Kelly Kevin
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Seewölfe 182 1
1. Kein Lüftchen regte sich. Dick und schwer hing der Nebel über dem Wasser, waberte um die Masten der Isabella“ und machte es unmöglich, vom Achterkastell aus den 'Bug der Galeone zu erkennen. Die Luft war kalt, die Feuchtigkeit drang durch die Kleider und legte sich klebrig auf die Haut. Smoky, der Decksälteste, hatte einen sehr passenden Vergleich gefunden: Es war, als schwämmen sie in einer: gigantischen Bierkrug, über dem sich weißer Schaum türmte. Smoky war es stich, der diesen Nebel stur auf das Wirken höllischer Mächte zurückführte, genauso, wie er den Sturm der letzten Tage dem Geisterschiff angelastet hatte, dem sie bei den BermudaInseln begegnet waren. Eine Galeone unter schwarzer Flagge! Das Gerippe eines Gehenkten schaukelte an der Großrah, und die Besatzung trug schwarze Kutten, unter deren Kapuzen fahle Totenschädel schimmerten. Ein Geisterschiff fürwahr! Eine Galeone der verdammten Seelen! Und wer vermessen genug war, ein solches Totenschiff zu verfolgen, der brauchte sich natürlich nicht zu wundern, wenn er in haarsträubende Stürme geriet oder, wie jetzt, in eine Flaute bei dichtem, undurchdringlichem Nebel. Das jedenfalls war Smokys Meinung. Zuerst hatte er noch damit hinter dem Berg gehalten, da die Mehrheit der Crew entschlossen war, das Geisterschiff zu verfolgen, das sie mehrfach angegriffen hatte. Der Sturm, der sie in Höhe der Bermuda-Inseln packte und hoffnungslos von ihrem Westkurs abbrachte, bestätigte seine dunklen Befürchtungen. Die Männer der „Isabella“ hatten bis zum Umfallen kämpfen müssen, um diesen Sturm heil zu überstehen. Sie hatten es geschafft, ohne nennenswerte Schäden an ihrem Schiff davonzutragen - und dann hatte der Nebel eingesetzt. Höllennebel, behauptete Smoky. Der alte O'Flynn, sonst ein Mann aus Granit und Eisen, stimmte ihm zu. Höllennebel, jawohl! Da O'Flynns raubeiniger alter Vater und der bullige Decksälteste, von
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jeher der Abergläubischste der Crew, waren sich völlig einig. Sie waren sich in solchen Fragen oft einig, und entsprechend oft wurden sie ausgelacht. Aber inmitten dieser unheimlichen weißen Schwaden, die kein Hauch von Wind bewegte, fühlte auch der Rest der Crew ein dumpfes, lastendes Unbehagen, und niemand schien in der Stimmung, den endlosen Debatten über Geister, lebende Tote und Nebeldämonen energisch entgegenzutreten. In seiner Kammer studierte Philip Hasard Killigrew zusammen mit Ben Brighton, Ed Carberry und Dan O'Flynn die Seekarten, um ungefähr zu schätzen, wie weit sie der Sturm nach Norden vertrieben hatte. Siri-Tong, die Rote Korsarin, stand an der Schmuckbalustrade des Achterkastells. Sie war wütend. Ihre schwarzen Mandelaugen funkelten. Auf den Webleinen des Steuerbord-Hauptwants hockten Hasard und Philip, die achtjährigen Zwillingssöhne des Seewolfs. Für eine Weile vergaßen sie ihre Vorbehalte gegen die seltsame Frau, die an Bord war, um sich - um sie zu kümmern, und lauschten hingerissen dem Gewitter, das sich über dem Haupt des armen Smoky entlud. „Geister! Teufel! Dämonen! Man sollte nicht glauben, daß du abergläubischer Narr ein erwachsener Mann bist! Decksältester, ha! Ich wußte wirklich nicht. daß es die Aufgabe des Decksältesten sei, sich als erster in das nächstbeste Mauseloch zu verkriechen!“ Smokys Gesicht überzog sich mit Röte. Decksältester - das war eine Funktion, die keine Musterrolle verzeichnete und die es dennoch auf allen Segelschiffen der Welt gab. Smoky war schon Decksältester auf der „Marygold“ gewesen, dem Schiff Francis Drakes, auf das Hasard vor Jahren von einer Preßgang verschleppt worden war. Damals hatte er seine Stellung freiwillig an den Seewolf abgegeben. Was sollte man auch gegen einen Mann tun, der einem Edwin Carberry vor aller Augen zwei Zähne ausschlug und sich den Teufel darum scherte, daß ihm das eine schmerzhafte Lektion mit der Neunschwänzigen einbrachte.
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Heute fuhr jener Edwin Carberry mit völliger Selbstverständlichkeit Unter dem Kommando des Mannes, der ihm damals seine Grenzen ge-. zeigt hatte. Und Smoky war wieder Decksältester - eine Rolle, die es selbstverständlich verbot, sich als erster oder letzter oder überhaupt in irgendeine Sorte von Mauseloch zu verkriechen. „Madam ...“, begann er empört. „Was denn? Faselst du hier von Nebeldämonen oder nicht? Himmelkreuzdonnerwetter! Wer soll denn dafür sorgen, daß die Kerle nicht durchdrehen, wenn nicht du?“ Smoky schluckte und hatte plötzlich eine mächtig breite Brust. Wenn die Rote Korsarin ihn für den richtigen Mann hielt, dem abergläubischen Pack mit gutem Beispiel voranzugehen - na bitte! Er würde ihr schon zeigen, daß er wirklich der richtige Mann war. Smoky reckte sich, atmete tief und fuhr wie der leibhaftige Donnerkeil zwischen die Gruppe, die gerade einer der unvermeidlichen Gespenstergeschichten des alten O'Flynn lauschte. Philip und Hasard grinsten sich an. Die Zwillinge konnten nicht verleugnen, daß sie ebenfalls an Geister glaubten: schließlich waren sie im Orient aufgewachsen. Aber in dieser Hinsicht erging es ihnen wie Batuti, dem hünenhaften Gambia-Neger, der sich von Geistern und Dämonen nicht sonderlich schrecken ließ. Das Übernatürliche - oder vermeintlich Übernatürliche - gehörte sozusagen zum Alltag. Noch von ihrer Zeit bei den Gauklern, speziell dem Zauberer Kaliban her, kannten die Zwillinge einen großen Vorrat probater Bannsprüche, und deshalb bestand für sie kein großer Unterschied zwischen realen Feinden, die man bekämpfen konnte, und irgendwelchem Höllenspuk, gegen den nur die Waffen ein bißchen anders waren. Eine bestimmte Art, Zeige- und Mittelfinger übereinander zu kreuzen und dabei drei ägyptische Worte zu murmeln, jagte zum Beispiel jeden bösen Djinn augenblicklich wieder in die Flasche, in die er gehörte.
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Für Philip und Hasard hausten Geister grundsätzlich in Flaschen. Bei Geistern, die zur See fuhren und noch dazu fremde Schiffe kaperten, mußte es sich um degenerierte Exemplare handeln. Und Nebeldämonen gab es überhaupt nicht. Das hatte ihr Vater gesagt. Der Seewolf mochte vielleicht nicht so gut über orientalische Djinni Bescheid wissen, weshalb er sich in diesem Punkt möglicherweise irrte, aber was den Nebel betraf, irrte er sich bestimmt nicht. Hasard und Philip blickten zwischen ihrem wutschnaubenden Großvater, dem schimpfenden Smoky und der Roten Korsarin hin und her, die in sich hineinlächelte. Die Zwillinge begriffen nicht so genau, wie sie ausgerechnet den abergläubischen Decksältesten dazu gebracht hatte, vehement die Ansicht zu verfechten, daß Old O'Flynn mit seinem Gerede über Nebeldämonen nur die Leute verrückt mache und gefälligst die Luke halten' solle. Siri-Tong hatte überhaupt ein erstaunliches Talent, einen zu etwas zu bringen, was man eigentlich gar. nicht vorgehabt hatte. Philip grübelte darüber nach, ob sie das wohl auch bei ihrem Vater schafften. Hasard lauschte hingerissen dem sich anbahnenden Streit zwischen Old O'Flynn und Smoky. Im Augenblick beschuldigten sie sich, die Nachkommen von Kanalratten, verlausten Gewitterziegen und triefäugigen Heringen 'zu sein. Wenn sie erst einmal in Schwung gerieten, würden sie in dieser Hinsicht erfahrungsgemäß noch viel mehr Phantasie entwickeln. Hasard prägte sich alles getreulich zur Weiterverwendung ein und runzelte unwillig die Stirn, als sein Bruder ihn anstieß. .“Ich hab eine Idee“, flüsterte Philip. „Wir spielen Nebeldämon für Großvater, klar?“ „Nebeldämon?” „Genau! Eine Kokosnuß mit Kerze drin gibt einen guten Djinn ab. Und damit er echt wirkt, fieren wir ein Boot weg und pullen ein bißchen in die Suppe.“ Hasards Augen begannen zu funkeln.
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Er sah schon vor sich, was für Gesichter Smoky, Old O'Flynn und die anderen aufsetzen würden, wenn plötzlich ein leibhaftiger Dämon mit glühenden Augen aus dem Nebel auftauchte. Blieb nur noch das Problem, eine Kokosnuß zu erwischen. Man mußte warten, bis alle nur noch auf Smoky und Old O'Flynn achteten und dann in den Laderaum schleichen. Sie sprangen von der Webleine. Siri-Tong sah sie betont lässig über die Kuhl schlendern und Löcher in die Luft gucken. Die beiden sahen haargenau so aus, als planten sie einen Streich, aber die Rote Korsarin wäre nicht im Traum darauf gekommen, um was es sich handelte. * Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, runzelte die Stirn und kreiste mit dem Fingernagel einen bestimmten Bereich auf der Seekarte ein. „Wenn mich nicht alles täuscht, müßten wir uns ungefähr hier befinden“, sagte er gedehnt. „Vor Neuschottland und schon südlich von Neufundland, vielleicht in Höhe der Cabot-Straße.“ „So weit im Norden? Glaubst du wirklich?“ Auch Ed Carberry runzelte heftig die Stirn. Hasard zuckte mit den Schultern. Neben ihm kniff Ben Brighton die Augen zusammen und kratzte sich am Kinn. „Schwer zu schätzen“, stellte er fest. „Du sagst es. Und der Teufel mag wissen, wann wir wieder Wind kriegen. Ganz abgesehen davon, daß wir in dem Nebel riskieren, auf ein Riff zu laufen. Mit unseren Vorräten ist es auch nicht gerade weit her.“ „Also lassen wir das dämliche Geisterschiff sausen?' fragte Ed Carberry, dem das Unternehmen ohnehin nicht so sympathisch war, wie er tat. „Ich fürchte, wir haben ohnehin keine Chance, den Kahn wieder zu finden. Er muß nicht unbedingt in dieselbe Flaute geraten sein wie wir. Also segelt er entweder nach Süden zurück oder versucht. die Küste anzulaufen.“
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„Und nach Süden segeln wir ja dann wohl auch, sobald sich ein Lüftchen auftut“, sagte Dan O'Flynn mit funkelnden Augen. Hasard grinste. Dan war offenbar entschlossen, mit den „Geistern“ doch noch das fällige Hühnchen zu rupfen. Aber die meisten anderen neigten inzwischen zu der Ansicht, daß ihnen die Geister den Buckel herunterrutschen konnten. Vor allem, seit sie dieser undurchdringliche Nebel in den Klauen hatte. Der Seewolf wollte gerade die Seekarten zusammenfalten, als irgendwo an Deck ein schriller Schrei ertönte. Hasard hob den Kopf. Auch die anderen hatten es gehört und wechselten erschrockene Blicke. Wie auf Kommando sprangen sie auf. Der Seewolf war der erste, der mit langen Schritten durch den Niedergang fegte und das Schott aufstieß. Nebel! Weiße, wabernde Schwaden, so dick, daß man nur verschwommen Umrisse erkennen konnte, in diesem Fall die verschwommenen Umrisse von Gestalten, die sich mindestens im Dutzend auf der Kuhl drängten und wie versteinert nach Steuerbord starrten. Old O'Flynn war es, der geschrien hatte. „Da!“ brüllte er jetzt wieder. „Seht ihr's nicht? Da! Habt ihr Datteln auf den Augen, ihr blöden Hammel?“ „Die „blöden Hammel“ protestierten keineswegs gegen die Bezeichnung, sondern starrten nur. Mit ein paar Schritten hatte Hasard die Gruppe erreicht. Aus den Augenwinkeln sah er Siri-Tong und Big Old Shane auf dem Achterkastell. Und auch die starrten nach Steuerbord und schnitten Gesichter, als sei ihnen der Gehörnte auf einem Besenstiel erschienen. „Wassermänner!“ stöhnte Smoky dumpf. „Nebeldämonen!“ schrie Old O'Flynn, der es selbst jetzt noch besser wissen mußte. Energisch schob Hasard den völlig verdatterten Sam Roskill beiseite, glitt ans Schanzkleid - und hielt den Atem an. Im ersten Moment hatte er das Gefühl, als sei er von einem Maultier getreten worden.
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An den Kopf, wohlgemerkt. So kräftig, daß er jetzt Halluzinationen hatte. Aber auf der Kuhl der „Isabella“ gab es keine Maultiere. Und eine Rah hatte er auch nicht an den Schädel gekriegt. Also konnte die unheimliche Gestalt dort draußen im Nebel keine Halluzination sein. Sie schwebte über dem Wasser und verschmolz fast mit den weißen Schwaden. Nur ein Schatten war zu sehen: ein Schatten mit kreisrunden, glühenden Augen, die gespenstisch flackerten. Das lange Gewand wehte. Jetzt schien die Erscheinung zu wachsen und größer zu werden. „Der Himmel stehe uns bei!“ flüsterte Old O'Flynn mit bleichen Lippen. „Sie kommen! Sie holen uns! Die Dämonen kommen!“ Niemand widersprach. Die Männer standen stumm vor Schrecken. Selbst Donegal Daniel Junior mit seinem legendären Mundwerk brachte kein Wort heraus. Tatsächlich schien sich die Gestalt mit den glühenden Augen zu nähern. Oder lag das an dem Hauch von Wind, der sich plötzlich auftat, das lange Gewand der Gestalt blähte und... „Der Atem der Hölle“, murmelte Smoky dumpf. Hasard schluckte. Am liebsten hätte er geflucht, daß der Himmel errötet wäre. Die Erscheinung wirkte tatsächlich unheimlich, wie sie da mit ihren glühenden Augen im Nebel hing. Aber es gab keine Nebeldämonen, basta! Was sie sahen, war entweder eine neue Sorte Elmsfeuer oder irgend etwas anderes, auf jeden Fall aber etwas Reales. Der Seewolf warf einen kurzen Blick in die Runde. Er suchte seine Söhne, die sich normalerweise längst in die vorderste Front gedrängelt hätten, um den Spuk zu begutachten. Sie waren nirgends zu sehen und da dämmerte es ihm. Er holte tief Luft. „Mister Carberry“, sagte er laut und deutlich. „Du kannst schon mal das Tauende bereithalten.“ Ed verschluckte sich fast.
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Im selben Moment frischte der Windhauch etwas auf und trieb ein paar Nebelschwaden auseinander. Vom Achterkastell erklang das helle Lachen der Roten Korsarin. Vor ihnen, immer noch nur schattenhaft zu erkennen, schwamm eins der Beiboote der „Isabella“. Die unheimliche Erscheinung stand im Bug, gar nicht mehr so unheimlich mit dem aufgespießten Kokosnuß-Kopf und der flackernden Kerze hinter den Augenlöchern. Das Segeltuch, das als Gewand um die aufragende Stange drapiert war, flatterte im Wind. Zwei Beine in weißen Hosen sahen darunter hervor Jungenbeine! Und Zwilling Nummer zwei saß hinter dem „Dämon“ auf der Ducht und grinste. „Diese verdammten Rübenschweine!“ stöhnte Ed Carberry ergriffen. Old O'Flynn brachte kein Wort heraus. Smoky wurde puterrot und schnappte nach Luft. Den meisten anderen verschlug der Anblick ebenfalls die Sprache, und erst als der Kokosnuß-Geist plötzlich in sich zusammenfiel und die drahtige Gestalt des kleinen Philip aus den Falten seines Gewandes entließ, prusteten die ersten los. Die Zwillinge grinsten. Triumphierend, aber auch ein bißchen unsicher. Das Gesicht ihres Vaters verhieß nichts Gutes. Old O'Flynns verwitterte Züge ebenfalls nicht. Und dann war da noch der zarte Hinweis auf das Tauende gewesen. „Wollt ihr in dem Boot übernachten?“ fragte Hasard scharf. Der kleine Philipp pustete die Kerze in der Kokosnuß aus. Sein Bruder griff nach den Riemen, die er eingeholt hatte. Im selben Augenblick fauchte eine heftige Bö über das Wasser. Das Boot wurde ruckartig angehoben, Hasard junior verlor das Gleichgewicht, und einer der Riemen entglitt ihm, als er sich am Dollbord festhielt. Die Kokosnuß erlitt das gleiche Schicksal. Das Boot drehte sich um sich selbst, wurde ein Stück abgetrieben und verschwand wieder im Nebel. Wind und Strömung
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versetzten es in ziemlich schnelle Bewegung, und die Männer, die eben noch über den Kinderstreich gelacht hatten, verstummten erschrocken. „Hierher!“ schrie Hasard. „Pullt auf das Schiff zu! Schnell!“ Keine Antwort. Der Seewolf biß sich auf die Lippen. Er wußte, wie schwer es war, in diesem Nebel irgendetwas wieder zu finden, wenn man erst einmal die Orientierung verloren hatte. Die anderen wußten es ebenfalls und begannen, mit voller Lungenkraft die Namen der Zwillinge zu rufen. Vergeblich. Genauso vergeblich wie der Klang der Schiffsglocke, die der Seewolf läuten ließ. Der Nebel verzerrte auch diese Geräusche. Ohne Kompaß war es nicht einmal möglich, die Himmelsrichtung zu bestimmen. Und ob die beiden Jungen bewußt wahrgenommen hatten, daß der Wind von der „Isabella“ aus gesehen achterlich einfiel und sie ihn demnach von Backbord bekommen mußten, wenn sie zurückpullen wollten, das war fraglich. „Denen zieh ich die Haut vom Hintern!” wütete Carberry. „Vergiß es nicht“, sagte der Seewolf düster. „Bei Nebel mit einem Beiboot herzuschippen, das ist ...“ „Da!“ schrie der alte O'Flynn im selben Augenblick. Er stand dicht am Schanzkleid. Mit seiner Krücke wies er nach Steuerbord in den Nebel, dessen dichte Schwaden immer wieder vom auffrischenden Wind auseinandergetrieben wurden. Aber es war nicht das Boot mit den Zwillingen, das er gesichtet hatte. Es war das Geisterschiff. 2. Wie ein Spuk glitt es durch den Nebel. Die schwarze Flagge flatterte. Fahl schimmerten die leicht geblähten Segel: gelbliche Fetzen, die der Galeone kaum Fahrt gaben, sie aber um so unheimlicher wirken ließen und vollends an ein Totenschiff erinnerten, dessen Besatzung
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längst dahingerafft war. Bei der ersten Begegnung, erinnerte sich Hasard, war der Kahn besser besegelt gewesen. Da hatte er ja auch die „Isabella“ kapern wollen. Jetzt wollte er vermutlich nichts anders, als jedem, dem er begegnete, einen heiligen Schrecken einzujagen. Hasard biß die Zähne zusammen. Der Gedanke, daß seine Söhne irgendwo dort draußen mit dem Boot herumirrten, krampfte seine Magenmuskeln zusammen. Wenn es der verdammten Galeone einfiel, sie anzugreifen, war die Hölle los. Nein, sie glitt vorbei. Niemand ließ sich an Deck sehen, auch der Rudergänger war nicht zu erkennen. Schon schlossen sich die Nebelschwaden wieder. Die „Geister“ dieses Schiffs kämpften nur ge- gen Gegner, die vor Angst fast' den Verstand verloren. Und an die „Isabella“ mußten sie sich erinnern: die Seewölfe hatten ihnen schon einmal gezeigt, daß sie bereit waren, auch ein Totenschiff mit einem Kugelhagel zu empfangen. Aber wenn die Kerle auf ein Boot mit zwei Kindern stießen... Hasard ballte die Hände. Von der Galeone mit der schwarzen Flagge war nichts mehr zu sehen. Immer noch hallte die Schiffsglocke: dumpfe, eigentümlich verzerrte Töne, die sich im Nebel verloren und sicher nicht besonders weit reichten. „Fiert die Beiboote ab!“ knirschte Hasard. „Ed, nimm den Handkompaß mit. Wir bleiben auf Rufweite in Verbindung und bilden eine Kette.“ „Aye, aye, Sir. Abfieren, ihr müden Säcke! Habt ihr Bohnen in den Ohren, was, wie? Hopphopp, ihr Heringe, oder ich zieh euch die Haut ab!“ Das erste Boot klatschte bereits aufs Wasser. Hasard wollte sich gerade über das Schanzkleid schwingen und abentern, als Dan O'Flynn, der die schärfsten Augen der Crew hatte, einen triumphierenden Schrei ausstieß. „Das Boot! Da sind sie!“ Wie ein Schemen tauchten die Umrisse des Fahrzeugs aus dem Nebel. Hasard junior tauchte den verbliebenen Riemen
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abwechselnd an Backbord und Steuerbord ein. Philip hielt die Hand hoch und befeuchtete ab und zu seinen Finger mit der Zunge. Der Wind hatte sich mit den wenigen kräftigen Böen schon wieder erschöpft und war nur noch ein schwaches Säuseln. Aber er war immerhin spürbar, und die Zwillinge hatten ihn als einzige Orientierungshilfe in dem weißen Gewoge benutzt. Sie waren beide ziemlich blaß um die Nasenspitzen. „Das Geisterschiff!“ rief Philip von unten. „Die Galeone der Toten! Wir haben sie gesehen!“ „Wir auch, ihr grünen Heringe!“ schnauzte Carberry. „Stenmark! Blacky! Hievt doch endlich das verdammte Boot wieder hoch, zum Henker!“ Die Taljen knirschten. „Wahrnehmen!“ brüllte der Profos, als das erste Beiboot an seinem Platz lag und die Trossen wieder abgefiert wurden. „Aufentern, ihr abgebrochenen Riesen, oder habt ihr vielleicht weiche Knie, was, wie?“ Die Zwillinge hatten sichtlich keine Lust, je im Leben wieder aufzuentern, vor allem nicht, solange der Profos da oben stand wie das leibhaftige Unheil. Aber daß sie weiche Knie hatten, wollten sie sich nun auch nicht nachsagen lassen. Also enterten sie auf. Gar nicht eilig. Und die Art, wie sie über das Schanzkleid kletterten, sah auch danach aus, als klebten ihnen Klötze an den Füßen. „Das Geisterschiff ...“, begann Hasard junior. „Wir haben es gesehen“, sagte Hasard senior sanft. Diese besondere Art von Sanftheit kannten sie, die war gefährlich. Kunststück! Sie hatten einen Riemen der See geopfert, waren beinahe im Nebel verlorengegangen und hatten das ganze Schiff in Aufruhr versetzt, ganz zu schweigen von dem Streich, den sie jetzt gar nicht mehr so lustig fanden wie vorher. Das Segeltuch, das dem „Nebeldämon“ als Kutte gedient hatte, war auch beim Teufel, fiel dem kleinen Hasard ein. Und sein Bruder dachte daran, daß die Kokosnuß geklaut
