John Katzenbach
Das Opfer
Psychothriller
Aus dem Amerikanischen von Anke Kreutzer
Gewidmet den üblichen Verdächtig...
114 downloads
1425 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
John Katzenbach
Das Opfer
Psychothriller
Aus dem Amerikanischen von Anke Kreutzer
Gewidmet den üblichen Verdächtigen: Frau, Kindern, Hund
Wollen Sie eine Geschichte hören? Eine wirklich außergewöhnliche Geschichte?« »Sicher!« »Gut. Aber zuerst müssen Sie mir etwas versprechen: dass Sie niemals irgendjemandem verraten, woher Sie diese
Geschichte haben. Und falls Sie sie jemals weitererzählen – egal wo, unter welchen Umständen und in welcher Form –, Sie müssen versprechen, dass Sie genug verschweigen, um die Spur zu mir und zu den Menschen, von denen sie handelt, zu verwischen. Niemand darf je erfahren, ob sie wahr ist oder nicht. Niemand darf je ihre genaue Quelle offenlegen. Und jeder muss automatisch davon ausgehen, dass sie genau wie alle anderen Geschichten, die Sie erzählen, frei erfunden ist.« »Dramatisieren Sie nicht ein bisschen? Worum geht es in der Geschichte überhaupt?« »Es wird jemand getötet. Es ist vor ein paar Jahren passiert, vielleicht aber auch nicht. Möchten Sie die Geschichte hören?« »Ja.« »Dann geben Sie mir Ihr Wort.« »In Ordnung. Sie haben mein Wort.« Es lag eine nervöse Unruhe in ihrem Blick, und ihre Stimme ließ dunkle Vorahnungen erwachen, als sie sich vorbeugte, einmal tief Luft holte und sagte: »Im Grunde fing alles an, als er den Liebesbrief fand.«
1 Der Geschichtsprofessor und die beiden Frauen
Als Scott Freeman den Brief, den er im Zimmer seiner Tochter in der obersten Kommodenschublade gefunden hatte, zusammengeknüllt hinter alten, weißen Sportsocken, zum ersten Mal las, begriff er mit einem Schlag, dass jemand sterben würde. Er hätte dieses Gefühl nicht wirklich benennen können, aber es überkam ihn wie eine böse Ahnung und nistete sich eiskalt in seinem Hinterkopf ein. Er stand wie erstarrt und las immer wieder dieselben Worte: Keiner könnte dich
jemals so lieben wie ich, weder heute, noch irgendwann. Wir sind füreinander bestimmt, und daran wird nichts und niemand etwas ändern. Gar nichts. Wir werden für immer zusammen sein. So oder so. Der Brief trug keine Unterschrift. Er war auf gewöhnlichem Computerpapier getippt – kursiv gesetzt, so dass es an eine altmodische Handschrift erinnerte. Da Scott keinen Umschlag dazu finden konnte, gab es weder Absender noch Poststempel, die ihm weitergeholfen hätten. Er legte den Brief auf den Schreibtisch und versuchte, die Knitter zu glätten, die dem
Blatt Nachdruck und Bedrohlichkeit verliehen. Er betrachtete die Worte aufs Neue und versuchte, sie in einem harmlosen Licht zu sehen. Die Liebesbeteuerungen eines Grün schnabels, nichts weiter als die Vernarrtheit eines Kommili tonen, eine Schwärmerei, die Ashley nur deshalb vor ihnen verschwiegen hatte, weil sie selbst nur eine alberne Gefühls duselei darin erkennen konnte. Im Ernst, versuchte er sich einzureden, du siehst Gespenster. Doch nichts konnte verhindern, dass es ihm eiskalt den Rücken hinunterlief. Scott Freeman hielt sich nicht für einen unbesonnenen oder leicht aufbrausenden Mann. Er neigte weiß Gott nicht zu Kurzschlussreaktionen, sondern war ein Mensch, der grundsätzlich das Für und Wider jeder Entscheidung abwog und jede Facette seines Lebens unter die Lupe nahm wie einen geschliffenen Diamanten. Er war durch und durch Akademiker. Als Reminiszenz an seine Jugend in den späten sechziger Jahren trug er sein Haar zottelig lang, meist lief er in Jeans und Turnschuhen herum, dazu standesgemäß ein abgetragenes Kord jackett mit Lederflicken an den Ärmeln. Zum Autofahren wie zum Lesen brauchte er jeweils eine Brille, und er achtete darauf, dass er sie immer bei sich hatte. Mit täglicher sportlicher Betätigung hielt er sich fit – bei gutem Wetter durch Joggen, im langen New England-Winter auf einem Laufband im Haus. Teils machte er das zum Ausgleich dafür, dass er sich zuweilen einsam betrank und sich
manchmal zum Scotch on the Rocks eine Marihuanazigarette gönnte. Scott war stolz auf seine Lehrtätigkeit, die ihm jeden Tag aufs Neue Gelegenheit bot, sich vor einem vollen Hörsaal wirkungsvoll in Szene zu setzen. Außerdem liebte er sein Fachgebiet und fieberte jeden Sommer dem September entgegen, statt den müden Zynismus vieler seiner Kollegen zu teilen. Er führte, fand er, ein äußerst geregeltes Leben, und da er den Details der Vergangenheit vielleicht allzu viel Begeisterung entgegenbrachte, leistete er sich als Kontrastprogramm einen zehn Jahre alten Porsche 911, den er – außer wenn es schneite – tagtäglich zu plärrender Rock-and-Roll-Musik fuhr. Für den Winter hielt er sich einen ramponierten Pickup. Er hatte die eine oder andere Affäre, allerdings nur mit Frauen seines Alters, die ihre Erwartungen nicht allzu hoch schraubten und ihn nicht daran hinderten, seine ganze Passion den Red Sox, den Patriots, den Celtics und den Bruins sowie sämtlichen Sportmannschaften am College zu widmen. Er hielt sich für einen Mann der Routine, und manchmal kam ihm der Gedanke, dass er in seinem ganzen Leben als Erwachsener nur drei richtige Abenteuer erlebt hatte: Einmal hatte ihn, als er mit Freunden vor der Felsenküste Maines Kajak fuhr, eine starke Strömung und ein plötzlicher Nebel von seinen Gefährten getrennt, und er war stundenlang in einer grauen, stillen Dunstglocke dahingetrieben, in der die einzigen Geräusche, die ihn begleiteten, das Klatschen der Wellen an die Plastikwände
seines Kajaks und das gelegentliche Luftschnappen einer Robbe oder eines Tümmlers in seiner Nähe waren. Die feuchte Kälte war ihm den Rücken hochgekrochen und hatte ihm die Sicht getrübt. Er hatte gewusst, dass er sich in Gefahr befand, vielleicht sogar weit mehr, als er ahnte, doch er hatte nicht die Nerven verloren, sondern gewartet, bis das Boot der Küstenwache aus dem Nebel auftauchte. Der Kapitän hatte ihm klargemacht, er hätte sich nur noch wenige Meter von einer starken Meeresströmung befunden, die ihn aufs offene Meer hinausgezogen hätte, und so hatte er nach seiner Rettung bedeutend mehr Angst gehabt als mitten in der prekären Lage. Das war eines seiner Abenteuer gewesen. Die anderen beiden hatten länger gedauert. Mit achtzehn, als frischgebackener Studienanfänger, hatte Scott es abgelehnt, sich vom Wehrdienst zurückstellen zu lassen, weil er es nicht mit seiner Moral vereinbaren konnte, dass andere sich einer Gefahr aussetzten, die er selbst mied. Damals erschien ihm dieses jugendlich hochfliegende Ehrgefühl moralisch geboten, doch als der Musterungsbescheid kam, war alle Romantik verflogen. In kürzester Zeit fand er sich zuerst als Rekrut wieder und wenig später bei einer Versorgungseinheit in Vietnam. Ein halbes Jahr lang diente er bei der Artillerie. Seine Aufgabe bestand darin, Koordinaten über Funk zu empfangen und an den Frontkommandeur weiterzuleiten, der Schusshöhe und -weite darauf abstimmte und unter lautem Zischen die nächsten Salven abfeuern ließ – worauf ein Grollen folgte,
das ihm immer viel tiefer in den Ohren hallte als jeder Donner. Später verfolgten ihn Alpträume, in denen er Teil einer Tötungsmaschinerie war, die außerhalb seiner Sichtund Reichweite ablief und die er zuweilen nicht einmal hören konnte, so dass er mitten in der Nacht erwachte und sich fragte, ob er Dutzende, Hunderte oder auch niemanden umgebracht hatte. Im Zuge eines turnusmäßigen Truppenwechsels kam er nach einem Jahr heim, ohne auch nur einen einzigen Schuss auf jemanden abgegeben zu haben, den er hätte sehen können. Nach dem Wehrdienst hatte er um die Politik, die in seinem Land hohe Wellen schlug, einen großen Bogen gemacht und sich mit einer Zielstrebigkeit in sein Studium gestürzt, die ihn selbst überraschte. Nachdem er den Krieg aus eigener Erfahrung kannte, fand er Trost in der Geschichte, in Entscheidungen, die vor langer Zeit gefallen waren, in großen Passionen, die nur noch als Echo widerhallten. Er sprach nicht über seine Zeit beim Militär, und jetzt, im mittleren Alter, als unkündbare Respektsperson, bezweifelte er sehr, ob auch nur ein einziger seiner Kollegen wusste, dass er im Krieg gewesen war, zumal es ihm selbst oft wie ein Traum, vielleicht ein Alptraum vorkam und nicht wie ein tatsächliches, todbringendes Lebensjahr. Sein drittes Abenteuer war natürlich Ashley gewesen. Scott Freeman nahm den Brief, ging zu Ashleys Bett und
setzte sich auf die Kante. Auf dem Bett lagen drei Kissen, und eins davon, das er ihr vor über drei Jahren zum Valentinstag geschenkt hatte, war mit einem Herzen bestickt. Außerdem saßen da noch die beiden Teddybären, die sie Alphonse und Gaston getauft hatte, und eine ausgefranste Steppdecke, die sie zu ihrer Geburt bekommen hatte. Beim Anblick der Decke musste Scott daran denken, wie sie in den Wochen vor Ashleys Geburt Witze darüber gemacht hatten, dass beide Großmütter dem noch ungeborenen Kind Steppdecken schenkten. Die andere befand sich auf einem ähnlichen Bett in einem ähnlichen Zimmer im Haus ihrer Mutter. Sein Blick wanderte durch das Zimmer. An einer Wand hingen Fotos von Ashley mit Freunden, außerdem alle möglichen Trophäen, einschließlich Zetteln in der flüssig akkuraten Handschrift von Schülerinnen. Da prangten Poster von Athleten und Poeten, ein gerahmtes Gedicht von William Butler Yeats, das mit den Worten endete: Ich
leide, wenn ich dich küsse, / Da ich wissen muss, / Dass ich Dich vermissen werde, / Wenn du erwachsen bist. Er hatte es ihr zum fünften Geburtstag geschenkt und oft beim Einschlafen ins Ohr geflüstert. Es gab Fotos von ihren verschiedenen Fußball- und Softball-Teams sowie ein Bild vom Highschool-Abschlussball, das genau in der Blüte ihrer jugendlichen Schönheit entstanden war, Ashley in einem Kleid, das sich eng an jede neu entdeckte Kurve schmiegte, das Haar fiel ihr anmutig auf die nackten, schimmernden Schultern. Scott Freeman wurde bewusst,
dass er hier das typische Sammelsurium an Erinnerungen vor Augen hatte, die klassische Dokumentation einer Kindheit, so wie vermutlich in jedem xbeliebigen anderen Jugendzimmer, und doch auf seine Weise einmalig. Eine Archäologie des Erwachsenwerdens. Auf einem Foto posierten sie alle drei. Ashley war sechs, als es, vielleicht einen Monat bevor ihre Mutter ihn verließ, entstand. Es stammte vom Strandurlaub der Familie, und es schien ihm, als läge etwas Hilfloses in dem Lächeln, das sie alle drei aufgesetzt hatten. Ashley hatte an diesem Tag zusammen mit ihrer Mutter eine Sandburg gebaut, doch die Flut hatte ihre Mühe zunichte gemacht und ihr ganzes Gebäude unterspült, obwohl sie in wildem Eifer Burggräben angelegt und Sandwälle aufgetürmt hatten. Er suchte die Wände, die Schreibtischplatte und die Schubladen ab und konnte absolut nichts Ungewöhnliches entdecken. Das beunruhigte ihn erst recht. Scott sah noch einmal auf den Brief. Keiner könnte dich jemals so lieben wie ich. Er schüttelte den Kopf. Das stimmte nicht, dachte er. Jeder liebte Ashley. Was ihm Angst machte, war die Vorstellung, dass jemand von diesem Unsinn überzeugt war. Für einen Moment versuchte er sich noch einmal einzureden, er leide nur an
einem dummen, übertriebenen Beschützerinstinkt. Ashley war kein Teenager mehr, nicht einmal mehr eine CollegeStudentin. Sie hatte sich für ein Aufbaustudium in Kunstgeschichte in Boston eingeschrieben und führte ihr eigenes Leben. Der Brief war nicht unterschrieben. Demnach wusste sie, von wem er kam. Anonymität war eine ebenso aussagekräftige Signatur wie ein Name. Neben Ashleys Bett stand ein rosa Telefon. Er nahm es und wählte ihre Handynummer. Sie meldete sich beim zweiten Klingeln. »Hi, Dad, was gibt’s?« In ihrer Stimme schwang Jugend, Enthusiasmus und Vertrauen mit. Erleichtert atmete er langsam aus. »Gibt’s was Neues?«, fragte er. »Wollte nur mal deine Stimme hören.« Momentanes Zögern. Das gefiel ihm nicht. »Nichts Besonderes eigentlich. Mit dem Studium läuft’s gut. Die Arbeit ist, na ja, wie Arbeit eben ist. Aber das weißt du ja alles. Eigentlich hat sich nichts geändert, seit
ich letzte Woche zu Hause war.« Er holte tief Luft. »Da habe ich dich kaum zu Gesicht bekommen. Und wir hatten nicht viel Gelegenheit, miteinander zu reden. Ich wollte mich nur vergewissern, dass bei dir alles in Ordnung ist. Kein Ärger mit deinem neuen Boss oder einem der Profs? Hast du schon eine Rückmeldung wegen des Studiengangs, für den du dich beworben hast?« Wieder schwieg sie einen Moment. »Nein, eigentlich nicht.« Er hüstelte. »Was ist mit Jungs. Männer wohl eher. Irgendwas, das ich wissen sollte?« Sie antwortete nicht sofort. »Ashley?« »Nein«, erwiderte sie hastig. »Eigentlich nicht. Jedenfalls nichts, womit ich nicht selbst klarkommen würde!« Er wartete. Doch sie sagte nichts mehr. »Gibt es etwas, das du mir erzählen möchtest?« »Nein, nicht, dass ich wüsste. Also, Dad, willst du mir nicht verraten, was du mit dem Verhör bezweckst?«
Die Frage war in einem scherzhaften Ton gestellt, der zu seiner besorgten Stimmung nicht recht passte. »Versuche nur, irgendwie auf dem Laufenden zu bleiben. Dein Leben rauscht einfach an mir vorbei«, erklärte er, »und ab und zu muss ich dir einfach hinterherjagen und dich stellen.« Sie lachte, auch wenn es nicht wirklich von Herzen kam. »Na ja, deine alte Klapperkiste ist ja zumindest schnell genug.« »Irgendetwas, worüber wir reden sollten?«, wiederholte er und sah im selben Moment missmutig zu Boden, da ihr das überflüssige Nachhaken natürlich nicht entgehen konnte. Sie antwortete prompt: »Noch einmal, nein. Wieso fragst du? Hast du irgendwas?« »Nein, nein, alles in Ordnung.« »Und Mom? Und Hope? Geht’s ihnen gut?« Er hielt die Luft an. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie die Lebensgefährtin ihrer Mutter beim Namen nannte, brachte ihn aus dem Konzept, auch wenn er sich nach so vielen Jahren allmählich daran gewöhnt haben sollte. »Alles bestens. Bei beiden, nehme ich an.«
»Wieso rufst du dann an? Macht dir sonst etwas zu schaffen?« Er betrachtete den Brief. »Nein, nichts. Nichts Besonderes. Wollte nur mal hören. Für alle Fälle. So ist das nun mal bei Vätern: Uns macht ständig was zu schaffen, wir machen uns grundsätzlich Sorgen, wir malen uns immer das Schlimmste aus. Wir sehen an allen Ecken und Enden Gefahren lauern. Deshalb sind wir die langweiligsten, absolut farblosesten Menschen auf der Welt.« Er hörte sie lachen und fühlte sich gleich etwas besser. »Hör mal, ich muss ins Museum. Ich melde mich bald wieder, okay?« »Sicher. Ich liebe dich.« »Ich dich auch, Dad. Bis dann.« Er legte auf, und ihm kam der Gedanke, dass manchmal das, was man nicht hört, wichtiger ist als das, was gesagt wird. Und eben hatte er zwischen den Zeilen nur Probleme herausgehört.
