Thomas Vollmer Das Heilige und das Opfer
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Thomas Vollmer
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Thomas Vollmer Das Heilige und das Opfer
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Thomas Vollmer
Das Heilige und das Opfer Zur Soziologie religiöser Heilslehre, Gewalt(losigkeit) und Gemeinschaftsbildung
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Inauguraldissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, 2009.
1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Dorothee Koch / Dr. Tatjana Rollnik-Manke VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17120-3
Vorwort
Die vorliegende Analyse ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation im Fachbereich Soziologie, die im Jahr 2009 von der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn angenommen wurde. An dieser Stelle möchte ich zuerst meinem Doktorvater Prof. Dr. Werner Gephart für seine Unterstützung danken. Auch Prof. Dr. Tilman Mayer, Prof. Dr. Jörg Blasius und Prof. Dr. Hans-Jürgen Findeis haben zum erfolgreichen Abschluss des Dissertationsprojektes beigetragen. Die Universität Bonn hat durch die Gewährung eines Promotionsstipendiums die existenzsichernde finanzielle Unterstützung während des Schreibprozesses erbracht. Fernerhin verdanke ich den zahlreichen Diskussionen mit Hans-Christian Crueger, Youssef Dennaoui, Daniel Witte, Johannes Tröger und Thomas Wolf überaus wertvolle Einsichten und die für jede wissenschaftliche Arbeit notwendige konstruktive Kritik. Schließlich schulde ich auch meiner Familie aufrichtigen Dank. Insbesondere hat meine Frau wider das existenziell bedrückende Thema „Religion und Gewalt“ Licht, Raum und Freude erschaffen. Ohne ihre Ermutigung in schwierigen Zeiten hätte manche Klippe im Entstehungsprozess der Arbeit nicht umschifft werden können. Thomas Vollmer
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Inhaltsverzeichnis Einleitung
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Religion und Gewalt. Grundriss einer soziologischen Theorie 1.
Zur soziologischen Definition von Religion
21
2.
Gewalt als Entgrenzungsphänomen. Zur funktionalen Äquivalenz von Gewaltmonopol und archaischem Opfer
27
3.
4.
5.
6.
7.
Das religiöse Opfer 3.1 Soziale Logik und Funktion des »sacrificiums« 3.2 Die ordnungsauflösende Kraft des Opferzerfalls. Ein anomietheoretisches Konzept 3.3 Die Sakralisierung der Gewalt. Zur Soziogenese des Heiligen (»sacrum«)
37 39
Zur Soziologie von Kultus und Mythos 4.1 Der Subtext des Mythos. Kollektive Gewalt im Verborgenen 4.2 Der Ödipusmythos 4.3 »Strukturalistische« und »Mimetische« Mytheninterpretation
61 65 68 76
Heilige Gewalt und das soziologische »Problem sozialer Ordnungsbildung«
85
Tod, Sinn und Heilsversprechen. Oder warum die Religion in der Moderne überlebt
95
»Kosmische« und »Heilige Kriege«. Die Polarität von »Inklusion versus Exklusion«
47 53
105
7
8.
Zwischenbetrachtung. Die Ambivalenz des Sakralopfers und die Elementarformen der Gemeinschaft
115
Gewalt und Gewaltüberwindung in den Weltreligionen 1.
Judentum, Christentum und Islam
123
1.1 Gewalt, Urzustand und Schöpfung in der Bibel
123
1.2 Das Erbe Abrahams. Die Sichtbarkeit des Opfers im Alten Testament 1.2.1 Josef und Jona versus Ödipus 1.2.2 Das Buch Hiob: Von der Theodizee zur »Soziodizee« 1.2.3 Die Lieder des leidenden Gottesknechts (Deuterojesaja)
130 137 144 150
1.3 Die biblische Passionsgeschichte als Ereignis gewaltloser Gewaltüberwindung 1.3.1 »Dionysos gegen den Gekreuzigten«. Zur antimythischen Struktur der Evangelien 1.3.2 Die »Gemeinschaft des Leidens« und ihr gesinnungsethischer Liebesuniversalismus 1.3.3 Der Rückfall in die Gewalt
157 157 167 174
1.4 Der Islam als Religion Abrahams 182 1.4.1 »Sachgehalt gegen Chronologie«. Der Islam am Ausgangspunkt des biblischen Befreiungsweges 182 1.4.2 Kontinuität und Diskontinuität der (jüdisch-christlichen) Opferkritik im Koran 187 1.4.3 Von der Ambivalenz des islamischen Gottesbildes zu Tarif Khalidis »muslimischem Evangelium« 195 1.5 Die »Intoleranz der Opfer«. Gewalt als Preis des Monotheismus? 8
201
2.
Hinduismus und Buddhismus
209
2.1 Gewalt und Schöpfung im Rgveda. Varna, Kaste und das hinduistische Uropfer Purusa
209
2.2 Ahimsa. Grundbegriff der fernöstlichen Gewaltfreiheit 2.2.1 Kasten-dharma und ahimsa 2.2.2 Die Bhagavadgita 2.2.3 Askese und die Sakralisierung der Gewalt im Selbstopfer
213 218 221 228
2.3 Buddha und der »mittlere Weg« 2.3.1 Ablehnung und Substitution des archaischen Opfers 2.3.2 Ursachen und Wege aus der Gewalt. Die vier hohen Wahrheiten und der achtgliedrige Heilspfad 2.3.3 Das buddhistische Prinzip universaler »Nicht-Feindschaft« im Vergleich zur »christlichen Feindesliebe«
233 235 240 246
Schlussbetrachtung
255
Literaturverzeichnis
265
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Einleitung
„Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern / und Winzermesser aus ihren Lanzen.“ (Jes 2,4) „Schmiedet Schwerter aus euren Pflugscharen / und Lanzen aus euren Winzermessern! / Der Schwache soll sagen: ich bin ein Kämpfer.“ (Joel 4,10)
Entgegen der Prophezeiung des Säkularisierungsparadigmas, der zufolge sich der Einfluss der Religionen auf das soziale Leben marginalisieren werde, lässt sich seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine Revitalisierung religiöser Gemeinschaften in allen Teilen der Welt beobachten.1 Dabei gewinnen die vielfältigen Renaissancen des Religiösen insbesondere vor dem Hintergrund einer sie begleitenden Welle der Gewalt an Bedeutung. Die Terroranschläge vom 11. September 2001 sind nur die spektakulärsten in einer Serie von Vorfällen, die mit Religion in Verbindung stehen. In den vergangenen Jahren ist religiös legitimierte Gewalt von Angehörigen aller Weltreligionen, von bekennenden Juden, Christen und Muslimen ebenso wie von gläubigen Hindus und Buddhisten, ausgeübt worden. In der wissenschaftlichen Diskussion ist die Rede von der „Rache
1
Vgl. Martin Riesebrodt: Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und Kampf der Kulturen, 2. Aufl., München 2001; Peter L. Berger (Hrsg.): The Desecularization of the World. Resurgent Religion and World Politics, Washington 1999.
11
Gottes“2, dem „Kampf für Gott“3, „Terror im Namen Gottes“4 sowie von den neuen „Glaubenskonflikte[n] in der Weltpolitik“5. Entsprechend aktuell ist die Frage nach der grundlegenden Relation von Religion und Gewalt in der postsäkularen Moderne (wieder) geworden. Allerdings bleibt ein Mangel an sozialtheoretischer Reflexion jenseits der überreichlich vorhandenen empirischen Einzelfallstudien zu monieren. Die zentralen Paradigmen der klassischen soziologischen Ansätze, die die wichtigste Funktion der Religion in der harmonisierenden Integration und symbolischen Repräsentation ganzer Gesellschaften erblickten,6 sind nicht zuletzt aufgrund des vitalen Anstiegs religiös legitimierter Gewalt und den damit einhergehenden gesellschaftlichen Destabilisierungseffekten revisionsbedürftig. Das klassische Integrationsparadigma, das zwischen den Fixpunkten von sozialem Gemeinsamkeitsglauben (Max Weber) und solidarité sociale (Emile Durkheim) aufgespannt ist,7 muss notwendigerweise durch ein Gewaltparadigma ergänzt werden. In welchem Zusammenhang aber stehen Religion, Gewalt und Gesellschaft? Für die soziologische Beantwortung dieser Frage erweisen sich die Theorien René Girards, Walter Burkerts und Georg Baudlers als überaus leistungsfähig. Diese drei Ansätze, die zwar aus unterschiedlichen theoretischen Blickwinkeln, aber mit übereinstimmenden Ergebnissen die religiöse Elementarform des Sakralopfers analysieren, behaupten einen unauflösbaren Zusammenhang zwischen dem Heiligen und der Gewalt. Girard notiert provokant: „Es ist die Gewalt, die Herz und Seele des Heiligen ausmacht“8, während Burkert zu einer nicht weniger herausfordernden Schlussfolgerung gelangt: „Gerade in der Mitte der Religion 2
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Gilles Kepel: Die Rache Gottes. Radikale Muslims, Christen und Juden auf dem Vormarsch, München/Zürich 1991. Karen Armstrong: Im Kampf für Gott. Fundamentalismus im Christentum, Judentum und Islam, New York/Oxford 2004. Mark Juergensmeyer: Terror im Namen Gottes. Ein Blick hinter die Kulissen des gewalttätigen Fundamentalismus, Freiburg/Basel/Wien 2004. Walter Röhrich: Die Macht der Religionen. Glaubenskonflikte in der Weltpolitik, München 2004. Vgl. Benedikt Giesing: Religion und Gemeinschaftsbildung. Max Webers kulturvergleichende Theorie, Opladen 2002, S. 12. Mit Bezug auf die Probleme der Gemeinschaftsbildung in Europa vgl. Werner Gephart: Zwischen ‚Gemeinsamkeitsglauben‘ und ‚solidarité sociale‘. Partikulare Identitäten und die Grenzen der Gemeinschaftsbildung in Europa, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 14/1993, S. 190-203. René Girard: Das Heilige und die Gewalt, Düsseldorf/Zürich 2006, S. 51.
droht faszinierend blutige Gewalt“9. Schließlich behauptet Baudler sogar: „Der Ursprung der Gewalt liegt in den religiösen Fähigkeiten des Menschen.“10 Diese enge Assoziierung von Religion und Gewalt muss allerdings nicht zwingend zur Aufgabe der religionssoziologischen Integrations-, Solidaritätsund Gemeinschaftsperspektive führen, wie Niklas Luhmann dies angesichts einer offensichtlich engen Koppelung des Heiligen und der Gewalt mit direktem Rekurs auf Durkheim (und indirektem Bezug auf Girards Opfertheorie11) behauptet: „Die These Durkheims, Religion habe eine solidaritätsstiftende, moralisch integrierende Funktion[,] wird heute wohl kaum mehr vertreten. Religion gehört, ganz im Gegenteil, zu den erstrangigen Konfliktquellen, und dies nicht nur in der modernen Gesellschaft.“12 Zutreffend an Luhmanns These ist zunächst, dass die Religion in der Moderne nicht mehr als primäres Solidaritätsmedium gelten kann – sie bildet nur noch, um Ferdinand Tönnies zu paraphrasieren, Gemeinschaft in Gesellschaft.13 Davon unbenommen spricht gegen die These Luhmanns und für die These Durkheims und Girards, dass das Heilige und die Gewalt, um ein zentrales Ergebnis der vorliegenden Analyse vorwegzunehmen, seit jeher und gerade aus gesellschaftlichen Solidaritäts- und Integrationserfordernissen eine untrennbare Einheit bilden. Warum? Es wird sich zeigen, dass der Religion am Ursprung des Gesellschaftlichen die zentrale Funktion der Gewaltprävention zufällt, sie aber diese Aufgabe wiederum nur unter Rückgriff auf Gewalt erfüllen kann.14 Girard zufolge ist und bleibt die größte Bedrohung menschlichen Zusammenlebens immer der Ausbruch unkontrollierter, gemeinschaftszerstörender und solidaritätszersetzender Gewalt. Und das „Religiöse ist in erster Linie die Beseitigung des
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14
Walter Burkert: Homo Necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen, 2., um ein Nachwort erweiterte Aufl., New York/Berlin 1997, S. 8. Georg Baudler: Gewalt in den Weltreligionen, Darmstadt 2005, S. 36. Vgl. Niklas Luhmann: Die Religion der Gesellschaft, hrsg. von André Kieserling, Frankfurt am Main 2000, S. 9f. und S. 121. Ebd., S. 121. Vgl. Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Neudruck der 8. Aufl. von 1953, 3., unveränderte Aufl., Darmstadt 1991; Michael Opielka: Gemeinschaft in Gesellschaft. Soziologie nach Hegel und Parsons, Wiesbaden 2004. Vgl. Girard: Das Heilige und die Gewalt, a. a. O., S. 454.
13
gewaltigen Hindernisses, das die Gewalt jeglicher Bildung von Gemeinschaft entgegensetzt.“15 Entsprechend lässt sich die soziale Funktion der Religion dahingehend präzisieren, dass sie Gewalt gewaltsam neutralisiert, um auf dieser Grundlage einen Beitrag zum Problem sozialer Ordnungsbildung zu leisten. Allerdings können Religionen auch eine dysfunktionale Wirkung entfalten, denn, so die im Folgenden ergänzend beigebrachte These, sollte der riskante Prozess der Gewalteinhegung fehlschlagen, können Religionen auch zu wirkmächtigen Verstärkern von Gewalt werden. Aus diesem Grund changieren Religionen bis heute in einem Spannungsfeld von Fanatismus und Toleranz sowie Gewalt und Versöhnung. Dem Zentrum des religiösen Lebens, dem Sakralen (sacrum) als dem mysterium tremendum et fascinans,16 so die berühmt gewordene Formulierung Rudolf Ottos, sind die Faszination, das „Göttliche das Höchste Stärkste Beste Schönste Liebste [sic!]“17 von Beginn an ebenso inhärent wie „seine wilden und dämonischen Formen“18. Wenn die Religion hier unter dem Gesichtspunkt einer ihr zugeordneten Funktion, deren soziologische Kurzformel lautet: Gewaltverarbeitung zwecks Ermöglichung von Gesellschaft, gelesen wird, so ist zweifelsohne Vorsicht geboten. Religionen lassen sich nicht, so Werner Gephart, auf eine Funktion, auf eine „blasse ‚Integrationsaufgabe‘ reduzieren“19. Außerdem wurde bereits im kritischen Anschluss an Luhmann festgestellt, dass die Religion in der Moderne ihre gesamtgesellschaftliche Integrationsfunktion nicht mehr zu erfüllen vermag, sondern diese Leistung lediglich noch für Teilgemeinschaften erfüllen kann. Entsprechend wird die Frage zu stellen sein, ob sich funktionale (religioide) Äquivalente zur religiösen Gewaltprävention in der Moderne finden lassen. Welche gesellschaftlichen Institutionen schützen die Gesellschaft eigentlich vor Gewalt,
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Ebd. Vgl. Rudolf Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, 17. Aufl., München 2004. Ebd., S. 52. Ebd., S. 14. Werner Gephart: Zur Bedeutung der Religion für die Identitätsbildung, in: Ders. und Hans Waldenfels (Hrsg.): Religion und Identität. Im Horizont des Pluralismus, Frankfurt am Main 1999, S. 233-266, S. 262.
wenn die Religion diese Leistung unter den Bedingungen von Modernität nicht mehr zu erbringen imstande ist? Über die Erfüllung von Gemeinschaftsbildungsfunktionen hinaus stellen Religionen den Menschen ideelle respektive existenzielle Ressourcen zur Versicherung ihrer Identität und Möglichkeiten sinnstiftender Weltverarbeitung zur Verfügung.20 Das religiöse Denken, sobald es einen gewissen Grad der Reflexion erreicht, ist Max Weber zufolge immer auch eine „Stellungnahme zu etwas, was an der realen Welt als spezifisch ‚sinnlos‘ empfunden wurde und also die Forderung: dass das Weltgefüge in seiner Gesamtheit ein irgendwie sinnvoller ‚Kosmos‘ sei oder: werden könne und solle.“21 Dieses metaphysische Deutungsbedürfnis thematisiert die umfassenden Sinn- und Orientierungsfragen nach Herkunft und Ziel des Menschen, beinhaltet aber gerade deshalb immer auch die Gewaltproblematik, das ethische Sollen, den Komplex von Gut und Böse, Ordnung und Chaos, Licht und Finsternis sowie Vernichtung und Heil. Damit verbindet sich das Problem der Gewalt unweigerlich mit dem Problem der Sinnfrage, worauf im Laufe der hier angestrebten soziologischen Re-Lektüre der Religionen ausführlich einzugehen sein wird. Bei allen diesbezüglichen Überlegungen ist zu beachten, dass die vorliegende Analyse einer möglichst werturteilsfreien Haltung verpflichtet ist, die auch als methodologischer Agnostizismus bezeichnet werden kann.22 Soziologische Untersuchungen müssen die letzten Sinn-, Wahrheits- und Geltungsansprüche der Religionen einklammern, können aber nicht entscheiden, ob es höhere Mächte tatsächlich gibt oder nicht, sondern nur, ob sie von Menschen als wirklich angesehen werden oder nicht. Der Soziologe interessiert sich also nicht direkt für Gott und Götter, sondern für Menschen, die sich für Gott und Götter interessieren. Diese Vorbemerkung, die so selbstverständlich wie notwendig ist, erscheint deshalb unumgänglich, da die folgenden Erörterungen nicht als sozio20 21
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Vgl. ebd. Max Weber: Einleitung, in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1, 9. Aufl., Tübingen 1988, S. 237-275, S. 253. Vgl. Hubert Knoblauch: Religionssoziologie, Berlin 1999, S. 14. Der Begriff des „methodologischen Agnostizismus“ lehnt sich an Peter L. Bergers Begriff des „methodologischen Atheismus“ an, betont aber, dass die Wissenschaft Aussagen über die Existenz höherer Mächte weder bestätigen noch widerlegen kann. Vgl. Peter L. Berger: Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft. Elemente einer soziologischen Theorie, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1988.
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logische Sinnstiftung oder gar als „soziologische Theologie“23 zu verstehen sind, auch wenn ihre Überlegungen über weite Strecken auf theologischen Studien oder religiösen Quellen gründen, die den Anspruch erheben, einen privilegierten Zugang zu Wesen oder Wahrheit der Religion finden zu können.24 Der Feststellung, dass die Frage nach einem unverrückbaren Wesenskern der Religionen soziologisch nicht zu beantworten ist, korrespondiert ein schwerwiegendes Problem: Religionen an sich gibt es nicht. Die Rede etwa von dem Islam ist ebenso Fiktion wie die Rede von dem Buddhismus oder dem Christentum. Religionen sind hoch komplexe Sozialgebilde und zergliedern sich in teils miteinander konkurrierende Traditionslinien. Sie sind in unterschiedliche Systeme eingebettet und sie verändern ihre Einstellungen zur Gewalt(losigkeit) mit Veränderungen ihrer sozialen Umwelt.25 Allerdings kennen alle Weltreligionen für die Gemeinschaft zentrale Ereignisse und konstitutive Botschaften, aus denen sie ihre kollektive Identität26 und ihre Fähigkeit, Gemeinschaften zu bilden, schöpfen. So erhält das Christentum aus den Berichten von Jesus Christus, der Islam aus dem Koran, der Buddhismus aus den Weisheiten des Buddhas oder
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Dies gilt umso mehr, da die vorliegende Arbeit zum Teil auf den Arbeiten René Girards aufbaut, der, so der Vorwurf Odo Marquards, in seinen Theorien wissenschaftliche und religiöse Bezüge intentional zusammenfallen lässt. Girard selbst, so wird sich zeigen, leugnet diese Verschlingung von Wissenschaft und Religion nicht. Daher kann seine Theorie als soziologische Theologie beschrieben werden. Vgl. Odo Marquard: Exkulpationsarrangements. Bemerkungen im Anschluss an René Girards soziologische Theologie des Sündenbocks, in: Willi Oelmüller (Hrsg.): Worüber man nicht schweigen kann. Neue Diskussionen zur Theodizeefrage, München 1992, S. 2429, S. 24. Bereits Weber hat mit großem Nachdruck klargestellt, dass es einer Religionssoziologie nicht um das unveränderliche Wesen einer Religion gehen könne: „Allein wir haben es überhaupt nicht mit dem ‚Wesen‘ der Religion zu tun, sondern mit den Bedingungen und Wirkungen einer bestimmten Art von Gemeinschaftshandeln“. Siehe Max Weber: Religiöse Gemeinschaften, Studienausgabe der Max Weber-Gesamtausgabe, hrsg. von Hans G. Kippenberg in Zusammenarbeit mit Petra Schilm unter Mitwirkung von Jutta Niemeier, Band I/22-2, Tübingen 2005, S. 1. Vgl. Niklas Luhmann: Die Funktion der Religion, Frankfurt am Main 1982, S. 227ff. Zum komplexen Begriff der kollektiven Identität und seiner vielfältigen Verwendung siehe den Sammelband von Werner Gephart und Karl-Heinz Sauerwein (Hrsg.): Gebrochene Identitäten. Zur Kontroverse um kollektive Identitäten in Deutschland, Israel, Südafrika, Europa und im Identitätskampf der Kulturen, Opladen 1999.
der Hinduismus aus den Upanishaden die jeweils prägenden Gemeinschaftsmerkmale.27 Der Versuch, die religiöse Grundhaltung und ihr Verhältnis zur Gewalt aus den Schlüsseltexten der jeweiligen Weltreligionen zu rekonstruieren, intendiert die soziologische Offenlegung dessen, was Jan Assmann als kulturelle Semantik bezeichnet hat.28 Unter diesen Begriff fallen die großen Erzählungen und Leitunterscheidungen, die einer Religion ihr notwendiges Orientierungswissen in einer unübersichtlichen wie komplexen Welt verschaffen und die sich in fundierenden Mythen, Symbolen, Bildern und Heilstexten ausprägen.29 Freilich können sich kulturelle Semantiken im Verlauf der Geschichte verändern, überlagern und immer wieder neu verstanden oder interpretiert werden. Essentialistische und wesensmäßige oder auch sakralisierende Betrachtungsweisen sind inakzeptabel. Auf der anderen Seite ist es jedoch nicht möglich, die kulturelle Semantik einer Religion und ihr Verhältnis zur Gewalt in beliebiger Weise zu manipulieren oder zu reinterpretieren. Sobald eine Leitunterscheidung gesetzt ist, bestimmt sie das „Handeln und Erleben, Denken, Erinnern und Planen derer, die in ihren Horizonten leben, auf eine entscheidende und vielfach unbewusste Weise.“30 Dieser kulturellen Semantik, wie sie die Religionen ausgebildet haben, gilt das Interesse der vorliegenden Arbeit. Dies bedeutet zugleich, dass keine Analyse des gesamthistorischen Verlaufs einer Religion – ein Unterfangen, das ohnehin einem aussichtslosen Kampf gegen die millionenfache Hydra der Empirie31 (Goethe) gleichkäme – angestrebt wird. Der empirische Teil der vorliegenden Arbeit behält den Charakter einer an signifikanten Textbeispielen einführenden Analyse. Mit der Konzentration auf religiöse Heilstexte soll zugleich eine soziologische Forschungslücke geschlossen werden. Nur selten hat sich der soziologische Blick direkt auf die religiösen Heilstexte gerichtet. Dabei lassen sich den Ur27
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Vgl. Hermann Häring: Konflikt- und Gewaltpotenziale in den Weltreligionen? Religionstheoretische und theologische Perspektiven, in: Reinhard Hempelmann und Johannes Kandel (Hrsg.): Religionen und Gewalt. Konflikt- und Friedenspotentiale in den Weltreligionen, Göttingen 2006, S. 13-46, S. 16. Vgl. Jan Assmann: Monotheismus und die Sprache der Gewalt, Wien 2006, S. 21. Vgl. ebd. Ebd., S. 21. Johann Wolfgang von Goethe: Brief an Schiller vom 16/17. August 1797, in: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805, Münchener Ausgabe Band 1, hrsg. von Karl Richter, München/Wien 2005, S. 390-393, S. 393.
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Kunden der Religionen durchaus soziologisch relevante Einsichten abringen, wenn man auf Sozialmechanismen achtet, die den Verlauf und die Dramatik der Handlungen im Text steuern. Die Schlüsselkategorie einer soziologischen Deutung ist das Sakralopfer. Dabei wird sich im Laufe der Arbeit zeigen, dass gerade die verschiedenen religiösen Texte in transhistorisch und transkulturell vergleichbarer Weise Lehren enthalten, die dem Soziologen wertvolle Hinweise geben, welche (schlechthin zentrale) Rolle die Gewalt im Aufbau des Sozialen einnimmt. Die These von Jürgen Habermas, der (in einem anderen Zusammenhang) fragte, ob die Religionen „nicht immer noch verschlüsselte semantische Potenziale enthalten, die, wenn sie nur in begründete Rede verwandelt und ihres profanen Wahrheitsgehalts entbunden würden, eine inspirierende Kraft entfalten können“32, lässt sich aus soziologischer Sicht nur bestätigen. Die verschiedenen Heilstexte thematisieren nicht nur unisono die Gewaltproblematik, sondern beinhalten, sofern man die passenden hermeneutischen Werkzeuge entwickelt, tief gehende Einsichten in das soziologische Grundproblem normativer Ordnungsbildung.33 Diesen Zusammenhang zwischen dem Heiligen, der Gewalt, der Konstitution der Gesellschaft sowie der religiösen Semantik soziologisch neu zu entdecken und – zumindest ansatzweise – für die Analyse auch moderner Gewaltphänomene mit religiösem Hintergrund fruchtbar zu machen, ist somit das übergeordnete und forschungsorientierende Erkenntnisziel der vorliegenden Erörterungen.
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Jürgen Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main 2005, S. 13. Bezüglich des „Problem of Order” siehe Talcott Parsons: The Structure of Social Action. A Study in Social Theory with Special Reference to a Group of Recent European Writers, Band 1: Marshall, Pareto, Durkheim, 3. Aufl., New York/London 1968, S. 87ff.
Religion und Gewalt. Grundriss einer soziologischen Theorie
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1. Zur soziologischen Definition von Religion
Um den Zusammenhang zwischen Religion und Gewalt analysieren zu können, ist es zuerst notwendig, einen hinreichend klaren Begriff von Religion als sozialem Phänomen zu entwickeln. Nun hat aber bereits Max Weber, der seinen Status als Klassiker des soziologischen Denkens nicht zuletzt seinen begriffsdefinitorischen Leistungen verdankt, seine Studien über die Religiösen Gemeinschaften mit der auffallend zurückhaltenden Bemerkung eröffnet, dass eine Religionsdefinition bestenfalls am Ende seiner Überlegungen stehen könne: „Eine Definition dessen, was Religion ‚ist‘, kann unmöglich an der Spitze, sondern könnte allenfalls am Schlusse einer Erörterung wie der nachfolgenden stehen.“34 Dem korrespondiert eine gleichlautende Feststellung Emile Durkheims, der an den Beginn seiner Studie über Die elementaren Formen des religiösen Lebens die eigentümlich reservierte Erklärung setzte, dass eine Definition der Religion zu Beginn allenfalls ein nützlicher „Vorgriff“35 sein könne. Ein adäquates Verständnis der Religion, so fährt auch er fort, „wird erst am Ende der Untersuchung möglich sein.“36 Auch im Falle der vorliegenden Analyse wird erst im Verlauf der Erörterungen eine hinreichend klare Vorstellung von Religion entstehen. Dennoch sind einige definitorisch-methodische Vorbemerkungen unverzichtbar, um den korrekten Ablauf der Analyse und die Art und Weise, wie sich dem Phänomen der Religion soziologisch anzunähern ist, zu gewährleisten. Seit den Studien Durkheims ist es üblich, die Religion als ein soziales Phänomen zu begreifen, das die
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36
Weber: Religiöse Gemeinschaften, a. a. O., S. 1. Emile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt am Main 1994, S. 45. Ebd.
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Welt in eine heilige und eine profane Sphäre unterteilt.37 Jede religiöse Konzeption schließt diese Unterscheidung zwischen dem Heiligen und dem Profanen ein, und, so Roger Caillois, „setzt der Welt, in der der Gläubige nach Belieben seinen Geschäften nachgeht und eine für sein Heil folgenlose Tätigkeit ausübt, einen Bereich entgegen, in welchem er abwechselnd von Furcht und Hoffnung gelähmt ist, in welchem er sich wie am Rande eines Abgrunds durch den geringsten Verstoß unwiderruflich zugrunde richten kann.“38 Der religiöse Mensch ist somit von zwei komplementären Milieus geprägt, wobei das Heilige in seiner elementaren Erscheinungsform als heilsspendende, aber auch als gefährliche, kaum zu steuernde Energie von außerordentlicher Wirkungskraft auftritt.39 Die Beziehungen zwischen dem Heiligen und dem Profanen werden daher von jeder Religion streng reguliert. Das Verbot, das den Zugang zum Bereich des Heiligen kontrolliert, macht dabei zugleich sichtbar, was einer spezifischen Gesellschaft überhaupt als heilig gilt. Ob das Heilige sich als Gott oder unpersönliche Macht manifestiert, sich in Lebewesen wie dem König oder dem religiösen Virtuosen zeigt, in Räumlichkeiten wie Tempeln oder Kultstätten heimisch wird oder sogar den einfachen Dingen wie Steinen oder Artefakten anhaftet, ist von Kultur zu Kultur ganz unterschiedlich. Gemeinsam scheint allen Religionen lediglich zu sein, dass sie das Heilige vom Profanen durch Verbote zu isolieren suchen. Das heilige Lebewesen oder der heilige Gegenstand sind möglicherweise äußerlich unverändert, aber trotzdem verwandelt. Man verhält sich ihnen gegenüber nur mit großer Umsicht und kann nicht (mehr) beliebig mit ihnen umgehen. Sie rufen Gefühle des Schreckens und der Verehrung wach und werden für ‚verboten‘ gehalten.40
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Die Notwendigkeit, die Religion als ein Phänomen zu begreifen, das die Welt durch den Gegensatz heilig-profan strukturiert, wird noch einmal besonders hervorgehoben von Peter L. Berger: „Die Dichotomisierung, die Zweiteilung der Wirklichkeit in heilige und profane Sphären, wie benachbart sie auch sein mögen, gehört zum Wesen aller Religionen und muss bei jeder Analyse des Phänomens der Religion berücksichtigt werden.“ Siehe Berger: Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft, a. a. O., S. 27. Roger Caillois: Der Mensch und das Heilige. Durch drei Anhänge über den Sexus, das Spiel und den Krieg in ihren Beziehungen zum Heiligen erweiterte Ausgabe, mit einem Nachwort von Peter Geble, München/Wien 1989, S. 19. Vgl. ebd., S. 23. Vgl. ebd., S. 20.
Der Verbotscharakter ist zugleich der Indikator für das, was einer Gesellschaft als heilig gilt. Das, was durch religiöse Verbote geschützt ist, gehört dem Bereich des Heiligen an: „Heilige Dinge sind, was die Verbote schützen und isolieren. Profane Dinge sind, worauf sich diese Verbote beziehen und die von den heiligen Dingen Abstand nehmen müssen.“41 Jede Übertretung dieser Verbote stört nicht nur die soziale, sondern auch die kosmische Ordnung. Es besteht die Gefahr, dass die Gestirne von ihrer Bahn abweichen und Gewalt und Tod die Gemeinschaft zerstören. Entsprechend kann das Profane als der soziale Bereich betrachtet werden, der allgemein benutzbar ist und in dem man ohne Vorsichtsmaßnahmen seinen Tätigkeiten nachgehen kann. Das Heilige dagegen ist von einer Aura des Schreckens und des Verbots umgeben.42 In ihren Grundzügen ist die Religion die Verwaltung des Heiligen. Sie besteht aus kollektiv geteilten Glaubenssätzen über das Heilige sowie Praktiken, die festlegen, wie man sich gegenüber dem Heiligen korrekt zu verhalten hat. „Religiöse Vorstellungen sind Vorstellungen, die die Natur der heiligen Dinge und die Beziehungen ausdrücken, die sie untereinander oder mit den profanen Dingen halten. Riten schließlich sind Verhaltensregeln, die dem Menschen vorschreiben, wie er sich den heiligen Dingen gegenüber zu benehmen hat.“43 Der Kern der Religion besteht somit aus einem System aus Glaubensüberzeugungen und Praktiken, die ein und dieselbe Gemeinschaft miteinander teilt. Dass es sich bei diesem Dreiklang gewissermaßen um die definitorischen Grundelemente des religiösen Denkens handelt, kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass auch Max Weber eine ganz analoge Auffassung von Religion entwickelt hat, bei der den religiösen Vorstellungen, dem Kultus und der Dauergemeinschaft44 eine zentrale Bedeutung zuerkannt wird. Entsprechend erscheint, so Werner Gephart,
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Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, a. a. O., S. 67. Vgl. Caillois: Der Mensch und das Heilige, a. a. O., S. 26. Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, a. a. O., S. 67. So schreibt Max Weber: „Wirklich sicher aber wird diese abstrakte Vorstellung erst durch ein kontinuierlich einem und demselben Gott gewidmetes Tun, den ‚Kultus‘, und durch seine Verbindung mit einem kontinuierlichen Verband von Menschen, einer Dauergemeinschaft, für die er als Dauerndes solche Bedeutung hat. [Herv. T.V]“ Weber: Religiöse Gemeinschaften, a. a. O., S. 6.
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„Webers und Durkheims soziologischer Begriff von Religion als nahezu deckungsgleich“45. Religionen zeichnen sich durch Verpflichtungen, Regeln und Normen gegenüber dem Heiligen aus, die das Individuum an das Kollektiv binden. Der Bruch religiöser Verbote wird vom Kollektiv streng bestraft, sodass sich Recht und Religion von Anbeginn an wechselseitig durchdrungen haben.46 Die Religion wird nicht zuletzt durch ihren sozial verpflichtenden Charakter zur gesellschaftlichen Realität. Das Heilige tritt als eine starke Kontrollinstanz des Gesellschaftlichen in Erscheinung. Durkheim findet daher den Schluss bestätigt, dass die Religion das Spiegelbild der Gesellschaft darstellt. „Wenn die Religion alles, was in der Gesellschaft wesentlich ist, hervorgebracht hat, dann deshalb, weil die Idee der Gesellschaft die Seele der Religion ist.“47 Aussagen dieser Art erinnern zugleich an die religionssoziologische These Georg Simmels, der die Auffassung vertrat, in dieser Hinsicht analog zum religionssoziologischen Projekt Durkheims,48 dass das Heilige gleichsam „die transzendenten Darstellungen der Gruppeneinheit“49 umfasst. Mit diesen kurzen Erörterungen zum soziologischen Begriff der Religion ist die Richtung der Analyse vorgezeichnet. Der soziologische Blick richtet sich nicht auf eine wissenschaftlich nicht zugängliche, phänomenologisch versteckte Hinterwelt,50 sondern auf die innerweltliche, also auf die soziale Seite von Religion. Das Interesse gilt einem universal verbreiteten Differenzzusammenhang, nämlich der Trennung des Heiligen vom Profanen, und der Verbindung, die das Heilige zur Gewalt unterhält. Der Gedanke von Religion als Sozialgebilde impliziert, dass nicht vom Standpunkt einer bestimmten Religion aus argumentiert 45
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Werner Gephart: Handeln und Kultur. Vielfalt und Einheit der Kulturwissenschaft im Werk Max Webers, Frankfurt am Main 1998, S. 36. Vgl. ebd., S. 36. Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, a. a. O., S. 561. Zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Religionssoziologien von Durkheim und Simmel siehe Volkhard Krech: Georg Simmels Religionstheorie, Tübingen 1998, S. 193ff. Georg Simmel: Die Religion, in: Ders.: Gesammelte Schriften zur Religionssoziologie, hrsg. und mit einer Einleitung von Horst Jürgen Helle, Berlin 1989, S. 110-171, S. 160. Diese Hinterwelt, Max Weber spricht von einem „hinterweltlichen Dasein“, ist der soziologischen Forschung, die oft gedankenlos mit dem problematischen Etikett einer Wirklichkeitswissenschaft versehen wird, nicht zugänglich. Die Hinterwelt repräsentiert eine dem Soziologen versperrte Ebene des Seins, die sich Weber zufolge als „schattenhaft und immer wieder einmal direkt als unwirklich sich darstellte“. Siehe Weber: Religiöse Gemeinschaften, a. a. O., S. 4.
wird, sondern in universaler Weise nach den Kriterien des religiösen Phänomens gefragt wird. „So entfaltet sich für den Soziologen Religionssoziologie immer nur als Soziologie der Religionen in ihrer Mannigfaltigkeit.“51 Um den Zusammenhang des Heiligen und der Gewalt noch präziser in den Blick nehmen zu können, erscheint es vorteilhaft, die einzelnen Elementarformen des religiösen Lebens gesondert zu besichtigen und auf ihre spezifische Verbindung zur Gewalt zu befragen. Die forschungsorientierenden Fragen des hier angestrebten Grundrisses einer Theorie über Religion und Gewalt lauten also: Welche Glaubensvorstellungen thematisieren Gewalt? Welche religiösen Praktiken stehen in Verbindung zur Gewalt? Welche Bedeutung besitzt das Heilige für die Sozialintegration der Gemeinschaft? Schließlich: Welche sozialen Kräfte konstituieren das Heilige und begründen seinen ambivalenten Status? Bevor diese Fragen angegangen werden können, ist allerdings näher auf den zweiten Zentralbegriff der Analyse – die Gewalt – einzugehen. Wie also kann das Gewaltphänomen soziologisch präzise erfasst werden?
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René König: Emile Durkheim zur Diskussion. Jenseits von Dogmatismus und Skepsis, München/Wien 1978, S. 243.
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2. Gewalt als Entgrenzungsphänomen. Zur funktionalen Äquivalenz von Gewaltmonopol und archaischem Opfer
„Wer miede nicht, wenn er’s umgehen kann, das Aeußerste! Doch hier ist keine Wahl, Ich muss Gewalt ausüben oder leiden – So steht der Fall. Nichts anderes bleibt mir übrig.“52 (Friedrich Schiller)
Der Begriff der Gewalt bezieht sich auf unzählige Erscheinungen. Die Gewalt hat mannigfaltige Motive und kann überdies eine Vielzahl von individuellen und kollektiven Ereignissen und Verhaltensweisen bezeichnen.53 In Anlehnung an die Arbeiten von Heinrich Popitz lässt sich jedoch ein relativ enger Gewaltbegriff vertreten: „Wir wollen den Begriff der Gewalt nicht dehnen und zerren, wie es üblich geworden ist. Gewalt meint eine Machtaktion, die zur absichtlichen körperlichen Verletzung anderer führt, gleichgültig, ob sie für den Agierenden ihren Sinn im Vollzug selbst hat (als bloße Machtaktion) oder, in Drohung umgesetzt, zu einer dauerhaften Unterwerfung (als bindende Aktionsmacht) führen soll.“54
Zwecks eines vertiefenden Verständnisses ist es nützlich, die Begriffe Gewalt und Konflikt voneinander abzusetzen.55 Von einem Konflikt kann dann gesprochen werden, wenn zwei Gruppen, die innerhalb eines bestimmten Raumes in Opposition zueinander stehen, ihre soziale Beziehung zu verändern oder die ei52 53 54 55
Friedrich Schiller: Wallenstein. Ein dramatisches Gedicht, Frankfurt und Leipzig 1800, S. 47. Vgl. Heinrich Popitz: Phänomene der Macht, 2., stark erweiterte Aufl., Tübingen 1992, S. 48. Popitz: Phänomene der Macht, a. a. O., S. 48. Vgl. Michel Wieviorka: Die Gewalt, Hamburg 2006, S. 16.
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gene Position zu stärken versuchen, allerdings ohne zu beabsichtigen, die gegnerische Partei und damit auch die soziale Beziehung zu liquidieren.56 Das hier vorgetragene Verständnis von Konflikten folgt somit Georg Simmels Auffassung des Kampfes als einer Vergesellschaftungsform, in welchem er „eine Abhülfsbewegung gegen den auseinanderführenden Dualismus, und einen Weg, um zu irgendeiner Art von Einheit“57 zu gelangen, erblickte: „Der Kampf selbst ist schon die Auflösung der Spannung zwischen den Gegensätzen“58, denn tatsächlich sind „das eigentlich Dissoziierende die Ursachen des Kampfes, Hass und Neid, Not und Begier.“59 Zwar kann Simmel zufolge die neue soziale Einheit auch durch die vollständige Vernichtung einer Konfliktpartei herbeigeführt werden, aber dennoch encouragiert er darüber nachzudenken, inwiefern sich Gewalt und Konflikt voneinander unterscheiden. Wenn nämlich ein Kampf, so Simmel, „schlechthin auf Vernichtung geht, so nähert er sich allerdings dem Grenzfall des Meuchelmords, in dem der Beisatz des vereinheitlichenden Elements gleich Null geworden ist; sobald dagegen irgendeine Schonung, eine Grenze der Gewalttat vorhanden ist, liegt auch schon ein sozialisierendes Moment, wenn auch nur als zurückhaltendes, vor.“60 Entsprechend ist es möglich, den Konflikt als einen Zustand sozial geordneter Gewalt zu bezeichnen. Es stehen sich keine Feinde, sondern kommunikationsoffene Gegner gegenüber, wobei Letztere unter Umständen fähig sind, ihre soziale Beziehung aufrecht zu erhalten und gegebenenfalls auch zu reharmonisieren.61 Von dieser Auffassung des Konflikts ist das Gewaltverständnis, von dem die vorliegende Analyse ausgeht, zu differenzieren. Gewalt und Konflikt unterscheiden sich grundsätzlich, da sie einer anderen sozialen Logik folgen.62 Die Gewalt verursacht keine Stabilisierung eines sozialen Verhältnisses und beendet, 56 57
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Vgl. ebd., S. 17. Georg Simmel: Der Streit, in: Ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Gesamtausgabe Band 11, hrsg. von Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main 1992, S. 284-382, S. 284. Ebd. Ebd. Ebd., S. 296. Vgl. Wieviorka: Die Gewalt, a. a. O., S. 18. Vgl. Peter Imbusch: Der Gewaltbegriff, in: Wilhelm Heitmeyer und John Hagan (Hrsg.): Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002, S. 26-57, S. 32.
so die Folgerung Michel Wieviorkas, „eine Diskussion eher, als dass sie sie eröffnen würde, sie erschwert die Debatte, den Austausch, auch wenn dieser ungleich sein sollte, und sie befördert den endgültigen Bruch oder ein reines Kräfteverhältnis, wenn sie nicht sogar gerade deshalb entsteht, weil es zu einem Bruch, zu einem reinen Kräfteverhältnis kommt.“63 Dabei ist der Gewalt immer die Gefahr inhärent, sobald sie erst einmal entfesselt wird, eine Kettenreaktion unaufhaltsamer Antagonismen auszulösen, die das Kollektiv im Grenzfall der Selbstauslöschung preisgeben kann. In modernen Gesellschaften wird daher versucht, das Problem einer unkontrollierten Gewaltausbreitung durch die Etablierung eines staatlichen Gewaltmonopols zu lösen.64 Die Existenz der Souveränität garantiert die Einhaltung und die Durchsetzung rechtlich institutionalisierter Normen, zu denen insbesondere das Verbot des privaten Einsatzes von Gewalt gehört. So stellt Niklas Luhmann fest, dass „Politik und Recht nur möglich sind, wenn sie zu ihrer Durchsetzung auf physische Gewalt zurückgreifen und Gegengewalt wirksam ausschließen können.“65 Selbstjustiz, also der nichtöffentliche Gebrauch von Gewalt gegen Rechtsbrecher, ist deshalb nicht erlaubt und wird vom Staat (mehr oder weniger) wirksam unterbunden.66 63 64
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Wieviorka: Die Gewalt, a. a. O., S. 18. Heinrich Popitz vertritt die Auffassung, dass nur kleinere Gruppen, die bereits unter dem Schutz umfassender politischer Verbände stehen, das Gebot der Gewaltlosigkeit über längere Zeit durchhalten können. „Nach innen muß jede Ordnung, die Gewalt eindämmen und sich selbst schützen will, in der Lage sein, Macht zu konzentrieren.“ Siehe Popitz: Phänomene der Macht, a. a. O., S. 64. Niklas Luhmann: Rechtszwang und politische Gewalt, in: Ders. (Hrsg.): Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Frankfurt am Main 1999, S. 154-172, S. 154. Bereits die Staatsdefinition Max Webers fasst diese Überlegungen zusammen. „Gerade heute ist die Beziehung des Staats zur Gewaltsamkeit besonders intim. In der Vergangenheit haben die verschiedensten Verbände – von der Sippe angefangen – physische Gewaltsamkeit als ganz normales Mittel anerkannt. Heute dagegen werden wir sagen müssen: Staat ist diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes – dies: das ‚Gebiet‘, gehört zum Merkmal – das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit (mit Erfolg) beansprucht. Denn das der Gegenwart Spezifische ist: dass man allen anderen Verbänden oder Einzelpersonen das Recht zur physischen Gewaltsamkeit nur so weit zuschreibt, als der Staat sie von ihrer Seite zuläßt: er gilt als alleinige Quelle des ‚Rechts‘ auf ‚Gewaltsamkeit‘.“ Siehe Max Weber: Wissenschaft als Beruf 1917/1919. Politik als Beruf 1919, hrsg. von Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Birgitt Morgenbrod, Studienausgabe der Max WeberGesamtausgabe, Band I/17, Tübingen 1994.
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An dieser Stelle ist es unmöglich, eine einheitliche und lineare Darstellung der aktuellen Entwicklung der Staatsformel und ihre Angemessenheit für die politischen Probleme der Moderne zu liefern.67 Mit aller Vorsicht kann gesagt werden, dass der Staat bei der Durchsetzung seines Konzepts wachsenden Schwierigkeiten begegnet, wobei die Idee seines Verfalls beziehungsweise seines Überholtseins in der wissenschaftlichen Literatur immer öfter auftaucht. Nichtsdestoweniger bleibt der Staat, ganz im Sinne der traditionellen politischen Philosophie, zumindest seit Thomas Hobbes, die politische Formel, die die physische Gewalt außerhalb des von ihm kontrollierten Aktionsfeldes verbieten und verhindern sollte.68 Gewalt entsteht und entwickelt sich dort, wo der Staat ausfällt, da nur er als souveräner Garant zentralisierter Gewaltsamkeit fungieren kann.69 Damit stellt sich unweigerlich die Frage, wie es archaischen Gesellschaften, die noch nicht über eine derart leistungsfähige Zentralmacht verfügten, gelang, mit dem Gewaltproblem umzugehen. In diesen Gesellschaften konnten selbst gravierende Verstöße gegen gesellschaftliche Normen, zum Beispiel die Ermordung eines Menschen, unter Umständen ohne Sanktion bleiben, wenn nicht Verwandte die begangene Tat rächten. Entsprechend nehmen Verwandtschaftsverbände in archaischen Gesellschaften die Stelle des Staates als souveräne Sanktionsgewalt ein,70 indem sie auf die Verletzung des Verbots von Gewalt mit Gewalt antworten, wie Richard Lowie erläutert: „Given the complete absence of central authority […,] the kinship group becomes the judicial body – one that confronts all like bodies in the tribe as one sovereign state confronts the rest.“71 Die Rache, die als universal verbreitete soziale Institution gilt, und das staatliche
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Vgl. Wieviorka: Die Gewalt, a. a. O., S. 77. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 78. Somit entsteht eine Situation, die in der Theorie der internationalen Beziehungen als anarchisch bezeichnet wird. Damit ist eine Sozialkonstellation benannt, die auf dem Sicherheitsdilemma beruht, das sich dann ergibt, wenn Machteinheiten – Stämme oder Staaten – nebeneinander stehen, ohne sanktionsbewehrten Normen unterworfen zu sein. Diese Konstellation wird insbesondere von der realistischen Schule beobachtet. Vgl. Andreas Jacobs: Realismus, in: Siegfried Schieder und Manuela Spindler (Hrsg.): Theorien der Internationalen Beziehungen, Opladen 2003, S. 3560, S. 51. Robert H. Lowie: Primitive Society, New York 1947, S. 397.
Gewaltmonopol können somit als unterschiedlich effiziente Lösungen zur Erhaltung der sozialen Ordnung betrachtet werden. Natürlich können selbst unter rechtsstaatlichen Verhältnissen Verstöße gegen das Verbot privaten Gewaltgebrauchs mitunter ungewollt ungesühnt bleiben. Manchmal erscheinen staatliche Sanktionen aus der Perspektive der Betroffenen auch zu schwach, sodass die Tendenz, das Recht selbst in die Hand zu nehmen, wieder hervorgebracht wird. Dieses Folgeproblem kann aber auf die gleiche Weise bekämpft und in der Regel effektiv unter Kontrolle gehalten werden wie das Ausgangsproblem, nämlich durch die Stärkung der staatlichen Zentralmacht. Dies stellt sich im Falle der Rache anders dar. Als Auslöser gewalttätiger Rache genügt oftmals ein durch Rivalität provozierter Streit, bei dem einer der Kontrahenten eine tödliche Verletzung davonträgt. Die unter Umständen in Erfüllung der Sühnepflicht folgende Ermordung des Täters durch einen Verwandten des Opfers führt dazu, dass die Verwandten des Täters sich verpflichtet sehen, diese Tat durch einen komplementären Racheakt zu vergelten.72 Nach einer gewissen Zeit ist es dann so gut wie unmöglich festzustellen, welche Handlung die originäre Rechtsverletzung darstellte und welche den Racheakt. Die Nichtverjährbarkeit zugefügten Unrechts bedingt, dass sich in der Regel immer noch eine frühere Gewalttat ausfindig machen lässt, die den Anlass zu der aktuellen gegeben hat.73 „Die Rache stellt also einen unendlichen, endlosen Prozess dar. Wann immer sie an einem beliebigen Punkt der Gesellschaft auftaucht, neigt sie dazu, sich auszubreiten und die gesamte Gesellschaft zu erfassen. Sie droht eine wahre Kettenreaktion auszulösen, die innerhalb einer gegebenen Gesellschaft rasch fatale Folgen haben kann. Mit der Häufung der Vergeltungsmaßnahmen wird die Existenz der Gesellschaft insgesamt aufs Spiel gesetzt.“74
Dieser Prozess wird nicht zuletzt dadurch begünstigt, dass in archaischen Gesellschaften ein Racheakt keineswegs Tadel oder Entrüstung hervorrief, sondern in universal verbreiteter Weise auf soziale Anerkennung stieß. Wer nach dem Ge72
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Vgl. Peter Waldmann: Rachegewalt. Zur Renaissance eines für überholt gehaltenen Gewaltmotivs in Albanien und Kolumbien, in: Zürcher Beiträge zur Konfliktforschung 54/1999, S. 141160, S. 147. Vgl. ebd. Girard: Das Heilige und die Gewalt, a. a. O., S. 28.
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setz der Reziprozität blutige Vergeltung für zugefügtes Unrecht übte, gewann an Sozialprestige. Die Gemeinschaft duldete nicht nur den Ausgleich der Blutschuld, sondern forderte ihn rechtmäßig – so hebt Luhmann hervor: „Wer sein Recht nicht mit physischer Gewalt zu vertreten bereit ist, verliert es mit Recht, denn gerade diese Bereitschaft erhält das Recht aufrecht.“75 Der Institution der Rache immanent, so bleibt also festzuhalten, ist also die Gefahr der Verstärkung des Ausgangsproblems, in dessen Lösung aber ihre soziale Funktion besteht. Während den meisten Sozialanthropologen die gewaltsteigernde Wirkung der Institution der Rache durchaus bekannt ist, so berücksichtigen moderne soziologische Ansätze dieses Phänomen unverständlicherweise kaum – so als wäre mit dem staatlichen Duell- und Fehdeverbot auch das Rache- und Gewaltmotiv entfallen. Dabei lässt sich beim Studium vieler moderner Gewaltkonflikte, so Peter Waldmann in seiner Analyse des Bürgerkriegs, nicht übersehen, welche schlechthin zentrale Rolle der Vergeltungsgedanke, die Regel des ‚Auge um Auge‘ beziehungsweise des ‚tit for tat‘ im Denken verfeindeter Volksgruppen spielt. Nicht selten wird der Rachegedanke auch durch sakrale Vorstellungen überhöht, sodass die Gewalt oft an Wucht noch zunimmt und die Situation endgültig eskaliert.76 Zwar erzeugt die Rache ein hohes Risiko für potenzielle Angreifer, das jeden Angehörigen einer Verwandtschaftsgruppe vor Übergriffen schützt und die sozialen Normen, die derartige Übergriffe verbieten, sichert. Einmal ausgelöst, tendiert die Logik der Rache zu einer mimetischen Spirale von Gewalt und Gegengewalt, zu einer Dynamik der reziproken und eskalierenden Nachahmung der Gewalt.77 Trutz von Trotha hat diesen Prozess soziologisch als einen Vorgang 75 76
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Niklas Luhmann: Rechtssoziologie, 3. Aufl., Opladen 1987, S. 108f. Vgl. Peter Waldmann: Bürgerkriege, in: Wilhelm Heitmeyer und John Hagan (Hrsg.): Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002, S. 368-389, S. 381. Es war die soziologische Idee Gabriel de Tardes, dass sich die Gesellschaft in einer unendlichen Vielzahl sozial aneinander anschließender Akte des Imitierens erzeugt und dass jeder gesellschaftliche Wandel bis hin zum technischen Fortschritt durch die Nachahmung zu erklären ist. „Kurz gesagt, auf die Anfangs gestellte Frage, was Gesellschaft sei, haben wir geantwortet: Sie ist Nachahmung.“ (Gabriel de Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, Frankfurt am Main 2003, S. 98.) René Girard hat diesen Gedanken um seine konfliktive Dimension ergänzt, denn aus der Nachahmung kann eine ungewünschte Identität der Objektwünsche resultieren, die zu Rivalität und zu Gewalt führen kann. Auch die Gewalt kann nachgeahmt werden. Dieser mimetischen Gewalt entspricht auf soziologischer Ebene der Begriff der gesellschaftszerstörenden Gewaltentgrenzung. (René Girard: Gewalt und Gegenseitigkeit, in: Sinn und Form 54/4, S. 437-454.). Bei
„der sich selbst entgrenzenden Gewalt“78 gedeutet. Diese „Mimesis der Gewalt“79 hatte zur Konsequenz, dass, wo dies möglich war, die Rache durch ein Gewaltmonopol verdrängt wurde. Dabei stehen beide Einrichtungen zur Lösung des sozialen Ordnungsproblems historisch in einem Verhältnis der Kontinuität. Die effektivere Lösung, das auf dem souveränen Monopol beruhende Gerichtswesen, verdrängt im Laufe der Zeit die weniger effektive Lösung des Gewaltproblems. Das souveräne Gewaltmonopol wendet die von der Rache ausgehende Bedrohung ab.80 Es hebt die Rache zwar nicht gänzlich auf, aber es begrenzt sie auf eine singuläre Vergeltungsmaßnahme, die von einer auf ihrem Gebiet souveränen Instanz ausgeübt wird. Es gibt zwar keine prinzipielle Differenz zwischen privater und öffentlicher Rache, aber auf der Ebene des Sozialen ist der Unterschied durchaus relevant, denn die Rache wird nicht mehr gerächt. Die Kette von sich einander nachahmender, mithin mimetischer Gewalttaten endet und die Gefahr der Entgrenzung der Gewalt wird gebannt. In dieser Hinsicht ist auch die moderne Strafe vom Talionsprinzip bestimmt, wobei der Zivilisationseffekt moderner Rechtssysteme allein darin zu sehen ist, dass, so Werner Gephart, „das Rachegefühl […] besser gesteuert, weniger zufällig und jeweils begründungsbedürftig“81 ist. Aus gesellschaftstheoretischer Sicht löst die staatliche Monopoli-
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Ludwig Kuon, der auf die Verbindung de Tarde-Girard ausführlich eingeht, lässt sich folgende Würdigung der Soziologie de Tardes finden: „Wäre Tarde nicht dem Fortschrittsgedanken seiner Zeit verpflichtet und ließe er sich angesichts der zunehmenden sozialen Spannungen und anarchistischen Erscheinungen nicht zu einer Art gesellschaftlichem Zweckoptimismus verleiten, der die aufeinanderstoßenden mimetischen Reaktionen gewissermaßen auf das Endziel der Harmonie hin programmiert, wäre er für fortschrittsskeptische Denker wie Girard nicht nur ein Wegbereiter hinsichtlich des begrifflichen Instrumentariums. Würde ihn nicht die Erfahrung von zwei Weltkriegen mit den vielfältigen kulturellen Folgeschäden und -einsichten von Girard trennen, ist durchaus vorstellbar, dass auch er die konfliktive Energie der Imitation zu einer Theorie der Gewalt weiterdenken würde.“ Siehe Ludwig Kuon: Der mimetische Konflikt als Handlungsschema in den Romanen von Bret Easton Ellis, American Psycho (1991), Michel Houellebecq, Elementarteilchen (1996) und Vladimir Sorokin, Der himmelblaue Speck (1999), Freiburg im Breisgau 2006, S. 85. Trutz von Trotha: Zur Soziologie der Gewalt, in: Ders. (Hrsg.): Soziologie der Gewalt, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 37/1997, S. 9-58, S. 25. Gunter Gebauer und Christoph Wulf: Mimesis. Kultur, Kunst, Gesellschaft, 2. Aufl., Reinbek bei Hamburg 1998, S. 356. Vgl. Georg Elwert: Sozialanthropologisch erklärte Gewalt, in: Wilhelm Heitmeyer und John Hagan (Hrsg.): Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002, S. 330-367, S. 347. Werner Gephart: Strafe und Verbrechen. Die Theorie Emile Durkheims, Opladen 1990, S. 115.
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sierung der Gewalt also eine grundsätzliche Paradoxie der Gewalt auf, denn das staatliche Monopol auf Gewaltsamkeit dient immer auch der Ausschließung von Gewalt, indem eine Gewalt eingeführt wird, die nicht gerächt wird.82 Die Monopolisierung der Gewalt durch den Staat unterbricht den Zirkel der Gewalt, aber unterscheidet darüber hinaus zwischen legitimer und illegitimer Gewalt.83 Gewalt kommt zwar immer noch vor, aber sie kann vom Recht abgefragt werden, ob sie auch erlaubt war. Damit staatliche Gewalt als legitime Gewalt erscheinen kann, die beauftragt ist, notfalls gewaltsam Gewalt zu verhindern, hat die Moderne zahlreiche Mythen erzählt. Der bekannteste Mythos ist zweifelsohne die Geschichte vom Sicherheit spendenden und Freiheit fressenden Leviathan. Eine Gesellschaft ohne souveräne Zentralmacht, die in Krisenzeiten in der Lage ist, auch zwischen den mächtigsten Verbänden und Parteiungen verbindlich Einvernehmen herstellen zu können, benötigt folglich andere Mechanismen, um die Destruktivität der Rachegewalt zu unterbinden.84 Dort nun, wo allgemeinverbindliches Recht nicht durchgesetzt werden kann, ist der Bereich der Gewaltprävention in erster Linie der religiöse Bereich: „Die Übel, die die Gewalt in diesen Gesellschaften auslösen kann, sind so groß und die Heilmittel so schwach, dass der Akzent auf die Vorbeugung zu liegen kommt. Und der Bereich der Vorbeugung ist in erster Linie der religiöse Bereich. Die religiöse Vorbeugung kann gewalttätigen Charakter annehmen. Die Gewalt und das Heilige sind nicht voneinander zu trennen.“85 So wie das moderne Monopol staatlicher Gewaltsamkeit die Gefahr der Racheeskalation durchbricht, indem es die Rache auf einen singulären Vergeltungsakt begrenzt, ist es die Funktion des religiösen Bereichs, die Gewalteskalation durch Bereitstellung vorbeugender Institutionen gar nicht erst entstehen zu lassen. Moderner Rechtsstaat und archaische Religion können daher als Einrichtungen desselben Bezugsproblems verstanden werden: Beiden Instanzen fällt die Aufgabe zu, die Aus-
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Vgl. die Ausführungen von Thorsten Bonacker: Zuschreibungen der Gewalt. Zur Sinnförmigkeit interaktiver, organisierter und gesellschaftlicher Gewalt, in: Soziale Welt 53/2002, S. 31-48. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Girard: Das Heilige und die Gewalt, a. a. O., S. 34.
breitung sich entgrenzender Gewalt zu unterbinden, sodass sie in dieser Hinsicht als funktionale Äquivalente betrachtet werden können.86 Dabei ist dem religiösen Opfer die besondere Aufmerksamkeit zu schenken, da es, wie noch ausführlich zu begründen sein wird, als Aggressions-Regulans jene Stelle im sozialen Raum besetzt, an der sich Gewalttätigkeit und Rache gleichsam epidemisch ausbreiten würden.87 Diese Verhinderung der Ausbreitung sich entgrenzender Gewalt vollzieht sich, analog zum Gewaltmonopol des modernen Rechtsstaats, durch die Verabreichung einer exakt dosierten und lokal strikt begrenzten Dosis an Gewalt, die aber nicht in die Entgrenzung der Gewalt führen darf. In archaischen Gesellschaften, in denen selbst der geringste Gewaltakt verheerende Konsequenzen nach sich ziehen kann, führt „die Opferung die aggressiven Tendenzen auf wirkliche oder gedachte, belebte oder unbelebte Opfer ab, von denen nie angenommen werden muss, sie könnten je gerächt werden, und die auf der Ebene der Rache ausnahmslos neutral und steril sind. […] Das Opfer verhindert, dass sich der Keim der Gewalt entwickelt.“88 Wie dieser Gedankengang einer Gewalteindämmung durch das Opfer soziologisch exakt nachvollziehbar wird, werden die nachstehenden Kapitel ausführlich erläutern.
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Unter anderen Vorzeichen weist Werner Gephart in seiner Analyse ‚Gesellschaftstheorie und Recht‘ darauf hin, dass die funktionale Äquivalenz von Recht und Religion bereits im Oeuvre Emile Durkheims angelegt ist. Auch wenn Staat und Religion bei Durkheim nicht unter dem Blickwinkel der Gewalt betrachtet werden, ist im Denkprozess Durkheims erkennbar, dass das religionssoziologische Paradigma die rechtssoziologische Perspektive immer weiter ablöse: „Auch hier wird nun ‚Religion‘ als Spiegel der Gesellschaft betrachtet, womit Recht und Religion als funktional äquivalente Kulturformen des sozialen Lebens interpretiert werden.“ Siehe Werner Gephart: Gesellschaftstheorie und Recht. Das Recht im soziologischen Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main 1993, S. 417. Vgl. Hinderk M. Emrich: Zur philosophischen Psychologie des Opfers, in: Richard Schenk (Hrsg.): Zur Theorie des Opfers. Ein interdisziplinäres Gespräch, Stuttgart/Bad Cannstatt 1995, S. 67-103, S. 76. Girard: Das Heilige und die Gewalt, a. a. O., S. 32.
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3. Das religiöse Opfer
Es gibt keine Unternehmung, in deren Namen nicht ein Opfer dargebracht werden könnte.89 Zugleich kann so gut wie alles – Gegenstände, Tiere, Menschen, Götter – geopfert werden.90 Es existiert jedoch ein gemeinsamer Nenner in der Vielfalt möglicher Opferpraxen. Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten lautet die im Folgenden vertretene These, dass sich eine spezifische Logik des religiösen Opferns soziologisch rekonstruieren lässt, indem es auf die Logik sich entgrenzender Gewalt bezogen wird. Zunächst bleibt festzuhalten, dass das Opfer von seiner religiösen Dimension nicht zu trennen ist. Was das Opfer für die Soziologie allgemein interessant werden lässt, so Durkheim, ist der Umstand, dass „man hier in der elementarsten Form, die heute bekannt ist, alle Hauptprinzipien einer großen religiösen Institution findet“91, die auch dazu berufen war, „eine der Grundlagen des positiven Kults in den höheren Religionen zu werden“92. Das Opfer als Quelle des religiösen Lebens spielt eine zentrale Rolle innerhalb des Prozesses der Gemeinschaftsbildung und bildet in seiner institutionalisierten Form die soziale Ressource für die notwendige periodische Erneuerung der dem zeitlichen Verfall ausgesetzten sozialen Bande. Die religiöse Vitalisierung sozialer Kollektivkräfte ist allerdings überaus riskant, denn dem Opfer ist eine nur
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Zwecks eines besseren Verständnisses des Opferbegriffes ist zunächst ein Blick ins Französische hilfreich. Für die Ausdrücke sacrifice (als abstrakter Begriff, Opferkult oder -handlung) und victime (Opfer als Objekt: zum Beispiel Mensch, Tier oder unbelebte Gabe) gibt es im Deutschen nur einen Ausdruck: Opfer. Entsprechend ist im Folgenden zwischen Opferkult (sacrifice) und Opfer (victime) zu differenzieren, wobei die Bedeutung des Opferbegriffes kontextabhängig zu erschließen ist. Hans Gerald Hödl: Ritual, Opfer, Ritus, Zeremonie in: Johann Figl (Hrsg.): Handbuch Religionswissenschaft. Religionen und ihre zentralen Themen, Innsbruck 2003, S. 664-689, S. 681ff. Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, a. a. O., S. 454. Ebd.
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schwer zu kontrollierende Dimension inhärent – von Zeit zu Zeit, so fährt Durkheim in seiner Analyse fort, erreicht das „rituelle Leben [...] eine Art Raserei“93. Die Verbindung, die durch die Opferhandlung zum Bereich des Heiligen hergestellt wird, ist also mit beträchtlichen Gefahren belastet. Schon Marcel Mauss und Henri Hubert haben in Anschluss an Durkheim festgehalten, dass das Opfer mit dem Akt der Vernichtung des Opfers eng verbunden ist.94 Diese Zerstörung stellt eine Verbindung zur Welt des Sakralen her – das Opfer ist hier ein Kommunikationsmedium zwischen dem Heiligen und dem Profanen. Im Opfer liegt das Leben – aber der Tod ist eben deshalb stets kopräsent. Es ist äußerste Vorsicht geboten. So wird nicht nur eine Verbindung, sondern zugleich eine sorgfältige Trennung zum Sakralen hergestellt. Entsprechend betonen Hubert und Mauss, dass beim Opfern stets eine sorgfältige De-Sakralisierung vonnöten ist, um die Gemeinschaft vor unvorhersehbaren Konsequenzen zu schützen. Im Zusammenspiel aus Sakralisierung und De-Sakralisierung sehen die beiden Soziologen daher die Einheit in der unüberschaubaren Vielfalt von Bitt-, Sühne-, Selbst- oder Dankopfern usw. usf. begründet.95 Das Opfern ist eine riskante, eine überaus gefährliche Prozedur. Eine logische Erklärung des Gefahrenpotenzials beim Opfern in soziologischen Kategorien steht allerdings bislang aus.96 Der Schlüssel zum adäquaten Verständnis – dies werden die folgenden Überlegungen zeigen – liefert erst die Gewalt. Dabei ist die Gefahr der Gewalt bereits der originären Wortbedeutung des Heiligen beziehungsweise des Sakralen eingeschrieben.97 Exemplarisch zeigt sich dies im Lateinischen, in dem der Begriff des Opfers durch die Ausdrücke immolatio und sacrificium bezeichnet wird. Immolatio ist abgeleitet aus dem Wort mola, das Mühlstein bedeutet. Sacrificium ist zusammengesetzt aus den Wörtern sacrum und facere. Sacrum bedeutet das Heilige oder auch das Verfluchte, facere bedeutet so viel wie herstellen. Entsprechend bezeichnet sacrificium also das herge93 94
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Ebd., S. 472. Vgl. Marcel Mauss und Henri Hubert: Sacrifice. Its nature and functions, Chicago 1964 (reprint 1981), S. 97. Vgl. ebd., S. 98. Girard ist entsprechend der Ansicht: „Es gilt, die konfliktuellen Beziehungen wiederzuentdecken, welche das Opfer und die Opfertheologie vertuschen und zugleich beschwichtigen.“ Siehe Girard: Das Heilige und die Gewalt, a. a. O., S. 17. Vgl. Baudler: Gewalt in den Weltreligionen, a. a. O., S. 41.
stellte Heilige beziehungsweise hergestellte Verfluchte.98 Die semantische Parallele zu immolatio zeigt dabei eindeutig, worauf Georg Baudler aufmerksam macht, dass der oben referierte sprachliche Befund darauf hinweist, dass das archaische Heilige durch einen Gewaltakt generiert wird, der in einer engen Verbindung zu Opferhandlungen steht.99 In vielen Kulturen finden sich analoge Ausdrücke zum Heiligen/Sakralen und seiner semantischen Ambivalenz: das mana der Melanesier, wakan bei den Sioux und orenda bei den Irokesen.100 Wie aber lässt sich diese gewalttätige Herstellung des Heiligen im Opfer nun mittels soziologischer Kategorien interpretieren?
3.1 Soziale Logik und Funktion des »sacrificiums« Rivalitäten, wie sie als Begleiterscheinung menschlichen Zusammenlebens unvermeidbar sind,101 erzeugen ein stets präsentes Gewaltpotenzial, das nach Entladung drängt und so ständig die fatale Bewegung von Gewalt und Gegengewalt auszulösen droht.102 Ein wesentliches Charakteristikum menschlicher Gewalttätigkeit ist ihre leichte Verschiebbarkeit von einem Subjekt auf ein anderes Subjekt – beispielsweise ihre Umleitung auf eine unbeteiligte dritte Person, falls der eigentliche Kontrahent nicht zur Verfügung steht. Lewis A. Coser stellt den einleuchtenden Sachverhalt fest: „Angestaute feindliche oder aggressive Gefühle brauchen sich nicht notwendig nur gegen das ursprüngliche Objekt der Feindseligkeit zu entladen, es können auch Ersatzobjekte sein.“103 Mit Coser ist davon auszugehen, dass „[s]oziale Systeme […] besondere Institutionen [schaffen], die die Funktion haben, feindselige und aggressive Gefühle abzuleiten.“104 Derartige
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Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 41. Vgl. Girard: Das Heilige und die Gewalt, a. a. O., S. 377. Vgl. René Girard: Figuren des Begehrens. Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität, Münster/Hamburg/London 1961. Vgl. Thomas Konrad: Rivalität. Sozialwissenschaftliche Variationen zu einem alten Thema, Frankfurt am Main 1990, S. 8ff. Lewis A. Coser: Theorie sozialer Konflikte, Neuwied am Rhein/Berlin 1965, S. 46. Ebd., S. 56.
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Sicherheitsventil-Institutionen helfen die Gemeinschaft erhalten, indem sie die Ausbreitung von Gewalt verhindern.105 Die Verschiebbarkeit von einem Subjekt auf das Andere erhöht nun einerseits die Gefahr, die von der Gewalt ausgeht, denn wenn der Gegner unerreichbar ist, kann sie sich unter Umständen auch unkontrolliert gegen Mitglieder der Eigengruppe, gegen Verwandte, Frau und Kinder richten (Medeia-Syndrom106). Andererseits eröffnet sich ebenfalls die Möglichkeit, die Gewalt auf harmlosere Ersatzobjekte zu richten und dadurch für die Gemeinschaft immerhin unschädlich zu machen. Dies ist die zentrale Funktion des Opfers in Gesellschaften ohne Gewaltmonopol, nämlich die Kompensierung sozialschädlicher Gewalt, indem die Gewalt auf ein Opfer verschoben wird, das die Gewalt stellvertretend auf sich zieht. „Das Opfer tritt nicht an die Stelle dieses oder jenes besonders bedrohten Individuums, es wird nicht diesem oder jenem besonders blutrünstigen Individuum geopfert, sondern es tritt an die Stelle aller Mitglieder einer Gesellschaft und wird zugleich allen Mitgliedern der Gesellschaft von allen ihren Mitgliedern dargebracht. Das Opfer schützt die ganze Gemeinschaft vor ihrer eigenen Gewalt […]. Die Opferung zieht die überall vorhandenen Ansätze zu Zwistigkeiten auf das Opfer und zerstreut sie zugleich, indem sie sie teilweise beschwichtigt.“107
105 106
Vgl. ebd. Als bekanntes literarisches Beispiel für diese Verschiebbarkeit lässt sich Euripides’ Tragödie Medeia anführen. Angesichts des rasenden Zornes Medeias, die von ihrem Geliebten Iason verlassen wurde, fürchtet die Amme nun um das Leben der Kinder Medeias. Die Amme klagt: „Was haben deine Kinder zu tun mit des Vaters Schuld? Was hegest du Hass gegen sie? Oh wehe, ihr Kleinen, wie schmerzlich bin ich besorgt, dass euch etwas zustößt! Das Trachten der Fürstin ist schrecklich, und wenig beherrscht, doch weithin gebietend, zügeln sie kaum ihre Wut.“
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Dieser Vorgang trägt nichts Mythisches an sich, sondern lässt sich in soziologische Kategorien übersetzen, denn Euripides führt an die Tatsache heran, dass sich die Gewalt, wird sie nicht kanalisiert, mit vernichtender Wucht in ihre soziale Umwelt ergießen kann. Euripides: Medeia, in: Antike Tragödien. Aischylos, Sophokles, Euripides, aus dem Griechischen übersetzt von Dietrich Ebener (Aischylos und Euripides) und Rudolf Schottlaender (Sophokles), Berlin/Weimar 1969, S. 369-414, S. 374. Girard: Das Heilige und die Gewalt, a. a. O., S. 18.
Eine Verschiebung der Gewalt auf ein Opfer setzt voraus, dass sie für die beteiligten Mitglieder verborgen bleibt. Die Gewaltverschiebung soll nicht als das erkannt werden, was sie tatsächlich ist: maskierte Rache, die erneut die Gefahr der Gegenrache nach sich zieht.108 Dies bedeutet, dass die Aufdeckung der Gewaltverschiebung dem Opfermechanismus seine Wirkung entziehen würde.109 Daher ist seine Funktion in Anlehnung an Robert K. Merton als latente zu bestimmen, deren Folgen „weder beabsichtigt sind, noch erkannt werden.“110 Die Schwierigkeit einer funktionalistischen Deutung der archaischen Opferpraxis besteht entsprechend darin, dass die behauptete Funktion des Opfers als eine für die Handelnden verborgene unterstellt werden muss, infolgedessen aber nicht als Handlungsmotiv für die Darbringung des Opfers angenommen werden kann. Zugleich aber muss eine enge Beziehung zwischen der Deutung des Opfers durch die Angehörigen archaischer Gesellschaften und seiner sozialen Funktionen bestehen, weil nur auf diese Weise erklärt werden kann, wie die Abstimmung der Opferpraxis auf die behauptete Funktion auf Dauer aufrecht erhalten wird.111 Dieser Sachverhalt lässt sich anhand eines Beispiels, wie es Robert H. Lowie in seinem Buch Primitive Society schildert, näher verdeutlichen. Lowie berichtet, wie die Angehörigen des Volks der Chukchi und der Ifugao nach dem Vorkommen von Gewaltakten in ganz unterschiedlicher Weise reagieren, um eine drohende Eskalation der Gewalt zu verhindern. Er notiert: „An interesting example of how different practices may spring from the same principle is furnished by the two tribes mentioned. While the Ifugao tend to protect a kinsman under almost all circumstances, the Chukchi often avert a feud by killing a member of 108
109 110
111
Vgl. René Girard: Generative Scapegoating, in: Robert G. Hamerton-Kelly (Hrsg.): Violent Origins. Walter Burkert, René Girard and Jonathan Z. Smith on Ritual Killing and Cultural Formation, Stanford 1987, S. 73-148, S. 78. Vgl. ebd. Robert K. Merton: Soziologische Theorie und soziale Struktur, hrsg. und eingeleitet von Volker Meja und Nico Stehr, New York 1995, S. 49. Dies ist die entscheidende theoretische Innovation der Soziologie Robert K. Mertons, der zwischen manifesten und latenten Funktionen differenziert, um eine unbeabsichtigte Verwechselung zwischen (un)bewussten Motivationen für das soziale Verhalten und seinen objektiven Folgen auszuschließen: „Aus diesem Grund wurde die Unterscheidung zwischen manifesten und latenten Funktionen getroffen; wobei mit den ersten diejenigen objektiven Folgen für eine bestimmte Einheit (eine Person, eine gesellschaftliche Gruppe, ein soziales oder kulturelles System) gemeint sind, die zu ihrer Angleichung oder Anpassung beitragen und auch so beabsichtigt waren; mit den zweiten die unbeabsichtigten und unerkannten derartigen Folgen.“ Siehe Merton: Soziologische Theorie und soziale Struktur, a. a. O., S. 61.
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the family whose spitefulness is likely to embroil them with other kins.”112 An die Stelle der Rache also tritt die maskierte Vergeltung, die sich die Gruppe des Täters als Kompensation für seine Gewalttaten selbst auferlegt; nicht der Urheber des Verbrechens wird getötet, sondern eine Person aus seinem Clan.113 Auf den ersten Blick erscheint dieses Handlungsmuster ebenso extrem wie irrational. Wenn schon eine Person in Reaktion auf Gewalt hingerichtet werden muss, warum dann nicht gleich der Urheber der Gewalt, also der Täter? Gemäß den soziologischen Ausführungen Wolfgang Ludwig Schneiders kommt die methodologische Direktive von Hermeneutik und funktionaler Analyse darin zum Ausdruck, nicht bei derartigen Irrationalitätsfeststellungen stehen zu bleiben, sondern darin lediglich eine Durchgangsstufe auf der Suche nach zunächst verborgenen Problemen zu sehen, für die das, was zunächst irrational erscheint, durchaus eine adäquate Lösung darstellen kann.114 Für die Systemtheorie und die funktionale Analyse lässt sich sachlich entsprechend Niklas Luhmann anführen, der von der Annahme ausgeht, dass „das menschliche Verhalten von seinen Möglichkeiten zur Rationalität her expliziert und verstanden werden muss, und zwar auch und gerade dann, wenn es diese Möglichkeiten nicht bewusst zur eigenen Orientierung ergreift.“115 Folgt man dieser methodologischen Direktive, so kann man feststellen, dass die Opferung eines Familienmitgliedes exakt diejenigen Anforderungen erfüllt, die es ermöglichen, es stellvertretend an die Stelle der Rache zu platzieren und auf diese Weise die Gewalt in Bahnen zu lenken, in denen sie nach dem Vollzug der Opferung zum Stillstand kommen kann. Bestandteil dieser Anforderung ist, dass das dargebrachte Opfer dem Täter hinreichend ähnlich sein muss, um einen Ersatz darstellen zu können.116 Denn nur wenn der Verlust, den sich die Gruppe des Täters selbst zufügt, dem ihr durch Rache möglicherweise zugefügten Verlust vergleichbar ist, kann die angegriffene Gruppe darin auch eine ausreichende 112 113 114
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Lowie: Primitive Society, a. a. O., S. 400. Vgl. ebd. Vgl. Wolfgang Ludwig Schneider: Grundlagen der soziologischen Theorie, Band 3: Sinnverstehen und Intersubjektivität – Hermeneutik, funktionale Analyse, Konversationsanalyse und Systemtheorie, Wiesbaden 2004, S. 84. Niklas Luhmann: Funktionale Methode und Systemtheorie, in: Ders.: Soziologische Aufklärung, Band 1: Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, 7. Aufl., Wiesbaden 2005, S. 39-67, S. 57. Vgl. Girard: Das Heilige und die Gewalt, a. a. O., S. 24.