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gewesen war und der Kutscher das unter Umständen glatt als Mundraub auslegen konnte. „Verdammt“, murmelte Smoky. „Diesmal sah der Kahn aber wirklich wie ein Totenschiff aus mit all den zerfetzten Segeln.“ „Jedenfalls schaffen sie es damit nicht weit“, brummte Will Thorne, der weißhaarige Segelmacher. „Da können sie genauso gut Bettsäcke setzen.“ „Klar!“ Stenmark nickte. „Wir könnten sie mit Leichtigkeit einholen und ...“ „Und sie im Nebel rammen?“ fragte der Seewolf. „Oder auf ein Riff laufen? Ganz abgesehen davon, daß der Wind schon wieder einschläft, falls dir das entgangen sein sollte?“ Die Zwillinge wechselten einen vorsichtigen Blick. Verblüfft stellten sie fest, daß wenigstens im Augenblick nicht von ihrer Untat die Rede war. Auch der Kutscher mischte sich ein: Wenn sie noch lange bekalmt hier herumlägen, erklärte er, werde es mit Wasser und Vorräten zu Ende gehen, so daß sie erst einmal die nächste Küste anlaufen müßten. Hasard zuckte nur mit den Schultern. Die Küste mit ihren Riffen war auf jeden Fall nicht ungefährlich und außerdem ziemlich öde, das wußten sie alle. Die Zwillinge wechselten noch einen Blick. Philip flüsterte seinem Bruder etwas zu. Der seufzte und nickte. „Verdammich“, sagte er laut und deutlich. „Wann gibt's denn nun endlich Dresche?“ Der Seewolf hob die Brauen. „Ihr seid wohl wild drauf, was?“ „Nee. Aber je früher wir's hinter uns haben, desto besser.“ Auch ein Standpunkt, dachte Hasard und unterdrückte ein Grinsen. „Seht ihr ein, daß ihr es verdient habt?“ fragte er. „Klar“, sagte Philip etwas un schlüssig. „Klar“, sagte sein Bruder mit Todesverachtung. „Profos?“
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Carberry kratzte sich am Kopf. „Sie konnten ja nicht wissen, daß es im Nebel so verdammt schwierig ist, irgend etwas wiederzufinden“, wandte er ein. „Und der dämliche Wind war für uns alle überraschend.“ „Außerdem habt ihr ihnen alle die Ohren mit den verdammten Gespenstergeschichten vollgehängt“, knurrte Smoky und übersah großzügig, daß er dabei tatkräftig mitgewirkt hatte. Jeder fand plötzlich irgendetwas, das sich als mildernder Umstand für die beiden Missetäter anführen ließ. Big Old Shane war neben Hasard getreten und grinste. „Kannst du dich erinnern, wie du deine Musterexemplare von Brüdern mal mit einer Kerze in einem ausgehöhlten Kürbis erschreckt hast?“ fragte er leise. „Na und?“ sagte Hasard. „Hat mich Sir John dafür etwa nicht mit seinem verdammten Krückstock verdroschen?“ Aber Sir John war ja auch ein biestiges Ekel und ein mißratenes Rabenaas von einem Vater gewesen, dachte er bei sich. Mit gefurchter Stirn musterte er seine Söhne, die ziemlich gelassen des Strafgerichts harrten. „Eine Woche Kombüsendienst“, entschied er salomonisch. „Aber wenn mir Klagen vom Kutscher kommen, ziehe ich euch eigenhändig die Haut ab, klar?“ „Aye, aye, Sir!“ erklang es im Chor. Es klang ziemlich kleinlaut. Denn der Kombüsendienst war eine harte Strafe für zwei ewig hungrige Jungen, die es im Interesse ihrer Kehrseiten nicht riskieren durften, etwas zu stiebitzen. * Der Wind schlief wieder ein. Immer noch hüllte der Nebel die „Isabella“ ein wie „der Schaum auf einem gigantischen Bierglas“. Smoky hütete sich, weiter von Nebeldämonen zu faseln. Old O'Flynn hinkte mit grimmigem Gesicht herum und war miserabelster Laune. Er hatte die verdammte Kokosnuß einen Moment wirklich für einen Geist mit glühenden Augen gehalten. Die Tatsache,
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daß er auf einen Dummejungenstreich hereingefallen war, setzte ihm außerdem schwer zu. Philip und Hasard widmeten sich mit allmählich erlahmendem Eifer dem Kombüsendienst. Der Kutscher war angesichts der schwindenden Vorräte schlechter Laune und ließ sich durch keinerlei begehrliche Blicke in Richtung Rosinen erweichen. Sie hatten sich reichlich mit Batate eingedeckt, jenen kartoffelartigen Wurzelfrüchten, die in der Karibik offenbar schon seit ewigen Zeiten angebaut wurden. Jetzt begannen die Knollen in der alles durchdringenden Feuchtigkeit zu schimmeln und mußten rasch, verbraucht werden. Es gab Batate zum Frühstück, Batate mittags, Batate abends. Es gab Batate gebraten, gekocht und zu Brei gestampft, Batate mit Salz, mit Zitronensaft, mit Fisch und den letzten Resten Pökelfleisch und am Ende aller Weisheit auch noch mit Rosinen, Kokosnuß und Aniskörnern. Blacky schlug vor, die Dinger doch mit einem ordentlichen Schuß Rum als Soße genießbar zu machen. Worauf er eilig aus der Kombüse flüchten mußte, weil ihm der Kutscher eine Batate-Knolle an den Kopf warf. Eine gekochte, wohlgemerkt. Daß sich der Kutscher dabei die Finger verbrannte, ließ seine Laune noch mieser werden. Außerdem zerplatzte das Wurfgeschoß nicht an Blackys Schädel, sondern auf der Kuhl, und die Zwillinge zweifelten an der Gerechtigkeit der Welt, weil sie es waren, die das Deck schrubben mußten. Nach drei Tagen briste es wieder auf. Arwenack, der Schimpanse, gebärdete sich wie toll und enterte keckernd die Wanten hinauf und hinunter, als habe er mit dem Ende der Flaute ein bedrückendes Gewicht abgeschüttelt. Sir John, der Papagei, wiederholte kreischend das, was er in den letzten Tagen am meisten gehört hatte: „Gottverdammter Nebel! Gottverdammter Nebel!“ Ed Carberry schob den Vogel schließlich kurzerhand in seine Tasche, wo
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er beleidigt, aber gedämpft weiterpalaverte. Stunden später begannen sich die Nebelschwaden mit einem matten rosafarbenen Schimmer zu überziehen. Hasard hob den Kopf und blickte zum Zentrum dieses seltsamen Leuchtens: eine riesige, verschwimmende Scheibe in dunstigem Karmesin, umgeben von einer Aureole aus Nebelschleiern, die in allen Abstufungen von Rot, Orange und Violett glommen. Der Dunst wurde durchsichtig, zerfaserte im Wind, und es dauerte nur noch Minuten, bis die Luft klar war und strahlendes Sonnenlicht die Dünung glänzen ließ wie mit Quecksilber übergossen. Die Männer atmeten auf, als sich endlich wieder Segel über ihnen blähten. Ringsum war die Kimm leer. So leer wie die Vorratsschnapps, versicherte der Kutscher düster. Sie würden nicht umhinkommen, Neuschottland oder Neufundland anzulaufen und eine Niederlassung zu suchen, um Wasser und Proviant zu übernehmen. Mit raumern Wind über Backbordbug glitt die „Isabella“ unter Vollzeug westwärts, der nächsten Küste zu. 3. „Rauch Steuerbord voraus!“ Dan O'Flynn, normalerweise mit navigatorischen Aufgaben betraut, kauerte im Großmars, weil seine scharfen Augen gebraucht wurden. Die Küste von Neuschottland lag querab. Sie wußten inzwischen, daß es die Küste von Neuschottland war, denn sie hatten eine winzige Insel passiert, bei der es sich nach Lage der Dinge nur um Sable-Island handeln konnte. Jetzt suchten sie nach einer menschlichen Ansiedlung, einem Camp der KabeljauFischer vielleicht, die hier vor der langen Rückfahrt nach Europa ihren Fang trockneten und einsalzten. Oder eine jener Ansammlungen von Hütten, wo sich Abenteurer und Verfolgte aller Herren Länder an ihr Stück neues Land
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klammerten, bedroht von den Elementen, einer menschenfeindlichen Natur, mörderischen Wintern und unbekannten Wilden aus den Tiefen der Wälder. Hasard zog das Spektiv auseinander. Tatsächlich stieg jenseits der schroffen roten Klippen einer Landzunge eine dünne Rauchfahne in den Himmel. Ein paar Riffe ragten drohend aus dem Wasser, eine tief eingeschnittene, im Moment noch den Blicken entzogene Bucht bildete einen natürlichen Hafen. Hügel erhoben sich dahinter: endlos, leuchtend grün, getupft mit dem Schwarz der Fichten und dem dunklen Türkis mächtiger Kiefern, vereinzelt schon von Streifen und Inseln von mattem Gold durchzogen, das den nahenden Herbst verriet. Selbst aus der Entfernung war bereits das Kreischen der Seevögel zu hören, die sich überall dort, wo die Fischer ihre Trockengerüste aufstellten, in Schwärmen um die Fischabfälle balgten. „Abfallen!“ befahl Hasard. „Ben, Smoky, ab jetzt müssen wir ständig Tiefe loten, wenn wir zwischen den verdammten Riffen durchmanövrieren. Fier weg Marssegel, Großsegel und Blinde! Wir laufen unter Fock und Besan in die Bucht!“ Die Männer flitzten. Smoky sang die Wassertiefe aus, doch es zeigte sich, daß es zwischen den Riffen eine bequeme Passage gab und die Einfahrt der Bucht breit genug und frei von gefährlichen Untiefen war. Die „Isabella“ fiel noch weiter ab und glitt mit Backstagsbrise auf das Land zu, das unter einem dünnen Schleier des Nebels lag, der sich in dieser Gegend manchmal binnen Sekunden zusammenballte und ebenso schnell wieder auflöste. Ein halbes Dutzend Schaluppen lag in der Bucht. Schiffe, die deutlich Spuren eines Gefechts trugen. Eins davon war nur noch ein entmastetes Wrack, die anderen hatten Löcher in den Bordwänden, zwei waren offenbar in Brand geraten, schwelten noch und verursachten die dünne Rauchfahne, die in den Himmel stieg und vom leichten Wind zu bizarren Schlieren verweht wurde.
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Hasard runzelte die Stirn und schwenkte mit dem Spektiv den Strand ab. Zelte und Holzhütten. Ein Camp der Kabeljau-Fischer offenbar, doch auch hier hatte Zerstörung gewütet. In langen Reihen zogen sich die geflochtenen Weidengestelle hin, auf denen Fisch trocknete. Die hölzernen Gerüste, auf denen der Fang ausgenommen und grob zerteilt wurde, waren zum Teil zusammengebrochen. Zwischen den Bäumen am Hang der bewaldeten Hügel, die die Bucht säumten, hoben sich ein paar Holzhäuser mit Rieddächern ab, doch auch sie sahen verlassen aus. Hasard biß sich auf die Lippen. Das Ganze sah sehr nach einem Überfall aus - allerdings einem Überfall, der schon eine Weile zurücklag. Waren die Menschen der kleinen Ansiedlung niedergemacht worden? Oder hatten sie es beim Anblick der Segel vorgezogen, sich angesichts der neuen Bedrohung mit ihren Kochtöpfen in die Wälder zurückzuziehen? Sie würden es herausfinden. Die „Isabella“ ankerte in der Bucht, der Seewolf ließ ein Beiboot aussetzen. Er, begnügte sich damit, acht Mann für den Stoßtrupp auszusuchen. Die Wahrscheinlichkeit, hier oben im Norden auf Spanier zu treffen, war gering: Bei den Menschen, die sich in dieser Gegend angesiedelt hatten, handelte es sich um Engländer oder Franzosen, allenfalls Skandinavier oder aus Skandinavien stammende Schotten,, wie sie ihnen zum Beispiel auch auf den Orkney-Inseln begegnet waren. Auf jeden Fall würden diese Leute keine Feinde in ihnen sehen. Da der Angriff auf die Niederlassung zweifellos von See her erfolgt war, hielt es Hasard für besser, die „Isabella“ stark genug bemannt und gefechtsklar zurückzulassen. Ein Schwarm kreischender Möwen stob hoch, als sie das Boot auf den Strand zogen. Der Gestank nach faulenden Fischabfällen lagerte schwer über der Bucht und wurde vom auflandigen Wind zwischen die Hügel getrieben. Hasard und die anderen folgten
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einem ausgetretenen Pfad, der sich in Windungen den Hang hinaufzog. Niedrige Latschenkiefern schmiegten sich in die Falten zwischen den Felsen, Sanddorn wucherte, weiter oben leuchtete das Rot der Preiselbeerbüsche. Die Hütten standen auf einer runden, von Kiefern und Fichten gesäumten Lichtung. Eine breite hölzerne Rinne fing das Wasser einer Quelle auf, staute es in einem abgedeckten Becken, Röhren aus halbierten, ausgehöhlten Birkenstämmen leiteten es zu den einzelnen Häusern. Aber an einer Stelle waren die Stützpfeiler der Rinne von einer Kanonenkugel getroffen worden, Rinnsale plätscherten ins Gras und versickerten. Zögernd blieben die Seewölfe auf dem freien Platz stehen und blickten sich um, doch nichts regte sich ringsum, das auf versteckte Menschen hingewiesen hätte. Zehn Minuten später wußten sie, daß die Ansiedlung tatsächlich verlassen war. In den Hütten herrschte ein unbeschreibliches Durcheinander: sie waren offensichtlich geplündert worden. Von Angreifern geplündert, deren sinnlose Zerstörungswut bei der Suche nach verborgenen Reichtümern wenig heil gelassen hatte. In einigen Häusern wiesen Spuren darauf hin, daß bereits mit den Aufräumungsarbeiten begonnen worden war. Dann, als sich die Segel der „Isabella“ der Bucht näherten, hatten die Bewohner ihre Hütten offenbar Hals über Kopf wieder verlassen. Ihre Spuren hatten sie zu verwischen versucht. Recht geschickt, aber nicht geschickt genug für Batuti, den schwarzen Herkules aus Gambia. Er verschwand im Schatten des Waldsaums, stöberte ein wenig im Unterholz herum, und als er zurückkehrte, zeigte er triumphierend seine prachtvollen weißen Zähne. „Leute im Wald!“ verkündete er. „Nicht weit. Die Spuren sind noch frisch.“ „Wie viele?“ fragte Hasard. „Bißchen mehr als ein Dutzend. Auch ein paar Frauen und Kinder.“ „Frauen und Kinder?“ fragte Ferris Tucker ungläubig.
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Hasard zuckte mit den Schultern. „Wieso nicht? Sie leben hier und versuchen, sich eine neue Heimat zu schaffen — das ist ohne Frauen schlecht möglich.“ Ferris kratzte sich den roten Schopf. Er hatte noch nicht viel von dieser rauhen, durch Wind und Wetter, Piraten und Indianer gleichermaßen bedrohten Küste gesehen, aber auf jeden Fall erschien sie ihm ungeeignet als Aufenthaltsort für Frauen und Kinder. Die anderen hegten ähnliche Gedanken. Stenmark, der blonde Schwede, lächelte schief. „Schotten und Skandinavier sind eben aus 'nem anderen Holz geschnitzt als die müden Dons“, erklärte er lakonisch. „Davon abgesehen haben die Spanier die wärmeren Gegenden der Neuen Welt schon unter sich aufgeteilt“, ergänzte Hasard. Noch einmal warf er einen Blick in die Runde. „Wasser ist ja genug da. Aber wenn wir Proviant übernehmen wollen, wird uns nichts anderes übrig bleiben, als nach den Leuten zu suchen.“ Zustimmendes Nicken. Verhungern würden sie zwar so und so nicht, da die Gegend zu den reichsten Fischgründen der Welt zählte, aber nach der Batate-Orgie der letzten Tage hatte niemand Lust, jetzt mit einer Fisch-Orgie zu beginnen. Außerdem lag die Vermutung nahe, daß die Leute, die in die Wälder geflüchtet waren, Hilfe brauchten - die unbekannten Angreifer hatten wie die Berserker gewütet. Entschlossen zogen die Seewölfe los, zwängten sich durch die Büsche am Rand der Lichtung und tauchten in den duftenden Schatten des Waldes. Batuti ging voran, spähte mit zusammengekniffenen Augen in das blaugrüne Halbdämmer, bückte sich immer wieder und suchte nach niedergetretenen Grashalmen, geknickten Zweigen und ähnlichen Anzeichen. Nach einer Weile wurde es leichter: Die Flüchtenden hatten aufgehört, ihre Spuren zu verwischen, sobald sie tiefer in den Wald eingedrungen waren. Auch für die anderen war die Fährte jetzt deutlich zu erkennen.
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Laub raschelte unter ihren Füßen, immer wieder unterbrochen von dicken Moospolstern, Streifen wilden Grases, Inseln rot leuchtender Preiselbeeren. Die Ahorne prangten in kräftigen Herbstfarben, weiße Birkenstämme leuchteten dazwischen, die Wipfel einzelner Blutbuchen Wirkten wie orangefarben lodernde Flammenbündel. Die Spuren verliefen an einem Bach entlang, das Gelände stieg ab. Ein schmales Seitental öffnete sich vor ihnen, und Batuti blieb plötzlich stehen. „Menschen“, flüsterte er bestimmt. „Späher! Sie beobachten uns!“ Der Seewolf nickte nur. Auch er hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Sein Blick schweifte über Felsen, Brombeergestrüpp, niedriges Tannendickicht. War da eine Bewegung gewesen? Hasard kniff die Augen zusammen. Durch das dichte Blätterdach über ihren Köpfen stach das Sonnenlicht wie mit flirrenden goldenen Pfeilen, und einen Moment hatte er geglaubt, tanzende Reflexe auf dem Lauf einer Muskete zu sehen. „Vorsicht“, sagte er durch die Zähne. „Wenn jemand verrückt spielt, geht ihr in Deckung. Ich will hier keine Schießerei.“ „Hoffentlich wollen diese Waldameisen das auch nicht“, brummte Ed Carberry düster. Hasard grinste. „Hallo!“ rief er laut. Und als keine Antwort erfolgte: „Wir sind Engländer und kommen als Freunde.“ Zwei Sekunden Stille. Dann eine heisere Stimme. Die Worte klangen pulvertrocken: „Ich bin eure liebe Mutter, sagte der Wolf, bevor er die sieben Geißlein fraß!“ Ferris Tucker gluckste amüsiert. Batuti runzelte verständnislos die Stirn. Wahrscheinlich erzählte man sich das alte Märchen in Gambia nur in der Version vom Löwen und den sieben Gazellen. „Ich komme hinüber!“ rief Hasard, um die Prozedur abzukürzen. „Allein!“ „Tu das, wenn du's nicht lassen kannst. Aber vorher schmeißt du Pistole, Degen
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und Dolch weg, wenn du nicht wild auf ein Loch im Bauch bist.“ Der Seewolf zuckte mit den Schultern und deponierte nacheinander seine Waffen auf dem Waldboden. Langsam ging er auf die Stelle zu, wo er eben noch den Musketenlauf zwischen den Felsen gesehen hatte. Jetzt war nichts mehr zu entdecken. Hasard kletterte über ein paar mächtige Steinblöcke und erreichte eine flache, von Dickicht umgebene Mulde. Gelassen blieb er stehen. Er hatte das Rascheln gehört und war nicht überrascht, als sich ein halbes Dutzend Gestalten zwischen Felsen und Gebüsch aufrichteten. Hagere, wettergegerbte Gestalten, 'Männer mit struppigen Bärten, Pelzmützen und groben Fellwesten über den verschossenen Hemden. Mißtrauisch kniffen sie die Augen zusammen. Die Musketen in ihren schwieligen Fäusten waren schuß bereit. „Engländer?“ fragte der Wortführer, an dessen Mütze ein langer rötlicher Fuchsschwanz baumelte. „Richtig. Mein Name ist Philip Hasard Killigrew. Ich bin der Kapitän der „Isabella VIII.“. Wir sind in den Sturm geraten und haben tagelang bei Flaute im dicken Nebel gelegen. Jetzt müssen wir unsere Vorräte ergänzen.“ Einer der Männer lachte rauh. Strähniges blondes Haar fiel ihm in die Stirn, seine Haut sah aus wie vertrocknete Baumrinde. „Vorräte!“ sagte er höhnisch. „Wir wären selbst froh, wenn wir noch welche hätten.“ „Sie sind überfallen worden?“ Der Blonde biß die Zähne zusammen. Sein Blick verriet immer noch Wut und Mißtrauen. Es war der Mann mit dem Fuchsschwanz an der Pelzmütze, der als erster die Muskete sinken ließ. „Was soll's“, knurrte er. „Ob wir ihnen nun trauen oder nicht - zu holen ist bei uns sowieso nichts mehr. Ob sie Engländer, Franzosen, Spanier oder sonst was sind, kann uns auch gleich sein. Jedenfalls sind sie keine Irokesen und keine Geister, oder?“
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Hasard horchte auf. Weniger wegen der Irokesen als wegen des zweiten Hinweises. „Geister?“ wiederholte er gedehnt. Der Mann mit dem Fuchsschwanz an der Mütze verzog das Gesicht. „Wenn ihr wollt, erzählen wir euch die Geschichte später. Mein Name ist Jeremiah Parr. Unsere Leute müssen vor der Dunkelheit ihre Häuser wieder instand setzen, also gehen wir am besten zunächst mal ins Dorf zurück.“ Der Seewolf nickte nur. Jeremiah Parr zögerte, darin streckte er ihm die Hand hin, und Hasard schlug ein. Auch die anderen Männer ließen jetzt ihre Musketen sinken. Der Blonde stieß einen schrillen Pfiff aus, der Seewolf gab seinen Leuten ein Zeichen - und Minuten später hatten sich fast zwei Dutzend Menschen auf der Lichtung versammelt. Parr war das Oberhaupt der weitverzweigten Sippe, die sich in den Hütten oberhalb der Bucht angesiedelt hatte: kräftige, schweigsame Frauen, zähe Kinder, verwitterte Männer im fransenverzierten Lederzeug der Fallensteller und Pelztierjäger. Der Blonde und ein paar andere waren unverkennbar Seeleute, schottische und irische KabeljauFischer, zwei baumlange Skandinavier, die -- abgesehen von der Kleidung - eine gewisse Ähnlichkeit mit den Wikingern des Schwarzen Seglers hatten. Hasard dachte an die Schaluppen in der Bucht und die vielen Trockengestelle am Strand. Seiner Meinung nach hätten mindestens doppelt so viele Männer zu der Gruppe gehören müssen, und er ahnte bereits, wo die übrigen geblieben waren. In der Ansiedlung erhielt er wenig später die Bestätigung. Jeremiah Parr lud die Seewölfe in sein Haus ein. Sarah, seine grauhaarige Frau, lockerte mit geübtem Griff ein Dielenbrett und brachte ein Schnapsfäßchen, Hartbrot und Trockenfleisch zum Vorschein. In demselben Versteck lagerte auch noch etwas anderes, das die Unbekannten bei ihrer Plünderung nicht gefunden hatten: ein Stapel schimmernder, seidig glänzender Biberfelle.