Hope Frazier beobachtete die Rechtsaußen der gegnerischen Seite genau. Die junge Frau neigte dazu, ihre Spielfeldseite an sich zu reißen, so dass die
Verteidigerin hinter ihr frei stand. Hopes eigene Spielerin, die eng deckte, sah noch nicht recht, wie sie die Risikofreude ihrer Gegnerin in eine Offensive ummünzen sollte. Hope schritt ein Stück die Seitenlinie ab, dachte einen Moment daran, die Spielerin auszuwechseln, überlegte es sich dann aber anders. Sie zog einen kleinen Schreibblock aus ihrer Gesäßtasche, suchte einen Bleistiftstummel in der Jacke und machte sich eine kurze Notiz. Etwas, das beim Training zur Sprache kommen sollte, dachte sie. Hinter sich hörte sie Gemurmel von den Mädchen auf der Bank; sie waren an das Bild gewöhnt, wie der Block während eines Spiels herausschnellte. Manchmal bedeutete das ein späteres Lob, mitunter aber auch sein paar extra Laufrunden nach dem Training am nächsten Tag. Hope drehte sich zu den Mädchen um. »Sieht irgendjemand, was ich sehe?« Einen Augenblick herrschte Schweigen. HighschoolMädchen, dachte sie. Eben noch die große Klappe, dann bringen sie kein Wort heraus. Ein Mädchen zeigte auf. »Ja, Molly, was?« Molly stand auf und zeigte auf die Rechtsaußen. »Die macht uns auf ihrer Seite ziemlich Probleme, aber wir könnten uns ihren Leichtsinn zunutze machen …« Hope klatschte in die Hände. »Der Meinung bin ich auch!«
Sie sah, wie die anderen Mädchen grinsten. Also morgen keine extra Runden. »Also dann, Molly, wärm dich auf und geh ins Spiel. Geh für Sarah im Mittelfeld rein, sieh zu, dass du den Ball unter Kontrolle bekommst, und mach was aus deiner Position.« Hope ging zur Bank hinüber und setzte sich auf Mollys Platz. »Seht euch das Spielfeld an, meine Damen«, sagte sie ruhig. »Habt das Ganze im Auge. Es geht nicht immer nur um den Ball zu euren Füßen, es geht auch um Raum, Zeit, Geduld und Engagement. Es ist wie Schach. Ihr müsst aus einer Schwäche Vorteil ziehen können.« Als die Menge plötzlich lauter wurde, sah sie auf. An der gegenüberliegenden Seitenlinie hatte es einen Zusammenprall gegeben, und ein paar Leute forderten wild gestikulierend die Schiedsrichterin auf, die gelbe Karte zu zücken. Ein besonders wütender Vater marschierte am Spielfeld auf und ab und fuchtelte mit den Armen. Hope erhob sich und lief ein Stück entlang der Seitenlinie, um zu sehen, was passiert war. »Trainerin …« Sie blickte auf und sah, dass der Linienrichter auf ihrer Seite ihr zuwinkte. »Ich glaube, die brauchen Sie …«
Sie beobachtete, wie der Trainer des gegnerischen Teams bereits im Eiltempo über das Spielfeld lief, und so legte sie selbst einen Schritt zu, während sie einen Verbandskasten und eine Flasche Jod aus der Tasche zog. Sie machte einen kleinen Bogen in Richtung Molly. »Molly … ich hab’s nicht mitbekommen. Was ist passiert?« »Die sind mit den Köpfen zusammengestoßen. Ich glaube, Vicki ist die Luft weggeblieben, aber das andere Mädchen scheint es schlimmer erwischt zu haben.« Als sie die Stelle erreichte, konnte ihre Spielerin schon wieder sitzen, doch die Gegnerin lag am Boden, und Hope hörte leises Schluchzen. Sie ging zuerst zu ihrem Schützling. »Alles in Ordnung, Vicki?« Das Mädchen nickte, doch ihr stand Angst ins Gesicht geschrieben. »Tut’s irgendwo weh?« Einige der Spielerinnen hatten eine Traube gebildet, und Hope schickte sie wieder an ihre jeweiligen Positionen. »Was meinst du? Kannst du aufstehen?« Vicki nickte erneut, und Hope stützte sie am Arm. »Setzen wir uns eine Weile auf die Bank«, sagte sie ruhig. Vicki schüttelte den Kopf, doch Hope packte sie fester am Arm. An den nächstgelegenen Seitenlinien hatte einer der Väter die Stimme erhoben und ließ eine wüste Beschimpfung gegen den geg nerischen Trainer vom Stapel. Bis jetzt war
es noch nicht in Obszönitäten ausgeartet, doch Hope wusste, dass dazu nicht mehr viel fehlte. Sie drehte sich in seine Richtung um. »Immer hübsch die Ruhe bewahren«, rief sie zu ihm. »Sie kennen die Regeln in Bezug auf Verunglimpfungen.« Der Mann wandte den Blick langsam vom Spielfeld zu ihr. Sie sah, wie er den Mund aufmachte, als wollte er etwas sagen, dann aber innehielt. Eine Sekunde sah es so aus, als wolle er seiner Wut freien Lauf lassen. Ihm war anzusehen, dass er sich nur mit größter Mühe beherrschen konnte, doch er quittierte Hopes Bemerkung nur mit einem funkelnden Blick und sah weg. Hope hörte, wie der andere Trainer »Idiot!« murmelte. Sie geleitete Vicki langsam vom Spielfeld. Das Mädchen war noch ein bisschen wacklig auf den Beinen, doch sie brachte immerhin heraus: »Mein Dad sieht schnell rot.« Die Worte kamen in einem ebenso schlichten wie verletzten Ton, und Hope begriff in dieser Sekunde, dass es um weit mehr als einen Zusammenstoß auf dem Spielfeld ging. »Vielleicht solltest du diese Woche nach dem Training zu mir kommen und mit mir darüber reden. Oder komm in einer Freistunde zu mir ins Sprechzimmer.« Vicky schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Coach. Geht nicht. Das lässt er nicht zu.«
Schluss, aus. Hope drückte dem Mädchen den Arm. »Dann bei anderer Gelegenheit.« Sie hoffte, dass sich eine ergeben würde. Es ging nicht fair zu, musste sie denken, als sie Vicki auf die Bank setzte und eine neue Spielerin einwechselte, es gab keine gleichen Chancen für alle. Sie blickte auf die andere Seite des Spielfelds, wo Vickis Vater ein Stück von den anderen Eltern entfernt mit verschränkten Armen und funkelnden Augen stand, als zählte er die Sekunden, in denen Vicki nicht mitspielen konnte. Hope wurde plötzlich klar, dass sie stärker, schneller und wahrscheinlich gebildeter war als der Vater und ganz gewiss mehr von Fußball verstand. Sie hatte jede Trainerlizenz erworben, an jedem Weiterbildungsseminar teilgenommen, und hätte sie in dem Moment einen Ball vor den Füßen gehabt, dann wäre es ihr gewiss nicht schwergefallen, den cholerischen Vater zu beschämen und ihn mit ein bisschen trickreicher Beinarbeit und schnellen Tempowechseln aus dem Konzept zu bringen. Aber selbst wenn sie nicht nur ihr eigenes Können ins Spiel gebracht hätte, sondern auch die Meisterschaftstrophäen sowie ihr NCAA-Zertifikat, das für die gesamten Staaten galt, hätte das alles nichts an der ganzen Sache geändert. Hope überkam eine Woge der Frustration, die sie wie so oft unterdrückte. Während ihr diese Dinge durch den Kopf gingen, löste sich eine ihrer Spielerinnen an der rechten Flanke, preschte nach vorn und
donnerte den Ball schnell und geschickt an der Torhüterin vorbei. Gewinnen, dachte Hope, als die Mädchen ihrer Mannschaft lachend und jubelnd von den Bänken sprangen und sich gegenseitig in die Hände klatschten, Gewinnen war vielleicht das Einzige, was ihr Sicherheit gab.
Sally Freeman-Richards wartete im Dämmerlicht des späten Oktobernachmittags in ihrem Büro, nachdem ihre Sekretärin wie auch die beiden Partneranwälte ihrer Kanzlei sich verabschiedet und in die abendliche Rushhour gestürzt hatten. Zu bestimmten Jahreszeiten, besonders aber im Herbst, senkte sich die untergehende Sonne aggressiv hinter die weißen Türme der episkopalen Kirche am Rande des College-Campus und flutete gleißend hell durch die Fenster der angrenzenden Büros. Es war eine Zeit in der Schwebe. Dieses Licht hatte etwas Gleichgültiges, Unberechenbares an sich; nicht nur einmal hatte ein Auto einen Studenten, der von späten Seminaren zurückeilte, beim Überqueren der Straße erfasst, weil der Fahrer durch die Windschutzscheibe geblendet wurde. Über die Jahre war Sally schon zwei Mal mit diesem Phänomen in Berührung gekommen, einmal als Verteidigerin des unglückseligen Fahrers, das andere Mal als Klägerin gegen die Versicherung eines Studenten, der sich beide Beine brach. Sally beobachtete, wie sich die Sonne im Büroraum
ausbreitete und dabei bizarre, undefinierbare Schattenfiguren an die Wände warf. Sie liebte diesen Moment. Schon seltsam, dachte sie, dass ein Licht, das so wohlig warm schien, solche Gefahren bergen konnte. Es hing ganz davon ab, wo man sich gerade befand – zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. Sie seufzte bei dem Gedanken, dass die Juristerei nicht zuletzt an dieser Frage hing. Angesichts der Stapel brauner Briefumschläge und Anwaltsakten, unter denen sich ihr Schreibtisch bog, verzog sie das Gesicht. Mindestens ein halbes Dutzend, das dort lag, war reine juristische Routinearbeit. Eine Geschäftsschließung. Eine berufliche Abfindung. Ein unbedeutender Prozess über einen Streit zwischen Nachbarn um ein Stück Land. In einer anderen Ecke des Büros bewahrte sie in einem Aktenschrank die kniffligeren Fälle auf, die im Zentrum ihrer Tätigkeit standen. Diese Verfahren betrafen andere lesbische Frauen im ganzen Tal. Dort lagen alle möglichen Schriftsätze, von Adoptionen bis zu Eheauflösungen. Sogar die Verteidigungsschrift zu einem Totschlagsverfahren, bei dem sie den zweiten Vorsitz führte, war dabei. Sie bearbeitete ihre Fälle fachkundig, nahm moderate Honorare, zeigte Anteilnahme und hielt sich für die beste Anwältin, wenn es um unberechenbare, unangemessene Gefühle ging. Dass dabei auch gewisse Rachegelüste im Spiel waren, dass sie mit ihrem Schwerpunkt indirekt auch offene Rechnungen beglich, war ihr klar, obschon sie ihr eigenes Leben nicht annähernd so kritisch unter die Lupe nahm wie gezwungenermaßen oftmals das ihrer Klienten.
Sie schnappte sich einen Bleistift und schlug eine der langweiligen Akten auf, schob sie jedoch ebenso schnell wieder beiseite. Sie ließ den Stift erneut in den Henkelbecher mit der Aufschrift »World’s Best Mom« fallen. Sie hegte hinsichtlich dieser Einschätzung ihre Zweifel. Da es nichts wirklich Eiliges gab, das sie zu Überstunden gezwungen hätte, stand sie auf. Sie fragte sich gerade, ob Hope schon zu Hause war und was sie wohl zum Essen gezaubert hatte, als das Telefon klingelte. »Sally Freeman-Richards.« »Hallo, Sally, Scott am Apparat.« Sie war gelinde überrascht, die Stimme ihres Ex zu hören. »Hallo, Scott. Ich war gerade auf dem Weg zur Tür …« Er stellte sich ihr Kanzleibüro vor. Vermutlich war es ordentlich und gut durchorganisiert, im Gegensatz zu der fröhlichen Anarchie, die in seinem eigenen herrschte. Er fuhr sich kurz mit der Zunge über die Lippen, während er daran denken musste, wie er es hasste, dass sie seinen Nachnamen beibehalten hatte. Sie hatte die Entscheidung damit begründet, dass es die Dinge für Ashley erleichterte, wenn sie älter wurde, obwohl sie ihn mit ihrem eigenen Mädchennamen verbunden hatte.