Kompensation sehen. Zugleich darf die Ähnlichkeit des Opfers nicht so groß sein, dass der Verlust als identisch empfunden werden könnte mit dem Schaden, der durch einen Racheakt entstanden wäre, da mit der Gleichheit der Konsequenzen von Opferung und Rache die Verwischung der Unterscheidung und damit wieder die Auslösung von Gegenrache droht.117 Dies wäre dann der Fall, wenn diejenigen, welche die Opferung des ursprünglichen Täters vollziehen, als Vollzugsorgan der Rachewünsche der Fremdgruppe wahrgenommen würden und die Gegenrache sich sodann auf diese vermeintlichen Kollaborateure der Fremdgruppe oder auch unmittelbar auf Angehörige der Fremdgruppe richten würde.118 So erscheint es geradezu eine logische Konsequenz zu sein, den Schuldigen schonen zu müssen. Mit Friedrich Nietzsche betrachtet heißt dies: „Man erwäge! – Der gestraft wird, ist nicht mehr Der, welcher die That gethan hat. Er ist immer der Sündenbock.“119 An dieser Stelle ist noch einmal deutlich zu machen, dass die bisher skizzierte Interpretation des Opfers aus der Perspektive eines wissenschaftlichen Beobachters formuliert wird. Die wissenschaftliche Interpretation kann gerade nicht die der Handelnden sein, weil die Einsicht, dass das Opfer an die Stelle der Rache tritt, es eben als das erscheinen lassen würde, was es tatsächlich ist: die versteckte Rache.120 Aus diesem Grund kann das Opfer die ihm zugeschriebene Funktion nur erfüllen, wenn die Funktion für die Handelnden verborgen, also latent bleibt. Daraus ergibt sich als Folgeproblem die Frage, auf welche Weise die behauptete Latenz der Funktion gesichert ist und durch welche subjektive Deutung die Wahl eines unschuldigen Opfers für die Chukchi selbst plausibel erscheint. Die Lösung zu diesem Problem liegt darin, dass für die Chukchi die Notwendigkeit des Opfers auf eine andere Weise als hier skizziert beantwortet wird. Es ist eine gesellschaftlich vorgegebene Antwort, die die hier behauptete Funktion des Opfers 117
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Vgl. Schneider: Grundlagen der soziologischen Theorie, Band 3: Sinnverstehen und Intersubjektivität, a. a. O., S. 84. Vgl. ebd. Friedrich Nietzsche: Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile. Neue Ausgabe mit einer einführenden Rede (1887), Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Band 3, 6. Aufl., München 2003, S. 205. Vgl. Schneider: Grundlagen der soziologischen Theorie, Band 3: Sinnverstehen und Intersubjektivität, a. a. O., S. 85.
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verdeckt, indes ohne ihre Wirksamkeit zu beeinträchtigen. Wie also lautet die Antwort der Chukchi? „Wenn um jeden Preis auf die Gewalt zurückgegriffen werden muss, dann soll das Opfer zumindest rein sein, es soll nicht in den unheilvollen Streit verwickelt gewesen sein. Das ist es, was sich die Chukchi sagen.“121 Der Begriff der Unreinheit ist hier entscheidend, denn diese Unreinheit ist per Ansteckung übertragbar und wird durch jede Berührung mit Gewalt oder Blut sowie mit Personen, die aufgrund eines solchen Kontakts bereits unrein sind, weitergetragen.122 Wiederum handelt es sich hierbei keineswegs um ein irrationales Deutungsmuster, als das es dem wissenschaftlichen Beobachter zunächst erscheinen möchte, denn die Gewalt selbst bewirkt die Unreinheit. Die Erregung der Streitenden kann auf andere übergreifen, die Gemeinschaft polarisieren und neue Gewalt verursachen. „In vielen Fällen ist dies eine offensichtliche, unbestreitbare Tatsache. Zwei Männer kämpfen gegeneinander; vielleicht wird Blut fließen; diese beiden Männer sind bereits unrein. Ihre Unreinheit ist ansteckend; wer an ihrer Seite bleibt, läuft Gefahr, in ihren Streit verwickelt zu werden. Es gibt nur ein sicheres Mittel, die Unreinheit – d.h. die Berührung mit der Gewalt, die Ansteckung mit dieser Gewalt – zu vermeiden, nämlich, sich ihr fernzuhalten.“123
Das Beispiel der Chukchi beschreibt ein spontanes, da einem Gewaltakt unmittelbar folgendes Opfer, das die Entgrenzung der Gewalt verhindert. Es handelt sich hierbei nicht um eine Opferung im kultischen Sinn, da ritualisierte Opferkulthandlungen in der Regel nicht offen mit einem ersten, irregulären Gewaltakt zusammenhängen. Die rituelle Opferung zeigt sich nicht in Verbindung mit einer öffentlich zu leistenden Sühne für eine unmittelbar zuvor begangene Tat.124 Dennoch erfüllen das spontane Opfer und das rituelle Opfer dieselbe Funktion, denn das Wissen um den gewalteindämmenden Effekt des Opfers lässt sich im Ritual institutionalisieren. Der Ethnologe Adolf Ellegard Jensen weist darauf hin, dass ursprüngliches Opfer und rituelles Opfer auf eine gemeinsame Wurzel zurück-
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Girard: Das Heilige und die Gewalt, a. a. O., S. 47. Vgl. ebd. Ebd., S. 46. Vgl. ebd.
gehen, da alle „rituellen Tötungen als Erinnerungstaten“125 verstanden werden müssen. Nicht immer also muss es zu einer tatsächlichen Tötung kommen – das Ritual funktioniert auch im Sinne einer als-ob-Opfersimulation, die die erste Tötung126 nachstellt. Dass aber immer wieder auch reale Menschen ins Zentrum des rituellen Opfers rückten, lässt sich am Beispiel des von James Frazer beschriebenen Rituals des griechischen pharmakos zeigen: „Die Athener unterhielten regelmäßig eine Reihe von entarteten und unnützen Wesen auf öffentliche Kosten. Wenn dann irgendein Unheil, wie z.B. eine Seuche, Trockenheit oder Hungersnot, die Stadt heimsuchte, opferten sie zwei dieser ausgestoßenen Sündenböcke.“127 Diese Kreaturen wurden beizeiten zum Zweck der Selbstreinigung der Polis „aus der Stadt herausgeführt und dann geopfert, anscheinend dadurch, dass sie außerhalb der Stadt gesteinigt wurden.“128 Der pharmakos wird also für alles Mögliche Unheil verantwortlich gemacht, wobei es für die Athener anscheinend auch plausibel war, seinen Verantwortungsbereich auf Krisen wie Seuchen, Hungersnot oder Trockenheit auszudehnen. Dieses Denken, dass für Außenstehende zunächst unlogisch erscheint, folgt dennoch einem gewissen Sinn: In Zeiten, in denen die unreine Gewalt sich in der Gemeinschaft verbreitet, bleibt weder ausreichend Zeit zur Bewässerung und Bewirtschaftung der Besitztümer, noch der Freiraum für die Aufrechterhaltung rudimentärer Hygienestandards. Hinter derartigen Naturkatastrophen, so macht das Beispiel des pharmakos deutlich, steht für das archaische Denken immer auch ein sozialer Prozess, nämlich die drohende Gewaltentgrenzung. „Verstehen sich die Menschen untereinander nicht mehr, dann scheint zwar die Sonne weiterhin und der Regen fällt wie bisher, gleichwohl aber sind die Felder weniger gut bestellt; und das wiederum lässt sich an den Ernten ablesen.“129 Das Opfer erfüllt daher in erster Linie eine soziale Funktion. Es stellt die Harmonie zwischen den Menschen (wieder) her und es verstärkt den sozialen Zusammenhalt, indem es Krisen eindämmt. 125 126 127
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Adolf Ellegard Jensen: Mythos und Kult bei den Naturvölkern, München 1991, S. 229. Jensen spricht von einer „Urtötung“. Ebd., S. 245. James Frazer: Der goldene Zweig. Eine Studie über Magie und Religion, 2. Aufl., Köln/Berlin 1968, S. 841. Ebd. Girard: Das Heilige und die Gewalt, a. a. O., S. 19.
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Innerhalb dieser Betrachtungsweise erscheint die Gewalt als Auslöser von natürlichen Katastrophen, für die der Sündenbock nicht nur sprichwörtlich den Kopf hinhält. Der pharmakos ist ein perfekter Sündenbock, wobei sein Opfer eine Katharsis der Gemeinschaft bewirkt, die die Ausbreitung unreiner Gewalt und das Auftreten der verschiedensten Übel verhindert. Durch eine regelmäßige Ausführung des pharmakos-Rituals aktiviert die Gemeinschaft in periodischen Abständen ihre Selbstheilungskräfte und versichert sich auf diese Weise gegen ihre eigene Gewalt, indem sie diese auf das Opfer konzentriert. Und so vermag es auch nicht zu verwundern, dass der Begriff pharmakon in der griechischen Antike sowohl Gift als auch Gegengift bedeutet. Je nach Dosierung der Medizin wird eine sehr positive oder negative Reaktion für den Gesellschaftskörper heraufbeschworen. Das Opferritual stellt also eine Gewalt-Prävention im Medium der Gewalt selbst dar.130 Heilige Gewalt ist die Katharsis der Gewalt selbst. Nur über die sakrale Ritualisierung des Mordes am Opfer kann die Gesellschaft ihre Ordnung sichern, die „die sonst unter dem Ansturm ‚wilder‘ Gewalt dissozierte.“131
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Vgl. Hartmut Böhme: Oblique Annäherung an das Heilige aus dem Geist der Gewalt, in: Axel Michaels, Daria Pezzoli-Olgiati und Fritz Stolz (Hrsg.): Noch eine Chance für die Religionsphänomenologie?, Frankfurt am Main u.a. 2001, S. 191-213, S. 199. Ebd.
3.2 Die ordnungsauflösende Kraft des Opferzerfalls. Ein anomietheoretisches Konzept
“O, when degree is shak’d, Which is the Ladder of all high designs, The enterprise is sick. How could communities, Degrees in schools, and brotherhoods in cities, Peaceful commerce from dividable shores, The primogenity and due of birth, Prerogative of age, crowns, sceptres, laurels But by degree stand in authentic place? Take but degree away, untune that string, And hark what discord follows. Each thing melts In mere oppugnancy”132. (William Shakespeare)
Im Opferkult kann ein zentraler Mechanismus gesehen werden, der die Sicherung sozialer Ordnung unter den besonderen Bedingungen archaischer Gesellschaften auf eine Weise ermöglicht, die die von der entgrenzenden Gewalt ausgehende Gefahr der sozialen Desintegration eindämmt. Der soziale Frieden wird auf Kosten eines Opfers hergestellt – entsprechend ist es in einer neuen und erschreckenden Weise zutreffend, wenn Simmel schreibt, dass „das religiöse Opfer als eine Fortsetzung der erfahrenen Notwendigkeit [erscheint], für jedes Erwünschte einen Preis daranzugeben“133. Das Beispiel der Chukchi zeigt, dass die Gemeinschaft die Gewalt, die dem Opfer angetan wird, als reinigende Gewalt versteht, die die Gemeinschaft vor dem Ausbruch unreiner Gewalt schützen soll. Die primäre Erscheinungsform dieses Unheils ist die offen zu Tage tretende, also die sich entgrenzende Gewalt, deren ordnungsauflösende Kraft Wolfgang Sofsky hervorgehoben hat. Ihm zufolge beschädigt die Gewalt die Strukturen, in denen die Dinge eingefügt sind: Chaos anzurichten bedeute nichts anderes als Unterschiede einzuebnen und Differenzen auszutilgen. Die korrekten Abstände zwischen den Dingen würden eliminiert, sodass ein wildes Durcheinander des Sozi132
133
William Shakespeare: Troilus and Cressida, zweisprachige Ausgabe, neu übertragen und mit Anmerkungen versehen von Frank Günther, München 2002, S. 72. Zum Zusammenhang von sakralem Opfer und den Schriften von Shakespeare siehe René Girard: A Theater of Envy: William Shakespeare, Oxford 1991. Simmel: Die Religion, a. a. O., S. 116.
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alen entstehe; ein archaischer Tumult – eine Anomie der Stoffe, Kräfte, Beziehungen und Zeichen.134 Eine derartige Differenzkrise droht immer dann, wenn ein Opferkult nicht mehr in der Lage ist, die in einer Gemeinschaft erzeugten Tendenzen zu gewaltsamem Handeln abzuleiten. Tritt diese Situation ein, so wird diese als sakrifizielle Krise oder als eine Krise des Opferkults bezeichnet. „Die Krise des Opferkults, d.h. der Verlust des Opfers, ist der Verlust der Differenz zwischen unreiner und reinigender Gewalt. Wenn diese Differenz verloren geht, dann ist keine Reinigung mehr möglich, und die unreine, ansteckende, d.h. gegenseitige Gewalt breitet sich in der Gemeinschaft aus. Die opferkultische Differenz, der Unterschied zwischen dem Reinen und dem Unreinen, kann nicht aufgehoben werden, ohne alle Unterschiede einzureißen. Es handelt sich hier um ein und denselben Prozess der Überflutung durch die gewalttätige Reziprozität. Die Krise des Opferkults ist also als die Krise der Unterschiede zu definieren und damit als Krise der kulturellen Ordnung insgesamt. Diese kulturelle Ordnung ist nämlich nichts anderes als ein organisiertes System von Unterschieden; es ist dieses graduelle Gefälle von Unterschieden, das den Individuen ihre ‚Identität‘ zueinander ermöglicht.“135
Durch den Verlust der Unterscheidung der reinen und der unreinen Gewalt setzt eine verhängnisvolle Entdifferenzierung der Gesellschaft ein, die einen Zusammenbruch ihrer Institutionen nach sich ziehen kann. Niklas Luhmann hat allerdings mit Blick auf die Opferkultkrise den Zweifel angemeldet, ob dieses Theorem nicht „sozialstrukturelle Korrelate, vor allem die Effekte von Schichtung als Einrichtung zur Unterbrechung der Vergleichbarkeit von Lebenslagen und Ansprüchen und zur Erzeugung von Indifferenz [Herv. T.V]“136 vernachlässigt. Nun haben soziale Hierarchien und Differenzsysteme einerseits einen gewaltpräventiven Effekt. Andererseits ziehen gerade soziale Hierarchien und Differenzen immer wieder das Folgeproblem einer drohenden Revolution nach sich: In den seltensten Fällen empfinden die Unterprivilegierten einer Ordnung ebendiese auch als dauerhaft gerechte Ordnung. Neue Gewalt droht – z.B. wenn hierarchische Unterschiede radikal in Frage gestellt werden. Sobald zum ersten Mal Gewalt auftritt, werden die sozialen Rangordnungen und Strukturen überschritten. Die politischen, religiösen oder rechtlichen Autoritäten und damit verbundenen Positionen werden von etwas Älterem und Stärkerem als sie selbst mitgerissen, da sie 134 135 136
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Vgl. Wolfgang Sofsky: Traktat über die Gewalt, Frankfurt am Main 1996, S. 193. Girard: Das Heilige und die Gewalt, a. a. O., S. 76f. Luhmann: Die Religion der Gesellschaft, a. a. O., S. 121.
selbst nur soziale Grade sind, die ihre Stärke aus dem Prinzip der Differenzierung beziehen und sie verlieren, wenn dieses Prinzip aussetzt.137 Löst sich das Gefälle der sozialen Grade auf, so entsteht eine sozialpathologische Situation. Mit Durkheim lässt sich dieser Prozess der Entdifferenzierung als Anomie erfassen. Ihm zufolge stellen anomische Zustände eine schwere „Störung der kollektiven Ordnung“138 dar. Beschädigungen der kollektiven Ordnung, analog zu den wortwörtlich asozialen Verhältnissen der Opferkultkrise, begünstigen den Ausbruch von Gewalt.139 Die anomische Auflösung der kollektiven Ordnung kann die Menschen in eine „Raserei [versetzen], die sich notwendig in einer gewaltsamen Handlung entladen muss. Es ist letztendlich gleichgültig, auf wen sich die so entfesselten Gewalten entladen. Ihre Richtung wird durch ganz zufällige Umstände bestimmt.“140 Die Entgrenzung der Gewalt führt zu einer Art schwindender Kultur, zu einer „kulturelle[n] Apokalypse“141. Angesichts einer zerfallenden Kultur fühlen sich die Menschen offensichtlich immer ohnmächtiger. Dieses Zerfallen der Kultur ist gleichbedeutend mit Entdifferenzierung. „Dieser schwindenden Kultur mangelt es […] daran, was die Menschen in Raum und Zeit unterscheidet, was sie definiert und zusammenführt.“142 Eine derartige Krise wird von den Mitgliedern einer Gemeinschaft gedeutet als die Konsequenz einer chaotischen Ausbreitung unreiner Gewalt, für die es aber eine Ursache, eine Quelle, einen ursprünglichen Herd der Ansteckung geben muss. Das Konzept der Verunreinigung hat wieder eine strukturschützende Funktion, denn die Verschiebung der Gewalt auf ein Opfer setzte ja voraus, dass sie für die Mitglieder einer Gemeinschaft verborgen bleibt. Es sorgt darüber hinaus auch für den notwendigen Latenzschutz bei der Suche nach dem Schuldigen, nach der Quelle des über die Gemeinschaft hereingebrochenen Übels.143 Girard benutzt in diesem Zusammen137 138 139 140 141
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Vgl. Girard: Gewalt und Gegenseitigkeit, a. a. O., S. 464f. Emile Durkheim: Der Selbstmord, Neuwied/Berlin 1983, S. 278. Vgl. ebd., S. 278. Ebd., S. 329. Ronald Lutz: Entgrenzte Gewalt. Eine kulturelle Apokalypse, in: Michael Klein und Ders. (Hrsg.): Gewalt – interdisziplinär, Münster 2002, S. 223-240, S. 223. Ebd., S. 236. Vgl. Thomas Konrad: Ritual und Vergessen. Zu René Girards Theorem der méconnaissance, in: Alfred Schäfer und Michael Wimmer (Hrsg.): Rituale und Ritualisierungen, Opladen 1988, S. 109-116, S. 110ff.
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hang den Begriff der méconnaissance. Die Übersetzung dieses Wortes ist nicht unproblematisch. Wörtlich übersetzt bedeutet es Verkennung. An anderen Stellen wird der Sachverhalt verständlich, wenn man sich klar macht, dass es sich auch um ein Nicht-Wissen-Können handelt.144 Durch einen Akt kollektiver Gewalt, verübt an dem als Quelle des Übels identifizierten Opfer, das an die Stelle der Konfliktgegner tritt und das die Gewaltimpulse auf sich zieht, wird eine Versöhnung zwischen den verfeindeten Menschen wieder möglich.145 Um diesen Vorgang soziologisch präziser erfassen zu können, kann ein mittels rationaler Kategorien rekonstruierbarer Mechanismus unterstellt werden, der der Situation des Gefangenendilemmas ähnelt: Der durch Einwirkung eines anderen herbeigeführte Tod eines Individuums, der die Verwandten des Getöteten zur Rache verpflichtet, reicht aus, um die Dynamik der Gewaltentgrenzung in Gang zu setzen.146 Der Mörder, sobald er getötet hat, muss nun mit Rache rechnen. Will er sich nicht aufgeben, muss er töten. Gleiches aber gilt für die Verwandten des Getöteten. Weil sie erwarten müssen, dass der Täter ihrer Rache wiederum zuvorzukommen versuchen könnte, indem er sie umbringt, müssen sie den Täter aus Gründen des Selbstschutzes zu töten versuchen, bevor er sie schädigen kann. Die Institution der Blutrache erzeugt also eine Situation wechselseitiger Verhaltenserwartungen, die es für alle Beteiligten als rational erscheinen lässt, einander nach dem Leben zu trachten. Insofern wird eine Situation erzeugt, die mit dem Modell des Hobbesschen Naturzustandes als Krieg eines jeden gegen jeden deckungsgleich erscheint. In diesem Zustand ist das Leben der Menschen „einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz.“147 Die rationale Einsicht in diese fatale Situation ermöglicht aber gerade nicht ihre Auflösung, denn die Einsicht in den Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt muss die Krise aufrecht erhalten, da es ja gerade das illusionslose Misstrauen gegenüber den anderen ist, das es rational erscheinen lässt, auf eine Weise zu han144 145 146
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Vgl. ebd. Vgl. Girard: Gewalt und Gegenseitigkeit, a. a. O., S. 437. Vgl. Wolfgang Palaver: Politik und Religion bei Thomas Hobbes. Eine Kritik aus der Sicht der Theorie René Girards, Wien 1991, S. 64. Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hrsg. und eingeleitet von Iring Fetscher und Walter Euchner, Neuwied/Berlin 1984, S. 96.
deln, die die Befürchtungen der anderen bestätigt und sie wiederum zu einem gewalttätigen Handeln veranlassen muss: „Daraus ergibt sich klar, dass die Menschen während der Zeit, in der sie ohne eine allgemeine, sie alle im Zaum haltende Macht leben, sich in einem Zustand befinden, der Krieg genannt wird, und zwar in einem Krieg eines jeden gegen jeden.“148 In diesem vorgesellschaftlichen Zustand müssen sich die Individuen gegenseitig als Bedrohung wahrnehmen. Wer diese Abwehrhaltung nicht einnimmt, gibt sich auf.149 Wie aber kann die Interdependenz einander wechselseitig stabilisierender Erwartungen unterbrochen werden? Eine Option des Ausstiegs aus dem Gewaltkreislauf liegt in der Neubewertung der Krisensituation. Die Idee, dass es eine verborgene Quelle der Unreinheit gebe, die die Gemeinschaft aus dem Verborgenem mit Unheil überzieht, kann dieser Neudefinition den Weg bereiten. Die Idee der Verunreinigung fügt sich in die Logik des Gefangenendilemmas, denn jeder könnte die gesuchte Ansteckungsquelle sein. Als erstes Resultat ist mit einer großen Zahl von in der Gemeinschaft zirkulierender Schuldzuschreibungen zu rechnen. Wenn eine Reihe von Beschuldigungen sich mehr oder weniger zufällig auf dieselbe Person richtet, dann kann dies zur Entstehung eines neuen gesellschaftlichen Ordnungszustandes führen. Dort, wo sich zwei, drei oder tausend Anklagen kreuzen, ist das Opfer schon gefunden.150 Allerdings gibt es Menschen, die in einer derartigen Situation die Beschuldigung schneller als andere auf sich ziehen. Spezifische Merkmale prädestinieren zum Opfer, zum Beispiel religiöse oder kulturelle Besonderheiten, physische Merkmale (Behinderungen, Größe, Abweichen vom Durchschnitt), Schutzlosigkeit (Kinder, Alte, Kranke), aber teilweise sogar auch gesellschaftlich herausgehobene Positionen (König, Reichtum, Mächtige).151 In einem sich aufschaukeln148 149
150 151
Ebd. Vgl. Thomas Noetzel: Die Konflikttheorie von Thomas Hobbes, in: Thorsten Bonacker (Hrsg.): Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien. Friedens- und Konfliktforschung. Eine Einführung, 3. Aufl., Wiesbaden 2005, S. 33-46, S. 36. Vgl. Girard: Das Heilige und die Gewalt, a. a. O., S. 457. Es mag verwundern, auch den König innerhalb dieser Liste zu sehen. Spontan würde man doch annehmen, der König sei das genaue Gegenteil eines Opfers. Tatsächlich gehört aber das Sakralkönigtum zu den ältesten Institutionen der Menschheit und steht zugleich in enger Verbindung zum Opfer. So ist bei Bernhard Streck nachzulesen: „Die Götter selbst aber opfern sich […] und stiften damit die kosmische Ordnung. Sie monopolisieren Plagen und entziehen diese der Allge-
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den und selbstorganisierenden Prozess kann so ein Schuldiger gefunden werden, von dem man annimmt, dass sein Opfer nicht gerächt wird. In Anlehnung an die synergetische Chaosforschung spricht Wolfgang Ludwig Schneider in diesem Zusammenhang „von der ‚Versklavung‘ relativ gleichmäßig verteilter Mikroereignisse, die unter den Bedingungen eines instabilen sozialen Gleichgewichts durch eine zufällige Schwankung (die Kumulation von Anschuldigungen gegen eine Person), zu einem Zustand makroskopischer Ordnung führt (Konzentration der Anschuldigungen auf eine Person).“152 Damit wird die kollektive Neudeutung der Situation möglich. Alle Konflikte haben ihren Ursprung in dem angeblich bösartigen Charakter dieser Person.153 Die neu gefundene Solidarität mit den Gesellschaftsmitgliedern, die die gleiche Person beschuldigen, bestätigt diese Auffassung und stiftet sogleich Konsens über die verfeindeten Grenzen hinweg. Damit ist der Weg bereitet für die Verschiebung der Gewalt auf ein kollektiv erzeugtes Opfer, das zum Opfer einmütiger Gewalt werden kann.154 Durch diese neue Situationsdefinition wird die Struktur des Gefangenendilemmas aufgehoben. Weil die Quelle allen Übels nun entdeckt ist, weil sie die einmütige Gewalt der Gemeinschaft auf sich zieht, kann die Gewalt vorläufig ein Ende finden. „Man kann demnach dem Opfer eine expiatorische Wirkung zuschreiben, und zwar gerade dem gemeinschaftlichen: die Gemeinschaft, in der ein Frevel wirksam geworden war, findet zur Ordnung zurück.“155 Die kollektive Konstruktion eines Sündenbocks fungiert also als Unterbrecher der vorausgegangenen Verkettung von Gewalttaten. Auf diese Weise wird
152
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meinheit. Meist sind es die passiven Götter, die zu einer derartigen Rolle ausersehen werden. Das Leiden dieser Götter aber setzt sich fort im Leiden der auserwählten Menschen, an deren Spitze in der alten Welt die Könige stehen. Was später die Helden im Mythos und auf der Bühne oder die Märtyrer in der Arena oder im Kampf leisten, war in der Rolle des Sakralkönigs lange Zeit rituelle Wirklichkeit gewesen." Siehe Bernhard Streck: Das Sakralkönigtum als archaistisches Problem, in: Franz-Reiner Erkens (Hrsg.): Die Sakralität von Herrschaft. Herrschaftslegitimierung im Wechsel der Zeit und Räume. Fünfzehn interdisziplinäre Beiträge zu einem weltweiten und epochenübergreifenden Phänomen, Berlin 2002, S. 33-52, S. 42. Schneider: Grundlagen der soziologischen Theorie, Band 3: Sinnverstehen und Intersubjektivität, a. a. O., S. 92. Vgl. Girard: Das Heilige und die Gewalt, a. a. O., S. 32. Vgl. ebd. Wolfgang Kluxen: Opfer als Handlung, in: Richard Schenk (Hrsg.): Zur Theorie des Opfers, Stuttgart/Bad Cannstatt 1995, S. 289-306, S. 297.
die Gewalt ausgetrickst; es ist die Funktion des religiösen Opfers, „to ‚trick‘ violence”156, denn die Veränderung der kollektiven Zurechnung, die das gemeinsam definierte Opfer als den Schuldigen allen Übels ausrief, entkoppelt den Prozess von Gewalt und Gegengewalt. Dieser Effekt und das dadurch eintretende Ende aller Gewalttaten in der Gemeinschaft beglaubigt wiederum für alle die tatsächliche Schuld des Opfers, dessen Tod legitim erscheint. Die Gemeinschaft wird von der Schuld entlastet, das soziale Band durch das Opfer neu geknüpft und ein neuer Raum relativen Friedens erzeugt.157 Aus soziologischer Sicht ist das Opfer also eine zentrale „Sicherheits-Ventil-Institution“158, deren Funktion darin besteht, einen, so auch der Ausdruck Lewis A. Cosers: „Sündenbock“159 zu kreieren.
3.3 Die Sakralisierung der Gewalt. Zur Soziogenese des Heiligen (»sacrum«) Der Opferkult als zentrales Element des religiösen Lebens ist die notwendige Bedingung der Möglichkeit von Gesellschaft; er beseitigt das jeder Gemeinschaftsbildung entgegentreibende Prinzip sich entgrenzender Gewalt. Insofern ist der Opferkult das Zentrum einer „Kultur gewaltminimierender Gewaltintegration“160. Das religiöse Verhalten gerade in seinen abstoßenden Aspekten von Opferkult und Blutvergießen ist folglich als sozialer Akt zu begreifen, der feste und ernste Gemeinschaft gründet. „Grunderlebnis des ‚Heiligen‘ ist die Opfertötung. Der homo religiosus agiert und wird sich seiner selbst bewusst als homo necans.“161 Weil der Opfermechanismus den sozialen Frieden aus Sicht der Akteure schlagartig wieder herstellt, werden nun diese positiven Effekte auf das geopferte Opfer projiziert. Es handelt sich um den Vorgang einer doppelten Übertra-
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161
Charles Selengut: Sacred Fury. Understanding Religious Violence, Oxford 2003, S. 57. Vgl. Kluxen: Opfer als Handlung, a. a. O., S. 297. Coser: Theorie sozialer Konflikte, a. a. O., S. 56. Ebd., S. 52. Jörg Dierken: Selbstbewusstsein individueller Freiheit. Religionstheoretische Erkundungen, Tübingen 2005, S. 446. Burkert: Homo Necans, a. a. O., S. 9.
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gung,162 in der sowohl der Ausbruch unkontrollierter Gewalt als auch die anschließende Gewalteingrenzung dem Opfer zugerechnet werden. Die Rückkehr zur Ordnung wird mit der gleichen Ursache in Verbindung gebracht wie die vorausgehenden Unruhen, nämlich mit dem Opfer.163 Der Begriff des sacrificiums gewinnt seine Bedeutung aus dem Vorgang der für die Akteure plötzlich eintretenden Pazifizierung der Gesellschaft. Das Opfer wird divinisiert und als eine Epiphanie des Heiligen wahrgenommen. Die Transformation vom gesellschaftszersetzenden zu einer gesellschaftsintegrierenden Institution ist gleichbedeutend mit der Erzeugung sozio-religiöser Transzendenz. Damit eine Gruppe von Menschen die eigene Gewalt als heilig erlebt, muss diese einmütig gegen ein Opfer gerichtet sein, dessen eigentliche Unschuld aber gerade aufgrund dieser Einmütigkeit nicht mehr sichtbar ist. In dieser Weise schränkt die Religion die Gewalt ein, aber sie tut dies durch Gewalt.164 Die Divinisierung des Opfers zeigt, dass die Verfolger den Sündenbockmechanismus als ein genuin religiöses Ereignis erfahren: „Wenn dieses Opfer seine Wohltaten über seinen Tod hinaus über jene ergießen kann, die es getötet haben, dann muss es auferstanden oder nie wirklich tot gewesen sein. Die Kausalität des Sündenbocks drängt sich mit solcher Kraft auf, dass ihr selbst der Tod nicht Einhalt gebieten kann.“165 Um nicht auf das Opfer als Ursache verzichten zu müssen, lässt die Gemeinschaft es immer wieder „bei Bedarf auferstehen, macht es zumindest für eine gewisse Zeit unsterblich und erfindet alles, was wir Transzendenz und Übernatürlichkeit nennen.“166 Diese Lesart des Opfers ist eine radikalsoziologische, da sie für alle Formen des Sakralen und der Transzendenz, also dessen, was die Fassungskraft des Einzelnen oder der Gruppe übersteigt und daher als übermenschlich und heilig gilt, eine Erklärung zu finden sucht, die sich nicht auf eine ontologische oder ambrosische Folie projizieren, sondern sich allein im gesellschaftlichen Horizont reprä162
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Vgl. Wolfgang Palaver: René Girards mimetische Theorie. Im Kontext kulturtheoretischer und gesellschaftspolitischer Fragen, 2., korrigierte Aufl., Wien 2004, S. 202. Vgl. René Girard: Ausstoßung und Verfolgung. Eine historische Theorie des Sündenbocks, Frankfurt am Main 1992, S. 69. Vgl. Jon Pahl: Gewalt durch religiöse Gruppen, in: Wilhelm Heitmeyer und John Hagan (Hrsg.): Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002, S. 406-425, S. 410. Girard: Ausstoßung und Verfolgung, a. a. O., S. 69. Ebd.
sentieren lässt. In diesem Sinne ist das Heilige ein fait social.167 Dabei gerät die Deutung, dass das Heilige eine sakrale Projektion sei, in die Nähe der Religionssoziologie Peter L. Bergers, der in Anknüpfung an die Thesen Ludwig Feuerbachs die Überzeugung vertrat, dass die Religion ein von Menschen erfundenes Produkt sei. Religion ist Berger zufolge also eine menschliche Projektion, „eine Projektion freilich, die als fremde Wirklichkeit in die Menschenwelt zurückkehrt.“168 Exakt dieser Vorgang kann im Opfermechanismus gefunden werden. Wenn die Menschen ein von ihnen kollektiv getötetes Opfer divisinieren, das als fremde Macht der Gesellschaft den Frieden bringt, dann erleben sie diesen Vorgang als einen das Individuum transzendierenden Vorgang. Dabei trägt die Tötung des Opfers alle Züge eines übernatürlichen Eingreifens, wobei der gesellschaftliche Aspekt des Heiligen mit der gesellschaftlichen Dynamik kollektiv ausgeübter Gewalt in Verbindung zu bringen ist. Das Heilige ist die sich kollektiv auf das Opfer entladende, ist die sakralisierte Gewalt selbst: „Es ist vor allem und in viel verdeckterer Weise die Gewalt der Menschen selbst, jene Gewalt, die dem Menschen äußerlich ist und inzwischen mit allen anderen Kräften gleichgesetzt wird, die von außen auf den Menschen einwirken. Es ist die Gewalt, die Herz und Seele des Heiligen ausmacht.“169 Durch die These, dass die Gewalt und das Heilige eine untrennbare Einheit bilden, da das Heilige nichts weiter als eine „Sakralisierung der Gewalt“170 darstellt, können nun spezifische soziologische Eigenschaften des Heiligen deutlicher hervortreten und besser erklärt werden. So lässt sich etwa die hohe Ansteckungsgefahr, die gemäß den Beobachtungen Durkheims vom Heiligen ausgeht, 167
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Die Lehre des fait social geht bekanntermaßen auf Durkheim zurück. In seiner Studie Die ‚Regeln der soziologischen Methode‘ wird der soziale Tatbestand durch drei Eigenschaften, nämlich Äußerlichkeit, Zwangscharakter und Allgemeinheit definiert. Diese definitorischen Merkmale lassen sich auch auf das Heilige übertragen. Das Heilige ist allgemein, da es nicht in individuellen, sondern kollektiven Gefühlen seinen Ursprung hat; es ist äußerlich, da es unabhängig vom Individuum in gesellschaftlich etablierten Mustern, zum Beispiel religiösen Ge- und Verboten existiert; es besitzt Zwangscharakter, da ein Verstoß gegen die allgemeinen Gebote sanktioniert wird. Siehe Emile Durkheim: Die Regeln der soziologischen Methode, hrsg. und eingeleitet von René König, 6. Aufl., Darmstadt/Neuwied 1984, S. 105ff. Berger: Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft, a. a. O., S. 97. Girard: Das Heilige und die Gewalt, a. a. O., S. 51. Walter Burkert: Anthropologie des religiösen Opfers. Die Sakralisierung der Gewalt, München 1983, S. 15.
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nunmehr plausibel erfassen. Das Heilige ist aus dem Grund so ansteckend, weil es identisch ist mit der entgrenzenden Dynamik der Gewalt, die ja ihrerseits hoch ansteckend ist. Begibt sich ein profaner Mensch in den Bereich des Heiligen, so läuft er Gefahr, dass die heilige Energie sich auf ihn ausdehnt, bis sie ihn beherrscht. Es ist, so Durkheim, als begäbe er sich in den Herrschaftsbereich einer feindlichen Macht, deren Feindschaft sich notwendigerweise in Form zerstörerischer Reaktionen zeige. Daher betrachte man Krankheit und Tod auch als natürliche Folgen einer jeden Überschreitung heiliger Gesetze.171 Interpretiert man diese Passage Durkheims im Lichte des vorher Erörterten, so erscheint die Ansteckung mit dem Heiligen als nichts anderes als eine Ansteckung mit Gewalt, die aber umgedeutet wird als eine soziale Verunreinigung oder Kontamination mit dem Heiligen. Sobald das Heilige entfesselt ist, hat es dieselben Eigenschaften wie die Gewalt.172 Bereits Georges Bataille hat die unkontrollierte Ausbreitung des Heiligen mit der unkontrollierten Ausbreitung eines Feuers verglichen. „So ist das Heilige präzis einer Flamme vergleichbar, die das Holz zerstört, indem sie es verzehrt.“173 Das Heilige verbreitet sich wie ein vernichtendes Feuer und das „Opfer [taucht] alles in seine rote Glut.“174 Wie die Gewalt reißt das Heilige alles mit sich. Die Individualität des Einzelnen wird zerstört, denn die heilige Gewalt tilgt alle sozialen Unterschiede. An dieser Stelle wird nun auch verständlich, warum es gemäß Durkheim für jede Gesellschaft so absolut entscheidend ist, die heilige und die profane Sphäre „von einander entfernt zu halten und zwischen ihnen gewissermaßen ein Vakuum herzustellen. Die außerordentliche Ansteckung des Heiligen verpflichtet zu dieser Vorsicht.“175 Diese Trennung nicht zu vollziehen, würde bedeuten, die Gesellschaft der Gewalt preiszugeben, aber keine Gesellschaft kann in der Gewalt bestehen und bedarf daher eines durch Verbote und Tabus geschützten Abstandes vom Kreis der heiligen Dinge.176
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Vgl. Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, a. a. O., S. 434. Vgl. Georges Bataille: Theorie der Religion, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Gerd Bergfleth, München 1997, S. 46f. Ebd., S. 46. Ebd., S. 46. Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, a. a. O., S. 431. Vgl. ebd., S. 67.
Das Heilige gilt einerseits als Quelle des Heils, ist aber andererseits mit Gewalt verbunden. Die Gemeinschaft hat vom Heiligen alles zu befürchten, verdankt ihm aber zugleich alles. Das Heilige weckt Befürchtungen und Hoffnungen, ist Quelle des Segens und Herd des Unheils. Vom Heiligen erwartet der Gläubige in der Tat Hilfe und Erfolg jeder Art. Der Respekt, den er ihm zollt, beruht auf Schrecken und Vertrauen zugleich – „Es hat seine wilden und dämonischen Formen. Es kann fast zu gespenstischem Grausen und Schauder herabsinken. Es hat seine rohen und barbarischen Vorstufen und Äußerungen.“177 Es bringt das Unglück, von dem der Mensch bedroht ist, dem er zum Opfer fällt und das Glück, das er ersehnt, das ihm zuteil wird. Die Utopie von Frieden, Liebe, Gerechtigkeit und Erlösung wird stets von der Gewalt- und Strafandrohung bei Nichtbeachtung der göttlichen Gebote flankiert. Das Theologumenon des liebenden und hassenden Gottes, der durch Opfer besänftigt werden muss, symbolisiert paradigmatisch die Ambivalenz des Sakralen.178 Diese Ambivalenz spiegelt sich in den Begriffen der Reinheit und Unreinheit. Das Heilige selbst ist durch diese Polarität gekennzeichnet und die Pole dürfen nie vermischt werden. Diese religiöse Polarität spielt in der Welt des Heiligen die gleiche Rolle wie die Begriffe von Gut und Böse.179 Weitet man die Analyse der Religion auf ihre äußersten, antagonistischen Grenzen, also Heil und Unheil des Menschen, aus, dann scheint ihre Funktion „von einem doppelten Beweggrund bestimmt zu werden: Erlangen der Reinheit und Beseitigung der Verunreinigung.“180 Das religiöse Verlangen nach Reinheit des Heiligen erscheint so als Chiffre für das Bedürfnis der Menschen, in sozialen Räumen relativer Gewaltfreiheit zu leben. Die Möglichkeit, das plötzliche Opfer kollektiver Gewalt zu werden, erklärt zugleich die in archaischen Gottesvorstellungen häufig anzutreffende Raubtiersymbolik. Die Gewalt, sobald die Gemeinschaft die Kontrolle über sie verliert, erscheint als plötzlich zuschlagende, todbringende Gefahr und ähnelt daher der Auslieferung des Menschen an elementare Urgewalten: Zum Beispiel dem jähen 177 178
179 180
Otto: Das Heilige, a. a. O., S. 14. Vgl. Mathias Hildebrandt und Manfred Brocker: Unfriedliche Religionen?, in: Dies. (Hrsg.): Unfriedliche Religionen? Das politische Gewalt- und Konfliktpotenzial von Religionen, Wiesbaden 2005, S. 9-38, S. 19. Vgl. Caillois: Der Mensch und das Heilige, a. a. O., S. 22. Ebd., S. 46.
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Schrecken, wenn ein Mitglied der Gruppe Raubtieren wie Haien, Wölfen, dem Jaguar usw. zum Opfer fällt. Diese Erfahrung hat ihren Eingang in die ältesten Gottessymbole gefunden.181 In der griechischen Mythologie verschlingt der Himmelsgott Kronos seine eigenen Kinder, Dionysos, der griechische Gott des Weins begründet einen raubtierähnlichen Kult, bei Homer ist sogar noch Apollo, der griechische Gott des Lichts, zuweilen auch lykaios, der ‚Wölfische‘, der den Tod in das Lager der Griechen vor Troja sendet. Georg Baudler vermutet daher, dass die „Niedermachung und Auslieferung des Sündenbocks an das – als göttlich verehrte – Raubtier […] die älteste und ursprünglichste Form einer Opferhandlung“182 darstellt. So bildet auch für Georg Baudler die Verehrung der Gewalt als das Heilige das Zentrum archaischer Religionen.183 Dabei trifft sich diese Identifizierung des Heiligen mit der Gewalt in einem wichtigen Aspekt mit der von Marcel Mauss entwickelten Theorie der Gabe.184 Mauss zufolge konstituiert die Gabe einen gesellschaftlichen Zwang, Geschenke zu geben, anzunehmen und zu erwidern. Nicht nur Dingwerte können gehandelt werden, sondern ebenfalls symbolische Werte wie Freundschaft, Liebe oder Ehre.185 Aber auch die Gewalt hat einen Gabencharakter und kann ins soziale System eingespeist werden.186 Das Verhängnis liegt darin, dass die Gabe der Gewalt gewissermaßen den allerstärksten Zwang zur Gegengabe, also zur Gegengewalt, mobilisiert. Gaben verbinden. Dies aber nicht allein im Guten. Auch Zyklen der sich entgrenzenden Gewalt beruhen auf reziproken Handlungen, die einen direkten Tausch von Schädigungen auslösen und fernerhin einen generalisierten Charakter der Rache annehmen können.187 Jedesmal, wenn das rituelle Opfer den gewünschten Effekt erzielt und die unreine Gewalt gewaltsam in eine relative Ordnungsstabilität gezwungen wird, nehmen die Götter die Gabe der Gewalt an (respektive: das Kollektiv stößt das 181 182 183 184
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187
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Vgl. Baudler: Gewalt in den Weltreligionen, a. a. O., S. 42. Ebd. Vgl. ebd., S. 200. Vgl. Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt am Main 1968. Vgl. ebd., S. 51ff. Vgl. Frank Adloff und Steffen Mau: Zur Theorie der Gabe und Reziprozität, in: Dies. (Hrsg.): Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität, Frankfurt am Main 2005, S. 9-60, S. 39. Vgl. ebd.
Opfer symbolisch oder real aus). Die Götter, die aus der Opfergewalt erst ihre Vitalität beziehen, verarbeiten die dargebrachte Gewaltgabe. Wird der Gott der Gemeinschaft ungebührlich vernachlässigt, dann ist dies gleichbedeutend mit einer Fahrlässigkeit gegenüber den gemeinschaftsinternen Sicherheitsventilinstitutionen. Die Konsequenzen sind desaströs. Der Gott, so die Wahrnehmung der Gemeinschaft, beginnt zornig zu werden. Greifen die Menschen nicht auf ihre altbewährten Opfertraditionen zurück, um die Gotteswut zu besänftigen, so wird die Gemeinschaft in die unreine Gewalt zurückgleiten – der Gott wird sie zerstören. Die Gemeinschaft ist auf „das Opfer, das die Verunreinigung tilgt“188 auf Gedeih und Verderb angewiesen. Insofern ist das Opfer mitnichten bloß der kalkulierte Trug einer schlauen Priesterkaste, wie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer dies suggerierten: „Die im Opfer gelegene Stellvertretung, verherrlicht von neumodischen Irrationalisten, ist nicht zu trennen von der Vergottung des Geopferten, dem Trug der priesterlichen Rationalisierung des Mordes durch Apotheose der Erwählten.“189 Das archaische Denken täuscht sich zwar, wenn es die Gewalt für realagierende Götter hält – insofern ist tatsächlich, wie Adorno und Horkheimer fortfahren „der Betrug am Opfer mitgesetzt“190 – aber es täuscht sich letztlich nicht, wenn es die wiedergefundene Solidarität der Gemeinschaft nicht dem bewussten Willen der Menschen zur Eintracht zuschreibt, sondern als Resultat der Durchführung einer opferrituellen Katharsis betrachtet.
188 189
190
Caillois: Der Mensch und das Heilige, a. a. O., S. 42. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, limitierte Neuauflage 2002, Frankfurt am Main 1969, S. 58. Ebd.
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4. Zur Soziologie von Kultus und Mythos
Seit Emile Durkheim hat die Soziologie der Rolle des religiösen Kults in der Gesellschaft ihre besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Durch gemeinsames Handeln wird die Gesellschaft sich ihrer selbst bewusst; daher muss sie in regelmäßigen Abständen die kollektiven Gefühle und Ideen bestätigen, die ihre Einheit ausmachen. Durkheim schreibt: „Es gibt keine Gesellschaft, die nicht das Bedürfnis fühlte, die Kollektivgefühle und die Kollektivideen in regelmäßigen Abständen zum Leben zu erwecken.“191 Am konsequentesten hat A.R. RadcliffeBrown diese funktionale Betrachtungsweise weiterentwickelt. Die Gesellschaft kann nur bestehen durch die Existenz eines Systems gemeinsamer Begriffe und Gefühle, die durch die Einwirkung der Gesellschaft auf das Individuum entwickelt werden. Mit Verweis auf Durkheim schreibt Radcliffe-Brown: „[It is the] theory that religious ritual is an expression of the unity of society and that its function is to ‘re-create’ the society or the social order by reaffirming and strengthening the sentiments on which the social solidarity and therefore the social order itself depends.”192 Das religiöse Ritual ist für den Fortbestand der religiösen Gemeinschaft geradezu überlebenswichtig, wobei dieser Umstand vor allem daran ersichtlich wird, dass bislang, so Burkert, „alle nicht-religiösen Gemeinschaften noch von der Religion überlebt [wurden]. Das Opferritual muss dabei eine besondere Rolle spielen.“193 Fortbestehen kann eine Gesellschaft nur dann, wenn ihre Rituale von Generation zu Generation weitergegeben werden. Um das Überleben zu gewährleisten, muss das Ritual als heilig fixiert werden. Hierzu gehört stets der Charakter des Ernsten: Gefahr wird signalisiert, mitunter auch Angst ausgelöst, 191 192
193
Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, a. a. O., S. 571. Alfred Reginald Radcliffe-Brown: Structure and Function in Primitive Society, New York 1965, S. 165. Burkert: Homo Necans, a. a. O., S. 35.
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was die Aufmerksamkeit anspannt und den Vorgang aus dem Strom des Alltagslebens hervortreten lässt, damit der Lernvorgang eine irreversible Verhaltensprägung erzielt. Einprägsam ist vor allem das Erschreckende.194 Doch selbst das genügt oft nicht, um dem Kultus die angemessene Bedeutung zu verleihen. Jede soziale Abweichung wird korrigiert, indem man sie eliminiert. So groß ist offenbar die Bedeutung der Kulte für den Fortbestand der archaischen Gemeinschaft, dass sie seit ungezählten Generationen selbst zu sozialen Auslesefaktoren geworden sind. Wer sich den Ritualen einer Kultgemeinschaft nicht anpassen will oder kann, hat in ihr keine Überlebenschance.195 Der Ernstcharakter der religiösen Rituale wird auf diese Weise zur realen Drohung. Das psychische Versagen ihnen gegenüber kann schnell zur persönlichen Katastrophe werden. Burkert schreibt: „Ein Kind etwa, das auf Feierlichkeiten mit Lachreiz reagiert, wird in einer religiösen Gemeinschaft nicht überleben. Apollonius von Tyana entlarvte einen solchen Jungen flugs als vom Dämon besessen; zum Glück verließ der böse Geist alsbald den entsetzten Bengel. Mittelalterliche Äbte bekämpften den Teufel mit höchst realen Prügeln, ja bis in die Neuzeit lag die geweihte ‚Teufelspeitsche‘ bereit.“196
Der Kontroll- und Zwangscharakter, die imperative Macht der Religion als sozialer Tatbestand tritt so deutlich hervor. Deviantes Verhalten gegenüber den Kulten einer Gemeinschaft wird nicht toleriert und zieht drastische Sanktionen nach sich.197 Die religionssoziologische Einschätzung, in welcher allgemeinen Beziehung Kult und Mythos stehen, wird bis in die heutigen Tage hinein kontrovers diskutiert. Finden die einen im rituellen Hintergrund eines Mythos den einzig akzeptablen Sinn einer für den modernen Interpreten absurd erscheinenden Erzählung, so verfechten andere gewissermaßen das Recht der freien Phantasie in dem Sinne, dass der Mythos bloß ein Produkt dichterischer oder lyrischer Einbildungskraft darstellt.198 Vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen 194 195 196 197 198
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Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 36. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 39f.
aber lässt sich eine Entscheidung zugunsten eines Abhängigkeitsgefüges des Mythos vom Ritual rechtfertigen: Die mythischen Berichte sind aufs engste mit der oben geschilderten Funktion und Logik des Opfers verbunden, denn Mythen sind mündliche Erzählungen oder schriftliche Texte, die das Geschehen eines gesellschaftlichen Gründungsmordes respektive Gründungsopfers aus der Perspektive der Verfolger wiedergeben.199 Die Mythen erzählen in verzerrter Form ein tatsächliches Geschehen und entspringen der kollektiven Gewalt gegen ein Opfer. Die Annahme eines gewalttätigen Ursprungs der Gesellschaft knüpft erkennbar an eine seit Sigmund Freuds Totem und Tabu geläufige Denkfigur an. Freud lehrte, dass die Gesellschaft aus der Urszene der Menschheit, der Ermordung des tyrannischen Vaters durch seine eifersüchtigen Söhne, entspringt. „Eines Tages taten sich die ausgetriebenen Brüder zusammen, erschlugen und verzehrten den Vater und machten so der Vaterhorde ein Ende. Vereint wagten sie und brachten zustande, was dem Einzelnen unmöglich geblieben wäre.“200 Der gehasste und zugleich ob seiner Herrschertechnik bewunderte Vater begründet Freud zufolge das erste Gesellschaftssystem, dessen wichtigste Institution das Inzest- und Tötungstabu darstellt. Ohne dieses primäre Gesetz würde der Bruderkrieg um die Frauen nach dem Ableben des übermächtigen Vaters sofort wieder ausbrechen.201 Die Vorstellung eines gesellschaftlich verbindlichen Gut und Böse wird also durch eine Tat hervorgebracht, die vor jeder moralischen Reflexion und vor jeder allgemeinen Rechtsdurchsetzung liegt.202 Es wird das verboten, was sich niemals wiederholen soll. So verpflichten sich die Brüder, dass „niemand von ihnen vom anderen behandelt werden dürfe wie der Vater von ihnen allen gemeinsam.“203 Produktiv ist für Freud somit die Reaktion der Brüder auf das, was sie getan haben: ihr Schuldbewusstsein. Allerdings ist gemäß der bisherigen Überlegungen zum Opfer und in Abgrenzung zu Freud204 davon auszugehen, 199 200
201 202
203 204
Vgl. Girard: Generative Scapegoating, a. a. O., S. 78. Sigmund Freud: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, hrsg. und eingel. von Mario Erdheim, 9. Aufl., Frankfurt am Main 2005, S. 196. Vgl. ebd., S. 198. Vgl. Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der ‚mystische Grund der Autorität‘, Frankfurt am Main 1992, S. 28. Freud: Totem und Tabu, a. a. O., S. 200. Bezüglich der Gemeinsamkeiten und Differenzen der mimetischen Theorie von René Girard und der psychoanalytischen Theorie von Sigmund Freud sind die Überlegungen von Eberhard Th.
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dass es nicht ausgerechnet der Vater gewesen ist, der das ursprüngliche Opfer darstellte, da ja gerade die prinzipielle Beliebigkeit der Opferauswahl zu betonen ist.205 Der Ursprungsmord ist vielmehr gleichzusetzen mit der Ermordung von irgendjemandem, von dem angenommen wird, dass seine Opferung nicht gerächt wird. Überdies kann diese Form des Opfers „kein schöpferisches Schuldbewusstsein“206 produzieren, da die Tötung dem Kollektiv als gerechtfertigter Vorgang erscheint. Diese Urszene ist nicht unmittelbar dokumentiert – bereits Freud warnte davor, den Urmord als gegebenes Faktum zu akzeptieren, denn ebenso gut könne es sich auch so zugetragen haben, dass die bloßen Impulse von Feindseligkeit gegen das Opfer, die Existenz der Wunschphantasie, es zu töten, hingereicht haben, um jene moralische Reaktion zu erzeugen, derer es bedurfte, um Gesellschaft zu generieren.207 Die Realität des Urmordes kann entsprechend nicht den Anspruch einer empirisch unumstößlichen Gewissheit beantragen. Dennoch kann die Urszene, gleichviel ob real oder imaginär, als das verschwiegene Thema des Mythos sichtbar gemacht werden, indem man den über alle Zeiten und Kulturen identischen Subtext des Mythos freilegt und die Spuren rekonstruiert, die auf den dramatischen Anfang der menschlichen Gesellschaft zurückweisen.
205
206 207
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Haas weiterführend. Siehe Eberhard Th. Haas: Und Freud hatte doch recht. Die Entstehung der Kultur durch Transformation der Gewalt. Bausteine einer allgemeinen Kulturtheorie, Gießen 2002. Vgl. Thomas Konrad: René Girard: Ein anderes Verständnis von Gewalt, in: Stephan Moebius und Dirk Quadflieg (Hrsg.): Kultur. Theorien der Gegenwart, Wiesbaden 2006, S. 325-338, S. 332. Freud: Totem und Tabu, a. a. O., S. 214. Vgl. ebd., S. 215.
4.1 Der Subtext des Mythos. Kollektive Gewalt im Verborgenen
„Ihr bedenkt nicht, dass es besser für euch ist, wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht.“ (Joh 11,50208)
Die Vielfalt der Themen, die sich in den verschiedenen Mythen der Welt wiederfindet, lässt sich inhaltlich nicht erfassen oder hinreichend plausibel sortieren. In einem Mythos kann so gut wie alles zum Thema werden. Es scheint auf den ersten Blick, dass die Reihenfolge der Ereignisse und Motive keinen logischen Regeln oder Kontinuitäten unterworfen sind.209 Aber trotz der disparaten Motive stellt Claude Lévi-Strauss eine Einheit in der Vielfalt mythischer Motive fest. Man findet die anscheinend so willkürlichen Mythen mit denselben Charakterzügen und Einzelheiten in den verschiedensten Regionen der Welt. Es stellt sich also das Problem: Wenn der Inhalt des Mythos ganz ist, wie kann dann verstanden werden, dass sich die Mythen von einem Ende der Welt zum anderen einander so sehr gleichen?210 Zu einer grundlegenden Lösung der Frage des tatsächlichen Gehalts der mythischen Erzählung hat aber erst René Girards These geführt, dass am Ursprung der Gesellschaft ein reales Opfer und eine reale kollektive Gewalt stehen. Dabei geht Girard von einer für den Mythos typischen Sequenz aus. Diese Sequenz besteht aus einer spezifischen Anordnung verschiedener Stereotype, von denen angenommen wird, dass sie mit einer universalen Gültigkeit ausgestattet sind. Dabei müssen nicht zwingend alle Stereotype in einem Mythos gefunden werden; ausreichend sind wenigstens zwei oder drei der nachfolgenden vier Merkmale, die dem Mythos seine Struktur verleihen.
208
209 210
Alle folgenden Bibelzitate stammen aus Die große Bibel. Altes und Neues Testament in der Endfassung der neuen Einheitsübersetzung, Photographien, Dokumente, Bibellexikon, 2 Bde., hrsg. von Günter Stemberger und Mirjam Prager, Sonderausgabe, Dortmund 1983. Vgl. Claude Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie, Frankfurt am Main 1967, S. 228. Vgl. Ebd.
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Erstes Stereotyp: Beschreibung eines gesellschaftlichen Krisenzustands. Zweites Stereotyp: Die Krise wurde durch entdifferenzierende Verbrechen verursacht. Drittes Stereotyp: Es tritt eine Person auf, die dieser entdifferenzierenden Verbrechen angeklagt wird. Viertes Stereotyp: Es wird Gewalt zur Lösung der Krise angewendet.211 Es ist dieses Nebeneinander mehrerer Stereotype in ein und demselben mythischen Dokument, das zu der These führt, dass es sich im Falle des Mythos um einen Verfolgungstext handelt. Die Stereotype der Verfolgung bilden hier lediglich den Ausgangspunkt der Mythenbildung. Im Laufe der Zeit können sie verfremdet, zurückgedrängt oder zensiert werden. Ein derartiger Mythos befindet sich dann in einem Zerfallsstadium.212 Dennoch ist davon auszugehen, dass ein Mythos ursprünglich durch die Verfolgungsstereotype strukturiert war. Das gleichzeitige Vorhandensein dieser Stereotype führt nun wiederum zu den folgenden vier Thesen, dass die Gewalttaten real sind, die beschriebene Krise real ist, die Opfer nicht aufgrund der ihnen zugeschriebenen Verbrechen ausgewählt werden, es beabsichtigt ist, die Verantwortung für die Krise den Opfern aufzubürden und auf die Krise dadurch einzuwirken, dass das Opfer als verunreinigendes Element aus der Gemeinschaft ausgestoßen wird.213 Alle Mythen haben ihre Wurzel in der kollektiven Opfergewalt, die somit als Ursache der Mythenbildung angenommen wird. Warum aber sind die Spuren des Gründungsmordes verwischt und warum lässt sich kein Verbot nachweisen, das die gesellschaftliche Krise direkt zur Sprache bringt?214 Die Antwort ist wieder im Kontext der Logik des Opfers zu sehen, dessen Funktion nur im latenten Zu211 212 213 214
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Vgl. Girard: Ausstoßung und Verfolgung, a. a. O., S. 38f. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. Richard Golsan: René Girard and Myth, London 2002, S. 61ff.
stand gewährleistet ist. Somit steht das archaische Opfer in seiner elementaren Erscheinungsform im Dienst einer Verdeckungsfunktion, die die Erfahrungen, denen die rituellen Gebote und Verbote ihre Entstehung verdanken, verfälscht.215 Selbst große Denker haben unbewusst an dieser Verdeckungsfunktion mitgewirkt. Mitunter ging diese Verschleierung der kollektiven Gewalt so weit, dass die Stereotype der Verfolgung vollständig ausgelöscht wurden.216 Ein instruktives Beispiel für derartige Vorgänge findet sich bei Platon in der Politeia. Platon möchte den Mythos zensieren; das mythische Thema sollte „am liebsten verschwiegen bleiben.“217 Sollte es aber doch einmal unvermeidlich sein, über den Mythos sprechen zu müssen, so ist bezeichnenderweise für das Volk als Ablenkungsmanöver ein großes Opfer, gewissermaßen als Gegengewalt zur Opfergewalt des Mythos, durchzuführen. Wenn, so Platon, „eine Notwendigkeit wäre, es zu erzählen, müssten es nur so wenige als möglich auf geheimnisvolle Weise erfahren, nachdem sie nicht etwa ein Schwein geopfert, sondern irgendein gar großes und unerhörtes Opfer, damit nur recht wenige dazu kommen könnten, es zu erfahren.“218 Da die einmütige Gewalt aller gegen einen nur dann zustande kommt, wenn sich der Identifizierung des Opfers augenblicklich alle anschließen und entsprechend in den Sog, der zur einmütigen Gewalt führt, hineingezogen werden, setzt sich die Vorstellungswelt der Verfolger immer auch als die Wahrheit der Gemeinschaft durch. Das Opfer ist ohne jeden Zweifel immer schuldig. Der Mythos ist zentraler Bestandteil der sozialen Welterrichtung und -erhaltung, indem er die für diesen Vorgang notwendige Legitimationsbasis bereitstellt. Der Mythos wird zur Wahrheit, setzt die verbindlichen Werte der Gemeinschaft, stiftet Identität und erscheint durch seinen kosmischen Status schließlich als der obersten Wirklichkeit selbst angehörig.219 Die mythischen Legitimationen bauen die gesell215 216 217
218 219
Vgl. ebd. Vgl. Girard: Ausstoßung und Verfolgung, a. a. O., S. 112. Platon: Politeia, in: Ders.: Sämtliche Werke. Lysis, Symposion, Phaidon, Kleitophon, Politeia, Phaidros, hrsg. von Burghard König, Band 2, 2. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2000, S. 195-538, S. 270. Ebd. Vgl. zum allgemeinen Verhältnis von Religion, Werten, Identität und Gewalt Christoph Lienkamp: Gewalterfahrung, Wertbindung, Identitätsbildung. Sozial- und religionsphilosophische Bestimmungen des Verhältnisses von Gewalt und Religion, in: Burkhard Liebsch und Dagmar Mensink (Hrsg.): Gewalt verstehen, Berlin 2003, S. 203-224, S. 203ff.
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schaftlich bestimmte Wirklichkeit in die letzte Wirklichkeit des Universums ein, d.h. in die soziale Wirklichkeit, bis – so Clifford Geertz – die religiösen Vorstellungen „völlig der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen.“220 Dabei handelt es sich um einen soziologisch nachvollziehbaren Prozess, der dem von Peter L. Berger und Thomas Luckmann beschriebenen Vorgang einer „gesellschaftliche[n] Konstruktion der Wirklichkeit“221 nahe kommt. Die mythische Erzählung konstruiert aber nicht nur die soziale Wirklichkeit, sondern implementiert überdies eine ideologische Komponente, denn, so Wolfgang Sofsky, kein „Mythos sagt, was sich wirklich zugetragen hat. […] Wie man weiß, hat der Mythos eine eigenartige Wahlverwandtschaft mit politischen Ideologien. Indem er erklärt, rechtfertigt er auch – den Vertrag, das Gesetz, die Herrschaft.“222 Dass die mythische Setzung der kollektiven Wahrheit zugleich über die Frage der Macht, der sozialen Hierarchie und der Legitimität der Gewalt entscheidet, ist auch Claude Lévi-Strauss, auf den später noch ausführlich zurückzukommen sein wird, nicht entgangen. Für ihn ist die Ideologie zweifelsfrei mythisch strukturiert: „Nichts ähnelt dem mythischen Denken mehr als die politische Ideologie. In unseren heutigen Gesellschaften hat diese möglicherweise nur jenes ersetzt.“223
4.2 Der Ödipusmythos Um den oben beschriebenen Zusammenhang zu verdeutlichen, kann auf Sophokles’ Tragödie über den Ödipus-Mythos224 zurückgegriffen werden. Dieser Mythos enthält alle genannten Stereotype der Verfolgung und gilt nicht nur der psychoanalytischen Forschung bis heute als besonders ergiebig – die Faszina220
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222 223 224
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Clifford Geertz: Religion als kulturelles System, in: Ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main 1987, S. 44-95, S. 86. Peter L. Berger und Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, mit einer Einleitung zur deutschen Ausgabe von Helmuth Plessner, 20. Aufl., Frankfurt am Main 2004. Sofsky: Traktat über die Gewalt, a. a. O., S. 9. Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie, a. a. O., S. 230. Sophokles: König Ödipus, in: Antike Tragödien. Aischylos, Sophokles, Euripides, aus dem Griechischen übersetzt von Dietrich Ebener (Aischylos und Euripides) und Rudolf Schottlaender (Sophokles), Berlin/Weimar 1969, S. 219-271, S. 219.
tion, die vom Ödipus-Mythos ausgeht, ist ungebrochen.225 Die Soziologie hat sich allerdings eher selten mit dieser kulturwissenschaftlich so prominenten Ödipusfigur beschäftigt. Dennoch, so wird sich zeigen, lassen sich diesem Mythos durchaus soziologisch relevante Einsichten abringen, wenn man sich auf das soziale Drama, wie es sich zwischen und hinter den Zeilen vollzieht, konzentriert und auf die Sozialmechanismen achtet, die den Verlauf und die Dramatik der Handlung im Hintergrund steuern. Schlüsselkategorie einer soziologischen Deutung ist wieder das religiöse Opfer als soziologisch deutbare Kategorie. Sophokles’ Tragödie hebt bekanntlich mit der Beschreibung einer um sich greifenden Seuche an. Ein Priester berichtet König Ödipus von der Katastrophe mit folgenden Worten: „Denn unsere Stadt, wie du mit eigenen Augen siehst, / erliegt dem Anprall, kaum erhebt sie noch das Haupt, / so tief hat sie blutroter Schwall hinabgedrückt. / Es schwindet hin die Frucht des Feldes, eh sie reift, / es schwinden hin die Muttertiere, Fehlgeburt / enttäuscht die Fraun. Brandpfeile schießt die Göttin Pest, / die Böse Feindin hetzt ihr Fieber auf die Stadt, / entvölkert Kadmos Gründung. Reiche Ernte hält / der schwarze Tod, und Jammerschreie folgen ihm.“226
Auf den ersten Blick beschreiben diese Verse eine Krankheitsepidemie, die Rede ist von der wütenden Göttin der Pest. Es wird vom Tod jener Menschen gesprochen, die der Krankheit zum Opfer fielen; auch Frauen und Tiere sind bedroht, die Ernte bringt keinen zum Leben ausreichenden Ertrag mehr ein. Im Grunde verbirgt sich aber hinter dem von Sophokles skizzierten Krisenszenario keine Naturkatastrophe in Form einer krankhaften Pestepidemie. Vielmehr, so die These, ist die pathologische Entwicklung in Theben die Konsequenz eines gewaltsamen Zusammenbruchs der Sozialordnung. Das Sakralopfer spielt in diesem Zusammenhang wieder eine zentrale Rolle, worauf Girard die Aufmerksamkeit gelenkt hat. So sei es insbesondere die Pest, in der man im Grunde eine versteckte Krise der Gesellschaft sehen müsse, die nicht nur im Ödipusmythos, son-
225 226
Vgl. Jörn Ahrens: Ödipus. Politik des Schicksals, Bielefeld 2004, S. 11. Ebd., S. 219.
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dern in zahllosen Mythen auf der ganzen Welt auf das Opfern eines Sündenbocks hinauslaufe.227 Das Orakel in Delphi, das zur Überwindung des Unheils angerufen wird, stützt hier die Annahme eines sozialen Krisenhintergrunds. Der Spruch lautet, ein Mörder müsse gefunden werden, um das Unheil von der Gemeinschaft wieder abzuwenden. Die Vorsehung verkündet, dass eine Blutschuld auf der Stadt lastet, die durch die Ermordung des alten Herrschers von Theben – König Laos – entstanden ist und nun gesühnt werden muss. „Für dessen Tod, so lautet jetzt der klare Spruch, / soll die Verbrecher Strafe treffen, wer’s auch sei.“228 Deutlich schwebt die Gefahr der Ausbreitung chaotischer Gewalt über dem Königreich: „Mord mit Mord heimzahlen“229, ist die Handlungsdirektive der Rachestunde. Die Notwendigkeit, die Krise zu lösen, bietet den Hauptprotagonisten der Erzählung – neben Ödipus sind dies Kreon (der Bruder von Iokaste, der Frau und Mutter von Ödipus) und Teiresias (ein blinder Seher) – die Option, ihre Macht und ihren sozialen Status unter Beweis zu stellen. Jeder Akteur versucht im Laufe des Dramas einen anderen als Verursacher des Unheils und als Königsmörder zu stigmatisieren. Besonders aufschlussreich ist die Symmetrie der wechselseitigen Anschuldigungen, wie sie im Verlaufe des Mythos adressiert werden. Jeder könnte der potenzielle Mörder sein; jeder wird schließlich in den Sog der Gewalt gezogen.230 Den Auftakt der Schuldzuweisungen gibt Ödipus selbst. Er beschuldigt den blinden Seher Teiresias, der Urheber des Unglücks zu sein. Daher lenkt er den Verdacht gezielt auf ihn: „So will ich denn – ich hemme meinen Zorn nicht mehr – / Die Meinung sagen: Wisse, dir gilt mein Verdacht, / dass du die Untat ausgeheckt hast und soweit / der Mörder warst, nur nicht mit Händen; sähest du, / legt ich die Tat sogar nur dir allein zur Last.“231 Teiresias erwidert daraufhin empört: „Im Ernst? … / sprich von heut an selbst / kein Wort mehr, weder zu den anderen noch zu mir, / denn du bist selber
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Vgl. René Girard: Die Pest in Literatur und Mythos, in: Ders.: Die verkannte Stimme des Realen. Eine Theorie archaischer und moderner Mythen, Wien 2005, S. 152-179, S. 168. Sophokles: König Ödipus, a. a. O., S. 222. Ebd. René Girard: Oedipus unbound: Selected Writings on Rivalry and Desire, edited and with an Introduction by Mark R. Anspach, Standford 2004, S. 32ff. Sophokles: König Ödipus, a. a. O., S. 229.
der Frevler, der das Land befleckt.“232 Ödipus wendet sich im Verlauf des Dramas nun gegen Kreon: „Du da, was tust du hier? So hast du wirklich noch / die Stirn, mich aufzusuchen unter meinem Dach, / du, mein, ja mein erwiesner Mörder und zugleich / der offenkund’ge Mörder meines Königtums?“233 Schließlich fühlt sich Ödipus von Kreon beschuldigt: „Ich sei der Laosmörder, das behauptet er.“234 Im Fortgang der Handlung reduziert sich der Konflikt schließlich auf eine vom Orakelspruch ausgelöste Suche nach dem Urheber der Krise. Dabei wird ein Element verborgener Gewalt sichtbar, denn die oben beschriebene Struktur des Gefangenendilemmas tritt deutlich hervor. Die rationale Einsicht in die Mechanik aus Gewalt und Gegengewalt erhält die Krise nicht nur aufrecht, sondern zieht alle Protagonisten in ihren Bann. Zunächst bleibt die Gewalt zwar bei Ödipus. Aber da er die soziale Ordnung in ihrer Gesamtheit bedroht, kann der Funke der Gewalt jederzeit von ihm auf die Gemeinschaft überspringen, die Ordnung ergreifen und ins Verderben stürzen.235 Die Pest ist also nur die Metapher für eine bestimmte Art wechselseitiger Gewalt, die sich wie die Pest ausbreitet.236 Deutlich wird dies während eines weiteren Disputs, den Ödipus und sein Schwager Kreon vor Iokaste austragen. Beide fürchten um nichts weniger als ihre Existenz. Ihre Angst und vor allem ihr Zorn lassen sie immer ähnlicher erscheinen – bis zu dem Punkt, an dem die Unterschiede zwischen den Gegnern überhaupt nicht mehr zu erkennen sind. „Kreon – Blutschwester, Greuel gegen mich hält Ödipus, / dein Mann, für recht, er denkt an schwerste Strafen, Bann / und Tod, hat schon gewählt: er fordert meinen Kopf. / Ödipus – Ja, liebe Frau, denn voller Arglist trachtet er / mir nach dem Leben, dingfest hab ich ihn gemacht.“237 Jeder sieht in dem Gegenspieler nur noch den Usurpator seiner persönlichen Integrität, die er verteidigen muss, sofern er an dem Erhalt seiner Existenz interessiert ist. Die Attacken, die sich die Gegenspieler zufügen, erschüttern aber Königreich und Gemeinschaft zutiefst. Der Pegel der Gewalt steigt und schließlich werden sich alle gleich in der Gewalt und in der Symmetrie wechselseitiger 232 233 234 235 236 237
Ebd., S. 230. Ebd., S. 236. Ebd., S. 242. Vgl. Ahrens: Ödipus, a. a. O., S. 29. Vgl. Girard: Die Pest in Literatur und Mythos, a. a. O., S. 157. Sophokles: König Ödipus, a. a. O., S. 240.
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Schuldzuschreibungen. Die Akteure werden zu gewalttätigen Doppelgängern innerhalb einer sich entdifferenzierenden Ordnung.238 Schließlich wird im Verlauf des Dramas der Urheber aller Verwerfungen doch noch plötzlich und überraschend eindeutig identifiziert. Ödipus trägt allein die Schuld, er ist der Vatermörder und hat obendrein den Frevel begangen, mit seiner Mutter, Iokaste, sexuell zu verkehren. Wieder scheint sich die Regel zu bestätigen, dass das Opfer bereits durch spezifische Opferzeichen gekennzeichnet ist. Ödipus ist ein Konglomerat von Opferzeichen. Er ist behindert, seine Fersen wurden ihm durchschnitten, als Kind wurde er ausgesetzt, als Fremder wurde er dennoch König von Theben. Ödipus ist also ein perfektes Opfer. Dabei bezeichnen die ihm zur Last gelegten Verbrechen eindeutig die Auflösung der elementarsten kulturellen Differenzen, nämlich die Unterscheidung zwischen Vater, Mutter und Kind.239 Auch heute noch werden ganz ähnliche, wenn nicht die gleichen haltlosen Vorwürfe in Umlauf gebracht, wenn sich ein Pogrom oder eine Revolution anbahnt.240 Jede Verschwörungstheorie lebt von den absurdesten Anschuldigungen, wobei die Vorwürfe ihre Kraft aus der prinzipiellen Unwiderlegbarkeit des Absurden beziehen, sodass die Verschwörung oft den Charakter einer Sündenbock-Ideologie annimmt.241 Vorstellungen von Kindes-, Mutter- oder Vatermord, Inzest oder anderweitiger Schandtaten verbreiten sich mit einer ungeheuren Geschwindigkeit, sobald der Zusammenhalt der Gemeinschaft bedroht ist. Der Inhalt der Anschuldigungen mag zwar absurd sein, aber ihre Existenz ist dennoch real. Allein, das Unwahrscheinlichste ist im Fall von Ödipus doch die Entstehung der Pest durch Vatermord und Inzest.
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Vgl. Girard: Die Pest in Literatur und Mythos, a. a. O., S. 157. Vgl. ebd., S. 167. Die Verbindung von Opfer, dem Heiligen und Königsmord in der Moderne werden bei Lynn Hunt am Beispiel der französischen Revolution erläutert. Lynn Hunt: The sacred and the French Revolution, in: Jeffrey C. Alexander: Durkheimian Sociology. Cultural Studies, Cambridge 1988, S. 25-43, S. 37ff. Vgl. Helmut Reinalter: Die Rolle von Sündenböcken in Verschwörungstheorien, in: Jósef Niewiadomski und Wolfgang Palaver (Hrsg.): Vom Fluch und Segen der Sündenböcke. Raymund Schwager zum 60. Geburtstag, Thaur 1995, S. 215-232. Auf S. 230 ist zu lesen: „Der Verschwörungsmythos ist als monokausale und stereotype Ideologie erklärt worden.“
„[D]as Thema ist mit Sicherheit imaginär, nur ist das kein Grund, um überall nur auf Imaginäres zu schließen – ganz im Gegenteil. Die Einbildungskraft, die dieses Thema erfindet, ist nicht jene Einbildungskraft, nach der sich einsame Literaten sehnen, es ist auch nicht das Unbewusste des psychoanalytischen Subjekts, sondern es ist das Unbewusste der Verfolger; es ist dasselbe Unbewusste, das den rituellen Kindsmord der Christen im römischen Reich und der Juden in der christlichen Welt ausdenkt.“242
Wenn man aber akzeptiert, dass die Anschuldigungen von Pest, Vatermord und Inzest frei erfunden sind, so muss es umso mehr verwundern, dass die Befriedung Thebens dennoch eintritt. Die Entdeckung des Schuldigen beseitigt schlagartig die Pest in Theben. Die gegenseitige Gewalt bringt die Krise auf ihren Höhepunkt, dann, als sich die Schuld auf Ödipus konzentriert, findet sie in der Ausstoßung des Schuldigen ihre Lösung. Insgesamt gleicht der Vorgang einer opferrituellen Katharsis; die gesamte Verantwortung wird en bloc auf einen Sündenbock übertragen. In dieser Hinsicht ist Ödipus mit dem bereits in Kapitel 3.1 vorgestellten pharmakos vergleichbar.243 Mario Vegetti zufolge ist in der Schlussszene des Ödipusdramas, in welcher Ödipus aus der Stadt Theben aufgrund seiner Schuld vertrieben wird, ein deutliches literarisches Echo dieses archaischen Ausstoßungsrituals zu sehen.244 Dabei kann der positive Effekt dieser Übertragung, die Befriedung der Gesellschaft, gedeutet werden als die nachträgliche Bestätigung des Orakelspruchs, das verlautbarte, dass, sobald die Blutschuld gesühnt werde, der Friede wieder eintreten könne. Der Mythos ist Verfolgungstext, wobei der Lynchmord von den Tätern niemals als Lynchmord dargestellt wird. Wenn die kollektive Übertragung der Gewalt auf ein Opfer funktionieren soll, so darf das Opfer niemals ausdrücklich als Opfer bezeichnet werden. Die Prozedur findet im Status der Verkennung, also in méconnaissance des Vorgangs statt. Das Opfer wird immer als tatsächlicher Verbrecher auftreten. „Ödipus ist ein Sündenbock im vollsten Sinne des Wortes, weil er nie als ein solcher bezeichnet worden ist.“245 Daher bedarf die Interpretation des Mythos, will man zum tatsächlich Geschehenen vordringen „einer radikalen Kritik, die imstande ist, die mythischen 242 243
244 245
Girard: Ausstoßung und Verfolgung, a. a. O., S. 43. Vgl. Mario Vegetti: Der Mensch und die Götter, in: Jean-Pierre Vernant (Hrsg.): Der Mensch der griechischen Antike, Frankfurt am Main 1991, S. 295-347, S. 304f. Vgl. ebd. Girard: Die Pest in Literatur und Mythos, a. a. O., S. 168.
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Themen als systematische Entstellungen der vorausgehenden Krise zu entschleiern.“246 Der spontane Mechanismus des Sündenbockopfers erscheint nun als die Ursache der Entstehung des Mythos, als der eigentliche Grund für die Auswahl der Themen, die im Mythos behandelt werden. Entsprechend wird die Struktur des Mythos durch einen soziologisch nachvollziehbaren und der Rekonstruktion zugänglichen Opfermechanismus erklärbar. Die für den Mythos als signifikant eingestuften Merkmale lassen sich wie folgt darstellen: Erstes Stereotyp: Die in Theben grassierende Pest-Epidemie ist Symbol eines sozialen Krisenzustands. Zweites Stereotyp: Die entdifferenzierenden Verbrechen sind Vatermord und Inzest. Drittes Stereotyp: Die Person, die diese entdifferenzierenden Verbrechen begeht, ist Ödipus. Viertes Stereotyp: Ödipus durchbohrt sich selbst die Augen und wird aus der Gemeinschaft ausgestoßen. Allerdings ist Ödipus in der Welt der griechischen Antike nicht nur als Verbrecher, sondern ebenfalls als religiöser Held verehrt worden. Dies ist aber keineswegs ein Einwand gegen die obigen Überlegungen. Das Opfer, so lautete ja die These, wird im Anschluss seiner Ausstoßung und der Pazifizierung der Gesellschaft als sakrales Wesen verehrt, wodurch das enge Nebeneinander von Hass und Anbetung verständlich wird. Wenn die Polarisierung, die sich in der Krise zwischen dem Opfer und allen anderen herstellt, zu einer spürbaren Heilung der Gesellschaft führt, dann bestätigt sich die Schuld des Opfers, aber nicht weniger offensichtlich ist deshalb seine Rolle als Retter. Diese Doppelung ist das Kennzeichen des Heiligen, ist die Ursache der Ambivalenz des Sakralen und der Zwiespältigkeit der Götter. Diese Ambivalenz spiegelt sich in den Mythen. Kurt Hübner spricht in seinen Darlegungen über die Wahrheit des Mythos entsprechend einer Einheit des Mythos, die Einheit zwischen grausam strafenden und freundlich milden Gottheiten.247 246 247
74
Ebd. Vgl. Kurt Hübner: Die Wahrheit des Mythos, München 1985, S. 208.