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„Ich hoffe, sie werden nicht wieder auftauchen“, murmelte Jeremiah Parr, der sich offenbar im Umgang mit den Indianern der Gegend eine gewisse Weitschweifigkeit angeeignet hatte. „Wer?“ fragte Hasard knapp. Parr schauerte. „Die Geister - das Gespensterschiff ...“ „Eine Galeone unter schwarzer Flagge?“ „Die Galeone der Toten“, flüsterte Parr. „Wir hatten schon von ihr gehört. Aber es hieß, sie treibe weiter im Süden ihr Unwesen. Wir dachten nicht im Traum daran, daß wir ihr jemals begegnen würden.“ „Der Sturm hat sie nach Norden vertrieben“, sagte der Seewolf sachlich. „Unserem Schiff ist es genauso ergangen. Und die Piraten haben die Ansiedlung überfallen?“ „Piraten?“ Jeremiah Parrs Augen funkelten düster. „Dämonen sind das, Mister, verdammte Seelen! Sie fielen wie Ausgeburten der Hölle über uns her. Mindestens ein Dutzend guter Männer erwischten sie, als wir zu fliehen versuchten. Unglückselige, die ins Reich der Geister entführt wurden.“ Sarah Parr bekreuzigte sich. Blacky und Stenmark wechselten einen Blick, Ed Carberry rieb sich mit dem Handrücken über sein Rammkinn. Nur Hasard schüttelte den Kopf. Für ihn stand fest, daß es bei einem Spuk, der vor realen, ganz gewöhnlichen Kanonenkugeln floh, mit den übernatürlichen Kräften nicht weit her sein konnte. „Sind Sie sicher, daß die Männer nicht lediglich auf die Galeone entführt wurden, um zum Borddienst gepreßt zu werden?“ fragte er. Jeremiah Parr riß die Augen auf. „Aber es waren Geister! Lebende Tote! Wir haben sie gesehen!“ „Sie haben vermutlich das gleiche gesehen wie wir: ein paar bleiche Knochen. Und sagten Sie nicht, daß man Ihre Vorräte geplündert habe?“ „Alles weg“, murmelte Parr dumpf. „Die Speckseiten, die Schinken, das Salzfleisch,
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fünf gemästete Schweine, der Branntwein ...“ „Haben Sie schon mal von Gespenstern gehört, die Speck und Schinken essen und Branntwein trinken?“ fragte Hasard trocken. Parr schluckte. Man sah ihm an, daß ihm das Argument zu denken gab. Seine Frau kriegte schmale Augen. Sarah Parr war mit gesundem, höchst realistischem Menschenverstand ausgestattet. „Ich hab's doch gleich geahnt“, murmelte sie. „Gespenster sind nicht auf Speckseiten aus. Und wenn jemand alles kurz und klein schlägt, um den Branntwein zu finden, kann das nur eine Horde Männer sein.“ „Aber jedermann kennt die Galeone der Toten“, beharrte Jeremiah Parr. „Sie doch auch, Sir, nicht wahr?“ „Stimmt“, bestätigte Hasard. „Die angeblichen Geister versuchten, unser Schiff zu kapern. Aber sie wandten sich mit der Galeone zur Flucht, als sie sahen, daß wir nicht in Panik das Feld räumten, sondern die Kanonen klarmachten. Später trafen wir, dann auf einer der BermudaInseln mit einer Horde sehr realer Männer zusammen, die uns einen Hinterhalt legten und wieder sofort flohen, als die Sache nicht so klappte, wie sie sich das vorgestellt hatten. Sie segelten mit dem vermeintlichen Geisterschiff davon. Aber sie waren ganz sicher keine Geister, sondern nur ein zusammengewürfelter Piratenhaufen.“ Stille folgte den Worten. Sarah Parr preßte die Lippen zusammen. In den Augen ihres Mannes glomm verhaltene Wut auf. „Dann hätten wir uns wie abergläubische Kinder ins Bockshorn jagen lassen?“ knirschte er. „Von ein paar lächerlichen Halsabschneidern, die wir vierkant hätten ins Meer werfen können, wenn wir nur nicht wie die aufgescheuchten Hasen gerannt wären?“ „Sieht so aus“, sagte Hasard trocken. „O verdammt! Das - das darf nicht wahr sein! Wenn das wahr ist, beiße ich mir selbst in den Arsch, dann ...“
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„Jeremiah!“ empörte sich die Frau. „Ist doch wahr, verdammt! Diese Dreckskerle! Und zu allem Überfluß haben sie uns auch noch die Irokesen auf den Hals gehetzt!“ „Irokesen?“ fragte der Seewolf. Jeremiah Parr brütete dumpf vor sich hin. „Sie ließen uns in Ruhe“, murmelte er. „Nicht, daß wir gerade in Freundschaft mit ihnen lebten, aber sie ließen uns in Ruhe. Jetzt haben diese - diese Geister ihre Dörfer überfallen, die Felder verwüstet und Männer niedergemetzelt, und die Irokesen halten uns für die Schuldigen.“ Parr schwieg einen Moment und verzog bitter die Lippen. „Die Indianer sind abergläubisch“, sagte er gepreßt. „Die lebenden Toten plündern sie nicht nur aus, sondern spielen auch noch die bösen Geister, denen man gehorchen muß. Ich ich dachte, sie seien wirklich Geister, sie hätten vielleicht irgendeine Art von wahnwitzigem Vergnügen daran, Irokesen und weiße Siedler aufeinanderzuhetzen. Aber jetzt ... Da steckt eine teuflische Methode dahinter! Die Kerle benutzen die Wilden, um hier an der Küste um so ungestörter rauben und plündern zu können.“ Hasard kniff die Augen zusammen. „Woher wissen Sie das alles?“ fragte er. „Old Chantry hat uns gewarnt. Das ist ein alter Renegat, der eine Häuptlingstochter zur Frau hat. Er hat uns auch gesagt, daß die Irokesen uns vermutlich heute nacht angreifen werden - auf Befehl der Geister.“ „Ganz schön rührig, diese Geister“, knurrte Ed Carberry. „Stimmt.“ Der Seewolf nickte. Zu Parr sagte er: „Ihr habt also bisher friedlich mit den Irokesen zusammengelebt?“ „Ja, zum Teufel. Sie treiben Ackerbau, führen ab und zu mal einen Krieg gegen andere Stämme, die Huronen zum Beispiel, aber sie interessieren sich weder für die Kabeljau-Fischer noch für die Ansiedlungen an der Küste, solange die Weißen nicht zu weit in ihre Wälder eindringen. Aber jetzt ...“ Er schwieg und bewegte resignierend die Hand. „Können Sie - sich nicht mit ihnen verständigen?“
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„Sie werden erst angreifen und dann fragen. Da wir zu wenige sind, werden wir alle mit Pfeilen gespickt und skalpiert sein, bevor wir versuchen können, irgendetwas zu erklären.“ In der Stille, die seinen Worten folgte, hätte man eine Stecknadel fallen hören. Hasard dachte an die schweigenden geduldigen Frauen und an die mageren Kinder. Er sah plötzlich die Resignation in Sarah Parrs Augen. Und er sah die tief eingekerbten Züge der Bitterkeit, die das wettergegerbte Gesicht des Siedlers zerfurchten. Die Seewölfe saßen stumm an dem roh gezimmerten Tisch. Batuti rollte mit den Augen. Blacky, Stenmark und Ferris Tucker schnitten ihre finstersten Gesichter, Ed Carberry sah haargenau so aus, als ziehe er im Geiste schon jemandem die Haut ab. Dan O'Flynn und Bill, die Jüngsten der Crew, holten beide zugleich tief Luft. „Das können wir nicht zulassen“, sagte Bill spontan. „Wäre ja noch schöner!“ stimmte Dan zu. „Schließlich sind es unsere Landsleute, oder?“ Dabei sah er sich kampflustig um, doch niemand widersprach ihm. Hasard lächelte leicht. Die englischen Ansiedler und die meisten der Kabeljau-Fischer waren ihre Landsleute, ja. Aber davon abgesehen hatten sich die Seewölfe noch nie davon abhalten lassen, sich auf die Seite des Schwächeren zu schlagen, dem Unrecht geschah. Sie würden diesmal nicht anders handeln, darüber brauchten sie nicht erst lange zu diskutieren. * Als Jeremiah Parr seine Leute versammelte, waren Siedler und Fischer bereits dabei, die Hütten zu befestigen, Palisaden zu errichten und sich bis an die Zähne zu bewaffnen. Die meisten Waffen hatten sie retten können, als sie vor den vermeintlichen Geistern geflohen waren. Sie hatten
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überhaupt eine gewisse Übung darin, sich mit Musketen und Kochtöpfen in die Wälder zurückzuziehen - die Gefahren in diesem wilden Land waren so zahlreich, daß solche Fluchtunternehmen schon fast zur Routine zählten und niemanden mehr sonderlich aufregten. Nur vor den Irokesen boten die Wälder keine Sicherheit. Mit denen mußte man sich entweder verständigen, oder man ging unter. Das galt jedenfalls für die Menschen der kleinen Ansiedlung und erst recht für die Fischer, die von der Mentalität der Indianer keine Ahnung hatten. Sie alle atmeten erleichtert auf, als sie erfuhren, daß sie unvermutet Verbündete gefunden hatten. Schweigend drängten sie sich in dem Geviert aus abgeschälten Baumstämmen, die ihnen als Bänke dienten, wenn sie ihre Versammlungen abhielten. Von der „Isabella“ war ein Teil der Crew herübergekommen, auch die Rote Korsarin, deren exotische Erscheinung einiges Aufsehen erregte. Um die Sicherheit des Schiffs zu gewährleisten, waren auf den Felsen an der äußersten Spitze der Landzunge Posten aufgestellt worden. Sie wollten einen chinesischen Feuerwerkskörper als Signal benutzen, falls sich irgendetwas tat. Ein Signal, das selbst noch in dem Nebel zu sehen sein würde, der an diesen Küsten manchmal blitzartig wie durch Zauberei entstand und genauso schnell wieder vom Wind verweht wurde. Jeremiah Parr faßte noch einmal die Situation zusammen. „Wir müssen uns mit den Irokesen einigen“, schloß er. „Es nutzt nichts, wenn wir sie heute Nacht zurückwerfen und ganz genau wissen, daß sie uns dafür morgen oder übermorgen skalpieren. Ich glaube auch, daß wir sie überzeugen können. Skeetankeh ist ein Mann, den die Geisterfurcht nicht so einfach blind werden läßt.“ „Aber er wird nicht verhandeln“, sagte einer der Männer düster. „Doch! Weil wir ihn dazu zwingen werden. Mister Killigrew hat einen Plan.“
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Gespannt wandten sich alle Augen dem Seewolf zu, der gelassen an ei nem Baumstamm lehnte. In knappen, ruhigen Worten erläuterte er, wie sie vorgehen würden. Aus den Blicken der Versammlung schwanden allmählich das Mißtrauen und die Resignation und wichen einem erregten Funkeln. „Verdammt!“ knurrte der blondhaarige Fischer. „Das könnte klappen. Obwohl es ein ziemliches Risiko ist.“ „Nicht für dich und nicht für mich“, sagte Jeremiah Parr pulver trocken. „Wir haben nämlich fast nichts zu verlieren. Die einzigen, die ein Risiko eingehen, obwohl sie es gar nicht nötig hätten, sind die Männer von der „Isabella“. Und ich weiß verdammt noch mal nicht, wie wir uns je dafür bedanken sollen, da uns die verdammte Totengaleone fast nichts gelassen hat.“ Zustimmendes Gemurmel. Hasard fuhr rasch in der Erläuterung seines Plans fort, bevor die Dankbarkeitsbezeigungen allzu heftig werden konnten. „Was wir brauchen, werden meine Leute mit dem Beiboot von der „Isabella“ holen“, schloß er. „Ich hoffe, es reicht aus, um die Angreifer zunächst einmal in Schach -zu halten. Wichtig bei der ganzen Geschichte ist, daß möglichst kein Schuß fällt und niemand getötet wird.“ Er runzelte flüchtig die Stirn und wandte sich Jeremiah Parr zu. „Übrigens habe ich gehört, daß die Indianer .angeblich niemals nachts angreifen.“ Der Siedler verzog die Lippen. „Das mag stimmen, wenn sie einen großen Kriegszug unternehmen und damit rechnen, daß es viel Tote gibt, deren Seelen nicht in die Ewigen Jagdgründe eingehen können, wenn sie nachts sterben. Aber was hätten sie von uns schon groß zu befürchten? Außerdem unterscheiden sie sich in diesen Dingen auch nicht groß von uns. Schließlich denken ja auch nicht alle Christen dauernd nur an ihr Seelenheil, oder?“ Das Argument war nicht ohne Logik.
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Hasard mußte grinsen. Auch seine Männer feixten. Und die Siedler, die sich vor Stunden noch auf verlorenem Posten gewähnt hatten, sahen der Zukunft nicht mehr so hoffnungslos entgegen wie zuvor. 4. Die Nacht sank herab, eine gespenstische Nacht voller ziehender Nebelschwaden, die sich manchmal bedrohlich verdichteten, dann wieder zurückwichen und den Himmel freigaben, wo Myriaden von Sternen funkelten und der zunehmende Mond das Land mit seinem klaren, eigentümlich harten Silberglanz übergoß. Zwischen den hohen alten Bäumen wirkte die Dunkelheit undurchdringlich wie schwarzes Wasser. Eine Dunkelheit voller Geräusche, huschender Bewegung, ungreifbarer Gefahren... Auf der Hügelkuppe kauerte der Seewolf auf einem hohen Felsblock - reglos, als sei er mit dem Stein verschmolzen. Neben ihm, gegen einen schroffen Zacken gelehnt, warrr Jeremiah Parr zu der gleichen Bewegungslosigkeit erstarrt. Hasard entdeckte eine neue Seite an diesem Mann: die des Waldläufers, des halben Wilden, der eins mit der ihn umgebenden Natur werden konnte, so wie das dem Seemann zuweilen mit Wellen und Sturm erging. Hasard gestand sich ein, daß er sich in dieser wuchernden, beengenden Wildnis niemals derart zu Hause fühlen würde. Er war in Cornwall aufgewachsen, die See lag ihm im Blut, er brauchte die Weite, die Endlosigkeit des Meeres. Seinen Männern ging es genauso. Mit Ausnahme von Batuti, dem Gambia-Neger, dessen Instinkte immer noch die Erinnerung an seine afrikanische Heimat bewahrten, obwohl er sich eher hätte vierteilen lassen, als die Seefahrt aufzugeben. Auch der schwarze Herkules hatte den Felsblock erklommen. Er bot ihnen freie Sicht über das Land soweit bei diesen bewaldeten Hügeln von freier Sicht die Rede sein konnte. Die Irokesen hatten die Fähigkeit, sich in ihren
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Wäldern unsichtbar und völlig lautlos zu bewegen. Je weniger man sie bemerkte, desto näher mußte man sie vermuten - das jedenfalls war die Weisheit der Erfahrung, von der Jeremiah Parr ausging. Man könne sie höchstens riechen, hatte er gesagt, was in diesem Fall nichts nutzte, da der auflandige Wind den Geruch nach Bärenfett in die falsche Richtung wehen würde. Hasard wußte nicht, ob er sich in diesem Fall auf seinen Instinkt verlassen konnte: Ein Indianerangriff war kein Sturm, den er zu wittern pflegte. Verläßlicher waren da vermutlich Batutis Instinkte. Er kannte die Wildnis. Er konnte Spuren lesen wie kein zweiter, er hatte ein untrügliches Gespür für die winzigen, fast unmerkbaren Veränderungen, die die Annäherung von Menschen in der Natur verursachte, er würde vielleicht auch die Irokesen rechtzeitig bemerken. Stunden schleppten sich dahin. Nebel kam und ging, der Wind, der über die Hügel wehte, hatte bereits die Schärfe von Kälte und Frost und ließ keinen Zweifel daran, daß der Winter nahte. Auf Neufundland, behauptete Jeremiah Parr, konnte es um diese Zeit schon schneien. Hasard hatte es sich gemerkt. Denn die englische Ansiedlung an der Ostküste von Neufundland, St. Johns, war für die Seewölfe die nächste Anlaufstelle, wo sie vielleicht den notwendigen Proviant übernehmen konnten. „Sir?“ erklang Batutis leise Stimme aus dem Dunkel. „Ja?“ „Ich glaube, sie kommen.“ „Verdammt!“ knirschte Jeremiah Parr. „Woher will der verdammte Nigger das wissen?“ Hasard kniff die Augen zusammen. „Sie sprechen von einem meiner Freunde, Mister Parr“, sagte er sehr leise und sehr scharf. „Waaas?“ fragte der Siedler. „Sie haben richtig gehört. Aber ich würde Ihnen trotzdem empfehlen, jetzt nicht darüber nachzugrübeln, sondern sich lieber um die Irokesen zu kümmern.“ Jeremiah Parr schwieg. Doch war es eine ganze Menge, was ihm in den nächsten
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Minuten aufging. Er begriff plötzlich etwas mehr von jenem seltsamen Mann, der Seewolf genannt wurde. Er begriff auch etwas über sich selbst, über seine Stellung in diesem fremden, feindlichen Land — er begriff, daß er vielleicht nie in eine so gefährliche Situation geraten wäre, wenn er die Irokesen als Menschen, als gleichwertige Partner und nicht als wilde Tiere betrachtet hätte. Skeetankeh ist nicht der Mann, den die Geisterfurcht einfach blind werden läßt, hatte er gesagt. Und doch war der Irokesenhäuptling für ihn nur eine Bestie gewesen, die man kennen mußte, um sie zu zähmen. Hatte er sich geirrt? Waren alle seine Versuche, die Indianer mit Drohungen und Geschenken in Schach zu halten, falsch gewesen? Hätte er es nicht viel, einfacher haben können, indem er Skeetankehs Wort vertraute und sein eigenes Wort verpfändete, um zu einem dauerhaften Frieden zu gelangen? Jetzt war es zu spät. Die Irokesen bemühten sich gar nicht mehr, ihre Annäherung zu verheimlichen. Wie bronzene Statuen erschienen sie zwischen Buschwerk und Felsen, halbnackte Krieger, in farbenprächtige Gewänder gehüllt, die Schädel kahl bis auf den einzelnen, federgeschmückten Haarbusch, wild bemalt und mit Tomahawks und schußbereiten Bogen in den sehnigen Fäusten. Hunderte! Unmöglich, ihnen zu widerstehen! Sie würden das Dorf hinwegfegen! Jenseits des schmalen Tals verharrte der Häuptling mit seinem Gefolge auf dem Hügel, und jetzt erhob sich der schrille, tremolierende Kriegsruf, ließ die Luft erzittern und schlug die Gegner mit Schrecken und Furcht. Auch der Seewolf konnte sich der Wirkung des gellenden, gespenstischen Geheuls nicht völlig entziehen. Er biß die Zähne zusammen. „Jetzt, Batuti!“ zischte er. Der riesige Gambia-Neger hob die Hände zum Mund und stieß den Käuzchenruf aus, der als Signal vereinbart worden war.
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Rings um das Dorf warteten die Seewölfe in ihren Verstecken — nicht um zu kämpfen und zu töten. Auch die Irokesen waren nur einem schäbigen Trick zum Opfer gefallen, genau wie alle anderen. Aber die „Isabella“ hatte aus dem fernen China ein paar Dinge mitgebracht, die keine Waffen waren und doch auf jeden, der sie nicht kannte, ungleich erschreckender wirkten als Musketenschüsse und selbst Kanonendonner. Zischend und sprühend stieg der erste Feuerwerkskörper empor. Nebelschwaden glühten rot auf. Unter diesem schwarzen Sternenhimmel zerplatzte die harmlose Rakete und ließ Feuer in allen Farben des Regenbogens auf die Erde sinken. Ein vielstimmiger Aufschrei antwortete. Die Reihen der Irokesen gerieten ins Wanken. Bemalte Krieger im Federschmuck hoben erschrocken die Arme vor die Gesichter, und schon zischte der nächste Feuerwerkskörper in den Himmel und entfaltete seine ganze erschreckende Pracht. Hasard atmete tief. „Los jetzt!“ stieß er durch die Zähne. Jeremiah Parr setzte sich in Bewegung, obwohl ihm anzusehen war, daß ihn das Feuerwerk kaum weniger beeindruckte als die schreckensstarren Irokesen. * Geduckt huschten sie durch den Schatten zwischen den Baumstämmen. Parr atmete schwer: Man hatte ihm zwar von den chinesischen Feuerwerkskörpern erzählt, aber wer sie nicht kannte, der konnte sich das Schauspiel auch mit viel Phantasie nicht ausmalen. Batuti glitt schlangengleich durch das Dickicht und konzentrierte sich ganz auf die Wildnis ringsum, die ihm vertraut war. Der Seewolf spähte zur jenseitigen Hügelkuppe hinüber und suchte den Irokesenhäuptling mit den Augen, die Ältesten des Stammes, die um ihn versammelt waren, um den Erfolg des nächtlichen Überfalls zu
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beobachten. Aber noch war in der Dunkelheit niemand zu sehen. Daß sie überhaupt bei Nacht angegriffen hatten, bewies schon, wie sicher sie sich fühlten. Jetzt allerdings war ihre Sicherheit ins Wanken geraten. Pausenlos stiegen Feuerwerkskörper in den Himmel, übergossen Wälder und Hügel mit grellem Licht und tauchten das Land in alle Farben des Regenbogens. Die Krieger standen wie versteinert. Starr blickten sie auf das unheimliche Schauspiel, und niemand achtete in diesen Minuten auf die Umgebung. Hasard, Batuti und Jeremiah Parr arbeiteten sich den jenseitigen Hügel hinauf. Auch hier gab es ein paar hochragende Felsen auf der Kuppe. Halbkreisförmig schlossen sie eine Lichtung ein. Parr hatte gewußt, daß sie hier den Häuptling finden würden. Tatsächlich erkannten sie die hohe, halbnackte Gestalt im Schmuck der Federn zwischen drei, vier anderen, die ebenfalls wie gebannt in den gleißenden, vielfarbigen Widerschein des Feuerwerks blickten. Noch ein paar Schritte! Skeetankeh stand mit gekreuzten Armen, den nackten Oberkörper glänzend von Bärenfett, den einzelnen Haarbusch auf dem Haupt mit Adlerfedern geschmückt. Stumm und unbewegt starrte er auf das Schauspiel. Doch verrieten die tiefliegenden Augen, daß er von diesem Schauspiel nicht weniger erschreckt und verwirrt war als seine Begleiter, die bis an den Rand des felsigen Plateaus getreten waren, um besser sehen zu können. Der Seewolf spannte sich. Er kannte die Irokesen nicht. Wenn sich Jeremiah Parr in seiner Beurteilung geirrt hatte, würde Hasard in der nächsten Minute ein toter Mann sein. Aber jetzt gab es nichts mehr zu überlegen. Die Entscheidung war gefallen. Lautlos verließ der Seewolf seine Deckung. Er hatte sich von den Siedlern einiges über das scharfe Wahrnehmungsvermögen der
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Irokesen erzählen lassen. Wahrscheinlich war es nur dem Feuerwerk zu verdanken, daß ihn die Indianer nicht vorzeitig bemerkten, aber das war auch einer der Gründe dafür gewesen, dieses Feuerwerk zu veranstalten. Hasard schaffte es, dicht an den Irokesenhäuptling heranzukommen. Unmittelbar hinter der reglosen Gestalt schnellte er hoch. Ein Ruck ging durch den Körper des Indianers. In letzter Sekunde spürte er die Gefahr und wollte herumwirbeln, doch da setzte ihm der Seewolf bereits das Entermesser an die Kehle. Dicht neben ihm hatte sich Jeremiah Parr aufgerichtet, halb paralysiert vor Entsetzen und überzeugt davon, daß die ganze Sache fürchterlich schiefgehen müsse. „Keine Bewegung!“ zischte er in der Sprache der Irokesen. „Die Geister sind mit uns, wie du siehst! Sie könnten euch zerschmettern! Aber wir wollen mit euch verhandeln!“ Der Irokese rührte sich nicht. Hasard bezweifelte, daß ihn das Messer an der Kehle sonderlich beeindruckte. Aber im selben Augenblick zeigte der Befehl seine Wirkung, der von Batuti aus an einer verborgenen Kette entlang bis zu Ed Carberry gewandert war. Ein halbes Dutzend der prachtvollsten Feuerwerkskörper stieg gleichzeitig in den Himmel - und minutenlang war die Luft erfüllt vom Platzen der Raketen, dem schillernden Feuerregen und den zischenden roten und grünen Schlangen, die ihre wilde Zickzackbahn zur Erde nahmen. Skeetankeh sog scharf die Luft ein. Seine Begleiter waren herumgefahren, doch sie wagten nichts zu unternehmen, nicht ohne Befehl. Und diesen Befehl gab der Häuptling nicht. Statt dessen ließ er die Schultern sinken, und etwas von der Spannung wich aus seiner Haltung. Nicht aus Angst, das begriff Hasard sehr genau, obwohl er sich vorstellen konnte, wie das chinesische Feuerwerk auf den Indianer wirken mußte.