»Hast du einen Moment Zeit?« »Du klingst besorgt.« »Ich weiß nicht. Vielleicht habe ich Grund dazu, vielleicht auch nicht.« »Worum geht’s?« »Um Ashley.« Sally Freeman-Richards hielt den Atem an. Die wenigen Gespräche, die sie miteinander führten, waren kurz und bündig und drehten sich um Kleinigkeiten, die nach dem Scheitern ihrer Ehe noch zu klären waren. Seit ihrer Trennung vor so vielen Jahren war Ashley das einzig echte Bindeglied zwischen ihnen, und so war es nur noch darum gegangen, ihre Aufenthalte in den beiden Haushalten zu regeln oder die Studiengebühren und die Autoversicherung zu bezahlen. Im Lauf der Zeit hatten sie sich zu einer Art Détente durchgerungen, die es ihnen gestattete, diese Dinge praktisch und zweckdienlich anzugehen. Dabei tauschten sie sich kaum oder gar nicht darüber aus, wie sie sich verändert hatten und warum, als ob ihrer beider Leben in ihrer Erinnerung und in der gegenseitigen Wahrnehmung mit der Scheidung zum Stillstand gekommen sei. »Was ist los?«
Scott Freeman zögerte. Er war sich nicht sicher, wie er das, was ihn bedrückte, angemessen in Worte fassen sollte. »Ich hab einen beunruhigenden Brief in ihrer Schublade gefunden«, erklärte er. Auch Sally schwieg einen Moment. »Wieso bist du an ihre Schublade gegangen?«, fragte sie. »Das tut wirklich nichts zur Sache«, erwiderte er. »Fakt ist, ich hab ihn gefunden.« »Ich weiß nicht, ob das nichts zur Sache tut«, antwortete Sally. »Du solltest ihre Privatsphäre respektieren.« Scott war augenblicklich verärgert, beschloss jedoch, es sich nicht anmerken zu lassen. »Sie hat ein paar Socken und Unterwäsche dagelassen. Ich wollte die Sachen in die Schublade legen, da habe ich den Brief entdeckt. Ich hab ihn gelesen. Er hat mich beunruhigt. Vermutlich hätte ich ihn nicht lesen sollen, aber ich hab’s nun mal getan. Was für ein Strafmaß schlägst du vor, Sally?« Sally verkniff sich eine Antwort, obwohl ihr mehr als eine einfiel. Stattdessen fragte sie: »Was war das für ein Brief?«
Scott räusperte sich, ein altes Hörsaalmanöver, um ein bisschen Zeit zu schinden, bevor er einfach sagte: »Hör zu.« Er las ihr den Brief vor. Als er fertig war, schwiegen sie beide eine Weile. »Gar so schlimm klingt er eigentlich nicht«, sagte Sally schließlich. »Wie’s aussieht, hat sie einen heimlichen Verehrer.« »Einen heimlichen Verehrer. Das hört sich seltsam viktorianisch an.« Sie ignorierte seinen Sarkasmus und erwiderte nichts. Scott wartete einen Moment, bevor er fragte: »Aus deiner Sicht, mit deiner Erfahrung, mit all den Fällen, die du schon hattest, findest du das nicht unterschwellig obsessiv? Zwanghaft vielleicht? Was für eine Persönlichkeit schreibt einen solchen Brief?« Sally holte tief Luft und fragte sich insgeheim dasselbe. »Hat sie dir gegenüber irgendwas erwähnt? Etwas in diese Richtung?«, hakte Scott nach. »Nein.« »Du bist ihre Mutter. Würde sie nicht zu dir kommen, wenn sie irgendwelche Männerprobleme hätte?«
Der Ausdruck »Männerprobleme« durchzuckte sie wie ein Blitz, und sie weigerte sich, auf die Wut, die plötzlich zwischen ihnen schwang, zu reagieren. »Ja, ich denke schon. Hat sie aber nicht.« »Na schön, als sie letzte Woche da war, hat sie da irgendwas gesagt? Ist dir an ihrem Verhalten irgendetwas aufgefallen?« »Auf beide Fragen nein. Und du? Sie war immerhin auch ein paar Tage bei dir …« »Nein, ich hab sie kaum zu Gesicht bekommen. Sie war dauernd mit Freunden von der Highschool unterwegs. Du weißt schon, zum Abendessen weg, um zwei Uhr morgens wieder da, irgendwann mittags aufgestanden, durchs Haus getappt und das Ganze wieder von vorne.« Sally Freeman holte tief Luft. »Also, Scott, ich glaube nicht, dass uns das allzu sehr aus der Fassung bringen sollte. Falls sie ein Problem hat, dann wird sie es früher oder später bei einem von uns zur Sprache bringen. Wir sollten ihr vielleicht einfach Zeit lassen. Und ich weiß auch nicht, ob es sinnvoll ist, ein Problem zu sehen, wo es vielleicht keines gibt. Warten wir ab, ob sie etwas sagt. Ich denke, du hörst die Flöhe husten.« Was für eine vernünftige Antwort, dachte Scott. Sehr
aufgeklärt. Sehr liberal. So ganz im Einklang mit ihrem gesellschaftlichen Umfeld. Und so absolut falsch.
Sie stand auf, ging zu einem antiken Schrank in der Ecke des Wohnzimmers und ließ sich eine Sekunde Zeit, um einen chinesischen Teller auf seinem Ständer zurechtzurücken. Als sie zurücktrat, um ihre Korrektur zu begutachten, runzelte sie unwillkürlich die Stirn. In der Ferne hörte ich Kinder spielen. Doch in dem Zimmer, in dem wir uns unterhielten, lag nur knisternde Spannung. »Woher will Scott wissen, dass da etwas nicht stimmt?«, gab sie meine Frage an mich zurück. »Eben. Der Brief könnte, so wie Sie ihn wiedergeben, alles Mögliche bedeuten. Seine Exfrau hat gut daran getan, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.« »Eine Reaktion, die einer Anwältin würdig ist, oder?«, fragte sie. »Falls Sie damit meinen, vorsichtig, würde ich sagen, ja.« »Und finden Sie, auch klug?«, hakte sie nach. Sie winkte
ab. »Er wusste es, weil er es wusste, weil er es wusste. Wahrscheinlich so eine Art Instinkt, auch wenn wir uns damit die Sache zu einfach machen. Vielleicht dieser letzte Rest von animalischem sechsten Sinn, der rudimentär noch in uns allen steckt, Sie wissen schon, dieses dumpfe Gefühl, dass was nicht stimmt.« »Das scheint mir ein bisschen weit hergeholt.« »Finden Sie? Haben Sie schon mal einen von diesen Tierfilmen über die Serengeti in Afrika gesehen? Wie oft fängt die Kamera ein Tier ein, das plötzlich alarmiert den Kopf hebt? Ich kann zwar noch kein Raubtier ausmachen, das irgendwo in der Nähe auf der Lauer liegt, aber …« »Na schön, nehmen wir für einen Moment an, Sie hätten recht. Ich kann trotzdem nicht sehen, wie …« »Nun ja«, unterbrach sie mich. »Wenn Sie den Mann kennen würden, vielleicht schon.« »Sicher, das würde vermutlich helfen. Hatte Scott nicht dasselbe Problem?« »Allerdings. Nur dass er anfänglich praktisch gar nichts wusste. Er hatte keinen Namen, keine Adresse, kein Alter, keine Beschreibung, keinen Führerschein, keine Sozialversicherungskarte oder irgendeine Information über seine berufliche Tätigkeit in der Hand. Nichts. Alles, was er hatte, war eine Gefühlsäußerung auf einem Blatt Papier
und eine tiefsitzende, diffuse Sorge.« »Angst.« »Ja, Angst. Ist das nicht die schlimmste Angst? Vor einer undefinierbaren, unbekannten Gefahr? Keine leichte Situation, nicht wahr?« »Sicher. Die meisten Menschen würden gar nichts tun.« »Dann war Scott anders als die meisten.« Ich schwieg, und sie holte tief Luft, bevor sie sagte: »Wenn er allerdings da schon, direkt zu Anfang, gewusst hätte, mit wem er es zu tun hatte, dann hätte er vielleicht …« Sie hielt mitten im Satz inne. »Was?« »Nicht weitergewusst.«
2 Ein Mann mit ungewöhnlich großen Aggressionen
Die Nadel des Tätowierers sirrte so durchdringend wie eine Hornisse. Der Mann, der sich mit der Nadel über ihn beugte, war ein untersetzter Muskelprotz. An seinen Armen rankten sich mehrfarbige verschlungene Muster wie Efeu empor und breiteten sich von dort aus über die Schultern und um den Hals, um unterhalb seines linken Ohrs in den entblößten Giftzähnen einer Schlange zu enden. Wie zum Gebet beugte er sich, die Nadel in der Hand, herab. Doch bevor er sich an die Arbeit machte, zögerte er, sah auf und fragte: »Sind Sie auch ganz sicher, Mann?« »Ja«, antwortete Michael O’Connell. »Das Tattoo hab ich nämlich noch keinem verpasst.« »Dann wird’s Zeit«, erwiderte O’Connell steif. »Mann, ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun«, brummte der Künstler. »Wird ein paar Tage brennen.« »Ich weiß immer, was ich tue«, erwiderte O’Connell. Er biss gegen den Schmerz die Zähne zusammen und lehnte sich im Behandlungsstuhl zurück. Er starrte nach unten und sah zu, wie der Bulle mit dem Muster begann. Michael O’Connell hatte sich für ein von einem schwarzen Pfeil durchbohrtes scharlachrotes Herz entschieden, aus dem blutrote Tränen tropften. In der Mitte des getroffenen Herzens sollten die Initialen AF stehen. Das Ungewöhnliche an dem Tattoo war die Körperstelle, für die es bestimmt
war. Er sah, dass es den Künstler Überwindung kostete. Offenbar fiel es dem Mann schwerer, das Herz und die Initialen auf dem Ballen von O’Connells rechtem Fuß einzutätowieren, als es ihm selbst fiel, sein Bein hochzuhalten und nicht zu bewegen. Als ihm die Nadel in die Haut drang, wartete O’Connell. Es ist eine empfindliche Stelle, an der man vielleicht ein Kind kitzeln oder eine Geliebte streicheln würde. Oder auf ein Insekt treten würde. Die Stelle passte perfekt zu der Vielschichtigkeit seiner Gefühle.
Michael O’Connell war ein Mann mit wenig Kontakt zur Außenwelt, der gleichsam mit dicken Tauen, scharfen Drähten und festen Schließriegeln in sein Inneres eingezwängt wurde. Er war knapp unter einem Meter achtzig groß und hatte kräftiges, lockiges, dunkles Haar. Viele Stunden Gewichtheben und Ringen an der Highschool hatten ihm breite Schultern und eine schmale Taille beschert. Er wusste, dass er gut aussah, dass die Art, wie er die Augenbrauen hochzog oder lässig auf der Bildfläche erschien, ihre Wirkung nicht verfehlte. Er kultivierte legere Kleidung, in der er umgänglich und freundlich erschien; er bevorzugte Fleece gegenüber Leder, um unter den Studenten nicht aufzufallen, und mied alles, was seine Herkunft verraten konnte, etwa zu enge Jeans oder T-Shirts mit aufgerollten Ärmeln. Er lief die
Boylston Street Richtung Fenway entlang und genoss die Vormittagsbrise. Es lag schon ein wenig November in der Luft, der Wind wehte in Böen abgefallene Blätter und Unrat übers Pflaster. Er schmeckte die würzige Frische von New Hampshire, die ihn an seine Jugend erinnerte. Sein Fuß tat weh, doch es war ein angenehmer Schmerz. Der Tattookünstler hatte ihm ein paar Tylenol gegeben und sterilen Mull auf das Muster gelegt, O’Connell allerdings gewarnt, dass der Druck beim Laufen ziemlich schmerzen würde. Das ging in Ordnung, auch wenn er für ein paar Tage ein bisschen verkrüppelt war. Bis zum Campus der Boston University war es nicht mehr weit, und er kannte eine Bar, die früh öffnete. Ein wenig vornübergebeugt humpelte er in eine Nebenstraße und versuchte, den Schmerz auszutarieren, der mit jedem Schritt hochschoss. Es hatte etwas Spielerisches. Bei diesem Schritt reicht der Schmerz bis zum Knöchel. Beim nächsten bis zur Wade. Kann er auch bis ins Knie oder höher stechen? Er drückte die Bartür auf und blieb einen Moment stehen, bis sich seine Augen an das verrauchte Schummerlicht gewöhnt hatten. An der Bar saßen ein paar ältere Männer über ihren Schnaps gebeugt. Stammgäste, nahm er an, Männer, die sich von einem Gläschen zum nächsten hangelten.
O’Connell ging hinüber, knallte ein paar Scheine auf die Theke und winkte den Barkeeper heran. »Bier und ’nen Kurzen«, bestellte er. Der Barkeeper brummte etwas, zapfte gekonnt ein kleines Glas Bier mit einer Schaumkrone von einem halben Zentimeter und füllte ein Gläschen mit bernsteinfarbenem Scotch. O’Connell kippte den Scotch, so dass er ihm in der Kehle brannte, und nahm einen großen Schluck Bier. Er deutete auf das Glas. »Dasselbe noch mal«, sagte er. »Lass erst die Kohle sehen«, erwiderte der Mann an der Bar. O’Connell zeigte mit dem Finger auf sein Bier. »Dasselbe noch mal«, wiederholte er. Der Barkeeper sagte nichts. Er hatte sich bereits klar ausgedrückt. O’Connell zuckten ein halbes Dutzend passende Antworten durch den Kopf, allesamt Auftakt zu einer Schlägerei. Er merkte, wie ihm das Adrenalin in den Ohren pochte und wie er innerlich unruhig wurde. In einem solchen Moment war es im Grunde egal, ob er gewann oder verlor, Hauptsache, er spürte die Erleichterung, die ihm ein paar Fausthiebe verschafften. Das Gefühl, wenn seine Hand das
Fleisch eines anderen traf, war so köstlich und berauschend, dass selbst der Schnaps nicht mithalten konnte. Er wusste, dass es das Pochen in seinem Fuß vertreiben und ihn für Stunden mit Energie aufladen würde. Er starrte den Barkeeper an. Er war bedeutend älter als O’Connell, bleich, mit einem unübersehbaren Wanst. Kein großer Schlagabtausch, dachte O’Connell, während er merkte, dass sich seine eigenen festen Muskeln anspannten, um die geballte Energie zu entladen. Der Barkeeper beobachtete ihn scharf; jahrelange Erfahrung hatten ihn gelehrt, im Gesicht eines Kunden zu erkennen, was in diesem vorging. »Meinen Sie, ich hätte kein Geld?« »Lassen Sie mal sehen«, erwiderte der Mann hinter dem Tresen. Er trat zurück, und O’Connell registrierte, wie die anderen Männer an der Bar zur Seite gewichen waren und den Blick zur dunklen Decke hoben. Auch ihnen war diese Art Konflikt nicht neu. Er wendete sich wieder dem Barkeeper zu. Der Mann war zu alt und mit der zwielichtigen Welt der heruntergekommenen Bar zu vertraut, um auf so etwas nicht vorbereitet zu sein. Und in dieser Sekunde erkannte O’Connell, dass der Barkeeper etwas in der Hinterhand hatte, das seine mangelnde Muskelkraft ersetzte. Einen Aluminium-Baseballschläger oder vielleicht eine hölzerne Fischkeule mit kurzem Griff. Möglicherweise auch etwas
Effizienteres wie eine verchromte Neunmillimeter oder ein Kaliber .12. Nein, nicht die Neunmillimeter. Zu schwierig zu laden. Etwas Älteres, Antikeres, zum Beispiel eine .38 Police Special, entsichert, mit Kugeln für Pappziele geladen, um die Durchschlagskraft auf Menschen zu optimieren und gleichzeitig den Sachschaden für die Einrichtung möglichst gering zu halten. Er glaubte nicht, dass er schnell genug über den Tresen hechten konnte, um den Barkeeper zu packen, bevor der nach der Waffe griff. Na schön, dachte er achselzuckend. Er schnellte herum und funkelte den Gast an, der ein paar Schritte von ihm entfernt lehnte. »Was guckst du so, du alter Sack?«, schnauzte er ihn an. Der Mann hielt den Blick abgewandt. »Wollen Sie noch einen Drink?«, wollte der Barkeeper wissen. O’Connell konnte die Hände des Mannes nicht mehr sehen. Er lachte. »In so ’nem Scheißladen jedenfalls nicht«, sagte er. Er stand auf und ließ im Hinausgehen die Männer schweigend zurück. Er nahm sich vor, dem Kerl bei Gelegenheit einen Besuch abzustatten, was ihn mit einer Woge der Befriedigung erfüllte. Es gab nichts Angenehmeres im Leben, als sich an eine Grenze zu wagen und die Möglichkeit der Eskalation zu genießen.
Wut war wie eine Droge; in Maßen genossen, machte sie ihn high. Doch in regelmäßigen Abständen war es nötig, sie so richtig auszukosten und sich ganz zu verausgaben. Er sah auf die Uhr. Kurz nach Mittag. Manchmal kam Ashley für ein Sandwich mit befreundeten Kunstgeschichtsstudenten auf die Campuswiese. Da war es ein Kinderspiel, sie im Auge zu behalten, ohne von ihr entdeckt zu werden. Vielleicht sollte er einfach rüberschlendern und nach ihr sehen.