In einer zweiten Fassung des Ödipusmythos, die Rede ist von Ödipus in Kolonos248, erscheint Ödipus nicht mehr nur als das verfluchte Subjekt, sondern er wird sogar kostbar. Sein zukünftiger Leichnam wird zu einer Art Talisman, um den sich die Städte Athen/Kolonos und Theben erbittert streiten. Denn wenn man den Orakelsprüchen trauen darf, so berichtet Polyneikes seinem Vater Ödipus, „dann winkt die Macht denen, für die du bist.“249 Was ist vorgefallen? Verbannt aus Theben, gelangt der mittlerweile alte und blinde, zum heimatlosen und zerlumpten Bettler gewordene Ödipus nach Kolonos, einem ländlichen Vorort Athens, wo er den König Theseus um Asyl bittet und ihm im Gegenzug dafür seinen zukünftigen Leichnam anbietet. „Ödipus – Ich bin hier, um dir meinen elenden Leib zum / Geschenk zu machen. Nichts Kostbares daran zeigt sich den Augen – / doch der Gewinn durch ihn überwiegt die Schöngestalt. / Theseus – Was für Gewinn glaubst du zu bringen? / Ödipus – Mit der Zeit magst du begreifen, nicht in der Gegenwart. / Theseus – Mit der Zeit also wird deine Gabe offenbar werden? / Ödipus – Wenn ich sterbe und du mein Bestatter geworden sein wirst.“250
Theseus gewährt Ödipus daraufhin Asyl und seinen Schutz – obwohl Ödipus in den ersten Zeilen des Dramas noch als furchterregende Gestalt geschildert wird, vor dem die Einwohner von Kolonos erschrocken zurückweichen. Im Verlauf des Dramas vollzieht sich aber die bezeichnende Wandlung. Ödipus erscheint immer noch als gefährlich, ist aber plötzlich auch Heilsbringer. Der gutartige Ödipus nach der Verbannung lässt den bösartigen Ödipus zwar hinter sich, hebt ihn aber nicht vollständig auf. Während alle früheren Gewalttaten die Gewalt jeweils nur verstärkt haben, ließ die Gewalt gegen das Opfer Ödipus alle Gewalt wundersam zu einem Ende kommen.251 Ödipus, das versöhnende Opfer, das Opfer, das Gewalt erleidet, ohne neue Vergeltungsmaßnahmen hervorzurufen, wird zur sakralen Gestalt – eine Gestalt, die erst die Pest säte, um dann den Frieden einzufahren. Dass sich Ödipus dabei seiner Rolle im Grunde selbst nicht bewusst ist, dass er allenfalls eine vage Ah248
249 250 251
Sophokles: Ödipus in Kolonos, vom Altgriechischen ins Deutsche übertragen von Peter Handke. Mit einem Anhang: Die Reise nach Kolonos, Frankfurt am Main/Leipzig 2005. Sophokles: Ödipus in Kolonos, a. a. O., S. 108. Ebd., S. 57. Vgl. Girard: Ausstoßung und Verfolgung, a. a. O., S. 47.
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nung seiner eigenen Bestimmung hat, zeigt sich in der Passage, in der ihm Ismene, die treue Tochter, seinen neuen Status mitteilt: „Ödipus – Wer kann denn etwas haben von einem Menschen wie mir? / Ismene – Aus dir, so sagen sie, entsteht ihnen die Kraft. / Ödipus – Sowie ich nichts mehr bin, bin ich demnach ihr Mann? / Ismene – Denn jetzt richten die Götter dich auf, / während sie zuvor dich niedermachten.“252
4.3 »Strukturalistische« und »Mimetische« Mytheninterpretation Zwischen der mimetischen Theorie René Girards und der strukturalistischen Mytheninterpretation, wie sie von Claude Lévi-Strauss formuliert wurde, bestehen bemerkenswerte Parallelen im Hinblick auf das Phänomen des Sündenbocks.253 In beiden Theorien finden sich Formulierungen, die sich zum Teil wortwörtlich decken und theoretisch stützen. In Das Ende des Totemismus analysiert LéviStrauss die Ursprungsmythen von zwei unterschiedlichen, geographisch weit auseinander lebenden Völkern, die aber in spezifischen Punkten starke Ähnlichkeiten erkennen lassen. Der erste Mythos stammt vom Volk der Ojibwa aus Nordamerika.254 Die Ojibwa, so Lévi-Strauss, waren in mehrere Dutzend Clans organisiert, von denen sich fünf allerdings eines besonderen Prestiges innerhalb der Gemeinschaft erfreuten, da sie aus unbekannten Gründen als ursprünglicher als die anderen galten.255 Ein Mythos berichtet nun, dass diese „fünf ‚ursprünglichen‘ Clans auf sechs anthropomorphe und übersinnliche Wesen zurückgehen, die aus dem Ozean heraufgestiegen sind, um sich unter die Menschen zu mischen. Eins von ihnen hatte verbundene Augen und wagte die Indianer nicht anzublicken, obwohl es dazu große Lust zu haben schien. Unfähig, sich im Zaume zu halten, riss es sich die Binde ab und sein Blick fiel auf einen Mann, der sofort wie vom Blitz getroffen starb. Denn trotz freundschaftlichen Verhaltens des Besuchers war sein Blick zu stark. Seine Begleiter zwangen es also, auf den Meeresgrund zurückzukehren. Die fünf anderen blieben nun bei den Indianern und
252 253 254 255
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Vgl. Sophokles: Ödipus in Kolonos, a. a. O., S. 38f. Vgl. Chris Fleming: René Girard. Violence and Mimesis, Cambridge 2004, S. 84. Vgl. Claude Lévi-Strauss: Das Ende des Totemismus, Frankfurt am Main 1965, S. 30. Vgl. ebd.
verschafften ihnen vielerlei Segnungen. Sie stehen am Ursprung der großen Clans oder Totems: Fisch, Kranich, Taucher, Bär, Elch oder Marder.“256
Der andere Mythos, der von Lévi-Strauss analysiert wird, stammt aus Polynesien.257 Man beachte die deutlich erkennbaren strukturellen Parallelen, denn auch hier fällt die Vertreibung eines Gottes mit dem Ursprung der Kultur zusammen. „Vor sehr langer Zeit unterschieden sich die Götter nicht von den Menschen, und die Götter waren auf der Erde die direkten Vertreter der Clans. Nun geschah es, dass ein fremder Gott, Tikarau, in Tikopia einen Besuch abstattete und die Götter des Landes für ihn ein großartiges Fest vorbereiteten; aber vorher organisierten sie Kraft- und Schnelligkeitsprüfungen, um sich mit ihrem Gast zu messen. In vollem Lauf gab dieser zu stolpern vor und erklärte, er sei verwundet. Aber während er zu hinken vorgab, sprang er zu der angehäuften Nahrung und schleppte sie zu den Hügeln. Die Familie der Götter stürzte zu seiner Verfolgung davon; diesmal fiel Tikarau ernstlich, sodass die Clan-Götter ihm, der eine eine Kokosnuss, der andere eine Taro, der dritte eine Frucht des Brotbaums und die letzten eine Igname entreißen konnten […]. Tikarau gelang es den Himmel mit der Masse des Festmahls zu erreichen, aber die vier pflanzlichen Lebensmittel waren für die Menschen gerettet worden.“258
Lévi-Strauss hebt die strukturellen Gemeinsamkeiten, die „Homologie“259 der beiden Mythen hervor. Dabei legt er den Schwerpunkt auf die Beseitigung einzelner Elemente, die aus einer ursprünglichen Ganzheit stammen. Diese Operation sei gleichbedeutend mit einem Differenzierungsprozess.260 Aus einem undifferenzierten, ursprünglichen Zustand entsteht durch die Ausdifferenzierung von überschüssigen Elementen eine differenzierte Ordnung, in diesem Fall das Totemismus-System. Denn sowohl im Ojibwa-, als auch im Tikopia-Mythos wird Lévi-Strauss zufolge das Totemismus-System als das eingeführt, was von „einer entleerten Ganzheit übrig bleibt; das kann ein Ausdruck dafür sein, dass die Begriffe des Systems nur gelten, wenn sie voneinander getrennt werden, da nur sie allein zurückbleiben, um ein ursprünglich besser ausgefülltes semantisches Feld, in das die Diskontinuität eingedrungen ist, zu bestücken.“261 256 257 258 259 260 261
Ebd. Vgl. ebd., S. 38. Ebd., S. 38. Ebd., S. 30. Vgl. ebd., S. 39. Ebd., S. 39.
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Diese topologische Argumentation wird von Lévi-Strauss in der Mythologica I. Das Rohe und das Gekochte weiter spezifiziert.262 Die Grundannahme lautet, dass die Fähigkeit des Denkens auf der Fähigkeit zur Differenzierung beruht. Differenzierung ist nur vorstellbar, wenn spezifische Elemente auseinander treten und so unterscheidbar werden. Lévi-Strauss meint, dass in den Mythen ein Zustand geschildert wird, der einer ursprünglichen Totalität, einer undurchdringbaren Masse von Elementen, die so komprimiert ist, dass eine Differenzierung und somit auch das Denken selbst unmöglich sind, gleichkommt. Es sind so viele ununterscheidbare Elemente auf so engem Raum versammelt, dass die denkerische Suchbewegung nicht in Gang kommt.263 Unter derartigen Bedingungen genügt es nun, ein Element aus der ursprünglichen Totalität zu entfernen, um den Prozess der Differenzierung anzustoßen. Die Kontinuität der ursprünglichen Totalität weicht der Diskontinuität menschlichen Denkens. Lévi-Strauss schreibt: „In jedem Fall wird diese Diskontinuität durch die radikale Beseitigung bestimmter Stellen des Kontinuums erzielt. Diese ist ärmer geworden, und weniger zahlreiche Elemente können nun bequem im selben Raum sich entfalten, während die Entfernung, die sie voneinander trennt, nunmehr hinreichend groß ist, sodass sie nicht aufeinander übergreifen oder ineinander verfließen.“264
Das mythologische Drama wird also in der strukturalistischen Interpretation als eine allegorische Dramatisierung eines Denkprozesses dargestellt. Es geht um die Erzeugung von raumschaffenden Differenzen, die zu einer Ordnung führen. Gedankliche und soziale Ordnung beziehungsweise Chaosvermeidung überhaupt ist das Ziel des wilden Denkens. Die Forderung nach Ordnung ist die Grundlage des primitiven Denkens, aber nur insofern, als es die Grundlage jedes Denkens ist: Denn unter dem Blickwinkel der gemeinsamen Eigenschaften finden wir zu den Denkformen, die uns sehr fremd sind, leichter Zugang.265
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Vgl. Claude Lévi-Strauss: Mythologica I. Das Rohe und das Gekochte, Frankfurt am Main 1971, S. 76. Vgl. ebd. Ebd., S. 76. Vgl. Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken, Frankfurt am Main 1968, S. 21.
Lévi-Strauss bemerkt nun, dass eine Ordnung beziehungsweise ein Denksystem mitunter auch „aus der Zerstörung von Elementen“266 hervorgehen kann. Im Unterschied zu Lévi-Strauss, der der Mythologie die Funktion einer Zeichen und Bedeutung hervorbringenden Verstandesoperation zuweist, vermutet nun Girard, der Lévi-Strauss bis zu diesem Punkt noch folgt, dass der Mythos eine historische Realität widerspiegelt, nämlich die Urtötung. Zwar herrscht insofern Einvernehmen mit der Deutung von Lévi-Strauss, dass die von den Mythen erzählte Beseitigung eines Restes aus dem Ganzen eine überzeugende Erklärung für die primäre Differenzierung und somit auch für das Entstehen des menschlichen Denkens bietet. Der Vorteil der Analytik Girards ist jedoch darin zu sehen, dass er überdies erklären kann, wie und warum es überhaupt zu diesem Prozess kommt, in dem die Differenzierung die Ordnung der Gesellschaft hervorbringt.267 Die Tragödie Die Bacchantinnen von Euripides, in der das Geschehen des Dionysos-Mythos verarbeitet wird, kann ebenfalls als Beispiel einer radikalen Beseitigung aufgefasst werden und zur weiteren Erhellung des hier umschriebenen Problems dienen.268 Im Speziellen geht es um die Pentheus-Episode. Der Gott des Rausches und des Weines, Dionysos, Sohn der sterblichen Semele und des göttlichen Zeus, kehrt in Menschengestalt zur Heimat seiner Mutter zurück, um seinen Kult zu verbreiten. Der König von Theben, Pentheus, begeht aber aus Sicht der Anhänger von Dionysos eine lästerliche Handlung nach der anderen. Den Gipfel der Gotteslästerung stellt Pentheus’ misslingender Versuch dar, Dionysos steinigen zu wollen. Seinen Dienern erteilt Pentheus den folgenden Befehl: „Wenn / Ihr in gefasst habt, legt in Ketten ihn und führt / Ihn her, damit den Steinigungstod er sterbe, so / ein bittres ‚Bakchosfest‘ erleb in Theben hier!“269 Zum endgültigen Verhängnis wird Pentheus seine voyeuristische Neugierde. Er spioniert bei den Bacchantinnen, den Anhängerinnen von Dionysos. Im Frauengewand verkleidet nähert sich Pentheus dem verbotenen Geschehen. Aufgrund dieser negativ bewerteten Handlung wird er nun zu dem Element, das beseitigt wird. Am Ende bringt Dionysos Agaue, die Mutter von Pentheus, gar 266 267 268 269
Lévi-Strauss: Mythologica I, a. a. O., S. 77. Vgl. Golsan: René Girard and Myth, a. a. O., S. 69ff. Vgl. ebd. Euripides: Die Bakchen. Tragödie, hrsg. und übersetzt von Oskar Werner, Stuttgart 1968, S. 16.
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dazu, Pentheus im Wahn den Kopf abzureißen.270 Erst nach Pentheus Tod findet die fürchterliche Raserei ihr Ende. Wo zuvor Kadmos das kollektive Delirium beklagte – „Ihr rastet, ganz verfiel bakchischer Wut die Stadt“271 – kehrt nun wieder Ruhe ein. Die Elimination von Pentheus wird also positiv bewertet. Der Wille des Gottes wird erfüllt und die Ordnung in der Stadt Theben wieder hergestellt. An dieser Stelle stellt Girard nun eine bemerkenswerte Verbindung zwischen Euripides und Claude Lévi-Strauss her, indem er die überlegene Einsicht in die Struktur des Mythos dem Ersteren zubilligt! Die strukturale Analyse von Das Ende des Totemismus sei nicht etwa auf die Bacchantinnen, sondern Die Bacchantinnen seien auf Das Ende des Totemismus zu beziehen. „Denn die überlegene Intuition des Euripides mag am Ende den Strukturalisten zu einem Verständnis dessen zwingen, worüber er spricht.“272 Dank Euripides und Die Bacchantinnen lassen sich Girard zufolge zwei eng zusammengehörende Beobachtungen aufeinander beziehen, die bei Lévi-Strauss noch unverbunden geblieben sind. Denn erst jetzt werde verständlich, warum das beseitigte Element immer auch eine negativ bewertete Handlung begehen muss: Die Beseitigung ist ein realer Mord, für den das Kollektiv aber eine Rechtfertigung bereitstellen muss. Die negativ bewertete Handlung ist also die Unterstellung einer verbrecherischen Tat, die durch den kollektiven Mord am Opfer verhindert beziehungsweise bestraft werden soll.273 Allerdings berichten die Mythen niemals unverschlüsselt von der Anwendung von Gewalt, was aber nicht bedeutet, dass der Mythos nicht in erster Linie die Gewalt thematisiert. Die diesbezügliche Argumentation Girards hebt an mit folgender Frage: „Doch was ist mit Tikarau selbst? Auch er wird ja radikal beseitigt.“274 Auch im Falle des Ojibwa-Mythos war der Kandidat für das radikal beseitigte Element ja der Gott, der, nachdem er ein Stammesmitglied mit seinem zu starken Blick tötete, auf den Meeresgrund zurückgeschickt wurde. LéviStrauss selbst betont das verderbliche Verhalten des Gottes: „In beiden Mythen 270 271 272
273 274
80
Vgl. ebd., S. 43. Ebd., S. 50. René Girard: Gewalt und Repräsentation im mythischen Text, in: Ders.: Die verkannte Stimme des Realen. Eine Theorie archaischer und moderner Mythen, Wien 2005, S. 23-53, S. 32. Vgl. ebd. Ebd., S. 26.
hängt das individuelle und schädliche Verhalten von einem gierigen und indiskreten Gott ab (der übrigens eine gewisse Ähnlichkeit mit dem skandinavischen Loki aufweist, den Georges Dumézil ausgezeichnet untersucht hat.)“275 Indirekt lenkt Lévi-Strauss die Aufmerksamkeit auch auf den Gegenpol des individuellen Verhaltens, nämlich die kollektive Reaktion, also auf jenes kollektive Verhalten, das eine Bedrohung des Kollektivs radikal beseitigt, indem es ein schädliches individuelles Verhalten korrigiert. Diesen Sachverhalt aufgreifend argumentiert nun Girard: „Wenn wir das topologische Modell aufgeben und uns auf die Beobachtungen konzentrieren, von denen es nicht Rechenschaft zu geben vermag, dann werden wir sehen, dass die radikale Beseitigung in Wahrheit auf kollektive Gewalt gegen den göttlichen Schurken, auf eine Art Lynchmord hinausläuft. In dem Ojibwa-Mythos haben wir fünf Individuen, die zusammenwirken, um sich ein sechstes vom Hals zu schaffen, vermutlich durch Ertränken. In dem TikopiaMythos jagt ein rasender Mob einen mutmaßlichen Dieb. Warum und wie sollte Tikarau stürzen, wenn er sich doch in den Himmel erhebt?“276
Gemäß der von Girard entwickelten Opferlogik erhob sich Tikarau also vermutlich nicht in den Himmel, sondern wurde vielmehr von einer Felsklippe gestürzt. Derartige Formen der Hinrichtung waren in vielen Gesellschaften durchaus üblich. So berichtet noch das christliche Evangelium, auf das später zurückzukommen sein wird, davon, dass die Menge nach einer Rede Jesu in Zorn geriet: „Als die Leute in der Synagoge das hörten, gerieten sie alle in Wut. Sie sprangen auf und trieben Jesus zur Stadt hinaus; sie brachten ihn an den Abhang eines Berges, auf dem ihre Stadt erbaut war, und wollten ihn hinabstürzen.“277 Auch im antiken Rom war die Hinrichtung durch den Sturz vom Tarpejischen Felsen, dem Westabhang des Kapitols, üblich, um bestimmte Verbrechen zu sühnen, die gegenüber der Gemeinschaft so schwer wogen, dass sich jede Wiedergutmachung verbot.278
275 276 277
278
Lévi-Strauss: Das Ende des Totemismus, a. a. O., S. 39. Girard: Gewalt und Repräsentation im mythischen Text, a. a. O., S. 29. Lk 4,28. Vergleichbar ist eine Episode aus dem Johannesevangelium, Joh 8,59, in der Jesus von den aufgebrachten Juden gesteinigt werden soll: „Da hoben sie die Steine auf, um sie auf ihn zu werfen. Jesus aber verbarg sich und verließ den Tempel.“ Vgl. Girard: Gewalt und Repräsentation im mythischen Text, a. a. O., S. 30.
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Der Sturz von der Klippe hat wichtige Merkmale mit anderen archaischen Arten der Hinrichtung gemeinsam, zum Beispiel mit dem Aussetzen eines Opfers in überlebensfeindlicher Umgebung.279 Immer geht es darum, die Gemeinschaft zu schützen und Verbrechen zu sühnen, ohne sich mit unreiner Gewalt anzustecken. Der Delinquent soll die Gemeinschaft noch lebendig verlassen, denn es ist, so Roger Caillois, gefährlich geworden, sich unmittelbar an seinem Leben zu vergreifen.280 Einen Menschen überlässt man beispielsweise in einem abgetakelten Boot dem Meer. Um ganz sicherzugehen, fesselt man ihm zuweilen die Hände und bohrt das Boot an. Nimmt sich der Staat der Aufgabe der Ausstoßung an, beauftragt er einen Henker, der alsbald der Verachtung anheimfällt, da sich alle von ihm fernhalten und er außerhalb der Gemeinschaft leben muss, so als ob er die Summe der Verunreinigungen, von denen er seine Mitmenschen befreit, auf sich geladen hätte. Immer werden von den verantwortlichen Beamten akribische Vorsichtsmaßnahmen getroffen, damit die gefürchtete Ansteckung sich anlässlich einer Hinrichtung nicht in der Gruppe ausbreitet.281 Derartige Methoden erlauben es der Gemeinschaft, sich eines Beschuldigten zu entledigen, ohne mit ihm in engeren Kontakt treten zu müssen.282 Eine Gemeinschaft entschließt sich dennoch nie leichthin dazu, ein Mitglied zu töten, denn eine Hinrichtung setzt in der Regel Berührung voraus, es besteht also die Gefahr, dass die Verunreinigung auf die Gruppe übergreift. Aus diesem Grund wird der Verbrecher ausgestoßen und ohne Waffen und Nahrung an die Grenze des einheimischen Reviers gebracht. Es bleibt Fremden, Tieren oder den Elementen überlassen, ihn zu Tode zu bringen.283 Gerade bei einer Felsklippe kann die Gemeinschaft völlig passiv bleiben. Ihre Rolle beschränkt sich darauf, den Fluchtweg für das Opfer zu versperren, sodass das Opfer in Panik gerät und dann von allein fällt, also gar nicht mehr aktiv gestoßen werden muss. Das Opfer wird einfach stürzen, eben so, wie Tikarau aus angeblich eigenem Willen zum Flug in den Himmel ansetzt. In der Realität endet der Sturz mit
279 280 281
282 283
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Vgl. Caillois: Der Mensch und das Heilige, a. a. O., S. 58. Vgl. ebd. Vgl. Werner Gephart: Recht als Kultur. Zur kultursoziologischen Analyse des Rechts, Frankfurt am Main 2006, S. 213. Vgl. Caillois: Der Mensch und das Heilige, S. 59. Vgl. ebd.
dem Tod, nicht mit der Himmelfahrt.284 Tikarau wird vorgeworfen, er habe die Totemgüter, also das gesamte kulturelle System, gestohlen. Seine Handlung bedroht somit die Gemeinschaft als Ganze und rechtfertigt daher in den Augen der Gemeinschaft die einträchtige Beteiligung am Mord. Das gleiche gilt für den Ojibwa-Gott. Nur das Eingreifen der anderen Götter kann verhindern, dass der mörderische Blick des zu neugierigen Gefährten noch weitere Mitglieder der Gemeinschaft umbringt.285 Allerdings kann man weder eine kulturelle Ordnung stehlen, noch kann man einen Menschen allein mit seinem Blick töten. Derartige Anschuldigungen, die in verschiedenen Mythen immer wieder auftauchen, gehören sicher in das Reich des Phantastischen. Allerdings sind die soziologischen Implikationen derartiger Anschuldigungen bislang nur unzureichend erforscht. Der böse Blick als transkulturell beobachtbares Phänomen ist mitnichten reiner Aberglaube. Nur weil die Inhalte der Beschuldigungen unglaubwürdig sind, bedeutet dies keineswegs, dass die Beschuldigungen nicht tatsächlich auch geäußert wurden. So führt beispielsweise eine Studie über den Bösen Blick von Thomas Rakoczy diesen haltlosen Vorwurf auf allzu menschliches zurück: den Neid.286 Das Vorkommen des bösen Blicks in einem Mythos berechtigt keineswegs dazu, aus ihm das Erzeugnis reiner Imagination zu machen, denn er hat in einem realen Ereignis seine Ursache. Sobald bloß das Gerücht umgeht, jemand habe den bösen Blick, lässt sich jedes Missgeschick der Gemeinschaft problemlos als weitere Bestätigung dafür auffassen, dass der Vorwurf auch gerechtfertigt ist, denn hinter dem bösen Blick wird „das Werkzeug böser Dämonen oder des Teufels (auch diesem wurde […] der böse Blick zugeschrieben)“287 vermutet. Aufgrund seiner Wirkung und seiner völligen Unbestimmtheit ist der böse Blick als Anschuldigungsinstrument hervorragend geeignet, weil er keiner rationalen Widerlegung zugänglich ist. Die Macht des bösen Blicks muss nicht einmal vorsätzlich ausgeübt werden. Die guten Absichten des Ojibwa-Gottes retten den Indianer nicht, auf den sein Blick zufällig fiel.288 Wenn erzählt wird, dass sich Ti284 285 286
287 288
Vgl. Girard: Gewalt und Repräsentation im mythischen Text, a. a. O., S. 30. Vgl. ebd. Vgl. Thomas Rakoczy: Böser Blick, Macht des Auges und der Neid der Götter. Eine Untersuchung zur Kraft des Blicks in der griechischen Literatur, Tübingen 1996, S. 39ff. Ebd., S. 276. Vgl. Lévi-Strauss: Das Ende des Totemismus, a. a. O., S. 30.
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karau von der Klippe in den Himmel enthob und zudem der Kultur ihren Frieden bringt, dann wird im Mythos der Standpunkt der Wahrheit der Gemeinschaft vertreten. Tikarau wurde kollektiv gelyncht und anschließend zum Heilsbringer der Gemeinschaft ausgerufen; sein Sturz wird sakralisiert, indem er zur Himmelfahrt umgeschrieben wird. Schließlich wird er verehrt als Stifter der Gemeinschaft und der sozialen Ordnung. Der Mythos, so das abschließende Resümee, ruft also die Krisen und den Gründungsmord in Erinnerung sowie die Ereignisfolge, die für die Konstitution und gegebenenfalls erforderliche Rekonstitution einer jeden Kulturordnung notwendig ist.289
289
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Vgl. Golsan: René Girard and Myth, a. a. O., S. 67.
5. Heilige Gewalt und das soziologische »Problem sozialer Ordnungsbildung«
Die Analyse des Mythos hatte zum Ergebnis, dass der Gewalt eine generative Funktion unterstellt werden muss, die wiederum einen engen Zusammenhang zwischen dem Heiligen und der Konstitution der Gesellschaft hervorbringt. Dabei wird mit der Vorstellung Hannah Arendts gebrochen, die die Gewalt ausschließlich als destruktive Macht erkannte: So „läßt sich doch kaum leugnen, dass ein Abgrund die wesentlich friedlichen Tätigkeiten des Denkens und Arbeitens von allen Tätigkeitsformen der Gewalt trennt.“290 Aber ist nach dem bisher Gesagten der bestürzende Sachverhalt tatsächlich ausgeschlossen, dass der Gewalt eine begründende Kraft, dass ihr sogar eine gestalterische Dimension inhärent ist?291 Gesellschaftsanalysten wie Wieviorka oder Girard betonen die Schöpfungsfunktion der Gewalt ganz ausdrücklich. Letzterer erklärt sogar, dass eine Gründungsgewalt die Matrix aller mythischen und rituellen Bedeutungen sei.292 Hinter dem Begriff der Gründungsgewalt steht die Vorstellung, dass am Ursprung der Gesellschaft ein Zustand der Gewalt herrscht, der aber durch ein allererstes Opfer gebannt werden kann. Die Gesellschaft taucht aus ihrer Gewalt auf und es kommt zur spontanen Bildung der sozialen Elementarinstitutionen. Stefano Tomelleri resümiert: „Der Mensch, seine Sprache, seine Kultur, seine Sitten, Symbole und Regeln sind aufs engste mit der Gewalt verbunden.“293 Auch die Bildung handlungsnormierender Rechtsinstitutionen steht in einem en290 291 292 293
Hannah Arendt: Macht und Gewalt, 18. Aufl., München 2008, S. 17. Vgl. Wieviorka: Die Gewalt, a. a. O., S. 199. Vgl. Girard: Das Heilige und die Gewalt, a. a. O., S. 168. Stefano Tomerelli: Ressentiment und Dekonstruktion, in: Bernhard Dieckmann (Hrsg.): Das Opfer. Aktuelle Kontroversen. Religions-politischer Diskurs im Kontext der mimetischen Theorie. Beiträge zur mimetischen Theorie, Band 12, Münster/Hamburg/London 2001, S. 281-292, S. 282.
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gen Zusammenhang mit heiliger Gewalt. Auf der Suche nach dem grundlosen Grund des Rechts bemerkt Werner Gephart, dass der Geltungsgrund des Rechts schon immer eng mit der Verbindung des Heiligen und der Gewalt verschlungen war. „Die Gewalt steht dem ‚Heiligen‘ nahe, einer nicht judifizierbaren ‚Gerechtigkeit‘, wie sie die Religionen stiften, nicht aber innerweltliche Ordnungen zu stiften vermögen.“294 Gegen die beunruhigende These einer vom Mythos indirekt angezeigten Gründungsgewalt wendet nun Joachim Negel ein, dass dieser Mytheninterpretation ein logischer Fehlschluss zugrunde läge.295 Negel stellt gewissermaßen die Frage nach den vorsozialen Elementen des Sozialen mit Bezug auf die Urtötung. Er formuliert die Kritik wie folgt: „Jede menschliche Gemeinschaft […] entspringt einem gewalttätigen Gründungsereignis. Damit aber der […] antagonistische Konflikt, der den Gründungsmechanismus in Gang setzt, überhaupt stattfinden kann, muss eine Gemeinschaftsbildung (so rudimentär sie auch immer sein mag) schon vorhanden sein. Insofern setzt die Theorie voraus, was sie zu erklären vorgibt.“296
Tatsächlich scheint ein das Opferkultsystem zuerst begründende Ur-Opfer innerhalb der Theorie Girards keinen sozial lokalisierbaren Punkt zu haben, der seinem Heraufkommen präexistiert. Systemtheoretisch betrachtet handelt es sich hier um den absolut differenzlosen, den leeren „unmarked state“297, von dem Niklas Luhmanns Überlegungen ihren soziologischen Ausgang nehmen. Luhmann selbst würdigt aber die Besonderheit der Opfertheorie Girards und sieht ihre soziologische Ausnahmestellung darin begründet, dass sie diese anfängliche Ungeschiedenheit – also den ‚unmarked state‘ – nicht schlicht voraussetzt, sondern ihrerseits noch zu erklären versucht als indiffératiation primordiale.298 In der Tat kann das von Negel aufgeworfene Theorieproblem, die Frage nach der ersten Differenz, abgefedert werden durch die Rekonstruktion eines 294 295
296 297
298
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Werner Gephart: Recht als Kultur, a. a. O., S. 186. Vgl. Joachim Negel: Ambivalentes Opfer. Studien zur Symbolik, Dialektik und Aporetik eines theologischen Fundamentalbegriffs, Paderborn 2005, S. 467. Ebd. Niklas Luhmann: Die Weisung Gottes als Form der Freiheit, in: Ders.: Soziologische Aufklärung, Band 5: Konstruktivistische Perspektiven, 3. Aufl., Wiesbaden 2005, S. 75-91, S. 85. Vgl. ebd.
Hominisationsprozesses. Die Schwelle vom Tier zum Menschen wird dort überschritten, wo in einer instinktgesicherten, prähominiden Urhorde die Gewalt zum ersten Mal zur Bezeichnung eines Opfers führt. Um die These eines Hominisationsprozesses einführen zu können, muss angenommen werden, dass auch vor der Hominisation eine Gewaltentgrenzung möglich gewesen ist und dass sie ein Stadium erreichen konnte, in dem eine instinktive Eindämmung nicht mehr erfolgen konnte. Die Studien des Biologen Konrad Lorenz über Aggressionen im Tierreich führen vor Augen, dass eine derartige Gewaltentfesselung nicht unwahrscheinlich gewesen ist. Im Allgemeinen, so Lorenz, unterschätze man die unentbehrliche Rolle, die die Gewalt im großen Konzert der Triebe spiele. Gewalttätiges Verhalten sei mitunter sogar produktiv für die Arterhaltung, da es ein Selektionskriterum einführe, dass zum Überleben des besser Angepassten und des Stärkeren führe: „Gerade die Einsicht, dass der Aggressionstrieb ein echter, primär arterhaltender Instinkt ist, lässt uns seine volle Gefährlichkeit erkennen.“299 Folgt man diesem Gedanken, so erscheint es durchaus plausibel, dass der Aggressionstrieb ab einem bestimmten Intensitätspunkt zu einer Situation der eskalierenden, der reziproken Gewalt geführt hat, die in einer Situation reziproker Rachebewusstheit, nun unter gerade gewordenen Menschen, endete.300 Im dramatischen Erleben des ersten Antagonismus und seiner Lösung durch die erste Epiphanie des Heiligen wird der Mensch sich seiner selbst bewusst. Analog zu Immanuel Kant, der die These vertrat, dass die Menschheitsgeschichte damit beginne, dass der Mensch seine „Rohheit eines bloß thierischen Geschöpfs“301 überwinde, indem er die Vernunft ergreift und erst so zum Menschen wird, wird ein Zusammenhang zwischen der Entstehung des ersten Zeichens, des ersten
299
300
301
Konrad Lorenz: Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression, 25. Aufl., München 2007, S. 49. Vgl. René Girard: Things hidden since the foundation of the World. Research undertaken in collaboration with Jean-Michel Oughourlian and Guy Lefort, Stanford 1987, S. 84ff. Immanuel Kant: Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, in: Ders.: Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Band VIII, Erste Abteilung: Werke, Berlin 1912, S. 107-124, S. 115.
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Symbols und der ersten Gemeinschaftsbildung durch die am Anfang der menschlichen Kultur vorgenommene Bezeichnung eines Sündenbocks hergestellt.302 Dies bedeutet, dass das Reich des animalischen Instinkts verlassen ist, sobald sich die heilige Gewalt zum ersten Mal auf ein zufällig gewähltes Uropfer entlädt. Diese primäre Fokussierung auf das Opfer stellt mit einem Schlag eine erste, wenngleich noch sehr rudimentäre Bezeichnung der Dinge dar. Die erste Symbolisierung der Welt entsteht. „So verstanden scheint der Sündenbockmechanismus sämtliche Bedingungen zu erfüllen, die zur Entstehung eines transzendenten Signifikats führen: das Bezeichnende ist das Opfer, das Bezeichnete ist die gefährdete Einheit der Gemeinschaft, und aus ihrer Verbindung entspringt das Zeichen par excellence, das Urzeichen überhaupt: das versöhnende Opfer.“303 Die in der Opferung des Sündenbocks ausgeübte Gewalt, die den Frieden plötzlich wieder herstellt und seitdem in periodischen Abständen im Kultus kommemoriert wird, generiert somit die allererste Bedeutung, die der Mensch der Welt zu verleihen imstande ist und die ihm als Mensch vom Tier unterscheidet.304 Die Gründungsgewalt markiert somit den „hominiszenten Augenaufschlag“305, denn in diesem Augenblick entsteht jene Matrix, der alle künftigen Zeichenordnungen zugrunde liegen – bis hin zur oral artikulierten oder schriftlich fixierten Sprache.306 Durch das Opfer lässt sich nicht nur eine Theorie der Entstehung von sozialen Zeichen formulieren, sondern darüber hinaus die für jede Religion grundsätzliche Differenz zwischen dem Profanen und dem Heiligen sowie die Differenz von Raum und Zeit erklären. Dabei lässt sich die „Differenzierung des ‚Heiligen‘ und des ‚Profanen‘ […] als Urbild sozialer Differenzierung begreifen, das auf die säuberliche Scheidung der Sphären dieser Welt insistiert.“307
302
303 304 305 306 307
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Vgl. Jean Greisch: Homo Mimeticus. Kritische Überlegungen zu den anthropologischen Voraussetzungen von René Girards Opferbegriff, in: Richard Schenk (Hrsg.): Zur Theorie des Opfers. Ein interdisziplinäres Gespräch, Stuttgart/Bad Cannstatt 1995, S. 27-63, S. 41. Ebd. Vgl. Girard: Things Hidden since the Foundation of the World, a. a. O., S. 99. Ludwig Kuon: René Girard und die Wahrheit des Romans, a. a. O., S. 74. Vgl. Greisch: Homo Mimeticus, a. a. O., S. 41. Gephart: Gesellschaftstheorie und Recht, a. a. O., S. 416.
Diese Ur-Differenzierung lässt sich nun wie folgt beschreiben: Das Opfer wird heilig, die Gesellschaft bleibt profan. Der Opfermechanismus teilt die Zeit in ein Vorher, die Zeit der Gewalt beziehungsweise der Krise, und ein Nachher, also die Zeit des Friedens. Die Ordnung des sozialen Raumes ergibt sich daraus, dass das Opfer durch seine Ausstoßung aus der Gemeinschaft das Außen der sozialen Welt repräsentiert, während die Gemeinschaft das Innen bildet.308 Das Opfer darf getötet werden, aber niemand sonst. Dementsprechend erläutert Mircea Eliade, es sei zuerst die Unterscheidung von heiligem und profanem Raum gewesen, die den archaischen Kulturen ihre primäre soziale Orientierung ermöglichte.309 Sein Interesse gilt dem Bauopfer, das in Verknüpfung mit verschiedenen mythischen Erzählungen von der Entstehung der Welt gedeutet wird. Diese Kosmogonien berichten, dass die Welt und der gesamte Kosmos aus der gewaltsamen Opferung eines urzeitlichen Wesens heraus entstanden sei. Diese schöpferischen Mordtaten verleihen der Gesellschaft ihre wesentlichen Konturen und ermöglichen ihr, so Eliade, den Übergang vom Virtuellen und Amorphen zum Gestalteten.310 Die These der ordnungsstiftenden Kraft des Opfers lässt sich ebenfalls auf die Studien Durkheims beziehen, der die These vertrat, dass „alle großen Institutionen aus der Religion geboren wurden.“311 Diese Idee lässt sich nun opfertheoretisch wie folgt fortschreiben: „Um Durkheims Ansätze zu vervollkommnen, gilt es zu verstehen, dass das Religiöse eins ist mit dem versöhnenden Opfer, das die Einheit der Gruppe zugleich gegen sich selbst und um sich herum gründet.“312 Dabei geht es mitnichten darum, das Religiöse mit dem Sozialen bedachtlos zusammenfallen zu lassen. Dieser bereits Durkheim entgegengehaltene Vorwurf des Soziologismus vermag nicht grundlegend zu treffen. Mit René König lässt sich festhalten, dass Durkheim vielmehr zu zeigen suchte, dass die „Gesellschaft ohne Religion nicht existenzfähig wäre.“313 Die wissenschaftliche Direktion der hier im Anschluss an Girard entfalteten Annahmen ist keine andere: 308 309
310 311 312 313
Vgl. Palaver: René Girards mimetische Theorie, a. a. O., S. 228. Vgl. Mircea Eliade: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt am Main/Leipzig 1984, S. 51. Vgl. ebd. Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, a. a. O., S. 561. Girard: Das Heilige und die Gewalt, a. a. O., S. 454. König: Emile Durkheim zur Diskussion, a. a. O., S. 250.
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Die zentrale Formel lautet, dass keine Gesellschaft ohne das Opfer und seine gewalteingrenzende Wirkung überlebt hätte. Der Prozess der Hominisation in Verbindung mit der Entstehung der ersten sozialen Gemeinschaft, die eben nicht mehr instinktgesicherte Tier-, sondern jetzt humane Zeichen-Gemeinschaft ist, richtet sich zugleich gegen die seit Thomas Hobbes gängige Theorie des Ursprunges der Gesellschaft im Vertrag. Der Naturzustand bei Hobbes ist dem Zustand einer permanent durch Gewalt bedrohten Gemeinschaft analytisch maximal angenähert.314 Nun stellt sich die soziologische Grundfrage: Wie können die Menschen, die blitzartig im Reich der Gewalt als Menschen zu sich kommen, unter diesen Bedingungen eine stabile soziale Ordnung herstellen? Der tierische Instinkt kann die Sozialordnung nach Bewusstwerdung nicht mehr garantieren.315 Eines der zentralen soziologischen Probleme ist daher die Frage nach der Möglichkeit eines Vertrags im Natur- beziehungsweise Gewaltzustand, in dem doch alle Verträge aufgrund des gegenseitigen Misstrauens wertlos sind und aufgrund fehlender Sanktionsmechanismen nur Worthülse bleiben.316 Das berühmte von Parsons in seinem Werk The Structure of Social Action aufgeworfene „problem of social order“317 setzt exakt an diesem Punkt an. Rational wäre es Parsons zufolge gerade nicht, seine Gewaltmittel an eine zentrale Instanz abzugeben, sondern sich nur scheinbar auf den Gesellschaftsvertrag einzulassen, weil dies, für den nicht auszuschließenden Fall, dass man auf naivere Interaktionspartner trifft, zusätzliche Chancen eröffnet.318 Die rationale Einsicht in die Situation führt also nicht aus der Gewalt hinaus, da unterstellt werden muss, dass jedes Individuum dem rationalen Kalkül seines eigenen Nutzens folgt und daher versuchen wird, seine Vorteile zu behaupten. Vorausschauende Ratio314 315
316
317 318
90
Vgl. Palaver: Politik und Religion bei Thomas Hobbes, a. a. O., S. 64. Entsprechend heißt es in der philosophischen Anthropologie von Arnold Gehlen, dass der Mensch ein instinktverunsichertes Mängelwesen sei. Siehe Arnold Gehlen: Philosophische Anthropologie und Handlungslehre, hrsg. von Karl-Siegbert Rehberg, Band 4 der Gesamtausgabe, Frankfurt am Main 1983, S. 55. So ist bei Hobbes zu lesen: „Und Verträge ohne das Schwert sind bloße Worte und besitzen nicht die Kraft, einem Menschen die geringste Sicherheit zu bieten.” Siehe Hobbes: Leviathan, a. a. O., S. 131. Parsons: The Structure of Social Action, a. a. O., S. 87ff. Vgl. Wolfgang Ludwig Schneider: Grundlagen der soziologischen Theorie, Band 1: Weber, Parsons, Mead, Schütz, 2. Aufl., Wiesbaden 2005, S. 94.
nalität löst das Gewaltproblem also nicht, sondern verstärkt es sogar noch. Verhalten sich alle Beteiligten rational, dann verhalten sie sich wie bisher und der Kriegszustand kontinuiert.319 Daher folgert Parsons, dass unter Bedingungen der Mittelknappheit und dem Vorrang der Einzelinteressen eine destruktive Konfliktspirale und ein ungezügelter Machtkampf um die notwendigen Mittel zur Befriedigung des privaten Interesses die Konsequenzen einer rein utilitaristisch verfassten Gesellschaft sein müssen: „A purely utilitarian society is chaotic and unstable, because in the absence of limitations on the use of means, particularly force and fraud, it must, in the nature of the case, resolve itself into an unlimited struggle for power; and in the struggle for the immediate end, power, all prospect of attainment of the ultimate, of what Hobbes called the diverse passions, is irreparably lost.“320
Der entscheidende Punkt für die Labilität jeder gesellschaftlichen Ordnung ist unter diesen Voraussetzungen immer gleich. Wenn die Ordnungskonformität des eigenen Verhaltens nicht als unverletzliche normative Prägung zugrunde gelegt wird und die Frage eigener Ordnungskonformität mit in das Nutzenkalkül einginge und somit in jeder Situation erneut zur Disposition stünde, dann wird ordnungswidriges Verhalten immer wieder als die privilegierte Handlungsalternative erscheinen.321 Aus diesem Grund darf sich das Verhalten nicht nur nach dem Kriterium der rationalen Effizienz richten, sondern die Wahl der Mittel müsste sich an zusätzlichen normativen Standards orientieren, durch die Betrug und Gewalt für die Realisierung der eigenen Handlungsziele ausscheiden und eine Basis des Vertrauens gesichert werden könnte. Allerdings sind Parsons zufolge diese normativen Standards im Naturzustand gerade nicht zu erwarten.322 Bereits Hobbes hat das Problem der Vertragseinhaltung im Naturzustand klar gesehen. Entsprechend unterscheidet er zwischen Verträgen, in denen „die
319 320 321
322
Vgl. Parsons: Structure of Social Action, a. a. O., S. 93. Ebd. Vgl. Schneider: Grundlagen der soziologischen Theorie, Band 1: Weber, Parsons, Mead, Schütz, a. a. O., S. 94. Vgl. Sigrid Brandt: Religiöses Handeln in moderner Welt. Talcott Parsons’ Religionssoziologie im Rahmen seiner allgemeinen Handlungs- und Systemtheorie, Frankfurt am Main 1993, S. 58.
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Sache […] zusammen mit der Übertragung des Rechts übergeben“323 wird, von solchen, in denen man die Sache erst „einige Zeit danach“324 übergibt. Genau jene erste Vertragsform der beiderseitigen, gleichzeitigen und sofortigen Vertragserfüllung, hält Hobbes aber im Naturzustand für unwahrscheinlich. „Wird ein Vertrag abgeschlossen, bei dem keine der beiden Parteien sofort erfüllt, sondern nur im gegenseitigen Vertrauen, so ist er im reinen Naturzustand – im Zustand des Krieges eines jeden gegen jeden – bei jedem vernünftigen Verdacht unwirksam.“325 Folglich gehört also der Gesellschaftsvertrag zu jenen Verträgen, die bei Vertragsabschluss eines jeden mit jedem sofort zu erfüllen sind, um nicht der zersetzenden Wirkung des Misstrauens ausgeliefert zu werden. „Denn wer zuerst erfüllt, kann nicht sicher sein, dass der andere daraufhin erfüllen wird, da das Band der Worte viel zu schwach ist, um den Ehrgeiz, die Habgier, den Zorn und die anderen menschlichen Leidenschaften ohne die Furcht vor einer Zwangsgewalt zu zügeln.“326 Diese Gleichzeitigkeit, die Plötzlichkeit des Vertragsabschlusses kann man sich aber wiederum nur sehr schwer als ein Ergebnis der Vernunft vorstellen, denn langwieriges Verhandeln, Abwägen des Für und Wider sowie komplizierte Kommunikationsprozesse müssten vorausgehen und diese Handlungen unterlägen wiederum den Gesetzen des Misstrauens, sodass eine Vertragszustimmung unter rationalen Gesichtspunkten als unwahrscheinlich gelten muss. Vielmehr deutet die Gleichzeitigkeit in Richtung eines kollektiven Prozesses, der den Leviathan mit einem Schlag entstehen lässt. Hierauf hat dann auch Carl Schmitt mit folgenden Worten hingewiesen: „Der Schrecken des Naturzustands treibt die angsterfüllten Individuen zusammen; ihre Angst steigert sich aufs äußerste […] – und plötzlich steht vor uns der neue Gott.“327 Wie im Opfermechanismus also steht ganz plötzlich ein neuer Gott, der „deus mortalis, wie Hobbes ihn nennt“328 vor der Gemeinschaft. Das Opfer und der Leviathan sind somit wahlverwandt. Zwar wird der Staat bei Hobbes nicht 323 324 325 326 327
328
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Hobbes: Leviathan, a. a. O., S. 102. Ebd. Ebd., S. 104f. Ebd., S. 105. Carl Schmitt: Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols, 2. Aufl., Stuttgart 1995, S. 48. Ebd.
zum wirklichen Gott, aber er übernimmt die Funktion, die vorher Gott und Religion innehatten – hierauf stellte bereits die in Kapitel 2 geschilderte funktionale Äquivalenz von archaischem Opfer und staatlichem Gewaltmonopol ab.329 Angst drängt die Menschen zusammen und ab einem bestimmten Intensitätsgrad entsteht blitzartig die Gemeinschaft. Genau diese Blitzartigkeit ist nun ein typisches Merkmal für den sakrifiziellen Mechanismus.330 Die Gewalt steigert sich bis zu dem Punkt, an dem durch die Ermordung eines Opfers die Krise gelöst wird. Für die sich in der Gewalt befindenden Menschen spielt sich das wie ein göttliches Eingreifen von außen ab. Die Menge erfährt ihr eigenes Vorgehen so, als ob ein Blitz das Opfer getötet hätte.331 Die kollektive Konstruktion eines Sündenbocks stellt einen sozialen Mechanismus bereit, der die fragile soziale Statik in einem sich gesellschaftlich selbstorganisierenden Prozess herstellt und den die Probleme der Gesellschaftsbildung durch einen Gesellschaftsvertrag nicht betreffen, da zu seinem Funktionieren keine Rationalitätsunterstellungen oder willentlich geäußerte Vertragszustimmung erforderlich sind. Die Vorstellung, das menschliche Gemeinwesen beruhe auf dem Gesellschaftsvertrag, durch den jeder Einzelne aus wohlverstandenem Eigeninteresse sich im Rahmen einer bewussten Entscheidung beziehungsweise eines kollektiv diskutierten Prozesses einem allgemeinen Willen oder Souverän unterwerfe, scheint in dieser Perspektive nicht haltbar.332 Vielmehr ist davon auszugehen, dass am Beginn der Gesellschaft die grundlegenden Sprach-, Denk-, Normen-, und Herrschaftssysteme der sakrifiziellen Gründungsgewalt entspringen. In der soziologischen Tradition Durkheims als der Antipode der Sozialvertragsphilosophie wird also der religiöse Ursprung der Gesellschaft konstatiert. Um erneut Durkheim das Wort zu geben: „Am Anfang erstreckt sie [die Religion, T.V.] sich auf alles; alles, was sozial ist, ist religiös; die beiden Wörter sind Synonyme.“333 Aber das Religiöse wiederum, auch wenn dieser Sachverhalt dem humanistischen Empfinden als empörende Zumutung erscheint,
329 330 331 332 333
Vgl. ebd. Vgl. Palaver: Politik und Religion bei Thomas Hobbes, a. a. O., S. 64. Vgl. ebd. Vgl. Fleming: René Girard, a. a. O., S. 53. Emile Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Frankfurt am Main 1992, S. 224.
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ist mit der Gewalt und dem Opfer als prima causa des Sozialen schlechterdings untrennbar verbunden.334 Dabei verläuft die soziokulturelle Evolution der Gesellschaft vom archaischen Ur-Opfer zu den (religioiden) Systemen des modernen Staates und seines sanktionsbewehrten Rechtssystems – beide Institutionen, wie oben bereits beschrieben, führen eine Gewalt ein, die weitere Gewalt ausschließt. Niklas Luhmann beobachtet: „Die universell verteilte […] Gewalt wird gedoppelt und in legitime und nichtlegitime Gewalt unterschieden. Das geschieht nicht durch Sozialkontrakt (Hobbes), sondern durch Evolution. In ihrer legitimen Form dient die Gewalt (heute als Staatsgewalt) dem Austreiben der illegitimen Gewalt."335 Es handelt sich Luhmann zufolge also um einen zivilisatorischen Prozess des einschließenden Ausschließens von Gewalt – und Legitimität sei daher auch kein Wertbegriff, sondern eben dieses Einschließen des Ausschließens. Es handelt sich um eine Paradoxie, deren Auflösung sich als Staatsgewalt – oder als deren funktionales Äquivalent, also als Opfer – konstituiert.336
334 335 336
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Vgl. Wieviorka: Die Gewalt, a. a. O., S. 199ff. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Band 1, Frankfurt am Main 1997, S. 414. Vgl. ebd.
6. Tod, Sinn und Heilsversprechen. Oder warum die Religion in der Moderne überlebt
Das Heilige verschenkt Leben und vernichtet es auch wieder. Es ist die Quelle, aus der das Leben entspringt, und die Mündung, in der es sich verlieren wird. Man kann nie ganz und gar vom Leben Besitz ergreifen.337 Mit dem Tode aber dringt nun die absolute, die schlimmste Form der Gewalt in die Gesellschaft ein, die sich die Lebenden vorstellen können und vor der sie sich schützen müssen. In vielen archaischen Gesellschaften haben die Toten einen ambivalenten Status: Sie können der Gemeinschaft als Beschützer dienen und manchmal sogar als hilfreiche Wächter auftreten. Mitunter fungieren sie aber auch als gnadenlose Zerstörer der Sozialordnung. Es wundert daher nicht, dass die Toten in der Regel als heilige und daher doppelwertige Wesen betrachtet werden. Sie werden, wie auch alle archaischen Götter, zugleich geliebt und gefürchtet.338 Wenn sich nun die Auseinandersetzungen zwischen den Mitgliedern einer Gemeinschaft häufen, dann zeigen sich auch die Toten in der Regel missgestimmt.339 Sie werden in ihrer Totenruhe gestört, weil derartige Zwischenfälle in ihrem jenseitigen Reich keinen Bestand mehr haben, sie aber doch durch die Unruhe zwischen den Lebenden aufgeschreckt werden, wie Jensen am Beispiel der Todessehnsucht mythischer Helden erläutert: „Es sind hauptsächlich die kleinen Ärgernisse des Lebens, aber auch die bösen Feindschaften dieser Welt, die im Jenseits fortfallen. Der Ärger über einen verlorenen Gegenstand oder der Hunger, die Lieblosigkeit der Menschen und auch die Furcht vor Bosheit treiben die Helden der Erzählung ins Jenseits.“340
337 338 339 340
Vgl. Caillois: Der Mensch und das Heilige, a. a. O., S. 181. Vgl. Jensen: Mythos und Kult bei den Naturvölkern, a. a. O., S. 422. Vgl. ebd., S. 385. Ebd.
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Als Geister suchen die Toten, in ihrer jenseitigen Idylle aufgeschreckt, die streitsüchtigen Lebenden heim, rächen sich oder nehmen mitunter sogar Besitz von den Lebenden. Sie können dann alptraumhafte Visionen, Krankheit, Wahnsinn und Schädigungen jeglicher Art verursachen.341 Diese Form der gesellschaftlichen Krise stellt sich als Verlust einer wichtigen gesellschaftlichen Differenz dar: Gemeint ist die Aufhebung des Unterschieds zwischen Leben und Tod. Auch hier ist die Entdifferenzierung, die die Heimsuchung durch die Toten symbolisiert, gleichbedeutend mit einem verheerenden Gewaltausbruch. Der Ärger, den die Toten unter den Lebenden verursachen, kann als ein Symbol für die Gewalt, die sich in der Gemeinschaft verbreitet, interpretiert werden.342 Nehmen die Dinge einen schlechten Lauf, dann kehren die Toten – dass heißt also: dann kehrt die Gewalt – in die Gesellschaft zurück. Glücklicherweise können die Toten rituell besänftigt und die Grenzen zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Leben und Tod, zwischen Gewalt und Frieden, sofern der Kult die Gewalt erfolgreich absorbiert, neu gezogen werden.343 Daher spielt bei der Ausübung der religiösen Totenkulte die Gewalt immer eine zentrale Rolle. Die Gewalt, die der Tod heraufbeschwört, muss opferkultisch unter Kontrolle gebracht werden, denn der Tod eines Gruppenmitglieds kann neue und schlimmere Gewalt verursachen.344 Entsprechend erklärt Walter Burkert den Zusammenhang von Gewalt und Tod wie folgt: „Es ist ein notwendiger Gruppenreflex, bedrohten Mitgliedern Schutz zu bieten durch aggressive Drohung gegen einen äußeren Feind. Angesichts der Tatsache des Todes stößt diese Aggression ins Leere und fällt darum auf sich selbst zurück; die erhobene Hand, die keinen Feind mehr erreicht, trifft das eigene Haupt. Oft freilich sucht die Vernichtungswut sich äußere Ersatzobjekte; so kommt es zu jenen Totenopfern, die nichts als Vernichtung sind und sein wollen.“345
Ein instruktives Beispiel für diesen Zusammenhang findet sich in Homers Ilias: Achilles vermag den Tod, der seinen Freund Patroklos vor den Toren Trojas ereilte, nur durch eine ungezügelte und wahllose Gewaltorgie zu verwinden. Unge341 342 343 344 345
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Vgl. ebd., S. 410. Vgl. Girard: Das Heilige und die Gewalt, a. a. O., S. 374f. Vgl. Burkert: Homo necans, a. a. O., S. 65. Vgl. ebd. Ebd.
zähltes Schlachtvieh und zwölf Trojaner fallen Achilles Raserei zum Opfer. Homer lässt Achilles schreien: „Und ich werde vor dem Scheiterhaufen zwölf prangenden Söhnen der Troer / Abschneiden den Hals, zürnend um dich, den Erschlagenen.“346 Die enge Verbindung zwischen Toten- und Opferriten ergibt sich daraus, dass durch den Akt der Opfertötung die Situation des Todes wieder hergestellt wird. Der Tote wird von neuem in die Mitte der Lebenden geholt, aber nun untersteht er der Macht des Lebens respektive der Macht der lebenden Gemeinschaft.347 Zusammen mit der Gewalt wird der Tod aus der Gemeinschaft gleichsam ausgestoßen und, im Rahmen des Möglichen natürlich immer nur für einen begrenzten Zeitraum, wieder ins Jenseits geschickt.348 Indem sich die Gemeinschaft, vor allem die jungen Menschen, im Angesicht des Todes zusammenfindet, „bedeutet dies zugleich Initiation, Integrierung in die Kontinuität der Gemeinschaft sowie die Prägung durch die je spezifische Tradition.“349 Indem sich die Initianten verbal und rituell an der Opfertötung beteiligen, werden die Nachwachsenden zu Nachfolgern geprägt. So solidarisiert und erneuert sich die Gemeinschaft in den Übergängen vom Leben zum Tod und vom Tod zum Leben.350 Opferkulte erfüllen eine gewaltpräventive Funktion und aus diesem Grunde stellen sie zugleich ein gesellschaftliches Heilsversprechen gegen gewaltinduzierte Anomie dar. Folgt man Peter L. Berger, so ist jede Gesellschaft eine Ordnungsmacht mit Schutzcharakter. „Der Schutzcharakter gesellschaftlicher Ordnung wird besonders deutlich in den Grenzsituationen im Leben des Einzelnen, Situationen also, in denen er bis an die festgelegten Grenzen der Ordnung seines Alltagslebens und dessen Routinen oder sogar darüber hinaus getrieben wird.“351 Der Tod als äußerste Grenzsituation ist vielleicht das größte Problem der Gesellschaft, nicht nur weil er die Kontinuität sozialer Beziehungen unmittelbar, sondern mittelbar auch die Grundvorstellungen von gesellschaftlicher Ordnung überhaupt bedroht. Die Grenzsituation Tod enthüllt die Unsicherheit aller sozial 346
347 348 349 350 351
Homer: Die Ilias, übersetzt von Wolfgang Schadewaldt, 2. Aufl., Düsseldorf/Zürich 2004, S. 316. Vgl. Burkert: Homo necans, a. a. O., S. 65. Vgl. ebd., S. 67. Ebd., S. 68. Vgl. Arnold van Gennep: Übergangsriten, 3. Aufl., Frankfurt am Main/New York, 2005, S. 186. Berger: Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft, a. a. O., S. 23.
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errichteten Welten – jede Gesellschaft ist, so Peter L. Berger, „von lauernden ‚Unwirklichkeiten‘ bedroht“352. Gewalt verursacht Tod, der Tod aber ist die entscheidende Grenze jeder Form der Ordnung.353 Gegen dieses Chaos errichtet die Religion einen heiligen Kosmos, der zum letzten Garanten gesellschaftlicher Sinnstiftung wird. „Der heilige Kosmos taucht aus dem Chaos auf und steht ihm als sein furchterregender Widerpart nun entgegen. Die Gegenüberstellung von Kosmos und Chaos kommt in einer Fülle von Weltentstehungsmythen zum Ausdruck. Der heilige Kosmos, der den Menschen übergreift und in seiner Wirklichkeitsordnung einschließt, bietet ihm so den Schutz des Absoluten vor dem Grauen der Anomie.“354
Durch ihren gesellschaftlichen Schutzcharakter ist der Religion immer ein Heilsversprechen inhärent. Werden die religiösen Gebote und Kulte befolgt, so schützen sie die Menschen vor einem gewaltsamen Weltverlust,355 also vor dem Sinnverlust, den die Entgrenzung der Gewalt nach sich zieht. Gewalttätige Grenzsituationen können ganze Gesellschaften erfassen und in die Krise stürzen, indem sie die Wirklichkeit, die bisher als unumstößliche Gewissheit galt, massiv herausfordern. „Fast immer tritt dann die Religion schützend in den Vordergrund. Die religiöse Legitimation wird [ebenfalls] besonders wichtig, wann immer eine Gesellschaft ihre Individuen zum Töten oder zum Einsatz des eigenen Lebens motivieren muss, damit sie sich freiwillig in eine äußerste Grenzsituation begeben. Die ‚offizielle‘ Gewaltanwendung im Kriege oder bei der Todesstrafe ist daher fast überall von religiöser Symbolik begleitet.“356
Die Religion tritt somit in Zeiten der kollektiven Krisenerfahrung gesellschaftssichernd in Aktion. „Die Ekstasen aus Furcht und Gewalt halten sich auf diese
352 353
354 355 356
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Ebd., S. 24. Dass der Tod die Grenze jeder Ordnung darstellt, zeigt sich nicht zuletzt in der eigentümlichen Verdrängung, der Leugnung seines sicheren Eintretens, worauf Martin Heidegger aufmerksam macht: „Man sagt, der Tod kommt gewiß, aber vorläufig nicht. Mit diesem ‚aber…‘ spricht das Man dem Tod die Gewißheit ab.“ Martin Heidegger: Sein und Zeit, 17. Aufl., unveränderter Nachdruck, Tübingen 1993, S. 258. Berger: Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft, a. a. O., S. 27. Vgl. ebd. Ebd, S. 44.
Weise in den Grenzen der ‚Gesundheit‘, d.h. der Wirklichkeit der sozialen Welt.“357 Die Leistungsfähigkeit religiöser Institutionen beruht darauf, dass sie die Zuversicht der Menschen in Zeiten der Krise wieder herstellen. Martin Riesebrodt hat das Heilsversprechen als das Gemeinsame allen religiösen Denkens erkannt: Das Versprechen der Religionen ist über historische und kulturelle Grenzen hinweg erstaunlich konstant. Religionen versprechen, Unheil abzuwehren, Krisen zu bewältigen und Heilszustände herbeizuführen.358 Als Reaktion auf Katastrophen wie Erdbeben oder Pestepidemien steigert sich die Zahl der Teilnehmer an religiösen Ritualen und die emotionale Intensität wächst. In diesem existenziellen Sinn handelt es sich bei der Religion auch um Kontingenzbewältigung.359 Zugleich wird der Zusammenhang zwischen dem religiösen Opfer und dem Heilsversprechen deutlich, denn die ursprüngliche Erfahrung einer Errettung aus Not, Tod und Gewalt, wie es das archaische Opfer zuerst ermöglichte, verbindet sich mit einer allgemeinen Hoffnung auf Unheilsabwehr. Nicht nur die entgrenzende Gewalt, die die Menschen bedroht, sondern ebenso die damit einhergehende Erfahrung der eigenen Machtlosigkeit, die Mortalität des Körpers, die Unfähigkeit der Beherrschung der Naturverhältnisse sowie die Instabilität der sozialen Beziehung, veranlasst die Menschen, sich in Vormoderne und Moderne (wieder) der Religion zuzuwenden. Es zeigt sich, dass die Religion von Anbeginn allen Denkens nicht nur eine gewaltpräventive Sicherheitsventilinstitution darstellt, sondern auch in der Welt der Moderne eine soziale Institution der Krisenbewältigung geblieben ist. Denn die Religion, so Riesebrodt, erhält die Handlungsfähigkeit des Menschen in Situationen, in denen sie an ihre Grenzen stößt.360 In diesem Sinn ist das Verschwinden der Religion in der Moderne unwahrscheinlich. Simmel schrieb im letzten Jahrhundert die auch heute noch gültige Beobachtung nieder: „Bisher hat die Religion noch immer die Religionen über357 358
359 360
Ebd. Vgl. Martin Riesebrodt: Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religionen, München 2007, S. 14. Vgl. ebd., S. 241. Vgl. ebd.
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lebt, wie ein Baum das immer wiederholte Abnehmen seiner Früchte“361. Lange Zeit gelang es dem säkularen Modernismus zwar, den Glauben an seine unablässig wachsende Fähigkeit zur Kontrolle der Natur und der sozialen Ordnung im Ganzen überzeugend aufrechtzuerhalten. Die Fortschritte in Naturwissenschaft, Medizin, Technik und Ökonomie362 der letzten Jahrzehnte waren durchaus eindrucksvoll, sodass es gelungen ist, einen relativ hohen Grad an gesellschaftlicher Stabilität zu gewährleisten. Der von Norbert Elias soziologisch analysierte Prozess der Zivilisation schließlich hat zu relativ beständigen Räumen sozialer Gewaltfreiheit geführt, die den Einzelnen „vor dem plötzlichen Überfall, vor dem schockartigen Einbruch der körperlichen Gewalt in sein Leben weitgehend“363 schützen. Aber vor allem die relative Sicherheit, die die modernen Systeme des Gewaltschutzes für die „zerbrechliche{n] Lebensformen“364 der Moderne bieten, erzeugen ganz neue Gefahrenpotenziale. Die vermeintliche Stabilität der modernen Gesellschaft, so Burkhard Liebsch, trübe immer wieder „das Bewusstsein von der im Grunde nicht beherrschbaren Gewalt der Gewalt, die man in ihren domestizierten Formen entschärft zu glauben hat“365. Eingedenk der ungeheuren zivilisatorischen Brüche des 20. Jahrhunderts366 sowie der modernen Totalitarismen als freiwillig-unfreiwillige Wiedergänger archaischer Religiosität,367 erscheint der Glaube an eine umfassende Beherrschbarkeit des Sozialen mehr als
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Georg Simmel: Das Problem der religiösen Lage, in: Ders.: Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne, Gesammelte Essais nach der Vorlage der 1923 im Kiepenheuer Verlag, Potsdam, erschienenen Ausgabe. Mit einem Vorwort von Jürgen Habermas, Berlin 1998, S. 180-194, S. 182. Vgl. zum Problem der Ökonomie mit Bezug auf René Girard die Studie von Paul Dumouchel und Jean Pierre Dupuy: Die Hölle der Dinge. René Girard und die Logik der Ökonomie. Mit einem Nachwort von René Girard, Hamburg/Münster/London 1979. Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Band 2: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Amsterdam 1997, S. 331. Burkhard Liebsch: Zerbrechliche Lebensformen. Widerstreit, Differenz, Gewalt, Berlin 2001. Ebd., S. 317. Zur bleibenden Aktualität der Totalitarismustheorie siehe Tilman Mayer: Ist die Totalitarismustheorie gescheitert?, in: Karl G. Kick, Stephan Weingarz und Ulrich Bartosch (Hrsg.): Wandel durch Beständigkeit. Studien zur deutschen und internationalen Politik. Jens Hacker zum 65. Geburtstag, Berlin 1998, S. 171-189. Vgl. Hans Maier: Das Doppelgesicht des Religiösen. Religion, Gewalt, Politik, Freiburg im Breisgau 2004, S. 97.
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unwahrscheinlich.368 Die Moderne hat also eine Reihe von neuen Bedrohungen und Risiken hervorgebracht, deren mögliche Konsequenzen heute zu überblicken unmöglich geworden ist.369 Moderne Waffen haben Weltzerstörungspotenzial, die industriell-kapitalistische Produktion im globalen Maßstab löst bislang keineswegs das Armuts- und Verteilungsproblem und verursacht zudem erhebliche ökologische Schwierigkeiten, die moderne Medizin wirft schwerwiegende ethische Fragen auf, die Abschaffung des Krieges steht in weiter Ferne. Anthony Giddens hat eine entsprechende Diagnose moderner Gesellschaft vorgelegt, die von einem sukzessiven Verlust an „ontologischer Sicherheit“370 ausgeht. Auch Ulrich Beck lenkt bei seiner Suche nach der verlorenen Sicherheit371 die Aufmerksamkeit auf den Umstand, dass die Welt ein überaus riskanter Ort geworden ist. Die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts ist eine Weltrisikogesellschaft und zur tragischen Dialektik der Moderne gehöre es, dass die Krisen der Moderne gerade aus den Siegen der Moderne erwachsen. Es seien gerade die enormen Erfolge der Basisprinzipien der Moderne, vor allem ihre wirtschaftlichen Leistungen und ihre rationalistische Durchsetzungskraft, die die Möglichkeit einer gewaltsamen Selbstvernichtung der Menschheit besiegeln. Und so kommentiert Beck nicht ohne Untergangspessimismus: „Wenn alles gut geht, wird es schlimmer.“372 Die Konsequenz ist, dass das Weltvertrauen der Menschen schwindet – und die Religion gewinnt an neuer Bedeutung. Diesen Umstand hebt Beck in seiner jüngsten Studie Der Eigene Gott hervor: „Religiöser Glaube breitet sich proportional zur Verunsicherung aus, die radikalisierte Modernisierungsprozesse in allen sozialen Lebensbereichen bei den Menschen auslösen (‚reflexive Modernisierung‘).“373 Solange der säkulare Modernismus überzeugend den Glauben an seine unablässig wachsenden Fähigkeiten der Kontrolle der Natur, des menschlichen Körpers und der sozialen Beherrschbarkeit der Gewalt verbreiten konnte, 368
369 370 371
372 373
Vgl. Hans Maier (Hrsg.): Totalitarismus und Politische Religion. Deutungsgeschichte und Theorie, Band 3, Paderborn 2003. Vgl. Anthony Giddens: Konsequenzen der Moderne, Frankfurt am Main 1995, S. 118. Ebd. So der Untertitel von Ulrich Beck: Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, Frankfurt am Main 2007. Ebd., S. 43. Ulrich Beck: Der Eigene Gott. Friedensfähigkeit und Gewaltpotenzial der Weltreligionen, Frankfurt am Main/Leipzig 2008, S. 114.
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war die Religion auf dem Rückzug. Mit dem zumindest partiellen Zusammenbruch dieses Glaubens an die Moderne treten erneut religiöse Formen der Prävention und Bewältigung von Krisen in den Vordergrund. Entsprechend stellen Säkularisierung und Desäkularisierung keinen Widerspruch dar. Vielmehr repräsentieren sie zwei Seiten desselben Transformationsprozesses.374 Und so kehren die alten und die neuen Götter mit ihren alten und ihren neuen Heilsversprechen in die säkular-postsäkulare Moderne zurück.375 Die Zukunft der Sozialgestalt der Religionen ist freilich noch ganz ungewiss. Während die Soziologie für die Moderne davon ausgeht, dass die Religion zwar nicht verschwindet, aber sukzessive privat oder unsichtbar werde,376 scheint die Religion in außerokzidentalen Kulturkreisen eine öffentliche Macht zu bleiben, die sich gegen alle systemtheoretischen Behauptungen einer Degradierung zum bloßen Subsystem der Gesellschaft verweigert. Entwicklungstrends und weitere empirische Befunde über die Zukunft der Religion gilt es allerdings noch abzuwarten.377 Allerdings, so die wissenschaftliche Spekulation, wird die Religion in der Moderne überleben. Gemäß der weitblickenden Prognose Georg Simmels würde „Aufklärung […] Blindheit sein, meinte sie, mit den paar Jahrhunderten der Kritik an den religiösen Inhalten eine Sehnsucht zerstört zu haben, die die Menschheit von dem ersten Aufdämmern ihrer Geschichte an und vom niedrigsten Naturvolk bis zu den äußersten Kulturhöhen beherrscht hat.“378 Diese religiöse Sehnsucht, über die Simmel schreibt, kann wieder als Sehnsucht nach einer Welt ohne Gewalt verstanden werden. Aber Hans Joas’ „Traum von der gewaltfreien Moderne“379 ist bedauerlicherweise noch nicht Wirklichkeit und wird es in absehbarer Zeit nicht werden. Solange die säkularen Systeme der Moderne keine absoluten Garantien der physischen und psychischen Unver374 375
376 377
378 379
Vgl. Riesebrodt: Die Rückkehr der Religionen, a. a. O., S. 50. Vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, Bonn 2004, S. 9. Vgl. Thomas Luckmann: Die unsichtbare Religion, Frankfurt am Main 1991. Ein vielversprechender Versuch einer empirischen Standortbestimmung der Religion in der modernen Welt wurde mit dem Projekt des Religionsmonitors der Bertelsmann Stiftung vorgelegt. Auf allen Kontinenten und in 21 Ländern wurden Erhebungen zur religiösen Lage durchgeführt. Indes handelt es sich nur um eine erste Momentaufnahme. Erst durch zukünftige Untersuchungen wird sich ein vollständigeres Bild der Religion in der Moderne erkennen lassen. Siehe: Religionsmonitor 2008 der Bertelsmann-Stiftung, Gütersloh 2008. Simmel: Das Problem der religiösen Lage, a. a. O., S. 101. Hans Joas: Der Traum von einer gewaltfreien Moderne, in: Sinn und Form 46/2, S. 309-318.
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sehrtheit der Menschen geben können, wird die Religion nicht vergehen. Da derartige Garantien auch niemals gegeben werden können, ist der Traum einer gewaltfreien Moderne wohl auch weiterhin nur im religiösen Horizont sinnvoll.
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7. »Kosmische« und »Heilige Kriege«. Die Polarität von »Inklusion versus Exklusion«
Wie genau gestaltet sich das Verhältnis von Opfer, Gewalt und Gewaltlosigkeit in der Moderne? Bis zu diesem Punkt wurde das Verhältnis von Religion und Gewalt primär unter einem opfertheoretischen Fokus analysiert. Entscheidend bleibt jedoch für die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Gewalt in der Moderne, so der Einwand Mark Juergensmeyers, „ob das religiöse Opfer wirklich den Rahmen für die Betrachtung aller anderen Formen religiöser Gewalt vorgibt“380. Tatsächlich sind Opfertheorien allein dazu geeignet, die Gewalt innerhalb archaischer Gemeinschaften erklären zu können. Das Opfer eines Kriegers, der gegen eine andere Gruppe kämpft – gleichviel ob regulärer Kombattant oder Selbstmordattentäter – und dabei sein Leben verliert, ist damit aber analytisch noch lange nicht erfasst.381 Das Opfer, das ein Krieger unter Umständen zu vollbringen hat, vollzieht er ja gerade nicht als Ausgestoßener, sondern als festes Mitglied seiner gesellschaftlichen Einheit.382 Die bisher entfaltete Argumentation zielte aber auf den Nachweis, dass ein angeblich Schuldiger als ein Feind der Gruppe stigmatisiert wird. Entsprechend ist Mark Juergensmeyer zunächst zuzustimmen, wenn er die Auffassung vertritt, dass „der Krieg den Rahmen für religiöse Opferhandlungen bildet und nicht umgekehrt.“383 Allerdings lässt sich der soziologische Aspekt des religiösen Opfers
380 381 382
383
Juergensmeyer: Terror im Namen Gottes, a. a. O., S. 232. Vgl. ebd. Vgl. Ruth Groth: Zum Problem der Entscheidung bei Carl Schmitt und René Girard, in: Bernhard Dieckmann (Hrsg.): Das Opfer. Aktuelle Kontroversen. Religions-politischer Diskurs im Kontext der mimetischen Theorie. Beiträge zur mimetischen Theorie, Band 12, Münster/Hamburg/London 2001, S. 157-180, S. 169. Juergensmeyer: Terror im Namen Gottes, a. a. O., S. 233.
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anhand der Polarität von Inklusion versus Exklusion weiterentwickeln.384 Der Mechanismus der Gemeinschaftsbildung durch soziale Stigmatisierung, dem der oben entfaltete Begriff des stellvertretenden Opfers entspricht, kann als ein Mechanismus der Exklusion verstanden werden. Die Solidarität der Gemeinschaft entsteht durch Abgrenzung nach außen und Bindung nach innen.385 Da das Opfer im Verlauf seiner Opferung der Gruppe vollständig entfremdet wird, ist seine ursprüngliche Zugehörigkeit zur Gruppe nach seiner Ausstoßung überhaupt nicht mehr erkennbar: Es wird als der vollständig Andere exkludiert.386 Es handelt sich bei diesem Vorgang also um einen Prozess der Totalexklusion aus der Gesellschaft, der einem Vernichtungsakt gleichkommt.387 Dem entspricht zunächst der Vorgang der Exklusion eines inneren Feindes, der in modernen Gesellschaften nicht als Feind, sondern als Schwerverbrecher bezeichnet wird. Wolfgang Sofsky weist auf den opferrituellen Hintergrund der Todesstrafe noch in modernen Gesellschaften hin.
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385 386 387
Mit Blick auf das Verhältnis von Opfertheorie und Exklusionsmechanismen siehe Franz-Xaver Kaufmann: Macht Zivilisation das Opfer überflüssig?, in: Richard Schenk (Hrsg.): Zur Theorie des Opfers. Ein interdisziplinäres Gespräch, Stuttgart/Bad Cannstatt 1995, S. 173-191, S. 185. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Insofern ist das Begriffspaar ‚Inklusion versus Exklusion‘ nicht zu verwechseln mit Niklas Luhmanns Thesen von ‚Inklusion und Exklusion‘. Luhmanns Begriffspaar dient der Zurückweisung der romantischen Vorstellung, dass funktional differenzierte Gesellschaften noch einen Zustand der Vollinklusion erreichen könnten. Die These einer Negativintegration zieht sich auf eine Theoriefigur des einschließenden Ausschlusses zurück. Luhmann behauptet: „Die Exklusion integriert viel stärker als die Inklusion.“ (Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Band 2, Frankfurt am Main 1997, S. 631.) Um zwischen den beiden Begriffspaaren ‚Inklusion versus Exklusion‘ sowie ‚Inklusion und Exklusion‘ zu vermitteln, kann auf einen Aufsatz von Robert Castels verwiesen werden. Castel schlägt, um den theoretischen Inkonsistenzen des Exklusionsbegriffes entgegenzuwirken, einen mehrstufigen Exklusionsbegriff vor. Zum einen definiert er eine Form des Ausschlusses, die als (1) Totalexklusion bezeichnet werden kann, da sie auf den Aspekt der physischen Vernichtung bezogen ist. Hiervon zu unterscheiden sind (2) räumliche Exklusionen, die im Aufbau geschlossener Räume bestehen, die von der Gemeinschaft abgetrennt werden, sich aber immer noch innerhalb der Gemeinschaft befinden, z.B. ‚Asyle‘ für Verrückte, Konzentrationslager oder Gefängnisse. Die letzte Exklusionsdimension wird als (3) Partialexklusion bezeichnet, da sie in Stigmatisierungsprozessen zum Ausdruck kommt. Bestimmte Menschen werden ausgegrenzt, indem sie mit einem speziellen Status versehen werden, sodass sie in der Gemeinschaft nur noch unter Diskriminierungsverhältnissen (über)leben. Im Folgenden operiert die vorliegende Arbeit ausschließlich mit dem zuerst genannten Begriff der Totalexklusion. Vgl. Robert Castel: Die Fallstricke des Exklusionsbegriffs, Mittelweg 36 3/2000, S. 11-25, S. 20.
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„Die Verwandtschaft der Todesstrafe mit der alten Praxis des Opfers ist unübersehbar. Ein Zustand wird wieder hergestellt, der aus den Fugen geraten ist, durch die kostbarste Gabe, die sich denken lässt: das Leben eines Menschen. Das Töten schützt die Gesellschaft, indem es weiteres Unheil abwendet und begangenes Unrecht aus der Welt schafft. Das Schafott ist der Altar der Gesellschaft. Auf ihm wird das Sühneopfer dargebracht, dem höchsten aller Götter, der Gesellschaft selbst.“388
Der Todgeweihte aber ist nicht mehr Teil der Gesellschaft – er wird aufgrund seiner (angeblichen oder tatsächlichen) Schuld aus der Gesellschaft exkludiert, befindet sich fortan im leeren Außen der Gemeinschaft und kann liquidiert werden. Als der Ausgestoßene, in dieser Hinsicht dem pharmakos der Athener ähnlich, darf er hingerichtet werden.389 Der Vorgang der archaischen Opferung trägt alle Merkmale der kollektiven Konstruktion eines Feindbildes, gegen das Gewalt auszuüben nicht nur legitim, sondern schlimmstenfalls notwendig erscheint.390 Die Wahlverwandtschaft von religiösem Mythos und politischer Ideologie, auf die oben bereits hingewiesen wurde, unterstreicht diese These. Zugleich entspricht der Vorgang der Exklusion aber auch dem Gewaltakt gegen den äußeren Feind, denn auch in diesem Fall werden die für den sozialen Zusammenhalt der Gruppe potenziell verhängnisvollen Tendenzen auf das Außen der Gemeinschaft projiziert.391 Die Gewalt richtet sich immer von innen gegen außen, sodass gemäß Maria Stella Barberi auch sämtliche „Metamorphosen und die Vermittlungen des Politischen als Maskierungen des gewalttätigen Sakralen“392 zu interpretieren sind. Wenn also Juergensmeyer die Auffassung vertritt, dass die kriegerische Gewalt – der „kosmische Krieg“393 – den Rahmen für das Selbstopfer und vor allem für die Gewalt des religiösen Terrorismus des 21. Jahrhunderts vorgibt, so ist dies zutreffend, bleibt aber dennoch ergänzungsbedürftig. Die heilige Gewalt gegen äußere Feinde folgt den gleichen Gesetzen, die auch das archaische Opfer 388 389 390 391 392
393
Sofsky: Traktat über die Gewalt, a. a. O., S. 124. Vgl. ebd. Vgl. Juergensmeyer: Terror im Namen Gottes, a. a. O., S. 235ff. Vgl. Kaufmann: Macht Zivilisation das Opfer überflüssig?, a. a. O., S. 185. Maria Stella Barberi: Feindschaft zu welchem Zweck? Die mimetische Theorie durch Carl Schmitt denken, in: Bernhard Dieckmann (Hrsg.): Das Opfer. Aktuelle Kontroversen. Religionspolitischer Diskurs im Kontext der mimetischen Theorie. Beiträge zur mimetischen Theorie, Band 12, Münster/Hamburg/London 2001, S. 121-140, S. 125. Juergensmeyer: Terror im Namen Gottes, a. a. O., S. 233.