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Skeetankeh verlor nicht die Nerven. Er hätte ohne Zögern den Befehl zum Angriff gegeben und notfalls sein eigenes Leben geopfert. Aber er wartete ab, weil er die Lage nicht durchschaute, vielleicht auch, weil er Jeremiah Parr und die Siedler kannte und trotz allem keine Todfeinde in ihnen sah. Was wiederum heißen mußte, daß er den Befehlen der vermeintlichen Geister von der Galeone nicht blindlings gehorchte, obwohl sie ihn sicher mächtig beeindruckt hatten. Alles das schoß Hasard durch den Kopf, während er nach dem Arm des Irokesen griff und ihn langsam rückwärts zog. „Wir wollen verhandeln“, wiederholte Parr eindringlich. „Unser Wort, daß dir nichts geschieht! Unser Wort und das Wort des Seewolfs!“ Er benutzte immer noch den Irokesendialekt und hatte instinktiv den richtigen Ton gewählt sowie die richtigen Worte gefunden. Später wurde Hasard klar, daß der Name „Seewolf“ für die Indianer an den Namen irgendeines legendären Häuptlings erinnerte. Zusammen mit dem in der Tat beeindruckenden Feuerwerk genügte das alles jedenfalls, um Skeetankeh zu bestimmen, zunächst einmal nicht zum Angriff zu rufen, sondern nachzugeben. Er folgte dem Druck von Hasards Faust. Widerstandslos bewegte er sich rückwärts, stieg den Hügel hinunter, und der Seewolf wußte, daß er zumindest die erste Runde dieses seltsamen Spiels gewonnen hatte. * Minuten später standen sie auf den Felsen der Hügelkuppe jenseits der Senke, ziemlich genau auf halbem Weg zwischen den Angriffslinien der Irokesen und dem Dorf. Innerhalb der Ansiedlung hätte sich der Häuptling als Gefangener gefühlt. Hier dagegen würde ein Wink mit der Hand genügen, um seine Krieger in Bewegung zu setzen. Das Gespräch war erzwungen, und dennoch redeten sie von gleich zu gleich - genau das, was Hasard bezweckt hatte. Sein Rücken prickelte vor Schweiß.
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Er wußte, daß er riskierte, jeden Augenblick von Pfeilen durchbohrt zu werden. Aber er wußte zugleich, daß das die einzige Möglichkeit war, mit Skeetankeh ins Gespräch zu kommen. In dieser Hinsicht unterschieden sich die Irokesen nicht von vielen anderen Kriegern, denen die Seewölfe während ihrer abenteuerlichen Fahrten begegnet waren. Im alten Europa mußte man damit rechnen, daß Soldaten blindlings und stumpfsinnig irgendwelchen Befehlen gehorchten. Bei den vielfach so verachteten Wilden konnte man sich meist auf ein natürliches Gefühl für Fairneß und Mut verlassen. Pfeile, Lanzen und Kriegsbeile wurden erfahrungsgemäß auf den Angreifer oder den Flüchtenden geschleudert, aber nicht auf denjenigen, der sich ihnen furchtlos aussetzte. Skeetankeh ließ seinen Blick wandern. Der Seewolf stand ihm gegenüber, neben ihm Jeremiah Parr mit ziemlich skeptischem Gesicht, aber unverdrossen, da er als Dolmetscher gebraucht wurde, ein paar Schritte entfernt die schwarze Hünengestalt Batutis, der schon von seinem Äußeren her geeignet war, den Indianer zu beeindrucken. Der Häuptling straffte sich. Man hatte ihn mit einem Messer an der Kehle hierhergebracht, aber angesichts des unbegreiflichen, inzwischen erloschenen Feuerwerks war er geneigt, diese schmähliche Tatsache zu vergessen. „Erklären Sie ihm, daß er nur bedroht worden ist, weil wir mit ihm sprechen wollten“, sagte Hasard durch die Zähne. Jeremiah Parr erklärte es. Da er die Indianer kannte, dauerte diese einfache Erklärung gut fünf Minuten. Vier dieser Minuten wurden von Lobpreisungen auf den großen Skeetankeh in Anspruch genommen. Um sich dafür zu entschuldigen, daß man ihn mangels einer anderen Wahl so schmählich behandelt habe, brauchte Parr ebenfalls ziemlich viele Worte. Danach redete der Irokese.
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Lange, so lange, daß Parrs Zusammenfassung beinahe lächerlich lakonisch erschien: die Geister wünschten die Vernichtung der Ansiedlung. Hasard lächelte. Er kannte die Irokesen nicht. Aber er war im Orient gewesen, lange genug, um sich die Fähigkeit zu einer ungemein weitschweifigen und blumenreichen Ausdrucksweise anzueignen. Dazu nahm er jetzt seine Zuflucht, mehr instinktiv als verstandesgemäß. Die Zwillinge hätten wohl ihren Spaß an der Überzeugungskraft gehabt, mit der er dem Indianerhäuptling wünschte, die glücklichen Tage seines Lebens möchten so zahlreich sein wie die Kiesel im Bach und die Zahl seiner männlichen Nachkommen an die Blätter im Wald heranreichen. Skeetankeh schien zufrieden. All die arabischen Wendungen hatte er zwar bestimmt noch nie gehört, doch sie bestärkten ihn in der Ansicht, der Seewolf müsse der Häuptling eines unbekannten, aber mächtigen Stammes sein. Hasard dankte im Geiste einigen Wüstensöhnen, die er zuzeiten gar nicht so sympathisch gefunden hatte. Nach der zeremoniellen und zweifellos geglückten Einleitung kam er zur Sache. Vorher hatte er sich nicht zurechtgelegt, was er sagen wollte, jetzt ergab es sich aus der Situation. Die Geister wollen es, hatte Skeetankeh gesagt. Der Seewolf erzählte ihm eine lange Geschichte über diese Geister, die im Laufe des Berichts immer mehr die Züge von raffinierten, aber feigen Piraten annahmen. Die Einzelheiten — wie zum Beispiel das Gerippe an der Rah und die Totenköpfe unter den Kapuzen — ließen keinen Zweifel daran, daß der Kapitän der „Isabella“ jenen angeblichen Geistern tatsächlich begegnet war und wußte, wovon er redete. Zum erstenmal zeigte sich der Irokesenhäuptling in seiner steinernen Ruhe erschüttert. Er sprudelte eine ganze Menge hervor. Parr übersetzte, ziemlich fassungslos. Seine Stimme krächzte.
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Der weiße Mann mit den Augen des nördlichen Eises habe recht. Von Süden seien die Geister erschienen, und nach Norden wollten sie weitersegeln letzteres eine Information, die den Seewolf in Gedanken unterstrich. Die lebenden Toten hätten die Vorräte der Irokesen genommen und ihnen prophezeit, daß sie Ruhm und Reichtum bei einem Feldzug gegen die weißen Siedler gewinnen könnten. Aber auch bei den Indianern hatten die „lebenden Toten“ offenbar gewisse Zweifel an ihrem übernatürlichen Wesen geweckt, da sie ganz nach Menschenart auf Schmuckstücke und Gold, Speckseiten und Schnaps scharf gewesen waren. Hasard beeilte sich, die Zweifel des Irokesenhäuptlings zu vertiefen, indem er ihm erklärte, daß selbst das fabelhafte Feuerwerk durchaus natürlichen Ursprungs gewesen sei. In einem Punkt behielt Jeremiah Parr recht: Skeetankeh war tatsächlich kein Mensch, der sich so leicht verblenden ließ. Er hatte im Angesicht des „Geisterschiffs“ seine Zweifel behalten und sich schließlich mit Rücksicht auf seine abergläubischeren Stammesgenossen zu dem Überfall bereitgefunden. Das Feuerwerk war ungleich eindrucksvoller gewesen, doch auch in diesem Punkt ließ sich der Irokese rasch überzeugen. Hasard stellte fest, daß der Häuptling durchaus etwas von einem ausgekochten Halunken hatte, der sich bietende Chancen auszunutzen verstand. Er wolle eine von den geheimnisvollen Raketen sehen, erklärte er, was immerhin schon ein Fortschritt war, da er vorher nur die Skalps seiner Gegner zu sehen gewünscht hatte. Hasard lud ihn mit großer orientalischer Geste ein, an den Strand zu kommen. Schon die Tatsache, daß sich der Häuptling solcherart von seiner Hauptstreitmacht trennen ließ, konnte als Sieg betrachtet werden. In steinerner Beherrschung sah Skeetankeh zu, wie Blacky einen der harmlosen chinesischen Feuerwerkskörper zündete.
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Wieder wurde die Nacht sekundenlang von dem farbenprächtigen Schauspiel erhellt. Der Blick des Irokesenhäuptlings glitt über die Umstehenden. Lange blieb dieser Blick an Siri-Tong hängen. Ein durchaus ehrerbietiger Blick, aus dem Hasard die richtigen Schlüsse zog, obwohl ihm Jeremiah Parr erst später erklärte, daß die Irokesen in der Tat nach einer eher matriarchalischen Gesellschaftsstruktur lebten. Die Frau bestimmte innerhalb der Sippe, der Mann bestimmte im Kampf - so einfach war das. Ob auch er so eine Rakete zünden könne, wollte Skeetankeh wissen. Er könne, wurde ihm gesagt. Und man werde ihm gern ein paar von den Dingern zur Verfügung stellen, fügte Hasard hinzu. Das war nämlich der Punkt, der den Irokesenhäuptling über alle Geisterfurcht und alle Feindschaft gegenüber den weißen Siedlern hinaus ungemein reizte. Parr übersetzte getreulich, aber er erweckte den Eindruck, die Welt nicht mehr zu begreifen, als ihm klar wurde, daß die Verhandlungen unversehens schon das Stadium erreicht hatten, in dem man mit gebührender Weitschweifigkeit die Einzelheiten des künftigen Friedensabkommens festlegte. Schließlich verschwand Skeetankeh, um sich mit den Stammesältesten zu beraten und seine kampfbereiten Krieger zu benachrichtigen. Im Dorf wurde unterdessen der feierliche Empfang vorbereitet. Die Siedler trennten sich von zwei Jagdgewehren und diversen Glasperlen, die eigens für solche Zwecke bereitgehalten wurden, die Seewölfe von einem Dutzend Feuerwerkskörpern. Gegenseitige Geschenke müßten sein, erklärte Jeremiah Parr. Als eine knappe Stunde später die offizielle Abordnung der Irokesen erschien, breiteten zwei Krieger kostbare federgeschmückte Bögen, ein paar Tomahawks und eine farbenprächtige, dämonisch-wilde Tanzmaske vor den Siedlern aus. Es wurde ein langes Palaver, das bis zum Morgengrauen dauerte. Zum Schluß kreiste
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zwischen Hasard, Jeremiah Parr und Skeetankeh feierlich das Calumet und besiegelte das Bündnis. Die Irokesen würden künftig weder die Niederlassung noch die Fischer behelligen, die am Strand ihren Kabeljau einsalzten. Und der Häuptling zeigte sich höchst befriedigt darüber, daß die „Isabella“ nach Neufundland segeln würde, um dort vielleicht den niederträchtigen „Geistern“ eine Lektion zu erteilen. Parrs Siedler und die Kabeljau-Fischer wirkten erschöpft und erleichtert, als die Indianer schließlich abzogen. Die Seewölfe blickten ihnen nach: ein langer Zug halbnackter bronzehäutiger Gestalten unter federgeschmückten Haarbüscheln. Der Schatten des Waldes nahm sie auf. Jeremiah Parr atmete tief durch und wandte sich langsam zu Hasard um. „Ich weiß nicht, wie ich Ihnen und Ihren Männern danken soll, Mister Killigrew“, sagte er leise. „Wir wären getötet worden, und jetzt ... Glauben Sie, die Irokesen werden sich an die Vereinbarung halten?“ „Ja, das glaube ich. Aber Sie müßten sie eigentlich besser kennen als ich.“ Parr hob die Schultern. „Ich habe sie für primitive Wilde gehalten, deren Wort man nicht trauen kann. Vielleicht zu Unrecht.” „Sicher zu Unrecht. Wir haben auf unseren Fahrten eine Menge Wilde kennengelernt und nie festgestellt, daß man ihnen weniger trauen konnte als den sogenannten zivilisierten Menschen, die sich nur zu oft reichlich unzivilisiert benehmen. Parr nickte nur. „Werden Sie das — das Geisterschiff verfolgen?“ „Möglich, daß wir ihm auf dem Weg nach Norden begegnen. Wir segeln zunächst einmal nach St. Johns, um Proviant zu übernehmen.“ „Wenn Sie der Galeone begegnen, werden Sie sie dann angreifen und vielleicht versuchen, unsere Freunde zu befreien, da sie ja offenbar doch nicht ins Geisterreich entführt, sondern zum Borddienst gepreßt worden sind?“
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Hasard lächelte. „Wir werden tun, was wir können, verlassen Sie sich darauf, Mister Parr.“ „Danke! Vielen Dank!“ Die beiden Männer wechselten einen Händedruck, der für den Seewolf ein Versprechen besiegelte. Inzwischen hatten seine Leute bereits leere Fässer von der „Isabella“ gemannt, um wenigstens frisches Wasser zu übernehmen, das es hier im Überfluß gab. Die Fischer waren darangegangen, ihre beschädigten Schaluppen und die Trockengerüste zu reparieren. Sie winkten, als das letzte Beiboot an Bord gehievt wurde und die Galeone ankerauf ging. Nebelfetzen trieben über das Wasser, aber sie wurden nicht wieder zu einer dicken Suppe. Der Wind hatte auf Süd gedreht, und die „Isabella“ nahm raumschots Kurs auf die Ostküste von Neufundland. 5. Sie passierten die Cabot-Straße, rundeten Kap Face und segelten dicht unter Land an der steilen, zerklüfteten Ostküste von Neufundland vorbei. An Backbord erhoben sich dunkle, teils bewaldete, teils von niederem windzerzaustem Gras bedeckte Höhenrücken. Die Landschaft sah karg und wild aus und schien unter dem blaßblauen Himmel lebensfeindliche Kälte auszustrahlen. Nirgends gab es Anzeichen dafür, daß das Land bebaut wurde. Nur ab und zu waren einzelne Fischerhäuser zu sehen: winzige, windschiefe Hütten auf Pfählen, von Steinwällen gestützt, in deren Schutz die flachen Ruderboote lagen. Saint Johns lag weiter im Norden. Daß es an diesem öden Gestade überhaupt eine Ansiedlung gab, war nur dem ungewöhnlichen Fischreichtum der Neufundland-Bänke zu verdanken. Die „Isabella“ lief gute Fahrt und erreichte die englische Niederlassung gegen Mittag. Es war eine Ansammlung massiver, festgefügter Holzhäuser, vom schlichten, robusten Turm einer Kirche überragt. Auch hier zogen sich die Weidengeflechte der
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Trockengerüste für den Kabeljau an den Stränden hin. In dem gut geschützten Naturhafen lag neben einer Anzahl einmastiger Schaluppen und Pinassen eine ranke Karavelle - oder das, was einmal eine Karavelle gewesen war. Hasard kniff die Augen zusammen. Sein Blick glitt über die Löcher in den Bordwänden, über den abgeknickten Besanmast, die Spuren des Gefechts, und wanderte weiter zu den Häusern. Sie wirkten verlassen. Türen standen offen, ein paar hingen schief in den Angeln, ein Teil der mit dünner Fischhaut bespannten Fenster war zerstört worden. Auch Saint Johns bot den Anblick einer ausgeplünderten, von den Bewohnern fluchtartig verlassenen Siedlung. Hasard dachte sofort an die vermeintliche GeisterGaleone. „Mann!“ brummte Ben Brighton neben ihm. „Die hausen aber ganz schön, die Brüder.“ „Falls sie es waren.“ Der Seewolf runzelte die Stirn. „Wenn ja, müßten sie eigentlich noch in der Nähe sein.“ „Und wenn sie weiter nach Norden gesegelt sind?“ „In die Labrador-See? Glaube ich nicht. Da oben gibt's doch nichts - auf jeden Fall nichts zu plündern.“ Ben nickte nachdenklich. Wenn das Geisterschiff nach Süden zurückgesegelt wäre, hätte es ihnen begegnen müssen, das war auch ihm klar. Es sei denn, es hatte einen weiten Bogen beschrieben, aber dazu bestand eigentlich nicht der geringste Anlaß. Befand sich die „Galeone der Toten“ also tatsächlich noch in der Nähe? Ben runzelte die Stirn, spähte über das Wasser, aber er konnte nichts entdecken, da die Landspitze nördlich von Saint Johns bereits wieder im Nebel verschwamm. Als sie in den Hafen liefen und neben der zerschossenen Karavelle ankerten — mit dem Bug zur Ausfahrt, damit sie jederzeit mit halbem Wind davonrauschen konnten —, hatte die Luft einen Hauch von schneidender Kälte, die bis auf die Knochen drang.
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Hasard hatte das Ankermanöver beobachtet und zuckte zusammen, als eine zugleich fremde und vertraute Gestalt unter ihm über die Kuhl fegte. Im nächsten Augenblick mußte er lachen: Es handelte sich um Arwenack in der Seemannskluft, die der Segelmacher Will Thorne extra für den Schimpansen angefertigt hatte. Natürlich, Neufundland war entschieden zu kalt für ihn. Er trug sogar Strickstrümpfe, was ihn zwar etwas beim Klettern behinderte, aber vor kalten Füßen bewahrte. Eine dicke Jacke und eine über die Ohren gezogene Wollmütze vervollständigten die Ausrüstung. Arwenack fühlte sich offenbar wohl, und die Zwillinge, die ihn offenbar ausstaffiert hatten, waren ebenso sichtlich stolz auf ihr Werk und feixten. Sie brannten darauf, mit an Land zu gehen und diese wilde, seltsame Küste zu erforschen, aber Hasard schüttelte den Kopf. Nicht, bevor man sich darüber vergewissert habe, was in Saint Johns los sei, erklärte er kategorisch. Philip und Hasard schmollten. Sie waren schon an der Küste Neuschottlands nicht dazu gekommen, die „Isabella“ zu verlassen, das ganze herrliche Abenteuer mit den wilden, bemalten Irokesenkriegern war ohne sie vonstatten gegangen. Sie fühlten sich ungerecht behandelt, doch das nutzte ihnen nichts. Die „Isabella“ lag so, daß sie mit den Bugdrehbassen die Hafeneinfahrt bestreichen konnte—eine Maßnahme, zu der die Besatzung der Karavelle offenbar nicht mehr gekommen war, da sie in wilder Panik ihr Schiff verlassen hatte. Dabei war der Hafen recht gut zu verteidigen: Die Drehbassen würden für Kleinholz in der Takelage des Angreifers sorgen, und wenn die „Isabella“ etwas herumschwang, konnte sie außerdem ihre Breitseiten einsetzen. Aber was half das alles, wenn die Verteidiger nach dem Motto „Rette sich, wer kann“, handelten. Die unbekannten „Geister“ hatten sich wirklich einen besonders raffinierten Trick ausgedacht, um jede Gegenwehr zu ersticken. Denn
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daß es sich um einen Trick handelte, stand inzwischen nicht nur für den Seewolf, sondern auch für den größten Teil der Crew außer Zweifel — die „Geister“ benahmen sich viel zu sehr wie gewöhnliche Piraten, um echt zu sein. Die „Isabella“ schwoite sacht um die Ankertrosse, als das Beiboot ab-- gefiert wurde. Zwölf Mann gingen an Land: der Seewolf und Ed Carberry, Big Old Shane und Ferris Tucker, Batuti, der sich diesmal wieder mit seinem mörderischen Morgenstern bewaffnet hatte, dazu Dan O'Flynn, Stenmark und Matt Davies, Luke Morgan, Pete Ballie, Al Conroy und der Kutscher, der ziemlich düster dreinschaute, da er im Geiste schon vor sich sah, daß er in seiner Kombüse in naher Zukunft nur noch dreimal täglich Fisch zubereiten konnte. Sir John äugte aus der Jackentasche des Profos und schimpfte, weil es auch für einen Papagei in diesen Breiten zu kalt war. „Halt den Schnabel, du Mistvieh!“ knurrte Carberry nur, was den Vogel dazu brachte, ihn etwas unlogisch als mottenzerfressendes Bilgengespenst und syrische Wanderhure zu bezeichnen und Hasard zu der Bemerkung veranlaßte, daß sich möglicherweise eine Situation ergeben könne, in der es besser sei, ihre Ankunft nicht unbedingt durch lautes Papageiengekrächzte anzukündigen. Ed stopfte den widerspenstigen Vogel vollends in die Tasche und wechselte mit einem Satz auf den Anleger, um die Vorleine wahrzunehmen. Sorgfältig belegte er sie am Polier, während die Seewölfe aus dem Boot kletterten. Die Ansiedlung sah auch aus der Nähe verlassen aus. Hasard kniff die Augen zusammen, legte den Kopf in den Nacken und peilte zum Himmel, der sich mit weißgrauen, dicken Wolkenpolstern überzogen hatte. „Glaubst du, daß es Schnee gibt?“ fragte Dan O'Flynn stirnrunzelnd. Hasard hob die Achseln. „Sieht so aus. Jeremiah Parr hat uns ja prophezeit, daß es auf Neufundland schon schneien könnte.“
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„Scheiß-Land!“ sagte Luke Morgan inbrünstig. „Entweder Sturm oder Nebelsuppe oder verdammter Schnee. Wir werden uns alle einen kalten Hintern holen.“ „Hättest dir ja warme Hosen anziehen können“, sagte Big Old Shane trocken. „Ich für meinen Teil habe nichts gegen ein ordentliches Schneetreiben einzuwenden.“ „Brr!“ Batuti schüttelte sich. „Bei uns in Schweden ...“ begann der blonde Stenmark. „Ist das hier ein Kaffeekränzchen?“ erkundigte sich Hasard sanft. „Ich schlage vor, wir trennen uns und durchsuchen die Häuser. Immer zwei Mann. Batuti bleibt bei mir. Und Vorsicht, wenn ich bitten darf.“ Zwei Minuten später verließen sie den primitiven, mit einem Steinwall befestigten Kai und schwärmten in sechs verschiedenen Richtungen aus. Das Gelände stieg terrassenförmig an, von bewaldeten Hügeln überragt und Wällen aus rundgewaschenen Steinen durchzogen. Ein paar von den Häusern duckten sich in ein Seitental, wo vorspringende Felsen ihnen Schutz vor dem Wind gaben. Dan O'Flynn und der Kutscher marschierten in diese Richtung. Sie gingen an offenen Haustüren und zerstörten Fenstern vorbei, jemand hatte Kochtöpfe und Küchengeräte einfach auf die Straße geworfen - es gab keinen Zweifel daran, daß auch diese Ansiedlung von Plünderern heimgesucht worden war. „Nicht zu fassen!“ erregte sich der Kutscher. „Barbaren sind das! Wenn ich die erwische ...“ „Ha! Willst du eine ganze Schiffsbesatzung mit der Bratpfanne niederschlagen?“ „Siehst du hier vielleicht irgendwo 'ne Bratpfanne, du grüner Hering?“ Der Kutscher legte die Hand auf den Griff des Hackmessers, das an seinem Gürtel hing. Mit diesem Ding zerteilte er normalerweise Rinder- oder Wildknochen für die Suppe, aber er fand auch weiter nichts dabei, wenn es ab und zu mal im Kampf zweckentfremdet wurde.
