstete mich der Gedanke, daß auch seine Macht verwundbar war. Der Gestank von verbranntem Fleisch drang von draußen herein und verursachte mir Brechreiz. Wahrscheinlich hatten sie die zwei Vorräume nur unter größten Opfern passieren können. Doch es gab ja genug von ihnen. An die zweitausend Diener mußten Acher mittlerweile bevölkern. Selbst wenn neunzig Prozent ihr Automatendasein beim Sturm auf das Schloß verloren hatten, blieben immer noch zweihundert übrig. Angeführt wurden die Diener von den Personen, die zur Vorbereitung auf ihre spätere Aufgabe in der Station gelegen hatten. Ihre Gesichter zeigten nicht mehr den erschreckenden leeren Ausdruck, sondern einen dermaßen mörderischen Haß,
daß es mir kalt den Rücken herunterlief. Welche geheimnisvolle Kraft mochte es wohl gewesen sein, die nicht nur ihr Bewußtsein, sondern auch das Feuer der Rache in ihnen entfacht hatte? Ich blickte zu Eleonore hin. Ihr Gesicht trug einen angespannten Ausdruck. Sie schien in sich hineinzuhorchen. Mit wem sie wohl in gedanklicher Verbindung stand? Siedendheiß fiel mir ein, daß es mir unmöglich war, meine Gedanken vor den geistigen Fühlern des Earls abzuschirmen. Ich schaute zu ihm hin. Aber er machte nicht den Eindruck, als ob er mich abgehört hätte. Sein Geist war jetzt mit anderen Dingen beschäftigt. Die unwirklich erscheinende Szenerie war inzwischen in ein neues Stadium getreten. Auf der einen Seite des saalartigen Raumes standen – gedrängt und zusammengepreßt – die Eindringlinge. Einige waren uns so nahe, daß wir sie mit den Händen greifen konnten. Aber sie beachteten uns nicht. Ihnen gegenüber – nur an die fünf Meter entfernt – stand der Earl mit seinem Gefolge. Immer noch wirkten sie wie Standbilder in ihrer starren Ruhe. Doch der Abstand zwischen ihnen verringerte sich langsam. Die Szene wirkte um so gespenstischer, als kein Laut zu hören war. Das kleine Heer der Angreifer – die starren Gesichter der Diener bildeten allein schon einen makabren Gegensatz zu dem mörderischen Haß und der Wut in den Augen ihrer Anführer – schob sich mit abgehackt wirkenden Bewegungen weiter, auf die regungslosen Gestalten zu. Ich wunderte mich, daß sich der Earl bis zu diesem Augenblick völlig passiv verhalten hatte. Ob ihm die geistige Kontrolle entglitten war? Trotzdem hätte er es doch so weit nicht kommen lassen müssen. Ich fühlte den leichten Druck einer kleinen Hand auf meinem Oberarm. Ich wußte sofort, daß es Maureen-Eleonore
war. Was sie nur wollte? Sprechen konnte sie auf gar keinen Fall. Bei dieser Stille würde selbst das leiseste Flüstern wie ein Trompetenschall wirken. Sprechen – überlegte ich nachdenklich... Sprechen braucht sie doch gar nicht. Vielleicht wählt sie eine andere Art der Kommunikation. Und genauso war es auch. Als ich in mich hineinhorchte, »hörte« ich sie. »Es wird einen kurzen Tumult geben. Vielleicht können wir während des Durcheinanders fliehen. Der Earl hat im Augenblick keine Zeit, uns zu überwachen...« Ihre »Stimme« brach ab. Nur der leichte Druck ihrer Hand verstärkte sich kurz. Ich nickte unmerklich zum Zeichen, daß ich sie verstanden hatte. Dann wanderte mein Blick wieder zurück, hin zu der Stelle, wo sich bald Entscheidendes ereignen mußte. Wie von selbst richteten sich meine Augen auf den Earl. Im gleichen Augenblick sah ich in den seinen einen Blitz aufspringen. Er hob seine Arme und streckte die gespreizten Finger den Angreifern entgegen. Grellrotes Licht strömte aus den Fingerkuppen. Wo es einen Körper traf, gab es ein zischendes Geräusch. Wie von einer schrecklichen Sense niedergemäht, fielen die Leiber auf den Boden. Doch so schnell sie auch stürzten, der Druck von hinten wurde so stark, daß die menschliche Flut für kurze Augenblicke über der Dämonenschar zusammenbrach. Es schien sie nicht zu kümmern, daß sie auch nicht die geringste Aussicht hatten, ihre Peiniger zu überwinden. Mit bloßen Händen gingen sie auf sie los. Maureen-Eleonore riß mich aus dem Bann, der mich beim Anblick des dramatischen Geschehens befallen hatte. »Schnell! Komm! Gleich ist es zu spät!« Wir bückten uns und rannten hinaus. Niemand hinderte uns. Diesmal war der Weg bis zur Wendeltreppe leicht. Wir durchquerten den Gang, der uns vorher wie mit einer zähen