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strukturieren; die Gemeinschaft bewegt sich in beiden Fällen im Spannungsfeld der Polarität von Inklusion versus Exklusion.394 Lebenselement des rituellen Opfers und des sakral geladenen Krieges als eigentlicher Zeit des Heiligen bleibt daher die soziale Konstruktion und die Strukturierung der Gemeinschaft durch den Feind, denn, so Georges Batailles, in beiden Fällen, wird es möglich, die zerstörerische Gewalt nach außen zu lenken.395 Entsprechend ist das politische Feld, in dem über Freund und Feind (den Anderen) entschieden wird, potenziell mit dem Problem der Gewalt belastet und erscheint als die Arena moderner Gesellschaft, in der zu früheren Zeiten das Opfer als Feind der Gesellschaft designiert wurde. In seinem Begriff des Politischen hat Carl Schmitt diese Differenz von Freund und Feind zum Kriterium des Politischen erhoben: „Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind.“396 Damit bezeichnet Schmitt eine Dimension des Politischen, die auch Georg Simmel als elementares soziologisches Faktum galt. „Es ist eine Tatsache von der größten soziologischen Bedeutung, eine der wenigen, die fast ohne Ausnahme von Gruppenbildungen jeder Art gelten: dass die gemeinsame Gegnerschaft gegen einen Dritten unter allen Umständen zusammenschließend wirkt, und zwar mit sehr viel größerer Sicherheit so wirkt, als die gemeinsame freundliche Beziehung zu einem Dritten.“397 Die Gesellschaftswissenschaft neigt dazu, die Anwendung von Gewalt gegen einen Feind leichthin als Extremfall des Politischen zu betrachten oder sogar zu verharmlosen. Das Missverständnis liegt nun Ernst-Wolfgang Böckenförde zufolge aber darin, dass suggeriert wird, es handele sich im Fall der FreundFeind-Theorie um eine „normative Theorie der Politik oder des politischen Handelns […], die die Freund-Feind-Unterscheidung und den kriegerischen Kampf als deren letzte Konsequenz zum Ziel und Inhalt der Politik mache.“398 Die ana394 395 396
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398
Vgl. ebd. Vgl. Batailles: Theorie der Religion, a. a. O., S. 50. Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, 7. Aufl., 5. Nachdruck der Ausgabe von 1963, Berlin 2002, S. 26. Georg Simmel: Die Selbsterhaltung der sozialen Gruppe, in: Ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Gesamtausgabe Band 11, hrsg. von Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main 1992, S. 556-686, S. 683f. Ernst Wolfgang Böckenförde: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt am Main 1991, S. 345.
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lytische Kapazität der Freund-Feind-Kategorie wird so vorschnell preisgegeben und der Blick auf gesellschaftliche Beziehungsfelder, die sich entlang der Grenzen von Assoziation und Dissoziation organisieren, verstellt.399 Zugleich ist analytisch nicht zu übersehen, dass alle Versuche, anstatt Gewalt als Extremfall nun Friede als Norm des Politischen darzustellen,400 im Grunde auf den Versuch hinauslaufen, statt eines schwarzen Zebras mit weißen Streifen lieber ein weißes Zebra mit schwarzen Streifen zu sehen. Doch bleibt in dem freundlicheren Bild Friede als Norm doch als Drohung die althergebrachte Frage, warum es denn überhaupt die Norm, dass heißt Aufgabe der Politik ist, den Frieden zu schaffen? Die Berücksichtigung des politischen Grenzfalls Gewalt ist für die Begriffsdefinition des Politischen unumgänglich. Argumente der Art, der überwiegende Teil des Politischen bestehe in dem aufrichtigen Bemühen, den Ernst-, Extrem- oder Grenzfall zu vermeiden, bringen außer einer zweifellos wichtigen Vervollständigung des Bildes aber nichts ein.401 Vor Verharmlosungen des Freund-Feind-Denkens muss gerade heute eindringlich gewarnt werden, wo im größtem Stil eine Steigerung der extremsten Gewaltmöglichkeiten mit ihrer Verdrängung Hand in Hand gehen.402 Seit die technologische Entwicklung zum schwerwiegendsten aller Sicherheitsprobleme, nämlich der Existenz von Weltuntergangswaffen geführt hat, besteht die Neigung, den Extremfall der Gewalt schon durch seine Absurdität auch für real erledigt zu halten. Das politische Feld aber behält trotz aller normativen Zügel einen archaisch-religiösen Kern.403 Die Option, zum Zweck des Gewaltmanagements der Gemeinschaft die Gewalt nach außen zu verschieben und die Eigengruppe 399 400
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Vgl. ebd., S. 346. Vgl. Dolf Sternberger: Der Begriff des Politischen. Der Friede als Grund und das Merkmal und die Norm des Politischen, Frankfurt am Main 1961. Vgl. Dieter Conrad: Gandhi und der Begriff des Politischen. Staat, Religion und Gewalt, München 2006, S. 82. Zu Defiziten und Perspektiven einer akademisch vernachlässigten Soziologie der Gewalt siehe Birgitta Nedelmann: Gewaltsoziologie am Scheideweg. Die Auseinandersetzung in der gegenwärtigen und Wege der zukünftigen Gewaltforschung, in: Trutz von Trotha (Hrsg.): Soziologie der Gewalt, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 37/1997, S. 5985, S. 59 Vgl. Michelle Nicoletti: Die Politische Theologie Carl Schmitts und die mimetische Theorie René Girards, in: Bernhard Dieckmann (Hrsg.): Das Opfer. Aktuelle Kontroversen. Religionspolitischer Diskurs im Kontext der mimetischen Theorie. Beiträge zur mimetischen Theorie, Band 12, Münster/Hamburg/London 2001, S. 141-156, S. 147.
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auf diese Weise zu stabilisieren, ist gängige Praxis seit Menschengedenken. So hebt Walter Burkert im Rahmen seiner Opfertheorie hervor: „Dies ist so tief verwachsen mit den Herrschaftssystemen und Wertsetzungen der Gesellschaft, dass selbst heute, nachdem die Technisierung des Kriegs aus versachlichter Distanz seine Absurdität enthüllt hat und seine Funktion der Solidarisierung [Herv. T.V.] ins Gegenteil umzuschlagen beginnt, seine Ausrottung noch in weiter Ferne steht.“404 Die sakrale Überhöhung der Gewalt ist also mitnichten bloß archaisches Relikt. Rein profan motivierte Kriege kennt auch die Moderne nicht. Religionen sind zwar „selten die eigentliche Brandursache, haben aber häufig als Brandbeschleuniger gewirkt“405. Auch wenn ein Krieg aus Gründen der Staatsraison oder kaltem Nutzenkalkül heraus geführt wird, so besteht immer die Gefahr, dass die Gewalt sich mit religiösen Energien auflädt. Hans Kippenberg weist auf den Umstand hin, dass kriegerische Handlungen gerade in der Moderne oft mit religiösen Sinndeutungen unterlegt beziehungsweise überhöht werden können.406 Bereits Max Weber bemerkte: Der „Krieg als die realisierte Gewaltandrohung schafft, gerade in der modernen politischen Gemeinschaft, ein Pathos und ein Gemeinschaftsgefühl und löst dabei eine Hingabe und bedingungslose Opfergemeinschaft [Herv. T.V.] der Kämpfenden und überdies eine Arbeit des Erbarmens und der alle Schranken der naturgegebenen Verbände sprengenden Liebe zum Bedürftigen aus, welcher die Religionen im Allgemeinen nur in Heroengemeinschaften der Brüderlichkeitsethik ähnliches zur Seite zu stellen haben.“407
Die Geisteshaltung im Krieg, so glaubt auch Roger Caillois, ist echt religiös. Der Krieg gilt als eine heilige Zeit, er ist eine Epiphanie des Göttlichen. Er eröffnet den Menschen eine berauschende Welt, in der die Gegenwart des Todes ihn erschauern lässt und all seinen Handlungen eine höhere Weihe verleiht.408 Auf dem 404 405
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Burkert: Homo Necans, a. a. O., S. 59. Hans G. Kippenberg: Gewalt als Gottesdienst. Religionskriege im Zeitalter der Globalisierung, München 2008, S. 198. Vgl. Hans G. Kippenberg: Religiöse Sinn-Deutungen in säkularen Konflikten, in: Vasilios N. Makrides und Jörg Rüpke (Hrsg.): Religionen im Konflikt. Vom Bürgerkrieg über Ökogewalt bis zur Gewalterinnerung im Ritual, Münster 2005, S. 18-26. Max Weber: Zwischenbetrachtung, in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1, 9. Aufl., Tübingen 1988, S. 536-573, S. 548. Vgl. Caillois: Der Mensch und das Heilige, a. a. O., S. 229.
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Schlachtfeld formiert sich die politische Gemeinschaft, durch die kollektive Konstruktion des Feindbildes zusammengeschweißt, zur neuen religiösen Solidargemeinschaft. Zwischen denen, die gemeinsam diese Weihe empfangen oder Seite an Seite die Gefahren der Gewalt teilten, herrscht Waffenbrüderschaft.409 Gewalt wird nach außen verschoben, die Kampfgemeinschaft ist enger denn je zusammengeschweißt. So kann hier auch der Vermutung Volkhard Krechs gefolgt werden, der besorgt fragt, ob der Krieg nicht die Fortsetzung des rituellen Opfers mit anderen Mitteln sei.410 Die Erwartung der Neuzeit, einen Zustand zu erreichen, der die Koppelung des Heiligen mit der Gewalt auflöst, ist folglich in Frage gestellt: „Der Prozess der Säkularisierung ist im Gegensatz zu seinem eigenen Anspruch nicht dazu in der Lage, das Heilige zu verzehren oder sogar auszulöschen“411, schreibt Roberto Calasso mit Blick auf die Gewaltseite des Sakralen. Archaisches Opfer und heiliger Krieg scheinen soziologisch betrachtet tatsächlich nur zwei Seiten ein und desselben Strukturmusters zu sein, denn die Sakralisierung des Krieges fügt sich in den Strom von Handlungen ein, die „mit dem Töten in die Praxis des Opfers, mit der Emotionalität in die wohl archaische Verwandtschaft der Verwirklichung von Eros und Thanatos, mit der Strategie in den rituellen Kampf“412 führen. Wieder führt das Wechselspiel des Heiligen und der Gewalt zu der Hoffnung, dass es zu Kontrolle dessen beitragen kann, was seit altersher mit der Gewalt einhergeht: Chaos, Zerstörung, Anomie. Das Heilige will eine symbolische Herrschaft über die Gewalt und Unordnung im Leben gewinnen. Hierbei ist es Juergensmeyer zufolge interessant, dass das englische Wort für Krieg – ‚war‘ (im Altenglischen ‚werra‘, im Altfranzösischen ‚guerra‘) – etymologisch ‚Verwirrung‘, ‚Uneinigkeit‘, und ‚Zwist‘ bedeutet.413 Die Kriegsgemeinschaft kann durch die Erfindung eines Feindes die Krisensituation als beherrschbarer emp-
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Vgl. ebd., S. 230. Vgl. Volkhard Krech: Opfer und Heiliger Krieg: Gewalt aus religionswissenschaftlicher Sicht, in: Wilhelm Heitmeyer und John Hagan (Hrsg.): Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002, S. 1255-1275, S. 1269. Roberto Calasso: Der Untergang von Kasch, Frankfurt am Main 1997, S. 321. Carsten Colpe: Der ‚Heilige Krieg‘. Benennung und Wirklichkeit. Begründung und Widerstreit, Bodenheim 1994, S. 32. Vgl. Juergensmeyer: Terror im Namen Gottes, a. a. O., S. 220.
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finden – ebenso wie der Opfermechanismus Gewaltkrisen beherrschbar machte, indem er ein schuldiges Opfer als Feind der Gemeinschaft erfand. Hier liegt nun der Schlüssel zum Verständnis auch derjenigen religiösen Bewegungen des 21. Jahrhunderts, die Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele ausüben. Auch bei Anerkennung der Verschiedenheit der Ursachen und Konstellationen von Konfliktverläufen, in denen Religion eine Rolle spielt, findet sich doch ein Gemeinsames im Verschiedenen. Leitmotiv gewaltbereiter Religionsgruppen ist die Herstellung einer neuen religiösen Gemeinschaft, die einen als pathologischanomisch, chaotisch und existenziell bedrohlich empfundenen Zustand in eine stabile Ordnung überführt. Und die Religion bildet Georg Simmel zufolge schon immer „einen festen Punkt in allem Schwankenden“414 und offeriert den Bedrohten „Gerechtigkeit in und hinter den Grausamkeiten des Lebens.“415 Die Stabilisierung im Schwankenden kann aber leicht über eine feindbildgenerierende Polarität von Inklusion versus Exklusion erzeugt werden. Dies wird besonders deutlich durch die neuen religiösen Fundamentalismen in einer Weltgesellschaft, die üblicherweise als ‚säkular‘ beschrieben wird. In beiden Fällen kommt es zu Insulationsprozessen, zu minoritären Exklusionsverhältnissen, die Standorte für Identitätsgewissheit anbieten.416 Weil es um die Ver-Sicherung der Identität im Chaos geht, ist Gewalt im Spiel. Die Gewalt ist das vermutlich ausdrucksstärkste Mittel, mit dem man existenzielles Engagement anzeigen kann. Es geht hier Luhmann zufolge immer auch darum, Unirritierbarkeit im Angesicht einer Weltgesellschaft, die die Steigerung der Irritation gewissermaßen als gesellschaftliches Betriebsprinzip eingeführt hat, zu kommunizieren.417 Die Ambivalenz religiöser Vergemeinschaftung folgt ganz der Ambivalenz des Sakralen. So stellt Mark Juergensmeyer klar, dass für „nahezu alle Fälle von religiösem Terrorismus gilt: Wenn es die Feinde nicht gibt, müssen sie erfunden werden. Verfolgen solche Szenarien das Ziel, den eigenen Anhängern ein Gefühl von Machtgewinn und Hoffnung zu verleihen, so kann dies ohne Feindbild oder negative Kontrastfigur, über die man sich erhebt, nicht gelingen. Anders gesagt: 414 415 416 417
Simmel: Die Religion, a. a. O., S. 114. Ebd. Vgl. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, a. a. O., S. 796. Vgl. ebd.: „Auch und gerade Gewalt ist, weil sie das Fürchten lehrt, ein kommunikatives Ereignis ersten Ranges.“
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Ohne Feind kein Krieg.“418 Indem die Religion die Gewalt dergestalt als beherrschbar darstellt, so wie der Opfermechanismus Gewaltkrisen beherrschbar machte, bestätigen sie immer den Vorrang der Ordnung vor dem Chaos. Deshalb ist trotz all der blutigen Bilder und der Gewalt, so paradox dies zunächst auch klingen mag, doch immer der soziale Frieden, der Erhalt der sozialen Ordnung das Ziel der Religion.419 Hier soll nun aber keinesfalls suggeriert werden, dass die Religion Solidarität ausschließlich über das Opfer, über die Polarität von Inklusion versus Exklusion, über die Generierung von Feindbildern oder dem Ausrufen des Heiligen Krieges herstellen könnte.420 Allzu oft wird übersehen, dass Religionen und Glaubensgemeinschaften Konflikte nicht nur eskalieren, sondern dem Einsatz von Gewalt auch entgegenwirken oder Konflikte de-eskalieren können.421 Jede Weltreligion enthält in ihren Schriften Empathie und Mitleid für die Opfer kollektiver Gewalt, was in den späteren Kapiteln dieser Arbeit belegt werden wird.422 In allen großen Religionstraditionen und ihrer kulturellen Semantik finden sich eine Entkoppelung des Heiligen und der Gewalt sowie eine Überwindung von Exklusionsmechanismen, die für das Heraufkommen religiöser Feindbildkonstruktionen verantwortlich sind. Bevor die vorliegende Arbeit nun zur Analyse der Weltreligionen fortschreitet, sollen in der sogleich folgenden Zwischenbetrachtung die wichtigsten Ergebnisse noch einmal präsentiert werden, um den weiteren Fortgang der Arbeit methodisch zu sichern.
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Juergensmeyer: Terror im Namen Gottes, a. a. O., S. 235. Vgl. ebd. Vgl. J. Gordon Melton und David G. Bromley: Challenging Misconceptions about the New Religions-Violence Connection, in: David G. Bromley und J. Gordon Melton (Hrsg.): Cults, Religion and Violence, Cambridge 2002, S. 42-56, S. 42ff. Vgl. Andreas Hasenclever: Merkmale gewaltresistenter Glaubensgemeinschaften – Überlegungen zum Schutz religiöser Überlieferung vor politischer Vereinnahmung, in: Manfred Brocker und Mathias Hildebrandt (Hrsg.): Friedensstiftende Religionen? Religion und die Deeskalation politischer Konflikte, Wiesbaden 2008, S. 179-204, S. 187. Vgl. R. Scott Appleby: The Ambivalence of The Sacred. Religion, Violence and Reconciliation, Lanham/Boulder/New York/Oxford 2000, S. 78ff.
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8. Zwischenbetrachtung. Die Ambivalenz des Sakralopfers und die Elementarformen der Gemeinschaft
Der theoretische Grundriss warf die Frage auf, in welchem genealogischen und systematischen Verhältnis Religion, Gewalt und Gemeinschaftsbildung stehen. Die Analyse setzte mit einer definitorischen Minimalbestimmung der religiösen Grundelemente ein, die aus den religionssoziologischen Untersuchungen Webers, Simmels und Durkheims abgeleitet wurden. Religion bezieht sich auf ein System aus (1) religiösen Vorstellungen und dem (2) Kultus ein und derselben (3) Dauergemeinschaft. Dabei grenzt das religiöse Denken das Reich des Heiligen, in dem sich Lebensfeier und Todesgrauen abwechseln, von der Welt des Profanen, in der die Menschen ihren vergleichsweise folgenlosen Alltagstätigkeiten nachgehen, als verbotsbewehrtes Areal ab. Vom Heiligen, so lehren es die diesbezüglich entscheidenden Entwürfe von Durkheim, Girard, Freud, Juergensmeyer, Baudler und Burkert, gehen ambivalente Energien aus, von denen die Gemeinschaft alles zu erhoffen und zugleich alles zu befürchten hat. Der Grund dieser Ambivalenz des Heiligen findet sich darin, dass die Religion in ihren elementaren Erscheinungsformen als ein System des Gewaltmanagements zu begreifen ist. In diesem Zusammenhang erwies sich die Analyse des Opferkultus als universal verbreitete Religionsinstitution als fruchtbar. Mit dem Opfer wird eine Institution in das soziale Leben eingeführt, die das Aufkommen einer gemeinschaftszerstörenden Dynamik der Gewaltentgrenzung einhegt, indem eine Gewalt eingeführt wird, die keine weitere Gewalt nach sich zieht. Sobald die soziale Ordnung bedroht ist, werden im Rahmen eines mit Merton soziologisch als latent bezeichneten, also nicht bewusst durchschauten Prozesses Opfer gewählt, für die Krise verantwortlich gemacht, stigmatisiert und beseitigt.
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Die entstandene Krisensituation wird somit durch einen Vorgang der Viktimation beigelegt, indem die Gewalt auf eine spezifische Person oder Teilgruppe konzentriert wird, an der sich die Gewalt entlädt. Dergestalt stellt das in der Perzeption der Gemeinschaft bösartige Opfer post mortem den Frieden der Gemeinde blitzartig wieder her, sodass es nach seiner Ausstoßung in den Stand eines Gottes erhoben wird, der erst die Gewalt säte, um dann der Gemeinschaft den Frieden zu bringen. Dem sich an dieser Stelle möglicherweise aufdrängendem Vorbehalt, alle archaischen Religionen als Systeme der Grausamkeit zu desavouieren, da das Heilige als sakralisierte Gewalt auftritt, ist zu entgegnen, dass Gewalt, auch wenn ihr sanktionierender Einsatz dosierter, berechneter und gemildert ist, auch im Wirkungsbereich des Staates – von Hobbes nicht umsonst als deus mortalis bezeichnet – keine Randerscheinung darstellt. Keine umfassende Ordnung kann auf eine souveräne Gewalt, die die Entgrenzung der Gewalt verhindert, verzichten, auch wenn die Stabilität des Staatsgefüges mitunter über diesen Umstand hinwegtäuschen mag. Hierauf zielte die oben entwickelte These einer funktionalen Äquivalenz von archaischem Opfer und staatlichem Gewaltmonopol. Mit Heinrich Popitz bleibt festzuhalten, dass es keine Sozialordnung gibt, die Gewalt gewaltlos neutralisieren kann: „Aber auch soziale Ordnungen, die Gewalt eingrenzen, hexen Gewalt nicht hinweg. Sie benötigen vielmehr selbst Gewalt – eine ‚Eigengewalt der Ordnung‘ –, um die Eindämmung von Gewalt durchzusetzen und sich selbst verteidigen zu können. Jeder Ordnungsentwurf unterliegt diesem circulus vitiosus der Gewalt-Bewältigung: Soziale Ordnung ist eine notwendige Bedingung der Eindämmung von Gewalt – Gewalt ist eine notwendige Bedingung zur Aufrechterhaltung sozialer Ordnung.“423
Die These einer ordnungsstiftenden, weil gewaltbeendenden Kraft des Opfers rekurriert wiederum auf die religionssoziologischen Studien Durkheims, der die bereits zitierte These vertrat, dass alle großen Institutionen aus der Religion geboren wurden. Zieht man den von Werner Gephart aus der Soziologie Durkheims gewonnenen Begriff des sozialen Lebens (vie social), der die gesellschaftlichen Grundelemente von (a) Symbol, (b) Kult, (c) Norm und (d) Organisation umfasst, hinzu, so wird deutlich, dass der elementare Aufbau des sozialen Le423
Popitz: Phänomene der Macht, a. a. O., S. 63.
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bens nicht hinreichend begriffen ist, wenn die Verbindungen, die das Heilige zur Gewalt unterhält, nicht ausreichend berücksichtigt werden. Die analysierten Formen des religiösen Lebens lassen sich nun dieser These zuordnen. Mit Berücksichtigung der obigen Religionsdefinition ergibt sich folgender Zusammenhang: Religiöse Mythen geben das Geschehen des Opfermechanismus wieder und symbolisieren die Sakralisierung der Gewalt in textueller Form. Der religiöse Kultus ist die kontrollierte Wiederholung einer Urtötung und dient dazu, dem Kollektiv in periodischen Abständen Gewalt zu entziehen. Verbote, die den Bereich des Heiligen vom Profanen isolieren, dienen der Gewaltprävention. Zur Veranschaulichung dieses komplexen Wechselverhältnisses mag die folgende Abbildung, die die Ambivalenz des Sakralen im Aufbau des Sozialen zu erfassen sucht, dienen. Die Ambivalenz des Sakralopfers im Aufbau des Sozialen Symbol Der Mythos kann als eine symbolische Erzählung einer kollektiven Ur-Tötung, die zum Gründungsereignis einer kultischen Gemeinschaft wird, interpretiert werden. Zugleich repräsentiert der Mythos die kollektiven religiösen Überzeugungen, die Wahrheit und Ideologie der Gemeinschaft.
Organisation Der Opferkult führt zu einem ausdifferenzierten Rollen- und Organisationssystem, das den Teilnehmern verschiedene Funktionen und Aufgaben für den Vollzug des Kults zuweist (z.B. Opferpriester und Kultgemeinschaft).
Kultus Periodische Ausübung von reiner Gewalt im Opferkult, um die Gefahr unreiner Gewaltentgrenzung zu kontrollieren. Der Heilige Krieg ist die Fortsetzung des Opfers mit anderen Mitteln. Mechanismen von Inklusion vs. Exklusion bilden im Opfer und Krieg vergleichbare Strukturen aus: Die Gemeinschaft entsteht durch Abgrenzung nach außen und Bindung nach innen; strukturelle Analogie zwischen ausgestoßenem Opfer und äußerem Feind wird erkennbar. Normen Herstellung der (frei benutzbaren) profanen Welt durch (Gewalt-)Verbote, die zugleich den Zugang zum Heiligen regulieren. Die Legitimität der Opfergewalt als kontrollierter Gewaltsakralisierung bleibt für die archaische Gemeinschaft notwendigerweise bestehen.
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Das obige Modell424 umfasst die elementaren Formen des sozialen Lebens und kombiniert es mit den definitorischen Minimalbestimmungen der zu Beginn gefassten Religionsdefinition. Es entspricht der Logik des sakrifiziellen Denkens, dass das Töten eines Einzelnen in der Absicht, dem gewaltsamen Untergang der Gemeinschaft zuvorzukommen, dem Kollektiv als gerechtfertigt erscheinen muss. Die Opfertötung feiert das Leben, hebt die alte Ordnung ins Bewusstsein und verleiht dem sozialen Band neue Gültigkeit. Zugleich kann die ordnungsgenerierende Kraft des Opfers eine plausible Antwort auf das Problem sozialer Ordnungsbildung, wie oben mit Talcott Parsons neu aufgerollt, geben. Mit der Urtötung wird aus dem primordialen Chaos Ordnung geboren. Das Ursprungsopfer, das verborgen in den Tiefen der Geschichte liegt und von dem der Mythos in nur verschleierter Weise Kunde gibt, stiftet die für jede Sozial- und Denkentwicklung notwendigen Differenzen. Zugleich wird jene soziale Matrix, die zum Entwicklungsmotor von Symbolen, Kultus, Normen und Organisation wird, gebildet Das soziale Leben, so lautet die insgesamt doch beunruhigende Einsicht, ist mit dem Heiligen als der Gewalt eng verschlungen. Die These, dass es die Gewalt ist, die die Grundlage des Heiligen bildet, bedeutet zugleich, dass alles, was mit Transzendenz oder Übernatürlichkeit assoziiert ist, einen rein sozialen Ursprung hat. Diese Lesart der Religion ist eine genuin soziologische, da für das Heilige eine Erklärung gesucht und gefunden wurde, die nicht aus einem metaphysischen Horizont herrührt, sondern sich allein im gesellschaftlichen Horizont repräsentieren lässt. Das Soziale wurde somit allein durch Soziales erklärt. Der Aspekt des Opfers wurde sodann anhand der Polarität von Inklusion versus Exklusion weiterentwickelt. Das Opfer, das in den archaischen Kulten sein Leben ließ, ist mitnichten, so die von Mark Juergensmeyer in seiner Untersuchung über gewaltbereite Fundamentalismen vornehmlich an Girard und Burkert adressierte Kritik, mit dem Opfer eines Krieges oder dem (Selbst-)Opfer eines Selbstmordattentäters vergleichbar. Letztere gehen als feste Mitglieder ihrer Gemeinschaft, also für die Gemeinschaft in den Tod. Dennoch bestehen zwischen Opferkult und (heiligem) Krieg erhebliche strukturelle Ana424
Abbildung abgeleitet aus: Gephart: Gesellschaftstheorie und Recht, a. a. O., S. 393.
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logien. Der Vorgang der Ausstoßung eines Opfers kann soziologisch als ein Mechanismus der Exklusion verstanden werden. Die Gemeinschaft stabilisiert sich durch Abgrenzung nach außen und stärkere Bindung nach innen. Da das Opfer im Verlauf seiner Opferung der Gemeinschaft vollständig entfremdet wird – es wird zum Feind der Gemeinschaft –, ist seine ursprüngliche Gemeinschaftszugehörigkeit für die Beteiligten nicht mehr erkennbar. Da der Exklusionsvorgang die Merkmale einer kollektiven Konstruktion von Feindbildern aufweist, ist von einer Wahlverwandtschaft von religiösem Mythos und politischer Ideologie auszugehen. Die Gewalt wird immer gegen ein ideologisch verklärtes Ziel gerichtet, das sich außerhalb der Gemeinschaft befindet: Opfer und Feind sind Eins. Entsprechend kann mit Maria Stella Barberi konstatiert werden, dass die Metamorphosen und die modernen Vermittlungen des Politischen als Maskierungen des gewalttätigen Sakralen zu interpretieren sind. Eben dieser Logik folgen auch die modernen Bewegungen religiöser Selbstermächtigung, die sich zur Gewaltausübung gegen ihre Feinde bereitfinden. Der gleichbleibende Impuls von ganz unterschiedlichen gewaltbereiten Religionsströmungen in der Moderne, dies zeigten die soziologischen Analysen Juergensmeyers, empfangen ihre ungebrochene Vitalität exakt aus einer Feindbildkonstruktion, die wiederum den Mythos eines kosmischen Krieges, den Kult, die Organisation und die maßgeblichen Verhaltensnormen der Gemeinschaft bestimmt. In dieser Hinsicht ist die Struktur der zurückgekehrten gewaltbereiten Religionen durchaus mit archaischen Opfergemeinschaften vergleichbar. Auf einer anderen Ebene ist dem religiösen Denken seit jeher das Heilsversprechen inhärent. Religionen treten in Grenzfällen des Lebens als gesellschaftliche Schutzmacht auf. So wie das archaische Opfer die Gesellschaft vor Gewalt und Anomie schützt, stellt die Religion auch auf der Sinnebene einen heiligen Kosmos auf, der gegen gewaltinduzierte Anomie antritt und die Gesellschaft von den sie umgebenden lauernden Unwirklichkeiten entlastet. Begreift man die Religion mit Martin Riesebrodt als ein Ensemble aus Heilsversprechen und Kult, so ist das Entschwinden der Religion in der Moderne tatsächlich unwahrscheinlich. Es zeigte sich, dass die Religion seit Anbeginn allen Denkens nicht nur eine gewaltpräventive Sicherheitsventilinstitution darstellt, sondern auch in der Welt der Moderne eine soziale Institution der Krisenbewältigung geblieben ist. 119
Solange die modernen Sinnsysteme die Hoffnung einer Abschaffung der Mortalität des Körpers, das Versprechen einer Beherrschung der Natur und der gesellschaftlichen Beziehungsgeflechte, schließlich den Glauben an die Überwindung von Krieg und Gewalt verbreiten konnten, befand sich die Religion auf dem Rückzug. Mit dem zumindest partiellen Zusammenbruch dieses Glaubens kehren aber die Götter in die Moderne zurück. In dieser Perspektive stellen die gleichzeitigen Prozesse von Säkularisierung und Revitalisierung von Religion in der Moderne keinen Widerspruch dar, sondern repräsentieren zwei Seiten desselben Transformationsprozesses. Das Heilsversprechen der Religionen stiftet dort neuen Sinn und neuen Zusammenhalt, wo die modernen Tröstungen versagen oder gar zu einem Zusammenbruch ontologischer Sicherheiten geführt haben. Allerdings ist die moderne Welt nicht mehr durch die archaischen Religionen, denen eine Kopplung des Heiligen und der Gewalt zugrunde liegt, strukturiert. In dem folgenden zweiten Hauptkapitel Gewalt und Gewaltüberwindung in den Weltreligionen wird sich zeigen, dass die archaischen Formen der Religionen lediglich die historischen Vorläufer der nah- und fernöstlichen Weltreligionen bilden, die sich als Gegen-Religionen von den archaischen Religionen abzusetzen suchten. Dies geht einher mit einer Änderung des Heilsversprechens der religiösen Ethik. Das Hauptaugenmerk wird sich darauf zu richten haben, wie die einzelnen Traditionen sich zur Anbetung der Gewalt verhalten haben. Da der Opfermechanismus als latenter Funktionszusammenhang bestimmt wurde, muss davon ausgegangen werden, dass das Kollektiv gegenüber seinen Handlungen blind ist. Inwiefern konnte dieses System der Verkennung aufgehoben werden? Wie kann das Heilige ohne Gewalt wahrgenommen werden und welche neuen Ideen kamen auf, um Prozesse der Gemeinschaftsbildung gewaltfrei zu steuern? Zur Beantwortung und weiteren Orientierung der Analyse wird das oben vorgestellte Schema der Ambivalenz des Sakralen im Aufbau des Sozialen zur Anwendung kommen. Entsprechend lassen sich die relevanten Fragen soziologisch wie folgt präzisieren: Welche Position haben die Weltreligionen in ihren Ur-Kunden gegenüber der heiligen Gewalt in Symbolen, Kultus, Normen und Organisation der archaischen Religionen gefunden?
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Gewalt und Gewaltüberwindung in den Weltreligionen
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1. Judentum, Christentum und Islam
1.1 Gewalt, Urzustand und Schöpfung in der Bibel „Deshalb ist die Bibel ein ewig wirksames Buch, weil, so lange die Welt steht, niemand auftreten und sagen wird: Ich begreife es im Ganzen und verstehe es im Einzelnen.“425 (Johann Wolfgang von Goethe)
In den Schriften des Alten Testaments ist immer wieder die Rede von der Ausübung von Gewalt. Es wird berichtet von Mord und Totschlag, Raub, Vergewaltigung, von Gewalt sogar gegen wehrlose Frauen und Kinder sowie einer Vielzahl heiliger Kriege, die in der totalen Vernichtung der unterlegenen Völker enden. Sieht man von der Frage ab, wie zuverlässig derartige Erzählungen im streng historischen Sinne sind, so ist es doch gemeinhin unbestritten, dass auf der Ebene des Textes die Problematik der Gewalt eine zentrale Rolle spielt.426 Den Auftakt dieser Welt schier endloser Gewalt bildet der Brudermord in der Genesiserzählung von Kain und Abel, in der sich sogleich ein enger Zusammenhang von Gewalt und Opfer zeigt.427 Das unmittelbare Handlungsmotiv für die Tötung des Schafhirten Abels ist die Eifersucht Kains, die ihren Ursprung darin findet, dass Gott die Opfergabe Abels bereitwillig annimmt, aber die Opfergabe Kains verschmäht. Daher, so die Genesis, „griff Kain seinen Bruder an und erschlug ihn.“428
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Johann Wolfgang von Goethe: Bücher und Bibel, in: Ders.: Sprüche in Prosa, im Originalzusammenhang wiederhergestellt und mit Erläuterungen versehen von Harald Fricke, Frankfurt am Main/Leipzig 2005, S. 131. Vgl. Georg Baudler: Ursünde Gewalt. Das Ringen um Gewaltfreiheit, Düsseldorf 2001, S. 30ff. Gen 4,1-16. Gen 4,8.
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Der Text zeigt, dass derjenige zum Brudermörder wird, dessen Opfer seine Funktion der Gewaltabsorption nicht (mehr) hinreichend erfüllt. „Nicht weil Kain böse war, wurde sein Opfer abgelehnt; sondern weil sein Opfer nicht die gewünschte Wirkung erzielte, wurde er zum Rivalen und Mörder.“429 Dabei sehen die Texte des Alten Testaments das Opfer stets in einem doppelten und ambivalent bewerteten Bezugszusammenhang, denn einerseits weist eine Vielzahl der Aussagen auf den Umstand hin, „dass die Gewalt dort aufbricht, wo die Opfer nicht mehr richtig funktionieren. Andererseits werden gerade wegen einer tieferen Einsicht in das Wesen der Gewalt die Opfer als unfähig erkannt, dieses Böse aus der Gemeinschaft wegzuschaffen. Kain hat Blut vergossen, weil sein Opfer nicht angenehm war.“430 Die Bedeutung der Erzählung von Kain und Abel gewinnt ein noch schärferes Profil, wenn man sie mit anderen mythischen Texten vergleicht. So findet man beispielsweise in der römischen Mythologie ähnlich zum biblischen Text ebenfalls ein Brüderpaar, das am Anfang einer neuen Kultur steht: Romulus und Remus. Romulus tötet seinen Bruder Remus und wird zur identifikatorischen Leitfigur eines Weltimperiums.431 Kain gleicht in dieser Beziehung ganz dem Romulus, auch er ist ein Brudermörder und wurde ebenfalls ein Städtegründer, nämlich der Stadt Henoch.432 Allerdings existiert ein gewichtiger Unterschied zwischen den beiden Brüderpaaren, denn der biblische Text ergreift ganz die Partei des Opfers, nämlich die von Abel, wohingegen Romulus die unkritisierte Gründungsfigur des römischen Reiches wird. Entscheidend ist für diese erste perspektivische Umkehr, dass der Brudermord bestraft wird: „Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er entgegnete: Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders? Der Herr sprach: Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit zur mir vom Ackerboden.“433
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Raymund Schwager: Brauchen wir einen Sündenbock? Gewalt und Erlösung in den biblischen Schriften, München 1978, S. 98. Ebd. Vgl. Burkhard Gladigow: Gewalt in Gründungsmythen, in: Nikolaus Buschmann und Dieter Langewiesche (Hrsg.): Der Krieg in den Gründungsmythen europäischer Nationen und der USA, Frankfurt am Main 2003, S. 23-38, S. 31. Gen 4,18. Gen 4,9-11.
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Kain wird dazu verurteilt, ruhelos und vogelfrei über den Erdboden zu wandern. Er klagt: „[W]er mich findet, wird mich erschlagen.“434 Gott aber verspricht, Kain vor der Rache zu schützen und stigmatisiert ihn mit dem Kainsmal, das dem Rächer Abels die siebenfache Rache Jahwes androht. Kain kann sesshaft werden und eine Gemeinschaft gründen, da Jahwe das Rachemonopol, vergleichbar zum Gewaltmonopol des modernen Rechtsstaates, für sich allein beansprucht. Es wird also eine heilige Instanz eingeführt, die jede weitere Rache unterbindet und dergestalt die Entgrenzung der Gewalt verhindert.435 Damit wird ein Prozess in Gang gesetzt, der von Max Weber im Zusammenhang mit einer späteren Schrift des Alten Testaments, dem Deuteronomium, als ein „Gottanheimstellen“436 der Rache bezeichnet wird. Diese Monopolisierung der Rache bei Jahwe geschieht allerdings in der Hoffnung, dass Gott die Rache zum passenden Zeitpunkt „dann um so gründlicher vollbringen werde.“437 Bevor es jedoch zu dieser Gottanheimstellung der Rache kommt, bereut Gott seine Schöpfung, die er der Vernichtung anheimfallen lässt. Die entscheidende Aussage, die die Vernichtung der gesamten Menschheit, mit der Ausnahme Noachs, durch globale Überschwemmung, die Sintflut, begründet, lautet denkbar knapp: „Die Erde aber war in Gottes Augen verdorben, sie war voller Gewalttat.“438 Wieder zeigt sich eine enge Verbindung zum Opfer und seiner Funktion der Gewaltabsorption. Noachs Gegengabe nach der überstandenen Katastrophe ist bezeichnenderweise ein von ihm durchgeführtes Opfer, das den Bund mit Gott besiegelt und den Gotteszorn besänftigt. „Dann baute Noach dem Herrn einen Altar, nahm von allen reinen Tieren und von allen reinen Vögeln und brachte auf dem Altar Brandopfer dar. Der Herr roch den beruhigenden Duft, und der Herr sprach bei sich: Ich will die Erde wegen des Menschen nicht noch einmal verfluchen;
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Gen 4,14. Gen 4,15 „Darum soll jeder, der Kain erschlägt, siebenfacher Rache verfallen.“ So Max Weber mit Bezug auf Dtn 32,35: „Für die Thoralehrer war der Vorbehalt der Rache für Gott die naturgemäße ethische Parabel der Beseitigung der Blutrache auf rechtlichem Gebiet und das positive Gebot der ‚Liebe‘ des Nächsten eine Übertragung der Grundsätze der alten Sippenbrüderlichkeit auf den Glaubensbruder.“ Max Weber: Das Antike Judentum. Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie III, hrsg. von Marianne Weber, 8. Aufl., Tübingen 1988, S. 277. Ebd. Gen 6,11.
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denn das Trachten des Menschen ist böse von Jugend an. Ich will künftig nicht mehr alles Lebendige vernichten, wie ich es getan habe.“439
Erst nach dem Vollzug des Opfers, soviel wird deutlich, ist die Krise endgültig überwunden. In erster Linie ist es nicht der Vertrag, der Bund oder das Gesetz (berith-Konzeption), sondern es ist das Opfer, das die Gemeinschaft mit Jahwe gründet.440 Dem göttlichen Gewaltverzicht korrespondiert, dass auch die Menschen keine Gewalt anwenden sollen. Die göttliche Bestrafung Kains und das fünfte Gebot – „Du sollst nicht morden“441 – sprechen eine deutliche Sprache und stehen exemplarisch für eine Vielzahl weiterer Gewaltverbote im Alten Testament. Obwohl somit aber die Ablehnung der schlimmsten Form der Gewalt formuliert ist, stehen eine Reihe von Texten im Alten Testament in direktem Widerspruch gegen das Tötungsverbot. Die archaische Rache und ihre gewaltentgrenzende Wirkung wird vom biblischen Talionsrecht gleich an mehreren Textstellen aktiviert. Es gilt die Maxime: „Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, Brandmal für Brandmal, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme.“442 Die Konsequenz ist die Welt der entgrenzten, der totalen Gewalt; und so heißt es auch: „Bluttat reiht sich an Bluttat“443; es häuft sich „Lüge auf Lüge, Gewalt auf Gewalt“444, alle „lauern auf Blut, einer macht Jagd auf den anderen.“445 Der Kampf aller gegen alle samt seiner verhängnisvollen, da rational untermauerten Logik des Misstrauens unterhöhlt selbst die engsten sozialen Bindungen: „Traut eurem Nachbarn nicht, verlasst euch nicht auf den Freund!“446 Auch wenn Jahwe den Bund geschlossen hat, die Schöpfung kein zweites Mal dem Verderben anheimfallen zu lassen, so bricht in vielen weiteren Passa439 440
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Gen 8,20-21. Zur berith-Konzeption in Anschluss an Weber vgl. Giesing: Religion und Gemeinschaftsbildung, a. a. O., S. 225. Dtn 5, 17-20. Ex 21,23-25; in kürzerer Form Lev 24,19-21: „Bruch um Bruch, Auge um Auge, Zahn um Zahn.“; ferner Dtn 19,21: „Und du sollst in dir kein Mitleid aufsteigen lassen: Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß.“ Hos 4,2. Hos 12,2. Mich 7,2. Mich 7,5.
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gen sein gewalttätiger Absolutheitsanspruch hervor. In seiner Person scheint sich die soziale Dynamik der Gewalt zu manifestieren. Insbesondere in Kriegszeiten steht er als Schlachtengott einer Vielzahl ungehemmter Gewaltorgien vor. Mit Kriegsruf und Kriegsgeschrei wird die Schlacht eröffnet, den Sieg bringt der Jahwe-Schrecken, der die Feinde befällt und verstört, sodass sie der Mut verlässt. Den Höhepunkt und den Abschluss des Heiligen Krieges bildete die so genannte Praxis des Bannes, die Übereignung der Beute an Jahwe. Dabei werden nicht nur die Schätze, Gold und Silber, sondern ebenfalls die Besiegten an Jahwe übergeben, indem man sie allesamt tötete.447 So berichtet Moses im Deuteronomium: „Wir weihten sie der Vernichtung, wie wir es mit Sihon, dem König von Heschbon getan hatten. Wir weihten die ganze männliche Bevölkerung und die Frauen, Kinder und Greise der Vernichtung. Alles Vieh und das, was wir in den Städten geplündert hatten, behielten wir als Beute.“448 Der Akt des Banns ist nicht gleichzusetzen mit einer profanen Plünderung, denn zweifellos wäre es vorzuziehen gewesen, die Besiegten als Sklaven zu verkaufen. „Vielmehr handelt es sich um eine Art Opferritual, in dem die Bevölkerung der eroberten Städte sogar oft samt ihren Tieren vernichtet wird.“449 In diesem Bann, der eine „Weihung zur Zerstörung“450 darstellt, manifestieren sich gewalttätige Epiphanien des Heiligen und die „dunklen Seiten Gottes“451 treten grell erleuchtet hervor. Zu diesen dunklen Seiten gehört ebenfalls die Eifersucht und Intoleranz des Jahweglaubens. Auf die Menschen, die Jahwe nicht anbeteten, wird sein Zorn herabgefleht: „Gieß deinen Zorn aus über die Heiden, / die dich nicht kennen, / über jedes Reich, das deinen Namen nicht anruft.“452 Opponenten und Abweichler oder andere Formen der Devianz sind zu sanktionieren – im Deuteronomium steht geschrieben: „Du sollst das Böse aus Deiner Mitte wegschaffen.“453
447
448 449 450 451 452 453
Vgl. Gerd Lüdemann: Das Unheilige in der Heiligen Schrift. Die andere Seite der Bibel, Stuttgart 1996, S. 45. Dtn 3,6-7. Lüdemann: Das Unheilige in der Heiligen Schrift, a. a. O., S. 45. Ebd., S. 45. Ebd., S. 52. Ps 79,6. Dtn 22,21.
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Viele weitere Textpassagen belegen, dass das antike Judentum die Macht seines Gottes auf besondere Weise in Blut-, Opfer- und Gewalttaten wahrgenommen hat. Dabei scheint sich Jahwe im Töten mitunter selbst zu vergessen. Der Prophet Ezechiel weiß zu berichten, dass Jahwe, sobald ihn die Vernichtungswut ergreift, keinen Unterschied mehr zwischen den Gerechten und den Ungerechten macht. Unterschiedslos alle fallen seiner rasenden und gewalttätigen Dämonie zum Opfer: „So spricht Gott, der Herr: nun gehe ich gegen dich vor. Ich ziehe mein Schwert aus der Scheide und rotte bei dir die Gerechten ebenso wie die Schuldigen aus. Weil ich bei dir die Gerechten und die Schuldigen ausrotten will, deshalb wird mein Schwert aus seiner Scheide fahren, gegen jeden Sterblichen vom Süden bis zum Norden. Dann werden alle Sterblichen erkennen, dass ich, der Herr, mein Schwert aus der Scheide gezogen habe. Und es wird nicht mehr in die Scheide zurückkehren.“454
Darf sich der gerechte Anhänger Jahwes aber schon nicht sicher vor diesem doch als unbeherrscht zu bezeichnenden Gott fühlen, so dürfen die gottlosen Feinde erst recht nicht auf seine Barmherzigkeit hoffen. Auf sie stürzt sich Jahwe wie ein feuerschnaubendes Raubtier: „Mein Atem ist wie Feuer, das euch verzehrt. / Die Völker werden zu Kalk verbrannt. / Sie lodern wie abgehauene Dornen im Feuer.“455 Derartige Textpassagen stellen keineswegs isolierte Randerscheinungen des Alten Testaments dar.456 Der Universalität menschlicher Gewalt entspricht die Universalität der rächenden göttlichen Gewalt. Das Motiv der blutigen Rache Gottes findet sich im Alten Testament noch häufiger als die Problematik der menschlichen Gewalt. An ungefähr tausend Stellen ist davon die Rede, dass der Zorn Jahwes entflammt, dass er mit Tod, Untergang und Vernichtung bestraft.457
454 455 456
457
Ez 21,20. Jes 33,11-12. Vgl. Hans-Peter Müller: Krieg und Gewalt im antiken Israel, in: Adel Theodor Khoury (Hrsg.): Krieg und Gewalt in den Weltreligionen. Fakten und Hintergründe, Freiburg im Breisgau 2003, S. 11-24, S. 11ff. Vgl. Schwager: Brauchen wir einen Sündenbock?, a. a. O., S. 65.
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Alle zitierten Texte, das ihnen innewohnende semantische Dynamit und die Gottesbilder der Gewalt,458 dürfen in ihrer Wirkungskraft nicht unterschätzt werden. Gleichgültig wie diese Texte entstanden und welcher literarischen Gattung sie angehören: Sie sind Bestandteil der Heiligen Schrift mit weltweiter Verbreitung und einer zum Teil äußerst blutigen Wirkungsgeschichte.459 Aufgrund der Allgegenwärtigkeit der Gewalt, die sich bereits in den ersten Kapiteln des Alten Testaments offenbart und ihren Widerhall auch im Neuen Testament findet, erscheint die Bibel nicht wenigen Interpreten als ein zutiefst gewalttätiginhumanes Buch.460 Franz Buggle konstatiert sogar, dass die Stellen der kriegerischen Gewalttätigkeit nicht zuletzt aufgrund ihrer Häufigkeit keineswegs akzidentielle religiöse Betriebsunfälle oder Fremdkörper darstellten, sondern die genuine Grundeinstellung weiter Teile der Bibel zur Gewalt wiedergäben.461 Obwohl Gewalt aber eine zentrale Rolle in den biblischen Schriften spielt, darf nicht übersehen werden, dass sich in ein und denselben Schriften ebenfalls eine ethische Wende hin zu einem Gott der Güte, der Gerechtigkeit und der Fürsorge gegenüber den Menschen vollzieht. Allerdings sind gewaltverhaftete und gewaltüberwindende Texte häufig untrennbar miteinander verwoben, sodass keine Aussagen von letzter Klarheit, sondern widersprüchliche Zeugnisse nebeneinander bestehen bleiben. Dennoch wird sich nachstehend zeigen, dass die vielen Einzeltexte trotz der sich zum Teil widersprechenden Passagen eine spezifische Grundtendenz hin in die Richtung einer sittlichen Kehrtwendung von Mensch und Gott verraten, auch wenn eine problematische „Pluralität der Gottesbilder im Alten Testament“462 erhalten bleibt. Im Zusammenhang mit der Überwindung kollektiver Gewaltakte spielt wieder der Opfermechanismus eine zentrale Rolle. Es wird sich im Rahmen der nachstehenden systematischen Interpretation zeigen, dass das Opfer als soziologisch rekonstruierbarer Sozialmechanismus verantwortlich ist für die Auswahl der Motive und der Themen, die in den biblischen Texten behandelt werden. 458
459
460 461 462
Vgl. Gerlinde Baumann: Gottesbilder der Gewalt im Alten Testament verstehen, Darmstadt 2006. Vgl. Franz Buggle: Denn sie wissen nicht, was sie glauben, oder warum man redlicherweise nicht mehr Christ sein kann. Eine Streitschrift, Hamburg 1992. Vgl. ebd., S. 21ff. Vgl. ebd., S. 48. Baumann: Gottesbilder der Gewalt im Alten Testament verstehen, a. a. O., S. 37ff.
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Verwendet man das Opfer als hermeneutisches Werkzeug, so lassen sich bei der soziologischen Re-Lektüre der jüdisch-christlichen Tradition soziale Prozesse sichtbar machen, die einen detaillierten Einblick in das Wechselspiel des Heiligen und der Gewalt ermöglichen.
1.2 Das Erbe Abrahams. Die Sichtbarkeit des Opfers im Alten Testament „Das eigentliche und ursprüngliche Opfer war Menschenopfer. Wann kam der Augenblick, wo es zum Greuel und zur Dummheit wurde? Die Genesis hält ihn fest, diesen Augenblick, im Bilde des verwehrten Isaak-Opfers, der Substituierung des Tieres. Hier löst sich ein in Gott fortgeschrittener Mensch von überanständigem Brauch, von dem, worüber Gott mit uns hinaus will und schon hinaus ist.“463 (Thomas Mann)
Wenn der Opferkult die kontrollierte Wiederholung eines ursprünglichen Gewaltgeschehens ist, dann kann diese Form des Gemeinschaftserhalts nicht ohne Kritik bleiben, sofern eine gewaltfreie Integration der Gemeinschaft angestrebt wird. Die erste entscheidende „Abwehr der Opferdenkform“464, die zugleich zu einer sukzessiven „Befreiung von einem Gott der Gewalt“465 führt, findet sich in der Erzählung von Abraham und Isaak, die für die drei monotheistischen Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam von grundsätzlicher Bedeutung ist. Der Opferbefehl, der aufgrund des unergründlichen göttlichen Ratschlusses an Abraham ergeht, lautet: „Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst, Isaak, geh in das Land Morija und bring ihn dort auf einem der Berge, den ich
463
464
465
Thomas Mann: Joseph und seine Brüder, in: Ders.: Deutschland und die Deutschen. Essays 1938-1945, hrsg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski, Band V, Frankfurt am Main 1996, S. 185-200, S. 199. Georg Baudler: Die Befreiung von einem Gott der Gewalt. Erlösung in der Religionsgeschichte von Judentum, Christentum und Islam, Düsseldorf 1999, S. 54. Ebd.
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dir nenne, als Brandopfer dar.“466 Diese Anweisung muss als Nachhall archaischer Opferkulte verstanden werden und Abraham scheint dieser Praxis noch ganz verhaftet zu sein. Er bricht klag-, widerspruchslos und ohne zu zögern auf, um dem Befehl nachzukommen. Im Morgengrauen sattelt er seinen Esel, holt zwei Knechte sowie seinen Sohn Isaak, spaltet Holz zum Opfer und macht sich im dichten Nebel auf den Weg zu dem Ort, den ihm Gott genannt hat.467 Als sie den von Gott bezeichneten Ort erreichen, baut Abraham einen Altar, schichtet Holz, fesselt seinen Sohn Isaak und legt ihn auf den Altar. Dann streckt er seine Hand aus und nimmt „das Messer, um seinen Sohn zu schlachten.“468 In diesem Moment bricht die Nebelwand plötzlich auseinander und Gott widerruft seinen Opferbefehl. Ein Engel verkündet: „Streck dein Hand nicht gegen den Knaben aus und tu ihm nichts zuleide.“469 Durch den aufgerissenen Nebel hindurch sieht Abraham nun einen Widder, der sich mit seinen Hörnern im Gestrüpp verfangen hat und als Ersatzopfer dient. Der zivilisationstheoretisch bedeutende Schritt vom Menschen- zum substituierenden Tieropfer ist in diesem Moment vollzogen.470 Abraham ist dem Mythischen bereits entrückt, denn er ist ausgezogen aus der Religion seiner Väter und aufgebrochen in ein neues Land, das einmal die Opfer-Denkform gänzlich überwinden wird.471 Die Linie der Opferkritik setzt sich fort bei den ältesten, also vorexilischen Schriftpropheten.472 Der grundsätzliche Charakter dieser Kritik kommt dabei am klarsten darin zum Ausdruck, dass die vorexilischen Propheten eine ideale Vor466 467
468 469 470
471 472
Gen 22,2. Sören Kierkegaard sieht hier das Paradox des christlichen Glaubens. Die dem christlichen Glauben innewohnende Absurdität besteht ihm zufolge darin, dass von Gott, der doch ein Gott der Liebe sein soll, erzählt wird, er fordere die Opferschlachtung Isaaks. Diese Suspendierung des Ethischen, also die göttliche Aufhebung des Tötungsverbotes, versetzt Kierkegaard in Furcht und Zittern: „Der ethische Ausdruck für das, was Abraham tat, ist, dass er Isaak morden wollte, der religiöse ist, dass er Isaak opfern wollte; aber in diesem Widerspruch liegt gerade die Angst, die wohl einen Menschen um den Schlaf bringen kann, und doch wäre Abraham nicht der, der er ist, ohne diese Angst.“ Siehe Sören Kierkegaard: Furcht und Zittern. Dialektische Lyrik von Johannes de Silentio, hrsg. von Liselotte Richter, Hamburg 1988, S. 26. Gen 22,10. Gen 22,11. Vgl. Ulrich H. J. Körtner: Religion und Gewalt. Zur Lebensdienlichkeit von Religion in ihrer Ambivalenz, in: Adel Theodor Khoury (Hrsg.): Krieg und Gewalt in den Weltreligionen. Fakten und Hintergründe, Freiburg im Breisgau 2003, S. 99-124, S. 106. Vgl. Baudler: Abschied von einem Gott der Gewalt, a. a. O., S. 140. Vgl. Helen Schüngel-Straumann: Gottesbild und Kultkritik vorexilischer Propheten, Stuttgart 1972, S. 34.
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zeit des Volkes Israel konstruieren, in der das Opfer nicht zur Jahwe-Verehrung gehörte.473 Exemplarisch sind für diese Haltung die Worte des Propheten Amos, der Jahwes Ablehnung des Opfers, insbesondere jetzt auch die Ablehnung des Tieropfers, wie folgt verkündet: „Ich hasse eure Feste, ich verabscheue sie / und kann eure Feiern nicht riechen. / Wenn ihr mir Brandopfer darbringt, / ich habe keinen Gefallen an euren Gaben, / und eure fetten Heilsopfer will ich nicht sehen. / Weg mit dem Lärm deiner Lieder! / Dein Harfenspiel will ich nicht hören, / sondern das Recht ströme wie Wasser, / die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach. / Habt ihr mir etwa Schlachtopfer und Gaben dargebracht / während der vierzig Jahre in der Wüste, ihr vom Haus Israel?“474
Interessant an dieser Textpassage ist, dass der Prophet nicht allein den tatsächlichen Opferkult kritisiert, sondern es findet sich bei ihm sogar die Vorstellung, dass das Volk einmal ohne Opfer recht vor Jahwe lebte.475 Die innere Bedeutung der Kritik des Opferkults tritt noch deutlicher hervor, wenn man darauf achtet, was vom Volk als die Bedingung wahrer Umkehr gefordert wurde: Recht und Gerechtigkeit – die „Umkehr – nicht äußerlicher Kult“476 ist geboten. Entscheidend ist die Einsicht, dass die Propheten nicht lehren, man solle die Opfer darbringen, damit aus ihnen Recht und Gerechtigkeit hervorgehen. Vielmehr forderten sie Gerechtigkeit anstatt des Opfers. Auch Jeremia verkündet als Forderung Gottes, das Opfer abzuschaffen: „Denn ich habe euren Vätern, als ich sie aus Ägypten herausführte, nichts gesagt und nichts befohlen, was Brandopfer oder Schlachtopfer betrifft. Vielmehr gab ich ihnen folgendes Gebot: Hört auf meine Stimme, dann will ich euer Gott sein, und ihr sollt mein Volk sein. Geht in allem den Weg, den ich euch befehle, damit es euch gut geht.“477 Nicht die Durchführung archaischer Opferkulte, sondern die rechte Gotterkenntnis wird von den Propheten gefordert.478 Die Opfervorschriften entstammen folglich nicht dem Willen Jahwes, sondern sind gemäß der prophetischen
473 474 475 476 477 478
Vgl. ebd., S. 34. Am 5,21-25. Vgl. Schüngel-Straumann: Gottesbild und Kultkritik vorexilischer Propheten, a. a. O., S. 34. Am 4,4. Jer 7,22-24. Bei Hosea (Hos 6,6) ist zu lesen: „Liebe will ich, nicht Schlachtopfer / Gotteserkenntnis statt Brandopfer.“
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Anschauung Jeremias ein religiöser Irrtum der Menschen, der korrigiert werden muss. Damit gibt Jeremia eine Deutung der Urzeit als Idealzeit, die frei vom Opferkult ist. Jahwe fordert also nicht dazu auf, neben dem Opferbetrieb auch noch seine Gebote einzuhalten, sondern vertritt den Standpunkt, dass er bezüglich des Opfers gar nichts befohlen habe. Wohl aber habe er das Gebot erlassen, auf seine Weisungen, auf seine Stimme zu hören.479 Die häufige Gegenüberstellung zwischen dem Opferkult einerseits und der Ausübung von Gerechtigkeit durch die Erkenntnis Gottes andererseits, steht in einem inneren Zusammenhang. Sie zeigt, dass die Opfer von den Propheten nicht als Weg verstanden werden, um die wahre Gottesverehrung zu fördern.480 Auch wenn sich nicht alle Aussagen des Alten Testaments widerspruchslos auf einen Nenner bringen lassen, dürfte der hier skizzenhaft umrissene Sachverhalt dennoch eine gewisse Tendenz in Richtung einer Opferkritik vorgeben. Freilich wurde noch nicht die ganze Opferproblematik angesprochen. Sakrale Vorstellungen haben ihren Ursprung in einer kollektiven Übertragung der Gewalt auf ein Opfer. Die Kritik der Opfer müsste deshalb auch zur Aufdeckung der mit dem Ritual verbundenen Gewalt führen. Tatsächlich kennen die Schriften des Alten Testaments einen vielfältigen Zusammenhang zwischen Opfer und Gewalt.481 Dass die Idee einer kollektiven Übertragung im Alten Testament bekannt war, zeigt jener Kult, der dem archaischen Opfer zu dem Namen des Sündenbockmechanismus verhalf: „Aaron soll seine beiden Hände auf den Kopf des lebenden Bocks legen und über ihm alle Sünden der Israeliten, alle ihre Frevel und alle ihre Fehler bekennen. Nachdem er sie so auf den Kopf des Bockes geladen hat, soll er ihn durch einen bereitstehenden Mann in die Wüste treiben lassen, und der Bock soll alle ihre Sünden mit sich in die Einöde tragen.“482 Die grundlegende Funktion des Kultus, die Kanalisierung unreiner Gewalt, tritt deutlich hervor. Die Sünden werden auf ein Tier übertragen, das nach der Übertragung aus der Gemeinschaft ausgestoßen wird. Eine ähnliche Episode fin479
480 481 482
Vergleichbar auch Psalm 40,7f: „An Schlachtopfern- und Speiseopfern hast du keinen Gefallen, Brand- und Sühneopfer forderst du nicht. Doch das Gehör hast du mir eingepflanzt; darum sage ich: Ja, ich komme“. Vgl. Schwager: Brauchen wir einen Sündenbock?, a. a. O., S. 93. Vgl. ebd., S. 96. Lev 16,21-22.
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det sich in der Erzählung, die die Übertragung des Übels der Gewalt diesmal auf eine Person wiedergibt: „Der Sohn einer Israelitin und eines Ägypters ging unter die Israeliten. Im Lager geriet er in Streit mit einem Mann, der Israelit war. Der Sohn der Israelitin schmähte den Gottesnamen und fluchte. Da brachten sie ihn zu Mose. […] Man nahm ihn in Gewahrsam, um auf einen Spruch des Herrn hin zu entscheiden. Der Herr sprach zu Mose: Lass den, der den Fluch gesprochen hat, aus dem Lager herausführen! Alle, die es gehört haben, sollen ihm ihre Hände auf den Kopf legen, dann soll ihn die ganze Gemeinde steinigen. [Herv. T.V.]“483
Die Gewalt, die der Fremde heraufbeschwört, ist offenkundig so gefährlich, dass sofort eine Gegenmaßnahme eingeleitet werden muss. Alle, die die Gotteslästerung vernommen haben, werden in ihren Bann geschlagen. „Das Gift, das heimlich in ihren Herzen und Ohren wirkt, muss wieder aus ihnen entfernt werden und in eine unschädliche Richtung abgeleitet werden. Alle, die den Fluch gehört haben, werden deshalb durch den Spruch Gottes verpflichtet, ihre Hände auf den Kopf des Schuldigen zu legen und ihn danach zu steinigen.“484 Der Leser dieser Textstelle hat es mit einer exemplarischen sozialen Normierung zu tun, die den Israeliten vorschreibt, wie in vergleichbaren Fällen gehandelt werden soll. Wie in der Erzählung vom Sündenbock geht es darum, dass die ansteckende Wirkung des Übels auf eine Person übertragen wird, die durch ihre Ausstoßung aus der Gemeinschaft die Entgrenzung der Gewalt in der Gemeinschaft verhindert.485 Den Propheten erscheint die Gewalttat nun zunehmend als ein derartiges Übel, dass es nicht mehr äußerlich auf den Anderen übertragen werden kann. Im Jesajatext wird davon berichtet, dass Gott sein Antlitz vor den Menschen verbirgt, wobei dieser Aufmerksamkeitsentzug in der Blutschuld der Menschen seine Begründung findet. „Eure Hände sind voller Blut“486, klagt Jahwe an, wobei an ein Kapitalverbrechen zu denken ist und nicht etwa nur an die äußerlich blu-
483 484 485 486
Lev 24,10-14. Schwager: Brauchen wir einen Sündenbock?, a. a. O., S. 97. Vgl. ebd., S. 97. „Wenn ihr eure Hände ausbreitet, / verhülle ich meine Augen vor euch. / Wenn ihr auch noch so viel betet, / ich höre es nicht. / Eure Hände sind voller Blut. / Wascht euch, reinigt euch! / Lasst ab von eurem üblen Treiben! / Hört auf, vor meinen Augen Böses zu tun! / Lernt, Gutes zu tun!“ Jes 1,11-16.
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tigen Hände infolge der kultischen Opfer.487 Die Opfer verlieren folglich ihre kathartische Wirkung. Indirekt wird damit angedeutet, dass die Opfer nur dann funktionieren, wenn die Unschuld der Verfolger garantiert ist. Sobald das Opfer seinen Latenzschutz verliert, kann Jahwe nur noch erklären, dass ihm Opfer zuwider sind, denn sie gehören zur Welt der Gewalt, zur Welt der Blutschuld, wobei Jahwe dieser Welt das Reich der Liebe durch rechte Gotteserkenntnis gegenüberstellt. Die Kultopfer sind Jahwe nicht angenehm, sind keine Heilmittel, weil die Ausrichtung der Lebensführung auf das Recht fehlt.488 Die Schriften des Alten Testaments leiten hier einen sukzessiven Perspektivenwechsel ein. Es finden sich Texte, die – im Kontrast zum Mythos – die Perspektive des Opfers beschreiben. Ist der Ort für die Sakralerfahrung in archaischen Gesellschaften der Mythos, der die Perspektive der Verfolger wiedergibt, so sprechen die Texte des Alten Testaments vom gleichen Vorgang unter umgekehrten Vorzeichen. Die Ausstoßung des Opfers aus dem Kollektiv, die von der Gemeinschaft positiv gedeutet werden muss, erweist sich soziologisch betrachtet zunehmend als die kollektive Ansammlung von Gewalttaten. Besonders klare Texte der kollektiven Verfolgung finden sich in den biblischen Psalmen, in denen überdurchschnittlich oft die Rede von Feinden ist.489 Im Psalm 38,11-20 heißt es: „Mein Herz pocht heftig, mich hat die Kraft verlassen, / geschwunden ist mir das Licht vor Augen. / Freund und Gefährten bleiben mir fern in meinem Unglück, / und meine Nächsten meiden mich. / Die mir nach dem Leben trachten, legen mir Schlingen; / die mein Unheil suchen, planen Verderben, / den ganzen Tag haben sie Arglist im Sinn […] / Die mich ohne Grund befehden, sind stark; / viele hassen mich wegen nichts.“490
Zunächst legt der Psalm die Vermutung nahe, dass der Klagende einer Krankheit zum Opfer gefallen sein könnte. Er bezeichnet sich als kraftlos, sein Herz rast; seine Nächsten meiden ihn, vermutlich um einer Ansteckung zu entgehen. Doch eine physische Erkrankung ist nicht die Ursache seines Leides. Entscheidend ist, dass es Feinde gibt, die den Kranken bedrohen, die sein Unheil suchen, sein 487 488 489 490
Vgl. Schüngel-Straumann: Gottesbild und Kultkritik vorexilischer Propheten, a. a. O., S. 104. Vgl. ebd., S. 105. Vgl. ebd., S. 106. Ps 38,11-20.
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Verderben planen und ihn sogar ohne erkennbaren Grund befehden, denn er schreibt: „[V]iele hassen mich wegen nichts.“491 Gemäß dieser Aussage des Psalms ist die Gewalt also grundlos – und dennoch verfallen ihr die Menschen. Besonders aussagekräftig ist ebenfalls der Psalm 22, in dem ein als gerecht beschriebener Mensch die Klage erhebt, dass er von Gott verlassen wurde. „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen, / bist fern meinen Schreien, den Worten meiner Klage?“492 Daher gleiche er nicht mehr einem Menschen, sondern nur noch dem Wurm. Von den Menschen fühlt er sich bedroht: „Sie sperren gegen mich ihren Rachen auf, / reißende, brüllende Löwen. / Ich bin hingeschüttet wie Wasser […] / Viele Hunde umlagern mich, / eine Rotte von Bösen umkreist mich. / Sie durchbohren mir Hände und Füße. / Man kann all meine Knochen zählen; / Sie gaffen und weiden sich an mir.“493 Dabei deutet die Klage, dass Hände und Füße durchbohrt werden, darauf hin, dass nicht von reißenden Tieren, Löwen und Hunden die Rede ist, sondern eine gewalttätige Menge gemeint ist. Ausschlaggebend ist die wiederholte Betonung, dass unerbittliche Feinde das Opfer umlagern, dass der Verfolgte nicht etwa einzelnen und feindlich gesonnenen Individuen gegenübersteht, sondern es mit einer Verfolgermenge zu tun hat. Noch in vielen anderen Klageliedern findet sich dieses Element. Der Psalm 31 etwa enthält folgende unbemäntelte Aussage: „Ich höre das Zischeln der Menge – Grauen ringsum. / Sie tun sich gegen mich zusammen; / sie sinnen darauf, mir das Leben zu nehmen.“494 Der Bedrohte weiß, dass sich in ihrem Hass gegen ihn alle einig sind495 und gemeinsam nach seinem Leben trachten. „Im Hass auf mich sind sich alle einig: / sie tuscheln über mich und sinnen auf Unheil.“496 Bemerkenswert ist die oft wiederholte Feststellung, dass er sich nicht nur von Feinden verfolgt sieht, sondern die schmerzliche Erfahrung machen muss, dass sich selbst Freunde und Nachbarn von ihm abwenden: „Denn nicht mein Feind beschimpft mich, / das würde ich ertragen; / nicht ein Mann, der mich hasst, tritt frech gegen mich auf, / vor 491 492 493 494 495
496
Ps 38,20. Ps 22,2. Ps 22,13-18. Ps 31,14. Die vereinigte Front der Feinde wird sehr deutlich in Ps 118,10-11 beschrieben: „Alle Völker umringen mich; / ich wehre sie ab im Namen des Herrn. Sie umringen, ja, sie umringen mich“. Ps 41,8.
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ihm könnte ich mich verbergen. / Nein, du bist es, ein Mensch aus meiner Umgebung, mein Freund, mein Vertrauter“497. Von unschuldig Verfolgten ist abseits der Psalmen auch in vielen Textpassagen des Alten Testaments immer wieder die Rede. Insbesondere die Propheten werden oft als einsame und verfolgte Gestalten dargestellt, die von allen Seiten bedrängt werden.498 Immer wieder wenden sich die Menschen in ihrer Not an Gott, und dieser erweist sich gemäß jüdisch-christlicher Auffassung deshalb als wahrer Gott, weil er tatsächlich Hilfe gewährt. Entsprechend oft machen die Psalmen die Themen Hilfe, Rettung, Befreiung, Entreißen aus der Not und Erhörung des Gebets zu ihrem Thema. Immer wieder wird auch Rache gegen den Feind erfleht. Als genuiner Ort der Offenbarung des wahren Gottes erweist sich jene ausweglose Not, in der der Betende nicht mehr auf die Hilfe seiner Mitmenschen, die sich in Feinde verwandelt haben, sondern nur noch auf die Hilfe des rettenden Gottes bauen kann: „Herr, neig deinen Himmel, und steig herab, / rühre die Berge an, so dass sie rauchen. / Schleudre Blitze, und zerstreue die Feinde, / schieß deine Pfeile ab, und jag sie dahin! / Streck deine Hände aus der Höhe herab, und befreie mich; / Reiß mich heraus aus den gewaltigen Wassern, / aus der Hand der Fremden!“499
1.2.1 Josef und Jona versus Ödipus Kontrastiert man die berühmte Josefs-Erzählung mit dem Ödipusmythos, wie er in Kapitel 4.2 des ersten Hauptabschnittes der vorliegenden Arbeit soziologisch analysiert wurde, so wird der biblische Perspektivenwechsel zugunsten des Opfers besonders deutlich.500 Beide Erzählungen setzen jeweils bei der Kindheit der beiden Protagonisten ein. Jeweils handelt der erste Teil des biblischen und des mythischen Berichts von einer Familienkrise, die beigelegt wird, indem ein Kind verstoßen wird. Im Ödipusmythos führt das Orakel den Bruch zwischen den Eltern und ihrem neugeborenen Sohn herbei, denn die Prophezeiung lautet, dass 497 498 499 500
Ps 55,13-14. Vgl. Odil Hannes Steck: Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten, Neukirchen 1967. Ps 144,5-8. Vgl. Girard: Oedipus unbound, a. a. O., S. 107ff.
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Ödipus eines Tages seinen eigenen Vater töten und seine Mutter heiraten werde. Von Entsetzen gepackt beschließen Iokaste und Laos die Aussetzung und somit den Tod ihres Sohnes. Ödipus aber überlebt unerwartet; seine Exilierung und das Verhängnis nehmen ihren Lauf. In der biblischen Erzählung wird das Geschehen durch die Eifersucht der Brüder Josefs in Gang gesetzt. Die Ursache der Krise in Bibel und Mythos ist jeweils eine andere, das Ergebnis der Krise nicht. Die Brüder wollen Josef töten, beschließen dann aber doch, ihn als Sklaven gewinnbringend zu veräußern. Die Brüder verkaufen Josef an eine nach Ägypten ziehende Karawane für zwanzig Silberstücke und erzählen ihrem Vater Jakob, dass Josef das Opfer eines Raubtiers geworden sei. „Ein wildes Tier hat ihn gefressen. Zerrissen, zerrissen ist Josef“501, beklagt Jakob den Tod seines Sohns. Wie Ödipus entgeht Josef knapp dem Tod und wird von seiner Familie getrennt; er wird aus der Gemeinschaft ausgestoßen.502 In beiden Fällen ist das Modell einer Gewaltkrise und die Ausbildung eines Opfermechanismus zu erkennen: Sowohl gegen Ödipus als auch gegen Josef findet sich die Gemeinschaft einmütig gegen ein Opfer zusammen.503 Um zu überleben, setzt Josef in Ägypten eine ähnliche Technik wie Ödipus ein: die Kunst des Rätsellösens. Erwarb sich Ödipus seinen Ruhm und den Thron Thebens dadurch, dass er die Frage der Sphinx löst,504 so wird Josef Ägyptens erfolgreichster Traumdeuter. Den größten Coup landet Josef mit der korrekten Deutung der Träume des Pharaos von den sieben fetten und den sieben mageren
501 502
503 504
Gen 41,33. Vgl. René Girard: Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz, München/Wien 2002, S. 140. Vgl. ebd. „Was läuft am Morgen auf vier, am Mittag auf zwei und am Abend auf drei Beinen?“ fragte die Sphinx und tötet jeden, der nicht die richtige Antwort nennen konnte. Ödipus löst das Rätsel wie folgt: „Es ist der Mensch, der als Säugling auf allen vieren, später auf zwei Beinen und im Alter auf einen Stock gestützt geht.“ Siehe Maria Mavromataki: Mythologie und Kulte Griechenlands. Kosmogonie, die Götter, der Kult, die Heroen, Athen 1997, S. 192.
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Kühen sowie den sieben schönen und den sieben ausgedörrten Ähren.505 Beunruhigt über seine geheimnisvollen Träume lässt der Pharao alle Wahrsager und Weisen Ägyptens herbeirufen, „doch keiner war da, der sie ihm hätte deuten können.“506 Deshalb lässt der Pharao den als begabt bekannten Josef rufen, der des Rätsels Lösung schnell erkennt. „Sieben Jahre kommen, da wird großer Überfluss in ganz Ägypten sein. Nach ihnen aber werden sieben Jahre Hungersnot heraufziehen: Da wird der ganze Überfluss in Ägypten vergessen sein, und Hunger wird das Land auszehren.“507 Die Hellsichtigkeit Josefs bewahrt das Land vor den fatalen Folgen einer Hungersnot, sodass der Pharao Josef zu seinem Regenten ernennt. Sein Wundertalent katapultiert Josef in die ersten Kreise der ägyptischen Gesellschaft. Genau wie Ödipus, der nach der erfolgreichen Vertreibung der Sphinx die thebanische Königswürde erlangt, ist Josef im Zenit seiner Macht angelangt: „Der Pharao sagte weiter zu Josef: Hiermit stelle ich dich über ganz Ägypten.“508 Mythos und biblische Schrift weisen über die hier geschilderten Gemeinsamkeiten aber eine irreduzible Differenz auf, wenn man beide Texte auf die Legitimität von Gewalt befragt. Im Ödipus-Mythos wird die Ausstoßung gerechtfertigt, in der biblischen Erzählung nicht. Laos und Iokaste haben offenbar gute Gründe, sich ihres Sohnes zu entledigen. Immerhin besagt der Orakelspruch, dass Ödipus den Vater umbringen und die Mutter heiraten wird. Zudem hat Ödipus die vom Orakel prophezeiten Schandtaten gemäß der mythischen Darstellung tatsächlich begangen und so der ganzen Stadt die Pest gebracht. Im Mythos ist das Opfer immer im Unrecht, in den Schriften des Alten Testaments verändert sich diese Sicht.509 Josef ist im Recht gegenüber seinen Brüdern, und er ist ebenfalls im Recht gegenüber den Ägyptern, die ihn ins Gefängnis warfen, nachdem die lüs505
506 507 508 509
Gen 41,2-7: „Aus dem Nil stiegen sieben gut aussehende, wohlgenährte Kühe und weideten im Riedgras. Nach ihnen stiegen sieben andere Kühe aus dem Nil; sie sahen hässlich aus und waren mager. Sie stellten sich neben die schon am Ufer stehenden Kühe, und die hässlichen, mageren Kühe fraßen die sieben gut aussehenden und wohl genährten Kühe auf. Dann erwachte der Pharao. Er schlief aber wieder ein und träumte ein zweites Mal: an einem einzigen Halm wuchsen sieben Ähren, prall und schön. Nach ihnen wuchsen sieben kümmerliche, vom Ostwind ausgedörrte Ähren. Die kümmerlichen Ähren verschlangen die sieben prallen, vollen Ähren. Der Pharao wachte auf: Es war ein Traum.“ Gen 41,8. Gen 41,29-30. Gen 41,41. Vgl. René Girard: Wenn all das beginnt. Dialog mit Michel Treguer, Thaur/Paris 1994, S. 49.
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terne Ehefrau des Potifar, einem hochrangigem Mitglied der pharaonischen Leibwache, falsche Anschuldigungen über ihre Vergewaltigung durch Josef in Umlauf brachte.510 Josef hat nicht nur nicht mit der Frau Potifars verkehrt, vielmehr hat er ihrem penetranten Drängen widerstanden. Der biblische Text lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass das Fehlverhalten bei ihr zu suchen ist.511 Das Verhältnis von Josef und Ödipus zu den Plagen, der Hungersnot in Ägypten und der Pest in Theben, die über ihre Heimat hereinbrechen, wiederholt und veranschaulicht sowohl die Übereinstimmungen als auch Differenzen der beiden Erzählungen. Ödipus ist für den Ausbruch der Pest verantwortlich. Um sie zu beenden, bleibt ihm nichts anderes übrig, als seine Vertreibung hinzunehmen. Er selbst ist von seiner Schuld überzeugt. Die Götter hassen ihn: „Ach, liebe Freunde schafft / mich Unheilsmenschen fort! Mir gilt der schwerste Fluch, / der tiefste Götterhass, der jemals Menschen galt.“512 Josef hingegen ist nicht für die Hungersnot verantwortlich, sondern bewältigt die Krise souverän, denn der „Herr war mit Josef und so glückte ihm alles.“513 Die Laufbahn von Ödipus endet mit seiner Vertreibung, die von Josef im Triumph. Ödipus ist eine zutiefst hässliche Gestalt – „Josef war schön von Gestalt und Ansehen.“514 Die Systematik der Unterschiede unterstreicht die antimythische Struktur der Josefserzählung, da der Fokus auf die Unschuld des Gewalterleidenden gerichtet wird, sodass eine Sinnebene des Textes in den Blick gerät, die der Mythos ausblendet.515 Zwischen Josef und seinen Brüdern kommt es zu guter Letzt zu einem friedlichen Ausgleich, in der der biblische Widerstand gegen die Kollektivgewalt der Mythen besonders deutlich wird. Die prophezeite Hungersnot hat begonnen und Josefs Brüder leiden Hunger in Palästina, sodass sie nach Ägypten reisen, um Hilfe zu erbitten. Am Herrscherhof erkennen sie Josef nicht, da er als prachtvoll 510 511
512 513 514 515
Gen 39,10. Die Frau Potifars lässt an ihren amourösen Absichten erst gar keinen Zweifel aufkommen: „Schlaf mit mir!“ Josef aber weigert sich und der Umstand seiner Unschuld dokumentiert sich in dem folgendem Satz: „Du siehst doch, mein Herr kümmert sich, wenn ich da bin um nichts im Haus; alles, was ihm gehört, hat er mir anvertraut. Er ist in diesem Haus nicht größer als ich, und er hat mir nichts vorenthalten als nur dich, denn du bist seine Frau. Wie könnte ich da ein so großes Unrecht begehen und gegen Gott sündigen?“ Gen 39,7ff. Sophokles: König Ödipus, a. a. O., S. 265. Gen 39,2. Gen 39,6. Vgl. Girard: Wenn all das beginnt, a. a. O., S. 49.