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Dan kicherte. „Wen willst du denn schlachten, du Kombüsenhengst? Unsere armen Landsleute?“ „Ich geb dir gleich den Kombüsenhengst. Dir hätten sie beizeiten deine große Klappe stopfen sollen, aber eher bringt man wohl die See zum Kochen.“ Er stockte und runzelte die Stirn. „Ich seh mal nach, ob die Bruchbude hier wirklich leer ist. Du paßt draußen auf, klar?“ „Aye, aye, Sir. Aber laß die Finger von anderer Leute Rumflaschen!“ Der Kutscher warf ihm einen vernichtenden Blick zu und verschwand in der offen stehenden Haustür. Dan O'Flynn grinste sich eins, schob die Hände in die Taschen und peilte in die Runde. Die Kälte hatte sich verschärft, der Himmel war ganz von den tiefhängenden grauweißen Wolken bedeckt, die an dicken, zusammengeballten Flachs erinnerten. Schneewolken, in der Tat. Dan zog die Schultern hoch. Die Leute von Saint Johns mußten verrückt sein, wenn sie sich bei diesem Wetter in die Hügel zurückgezogen hatten. Oder hieß das vielleicht, daß der Überfall noch nicht lange zurücklag? Daß die Galeone der „Toten“ möglicherweise im Sichtschutz des Hügels ankerte, der die enge Hafeneinfahrt im Norden begrenzte? Daß sich die vermeintlichen Geister vielleicht noch irgendwo auf dem Gelände der Ansiedlung herumtrieben? Wie auf ein Stichwort hin glaubte Dan, ein Geräusch zu hören. Das Schlagen einer Tür? Er war sich nicht sicher. Auf jeden Fall war das Geräusch aus einem der Höfe zu ihm gedrungen, vier oder fünf Häuser weiter. Dan runzelte die Stirn. Sekundenlang zögerte er, aber da von dem Kutscher immer noch keine Spur zu sehen war, setzte sich Donegal Daniel junior entschlossen in Bewegung. Auf Zehenspitzen schlich er an den windschiefen Holzhäusern entlang, bis er den Durchschlupf erreichte, aus dem er das Geräusch vernommen hatte. War es eine Täuschung gewesen? Nein, jetzt konnte er deutlich Schritte hören. Vorsichtig glitt er in den Schatten, preßte
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sich dicht an die Holzwand und spähte in den von Steinwällen geschützten Hof. Fischernetze hingen ausgespannt an Trockengerüsten. Die Hintertür des Hauses stand offen, und Dan konnte ein paar Gestalten erkennen, die eilig etwas auf einen flachen Handkarren luden. Drahtige, abenteuerliche Gestalten, wie Seeleute gekleidet. Ihre wettergegerbten, sonnenverbrannten Gesichter verrieten deutlich, daß sie sich noch vor kurzem in südlicheren Regionen aufgehalten hatten, und Dan O'Flynn war fast sicher, Besatzungsmitglieder des geheimnisvollen Geisterschiffs vor sich zu haben. Keine wandelnden Gerippe, sondern ganz normale, ziemlich verwahrloste und wenig vertrauenerweckende Piraten. Gesindel! Skrupellose Plünderer, vermutlich aus allen möglichen Ecken der Welt zusammengewürfelt. Mindestens zwei von ihnen waren Levantiner, aber solche von der schmierigen, hinterhältigen Sorte. Einer sah wie ein Mestize aus, Nummer vier hatte das knochige Gesicht, das rotblonde Haar und die hellen Augen des Bretonen. Allesamt waren sie eilig, und jetzt konnte Dan auch erkennen, was sie auf den Wagen luden. Felle! Kostbare Biberpelze, die sie hastig aufeinander häuften. Der Bretone blickte immer wieder zum Himmel und drängte. „Wir kriegen Schnee! Beeilt euch, verdammt!“ „Na und?“ knurrte der Mestize. „Was macht das schon aus?“ „Das wirst du sehen, wenn es soweit ist. Außerdem will ich mich nicht von den verdammten Engländern erwischen lassen.“ „Phh! Die trauen sich doch sowieso nicht an die „Ghost“ heran.“ Ghost hieß die Galeone also, Geist - der passende Name für ein Gespensterschiff. Dan hatte jedes Wort verstanden, da seine Gegner Spanisch sprachen - oder besser jenes entsetzliche Gemisch aus Spanisch, portugiesischen und englischen Brocken und Wendungen aus den Aruak-Dialekten,
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das in der Karibik gesprochen wurde. Der junge O'Flynn legte die Hand an den Griff seiner Pistole. Er war drauf und dran, die Waffe zu ziehen und seine Gegner zu stellen, doch dann überlegte er es sich anders. Die Piraten setzten sich jetzt mit dem Karren in Bewegung. Sie zerrten ihn auf eine Lücke zwischen der Rückwand des Hauses und dem Steinwall zu, offenbar entschlossen, mit ihrer Beute in den Hügeln zu verschwinden. Irgendwo mußte die geheimnisvolle Galeone ankern. Da die „Geister“ bei der Plünderung offenbar durch das Erscheinen der „Isabella“ gestört worden waren, würden sie möglicherweise nicht sofort davonsegeln, sondern abwarten, ob die Störenfriede ihrerseits verschwanden. Das war die beste Gelegenheit für ein Enterunternehmen, bei dem man den Piraten eine Lektion erteilen und vor allem die gefangenen englischen Siedler und Fischer befreien konnte. Dan O'Flynn grinste, wartete ab, bis der Karren aus dem Hof verschwunden war, und verließ dann sein Versteck, um die Verfolgung aufzunehmen. * Ein paar schwere, nasse Schneeflocken tanzten durch die kalte Luft. Batuti zog seine Jacke enger zusammen und fröstelte. Seiner Meinung nach war schon das englische Wetter so geartet, daß er sich fragte, warum nicht sämtliche Briten längst ausgewandert waren. Dem hohen Norden konnte der schwarze Herkules nichts abgewinnen, genauso wenig wie dem tiefen Süden, der um Feuerland herum überhaupt nicht mehr „südlich“ wirkte. Der Seewolf hächelte matt. Auch er hatte nicht vor, lange in diesen ungemütlichen Gefilden zu bleiben. Wenn er auch zugeben mußte, daß das geheimnisvolle Land im Norden ihn reizte, seit die Seewölfe in Plymouth auf den dänischen Abenteurer Hendrik Laas gestoßen waren, der von dem geheimnisvollen Grönland,
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von Eskimos, weißen Bären und ewigem Eis berichtet hatte. Hasard schüttelte unwillkürlich den Kopf. Wenn sie je eine solche Expedition unternehmen, mußten sie sich zumindest wesentlich besser darauf vorbereiten, auch daran hatten die Erzählungen des Dänen keinen Zweifel gelassen. Hendrik Laas war nur am Leben geblieben, weil ihn die Ureinwohner jener geheimnisvollen Eisinsel gerettet hatten. . Die Eskimos waren seine Freunde geworden. Er hatte von ihnen gelernt, in der Schneewüste zu überleben, Eisbären zu jagen, Schlittenhunde zu lenken. Wenn Hasard an die Begegnung zurückdachte, spürte er wieder jene unwiderstehliche Lockung des Unbekannten, die ihn damals dazu gebracht hatte, ins Land des Großen Chan zu segeln, die Heimat Siri-Tongs, und von dort aus die ganze Welt zu umrunden. Aber es wäre unverantwortlich gewesen, jetzt dieser Lockung zu erliegen. Sie hatten Siri-Tong an Bord, die Zwillinge… Seine Gedanken stockten. Vor ihm spähte Batuti durch die offene Tür in eine der Fischerhütten. Auf den ersten Blick hatte sie so leer gewirkt wie alle anderen Häuser, aber jetzt erklang irgendwo in der Tiefe des Gebäudes ein gedämpftes Poltern. Es mochte ein schlagender Fensterladen sein— oder etwas anderes? Batuti wandte sich um. Eine steile Falte stand auf seiner Stirn. „Da ist jemand“, flüsterte er. „Hat sich versteckt. Im Keller, glaube ich.“ Hasard furchte die Brauen. Daß die einfachen Hütten unterkellert sein sollten, erschien ihm nur im ersten Moment unwahrscheinlich. In diesen Breiten brauchten die Menschen eine ganze Menge Vorräte, um den langen Winter zu überstehen. In einem Keller konnte man zum Beispiel Fleischvorräte, Geräuchertes oder eingesalzenen Fisch bretthart gefroren lagern. Außerdem war es dort gegen Wölfe, Füchse oder den Zugriff räuberischen Gesindels geschützt.
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Hintereinander schlüpften Hasard und Batuti durch die schmale, in ledernen Angeln hängende Tür. Schatten nahm sie auf, der Bretterboden knarrte. Die Hütte bestand nur aus einem einzigen Raum. Das Feuer im Kamin war erloschen, Hausrat lag herum, selbst die Bündel getrockneter Kräuter hatten, die Plünderer von den Deckenbalken gerissen. Hasard sah sich um. Tatsächlich entdeckte er in der Nische zwischen dem Kamin und einem geschwärzten Stützbalken eine roh gezimmerte Bodenluke. Batuti hatte eine Lampe von einem Haken genommen und zündete sie an. Hasard nickte ihm zu, dann bückte er sich und zog an dem rostigen eisernen Ring. Überraschend leicht schwang die Klappe hoch. Hasard zog sich instinktiv einen Schritt zurück, gab Batuti ein Zeichen, das gleiche zu tun, und zwei Sekunden später erwies sich seine Vorsicht als berechtigt. Es krachte. Ein greller Mündungsblitz zerriß die Dunkelheit in dem Kellerraum, klirrend zerbrach ein leerer Krug, der auf einem als Regal genutztem Querbalken gestanden hatte. In den Nachhall des Schusses mischte sich eine helle, energische Stimme. „Seht zu, daß ihr verschwindet, oder ich blase euch das Gehirn aus dem Schädel, ihr dreckigen Halunken!“ Stille. Hasard und Batuti wechselten einen verblüfften Blick. Der schwarze Herkules schüttelte den Kopf. „Das ist Lady, die sich da unten versteckt“, stellte er flüsternd fest. Ja, dachte Hasard. Nur daß sie sich nicht besonders ladylike benimmt. Er mußte grinsen. „Warum so unfreundlich, Madam?“ erkundigte er sich gelassen. „Sie kennen uns doch gar nicht.“ „Ich will euch auch nicht kennenlernen. Versucht nur, hier herunterzusteigen! Dann werden wir ja sehen, ob ihr wirklich Höllengeister seid, denen eine Kugel nichts ausmacht.“ „Wir sind keine Höllengeister, Madam. Wir sind ehrliche britische Seeleute und haben Saint Johns angelaufen, um Proviant
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zu übernehmen. Unser Schiff heißt „Isabella“, und ich versichere Ihnen, daß an unserer Großrah ganz sicher kein Gerippe baumelt.“ Wieder wurde es sekundenlang still. „Und woher wissen Sie von dem Gerippe?“ fragte die Stimme schon merklich unsicherer. „Weil wir mit dem vermeintlichen Geisterschiff schon mehrfach zu tun hatten. Wir wollen Ihnen helfen, Madam, aber das können wir nicht, solange Sie entschlossen sind, dem nächsten, der sich zeigt, eine Kugel in den Kopf zu schießen.“ Schweigen. Diesmal dauerte es fast eine Minute. Aber die Stimme der Lady klang immer noch entschlossen, als sie wieder sprach. „Wer sind Sie?“ „Philip Hasard Killigrew, Kapitän der ,Isabella` ...“ „Treten Sie an den Rand der Luke! Mit einer Lampe, damit ich Sie sehen kann. Aber denken Sie daran, daß ich immer noch mit der Pistole auf Sie ziele. Und die ist geladen, Mister.“ Hasard glaubte es. Er nahm Batuti die Lampe ab und gab ihm einen Wink, an seinem Platz zu bleiben: Junge Ladys neigten erfahrungsgemäß dazu, vor dem schwarzen Herkules zu erschrecken. Batuti grinste verstehend. Hasard trat langsam an den Rand der Luke und leuchtete hinunter. Flackerndes Licht fiel in den düsteren Kellerraum. Der Seewolf schluckte. Er hatte erwartet, ein schießwütiges Flintenweib zu sehen. Das Bild, das sich ihm bot, verschlug ihm sekundenlang den Atem. Die Lady war nicht älter als siebzehn oder achtzehn, blond, blauäugig und schön wie ein Engel. Die Pistole hielt sie beidhändig. Ihre blauen Augen funkelten. An den ebenfalls blauen Barchentrock klammerte sich ein halbes Dutzend verängstigter Kinder. *
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Der Pfad hatte das Waldgebiet verlassen und zog sich durch eine wilde, windzerzauste Landschaft, die von Moos, dunklen Flechten und struppiger Strauchheide bedeckt war. Erste Schneeflocken fielen, doch noch schmolzen sie, sobald sie den Boden berührten. Dan O'Flynn spähte mißtrauisch zum weißen Himmel, während er sich hinter einen Felsblock duckte. Auch die Piraten schienen wenig begeistert von der Aussicht, vom Schneetreiben überrascht zu werden. In sichtlicher Eile zerrten und schoben sie den Karren mit den Fellen über den Weg und sahen immer wieder über die Schultern zurück, da sie offenbar Verfolger fürchteten. Aber Dan O'Flynn war geschickt genug, um nicht einmal seine Nasenspitze sehen zu lassen. Er wartete, bis der Karren hinter einer Bodenwelle verschwand. Zwischen den Fichten des Waldes 'war er nur schlecht vorwärtsgekommen, jetzt lag offenes Gelände vor ihm. Leichtfüßig lief er über den Boden, dessen Moospolster unter seinen Füßen federte. Binnen Minuten erreichte er den Hügelkamm und sah gerade noch, wie die Piraten den Karren durch die Lücke zwischen zwei von Flechten überwucherten Felsen zerrten. Das Rauschen der Brandung sagte Dan, daß sich das Gelände unmittelbar hinter den beiden Felsen zum Meer hin senkte. Er lief weiter und pirschte sich vorsichtig an die Lücke heran. Deutlich konnte er ein paar lästerliche Flüche hören: der Weg war wahrscheinlich steil, und seine Gegner schienen Mühe zu haben, den Karren hinunterzubringen. Gieriges Gesindel! Für die Ladung kostbarer Pelze hatten sie sogar eine Weile ihre Feigheit vergessen und waren in Saint Johns zurückgeblieben, obwohl ihnen die Seewölfe fast schon auf den Zehen standen. Dan schwor sich, daß die Kerle diesen Anfall von Tollkühnheit bereuen würden. So lautlos wie möglich kletterte der junge Mann über Moos und Geröll. Der Schatten des tiefen Einschnitts nahm ihn auf. Durch den dichter werdenden Schneeflockenwirbel konnte er den Strand
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und die Felsen sehen, die eine kleine Bucht säumten. Die Männer mit ihrem Karren legten gerade das letzte Stück des abschüssigen Wegs zurück. Ein Beiboot wartete auf sie -und in der Mitte der Bucht ankerte die Galeone mit dem Gerippe an der Großrah. Männer standen am Schanzkleid und winkten ungeduldig. Dan O'Flynn sah mit einem Blick, daß das Schiff gefechtsklar war. In der Bucht hatte es den gleichen strategischen Vorteil wie die „Isabelle im Hafen von Saint Johns: Es konnte ungehindert jeden beschießen, de versuchte, durch die Einfahrt zu laufen. Nein, ein direkter Angriff au die Galeone mit dem schönen Name. „Ghost“ empfahl sich nicht oder wäre zumindest äußerst riskant gewesen. Aber es, gab ja schließlich noch andere Möglichkeiten. Dan O'Flynn sah zu, wie die Piraten die erbeuteten Felle in das Bei boot verluden. Den Karren ließen sie einfach an geröllübersäten Strand stehen. Mit langen Riemenschlägen pullten sie die Jolle über das graue Wasser. Wenig später wurde das Boot an Bord gehievt, während die Männer über die Jakobsleiter aufenterten. Immer noch tanzten die Schneeflocken in der kalten Luft. Zwischen Moos und niedrigen Gras blieben sie jetzt liegen, wurden mehr, und die Galeone schien hintere einem wirbelnden Schleier zu verschwinden. Dan O'Flynn wartete. Er wollte sehen, ob die höchst lebendigen „Toten“ an Bord beabsichtigten ankerauf zu gehen, doch statt dessen verkrochen sich die Männer bis auf die Ankerwachen unter Deck. Der Kapitän der „Ghost“ zog es vor, während des Schneetreibens in der Bucht liegenzubleiben. Vielleicht wollte er abwarten, ob die „Isabella“ freiwillig wieder verschwand, und dann nach Saint John zurückkehren, um die Plünderung fortzusetzen. Dan traute das den Halunken durchaus zu. Er grinste bei dem Gedanken an den dicken Strich, den man ihnen durch die Rechnung ziehen würde.
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Vorsichtig zog sich der junge Mann zurück, klappte den Kragen seiner Jacke hoch und stemmte sich schräg gegen den Wind, während er wieder über den schmalen Pfad in Richtung Hafen marschierte. 6. Auch als sie über die wacklige Stiege aus dem Keller in den Wohnraum der Hütte geklettert war, sah das blonde Mädchen noch wie ein leibhaftiger Engel aus. Allerdings ein höchst streitbarer Engel, der darin geübt war, die Himmelstür gegen vorwitzige Unterteufel zu verteidigen, und der dabei das Fluchen gelernt hatte. Die junge Lady konnte das ausgezeichnet. Die Tatsache, daß sie sich völlig umsonst eine ganze Stunde lang in dem eiskalten Keller versteckt hatte, regte sie dazu an, ihre Talente ausgiebig zu beweisen. Batutis Anblick erschreckte sie auch nicht sonderlich. Sie war überhaupt nicht sehr schreckhaft. Penelope Clark sei ihr Name, erklärte sie. Und die ganze feige Gesellschaft, die beim Anblick eines lächerlichen Gerippes davonlaufe, solle der Teufel holen. „Sie sind als einzige hiergeblieben?“ fragte der Seewolf erstaunt. „Mußte ich ja.“ Penelope Clark furchte empört die Stirn. „Ich bin die Lehrerin. Ich war mit den Kindern Wacholderbeeren suchen, als der Krach losging. Unsere Leute haben sich einen Dreck darum gekümmert, daß wir ...“ Sie stockte und biß sich auf die Lippen. „Sie konnten nicht wissen, wo wir steckten“, räumte sie ein. „Und sie verließen sich natürlich darauf, daß ich mit den Kindern zum Fort kommen würde wir haben so eine Art Fluchtburg in den Wäldern errichtet. Aber ich wußte ja nicht, was los war, und als ich es herausfand, zogen die Angreifer schon wieder ab. Dafür lief die „Isabella“ in den Hafen. „Die angeblichen Geister sind über Land geflohen?“ vergewisserte sich Hasard. „Ja. Ihre Galeone hat anscheinend nur den Hafen beschossen und einen Trupp an Land gesetzt und ist dann wieder
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abgerauscht. Ich sah jedenfalls, daß schon wieder jemand erschien. Aber da konnte ich nicht mehr zum Fort fliehen, weil ich mit den Kindern in das Schneetreiben geraten wäre. Außerdem streunen seit ein paar Tagen Huronen in den Wäldern herum.“ „Huronen? Hier?“ Das Mädchen zuckte mit den Schultern. „Ich weiß auch nicht, wieso. Es hat nie Indianer auf Neufundland gegeben, aber irgendetwas muß sie aufgescheucht haben. Beinahe hätten sie letzte Nacht das Fort angezündet. Aber wir hatten Glück. Es waren nicht viele, und sie stießen auf ein Dutzend Männer, die gerade etwas reparieren wollten.“ Hasard nickte nachdenklich. Er konnte sich denken, was die Huronen aufgescheucht und dazu gebracht hatte, in Neufundland einzufallen. Der Kapitän des Geisterschiffs mußte ein ausgekochter Satansbraten sein, der offenbar methodisch Unruhe unter den Indianern der Gegend stiftete, um die Ansiedlungen der Weißen um so leichter ausplündern zu können. Feige Ratte, dachte Hasard erbittert. Die Menschen, die hier an den rauhen nördlichen Küsten der Neuen Welt ihre Heimstätten gründeten, hatten schwer genug zu kämpfen. Sich ausgerechnet auf sie zu stürzen, war eine wüste Teufelei. Aber die Seewölfe hatten ja ohnehin schon erfahren, daß sich ihre unbekannten Gegner immer nur dann stark fühlten, wenn sie auf keinen nennenswerten Widerstand stießen. Zehn Minuten später war die ganze Gesellschaft auf dem Dorfplatz vor der Kirche versammelt. Batuti und ein paar andere suchten nach dem spurlos verschwundenen Dan O'Flynn, den sie lautstark verdächtigten, sich an einer Rumflasche festgehalten zu haben. Hasard war ziemlich sicher, daß das nicht stimmte, und sorgte sich. Aber vorerst mußten sie sich um Penelope Clark und die Kinder kümmern. Die Bewohner von Saint Johns würden vermutlich die Nacht im Fort verbringen, die Männer sich mit Sicherheit zu einer
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gefährlichen Suchaktion aufraffen. Hasard entschied, daß es am besten sei, das Mädchen und die Kinder ebenfalls ins Fort bringen zu lassen. Penelope versicherte, daß sie den Weg auch im Schneetreiben finden würde, und Big Old Shane, Pete Ballie, Al Conroy und Ferris Tucker übernahmen es, für den notwendigen Geleitschutz zu sorgen. Glücklicherweise hatten sich die Plünderer nur in Maßen an den Vorräten warmer Kleidung vergriffen. Penelope Clark zauberte ausreichend Felljacken herbei, in der sie selbst, die Kinder und die vier Männer an struppige Bären erinnerte. Dann drückte sie Big Old Shane noch einen Sack in die Hand, der merkwürdige, mit Riemen versehene Holzkonstruktionen enthielt: Schneebretter, die sie vielleicht unterwegs oder später auf dem Rückmarsch brauchen würden. Wie Schatten verschwanden die Gestalten der Gruppe im Flockenwirbel. Hasard wußte, daß er wahrscheinlich auf die Rückkehr seiner Männer würde warten müssen, bis das Schneetreiben aufhörte. Aber anderenfalls hätte er riskiert, mit den Leuten von Saint Johns eine böse Überraschung zu erleben, zumal die Frauen im Fort vermutlich halb verrückt vor Sorge um ihre Kinder waren. Nein, es war schon besser so. Hasard hatte ohnehin nicht vor, sofort auszulaufen. Er glaubte auch nicht, daß das Geisterschiff bei diesem Wetter das schützende Gestade verlassen würde. Und mit diesen „Geistern“ gedachte er noch ein Hühnchen zu rupfen — ein kapitales Huhn, genauer gesagt. Wo, zum Teufel, steckte Dan O'Flynn? Donegal Daniel junior war ein Mann, auf den man sich verlassen konnte, aber gelegentlich neigte er immer noch zu Alleingängen. Durchaus keinen verantwortungslosen Eskapaden, das nicht, doch sie konnten trotzdem schief gehen. Hasard wollte Ed Carberry gerade heranwinken, um eine systematische Suchaktion zu organisieren, da hörte er Batutis Stimme.