Masse angefüllt vorgekommen war. Wir spürten nichts davon. Nur der Drachengalerie sah man an, daß hier ein schrecklicher Kampf stattgefunden hatte. Wir mußten buchstäblich über die toten Leiber drübersteigen. Es war ein ekelhafter und auch deprimierender Anblick. Doch auch das, was in den dicken Goldrahmen sich an Verderblichem befunden hatte, existierte nicht mehr. Sie waren leer. Weiß Gott, wie sie das nur geschafft haben, dachte ich beim Durchlaufen. Mit langen Sätzen, mehrere Stufen auf einmal nehmend, liefen wir hinunter. Auf dem mittleren Treppenabsatz fanden wir Sandringham. Er saß zusammengekauert dort und hatte den Kopf in beide Hände vergraben. Ohne viel Geschichten mit ihm zu machen, riß ich ihn hoch und schleppte den zitternden Mann mit nach unten. Unbewußt atmete ich auf, als ich im Freien stand und mich frische Luft umwehte. Maureen – ich will sie jetzt wieder so nennen – schaute mich fragend an. »Wohin sollen wir?« »Ich muß noch einmal hinein«, antwortete ich geistesabwesend. »Warum?« fragte sie. »Im Schloß hat er es viel leichter.« »Ich muß mein ›Besteck‹ holen. Es bietet wenigstens einen kleinen Schutz. Deines bringe ich auch mit.« Ich dachte kurz nach. »Und Lebensmittel werde ich auch besorgen.« Ich wies auf die kleine Buchengruppe am Rand des Sees hin, deren Astspitzen sich im Morgengrauen dunkel abzeichneten. »Wartet dort auf mich. Es wird nicht lange dauern.« Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte ich mich um und ging erneut hinein. Eines war mir mittlerweile klar geworden: Von jetzt ab mußte ich wieder die Führung übernehmen. Die Last würde größtenteils auf mir ruhen. Aber wenn meine Vermutung
stimmte, dann waren unsere Chancen trotz aller Rückschläge, die wir bisher erleiden mußten, nicht einmal schlecht. Ich war gespannt, was Maureen später von meiner Idee halten würde. Auf dem Weg nach oben begegnete mir ein einziges Bild der Zerstörung. Ich sah buchstäblich keinen heilen Gegenstand mehr. Überall lag zerstörtes Mobiliar umher. Die Rezeption war nicht wiederzuerkennen. Als ob eine Riesenfaust hineingeschlagen hätte, fuhr es mir durch den Kopf. Mir war klar, wer für diesen Vandalismus verantwortlich war. Sie hatten zuerst hier unten gehaust, bevor sie nach oben stürmten. Maureen und ich mußten ihnen sehr dankbar sein. Ohne ihr Eingreifen wären wir jetzt chancenlos. In Maureens Zimmer raffte ich die Dinge auf, die mir wichtig erschienen. Anschließend rannte ich wieder nach unten. Aus der Hotelküche einen Korb voller Nahrungsmittel besorgen war das Werk einer Minute. Doch jetzt hieß es verschwinden. Mein Leichtsinn begann allmählich in Tollkühnheit auszuarten. Bevor ich wieder nach draußen ging, horchte ich einige Sekunden. Ich hörte nichts. Kein noch so kleines Geräusch störte die tiefe Ruhe. Was sich wohl in diesem Augenblick oben abspielte? Ich konnte es mir ungefähr denken. Sicherlich hatte der Earl den Aufstand seiner Diener blutig niedergeschlagen. Ob er uns schon vermißte? Nun, das mochte sein. Aber er war sich unser so sicher, daß ihm diese kleine Verzögerung nichts ausmachte. Vielleicht war sogar das Gegenteil der Fall – vielleicht schätzte er das erneute Katz- und Mausspiel. Der Ausgang war zwar für ihn nicht zweifelhaft, aber immerhin, es verschaffte ihm Abwechslung. Mit diesen Gedanken versuchte ich meine Sorgen wenigstens für den Augenblick zu vergessen. Kurz darauf war ich an der vereinbarten Stelle. Maureen und Sandringham waren schon da. Sie bibberten