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gekleideter Regent auftritt, Josef hingegen weiß sofort, wen er vor sich hat und erkundigt sich, indes ohne seine Identität preiszugeben, nach dem Befinden seines jüngsten Bruders Benjamin. Dieser wurde von den Brüdern nicht von Palästina nach Ägypten mitgenommen, da die Sorge des Vaters, dass ihm ein Unglück widerfahren könnte, zu groß war. Josef handelt mit Noblesse und gibt seinen Brüdern die benötigten Nahrungsmittel, spricht aber zugleich eine Drohung aus: Sollten die Brüder ein zweites Mal ohne Benjamin nach Ägypten ziehen, so würden sie nichts mehr erhalten.516 Da die Hungersnot unvermindert anhält, sind die Brüder gezwungen, erneut nach Ägypten zu kommen, diesmal in Begleitung Benjamins. Josef gibt den Brüdern daraufhin nicht nur Getreide, sondern er lässt einen kostbaren Silberbecher im Gepäck Benjamins verstecken. Anschließend aber beklagt er öffentlich den Verlust des Bechers, lässt die Habe seiner Brüder demonstrativ durchsuchen und droht: „Bei wem er sich findet, der sei mein Sklave, doch ihr anderen sollt straffrei bleiben.“517 Also erlässt Josef den Befehl, dass Benjamin in Ägypten bleiben muss, die übrigen Brüder lässt er ziehen. Es handelt sich hier um eine Probe, um eine Versuchung der Brüder, denn Josef setzt sie eben jener Versuchung aus, der sie bereits schon einmal erlagen, nämlich die ungestrafte Vertreibung des jüngsten und schwächsten Familienmitglieds.518 Aber einer der neun Brüder, Juda, ergreift das Wort und bietet seine Person im Austausch für Benjamin. Josef wird dadurch dazu bewogen, großmütig allen Brüdern zu vergeben. Er gibt sich ihnen zu erkennen und holt seine ganze Familie nach Ägypten. „Diese letzte Episode ist ein gleichsam nachdenkliches Zurückkommen auf jenen Typus von Kollektivgewalt, der die biblische Erzählung wie die Mythen beherrscht, aber mit gegenteiligem Ergebnis. Josefs schließlicher Triumph ist kein belangloses ‚Happy-End‘, sondern das Mittel, um das Problem der gewalttätigen Ausstoßung ausdrücklich anzugehen. Ohne je aus dem narrativen Rahmen zu fallen, philosophiert der biblische Text über die Gewalt: die Radikalität dieses Nachdenkens zeigt sich an der Tatsache, dass an die Stelle der zwangsläufigen Rache das Vergeben tritt.“519
516 517 518 519
Gen 42,20. Gen 44,10. Vgl. Girard: Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz, a. a. O., S. 145. Ebd., S. 145.
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Die Gründe, die im Mythos die Verfolger zur Divinisierung des Opfers führten, sind in der Josefsgeschichte an dem Punkt gegeben, da die Brüder Josef in der Pracht pharaonischen Glanzes wiedertreffen. In dem Moment der Ausstoßung Josefs sind sie versucht, Josef zu dämonisieren. In dem Moment, in dem sie ihn wiedersehen, sind sie versucht, ihn zu sakralisieren, denn das Opfer von einst befindet sich mitten im Zentrum des Heiligen.520 Der Pharao, dem Josef so nahe steht, gilt den Ägyptern schließlich als nichts weniger als eine lebende Gottheit.521 Zugleich wird Jahwe mit dieser Unabhängigkeit für seine Anhänger immer berechenbarer. Das archaische Heilige trägt noch alle Merkmale der Willkür – die Gewalt entgrenzt sich chaotisch und zufällig in der Gemeinschaft. Bezeichnenderweise hat sich Ödipus noch als Sohn der Tyche, der griechischen Schicksalsgöttin bezeichnet, die oft „zur Bezeichnung der Unsicherheit, des Wandelbaren und Unberechenbaren“522 herangezogen wird und die Glück und Unglück wahllos über den Lebenden ausschüttet. Ödipus, nachdem ihm sein Schicksal immer klarer wird, klagt: „Ich halte mich für einen Sohn des Wesens, das ‚Glücksgöttin‘ heißt.“523 Allein, soviel wurde im Verlauf des Dramas bei Sophokles deutlich: Ödipus stand nicht unbedingt hoch in der Gunst dieser Göttin. Er wurde brutal aus der Gemeinschaft ausgestoßen. Das Thema des Zufalls ist zugleich eingearbeitet in die weithin bekannte Geschichte von Jona. Er wird von Gott beauftragt, der Stadt Ninive das göttliche Strafgericht zu verkünden, falls sie nicht auf den rechten Weg umkehrt. Jona will sich dieser schweren Bürde entziehen und versucht nach Tarschisch zu fliehen. „Aber der Herr ließ auf dem Meer einen heftigen Wind losbrechen; es entstand ein gewaltiger Seesturm, und das Schiff drohte auseinanderzubrechen. Die Seeleute bekamen Angst und jeder schrie zu seinem Gott um Hilfe. Sie warfen sogar die Ladung ins Meer, damit das Schiff leichter wurde. Jona war in den untersten Raum des Schiffes hinabgestiegen, hatte sich hingelegt und schlief fest. Der Kapitän ging hin zu ihm und sagte: Wie kannst du schlafen? Steh auf, ruf deinen Gott an; vielleicht denkt dieser Gott an uns, sodass wir nicht untergehen.“524
520 521 522
523 524
Vgl. ebd., S. 153. Vgl. ebd. Karl Lehrs: Dämon und Tyche, in: Populäre Aufsätze aus dem Alterthum. Vorzugsweise aus Ethik und Religion der Griechen, Leipzig 1856, S. 153-174, S. 166. Sophokles: König Ödipus, a. a. O., S. 256. Jona 1,4.
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Das Schiff, so die Interpretation, stellt die in Not geratene Gemeinschaft dar.525 Der Seesturm – analog zur Pest in Theben – ist der allegorische Ausdruck einer Gesellschaft, die in der Gewalt versinkt. Schließlich wird gelost, um einen Schuldigen für die Krise ausfindig zu machen. Das Heilige und der Zufall fallen direkt zusammen: „Dann sagten sie zueinander: Kommt, wir wollen das Los werfen, um zu erfahren, wer an diesem unseren Unheil schuld ist. Sie warfen das Los, und es fiel auf Jona.“526 Die Männer befragen Jona zu seiner Person. Als sie erfahren, dass er sich auf der Flucht vor Jahwe befindet, kommt es zu dem Entschluss, Jona auszustoßen. „Da riefen sie zu Jahwe: Ach Herr, lass uns nicht untergehen wegen dieses Mannes, und rechne uns, was wir jetzt tun, nicht als Vergehen an unschuldigem Blut an. Denn wie du wolltest, Herr, so hast du gehandelt. Dann nahmen sie Jona und warfen ihn ins Meer, und das Meer hörte auf zu toben.“527 Das Los entscheidet über das Opfer – und seine Ausstoßung aus der Gemeinschaft führt schlagartig zur Besänftigung der Krise. Ebenso wie der Text dem Leser die Willkür des Opfermechanismus vor Augen führt, schickt sich wieder eine Wende zugunsten des Opfers an. Der Herr sendet einen großen Fisch, der Jona verschlingt, ihn an Land bringt und auf diese Weise rettet. „In meiner Not rief ich zum Herrn, / und er erhörte mich. / Aus der Tiefe der Unterwelt schrie ich um Hilfe, / und du hörtest mein Rufen.“528 Ist der Zufall in archaischen Gesellschaften untrennbar mit dem Heiligen, mit Tyche, Fortuna oder anderen Göttinnen oder Göttern des Glücks verbunden, so kommt ihm in den biblischen Schriften immer weniger Bedeutung zu. Zwar bestimmt das zufällige Los bei Jona noch die Designation des Opfers – aber das Opfer wird vor seinem Tod mitnichten durch reinen Zufall, sondern durch Vorsehung gerettet. Das Gottesbild wird rationalisiert und die Hilfe für das Opfer kollektiver Willkür tritt, zumindest auf der Ebene des Textes, zuverlässig ein.
525 526 527 528
Vgl. Girard: Das Heilige und die Gewalt, a. a. O., S. 464. Jona 1,7. Jona 1,14-15. Jona 2,3.
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1.2.2 Das Buch Hiob: Von der Theodizee zur »Soziodizee« „Hiob hat gewonnen. Der Herr hat verloren. Doch auf paradoxe Weise hat diese Niederlage den Herrn davor bewahrt, dämonisiert zu werden oder in die Bedeutungslosigkeit abzugleiten.“529 (Jack Miles)
Die Radikalität des Buches Hiob gibt seinen Interpreten bis heute große Rätsel auf. Der Inhalt ist gleichwohl in nur wenigen Sätzen zusammengefasst: Hiob ist der Prototyp eines durch unverdientes Leid radikal geprüften Frommen.530 Aufgrund eines unergründlichen göttlichen Ratschlusses muss er den Verlust seines ganzen Besitzes, den Tod seiner zehn Kinder, der Freunde und Nächsten, in der Stunde höchster Not schließlich noch den Verlust seiner Gesundheit hinnehmen. Und doch ehrt Hiob Gott: „Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen; / gelobt sei der Name des Herrn.“531 Durch dieses grenzenlose Gottvertrauen bewährt sich Hiob im äußersten Leid und erreicht schließlich einen noch über seinen vorherigen Besitz hinausgehenden Reichtum und seinen Frieden mit Gott und der Welt. Und doch bleibt als Beunruhigung bis heute die unbeantwortete Frage im Raume stehen, so Alfred Jepsen, wie Gott dazu kommt, einen frommen Menschen so in Versuchung zu führen.532 Mithilfe der bisherigen Analysen lässt sich nun eine mögliche Antwort auf die Theodizee-Frage, die sich aufgrund der Unvollkommenheit der Welt angesichts eines allmächtigen Schöpfergottes stellt und die sich bei Hiob mit besonderer Wucht entfaltet,533 formulieren. Die These lautet, dass Hiob nicht die Beute des gnadenlosen Schicksals oder das Opfer Gottes, sondern das Opfer einer kollektiven Verfolgung ist. In denkbar großer Klarheit formuliert Hiob, worunter er leidet, nämlich unter der unverdienten Ächtung und den Drohungen seiner Mitmenschen. Dass Hiob ohne eigenes Verschulden in diese Situation kam, bestätigen die Eingangszeilen der Erzählung. So wird Hiob beschrieben als „untadelig 529 530 531 532 533
Jack Miles: Gott. Eine Biographie, München 1996, S. 374. Vgl. Alfred Jepsen: Das Buch Hiob und seine Deutung, Berlin 1963, S. 5. Ijob 1,21. Vgl. Jepsen: Das Buch Hiob und seine Deutung, a. a. O., S. 5. Vgl. Weber: Religiöse Gemeinschaften, a. a. O., S. 84.
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und rechtschaffen; er fürchtete Gott und mied das Böse.“534 Was aber ist vorgefallen? Hiob klagt, den Themen und Motiven der Psalmen vergleichbar, dass sich die Menschen seines unmittelbaren Umfeldes von ihm abwenden und ihn sogar massiv bedrohen. „Alle meine Gefährten verabscheuen mich, / die ich liebe, lehnen sich gegen mich auf. / An Haut und Fleisch klebt mein Gebein, / nur das Fleisch an meinen Zähnen blieb. / Erbarmt, erbarmt euch meiner, ihr, meine Freunde!“535 Hiob ist offenkundig eine Person, die sich den Hass der Gemeinschaft zugezogen hat. Offen spricht Hiob die für ihn furchterregende Zusammenrottung aller gegen einen an. Mit spürbar stärker werdender Beklemmung klag Hiob: „[M]ein Gegner schärft die Augen gegen mich. / Sie sperren ihr Maul gegen mich auf, / schlagen voll Hohn mich auf die Wangen, / scharen sich gegen mich zusammen. / Gott gibt mich dem Bösen preis, / in die Hände der Frevler stößt er mich.“536 Hiob fürchtet um sein Leben. Fest steht, dass Hiob einst ein reicher, allgemein anerkannter und geachteter Mann war, der sich in einer exponierten gesellschaftlichen Position befand, aber jäh ins tiefste Elend versank. Ob des grausamen Schreckens der Gegenwart bleibt ihm allein die Klage über seine gesegnete, aber verlorene Vergangenheit: „Dass ich doch wäre wie in längst vergangenen Monden, […] als meine Schritte sich in Milch gebadet, Bäche von Öl mir der Fels ergoss. […] Hörte mich ein Ohr, pries es mich glücklich, das Auge, das mich sah, stimmte mir zu.“537 Hiob bestimmte einst die Geschicke der Menschen der Gemeinschaft, er war ihr Führer und „thronte als König inmitten der Schar, wie einer der Trauernde tröstete.“538 Unweigerlich stellt sich dem Leser die Frage, was den plötzlichen Stimmungsumschwung bewirkt haben könnte. Hiob, im schroffen Gegensatz zu seiner einstigen Stellung und seinem untadeligen Leumund, trifft der aus dem Nichts kommende Vorwurf der Sündhaftigkeit. Hiob sei ein böser Mensch und habe sich einer Vielzahl schrecklicher Untaten schuldig gemacht. So fragt Hiobs (einstiger) Freund Elifas, der laut des Be534 535 536 537 538
Ijob 1,1. Ijob 19,19-21. Ijob 16,10-11. Ijob 29,1-11. Ijob 29,25.
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richts vorgeblich anreiste, um seinen in Not geratenen Freund zu trösten, in seiner letzten und dritten Rede gegen Hiob: „Ist nicht groß deine Bosheit, / ohne Ende dein Verschulden? / Du pfändest ohne Grund deine Brüder, / ziehst Nackten ihre Kleider aus. / Den Durstigen tränkst Du nicht mit Wasser, / dem Verhungernden versagst Du das Brot. / Dem Mann der Faust gehört das Land, / der Günstling darf darin wohnen. / Witwen hast Du weggeschickt mit leeren Händen, / der Verwaisten Arme zerschlagen. / Deswegen liegen Fallstricke rings um dich her, / und jäher Schrecken ängstigt dich, / oder Dunkel, worin du nicht siehst, / und Wasserflut, die dich bedeckt.“539
Die offenkundige Haltlosigkeit dieser Anschuldigungen wird deutlich, wenn man sich erneut den Eingangszeilen des Hiobtextes zuwendet, denn Hiob wurde ja als eine Person vorgestellt, deren Verhalten als absolut vorbildlich, als „untadelig und rechtschaffen“ 540 galt. In derselben Rede von Elifas zeichnet sich eine andere Möglichkeit zur Erklärung der Doppelrolle Hiobs als des einst Mächtigen und nun Verfolgten ab. Elifas spricht von einem dunklen Pfad der Vorzeit, den einst die gottlosen Menschen gingen und stellt die warnende Frage an Hiob: „Willst du dem Pfad der Vorzeit folgen, / den die Männer des Unheils zogen, / die vor der Zeit dahingerafft wurden, / über deren Grund sich ein Strom ergoss? / Die sagten zu Gott: Weiche von uns! / und: Was tut uns der Allmächtige an? / Und doch, er hat ihre Häuser mit Gütern gefüllt, / und das Planen der Bösen blieb ihm fern. / Sehen werden, sich freuen die Gerechten, / der Reine wird sie verspotten: / Wahrhaftig, vernichtet sind unsere Gegner, / ihren Rest hat das Feuer verzehrt.“541
Dieser Pfad der Vorzeit, der Pfad der gottfernen Menschen beginnt in Größe, Reichtum und Macht, endet jedoch im Verderben. Diesen Weg eines gewaltsamen Ruins zeichnet Elifas vor. Viele gottlose Menschen haben diesen Pfad schon betreten und jetzt wird auch Hiob an der Reihe sein. Aufstieg und Fall, Herrschaft und Knechtschaft, Reichtum und Armut sowie Achtung und Ächtung lassen sich nicht getrennt interpretieren und stehen hier in einem engen Zusammenhang. Hiob ist ein aufgrund seiner exponierten Stellung und seines Reichtums besonders gefährdetes Vorbild für die Menschen: Er wird zum zertrüm539 540 541
Ijob 22,5. Ijob 1,1. Ijob 22,15-20.
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merten Idol, das Opfer eines realen sozialen Phänomens, nämlich eines plötzlichen und kollektiven Stimmungsumschwungs, der in einer vermeintlichen Gottesferne Hiobs seine vorgeschobene Begründung findet.542 Zahlreiche weitere Textstellen legen die Vermutung nahe, dass das zentrale Ereignis des Buchs Hiobs der Zusammenbruch des gottlosen Menschen am Ende seines Wegs, des Pfades der Vorzeit, ist.543 Es handelt sich hierbei um ein „wiederkehrendes Phänomen kollektiver Gewalt, das sich vornehmlich, aber nicht ausschließlich gegen die ‚Großen‘, die ‚Tyrannen‘ richtet und das stets als göttliche Rache, als strafendes Eingreifen der Gottheit ausgelegt wird.“544 Dieser verborgene Gesprächsgegenstand der Dialoge tritt noch deutlicher zu Tage in den Aussagen eines weiteren Gesprächspartners, Elihu, der Hiob in anmaßender Diktion wichtige Ratschläge zu geben sich erlaubt. Kommt das Thema Hiob als Unterdrücker des Volkes bereits bei Elifas vor, so verstärkt Elihu diesen vorgeschobenen Vorwurf nachdrücklich, indem er Hiob die göttliche Strafe für die Unterdrückung ankündigt: „Gewaltige knickt er ohne Verhör / und stellt andere an ihren Platz. / Wahrhaftig, Gott kennt ja ihre Taten, / er stürzt sie bei Nacht, und sie sind zermalmt. / Wie Frevler schlägt er sie / an einem Ort, wo man sie sieht“545. Gott also stürzt die Frevler, aber er tut es an einem Ort, an dem man es auch sieht. Die Epiphanie des Heiligen offenbart sich in der Gegenwart einer Menschenmenge, die angesichts eines derart spannenden Geschehens nicht passiv bleiben wird. Eine aufgebrachte Menge ist stets zur Unterstützung der Gottheit bereit, wenn diese endlich zum Durchgreifen gegen die Sünder entschlossen ist.546 Wie bereits in der Geschichte von Josef und seinen Brüdern drängt sich der Vergleich mit Ödipus auf. Dieser hat in den Augen der Allgemeinheit tatsächlich seinen Vater ermordet und seine Mutter geheiratet. Nicht die Gemeinschaft, er selbst ist verantwortlich für sein Unglück und wird daher auch mit Recht aus der Gemeinschaft entfernt. Die Anschuldigungen, die Elihu gegen Hiob erhebt, sind ähnlich strukturiert. Hiob habe sich als Tyrann gebärdet, die Schwachen miss542 543 544 545 546
Vgl. René Girard: Hiob. Ein Weg aus der Gewalt, Düsseldorf 1999, S. 23. Vgl. ebd. Ebd., S. 28. Ijob 34,24-26. Vgl. Girard: Hiob, a. a. O., S. 29.
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handelt, den Armen gar die Arme gebrochen. Ein Mensch, der auf diese Art und Weise stigmatisiert wird, steht zweifellos am Abgrund seiner sozialen Existenz. Sein Ausschluss aus der Gemeinschaft ist nur noch eine Frage der Zeit.547 Allein ein zentraler Unterschied zwischen dem Ödipus-Mythos und der Hiob-Erzählung bleibt: Hiob wird im Text das Recht auf die Verteidigung seiner Unschuld eingeräumt. Für das Verständnis des Hiobtextes ist seit jeher entscheidend, so Alfred Jepsen, dass der Leser weiß, dass Hiob im Recht ist.548 Die mythische Struktur hingegen müsste dieses Selbstverteidigungsrecht unbedingt unterbinden. Dies ist offensichtlich nicht der Fall, denn die erzählerische Perspektive ist nicht die der Verfolger, deren Einmütigkeit die tatsächliche Unschuld des Opfers verdeckte. „Ödipus ist ein gelungener, weil als solcher stets verkannter Sündenbock. Hiob ist ein misslungener Sündenbock. Er bringt die Mythologie, die ihn verschlingen sollte, durcheinander, indem er angesichts der ihn einkreisenden überwältigenden Einmütigkeit seinen Standpunkt weiterhin vertritt. Hiob bleibt seiner Bestimmung als Opfer treu und wird so wahrhaft jener Held des Wissens, der Ödipus nicht ist, als der er aber in den Augen der philosophischen Tradition gilt.“549
Damit die Einmütigkeit perfekt wird, muss auch das Opfer ihr letztlich zustimmen; es muss die Anschuldigungen bejahen, selbst an sie glauben wie Ödipus, damit die Anschuldigung sich in die endgültige Wahrheit des Verfolgerkollektivs verwandeln kann. Dies aber geschieht nicht. Hierin liegt die Differenz zum antiken Mythos. Man stelle sich nur einen unbequemen und mit Widerworten bewehrten Ödipus vor, der die Vorwürfe von Vatermord und Inzest verspottet, das Orakel verlacht und seinen Schicksalsspruch als das offenbart, was er ist: eine Sündenbockfalle.550 Hiob ist dies durchaus möglich; er wird nicht wie ein Opfer zum Schweigen gebracht, sondern präsentiert sich als Mensch, der sein Leiden trägt, der sich die Klage über sein Schicksal nicht verbieten lässt. Er weist alle Belehrungen über die Gerechtigkeit Gottes und seine eigene Ungerechtigkeit zu-
547 548 549 550
Vgl. ebd. Vgl. Alfred Jepsen: Das Buch Hiob und seine Deutung, a. a. O., S. 9. Girard: Hiob, a. a. O., S. 52. Vgl. ebd., S. 64.
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rück – bis er schlussendlich die Erfahrung macht, dass auch der unverfügbare Gott der gnädige Gott bleibt.551 Die Theodizeefrage, wie Gott überhaupt dazu komme, einen doch gerechten Menschen wie Hiob ins Unheil zu stürzen, stellt sich innerhalb der hier unternommenen Interpretation nicht mehr. In Anlehnung an die These Durkheims, der die Normalität des Verbrechens als gesellschaftlich universell verbreiteten Tatbestand betont hat,552 kann, so Gephart, die Frage der Soziodizee aufgeworfen werden: „Ist […] das soziale Leben durch den Makel des Verbrechens befleckt?“553 Diese Soziodizeethematik kann hier aufgegriffen und in die Gewaltproblematik übersetzt werden. Die biblischen Texte machen deutlich, dass das soziale Leben mit dem Makel der Gewalt, die in den biblischen Texten angeprangert wird, belastet ist. Theodizee wird also Soziodizee, denn es zeichnet ein soziologisch erfassbares Phänomen für die Hiob-Thematik sowie für die Opferthematik im Ganzen verantwortlich. Es ist nicht Gott, sondern eine sich spontan gegen Hiob polarisierende und gewalttätige Verfolgermenge, die Hiobs Unheil verursacht und ihn versucht, Gott zu fluchen. Die Menge schreit: „Hälst du noch fest an deiner Frömmigkeit? / Lästere Gott und stirb!“554 Aber solange Hiob den Anschuldigungen standhält, solange Hiob selbst nicht von seiner Schuld überzeugt ist, kann der Opfermechanismus nicht funktionieren. Hiobs Standhaftigkeit wird belohnt und die Bibel entkräftet entsprechend die Soziodizeeproblematik. Jahwe erscheint und bescheinigt Hiob, er habe, im Gegensatz zu seinen Freunden, rechtgeredet.555 Wenn Gott Hiob alle Habe doppelt wiedergibt, dazu auch seine Familie und Gesundheit, so handelt er damit als einer, der diesen Hiob rehabilitiert, indem er ihm Gerechtigkeit wiederfahren lässt. Und so stellt Gott auch das Glück Hiobs wieder her: Hiob hat der Versuchung widerstanden – er fiel dem Opfermechanismus nicht zum Opfer.556 551
552
553 554 555 556
Vgl. Wolf-Dieter Syring: Hiob und sein Anwalt. Die Prosatexte des Hiobbuches und ihre Rolle in seiner Redaktions- und Rezeptionsgeschichte, New York/Berlin 2004, S. 149 Bei Durkheim ist zu lesen: „Es gibt keine Gesellschaft, in der keine Kriminalität existiert. Doch überall und jederzeit hat es Menschen gegeben, die sich derart verhielten, dass die Strafe als Repressionsmittel auf sie gewendet wurde.“ Siehe Durkheim: Die Regeln der soziologischen Methode, a. a. O., S. 157. Gephart: Recht als Kultur, a. a. O., S. 197. Ijob 2,9. Vgl. Ijob 42,8. Vgl. Alfred Jepsen: Das Buch Hiob und seine Deutung, S. 25.
149
1.2.3 Die Lieder des leidenden Gottesknechts (Deuterojesaja) Das stärkste Dokument der Gewaltlosigkeit, welches das antike Judentum hervorgebracht hat, sind die Lieder vom leidenden Gottesknecht.557 Diese Lieder, die im babylonischen Exil entstanden und die in dem Teil des Buches Jesaja stehen, der gemeinhin einem eigenständigen Autor, Zweiter Jesaja oder auch Deuterojesaja genannt, zugerechnet werden, handeln von einem bedeutenden Propheten. Es wird eine Gestalt geschildert, die von Jahwe dazu bestimmt ist, den Bund mit dem Volk Israel zu verkörpern, die aber über den Volksbund hinaus auch ein universalistisches Prinzip repräsentiert, denn der Gottesknecht soll ein Vorbild für alle Menschen werden. Ihm ist es bestimmt, „Licht für die Völker zu sein: / blinde Augen zu öffnen, / Gefangene aus dem Kerker zu holen / und alle, die im Dunkeln sitzen, aus ihrer Haft zu befreien.“558 Die theologisch-exegetische Diskussion kreist bezüglich dieser Heilssendung seit jeher ergebnislos um die Frage, ob der Gottesknecht ein einzelnes Individuum oder ein Symbol für das ganze Volk Israel sei.559 Dieser ohnehin von soziologischer Seite kaum zu schlichtende Disput ist aber für die hier interessierenden Aspekte irrelevant, denn strukturell liegt in beiden Fällen eine vergleichbare, nahezu identische Ausgangssituation vor. Ob die vielen Gewalttäter den gerechten Einzelnen umkreisen oder ob die vielen Völker gegen Israel mobilisieren, ist auf der Ebene des hier analysierten Verfolgungsmusters nicht von Bedeutung.560 Der Deuterojesajatext scheint auf den ersten Blick und im Vergleich zu den bisher analysierten Texten keine Innovationen zu enthalten. Immer wieder ist die Rede von gewalttätigen Konflikten, von Gegnern und von der Wut der Feinde, die sich gegen einen Dritten zusammenfinden. Der Gottesknecht ist ein misshandelter, ein tief verachteter Mann, der Abscheu der Leute, ein Knecht der Tyrannen. Über sich selbst sagt der Geschundene: „Ich aber wehrte mich nicht / und wich nicht zurück. / Ich hielt meinen Rücken denen hin, / die mich schlugen, 557 558 559
560
Vgl. Baudler: Gewalt in den Weltreligionen, a. a. O., S. 129ff. Jes 42,7. Vgl. zu Problemen der bibelwissenschaftlichen Exegese insbesondere Ernst Haag: Die Botschaft vom Gottesknecht. Ein Weg zur Überwindung der Gewalt, in: Norbert Lohfink (Hrsg.:) Gewalt und Gewaltlosigkeit im Alten Testament, Freiburg im Breisgau 1983, S. 159-213, S. 160f. Vgl. Schwager: Brauchen wir einen Sündenbock?, a. a. O., S. 134.
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/ und denen, die mir den Bart ausrissen, / meine Wangen, / mein Gesicht verbarg ich nicht / vor Schmähungen und Speichel.“561 Jeglicher Gedanke an Rache und Vergeltung steht dem unschuldig Leidenden fern, der gewalttätige Schädigungszyklus wird nicht fortgesetzt, die Nachahmung der Gewalt unterbrochen. In diesem Zusammenhang kommt nun ein entscheidendes neues Element hinzu, denn die Gewaltlosigkeit des Gottesknechts verdankt sich einer Belehrung durch Gott, der jeden Morgen zu ihm spricht, damit er „auf ihn höre wie ein Jünger.“562 An keiner Stelle im Deuterojesaja, im schroffen Gegensatz zu den Psalmen, findet sich die Bitte um die göttliche Rache an den Peinigern. Auf Gewalt wird nicht mehr mit dem Wunsch nach Gegengewalt geantwortet. Wieder ist es möglich, die dem dramatischen Geschehen inhärente Sequenz zu isolieren. Zu Beginn steht die bereits bekannte anomische Entdifferenzierungskrise, deren Beschreibung sich in Kapitel 40, dem ersten Kapitel des Deuterojesaja findet. Zwar gehört das Kapitel 40 nicht unmittelbar zum Korpus der Gottesknechtlieder, muss aber dennoch im Zusammenhang mit ihnen gelesen werden: „Eine Stimme ruft: / Bahnt für den Herrn einen Weg durch die Wüste! / Baut in der Steppe eine ebene Straße / für unseren Gott! / Jedes Tal soll sich heben, jeder Berg und jeder Hügel soll sich senken. / Was krumm ist, soll gerade werden, / und was hügelig ist, werde eben. / Dann offenbart sich die Herrlichkeit des Herrn, / alle Sterblichen werden sie sehen. / Ja, der Mund des Herrn hat gesprochen.“563
Gemeinhin sehen moderne Exegeten in diesem Einebnen eine Anspielung auf den Bau einer Straße des Perserkönigs Kyros, der den Juden die Rückkehr aus dem babylonischen Exil nach Jerusalem erlaubte. Dies entspricht weitgehend dem Text, der in weiten Teilen vom Ende der babylonischen Gefangenschaft berichtet, die mit dem Freiheitserlass des Königs Kyros endet.564 Doch mit dem Thema der Rückkehr vermengen sich ebenfalls andere Themen. Genau besehen lässt der Text weniger an eine geradlinige Arbeit hin zu einem bewusst gesetzten 561 562 563 564
Jes 50,4f. Jes 50,4. Jes 40,3-5. Vgl. Girard: Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz, a. a. O., S. 47.
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und geographisch definierten Ziel denken, sondern hat eher Ähnlichkeiten mit einer gewaltigen geologischen Detonation. Hinter der Einebnung der Berge und der Erhöhung der Täler lässt sich ein soziologisches Phänomen vermuten: die gewalttätige Entdifferenzierung der Gemeinschaft. So wie nach der Detonation der Berg nicht mehr vom Tal unterschieden werden kann, Höhe und Tiefe sich also gleich ausnehmen, so verlieren sich die gesellschaftlichen Statusgrade in einer gewalttätigen Diffusion – das Volk wird in eine entdifferenzierte und gewalttätige Masse transformiert.565 Wie destruktiv sich auch der Verlust aller gesellschaftlichen Differenzen ausnimmt, der Prophet scheint ihn sich dennoch zu wünschen; die Epiphanie des Heiligen scheint das Ziel des Gottesknechts zu sein, denn erst dann, so der Knecht, „offenbart sich die Herrlichkeit des Herrn, / alle Sterblichen werden sie sehen. / Ja, der Mund des Herrn hat gesprochen.“566 Beendet wird die Krise wie immer durch die kollektive Mordtat. Im vierten und letzten Lied stirbt der Gottesknecht unter den Händen einer aufgebrachten Menge und wird bei den Verbrechern begraben. Allerdings, und dies ist der entscheidende Punkt, scheitert die im Anschluss des mythischen Dramas übliche Sakralisierung des Opfers. Zwar ist er am Ende groß und setzt die vielen Völker in Staunen, er erscheint durchaus gottgleich. Könige müssen vor ihm verstummen, denn das, „was sie niemals hörten, erfahren sie jetzt.“567 Den Königen verschlägt es aber die Sprache, da sie erkennen, dass die verachtete und von den Menschen gemiedene Gestalt des Gottesknechts tatsächlich das Ungenügen und die Verfehlungen der Menschen repräsentiert. Diese Erhöhung des Gottesknechts ist eine andere als die durch die doppelte Übertragung hervorgerufene Sakralisierung eines mythischen Opfers. Die Menschen werden gezwungen einzusehen, dass nicht der gehasste Gottesknecht, sondern sie selbst die Gewalt verschuldet haben. Der Gottesknecht starb zwar stellvertretend für die Sünden der Menschen und hat insofern die soziale Wirkung eines Opfers, aber dennoch wird die einmütige Gewissheit der Menge zerstört. Mit spürbarer Betroffenheit stellen die Menschen fest:
565 566 567
Vgl. ebd. Jes 40,3-5. Jes 52,14f.
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„Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden, / ein Mann voller Schmerzen, / mit Krankheit vertraut. / Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt, / war er verachtet; wir schätzten ihn nicht. / Aber er hat unsere Krankheit getragen / und unsere Schmerzen auf sich geladen. / Wir meinten er sei von Gott geschlagen, / von ihm getroffen und gebeugt. / Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, / wegen unserer Sünden zermalmt [Herv. T.V.].“568
Wie die Übeltäter zu der Erkenntnis kamen, dass der Knecht ihre Sünden stellvertretend auf sich lud, verrät der Text nicht. Wohl aber legt der Kontext die Annahme nahe, dass es das gewaltlose Verhalten ist, das ihnen die Augen öffnete. Sie staunen über die Tatsache, dass der Gottesknecht die Gewalt nicht erwidert, wobei diese Haltung einer neuen Gewaltlosigkeit sicherlich zu den absoluten „Höhepunkten der alttestamentlichen Überlieferung zählt.“569 Max Weber sieht in den Gottesknechtsliedern gar die jesuanische Ethik der Bergpredigt formvollendet vorweggenommen.570 Alle utopischen Elemente der Bergpredigt sind in der Haltung des Gottesknechts präsent: „Die spezifisch miserabilistische Ethik des Nichtwiderstandes lebt in der Bergpredigt wieder auf, und die Konzeption vom Opfertod des schuldlos gemarterten Gottesknechts half die Christologie entbinden.“571 Zugleich wurde mit der Erzählung vom unverdienten Leidensschicksal des Gottesknechts, so Weber, „die radikalste und man kann sagen: die einzig wirklich ernsthafte Theodizee geschaffen, welche das antike Judentum überhaupt hervorgebracht hat. Sie ist zugleich Apotheose des Leidens, des Elends, der Armut, Erniedrigung und Hässlichkeit, wie sie in dieser Konsequenz nicht einmal in der neutestamentlichen Verkündigung erreicht worden ist.“572 Die Frage nach dem Sinn des menschlichen Daseins, die Fragen nach dem unverdienten Leid, der Rechtfertigung Gottes angesichts der Gewalt und des Bösen in der Welt, unter denen der Einzelne wie auch das ganze Volk Israel leiden musste, kulminieren in der Gestalt des Gottesknechts, werden aber in sinnstiftender Weise beantwortet und soteriologisch gewendet, da die Erlösung im Vertrauen auf Gott
568 569 570 571 572
Jes 53,2-5. Haag: Die Botschaft vom Gottesknecht, a. a. O., S. 159. Vgl. Weber: Das antike Judentum, a. a. O., S. 392. Ebd. Ebd., S. 384.
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liegt. „Dadurch wird der Gottesknecht und das Volk, dessen Archetypos er ist, zum Heilbringer der Welt.“573 Die Antwort des antiken Judentums auf die Frage der Theodizee ist, dass der Gottesknecht die Vergehen der Menschen auf öffentlich sichtbare Weise stellvertretend für die Menschen getragen habe. Er ist das Symbol für eine neue sittliche Ordnung, die aber gerade nicht mit Gewalt implementiert werden kann. Nur aufgrund seiner Gewaltlosigkeit kann er zum Licht für die Völker werden, ein Licht, welches Hoffnung stiftet und zur Nachahmung einlädt.574 In dem Umstand, dass der Knecht zu dieser gewaltlosen Haltung durch Gott befähigt wurde, offenbart sich der jüdische Gott zugleich in einer neuen Weise. Die ganze Zeit steht Jahwe dem Gottesknecht in seiner Not zur Seite, beruhigt ihn und ruft ihm tröstend zu: „Fürchte Dich nicht, denn ich bin bei dir; / hab keine Angst, denn ich bin dein Gott.“575 In diesem Zusammenhang ist entscheidend, dass Gott sich als ansprechbare Person – im Gegensatz zu den unpersönlichen Mächten der fernöstlichen Religionen, die später zu analysieren sein werden – zu erkennen gibt und seine entscheidende Differenz zum Opferritual und archaischem Götterwerk reklamiert. Jahwe verlautbart, einem Akt der Selbstreflexion vergleichbar: „Darum soll mein Volk an jenem Tag meinen Namen erkennen / und wissen, dass ich es bin, der sagt: Ich bin da.“576 Dabei verdankt sich dieses neue Gottesverständnis einer Einsicht in die Funktionsweise sakraler Projektionsmechanismen. Auf der Ebene des Alten Testaments spricht die Schrift des Deuterojesaja am deutlichsten von der Übertragung der Gewalt auf ein Opfer und zugleich offenbart sich Jahwe auf eine neue und persönliche Art. Das Zusammentreffen dieser Umstände ist mitnichten Produkt des Zufalls, denn soll Jahwe den Gläubigen als wahrer Gott gelten, so muss er notwendigerweise unabhängig vom Opfer existieren. Die archaischen Götter, die ihr Dasein jenen sakralen Projektionen verdanken, werden abgelöst durch die Konstruktion eines Gottes, der Partei für das Opfer ergreift und Gewalt ablehnt. Sein Auftreten als independente Person ist eine religionshistorische Innovation, die zugleich die 573 574 575 576
Ebd., S. 392. Vgl. Haag: Die Botschaft vom Gottesknecht, a. a. O., S. 159. Jes 41,10. Jes 52,6.
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Abkehr von der mythischen Welt der Gewalt symbolisiert. Jahwe selbst kündigt diesen Paradigmenwechsel an: „Denkt nicht mehr an das, was früher war; / auf das, was vergangen ist, sollt ihr nicht achten. / Seht her, nun mache ich etwas Neues. / Schon kommt es zum Vorschein, merkt ihr es nicht?“577 Das Bemerkenswerte ist, dass die Gewaltlosigkeit nicht einer Position der nachgebenden Schwachheit entspringt, sondern eine Selbstbehauptung wider die Gewalt darstellt. Auf der Ebene der rein religiösen Perzeption ist dieser Vorgang der Sache nach mit dem Werk der Erlösung identisch, denn die mit der Erlösung geschaffene Heilsgemeinschaft mit Gott beseitigt den Zustand der Sünde, der nach der Auffassung des Jahweglaubens die Ursache für die Gewalttat ist.578 Die Wahrhaftigkeit Jahwes ist für den Gläubigen durch seine Autonomie vom Opfer garantiert, sodass die jüdisch-christliche Tradition diesen Prozess als die fortschreitende Offenbarung des einen Gottes, der den Juden und Christen wahrer als die archaischen Götter sein konnte,579 gedeutet hat. Damit stellt sich die Frage, wie die Gesellschaft ohne das Opfer integriert werden kann. Lassen sich auf der Ebene des Alten Testaments alternative Modelle der gesellschaftlichen Integration ausfindig machen? Das Alte Testament kennt keine rein natürliche Vergemeinschaftung, das friedliche Zusammenleben der Menschen ist keineswegs Selbstverständlichkeit und wird streng reguliert, angefangen von den Geboten des Dekalogs bis hin zur religiösen Versicherung, dass Gott auf der Seite des Gerechten und Verfolgten steht. Die religiöse Idee der Gemeinschaft besteht darin, dass die Menschen erst dann zu einem friedlichen Zusammenleben befähigt werden, wenn sie auf die Stimme Gottes hören, aber immer dann zwangsläufig der Gewalt verfallen, wenn sie sich von Jahwe, seinen Geboten und seiner Stimme, distanzieren. Jahwe ist der Kommunikator, der das Wissen um die Gewalt vermittelt und den Menschen zeigt, dass sie nur in seinem Namen wahrhaft und friedlich leben 577 578 579
Jes 43,18. Vgl. Haag: Die Botschaft vom Gottesknecht, a. a. O., S. 206. Vgl. Norbert Lohfink: ‚Gewalt‘ als Thema alttestamentlicher Forschung, in: Ders. (Hrsg.): Gewalt und Gewaltlosigkeit im Alten Testament, Freiburg im Breisgau 1983, S. 15-50. Auf S. 47 heißt es: „Der Gewaltmechanismus wird aufgedeckt, und es wird eine Möglichkeit, menschliche Gesellschaft zu gründen und zu erhalten, eröffnet, die nicht mehr dem Kreislauf der Gewalt unterliegen muss. Genau im Zusammenhang damit verliert das Bild Gottes seine aus Projektionen stammenden, verzerrenden Züge, und der wahre Gott wird ansichtig.“
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können. Durch seine Selbstoffenbarung begründet er eine neue Gemeinschaft.580 Den unschuldig leidenden Menschen stellt sich fortan ein Gott zur Seite, der Partei für die Verfolgten ergreift, wie besonders die Erzählung von Josef und seinen Brüdern, das Buch Hiob und, als Höhepunkt jüdischer Gewaltfreiheit und Vorwegnahme der jesuanischen Ethik, die Lieder vom leidenden Gottesknecht eindrucksvoll demonstrieren. Das Alte Testament ist zwar keineswegs gewaltfrei, aber, soviel wurde deutlich, es transportiert die Botschaft, dass eine gewaltfreie, vom Sakralopfer unabhängige Gemeinschaftsbildung möglich ist.581
580 581
Vgl. Schwager: Brauchen wir einen Sündenbock?, a. a. O., S. 129. Vgl. Christoph Bultmann: Friedensvisionen im Alten Testament und für Leser des Alten Testaments, in: Manfred Zimmer (Hrsg.): Religion und Politik im Zeichen von Krieg und Versöhnung, Osnabrück 2005, S. 199-212, S. 210.
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1.3 Die biblische Passionsgeschichte als Ereignis gewaltloser Gewaltüberwindung 1.3.1 »Dionysos gegen den Gekreuzigten«. Zur antimythischen Struktur der Evangelien „Nah ist Und schwer zu fassen der Gott, Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch.“582 (Friedrich Hölderlin)
Seit der Aufklärung ist die jüdisch-christliche Religion Gegenstand wissenschaftlicher Kritik.583 Der vermutlich schwerste Einwand gegen die christliche Religion wurde allerdings nicht von Seiten der aufgeklärten Rationalität formuliert, sondern fand ihren vorläufigen Höhepunkt in der christlichen Theologie Rudolf Bultmanns, der die These vertrat, die neutestamentlichen Erzählungen seien archaischen Todes- und Auferstehungsmythen viel zu ähnlich, um nicht selbst mythisch zu sein.584 Bultmann artikulierte die Auffassung, dass dem mythischen Weltbild die Darstellung des christlichen Heilsgeschehens vollständig entspräche. Soll die christliche Botschaft aber ihren Heilssinn bewahren, so sei man gezwungen, hinter den mythischen Vorstellungen die eigentliche Botschaft ganz neu zu entdecken.585 Die heuristische Methode, die sich Bultmann zu diesem Zwecke erarbeitet, nennt er dann auch „Entmythologisieren“586. In den Evangelien ist es die Passion Christi, die am stärksten an das mythologische Sterben und Wiedererscheinen des Opfers erinnert. Dabei wiegen Bultmanns Vorbehalte gegen die mythischen Elemente der Passionsgeschichte umso schwerer, da er zugleich gläubiger Christ war, seine Kritik also von innen 582
583
584
585 586
Friedrich Hölderlin: Patmos. Dem Landgrafen von Homburg, in: Ders.: Sämtliche Gedichte und Hyperion, hrsg. von Jochen Schmidt, Frankfurt am Main/Leipzig 1999, S. 350-365, S. 350. Vgl. Volkhard Krech: Wissenschaft und Religion. Studien zur Religionsforschung in Deutschland 1871 bis 1933, Tübingen 2002, S. 214ff. Vgl. Rudolf Bultmann: Jesus Christus und die Mythologie. Das Neue Testament im Licht der Bibelkritik, Hamburg 1964, S. 16. Vgl. ebd. Ebd.
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her kam und nicht, wie so oft, von außen geübt wird.587 Entspräche das Geschehen der Auferstehung tatsächlich der mythischen Projektionsstruktur, so wäre das tragende Fundament des christlichen Glaubens unwiderruflich zerstört. Die Passionserzählung wäre das Erzeugnis einer sakralen Projektion, die ihre Existenz einem Akt kollektiver Gewalt verdankt. „Ist aber Christus nicht auferstanden, dann ist unsere Verkündigung leer und euer Glaube sinnlos“588, schreibt Paulus an die Korinther. Wer nun auf die Gemeinsamkeiten im Ereignisablauf abstellt, tendiert zu der Annahme, dass die Berichte des Alten und Neuen Testaments sich von den mythischen Erzählungen in ihren Aussagen nicht grundsätzlich unterscheiden und eine vergleichbare Gewaltstruktur aufweisen.589 Hans Dieter Zimmermann vergleicht die mythischen Figuren Herakles und Dionysos direkt mit Jesus und kommt zu folgendem Schluss: „Christos könnte man einen Halbbruder des Dionysos nennen. Hölderlin nennt sie die drei Blätter eines Kleeblattes: die Halbgötter Herakles, Dionysos und Christos, der ihm der liebste ist. Haben sie nicht denselben Vater, Gottvater oder Göttervater genannt, und eine sterbliche Mutter, dieser Maria, jener Semele, die nach ihrem Tod in den Himmel bzw. Olymp aufgenommen wird? Und sitzen sie schließlich nicht zur Rechten des Vaters im Himmel bzw. auf dem Olymp?“590
Zimmermann nennt noch eine Vielzahl weiterer Parallelen, deren strukturelle Synchronie bemerkenswert ist. So feierte man die Geburt des Dionysos im Winter, in der Zeit der Dunkelheit. Zur Wintersonnenwende zogen die Frauen nachts mit Fackeln auf das Kitharion-Gebirge, um die Geburt des Dionysos-Kindes zu verkünden, ebenso also wie der Geburt des Jesus-Kindes in der Nacht des 24. Dezembers bei Kerzenschein gedacht wird: Puer nobis natus est.591 Dionysos wurde als Säugling in eine Getreidewippe gelegt, Jesus in eine Futterkrippe. Beide Wippen enthalten Körner des Feldes, die an die Fruchtbarkeit der Erde erinnern, die Mutter Erde als Ernährerin der Menschen und Tiere. Ochse und Esel 587 588 589
590 591
Vgl. Hübner: Die Wahrheit des Mythos, a. a. O., S. 324. 1 Kor 15,17. Vgl. Hans Dieter Zimmermann: Menschenopfer – Gottesopfer. Wodan, Iphigenie, Isaak, Dionysos, Christos, in: Bernhard Dieckmann (Hrsg.): Das Opfer. Aktuelle Kontroversen. Religionspolitischer Diskurs im Kontext der mimetischen Theorie. Beiträge zur mimetischen Theorie, Band 12, Münster/Hamburg/London 2001, S. 59-80, S. 73. Ebd. Vgl. ebd.
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standen an der Wiege Jesu, Stier und Esel gelten auch dem Dionysos als heilig, denn sie stehen ebenfalls für Kraft und Fruchtbarkeit. „Die erste Tat des erwachsenen Jesus ist wie eine Erinnerung an Dionysos: Die Vermehrung des Weins bei der Hochzeit von Kana und die Hochzeit selbst erinnert an den gamos hieros.“592 Im Frühjahr, wenn der Winter endet, fanden die großen Feiern zu Ehren von Dionysos statt. Der Gott hielt Einzug in die Stadt, die Schifffahrt begann wieder, die Äcker wurden bestellt. Das große Fest zu Ehren Jesu ist ebenfalls ein Frühlingsfest. Das Samenkorn muss sterben, damit eine Pflanze aus ihm hervorgeht. Christus wird schließlich gemartert und gekreuzigt, steht aber nach drei Tagen wieder auf von den Toten und ist ins Leben selbst verwandelt. Auch Dionysos wurde gemartert und zerstückelt, so berichtet jedenfalls die Variante des Mythos von Dionysos Zagreus, in der Dionysos als wilder Jäger auftritt.593 Demnach haben die Titanen, von Hera angestiftet, den Knaben mit Spielzeug gelockt, ihn in Stücke gehauen, in einem Kessel gekocht und davon gegessen. Als Zeus das Verbrechen bemerkt, schleudert er seine Blitze gegen die Titanen und vernichtet sie. Die Göttermutter Rhea birgt daraufhin die Teile des Körpers von Dionysos, setzt sie wieder zusammen und lässt ihn auf diese Weise wieder zu neuem Leben auferstehen.594 Für den Bereich des Alten Testaments wurde bereits gezeigt, dass die offenkundige Handlungsparallelität mit der mythischen Sequenz aufgrund einer perspektivischen Umkehr zugunsten des Opfers die Abkehr vom Mythos bedeutet. Die gewaltkritische Linie setzt sich im Neuen Testament fort und gewinnt ein noch klareres Profil. Die dreistufige Sequenz aus gesellschaftlicher Krise, Kollektivgewalt und religiöser Epiphanie findet sich zwar auch in den Evangelien, aber, darauf laufen die folgenden Überlegungen hinaus, die Perspektive ist mit Klarheit auf das unschuldige Opfer Jesu zentriert, sodass die kollektive Gewalt gegen das Opfer delegitimiert und der gewalttätige Kern des Sakralen samt seines Projektionscharakters außer Kraft gesetzt wird. Indem die Evangelien die Gewalt offenbaren – soziologisch formuliert lautet der korrekte Ausdruck dieses komplexen Vorgangs: indem die Evangelien die funktionale Latenz des Opfermechanismus manifest machen – wird es der christlichen Theologie fortan mög592 593 594
Ebd., S. 74. Vgl. Walter F. Otto: Dionysos. Mythos und Kultus, 6. Aufl., Frankfurt am Main 1996, S. 96. Vgl. ebd.
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lich, die Tradition des christlichen Pazifismus mit dem Hauptprotagonisten der Evangelien zu identifizieren: dem gewaltfreien Jesus.595 Überraschenderweise findet sich die These einer Differenz zwischen Mythos und Evangelium zuerst in der antichristlichen Philosophie Friedrich Nietzsches. Dabei entbehrt es sicher nicht einer gewissen Ironie, dass es ausgerechnet Nietzsche beschieden war, durch seinen Aphorismus Dionysos gegen den ‚Gekreuzigten‘ ungewollt die intellektuelle Grundlage für eine der bedeutendsten Apologien des Christentums zu schaffen, indem er die Einzigartigkeit der jüdisch-christlichen Religion betont.596 Nietzsche hat klar gesehen, dass sowohl im Dionysos-Mythos als auch in der Passionserzählung die Grundlage des Geschehens der kollektive Gottesmord ist.597 Dionysos nimmt nicht nur selber Opfer an, sondern er wird wie Jesus in Einmütigkeit geopfert, und in dieser Hinsicht gleichen sich Dionysos und Jesus so sehr, dass von einer Äquivalenz des Vorgangs gesprochen werden muss.598 Aus dem Tod entspringt in beiden Fällen das Leben und die neue Ordnung. Dennoch gibt es eine zentrale Differenz hinsichtlich des Sinns des Martyriums, auf die zuerst Nietzsche hingewiesen hat. „Dionysos gegen den ‚Gekreuzigten‘: da habt ihr den Gegensatz. Es ist nicht eine Differenz hinsichtlich des Martyriums, – nur hat dasselbe einen anderen Sinn. Das Leben selbst, seine ewige Fruchtbarkeit und Wiederkehr bedingt die Qual, die Zerstörung, den Willen zur Vernichtung… im anderen Fall gilt das Leiden, der ‚Gekreuzigte als der Unschuldige‘, als Einwand gegen dieses Leben, als Formel seiner Verurteilung.“599
Zwischen Dionysos und Jesus gibt es keine Differenz hinsichtlich des Martyriums, vielmehr kann angenommen werden, dass die Passionsberichte denselben Typus des sozialen Dramas wie die Mythen erzählen. Während Dionysos dem Lynchmord am einzigen und alleinigen Opfer zustimmt, ihn fordert und auch 595
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597 598 599
Vgl. Wolfgang Palaver: Christentum zwischen Pazifismus und Gewaltlegitimation, in: Reinhard Hempelmann und Johannes Kandel (Hrsg.): Religion und Gewalt. Konflikt- und Friedenspotentiale in den Weltreligionen, Göttingen 2006, S.159-172, S. 159. Vgl. René Girard: Nietzsche gegen den Gekreuzigten, in: Ders.: Die verkannte Stimme des Realen. Eine Theorie archaischer und moderner Mythen, Wien 2005, S. 88-113, S. 92. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente. Anfang 1888 bis Anfang Januar 1889, in: Ders.: Nietzsche Werke, Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Band 3, Berlin/New York 1972, S. 58.
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selbst erleiden muss, wird er von Jesus und den Evangelien abgelehnt, öffentlich gemacht und verurteilt.600 Giuseppe Fornari resümiert die auf Nietzsches Entdeckung hin entfachte Diskussion: „Nietzsche entdeckte, dass gerade die strukturelle Ähnlichkeit, ja Identität zwischen der Verfolgung, dem Tode und der Auferstehung Christi die abgründige Differenz zwischen den beiden Gestalten zeigt. Die gleiche Geschichte wird von zwei genau entgegengesetzten Gesichtspunkten aus erzählt, dem der Verfolger im Falle des Dionysos, dem des Opfers im Falle Christi.“601
Deutlich wird, dass die Logik sich entgrenzender Gewalt in den Evangelien eine zentrale Rolle spielt. Kurz nach Jesu Einzug in Jerusalem übersteigt der Pegel der Gewalt jenen kritischen Punkt, an dem die drohende Gewalt aller gegen alle umschlägt in die Polarisierung der Gewalt aller gegen einen. Offenbar hat Jesus bereits früh geahnt, dass sein Einzug in die Stadt eine Welle der Gewalt lostreten wird: „Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter; und die Hausgenossen eines Menschen werden seine Feinde sein.“602 Der Text der Apostelgeschichte enthält Aussagen, die unterstreichen, dass die kollektive Front gegen Jesus einen lückenlosen Zusammenschluss aller Akteure darstellt: „Wahrhaftig, verbündet haben sich in dieser Stadt gegen deinen heiligen Knecht Jesus, den du gesalbt hast, Herodes und Pontius Pilatus mit den Heiden und den Stämmen Israels, um alles auszuführen, was deine Hand und dein Wille im Voraus bestimmt haben.“603 In den Passionsberichten findet sich indes keinerlei Hinweis darauf, aus welchem Grund der Zusammenschluss der Verfolger erfolgt. Vielmehr wird aus600 601
602
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Vgl. Girard: Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz, a. a. O., S. 215. Giuseppe Fornari: Naturverstehen. Dionysos, die Natur und die evangelische Differenz. Naturverstehen und Opfer: Calasso, Anaximander und Nietzsche, in: Bernhard Dieckmann (Hrsg.): Das Opfer. Aktuelle Kontroversen. Religions-politischer Diskurs im Kontext der mimetischen Theorie. Beiträge zur mimetischen Theorie, Band 12, Münster/Hamburg/London 2001, S. 37-58, S. 48. Mt 10,34-36. In die gleiche Richtung zielt die Prophezeiung Jesu: „Brüder werden einander dem Tod ausliefern und Väter ihre Kinder, und ihre Kinder werden sich gegen ihre Eltern ausliefern und sie in den Tod schicken.“ Mt 10,21-22. Apg 4,27-28.
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drücklich die Willkür der Verfolgung betont. Im Johannesevangelium sagt Jesus: „Ohne Grund haben sie mich gehasst.“604 Das Neue Testament unterstreicht die Unschuld Jesu,605 wobei seine Rolle als unschuldiges Opfer in der Bezeichnung als sündentilgendes Lamm sichtbar wird: „Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde hinweg nimmt.“606 Anders als in den Opfermythen existiert in den Evangelien aber eine protestierende Minderheit, gemeint sind die ersten Apostel und Leute aus ihrem Umfeld, eine kleine Dissidentengruppe, die sich von der gewalttätigen Einmütigkeit der Gemeinschaft absetzen.607 Diese Minorität findet keine Entsprechung in den Mythen, denn bei den mythischen Divinisierungen ist nicht zu beobachten, dass sich die Gemeinschaft in zwei ungleiche Gruppen aufspaltet und nur die Minderheit die Unschuld des Opfers betont. Ein Opfermechanismus kann erst dann funktionieren, wenn die Einmütigkeit die totalitäre Qualität einer „persekutorischen Nichtbewusstheit“608 aufweist. Genau diese führen die Evangelien vor Augen. Die Evangeliumsberichte sind Texte, in denen der Bruch der Einmütigkeit sich vor den Augen des Lesers vollzieht, wobei dieser Bruch Teil des desakralisierenden Enthüllungskalküls ist. Die vier Passionsberichte führen vor Augen, wie sich die Gewalt entgrenzt und alle beteiligten Akteure, sogar die Apostel, erfasst. Petrus ist ein deutliches Beispiel für diese Ansteckung. Seine Aufrichtigkeit gegenüber Jesus steht außer Frage, denn er ist der Fels, auf den Jesus seine Kirche gründet.609 Dennoch, sobald er sich in einer Umgebung der Feindseligkeit aufhält, kann er nicht anders, als die Feindseligkeit nachzuahmen, sich also dem Druck des sozialen Konformismus zu beugen. Trotz aller gegenteiligen Beteuerungen wird er Jesus dreimal
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Joh 15,25. Auch Pilatus kann die Schuld nicht feststellen: „Da sagte Pilatus zu den Hohepriestern und zu dem Volk: Ich finde nicht, dass dieser Mensch eines Verbrechens schuldig ist.“ Lk 23,4. Joh 1,29. Vgl. Girard: Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz, a. a. O., S. 160. Ebd., S. 161. „Ich aber sage dir: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen. Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreiches geben; was du auf Erden binden wirst, das wird auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird auch im Himmel gelöst sein.“ Mt 16,18-19.
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verleugnen.610 Die Evangelien informieren somit über die Entstehung der Mythen und ihre Projektionsmacht sowie über die Mechanismen, die die Mythen nicht offen legen.611 Die Evangelien beinhalten eine Lehre über die soziale Logik des Opfers und aus christlicher Sicht offenbaren sie „die seit der Grundlegung der Welt verborgenen Dinge, die mit dem seit dem Ursprung der menschlichen Kultur nie enthüllten Geheimnisse Satans eins sind: dem Gründungsmord und der Entstehung der menschlichen Kultur.“612 Am Anfang steht also nicht das Wort, sondern der Mord.613 In der Auferstehung Christi vollendet sich die Subversion des Mythos, indem die persekutorische Nichtbewusstheit der Verfolger aufgehoben wird. „Es gibt nichts Verborgenes, das nicht offenbar wird, und nichts Geheimes, das nicht an den Tag kommt. Wenn einer Ohren hat zu hören, so höre er.“614 Den diesbezüglich bedeutsamsten Ausdruck dieses Offenbarungsvorgangs enthält das Lukasevangelium, in dem der bereits ans Kreuz geschlagene Gottessohn um Vergebung für seine unwissenden Verfolger bittet: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“615 Jesus bringt zum Ausdruck, dass die Menschen letztendlich nicht vorsätzlich seine Opferung vollziehen. Die Verfolger glauben, ihre Handlungen stünden im Einklang mit dem, was nach Recht und Gesetz geboten ist, um die Gemeinschaft zu erhalten. Dieser Gedanke taucht ebenfalls wieder in der Apostelgeschichte auf, in der Petrus die Kreuzigung Jesu wie folgt resümiert: „Nun, Brüder, ich weiß, ihr habt aus Unwissenheit gehandelt, ebenso wie eure Führer. Gott aber hat auf diese Weise erfüllt, was er durch den Mund aller Propheten im Voraus verkündet hat: dass sein Messias leiden werde“616.
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„Petrus erwiderte ihm: Und wenn alle an dir Anstoß nehmen – ich niemals! Jesus entgegnete ihm: Amen, ich sage dir: In dieser Nacht, noch ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. Da sagte Petrus zu ihm: Und wenn ich mit dir sterben müsste – ich werde dich nie verleugnen. Das gleiche sagten auch alle Jünger.“ Mt 26,33-35. Vgl. Girard: Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz, a. a. O., S. 160. Ebd., S. 161. Vgl. Georg Baudler: Am Anfang war das Wort – oder der Mord? Die Faszination des Lebens und die Faszination der Tötungsmacht am Ursprung der Religion, in: Zeitschrift für katholische Theologie 111/1989, S. 45-56. Mk 4,22-23. Lk 23,34. Apg 3,17-18.
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Was für die Undurchsichtigkeit des Opferprozesses gilt, gilt zugleich für die Gewalt zwischen den Menschen. Die Gewalt wird daher in der Bibel auch als Ärgernis bezeichnet. Diese Ärgernisse werden im ersten Brief des Johannes mit moralischer Blindheit und Finsternis gleichgesetzt: „Wer sagt, er sei im Licht, aber seinen Bruder hasst, ist noch in der Finsternis. Wer seinen Bruder liebt, der bleibt im Licht; da gibt es für ihn kein Straucheln.“617 Die Selbsttäuschung ist für den gewalttätigen Opferprozess insgesamt charakteristisch und der Teufel ist der Fürst der Finsternis. Insofern ist das schlechthin Böse auch keine personale Größe, sondern in der Struktur menschlicher Vergemeinschaftung angelegt. Indem das Neue Testament aber die Projektionen derjenigen, die Gewalt ausüben, offen legt, treibt es den Menschen zugleich ihre Blindheit aus und in diesem Sinn kann auch die Aussage, Jesus sei das Licht der Welt, interpretiert werden: „Das Licht kam in die Welt, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht; denn ihre Taten waren böse. Jeder, der Böses tut, hasst das Licht und kommt nicht zum Licht, damit seine Taten nicht aufgedeckt werden. Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht, damit offenbar wird, dass seine Taten in Gott vollbracht sind.“618 Der Tod Jesu besänftigt das Volk, sein Tod hat auf das Volk dieselbe Wirkung wie eine opferkultische Katharsis. Das Lukasevangelium enthält einen bezeichnenden Beleg für die versöhnende Wirkung des Opfers: „An diesem Tag wurden Herodes und Pilatus Freunde, vorher waren sie Feinde gewesen.“619 Dennoch ist die Wirkung nicht die gleiche, wie sie es bei Kain, Romulus, Ödipus oder Dionysos war – auch ihrem Opfer folgte die nachträgliche Verfestigung der Gemeinschaft. Allerdings musste das rituelle Opfer in periodischen Abständen immer wieder ausgeführt werden. Jesus aber stirbt gegen alle Opfer, damit es keine Opfer mehr gebe. Sein Opfer wendet sich gegen den Opfermechanismus selbst, denn der Geopferte wird als Unschuldiger, nicht als Schuldiger sakralisiert.620 Insofern stehen im Zentrum des Kreuzopfers nicht der Schmerz und nicht die Sünde, sondern, so Joseph Ratzingers Deutung des Kreuzdornes, eine ganz neue „Form der Liebe in einer von Tod und von der Selbstsucht gezeich617 618 619 620
1 Joh 2,9-10. Joh 3,19-21. Lk 23,12. Vgl. Schwager: Brauchen wir einen Sündenbock?, a. a. O., S. 201.
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neten Welt.“621 Die Gewalt wird jedenfalls nicht mehr zum Merkmal des Göttlichen gemacht. Die Passion Christi erzwingt den Verzicht auf die Sakralisierung der Gewalt und stellt die Integration der Gemeinschaft auf eine neue, auf eine gewaltlose Grundlage. Die christliche Theologie hat aufgrund der Differenz zum Mythos den Anspruch erhoben, dass sich in der Figur Jesu die Wahrheit christlichen Denkens zeige. Da das Kollektiv keinen Einblick in seine Handlungen und in die Funktionsweise des Opfermechanismus haben könne, sei nur denkbar, dass die Intervention eines Gottes beziehungsweise das Opfer seines Sohns die kollektive Projektion der Menge aufheben könne.622 Nun hat aber Gianni Vattimo hervorgehoben, dass die Analysen, wie sie insbesondere Schwager und Girard im Rahmen einer Dramatischen Theologie623 durchführen, zwar im christlichen Denken beheimatet sind, aber darüber hinaus auch wissenschaftlich tragfähig bleiben, da sie auch vor dem Gerichtshof der soziologischen Vernunft rational nachvollziehbar bleiben. Vattimo, der aufgrund seiner dezidierten Metaphysikkritik nicht gerade im Verdacht stehen dürfte, dem Christentum das apologetische Wort zu reden, erklärt, dass Jesus nicht getötet wird, weil er ein vollkommenes Opfer wäre, sondern weil er Träger einer Botschaft sei, die radikal im Widerspruch zu den auf die Heiligkeit des Opfers zentrierten Strukturen der archaischen Religionen stehe.624 Das Außerordentliche der Offenbarung der Evangelien (das Heilige ist keine Opfergewalt) zeigt Vattimo zufolge, dass „Gott uns durch einen geschichtlichen Prozess der Erziehung rettet, er zugleich eine Offenbarung und eine fortschreitende Verringerung der ursprünglichen Gewalt des Heiligen darstellt.“625 621
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Joseph Ratzinger: Einführung in das Christentum. Vorlesung über das Apostolische Glaubensbekenntnis. Mit einem neuen einleitenden Essay, 5. Aufl., München 2005, S. 272. Vgl. René Girard: Tatsachen, nicht nur Interpretationen!, in: Bernhard Dieckmann (Hrsg.): Das Opfer. Aktuelle Kontroversen. Religionspolitischer Diskurs im Kontext der mimetischen Theorie, Münster/Hamburg/London 2001, S. 261-279, S. 261; René Girard: Mimetische Theorie und Theologie, in: Jósef Niewiadomski und Wolfgang Palaver (Hrsg.): Vom Fluch und Segen der Sündenböcke. Raymund Schwager zum 60. Geburtstag, Thaur 1995, S. 15-29. Vgl. Jósef Niewiadomski und Nikolaus Wandinger: Dramatische Theologie. Symposium zum 65. Geburtstag von Raymund Schwager, Hamburg/London 2003. Vgl. Gianni Vattimo: Heidegger und Girard – Ansätze eines Dialogs, in: Bernhard Dieckmann (Hrsg.): Das Opfer. Aktuelle Kontroversen. Religions-politischer Diskurs im Kontext der mimetischen Theorie. Beiträge zur mimetischen Theorie, Band 12, Münster/Hamburg/London, S. 251260, S. 257. Ebd.
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Die vorliegende Untersuchung vermag aufgrund ihres methodologischen Agnostizismus den Aspekt der Göttlichkeit Jesu weder zu bestätigen noch zu widerlegen. Ob die Einsicht in die Funktionsweise des Opfermechanismus durch göttliche Offenbarung oder durch eine Intuition der Evangelisten entstand, kann hier nicht entschieden werden. Streng genommen ist für die Soziologie aber jede Religion bloß eine menschliche Konstruktionsleistung. „Die Frage, wieweit bzw., ob diese Projektionen nicht auch noch etwas anpeilen als die menschliche Welt, in der sie empirisch angesiedelt ist, muss ausgeklammert bleiben.“626 Die soziologisch nachvollziehbare Differenz eines Perspektivenwechsels vom Kollektiv hin zum Opfer, wird hier als eine soziologische Einsicht der Evangelisten in einen latenten Funktionszusammenhang, aber nicht als göttliche Offenbarungswahrheit gewürdigt. Ob ein offenbarender Gott die Feder der Evangelisten geführt hat – dies bleibt freilich eine legitime Frage an der verminten Schnittstelle von Glauben und Wissen.627
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Berger: Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft, a. a. O., S. 97. Der Gegensatz von Glaube und Vernunft muss aber ausgehalten werden, denn, so Habermas, „die profane […Vernunft hat] zu viel Respekt vor dem Glutkern, der sich an der Frage der Theodizee immer wieder entzündet, als dass sie der Religion zu nahe treten würde. Sie weiß, dass die Entweihung des Sakralen mit jenen Weltreligionen beginnt, die die Magie entzaubert, den Mythos überwunden, das Opfer sublimiert und das Geheimnis gelüftet haben. So kann sie von der Religion Abstand halten, ohne sich deren Perspektive zu verschließen.“ Siehe Jürgen Habermas: Glauben und Wissen, Frankfurt am Main 2001, S. 28.
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1.3.2 Die »Gemeinschaft des Leidens« und ihr gesinnungsethischer Liebesuniversalismus „Dies trage ich euch auf: Liebt einander!“ (Joh 15,17)
Die Passionserzählung gestaltet eine radikal neue und gewaltfreie Sicht des Lebens und des Sterbens. Jesus stirbt unschuldig den Tod am Kreuz und wird nicht vor diesem Opfertod bewahrt. Kein apokalyptisches Schreckensgericht, weder real hereinbrechend noch als Rache angedroht, fängt dieses Unrecht auf. Allerdings bewirkt die kollektive Gewalttat das Gegenteil von dem, was die Täter mit ihr erreichen wollten. Am Ende hängt nicht ein Verfluchter am Kreuz, von dem man das Auge abwendet, sondern, so auch vom Exekutionskommando selbst mit Entsetzen bemerkt, der „Messias (Christus), Kyrios (Herr), Sohn Gottes“628 am Kreuz. Durch die Passionserzählungen wird die Gewalt aus dem Bereich des Heiligen ausgegrenzt. Gewalt ist allein das Verbrechen der Menschen; die Rettung aus der Gewalt und ihre Vergebung ist hingegen die Angelegenheit Gottes. „Gott hat ihn zum Herrn und Messias gemacht, diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt [Herv. T.V.]“629 – so beschließt Petrus seine Pfingstpredigt. Aus diesem Satz konnte die christliche Theologie den Grundsatz ableiten, dass Gewalt und Töten ausschließlich die Sache des Menschen ist, wohingegen Gott in einer Gegenbewegung zu dieser Gewalt den Menschen den rechten Weg weist.630 Durch diese Annahme wurde es dem Christentum möglich, das Bild eines Gottes der reinen Liebe zu konstruieren631 – im ersten Brief des Johannes heißt es: „Gott ist Liebe“632 –, der die Ambivalenz der Sakralopfergötter überwindet. Dem christlichen Gott der Liebe tritt gewiss sofort das Prinzip des Bösen in Form der Gewalt entgegen. Der Teufel wird zum Synonym für die soziale Ord-
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Joseph Ratzinger/Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth. Erster Teil. Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, 3. Aufl., Freiburg/Basel/Wien 2007, S. 371. Apg 2,36. Vgl. Baudler: Gewalt in den Weltreligionen, a. a. O., S. 145. Vgl. Jósef Niewiadomski: Das Drama Jesu. Raymund Schwagers Kurzformel des Glaubens, in: Ders. und Wolfgang Palaver (Hrsg.): Vom Fluch und Segen der Sündenböcke. Raymund Schwager zum 60. Geburtstag, Thaur 1995, S. 31-48, S. 39. 1 Joh 4,16.
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nung, die durch die gewalttätige Entdifferenzierung bedroht wird.633 Dieses Böse, so die christliche Zuversicht, wird allerdings im Zuge der fortschreitenden Heilsoffenbarung unterliegen. Das Lukasevangelium verleiht der utopischen Hoffnung Ausdruck, dass die Gewalt sich gegen sich selbst richtet und entsprechend keine akzeptable Grundlage sozialer Ordnungsbildung darstellt. „Wenn also der Satan mit sich selbst im Streit liegt, wie kann sein Reich dann Bestand haben?“634, lautet die Frage Jesu, die zugleich unterstreicht, dass eine Gemeinschaft, die ihre relative Stabilität einem Gewaltakt verdankt, immer nur auf tönernen Füßen steht. Das Ausgeliefertsein an die Gewalt der Menschen, das Opfersein des Gottessohns wird von Jesus transformiert, indem er, getragen von seinem Vertrauen auf Gott, die Gewalt nicht erwidert, sondern erleidet. Wie der Gottesknecht bei Deuterojesaja wurde er „geschmäht; schmähte aber nicht, er litt, drohte aber nicht“635. Nur durch dieses passive Erleiden kann gemäß der christlichen Auffassung der Kreislauf aus Gewalt und Gewaltantwort durchbrochen und sichtbar gemacht werden. Auch nimmt Gott keine Rache für die Hinrichtung seines Sohns, sondern seine Antwort ist furchtlose Liebe. Dem bereits zitierten Ausspruch: „Gott ist die Liebe“636 schließt sich deshalb der Satz an: „Furcht gibt es in der Liebe nicht, sondern die vollkommene Liebe vertreibt die Furcht. Denn die Furcht rechnet mit der Strafe, und wer sich fürchtet, dessen Liebe ist nicht vollendet.“637 Durch den Tod Jesu offenbart sich dem Christen eine Ethik, die in ihrer Gewaltfreiheit auch den gewaltsamen Tod umschließt und einen universalistischen Charakter der Menschenliebe annimmt: „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid ‚einer‘ in Christus Jesus.“638 Hier liegt der Ursprung für den radikalen Gewaltverzicht des Urchristentums, denn der Jesus, der von Ostern, von Kreuz und Auferstehungstod her erzählt wird, ist eindeutig charakterisiert durch rückhaltlose Feindesliebe, durch Verzicht auf Wiedervergeltung und durch seine Bereitschaft, 633 634 635 636 637 638
Vgl. Girard: Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz, a. a. O., S. 50ff. Lk 11,18. Petr 2,23. 1 Joh 4,16. 1 Joh 4,18. Gal 3,28.
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auf Böses mit Gutem zu antworten. Das Verhalten des Urchristentums hat die jesuanische Botschaft der Liebe zu erhalten gesucht und sich in ganz grundsätzlicher Weise gegen Gewalt, Kriegsdienst und Todesstrafe ausgesprochen, da sie nicht mit den ethischen Grundsätzen des Christentums vereinbar seien.639 Die diesbezüglich handlungsorientierende Maxime findet sich im Matthäusevangelium, in dem Jesus bei seiner Verhaftung durch die Römer Petrus die Verteidigung mit dem Schwert untersagt: „Steck dein Schwert in die Scheide, denn alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen. Oder glaubst du nicht, mein Vater würde mir sogleich mehr als zwölf Legionen Engel schicken, wenn ich ihn darum bitte?“640 Lieber lässt sich Jesus dem sicheren Tod entgegenführen, als Gewalt in seinem Namen zu billigen. Von diesem Bewusstsein lebt die frühchristliche Absage an jede Form von Gewalt, die sich zumindest während der ersten drei Jahrhunderte des Christentums behaupten konnte.641 Jesus selbst sah in seiner Verkündigung des anbrechenden Gottesreiches der Liebe die Legitimation für seine Lehren. Dieses Gottesreich werde das kommende Reich des Friedens sein. Auch wenn Jesus den Satz sprach, dass sein Reich nicht von dieser Welt sei, so bricht die Zeit des Friedens bereits dort an, wo die Menschen den christlichen Geboten entsprechend zusammen leben. Entscheidend für die Stellung des Gottsohnes zur Gewalt ist die Bergpredigt, der verschiedene Seligpreisungen vorangestellt sind, die hier in voller Länge wiedergegeben werden, da sie den Kern einer Lehre enthalten, die die Gemeinschaft gewaltfrei zu integrieren sucht: „Selig, die arm sind vor Gott; / denn ihnen gehört das Himmelreich. / Selig die Trauernden; / denn sie werden getröstet werden. / Selig, die keine Gewalt anwenden; / denn sie werden das Land erben. / Selig, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit; / denn sie werden satt werden. / Selig die Barmherzigen; / denn sie werden Erbarmen finden. / Selig, die ein reines Herz haben; / denn sie werden Gott schauen. / Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Söhne Gottes genannt werden. / Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; / Denn ihnen gehört das Himmelreich.“642
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Vgl. Baudler: Gewalt in den Weltreligionen, a. a. O., S. 147. Mt 26,52-53. Vgl. Baudler: Gewalt in den Weltreligionen, a. a. O., S. 149. Mt 5,3-12.
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Die Seligpreisungen im Lukasevangelium ergänzen die Aufzählung, da sie klarstellen, dass es bezeichnenderweise die Ausgestoßenen sind, also diejenigen, die ansonsten aus der Gemeinschaft innerhalb des Opferprozesses exkludiert werden würden, denen fortan die Liebe Gottes gilt: „Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen und aus ihrer Gemeinschaft ausschließen [Herv. T.V.]“643. Den Seligpreisungen schließt sich eine ausführliche Erörterung über die Problematik des Tötens und der Vergeltung an. „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: ‚Auge für Auge und Zahn für Zahn.‘ Ich aber sage euch: Leiste dem, der euch Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.“644 Damit einher geht das aus dem Dekalog bereits bekannte Tötungsverbot: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten; wer aber jemand[en] tötet, soll dem Gericht verfallen sein.“645 Es geht nicht bloß darum, auf jede Form der Gewalt zu verzichten, sondern Gewalt durch Gewaltlosigkeit zu neutralisieren. Der Umgang mit den Mitmenschen ist durch die radikale Wende weltlicher Normensysteme gekennzeichnet, die den Gedanken der Rache ganz auszuschließen suchen. Dieser Verzicht auf das archaische ius talionis646 ist der Versuch einer Nachahmung der Gewaltfreiheit Gottes. Gerd Theißen zufolge orientiert sich das neue Verhalten an der Nachahmung seines asymmetrischen Verhaltens gegenüber den Menschen. Wer nun auf Widerstand verzichtet, wer die Feinde liebt und für die Verfolger betet, ahmt einen Gott nach, der ganz unabhängig von den Reaktionen der Menschen seine Sonne über Gut und Böse scheinen lässt.647 Nicht mehr die Vergeltung, sondern die in jeder Hinsicht bedingungslos zu realisierende Feindesliebe soll das Zentrum christlichen Handelns und Denkens bilden. Die Einteilung der Menschen in Freund-Feind-Kategorien ist an dieser Stelle mit großer Entschiedenheit außer Kraft gesetzt. Die Gültigkeit des Talionsrechts von Auge um Auge, Zahn um Zahn wird entsprechend aufgehoben: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und 643 644 645 646
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Lk 6,22. Mt 5,38-42. Mt 5,21-22. Vgl. Gerd Theißen: Studien zur Soziologie des Urchristentums. Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 3., erweiterte Aufl., Tübingen 1989, S. 168. Vgl. ebd.
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deinen Feind hassen. Ich aber sage euch, Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet“648. Mit der Feindesliebe ist ein weiterer Aspekt verbunden, der diese Haltung eigentlich erst ermöglicht, nämlich das Abstandnehmen vom Beurteilen der Taten des Anderen.649 Die direkte Aufforderung zur Urteilsenthaltung findet sich in den folgenden Worten: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden, und nach dem Maß, mit dem ihr messt und zuteilt, wird euch zugeteilt werden. Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?“650 Das Abschiedsvermächtnis Jesu ist schließlich der Frieden und die Angstbefreiung: „Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht einen Frieden, wie die Welt ihn gibt, gebe ich euch. Euer Herz beunruhige sich nicht und verzage nicht.“651 Der konsequente Pazifismus Jesu steht in enger Beziehung zum kommenden Reich Gottes, dessen baldiger Anbruch erwartet wird. Vermutlich weil gerade kein innerweltliches Friedensreich im Vordergrund seiner Verkündigung stand, lehnte Jesus jede Form der Gewaltanwendung zur Durchsetzung religiöser Ideen radikal ab. Sie ist für ihn ein Ausdruck satanischer Versuchung. Tatsächlich ist der Weg Jesu ein Weg der Selbstaufgabe, des Selbstopfers, vielleicht sogar ein Weg der indirekten Selbsttötung.652
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Mt 5,43-46; vgl. ferner Lk 6,27-36: „Euch, die ihr mir zuhört, sage ich: Liebet eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen. Segnet die, die euch verfluchen; betet für die, die euch misshandeln. Dem, der dich auf die eine Wange schlägt, halt auch die andere hin, und dem, der dir den Mantel wegnimmt, lass auch das Hemd. Gib jedem, der dich bittet; und wenn dir jemand etwas wegnimmt, verlang es nicht zurück. Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen. […] Ihr aber sollt eure Feinde lieben und sollt Gutes tun und leihen, auch wo ihr nichts dafür erhoffen könnt. Dann wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Söhne des höchsten sein; denn auch er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen.“ In diesem Sinne auch die Worte Jesu gegen die Menge, die eine Ehebrecherin steinigen will: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie.“ Joh 8,7. Mt 7,1-4. Joh 14,27. Raymund Schwager begegnet dieser Auffassung allerdings mit großem Widerspruch: „Wir haben gefragt, ob man bei Christus von einer Rückwendung der Aggression auf sich selber, von einer Teilhabe am Selbstgericht der Sünder und von einer (indirekten) Selbsttötung sprechen kann. Die Antwort ist eindeutig negativ ausgefallen. Was zunächst in diese Richtung zu weisen scheint, erweist sich bei genauer Analyse als Ausdruck seiner großen Liebe zu den Sündern“. Siehe Raymund Schwager: Jesus im Heilsdrama. Entwurf einer biblischen Erlösungslehre, Innsbruck/Wien 1990, S. 240.