Das erste Mal war Michael O’Connell Ashley Freeman durch Zufall vor sechs Monaten begegnet. Er arbeitete als Teilzeit-Automechaniker an der Tankstelle nicht weit von der ausgebauten Massachusetts Turnpike, während er in seiner Freizeit Computerkurse belegte und sich am Wochenende in einer Studentenkneipe in der Nähe der Uni als Barkeeper ein bisschen dazuverdiente. Sie war von einem Skiwochenende mit ihren Freundinnen zurückgekehrt, als ihnen dank eines der in Boston allgegenwärtigen Schlaglöcher der rechte Hinterreifen platzte und zerfetzte, was im Winter ziemlich oft vorkam. Ihre Zimmergenossin hatte den Wagen in die Werkstatt bugsiert und O’Connell den Reifen gewechselt. Da die Visa-Karte der Zimmergenossin durch die Eskapaden am Wochenende ausgereizt war und zurückgewiesen wurde, hatte O’Connell den Reifen mit seiner eigenen Kreditkarte bezahlt, ein Akt der Großzügigkeit und des scheinbaren
Samaritertums, der auf die vier Mädchen im Wagen seine Wirkung nicht verfehlte. Sie wussten natürlich nicht, dass die Karte, die er benutzte, gestohlen war, und hatten ihm bereitwillig ihre Adressen und Telefonnummern gegeben und ihm versprochen, bis Mitte der Woche das Geld bereitzuhalten, wenn er kurz vorbeikäme, um es abzuholen. Der neue Reifen sowie seine Montage beliefen sich auf 221 Dollar. Keins der Mädchen hatte auch nur für einen Moment begriffen, wie lächerlich geringfügig diese Summe war, um dafür Michael O’Connell in ihr Leben zu lassen. Abgesehen von seinem guten Aussehen war Michael O’Connell auch mit außergewöhnlich scharfen Augen ausgestattet. Es fiel ihm nicht schwer, Ashleys Silhouette bereits aus der Entfernung von über einem Häuserblock zu erkennen, und so versteckte er sich halb hinter einer Eiche, um sie ins Visier zu nehmen. Er wusste, dass ihn niemand bemerken würde; er war zu weit entfernt, es liefen zu viele Menschen vorbei, es herrschte zu dichter Verkehr und eine zu grelle Oktobersonne. Außerdem wusste er, dass er die Fähigkeit entwickelt hatte, wie ein Chamäleon mit seiner Umgebung zu verschmelzen. Eigentlich hätte er bei seiner Gabe, sich ständig in jemand anderen zu verwandeln, wirklich Schauspieler werden sollen. In einer heruntergekommenen Kneipe, in der Alkoholiker und Kleinkriminelle verkehrten, ließ er den knallharten Typen raushängen. Unter Bostons Studentenscharen gab er sich ebenso selbstverständlich als College-Kid. Der mit
Computerbüchern zum Bersten gefüllte Rucksack kam ihm dabei zupass. Michael O’Connell fand, dass er perfekt zwischen den Welten hin und her wanderte, indem er sich grundsätzlich darauf verließ, dass die Menschen sich nicht mehr als eine Sekunde nahmen, um ihn zu taxieren. Hätten sie genauer hingesehen, hätten sie es wohl mit der Angst zu tun bekommen. Ein einziger Blick genügte, um in der Gruppe der jungen Leute Ashleys rotblonden Schopf auszumachen. Etwa ein halbes Dutzend von ihnen saß in einem losen Kreis beim Lunch zusammen. Sie lachten und erzählten sich etwas. Er wusste, dass er, wäre er der Siebte in ihrer Runde gewesen, nur schweigend dagesessen hätte. Dabei war er ein guter Lügner, er konnte plausible Geschichten erfinden, und die Leute glaubten ihm – wer er war, wo er herkam, was er schon gemacht hatte, doch in einer Gruppe hatte er immer Angst, es könnte mit ihm durchgehen, er könnte etwas Unbedachtes, Unwahrscheinliches sagen und unnötig Zweifel säen, was er auf jeden Fall vermeiden musste. War er dagegen mit einer von ihnen, mit Ashley, allein, dann fiel es ihm nicht schwer, verführerisch zu sein und Anteilnahme zu wecken. Michael O’Connell beobachtete die Mädchen und überließ sich der langsam aufsteigenden Wut. Es war ein vertrautes Gefühl, das er einerseits willkommen
hieß und andererseits hasste. Es war nicht dasselbe wie die Wut vor einer Schlägerei oder bei einem Streit mit seinem Chef, egal welchen Gelegenheitsjob er gerade hatte, oder mit seinem Vermieter oder der alten Frau, die neben seinem winzigen Apartment wohnte und ihn mit ihren Katzen und ihren argwöhnischen Blicken nervte. Er konnte sich mit jedem anlegen, auch handgreiflich werden, und es hatte nichts zu sagen. Doch seine Gefühle gegenüber Ashley waren etwas vollkommen anderes. Er wusste, dass er sie liebte. Wenn er sie aus sicherer Entfernung unerkannt beobachtete, brodelte er innerlich. Er versuchte, sich zu entspannen, doch es gelang ihm nicht. Er wandte sich ab, da es einfach zu weh tat, aus der Ferne hinüberzusehen, doch ebenso schnell drehte er sich wieder zurück, weil es noch viel unerträglicher war, sie nicht zu sehen. Jedes Mal, wenn sie lachte, wenn sie den Kopf zurückwarf und ihr das Haar verführerisch über die Schulter fiel, wenn sie sich vorbeugte, um jemandem zuzuhören, stand er Qualen aus. Jedes Mal, wenn sie die Hand ausstreckte und zufällig die eines anderen streifte, trieb es ihm Eispickel in die Brust. Michael O’Connell starrte hinüber und hatte das Gefühl, fast eine Minute nicht mehr geatmet zu haben. Sie schnürte ihm die Luft ab, so dass er nicht mehr klar denken konnte.
Er griff in seine Hosentasche und fühlte nach dem Messer – keins von diesen Schweizer Messern, wie man sie bei den Bostoner Studenten hundertfach im Rucksack finden konnte, sondern ein zehn Zentimeter langes Klappmesser, das er in Somerset in einem Laden für Campingartikel gestohlen hatte. Es hatte ein beachtliches Gewicht. Er legte die Hand darum und drückte fest zu, und obwohl die Klinge im Griff versenkt war, schnitt es ihm ins Fleisch. Ein bisschen zusätzlicher Schmerz, dachte er, macht den Kopf frei. Michael O’Connell liebte es, die Waffe bei sich zu haben, weil sie ihm das Gefühl gab, gefährlich zu sein. Manchmal kam es ihm so vor, als bewegte er sich in einer Welt von Menschen, die alle im Begriff standen, etwas zu werden. Studenten wie Ashley waren im Aufbruch zu etwas anderem, als sie im Augenblick noch waren. Jura für die künftigen Anwälte, Medizin für die angehenden Ärzte. Kunst. Philosophieseminare. Fremdsprachenstudium. Medienwissenschaft. Jeder wurde irgendetwas, war kurz davor, eine Laufbahn einzuschlagen und irgendwo dazuzugehören. Er wünschte, er wäre zur Armee gegangen. Er konnte sich gut vorstellen, dass er beim Militär mit seinen Talenten genau am richtigen Platz gewesen wäre, vorausgesetzt, sie hätten dar über hinweggesehen, dass er Befehle nicht gut vertrug. Vielleicht hätte er es beim CIA versuchen sollen.
Aus ihm wäre ein ausgezeichneter Spion geworden. Oder auch Auftragskiller. Das hätte ihm gefallen. Eine Art James Bond. Er wäre ein Naturtalent gewesen. Stattdessen, erkannte er, war er auf dem besten Weg zum Kriminellen. Sein liebstes Studienfach war die Gefahr. Einen Häuserblock entfernt kam Bewegung in die Gruppe. Wie auf Kommando standen sie auf, strichen sich die Kleider sauber und hatten keine Ahnung, was außerhalb ihrer albernden, lachenden Runde vor sich ging. Er setzte sich in Bewegung und folgte ihnen langsam, wobei er darauf achtete, immer denselben Abstand einzuhalten und sich auf dem Bürgersteig unter die anderen Fußgänger zu mischen, bis Ashley zusammen mit den anderen die Eingangstreppe zu einem Gebäude hinaufstieg und verschwand. Er wusste, dass ihr letztes Seminar um 16:30 zu Ende war. Anschließend ging sie für zwei Stunden zu ihrem Job im Museum. Er war neugierig, ob sie an diesem Abend schon etwas vorhatte. Er schon. Er hatte immer etwas vor.
»Eins verstehe ich nicht …« »Was meinen Sie?«, fragte sie mit der Geduld eines Lehrers gegenüber einem begriffsstutzigen Schüler. »Wenn dieser Kerl …« »Michael. Michael O’Connell. Hübscher irischer Name. Geläufiger Name in Boston. Von Brockton bis Somerville und darüber hinaus muss es Tausende davon geben. Erinnert an Messdiener, die Weihwasser schwenken und im Kirchenchor singen, oder an Feuerwehrleute mit Uilleann Pipes an einem kalten, windigen St. Patrick’s Day.« »Mit anderen Worten, er heißt nicht wirklich so? Das gehört zu dem Puzzle, richtig? Wenn ich der Sache nachginge, würde ich bei dem Namen nicht fündig, stimmt’s?« »Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.« »Sie machen mir die Sache schwerer als nötig.« »Meinen Sie? Finden Sie nicht, dass ich das am besten beurteilen kann? Vielleicht gehe ich ja davon aus, dass Sie früher oder später aufhören, mir Fragen zu stellen, und versuchen, die Wahrheit selbst herauszufinden. Sie wissen schon jetzt genug, um zumindest einen Anfang zu machen.
Sie werden das, was ich gesagt habe, mit dem vergleichen, was Sie in Erfahrung bringen können. Darum geht es ja. Und ich möchte es Ihnen nicht allzu leicht machen. Sie nennen es ein Puzzle. Ich denke, das trifft es.« Sie war ziemlich direkt. Falls das, was sie sagte, bedächtig klingen sollte, kam es bei mir jedenfalls nicht so an. »Meinetwegen«, gab ich nach, »also weiter im Takt. Wenn dieser Michael tatsächlich auf ein randständiges Leben zusteuerte und dabei war, die Karriereleiter der Kleinkriminalität hochzustolpern, wie passt da Ashley ins Bild? Ich meine, sie müsste diesen Kerl doch in zwei Sekunden durchschaut haben, oder? Sie war recht gebildet. Sie hat vielleicht schon Vorlesungen über Stalker und ähnliche Leute gehört. Ich bitte Sie, selbst in der Gesundheitsfibel der staatlichen Highschools findet sich ein Abschnitt über diese Typen, in alphabetischer Reihenfolge, die kommen direkt hinter dem Stichwort Sexualität. Sie muss folglich ziemlich schnell begriffen haben, mit wem sie es zu tun hat, und dann hätte sie doch alles darangesetzt, ihn loszuwerden. Was Sie erzählen, klingt nach obsessiver Liebe, aber dieser O’Connell erscheint mir eher wie ein Psychopath, und …« »Ein angehender Psychopath, ein Möchtegern-Psychopath …« »Ja, meinetwegen, aber wo nahm die Obsession ihren
Anfang?« »Gute Frage«, räumte sie ein. »Und eine, die eine Antwort verdient. Aber bei allen Stärken, über die Ashley verfügt, liegen Sie falsch, wenn Sie glauben, sie hätte erkennen müssen, dass sie sich mit Michael O’Connell ein Problem eingehandelt hat.« »Kann schon sein. Was war es denn für sie?« »Theater«, antwortete sie. »Allerdings wusste sie nicht, was für eine Inszenierung.«
3 Eine junge Frau von gewöhnlicher Unwissenheit
Zwei Tische entfernt von Ashley Freeman und ihren Freunden saß ein halbes Dutzend Mitglieder einer Baseball-Mannschaft der Northeastern University und diskutierte hitzig über die Stärken und Schwächen der Yankees und der Red Sox, wobei die Urteile jeweils laut und teilweise derb ausfielen. Hätte Ashley nicht in ihren vier Studienjahren in Boston viele Stunden in Studentenkneipen zugebracht, hätte sie die Lautstärke vielleicht irritiert, doch
so war sie mit dieser und ganz ähnlichen Debatten hinlänglich vertraut. Gelegentlich kam es dabei zu Schubsereien oder Handgreiflichkeiten, meistens ließen es die Kontrahenten jedoch beim verbalen Schlagabtausch bewenden. Oft wurden phantasievolle Spekulationen darüber ausgetauscht, welche bizarren sexuellen Praktiken die Spieler der einen oder der anderen Mannschaft in ihrer Freizeit pflegten. Tiere vom Bauernhof spielten dabei eine zentrale Rolle. Ihr gegenüber waren ihre Freunde in eine eigene leidenschaftliche Diskussion vertieft. Es ging um eine Ausstellung von Goyas berühmten Skizzen Die Schrecken des Krieges, die an der Harvard University zu sehen war. Sie waren mit der U-Bahn quer durch die Stadt zur Ausstellung gefahren und dann verstört zwischen den schwarzweißen Zeichnungen von Verstümmelung, Folter, Meuchelmord und Todesqual umhergewandert. Dabei war Ashley aufgefallen, dass man zwar die Zivilbevölkerung immer klar von den Soldaten unterscheiden konnte, diese Einteilung den Menschen aber keine Anonymität gewährte. Und genauso wenig Sicherheit. Der Tod, musste sie denken, ist ein Gleichmacher. Er bricht den menschlichen Geist, ungeachtet der politischen Überzeugungen. Er ist unerbittlich. Unbehaglich rutschte sie auf ihrem Sitz hin und her. Bilder, besonders von Gewalt, setzten ihr sehr zu, daran hatte sich seit ihrer Kindheit nichts geändert. Sie blieben ihr hartnäckig im Gedächtnis haften, sei es nun Salome, die in einer Renaissance-Version den Kopf des
Johannes bewundert, oder Bambis Mutter, die versucht, den Jägern zu entkommen. Selbst das thea tralische Morden in Quentin Tarantinos Kill Bill fand sie irritierend. Ihr Date aus Fleisch und Blut war an diesem Abend ein schlaksiger, langhaariger Psychologie-Absolvent vom Boston College namens Will, der sich über den Tisch beugte und, während er ein Argument vorbrachte, versuchte, den Abstand zwischen seiner Schulter und ihrem Arm zu reduzieren. Zarte Berührungen waren, fand sie, wichtiger Bestandteil der Werbung. Jede noch so kleine geteilte Empfindung konnte zu etwas Intensiverem führen. Sie wusste nicht recht, was sie von ihm halten sollte. Ganz offensichtlich war er intelligent und nachdenklich. Er war mit einem halben Dutzend Rosen an ihrer Wohnungstür erschienen, der psychologischen Entsprechung einer »Du kommst aus dem Gefängnis frei«-Karte beim Monopoly, wie er sagte. Das heißt, er konnte etwas Beleidigendes oder Dämliches tun oder sagen, und sie sah es ihm zumindest einmal nach. Ein Dutzend Rosen, sagte er, wären zu viel gewesen, allzu offensichtlich, wohingegen die Hälfte zugleich vielversprechend wie unverbindlich war. Ihr war das witzig und nachvollziehbar erschienen, und so fand sie ihn anfänglich nett, doch es dauerte nicht lange, bis sie das Gefühl bekam, dass er ein wenig zu sehr von sich eingenommen war und sich gerne selbst reden hörte, was sie enttäuschend fand.