vor Kälte. Wann war es auch im düsteren schottischen Norden einmal warm? Man konnte diese Tage innerhalb eines Jahres fast an den Fingern abzählen. Ich breitete meine Kostbarkeiten vor ihnen aus. »Wichtigstes Mitbringsel sind unsere ›Bestecke‹. Ich denke, daß sie meinem Plan nützen werden.« »Welchem Plan?« fragte Maureen mit plötzlich angespanntem Gesicht. »Ist dir während unserer Abwesenheit oben nichts aufgefallen?« fragte ich sie harmlos. »Zu welchem Zeitpunkt?« »Kurz bevor der Earl seine roten Blitze schleuderte.« Sie überlegte angestrengt. Um ihren Denkprozeß abzukürzen, gab ich ihr einen weiteren Hinweis. »Hast du die schwarze Scheibe hinter dem Earl nicht beobachtet?« Sie sah mich ratlos an. »Nein – so genau auch wieder nicht. Ich halte sie für ein magisches Symbol. Aber sonst...« Sie hob ihre Schultern und schüttelte den Kopf. »Dann laß dir erzählen. Hör bitte genau zu und konzentriere dich. Es kommt auf jede Kleinigkeit an. Es darf uns keine Einzelheit verlorengehen. Prüfe anschließend sorgfältig.« Auch ich konzentrierte mich. Mein Bericht mußte haargenau mit dem Erlebten übereinstimmen. »Du erinnerst dich an das Eindringen der Diener und der anderen?« Sie nickte bejahend. »Hast du dir keine Gedanken darüber gemacht, warum Tork nicht sofort mit ihnen Schluß gemacht hat?« In ihren grünen Augen blitzte es auf. »Ja!« sagte sie mit lebhafter Stimme. »Das war überhaupt mein erster Gedanke,
nachdem sie in den Raum strömten.« Sie sah mich verwundert an. »Aber was willst du damit sagen?« »Er konnte es in diesem Augenblick nicht«, erwiderte ich triumphierend. »Aus irgendwelchen Gründen konnte er zu diesem Zeitpunkt nicht über das vernichtende rote Licht verfügen.« Ich sah die Skepsis in ihren Augen und beschloß, meinen letzten Trumpf auszuspielen. »Hast du ihn dir angesehen, bevor er mit der Vernichtung der Eindringlinge begann?« Sie sah mich verständnislos an. »Ich weiß nicht, was du meinst?« »Ich meine, ob du in seinem Gesicht irgendeine blitzartige Veränderung bemerkt hast, kurz bevor aus seinen Händen das Licht herausbrach?« Ich sah ihr an, daß sie sich anstrengte, um die Erinnerung an diesen Zeitpunkt in ihrem Gehirn wieder bewußt zu machen. Schon wollte ich weitersprechen, als es in ihren Augen aufblitzte. »Nun?« fragte ich gespannt. »Vielleicht ist es das, was du meinst«, gab sie mit zögernder Stimme zur Antwort. »Ich sah plötzlich in seinen Augen ein grelles Licht. Und...?« Sie stockte. »Und?« faßte ich in fiebernder Erregung nach. »Mir kam es so vor, als ob es zur gleichen Zeit irgendwo rot aufgeleuchtet hätte«, sagte sie langsam. Ich atmete tief auf und sagte eindringlich: »Überlege gut, war es nicht der rote Rubin in der Mitte der schwarzen Scheibe?« Ihre Augen leuchteten auf. »Ja! Wirklich, du hast recht! Jetzt erinnere ich mich genau. Als ob Leben in ihm wohnte. Er war es, der rot aufglühte.« »Und erst dann stand dem Earl die Kraft, die seinen Fingern