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„Kleines O'Flynn! Bist du geworden verrückt im Kopf? Ich dir werden ziehen Haut in kleine Streifen von verdammtes Affenarsch, du Rübenschwein!“ Wenn Batuti sich Sorgen bereitete, war Dan für ihn immer noch „kleines O'Flynn“. Bei solchen Gelegenheiten fiel der schwarze Herkules auch ab und zu noch in sein schauderhaftes Englisch zurück, obwohl er die Sprache sonst fast perfekt beherrschte. Minuten später tauchte er aus dem weißen, tanzenden Flockenschleier, zusammen mit Stenmark und Matt Davies auf, und redete gestenreich auf Donegal Daniel O'Flynn ein, der ebenso gestenreich antwortete und sich mehrmals mit sprechender Gebärde an die Stirn tippte. Hasard hob die Brauen, als die Gruppe bei ihm anlangte. „Donegal Daniel O'Flynn“, sagte er sanft. „Du hast mit deinem Verschwinden einen ziemlichen Wirbel verursacht. Ich bezweifle, daß du Grund hast, an Batutis Verstand zu zweifeln.“ Dan fuhr sich durchs Haar. Das war klatschnaß von geschmolzenen Schneeflocken. -“Sollte ich die Kerle, die sich gerade die Pelze anständiger Bürger unter den Nagel rissen, vielleicht so einfach verschwinden lassen?” erkundigte er sich. „Das habe ich nicht gesagt. Fängst du jetzt an zu erzählen, oder legst du Wert darauf, daß ich dir den Hals umdrehe?“ „Aye, aye, Sir! Das war nämlich so...“ Dan berichtete haarklein,. was er beobachtet hatte. „Und jetzt liegt die Galeone in der Bucht“, schloß er. „Mit ausgerannten Kanonen. Aber die Typen rechnen garantiert nur mit einem eventuellen Angriff von der Seeseite her. Wenn wir ein Beiboot über Land transportieren, könnten wir sie ganz gemütlich entern.“ „Ganz gemütlich.“ Hasard nickte. Wobei jedem klar war, daß das Unternehmen bei dem Schneetreiben der Inbegriff des Ungemütlichen werden würde. Aber das hatte zumindest den einen Vorteil, daß die Gegner bestimmt mit keinem Angriff rechneten.
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„Vielleicht sollte man die Kerle ein bißchen im Auge behalten“, meinte Dan O'Flynn. „Nur für den Fall, daß sie ganz schlau sein wollen und ihrerseits etwas unternehmen.“ „Richtig, Dan.“ Der Seewolf grinste, da er diesen Punkt gerade hatte ansprechen wollen. „Und das wirst du übernehmen, da du den Weg bereits kennst. Nimm Luke mit und schick ihn zurück, damit er uns später führen kann. In dem Haus da drüben liegen noch ein paar Felljacken, die ihr anziehen könnt.“ Dan hatte das unbestimmte Gefühl, daß er sich trotzdem einen mächtig kalten Hintern holen würde. Aber schließlich war es ja sein Vorschlag gewesen, das Geisterschiff nicht aus den Augen zu lassen. Schicksalsergeben verschwand er mit Luke Morgan in der Fischerhütte. Als sie wenig später wieder erschienen, erinnerten sie die Seewölfe nur deshalb nicht an Eskimos, weil die noch nie einen Eskimo gesehen hatten. „Hey!“ brummte Dan noch. „Wo, zum Teufel, stecken eigentlich Big Old Shane, Pete, Al und Ferris?“ Hasard erklärte es ihm - feixend, denn Dan war anzusehen, wie sehr es ihn fuchste, daß ihm der Anblick des kriegerischen blonden Engels entgangen war. Donegal Daniel junior stelle wieder einmal fest, daß das Leben ausgesprochen ungerecht war. Seiner Meinung nach wäre er genau der richtige Mann gewesen, ein hübsches blondes Engelchen zu beschützen. Und - wer weiß - vielleicht auch ein bißchen zu trösten! Man wußte ja schließlich, was man blonden Engeln schuldig war. Big Old Shane, dieser Klotz von Ferris Tucker, Al Conroy und Pete Ballie hatten davon natürlich keine Ahnung. Aber er, Donegal Daniel O'Flynn junior, der für diese Aufgabe geradezu prädestiniert gewesen wäre, mußte stattdessen zwischen irgendwelchen Klippen Kokken, ein dämliches Geisterschiff anglotzen und sich einen abfrieren!
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Schicksalsergeben stapfte er neben Luke Morgan durch den wirbelnden Schnee den Hang hinauf. Hasard hatte beschlossen, zunächst einmal an Bord zurückzukehren, um mit den anderen das geplante Enterunternehmen durchzusprechen. Er wollte endlich wissen, was wirklich hinter den „Geistern“ und „lebenden Toten“ der geheimnisvollen Galeone steckte. Er wollte es genau wissen. Und er wollte die bedauernswerten Männer befreien, die von ihren Gegnern in der kleinen Ansiedlung an der Küste von Neuschottland entführt worden waren. Luke Morgan konnte später mit dem Beiboot von Land abgeholt werden, wenn er zurück war. Der Seewolf wollte gerade Luft holen, um die entsprechenden Anweisungen zu geben, aber er kam nicht mehr dazu. Irgendwo aus dem weißen Flockenwirbel ertönte plötzlich ein schriller Pfiff. Bewegung entstand und Gestalten tauchten auf. Es gab keinen Zweifel daran, daß diese Gestalten entschlossen waren, die sechs Seewölfe im Überraschungsangriff zu überrumpeln und entweder ins Meer zu werfen oder unangespitzt in den harten Boden zu rammen. * Einen Augenblick war selbst Hasard überrascht von der jähen Plötzlichkeit des Angriffs. Acht oder neun vermummte Gestalten brachen aus dem Sichtschutz der Häuser hervor — mit Gebrüll, aber dieses Gebrüll diente vermutlich dazu, den eigenen Mut anzustacheln. Der Seewolf wirbelte herum. Blitzartig schalteten alle seine Instinkte auf Kampf und Abwehr, aber sein Verstand registrierte trotzdem noch, daß diese Gegner nicht versucht hatten, aus dem Hinterhalt zu schießen, sondern den fairen Kampf suchten. Sie griffen an wie eine Horde heulender Derwische. Es war eine Menge Wut, die sich hier entlud. Wut, die die Widersacher hinwegfegen wollte, die ein Ventil suchte.
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Möglich, daß die sechs Seewölfe in ihrer etwas zu leichten Kleidung mitten in dem immer dichter werdenden Schneetreiben auf die Beobachter den Eindruck eines verlorenen Haufens gemacht hatten. Es war ein falscher Eindruck, und das begriffen die knüppelschwingenden Angreifer spätestens eine Minute, nachdem sie zum Sturm geblasen hatten. Angesichts von stabilen Eichenknüppeln dachten Hasard und die Seinen nicht daran, Entermesser, Säbel, Degen oder gar Schußwaffen zu ziehen. Das war eine Sache, über die sie nicht groß nachzudenken brauchten. Es war ihnen nicht einmal bewußt, es ergab sich einfach von selbst. Unter der „Isabella“-Crew herrschte die Ansicht vor, daß ein handfester Kampf zu den Dingen zählte, die das Leben lebenswert gestalteten. Aber zu einem fairen Kampf gehörte die Gleichheit der Waffen. Fäuste gegen Fäuste, Stahl gegen Stahl, heißes Blei gegen heißes Blei — so lauteten die ehernen Regeln. Da die Seewölfe keine Knüppel zur Hand hatten, nahmen sie ihre Zuflucht nicht etwa zu den Hieb- und Stichwaffen, sondern benutzten ihre Fäuste, denn das waren ohnehin Fäuste von einer Art, die man normalerweise unter die Kategorie „Waffen“ rechnen mußte. Batuti fing einen der mächtigen Knüppel einfach mit seiner rechten Pranke ab, riß ihn an sich und tupfte ihn dem Besitzer beinahe sanft auf den Schädel. Der blonde Stenmark reagierte schlicht in der Weise, daß er den Hieb unterlief und seinem Gegner den Kopf in den Magen rammte. Damit war der zweite Angreifer angeschlagen. Oder nein, der dritte! Denn Sekundenbruchteile vorher hatte Matt Davies einen der Holzknüppel auf seinen Haken gespießt und sich dann sehr beherrscht, indem er dem Knüppelbesitzer lediglich die Rundung der mörderischen Stahlprothese ans Kinn schlug. Ed Carberry beutelte ausdauernd den Kerl, der es wahrhaftig gewagt hatte, ihm seinen Knüppel über die Schulter zu ziehen.
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Der Kutscher war nach links ausgewichen. Sein Gegner verprügelte einen Felsen. „Tz, tz, tz“, äußerte sich der Koch und Feldscher der „Isabella“, nahm Maß und schlug dem anderen solcherart aufs Haupt, daß er in die Knie ging und ebenfalls das Reich der Träume aufsuchte. Der Seewolf hatte sich gleich gegen drei Angreifer zu wehren. Einer lag schon flach. Der zweite empfing gerade den Jagdhieb in Form einer gestochenen Geraden, die an seiner Kinnspitze explodierte. Nummer drei sah sich verdattert um, stellte fest, daß er der letzte war, der noch stand, und warf sich mit dem Mut der Verzweiflung Hasard entgegen. Dreimal ging er im Überschlag rückwärts zu Boden. Beim drittenmal blieb er liegen. Nicht bewußtlos, aber bis ins Mark getroffen. Er hatte sechs Männer gegen sich, aber diese Männer zeigten keinerlei Anstalten, in den Kampf einzugreifen, sondern sahen lediglich zu und schlossen offenbar Wetten darüber ab, wie oft der am Boden Liegende noch aufstehen würde, um von neuem anzugreifen. „Reicht das jetzt?“ fragte Philip Hasard Killigrew sanft. Der Mann am Boden fand, daß es in der Tat reichte. Er stützte sich auf die Ellenbogen. Daß die Gegner nicht diejenigen waren, die er erwartet hatte, ging ihm inzwischen ebenfalls auf, wenn auch nur sehr allmählich. „Wer - wer seid ihr?“ stammelte er. „Englische Seeleute. Hier gelandet, um Vorräte zu übernehmen, falls es möglich ist. Und um sich ein bißchen näher mit einem angeblichen Geisterschiff zu befassen, das inzwischen unserer Meinung nach genug Unheil angerichtet hat, falls Sie verstehen, was ich meine.“ Der Mann am Boden hatte offenbar einige Mühe, eben das zu begreifen. Er war jung, nicht viel älter als zwanzig Jahre. Braunes Haar fiel ihm in die Stirn, die hellbraunen Augen wurden weit und verständnislos.
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„Dann - dann seid ihr gar nicht ...“ „Stimmt“, sagte Hasard. „Wir sind nicht diejenigen, mit denen ihr rechnetet. Die Geister haben sich zurückgezogen. Ich gehe jede Wette ein, daß sich diese Geister bei näherem Hinsehen als höchst lebendige und ziemlich mies geartete Menschen entpuppen werden.“ Der junge Mann brauchte ein paar Sekunden, um das zu verdauen. Vorsichtig zog er die Beine an und stellte sich auf. Dabei glitt sein Blick über seine bewußtlosen Kameraden. Acht gegen sechs! Acht Männer, die zudem den Überraschungseffekt auf ihrer Seite gehabt hatten. Jetzt schliefen sieben von diesen acht den Schlaf des Gerechten oder Ungerechten. Der junge Mann verdrehte die Augen und seufzte. „Ihr gehört also gar nicht zu dem Geisterschiff?“ erkundigte er sich vorsichtig. „Nein.“ „Aber ... „Wir sind später gekommen“, erklärte der Seewolf. „Die angeblichen Geister flohen. Wir stießen hier in der Ansiedlung auf eine Lehrerin mit ihren Schützlingen.“ „Penelope“, stöhnte der junge Mann. „Richtig. Inzwischen sind sie und die Kinder mit einigen meiner Männer zu Ihrem Fort unterwegs.“ „Und wir - wir wollten sie retten.“ Der junge Mann ließ die Schultern hängen. Offenbar begriff er inzwischen, daß sie ein bißchen zu übereilt vorgeprescht waren, und genierte sich deswegen. Hasard grinste tröstend. Das übereilte Vorpreschen brauchte nicht mehr besonders erwähnt zu werden, die Lektion war dem Fehler schließlich auf dem Fuße gefolgt. „Ich bin Jem Pendleton“, sagte der junge Mann. „Und meine Kameraden - na ja, die können sich gleich selbst vorstellen. Wir wollten Penny herausholen. Wir hatten gedacht, sie würde sich sowieso mit den Kindern zum Fort durchschlagen, aber sie kam nicht. Und wir konnten ja nicht wissen ...“
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„Nein, das konnten Sie nicht wissen. Und Penelope wird sich sicher freuen, wenn sie hört, daß man versucht hat, sie herauszuhauen.“ Jem Pendleton nickte. Immer noch blickte er einigermaßen fassungslos auf seine Kameraden. Allmählich begannen sie, sich ins Bewußtsein zurückzukämpfen. Wut verzerrte ihre Gesichter, aber der junge, Mann erklärte ihnen schnell, daß sie im Eifer des Gefechts die falschen Leute angegriffen hätten. Ziemlich verbiestert bremsten sie sich und sahen sich erst mal um. Jedenfalls erblickten sie keine „Geister“, das war schon mal etwas. Der junge Mann mit dem Namen Jem Pendleton versuchte, ihnen auseinanderzusetzen, was geschehen war. Hände wurden geballt, Augen zusammengekniffen, Flüche gezischt, aber schließlich begriffen die Männer von Saint Johns, daß sie ihren Zorn auf die falschen Objekte richteten. Die „Geister“ waren geflohen. Diese „Geister“ sollten in Wirklichkeit eine Bande feiger Piraten gewesen sein? Um so besser, sagten die grimmig verzogenen Gesichter. Diesen „Geistern“ würde man es schon zeigen! Oder? Der Seewolf nickte und bestätigte, daß er genau das gleiche plane und bereit sei, jeden kampffähigen Mann zu dem Enterunternehmen mitzunehmen, der Lust dazu verspüre. Und Lust verspürten sie alle! Die Männer der Siedlung s Saint Johns waren notfalls bereit, gegen Tod und Teufel zu kämpfen, um ihre Heimat zu verteidigen. Im wahrsten Sinne gegen Tod und Teufel. Denn so hundertprozentig überzeugt davon, daß es sich nur um Schein-Geister handelte, waren sie nun auch nicht. Hasard erklärte ihnen, was sie vorhatten. Ein paar von den Männern schauderten. Aber das hieß nicht viel. Smoky und Old O'Flynn schauderten schließlich ebenfalls. Das hinderte sie jedoch nicht an der Entschlossenheit, den „Geistern“ das Fürchten beizubringen und, frei nach Edwin Carberry, notfalls auch Haut in
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kleinen Streifen von Gespensterärschen abzuziehen. So war das. Die jungen Männer der Siedlung, die eben noch eine vernichtende Niederlage eingesteckt hatten, empfanden diese Niederlage plötzlich gar nicht mehr als besonders schmählich. Man hatte schließlich von den Seewölfen gehört. Von Philip Hasard Killigrew, den die Königin von England zum Ritter geschlagen hatte. Von der Höllencrew, die die Welt umsegelt und Spanien in Angst versetzt hatte. Wenn diese Teufelskerle behaupteten, daß auf der „Galeone der Toten“ nur ganz normale Piraten fuhren, dann mußte das wohl stimmen. Dann konnte es nach allem, was geschehen war, nur noch eins geben: Wehe diesen Piraten, die mit einem schmutzigen Trick gearbeitet und es dabei ausgerechnet verstanden hatten, den Seewölfen ins Gehege zu geraten. Nachdem der Kampf und die anschließende Besprechung schon fast eine halbe Stunde gedauert hatten, beschloß Hasard, jetzt auch noch auf die Rückkehr Luke Morgans zu warten. Er kam ein paar Minuten später: eine dunkle Gestalt im wirbelnden Tanz der Schneeflocken. Die Galeone liege immer noch in der Bucht, berichtete er. Und der Weg sei ziemlich einfach zu bewältigen auch wenn man einrechne, daß man ein oder zwei Beiboote schleppen müsse. Zusammen mit den acht Männern aus Saint Johns gingen die Seewölfe wieder an Bord der „Isabella“. Dort war man bereits drauf und dran gewesen, Verstärkung an Land zu schicken, doch das hatte sich dann als überflüssig erwiesen, da die Angreifer im Rekordtempo überwältigt worden waren. Hasard berichtete knapp, was sich ereignet hatte. Ben Brightons Augen wurden schmal. Die anderen grinsten vergnügt. Nur Old O'Flynn schnitt ein finsteres Gesicht. Und zwar nicht etwas, weil er die Galeone mit dem Namen „Ghost“ immer noch für ein Geisterschiff hielt, sondern weil er ahnte, daß er bei einem Unternehmen, das einen Fußmarsch über
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Land erforderte, mit seinem Holzbein und den Krücken wieder einmal nicht dabeisein konnte. Gegen Abend stellte Hasard das Enterkommando zusammen. Da Dan O'Flynn jede Bewegung der feindlichen Galeone melden würde, brauchten auf der „Isabella“ nur die Ankerwachen zurückzubleiben. Es hatte aufgehört zu schneien. Aber die Wolken bedeckten immer noch den Himmel, und die Dunkelheit war dem Unternehmen günstig. 7. Zwei Beiboote wurden durch die verschneiten Hügel geschleppt. Aber wohlweislich nicht über den Pfad, den die Piraten mit dem Karren benutzt hatten, denn dort sollten keine Spuren zurückbleiben, da man immer noch damit rechnen mußte, daß sich auch die Besatzung des „Geisterschiffs“ zu einem nächtlichen Unternehmen aufraffte. Die Seewölfe, durch die Männer von Saint Johns verstärkt, folgten im Bogen dem Verlauf der Küste, und die Fischer konnten ihnen auch die Stelle zeigen, wo es am einfachsten war, die Boote zum Strand hinunterzuschleppen, ohne von der Galeone aus gesehen zu werden. Das war eine tief eingeschnittene, jetzt schneebedeckte und vereiste Rinne, die schräg zur Steilküste verlief und als perfekte Gleitbahn für die Boote wirkte; Ohne Schwierigkeiten erreichten sie die Brandungsplatte. Vorspringende Felsen deckten sie gegen die Sicht von der Galeone her. Erst als sie den silbrigen Saum der Wogen erreichten, konnten sie den Schatten des Schiffs in der stillen Bucht erkennen. Noch bevor die beiden Boote ins Wasser geschoben wurden, gab Hasard seinen Männern ein Zeichen. „Halt! Wartet!“ Er kniff die Augen zusammen und spähte in die Dunkelheit. Die Galeone war tatsächlich nur als Schatten zu sehen. Ein Schatten, auf dem sich etwas bewegte. Hasard wartete und versuchte angestrengt,
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mehr zu erkennen, doch es gelang ihm erst, als für Sekunden die Wolkendecke aufriß und der Mond seinen fahlen Silberschimmer über das Wasser warf. Die Galeone hatte ein Beiboot abgefiert, eine große Pinasse. Männer enterten über die Jakobsleiter ab. Männer in weiten schwarzen Umhängen und Kapuzen. Was sich unter diesen Kapuzen verbarg, ließ sich aus der Entfernung nicht genau erkennen. Totenschädel, vermutete der Seewolf. Totenkopfmasken, genauer gesagt. Denn daß es sich um Masken handelte, daran hegte inzwischen niemand aus der „Isabella“-Crew mehr ernsthafte Zweifel. Aus schmalen Augen beobachtete Hasard, wie die Männer an Land pullten. Es waren etwas mehr als ein Dutzend vermummter Gestalten. Wenn man bedachte, daß die „Ghost“ unterbemannt gewesen war, da sich die Piraten sonst wohl kaum gezwungen gesehen hätten, die Engländer von der Küste Neuschottlands zu entführen, konnten außer diesen Gefangenen nur noch zwei, drei Mann an Bord sein. Aber was, zum Teufel, hatten die Burschen vor? Etwa das gleiche wie die Seewölfe, nur mit umgekehrten Vorzeichen: einen Angriff auf die „Isabella“ von der Landseite her? Nein, dann hätten sie das Boot mitschleppen müssen. Sie ließen es liegen, zogen es nur ein Stück auf die Brandungsplatte und kletterten in die Klippen hinauf. Sie waren alle bis an die Zähne bewaffnet, wie Hasard feststellte. Irgendwo dort oben am Rand der Hochfläche steckte Dan O'Flynn, aber dessen scharfen Augen war bestimmt nicht entgangen, was sich anbahnte. Die Schritte der Piraten waren kaum. verklungen, als eine schattenhafte Gestalt zwischen den Felsen erschien. Geschickt turnte er die Klippen hinunter. Damit stand fest, daß er den Anmarsch der Seewölfe beobachtet hatte, obwohl die sich so unauffällig wie möglich bewegt hatten. Jetzt holte er Luft, um seine Neuigkeiten hervorzusprudeln - und stutzte, als sein Blick auf die Fremden fiel.