Ashley strich sich das Haar aus dem Gesicht und versuchte zuzuhören. »Goya wollte schockieren. Er wollte den Politikern und Aristokraten, die den Krieg verherrlichten, die Realität vor Augen halten, so dass sie nicht wegsehen konnten …« Die letzten Worte seiner Bemerkung gingen wegen des Gebrülls zwei Tische weiter unter. »Ich sag dir, worin Derek Jeter gut ist. Er beugt sich vornüber und …« Sie musste innerlich grinsen. Es kam ihr plötzlich vor, als sei sie in eine Bostoner Variante von Twilight Zone geraten, mitten zwischen Schnösel und Pöbel. Sie wechselte die Stellung und hielt eine neutrale Distanz, die Will weder er- noch entmutigte, und dachte unwillkürlich daran, wie viel Pech sie bis dahin in der Liebe gehabt hatte. Sie fragte sich, ob das einfach nur eine vorübergehende Phase war, wie das Erwachsenwerden, oder die Aussicht auf ihre Zukunft. Sie hatte das Gefühl, dass ihr irgendetwas kurz bevorstand, doch sie wusste nicht, was. »Sicher, nur hat die Kunst schon immer mit dem Dilemma gekämpft, dass sie – auch wenn sie den Krieg zeigt, wie er ist – ihn noch nie verhindern konnte, sondern immer nur als Kunst gefeiert wird. Wir fühlen uns von Guernica magisch angezogen und sind ungemein beeindruckt von Picassos
tiefer Vision, aber empfinden wir deshalb mit den Bauern, die im Bombenhagel gestorben sind, so etwas wie Mitgefühl? Sie waren mal Menschen aus Fleisch und Blut. Ihr Tod war real. Doch er wird dem Kunstwerk untergeordnet.« Das wiederum sagte Will, ihr Rendezvous. Ashley räumte ein, dass es eine kluge Bemerkung war, andererseits aber auch etwas, das jeder x-beliebige, politisch korrekt denkende College-Student hätte sagen können. Sie warf einen Blick zu den lauten Baseballspielern hinüber. Auch wenn der Alkohol eine Rolle spielte, gefiel ihr der Überschwang an ihrer Kabbelei. Sie liebte es, mit einem Bier im Fenway-Park-Stadion zu sitzen, aber auch, durchs Museum of Fine Art zu schlendern. Sie war sich nicht sicher, in welche Diskussionsrunde sie besser passte. Ashley warf Will einen verstohlenen Blick zu. Wahrscheinlich glaubte er, dass er ein Mädchen mit intellektueller Protzerei am schnellsten ins Bett bekam. Das war typisch für ältere Semester. Sie beschloss, ihn ein wenig aus dem Konzept zu bringen. Ashley schob abrupt ihren Stuhl zurück und stand auf. »He!«, brüllte sie. »Ihr da drüben, seid ihr vom BC? Von der BU? Der Northeastern?« Der Tisch der Baseballspieler verstummte augenblicklich. Wenn ein schönes Mädchen jungen Männern etwas zuruft,
kann sie sich sicher sein, volles Gehör zu finden. »Northeastern«, erwiderte einer von ihnen und erhob sich halb, um ihr mit fernöstlicher Höflichkeit zuzunicken, was zur Etikette der Rowdy-Bar allerdings in krassem Gegensatz stand. »Na ja, wer Lobeshymnen auf die Yankees singt, der kann sie gleich auf General Motors oder IBM singen oder auf die Republikaner. Ein Red-Sox-Fan zu sein hat was mit Poesie zu tun. Jeder kommt einmal an einen Scheideweg im Leben, an dem er Farbe bekennen muss. Genug der Worte.« Die anderen Jungs am Tisch brachen in schallendes Gelächter und gespielte Empörung aus. Will lehnte sich grinsend zurück. »Das«, sagte er, »nenne ich knapp und bündig geantwortet.« Ashley lächelte und fragte sich, ob er am Ende doch ganz nett war.
In früheren Jahren hatte sie manchmal gedacht, dass es wohl im Grunde leichter war, unscheinbar zu sein. Unscheinbare Mädchen konnten sich verstecken. Mit dreizehn oder vierzehn hatte sie eine radikale Phase
durchgemacht, in der sie so ziemlich gegen alles war: Sie führte lautstarke, fußstampfende Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter, ihrem Vater, ihren Lehrern, ihren Freunden, trug schlabberige, sackartige, erdfarbene Klamotten, setzte eine leuchtend rote Strähne in ihrem Haar direkt neben eine tintenschwarze, hörte Grunge-Rock, trank starken, schwarzen Kaffee, probierte es mit Rauchen und sehnte sich nach Tattoos und Body-Piercings. Diese Phase hatte ein paar Monate angehalten, lange genug, um sich mit so ziemlich allem, was sie an der Schule machte, sowohl im Unterricht als auch beim Sport, Ärger einzuhandeln. Es kostete sie ein paar Freundschaften, und diejenigen, die ihr die Stange hielten, runzelten ein wenig besorgt die Stirn. Zu Ashleys Überraschung war in diesem Lebensabschnitt die einzige Erwachsene, mit der sie in halbwegs zivilisierter Weise reden konnte, Hope, die Gefährtin ihrer Mutter. Das war wirklich erstaunlich, da ein Teil von ihr Hope für die Trennung ihrer Eltern verantwortlich machte und sie ihren Freunden oft erzählt hatte, wie sehr sie die Frau dafür hasste. Diese Unwahrheit hatte ihr zu schaffen gemacht, schon weil es das war, was ihre Freunde von ihr hören wollten, und es sie beunruhigte, dass sie ihnen nach dem Munde redete. Nach Grunge und Gothic hatte sie sich eine Zeitlang in der Rolle der Musterschülerin im Schottenröckchen gefallen, danach dann als Sportfanatikerin, worauf sie sich einige Wochen lang dem Veganertum verschrieb und nur noch Tofu und VeggieBurger aß. Sie hatte sich im Theaterspielen versucht und
ganz passabel die Bibliothekarin Marian in dem Musical The Music Man hingelegt, hatte sich in seitenlangen Ergüssen ihrem Tagebuch anvertraut, sich zeitweise als Emily Dickinson, Eleanor Roosevelt und Carrie Nation stilisiert – mit einem Touch von Gloria Steinem und Mia Hamm. Sie hatte für Habitat for Humanity an einem Haus mitgebaut und war mit dem größten Drogendealer ihrer Highschool zu einem furchterregenden Trip in eine nahe gelegene Stadt mitgefahren, um eine gewisse Menge Crack abzuholen – ein Abenteuer, das auf einer Überwachungskamera der Polizei festgehalten wurde und den Anruf eines Kriminalbeamten bei ihrer Mutter nach sich zog. Sally Freeman-Richards war außer sich vor Wut gewesen, hatte ihrwochenlang Hausarrest erteilt, sie angeschnauzt und ihr klargemacht, dass sie weiß Gott von Glück sagen konnte, nicht hinter Gittern gelandet zu sein, und dass sie es schwer haben würde, das Vertrauen ihrer Mutter wiederzuerlangen. Hope und ihr Vater waren jeweils zu nachsichtigeren Schlüssen gekommen und hatten von jugendlicher Rebellion geredet, wobei Scott sich an ein paar Dummheiten erinnerte, die er sich in ihrem Alter geleistet hatte, über die sie lachen konnte und die sie trösteten. Sie glaubte nicht, dass sie bewusst auf Gefahr aus war, doch Ashley wusste auch, dass sie es ab und zu darauf ankommen ließ, und sie hielt sich für einen Glückspilz, wenn sie daran dachte, dass sie bis jetzt ungeschoren davongekommen war. Ashley kam sich oft vor wie Ton auf einer Töpferscheibe, die sich so lange dreht, bis die Masse Gestalt annimmt, und sie rechnete jeden
Moment mit dem Hitzeschwall des Schmelzofens, um gebrannt zu werden. Sie fühlte sich orientierungslos. Ihren Job beim Museum, wo sie beim Katalogisieren der Exponate half, machte ihr wenig Spaß. Es war ein Job, bei dem man in einem Hinterzimmer hockte und auf einen Computerbildschirm starrte. Außerdem war sie sich nicht sicher, ob das Graduierten-Programm in Kunstgeschichte, für das sie sich beworben hatte, das Richtige für sie war, denn manchmal dachte sie, dass sie nur deshalb auf dieses Fach verfallen war, weil sie geschickt mit Stift, Tinte und Pinsel umgehen konnte. Das machte ihr schwer zu schaffen, denn wie so viele junge Menschen glaubte sie, dass sie nur das tun sollte, was sie wirklich liebte. Und noch hatte sie nicht herausgefunden, was es war. Sie hatten die Bar verlassen, und Ashley zog gegen die abendliche Kälte den Mantel enger um sich. Ihr war bewusst, dass Will ein bisschen Beachtung verdiente. Er sah gut aus, war aufmerksam und hatte möglicherweise Sinn für Humor. Er hatte einen seltsamen, etwas hoppelnden, irgendwie drolligen Gang und war im Großen und Ganzen jemand, der bei ihr durchaus Chancen besaß. Zugleich wurde ihr allerdings bewusst, dass sie bereits fast zwei Häuserblocks gelaufen waren und nur noch etwa fünfzig Meter bis zu ihrer Haustür hatten, und bis jetzt hatte er ihr noch keine richtige Frage gestellt.
Ihr fiel ein kleines Spielchen ein. Falls er ihr eine Frage stellte, die sie interessant fand, hatte er sich ein zweites Date verdient. Fragte er sie dagegen nur, ob er mit raufkommen könnte, war es das gewesen. »Was meinst du?«, fragte er plötzlich. »Wenn Typen in einer Bar sich wegen Baseball in die Haare kriegen, geht es ihnen dabei um den Sport oder um den Streit? Ich meine, schließlich gibt es letztlich keine richtigen Antworten, sondern nur die Loyalität gegenüber einer Mannschaft. Und über blinde Treue lässt sich eigentlich nicht streiten, oder?« Ashley lächelte. Das war sein zweites Date. »Natürlich«, fügte er hinzu, »ist Liebe zu den Red Sox etwas für mein Oberseminar in ›Die Psychologie des Abnormen‹.« Sie lachte. Eindeutig ein zweites Date. »Da wären wir«, sagte sie. »War ein netter Abend.« Will sah sie an. »Sehen wir uns wieder? Das nächste Mal vielleicht in einer etwas ruhigeren Umgebung?«, schlug er vor. »Vielleicht können wir uns besser kennenlernen, wenn wir nicht gegen das Gebrüll und die wilden Spekulationen über Derek Jeters Vorlieben für Lederpeitschen und
Sexspielzeuge in Überlebensgröße und die Körperöffnungen, in die sie eingeführt werden, ankämpfen müssen.« »Das fände ich schön«, sagte Ashley. »Rufst du mich an?« »Ganz bestimmt«, antwortete Will. Sie stieg die erste Stufe zum Eingang ihres Wohnblocks hoch, als ihr bewusst wurde, dass sie immer noch seine Hand hielt. Sie drehte sich um und gab ihm einen langen Kuss. Einen relativ keuschen Kuss, bei dem ihre Zunge nur so eben zwischen seine Lippen drang. Ein verheißungsvoller Kuss, der für die folgenden Tage mehr versprach, wenn auch nicht für diese Nacht. Er schien die Botschaft zu verstehen, was sie zu schätzen wusste, denn er trat einen halben Schritt zurück, verbeugte sich galant wie ein Höfling aus dem 18. Jahrhundert und verabschiedete sich mit einem Handkuss. »Gute Nacht«, sagte sie. »Ich fand’s wirklich schön.« Ashley drehte sich um und betrat das Gebäude. Zwischen den beiden Glastüren wandte sie sich noch einmal um. Die Glühbirne über der Haustür warf einen kleinen gelben Lichtkegel auf die Treppe, und sie konnte undeutlich erkennen, wie Will an der Grenze zwischen dem fahlen Schimmer und der tiefschwarzen Nacht verweilte. Ein Schatten streifte sein Gesicht wie ein dunkler Pfeil, der auf
ihn zielte. Doch sie dachte sich nichts dabei, winkte ihm noch einmal kurz zu und ging die Treppe zu ihrer Wohnung hoch, während sie die Vorfreude genoss und darüber zufrieden war, dass sie einen One-Night-Stand, wie er gang und gäbe war in den College-Kreisen, die sie demnächst hinter sich ließ, keine Sekunde lang in Betracht gezogen hatte. Sie schüttelte den Kopf. Als sie das letzte Mal dieser Versuchung nachgegeben hatte, war es schrecklich gewesen. Als ihr Vater aus heiterem Himmel bei ihr anrief, hatte er sie daran erinnert. Doch ebenso schnell, wie sie die Schlüssel zu ihrer Wohnung herausgefischt hatte, verbannte sie den Gedanken an frühere schlechte Nächte und überließ sich dem angenehmen Gefühl des ausklingenden Abends. Sie war gespannt, wie lange Will nach dem ersten Date brauchen würde, um sie zum zweiten einzuladen.
Nachdem Ashley hinter der zweiten Tür verschwunden war, blieb Will Goodwin noch einen Moment lang in der Dunkelheit stehen. Er genoss die Woge der Freude, diese Hochstimmung und Leichtigkeit angesichts des zurückliegenden Abends und der rosigen Aussichten auf mehr. Er war ein bisschen überwältigt. Von der Freundin eines Freundes, die ihm Ashleys Telefonnummer gegeben hatte,
wusste er bis zu diesem Treffen nur so viel, dass Ashley schön und intelligent, wenn auch ein bisschen unergründlich sei, doch sie hatte seine kühnsten Erwartungen in jeder Hinsicht übertroffen. Er war bei ihr wohl nur knapp um das Langweiler-Etikett herumgekommen. Gegen den zunehmend kalten Wind vorgebeugt, steckte Will die Hände tief in seine Parkataschen und machte sich auf den Weg. Die Luft hatte etwas Archaisches an sich, als würde genau dieselbe frostige Oktoberbrise seit Generationen durch Bostons Straßen fegen. Er merkte, wie sich von diesem unnachgiebigen nächtlichen Ansturm seine Wangen röteten, und er hastete zur U-BahnHaltestelle. Mit seinen langen Beinen kam er auf dem Bürgersteig zügig voran. Sie war auch ziemlich groß, knapp eins fünfundsiebzig, schätzte er, mit einer geschmeidigen Model-Figur, die auch Jeans und ein weites Baumwoll-Sweatshirt nicht verbergen konnten. Während er zwischen dem Verkehr hindurch auf halber Höhe des Häuserblocks die Straße überquerte, wunderte er sich darüber, dass die Kerle sie nicht belagerten; wahrscheinlich lag es an einer unglücklichen Beziehung oder anderen schlechten Erfahrungen, die sie hinter sich hatte. Er beschloss, nicht darüber zu spekulieren, sondern einfach nur seinem glücklichen Schicksal zu danken, dass er Ashley über den Weg gelaufen war. Bei seinem Studium ging es ständig um Wahrscheinlichkeit und Vorhersehbarkeit. Doch er war skeptisch, dass die statistischen Methoden, von denen er bei seiner klinischen
Arbeit mit Laborratten Gebrauch machte, bei so etwas wie der Begegnung mit Ashley irgendeine Aussagekraft besaßen. Will musste innerlich grinsen, während er in großen Sprüngen die Stufen zur U-Bahn hinunterhechtete. Wie in den meisten Großstädten auf dem Globus hat man auch in Boston das Gefühl, eine andere Welt zu betreten, wenn man durch die Drehkreuze auf die Bahnsteige gelangte. Die weiß gekachelten Wände glitzern im Neonlicht, zwischen den Stahlpfeilern sammeln sich die Schatten. Das Getöse der ein- und ausfahrenden Züge am eigenen Bahnsteig reißt ebenso wenig ab wie das dumpfe Dröhnen auf den entfernteren Gleisen. Die Außenwelt ist abgeschnitten. In diesem kleinen Paralleluniversum scheinen Wind, Regen und Schnee oder auch nur die warme Sonne Bestandteil einer anderen Welt zu sein. Sein Zug hielt mit lautem Kreischen, und Will stieg zügig zusammen mit einem Dutzend Fahrgästen ein. In dem kalten Licht wirkten alle kränklich bleich. Einen Moment lang spekulierte er über die Unbekannten, die sich entweder hinter einer Zeitung oder einem Buch versteckten oder mit leerem Blick geradeaus starrten. Er lehnte den Kopf zurück und genoss das Rütteln und Wiegen in seinen Gliedern wie ein Baby auf dem Arm der Mutter. Er würde sie morgen anrufen, nahm er sich vor. Sie einladen und ein wenig am Telefon mit ihr plaudern. Er ging die möglichen
Themen durch und versuchte, sich eines einfallen zu lassen, das überraschend wäre. Er überlegte, wohin er sie einladen sollte. Ins Kino? Zu offensichtlich. Er hatte das Gefühl, dass Ashley zu den Frauen gehörte, für die man sich etwas Besonderes einfallen lassen musste. Vielleicht ins Theater? Kabarett? Und anschließend noch zum Essen, allerdings nicht in die übliche Bier-und-Burger-Bude. Aber auch nichts Snobistisches vermutlich. Auf jeden Fall etwas, wo sie Ruhe hatten. Also erst was zum Lachen und dann was Romantisches. Der Plan strotzte vielleicht nicht vor Originalität, aber er war plausibel. Er hatte seine Haltestelle erreicht und sprang fast mit einem Satz von seinem Platz und aus dem Zug, um zügig, wenn auch ein bisschen gedankenverloren, zum Ausgang zu gelangen. Oben angekommen, drangen die Lichter vom Porter Square durch die Dunkelheit und suggerierten Leben, wo Menschenleere herrschte. Wieder beugte er sich gegen die Kälte vor und bog vom Platz in eine Seitenstraße ein. Er wohnte vier Häuserblocks entfernt. Er ging in Gedanken die Restaurants durch, die er kannte, um das Richtige zu finden, in das er sie einladen würde. Als er einen Hund bellen hörte, drosselte er erschrocken das Tempo. In der Ferne zerschnitt eine Krankenwagensirene die Nacht. In einigen Fenstern der Maisonettes und Wohnungen dieses Häuserblocks schimmerte das fahle Licht der Fernseher, die meisten lagen jedoch im Dunkel. Rechts von ihm drang ein scharrendes Geräusch wie von
einer Katze aus einer schmalen Gasse, und er wandte unwillkürlich den Kopf. Plötzlich sah er, wie eine schwarze Gestalt in seine Richtung stürzte. Erstaunt machte er einen Schritt zurück und hielt instinktiv einen Arm hoch, um sich zu schützen. Er dachte noch, dass er um Hilfe schreien sollte, doch dann ging alles viel zu schnell, und ihm blieb nur noch ein einziger Moment des Schocks und der panischen Angst, weil er wusste, dass etwas mit großer Geschwindigkeit auf ihn zielte. Es war ein Bleirohr, das mit einem Zischen durch die Luft schwang, als wäre es ein Schwert, und mit unerbittlicher Wucht seine Stirn traf.