entströmte, zur Verfügung.« Maureen schaute mich forschend an. »Aber ich verstehe trotzdem nicht, welche Bedeutung das für uns haben kann.« »Eine größere, als du denkst. Es kann nämlich unsere Freiheit und darüber hinaus sogar das Ende des ganzen Dämonengesindels bedeuten.« Diesmal sah ich ihr an, daß in ihrem Kopf nicht nur ein Licht, sondern eine ganze Lichterkette aufleuchtete. »Du meinst, daß sich in diesem Schild ein Kraftpol befindet?« Ihre Stimme klang atemlos. »Ja. Es kann einfach nicht anders sein. In ihm ist alles das an düsterer Kraft konzentriert, was das dämonische Zeitalter in grauer Vergangenheit besessen hat...« »Kraft, die der Earl bei seiner nunmehr körperlichen Existenz dringend benötigt, um unbesiegbar zu sein«, unterbrach sie mich. »Das ist ein unbedingter Nachteil für Dämonen, die mit ihrer Geistgestalt nicht zufrieden sind und deshalb einen Körper bewohnen wollen.« Ich lachte und zog sie an mich. »Körperlich zu sein, ist doch schön, nicht wahr?« Eine leichte Röte stieg in ihr Gesicht Sie war einen Moment verwirrt. Ich war gerührt über diese Reaktion und gewann sie nur noch lieber. *** Während wir uns etwas von den Nahrungsmitteln einverleibten, hing jeder seinen Gedanken nach. Auch Sandringham war still. Ich konnte mich fast schon nicht mehr daran erinnern, wann ich ihn das letztemal hatte reden hören. Unlustig verdrückte ich den Rest einer Dose Kompott. Ich hatte mich zum Essen zwingen müssen. Eine körperliche Schwächung hätten wir im Augenblick ganz gewiß nicht
brauchen können. »Was wird der Earl jetzt unternehmen?« fragte Maureen unvermittelt. »Was ist mit den Toten? Wohin schafft er sie und womit begründet er das plötzliche Verschwinden der vielen Menschen? Das, was seit gestern hier passiert ist, läßt sich doch nicht verheimlichen.« Sie schaute mich fragend an. Ich hatte mir deshalb auch schon Gedanken gemacht und glaubte, eine Antwort darauf gefunden zu haben. »So verrückt es klingen mag – ich halte es durchaus für möglich, daß er mit seinen magischen Fähigkeiten in der Lage ist, eventuellen Kontrollen eine gigantische Illusion vorzugaukeln. Er wird sie Dinge sehen lassen, die gar nicht existieren. Sei getrost überzeugt davon, daß selbst Eltern, die in der Absicht nach hier kommen, ihren Sohn zu besuchen, später Stein und Bein behaupten, sie hätten ihn hier gesund und bei bester Laune angetroffen.« »Auch wenn der Sohn nicht mehr am Leben ist?« Ich nickte bejahend. »Genau! Glaubst du denn jetzt noch, irgend jemand hätte je diese Diener zu Gesicht bekommen? Sicher nicht. Ich bin mir sicher, daß auch diesen beiden Ärzten, die damals diese Impfaktion hier durchgeführt haben, ein Riesentheater vorgespielt wurde. Hier hat es keine Kranken gegeben. Auch das Impfen fand mit Sicherheit nicht statt. Alles war Beeinflussung – hypnotische Vergewaltigung.« »Aber die Warnung, die einem dieser Ärzte zuging«, gab Maureen zu bedenken. Ich zuckte mit den Schultern. »Eine Panne! Die große Ausnahme von der Regel. Irgend etwas muß schiefgelaufen sein.« »Hast du auch bedacht, daß sie im Augenblick über keine Energiespender mehr verfügen?« Sie warf mir einen ernsten Blick zu. »Nur wir drei sind noch da.« Ich hob einen flachen Stein auf und warf ihn so über den
Wasserspiegel, daß er wie ein federnder Gummiball darüberhüpfte. »Gewiß habe ich das. Sie werden bald hungrigen Wölfen gleichen. Es hilft nichts, ich muß ihnen zuvorkommen« Ich überlegte nur kurz. Mein Plan war fix und fertig. »Jetzt höre mir gut zu, ich habe es mir so gedacht...« *** Ich stand zwischen dem Gebüsch, das seitlich des Schlosses einen sinusförmigen Bogen beschrieb. Mit gespannter Aufmerksamkeit beobachtete ich Fenster und Türen. Eine halbe Stunde harrte ich hier aus. Wo sie nur stecken mochten? Selbst meine besten Freunde hätten es jetzt schwer gehabt, mich zu erkennen. Mein Kopf war buchstäblich in der grünen Salbe verschwunden. Ich hatte nicht nur meinen Vorrat, sondern auch den von Maureen verwendet. Jedes Fleckchen meines Kopfes lag unter einer Zentimeterstarken Schicht begraben. Nur die Augen waren frei geblieben. »Schau nicht in seine Augen«, hatte Maureen mich angefleht. »Wenn er seinen Blick nur einmal in dich hineintauchen läßt, bist du verloren.« Ihre Warnung war berechtigt. Ich konnte hoffen, bei genügender Vorsicht so viel Zeit zu gewinnen, daß ich die Scheibe zerstören konnte, bevor die Beeinflussung übermächtig wurde. Hoffentlich hielt auch die abschirmende Kraft der Salbe genügend lange vor. Ich war jedenfalls überzeugt davon, daß die Zerstörung des in der schwarzen Scheibe verankerten dämonischen Kraftpols gleichzeitig auch das Ende der ganzen dämonischen Sippschaft bedeuten würde. Und wenn meine Theorie nicht stimmte? Nun, dann hatte ich wenigstens einen Versuch gemacht – hatte nicht tatenlos