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Nicht andere zu verfolgen, sondern selbst verfolgt zu werden, nicht andere zu töten, sondern im Notfall selbst den Tod in Kauf zu nehmen, sind Kennzeichen der Jüngerschaft. Bei Markus heißt es: „Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen und um des Evangeliums willen verliert, wird es retten.“653 Dieser Lehre Jesu bezüglich des Umgangs mit Gewalt fühlten sich die kirchlichen Schriftsteller der ersten Jahrhunderte durchaus noch verpflichtet. Jedenfalls wird unermüdlich betont, dass der christliche Gott ein Gott des Friedens und der universalen Liebe ist. Der Erhalt des Friedens auf Erden wird so zum verbindlichen Ziel des Christentums und dies erscheint konsequent: Wen auch sollte man noch hassen, wenn doch selbst die Feinde geliebt werden müssen? „So ist der Gott des Christentums der Gegenstand der Liebe schlechthin“654, urteilt Simmel. Für Simmel stand die prinzipielle Friedfertigkeit der christlichen Botschaft als Gewissheit fest. Der christliche Gott und dessen Liebessymbolik ziehe einen universalen sozialen Kreis, der als Integrationsmedium Freund und Feind gleichermaßen zu umfassen in der Lage sei. „Wenn man der christlichen Religion nachrühmt, dass sie die ‚Seelen zur Friedfertigkeit‘ stimme, so ist der soziologische Grund davon sicher das Gefühl einer gemeinsamen Unterordnung aller Wesen unter das göttliche Prinzip. Der christliche Gläubige ist davon durchdrungen, dass über ihm und jedem beliebigen Gegner – mag dieser gläubig sein oder nicht – jene höchste Instanz steht, und dies rückt ihm die Versuchung zur gewaltsamen Messung der Kräfte fern.“655
Aus dem sozialen Kreis der christlichen Nächstenliebe kann folglich niemand mehr exkludiert respektive ausgestoßen werden – die Liebe findet kein Ende. Eine weitere Besonderheit der Lehre Jesu ist ihr streng apolitischer Charakter. Das Politische ist mit Gewalt, den Prinzipien von Inklusion und Exklusion verbunden und daher müssen – wir zitieren erneut Maria Stella Barberi – „die Metamorphosen und die Vermittlungen des Politischen als Maskierungen des gewalttätigen Sakralen“656 gelesen werden. Den unversöhnlichen Gegensatz von Religion und Politik hat kein Zweiter derart trennscharf herausgearbeitet wie Max Weber, der 653 654 655
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Mk 8,35. Simmel: Die Religion, a. a. O., S. 137. Georg Simmel: Über- und Unterordnung, in: Ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Gesamtausgabe Band 11, hrsg. von Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main 1992, S. 160-217, S. 175. Barberi: Feindschaft zu welchem Zweck?, a. a. O., S. 125.
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auf die Ethik der Bergpredigt zurückgreift, um die rational nicht zu überbrückende, durch den Kampf der Werte verursachte Kluft zwischen religiöser und politischer Sphäre darzustellen.657 Aus der Liebesethik der Bergpredigt Jesu entspringt die Direktive: „dem Übel nicht widerstehen mit Gewalt“658. Diese Haltung ist aber nur als streng durchzuhaltendes Extrem sinnvoll und erscheint Weber allein dem religiösen Virtuosen möglich. Mit Blick auf die ethische Forderung der rigorosen Gewaltlosigkeit schreibt er: „Oder: ‚halte den anderen Backen hin!‘ Unbedingt, ohne zu fragen, wieso es dem anderen zukommt, zu schlagen. Eine Ethik der Würdelosigkeit – außer: für einen Heiligen. Das ist es: man muss ein Heiliger sein in allem, zum mindesten dem Wollen nach, muss leben wie Jesus, die Apostel, der heilige Franz und seinesgleichen, dann ist diese Ethik sinnvoll und Ausdruck einer Würde: sonst nicht.“659
Dem Heiligen tritt daher – durch Abgründe getrennt – vielleicht nicht gerade Satan, aber mit dem Politiker doch eine Figur gegenüber, die sich mit dämonischen Mächten einlässt.660 Für die Politik ist das entscheidende Mittel die Gewalt und für den erfolgreichen und ethisch verantwortungsvoll handelnden Politiker gilt: „du sollst dem Übel gewaltsam widerstehen, sonst – bist du für seine Überhandnahme verantwortlich.“661 Das Evangelium gebietet aber, auf das gewaltsame Übel niemals mit Gewalt zu reagieren. Dieser Forderung kam das Urchristentum in seiner frühen Zeit noch nach.662 Der erste christliche Märtyrer, Stephanus, zog es vor, sich in der Nachfolge Jesu lieber steinigen zu lassen – und zwar ohne jeden Groll gegen seine Mörder: „Herr rechne ihnen diese Sünde nicht an!“ –, als seinen Gott zu ver657
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Vgl. Max Weber: Wissenschaft als Beruf, in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Johannes Winckelmann, 7. Aufl., Tübingen 1988, S. 582-613, S. 604. Weber: Politik als Beruf, a. a. O., S. 78. Ebd., S. 78. Die Unverträglichkeit der Ethik der Bergpredigt mit den Eigengesetzlichkeiten des Politischen wird in der Moderne besonders eindringlich durch Leo Tolstois Beispiel verkörpert. Wo man die Mittel der Politik ablehnt, so schreibt Wolfgang Schluchter, „etwa weil sich der ethisch geforderte Akosmismus der Liebe und Güte mit den Mitteln der Gewaltsamkeit nicht verträgt, bleibt nur Selbstentsagung, also Verzicht auf politisches Handeln, Apolitismus, wie dies am späten Tolstoi studiert werden kann.“ Wolfgang Schluchter: Religion und Lebensführung, Band 1: Studien zu Max Webers Kultur- und Werttheorie, Frankfurt am Main 1988, S. 187. Weber: Politik als Beruf, a. a. O., S. 78f. Vgl. Baudler: Gewalt in den Weltreligionen, a. a. O., S. 146ff.
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raten und den Anschuldigungen nachzugeben.663 Die Gemeinschaft der Christen ist dementsprechend in erster Linie, so die christliche Selbstbezeichnung des zweiten Korintherbriefs: „Leidensgemeinschaft [Herv. T.V.]“664, die jedes gegen sie verübte Unrecht in Demut aushalten muss. Das Ertragen der Gewalt ist nicht durch innere Schwäche und auch nicht durch Feigheit motiviert, sondern für das frühe Christentum gilt, dass das ewige Leben im Paradies allein den gewaltlosen Duldern vorbehalten ist. Paulus vertritt daher die Überzeugung einer bedingungslosen Leidensbejahung. „Deswegen bejahe ich meine Ohnmacht, alle Misshandlungen und Nöte, Verfolgungen und Ängste, die ich für Christus ertrage; denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.“665
1. 3.3 Der Rückfall in die Gewalt „Schafft den Übeltäter weg aus eurer Mitte!“ (1 Kor 5,13)
Wenn man das Verhältnis des Christentums zur Gewalt untersucht, so stößt man schnell auf Widersprüche. Auf der einen Seite steht das Anliegen der Evangelien, Nächstenliebe zu verwirklichen und eine Religion der absoluten Gewaltfreiheit zu stiften. Auf der anderen Seite steht die Historie des Christentums, die in ihrer mehr als 2000-jährigen Geschichte keineswegs den ethischen Lehren der Bergpredigt treu blieb. Zwar stellt der Tod des Gottessohns das nicht mehr überbietbare Ereignis gewaltloser Gewaltüberwindung dar – und trotzdem brach sich neue Gewalt die Bahn.666 Die Frage eines möglichen Antijudaismus in den Evangelien ist nach der totalitären Erfahrung des 20. Jahrhunderts vielleicht die bri-
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„Da erhoben sie ein lautes Geschrei, hielten sich die Ohren zu, stürmten gemeinsam auf ihn los, trieben ihn zur Stadt hinaus und steinigten ihn. […] So steinigten sie Stephanus; er aber betete und rief: Herr Jesus, nimm meinen Geist auf! Dann sank er in die Knie und schrie laut: Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an! Nach diesen Worten starb er.“ Apg 7,57-60. 2 Kor 4,7. 2 Kor 12,10. Vgl. Baudler: Befreiung von einem Gott der Gewalt, a. a. O., S. 215ff.
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santeste aller Fragen, die sich in diesem stellt.667 Im Zentrum steht dabei das Problem einer Reihe von Texten, die den Juden vorwerfen, sie hätten Jesus ebenso töten wollen, wie sie viele andere unschuldige Opfer bereits vor ihm getötet hätten. So konstatiert Jesus bei der Verfluchung der Pharisäer: „Weh euch! Ihr errichtet Denkmäler für die Propheten, die von euren Vätern umgebracht wurden.“668 Die mögliche antijüdische Tendenz in den Evangelien wird noch verstärkt durch eine Vielzahl von Vorwürfen, die sich gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten richten: „Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr seid wie die Gräber, die außen weiß angestrichen sind und schön aussehen; innen aber sind sie voller Knochen, Schmutz und Verwesung. So erscheint auch ihr von außen den Menschen gerecht, innen aber seid ihr voll Heuchelei und Ungehorsam gegen Gottes Gesetz.“669 An anderer Stelle heißt es: „Ihr Nattern, ihr Schlangenbrut! Wie wollt ihr dem Strafgericht der Hölle entrinnen?“670. Im Johannesevangelium werden die Namen der verschiedenen jüdischen Gruppierungen und Fraktionen schließlich durch die Bezeichnung die Juden ersetzt. Entsprechend hat es den Anschein, dass sich die Vorwürfe, die zunächst gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten gerichtet wurden, auf das ganze jüdische Volk in Form einer Kollektivanklage ausgedehnt werden: „Ihr habt den Teufel zum Vater, und ihr wollt das tun, wonach es euren Vater verlangt. Er war ein Mörder von Anfang an.“671 Die Aussagen der Evangelien lassen sich also als direkte Anklage gegen die Juden lesen. Aber – und dies ist vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen über das Sakralopfer ein entscheidender Punkt – sie zielen nicht allein auf sie. So spricht der Evangelist Matthäus von all dem Blut, das „seit der Erschaffung der Welt vergossen worden ist“672. Hinter dieser Aussage steht der Gedanke einer Reihe universell verbreiteter sakrifizieller Mordtaten und so stellt sich die 667
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Vgl. René Girard: Die Frage des Antisemitismus in den Evangelien, in: Ders.: Die verkannte Stimme des Realen. Eine Theorie archaischer und moderne Mythen, Wien 2005, S. 114-128, S. 114. Lk 11,47-48. Mt 23,27-28. Mt 23,33. Joh 8,44. Lk 11,50.
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Frage, warum den Evangelien die Erwähnung dieser Morde so wichtig ist. Würde es sich ausschließlich um jüdische Mordtaten handeln, so könnte man diese Anklage tatsächlich als eine rhetorische Anprangerung jüdischer Grausamkeit lesen. Die Darstellung würde dann lauten: „‚Kein Wunder, dass die Juden Jesus getötet haben; sie massakrieren unterschiedslos alle ihre heiligen Männer.‘ Diese Lesart ist gewiss falsch, doch unglaublicherweise ist sie noch heute die einzige, die Gehör findet.“673 Die antijudaistischen Aussagen in den Evangelien müssen in den Kontext des Opfermechanismus eingebunden werden, damit sie ihre antisemitische Färbung verlieren. Denn die Evangelien, so die These René Girards, enthüllen den „gewaltsamen Ursprung aller menschlichen Gesellschaften. Wenn die wahre Bedeutung dieser Texte noch immer verkannt wird, so liegt das gerade an der antijüdischen Deutung, die man ihnen unterstellt.“674 Wenn nun die Botschaft des Evangeliums in ihrem Kerngehalt lautet, dass der mythische Prozess kollektiver Viktimation nicht gottgefällig ist, dann lässt diese Botschaft in ganz prinzipieller Weise keinen Raum für Antijudaismus. Die These, dass die Evangelien nicht antisemitisch ausgelegt werden dürfen, findet ihre Stütze darin, dass die kollektive Front gegen Jesus, wie oben bereits analysiert, einen lückenlosen Zusammenschluss aller Akteure darstellt. In den Evangelien treten neben den Juden ebenfalls die römischen Autoritäten, die Heiden und sogar der Apostel Petrus als Mitglied der Verfolgerkoalition auf.675 Alle lassen sich von der Gewalt anstecken. Wenn die Hinrichtung Jesu aber von allen Protagonisten verschuldet wurde, kann man sie nicht den Juden allein zurechnen. Dem Liebesuniversalismus der Bergpredigt korrespondiert ein Schulduniversalismus, der alle Menschen, alle Völker, sogar die Christen selbst miteinschließt und die Anschuldigungen Jesu gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer als universale Anklage menschlicher Bosheit erscheinen lässt.676 Durch diese gedankliche Konstruktion hat sich der christlichen Theologie die Perspek673 674 675
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Girard: Die Frage des Antisemitismus in den Evangelien, a. a. O., S. 115. Ebd., S. 127. Vgl. Josef M. Kufulu: Wer ist schuld am Tode Jesu? Antisemitismusangst im Katechismus der ‚Katholischen Kirche‘, in: Jósef Niewiadomski und Wolfgang Palaver (Hrsg.): Vom Fluch und Segen der Sündenböcke. Raymund Schwager zum 60. Geburtstag, Thaur 1995, S. 111-118, S. 115. Vgl. ebd.
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tive eröffnet, den Antijudaismus einzudämmen, indem sie annimmt, dass „alle Urteile über die Pharisäer und die Juden in dem Maße auch für die Christen gelten, als sie ihr Herz nicht dem Gott der unbegreiflichen, gewaltfreien Liebe ganz zuwenden.“677 Allerdings ist damit die verhängnisvolle Dichotomie nur verschoben und zwischen denjenigen neu gesetzt, die sich zu diesem neuen Glauben an Schuld und Sühne bekehren und denjenigen, die dies nicht tun. Solange das Postulat der Feindesliebe aufrechterhalten wird, bleibt das Gewaltverbot intakt, allerdings wird der christliche Liebesuniversalismus bereits in den neutestamentlichen Schriften durch neue partikularistische Tendenzen in Frage gestellt. Spätestens Paulus stellt der christlichen Gemeinde eine Gruppe von Ungläubigen gegenüber, die nicht mehr nur zu lieben, sondern jetzt auch für ihr nichtchristliches Verhalten zu bestrafen sind. In derartigen Passagen aber wird das jesuanische Motiv der Feindesliebe wieder in das „Gemälde vom Schreckensgott hineingestellt“678. Die Soldaten Christi müssen bei Paulus wie in einem Feldzug gegen die Welt des Unglaubens antreten. „Die Waffen, die wir bei unserem Feldzug einsetzen, sind nicht irdisch, aber sie haben durch Gott die Macht, Festungen zu schleifen; mit ihnen reißen wir alle hohen Gedankengebäude nieder, die sich gegen die Erkenntnis Gottes auftürmen. Wir nehmen alles Denken gefangen, sodass es Christus gehört; wir sind entschlossen alle Ungehorsamen zu strafen“679. Die gewaltförderlichen Strukturen von Inklusion und Exklusion werden durch die Einteilung in Gläubige und Ungläubige wiederbelebt. Diejenigen, die sich nicht Bekehren, sind, so der Römerbrief, „voll Ungerechtigkeit, Schlechtigkeit, Habgier und Bosheit, voll Neid, Streit, List und Tücke, sie verleumden und treiben üble Nachrede, sie hassen Gott, sind überheblich, hochmütig und prahlerisch, erfinderisch im Bösen und ungehorsam gegen die Eltern, sie sind unverständig und haltlos, ohne Liebe und Erbarmen. Sie erkennen, dass Gottes Rechtsordnung bestimmt: Wer so handelt, verdient den Tod. [Herv. T.V.]“680
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Schwager: Brauchen wir einen Sündenbock?, a. a. O., S. 234. Vgl. Georg Baudler: Erlösung vom Stiergott. Christliche Gotteserfahrung im Dialog mit Mythen und Religionen, München 1989, S. 129. 2 Kor 10,4-6. Röm 1,32.
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Obwohl immer noch dazu aufgerufen wird, das Böse durch das Gute zu bekämpfen und die Rache Gott anheimzustellen,681 so ist doch in der zitierten Passage eine Denkfigur vorgezeichnet, die den Anderen, den Ungläubigen, das heißt also: den Feind, bezeichnet, der gemäß der hier zitierten Passage des Römerbriefs den Tod durch die Rechtgläubigen verdient.682 Nicht nur äußere, sondern auch Feinde innerhalb der Gemeinschaft muss der Christ erneut bekämpfen. Im zweiten Brief an die Korinther berichtet Paulus, ihm sei zu Ohren gekommen, dass ein Mann aus der Gemeinde, vermutlich in zweiter Ehe, mit der Frau seines Vaters zusammenlebe. Dies sei eine „Unzucht, wie sie nicht einmal unter den Heiden vorkommt, dass nämlich einer bei der Frau seines Vaters lebt.“683 Paulus empört sich, die Gemeinschaft bleibe untätig, anstatt „den aus eurer Mitte auszustoßen [Herv. T.V.], der so etwas getan hat.“684 Die Rache ist somit nicht mehr die Angelegenheit Gottes, sondern wird in die Hände der Menschen zurückgelegt. Recht unverhohlen legt Paulus offen, was seiner Meinung nach in diesem Fall der Blutschande geboten ist: „Im Namen Jesu, unseres Herrn, wollen wir uns versammeln, ihr und mein Geist, und zusammen mit der Kraft Jesu, unseres Herrn, diesen Menschen dem Satan übergeben zum Verderben seines Fleisches, damit sein Geist am Tag des Herrn gerettet wird.“685 Die vermutlich rätselhafteste Gestalt, die eine neue Fusion des Heiligen und der Gewalt ankündigt, ist der Katechon – der Widersacher des im christlichen Horizont ultimativ Bösen: der satanische „Widergott“.686 Im zweiten Brief an die Thessalonicher wird das christliche Paradox der Notwendigkeit einer gewaltbewehrten Friedenssicherung geschildert.
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„Segnet eure Verfolger; segnet sie, verflucht sie nicht! Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden! Seid untereinander eines Sinnes, strebt nicht hoch hinaus, sondern bleibt demütig! Haltet euch nicht selbst für weise! Vergeltet niemand Böses mit Bösem! Seid allen Menschen gegenüber auf das Gute bedacht! Soweit es euch möglich ist, haltet mit allen Menschen Frieden!“ Röm 12,21. Vgl. Baudler: Gewalt in den Weltreligionen, a. a. O., S. 150. 1 Kor 5,1. 1 Kor 5,2. 1 Kor 5,4-5. Paul Metzger: Katechon II Thess 2,1-12 im Horizont apokalyptischen Denkens, Berlin 2005, S. 125.
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„Ihr wisst auch, was ihn jetzt noch zurückhält, damit er erst zur festgesetzten Zeit offenbar wird. Denn die geheime Macht der Gesetzwidrigkeit ist schon am Werk: nur muss erst der beseitigt werden, der sie bis jetzt noch zurückhält. Dann wird der gesetzwidrige Mensch allen sichtbar werden. Jesus, der Herr, wird ihn durch den Hauch seines Mundes töten und durch seine Ankunft und Erscheinung vernichten.“687
Das Ende aller Tage kann nicht verhindert, wohl aber im Zeithorizont hinausgezögert werden, denn der Katechon hält das Kommen des gewalttätigen Antichristen gewaltsam auf. Der Katechon enthält Gewalt, um dadurch das gewalttätige Chaos, das mit der Herrschaft des Antichristen einhergehen wird, zurückzuhalten.688 Der Gewalt kann gemäß der Katechonlehre also nur mit Gewalt Einhalt geboten werden, allerdings nicht für die Ewigkeit. In der christlichen Apokalypse, der Offenbarung des Johannes als letzter Schrift des Neuen Testaments, wird geschildert, wie der Endzeitkampf zwischen Gut und Böse aussehen wird: „Da entbrannte im Himmel ein Kampf; Michael und seine Engel erhoben sich, um mit den Drachen zu kämpfen. Der Drache und seine Engel kämpften, aber sie konnten sich nicht halten und sie verloren ihren Platz im Himmel. Er wurde gestürzt, der große Drache, die alte Schlange, die Teufel oder Satan heißt und die ganze Welt verführt; der Drache wurde auf die Erde gestürzt, und mit ihm wurden seine Engel herab geworfen.“689
Diejenigen aber, die sich vom Bösen haben verführen lassen, sollten besser nicht mehr mit der nachsichtigen Milde eines Gottes der reinen Liebe rechnen. „Wer das Tier und sein Standbild anbetet und wer das Kennzeichen auf seiner Stirn oder Hand annimmt, der muss den Wein des Zornes Gottes trinken, der unverdünnt im Becher seines Zornes gemischt ist. Und er wird mit Feuer und Schwefel gequält vor den Augen der heiligen Engel und des Lammes.“690 Vor dem hier skizzierten Hintergrund der Offenbarung des Johannes, konnte die frühchristliche, in der Erzählung des Passionsgeschehens Jesu errungene Gewaltfreiheit gekippt und die Botschaft der Evangelien in relativ kurzer Zeit sogar in ihr Gegenteil verkehrt werden.691 687 688 689 690 691
2 Thess 2,6f. Vgl. Palaver: Christentum zwischen Pazifismus und Gewaltlegitimation, a.a.O., S. 162. Offb 12,7-9. Offb 14,9. Vgl. Baudler: Gewalt in den Weltreligionen, a. a. O., S. 151.
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Immer wieder kam es im Laufe der Geschichte des Christentums zu Ereignissen, die dem Muster der ursprünglichen kollektiven Verfolgungen, von denen der Mythos indirekt erzählt, bemerkenswert gleichen. Man erinnere sich an Phänomene wie Juden-, Ketzer-, und Hexenverfolgungen, die Kreuzzüge, Inquisition und die diversen Religionskriege, in denen sich ein sakrifiziell strukturiertes Christentum zu erkennen gibt.692 Das Prinzip der kollektiven Verfolgung strukturiert die christliche Gemeinschaft erneut, sodass Gianni Vattimo neue, wenngleich geschwächte Opfersequenzen erkennt: Das Wieder-aufleben des archaischen Opfermechanismus sei es, das die wiederkehrende Gewalt in der Geschichte des Christentums erkläre.693 Die mit der konstantinischen Wende (313 n. Chr.) begonnene machttechnische Verknüpfung von Staat und Kirche, die unter Kaiser Theodosius (351 n. Chr.) ihre Vollendung fand, begründete schließlich eine christliche Kultur, die gemäß des theologischen Urteils von Raymund Schwager und Jósef Niewiadomski „der Welt der archaischen Mythen in manchen Zügen näher stand als den biblischen Erzählungen.“694 Vor allem im Element des Staates und der Auseinandersetzung mit seinen Feinden entfaltete die mythische Struktur der kollektiven Verfolgung eine soziale Eigendynamik, die in der Schaffung eines irdischen Friedens durch eine gewaltsame Gewaltbeseitigung ihr letztes Prinzip erblickte. „Die Idee, dass man der Gewalt mit Gewalt endgültig ein Ende setzen könne (jeder Krieg ist der letzte), zeigt: Es ist gerade das Bedürfnis, der Vorsatz, der Anspruch, zum ersten und letzten Prinzip zu gelangen (sich mit ihm zu vereinigen, es zu erreichen), was Gewalt inspiriert.“695 Bei aller notwendigen Kritik an der Gewalt, die von der christlichen Kirche in ihrer mehr als 2000 Jahre alten Geschichte ausgegangen ist, darf aber nicht übersehen werden, dass die christliche Selbstkritik an der oft allzu sorglosen Ausrufung des bellum iustum nie vollständig verstummt ist – sie findet sich in 692
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Vgl. Richard Schröder: Kreuzzüge und Hexenverfolgungen, in: Reinhard Hempelmann und Johannes Kandel (Hrsg.): Religionen und Gewalt. Konflikt- und Friedenspotenziale in den Weltreligionen, Göttingen 2006, S. 131-157, S. 133. Vgl. Gianni Vattimo: Jenseits des Christentums. Gibt es eine Welt ohne Gott?, Mailand/München/Wien 2002, S. 159. Raymund Schwager und Jósef Niewiadomski: Religion erzeugt Gewalt – Einspruch! Innsbrucker Forschungsprojekt ‚Religion – Gewalt – Kommunikation – Weltordnung‘, Hamburg/London 2003, S. 135. Vattimo: Jenseits des Christentums, a. a. O., S. 155.
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den Bußbüchern seit dem neunten Jahrhundert ebenso wie in manchen Strängen der theologischen Kreuzzugskritik.696 Das jesuanische Gebot der radikalen Gewaltlosigkeit ließ sich zwar, so viel zeigt ein nur flüchtiger Blick in die Vergangenheit, nicht konsequent durchhalten. Dennoch wurde mit den Evangelien eine gesellschaftliche Wende eingeleitet, die Michel Wieviorka zufolge bewirkte, dass „das Opfer jetzt mehr und mehr als solches anerkannt wird, mit all seinem Unglück, seinem Leiden und der Gewalt, die es erfahren musste“697. Die Betonung der Ungerechtigkeit des Opfervorgangs, die Abschaffung des Sakralopfers als Mittel der Gemeinschaftsbildung und die damit einhergehende Gewaltkritik ist eine bleibende zivilisatorische Leistung des Christentums. Die Dekonstruktion des Mythos führt zur Zerstörung der Mechanismen, die am Grund der archaisch-religiösen Ordnung stehen. An die Stelle der alten Systeme wird eine neue Wertordnung implementiert, deren oberster Grundsatz der Gewaltverzicht ist.
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Vgl. Thomas Hoppe: Krieg und Gewalt in der Geschichte des Christentums, in: Adel Theodor Khoury (Hrsg.): Gewalt in den Weltreligionen. Fakten und Hintergründe, Freiburg im Breisgau 2003, S. 25-43, S. 29. Wieviorka: Die Gewalt, a. a. O., S. 201.
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1.4 Der Islam als Religion Abrahams 1.4.1 »Sachgehalt gegen Chronologie«. Der Islam am Ausgangspunkt des biblischen Befreiungsweges „O Leute der Schrift! Warum streitet ihr über Abraham, wo die Thora und das Evangelium erst nach ihm herabgesandt wurden? Habt ihr denn keinen Verstand?“ (Sure 3,65698)
Von den großen Weltreligionen ist der Islam die einzige, die nach dem Christentum die Weltbühne betrat. Zwischen den drei Religionen Judentum, Christentum und Islam, die sich als Offenbarungsreligionen bezeichnen und jeweils in Abraham ihren Stammvater sehen, kam es im Laufe der Geschichte immer wieder zu blutigen Auseinandersetzungen.699 Aber von ihrem Stammvater ausgehend sind sie ebenfalls, wie Lessing es in seiner Schrift Nathan der Weise ausdrückte: Brüder.700 Jeder der Brüder behauptet, den wahren Ring vom Vater geerbt zu haben und so suchen sie einen Richter auf, um herauszufinden, wen der Vater nun am meisten geliebt hat. Der Richter spricht daraufhin wie folgt zu den Brüdern: „Mein Rat ist aber der: ihr nehmt / Die Sache völlig wie sie liegt. Hat von / Euch jeder seinen Ring von seinem Vater: / So glaube jeder sicher seinen Ring / Den echten. – Möglich; dass der Vater nun / die Tyrannei des Einen Rings nicht länger / In seinem Hause dulden wollen! – Und gewiss; / Dass er euch alle drei geliebt, und gleich / Geliebt: indem er zwei nicht drücken mögen, / Um einen zu begünstigen. – Wohl an! / Es eifre jeder seiner unbestochnen / Von Vorurteilen freien Liebe nach!“701
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Alle folgenden zitierten Suren stammen aus: Der Koran. Arabisch-Deutsch, aus dem Arabischen von Max Henning, Überarbeitung und Einleitung von Murad Wilfried Hofmann, 3. Aufl., Istanbul 2002. Vgl. Gudrun Krämer: Geschichte des Islam, München 2005, S. 23. Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. Ein dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen, mit Anmerkungen von Peter von Düffel, Stuttgart 2007, S. 78ff. Ebd., S. 82.
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Ebenso wie die Brüder behaupten nun Judentum, Christentum und Islam, das alleinige religiöse Wahrheits- und Heilsmonopol zu besitzen.702 Abseits aller dogmatischen Unterschiede, die die drei nahöstlichen Weltreligionen voneinander trennen, kann jedoch festgehalten werden, dass auch im Koran das Heilige von der Gewalt isoliert wird. Es bestehen, wie die folgenden Kapitel zeigen werden, Kontinuitätslinien zur Opfer- und Gewaltkritik der Bibel. Diesbezüglich zentral ist zunächst die Figur Abrahams (Ibrahim), denn mit ihr verbindet sich in den biblischen Texten, wie oben bereits ausführlich geschildert, die erste „Abwehr der Opferdenkform“703. In den nachstehenden Überlegungen wird es nicht darum gehen, den „Streit um Abraham“704, wie ihn die nahöstlichen Religionsgemeinschaften austragen, zu verfolgen, sondern Abraham im Rahmen eines soziologischen Zusammenhangs, nämlich der Verbindung des Heiligen und der Gewalt im Kontext der Opferthematik, zu analysieren. Historisch betrachtet ist der Islam die jüngste der drei monotheistischen Religionen, sodass man in der Regel den geschichtlichen Bogen vom Judentum über das Christentum hin zum Islam aufzustellen leichthin geneigt ist. Gemäß des Anspruches des Islam darf aber eine rein historische Betrachtungsweise nicht vergessen machen, dass die Chronologie der geschichtlichen Entstehung auch in der inhaltlichen Betrachtung stets die Reihenfolge Judentum, Christentum und Islam vorgibt. So versteht sich der Islam von seinem „Ursprung her nicht als eine zu Beginn des 7. Jahrhunderts n. Chr. entstandene neue Religion, sondern als der Versuch, die schon vorhandenen monotheistischen Schriftreligionen Judentum und Christentum auf ihren gemeinsamen Ursprung zurückzuführen.“705 Der Koran intendiert in diesem Zusammenhang zwar nicht die grundsätzliche Aufhebung der jüdisch-christlichen Tradition, aber erklärt doch die Rückführung und Konzentration auf den abrahamitischen Ursprung zum Anliegen gegenüber Judentum und Christentum.706 Daher erhebt der Islam den Anspruch, die 702 703 704
705 706
Vgl. Baudler: Abschied von einem Gott der Gewalt, a. a. O., S. 289. Ebd., S. 54. Karl-Josef Kuschel: Streit um Abraham. Was Juden, Christen und Muslime trennt – und was sie eint, 5. Aufl., Düsseldorf 2006. Baudler: Abschied von einem Gott der Gewalt, a. a. O., S. 295. Vgl. Christine Schirrmacher: Der Islam über den Frieden, den Jihad und das Zusammenleben von Muslimen und Nichtmuslimen, in: Reinhard Hempelmann und Johannes Kandel (Hrsg.): Religionen und Gewalt. Konflikt- und Friedenspotenziale in den Weltreligionen, Göttingen 2006, S. 259-275, S. 265.
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früheste und universal gültige Religion Abrahams zu sein. Diese Rückführung auf die Ursprünge bedeutet zugleich, dass im Koran Veränderungen der jüdischchristlichen Tradition vorgenommen werden, die gerade im Hinblick auf die opfer- und gewaltkritische Botschaft Jesu, auf dessen Rolle im Koran später noch zurückzukommen sein wird, von Bedeutung sind. Wenn der Islam aber die Veränderung der jüdisch-christlichen Tradition anstrebt, so stellt sich die im Folgenden zu klärende Frage, inwiefern die religiöse Wende, die von den biblischen Schriften eingeleitete Abkehr vom archaischen Opferkult, der Abschaffung des Sakralopfers und die Anbetung der Gewalt als das Heilige, vom Islam mitgetragen wird. Wie bereits erwähnt, kommt das Selbstverständnis des Islam am stärksten im Bezug auf die Abraham-Figur zum Ausdruck. An vielen Stellen bezeichnet der Koran ausdrücklich den Islam als die Religion „eures Vaters Abraham.“707 Abraham ist gemäß der islamischen Glaubensüberzeugung ein hanif, also einer jener rechtgläubigen Menschen, die vor dem Auftreten Muhammeds die Verehrung mehrerer Gottheiten abgelehnt und sich nur dem einen Gott ergeben haben. Abraham ist derjenige, so die Sure 2, der „den rechten Glauben bekannte und kein Götzendiener war“708. Dabei wird im Koran die religiöse Überzeugung vertreten, dass Abraham eine Offenbarung zu Teil wurde, die dann aber verloren ging beziehungsweise von Judentum und Christentum missverstanden wurde. Diese verlorene Botschaft in ihrem ursprünglichen Sinn zu verkünden, ist die Aufgabe des Koran: „Wahrlich, all dies stand bereits in den alten Schriften. Den Schriften von Abraham und Mose.“709 Muhammed will an den abrahamitischen Ursprung der biblischen Schriftoffenbarung zurückkehren und ihren Sinn neu zur Geltung bringen. Falls der Muslim aufgefordert werden sollte, zum Judentum oder Christentum zu konvertieren, so soll er seinen Bekehrern die selbstbewussten Worte entgegenhalten: „Wir glauben an Allah und an das, was Er zu uns herab sandte, und was Er zu Abraham und Ismael und Isaak und Jakob und den Stämmen herab sandte, und was Moses und Jesus und was den Propheten von ihrem Herrn gegeben wurde. Wir
707 708 709
Sure 22,78. Sure 2,135. Sure 87,18-19.
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machen keinen Unterschied zwischen einem von ihnen; und wahrlich, wir sind Muslime.“710 Das islamische Selbstverständnis, eine Religion in abrahimitischer Tradition zu sein, ist tatsächlich so stark ausgeprägt, dass in einer über das Leben Muhammeds erzählten Geschichte, von der Karl-Josef Kuschel berichtet, von einem Traum des Propheten erzählt wird, in dem dieser die Himmelsleiter hinaufsteigt.711 Dort trifft er eine Vielzahl biblischer Gestalten und Heiliger in den verschiedenen Himmelsetagen. Er begegnet Jesus, trifft Johannes den Täufer, Moses und schließlich auch Abraham. In Letzterem aber erkennt sich Muhammed sofort wieder. Muhammed erzählt: Der Engel Gabriel „brachte mich in den siebten Himmel; dort sah ich einen Mann in reifem Alter auf einem Stuhl am Tor zum Paradies sitzen, […] nie habe ich einen Mann gesehen, der mir ähnlicher war. Und Gabriel sprach: Dies ist dein Stammvater Abraham.“712 Entsprechend wird im Koran der erste Schritt in die Richtung der Auflösung der mythischen Verbindung des Heiligen und der Gewalt unternommen. Da die archaische Tradition das Menschenopfer verlangte, musste Abraham seinen Sohn Isaak als Brandopfer darbringen. Dabei nahm die Kritik am Opferkultus ihren ersten Anlauf im Alten Testament mit der Rettung Isaaks durch einen Engel Jahwes. Die archaische Religion wurde durch eine Religion, die grundsätzlich opferkritisch ist und die Gewalt delegitimiert, abgelöst: „Streck deine Hand nicht gegen den Knaben aus und tu ihm nichts zuleide“713, heißt es in der Genesis. Der Koran erzählt die Geschichte im Einklang mit dem biblischen Bericht. Abraham spricht im Koran zu seinem Sohn: „‚O mein Sohn! Siehe, ich sah im Traum, dass ich dich opfern müsste. Schau, was meinst du dazu?‘ Er sprach: ‚O mein Vater! Tu, was dir befohlen wird. Du wirst mich, so Allah will, standhaft finden.‘“714 Wie in der Genesis wird aber das Opfer des Sohns, der Koran lässt hierbei offen, ob es sich um Isaak oder Abrahams anderen Sohn Ismael handelt, durch ein Ersatzopfer verhindert:
710 711 712 713 714
Sure 2,136 Vgl. Kuschel: Streit um Abraham, a. a. O., S. 209. Zitiert nach ebd., S. 209. Gen 22,11. Sure 37,102.
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„Sobald beide sich (Allah) ergeben hatten und er ihn mit dem Gesicht nach unten auf den Boden gelegt hatte, Riefen Wir ihm zu: ‚O Abraham! Du hast das Traumgesicht bereits erfüllt!‘ Wahrlich, so belohnen Wir die Rechtschaffenen. Fürwahr, dies war eine offensichtliche Prüfung! So lösten wir ihn durch ein großes Schlachtopfer aus. Und bewahrten sein Ansehen unter den nachfolgenden (Generationen). Friede sei mit Abraham! So belohnen wir die Rechtschaffenen.“715
Von diesem Punkt aus wird verständlich, warum bei der traditionellen muslimischen Pilgerfahrt nach Mekka, die zu den tragenden fünf Säulen des Islam716 gehört, die Abraham-Erinnerung im Zentrum steht. Karl-Josef Kuschel hält fest: „Abrahams Opfer (entsprechend Sure 37,107-109) ist das Urbild des rituellen Opfers, das […] den Höhepunkt jeder großen Wallfahrt nach Mekka bildet.“717 Wenngleich Kuschel den rituellen Aspekt des islamischen Opferfests zu Recht betont, so ist dennoch zu ergänzen, dass das (ursprünglichere) Menschenopfer ja auch im Koran durch das Tieropfer substituiert wird. Gleichwohl ist die Opfertötung des Tieres immer noch ein Akt, in dem die Gewalt als heilig wahrgenommen wird: „Der Geheiligte ist es, der tötet, der Akt des Tötens ist sakralisiert. ‚Im Namen Allahs‘, ‚Allah ist gnädig‘, das sind Formeln, die jedes Schlachten des Muhammedaners begleiten.“718 Die mythische Opferdenkform wird mit Abraham noch nicht vollständig aufgebrochen, denn das opferrituelle System und seine erinnernde Reaktualisierung heiliger Gewalt wird nicht in grundsätzlicher Weise in Frage gestellt.719 Dennoch ist, wie in den biblischen Schriften, ein zivilisatorisch bedeutender Schritt getan, nämlich die symbolische Substitution des Menschenopfers durch das Tieropfer.720 Abraham ist der mythischen Opfergewalt auch in der Welt des Koran entkommen. In diesem seinem Glauben machte er den ersten Schritt, um
715 716
717
718 719
720
Sure 37,103-110. Die fünf Säulen des Islam bestehen neben der Almosensteuer (zakat) aus dem Glaubensbekenntnis (shahada), dem Gebet (salat), dem Fasten (saum) und der Pilgerfahrt nach Mekka (hadsch). Karl-Josef Kuschel: Juden, Christen, Muslime. Herkunft und Zukunft, Düsseldorf 2007, S. 576. Burkert: Homo Necans, a. a. O., S. 19. Dass Allah aber nicht auf die Opfergabe selbst angewiesen ist, sondern auf die Gottesergebenheit, schildert die Koransure 22,37: „Weder ihr Fleisch noch ihr Blut erreicht Allah, jedoch erreicht ihn eure Frömmigkeit.“ Vgl. Körtner: Religion und Gewalt, a. a. O., S. 106.
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den Menschen aus Gewalt und Opfer herauszuführen.721 Dennoch, hierauf weist Muhammed Arkoun hin, ist die Verbindung des Heiligen und der Gewalt im Islam noch eng geknüpft: „Der Koran liefert sehr explizite Grundlagen für das Studium zwischen Gewalt, Heiligem und Wahrheit. Die gegenwärtige islamische Debatte rechtfertigt den Rückgriff auf die Gewalt durch Berufung auf einen ritualistischen Islam, der eher zum Aufstand der Massen passt als zur Ausarbeitung einer Theologie, die sich der neuen Herausforderung des wissenschaftlichen Denkens mehr öffnet.“722
Daher ist Arkoun zufolge eine wissenschaftliche Kritik der theologischen Vernunft, der juristischen Vernunft, der politischen Vernunft, der exegetischen Vernunft und der historischen Vernunft, die vor der prophetischen Tradition (sunna), die in den hadithe überliefert ist, sowie den Grundlagen des islamischen Rechts, der schari‘a, nicht halt machen dürfe, notwendig.723 So ist es eine bleibende Aufgabe der islamischen Gelehrten (ulema), die mehr oder weniger untergründig fortbestehenden Verbindungen des Heiligen, der Gewalt und dem Opfer zu thematisieren, offenzulegen und zu neutralisieren.724 Dass aber eine Kritik am islamischen Opferritualismus und der Verbindung des Heiligen und der Gewalt im Koran selbst angelegt ist, wird das folgende Kapitel in ersten Grundzügen nachzuweisen suchen.
1.4.2 Kontinuität und Diskontinuität der (jüdisch-christlichen) Opferkritik im Koran Wenn in diesem Kapitel nach Kontinuität und Diskontinuität der biblischen Opferkritik, die ihren Höhepunkt im Gottesknecht bei Deuterojesaja und in der Passion Jesu als definitive Subversionen des Mythos fand, gefragt wird, so soll nach weiteren möglichen Verbindungslinien zwischen Judentum, Christentum und Islam über das abrahamitische Moment hinaus gefragt werden. Die Frage nach 721 722 723 724
Vgl. Baudler: Abschied von einem Gott der Gewalt, a. a. O., S. 140. Muhammed Arkoun: Der Islam. Annäherung an eine Religion, Heidelberg 1999, S. 14. Vgl. ebd. Vgl. ebd.
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Kontinuität beziehungsweise Diskontinuität der Opferkritik, wie sie mit den biblischen Schriften einsetzte, soll aber nicht zu einer undifferenzierten Gleichmacherei der drei Weltreligionen führen. Gesucht wird weder nach Gemeinsamkeiten auf Kosten aller Unterschiede noch nach Dissens auf Kosten eines möglichen Konsens. Ebenfalls geht es nicht um den Versuch, den Islam aus dem Geiste des Christentums zu verstehen, um darüber die „Originalität des arabischen Propheten“725 zu vergessen. Die Legitimation dieses Vorgehens beruft sich allein auf die Tatsache, dass „Muslime mit Juden und Christen ein reiches prophetisches Erbe teilen“726. Lassen sich nun über die analysierte Abrahamsgestalt hinaus weitere Strukturanalogien zwischen den Buchreligionen herstellen, wenn man die mythische Struktur im oben beschriebenen Sinn als hermeneutischen Schlüssel nutzt? Ebenso wie die Genesis kennt der Koran das Verhängnis des Ursprungsmordes bei Kain und Abel. Abel wird durch seinen Bruder erschlagen, weil, so erzählt es die Sure 5 analog zur Bibel, das Opfer Abels nicht akzeptiert wird: „Angenommen wurde es von dem einen von ihnen, aber nicht von dem anderen. Er sprach: Wahrlich, ich schlage dich tot!“727 Überaus bezeichnend ist hier die Haltung Abels, der der Ankündigung seines Mordes im Koran mit Gelassenheit begegnet: „Wahrlich, erhebst du auch deine Hand gegen mich, um mich totzuschlagen, so erhebe ich doch meine Hand nicht gegen dich, um dich zu erschlagen, und so erschlug er ihn und wurde einer der Verlorenen.“728 Auch der Koran zeigt, dass derjenige zum Brudermörder wurde, dessen Opfer seine Funktion nicht hinreichend erfüllt. Auch hier scheint sich, analog zur Genesis, zu bestätigen, dass die Gewalt dort aufbricht, wo die Opfer nicht mehr funktionieren. Gerade aufgrund einer Einsicht in die Natur der Gewalt werden die Opfer zunehmend als unfähig erkannt, dieses auch aus der Gemeinschaft wegschaffen zu können. Kain hat eben deshalb Blut vergossen, weil sein Opfer nicht angenehm war, also nicht mehr funktioniert hat.729 725
726 727 728 729
Johann Fück: Die Originalität des arabischen Propheten, in: Rudi Paret (Hrsg.): Der Koran. Wege der Forschung, Darmstadt 1975, S. 167-182, S. 167. Kuschel: Juden, Christen, Muslime, a. a. O., S. 95. Sure 5,27. Sure 5,28. So Raymund Schwager mit Blick auf Kain und Abel in der Genesis. Siehe Schwager: Brauchen wir einen Sündenbock?, a. a. O., S. 98.
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Allerdings wird der koranische Abel nicht wie im Alten Testament das stumme Opfer seines Bruders. Es wird ihm eine Stimme verliehen, die er dazu nutzt, eine Haltung der Gewaltlosigkeit einzunehmen. Der „koranische ‚Abel‘ [erscheint] als Muster von Gottesfurcht und Demut. Lieber lässt er sich töten, als dass er selbst tötete.“730 Eindeutig bewegt sich der Koran in dieser Episode auf der Seite des Opfers. Es folgen eine Vielzahl weiterer Figuren aus dem biblischen Kontext. So wird etwa der Figur Josefs, deren antimythische Wirkungen bereits im Vergleich mit Ödipus analysiert wurde, im Koran ebenfalls eine große Bedeutung beigemessen. Die Sure 12 ist ganz der Geschichte von Josef (Yusuf) und seinen Brüdern gewidmet und entspricht dem Inhalt nach dem antisakrifiziellen Strukturmuster. Auch hier endet die Geschichte mit der verzeihenden Großmut des von seinen Brüdern ausgestoßenen Josefs, der, wie in dem biblischen Bericht, aufgrund seiner Traumdeutungskunst und der Lösung des Rätsels der sieben mageren Kühe am Hof des Pharaos Karriere machen konnte. Josef, einstiges Opfer und nun im sakralen Machtkreis der ägyptischen Gesellschaft angelangt, verzichtet auf seine Rache und spricht zu seinen vom Koran als schuldig dargestellten Brüdern: „Kein Vorwurf treffe euch heute! Allah möge euch verzeihen. Er ist ja der barmherzigste der Erbarmer.“731 Auch Jona findet sich im Koran. Jona, den der Koran als „Mann des Fisches“732 vorstellt, wird im Koran kraft der Gnade Gottes rechtgeleitet: „Darum warte auf den Spruch deines Herrn und sei nicht wie der mit dem Fisch als er in Ängsten rief. Hätte ihn nicht seines Herrn Gnade erreicht, wäre er an den nackten Strand geworfen worden, mit Schimpf bedeckt. Doch sein Herr erwählte ihn und machte ihn zu einem der Rechtschaffenen.“733 Ebenso wie Josef und Jona befindet sich die Episode Hiobs ganz auf einer opferkritischen Linie. Hiob ist ein denkwürdiger Diener Allahs. „Gedenke auch Unseres Dieners Hiob, als er zu seinem Herrn rief: ‚Fürwahr, Satan hat mich mit Unglück und Leid geschlagen!‘“734 Die kollektive Gewalt tritt in Form des personifizierten Bösen auf und Hiob widersteht der Versuchung seines Schuld730 731 732 733 734
Kuschel: Juden, Christen, Muslime, a. a. O., S. 159. Sure 12,92. Sure 21,87. Sure 68,49-50. Sure 38,41.
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eingeständnisses. Hiob vertraut auf die Macht seines barmherzigen Gottes und so wird er errettet: „Und (gedenke des) Hiob, als er seinen Herrn rief: ‚Fürwahr, mich hat Unheil getroffen! Dennoch bist Du der barmherzigste der Barmherzigen.‘ Da erhörten Wir ihn und befreiten ihn von seiner Plage und gaben ihm seine Familie (wieder) und ebenso viele dazu, als eine Barmherzigkeit von Uns und eine Ermahnung für unsere Diener.“735 An dieser Stelle ist auf den Gedanken zurückzukommen, dass der Koran eine Bestätigung, aber auch entschiedene Korrektur der vorangegangenen jüdischchristlichen Offenbarung anstrebt. Auch Jesus (Isa), in dessen Person die Kritik des mythischen Opfers ihren Höhepunkt fand, taucht im Koran in immerhin in 15 von insgesamt 114 Suren auf. Sure 5 erscheint in diesem Zusammenhang besonders aufschlussreich: „Siehe, Wir haben die Thora herabgesandt, in der sich eine Rechtleitung und ein Licht befinden, mit der die gottergebenen Propheten die Juden richteten; so auch die Rabbiner und (Schrift-)Gelehrten nach dem, was vom Buche Allahs ihrer Hut anvertraut war und was sie bezeugten.“736 Freilich erhält Jesus im Koran ganz andere theologische Akzente als im Neuen Testament, denn er steht in der religiösen Ordnung erst an zweiter Stelle hinter dem Propheten Muhammed. Zugleich ist Jesus im vollen Sinne des Wortes ganz Mensch und wird nicht durch seine Anteilhabe am Göttlichen geadelt, wie es für das Christentum im Rahmen der Trinitätslehre von absolut zentraler Bedeutung ist.737 Dennoch billigt der Koran Jesus eine exponierte Stellung in seinem Heilsplan zu und dies drückt sich bereits in seiner Geburtsgeschichte aus. Auch hier wird Maria von Gottes Geist die jungfräuliche Empfängnis des Jesuskindes als „Zeichen für die Menschen“738 verkündet. Wie das Neue Testament, so sieht auch der Koran in der Geistschöpfung, die die Geburt Jesu ermöglicht, eine menschliche Möglichkeiten überbietende Wundertat Gottes zugunsten der ganzen Menschheit.739 Dennoch bleibt Jesus im Koran ganz Mensch, die Übernatürlichkeit seiner Geburt dient als Machterweis des islamischen Gottes, der auch das unmöglich 735 736 737 738 739
Sure 21,83-84. Sure 5,44. Vgl. Reinhard Leuze: Christentum und Islam, Tübingen 1994, S. 115ff. Sure 19,21. Vgl. Kuschel: Juden, Christen, Muslime, a. a. O., S. 492.
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Scheinende leicht bewirkt. Jesus wird als rechtschaffener Diener Gottes vorgestellt: „Seht, ich bin Allahs Diener. Er hat mir das Buch gegeben und mich zum Propheten gemacht.“740 Die Rede ist hier vom Evangelium als Schrift Gottes. Auch die besondere friedensstiftende Wirkung Jesu wird erwähnt, denn der Koran betont, dass Allah Jesus weder „gewalttätig noch unheilvoll“741 erschaffen hat. Zugleich wird eine Front gegen das für Muslime unerträgliche christliche Dogma eröffnet, das behauptet, dass sich in Jesus der transzendente Gott selbst inkarniert habe. Der Vorwurf gegen die Christen lautet: „Und sie sagen: ‚Der Erbarmer hat sich einen Sohn zugelegt.‘ Wahrlich, ihr behauptet da etwas Ungeheuerliches! Fast möchten die Himmel darüber zerreißen und die Erde sich spalten und die Berge in Trümmer fallen.“742 Die Botschaft des Evangeliums wird also in dem Punkt in Frage gestellt, an dem die Gottessohnschaft Jesu behauptet wird. „O ihr Leute der Schrift! Übertreibt nicht in eurer Religion und sprecht über Allah nur die Wahrheit. Der Messias Jesus, der Sohn der Maria, war ein Gesandter Allahs und Sein Wort, das Er Maria entbot, mit einer Seele geschaffen von Ihm. So glaubt an Allah und Seinen Gesandten und sprecht nicht: ‚Drei‘. Lasst davon ab, das ist für euch besser.“743 In diesem Zusammenhang ist die Sure 4 beachtenswert. Es handelt sich um die Aussage des Koran, die das Opfer Jesu, also seine Kreuzigung, zurückweist: „Und weil sie sprachen: ‚Siehe, wir haben den Messias Jesus, den Sohn der Maria, den Gesandten Allahs getötet‘ – doch sie töteten ihn nicht und kreuzigten ihn nicht (zu Tode), sondern es erschien ihnen nur so – (darum straften Wir sie). Und siehe, diejenigen, die darüber uneins sind, sind wahrlich im Zweifel über ihn. Sie wissen nichts davon, sondern folgen nur Vermutungen. Und sie töten ihn mit Gewissheit nicht. Ganz im Gegenteil: Allah erhöhte ihn zu sich; und Allah ist mächtig und weise.“744
Damit wird die christliche Behauptung zurückgewiesen, dass ein Gesandter Allahs von Menschenhand getötet werden könnte.745 Dies bedeutet, dass der Prozess einer kollektiven Verfolgung, in deren Abschluss das Opfer als angeblicher 740 741 742 743 744 745
Sure 19,30. Sure 19,32. Sure 19,88-89. Sure 4,171. Sure 4,157-158. Vgl. Kuschel: Juden, Christen, Muslime, a. a. O., S. 508.
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Urheber einer gesellschaftlichen Krise getötet und im Anschluss an diese Tötung sakralisiert wird, nicht zu seinem antisakrifiziellen Abschluss kommt, denn Jesus wird erhoben, bevor er das Opfer der kollektiven Gewalt wird. Allah ist ein Gott, der das Menschenopfer nicht verlangt, sondern es durch seine Macht verhindert. Die Intervention des Heiligen beendet auch hier eine kollektive Verfolgung – und zwar zugunsten des Opfers. Insofern besteht eine Kontinuität und zugleich eine Diskontinuität zur biblischen Opferkritik. Zwar betont der Koran, dass diejenigen, die Jesus und dem Evangelium folgen, gesegnet sind: „Und in die Herzen derer, die ihm folgten, legten wir Güte und Barmherzigkeit.“746 Allerdings erreicht der Koran nicht in vergleichbarem Grad die Aufhebung der persekutorischen Nichtbewusstheit, wie dies für die Gewaltkritik der Evangelien, deren strukturelle Nähe zum Mythos die Differenz zum Mythos hervortreten ließ, entscheidend ist. Das Problem verschärft sich, wenn man das so genannte Substitutionsmodell oder Ersetzungs-Modell, welches von einer Vielzahl von Koranexegeten genutzt wird, in die Betrachtung einbezieht. Das Substitutionsmodell stellt den Versuch dar, eine interpretatorische Unklarheit der bereits zitierten Sure 4 auszuräumen – gemeint ist die Aussage: „[D]och sie töteten ihn nicht und kreuzigten ihn nicht (zu Tode), sondern es erschien ihnen nur so“747. Was aber bedeutet der Halbsatz, dass Jesus nur zum Schein gekreuzigt wurde? Das Substitutionsmodell nimmt nun an, dass anstelle von Jesus ein anderer Mensch gekreuzigt wurde, sodass es den Menschen nur so vorkam, als würden sie Jesus kreuzigen.748 Diese Auffassung trägt aber alle Züge des archaischen Mythos. Das Opfer Jesu wird zwar nicht gefordert – aber im Hintergrund, kaum sichtbar, ist das Ersatzopfer, dessen Unschuld unentdeckt bleibt, doch noch notwendig. Das Substitutionsmodell in Anwendung auf den Koran stellt einen Rückfall hinter die Gewalt- und Opferkritik der Evangelien dar. Die Ablehnung des freiwillig erduldeten Kreuzopfers Jesu bedeutet zugleich, dass der Koran die ethische Radikalisierung des Gebotes der Nächstenliebe durch das der bedingungslosen Feindesliebe nicht kennt.749 Die Extremfor746 747 748 749
Sure 57,27. Sure 4,157. Vgl. Kuschel: Juden, Christen, Muslime, a. a. O., S. 509. Vgl. Kuschel: Juden, Christen, Muslime, a. a. O., S. 426.
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derung der Evangelien, dem Bösen nicht mit Gewalt zu widerstehen, die Bereitschaft, für das religiöse Heil lieber Gewalt zu erleiden, als Gewalt auszuüben, bleibt dem Koran fremd. Der Koran zieht es in realistischer Weise vor, die Gemeinschaft der Muslime vor Gefahren von außen zu schützen und hat dazu verschiedene Maßnahmen ergriffen. Der Muslim muss dem Feind nicht auch noch die andere Wange entbieten, sondern die Rache wird als legitimes Instrument im Koran ausdrücklich anerkannt: „Und in der Wiedervergeltung liegt Leben für euch, ihr Leute von Verstand. Vielleicht werdet ihr gottesfürchtig.“750 Diese archaische Vergeltungsmentalität des ‚Auge um Auge‘ unterliegt zwar spezifischen Einschränkungen, die Ausübung des Racherechts darf nicht maßlos sein, auch wird der friedfertige Ausgleich des Schadens angemahnt.751 Dennoch lässt sich die apologetische Behauptung, der Islam sei ausschließlich eine friedliche Religion, nicht aufrechterhalten. So darf auch der Begriff des Heiligen Krieges (dschihad) nicht allein im Sinne einer Glaubensanstrengung des Herzens verharmlost werden. Dass man dschihad auch als Kampf gegen die inneren Leidenschaften deuten kann, soll nicht bestritten werden.752 Zugleich ist aber nicht zu übersehen, dass dem Dschihadbegriff zweifellos eine militärische Dimension zur Ausbreitung des Glaubens inhärent ist. So heißt es in Sure 9,5: „Sind die geschützten Monate aber verflossen, dann tötet die Götzendiener, wo immer ihr sie findet, und ergreift sie und belagert sie und lauert ihnen aus jedem Hinterhalt auf.“753 Die Logik des dschihad teilt die Welt in zwei einander feindlich gegenüberstehende Gebiete: Die Sphäre des Islam (dar al-islam) und die Sphäre des Krieges (dar al-harb).754 Feinde treten entweder zum Islam über wie die Polytheisten oder unterwerfen sich wie Christen und Juden. Die Feindschaft zwischen Glauben und Unglauben, zwischen Freund und Feind, ist somit ein schwer zu leugnender Glaubensbestandteil des Islam, der in der Ideologie des totalitären Dschi750 751
752 753 754
Sure 2,179. Sure 5,45: „Und Wir hatten ihnen darin vorgeschrieben: Zahn und Wiedervergeltung auch für Wunden. Wer dies aber mildtätig vergibt, dem soll das eine Sühne sein.“ Vgl. Malise Ruthven: Der Islam. Eine kurze Einführung, Stuttgart 2000, S. 158f. Sure 9,5. Vgl. Hermann Brandt: Neigt der Islam zur Gewalt?, in: Reinhard Hempelmann und Johannes Kandel (Hrsg.): Religionen und Gewalt. Konflikt- und Friedenspotenziale in den Weltreligionen, Göttingen 2006, S. 249-257, S. 253f.
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hadismus der Gegenwart seine ideologische Zuspitzung und Radikalisierung erfährt.755 Das Freund-Feindbild im Islam hat aber keineswegs immer und automatisch die Ausübung von Gewalt nach sich gezogen, denn die Geschichte des Islam kannte immer auch Zeiten vielgepriesener Toleranz,756 die aus der Sure 2: „Kein Zwang im Glauben!“757 ihre Kraft bezog. Von diesem Ethos her war und ist es fortgeschrittenen muslimischen Theologen immer wieder möglich, dem Islam eine Haltung der Gewaltlosigkeit einzugeben, indem die Ausübung der Gewalt strikt an den Selbstverteidigungsfall gebunden wird.758 Der Krieg gegen die Ungläubigen ist jedenfalls niemals gewünscht und so heißt es im Koran: „So sei mit ihnen nachsichtig und sprich: ‚Frieden!‘ Bald werden sie es ja wissen.“759
755
756 757 758
759
Vgl. Tilman Mayer: Der arabische totalitäre Islamismus, in: Volker Foertsch und Klaus Lange (Hrsg.): Islamistischer Terrorismus. Bestandsaufnahme und Bekämpfungsmöglichkeiten, München 2005, S. 10-13; Thomas Vollmer: Der militante Islamismus als neuer Totalitarismus. Dschihadistischer Terrorismus und westliche Sicherheitsarchitektur, Saarbrücken 2007. Vgl. Krämer: Geschichte des Islam, a. a. O., S. 60. Sure 2,256. Vgl. Bernhard Ude: Es gibt keinen Zwang in der Religion (Koran 2, 256). Zum Problem von Gewaltpotenzial und Gewalt in den monotheistischen Weltreligionen, in: Markus Enders (Hrsg.): Jahrbuch für Religionsphilosophie, Band 2, Frankfurt am Main 2003, S. 69-90, S. 86. Sure 43,89.
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1.4.3 Von der Ambivalenz des islamischen Gottesbildes zu Tarif Khalidis »muslimischem Evangelium« „Gottes ist der Orient! Gottes ist der Occident! Nord- und südliches Gelände Ruht im Frieden seiner Hände! Er, der einzige Gerechte, will für jedermann das Rechte. Sey von seinen hundert Namen dieser hochgelobet! Amen.“760 (Johann Wolfgang Goethe)
Die Frage, ob der islamische Monotheismus zur Gewalt oder Gewaltfreiheit tendiert, hängt unmittelbar von den Eigenschaften der islamischen Gottesbildkonstruktion ab. Die erste grundlegende Säule des Islam ist das Bekenntnis zu Allah als dem alleinigen und barmherzigen Gott. Mit Ausnahme der Sure 9 (‚Die Buße‘) beginnen alle anderen der insgesamt 114 Suren des Koran mit den Worten: „Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen!“761 Da der Gnade Allahs als Allerbarmer im Koran eine übergeordnete Bedeutung beigemessen wird, ist es eine Forderung des islamischen Gottes, sich auch gegenüber den Menschen barmherzig zu zeigen und gegebenenfalls Schutz und Asyl zu gewähren. Dies gilt auch dann, wenn es sich um Nicht-Muslime handelt: „Und wenn einer der Götzendiener bei dir Zuflucht sucht, dann gewähre ihm Zuflucht, damit er Allahs Wort vernimmt. Dann lass ihn den Ort erreichen, an dem er sich sicher fühlt. Dies, weil sie ein unwissendes Volk sind.“762 Dennoch sind die sakrifiziellen Mechanismen von Inklusion versus Exklusion im Islam stark ausgeprägt: „Für die Ungläubigen ist wahrlich die Feuerspein bestimmt.“763 Die Zweiteilung der Menschen in Gläubige und Ungläubige ist gleichbedeutend mit der islamischen Auffassung von Feind und Freund sowie von Gut und Böse. „Und die Ungläubigen werden in der Hölle versammelt werden. Damit Allah die Schlechten von den Guten scheide, die Schlechten zusam760
761 762 763
Johann Wolfgang Goethe: West-oestlicher Divan, hrsg. von Joseph Kiermeier-Debre, Sonderausgabe, München 2007, S. 14. Sure 1,1. Sure 9,6. Sure 8,14.
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menschichte, alle miteinander verbinde und sie in die Hölle werfe. Dies sind die Verlorenen.“764 Dem Höllenfeuer entkommt der Heide in keinem Fall. Sollte es ihm auf Erden auch wohl ergehen, so ist sein jenseitiger Untergang doch sicher. Die Hölle wartet auf ihn und der Teufel ist geduldig: „‚Und auch wer nicht glaubt, den will Ich für einige Zeit versorgen; dann will Ich ihn in die Pein des Feuers stoßen, und schlimm ist die Fahrt (dorthin)‘.“765 Ob auch Juden und Christen als Gläubige des Buches und somit als Schutzbefohlene des Islam (dhimmi) das Schicksal der Hölle mit Notwendigkeit erleiden müssen, lässt der Koran allerdings offen.766 Trotzdem enthält die Dichotomie von Gläubigen und Ungläubigen ein nicht zu unterschätzendes Gewaltpotenzial, aus dem auch der militante Islamismus beziehungsweise der totalitäre Dschihadismus seine destruktive Vitalität zieht.767 Wenn im Rahmen des militärisch verstandenen dschihad unschuldige Zivilisten zu Schaden kommen, so ist der Attentäter von der Vision beseelt, dass er lediglich Ungläubige und Schuldige opfert, deren Schicksal im Jenseits ohnehin das der Hölle sein wird.768 Der Prozess wird gewissermaßen nur beschleunigt. So wie Allah die Höllenstrafe im Jenseits über die Ungläubigen verhängt, so soll auch der Gläubige im Diesseits die kommende Strafe verkünden. „O du Prophet! Kämpfe gegen die Ungläubigen und die Scheinheiligen und verfahre mit ihnen hart. Die Hölle ist ihre Herberge und schlimm ist die Fahrt (dorthin).“769 Ob das islamische Gottesbild im Koran zu einer ausschließlichen Gewaltfreiheit aufruft, muss also bezweifelt werden.770 Allah ist ein Gott, dessen Macht unbegrenzt ist. Das Heilige ist nicht frei von Willkür und Zufall, denn „Allah lässt irregehen, wen Er will, und leitet 764 765 766 767
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Sure 8,36-37. Sure 2,26. Zur Toleranzfrage vgl. Arkoun: Der Islam, a. a. O., S. 101f. Vgl. Tilman Mayer: Zeichen des Krieges – Krieg der Zeichen. Die islamistische Provokation, in: Michael Meyer-Blanck und Görge K. Hasselhoff (Hrsg.): Krieg der Zeichen? Zur Interaktion von Religion, Politik und Kultur. Studien des Bonner Zentrums für Religion und Gesellschaft, Band 1 (Sonderdruck), Würzburg 2006, S. 181-188. Vgl. exemplarisch die ideologiegetränkten ‚Predigten’ al-Qaidas: Gilles Kepel und Jean-Pierre Milelli (Hrsg.): Al-Qaida. Texte des Terrors, München/Zürich 2005. Sure 9,73. Vgl. Gudrun Krämer: Gewaltpotenziale im Islam, in: Reinhard Hempelmann und Johannes Kandel (Hrsg.): Religionen und Gewalt. Konflikt- und Friedenspotenziale in den Weltreligionen, Göttingen 2006, S. 239-247, S. 246.
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recht, wen Er will. Und Er ist der Mächtige und Weise.“771 An anderer Stelle heißt es: „Doch Allah lässt die Ungerechten irregehen. Und Allah tut, was Er will.“772 Diese Form der Allmacht ist unbegrenzte Eigenmächtigkeit und hat im islamischen Denken oft die Frage des freien Willens beziehungsweise das Problem der Prädestination des menschlichen Schicksals überhaupt aufkommen lassen.773 Ob der Wille frei ist oder nicht – in jedem Fall muss das, was der islamische Gott fordert, getan werden und es kann an keinem unabhängigen ethischen Maßstab gemessen oder korrigiert werden. Wenn von den Gläubigen die kriegerische Erweiterung der islamischen Gebiete (dar al-islam) gefordert wird, dann ist diesem Gebot Folge zu leisten.774 In derartigen Aufrufen offenbart sich ein mythisches Element, denn es geht um die kollektive Verfolgung von Ungläubigen und Sündenböcken, die für soziale Verwerfungen in der Gemeinschaft der Muslime verantwortlich gemacht werden. Selbst die gewalttätigsten Maßnahmen gegen diese Verführer sind legitim: „Und kämpfe wider sie, bis es keine Unterdrückung mehr gibt und nur noch Allah verehrt wird.“775 An anderer Stelle heißt es: „Verführung ist schlimmer als töten. Und sie werden nicht eher aufhören, euch zu bekämpfen, als bis sie euch von Eurem Glauben abtrünnig gemacht haben, sofern sie dies vermögen.“776 Mitunter geht von Allah höchstpersönlich, der in diesen Textpassagen der Dämonie Jahwes näher als dem johanneischen Gott der Liebe steht, die heilige Gewalt aus. Nach der Schlacht spricht Allah: „Nicht ihr erschlugt sie, sondern Allah erschlug sie.“777 Allerdings kennt der Islam ebenfalls ein tolerantes Gottesverständnis, das die Pflicht zum Kampf aufheben kann: „Sprich: ‚O ihr Ungläubigen! Ich verehre nicht, was ihr verehrt. Und Ihr verehrt nicht, was ich verehre. Und ich werde kein Verehrer dessen sein, was ihr verehrt. Und Ihr werdet kein Verehrer dessen sein,
771 772 773
774
775 776 777
Sure 14,4. Sure 14,27. Vgl. Rudi Paret: Der Koran und die Prädestination, in: Ders. (Hrsg.): Der Koran. Wege der Forschung, Darmstadt 1975, S. 159-166, S. 163. Vgl. Adel Theodor Khoury: Krieg und Gewalt im Islam, in: Ders. (Hrsg.): Krieg und Gewalt in den Weltreligionen. Fakten und Hintergründe, Freiburg im Breisgau 2003, S. 45-66, S. 48. Sure 8,39. Sure 2,217. Sure 8,17.
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was ich verehre. Euch euer Glaube und mir mein Glaube!‘“778 Die Mehrdeutigkeit Allahs kann daher gleichermaßen zu Gewalt und Gewaltlosigkeit führen. Der Islam löst als Religion Abrahams die Verbindung des Heiligen mit der Gewalt zwar im Ansatz auf, dennoch verbleiben im islamischen Gottesbegriff deutlich vernehmbare Anklänge an die archaische Religiosität und den Glauben an die Legitimität von heiliger Gewaltausübung. Allahs willkürlich ausgeübte Allmacht, die jäh hervorbrechenden Androhungen der Höllenstrafe und der Aufruf zum dschihad, der keineswegs ausschließlich, aber doch auch im Sinne des real geführten Krieges zu verstehen ist, stellen nach wie vor eine ernste ethische Anfrage an die ulema dar.779 Sicher ist der Islam aber keine archaische Opferreligion und Allah ist keine mit den mythischen Sakralgöttern der Gewalt vergleichbare Gestalt. Allerdings bleibt das Opfer, wenngleich als Tieropfer sublimiert, im Zentrum des Glaubens – als Opferfest – bestehen. Die Gründungsgewalt wird keiner Kritik unterzogen und der Opferkult wird als ein islamisches Geschenk an die Welt gedeutet: „Allen Völkern gaben Wir Opferriten, damit sie Allahs Namen über dem Vieh aussprechen.“780 Dennoch ist der Islam die Religion Abrahams, dessen Person als Symbol für den ersten Auszug aus der mythischen Gewaltwelt steht.781 Damit kann der Islam, so die These Georg Baudlers, einen im Ansatz opferkritischen Ausgangspunkt für sich reklamieren.782 Gerade aber in dieser Funktion kann die islamische Gemeinschaft sich auch der Opfer- und Gewaltkritik der jüdischchristlichen Tradition wieder öffnen.783 Notwendig erscheint dies vor allem, da sich die gewalt- und opferkritischen Impulse „nicht wie in der alttestamentlichprophetischen Opferkritik zu einer bewusst eingenommenen, grundsätzlich neuen Haltung entfalten und schließlich das Opferdenken gänzlich überwinden.“784 Eine mögliche Option, den Weg der Gewalt- und Opferkritik über das abrahamitische Moment hinaus zu entwickeln, demonstrieren die Studien Tarif Khalidis. Khalidi, der seine Anregungen aus einer Vielzahl auch außerkanonischer 778 779 780 781 782 783 784
Sure 109,1-6. Vgl. Khoury: Krieg und Gewalt im Islam, a. a. O., S. 54. Sure 22,34. Vgl. Baudler: Abschied von einem Gott der Gewalt, a. a. O., S. 312. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Ebd., S. 309.
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und disparater Quellen der islamischen Welt schöpft, sieht die Möglichkeit eines „muslimischen Evangeliums“785. Im Rahmen dieses Ansatzes werden die liebesuniversalistische Ethik der Feindesliebe und das Gebot, dem Bösen nicht mit Gewalt zu widerstehen, im islamischen Kontext neu entfaltet. So zitiert Khalidi einen Ausspruch von Ahmad ibn Hanbal, der die Evangelienverse Mt 5,43-48 und Lk 6,32-35 für den Islam neu aufgegriffen und gestaltet hat: „Jesus pflegte zu sagen: ‚Nächstenliebe meint nicht, dem etwas Gutes zu tun, der dir Gutes tut, denn dies heißt Gutes mit Gutem zu erwidern. Nächstenliebe bedeutet, dass du dem Gutes tun sollst, der dir schadet.‘“786 Dem obigen Zitat lässt sich eine weitere Passage zur Seite stellen, die eine Umarbeitung von Mt 5,39 beinhaltet und in der Jesus die andere Wange zum Schlag anbietet: „Jesus war gerade dabei, mit einem seiner Jünger über den Afiqpass zu gehen. Ein Mann kreuzte ihren Weg und hinderte sie daran weiterzugehen, indem er sagte: ‚Ich werde euch nicht weitergehen lassen, bevor ich nicht jedem von euch einen Hieb versetzt habe.‘ Sie versuchten ihn davon abzubringen, aber er weigerte sich. Jesus sagte: 'Hier ist meine Wange. Schlag auf sie.‘ Der Mann schlug auf sie und ließ ihn weitergehen. Dann sagte er zu dem Jünger: ‚Ich werde dich nicht weitergehen lassen, bevor ich dich nicht geschlagen habe.‘ Der Jünger aber weigerte sich. Als Jesus das sah, bot er dem Mann seine andere Wange an. Dieser schlug auf sie und gestattete beiden weiterzugehen. Dann sagte Jesus: ‚Oh Gott, wenn es dir gefällt, genügt mir dein Gefallen.‘“787
Auch die Frage der antisakrifizellen Wirkung des Opfertodes Jesu sowie die mit ihm einhergehende Subversion des Mythos als Aufhebung der persekutorischen Nichtbewusstheit des Verfolgerkollektivs können von diesem Punkt aus neu durchdacht werden. So gibt es eine Erzählung, in der Jesus einem Mann Namens al-‘Uris in einem Traum bestätigt, dass er tatsächlich gekreuzigt worden ist: „Al‘Uris sah im Schlaf Jesus Christus, Sohn der Maria, der vom Himmel aus sein Gesicht ihm zuzuwenden schien. Al-‘Uris fragte ihn: ‚Ist die Kreuzigung wirklich geschehen?‘ Jesus sagte: ‚Ja, die Kreuzigung ist wirklich geschehen.‘“788 Auch wenn al-‘Uris Traum im weiteren Verlauf der Erzählung von seinem Dia785
786 787 788
Tarif Khalidi: Der muslimische Jesus. Aussprüche Jesu in der arabischen Literatur, London 2001, S. 7ff. Ebd., S. 81. Ebd., S. 96. Ebd., S. 205.
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logpartner, einem unbekannten Traumdeuter, als Illusion zurückgewiesen wird, so nimmt Khalidi „diese seltsame Erzählung“789 dennoch in seine Textsammlung auf, da „der muslimische Jesus, zumindest im Traum, die Wahrheit seiner Kreuzigung bestätigt.“790 Auch wenn der muslimische Jesus Khalidis als konstruierte und im strengen islamischen Sinn unorthodoxe Figur betrachtet werden muss, so trennt sich die Gewalt vom Heiligen. Es geht hierbei um eine ethisch-dialogische Annäherung der beiden Weltreligionen, nicht um Glaubensdogmatik.791 Die antisakrifizielle Botschaft der Evangelien kann bewahrt werden, wobei die Erzählung aufgrund ihres Traumcharakters nicht in Widerspruch zum islamischen Dogma, dass ein Gesandter Gottes nicht von Menschenhand getötet werden könne, gerät. Zugleich wird das Substitutionsmodell samt seiner archaischen Anklänge verworfen, da kein Ersatzopfer notwendig gemacht wird. Die antisakrifizielle Botschaft Jesu kann übermittelt werden. In diesem Sinn ist der muslimische Jesus Khalidis ein außergewöhnliches Beispiel für die Art und Weise, in der eine Religion Anleihen bei einer anderen Religion macht, um den eigenen Glauben zu untermauern.792 Alles in allem sieht Khalidi in den von ihm gesammelten Texten die pazifistischen Grundregeln des Evangeliums, einen Gott der universalen Gewaltlosigkeit und die Prinzipien der Feindesliebe verwirklicht, die aus einer außergewöhnlichen „Liebesbeziehung zwischen dem Islam und Jesus“793 entstanden sind. Die hier zitierten Textstellen dokumentieren auf eine einzigartige Weise, wie eine Weltreligion die zentrale Figur einer anderen übernimmt und sie als wichtigen Bestandteil ihrer eigenen Identität anerkennt.794 Khalidi zeigt, wie interagierende religiöse Kulturen einander bereichern und zu koexistieren lernen, ohne die eigene Identität preisgeben zu müssen: „Dieser Interaktionsprozess scheint eine tiefere religiöse bzw. theologische Realität zu verdecken, nämlich das Bedürfnis des Christentums und des Islam nach Komplementarität. [Herv.
789 790 791 792 793 794
Ebd. Ebd. Vgl. Leuze: Christentum und Islam, a. a. O., S. 102. Vgl. Khalidi: Der muslimische Jesus, a. a. O., S. 53. Ebd., S. 12. Vgl. ebd.
200
T.V.]“795 Jesus und die mit ihm assoziierte Beziehung zu Gott als einem Gott der universalen Liebe ist, wie Khalidi es treffend ausdrückt „eine überragende religiöse Gestalt aus eigenem Recht, die sich mühelos über zwei religiöse Welten erhebt: die eine, die ihn hegte, und die andere, die ihn sich zu eigen machte.“796 Auf dieser gewalt- und opferkritischen Basis wird es möglich, die originäre Wortbedeutung von Islam aufs Neue zu betonen. Das Wort Islam ist abgeleitet vom arabischen Wort salima und bedeutet so viel wie sich vollständig hingeben oder vollständig aufgeben. Es ist aber auch verwandt mit dem hebräischen Wort schalom, das Frieden bedeutet.797
1. 5 Die »Intoleranz der Opfer«. Gewalt als Preis des Monotheismus? „‚Wer nicht für mich ist, der ist wider mich‘ ist eine der größten weltgeschichtlichen Wendungen in der Soziologie der Religion.“798 (Georg Simmel)
Ob Judentum, Christentum oder Islam – alle monotheistischen Weltreligionen sind Erben einer menschheitsgeschichtlichen Revolution, die sich vor circa 3000 Jahren ereignet hat und die eine Wende darstellt, die entscheidender als alle politischen Veränderungen der Moderne die Welt bestimmt hat, in der wir heute leben. Jan Assmann hat für diese Wende den Begriff „Mosaische Unterscheidung“799 geprägt. Gemeint ist die Wende von den archaischen und polytheistischen Kultreligionen hin zu der monotheistischen Offenbarungs- und Buchreligion.800 Die tiefere Bedeutung dieser Wende liegt aber Assmann zufolge weniger in der Unterscheidung zwischen dem einen Gott und den vielen Göttern, wie das
795 796 797 798 799
800
Ebd., S. 53. Ebd., S. 54. Vgl. Ruthven: Der Islam, a. a. O., S. 9 Simmel: Die Religion, a. a. O., S. 162. Jan Assmann: Die Mosaische Unterscheidung. Oder der Preis des Monotheismus, München/Wien 2003, S. 12. Vgl. ebd.
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postmoderne „Lob des Polytheismus“801 suggeriert, sondern vielmehr in der Unterscheidung zwischen wahr und falsch, also zwischen dem wahren Gott und den falschen Göttern, der wahren Lehre und den vielen Irrlehren, zwischen Wissen und Unwissenheit, Glaube und Unglaube.802 Diese Unterscheidungen, sobald sie einmal getroffen sind, können später zwar gemildert werden – im Prinzip sind sie dennoch irreversibel. Die Differenz zwischen religiöser Wahrheit und heidnischer Falschheit kann nicht mehr aufgehoben werden, ohne den Monotheismus in seinen Fundamenten, die nun einmal den Anspruch auf Wahrheit mit sich führen müssen, zu zerstören.803 Der für den Monotheismus charakteristische Antagonismus, die ausschließende und ausgrenzende Negation des Anderen, über die er sich definiert (Keine anderen Götter!), wirkt exkludierend nach innen und nach außen. Es geht keineswegs nur um das Heidentum der Anderen, es geht ebenso sehr um das Falsche und Verderbliche in der eigenen Religion.804 Dies wird besonders sinnfällig in der Exodus-Geschichte und dem Tanz um das Goldene Kalb. Die Israeliten fallen von der göttlichen Wahrheit ab. Sie haben die Abwesenheit ihres Führers auf dem Sinai nicht mehr ausgehalten und Aaron, den Bruder Mose, daher gebeten, ihnen ein neues Gottesbild zu schaffen. Dafür übt Moses, nachdem er zurückkehrt, grausame Vergeltung. „Mose trat an das Lagertor und sagte: Wer für den Herrn ist, her zu mir! Da sammelten sich alle Leviten um ihn. Er sagte zu ihnen: So spricht der Herr, der Gott Israels: Jeder lege sein Schwert an. Zieht durch das Lager von Tor zu Tor! Jeder erschlage seinen Bruder; seinen Freund, seinen Nächsten. Die Leviten taten, was Mose gesagt hatte.“805 Es handelt sich um eine schonungslose Exekution der Ungläubigen im Namen Gottes. Die Gewalt wendet sich zunächst nicht nach außen, sondern entgrenzt sich innerhalb der Gemeinschaft und zerstört die engsten Bindungen zwi801
802
803 804 805
Odo Marquard: Lob des Polytheismus. Über Monomythie und Polymythie, in: Ders.: Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1981, S. 91-116. In diesem Sinne ist Assmann zufolge der Islam die monotheistischste aller Religionen: „Wenn ich sage, er sei die monotheistischste aller Religionen, meine ich vor allem dies: Gott etwas ‚beizugesellen‘ (shirk) ist im Islam das Böse schlechthin.“ Jan Assmann: Wenn mordende Priester zu Helden werden, in: Manfred Zimmer (Hrsg.): Religion und Politik im Zeichen von Krieg und Versöhnung, Osnabrück 2005, S. 218-222, S. 218. Vgl. Assmann: Die Mosaische Unterscheidung, a. a. O., S. 12f. Vgl. ebd., S. 19f. Ex 32,6-28.