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„He!“ begann er überrascht. „Männer aus Saint Johns“, erläuterte Hasard. „Ich erkläre dir später, wie und wo wir sie getroffen haben. Konntest du sehen, wohin sich unsere Geister-Freunde gewendet haben?“ „Sehen nicht, aber hören. Sie haben sich darüber unterhalten, daß sie dieses Fort angreifen wollen, und zwar zusammen mit irgendwelchen Indianern, die sich in der Gegend herumtreiben.“ „Die Huronen“, sagte Jem Pendleton tonlos. „Sie sind also immer noch hier.“ „Scheint so.“ Dan nickte. „Wir haben ja schon einmal erlebt, wie sich die Kerle mit ihrem Geistertrick die Indianer gefügig machen. Und jetzt?“ Hasard überlegte einen Moment, dann atmete er tief durch. „Wir teilen uns“, entschied er. „Um die Galeone zu entern, genügen sechs Mann, da sich nur noch die Ankerwachen an Bord befinden. Die anderen werden über Land marschieren, um den Leuten im Fort beizustehen.“ * Es schneite nicht mehr, als Big Old Shane, Ferris Tucker, Pete Ballie und Al Conroy mit ihren Schützlingen das Fort erreichten. „Fort“ war eine reichlich übertriebene Bezeichnung für diesen Schlupfwinkel in den Wäldern. Genau genommen handelte es sich nur um ein einziges zweistöckiges, geräumiges Blockhaus, das von einem hohen Palisadenzaun mit Wachtürmen an allen Ecken und einer gerodeten Fläche umgeben war. Die Leute von Saint Johns waren Kummer gewohnt. Vor allem im Winter waren sie vor gelegentlichen Indianereinfällen nie ganz sicher gewesen. Immer wieder passierte es, daß die berüchtigten Südstürme Schiffe in diese Gegend verschlugen. Oft handelte es sich um Piraten, die keine Skrupel hatten, eine Fischersiedlung auszuplündern. Dazu kam, daß nicht nur England, sondern auch Frankreich Ansprüche auf diesen Teil der Neuen Welt erhob und das Erscheinen
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französischer Schiffe oft genug Anlaß bot, die Goldstücke zu vergraben und mit den Kopftöpfen in die Wälderau flüchten. Big Old Shane fluchte, als unmittelbar vor ihm eine Musketenkugel in den Schnee schlug. Penelope Clark fluchte ebenfalls. Ihre helle, empörte Stimme und der Anblick der wohlbehalten zurückkehrenden Kinder überzeugten die Saint-Johns-Leute schließlich davon, daß niemand sie angreifen wollte. Das Palisadentor wurde geöffnet. Wenig später drängten sich die Neuankömmlinge in dem großen Wohnraum des Blockhauses um ein behaglich flackerndes Kaminfeuer. Penelope berichtete. Ein knorriger grauhaariger Hüne, der sich als Mark Scollart vorgestellt hatte, hieb wütend mit der Faust in die offene Handfläche. Er war fast so groß und breit gebaut wie Big Old Shane und spielte offenbar die Rolle des Anführers. „Verdammter Mist!“ knurrte er. „Und wir haben einen Stoßtrupp nach Saint Johns geschickt, um Penny und die Kinder zu holen!“ „Jem?“ flüsterte das Mädchen erbleichend. „Insgesamt acht Mann unter Jems Führung, ja. Er war nicht zu halten.“ Ein Blick in Penelope Clarks angstvoll flackernde Augen verriet deutlicher als Worte, warum der junge Mann nicht zu halten gewesen war. Der Trupp hatte offenbar einen weiten Bogen geschlagen, sonst hätten sich die beiden Gruppen unterwegs begegnen müssen. Aber auch so konnte Big Old Shane, die besorgten Fischer beruhigen: Ihre Freunde würden in Saint Johns nur noch auf Seewölfe stoßen, ganz bestimmt nicht mehr auf irgendwelche imitierten Geister. Der bärtige Mark Scollart runzelte die Stirn. „Imitierte Geister?“ wiederholte er langsam. „Wir vermuten es. Das angebliche Geisterschiff hat schon öfter unseren Kurs gekreuzt. Die Besatzung sieht zwar teuflisch aus, aber bis jetzt hat sie noch immer eilends die Flucht ergriffen, sobald
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sie auf ernsthaften Widerstand stieß. Das sieht nicht gerade nach übernatürlichen Kräften aus, oder? Ich habe auch noch nichts davon gehört, daß Gespenster auf Kaperfahrt gehen und ganz normale, freche Raubzüge unternehmen.“ Eine halbe Minute blieb es still. Mark. Scollart kratzte in seinem grauen Bartgestrüpp herum. Er starrte Big Old Shane sprachlos an, dann stieß er heftig die Luft durch die Nase. „Verdammt, ja!“ knurrte er. „Wenn ich mir's recht überlege, haben wir uns gar nicht richtig angeschaut, wer da in den Hafen segelte. Die Galeone feuerte eine Breitseite ab, die Leute, die von den Schaluppen und der Karavelle flüchteten, schrien etwas von Geistern und Dämonen und wir sind gelaufen wie die Hasen.“ „Ich nicht“, erklärte Penelope Clark trocken. „Ich wollte mir erst einmal ansehen, was los war, bevor ich es riskierte, mit den Kindern durch das Schneetreiben zum Fort zu marschieren. Und ich sage euch, daß diese Geister jedenfalls menschlich genug waren, um unseren Branntwein zu trinken und nach Gold und Biberfellen zu suchen.“ „Die Felle! Verdammt, wir konnten sie nicht mitnehmen. Aber wer konnte denn auch ahnen, daß dieser Höllenspuk auf Felle scharf sein würde!“ Die Männer schwiegen erbittert. Ihre Frauen reagierten gelassener: Sie verteilten heiße Suppe und Branntwein, fütterten die Kinder und hingen durchnäßte Kleidung zum Trockenen an den Kamin. Der Verlust einiger Felle konnte sie nicht aufregen. Sie hatten ihre Familien beisammen, den acht jungen Burschen unter Jem Pendletons Führung drohte offenbar keine unmittelbare Gefahr - mehr verlangten sie gar nicht in einem Land, in dem sich ihr Dasein nur zu oft auf die Notwendigkeiten des nackten Überlebens reduzierte. Sie wollten die Nacht im Fort verbringen und morgen früh nach Saint Johns zurückkehren, um ihre Häuser zu reparieren und die Verluste zusammenzuzählen. Das war jedenfalls der
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allgemeine Vorschlag, doch die Menschen kamen nicht mehr dazu, darüber abzustimmen. Ein schriller Alarmschrei gellte von einem der Wachtürme herüber. Die Männer sprangen auf und sahen sich an. Hastig griffen sie nach ihren dicken Felljacken, schnappten sich Musketen, Arkebusen und Pistolen, und als sie die Tür aufrissen,. peitschte draußen bereits Gewehrfeuer. Im nächsten Moment mischte sich ein anderes Geräusch in den Lärm, ein langgezogenes, tremolierendes Heulen: der Kriegsschrei der Indianer. „Huronen!“ flüsterte Penelope Clark. „Der Himmel stehe uns bei!“ Aber dabei schlüpfte sie bereits in ihren Pelz und nahm ebenfalls eine Muskete zur Hand, offenbar genau wie die anderen Frauen davon überzeugt, daß es immer noch am besten sei, sich selbst zu helfen. Die vier Seewölfe liefen bereits durch den Schnee zwischen Wohnhaus und Palisadenzaun und stürmten die Stiege hinauf, die zu der umlaufenden hölzernen Balustrade führte. Big Old Shane fühlte sich ein wenig an die Wehrgänge der Feste Arwenack erinnert, wo er Schmied und Waffenmeister im Dienst des alten Sir John Killigrew gewesen war, bevor er auf die „Isabella“ kam. Statt der Basteien ragten die spitzen Palisaden auf, schmale Schießscharten waren ebenfalls vorhanden. Ein paar solide Kanonenkugeln hätten das Fort zwar hinweggefegt, aber mit Gegnern, die Kanonen in Stellung brachten, war hier in den Wäldern nicht zu rechnen. Stattdessen peitschten Musketen, und ein Pfeilhagel sirrte durch die Luft und landete wirkungslos, weil ungezielt im Schnee. Big Old Shane schob seine Muskete durch die Schießscharte und hielt nach einem Gegner Ausschau. Viel war im Schatten zwischen den Bäumen nicht zu erkennen. Oder doch: Jetzt tauchte eine Gestalt hinter einer Bodenwelle auf. Eine Gestalt in einer langen, wehenden Kutte, schwarz vor der schimmernden weißen Pracht des Schnees, die Arme theatralisch ausgebreitet, das
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Gesicht mit der Totenkopfmaske erhoben. Sie stieß einen langgezogenen, schaurig klingenden Schrei aus, und sekundenlang waren die Männer hinter den Palisaden wie gelähmt vor Schrecken. Na warte, du Geist!“ brummte Big Old Shane. Gemächlich zielte er auf die linke Stiefelspitze des Burschen, drückte ab und grinste zufrieden, als sich das gespenstische Bild schlagartig veränderte. Der „Geist“ brüllte schmerzerfüllt auf, drehte sich halb um sich selbst und hüpfte auf einem Bein herum. Seine Totenkopfmaske verrutschte. Unter der schwarzen Kapuze war plötzlich rötliches Haar zu sehen. Da sich die Augenlöcher nicht mehr am richtigen Platz befanden, rannte der Bursche bei dem Versuch, wieder die Deckung der Bodenweile zu gewinnen, prompt gegen einen, Baumstamm. Dabei geriet die Maske noch mehr ins Rutschen. Was darunter erschien, war eindeutig eine menschliche Galgenvogel-Physiognomie. Die „Geister“, die im nächsten Augenblick zusammen mit den Indianern aus ihren Deckungen hervorbrachen, um einen Sturmangriff auf das Fort zu unternehmen, mußten erleben, daß ihr so oft erprobtes Höllentheater plötzlich wirkungslos wurde. KonzentriertesMusketenfeuer empfing sie. Schuß auf Schuß jagten die Verteidiger durch die Schießscharten. Die Männer zielten und drückten ab. Frauen und Mädchen, im Schutz der Palisaden kauernd, übernahmen das Laden. Big Old Shane benutzte abwechselnd Pistole und Muskete, trieb die Angreifer systematisch wieder in ihre Deckungen zurück, und jedesmal dauerte es nur Sekunden, bis ihm Penelope Clark mit grimmig entschlossener Miene die aufgeladene Waffe reichte, Neben ihm richtete sich Al Conroy blitzschnell auf. Ein peitschender Knall und einer der Kerle, die gerade das Fort umgehen wollten, jumpte erschrocken zurück in Deckung. Der schwarzhaarige Stückmeister der „Isabella“ nickte zufrieden. Vorsichtig spähte er über die
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Palisaden. Im Augenblick ließ sich kein Angreifer sehen. Auch das Kriegsgeschrei der Huronen war verstummt, aber die Verteidiger gaben sich keinen Illusionen hin. Ihre Gegner brauchten nur einen etwas größeren Bogen zu schlagen, um das Fort in aller Ruhe umzingeln zu können. Sie waren in der Überzahl. Wenn sie sich erst einmal auf das Wohnhaus eingeschossen hatten, wenn sie vielleicht auf die Idee verfielen, Brandpfeile zu benutzen, dann war es aus. Sie fanden keine Zeit mehr, es zu versuchen. Mitten in der momentanen Stille fiel ein einzelner Schuß. Ein Schuß, der in einiger Entfernung abgegeben worden war, vermutlich von einem Wachtposten, der den Rückweg sichern sollte. Wieder erhob sich der tremolierende Schrei der Huronen. Im nächsten Augenblick wurde er von einem anderen, lauteren Kriegsruf übertönt. „Arwenack!“ dröhnte es aus dem Schatten des Waldes. Und noch einmal, donnernd und so wild, daß die Indianer erschrocken verstummten. „Arwenack! Ar-we-nack!“ * Fast lautlos glitten die beiden Boote über das schwarze Wasser der Bucht. Es hatte wieder zu schneien begonnen: nicht besonders heftig, aber doch genug, um den Ankerwachen der „Ghost“ die Lust zu nehmen, ihre Nasen allzuweit vorzustrecken. Sie fühlten sich sicher. Daß die „Isabella“ sie etwa suchen und angreifen könnte, war eine Möglichkeit, mit der sie offenbar nicht einmal im Traum rechneten. Noch verließen sie sich völlig darauf, daß ihr „Geisterschiff“ überall Angst und Schrecken verbreitete. Es würde wohl auch eine Weile dauern, bis es in ihre Schädel ging, daß es Männer gab, die - Schrecken hin, Angst her überhaupt nicht daran dachten, vor einer wie auch immer gearteten Gefahr davonzulaufen.
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Die Jakobsleiter war einladend an Steuerbord ausgebracht. An Backbord trampelte eine der Ankerwachen herum, lautstark und offensichtlich in dem Bestreben, sich aufzuwärmen. Den Geräuschen nach zu urteilen war er der einzige auf Deck. Aber beim Heranpullen hatten die Seewölfe einen rötlichen Schimmer auf der Kuhl entdeckt, der ihrer Meinung nach aus dem offenen Kombüsenschott dringen mußte: also hatten wohl ein paar von den frierenden Kerlen beschlossen, dass man in der Nähe des Herdfeuers genauso gut Wache schieben könne. Der Mann am Backbord-Schanzkleid sollte wohl vor allem aufpassen, daß der Rest der Crew samt Kapitän die Idylle nicht störte. Aber er peilte nach Nordwesten, und die, beiden Boote näherten sich aus Südwesten, also von der anderen Seite der Bucht. Das leise Klatschen der Riemen wurde vom Rauschen der Brandung übertönt, die sacht fallenden Schneeflocken überzogen alles wie mit flirrenden Schleiern. Unbehelligt glitten die beiden Boote in den Schatten der Bordwand und wurden der Einfachheit halber mit den Vorleinen an den Sprossen der Jakobsleiter belegt. Der Seewolf enterte als erster auf. Lautlos und geschmeidig schwang er sich über das Schanzkleid. Dan O'Flynn folgte ihm, dann Bob Grey, der so gut mit dem Wurfmesser umgehen konnte, den Schluß bildeten Sam Roskill, Ed Carberry und Matt Davies. Niemand verursachte irgendein Geräusch, das lauter gewesen wäre als das Ächzen der Rahen und Blöcke. Der Pirat im Schatten des Großmastes auf der Backbordseite konnte ohnehin nicht viel hören, da er immer noch mit den Füßen auf die Decksplanken trampelte. und seine kalten Hände gegeneinander schlug. Erst als die Angreifer schon über die Nagelbank turnten, wurde er aufmerksam. Auf dem Absatz wirbelte er herum: ein großer Mann in einer schwarzen Kutte, unter deren Kapuze fahl ein Totenschädel leuchtete. Offenbar war er sicher gewesen, daß sein bloßer Anblick genügte, jeden
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Neugierigen auf meilenweiten Abstand zu treiben. Aber aus der Nähe konnte man hinter den Sehlöchern der Maske erschrocken flackernde menschliche Augen sehen, von dem dünnen Holz blätterte bereits die weiße Farbe ab, und das Entsetzen lag diesmal ohne Zweifel auf der Seite des „Geistes“. „Hallo“, sagte Hasard sehr leise und sehr gelassen. „Ich bin die Meerjungfrau, wenn's beliebt. Und du lernst jetzt auch gleich, wie heiß ich küssen kann.“ Damit pflanzte er einen rechten Haken unter das Kinn des Totenkopfs, die Maske ging zu Bruch. Der „Geist“ flog gegen das Schanzkleid und hatte soviel Schwung, um außenbords zu kippen. Ed Carberry hielt ihn am Fuß fest, damit er nicht absoff, und beförderte ihn wieder auf die Kuhl. „Nun schau sich einer dieses mottenzerfressene Bilgengespenst an“, brummelte er mißbilligend. „Dem sollte man doch die Haut in Streifen ...“ „Halt keine Volksreden, Mister Carberry. In der Kombüse sind noch mehr von der Sorte.“ Das ließ sich nicht verleugnen. In der Kombüse hatte man offenbar das dumpfe Gepolter gehört. „Eh, Bully!“ rief eine fragende Stimme. Ein Geist, der Bully hieß! Dan O'Flynn kicherte erheitert und schluckte, als er Hasards warnenden Blick einfing. Rasch huschten sie über die Kuhl und glitten von zwei Seiten an das offene Schott heran, genau in dem Augenblick, in dem Geist Nummer zwei den Kopf nach draußen streckte. Die Totenkopfmaske hatte sich der Bursche nach oben auf den Schädel geschoben. Sein rötliches Gesicht wirkte ziemlich stupide. Vergeblich versuchte er, seinen Kumpan auf der Kuhl zu entdecken, peilte nach Steuerbord — und kriegte Augen wie Untertassen. „Uuuuh!“ stöhnte er. Das war auch schon alles. Ed Carberry packte ihn nämlich am Kragen, warf ihn Dan O'Flynn zu, und der fragte ihn ganz freundlich, ob er ein paar Maulschellen
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haben oder lieber freiwillig aufgeben wolle. Der „Geist“ wollte freiwillig aufgeben. Gleichzeitig schoß der dritte und letzte Mann wie eine Kanonenkugel aus dem Kombüsenschott und fuchtelte mit einem Schlachtermesser. Offenbar war er entschlossen, den ersten damit aufzuspießen, der ihm in die Quere geriet. Das war ausgerechnet wieder Ed Carberry. Der Profos hatte entschieden längere Arme als sein Gegner. Das Messer war noch unterwegs, als Carberrys geballte Rechte bereits ihr Ziel fand. Mit Schwung wurde der Messerheld in die Kombüse zurückbefördert, landete mit dem Hintern auf der Herdplatte und wäre dort, benommen wie er war, wohl auch sitzengeblieben, wenn ihn Matt Davies nicht mittels seines Hakens heruntergezerrt hätte, bevor ernsthafter Schaden entstand. Die ganze Bande wurde im Eiltempo gefesselt. Zwei waren bewußtlos und würden noch eine Weile brauchen, bis sie sich wieder auf den eigenen Namen besannen. Nummer drei schlotterte und klapperte vor Angst mit den Zähnen. Daß es sechs Männer gewagt hatten, die „Ghost“ zu entern, ging über sein Begriffsvermögen. Daß ein paar von den Männern jetzt auch noch das Gerippe an der Großrah, und speziell die Drähte untersuchten, die die morschen Knochen zusammenhielten, brachten den verschreckten Halsabschneider endgültig zu der Überzeugung, daß es sich bei diesen sechs Kerlen um ausgekochte Satansbraten handelte, die die Hölle bestimmt schon mehr als einmal wieder ausgespuckt hatte, weil sie selbst dem Leibhaftigen zu zäh waren. „Wo sind die Gefangenen?“ fragte der Seewolf hart. „V-v-vorpiek.“ Der Gefesselte stotterte und war grün im Gesicht, als sei er plötzlich seekrank geworden. Vielleicht erwartete er, daß man ihn und seine Kumpane als nächstes neben das Gerippe hängen würde. Hasard sah keinen Grund, ihn zu beruhigen. Fünf
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Minuten später hatte er nicht übel Lust, den Kerlen zumindest eine Tracht Prügel zu verabfolgen. Die Engländer in der Vorpiek waren halb erfroren, völlig ausgehungert und so entkräftet, daß sie sich kaum auf den Beinen halten konnten. Sie hatten sich gewehrt und standhaft geweigert, für ihre Entführer auch nur einen Finger zu rühren. Einer von ihnen war kaltblütig über den Haufen geschossen, ein anderer ausgepeitscht worden. Dann hatten ihre Widersacher sie in der Vorpiek angekettet, um in aller Ruhe abzuwarten, bis Hunger, Durst und Kälte die Opfer zermürbt hatten. Es war gar nicht so einfach, die Männer daran zu hindern, die drei gefesselten Piraten schlichtweg zu massakrieren. Am liebsten wären sie auf der „Ghost“ geblieben, um eine Falle zu stellen und den Rest der Mannschaft bei der Rückkehr zu überwältigen. Hasard konnte es ihnen nicht verdenken. Er empfand im Grunde genauso, aber die Vernunft sagte ihm, daß ein solches Unternehmen mit nur sechs voll kampffähigen Männern ein unnötiges Risiko war. Die drei Gefesselten wurden in die Vorpiek gesperrt. Hasard ließ die Pinasse abfieren und die Dinge hineinverstauen, die die Piraten in Saint Johns und der kleinen Ansiedlung an der Küste von Neuschottland zusammengeraubt hatten. Bei dieser Gelegenheit holten Ed Carberry und Dan O'Flynn auch das Gerippe von der Rah. Dan hätte es gern als Maskottchen mitgenommen. Aber der Profos drohte, ihm in diesem Falle die Knochen einzeln um die Ohren zu schlagen. Schließlich drapierten sie das Ding gemütvoll im bequemsten Sessel der Kapitänskammer. Das war eine deutliche Warnung oder auch eine Herausforderung, je nachdem, wie der Kapitän der „Ghost“ darüber dachte. Die Fischer aus Neuschottland hatten die Pinasse, um nach Hause zurückzusegeln. Mit der Galeone hätten sie ohnehin nichts anfangen können. Ihre Besitztümer waren ebenfalls vorhanden, auch die Leute von
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Saint Johns würden zurückerhalten, was man ihnen abgenommen, hatte. Daran, daß sich die Halunken bei dem Angriff auf das Fort in den Wäldern blutige Köpfe holen würden, zweifelte ohnehin niemand. Der Geisterkapitän konnte ankerauf gehen und das Weite suchen. Das würde er auch tun, wenn er die Warnung richtig verstand und sich vor allem gründlich überlegte, was ihm und seinen Leuten ohne Schiff an einer Küste blühte, deren Bewohner sie sich zu Feinden gemacht hatten. Aber falls er von der uneinsichtigen Sorte war und den Seewölfen noch einmal unter die Augen geraten würde, hatte er sich die Folgen selbst zuzuschreiben. Sechs Seewölfe und ein knappes Dutzend befreiter Gefangener verteilten sich in den Booten. Diesmal brauchten sie nicht den mühseligen Landweg zu wählen, sondern konnten es sich leisten, in aller Ruhe aus der Bucht zu pullen und über das Wasser nach Saint Johns zurückzukehren. In der letzten Viertelstunde hatten sie ein paarmal geglaubt, das ferne Knattern von Musketenschüssen wahrzunehmen. Jetzt war wieder alles still. Als das letzte Boot die Landzunge erreicht hatte, konnten sie in den Hügeln hastiges Laufen hören. Hasard gab den anderen ein Zeichen, anzuhalten. Ein paar kräftige Riemenschläge brachten das letzte Boot näher an die Felsen heran. Der Seewolf schwang sich geschmeidig auf die vorspringenden Klippen. Ed Carberry folgte ihm, vorsorglich mit der Muskete unter dem Arm. Sie kletterten ein Stück höher, bis sie die Bucht wieder überblicken konnten. Die „Geister“, die da halb stolpernd, halb rutschend über die Felsen nach unten hasteten, waren nur noch ein verlorener Haufen. Die Masken trugen sie nicht mehr, wahrscheinlich, weil sie sie beim Atmen behinderten und sie alle Luft für die Flucht gebraucht hatten. Zwei von den Burschen hinkten, einer war so schwer verletzt, daß er gestützt werden mußte. Man sah ihnen deutlich an, daß sie im Nahkampf Mann
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gegen Mann zurückgeworfen worden waren: das bewiesen zugeschwollene Augen, blau und grün schillernde Beulen und all die typischen Blessuren, wie man sie sich in einer handfesten Keilerei zuzieht. Die schönen schwarzen Kutten bestanden auch nur noch aus Fetzen. Diesmal mußte der Höllenspuk ganz höllisch danebengegangen sein. Diesmal waren es nicht die Angegriffenen gewesen, die rennen mußten, sondern die „Geister“ selbst. Keuchend, entnervt und demoralisiert wankten sie auf ihr Boot zu, aber der Gedanke an das, was die Kerle mit ihren Gefangenen getrieben hatten, ließ bei den Seewölfen keine Spur von Mitleid aufkommen. „Soll ich ihnen eins verplätten?“ fragte Ed Carberry begierig. Hasard hob die Brauen. „Aus dem Hinterhalt? Du spinnst wohl!“ „Aus dem ... Mann, Sir, für was hältst du mich?“ wetterte der Profos los. „Ich will ihnen doch bloß ein nettes kleines Loch in ihr Boot zaubern, damit sie ihre Wunden kühlen können. Salz heilt, was, wie? Und ein kalter Hintern schadet denen bestimmt nicht.“ Hasard zögerte. Aus den Augenwinkeln konnte er die grauen, eingefallenen Gesichter der Engländer sehen. Einer der ihren war tot. Der junge Mann, der ausgepeitscht worden war, litt sichtlich unter Fieber, da niemand daran gedacht hatte, seinen Rücken zu behandeln. Nein, ein Bad im eiskalten Wasser war wirklich das mindest was die Kerle da drüben verdient hatten. „Gut, Ed“, sagte der Seewolf durch die Zähne. „Verschaff ihnen einen kalten Hintern.“ Der Profos begann zu strahlen. Sein wüstes Narbengesicht verzog sich vor Vergnügen, als er die Muskete hob. Sehr gründlich und sehr genüßlich zielte er. Als er abdrückt lag der Treffer genau im Ziel. Knapp unter der Steuerbord-Wasserlinie des gerade nach Backbord überholenden Boots — und damit eine Handbreit unter dem Hintern des Steuerers.