gewartet. Ich überzeugte mich noch einmal vom Vorhandensein der beiden Sprühflaschen, denen ich die wichtigste Rolle bei meiner Aktion zugedacht hatte, und ging dann mit schnellen Schritten auf den Turmeingang zu. Ich konnte es kaum erwarten, bis ich oben war. Angst spürte ich keine. Wahrscheinlich war das Gefühl der Hoffnung und der Zuversicht in mir so stark, daß sie ins Unterbewußtsein abgeglitten war. Dort unten würde sie auf eine neue Chance lauern. Das Portal zu der Drachengalerie lag immer noch zersplittert auf dem Boden, Ich ging hinein. Doch dann überkam mich ein Gefühl der Fassungslosigkeit. Die Leiber der Diener, die hier noch vor wenigen Stunden in einem wirren, makabren Durcheinander gelegen hatten, waren verschwunden. Auch die Asche. Selbst der brandige Geruch war völlig verschwunden. So sehr meine Augen auch umherirrten, ich konnte nichts entdecken, was an das grausige Gemetzel erinnerte. Wieder spürte ich das in den letzten Tagen so bekannt gewordene eisige Gefühl in mir hochsteigen. Konnte es sein, daß dieses fleischgewordene Stück Finsternis allmächtige Fähigkeiten besaß und sogar Tote wieder zum Leben erweckte? Allerdings nur ein Leben des Körpers, denn diese Geschöpfe hatten kaum noch über einen Geist und damit auch nicht mehr über ein eigenes Bewußtsein verfügt. Doch halt, eines hatte ich übersehen: Die goldenen Rahmen zu beiden Seiten des Ganges waren immer noch leer. Auch der zweite Gang machte keine Schwierigkeiten. Mit größter Vorsicht schlich ich mich näher, befürchtete jeden Augenblick, entdeckt zu werden. Oder wartete der Earl schon voller Schadenfreude auf mein Kommen? Vielleicht beobachtete er mich bereits die ganze Zeit über. Und ich Tor
wollte ihn überlisten. Einen kurzen Moment wollte mich ein niederdrückendes Gefühl überkommen, und es bedurfte einer großen Kraftanstrengung, mich wieder davon zu befreien. Wenn ich nachgab, dann waren wir so oder so verloren. Ich verharrte kurz vor dem zertrümmerten Eingang, der in den Raum hineinführte, der uns ohne das mir immer noch rätselhafte Eingreifen der Puppen zum Verhängnis geworden wäre. Dann ging ich kurz entschlossen hinein, jeden Augenblick die verhaßte Stimme erwartend. Aber auch dieser Raum war leer, ich blickte mich um. Hier mußten die Toten in Haufen gelegen haben. Aber ich bemerkte nicht einen einzigen. Ein neuer Schauer lief über meinen Körper. Sollten auch wir einer von »ihm« gesteuerten Halluzination aufgesessen sein? Doch dann verwarf ich diesen Gedanken wieder. Die Zeichen der Zerstörung gaben mir eine deutliche Antwort. Aber wenn er nicht da war... Mein Gott, warum handelte ich denn nicht endlich! Ich hatte doch freie Bahn. Wenigstens hatte ich nicht auch noch »ihn« zu bekämpfen. Es würde trotzdem schwer genug werden. Langsam wendete ich meinen Kopf und suchte mit den Augen das dämonische Symbol, zu dessen Vernichtung ich hergekommen war. Ich atmete auf. Einen Augenblick hatte ich befürchtet, es auch nicht mehr anzutreffen. Ich spürte die wilde Aura der Dämonie, die dunkel und drohend von ihm ausging. Als ich davorstand, sah ich es in dem Rubin unruhig wallen. Bevor ich dieses Phänomen noch richtig erfaßt hatte, begann er aufzuglühen wie eine riesige Blume. Gleichzeitig spürte ich einen rasch zunehmenden Druck in meinem Kopf. Sofort wandte ich meinen Blick von diesem Teufelsjuwel ab. Die dunklen Gewalten, die in ihm eingesperrt waren, schienen meine Absicht zu ahnen und würden ihre Vernichtung