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schen Brüdern, Freunden und den Nächsten. „Die Entscheidung, die der monotheistische Gott anbietet, überbietet und bricht alle menschlichen Verpflichtungen und Bindungen.“806 Dieser Beobachtung lässt sich eine Passage aus dem Deuteronomium zur Seite stellen: „Wenn dein Bruder […] oder dein Freund, den du liebst wie dich selbst, dich heimlich verführen will und sagt: Gehen wir und dienen wir anderen Göttern, […], dann sollst du nicht nachgeben und nicht auf ihn hören.“807 Der Text fährt fort, indem er aufkommendes Mitleid gegen den Übeltäter verbietet, der aufgrund seines Abfalls von der Wahrheit sein Leben verwirkt hat. „Wenn er hingerichtet wird, sollst du als erster deine Hand gegen ihn erheben, dann erst das ganze Volk. Du sollst ihn steinigen und er soll sterben; denn er hat versucht, dich vom Herrn, deinem Gott abzubringen, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus.“808 Vergleichbar verläuft die Geschichte des Götzendienstes im Koran, wobei es bezeichnend ist, dass die Mordorgie, wie Moses sie in Exodus 32 anordnet und durchführt, in der koranischen Episode ausbleibt. Moses statuiert kein Massaker an den Ungläubigen, sondern bittet Gott um Vergebung. „Du bist unser Beschützer; darum verzeihe uns und erbarme dich unser! Du bist der Beste der Verzeihenden.“809 Auch wenn der Koran an diesem Punkt Milde zeigt, dürfen die monotheistischen Religionen insgesamt nicht als die Religionen einer ausschließlich universalen Bruderliebe verstanden werden. Vielmehr bedarf es immer wieder Anstrengungen, die das Gewaltpotenzial monotheistischer Offenbarungsreligionen neutralisieren.810 Insgesamt ergibt sich ein Vexierbild. Problematisch wird der Wahrheitsanspruch einer Religion dann, wenn er erstens mit dem Verzicht auf Gewaltlosigkeit und zweitens mit dem Anspruch auf seine verbindliche Durchsetzung einhergeht. Diejenigen, die die Einladung nicht annehmen, sind fortan ausgeschlossen. Das antike Judentum, das keinen universal missionarischen Bekehrungseifer an den Tag legte, wendet die Gewalt in Fragen der Wahrheit aus806 807 808 809 810
Assmann: Monotheismus und die Sprache der Gewalt, a. a. O., S. 26. Dtn 13,7-9. Dtn 13,10-11. Sure 7,155. Vgl. Manfred Walther: Strategien der politischen Neutralisierung des Gewaltpotenzials monotheistischer Offenbarungsreligionen, in: Mathias Hildebrandt und Manfred Brocker (Hrsg.): Unfriedliche Religionen? Das politische Gewalt- und Konfliktpotenzial von Religionen, Wiesbaden 2005, S. 95-117, S. 112.
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schließlich gegen interne Abweichler. Die anderen Völker mochten verehren wen sie wollten, aber der Wahrheitsanspruch nach innen wurde kompromisslos gegen jede Form der Idolatrie durchgesetzt: „Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen“811. Während aber die Selbstausgrenzung zum Glauben an das Auserwähltsein des jüdischen Volkes gehörte, haben das Christentum und der Islam diese Grenze nicht anerkannt und sind aus diesem Grund in der Geschichte immer wieder auch nach außen gewalttätig geworden.812 Indem Gott den Christen und Muslimen gebietet, eine verbindliche Wahrheit über den Erdkreis zu verbreiten, werden all diejenigen exkludiert, die sich dieser Wahrheit verschließen. In dieser Form ist dem Monotheismus als „Brutstätte von Fundamentalismen“813 tatsächlich ein enormes Gewaltpotenzial inhärent, wenn er nicht einer definitiven Gewaltkritik unterzogen wird.814 Der Konflikt um Wahrheit und Unwahrheit ist soziologisch betrachtet nichts anderes als ein stark ausgeprägter In- und Exklusionsmechanismus, dessen Wirkungsweise in Kapitel 7 des theoretischen Grundrisses der vorliegenden Arbeit analysiert wurde. Gleichviel ob der Feind inneroder außerhalb der Gemeinschaft erkannt wird – immer konstituiert sich die rechtgläubige Gemeinschaft gegen ihn. Dieser Impuls bleibt in den heiligen Schriften lebendig und wirkt zwar nicht in den progressiven Eliten der Weltreligionen fort, aber durchaus in den modernen Formen des religiösen Extremismus und Terrorismus. Das „semantische Dynamit, das in den heiligen Texten der monotheistischen Religionen steckt, zündet in den Händen nicht der Gläubigen, sondern der Fundamentalisten, denen es um politische Macht geht und die sich der religiösen Gewaltmotive bedienen, um die Massen hinter sich zu bringen.“815 Natürlich war die Welt schon vor der Entstehung des Monotheismus voller Hass und Gewalt. Gerade die Analyse der archaischen Religionen zeigte, dass die kollektive Gewalt den verborgenen Subtext der religiösen Kulte und Vor811 812 813
814
815
Dtn 13,6. Vgl. Assmann: Die mosaische Unterscheidung, a. a. O., S. 31. Wolf Krötke: Sind monotheistische Religionen besonders ‚anfällig‘ für Gewalt?, in: Reinhard Hempelmann und Johannes Kandel (Hrsg.): Religionen und Gewalt. Konflikt- und Friedenspotenziale in den Weltreligionen, Göttingen 2006, S. 47-62, S. 54. Vgl. Klaus Müller: Wahrheit und Gewalt. Zu Jan Assmanns Monotheismuskritik, in: Peter Walter (Hrsg.): Das Gewaltpotenzial des Monotheismus und der dreieine Gott, Freiburg im Breisgau 2005, S. 74-82, S. 77. Assmann: Monotheismus und die Sprache der Gewalt, a. a. O., S. 57.
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stellungen dominiert. Der entscheidende Befreiungsimpuls, der in den biblischen Schriften seinen Anfang nahm und auch teilweise in den koranischen Schriften kontinuiert, ist: die Rehabilitierung des kollektiv verfolgten Opfers. Auch Jan Assmann ist der opfer- und kultkritische Aspekt der Buchreligionen nicht entgangen, wenngleich er andere Akzente setzt. Er schreibt, in diesem Punkt noch ganz übereinstimmend mit den bisherigen Ergebnissen der vorliegenden Analyse, dass der Monotheismus sich gegen seine Vorgängerreligionen, also gegen den religiösen Mythos als falsche Religion abgrenzt und „das göttliche Wohlgefallen weniger von Opfern und Riten abhängig macht als vielmehr vom Rechttun des einzelnen und der Einhaltung gottgegebener Gesetze [Herv. T.V].“816 Auch wenn die von der Bibel ihren Ausgang nehmende Opferkritik eine Trennung des Heiligen von der Gewalt erwirkte, so insistiert Assmann darauf, dass der Wahrheitsanspruch des einzigen Gottes, dem Opfer eine ganz neue, vorher unbekannte Form der religiösen Intoleranz verliehen habe. „Bei dieser Form der Intoleranz, die auf dem neuen Bewusstsein der Unvereinbarkeit beruht, geht es nicht um die Ausübung, sondern um die Erduldung von Gewalt, d.h. um die Entschlossenheit, für den eigenen Glauben eher zu sterben, als sich zu Handlungen oder Überzeugungen bereit zu finden, die mit der wahren Religion unvereinbar sind.“817 Es handelt sich also weniger um die Intoleranz der Verfolger, sondern, so die überraschende Wendung Assmanns, um die „Intoleranz der Opfer [Herv. T.V.], die selbst das kleinste Nachgeben als Abfall von Gott und ‚Assimilation‘ empfunden hätten.“818 Auf diese Weise erhält das Opfer bei Assmann eine überaus negative Konnotation. Aber zumindest auf den Höhepunkten der Opferkritik – man erinnere sich zurück an die Geschichte vom leidenden Gottesknecht oder der Passionserzählung – will das Opfer die Gewalt nicht mit Gewalt, Böses nicht mit Bösem vergelten.819 Die Intoleranz der Opfer ist eine martyrologische Intoleranz, eine Intoleranz gegenüber der Ausübung von Gewalt. Es handelt sich eben nicht allein, wie Assmann meint, um die Weigerung „eine als falsch erkannte Religions816 817 818 819
Assmann: Die Mosaische Unterscheidung, a. a. O., S. 19. Ebd, S. 34. Ebd. Vgl. Erich Zenger: Der Mosaische Monotheismus im Spannungsfeld von Gewalttätigkeit und Gewaltverzicht. Eine Replik auf Jan Assmann, in: Peter Walter (Hrsg.): Das Gewaltpotenzial des Monotheismus und der dreieine Gott, Freiburg im Breisgau 2005, S. 39-73, S. 42.
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form zu akzeptieren und lieber zu sterben, als in diesem Punkt nachzugeben“820. Vielmehr ist die Intoleranz der Opfer gleichzusetzen mit der Intoleranz gegenüber ungerechtfertigter Gewalt. Das Opfer zieht es vor, den Gewalttod zu erleiden, als der Gewalt zu verfallen. Dies ist aber keine Intoleranz des Opfers, sondern: gewaltlose Selbstaufgabe.821 Angesichts der Schrecken eines Monotheismus, der sich zum Terror berufen fühlt, kann eine Theorie des Opfers, wie sie im Laufe dieser Arbeit entfaltet wurde, auf einen entmächtigenden, einen nicht-sakrifiziellen Monotheismus der Gewaltlosigkeit verweisen.822 Zweifellos ist dem Monotheismus ein unterschwelliges Gewaltpotenzial inhärent, sobald die Direktive des bedingungslosen Gewalterleidens an Kraft verliert und Jahwe, der christliche Gott oder Allah zur Eifersucht tendieren oder einem die anderen Religionen überbietenden Triumphalismus der Wahrheit verfallen.823 Die entscheidenden Momente der monotheistischen Religionen waren schließlich immer auch konfliktgeladene Situationen der Konversion. „Mose bekehrt die der heidnischen Idolatrie verfallenen Hebräer zum Monotheismus, Paulus bekehrt Juden und Heiden zum Christentum, Muhammed bekehrt Juden, Christen und Ungläubige zum Islam, und in allen diesen Situationen der Bekehrung wird die Mosaische Unterscheidung zwischen wahr und falsch wieder neu eingeführt und verschärft.“824 Wie immer man die Problematik aus heutiger Sicht bewerten will, so lässt sich doch ein Gegengewicht gegen die ansonsten zutreffenden Beobachtungen Assmanns schaffen, indem man die Aufmerksamkeit auf den Umstand lenkt, dass das monotheistische Vermächtnis nicht allein in der Gewalt liegt, sondern ebenfalls lautet: „Monotheismus plus Ethik“825. Auch wenn die Gewalt, die die mosaische Unterscheidung nach sich gezogen hat, nicht verharmlost werden sollte, so darf die geschichtswirksame Entmächtigung der Gewalt, die Aufhebung der Anbetung der Gewalt als das Heilige, ebenfalls nicht heruntergespielt wer820 821
822
823 824 825
Assmann: Die Mosaische Unterscheidung, a. a. O., S. 35. Vgl. René Girard: Violence and Religion, in: Peter Walter (Hrsg.): Das Gewaltpotenzial des Monotheismus und der dreieine Gott, Freiburg im Breisgau 2005, S. 180-190. Vgl. Klaus Koch: Monotheismus als Sündenbock?, in: Theologische Literaturzeitung. Monatsschrift für das gesamte Gebiet der Theologie und Religionswissenschaft, Heft 9/1999, S. 874884, S. 874. Vgl. Assmann: Die Mosaische Unterscheidung, a. a. O., S. 164. Ebd., S. 163. Kuschel: Juden, Christen, Muslime, a. a. O., S. 416.
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den. Mit dem monotheistischen Denken ist auch ein neues Ethos der Gewaltfreiheit, eine neues Grundgesetz des Menschenanstands in die Welt gekommen. Diese Linie der Gewalt- und Opferkritik zu stärken, ist angesichts des Vorwurfs, die monotheistischen Religionen würden de facto die Gewalt eher fördern, anstatt sie zu verhindern, die Aufgabe für die jüdische, die christliche und die islamische Gemeinschaft im 21. Jahrhundert. Alle monotheistischen Religionen müssen selbstkritisch ihre Gewaltpotenziale erkennen und neutralisieren. Dazu werden sie erst dann in der Lage sein, wenn sie zu bekennen bereit sind, dass ihr monotheistischer Grundansatz ausschließlich einen Wahrheitsanspruch implizieren darf, der von seinem Gottesbild her auf eine freiwillige Annahme zielt und deshalb alle Formen von Zwang und Gewalt verbietet.826
826
Vgl. Zenger: Der Mosaische Monotheismus im Spannungsfeld von Gewalttätigkeit und Gewaltverzicht, a. a. O., S. 73.
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2. Hinduismus und Buddhismus
2.1 Gewalt und Schöpfung im Rgveda. Varna, Kaste und das hinduistische Uropfer Purusa „Mit dem Opfer opferten die Götter dem Opfer. Dies waren die ersten Normen (des Opfers).“827 (Rgveda, 10. Liederkreis)
Versucht man das Verhältnis des Hinduismus zur Gewalt zu beschreiben, so ist vorab die Klarstellung notwendig, dass der Hinduismus ein nahezu unüberschaubares Konglomerat an religiösen Lehren und Ideen darstellt.828 Mit Max Weber lässt sich, jedoch nur in aller Vorsicht, die Kaste als soziologische Grundkategorie des Hinduismus bestimmen: „Ohne Kaste gibt es keinen Hindu“829. Angesichts der unüberschaubaren Vielfalt von Sekten, Kasten und Asketen traf Weber oft der Vorwurf, er sei mit seiner Kastenanalyse den Orientierungsbedürfnissen der kolonialen Zensusbehörden aufgesessen.830 Allerdings lässt sich diesem sicher nicht unberechtigten Vorwurf mit Louis Dumont entgegnen, dass bereits in den Ur-Texten des Hinduismus das so genannte varnaSystem auftaucht, dass bereits in dieser Zeit „wohl ein Kastensystem in statu nascendi gewesen sein mag.“831 827
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Rgveda, übersetzt und mit einem laufenden Kommentar versehen von Karl Friedrich Geldner. Neunter bis zehnter Liederkreis, 3. Band, Wiesbaden 1951, (10,90,16), S. 286. Vgl. Axel Michaels: Der Hinduismus. Geschichte und Gegenwart, 2. Aufl., München 2006, S. 34. Max Weber: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus, Schriften 1916-1920, Studienausgabe der Max Weber-Gesamtausgabe, Band I/20, hrsg. von Helwig Schmidt-Glintzer in Zusammenarbeit mit Karl-Heinz Golzio, Tübingen 1998, S. 21. Vgl. Jan C. Heestermann: Kaste und Karma. Max Webers Analyse der indischen Sozialstruktur, in: Wolfgang Schluchter (Hrsg.): Max Webers Studie über Hinduismus und Buddhismus. Interpretationen und Kritik, Frankfurt am Main 1984, S. 72-86. Louis M. Dumont: Gesellschaft in Indien. Die Soziologie des Kastenwesens, Wien 1976, S. 95.
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Ohne die schwierige Frage nach dem soziologischen Status und der tatsächlichen Bedeutung der Kaste letztlich entscheiden zu können, scheint doch wenigstens festzustehen, dass es nicht möglich ist „von Kasten [zu] sprechen, ohne die varna zu berühren, auf welche die Hindus selbst die Kasten zurückführen.“832 Die varna-Lehre, die für eine Erörterung des Heiligen und der Gewalt von großer Bedeutung ist, taucht zum ersten Mal im Rgveda auf, dem ältesten Teil der Veden, die ca. 1200 v. Chr. entstanden sind. Die für den hier explizierten Zusammenhang entscheidende Stelle findet sich im 10. Buch des Rgveda, in dem das varna-System textuell das erste Mal greifbar wird.833 Dieser religiöse Mythos, hinter dem gemäß der bisherigen Ausführungen ein kollektiver Gründungsmord, der in abgeblendeter Form erzählt wird, vermutet werden muss, berichtet von der Opferung des kosmischen Urwesens Purusa. Zuerst wird Purusas weltumspannende und monströse Größe geschildert: „Tausendköpfig, tausendäugig, tausendfüßig ist Purusa; er bedeckt vollständig die Erde und erhob sich noch zehn Finger hoch darüber.“834 Alles taumelt innerhalb instabiler Halluzinationen, bis die Weltwerdung, der Schöpfungsprozess, durch die kollektive Zerstückelung Purusas in Gang gesetzt wird. „Aus diesem vollständig geopferten Opfer entstanden die Verse und Sangesweisen, aus ihm entstanden die Metren, aus ihm entstand der Opferspruch. Aus ihm entstanden die Rosse und alle Tiere mit doppelter Zahnreihe, aus ihm entstanden die Rinder, aus ihm sind die Ziegen und Schafe entstanden.“835
Der Purusa konstituiert durch seine Opferkraft das varna-System als differenzierte und stabile Ordnung: „Als sie den Purusa auseinander legten, in wie viele Teile teilten sie ihn? Was ward sein Mund, was seine Arme, was werden seine Schenkel, (was) seine Füße genannt? Sein Mund ward zum Brahmanen, seine beiden Arme wurden zum Rajanya gemacht, seine beiden Schenkel zum Vaisya, aus seinen Füßen entstand der Sudra.“836 Aus dem Purusa stammt aber nicht nur die soziale Ordnung in Form der grundlegenden Kastenhierarchie von Priestern, Kriegern, Bauern/Händlern und Dienern/Arbeitern, sondern auch das Sein, die Götter, das ganze Universum: „Der Mond ist aus seinem Geist entstanden, die 832 833 834 835 836
Ebd., S. 91. Vgl. Michaels: Der Hinduismus, a. a. O., S. 187. Rgveda, a. a. O., S. 286. Ebd., S. 288. Ebd.
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Sonne entstand aus seinem Aug; aus seinem Munde Indra und Agni, aus seinem Aushauch entstand der Wind. Aus dem Nabel ward der Luftraum, aus dem Haupte ging der Himmel hervor, aus den Füßen die Erde, aus dem Ohre die Weltgegenden. So regelten sie die Welten.“837 In Purusa verkörpert sich die Ambivalenz des Sakralen in paradigmatischer Weise, die soziale Ordnung in Form der Kaste gründet sich um und gegen das Opfer und mit Gewalt schlägt Schöpfungschaos in Ordnung um. Zugleich fließen das Leben, die Natur, die Tiere, die Sprache und die Gestirne, auch der gewaltige Kriegsgott Indra, aus dem Opfer des Purusas – also aus der kollektiven Gründungsgewalt, die der Mythos aber aus genannten Gründen nicht zur Sprache bringt. Entsprechend haben auch die Kulte des Hinduismus eine kathartische Funktion – „expressing a society’s aggression in a controlled and socially acceptable way“838, wie Gavin D. Flood in seiner Hinduismusstudie darlegt. Absorbieren die hinduistischen Kulte die Gewalt im Inneren der Gemeinschaft, so stellt das varna-System zugleich ein Außen der Gemeinschaft her, in das Gewalt verschoben werden kann. Die vier varna umfassen alle Kreaturen, die überhaupt als Menschen anerkannt werden.839 Auf diese Weise werden starke In- und Exklusionsmechanismen geschaltet, die Gewalt gegen Nicht-Menschen wird erleichtert. Es ist bezeichnend, dass die Einteilung der Menschen in Kasten als ein Kennzeichen der menschlichen Gattung dargestellt wird, also als etwas, das die Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet. Daher erscheint es oft fraglich, ob Fremde, Nichtinder, Barbaren (mleccha), für die die varna-Struktur nicht gilt, überhaupt als menschliche Wesen betrachtet werden dürfen.840 Dem gewalttätigen Gründungsereignis korrespondiert der altindische Grundsatz, dass Leben nur durch Gewalt (himsa) gegen andere möglich ist, da alles nur für das Opfer geschaffen ist. An einer frühen Stelle des Mahabharata, einem alten indischen Heldenepos, heißt es Axel Michaels zufolge: „‚Tiere und Menschen, Bäume und Kräuter verlangen nach dem Himmel, und keinen Him-
837 838 839
840
Ebd. Gavin D. Flood: An Introduction to Hinduism, Cambridge 1996, S. 44. Vgl. Wilhelm Halbfass: Mensch und Selbst im traditionellen indischen Denken, in: Shmuel N. Eisenstadt (Hrsg.): Kulturen der Achsenzeit. Ihre institutionelle und kulturelle Dynamik, Indien, Teil 2, Frankfurt am Main 1992, S. 129-152, S. 139. Vgl. ebd.
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mel gibt es außer durch das Opfer‘.“841 Ausgefeilt wurde die Theorie des Opfers von den Brahmanen, den Opferpriestern. Die in den Kulten zur Entfaltung kommende Opferkraft, das brahman, hält den Kreislauf des Lebens in Gang und die Ordnung der Welt aufrecht, sodass die Brahmanen, da nur sie über das Wissen des korrekten rituellen Vollzugs verfügen, auch die Ranghöchste indische Kaste bilden.842 Aber bereits im Rgveda keimt der erste Zweifel an der Gottheit, die das Opfer fordert. Den mythischen Göttern schon entfremdet, fragt ein unbekannter vedischer Dichter nach dem Urgott, der allein die Geschicke bestimmt und die Ordnung der Welt garantiert. „Im Anfang wurde er zum goldnen Keim. Geboren ward er der alleinige Herr der Schöpfung. Er festigte die Erde und diesen Himmel. – Wer ist der Gott, dem wir mit Opfer[n] dienen sollen? / […] / Nicht möge er uns schädigen, der der Schöpfer der Erde ist, oder der den Himmel erschaffen hat mit gültigen Gesetzen, und der die schimmernden hohen Gewässer erschaffen hat.“843
Jede weitere Strophe dieses Liedes läuft auf die Frage hinaus, wer der Gott eigentlich sei, dem man mit seinem Opfer dienen solle. So sieht Hermann Oldenberg in diesem Lied bereits den frühen Keim des Zweifels gesät, der dem Buddhismus, auf den später noch ausführlich zurückzukommen sein wird, schließlich zur völligen Aufgabe des Opfers motivieren wird. Man fühlt bereits die Kluft, die zwischen diesem fragenden Lied und dem zuversichtlichen Glauben der alten Zeiten liegt, welche die Götter, denen man opfern sollte, nicht suchte, sondern noch kannte.844 Die Skepsis gegenüber dem Opfer wuchs mit der parallel wachsenden Skepsis gegenüber dem himsa-Gedanken. Am Ende der 2. Epoche der hinduistischen Religion (1750-500 v. Chr.) wurde sukzessive der geistige Raum für eine Neubewertung und Befreiung vom mythischen himsa-Gedanken erschlossen.845 Sie erwuchs aus der Opposition gegen den exklusiven Opferritualismus der
841 842 843 844
845
Michaels: Der Hinduismus, a. a. O., S. 170. Vgl. ebd. Rgveda, a. a. O., S. 347f. Vgl. Hermann Oldenberg: Buddha. Sein Leben, seine Lehre, seine Gemeinde, hrsg. und mit einem Kommentar versehen von Helmuth Glasenapp, Stuttgart o.J., S. 21. Vgl. Michaels: Der Hinduismus, a. a. O., S. 170.
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Brahmanen.846 Am Ende eines langwierigen, von innerbrahmanischen Auseinandersetzungen getragenen und von außen, vor allem vom Buddhismus und Jainismus beeinflussten Prozesses, stand die Option der Verinnerlichung und Reinterpretation des Opfers, also die Chance, die magische Wirksamkeit des Opfers auch ohne rituelles Opfer zu erzeugen.847 Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten ist dies gleichbedeutend mit dem Versuch, die gewalteinhegende Wirkung des Opfers zu bewahren, diese Wirkung aber ohne die Einführung einer die Gewalt beendenden Gewalt zu erzielen, denn der himsa-Gedanke wird für die Herstellung von Gemeinschaft außer Kraft gesetzt. So macht Axel Michaels darauf aufmerksam, dass die allmählich einsetzende Gewaltkritik nicht ohne die Kritik der kultischen Opfer denkbar gewesen wäre: „‚Ein Opfer, das aus rezitieren besteht, ist zehnmal besser als ein solches, das nach den Opfervorschriften ausgeführt wird‘, heißt es in Manus Gesetzbuch, aber hundertmal besser sei es, wenn das Opfer unhörbar sei, und tausendmal besser, wenn es nur im Geist ausgeführt werde. So wie das Opfer auf Gewalt (himsa) beruhte, so musste seine Negation zu ahimsa führen [Herv. T.V.].“848
2.2 Ahimsa. Grundbegriff der fernöstlichen Gewaltfreiheit Die Analyse des Uropfers Purusa legte die These nah, dass die frühe kulturelle Ordnung des Hinduismus auf heiliger Gewalt gegründet wurde. Bezeichnenderweise beruht das hinduistische Glaubenssystem auf der Vorstellung, dass die irdische Ordnung eine kosmische Verunreinigung sei, wobei ihre Erschaffung selbst bereits die ursprüngliche kosmische Harmonie zerstört habe.849 Um von diesem Zustand der Unreinheit (= Gewalt) hin zu einem neuen Zustand der Reinheit (= Gewaltfreiheit) zu gelangen, wählten die Autoren der fernöstlichen Grundtexte nun eine Strategie, die sich von den analysierten Heilstexten der 846 847 848 849
Vgl. ebd. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. Shmuel N. Eisenstadt: Die indische (hinduistische) Geschichtserfahrung, in: Ders. (Hrsg.): Kulturen der Achsenzeit. Ihre institutionelle und kulturelle Dynamik, Indien, Teil 2, Frankfurt am Main 1992, S. 9-16, S. 9.
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monotheistischen Religionen grundlegend unterscheidet. So gehörte es zum entmythologisierenden Enthüllungskalkül der biblischen Texte, die Gewalt gegen unschuldige Opfer zu offenbaren und zu verurteilen, entsprechende Sündenbockeffekte zu verhindern sowie den gewalttätigen Ur-Zustand in eine gewaltfreie soziale Ordnung zu überführen.850 Den nahöstlichen Heilssystemen, dem Hinduismus und seinen Reformbewegungen Jainismus und Buddhismus, scheint es hingegen nicht darum gegangen zu sein, eine persekutorische Nichtbewusstheit zu enttarnen – soweit dies für den soziologischen Betrachter zu sehen ist, berichten die entsprechenden Ur-Kunden hiervon nichts. Allerdings wird mit dem ahimsa-Prinzip versucht, so die im Folgenden noch zu begründende These, die Ursachen, die überhaupt zur Entgrenzung der Gewalt, zum Auslösen des Opfermechanismus und zur gewalttätigen Epiphanie des Heiligen führen, zu neutralisieren.851 Die Idee von ahimsa ist relativ alt. Zum ersten Mal taucht sie in der hinduistischen Chandoyoga-Upanishad auf, die vermutlich aus dem 9. Jahrhundert v. Chr. stammt. Später wurde das ahimsa-Prinzip im Buddhismus und Jainismus zur absoluten Grundforderung der Lebensgestaltung.852 Der Weg der fernöstlichen Desakralisierung der Gewalt ist von seinem Grundgedanken her einfach. Der Begriff ahimsa bezeichnet exakt das Gegenteil dessen, was der Mensch in der Opferhandlung sowie im Krieg vollzieht, nämlich das Nicht-Töten und Nicht-Verletzen.853 Die erste Wende vom Opfer zum ahimsa-Prinzip wurde dadurch eingeleitet, dass der Brahmane, sobald er zu alt für die rituellen Dienste war, sich in die Wald- und Wildniseinsamkeit zum Studium der heiligen Texte zurückzog, um Wissen und Macht über die Dinge, Menschen, Götter und die Gewalt zu erwerben.854 Der Rückzug des Brahmanen aus der Alltagswelt der Menschen kann durchaus als eine umsichtige Vorsichtsmaßnahme interpretiert werden, die die soziale Ordnung vor den Experimenten mit den gefahrvollen und ansteckenden Energien des Heiligen schützen sollte.855 Denn, so Oldenberg, die „Kenntnis der850 851 852 853 854
855
Vgl. Girard: Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz, a. a. O., S. 162. Vgl. Baudler: Gewalt in den Weltreligionen, a. a. O., S. 91. Vgl. ebd., S. 91. Vgl. ebd., S. 65. Vgl. Hermann Oldenberg: Die Lehre der Upanishaden und die Anfänge des Buddhismus, Göttingen 1915, 7f. Vgl. ebd.
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artiger Texte und überhaupt allen Wissens, das von besonderer gefährlicher Heiligkeit [Herv. T.V.] durchdrungen ist, wird nicht im Dorf erworben; die dabei in Aktion versetzten Mächte könnten dem menschlichen Alltagsleben Schaden zufügen.“856 In der Waldeinsamkeit sammelte der Brahmane Schüler um sich, um mit ihnen über die wahre Bedeutung der Veden zu reflektieren, die davon Kunde gaben, dass der Mensch „das Leben erleidet“857. Das eigentliche Ziel dieser Erlösungslehre war das Entfliehen aus der metaphysischen Wertlosigkeit einer opferrituellen, vergänglichen, todgeweihten und gewaltverhafteten Welt. Resultat dieses Denkens war eine geistesgeschichtliche Wende, die zuerst in den Upanishaden niedergelegt wurde. Die Herstellung heiliger Gewalt durch das rituelle Opfer wurde in diesen Texten abgelehnt und eine neue, gewaltfreie Dimension des Heiligen trat hervor. Nicht die große Opfer- und Gewalthandlung, die den Menschen über seine individuelle Begrenztheit hinausführt, sondern das ruhige und gesammelte Sitzen neben dem Meister und das in sich versunkene Hören auf dessen heilige Worte vermittelt einen göttlichen Seinsstatus. Upanishad heißt wörtlich: ‚sich danebensetzen‘.858 Grundlehre der Upanishaden ist, dass der Mensch an das unheilvolle Rad des ewigen Wiederwerdens gefesselt ist (samsara), und die Fessel, die ihn im Zirkel der Seelenwanderungen festhält heißt: karma.859 Der Kreislauf des Lebens, der sich seit der Opferung Purusas durch seine Gewaltstrukturen auszeichnet, kann nur verlassen werden, wenn kein neues karma gesammelt wird. Die Strategie zur Vermeidung der karma-Sammlung wurde immer öfter gleichgesetzt mit der Befolgung des ahimsa-Prinzips.860 Nur wer der (kollektiven) Gewalt entsagt, kann dauerhaften Frieden erlagen, denn er vermeidet negatives karma. Das entscheidende Mittel also, um ewiges Heil und Frieden zu erlangen, ist das Verwirklichen von Gewaltlosigkeit, das Abstandnehmen vom Verletzen, das im Sanskrit als ahimsa bezeichnet wird.861 856 857 858 859 860
861
Ebd. Weber: Hinduismus und Buddhismus, a. a. O., S. 127. Vgl. Baudler: Gewalt in den Weltreligionen, a. a. O., S. 55. Vgl. Michaels: Der Hinduismus, a. a. O., S. 173. Vgl. Catarina Ceming: Gewalt und Weltreligionen. Eine interkulturelle Perspektive, Nordhausen 2005, S. 96. Vgl. ebd.
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Entscheidend für den Zusammenhang des Heiligen und der Gewalt wird nun, dass bereits die frühen Upanishaden an die brahmanischen Opfer anknüpften, aber die „Methodik ohne das Ritual“862 übernahmen. In den Upanishaden vollzieht sich eine Verinnerlichung des Opfers, bei der aber alle gewaltverhafteten Aspekte des Opfers durch das ahimsa-Prinzip neutralisiert werden sollten. Der Einzelne soll mit einem neuen kosmischen Frieden identifiziert werden und mit diesem Frieden verschmelzen. Dabei vereinigt sich gemäß der Vorstellungen der Upanishaden das individuelle Selbst, das atman, mit dem brahman, wobei das brahman aber von seiner gewaltbelasteten Verbindung zum archaischen UrOpfer Purusa insofern gereinigt wird, da es, im Gegensatz zu den vedischen Anleitungen, außerhalb der rituellen Systeme wirksam werden sollte. So schreibt Axel Michaels: „Losgelöst vom Opfergeschehen [Herv. T.V.] wurde in den Upanishaden die Identifikation der Individualseele (atman) mit dem Absolutum (brahman) zu einer Grundlehre.“863 Die Upanishaden kamen also aus dem Opfer, aber sie führten in die Askese, die die rituellen Systeme hinter sich ließ. Von nun an kreiste das ganze Denken um die Frage nach den Bedingungen und Konsequenzen der Atman-BrahmanIdentifikation, die sich unter anderem in den klassischen Sprüchen ‚tat tvam asi‘ (‚Das bist du‘) oder ‚aham brahmasmi‘ (‚Ich bin das Brahman‘) niederschlug. Die Einheit von individuellem atman und universalem brahman artikuliert die Befreiung des Menschen (moksa) aus dem ewigen Kreislauf von (gewaltsamem) Tod, Wiedergeburt und (gewaltsamem) Tod. Da aber die Atman-Brahman-Identifikation nur über den Weg der Gewaltlosigkeit erreicht werden kann, artikulierte das „‚tat tvam asi‘ […] die Befreiung des Menschen aus dem durch heilige Gewalt gestifteten Seinsstatus.“864 Dies hatte langfristig zur Folge, dass kein Opfer, weder Mensch noch Tier, real oder auch nur in Gedanken geschädigt werden durfte. Ein stellvertretendes Opfer wie der pharmakos, das die entgrenzte Gewalt auf sich zieht und dadurch die Gemeinschaft rituell von ihrer Gewalt befreit, scheint innerhalb dieser religiösen Konfiguration nicht mehr möglich. Vielmehr weiß der auf dem Boden der fernöstlichen Weltanschauung entstandene ahimsa-Gedanke um die Anste862 863 864
Michaels: Der Hinduismus, a. a. O., S. 287. Ebd. Baudler: Gewalt in den Weltreligionen, a. a. O., S. 55.
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ckungsqualität der Gewalt, sodass es darauf ankam, die Gewalt zu besänftigen, bevor sie sich entgrenzt und den sakrifiziellen Mechanismus zur Restauration der sozialen Ordnung in Gang setzt. Gewalt, so die errungene Einsicht, lässt sich nicht frontal bekämpfen: Ein entscheidender Aspekt im Kontext der ahimsaLehre ist die Einsicht, dass Gewalt stets Gegengewalt erzeugt. Wer auf die Gewalt oder den Hass eines anderen in gleicher Weise reagiert, setzt damit nur eine Gewaltspirale, einen Prozess der Gewaltentgrenzung in Gang.865 Dem korrespondiert, dass sich in den Upanishaden die ersten Formen des Yoga entwickelten. Dem Yogin geht es um die innere Versenkung, die durch die „Schlagworte ‚Freundschaft‘ (mit allen Wesen) und ‚Gleichmut‘ charakterisiert sind.“866 Ziel ist der innere Frieden, der nur gefunden werden kann, wenn man die Welt und das in ihr enthaltene Leid sowie ihre Unreinheit auf Distanz hält. Die Welt ist nur Erscheinung, Gewalt, Trug und Täuschung. Es geht um eine umfassende Desinteressierung an Gütern, die Rivalität und damit auch Gewalt verursachen könnten. Die Shvetashvatara-Upanishad verheißt daher, dass es die versenkende Loslösung von der Welt ist, die dem Menschen geistigen Frieden bringt und die seine wahre Bestimmung sei: „Wie ein Stück (Gold oder Silber), das mit Erde bedeckt war, hell strahlt, wenn es gut gereinigt ist, so wird eine in einem Körper befindliche Seele, wenn sie ihre wahre Natur erkannt hat, isoliert, ihres Ziels teilhaftig und von Kummer frei.“867 In einer der wichtigsten Ur-Kunden des Hinduismus, dem Yoga-Sutra, das vermutlich im 2. Jahrhundert vor Christus in seiner heutigen Form kompiliert wurde, wird ebenfalls auf den Gedanken von ahimsa eingegangen.868 Das YogaSutra ist ein praktischer Leitfaden des hinduistischen Heilsweges. Zuerst geht es in dieser Schrift um Unterlassungsgebote, dann um Ausführungsgebote. Zu den gebotenen Dingen gehört maßgeblich das Nicht-Schädigen und der Rivalitätsverzicht. „Gewaltlosigkeit, Wahrhaftigkeit, Nicht-Stehlen, reiner Lebenswandel und Nicht-Besitzergreifen sind [die Regeln der] äußeren Disziplin.“869 Wer Feind865 866 867
868 869
Vgl. ebd. Oldenberg: Die Lehren der Upanishaden, a. a. O., S. 264. Shvetashvatara-Upanishad, Die Upanishaden. Die Geheimlehre der Inder, hrsg. von und mit einem Vorwort von Helmuth von Glasenapp versehen, München 2003, S. 170-178, S. 173. Vgl. Ceming: Gewalt und Weltreligionen, a. a. O., S. 99. Yoga-Sutra, II/30, Patanjali. Die Wurzeln des Yoga. Die klassischen Lehrsprüche des Patanjali – die Grundlage aller Yogasysteme, hrsg. von Bettina Bäumler, Bern/München/Wien 1999.
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schaft stiftet, wer Böses sät und Lebewesen Schaden intentional zufügt, wer Rivalitäten schürt und seine gewalttätigen Impulse nicht zu zügeln versteht, der wird den Yogaweg nie meistern und den gewalttätigen Lebenskreislauf nie verlassen. Wer sich aber für den Weg des Nichtschädigens entscheidet, der schafft ein Umfeld, in dem jede Feindschaft schwindet: „alle, die in die Nähe kommen, geben die Feindschaft auf“870 erläutert das Yoga-Sutra. Die fernöstliche Abwehr sakrifizieller Gewalt durch ahimsa zielt also, soviel bleibt festzuhalten, auf eine präventive Ursachenbekämpfung jener eskalierenden Gewalt, die als Auslöser von Opfermechanismus und Mythenbildung angenommen wurde. Im Vergleich zum Versuch der Gewaltentmächtigung der jüdisch-christlichen Tradition könnte man den Sachverhalt also wie folgt formulieren: Während das Evangelium von der Kritik an den archaischen Opfern zur Kritik an der Gewalt führt, verläuft der Weg im Fernen Osten genau umgekehrt: Die Kritik an der Gewalt führt zur Kritik an den archaischen Opfern. Gleichwohl sich die Wege der Gewaltentmächtigung innerhalb der nah- und fernöstlichen Tradition im Richtungsverlauf also unterscheiden, so treffen sie dennoch in ihrer Kritik der Sakralisierung von Gewalt aufeinander.
2.2.1 Kasten-dharma und ahimsa Auch wenn sich infolge des ahimsa-Denkens, das mit einer Ablehnung der sakrifiziellen Kulte einherging, der Gedanke des Pazifismus zuerst zögerlich auf dem Boden des Hinduismus, später schließlich mit großer Entschiedenheit im Buddhismus und Jainismus entwickeln konnte, so bleibt für den Hinduismus zumindest festzuhalten, dass er nie eine ausschließlich gewaltfreie Religion gewesen ist.871 Entscheidend für die Klärung der Frage, wie der Hinduismus zur Gewalt steht, ist die notwendige Unterscheidung zwischen zwei Formen des Hinduismus: dem Hinduismus als Gesellschaftsform und dem Hinduismus als asketischer Heilsreligion.872 Diese Differenzierung muss beachtet werden, da beide
870 871 872
Yoga-Sutra, II,35. Vgl. Ceming: Gewalt und Weltreligionen, a. a. O., S. 89ff. Vgl. ebd.
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Ausprägungen ein grundsätzlich anderes Verhältnis zur heiligen Gewalt begründet haben.873 Die erste Richtung ist besonders durch das Kastensystem, dessen gewaltverhaftete Herkunft bereits thematisiert wurde, und die Lehre vom universellen und individuellen dharma geprägt. Der Begriff dharma kann mit Ordnung, Gesetz oder Pflicht wiedergegeben werden.874 Der Begriff des dharma beinhaltet dabei weit mehr als innerweltliche Ordnungsstrukturen, denn er bezeichnet über die irdischen Satzungen hinaus die alles ordnende Kraft des Kosmos. Dieser Ordnung ist in jedem Falle Gehorsam zu leisten. Das Wissen, was der Einzelne hierfür zu tun hat, gewinnt der Mensch aus der Zugehörigkeit zu seiner Kaste, die seine soziale Stellung und seine Handlungen von Geburt an normiert.875 Entscheidend für die Pflichten, die ein Mensch zu erfüllen hat, ist die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kaste als „Ideen- und Wertesystem“876. Für die zweite Form des Hinduismus, die hier als individuelle Heilsreligion interpretiert wird, steht nun nicht mehr der Kastenaspekt im Vordergrund, sondern das Streben nach Individualheil, das oft mit asketischen und individuellen Frömmigkeitsformen verbunden ist. Der Asket verlässt freiwillig die Gesellschaft. In der Gesellschaft leben, heißt Tod und Gewalt zu entgehen. Verlässt man seine Kaste, so verzichtet man auf Gesellschaft. Verzichtet man auf die Gesellschaft, so ist dies für viele Hindus ganz konsequent gleichbedeutend mit einem Weltverlust. Louis M. Dumont schreibt: „Durch den Weltverzicht kann ein Mensch in den Augen der Gesellschaft tot sein“877. Ziel der Askese ist die Befreiung (moksa) aus der Verstrickung mit dem Wandelbaren. Der Hinduismus als Gesellschaftsform hingegen verlangt von den Angehörigen der Kaste die bedingungslose Pflichterfüllung. Diese Pflichterfüllung erst führt zur allmählichen Befreiung. Das Ziel der Erlösung ist zwar in beiden Fällen gleich, der Weg zum Heil ist allerdings ein anderer.878 Der Erlösungsweg vollzieht sich über endlose Wiedergeburten in immer höhere Kasten, wenn in der jeweiligen Existenzform das eigene Kasten-dharma 873 874 875 876 877 878
Vgl. ebd. Vgl. Michaels: Der Hinduismus, a. a. O., S. 31. Vgl. Dumont: Gesellschaft in Indien, a. a. O., S. 39ff. Ebd., S. 56. Ebd., S. 225. Vgl. Ceming: Gewalt und Weltreligionen, a. a. O., S. 90.
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beachtet wird.879 Der Asket aber löst sich aus den gesellschaftlichen Banden und damit auch aus den Kastenpflichten. Er führt ein rein dem Kontemplativen verpflichtetes Dasein. Es ist notwendig, sich diese Differenzierung stets vor Augen zu halten, da sie maßgeblich den Umgang mit der Gewalt bestimmt. Für bestimmte Personengruppen innerhalb des Gesellschafts-Hinduismus ist Gewalt durchaus ein probates Mittel. Gewalt mag mitunter gar dem religiösen Heil zuträglich sein, z.B. bei der Verteidigung des Landes oder bei der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung.880 Die klassische indische Staatslehre rechnet durchaus mit der Möglichkeit, dass der Mensch grausam und gefährlich ist. Die Sozialordnung hat sich der Aufgabe der Domestizierung des Menschen zu widmen. Eine Welt, die sich keine gewalteinhegende Ordnung auferlegt, wird regiert durch das Gesetz des Stärkeren und der Gewaltentgrenzung. Das so genannte Gesetz der Fische ist die diesbezügliche Metapher aus der Tierwelt, die besagt, dass die Großen die Kleinen fressen und die Schwachen den Starken erliegen.881 Dieses Naturgesetz regiert auch den Menschen. Um es zu überwinden, braucht er eine stabile Ordnung. Nur durch die Ordnung, die der König zu garantieren hat, gelingt den Menschen die Flucht aus der Gewalt. „Gäbe es keinen König, so würde es im Staate zugehen wie bei den Fischen, wo der Stärkere den Schwächeren vernichtet.“882 Dem Staat, somit auch dem Krieger- und Fürstenstand, den Kshatriya, fällt in diesem Weltbild eine sehr umfassende Schutzpflicht zu, nämlich die, eine Ordnung aufzubauen und zu garantieren, um das gemeinsame Zusammenleben zu ermöglichen. Das durch die Kaste definierte dharma ist hier gleichbedeutend mit dem, was oben mit Heinrich Popitz soziologisch als die Eigengewalt der Ordnung bezeichnet wurde. Aus der Annahme eines gewaltsamen und chaotischen Naturzustands ergibt sich die umfassende und religiös sanktionierte Ermächtigung zum Gewaltgebrauch. Dies ist in den altindischen Fürstenspiegeln kodifiziert, insbesondere im Arthasastra des indischen Staatsdenkers Kautilya, 879 880 881
882
Vgl. Dumont: Gesellschaft in Indien, a. a. O., S. 225. Vgl. Ceming: Gewalt und Weltreligionen, a. a. O., S. 91. Vgl. Helmuth von Glasenapp: Der Hinduismus. Religion und Gesellschaft im heutigen Indien, Nachdruck der Ausgabe von 1922, München 1978, S. 257. Ebd.
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der eine derart enge Verbindung von Religion und Gewaltausübung herstellte, dass Max Weber sich zu dem Kommentar veranlasst sah: „[D]agegen ist Machiavellis ‚Principe‘ harmlos.“883 Da das Kastensystem als differenzierte gesellschaftliche Ordnung seine Existenz der Gründungsgewalt, wie dies die Analyse des Mythos der Opferung Purusas nahelegte, verstanden werden kann, drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass sich die opferrituelle Sakralgewalt im dharma des hinduistischen Kriegers fortsetzt. Lehnte das asketische Denken seit der Zeit der Upanishaden zwar das Opfer in seinen archaischen Erscheinungsformen ab, so findet das gewalttätige Sakrale über einen Formenwandel seinen Eingang ins Politische und somit in die Kshatriya-Ethik – das rituelle Opfer und der Heilige Krieg sind wahlverwandt.884 Es ergibt sich also ein insgesamt paradoxes Bild: Trennt sich in den Upanishaden das Heilige von der Gewalt, indem das ahimsa-Prinzip entfaltet und das Opfer spiritualisiert wird, so refusioniert sich das Heilige mit der Gewalt im Kasten-dharma des Kriegers. Dieses Spannungsverhältnis findet sich auch in der vielleicht berühmtesten Schrift des Hinduismus: der Bhagavadgita, die im folgenden Kapitel zum Gegenstand der Untersuchung wird.
2.2.2 Die Bhagavadgita Die Bhagavadgita,885 der Gesang des Erhabenen, ist für den traditionellen Hinduismus das Heilige Buch; vielen Hindus gilt es als der Grundtext des Hinduismus schlechthin. Innerhalb der Rahmengeschichte des großen Sanskritepos Mahabharata hat die Bhagavadgita, deren älteste Partien mutmaßlich aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. stammen, einen zentralen Platz. Das Problem der Gewalt steht im Mittelpunkt der Schrift. Die Erzählung berichtet von einer Schlacht zwischen den verwandten Stämmen der Kauravas und den Pandavas. Es handelt sich um eine Situation, die in vielen indischen Ursprungsmythen zu finden ist. Oft beginnt alles mit einer endlosen Schlacht zwischen Göttern, Dämonen, Geistern
883 884 885
Weber: Politik als Beruf, a. a. O., S. 83. Vgl. Teil I, Kap. 7. Bhagavadgita, aus dem Sanskrit übersetzt und hrsg. von Klaus Mylius, 2. Aufl., München 2002.
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oder Stämmen, sodass die Situation durch die schnelle und gewalttätige Reziprozität eskaliert und einer sakrifiziellen Lösung zugeführt werden muss.886 Die Handlung der Bhagavadgita setzt kurz vor dem Beginn einer derartigen Schlacht ein. Arunja, der für die Pandavas kämpfen soll, überfällt plötzlich der Zweifel. Es erscheint ihm falsch, gegen seine eigenen Verwandten, die sich in den gegnerischen Linien befinden, Gewalt anzuwenden. Dies aber wird von Arunja verlangt. Es geht in der Bhagavadgita nicht darum, ob es ethisch vertretbar ist, Gewalt anzuwenden. Arunja ist durch Geburt Kshatriya und so gehört es zu seinen von der Kaste auferlegten Pflichten, zu seinem Krieger-dharma, die Ordnung durch heilige Gewalt zu garantieren. Doch hier handelt es sich um einen besonderen Fall, denn Verwandte drohen einander umzubringen. Arunja kommt zu dem Schluss: „Daher dürfen wir die Dhrtarastra-Söhne / als unsere Verwandten nicht töten. / Das eigene Geschlecht getötet habend – / Wie sollten wir glücklich sein […]?“887 So lässt Arunja die Waffen sinken und will sich lieber wehrlos erschlagen lassen, als seiner Kastenpflicht nachzukommen. Tatsächlich will sich Arunja nicht in die gewalttätige Reziprozität hineinziehen lassen. Er leistet Widerstand: „Wenn mich als Widerstandslosen, Unbewaffneten / die waffentragenden Dhrtarastra-Söhne / im Kampf mich töten würden, / dann wäre mir das lieber.“888 Nachdem Arunja sich unwillig zeigt, seine Nächsten zu töten, entspinnt sich ein Gespräch zwischen Arunja und seinem Wagenlenker Madhava, der aber kein Geringerer als der Gott Krishna, eine Inkarnation des alten Gottes Vishnu, ist. Krishna wendet sich nun in der Bhagavadgita Arunja zu, um ihn die Grundsätze pflichtgemäßen Handelns zu lehren, die für Arunja darin bestehen, seinem dharma als Krieger zu folgen. Krishna fordert ihn auf, seine Pflichten nicht zu verletzen. Ein kriegerischer Held zu sein, ist seine Pflicht. Das Gebot der Stunde lautet Stärke: „Die elende Herzensschwachheit lass fahren! / Erhebe dich, Feindezüchtiger!“889 Krishna versucht daher an Arunjas Ehrgefühl und an seine Krie-
886 887 888 889
Vgl. Girard: Ausstoßung und Verfolgung, S. 49. Bhagavadgita, a. a. O., S. 27. Ebd., S. 28. Ebd., S. 29.
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gerpflicht zu appellieren. Die Gewalt ist notwendig und „etwas Besseres als pflichtgemäßen Kampf / gibt es für einen Krieger nicht.“890 Krishnas Argument zielt letztendlich darauf, einen dharma-Konflikt aufzulösen. Die Kastenpflicht des Kriegers überwiegt und bricht die Verpflichtungen gegenüber der eigenen Verwandtschaft und dem ahimsa-Prinzip. Die hinduistische Grundüberzeugung, dass das dharma die ethische, soziale und religiöse Ordnung garantiert, stellt somit das Fundament der Argumentation Krishnas dar, der auf diesem Weg der Ausübung der heiligen Gewalt ihre Legitimation verschafft. Die Verbindung des Heiligen und der Gewalt tritt dabei deutlich hervor und verbindet sich bruchlos mit der religiösen Heilslehre. Max Weber kommentierte die Bhagavadgita: „‚Tue das Notwendige‘ – d.h. das nach dem dharma der Kriegerkaste und ihren Regeln pflichtgemäße, dem Kriegszweck entsprechend sachlich notwendige – ‚Werk‘: das schädigt das religiöse Heil nach diesem Glauben nicht, sondern dient ihm.“891 Dabei bestätigt sich die oben aufgestellte These, dass das gewalttätige Sakrale im dharma der Kriegerkaste überlebt. Um Arunja von seiner Kampfespflicht zu überzeugen, offenbart sich ihm im elften Gesang Krishna in einer grässlichen, die Welten erschütternden Gottesgestalt. Gleichwohl Krishna vom Opferkult unabhängig ist – von sich selbst kann er behaupten: „Über den Opfern stehend, bin ich hier“892 – scheint sich doch ganz wie bei den mythischen Göttern die Dynamik der Gewalt in seiner Erscheinung zu manifestieren: „Deine große Gestalt mit vielen Mündern, Augen, / o Großarmiger, mit vielen Armen, Schenkeln, Füßen, / mit vielen Bäuchen, vielen grausigen Zähnen gesehen habend, / erzittern die Welten wie auch ich. / Das Firmament berührend, leuchtend, mannigfarbend, / mit geöffneten Mund und flammenden großen Augen – / dich so gesehen habend, zittert mein inneres Selbst, / und ich finde nicht Festigkeit noch Ruhe“893.
Daraufhin sieht der entsetzte Arunja die Schlachtformationen plötzlich auf den göttlichen, flammenumzüngelten Rachen zurasen. Das Wechselspiel des Heili890 891
892 893
Ebd., S. 32. Weber: Politik als Beruf, a. a. O., S. 83. Weber fährt auf derselben Seite fort: „Diese Spezialisierung der Ethik ermöglichte der indischen Ethik eine gänzlich ungebrochene, nur den Eigengesetzen der Politik folgende, ja diese radikal steigernde Behandlung dieser königlichen Kunst.“ Bhagavadgita, a. a. O., S. 62. Ebd., S. 77.
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gen und der Gewalt beginnt – die Krieger werden in einen Todessog hineingezogen, alles versinkt in der Gewalt und alle geraten in den Rachen Krishnas: „Wie der Flüsse viele Wasserwogen / ins Meer, ihm zugewandt, laufen, / so geraten diese Helden aus der Menschenwelt / in deine ringsum flammenden Münder. / Wie die Motten in das flammende Meer / zur Vernichtung geraten mit großer Schnelligkeit, / so geraten zur Vernichtung auch die Menschen / in deinen Rachen mit großer Schnelligkeit. / Heftig leckst du, verschlingend allerwärts / mit glühenden Mündern sämtliche Menschen.“894
Krishna bestätigt Arunja, dass er die Gewalt ist, die die Menschen in den Untergang reißt. Es kommt zu einer gewaltsamen Epiphanie des Heiligen. „Ich bin die mächtige Zeit, die den Untergang / der Welt bewirkt; erschienen, um alle Menschen hier / dahinzuraffen. Auch ohne dich werden alle (hier) / in den Schlachtreihen aufgestellten Kämpfer (einmal) nicht (mehr) sein. / Darum erhebe dich! Erwirb Ruhm! / Nach dem Sieg über die Feinde genieße reiche Herrschaft! / Von mir wurden diese früher schon getötet; / sei du nur Werkzeug, o beidhändiger Geschickter!“895
Der Gott hat bereits alle Menschen getötet, bevor Arunja zur Waffe greift; er ist nur noch das Werkzeug des göttlichen Willens, das sich der Wucht heiliger Gewalt beugen muss. Deutlich wird die Ambivalenz des Heiligen mit seinen lebensspendenden und todbringenden Eigenschaften in der Figur Krishnas. Das Heilige vernichtet das Leben, um es wieder zu verschenken. Nachdem Krishna die Welten erschütterte und alles in der Gewalt auflöste, zeigt er plötzlich seine milde Seite: „Nicht soll dich Zittern befallen, nicht Verwirrung, / nachdem du diese so schrecklich beschaffene Gestalt von mir gesehen hast. Von Furcht befreit, frohen Sinnes, sollst du mich / wieder in dieser meiner (eigentlichen) / Gestalt sehen.“896 Das Heilige verbleibt also ambivalent. In einem weiteren Schritt, Arunja zu überreden, greift Krishna zurück auf die so genannte Samkhya-Philosophie, die für die hinduistische Ethik auch abseits der Bhagavadgita von großer Bedeutung
894 895 896
Ebd. Ebd., S. 78. Ebd., S. 80.
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ist und die sich zuerst in den Upanishaden findet.897 Die Seele gilt gemäß der Vorstellung des Samkhya als unzerstörbar, ewig, ungeboren und nicht schwindend. Vernichtet werden kann nur der materielle Körper; die Seele aber wechselt den Körper wie ein Mensch seine Kleider. „Wie ein Mann die abgenutzten Kleider ablegt / und andere, neue nimmt, / so legt die Seele die verbrauchten Körper ab / und tritt in andere neue ein.“898 Die Seele ist unsterblich, sie kann nicht getötet werden. Man erkennt die gefährlichen Konsequenzen dieser dualistischen Auffassung der Samkhya-Philosophie sofort, denn sie eröffnet eine Rechtfertigung für jegliche Form der Gewalt: Mit ruhigem Gewissen darf getötet werden, denn der Seele geschieht nichts Schlimmes. Der Leib ist bloß ein Kleid, das mit dem Tode abgelegt wird, um sodann ein neues anzulegen. Daher soll Arunja seine Bedenken fahren lassen und die Schlacht eröffnen. Trotz allem ist die Bhagavadgita nicht ein auf Tod, Opfer und Gewalt fixiertes Heldenepos. Neben der Aufforderung zur Gewalt, wird in der Bhagavadgita mehrmals auf das ahimsa-Prinzip rekurriert. Im sechzehnten Gesang heißt es: „Nichtverletzung, Wahrheit, Zornlosigkeit, / Verzicht, Friede, Nichtverleumdung, / Mitleid mit den Geschöpfen, Begierdelosigkeit, / Milde, Scham, kein Lichtsinn – / Glanz, Geduld, Festigkeit, / Reinheit, Nichtfeindlichkeit, Hochmutlosigkeit – / (dies) sind die (Eigenschaften) / eines zu göttlichem Dasein Geborenen“899. Aber wie ist das ahimsa-Prinzip vereinbar mit dem Appell an Arunja, seiner Kastenpflicht, der Verbindung des Heiligen und der Gewalt in Form des Krieger-dharma nachzukommen? Der Kämpfer, so antwortet die Bhagavadgita, soll sein Selbst als nicht-handelnd erleben. Das Paradox läuft darauf hinaus, dass die gute Tat die Nichttat ist. Die innere Bindung an die Tatenfrucht ist vollständig aufzulösen: „Wer in der Tat die Nichttat sieht / und in der Nichttat wiederum die Tat, / der ist ein Einsichtsvoller unter den Menschen, / gesammelten Geistes alle Taten verrichtend.“900 Das Selbst also handelt nicht, und deshalb trifft es auch keine Schuld, wenn es tötet: „auch wenn er (alle) diese Wesen getötet hat, / tötet er nicht und 897
898 899 900
Vgl. Oldenberg: Die Lehre der Upanishaden und die Anfänge des Buddhismus, a. a. O., S. 202ff. Bhagavadgita, a. a. O., S. 31. Ebd., S. 94f. Ebd., S. 45.
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wird nicht (von Schuld) gefesselt.“901 Nicht die Handlungen, sondern die innere Haltung sind das entscheidende Kriterium für Krishna. Max Weber erläutert: „Wie der alte Christ ‚recht tut und den Erfolg Gott anheimstellt‘, so tut der Bhagavadgita-Verehrer das ‚notwendige Werk‘, wir würden sagen: ‚die Forderungen des Tages‘ –, ‚die von der Natur bestimmte Obliegenheit‘. Und zwar, – entsprechend der Exklusivität der Kastenpflichten, – nur diese und keine andere, ohne alle Bekümmertheit um die Folgen und vor allem: um den Erfolg für sich selbst.“902
Solange aber Arunja nicht aus Mordlust oder Machtgier, sondern aufgrund seiner Kastenpflicht in den Krieg zieht, solange bleibt er im ahimsa.903 Dieser Gedankengang erscheint als leicht durchschaubares Argument, um Gewalt zu rechtfertigen. Aber vor dem Hintergrund der Gewalt- und Opfersituation, von der die Religionsgeschichte von ihren archaischen Ursprüngen her geprägt ist, ist hier eine Wandlung des Denkens festzustellen: Gewalttätiges Handeln ist in diesem Denken nicht mehr heiliges Handeln. Es gehört zum samsara, zum ewigen Kreislauf von Geburt, Tod und Wiedergeburt, aus dem der Mensch frei zu werden sucht. Nicht mehr die Gewalt erscheint als heilig und erhebt den Menschen in sakrale Kreise, sondern das kontemplative Sich-Besinnen, die innere Ablösung von den Dingen der Welt, von Hass und Begierde. Es erfolgt eine Säkularisierung, eine Entgöttlichung der Gewalt.904 Auch wenn sich im Krishna der Bhagavadgita noch klar die Züge des archaisch-gewalttätigen Sakralen zeigen, so verehrt das Lehrgedicht nicht mehr die Gewalt als das Heilige.905 Zwar gebietet die Kastenpflicht die Verschiebung der heiligen Gewalt auf einen Feind, aber nur wenn diese aus Gründen der dharmaPflicht ausgeübt wird, nicht aber um bestimmte Ziele zu erreichen. Unberührt von allem soll man nur in sich selbst ruhen und, solange es das dharma nicht anders gebietet, gegenüber Freund und Feind eine freundliche Haltung einnehmen. „Wer gegen Wohlgesinnte, Freunde, Feinde, / Neutrale, Unparteiische, Verhasste und Verwandte, / gegen Gute wie auch Böse gleichgesinnt ist, / ragt hervor.“906 901 902 903 904 905 906
Ebd., S. 103. Weber: Hinduismus und Buddhismus, a. a. O., S. 138. Vgl. Baudler: Gewalt in den Weltreligionen, a. a. O., S. 99. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Bhagavadgita, a. a. O., S. 53.
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Folgen die Menschen nicht diesem Gebot, so bereiten sie sich ihre eigene Hölle, die darin besteht, auf ewig in dem Kreislauf des Leides und des Wiedertodes eingespannt zu bleiben. Schließlich, im Unterschied zu den Gottheiten der Monotheismen, findet Krishna die Verehrung anderer Götter unproblematisch. „Und was für eine (göttliche) Gestalt auch immer irgendein Frommer gläubig verehren will, diesen Glauben befestige ich!“907 Die vielbeschworene Toleranz des Hinduismus hat hier ihre Ursache. In- und Exklusionsmechanismen, die sich über die Ausformulierung monotheistischer Wahrheiten mit Absolutheitsanspruch ausbildeten, kennt der Hinduismus nicht. Trotzdem ist der Bhagavadgita immer noch ein enormes Gewaltpotenzial inhärent, da sich Krieger- und Asketenethik wechselseitig durchdringen: Das Heilige und die Gewalt werden zwar durch den ahimsaGedanken voneinander entfernt und verschmelzen nicht wie im archaischen Mythos. Dennoch sind sie in der Bhagavadgita nicht restlos voneinander getrennt.908 Die vollständige Trennung des Heiligen von der Gewalt hat sich für die Bhagavadgita erst in der Neuzeit durch die Reinterpretation Gandhis vollzogen. Gandhi entzieht dem gewalttätigen Krieger-dharma, dem archaischen Relikt der ursprünglichen Gründungsgewalt, seine Legitimation.909 Er kombinierte das ahimsa-Prinzip, ein „Geschenk des Hinduismus an die Welt“910, mit der Ethik bedingungsloser Feindesliebe, die er aus der Lektüre des christlichen Evangeliums gewann. In seiner Autobiographie notiert Gandhi: „Mein junger Geist versuchte, die Lehre der [Bhagavad]Gita, des ‚Light of Asia‘ und die Bergpredigt zu verbinden. Dass Entsagung die höchste Form der Religion sei, sprach mich sehr an.“911 Auf diese Weise konnte Gandhi entmythologisierende Effekte in den Hinduismus implementieren und die Bhagavadgita von Restbeständen archaischer Gewalt reinigen. Vor allem die bedingungslose Entsagung der Gewaltausübung wurde Gandhis Ziel, zumal, so fährt er in seinem Lebensbericht fort, „die Bergpredigt recht nach meinem Herzen war. Ich verglich sie mit der [Bhagavad]Gita. Die Stelle ‚Ich aber sage euch, dass ihr dem Übel nicht widerstehen 907 908 909 910 911
Ebd., S. 60. Vgl. Baudler: Krieg und Gewalt in den Weltreligionen, a. a. O., S. 100. Vgl. Dieter Conrad: Gandhi und der Begriff des Politischen, S. 63. Ebd. Mohandas Karamchand Gandhi: Eine Autobiographie. Oder die Geschichte meiner Experimente mit der Wahrheit, 8. unveränderte Aufl., Gladenbach 2005, S. 70.
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sollt; sondern so dir jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete den anderen auch dar. Und so dir jemand deinen Rock nimmt, dem lass auch den Mantel‘ entzückte mich über die Maßen“912.
2.2.3 Askese und die Sakralisierung der Gewalt im Selbstopfer Der Krieger richtet Gewalt gegen andere, der Asket richtet Gewalt gegen sich selbst. Die Gewalt des Kriegers bezweckt den Sieg in der Schlacht, die Gewalt des Asketen hat den Sieg über die Götter zum Ziel.913 An den frühen Beispielen der indischen Askese lässt sich ablesen, dass die Askese ein überaus leidvolles Geschäft gewesen sein muss und nicht immer durch das ahimsa-Prinzip gemäßigt werden konnte. Richtet man den Blick auf die Geschichte des Königs Shibi, einer entlegenen Episode aus dem Mahabharata, von der Konrad Meisig berichtet, so wird schnell deutlich, dass man es im Fall der indischen Askese mit neuen Verbindungen des Heiligen und der Gewalt zu tun hat. König Shibi veranstaltete einst ein Opferfest, um von den Göttern den Sieg in einer Schlacht zu erzwingen.914 Daraufhin stellen aber die Götter seine Opferbereitschaft auf die Probe. Der Gott des Feuers, Agni, verwandelt sich in eine Taube und der Kriegsgott Indra in einen Habicht. Die Taube, verfolgt vom Habicht, kommt zum König und bittet um Schutz vor ihrem Verfolger.915 Die Situation ist als dichterische Metapher für eine bereits aus der Bhagavadgita bekannte Situation zu verstehen, denn der König wird unverschuldet in einen dharmaKonflikt hineingezogen: Asylrecht und Beuterecht stehen im Widerspruch. Die Taube hat sich in seinen Machtbereich geflüchtet, und es ist daher einerseits die Pflicht des Königs, ihr Schutz zu gewähren. Andererseits muss der König ebenfalls das Beuterecht des Habichts respektieren, vor allem, da der Habicht auf die Beute als seine Lebensgrundlage angewiesen ist und der König der Pflicht untersteht, in seinem Reich für ausreichend 912 913
914 915
Ebd. Vgl. Konrad Meisig: Krieg und Gewalt im Hinduismus, in: Adel Theodor Khoury (Hrsg.): Krieg und Gewalt in den Weltreligionen. Fakten und Hintergründe, Freiburg im Breisgau 2003, S. 6782, S. 69. Vgl. ebd. Vgl. ebd.
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Nahrung zu sorgen. Der König versucht den Konflikt aufzulösen, indem er dem Habicht ein bereits erlegtes Tier als alternative Nahrung anbietet. Diesen Vorschlag lehnt der Habicht mit dem Hinweis ab, dass er gemäß seiner Natur seine Beute frisch erlegen müsse, damit sie für ihn genießbar bleibe und er sich am Leben erhalten könne. So sieht der König nur einen Ausweg. Er bietet ihm das frische Fleisch seines eigenen Körpers an, und zwar so viel, wie es dem Gewicht der Taube entspricht. Der Habicht akzeptiert das Arrangement. Der Gedankengang erscheint dabei durchaus folgerichtig, denn nur durch sein eigenes Fleisch beschneidet der König nicht das Recht auf Unversehrtheit seiner Untertanen, nur wenn er selbst freiwillig leidet, kann der König beide Pflichten, Asylrecht und Beuterecht, in Einklang bringen.916 Also lässt Shibi eine Waage herbeibringen, greift zum Messer und schneidet sich ein Taubengroßes Fleischstück aus dem Körper, legt es in die Waagschale und versucht die korrekte Größe zu ermitteln. Die Probe der Opferbereitschaft des Königs ist aber noch nicht bestanden. Die Taube wird durch einen Götterzauber immer schwerer und schwerer, sodass der König gezwungen ist, mehr und mehr Fleisch seines eigenen Körpers preiszugeben. Der dämonische Charakter der Götter fordert schließlich das ganze Opfer des Königs. Es kommt zu dem grausamen Ende, dass der König kein Fleisch an seinem Körper findet, dennoch am Leben bleibt und sein blutiges Gerippe die Waage besteigt. An diesem Punkt ist das Maximum an Leidensbereitschaft erreicht und die Götter beugen sich nach dem vollzogenen Selbstopfer der Leidensfähigkeit des Königs. So geben sie sich als Indra und Agni zu erkennen.917 Der Habicht spricht: „Ich bin Indra, o Dharmakundiger, und diese Taube hier ist der, der das Opfer den Göttern bringt (= Agni). Mit dem Wunsch, dich in einem dharma-(Konflikt) kennenzulernen, sind wir beide zum Opferplatz gekommen. Weil du die Fleischstücke aus deinen Gliedern herausgeschnitten hast, (deshalb) wird dieser dein leuchtender Ruhm über die Welten hinausreichen. Solange, wie die Menschen in der Welt von dir erzählen, o Erdenherr, werden der Ruhm und die Welten, die ewig beständen, dir zur Verfügung stehen.“918
916 917 918
Vgl. ebd., S. 70. Vgl. ebd. Zitiert nach ebd.
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Die Situation des dharma-Konflikts wird aufgelöst. Die Gewalt, die der König sich selbst antut, macht sich bezahlt. Er erhält nicht nur seinen Körper zurück, sondern sein Ruhm reicht bis in den Kriegerhimmel hinein. Das Gleichnis vom König Shibi und der Taube verdeutlicht paradigmatisch den Grundgedanken der Askese: Leiden erdulden, um das Heil zu erlangen. Der Mythos von König Shibi setzt den Akzent auf das asketische Selbstopfer. In dieser speziellen Form des Mythos wird behauptet, dass die Opfer freiwillig in den Tod gehen.919 Allerdings kann von Freiwilligkeit im Shibi-Mythos nicht die Rede sein, denn es ist ja ein Konflikt mit der heiligen Ordnung, der Shibi dazu veranlasst, als einzigen Ausweg das Selbstopfer zu wählen. Das Opfer Shibis tritt zwar als freiwilliges Selbstopfer auf, aber diese Freiheit wird durch ein subtiles, im Hintergrund operierendes Zwangsmoment gesteuert: den dharma-Konflikt. Die hinduistische Ordnung verdankt sich dem Uropfer Purusas und die übersteigerte Askese, so hat es den Anschein, kehrt zu dieser Urgewalt zurück: Wieder wird das Heilige durch Gewalt gestiftet.920 Das Zwangselement ist hier entscheidend, denn es macht deutlich, dass die Zustimmung zum freiwilligen Selbstopfer mitnichten auf Freiwilligkeit beruht und deshalb ganz in die Welt der archaischen Mythen gehört. Das Beispiel von König Shibi, der noch als blutiges Skelett seine dharma-Pflicht erfüllt, ist bereits beunruhigend genug. Der hinduistische Einfallsreichtum hat hierzu aber noch Steigerungen ersonnen. Die asketische Gewalt kann sich nicht nur gegen den eigenen Körper richten, sondern sich ebenfalls in das unmittelbare Umfeld ergießen. Eine weitere Episode aus dem Mahabharata erzählt, wie ein opferbereiter König, der ebenfalls den Namen Shibi trägt, von einem Gott namens Vidhatri auf die Probe gestellt wird.921 Dieser Gott tritt als Brahmane getarnt an Shibi heran und fordert zum Beweis seiner Opferbereitschaft dessen eigenen Sohn als Speise. Ohne zu zögern opfert der König seinen Sohn und bringt ihn dem Brahmanen als Mahl dar. Er lässt sich irritierenderweise keinen Moment von seinem Vorhaben abbringen, auch nicht als man ihm berichtet, dass derselbe Brahmane, der das Sohnopfer fordert, im Begriff ist, den Palast des Königs niederzubrennen und all seine Habe 919 920 921
Vgl. Girard: Ausstoßung und Verfolgung, a. a. O., S. 86. Vgl. Baudler: Gewalt in den Weltreligionen, a. a. O., S. 57. Vgl. Meisig: Krieg und Gewalt im Hinduismus, a. a. O., S. 73.
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zu vernichten.922 Als Shibi trotz allem dem Brahmanen seinen Sohn als Opfer anbietet und sogar der Aufforderung, das Gericht selbst zu essen, nachkommt, gebietet der Brahmane den Grausamkeiten endlich Einhalt. Shibi habe den Zorn endgültig besiegt, denn es gebe nichts, was er nicht aufgeben würde. Er gibt sich als Vidhatri zu erkennen und entschwindet. Im selben Moment steht der Sohn des Königs, zu neuem Leben erweckt und schöner als vorher, wieder vor seinem Vater.923 Dieser Vorgang erinnert sofort an das Sterben und die Wiederauferstehung der archaisch-rituellen Opfer. Mit dem Opfer des Sohns ist außerhalb Indiens an erster Stelle die Versuchungslegende von Abraham und Isaak vergleichbar. Abraham handelt natürlich nicht aus asketischen Motiven, sondern um die Festigkeit seines Glaubens zu demonstrieren.924 Entscheidend war für die jüdischchristliche Tradition, dass das Opfer Isaaks durch Zuruf eines Engels verhindert wird. Obwohl ein Ersatzopfer vollzogen werden muss – der Widder wird anstatt des Sohnes geopfert – so ist doch der erste Schritt vom Menschen- zum Tieropfer getan. Dieser gewalteinhegende Sprung wird aber im Mythos von König Shibi gerade nicht vollzogen. Schließlich ist noch auf einen weiteren Zusammenhang zwischen Askese925, Religion und Gewalt hinzuweisen. Auch ein übersteigerter ahimsa-Gedanke kann zur Sakralisierung der Gewalt führen. Dies lässt sich am Beispiel des Jainismus zeigen. Jain, der zur Zeit des Buddha lebte und wirkte (ca. 6. Jahrhundert v. Chr.), radikalisierte das ahimsa-Denken. Das ahimsa-Gebot ist im Jainismus wahrlich auf die äußerste Spitze getrieben. „Korrekte Jaina brennen in der dunklen Jahreszeit kein Licht, weil es Motten verbrennen, zünden kein Feuer an, weil es Insekten töten würde, sieben das Wasser, ehe sie es kochen, tragen einen Mund- und Nasenschleier, um das Einatmen von Insekten zu hindern, lassen sorgfältig jede Stelle der Erde, die sie betreten, mit weichen Besen fegen, scheren Kopf und Leib nicht (raufen statt dessen die Haare mit den Wurzeln aus), um nicht Läuse mit der Schere töten zu müssen.“926 922 923 924 925
926
Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Wir folgen hier einem Gedanken von Axel Michaels, bei dem zu lesen ist: „Askese ist Selbstopfer.“ Siehe Michaels: Der Hinduismus, a. a. O., S. 354. Max Weber: Hinduismus und Buddhismus, S. 144f.
231
Jain, motiviert durch den Wunsch, nichts und niemanden zu verletzen, verzichtete schließlich sogar auf die Aufnahme von Nahrung und starb den Hungertod.927 Ist es aber tatsächlich der Ausdruck eines letzten und umfassenden Gewaltverzichts, sogar auf die bettelnd ausgestreckte Hand zu verzichten, um sich am Leben zu erhalten? Oder ist es andererseits nicht auch Gewalt gegen sich selbst, den freiwilligen Hungertod zu sterben? Jain, der ein Angehöriger der Kriegerkaste war, ging den Weg des Nicht-Verletzens und Nicht-Tötens geradezu in militaristischer Strenge zu Ende. So sind seine Namen auch Mahavira, ‚großer Held‘, und Jina, ‚Sieger‘. Aber, so kann man mit Baudler fragen: Ist sein Tod tatsächlich auch ein gewaltfreies Selbstopfer?928 Zwar ist das Zwangselement, das zum Opfer führt in diesem Fall nicht durch Fremd-, sondern durch Eigenzwang gesteuert. Ein dharma-Konflikt als ein im Hintergrund operierendes Zwangsmoment liegt bei Jain, im Unterschied zu Shibi, nicht vor. Auch wird mit der Askese keine kollektive Gewalt angeprangert, wie es der entmythologisierende Sinn des christlichen Passionsgeschehens war. Die Pforte zum Reich des Heiligen wird im Falle Jains durch Gewalt gegen den eigenen Körper aufgestoßen. Das Mittel, um ins Heilige zu gelangen, ist hier der Selbstmord. Aus dieser Haltung stammt letztlich auch, so Durkheims Beobachtung, das Asketentum, dessen Ziel es ist, aus dem Menschlichen alles auszumerzen, was ihn noch an die profane Welt bindet. Daher auch alle Formen des religiösen Selbstmordes, der die logische Krönung dieses Asketentums sei. Denn, so Durkheim, die einzige Art, um dem profanen Leben ganz zu entfliehen, ist schließlich, ganz dem Leben zu entsagen.929 Das grundlose Selbstopfer als konsequenter Ausdruck der Weltverneinung, führt so zu einer Gewaltsakralisierung, die die Trennung des Heiligen und des Profanen niederreißt und das Profane schließlich ganz vernichtet. Es handelt sich also um einen Prozess der Selbstausstoßung, der kein Verfolgerkollektiv mehr benötigt, um die Gewalt als heilig zu erleben.
927 928 929
Vgl. Baudler: Gewalt in den Weltreligionen, a. a. O., S. 57 Vgl. ebd. Vgl. Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, a. a. O., S. 66.
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2.3 Buddha und der »mittlere Weg« „Ein jedes Wesen scheut die Qual, Ein jedes Wesen flieht den Tod: Erkenne dich in jedem Sein, Und quäle und töte nicht.“930 (Dhammapada)
Kaum eine andere Religion genießt, was die Gewaltproblematik angeht, weltweit eine so hohe Achtung, wie der Buddhismus.931 Mit ihm werden Eigenschaften wie Friedfertigkeit, Sanftmut und Gleichmut verbunden. In Deutschland, so Armin Nassehi, hat der Buddhismus von allen Weltreligionen die „beste Presse als friedliche Religion und der Dalai Lama – ja, man muss es so formulieren – als ‚Popstar des Religiösen.‘“932 Abseits von derartigen Einschätzungen hat bereits Max Weber in der Lehre des Buddha Analogien zur Bergpredigt und ihrer liebesethischen Forderungen absoluter Gewaltfreiheit hervorgehoben: „Die ganz universelle Erfahrung: dass Gewalt stets Gewalt aus sich gebiert, dass überall soziale und ökonomische Herrschaftsinteressen sich mit den idealsten Reform- und vollends Revolutionsbewegungen vermählen, dass die Gewaltsamkeit gegen das Unrecht im Endergebnis nicht zum Sieg des größeren Rechts, sondern der größeren Macht und Klugheit führt, bleibt mindestens der Schicht der intellektuellen Nichtinteressierten nicht verborgen und gebiert immer neu die radikalste Forderung der Brüderlichkeitsethik: dem Bösen nicht mit Gewalt zu widerstehen, welche dem Buddhismus mit der Predigt Jesu gemeinsam ist.“933
Zweifellos begründen die buddhistischen Ur-Kunden einen strengen Pazifismus auf der Grundlage der ahimsa-Lehre. Anders als in den eher offensiven Texten der jüdisch-christlich-islamischen Tradition begegnet dem Interpreten der heili930
931
932
933
Dhammapada. Der Wahrheitspfad, übertragen von Karl Eugen Neumann und hrsg. von Konrad Dietzelfinger. Mit einer Einführung von Bede Griffiths, Königsdorf 2006, S. 46. Auch wenn Georg Schmid darauf hinweist, dass es sich bei diesem Bild um eine Idealisierung handeln dürfte, so darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass Gewalt im Namen des Buddhismus nur schwer zu rechtfertigen sein dürfte, ohne mit den religiösen Leitentscheidungen zu kollidieren. Siehe Georg Schmid: Buddhismus – Von der Idealreligion zur paradoxen Realität, in: Reinhard Hempelmann und Johannes Kandel (Hrsg.): Religionen und Gewalt. Konflikt- und Friedenspotenziale in den Weltreligionen, Göttingen 2006, S. 315-326, S. 315ff. Armin Nassehi: Erstaunliche religiöse Kompetenz. Qualitative Ergebnisse des Religionsmonitors, in: Religionsmonitor 2008 der Bertelsmann-Stiftung, Gütersloh 2008, S. 113-132, S. 128. Weber: Religiöse Gemeinschaften, a. a. O., S. 130.