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Der schoß senkrecht in die Höhe, weil die Kugel unmittelbar unter seinem Sitzfleisch im vibrierender Holz der Ducht steckenblieb. In die Planken hatte sie ein sauberes Loch gestanzt. Ed lud schon wieder die Muskete nach, weil er sich sagte, daß so ein einsames Loch nicht ausreichte, um das Boot schneller vollaufen zu lassen, als die Insassen es leerlenzen konnten. Im Prinzip traf das auch zu. Aber die Männer dort vorn waren offenbar so entnervt, daß ihnen die Musketenkugel endgültig den Rest gab. Der Bootssteurer ruderte mit den Armen, verlor das Gleichgewicht und trat jemandem auf die Finger. Den wiederum veranlaßte der jähe Schmerz in der Linken, automatisch die geballte Rechte auf die Reise zu schicken. Leider hatte der Hieb nicht den richtigen Schwung. Der Bootssteurer fiel zwar um, aber er fiel nicht ins Wasser, sondern auf den Dollbord, und dem Anprall war der Kahn nicht gewachsen. Er kenterte durch. Schreiend platschten die Piraten ins Wasser. Einen Augenblick sahen sie mit ihren bauschigen Kutten wie ein Schwarm schwarzer Vögel mit ausgebreiteten Schwingen aus, und dann hatten sie alle Mühe, sich von den schweren. Kleidungsstücken zu befreien, die sich voll Wasser sogen und an ihnen zerrten. Edwin Carberry grinste breit und kratzte sich sein Amboßkinn. „Jetzt müßte man diese Putzlumpen nur noch auf die Leine hängen“, knurrte er. Sein Blick wirkte ganz so, als würde er am liebsten die Tat auf dem Fuß folgen lassen. Und mit den Jammergestalten da drüben, sagte dieser Blick, würde er notfalls auch ganz allein fertig werden. Hasard glaubte es ihm gern, aber schließlich sah auch der Profos ein, daß sie sich zunächst einmal um die völlig entkräfteten Engländer aus Neuschottland kümmern mußten. 8.
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Etwa gleichzeitig trafen die kleine Gruppe des Seewolfs, die Hauptstreitmacht der Crew und die Leute aus dem Fort wieder in Saint Johns ein. Da es nicht mehr schneite, hatten sich die Bürger doch entschlossen, noch in der Nacht in ihre Häuser zurückzukehren. Sie waren vor einem vermeintlichen Höllenspuk geflohen. Eine simple Piratengaleone würde sie kein zweites Mal dazu bringen, sich zu verkriechen, versprachen sie mit grimmigen Gesichtern. Das würde auch ganz sicher nicht nötig sein, da sie schließlich in der Überzahl waren, lauter hartgesottene, kampferprobte Männer, und sich mit Leichtigkeit gegen die Besatzung der „Ghost“ behaupt konnten, jetzt, da man wußte, daß sich um schlichte Piraten und nicht um Geister handelte. Die Leute aus Neuschottland wurden auf die verschiedenen unbeschädigt gebliebenen Häuser verteilt, mit Brandy und heißer Suppe, dicke Decken und Wärmsteinen versorg Der Kutscher kam von der „Isabella“ herüber und kümmerte sich um dein jungen Mann mit dem entzündete Rücken. Siri-Tong half ihm dabei aufmerksam beobachtet von de einfachen Fischerfrauen, die zunächst mißtrauisch wirkten, dann aber sehr schnell den Kutscher in ein Gespräch verwickelten, das sich von. den Problemen der Wundbehandlung ausländischen Küchengeheimnissen zuwandte und kein Ende nahm. Der Seewolf schickte Blacky und Stenmark zu den Klippen, um die weiteren Aktivitäten der „Ghost“ zu beobachten. Zu diesem Zweck wurden die beiden Männer von den Saint-Johns-Leuten reichlich mit Felljacken Seehundstiefeln und natürlich einer geräumigen Flasche Branntwein ausgestattet. Schlafen wollte in dieser Nacht ohnehin niemand mehr. Schon deshalb nicht, weil man sich erst einmal über die weiteren Pläne der Gegner vergewissern mußte. Die Piraten waren vermutlich vollauf damit beschäftigt, ihre nassen Kleider zu trocknen und sich aufzuwärmen.
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Die kleine Gruppe der Huronen hatte sich nach Nordwesten abgesetzt, - offenbar entschlossen, den „Geistern“ in Zukunft aus dem Weg zu gehen. Ein paar von den erfahrensten Waldläufern aus Saint Johns wollten wenigstens für eine Weile ihrer Spur folgen, um sicherzugehen, daß sie nicht zurückkehrten. Aber allgemein herrschte die Ansicht vor, daß die Indianer versuchen würden, sich nordwärts durchzuschlagen und die BelleIsle-Straße zu passieren, die die Insel von der Küste Labradors trennte. Am nächsten Morgen kehrten die Verfolger zurück und berichteten, daß die Indianer tatsächlich wie vom Teufel gejagt nordwärts zögen. Das mußte zwar nicht heißen, daß sie Neufundland wirklich verlassen wollten, aber mit ziemlicher Sicherheit würden sie nicht noch einmal versuchen, die Siedlung anzugreifen. Selbst wenn sie es doch taten: Auch gegen diese kleine Gruppe von Huronen konnten sich die Bewohner von Saint Johns durchaus verteidigen. Alle zwei Stunden ließ der Seewolf die Wachen auf den Klippen ablösen. Auf diese Weise erfuhr er, daß die Piraten der „Ghost“ ein ziemlich langes und wütendes Palaver veranstalteten, bei dem eine große Menge Rum in ihren Kehlen verschwand. Rum, der sie nicht nur innerlich wärmte, sondern auch ihre gesunde Vorsicht zugunsten ungesunder Rachsucht außer Kraft setzte. Natürlich konnten die Beobachter in den Klippen nicht alles verstehen. Aber das Gebrüll, das der rothaarige Kapitän anstimmte, als er das Gerippe in seinem Lieblingssessel entdeckte, war laut genug, und die drohenden Gesten sprachen auch ziemlich deutlich. Als Smoky und Gary Andrews von ihrer Wache zurückkehrten, stimmten sie darin überein, daß die Piraten nicht daran dachten, die Warnung zu beherzigen und schleunigst zu verschwinden, sondern Unheil brüteten. Der Seewolf nahm es gelassen auf. Es widerstrebte ihm, den unterlegenen Gegner seinerseits anzugreifen. Aber der Gedanke,
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daß sich die „Ghost“ weiter in der Gegend herumtreiben würde, als ständige Bedrohung für die Küstenbewohner, behagte ihm auch nicht besonders. Wenn der Kapitän des nachgemachten Geisterschiffs auf Rache sann, sollte er tun, was er nicht lassen konnte. Es würde eine bittere Lektion für ihn werden. Und eine Lektion, an der er lange zu kauen haben würde. Denn wenn er riskierte, daß sein Schiff auf Tiefe ging, mußte er sich damit abfinden, daß er und seine Leute entweder bei den Küstenbewohnern um gut Wetter bitten mußten oder monate-, vielleicht sogar jahrelang von der Gnade ihrer Huronen-Freunde abhängig sein würden. Die „Isabella“ hatte schon an der Küste Neuschottlands Wasser übernommen, jetzt wurde Proviant an Bord gemannt und selbstverständlich bezahlt. Die SaintJohns-Leute interessierten sich vor allem für das, was der Kutscher zu bieten hatte. Ihre eigenen medizinischen Möglichkeiten waren begrenzt. Der Koch und Feldscher der „Isabella“ dagegen hatte auf der ganzen Welt die Geheimrezepte der Eingeborenen gesammelt, deren Wirksamkeit oft ans Wunderbare grenzte. Salben und Tinkturen, getrocknete Kräuter, Wurzeln und Nüsse, Elixiere aus Rinde und Blättern wechselten den Besitzer. Der Kutscher war ganz in seinem Element, während er auf Dutzende von Fragen antworteten und alles genau erklärte. Philip und Hasard befanden sich ebenfalls an Land und betrachteten neugierig die einheimischen Kinder, aber es blieb wenig Zeit, über das Stadium des gegenseitigen Beschnüffelns hinauszukommen. Entermesser wurden mit Waldläufermessern verglichen, gemopster Tabak mit einem ebenfalls gemopsten indianischen Calumet, und schließlich stieg hinter einem Lagerschuppen eine dünne Rauchwolke auf. Der Seewolf stellte fest, daß sich achtjährige Jungs wohl überall auf der Welt glichen. So sechs, sieben von der Sorte hatten sich offenbar zurückgezogen, um den Seewölfe-Tabak in der Pfeife wer weiß welchen alten Indianers zu probieren.
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Dazu brauchte nichts weiter gesagt zu werden. Solche Dinge regelte die Natur aufs beste, und der erzieherische Effekt ergab sich von ganz allein, wie die etwas grünen Gesichter der Missetäter deutlich bewiesen. Als die Sonne über die Bergkämme im Osten kletterte, meldeten Luke Morgan und Will Thorne, daß die „Ghost“ ihr Versteck in der Bucht verlassen habe. Sie war nach Osten gesegelt. Aber dem Verhalten der Piraten hatten die Seewölfe entnommen, daß sie nicht etwa verschwinden, sondern sich lediglich auf die Lauer legen wollten - entweder um die „Isabella“ zu überfallen oder um zu warten, bis sie sich wieder auf die Fischer von Saint Johns stürzen konnten. Wahrscheinlich aber, so hatten Will und Luke dem Wutgebrüll des Kapitäns entnommen, um die „Isabella“ zu überfallen. Sollten sie! Hasard dachte nicht daran, ihnen auszuweichen, im Gegenteil. Es würde eine gute Tat sein, die „Ghost“ zu versenken. Wenn die „Geister“ in Zukunft zu Fuß spuken mußten, würden sie für die Küstenbewohner keine Gefahr mehr sein, vor allem keine Gefahr für die Leute aus Neuschottland, die mit der Pinasse in ihre Heimat zurücksegeln wollten, sobald sie sich erholt hatten. Der Himmel war klar. Nur im Süden schoben sich dünne gelbliche Wolkenschlieren über die Kimm. Diese so harmlos aussehenden, faserigen Gebilde gefielen den Seewölfen zwar nicht so recht, aber andererseits hatten sie auch keine Lust, die Begegnung mit der „Ghost“ noch lange hinauszuschieben. Eine knappe Stunde später gingen sie ankerauf und segelten mit halbem Wind nach Osten. Dorthin, wo aller Wahrscheinlichkeit nach eine Reihe enttarnter „Geister“ auf sie wartete, die einfach zu dämlich waren, um ihre Lektion zu schlucken. * „Schiff ho! Backbord voraus auf Südwestkurs am Wind! Wetten, daß sie
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sich an uns vorbeimogeln wollen, um die Luvposition zu kriegen?“ Eine sachliche, exakte Meldung war es nicht gerade, die Blacky da losließ. Der Seewolf verzichtete auf den Kommentar. Selbst Ed Carberry sparte sich die bissigen Bemerkungen. Er brauchte sein Repertoire an Flüchen, um die Geschützmannschaften anzulüften, die blitzschnell und präzise wie immer die siebzehnpfündigen Culverinen gefechtsklar machten. Blacky hatte recht: Der übergeschnappte Kapitän der „Ghost“ wollte offenbar den Kurs der „Isabella“ kreuzen, um die strategisch günstige Luvposition zu gewinnen. Dem konnte man entgehen, indem man rechtzeitig abfiel, raumschots an der angeblichen Geister-Galeone vorbeirauschte und ihr mit den überlangen Rohren der „Isabella“ die Wasserlinie aufriß, ohne selbst in die Schußweite der feindlichen Breitseite zu geraten. Kinderspiel, dachte Hasard. Fast ein bißchen zu einfach: als schieße man mit Kanonen auf Spatzen. Die Verrückten da drüben wußten offenbar überhaupt nicht, was sie taten. Der Seewolf beschloß, sie zumindest zu warnen, bevor er sie auf Tiefe schickte. „Klar bei Bugdrehbassen!“ befahl er. „Al, du setzt ihnen eine Kugel vor den Bug. Ben, laß anschließend hinübersignalisieren, daß sie die Wahl haben, entweder schleunigst abzurauschen oder nach Neufundland zu pullen, weil ihr Kahn dann nämlich in die Tiefe fährt, klar?“ „Aye, aye, Sir.“ Ben Brighton grinste breit. Al Conroy, der Stückmeister, überzeugte sich davon, daß die Bugdrehbasse klar war. Natürlich war sie klar, genau wie alle anderen Kanonen. Aber es gehörte nun mal zu Als Prinzipien, sich grundsätzlich auf nichts zu verlassen, was er nicht mit eigenen Augen gesehen hatte. „Gei schon auf die Blinde!“ knurrte er ärgerlich. „Oder soll ich vielleicht ein Loch in den Lappen schießen, ihr Kanalratten?“ Sekunden später hing die .Blinde im Gei. Hasard grinste matt. Er wußte, daß er nichts mehr zu sagen brauchte: sein
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Stückmeister würde haargenau den richtigen Zeitpunkt abpassen, um das „Ding“ loszulassen und dem Signalgasten noch Zeit für seine Botschaft zu geben, bevor die „Isabella“ in die Reichweite der feindlichen Kanonen geriet. Die brennende Lunte hielt Al Conroy bereits in der Rechten. Jetzt drückte er sie in die Zündpfanne, und donnernd entlud sich der Schuß. Ein gutes Stück vor dem Bug der „Ghost“ spritzte eine Wasserfontäne hoch. Smoky, der Decksälteste, signalisierte die Aufforderung, abzudrehen und zu verschwinden, anderenfalls man den Angreifer versenken würde. Durch das Spektiv konnte Hasard sehen, wie der rothaarige Kapitän die Fäuste schüttelte. Er war nicht der einzige. Die Kerle hatten entweder den Verstand verloren oder sich zuviel Mut angesoffen. Auf jeden Fall dachten sie nicht daran, der wohlmeindenden Aufforderung Folge zu leisten, sondern wichen keinen Deut von ihrem Kurs ab. Der Seewolf zuckte mit den Schultern. Betrunkenen und Irren mußte man ihren Willen lassen. „Stückpforten hoch!“ kommandierte er. „Steuerbordkanonen ausrennen! Brassen zum Laufen klarlegen! Aufpassen, Pete!“ Pete Ballie paßte immer auf. Mehr noch: Der stämmige Rudergänger mit den ankerklüsengroßen Fäusten pflegte mitzudenken. Deshalb kam er normalerweise mit einem Minimum an Reaktionszeit aus, wenn er im Gefecht einen Befehl befolgte. Immer noch lagen die beiden Galeonen auf einem Kurs, bei dem die „Ghost“ ziemlich dicht am Bug der „Isabella“ vorbeischeren würde. Auf der Kuhl verrenkten sich die Zwillinge die Hälse und spähten dem feindlichen Schiff entgegen. Solange kein Enterkampf auf dem eigenen Deck bevorstand, waren sie in ihrer Kammer auch nicht sicherer als hier oben: Eine Kanonenkugel konnte ebenso gut die Bordwand durchschlagen wie über Deck fegen.
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Vernünftiges Verhalten bei Gefahr lernte man nur, wenn man den Pulverdampf bisweilen wenigstens von Ferne schnupperte. Falls sich die Gefahr auf Musketenschußweite näherte, hieß die Devise für die beiden Jungen: volle Deckung. Während eines Gefechts in den Wanten herumzuentern, um besser sehen zu können - das hatten sie sich nur einmal geleistet und würden es bestimmt kein zweites Mal riskieren. Schon wegen des Tauendes, das nach Old O'Flynns Bekundung damals nur so geraucht hatte. Minuten verstrichen. Der Seewolf kniff die Augen zusammen. Drüben auf der „Ghost“ wurden jetzt ebenfalls die Kanonen ausgerannt. Aber die Stücke der Piraten verfügten nicht über die notwendige Reichweite, und das würden sie sehr schnell merken. Sehr schnell - und trotzdem zu spät. „Abfallen! Herum mit dem Kahn, Pete!“ Der Befehl war kaum verklungen, als die „Isabella“ auch schon nach Backbord herumschwang. Mit Backstagsbrise, die Rahen fast vierkant gebraßt rauschte sie auf den überraschten Gegner zu. Schon schob sich ihr Bugspriet an der Kuhl der „Ghost“ vorbei. Auf dem Achterkastell der feindlichen Galeone fuchtelte der rothaarige Kapitän mit den Armen. „Feuer!“ brüllte er, und donnernd entlud sich die erste Breitseite. Sie lag zu kurz. Wirkungslos klatschten die Kugeln ins Wasser. Pulverdampf wölkte auf. Jetzt lag die „Isabella“ genau auf gleicher Höhe mit dem Gegner. „Steuerbordkanonen Feuer frei!“ befahl der Seewolf gelassen. Das Dröhnen der zweiten Breitseite mischte sich in den Nachhall der ersten und das waren zugleich die letzten Schüsse dieses Gefechts. In der Wasserlinie der „Ghost“ klafften acht sauber gestanzte Löcher. Mit der achteren Drehbasse hatte der blonde Stenmark dem Gegner zugleich die Ruderanlage zerfetzt, so daß die Galeone keine Chance mehr hatte, in den letzten Minuten ihres schwimmenden Daseins zu
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manövrieren und vielleicht doch noch den einen oder anderen Schaden anzurichten. Die „Isabella“ fiel noch weiter ab und legte sich platt vor den Wind. Auf der „Ghost“ herrschte Zustand. Mit killenden Segeln blieb die Galeone achteraus, taumelnd wie eine kranke Kuh und bereits Sturzbäche von Wasser nehmend. Ein paar Sekunden brauchten die geschlagenen „Geister“, um zu begreifen, daß die Parole jetzt nur noch „Rette sich, wer kann“, heißen konnte. Dann rafften sie sich zusammen und begannen in fliegender Hast, die Boote abzufieren. Ihr Glück, daß sie wenigstens den Kahn repariert hatten, der von Ed Carberrys Musketenkugel getroffen worden war. Auf diese Weise fanden sie alle Platz. Und sie fanden auch noch Zeit, ein Wasserfaß und ein paar Proviantsäcke zu mannen. Wie die Wilden pullten sie schließlich westwärts, legten sich in die Riemen, um dem Sog der rasch sinkenden Galeone zu entgehen, und sparten es sich sogar, wütend die Fäuste zu schütteln. Die „Ghost“ sackte über den Bug weg. Ächzend und stöhnend wie ein lebendes Wesen im Todeskampf verschwand sie in den Fluten. Als letztes tauchte die Spitze des Besanmasts in den gurgelnden, zischenden Sog, und nach einer Weile war die See wieder friedlich und unbewegt, als habe es nie ein vermeintliches Geisterschiff gegeben. Die Piraten mit ihrem rothaarigen Anführer pullten in Richtung Neufundland. Die Seewölfe kannten nicht einmal den Namen des Kapitäns. Sie wußten nicht, wer er war, woher er kam, aus welcher Sorte Abschaum sich seine Bande .feiger Halsabschneider zusammensetzte. Aber im Grunde genügte es ja auch, zu wissen, daß dem Rotschopf und seinen „Geistern“ lausige Zeiten bevorstanden. * Die „Isabella“ segelte nach Süden.
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Sie wollten es wenigstens: Schließlich hatten sie den Kaperbrief der Königin in der Tasche, um Spanier zu rupfen, und nicht, um in Gewässern herumzuschippern, die von den spanischen Schatzschiffen normalerweise gemieden wurden. Auf der Schlangen-Insel warteten die Wikinger, Jean Ribault und Karl von Hutten, und sie warteten auf die Berichte über einträgliche Raids – auch wenn sie der Geschichte von der „Galeone der Toten“ und den verkleideten Geistern unter ihrer schwarzen Flagge sicher mit der gleichen Begeisterung lauschen würden. Ja, die Seewölfe wollten zurück nach Süden. Aber dort türmten sich inzwischen die gelblichen Wolken zu bedrohlicher Höhe an. Die See wurde bleifarben. Ein neuer Sturm von der Sorte, die die „Isabella“ jetzt schon zweimal gepackt hatte, stand unmittelbar bevor, und diesmal konnte es leicht passieren, daß er sie geradewegs in die Regionen des gefährlichen nördlichen Winters wehte. Der Seewolf beschloß, die Küste von Neuschottland anzulaufen, aber sie schafften es nicht mehr. Mit unvermittelter Plötzlichkeit brach der Sturm los, heulte von Süden heran und schüttelte die „Isabella“, daß es den Männern erschien, als habe sich ihr Schiff in einen Korken unter einem Wasserfall verwandelt. Manntaue waren gespannt, die Segel geborgen und die Luken verschalkt worden. Aber auch die beste Seemannschaft änderte nichts daran, daß die Galeone diesen Sturm nur beigedreht überstehen konnte, und das hieß, daß sie unaufhaltsam weiter und weiter dwars vertrieben wurde. Nordwärts! Beim letzten Mal hatte es sie von den Bermuda-Inseln bis fast nach Neufundland verschlagen. Wo sie sich diesmal wiederfinden würden, mochte der Himmel wissen...
ENDE