Ich musste mir sieben Stunden lang die Augen verderben, bis ich schließlich Will Goodwins Namen im Boston Globe entdeckte. Nur dass unter der Überschrift »Studienabsolvent niedergeschlagen – Polizei fahndet nach dem Täter« ein anderer Name stand. Der Artikel selbst war knappe vier Absätze lang und enthielt herzlich wenig Informationen, nur so viel, dass die erlittenen Verletzungen als so schwer eingestuft wurden, dass er ins Massachusetts General Hospital eingeliefert werden musste, wo man seinen Zustand weiterhin als kritisch beurteilte. Ein Passant hatte ihn am frühen Morgen
blutüberströmt hinter einigen Mülleimern in einer schmalen Gasse entdeckt. Die Polizei bat um Hinweise aus der Bevölkerung des Stadtteils Somerville, falls jemand etwas Verdächtiges gesehen oder gehört hatte. Die Meldung stand im Lokalteil ganz unten. Das war alles. Kein Folgebericht am nächsten Tag oder in den Wochen danach. Nichts weiter als ein Moment städtischer Gewalt, der gemeldet wurde, wie es sich gehörte, ebenso schnell zur Kenntnis genommen wie vergessen und von der Flut der neu hereinbrechenden Nachrichten verdrängt. Ich musste mich weitere zwei Tage durchtelefonieren, um an eine Adresse heranzukommen. Vom Büro der Absolventen am Boston College erfuhr ich, dass er ein weiterführendes Studium, für das er sich eingeschrieben hatte, nicht hatte abschließen können; außerdem gab man mir seine Hauptadresse in Concord, einem Vorort von Boston. Eine Telefonnummer war allerdings nicht verzeichnet. Concord ist eine schöne Wohngegend mit stattlichen Häusern, die das Flair alter Zeiten verströmen. Der Vorort schmückt sich mit einer ausgedehnten Grünfläche und einer imposanten Stadtbibliothek, einer Privatschule und einem pittoresken Stadtzentrum voll modischer Geschäfte. In jüngeren Jahren bin ich mit meinen eigenen Kindern
hierhergekommen; ich habe mit ihnen die nahe gelegenen Kriegsschauplätze besucht und ihnen dabei Longfellows berühmtes Gedicht vorgetragen. Wie so viele Städte in Massachusetts hat das Städtchen bei seiner baulichen Planung die Geschichte hintangestellt. Das Haus allerdings, aus dem der Mann kam, den ich unter dem Namen Will Goodwin kannte, war ein älteres Gebäude im Stil der Farmhäuser aus frühkolonialer Zeit, ein Stück zurückgesetzt an einer Nebenstraße und über eine etwa fünfzig Meter lange Kieseinfahrt zu erreichen. Im Vorgarten hatte sich jemand offensichtlich Mühe bei der Anpflanzung der Blumen gegeben. Eine kleine Plakette auf der strahlend weiß gestrichenen Fassade datierte das Anwesen auf 1789. Zu einer Seitentür führte eine hölzerne Rollstuhlrampe. Ich näherte mich dem Haupteingang, mir schlug der Duft von Hibiskusblüten entgegen, und zögerlich klopfte ich an. Eine zart gebaute, grauhaarige Frau mittleren Alters öffnete die Tür. »Hallo, kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragte sie. Ich stellte mich vor, entschuldigte mich für mein unangekündigtes Erscheinen und erklärte ihr, es sei mir nicht möglich gewesen, sie anzurufen, da ich keine Telefonnummer gefunden hätte. Ich erklärte ihr, ich sei Schriftsteller und recherchierte einige Verbrechen, die vor mehreren Jahren in der Gegend von Cambridge, Newton
und Somerville verübt worden waren, und wüsste gerne, ob ich ihr ein paar Fragen zu Will stellen dürfe oder, noch besser, mit ihm selbst sprechen könne. Sie war erschrocken, schlug mir jedoch nicht die Tür vor der Nase zu. »Ich weiß nicht, ob wir Ihnen weiterhelfen können«, sagte sie höflich. »Es tut mir wirklich leid, so hereinzuschneien«, erwiderte ich. »Ich habe lediglich ein paar Fragen.« Sie schüttelte den Kopf. »Er will nicht …«, brachte sie heraus, doch weiter kam sie nicht. Während sie mich ansah, begann ihre Unterlippe zu zittern, und ihre Augen wurden feucht. »Es war einfach …« Doch in diesem Moment wurde sie von einer Stimme im Hintergrund unterbrochen: »Mutter, wer ist das?« Während sie zögerte, blickte ich an ihr vorbei und sah einen Mann im Rollstuhl aus einem Nebenzimmer kommen. Seine Haut war fahl, sein braunes Haar eine ungepflegte, strähnige Masse, die ihm fast bis auf die Schulter fiel. Über die obere rechte Stirnhälfte zog sich eine z-förmige, mattrote Narbe fast bis zur Augenbraue hinunter. Seine Arme schienen drahtig und muskulös, seine Brust dagegen eingefallen, beinahe ausgezehrt. Er hatte große Hände mit eleganten langen Fingern, und ich konnte mir ein vages Bild von dem Mann machen, der er einmal gewesen sein musste. Er rollte
heran. Seine Mutter sah mich an. »Es war sehr schwer«, sagte sie leise und erstaunlich offenherzig. Die Gummireifen des Rollstuhls quietschten, als er stehenblieb. »Hallo«, sagte er nicht unfreundlich. Ich stellte mich vor und beeilte mich, ihm zu erklären, dass ich mich für das Verbrechen interessierte, das ihn zum Krüppel gemacht hatte. »Mein Verbrechen?« Er erwartete offensichtlich keine Antwort, denn er schob augenblicklich selbst eine hinterher. »Ich glaube nicht, dass es etwas Besonderes war. Ein gewöhnlicher Überfall. Jedenfalls kann ich Ihnen nicht allzu viel darüber erzählen«, sagte er. »Zwei Monate im Koma, und dann das …« Er deutete auf den Rollstuhl. »Hat es je Festnahmen gegeben?« »Nein, als ich endlich erwachte, war ich, fürchte ich, keine große Hilfe mehr. Ich kann mich absolut nicht mehr an diesen Abend erinnern. An rein gar nichts. Es ist, als drückte man auf einer Computertastatur auf die Backspace-Taste und sähe zu, wie die Buchstaben eines Textes einer nach dem anderen verschwinden. Man weiß zwar, dass der Text noch irgendwo auf der Festplatte sein muss, aber man hat keine Ahnung, wo. Er ist einfach weg.«
»Sie waren auf dem Nachhauseweg von einem Date?« »Ja. Danach hatten wir nie wieder Kontakt. Nicht weiter verwunderlich. Ich war übel zugerichtet. Bin ich immer noch.« Er lachte trocken und lächelte gequält. Ich nickte. »Die Cops haben nicht viel rausgefunden, oder?« Er schüttelte den Kopf. »Na ja, ein paar Ungereimtheiten.« »Nämlich?«, hakte ich nach. »In Roxbury haben sie ein paar Jugendliche dabei erwischt, wie sie versuchten, meine Visa-Karte zu verwenden. Ein paar Tage lang dachten sie, diese Jungs hätten mich zusammengeschlagen, aber das hat sich nicht bestätigt. Sie hatten die Karte offenbar nur in der Nähe eines Müllcontainers aufgelesen.« »Ah. Aber wieso …« »Weil jemand anders in Dorchester meine Brieftasche mit sämtlichen Ausweispapieren gefunden hat, Sie wissen schon, Mensakarte, Sozial- und Krankenversicherung – alles noch beisammen. Meilenweit von dem Müllcontainer entfernt, wo die Jugendlichen meine Kreditkarte eingesackt hatten. Die Sachen waren quer über Boston verteilt.« Er lächelte. »Ein bisschen so wie mein Hirn.«
»Was machen Sie im Moment?«, fragte ich. »Im Moment?« Will sah seine Mutter an. »Im Moment warte ich einfach ab.« »Abwarten? Was?« »Weiß nicht«, sagte er. »Reha im Kopftrauma-Zentrum. Auf den Tag, an dem ich aus diesem Stuhl komme. Viel mehr kann ich nicht machen.« Ich trat zurück, und seine Mutter wollte die Tür schließen. »Hören Sie!«, rief er. »Meinen Sie, der Kerl, der mir das angetan hat, wird je gefunden?« »Kann ich nicht sagen«, antwortete ich. »Aber sollte ich etwas rausfinden, dann gebe ich Ihnen Bescheid.« »Ich hätte nichts gegen einen Namen und eine Adresse«, sagte er leise. »Ich glaube, ein paar Dinge würde ich gerne selbst erledigen.«
4 Eine Unterhaltung, die mehr sagt als Worte
Verbrechen, überlegte Michael O’Connell, hat etwas mit Verbindungen zu tun. Wenn man nicht erwischt werden will, muss man alles vernichten, was einen dazu in Beziehung setzt. Wenigstens sollte man seine Spuren so weit tilgen, dass ein Ermittler, der sämtliche Indizien durchforstet, sich keinen Reim darauf machen kann. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, während er sich vom Schaukeln der UBahn einlullen ließ. Er stand immer noch unter Strom. Einen Mann zusammenzuschlagen gab ihm eine Art Frieden, selbst wenn er nach wie vor spürte, wie sich seine Muskeln zusammenzogen und verhärteten. Er fragte sich, ob physische Gewalt immer so verführerisch sein würde. Zu seinen Füßen hatte er eine billige blaue Sporttasche aus Segeltuch abgestellt und sich den Riemen lose um den Arm geschlungen. Darin befanden sich ein Paar Lederund ein Paar Latexhandschuhe, ein fünfzig Zentimeter langes Klempnerrohr und die Brieftasche, die Will Goodwin gehörte, auch wenn er noch keine Zeit gefunden hatte, hineinzuschauen und nach dem Namen zu sehen. Fünf Gegenstände, dachte O’Connell, fünf U-BahnStationen. Er wusste, dass er übervorsichtig war, doch er sagte sich, dass eine präzise Vorgehensweise ihm nur zugute kommen konnte. An dem Rohr klebte zweifellos das Blut des Mannes, den
er gerade niedergeschlagen hatte. Das galt auch für die Lederhandschuhe. Vermutlich hatte er auch etwas davon an seinen Kleidern, vielleicht an seinen Schuhen, doch bis zum Vormittag würde alles im Waschsalon um die Ecke mehrfach durch heißes Wasser gejagt werden. Das war’s dann wohl mit Partikeln, die ihn mit dem Mann in Verbindung bringen konnten. Die Segeltuchtasche würde in einem Müllcontainer in Brockton landen, das Rohr auf einer Baustelle im Zentrum. Die Brieftasche war am besten in einer Mülltonne in der Nähe einer U-Bahn-Sta tion in Dorchester aufgehoben, und die Kreditkarten würde er quer durch Roxbury verstreuen, wo sie hoffentlich ein paar schwarze Jugendliche aufhoben, um sie zu benutzen. Er wusste, dass immer noch ein tiefer ethnischer Riss durch die Bostoner Bevölkerung ging, und so war zu hoffen, dass man diese Kids verdächtigen würde, den Kerl niedergeschlagen zu haben. Die Latexhandschuhe, die er unter den Lederhandschuhen getragen hatte, konnte er sicher auf dem Heimweg loswerden, besonders, wenn er sie nicht weit vom Massachusetts General oder dem Brigham and Women’s Hospital in einen Abfall eimer warf, wo sie nicht weiter auffallen würden. Er hätte gern gewusst, ob er den Mann, der Ashley geküsst hatte, getötet hatte. Gut möglich, dachte er. Sein erster Schlag hatte ihn an der
Schläfe erwischt, und Michael hatte den Schädel knacken gehört. Der Kerl war gefallen und rücklings gegen einen Baum geprallt, was gut war, weil es das Geräusch seines Sturzes gedämpft hatte. Selbst wenn jemand etwas gehört und neugierig aus dem Fenster gesehen hätte, wären er und der Mann, der Ashley geküsst hatte, hinter dem Baumstamm und einigen geparkten Autos verborgen gewesen. Er hatte ihn mühelos in den Schatten der schmalen Gasse gezogen. Das Treten und Schlagen hatte nur wenige Sekunden gedauert. Ein Ausbruch an Brutalität fast wie ein sexueller Höhepunkt, unnachgiebig, explosiv und dann vorbei. Während er den leblosen Körper hinter einige Tonnen schob, hatte er dem Mann die Brieftasche abgenommen, seine selbstgebastelte Waffe in die Segeltuchtasche gesteckt und war mit zügigen Schritten durch die Dunkelheit zur U-Bahnstation Porter Square zurückgelaufen. Es war, fand O’Connell, unglaublich leicht gewesen. Unverhofft. Heimtückisch und anonym. Für eine Sekunde kam ihm die Frage in den Sinn, wer der Mann wohl gewesen war. Nicht, dass es ihn wirklich interessierte. Er brauchte nicht einmal seinen Namen zu erfahren. In ein, zwei Stunden würde das Mädchen – das Einzige, was ihn mit dem Mann verband, den er in der Gasse hatte liegenlassen – in ihrer Wohnung schlafen und nicht das Geringste davon ahnen, was in dieser Nacht vorgefallen war. Wenn es ihr später bewusst wurde, würde
sie vielleicht zur Polizei gehen. O’Connell bezweifelte es, aber es war immerhin möglich. Doch was konnte sie denen schon sagen? In seiner Hosentasche hatte er eine abgerissene Kinokarte. Nicht gerade ein wasserdichtes Alibi, doch es deckte den Zeitraum ab, in dem es zu dem Kuss gekommen war. Und ein Polizist, der ihr sowieso nicht glaubte, würde sich vermutlich damit zufriedengeben, besonders nachdem die Brieftasche und die Kreditkarten an anderen Enden der Stadt aufgetaucht waren. Er lehnte den Kopf zurück und horchte auf das Geräusch des U-Bahnzugs, eine seltsame Musik, die in der unablässigen Reibung von Metall an Metall mitschwang.