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gen buddhistischen Texte wie dem Pali-Kanon oder dem Dhammapada eine Welt temperierter Gelassenheit. Für die soziologische Betrachtung ist es eine bezeichnende Besonderheit des Buddhismus, dass sich das buddhistische Gedankensystem nicht aus einem von Gewalt regierten Urzustand herleitet. An keiner Stelle finden sich Hinweise auf archaische Urtötungen, zornesrasende oder eifersüchtige Götter, Verfolgungs- und Ausstoßungserzählungen, Sündenbockeffekte oder anderweitige mythische Elemente.934 Das sakrifizielle Denken, dass die Gewalt in Form der Opfertötung rechtfertigen musste, um die gesellschaftliche Binnenkohäsion aufrecht erhalten zu können, so die im Folgenden freilich noch auszuführende These, ist dem Buddhismus gänzlich fremd.935 Dies deutet sich bereits im Gründungsmythos des Buddhismus an, der mit der Lebensgeschichte von Siddhartha – so der weltliche Name des Erwachten – identisch ist. Siddhartha wächst behütet als Sohn eines mächtigen Königs auf. Der Wendepunkt ist erreicht, als er den Entschluss fasst, die Welt außerhalb des täglichen Luxus der Königspaläste kennenzulernen. Dort trifft er auf das reale Leben – auf Schmerz, Elend, Gewalt, Alter und Tod.936 Erschüttert von der Erkenntnis, dass auch er in dieser Welt gefangen ist, beschließt Siddhartha in die Hauslosigkeit zu ziehen. Er beginnt eine Laufbahn als religiöser Virtuose und praktiziert qualvollste Praktiken extremer Askese. Doch das asketische Selbstopfer führt nicht zur Befreiung aus seinen Leiden. Erst als sich Siddhartha ruhig und friedlich unter einen Baum setzt, erlebt er die Erleuchtung, die schließlich zur Ausformulierung der vier hohen Wahrheiten führt.937 Hervorzuheben ist hier zunächst die völlige Gewaltlosigkeit des buddhistischen Gründungsereignisses. Das Ausbleiben einer mythischen Gründungsgewalt im Opfer ist für alle weiteren Lehren des Buddhismus wegweisend. Weder wird der Buddha zu einem Gott, noch ist die Lehre, die er vertritt, an einen Kult oder seine Person gebunden. Besonders deutlich wird dies in einem luziden Vergleich, den Joseph Ratzinger unternommen hat. Jesus und seine Botschaft unterscheiden sich ganz grundsätzlich vom Anliegen des Erleuchteten. Denn der Bud934 935 936
937
Vgl. Leo D. Lefebure: Revelation, The Religions, and Violence, New York 2000, S. 162. Vgl. ebd. Vgl. Peter Gäng: Buddhismus, 2., vollständig überarbeitete Aufl., Frankfurt am Main 2002, S. 30ff. Vgl. ebd., S. 41.
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dha – und darin ist es Sokrates vergleichbar – verweist von sich weg. Es kommt nicht auf seine Person an, sondern einzig auf den Weg, den er den Menschen zeigt. Wer den Weg findet, darf Buddha getrost vergessen. Aber bei Jesus kommt es eben gerade auf seine Person, auf ihn selbst an, da er der inkarnierte Gottes selbst ist.938 Der buddhistische Heilsweg bedeutet, dass ein Weg intellektueller Individualerkenntnis beschritten werden muss, sofern man der Erlösung teilhaftig werden möchte. Obwohl der Buddhismus somit soziologisch völlig anders als die nahöstlichen Traditionen strukturiert ist,939 lassen sich hinsichtlich der Beurteilung der Gewaltaspekte des Opferkultes dennoch bemerkenswerte Parallelen ausfindig machen. Die Ausformulierung einer Ethik der Gewaltfreiheit führt zu einer Kritik an den Opferkulten. Das folgende Kapitel wird zeigen, dass das Opfer nicht wie im Christentum aufgrund eines Aktes der Offenbarung, der dem Opfermechanismus die persekutorische Nichtbewusstheit entzieht, aufgehoben wird, sondern dass das Opfer aufgrund einer intellektuellen Einsicht in das Hauptkonstituens des Opfers, die Gewalt, nicht mehr akzeptabel ist.
2.3.1 Ablehnung und Substitution des archaischen Opfers Der klassische Ausdruck dafür, wie die alte buddhistische Gemeinde über das Opfer dachte, ist in einem Gespräch Buddhas mit einem Brahmanen überliefert, der an den Buddha die Frage nach den Eigenschaften eines rechten Opfers richtet.940 Buddha erzählt in der Kutadantasutta die Geschichte von einem mächtigen König der Vorzeit, der nach gewaltigen Siegen über seine Feinde und der Eroberung des gesamten Erdkreises den Entschluss fasste, den Göttern ein großes Opfer darzubringen. „Erworben hab` ich gar vielfachen menschlichen Reichtum, den gewaltigen Erdkreis hab` ich erobert als Herrscher; wie, wenn ich nun ein
938 939
940
Vgl. Ratzinger: Einführung ins Christentum, a. a. O., S. 19. Vgl. Michael von Brück und Whalen Lai: Buddhismus und Christentum. Geschichte, Konfrontation, Dialog, mit einem Vorwort von Hans Küng, München 1997, S. 289ff. Vgl. Oldenberg: Buddha, a. a. O., S. 181.
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großes Opfer darbrächte, […damit] es mir lange hinaus zum Wohle, zum Heile gereichte?“941 Also lässt der König seinen Hauspriester kommen und verlangt Unterweisung, wie das Vorhaben korrekt ins Werk zu setzen sei. Der Priester ermahnt ihn, ehe er das Opfer beginnt, in seinem Reich zuerst Ruhe, Wohlstand und vor allem die Sicherheit wieder herzustellen: „Das Reich des Herrn Königs ist in Nöten, ist in Drangsal: es kommt vor, dass Dörfer geplündert werden, kommt auch vor, dass Burgen geplündert werden, kommt auch vor, dass Städte geplündert werden, kommt auch vor, dass Wegelagerer auflauern.“942 Diese Aussage ist überaus bemerkenswert, denn mit großer Deutlichkeit wird betont, dass das rituelle Opfer für den Buddha kein akzeptables Mittel zur Integration respektive zur Befriedung einer Gemeinschaft, die von Gewalt bedroht wird, darstellt! Obwohl das Gemeinwesen gravierenden sozialen Verwerfungen ausgesetzt ist – das Reich des Königs befindet sich in einer „argen Beklemmung“943 – wird ein definitiver Abstand zum Kultopfer hergestellt.944 Die Empfehlung Buddhas, vor der Ausführung des Opferkults den Wohlstand und die Sicherheit wiederherzustellen, zeigt, dass eine opferrituelle, also eine gewaltsame Gewaltabsorption, für den Buddha indiskutabel ist. Der Frieden soll allein durch friedliche Maßnahmen wiederhergestellt werden. Dem entspricht, dass der König sich ebenfalls nicht der Gewaltmittel seines Staatsapparates, dem funktionalen Äquivalent des Opfers, bedienen darf. „Möglich aber, dass der Herr König etwa dächte: ‚Ich werde dieser argen Beklemmung mit Galgen und Kerker, mit Buße, Strafe und Bannfluch gründlich ein Ende machen‘: aber man kann dieser argen Beklemmung nicht auf solche Weise von Grund auf beikommen.“945 Der König folgt den Anweisungen Buddhas, befördert den Handel, sorgt für Ausgleich zwischen Rivalen und verhindert erfolgreich eine Gewaltentgrenzung: „[D]a mochten eben diese Leute, ihren Geschäften hingegeben, das Land des Königs nicht mehr verstören; groß aber wur941
942 943 944
945
Die Reden Gotamo Buddhas, Kutadanto, in: Längere Sammlung des Pali-Kanons, übersetzt von Karl Eugen Neumann, Band 2, 3. Aufl., Zürich 1957, S 92. Ebd. Ebd. Vgl. Greg Bailey und Ian Mabbett: The Sociology of Early Buddhism, Cambridge 2003, S. 123. Die Reden Gotamo Buddhas, Kutadanto, a. a. O., S. 92.
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de des Königs Einkommen, sicher gegründet die Lande, ohne Not, ohne Drangsal, und die Menschen konnten fröhlich und frohgemut ihre Kinder am Busen schaukeln und bei offener Tür, so zu sagen, wohnen.“946 Aber auch nachdem die Krise beigelegt ist, gedenkt der König, das einst beschlossene Opfer darzubringen. Buddha aber lehrt, wenn ein Opfer dargebracht werden müsse, so dürfe kein Leben zerstört werden. Weder Menschen, Tiere, nicht einmal Bäume dürfen angetastet werden; auch dann nicht, falls Menschen kommen sollten, „die Lebendiges umbringen“947. Bemerkenswert ist, dass kein Zwang zur einmütigen Teilnahme am Opfer ausgeübt werden darf, wie es in archaischen Gesellschaften übliche Praxis war. Die Knechte des Königs verrichten ihre Arbeit beim Opfer nicht unter Zwang und Tränen aus Furcht vor den Aufsehern, sondern freiwillig. Wer da „wollte, der wirkte mit, und wer nicht wollte, wirkte nicht mit; was sie wollten das taten sie, was sie nicht wollten, brauchten sie nicht zu tun.“948 Allerdings gibt es noch, so fährt der Buddha in seinen Ausführungen fort, eine ganz andere Art von Opfer, die sehr leicht darzubringen und doch höher und gesegneter sei als die anderen Riten. Man solle frommen Mönchen Gaben darbringen und der buddhistischen Gemeinde Wohnstätten errichten. Ein derartiges Opfer sei völlig gewaltfrei und daher erstrebenswerter: „Was man aber da alle Tage spendet, zuhause für Opfer bringt, an tugendreine Pilger dahingibt: zu einem solchen Opfer kommen wohl Priester, Heilige oder auf dem Weg der Heiligen Wandelnde heran: und warum das? Nicht geschehn dabei kann es ja, Priester, dass man sich prügelt oder an der Gurgel packt: darum kommen zu einem solchen Opfer Heilige oder auf dem Weg der Heiligen Wandelnde.“949
Aber noch ein höheres Opfer als die Gabenspende existiert: wenn man gläubigen Sinnes seine Zuflucht beim Buddha, bei seiner Lehre und der Gemeinde nimmt, indem man Schritt für Schritt
946 947 948 949
Ebd., S. 93. Ebd., S. 95. Ebd., S. 97. Ebd., S. 99.
237
„Lebendiges umzubringen vermeiden lernt, Nichtgegebenes zu nehmen vermeiden lernt, Ausschweifung zu begehen vermeiden lernt, Lüge zu reden vermeiden lernt, berauschende und berückende Getränke, betäubende und betörende Mittel zu gebrauchen vermeiden lernt, so hat man, Priester, ein Opfer gebracht, das weniger kostspielig, weniger mühselig ist als jener […] Erfolg beim Opfer […] mit seinen Erfordernissen.“950
Und ein wiederum noch höheres Opfer ist, wenn man als Buddhist von Freud und Leid lässt, sich in heiliger Betrachtung versenkt und seiner Umwelt mit liebendem Verständnis begegnet. „Er hat weltliche Begierde verworfen und verweilt begierdelosen Gemüts. Gehässigkeit hat er verworfen, hasslosen Gemüts verweilt er, voll Liebe und Mitleid zu allen lebenden Wesen läutert er sein Herz von Gehässigkeit.“951 Das allerhöchste Opfer schließlich, das ein Mensch darbringen kann, und der höchste Segen, dessen er überhaupt teilhaftig werden kann, ist, wenn er die Erlösung erringt und so zur religiösen Gewissheit gelangt, dass der Mensch nicht zur leidbehafteten Welt zurückkehren muss. Wenn der auf diese Weise heilig gewordene Mensch sich sagt „‚Im Erlösten ist die Erlösung‘, diese Erkenntnis ihm aufgeht, ‚Versiegt ist die Geburt, vollendet das Asketentum, nicht mehr ist diese Welt‘, er verstanden hat, so ist das eben, Priester, ein Opfer, das weniger kostspielig, weniger mühselig als die früheren Opfer ist, und reicher an Lohn, reicher an Gewinn. Einen anderen aber noch, Priester, als diesen Erfolg beim Opfer, der darüber hinaus reicht oder erlesener wäre, gibt es nicht.“952
Der Buddha spricht in dieser Textpassage von den früheren Opfern, dem die Menschen auf dem Pfad der archaischen Vorzeit noch gefolgt sind. Diese Art des Opfers wird in seiner Heilswirksamkeit radikal in Frage gestellt, denn die höchste Vollendung und neue Bedeutung des Opfers ist die Zuflucht zur Lehre und Praxis der Gewaltfreiheit. Daraufhin nimmt der Brahmane gläubig Zuflucht beim Buddha. Das Opfer wird nicht getötet, die Opfertiere losgebunden und frei gelassen, „grüne Gräser sollen sie nur wieder kauen und kühle Gewässer schlürfen, und frischer Wind mag sie wieder umwehen.“953 Man braucht diesen Äußerungen keinen ausführlichen Kommentar hinzuzufügen, um zu verstehen, dass der 950 951 952 953
Ebd., S. 100f. Ebd., S. 102. Ebd., S. 103. Ebd.
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Buddhismus dem sakrifiziellen Denken fernsteht und etwas Neues an seine Stelle setzt. Wo das Opfer ist, so die buddhistische Einsicht, da ist auch Gewalt. So belehrt der Buddha einen Kriegerfürsten, der ein Opfer darbringen möchte. Dort, wo ein „Opfer ist, bei dem […] so mancherlei Wesen hingeschlachtet werden, und die Empfänger verkehrte Ansicht haben, verkehrte Gesinnung, verkehrte Rede, verkehrtes Handeln, verkehrtes Wandeln, verkehrtes Mühn, verkehrte Einsicht, verkehrte Einigung: ein Opfer, Kriegerfürst, von solcher Art kann freilich keinen hohen Lohn, keine hohe Förderung verleihen, ist nicht sehr glanzvoll, strahlt nicht weithin.“954
Nicht das Opfer, sondern rechte Erkenntnis und Gewaltlosigkeit sind entscheidend, um das Heil zu erlagen. Mit dem Opferkult erschienen die indischen Götter – „Mit dem Opfer opferten die Götter dem Opfer“955 lautete die Formel des Rgveda der Hindus. Mit der Ablehnung des Opfers verschwinden die Götter, die ihre Existenz einer Sakralisierung der Gewalt verdanken. Der Buddha widersetzte sich still diesen Opferkulten.956 Die Anbetung eines sakralisierten Opfers, in dem sich die Dynamik der kollektiven Gewaltkrise manifestiert und als dessen kollektive Repräsentation es fungiert, ist im Rahmen des buddhistischen Systems nicht denkbar.957 So notiert Leo Lefebure mit kritischem Blick auf René Girard, der eine Überlegenheit des Christentums über alle anderen Religionen behauptet hat958: „Girard’s critique misses its mark in Buddhism, however. The Buddha’s response to the suffering caused by rivalry and violence was rigorously practical and non-violent. The Buddha claimed no divine revelation and neither sought nor proclaimed an epiphany of the sacred. His prescription for liberation was not dependent on ritual sacrifice or the expulsion of victims.”959 Der Buddha überwindet das Opfer auf seine eigene Weise. Er tat dies nicht durch Offenbarung, ging nicht den Weg der Evangelien, sondern suspendierte 954
955 956 957 958
959
Die Reden Gotamo Buddhas: Payasi, in: Längere Sammlung des Pali-Kanons, übersetzt von Karl Eugen Neumann, Band 3, 3. Aufl., Zürich 1957, S. 420. Der Rgveda, a. a. O., S. 286. Vgl. Lefebure: Revelation, The Religions, and Violence, a. a. O., S. 162. Vgl. ebd. Vgl. René Girard im Interview mit Nathan Gardels: ‚Das Christentum ist allen anderen Religionen überlegen‘, in: Die Welt vom 14. Mai 2005. Lefebure: Revelation, The Religions, and Violence, a. a. O., S. 162.
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das Opfer, indem er Unterlassung und Substitution verwandte. Der Buddha sagte kein Wort gegen das Opfer (und keines gegen die Kasten, die sich von ihm herleiten). Wenn man aber seinen Blick darauf richtet, welchen immensen Raum das Wort ‚Opfer‘ in seinen Reden einnimmt, stellt man fest, dass es so gut wie nie auftaucht – dabei war es vor ihm Quelle des Lebens.960 Der Buddha begnügte sich allerdings nicht damit, das Opfer einfach zu übergehen, sondern analysiert die Ursachen, die die Notwendigkeit des Opfers erst begründen: die Gewalt. Im Grunde also deckte der Buddha die Mechanismen hinter dem Opfer auf. Die Ursachen und Wege aus der Gewalt, die der Buddhismus erkannte, lassen sich anhand der vier edlen Wahrheiten aufzeigen, die es nun zu analysieren gilt.
2.3.2 Ursachen und Wege aus der Gewalt. Die vier hohen Wahrheiten und der achtgliedrige Heilspfad Das buddhistische Denken bleibt nicht dabei stehen, das Opfer stillschweigend zu verabschieden, sondern versucht darüber hinaus, die Ursachen der Gewalt zu analysieren und zu neutralisieren. Der erste Grundsatz des Buddhismus ist die freundliche Achtung allen Lebens. Die Voraussetzung jeder höheren religiösen Meisterschaft ist Liebe. Von „Liebe, Gleichmut, Mitleid ab sich lösen, / Und auch in Freude wirken so beizeiten: / Die ganze Welt in Frieden durchzuleuchten.“961 Das buddhistische Heilswissen konstruiert eine Weltsicht, in der alle übernatürlichen Eingriffe abgelehnt werden und in der alles allein auf den guten und schlechten Handlungen der Menschen aufbaut. In diesem Zusammenhang ist die Lehre der so genannten Vier hohen Wahrheiten, die der historische Buddha vor circa 2600 Jahren formulierte, von großer Bedeutung.962 Die vier hohen Wahrheiten bilden für so gut wie alle buddhistischen Schulen das Zentrum der religiösen Lehre und den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen. Zusammengefasst lautet ihre Aussage: Leben birgt immer die Möglichkeit 960 961
962
Vgl. Roberto Calasso: KA. Geschichte von Indiens Göttern, Frankfurt am Main 2006, S. 474. Der Pali-Kanon: Sammlungen in Versen. Die Sammlungen der Bruchstücke. Die Lieder der Mönche und Nonnen. Der Wahrheitspfad. Übertragen von Karl Eugen Neumann, Band 3, Zürich 1957, Vers 38, S. 19. Vgl. Gäng: Buddhismus, a. a. O., S. 76.
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des Leidens, das durch Begehren verursacht wird. Das Begehren wiederum ist für die Existenz von Neid, Hass und Gewalt verantwortlich.963 Die erste hohe Wahrheit, die der Buddha lehrt, handelt entsprechend von einer Bestimmung des Leidens. Es geht um nichts weniger als eine drastische Beschreibung der buddhistischen conditio humana, um das Elend der Welt, das man gemäß der buddhistischen Auffassung vorfindet, wenn man sich ihr mit analytischer Klarheit zuwendet. „Dies nun, ihr Mönche, ist die hohe Wahrheit vom Leiden: Geburt ist leidvoll, Alter ist leidvoll, Krankheit ist leidvoll, Tod ist leidvoll; Kummer, Jammer, Schmerz, Gram und Verzweiflung sind leidvoll; mit Unliebem vereint sein ist leidvoll, von Liebem getrennt sein ist leidvoll, nicht erlangen, was man begehrt, ist leidvoll.“964 Diverse Interpretationen haben sich zu der Einschätzung verdichtet: Alles (oder: alles Leben) ist Leiden, von dem Erlösung gesucht wird.965 Diese Auffassung hat allerdings nichts mit einer pessimistischen Grundhaltung zu tun, wie oft unterstellt wird.966 Die Feststellung, dass alles Leiden ist, resultiert im alten Buddhismus vielmehr aus einer nüchternen und objektiven Betrachtungsweise.967 Würde man es, um ein Beispiel anzuführen, bei einem Europäer Pessimismus nennen, wenn die Einsicht in den Überlebenskampf, der sich überall und ständig in der Natur abspielt, seine (ästhetische) Freude an der Natur beeinträchtigen würde? Diese Welt ist so eingerichtet, dass Lebewesen anderen Lebewesen das Leben rauben, um selbst überleben zu können. Aber ist diese Betrachtungsweise etwa pessimistisch, auch wenn man lieber über dieses Grundgesetz des Daseins hinwegsehen möchte?968 Dass ein von Unglück erfülltes Leben unglücklich ist, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Aber sogar ein von Glück erfülltes Leben kann nach buddhistischer Ansicht infolge der unvermeidlichen Vergänglichkeit allen Glücks und der prinzipiellen Hilflosigkeit, mit der der Mensch dem ewigen Wechsel gegenüber963 964
965 966 967 968
Vgl. ebd., S. 60. Des Buddhas erste Predigt über die vier hohen Wahrheiten, in: Buddha. Die Lehren. Texte aus dem Buddhistischen Pali-Kanon und dem Kammavaca, übertragen von Karl Seidenstücker, überarbeitete Neuausgabe, Paderborn o.J., S. 10. Vgl. Gäng: Buddhismus, a. a. O., S. 6. Vgl. ebd. Vgl. Fausta Nowotny: Der Pali-Kanon. Dokumente der Geistesgeschichte, Köln 1967, S. 6. Ebd.
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steht, nicht als glücklich bezeichnet werden. Wie immer man es dreht und wendet: auch der glückliche Mensch wird immer wieder ein Opfer des Leids; sein Glück ist nicht von Dauer und er wird es mit Schicksalsnotwendigkeit zwischen seinen Händen wie Sand zerrinnen sehen. Das Sein mit seinen ewigen und ruhelosen Fluten zwischen Werden und Vergehen, zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit ist das eigentliche Unglück der Menschen, denn das buddhistische Leben endet nicht mit dem Tod, sondern beginnt tragischerweise aufs Neue, denn der Buddhist ist ja – in dieser Hinsicht ganz dem Hindu gleich – den Gesetzen von karma und Wiedergeburt ausgeliefert.969 Den Reflexionen über die Beschaffenheit des Leids schließt sich die zweite edle Wahrheit an, die die Entstehung des Leids zu ergründen sucht: „Dies nun, ihr Mönche, ist die hohe Wahrheit von der Entstehung des Leides: Es ist jener Wiedergeburt-erzeugende [sic!], von Wohlgefallen und Lust begleitete ‚Durst‘, der bald hier, bald dort sich ergötzt, das will sagen: der Durst nach Sinnenlust, der Durst nach Werden, der Durst nach Vernichtung.“970 Ziel der buddhistischen Heilslehre ist es, dem Leiden als Leiden zu entrinnen und dies ist gleichbedeutend mit einer umfassenden Desinteressierung nicht nur an den sinnlich-materiellen, sondern auch den existenziellen Gütern dieser Welt. Alter und Tod werden zum Leiden, wenn man begehrt, unsterblich zu sein; Krankheit ist Leiden angesichts des Begehrens nach Gesundheit; Gram, Kummer, Trauer sind Leiden, solange das Begehren nach Glück besteht, das Getrenntsein von Liebem und das Vereinigtsein mit Unliebem sind Leiden, wenn sich das Begehren auf das Gegenteil richtet. Darum gibt es nur einen Weg, um dem endlosen Leiden zu entfliehen – die Auflösung des Durstes beziehungsweise des Begehrens wird zum Fluchtpunkt buddhistischer Heilssuche.971 Die Konsequenz ist die Ausarbeitung einer Ethik der Desinteressierung, die „dem Anhaften an die Dinge“972 ein Ende setzen soll. Hier erschließt sich eine
969 970 971 972
Vgl. Gäng: Buddhismus, a. a. O., S. 152. Des Buddha erste Predigt über die vier hohen Wahrheiten, a. a. O., S. 10. Vgl. Gäng: Buddhismus, a. a. O., S. 80. So heißt es: „durch den ‚Durst‘ bedingt entsteht das Anhaften“. Siehe Der falsche und der rechte Pfad (Samy. XII, 3), in: Buddha. Die Lehren. Texte aus dem Buddhistischen Pali-Kanon und dem Kammavaca, übertragen von Karl Seidenstücker, überarbeitete Neuausgabe, Paderborn o.J., S. 41.
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klare Ablehnung von Gewalt. Der Buddha spricht zu seinem Jünger Anando die folgenden aufschlussreichen Sätze: „‘Infolge von Festhalten kommt es zu Wüten und Blutvergießen, Krieg und Zwietracht, Zank und Streit, Lug und Trug, gehen mancherlei böse, heillose Dinge hervor‘. [...] Wenn es nämlich, Anando, kein Festhalten gäbe, ganz und gar nicht, nicht irgend irgendwo, bei keinem zu keinem, Festhalten also überhaupt nicht wäre: könnten nun wohl bei Auflösung des Festhaltens Wüten und Blutvergießen, Krieg und Zwietracht, Zank und Streit, Lug und Trug, mancherlei böse, heillose Dinge hervorgehen?“973
Die Gewalt resultiert somit aus dem Anhaften der Menschen an die Dinge und ist ein direktes Produkt des menschlichen Dursts. Entsprechend ist es möglich, im Versuch der Begehrensauflösung auch einen Versuch der Gewaltauflösung zu sehen. Geht man von der Auflösung des Durstes als dem entscheidenden Faktor bei der Auflösung des Leidens aus, so ergibt sich also eine logisch einfache Lösung: Man schaffe den Durst ab und die Anhaftung an die Dinge wird aufgehoben. Ist aber das Anhaften an die Dinge aufgehoben, werden die Ursachen der Entstehung von Gewalt neutralisiert. So besteht im Buddhismus keine Notwendigkeit einer Aufhebung der Latenz des Opfermechanismus, da die Ursachen der Entstehung von Gewalt, deren Entgrenzung erst die Notwendigkeit des Opfers begründet, zum Gegenstand buddhistischen Nachdenkens werden. Die dritte hohe Wahrheit des Buddhismus weist einen Weg, der aus der Gewalt herausführt. Sie lautet: „Dies nun, ihr Mönche, ist die hohe Wahrheit von der Aufhebung des Leidens: Es ist eben dieses Durstes spurloses, restloses Aufheben, Aufgeben, Verwerfen, Ablegen, Vertreiben.“974 Ohne diesen Durst hat die Gewalt keinen Bestand. Sieht man die Leidensentstehung und die Auflösung im Kontext der bereits erörterten Auffassung von der Wiedergeburt, die in der oben zitierten zweiten Wahrheit als Wieder-Werden bezeichnet wird, dann zeichnet sich die buddhistische Lösung ab: Die Auflösung des Begehrens mag zwar in diesem, vielleicht auch noch nicht in einem der nächsten Leben, das Alter und
973
974
Die Reden Gotamo Buddhas: Abkunft, in: Längere Sammlung des Pali-Kanons, übersetzt von Karl Eugen Neumann, Band 2, 3. Aufl., Zürich 1957, S. 220. Des Buddha erste Predigt über die vier hohen Wahrheiten, a. a. O., S. 10.
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den Tod und die Gewalt besiegen, aber dadurch, dass der Durst sukzessive schwindet, entfällt irgendwann die nächste Wiedergeburt.975 Die so genannte vierte Wahrheit des achtgliedrigen Pfads weist den Weg aus dem Reich des unendlichen Begehrens und stellt das Kernstück der buddhistischen Lehre dar. Es geht um die praktische Umsetzung des Weges zur Befreiung, ein Weg, der von den Fesseln einer ewigen Wiederkehr ins Leben befreit: „Dies nun, ihr Mönche, ist die hohe Wahrheit von dem zur Aufhebung des Leidens führenden Pfade: Es ist dieser hohe, achtteilige Weg, nämlich: Rechte Anschauung, rechte Gesinnung, rechtes Reden, rechtes Handeln, rechte Lebensführung, rechter Kampf, rechtes Gedenken, rechte Konzentration.“976 Der vierte Satz der heiligen Wahrheiten lehrt den Weg, der aus der Welt des Leidens in das Reich der Erlösung – in das Nirwana – hineinführt. Dass es sich hierbei nicht bloß um einen weltflüchtigen Eskapismus handelt, wird daran klar, dass er deutliche Pflichten gegenüber dem Nächsten enthält.977 Das Ziel der Reise ist Erlösung, der Weg dahin führt nur über sittliches, also gewaltfreies Verhalten.978 Man kann den Kreis von Gedanken, auf die die vierte heilige Wahrheit hindeutet, entsprechend als die Ethik des Buddhismus bezeichnen.979 Die drei quälenden Trübungen nehmen in diesem Zusammenhang eine zentrale Stellung ein: Sie gelten als die drei Leiden verursachenden Grundübel. Solange sie den Geist beherrschen, ist eine Befreiung nicht möglich. Dabei ist nicht in erster Linie an Gier oder Hass gegen konkrete Menschen gedacht, sondern vielmehr geht es um Grundstimmungen: Gier oder Lustverlangen als das Bestreben, sich an etwas festzuklammern; Hass als Abneigung, als Lust, etwas zerstören zu wollen. Schließlich Verkennung als die Tendenz, einfach nicht hinzusehen, etwas nicht zur Kenntnis nehmen. Dass diese Stimmungen die Erkenntnis behindern oder gar unterbinden, ist evident. Bei Hass vermeide ich, das, was ich hasse, wirklich wahrzunehmen; bei Gier sehe ich nur noch den Gegenstand der Gier und blende alles andere aus; bei Verkennung verzichte ich von vornherein auf das Hinsehen und bereite damit auch den Weg für Gier und Hass.980 975 976 977 978 979 980
Vgl. Gäng Buddhismus, a. a. O., S. 81. Des Buddha erste Predigt über die vier hohen Wahrheiten, a. a. O., S. 10. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. Gäng: Buddhismus, a. a. O., S. 61. Vgl. ebd.
244
Das besondere am Buddhismus ist, dass die Ethik der Gewaltlosigkeit mit der so genannten Gesetzmäßigkeit des Abhängigen Entstehens begründet wird, die noch einmal verdeutlicht, warum es für den Buddhismus so wichtig ist, auf Gewalt zu verzichten.981 Die Ethik des Buddhismus verdankt sich, im Gegensatz zu den abrahamitischen Religionen, nicht göttlicher Offenbarung und nicht der Entdeckung unschuldiger Opfer. Vielmehr sind es Verhaltensweisen, die der Buddha selbst befolgt hat und als befreiend erlebte und die psychologisch feinsinnig über die Ursachen von Gewalt reflektieren.982 Die Grundprobleme sind Unwissenheit und Verblendung. An diese Unwissenheit heften sich aber alle möglichen destruktiven Handlungsweisen, die man in jedem Falle meiden würde, wenn man über das entsprechende Wissen verfügte. Dieser Zusammenhang ergibt sich wiederum aus der Gesetzmäßigkeit des abhängigen Entstehens. Diese Lehre besagt, dass jede Handlung Wirkungskräfte im Handelnden hinterlässt. Schadet ein Gewalttäter einem Lebewesen, so bedeutet diese Tat zukünftiges Leiden für den Täter. Der Buddha lehrte also, dass alle Handlungen, ob positiv oder negativ, zusätzlich zu der äußeren Wirkung auch innere Resultate beim Handelnden selbst hervorrufen. Dabei fallen das Wohl der Gemeinschaft und das Wohl des Individuums zusammen. Eine innere Einstellung, frei von Gier, Hass, Verblendung und anderen Leiden verursachenden Bewusstseinsfaktoren, zusammen mit dem äußeren Verhalten, das andere nicht schädigt, ist deshalb hilfreich für die Wesen in der eigenen Umgebung und langfristig auch für den Handelnden selbst. „Gewaltloses Verhalten ist das Förderlichste sowohl für den Zusammenhalt in Gemeinschaften als auch für das Individuum selbst.“983 Da der Mensch die Wahrheit, nämlich das Existieren in „gegenseitiger Verbundenheit“984 erkennt und diese Erkenntnis in Güte, Toleranz und Wohlwollen verwandeln kann, wird er befähigt, die Gewalt, das größte Leiden überhaupt, zu meiden.
981
982 983 984
Vgl. Jürgen Manshardt: Gewalt und Gewaltlosigkeit im Buddhismus, in: Reinhard Hempelmann und Johannes Kandel (Hrsg.): Religion und Gewalt. Konflikt- und Friedenspotentiale in den Weltreligionen, Göttingen 2006, S. 303-314, S. 309. Vgl. ebd. Ebd., S. 310. Ebd., S. 311.
245
2.3.3 Das buddhistische Prinzip universaler »Nicht-Feindschaft« im Vergleich zur christlichen Feindesliebe Die tiefe Sehnsucht des Buddhismus, aus dem leidvollen Kreislauf aus karma und samsara auszubrechen und dadurch der Erlösung teilhaftig zu werden, führte zu der Einsicht, dass der Heilsweg, soll er erfolgreich sein, nur gewaltfrei gestaltet werden kann. In einem Lehrgedicht des Buddha heißt es: „Die Gier, durch die entflammt, / Der Hass, durch den ergrimmt, / Der Wahn, durch den betört, / Der Zorn, durch den erbost, / Die Heuchelei, durch die verderbt, / Der Dünkel, durch den berauscht / Die Wesen auf den schlimmen Weg gelangen, / Dieses geben in vollkommener Erkenntnis / Die Einsichtsvollen auf. / Nach dem Aufgeben kehren sie nie wieder / In diese Welt zurück.“985
Das Ziel allen Aufgebens ist das Nirwana – ein rätselhafter Nicht-Ort jenseits des Kreislaufes der Geburten, von dem der Buddha sagte: „Das Verschwinden der Begier, das Verschwinden des Hasses, das Verschwinden des Wahns, das nennt man Nirwana.“986 Das Heilsziel des Buddha ist also ein utopischer Zustand absoluter Gewaltfreiheit. So konnte Buddha bereits ein halbes Jahrhundert vor Christus die Ethik der Nichtfeindschaft predigen. Im Dhammapada heißt es: „‚Gescholten hat man mich, verletzt, / Hat mich besiegt, hat mich verlacht‘: / Wer solchen Sinn im Herzen hegt, / Von Feindschaft lässt er nimmer ab. ‚Gescholten hat man mich, verletzt, / Hat mich besiegt, hat mich verlacht‘ / Wer solchen Sinn zu bannen weiß, / Von Feinschaft lässt er eilig ab. / Es wird ja Feindschaft nimmermehr / Durch Feindschaft wieder ausgesöhnt. / Nichtfeindschaft regt Versöhnung an, / Das ist Gesetz von Ewigkeit.“987
985
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987
Bürgschaft für die Nichtwiederkehr (Itivuttaka 1-6), in: Buddha. Die Lehren. Texte aus dem Buddhistischen Pali-Kanon und dem Kammavaca, übertragen von Karl Seidenstücker, überarbeitete Neuausgabe, Paderborn o.J., S. 174. Nirwana und der Weg zum Nirwana (Samy. XXXVIII,1), in: Buddha. Die Lehren. Texte aus dem Buddhistischen Pali-Kanon und dem Kammavaca, übertragen von Karl Seidenstücker, überarbeitete Neuausgabe, Paderborn o.J., S. 142. Dhammapada, a. a. O., S. 20.
246
Derartige Aussagen des Buddha gemahnen sofort an den unschuldig leidenden Gottesknecht oder auch an Jesus und seinem Aufruf, dem Bösen nicht mit Gewalt zu widerstehen.988 Dennoch scheint es einen Unterschied zwischen dem christlichen Konzept der Feindesliebe und dem buddhistischen Gebot der Nichtfeindschaft zu geben, auf den Max Weber die Aufmerksamkeit gelenkt hat. Weber schreibt: „Die ‚Feindesliebe‘ vollends ist dem Buddhismus ganz fremd“989, denn, so fährt er fort: „Die eigene certitudo salutis, nicht das Ergehen des ‚Nächsten‘, steht in Frage.“990 Tatsächlich steht eher Gleichmut als universale Liebe im Zentrum des alten Buddhismus. Zum Heil führt das allgemeine Loslassen der Welt sowie die kontrollierte Zurücknahme von Empathie, da sie ja als Mitleid eben immer auch ein Teil des eigentlichen religiösen Problems, dem des Leidens, ist. „Daher schließ dich an Liebes nicht. / Geliebtes lassen ist so schlimm! / Kein Daseinsband verstrickt mehr den, / Dem nichts mehr lieb noch unlieb ist.“991 Große Unterschiede zeigen sich also zwischen Christentum und Buddhismus. Zwar kennt der Buddhismus den so genannten Begriff der Maitri, der oft in eine Reihe mit der christlichen Nächstenliebe gestellt wurde.992 Hermann Oldenberg aber hat auf die diesbezüglichen Differenzen der buddhistischen und christlichen Weltanschauungen hingewiesen: „Man vergleiche die großen Gestalten hüben wie drüben. Hier Sankt Franziskus oder Vincenz von Paul, den Gottesliebe und Nächstenliebe treibt, den Geringsten der Geringen, den Elendsten der Elenden aus wärmster persönlicher Nähe zu helfen. Dort Sariputta oder Ananda, der sich in der Einsamkeit des indischen Waldes zur Kontemplation der Maitri niedersetzt und von der kühlen Ruhe des Nirwana her, dem er sich so nahe weiß, über eine Weltgegend nach der anderen sein Wohlwollen mit Menschen, Tieren und allen Kreaturen sich erstrecken lässt – das Wohlwollen dessen, der es erstrebt und erreicht hat, ‚nichts liebes in der Welt zu haben‘. Sind das nicht Bürger zweier Welten?“993
988
989 990 991 992
993
Vgl. Ulrich Luz und Axel Michaels: Jesus oder Buddha. Leben und Lehre im Vergleich, München 2002, S. 78ff. Weber: Hinduismus und Buddhismus, a. a. O., S. 158. Ebd. Dhammapada, a. a. O., S. 64. Vgl. Hermann Oldenberg: Der Buddhismus und die christliche Liebe, in: Ders.: Aus dem alten Indien. Drei Aufsätze über den Buddhismus, altindische Dichtung und Geschichtsschreibung, Berlin 1910, S. 1-22, S. 22. Ebd.
247
Der Buddhismus sieht in der Liebe zum Selbst das größte Hindernis zum Heil, denn das Selbst ist nur eine Illusion. Das eigene Selbst oder das Selbst des Nächsten lieben zu können, wird so zur Selbst-Illusion. Es handelt sich hier um die so genannte anatta-Lehre, die davon ausgeht, dass das Selbst des Menschen überhaupt nicht existiert. Weder Körper, Empfindung, Wahrnehmung, Gemütsregungen, noch Bewusstsein bilden ein unveränderbares Ich: „Darum also, ihr Mönche: Was es auch an Körperlichkeit, was es auch an Empfindung, an Wahrnehmung, an Gemütsregungen und alles Bewusstsein gibt, vergangen, zukünftig oder gegenwärtig, eigen oder fremd, grob oder fein, hässlich oder schön, fern oder nahe, – alle diese Gestalten, Empfindungen, Gemütsregungen und alles Bewusstsein sollte man in rechter Einsicht der Wirklichkeit gemäß also ansehen: ‚Das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein Ich.‘“994
Das ethische Motto der Nicht-Feindschaft in Verbindung zur individuell erstrebten Erlösung kann man Axel Michaels zufolge daher nur wie folgt erfassen: „(Nicht-)Selbstliebe statt Feindesliebe, oder besser: Liebe deinen Nächsten, auch deinen Feind, so wenig wie Dich selbst: Die meisten Weltverbesserer haben, wie nicht zuletzt die Geschichte des Christentums zeigt, sich selbst nicht genügt und dadurch teilweise verheerenden Schaden angerichtet.“995 Hätten beispielsweise die Christen nur Selbsterlösung betrieben anstatt die göttliche Erlösung der Welt (vom Mythos, vom Bösen, vom Opfermechanismus, von der archaischen Gewalt) zu verkünden, so wäre vielleicht mancher Gewaltausbruch, den das historische Christentum zu verantworten hat, vermieden worden. Im Buddhismus führt nicht die Offenbarung eines Gottes reiner Liebe, sondern der Weg des individuellen Wissens – also der Weg einer „IntellektuellenReligiosität“996 – zu einer Trennung des Heiligen und der Gewalt. Im Vergleich zum Evangelium ist dies ein stiller Weg des Rückzugs aus den Zirkeln der Gewalt. Dem korrespondiert, dass die missionarische Verbreitung im Buddhismus keine bedeutende Rolle spielt. Es fehlten das Bedürfnis und die kanonische Autorität zu wehrhaften Kirchenbildungen, zu Dogmen und zu Zentralisierungen. 994
995 996
Die Anatta-Predigt (Mahavagga I, 6,38-46), in: Buddha. Die Lehren. Texte aus dem Buddhistischen Pali-Kanon und dem Kammavaca, übertragen von Karl Seidenstücker, überarbeitete Neuausgabe, Paderborn o.J., S. 28. Luz und Michaels: Jesus oder Buddha, a. a. O., S. 91. Weber: Hinduismus und Buddhismus, a. a. O., S. 252.
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Eine Orthodoxie, wie sie der nahöstliche Monotheismus für die Welt verkündet hat, wurde vom Buddhismus nicht entwickelt.997 Buddha lehrte zwar aus Mitgefühl mit den noch nicht erlösten Lebewesen, aber nur denen, die die Lehre hören wollten. Sein Mitgefühl war weder missionarisch noch ging es um eine Verbesserung der Welt. Letztlich war jeder ganz allein für sein Heil verantwortlich.998 In den buddhistischen Schriften lassen sich deshalb auch keine Aussagen finden, die der bereits analysierten Mosaischen Unterscheidung des Monotheismus und der mit ihr verbundenen Einführung einer absoluten religiösen Wahrheit gleichkommen.999 Der richtige Weg zur Erkenntnis führt nicht über ein verbindliches Glaubensdogma, wie der Buddha den so genannten Kalamern aus Kesaputta auseinander setzt: „Ihr Kalamer, richtet euch nicht nach Hörensagen, nicht nach einer Überlieferung, nicht nach Gerüchten, nicht nach der Mitteilung heiliger Schriften, nicht nach Spekulationen, nicht nach einem System, nicht nach Erwägungen, die sich auf den äußeren Schein stützen, nicht nach langgehegten Ansichten und Auffassungen, richtet euch nicht danach, ob eine vorhandene Erscheinung dafür spricht, auch nicht danach, dass ihr meint, der betreffende Asket sei euer Lehrer, – wenn ihr, Kalamer, hingegen selber erkennt: ‚Diese Dinge sind unheilsam, diese Dinge sind nicht einwandfrei, diese Dinge werden von Verständigen getadelt, diese Dinge, wenn ausgeführt und unternommen, gereichen zum Unheil, zum Leiden‘, dann, Kalamer, sollt ihr sie verwerfen.“1000
Aus derartigen Toleranz-Episoden erwuchs dieser Lehre eine Stärke, die sie von Dogmatismus fernhielt und die Befolgung des Buddhaweges in ganz unterschiedlichen Weisen ermöglichte.1001 Es verwundert daher nicht, dass die buddhistische Gemeinschaft trotz zahlreicher Angriffe, Anfeindungen und De997
998 999
1000
1001
Vgl. Heinz Bechert: Orthodoxie und Legitimation im Kontext des Früh- und des TheravadaBuddhismus, in: Shmuel N. Eisenstadt (Hrsg.): Kulturen der Achsenzeit. Ihre institutionelle und kulturelle Dynamik, Buddhismus, Islam, Altägypten, westliche Kultur, Band 2, Frankfurt am Main 1992, S. 18-36. Vgl. Luz und Michaels: Jesus oder Buddha, a. a. O., S. 90. Dies ist auch Jan Assmann nicht entgangen: „Alle sekundären Religionen, die zugleich Buch-, Welt- und (mit Ausnahme vielleicht des Buddhismus) auch monotheistische Religionen sind, blicken auf die primären Religionen als Heidentum hinab.“ Siehe Assmann: Die Mosaische Unterscheidung, a. a. O., S. 11. Erkenntnis. Richtet euch nicht nach Hörensagen (Ang. III, 65), in: Buddha. Die Lehren. Texte aus dem Buddhistischen Pali-Kanon und dem Kammavaca, übertragen von Karl Seidenstücker, überarbeitete Neuausgabe, Paderborn o.J., S. 181. Vgl. Helwig Schmidt-Glintzer: Der Buddhismus, München 2005, S. 28.
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mütigungen vergleichsweise nur sehr selten Glaubenskriege führte.1002 Glaubensfeinde hat der Buddhist nicht, vielmehr werden die gemeinschaftskonturierenden Mechanismen von In- und Exklusion außer Kraft gesetzt. Aus diesem Grund weigert sich der alte Buddhist in der Regel seine Glaubensüberzeugung gewaltsam zu verteidigen und nimmt Abstand von jeder Form archaischer Rachementalität. Die Konsequenz dieses Pazifismus war, dass der Buddhismus in seinem ursprünglichen Heimatland Indien fast vollständig verschwand. In seiner ursprünglichen Form war das buddhistische Lehrsystem streng apolitisch, denn erst die Nichteinmischung in die wechselnden Freund-FeindBeziehungen des Politischen ermöglichte es den Buddhisten, das abgesonderte und weltlose Leben einer religiös-intellektuellen Elite zu führen. Die für das Leben des sangha notwendigen Regeln enthielten einige Vorschriften, die darauf gerichtet waren, jeden Konflikt mit der weltlichen Macht und den sozialen Systemen zu vermeiden. Dieses normative Rahmenwerk garantierte dem sangha sein Überleben als gesellschaftlich autonome Körperschaft.1003 Die buddhistische Gemeinschaft stand dabei prinzipiell allen Kasten und Klassen offen. Alle Menschen, so die Auffassung, sind von Geburt an gleich und allein ihre intellektuellen und moralischen Fähigkeiten entscheiden über die Aussicht auf ihre Erleuchtung.1004 Schließlich ist jeder Mensch mit dem Übel der Existenz und dem Dreiklang von Begehren, Hass und Illusion konfrontiert. Die Welt bedeutet Leiden (dukah), weil sie vergänglich und voller Gewalt ist. Sie wird vom Gesetz des karma regiert, dem man nicht entrinnen kann. Aus diesem Grund, so wurde oft gefolgert, ist es völlig sinnlos, die Welt oder die menschliche Gesellschaft zu verbessern. Jeder Versuch einer Weltverbesserung oder -beherrschung ist zum Scheitern verurteilt. Es ist allein möglich, den eigenen Geist moralisch zu verbessern und alles daran zu setzen, dem Teufelskreis der Existenz zu entkommen.1005 Auf die Welt, deren Kennzeichen Leid und Gewalt ist, wird mit einer weltflüchtigen Le-
1002
1003
1004 1005
Die Ausnahmen nennt Lambert Schmithausen: Buddhismus und Glaubenskrieg, in: Peter Hermann (Hrsg.): Glaubenskriege in Vergangenheit und Gegenwart, Göttingen 1996, S. 63-92. Vgl. Bechert: Orthodoxie und Legitimation im Kontext des Früh- und des Theravada-Buddhismus, a. a. O., S. 19. Vgl. ebd., S. 18. Vgl. ebd., S. 30.
250
bensführung reagiert.1006 Man fühlt, so Hermann Oldenberg, angesichts derartiger Passagen, „jenen kühlen Hauch, der alle Gebilde der buddhistischen Sittlichkeit umweht.“1007 Der weise Mönch steht wie Buddha auf einer Höhe, an die kein menschliches Handeln heranreichen darf. Weder zürnt er über das Unrecht, das ein fehlgehender Mensch ihm antut, noch leidet er unter diesem Unrecht. Wie der leidende Gottesknecht bei Deuterojesaja bringt der Buddhist den Rachedurst zum Versiegen. Nicht Gottesvertrauen, sondern Vertrauen in den richtigen Weg des ahimsa bilden die hierfür notwendige Grundlage. Der Körper, über den der Feind des Buddhisten Gewalt erlangen kann, ist nicht er selbst; die Seele, die der Feind mit Qualen peinigen kann, ist nur Nicht-Selbst. „Unbekümmert um anderer Menschen Tun lässt er sein Wohlwollen sich über Böse wie über Gute ergießen. ‚Die mir Schmerz zufügen und die mir Freude bereiten, gegen alle bin ich gleich; Zuneigung und Hass kenne ich nicht. In Freude und Leid bleibe ich unbewegt, in Ehren und Unehren; überall bin ich gleich. Das ist die Vollendung meines Gleichmuts.‘“1008 Dieser Gleichmut gebietet aber nicht, den Feind zu lieben, sondern gleichmütig auf ihn zu blicken.1009 An die Gläubigen ergeht das Gebot: „Wie den einz’gen Sohn der Mutter / Schützt selbst mit dem eignen Leben, / So für alle Wesen weck‘ er / In sich unbegrenztes Fühlen.“1010 Bemerkenswert ist, dass der Vergleich von Mutter und Kind nicht in der Weisung an die Gemeinschaft mündet, so wie die Mutter zu handeln, sondern gegenüber allen Wesen unbegrenztes Fühlen zu entwickeln. „Solches Fühlen aber zielt vor allem auf den Segen hin, den diese seelische Gymnastik dem Fühlenden selbst zu bringen verspricht. Nie wird dabei vergessen, dass alles Haften des eigenen Herzens an anderen Wesen ein Sichverstricken in die Freude und darum in das Leiden der Vergänglichkeit ist.“1011 1006
1007 1008
1009 1010 1011
Vgl. Wolfgang Schluchter: Religion und Lebensführung, Band 2: Studien zu Max Webers Religions- und Herrschaftssoziologie, Frankfurt am Main 1988, S. 62ff. Oldenberg: Buddha, a. a. O., S. 313. So Hermann Oldenberg mit Bezug auf eine Passage aus dem buddhistischen Text „Cariya Pitaka“. Siehe Oldenberg: Buddha, a. a. O., S. 313. Vgl. ebd., S. 307. Zitiert nach ebd. Ebd.
251
Dennoch haben sich viele Buddhisten mit der Härte, die dieser Lehre innewohnt, so nicht abfinden wollen oder können. Deshalb wurde die alte buddhistische Lehre individueller Weltabgewandtheit im Laufe der Zeit oft abgefedert, indem sie durch diesseitig orientierte Gemeinschaftsformen ergänzt wurde.1012 Im traditionellen Buddhismus stößt man auf Modelle des Zusammenlebens, die gemäß dem Prinzip universaler Nicht-Feindschaft, gewaltlos sowie antisakrifiziell organisiert waren. Die Einsicht in die gegenseitige Abhängigkeit aller Menschen bedeutete für die Reformer, dass der sangha letztlich nicht auf eine exklusive Elite beschränkt bleiben sollte, sondern dass er universal alles und alle umfasst.1013 Insbesondere der Mahayana-Buddhismus hat als Reformbewegung versucht, sich einer breiteren Anhängerschaft anzubieten und mehr soziale Verantwortung zu übernehmen. Die konsequente Befolgung des Heilsziels des alten Buddhismus war „zwangsläufig sehr ichbezogen. Bei der Überwindung des Durstes ist jeder mit sich alleine; andere Menschen sind eher störend.“1014 Aus diesem Grund versuchte der Mahayana-Buddhismus den sangha zu einer neuen und sozialeren Institution umzugestalten. Die Menschen sollten einander nicht mehr durch ihre Ich-Bezogenheit stören, sondern sich auf ihren Heilswegen ergänzen und unterstützen. Es handelte sich um die Idee einer idealen Gemeinschaft, in der das ethische Diktum der Nicht-Feindschaft auch im Laienkontext vermitteltet werden konnte. Der sangha lebt so nach strengen Prinzipien, die in der heilenden Hinwendung zu allen Wesen ihre Erfüllung finden sollte und auf diese Weise auch eine friedliche Transformation der diesseitigen Welt anstrebte.1015 Freilich war auch die buddhistische Gemeinschaft vor Rückfällen in mythische Gewaltstrukturen nie gefeit. Im alten Buddhismus ist das Töten zwar nicht zulässig. Dennoch gibt es seit etwa dem 4. nach-christlichen Jahrhundert Ausnahmen vom Tötungsverbot, die vor allem im Mahayana-Buddhismus zu finden sind und sich kurioserweise auf das Gebot des unbegrenzten Fühlens beriefen. 1012
1013 1014 1015
Vgl. Bechert: Orthodoxie und Legitimation im Kontext des Früh- und des Theravada-Buddhismus, a. a. O., S. 30. Vgl. Gäng: Buddhismus, a. a. O., S. 157. Ebd. Vgl. Schmidt-Glintzer: Der Buddhismus, a. a. O., S. 51ff.
252
„Wenn etwa ein Wegelagerer unschuldig Reisende aus selbstsüchtigen Gründen umbringen will, darf und soll ein Bodhisvatta (ein nach der Buddhaschaft Strebender) eingreifen und den Angreifer aus Mitleid töten.“1016 Das Mitleid ist hier nun weniger das Mitleid gegenüber dem potenziellem Opfer als vielmehr Mitleid mit dem Täter, der sich durch seine Untat unendliche Qualen zuziehen wird. „Die Tat, die aus Begierde, Hass und Wahn entsprang, / Ob ihrer viel es sind, ob wenige, / Die muss der Tor hier büßen, – / Nicht gibt es eine andere Möglichkeit.“1017 Um zu verhindern, dass der Täter sich weiterhin sein karma verdirbt, ist der Bodhisvatta also bereit, seinerseits die akzeptierten Normen zu übertreten und sich selbst mit dem schlechten karma des Tötens zu belasten. Aber weil seine Absicht gut ist, so erwirbt sich der aus Mitleid Tötende doch einen Karmabonus und rückt seinem Heil ein Stück näher.1018 In diesen Kontext gehört auch die so genannte Praktik des Befreiens. Sie besteht darin, dass „feindliche Mächte, repräsentiert durch ein Bildnis, geopfert, d.h. auf rituelle Weise vernichtet werden und zugleich in eine heilsvolle Seinsweise überführt werden.“1019 Hier ist der Weg zurück in die heilige Gewalt vorgezeichnet. Die Gewalt wird wieder, zumindest symbolisch, durch die Opferung eines Opfers sakralisiert. Dass es sich aber hier um eine gefährliche und zum Missbrauch einladende Deutung des Mitleidprinzips handelt, muss wohl nicht eigens hervorgehoben werden. Vielmehr sollte gezeigt werden, dass diese Praxis des Befreiens in einem deutlichen Gegensatz zur ursprünglichen Einstellung des Buddhismus zu Gewalt und Krieg steht.1020 Im Vordergrund steht die Erlösung vom Bösen und der Gewalt. In diesem Punkt finden die Gründerfiguren von Christentum und Buddhismus zueinander, aber ohne sich zu berühren. Der eine offenbart die Struktur des archaischen Opfers, der andere überlässt es einfach der Vergänglichkeit und legt die Ursache offen, die seit Grundlegung der Menschheit zur Auslösung des Opfermechanis1016 1017
1018 1019 1020
Schmithausen: Zum Problem der Gewalt im Buddhismus, a. a. O., S. 95. Dreifache Bedingungen der Taten (Ang. III, 33), in: Die Lehren des Buddha. Texte aus dem Buddhistischen Pali-Kanon und dem Kammavaca, übertragen von Karl Seidenstücker, überarbeitete Neuausgabe, Paderborn o.J., S. 51. Vgl. Schmithausen: Zum Problem der Gewalt im Buddhismus, a. a. O., S. 96. Ebd., S. 96. Vgl. ebd., S. 97.
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mus führte: die Gewalt. So ist Buddha allein Mensch, aber ein Mensch (so wie die zweite Figur der christlichen Trinität), der gekommen ist, um die Menschheit zu erlösen. Er erlöst sie freilich nicht durch Leiden, sondern durch die Grundwahrheit, dass auch er nur vergänglich ist und als Ziel nur das Nirwana vor sich hat. Und, so bereits Weber, Buddha erlöst exemplarisch, nicht wie Jesus als stellvertretendes Opfer für die Sünden.1021
1021
Vgl. Weber: Hinduismus und Buddhismus, a. a. O., S. 190.
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Schlussbetrachtung
Gewalt, wie sie noch inmitten des zivilisatorischen Fortschritts immer wieder mit voller Wucht zutage tritt,1022 ist nach wie vor das soziologische Zentralproblem.1023 Oft setzen die Analysen, die die Wurzeln des Übels zu fassen suchen, zu kurzsichtig an – als läge die Ursache der Gewalt allein im Fehlschlag individueller Erziehung oder in der pathologischen Fehlentwicklung einzelner Gesellschaftssysteme. Tiefer greift die soziologische Feststellung, dass jede soziale Ordnung auf mehr oder weniger institutionalisierten Formen von Gewalt beruht, deren Funktion die präventive Unterbindung einer Dynamik gesellschaftszerstörender Gewaltentgrenzung ist. Die diagnostizierte funktionale Äquivalenz von archaischem Opfer und dem Gewaltmonopol des von Thomas Hobbes treffend als deus mortalis bezeichneten Staates demonstrierte, dass jede Gesellschaft, gleichviel ob archaisch oder modern, mit der Notwendigkeit gewaltsamer Gewalteindämmung konfrontiert bleibt. Jede Sozialordnung benötigt Sicherheitsventilinstitutionen, die die Dynamik von Gewalt und Gegengewalt stoppen, sobald sie an einem beliebigen Punkt entfesselt wird. So zeigte die Analyse der elementaren Formen der Religion, dass die Präsenz des Religiösen am Ursprung der menschlichen Gesellschaft die Funktion hatte, der Gefahr der Entgrenzung der Gewalt entgegenzutreten. Der Opferkult als zentrale Institution archaischer Religion absorbiert die Gewalt, indem er sie auf ein Opfer ableitet, von dem angenommen wird, dass dieses nicht gerächt werden wird. Gewaltinduziertes, anomisches Chaos schlägt um in soziale Ordnung. Insofern stellt das Opfer einen wichtigen Erklärungsbaustein für das Verständnis der Ausbildung normativer Ordnungsmuster und das Grundproblem
1022 1023
Vgl. André Glucksmann: Hass. Die Rückkehr einer elementaren Urgewalt, München/Wien 2005. Vgl. Peter Imbusch: Moderne und Gewalt. Zivilisationstheoretische Perspektiven auf das 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2005, S. 11ff.
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soziologischen Nachdenkens, also der Frage, wie soziale Ordnung überhaupt möglich wird, dar. Die Analyse der archaischen Religionen zeigt, dass, sobald die Ordnung einer Gesellschaft bedroht ist, für den gesellschaftlichen Krisenzustand Verantwortliche gefunden, stigmatisiert und beseitigt werden. Da das Opfer die Gewalt auf sich zieht, stellt es den Frieden der Gemeinschaft schlagartig wieder her, sodass es nach seiner Ausstoßung in den Stand eines Gottes erhoben wird, der die Gewalt entfesselt, um dann eine Zeit des relativen Friedens einzuläuten. Die Gewalt kann auf diese Weise in Bahnen gelenkt werden, in denen sie wieder zum Stillstand kommen kann. Daher ist dem archaischen Opfer eine in soziologischer Hinsicht expiatorische Wirkung zuzuschreiben. Alle analysierten Elementarformen des sozialen Lebens lassen sich dieser These zuordnen: (a) Da das beseitigte Opfer zuerst stigmatisiert, ausgestoßen und dann im Rahmen eines nicht bewusst wahrgenommenen, also latenten Funktionszusammenhangs divinisiert wird, symbolisieren die religiösen Mythen das Geschehen des gemeinschaftsbegründenden Opfermordes aus der Sicht des Kollektivs. Um das Opfer manifestiert sich eine Epiphanie des Heiligen, in dem sich ein Wechselspiel von Todesgrauen und Lebensfeier einfindet. Von diesen Göttern hat die Gemeinschaft alles zu erhoffen, aber auch alles zu befürchten. Die risikoreiche Anbetung der Gewalt als das Heilige weckt zugleich Befürchtungen und Hoffnungen. Das Heilige verbreitet zugleich Schrecken und Faszination – in seinen elementaren Erscheinungsformen ist es das Produkt einer Sakralisierung der Gewalt. Der religiöse Kult (b) ist die kontrollierte und organisierte Wiederholung einer das Problem sozialer Ordnungsbildung lösenden Urtötung. Er dient dazu, dem Kollektiv in periodischen Abständen seine Gewalt zu entziehen. Das Versagen des Opferkults in archaischen Gemeinschaften ist gleichbedeutend mit der Dissoziation der Gemeinschaft unter dem Ansturm unreiner Gewalt. Tabus und Verbote (c) dienen daher der normativen Krisen- und Gewaltprävention, die das Aufkommen von Gewalt möglichst effektiv unterbinden und zugleich die Ansteckung mit dem Heiligen zu verhindern suchen. Die Organisation der Gemeinschaft (d) wird durch die Einteilung der Welt in einen heiligen und einen profa-
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nen Bereich geleistet. Die Verwaltung des Heiligen obliegt daher immer religiösen Spezialisten, die den riskanten Umgang mit dem Heiligen organisieren.1024 Es entspricht der sozialen Logik des sakrifiziellen Denkens, dass das Töten eines Einzelnen in der Absicht, den gewaltsamen Tod vieler oder gar aller zu verhindern, als legitim erscheint. Das Töten rechtfertigt und bestätigt das Leben, hebt die neue Ordnung feierlich ins Bewusstsein und setzt sie erneut in Geltung. Der sozialen Erschütterung im Akt der Opfertötung antwortet nachträgliche Verfestigung und Reintegration der Gemeinschaft. Es handelt sich hier um einen Mechanismus, der eine Polarität von Inklusion versus Exklusion aufbaut und auf diese Weise die Binnenkohäsion der Gruppe stärkt. Die Solidarität der Gemeinschaft entsteht durch Abgrenzung nach außen und Bindung nach innen. Da das Opfer im Verlauf seiner Opferung der Gruppe aber vollständig entfremdet wird, ist seine ursprüngliche Zugehörigkeit zur Gruppe nach seiner Ausstoßung überhaupt nicht mehr erkennbar. Das Opfer wird als der vollständig Andere, als der Feind der Gemeinschaft exkludiert. Die Gewalt verschiebt sich immer vom Innen gegen das Außen der Gemeinschaft und in dieser Hinsicht entspricht die Gewaltverschiebung im Opfermechanismus dem Prinzip des Gewaltakts gegen äußere Feinde. Die oft bemerkte Wahlverwandtschaft von religiösem Mythos und politischer Ideologie dient als Stützbeleg dieser These. Die Polarität von Inklusion und Exklusion setzt sich in der Moderne im Feld des Politischen als dem Bereich wechselnder Freund-Feind-Konstellationen fort. So ist es die bleibende Aufgabe politischen Denkens und Handelns, Freund-Feind-Konflikte, hier verstanden als Exklusionskonflikte im politischen Feld, zu erkennen und zu entschärfen. Kommt es dennoch zur Gewaltanwendung, so entzünden sich entlang der Grenzen von Inklusion und Exklusion erneut gewalttätige Epiphanien des Heiligen. Der Krieg und seine solidarisierende Wirkung wird für die Gemeinschaft zur eigentlichen Zeit des Heiligen. Der oft beobachtete Tatbestand, dass sich auch säkulare Konflikte ab einem gewissen Intensitätsgrad religiös aufladen, zeigt, dass der Krieg als eine Fortsetzung des archaischen Opfers mit anderen Mitteln betrachtet werden kann. Neuere Studien zum Komplex Religion und 1024
Vgl. die Abb. „Die Ambivalenz des Sakralopfers im Aufbau des Sozialen“ in der Zwischenbetrachtung der vorliegenden Analyse.
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Gewalt im 21. Jahrhundert belegen, dass den gewaltbereiten Religionsbewegungen das ideologische Prinzip eines kosmischen Krieges zugrundeliegt, der mit ausgeprägten In- und Exklusionspolaritäten sowie Freund-Feind-Bildern operiert. Gegen die Sakralisierung der Gewalt, gleichviel ob opferkultisch oder kriegerisch, haben alle im Laufe der Arbeit analysierten Weltreligionen, wenngleich in ganz verschiedenem Ausmaß und mit je eigenen Problemlösungsansätzen, opponiert. Bereits in den archaischen Gesellschaften unterbrach die Religion das Spiel der Gewalt, musste aber als Preis dafür mit dem Leben eines Opfers aufkommen. Allein, das ursprüngliche Menschenopfer konnte im Laufe der Zeit durch Tier- oder auch durch unbelebte Gaben, denen lediglich noch symbolische Gewalt widerfuhr, ersetzt werden. Die prononcierteste Kritik am Opferkult und der ihm inhärenten Gewalt wurde von der jüdisch-christlichen Tradition formuliert. Aus einem von Gewalt gezeichneten Urzustand – „Die Erde aber war in Gottes Augen verdorben, sie war voller Gewalttat“, so der Schöpfungsbericht (Gen 6,11) – führt der lange Weg aus der Gewalt über Abraham und Isaak, die Psalmen, das Josefsgleichnis, Jona und Hiob bis in die ethisch anspruchsvollen Höhen des schuldlos gemarterten Gottesknechts bei Deuterojesaja. Der Gottesknecht, der sich weigert, die Gewalt seiner Verfolger zu erwidern, half schließlich die Christologie zu entbinden. Die jüdisch-christliche Tradition entwindet dem Mythos sukzessive seine Deutungshoheit und konzentriert sich auf die Leiden der unschuldig verfolgten Opfer, denen nun in den heiligen Texten zunehmend Stimme und anteilnehmende Öffentlichkeit verliehen wird. Die Passionsgeschichte bedeutet die endgültige Subversion des Mythos, auch wenn sich das Geschehen in den Bahnen mythischer Erzählstruktur, also dem Dreiklang aus gesellschaftlicher Krise, Opferung und Befriedung der Gesellschaft bewegt. Dennoch ist der Kreuztod Jesu kein Opfer im mythischen Sinn, wie es sich an der Differenz zu Dionysos zeigen ließ, denn soziologisch betrachtet wird der Opfermechanismus, dessen reibungsloses Funktionieren nur im latenten Zustand gewährleistet ist, manifest, indem die Evangelien die Perspektive des Opfers erzählen. Das, was der Mythos als heilig deklarierte, das prangert die Bibel an. Die dynamische Kette von Gewalt und Gegengewalt wird durchbrochen durch das Gebot radikaler, die Grenzen von Inklusion und Exklusion sprengen258
der, also universaler Feindesliebe. An den Christen ergeht der gesinnungsethische Aufruf, dem Bösen nicht mit Gewalt zu widerstehen. Dennoch hat sich das historische Christentum trotz der in Gewaltfragen doch in jeder Hinsicht eindeutigen Anweisungen der Evangelien der Gewalt nicht enthalten. Folgenschwerer Antijudaismus, Ketzer- und Hexenverfolgungen, Gewaltmission, ungehemmte Partizipation an der Staatsgewalt sowie die Kreuzzüge führten zu einer Vielzahl mythischer Regressionen. Kollektive Verfolgungsstrukturen setzten sich erneut durch. Die Kritik an der Gewaltbereitschaft des Monotheismus zielt entsprechend auf die Exklusionspotenziale derjenigen Religionen, die den Feind der offenbarten Wahrheit kennen und zu eliminieren suchen. Allerdings stehen die verheerenden Gewaltausbrüche, die das historische Christentum zu verantworten hat, doch im deutlichen Widerspruch zur Botschaft des Evangeliums. Die Ethik der Bergpredigt und ihr Aufruf zur bedingungslosen Feindesliebe sowie das Gottesbild, in dem nur reine Liebe sich finden soll, führen zum Zerbrechen der gewalttätigen Opferstrukturen. Auf Gewalt muss unbedingt verzichtet werden – notfalls unilateral. Damit stellt die jüdisch-christliche Tradition mit ihrer subversiven Kraft eine welthistorische Singularität dar, die noch im Zeitalter des Relativismus einzigartig bleibt.1025 Die christliche Theologie hat aus diesem Umstand die absolute Wahrheit ihrer Religion abzuleiten versucht. Nur der Sohn eines realexistierenden Gottes könne die Strukturen des Opfers erkennen und eliminieren, da das Kollektiv gegenüber seinen eigenen Handlungen blind sei. Damit wird auf ganz prinzipielle und dogmatische Weise bestritten, dass auch anderen Religionen sich einen Weg aus der opferrituellen Vergemeinschaftungsform hätten erringen können.1026 Allein, für die Soziologie ist jede Religion nur in ihren innerweltlichen Perspektiven verstehbar. Religion ist immer eine menschliche Konstruktionsleistung. Die Frage, ob diese Konstruktionen nicht auch noch mehr beinhalten als die menschliche Welt, muss ausgeklammert bleiben. Die soziologisch nachvollziehbare Differenz des Perspektivenwechsels hin zum unschuldigen Opfer, die die Evangelien vom Mythos entfernt, wird daher als eine (soziologische) Er1025 1026
Vgl. René Girard und Gianni Vattimo: Christentum und Relativismus, Freiburg 2008. So auch die Kritik von Peter Sloterdijk in seinem Nachwort Erwachen im Reich der Eifersucht. Notiz zu René Girards anthropologischer Sendung, in: René Girard: Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz, a. a. O., S. 243-254.
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kenntnisleistung der Evangelisten in einen latenten Funktionszusammenhang, aber nicht als göttliche Offenbarungswahrheit gewürdigt. Die These, dass die Latenz der Opferfunktion nur durch den Sohn Gottes aufgehoben werden kann, ist zwar theologisch überaus originell,1027 übersteigt aber aus soziologischer Sicht nicht die Plausibilität einer rein dogmatischen Vorstellung. Wie oben festgestellt, bedeutet die anerkannte Einzigartigkeit der jüdischchristlichen Tradition mitnichten, dass andere Weltreligionen nicht ebenfalls Wege aus der Gewalt gefunden hätten. So hat auch der Islam seinen ganz eigenen Anteil an der Suspendierung der mythischen Gewalt. Seinem erklärten Selbstverständnis nach ist er die Religion Abrahams, die wieder in ihr Recht gesetzt werden soll. Mit dem verhinderten Sohnopfer gelang allerdings erst der erste Schritt in die Richtung einer Rehabilitierung des Sakralopfers. Eine Weiterentwicklung der Gewalt- und Opferkritik über das abrahamitische Element hinaus erscheint angesichts der aktuellen Weltlage notwendig, um den auch heute noch gebräuchlichen archaisch-ritualistischen und gewaltverhafteten Deutungen des Islam entgegentreten zu können. An dieser Stelle soll noch einmal betont werden, dass die Notwendigkeit einer Kritik des islamischen Gewaltpotenzials in islamischen Kreisen – z.B. von Muhammed Arkoun oder Tarif Khalidi – selbst formuliert wird. Allen essentialistischen Deutungen, die die Gewalt im Wesen des Islam selbst verankert sehen wollen, ist daher mit Widerspruch zu begegnen. Führende islamische Theologen und Wissenschaftler haben wertvolle Pionierarbeit geleistet, die den entscheidenden Symbolen und Kulten, beispielsweise dem islamischen Opferfest, einen gewaltfreien, vielleicht sogar entmythologisierenden Sinn verleihen könnten. In diesem Zusammenhang ist vor allem Khalidis Entwurf eines muslimischen Evangeliums zu nennen, das sich anschickt, archaische Restbestände zu neutralisieren. Ebenso erschließen die fernöstlichen Traditionen stabile Räume der Gewaltfreiheit. Am Anfang steht auch hier wieder die Macht der Gewalt. Der Hinduismus entspringt dem Gründungsmord am Ur-Opfer Purusa, aus dessen zerstückel1027
So auch die kritische Würdigung der theologischen Studie René Girards: „Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz“ von Hartmann Tyrell: So weit die Füße des Mythos tragen. René Girard schreibt im Namen Satans eine Apologie des Christentums, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 05.11.2002.
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tem Körper die Kastenordnung beziehungsweise das varna-System entsteht. „Mit dem Opfer opferten die Götter dem Opfer. Dies waren die ersten Normen (des Opfers)“1028, so heißt es im 10. Liederkreis des Rgveda. Aber auch im Hinduismus kommt Skepsis gegenüber den Gewaltaspekten des rituellen Opfers, also gegenüber dem himsa-Denken, auf. Der Weg aus der Gewalt führt im Fernen Osten aber nicht über die Offenbarung eines persönlich ansprechbaren Gottes, der das unschuldige Opfer rehabilitiert, sondern er führt den Menschen zur Verinnerlichung und Neuinterpretation des kultischen Opfers, das seines Gewaltgehaltes entkleidet wird. Auf diese Weise entsteht die Chance, die Wirksamkeit des Opfers ohne Opfer zu erzeugen. So wie das Opfer auf Gewalt beruhte (himsa), so führt seine Negation schließlich zu ahimsa. So behält auch hier die kollektive Gewalt nicht das letzte Wort. Das ahimsa-Denken ersetzt sukzessiv die sakrifiziellen Systeme. Mit den Upanishaden beschreitet der Mensch den Weg nach innen und tritt ruhig aus der Welt und ihrer Gewalt heraus. Nicht die Sakralisierung der Gewalt im Opferkult, sondern die religiöse Kontemplation führt zum Heil. Der Mensch ist in der Vorstellungswelt der Upanishaden an das unheilvolle Rad des ewigen Wiederwerdens gefesselt (samsara). Die Fessel, die ihn hält, ist das karma. Der Kreislauf des Lebens, der seit dem Gründungsmord an Purusa durch seine Gewaltstrukturen gekennzeichnet ist, kann nur verlassen werden, wenn kein neues karma angesammelt wird. Die vermutlich wichtigste Strategie zur Vermeidung von karma ist die Befolgung von ahimsa. Das religiöse Heil ist weder durch weltliches Handeln, noch durch den Vollzug des rituellen Opfers, das nur tiefer in karmische Verstrickungen führt, zu erlangen. Ein entscheidendes Mittel um dem karma-samsaraKomplex zu entfliehen, ist das Abstandhalten von der Gewalt. So kommen die Upanishaden aus dem Opfer und führen in die Askese, für die das ahimsa-Denken im Laufe der Jahrhunderte unverzichtbarer Bestandteil wird. Das ahimsa-Prinzip schlägt freilich einen anderen Weg der Gewaltentmächtigung als die nahöstlichen Traditionen ein. Während das Evangelium von der Opferkritik zur Gewaltkritik schreitet, verläuft der Weg im Hinduismus umgekehrt: Die Kritik der reziproken Gewalt führt zur Kritik der rituellen Systeme. Nicht die Aufhebung persekutorischer Nichtbewusstheit, sondern die Einsicht, 1028
Rgveda, a. a. O., S. 286.
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dass alle Lebewesen Teil der einen Wirklichkeit sind, führt zu der Überzeugung, dass eine Schädigung von Lebewesen dem eigenen Heil abträglich sein muss. Bereits das böse Wort gegenüber dem Nächsten wird verurteilt. So heißt es in der Chandoyoga-Upanishad: „Wenn einer gegen Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Lehrer oder Hauspriester etwas hart Scheinendes sagt, so entgegnet man ihm: ‚Pfui über dich, du tötest ja deinen Vater, du tötest ja deine Mutter, du tötest ja deinen Bruder, du tötest ja deine Schwester, du tötest ja deinen Lehrer, du tötest ja deinen Hauspriester‘.“1029 Die ethische Vollendung dieses ahimsa-Denkens findet sich in dem buddhistischen Gebot der Nicht-Feindschaft, das, trotz aller Differenzen der sittlichen Potenzen, der christlichen Ethik universaler Feindesliebe nicht nachsteht. Mythische Gottheiten und die Gewalt, die sie erst mit Leben ausstattet, werden vom Buddhismus suspendiert. Die Antwort, die der Buddha auf die Leiden, die durch Rivalität und Gewalt verursacht wurden, gab, war konsequente Gewaltlosigkeit. Die vier edlen Wahrheiten und der achtgliedrige Pfad der Erleuchtung überwinden den Hass, der die Menschen zu Gewalt und Opfer treibt. Im Gegensatz zu den Evangelien werden nicht die kultischen Opfer, sondern die Ursachen der Gewalt, die die Notwendigkeit des Opfers überhaupt erst begründen, offengelegt und neutralisiert. Der Buddhismus kennt entsprechend keinen zum Opfer gemachten Gott oder ein zur Gottheit erhobenes Opfer und setzt sich also entschieden von der archaischen Anbetung des Heiligen als der Gewalt ab. Buddhistisches Heilsziel ist die individuelle Selbsterlösung. Dem sich möglicherweise aufdrängenden Einwand, dass der alte Buddhismus nur die weltabgewandte Selbsterlösung als Heilsziel kenne, seinen Nächsten vernachlässige und zur Gemeinschaftsstiftung gar nicht fähig sei, ist zu entgegnen, dass sich die buddhistische Strategie hinsichtlich der Gewaltkritik historisch betrachtet durchaus bewährt hat. Im Gegensatz zu den abrahamitischen Religionen und ihrem offensiven Anspruch auf Universalerlösung (vom Mythos, vom Opfer, von der archaischen Gewalt) hat der Buddhismus faktisch nur sehr wenig Gewalt zu verantworten. Zugleich haben sich im Laufe der Zeit Varianten des Buddhismus entwickelt, die die Erlösung aller Lebewesen dieser Welt aus dem Leid und der
1029
Aus der Chandoyoga-Upanishad, in: Die Upanishaden, a. a. O., S. 119.
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Gewalt des Daseins anstreben, somit den reinen Heilsindividualismus überwinden und daher auch stärkere Solidaritätsformen stiften können. Es zeichnet sich also zum Schluss der Beleg dafür ab, dass sich alle Weltreligionen von der archaischen Anbetung des Heiligen als der Gewalt absetzen. In dieser Perspektive lassen sich die Ur-Kunden der Religionen als geistesgeschichtliche Dokumente eines früh einsetzenden Zivilisationsprozesses lesen, der zu einer sukzessiven Abnahme von Gewalt im sozialen Gefüge führte. Allerdings sind auch alle Religionen unter historisch kontingenten Umständen neue Verbindungen mit der Gewalt eingegangen. Daher hat Norbert Elias auch mit guten Gründen bestritten, dass von den Religionen zivilisierende Effekte ausgehen könnten. Bei ihm ist nachzulesen: „Die Religion, das Bewusstsein der strafenden und beglückenden Allmacht Gottes, wirkt für sich allein niemals zivilisierend. Umgekehrt: Die Religion ist jeweils genau so ‚zivilisiert‘ […] wie die Gesellschaft oder wie die Schicht, die sie trägt.“1030 Allerdings ist Elias an diesem Punkt doch entgegenzuhalten, dass sich Religionen von Anbeginn an mit den gewaltsamen Gefährdungen der Gesellschaft auseinandergesetzt haben. In den oben analysierten Ur-Kunden der Weltreligionen nahm immer auch das Ringen um ein gewaltfreieres Leben Gestalt an. Trotzdem ist von einer bleibenden Ambivalenz der Weltreligionen, von einem Janusgesicht des Religiösen auszugehen. Ein in jeder Hinsicht eindeutiger Zusammenhang zwischen Religion und Gewalt lässt sich religions- und gewaltsoziologisch nicht – weder positiv noch negativ – feststellen. Dennoch lässt sich am Ende der vorliegenden Analyse mit aller Vorsicht die optimistische These vertreten, dass die Heilslehren der Weltreligionen – anders als die archaischen Opferreligionen – nicht mehr strukturell mit Gewalt verbunden sind. Entsprechend wurde gezeigt, dass die Legitimation von Gewalt oft in einem erkennbaren Gegensatz zu den Ur-Kunden der Weltreligionen und ihren Auffassungen von Gewalt steht. Die Einsicht, dass die Weltreligionen zu einer Entkoppelung des Heiligen und der Gewalt führen, muss einer sich im 21. Jahrhundert abzeichnenden neuen Gewaltsakralisierung fundamentalistischer oder terroristischer Provenienz entge1030
Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Band 1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, Amsterdam 1997, S. 370.
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gengesetzt werden. Angesichts einer in der Moderne festzustellenden Rückkehr der Religion scheint es notwendig, dass die religiösen Autoritäten, mit Weber: die religiösen Trägerschichten,1031 die Gläubigen an die in jeder Religion enthaltene Ethik des Gewaltverzichts heranführen und die verfügbaren ethischen Bestände religiöser Gewaltlosigkeit zum Wohle der Gesellschaft einsetzen. Wer Gewalt noch zum Merkmal des Heiligen erhebt, der kann angesichts des hier vorliegenden Befundes gewogen und zu leicht befunden werden.1032 Die Achtung und Bewahrung der Heilsbotschaften, die das Heilige und die Gewalt voneinander trennen, wird so das ethische Maß, mithin die Waagschale, die den Religionen künftig ihre Daseinsberechtigung in der Moderne geben wird.
1031 1032
Vgl. Weber: Religiöse Gemeinschaften, a. a. O., S. 77. Frei nach Dan 5,27: „Gewogen wurdest du auf der Waage und zu leicht befunden.“
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