nicht ohne Kampf zulassen. Ich merkte es auch an der jäh auftretenden Schwerfälligkeit, die meine Bewegungen verlangsamte. Ich spürte, daß sie immer stärker wurde. Wenn es so weiterging, war ich in kurzer Zeit völlig bewegungsunfähig. Mit größter Mühe beförderte ich die beiden Sprühflaschen aus meinen Taschen, dabei bestrebt, mit meinen Augen nicht in den Bannkreis des Rubins zu geraten, der bereits in einem gleißenden Licht strahlte. Mit quälender Langsamkeit umschlossen meine Hände die Gefäße so, daß ich mit den Zeigefingern keine Mühe hatte, die Sprühknöpfe zu betätigen. Dann hob ich die Hände so weit, daß sie in etwa auf gleicher Höhe der Scheibe lagen. Doch jetzt holte die Düsternis in ihr zu einem neuen brutalen Schlag aus. Ich begann das Gleichgewicht zu verlieren und geriet ins Taumeln. Gleichzeitig fühlte ich die Lähmung immer stärker in mir die Oberhand gewinnen. Ich wußte es: Meine erneute Niederlage war nur noch eine Frage weniger Sekunden. Auch Maureen würde in seine Gewalt geraten. In meinem Gehirn sah ich blitzartig jene Szene, in der Tork of Kilmarn sie mit seinen lüsternen Augen buchstäblich verschlungen hatte. Augenblicklich fühlte ich einen Kraftstrom durch meinen Körper fließen, der mir sofortige Erleichterung bescherte. Ich machte mir keine Gedanken darüber, aus welchen Bereichen er kam – gerade in dem Augenblick, als mein Verderben schon gewiß schien. Ich dachte auch nicht darüber nach, wie lange seine Energie vorhalten würde. Das einzige, was in diesem unbeschreiblichen Augenblick mein ganzes Fühlen und Wollen in Anspruch nahm, war die Zerstörung der magischen Scheibe. Bevor die Lähmung meinen Körper wieder überfiel, drückte ich mit beiden Zeigefingern auf die beiden Knöpfe. Ohne nach oben zu schauen, vollführte ich dabei mit meinen Händen
kreisende Bewegungen. Die Augen hielt ich krampfhaft geschlossen. Meine Ohren vernahmen nur das feine Zischen, mit dem die Flüssigkeit aus den beiden Zerstäubern gedrückt wurde. Die plötzliche Hitze ließ mich wieder die Augen öffnen. Ohne an die Gefahren, die im Inneren des teuflischen Rubins ruhten, zu denken, blickte ich auf den Mittelpunkt des schwarzen Symbols. Aber der Stein existierte nicht mehr in seiner früheren Erscheinungsform. Das, was sich jetzt in der Scheibenmitte befand, war kein Rubin mehr, sondern ein glutflüssiges Etwas, das bei jedem neuen Sprühen erzitterte – und anscheinend immer mehr an Konsistenz verlor. In mir herrschte ein wahrer Gefühlssturm triumphierender Freude. Nun war ich mir meines Sieges über dieses Produkt finsterster Magie gewiß. Die beiden Sprühflaschen waren fast leer, als sich der nunmehr weißglühende Tropfen von der Scheibe löste, wie eine Träne auf den Boden fiel und dort zerplatzte. Rauch stieg hoch. Kurz darauf sah ich Flammen hochschlagen. Ich mußte sofort hier hinaus, wollte ich nicht geröstet werden. Keinen Handschlag würde ich zur Rettung dieses Satansschlosses tun, schwor ich mir. Selten bin ich in meinem Leben so schnell eine Treppe hinunter gerannt. Auch draußen blieb ich nicht sofort stehen. Das tat ich erst, als ich ein gutes Stück gelaufen war. Meine Lungen schnappten gierig nach Luft. Erst allmählich hörte ich auf zu keuchen. Dann schaute ich mich um. Das Schloß stand in hellen Flammen. Das Feuer schien es recht eilig mit seiner Vernichtung zu haben. Jedenfalls brannte es wie trockener Zunder. Ich atmete tief und befreit auf. Nur wenige hundert Meter von mir entfernt wartete Maureen.