Kurz vor fünf Uhr morgens hatte Michael O’Connell seine vorletzte Haltestelle erreicht. Er suchte sie sich nach dem Zufallsprinzip aus und trat in der Gegend von Chinatown, in der Nähe des Bankenviertels im Zentrum, in die Dunkelheit. Die meisten Geschäfte hatten die Rollläden heruntergelassen, und der Bürgersteig war menschenleer. Er brauchte nicht lange, bis er ein Münztelefon gefunden hatte, das funktionierte. Er zitterte vor Kälte und zog sich die Kapuze seines Sweatshirts über den Kopf, so dass er wie ein Mönch unerkannt blieb. Er verlor keine Zeit. Er wollte nicht, dass ihn die letzte Polizeistreife dieser Nacht entdeckte und anhielt, um ihm unangenehme Fragen zu stellen.
O’Connell steckte fünfzig Cent ein und wählte Ashleys Nummer. Es klingelte fünf Mal, bevor er ihre verschlafene Stimme hörte. »Hallo?« Er wartete, um ihr ein, zwei Sekunden Zeit zum Wachwerden zu lassen. »Hallo?«, fragte sie zum zweiten Mal. »Wer ist da?« Er entsann sich an ein billiges, weißes, tragbares Telefon neben ihrem Bett. Keine Anruferkennung. Hätte auch keinen Unterschied gemacht. »Du weißt, wer«, sagte er sanft. Sie antwortete nicht. »Ich hab dir doch gesagt, dass ich dich liebe, Ashley. Wir sind füreinander bestimmt. Niemand kann zwischen uns treten.« »Michael, hör auf, mich anzurufen«, sagte sie. »Ich will, dass du mich in Ruhe lässt.« »Ich brauche dich nicht anzurufen«, antwortete er. »Ich bin immer bei dir.« Bevor sie etwas erwidern konnte, hatte er aufgelegt. Am wirkungsvollsten ist eine Bedrohung dann, überlegte er, wenn sie unausgesprochen bleibt.
Als er endlich in seine Wohnung kam, dämmerte schon fast der Morgen. Vielleicht ein halbes Dutzend Katzen seiner Nachbarin strichen durch den Flur, miauten und machten andere lästige Geräusche. Eine von ihnen fauchte, als er näher kam. Die alte Frau, die gegenüber wohnte, besaß über ein Dutzend, wenn nicht zwanzig Katzen, die sie alle mit unterschiedlichen Namen rief, und für eine Streunerin, die zufällig vorbeikam, schob sie immer noch einen Fressnapf dazu. Sie schienen zu kommen und zu gehen, wie es ihnen gefiel. Sie hatte sogar eigens ein Katzenklo im Flur aufgestellt, damit sie ihr Geschäft machen konnten, wodurch es unangenehm stank. Die Katzen kannten Michael O’Connell, er kannte die Katzen, und er kam mit ihnen kein bisschen besser zurecht als mit ihrer Besitzerin. Für ihn waren sie Streuner, vielleicht eine Stufe über Ungeziefer. Er musste in ihrer Gegenwart niesen und bekam tränende Augen, und außerdem wachten sie mit raubtierartiger Aufmerksamkeit über sein Kommen und Gehen. O’Connell trat gezielt nach einer gescheckten Katze, die in seiner Nähe herumstrich, verfehlte sie aber knapp. Nicht mehr ganz in Form, sagte er sich, nach einer langen, doch aufregenden Nacht. Während er seine Wohnungstür
aufschloss, jagten die Gescheckte und ihre Gefährten davon. Er warf einen Blick zu Boden und stellte fest, dass ein letztes schwarzweißes Exemplar mit einem goldbraunen Fleck noch in der Nähe des Fressnapfs lungerte. War wohl neu hier, dachte er, oder einfach nur dumm, wenn sie nicht auf die anderen hörte, die einen Bogen um ihn machten. Die alte Frau stand frühestens in einer Stunde auf, und er wusste, dass sie immer schlechter hörte. Er warf einen Blick den Flur entlang. Auch von den anderen Mietern schien noch niemand auf zu sein. Ihm war schleierhaft, wieso sich sonst niemand über die Katzen beschwerte, und er hasste sie alle dafür. Da war das alte Ehepaar aus Costa Rica, das gebrochen Englisch sprach. Ein Puertoricaner, den O’Connell in Verdacht hatte, sein Einkommen als Maschinist durch den einen oder anderen Bruch aufzubessern, hauste in einem der anderen Apartments. Im Stockwerk über ihm wohnten ein paar Examenssemester, die von Zeit zu Zeit einen durchdringenden Marihuanageruch ins Treppenhaus entließen, und ein grauhaariger, bleicher Handelsvertreter, der in seiner Freizeit auf die Tränendrüse drückte und sich ansonsten seiner Flasche widmete. Abgesehen von seinen Beschwerden über die Katzen beim Hausverwalter – einem älteren Mann mit pechschwarzen Trauerrändern unter den Fingernägeln, einem Akzent, dass man kein Wort verstand, und einer Einstellung zu seinem Beruf, die vor allem signalisierte, man solle ihn ja mit Reparaturen in Ruhe lassen – hatte O’Connell mit den Hausbewohnern herzlich wenig zu schaffen. Er bezweifelte, dass einer von
denen auch nur seinen Namen kannte. Es war alles in allem eine schäbige, kalte Bleibe, für die einen Endstation, für die anderen eine Zwischenlösung, mit einer Unbeständigkeit, die ihm gefiel. Er machte die Tür auf und überlegte, ob die alte Frau über ihre Viecher den Überblick behalten konnte. Er bezweifelte, dass sie ihre genaue Zahl wusste. Oder dass es ihr auffallen würde, wenn eine fehlte. Blitzschnell bückte er sich und packte die Schwarzweiße grob um die Körpermitte. Die Kreatur kreischte einmal lautstark und ging mit den Krallen auf ihn los. Er betrachtete den roten Kratzer auf seinem Handrücken. Die dünne Linie Blut würde ihm sein Vorhaben sehr erleichtern.
Ashley Freeman ließ sich aufs Bett zurückfallen. »Ich bin in Schwierigkeiten«, murmelte sie leise. Sie blieb so liegen und wagte sich kaum zu rühren, bis die Sonne zwischen den rüschenbesetzten Jungmädchengardinen hindurch langsam in ihr Zimmer drang. Sie folgte dem Lichtstrahl, der sich ihr gegenüber die Wand entlangtastete, mit den Augen. Sie hatte ein paar von ihren eigenen Arbeiten dort aufgehängt, ein paar Kohlezeichnungen, die sie in einem Aktzeichenkurs angefertigt hatte, eine vom Oberkörper eines Mannes, die
ihr besonders gefiel, die Rückenansicht einer Frau, die sinnlich kurvenreich die Fläche füllte. Außerdem hing dort ein Selbstporträt, das ein bisschen ungewöhnlich war, da sie nur eine Hälfte ihres Gesichts sorgfältig gezeichnet und die andere wie verschattet undefiniert gelassen hatte. »Das kann einfach nicht sein«, sagte sie, diesmal ein wenig lauter. Natürlich war ihr bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, was das eigentlich besagte. An dieser Stelle noch nicht.
Ich rief sie am selben Tag an und hielt mich nicht mit Höflichkeiten oder Small Talk auf, sondern kam gleich zur Sache: »Wie war Michael O’Connells Obsession zu erklären?« Sie seufzte. »Das müssen Sie selbst herausfinden. Aber können Sie sich denn nicht erinnern, wie es ist, jung und elektrisiert zu sein, wenn man völlig überraschend einen Höhepunkt der Leidenschaft erreicht? Der One-NightStand, die Zufallsbegegnung. Sind Sie schon so alt, dass Sie sich nicht erinnern können, wie man sich fühlt, wenn nichts unmöglich scheint?«
»Okay, meinetwegen«, sagte ich vielleicht ein wenig übereilt. »Nur dass all diese Momente mehr oder weniger harmlos waren, schlimmstenfalls peinlich. Fehler, die einem vielleicht die Schamesröte ins Gesicht treiben, oder Momente, die man für sich behält und keiner Menschenseele anvertraut. Doch hier geht es um etwas anderes. Ashley hat in einem schwachen Moment einen falschen Schritt gemacht und sich unversehens in einem undurchdringlichen Dornengestrüpp wiedergefunden. Nur dass ein solches Gestrüpp nicht notwendigerweise tödlich ist, Michael O’Connell dagegen schon.« Nach einer Pause sagte ich: »Ich habe Will Goodwin gefunden. Nur dass er nicht Goodwin heißt.« Ihre Worte kamen stockend über die Leitung. »Gut. Dann haben Sie vermutlich etwas Wichtiges dazugelernt. Zumindest sollte es Ihnen gezeigt haben, wozu Michael O’Connell fähig ist. Aber das markiert nicht den Anfang und vermutlich auch nicht das Ende. Ich weiß nicht. Es liegt bei Ihnen, das herauszufinden.« »In Ordnung, aber …« »Ich muss los. Aber Ihnen ist klar, nicht wahr, dass Sie an demselben Punkt stehen wie seinerzeit Scott Freeman, bevor es für ihn so richtig … also, ich bin nicht sicher, wie ich es am besten sagen soll – bevor es für ihn eng oder
schwierig wurde? Er wusste ein paar Dinge, aber nicht allzu viele. Vor allem klafften jede Menge Informationslücken. Er war davon überzeugt, dass Ashley in Gefahr war, doch er wusste nicht, wie oder wo und wann oder was wir sonst alles noch wissen wollen, wenn wir uns einer Bedrohung bewusst werden. Für Scott Freeman gab es lediglich eine Reihe verstörender Dinge, die Fragen aufwarfen. Ihm war klar, dass dies nicht der Anfang und auch nicht das Ende war. Er war wie ein Wissenschaftler, der sich durch eine Gleichung quälte und den Kopf zerbrach, in welcher Richtung er suchen musste, um die Lösung zu finden …« Sie schwieg, und zum ersten Mal bekam auch ich eine Gänsehaut. »Ich muss los«, erklärte sie. »Wir bleiben im Gespräch.« »Aber …«, setzte ich an, doch sie fiel mir ins Wort. »Unentschlossenheit«, sagte sie. »Ein schlichtes Wort, doch eine Sache, die viel Böses nach sich ziehen kann, nicht wahr? Kurzschlussreaktionen natürlich auch. Handeln oder nicht handeln. Immer eine heikle Frage, meinen Sie nicht auch?«
5
Nameless
Als Hope zur Tür ihres Hauses hereinkam, klatschte sie instinktiv zwei Mal in die Hände. Prompt hörte sie das leise Tapsen von Pfoten aus dem Wohnzimmer, wo ihr Hund viel Zeit damit verbrachte, aus dem Panoramafenster zu starren, um auf ihre Heimkehr zu warten. Diese Geräusche waren ihr nur allzu vertraut: zuerst der dumpfe Plumps, wenn er von dem Sofa sprang, auf dem er sich in ihrer Gegenwart nicht erwischen lassen durfte, dann das leise Ratschen seiner Krallen auf dem Parkett, wo er bei seinem Ansturm jedes Mal den Orientteppich verrutschte, und schließlich der freudig erregte Sprint zur Eingangsdiele. Sie kannte die stürmische Begrüßung gut genug, um vorsorglich Zeitungen und Einkäufe abzustellen. Was sonst ist so vorbehaltlos gefühlvoll wie die stürmische Begrüßung eines Hundes?, musste Hope unwillkürlich denken. Sie kniete sich hin und ließ sich von ihm das Gesicht abschlecken, während er mit dem Schwanz gegen die Wand trommelte. Und wenn die Welt untergeht, dachte sie, so weiß doch jeder Besitzer eines Hundes, dass der vor Glück wedeln wird, sobald man zur Tür hereinkommt. Ihrer war von seltsam gemischter Abstammung. Ein Tierarzt hatte gemeint, er sei der offensichtlich illegitime Spross eines Pitbulls und eines Golden Retrievers, was das eher kurze, blonde Fell zu der stupsigen Schnauze
erklären würde, außerdem die unerschütterliche Treue ohne die hinterhältige Aggressivität und eine Intelligenz, die selbst sie zuweilen überraschte. Sie hatte ihn aus einem Tierheim geholt, wohin man ihn bereits als Welpen abgeschoben hatte, und als sie den Leiter nach seinem Namen fragte, erklärte der ihr nur, der Kleine sei sozusagen noch nicht getauft. So hatte sie ihn in einem Anfall übermütiger Kreativität Nameless genannt. Als er noch jung war, hatte sie ihm beigebracht, am Ende einer Trainingseinheit aus der Schusslinie geratene Fußbälle zu apportieren, was bei den Mädchen unfehlbar für Heiterkeit sorgte, egal welche Mannschaft sie gerade trainierte. Nameless wartete dann geduldig und mit einem albernen Grinsen im Gesicht an der Bank, bis sie ihm Handzeichen gab. Dann flitzte er quer übers Feld, trieb jeden Ball einzeln auf, indem er ihn temporeich mit Schnauze und Vorderpfoten vor sich her rollte und zu ihr brachte, damit sie ihn in das große Netz stecken konnte. Sie erklärte den Mädchen, wenn sie lernten, so schnell wie Nameless zu sein, ohne den Ball zu verlieren, dann würden sie alle in der ersten Liga spielen. Dafür war er inzwischen viel zu alt, er sah und hörte auch nicht mehr so gut und litt an einer milden Form von Arthritis. Ein Dutzend Bälle einzusammeln überstieg vermutlich seine Kräfte, und so kam er seltener zum Training mit. Sie mochte nicht an sein Ende denken; sie hatte ihn schon so lange, wie sie mit Sally Freeman zusammen war.