Mehr laufend als gehend setzte ich meinen Weg fort. Endlich tauchte das kleine Buchengehölz vor mir auf. Wo Maureen nur war? Unruhe packte mich. Auch von Sandringham war nichts zu sehen. Wie ein Blinder stolperte ich zwischen den Bäumen durch. Mein Herz wurde schwer wie ein Klumpen Blei. Und dann quälten mich Selbstvorwürfe. Ich hätte sie nicht allein lassen dürfen. Gleich hätte ich zurückeilen müssen, nachdem ich den Earl nicht im Schloß angetroffen hatte. Jetzt war es sicher schon zu spät. Wer weiß, was dieser Satan im Augenblick mit ihr anstellte. Heiß stieg die Wut in mir hoch. Ich würde diesen verdammten Dämonenfürsten... Zuerst glaubte ich an eine Sinnestäuschung – an eine Fata Morgana. Gleich würde sich das Bild vor mir in blanke Luft auflösen und danach meine Verzweiflung ins Ungemessene wachsen. Aber Maureen verschwand nicht. Sie wurde sogar immer größer, je näher sie kam. Auch Sandringham war bei ihr. Nur Sekunden später hielt ich sie in meinen Armen. »Und ich habe schon geglaubt, du wärst in seine Hände geraten«, sagte ich ihr leise ins Ohr. »Ich war auch in seinen Händen«, antwortete sie leise. Diese Auskunft gab mir einen Riß. »In seinen Händen?« fragte ich fassungslos. Sie nickte bejahend. »Er stand plötzlich vor uns. Wie herbeigezaubert. Er und sein ganzes Gefolge.« Sie stockte. Ich zog sie wieder an mich und spürte dabei, daß sie zitterte. Die Erinnerung an diese Minuten schrecklicher Angst mußte erst noch verdaut werden. »Er hat sich lang und breit über die Qualen ausgelassen, die er uns bereiten wolle«, sprach sie weiter. »Ich konnte meine Angst nicht ganz unterdrücken – der Satan hat sich daran
geweidet. Es war schrecklich.« Sie drückte sich wieder an mich. »Und dann?« fragte ich voller Anspannung. »Es war wie ein Wunder. Gerade noch hatte er mir die grausigsten Dinge ausgemalt, als er plötzlich durchsichtig wurde – zuletzt war es wie ein Nebel, der sich unter einem Windstoß auflöst.« Sie schwieg nachdenklich und setzte dann hinzu: »Er muß im gleichen Augenblick gewußt haben, was mit ihm und den anderen passierte. Noch nie habe ich ein solches Entsetzen gesehen.« Sie sah mich fragend an. Ich berichtete ihr in wenigen kurzen Sätzen. *** Der Abend begann schon, sich auf das Land zu legen, als ein lautes Brummen den Hubschrauber ankündigte, der uns von hier abholen sollte. Signal dazu hätte ein brennender Holzstoß sein sollen. Aber das immer noch brennende Schloß hatte uns diese Arbeit erspart. »In viele Familien wird jetzt Trauer einziehen«, sagte Maureen leise, als das Tal unter uns verschwand. Ich streichelte ihre Haare. »Das wird sicher der Fall sein, aber das Gefühl, diesen Superdämon wieder in die dunkelsten Schlünde der Unterwelt zurückgejagt zu haben, sollte uns trösten.« Müdigkeit verschloß ihre Augen. Sie kuschelte sich an mich und schlief ein. ENDE