Sie musste oft denken, dass ohne den Welpen Nameless ihre Partnerschaft mit Sally vielleicht in die Brüche gegangen wäre. Der Hund hatte Ashley und sie gezwungen, sich irgendwie zu arrangieren. Für Hunde war so etwas offensichtlich ein Kinderspiel. Als Sally kurz nach der Scheidung bei ihr einzog, hatte die schmollende Ashley sie mit der ganzen Nichtachtung gestraft, zu der eine Siebenjährige fähig war. Nameless hatte die Wut und die verletzten Gefühle des Mädchens schlichtweg ignoriert und die Ankunft eines Kindes, besonders eines mit Ashleys Energie, freudig begrüßt. Also hatte Hope Ashley eingespannt, ihr beim Abrichten des Welpen zu helfen, was ihnen nur zum Teil gelang. So gelehrig er sich beim Apportieren zeigte, so begriffsstutzig gab er sich im Umgang mit dem Mobiliar. Und so hatten sie, indem sie über die Erfolge und Misserfolge des Hundes sprachen, ihr Verhältnis zunächst entkrampft, dann langsam eine Verständigungsbasis und schließlich so etwas wie ein Gefühl der Verbundenheit entwickelt, das ihnen dabei half, die anderen Barrieren zu durchbrechen, denen sie sich gegenübersahen. Hope kraulte Nameless hinter den Ohren. Sie verdankte ihm viel mehr als er ihr. »Hunger?«, fragte sie. »Ein bisschen Hundefutter?« Nameless bejahte mit einem Bellen. Blöde Frage an einen Hund, dachte Hope, die er aber zweifellos gerne hörte. Sie
ging in die Küche und hob den Fressnapf vom Boden auf, während sie überlegte, was sie für Sally und sich zum Abendessen machen könnte. Etwas Interessantes, beschloss sie. Ein Stück wilden Lachs mit einer Fenchelcremesoße und Risotto. Sie war eine ausgezeichnete Köchin und stolz darauf. Nameless saß da und fegte in freudiger Erwartung den Boden mit dem Schwanz. »Es geht mir nicht anders als dir«, sagte sie zu dem Hund. »Wir warten beide. Nur mit dem Unterschied, dass es bei dir eindeutig ums Fressen geht und ich nicht weiß, was auf mich zukommt.«
Scott Freeman sah sich um und dachte an die Momente im Leben, in denen die Einsamkeit einen vollkommen unerwartet traf. Er war in einen etwas altersschwachen Queen-AnneLehnstuhl gesunken und starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit, die durch die letzten herbstlichen Blätter an den Bäumen kroch. Er hatte ein paar Referate zu korrigieren, eine Vorlesung zu schreiben, einige Pflichtlektüren zu erledigen – das Manuskript eines Kollegen war von der University Press mit der Post gekommen, und er saß im Gutachtergremium; außerdem lagen ein gutes halbes Dutzend Anfragen von Hauptfachstudenten vor, die ihn bei der Wahl ihrer Kurse um Rat ersuchten.
Darüber hinaus steckte er bei einem eigenen Aufsatz fest, der sich mit einem seltsamen Kampfverhalten im amerikanischen Revolutionskrieg beschäftigte. Äußerste Brutalität wechselte dabei abrupt mit fast mittelalterlicher Ritterlichkeit, etwa als Washington mitten im Schlachtgetümmel von Princeton einem britischen General den verirrten Hund zurückgab. Jede Menge Arbeit, dachte er. »Packen wir’s an«, sagte er laut, wenn auch nur zu sich selbst. Und in diesem Moment wurde ihm klar, dass es ihm nicht das Geringste bedeutete. Er dachte darüber nach und korrigierte sich: Möglicherweise hatte es keine Bedeutung. Das hing ganz davon ab, was er als Nächstes tat. Er wandte den Blick vom schwindenden Tageslicht ab und las erneut den Brief, den er in Ashleys Kommode gefunden hatte. Er las jedes Wort zum hundertsten Mal und fühlte sich nicht minder in der Klemme als bei seiner Entdeckung. Dann ging er im Geist noch einmal sein Telefonat mit Ashley durch – jedes Wort, jede Nuance im Tonfall, jede kleinste Äußerung. Scott lehnte sich zurück und schloss die Augen. Er musste sich in Ashley hineinversetzen. Du wirst doch wohl deine eigene Tochter kennen, sagte er sich. Was geht hier bloß
vor? Die Frage hallte in seinen Gedanken nach. Als Erstes, meldete sich beharrlich eine innere Stimme, musste er herausfinden, wer den Brief geschrieben hatte. War das geschafft, konnte er sich ein Bild von dem Menschen machen, ohne sich in das Leben seiner Tochter einzumischen. Wenn er geschickt vorging, dachte er, konnte er zu einem Ergebnis kommen, ohne jemand anderen mit einzubeziehen, das heißt, ohne sich an jemanden zu wenden, der Ashley verraten würde, dass er seine Nase in ihre Angelegenheiten steckte. Fand er, wie er hoffte, heraus, dass der Brief lediglich irritierend und unangemessen war, konnte er sich entspannen und es Ashley selbst überlassen, den lästigen Verehrer aus ihrem Leben zu verbannen. Vermutlich, sagte er sich, brauchte er nicht einmal Ashleys Mutter und ihre Lebenspartnerin einzuschalten, was eindeutig seinen Wünschen entsprach. Die Frage war nur, wo er anfangen sollte. Für ihn lag ein großer Vorzug des Geschichtsstudiums darin, die Handlungsmuster herauszuarbeiten, denen große Männer im Lauf der Jahrhunderte gefolgt waren. Scott war sich seiner stillen romantischen Ader bewusst, der Vorstellung etwa, in einer scheinbar hoffnungslosen Lage
nicht aufzugeben, sondern zu kämpfen und sich nicht unterkriegen zu lassen. Das spiegelte sich auch in seinen Lieblingsfilmen und -romanen. Diese Geschichten waren von einem gewissen kindlichen Zauber, der über die Brutalität der tatsächlichen historischen Ereignisse triumphierte. Historiker sind Pragmatiker. Kaltblütig berechnend. Die Ardennenschlacht war für sie der reine Irrsinn, mochten Schriftsteller und Filmemacher sie noch so verklären. Historiker hatten einen schärferen Blick für die Frostbeulen, die Blutlachen, die am Boden gefrieren, die Hilflosigkeit und dumpfe Verzweiflung der Beteiligten. Er war davon überzeugt, dass er einiges von dieser hochfliegenden romantischen Ader an Ashley weitergegeben hatte. Jedenfalls hatte sie die Begeisterung für Geschichten mit ihm geteilt und sich stundenlang in Unsere kleine Farm oder in die Romane von Jane Austen vertieft. Möglicherweise rührte ihre Zutraulichkeit zumindest teilweise daher. Mit einem Mal hatte er einen beißenden Geschmack auf der Zunge, als hätte er etwas Bitteres getrunken. Er hasste den Gedanken, dass er ebenso zu ihrer Vertrauensseligkeit wie ihrer Unabhängigkeit beigetragen hatte, denn genau diese Eigenschaften an ihr machten ihm jetzt schwer zu schaffen. Scott schüttelte den Kopf und wies sich laut zurecht: »Du greifst den Dingen mächtig vor. Bis jetzt weißt du noch
herzlich wenig, so gut wie nichts, um genau zu sein …« Fang mit den einfachen Dingen an, befahl er sich. Sieh zu, dass du den Namen herausfindest. Die Frage war nur, wie er das schaffen konnte, ohne dass seine Tochter etwas bemerkte. Er musste sich einmischen, durfte sich aber nicht erwischen lassen. Ein bisschen fühlte er sich wie ein Krimineller, als er sich umdrehte und die Treppe des kleinen Holzständerhauses zu Ashleys altem Zimmer hochstieg. Ihm schwebte eine gründlichere Suche vor, bei der er – wie er hoffte – auf verräterische Details stoßen würde, die ihn über den Brief hinaus Stück für Stück weiterführten. Er hatte einen Anflug von Schuldgefühlen, als er durch die Tür ins Zimmer trat und sich fragte, wieso er die Privatsphäre seiner Tochter verletzen musste, um mehr über sie zu erfahren.
Sally Freeman-Richards sah beim Abendessen von ihrem Teller auf und sagte träge: »Ich hab heute Nachmittag einen ziemlich seltsamen Anruf von Scott bekommen.« Hope brummte etwas und griff nach dem Sauerteigbrot. Sie kannte Sallys Gewohnheit, ihr etwas auf umständlichem Weg zu erzählen. Manchmal hatte Hope das Gefühl, dass Sally ihr selbst nach so vielen Jahren ein Rätsel blieb. Bei Gericht konnte sie so kraftvoll und aggressiv sein, in der
Privatsphäre des Hauses dagegen geradezu schüchtern. Hope sah eine Reihe von Widersprüchlichkeiten in ihrer beider Leben, und Widersprüchlichkeiten sorgen im Allgemeinen für Spannungen. »Er scheint beunruhigt …«, setzte Sally an. »Beunruhigt wegen was?« »Wegen Ashley.« Hope legte das Messer neben ihren Teller. »Ashley? Warum das?« Sally zögerte einen Moment. »Offenbar hat er in ihren Sachen gekramt und ist dabei auf einen Brief gestoßen, der ihm Sorgen macht.« »Was hat er in ihren Sachen zu kramen?« »Das wollte ich auch als Erstes wissen. Ich sehe, wir verstehen uns.« »Und?« »Na ja, er hat ausweichend geantwortet. Er wollte mit mir über den Brief reden.« Hope zuckte die Achseln. »Na schön, was ist mit dem Brief?« Sally überlegte einen Moment, bevor sie fragte:
»Also, hast du schon mal, ich meine, an der Highschool oder am College oder sonst irgendwann, einen Liebesbrief bekommen, du weißt schon, so ein Bekenntnis tiefster Hingabe, Liebe und ewiger Leidenschaft, so im Stil von: Ich kann nicht leben ohne dich?« »Hm, nein, so etwas hab ich nie bekommen. Allerdings gab es vielleicht besondere Gründe, weshalb ich leer ausgegangen bin. So etwas hat er also gefunden?« »Ja. Eine Liebesbeteuerung.« »Klingt doch ziemlich harmlos. Und was hat ihn deiner Meinung nach daran so irritiert?« »Etwas im Ton, denke ich.« »Geht’s ein bisschen genauer?«, hakte Hope nach, einen Hauch gereizt. Sally überlegte sich gut, was sie darauf antwortete – die Umsicht einer Rechtsanwältin. »Es wirkte wohl, ich weiß nicht, besitzergreifend. Und vielleicht ein bisschen manisch. So etwas wie: Wenn ich dich nicht haben kann, dann soll dich auch kein anderer kriegen. Vermutlich hört er das Gras wachsen.« Hope nickte. Auch sie wog ihre Worte ab. »Vermutlich, ja«, sagte sie. »Andererseits«, fügte sie zögernd hinzu, »wäre es wohl ein fatalerer Fehler, einen solchen Brief zu
unterschätzen, oder?« »Du meinst, Scott ist zu Recht beunruhigt?« »Das habe ich nicht gesagt. Ich denke nur, dass es sich selten auszahlt, etwas zu ignorieren.« Sally lächelte. »Jetzt klingst du wie die Schulpsychologin.« »Ich bin Schulpsychologin. Es ist demnach nicht allzu abwegig, wenn ich ab und zu auch so klinge.« Sally schwieg. »Ich wollte nicht, dass wir uns darüber streiten.« Hope nickte. »Natürlich.« Sie war nicht sicher, ob sie es auch so meinte, aber es war die klügste Reaktion. »Immer wieder habe ich das Gefühl, dass jedes Gespräch, in dem Scotts Name fällt, zu einem läppischen Streit ausartet«, sagte Sally. »Selbst nach all den Jahren noch.« Hope schüttelte den Kopf. »Also, reden wir einfach nicht über Scott. Schließlich geht er uns nicht mehr viel an, nicht wahr? Aber er geht Ashley eine Menge an, wir sollten ihn folglich in diesem Zusammenhang sehen. Und selbst wenn Scott und ich uns nicht allzu gut verstehen, heißt das noch lange nicht, dass ich ihn automatisch für übergeschnappt halte.«
»Okay«, sagte Sally, »logisch. Aber der Brief …« »Hattest du in letzter Zeit das Gefühl, dass Ashley geistesabwesend oder distanziert wirkte oder sonst irgendwie anders?«, fragte Hope. »Du weißt so gut wie ich, dass die Antwort nein lautet. Es sei denn, mir wäre was entgangen.« »Ich weiß nicht, ob ich so gut darin bin, bei jungen Frauen unterschwellige Gefühlsregungen aufzuspüren.« Hope stellte die Bemerkung in den Raum, obwohl sie wusste, dass das Gegenteil der Fall war. »Wieso traust du es mir dann zu?« Hope zuckte die Achseln. Das ganze Gespräch nahm einen falschen Verlauf, und sie konnte nicht sagen, ob sie schuld daran war. Sie betrachtete Sally über den Esstisch hinweg und stellte fest, dass zwischen ihnen eine Spannung herrschte, die sie nicht recht benennen konnte. Es war, als betrachtete sie in Stein gemeißelte Hieroglyphen. Sie vermittelten eine klare Bedeutung, aber Hope konnte sie nicht entziffern. »Hast du bei Ashley irgendeine Veränderung bemerkt, als sie das letzte Mal da war?« Während Hope auf eine Antwort wartete, ließ sie Ashleys letzten Besuch noch einmal Revue passieren. Ashley war
mit dem üblichen Wirbel, Selbstvertrauen und vollem Terminkalender hereingeschneit. Manchmal fühlte man sich in ihrer Nähe, als müsste man sich im Zentrum eines Hurrikans am Stamm einer Palme festhalten. Tempo gehörte zu ihrem Wesen. Sally schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Sie hat alles Mögliche gemacht, hat sich mit Leuten getroffen. Freunde von der Highschool, die sie seit Jahren nicht gesehen hatte. Für ihre öde alte Mama blieb eigentlich kaum eine Sekunde übrig. Oder auch für die Lebensgefährtin ihrer öden alten Mama. Und für ihren öden alten Papa wohl auch nicht mehr.« Hope nickte. Sally schob den Stuhl vom Tisch zurück. »Sehen wir einfach, was kommt. Wenn Ashley ein Problem hat, wird sie bestimmt anrufen und uns um Rat oder Hilfe bitten. Wir sollten nicht die Flöhe husten hören, einverstanden? Eigentlich bereue ich, dass ich das Thema angeschnitten habe. Ist auch bloß, weil Scott so aufgeregt war. Aufgeregt ist nicht das richtige Wort. Er war besorgt. Ich glaube, er wird mit zunehmendem Alter ein bisschen paranoid. Was sag ich, wir alle, oder etwa nicht? Und Ashley, die hat Energie für zwei. Am besten gehen wir einfach aus der Schusslinie und lassen sie ihre Dinge selbst regeln.« Hope nickte. »Aus dir spricht mütterliche Weisheit«, sagte
sie. Sie fing an, den Tisch abzuräumen, doch als sie nach einem langstieligen Weinglas griff, knickte ein Stück des Stiels ab und zerbrach auf dem Boden. Sie merkte, dass sie an der Kuppe ihres Zeigefingers blutete. Einen Moment lang sah sie zu, wie das Blut in den Handteller lief und im Takt ihres Herzschlags neue Tropfen hervorquollen.
Sie sahen noch ein bisschen fern, dann erklärte Sally, sie wolle ins Bett. Es war nur eine Feststellung, keine Einladung, nicht einmal begleitet von dem obligatorischen Kuss auf die Wange. Hope sah kaum von den CollegeAufsätzen hoch, die sie korrigierte. Immerhin fragte sie Sally, ob sie in den kommenden Wochen Zeit hätte, sich ein, zwei Spiele anzusehen. Sally gab nur eine unverbindliche Antwort, während sie zum Schlafzimmer im zweiten Stock hochging. Hope ließ sich aufs Sofa sinken, sah Nameless herüberschlurfen und lud ihren Hund mit einem Klaps der flachen Hand auf das Polster ein, sich neben sie zu legen. Das tat sie nur, weil Sally nicht da war, die Nameless’ nonchalante Einstellung zum Mobiliar nicht schätzte. Sally liebte klare Verhältnisse, ging es Hope durch den Kopf. Hunde auf dem Boden, Menschen auf dem Sofa. So wenig Unordnung wie möglich. Das war die Rechtsanwältin in ihr. Es war schließlich ihr Beruf, Unklarheiten zu beseitigen; Konflikte zu bereinigen und in eine Situation Vernunft
einkehren zu lassen; Regeln und Richtlinien zu formulieren, Strategien zu entwickeln und Dinge unzweideutig zu definieren. Hope war sich längst nicht so sicher, ob Organisation tatsächlich Freiheit bedeutete. Sie liebte ein bisschen Durcheinander im Leben und hatte einen gewissen rebellischen Zug. Gedankenverloren beugte sie sich vor und streichelte Nameless über das Fell, und er klopfte ein paar Mal mit dem Schwanz gegen das Sofa, während er die Augen verdrehte. Sie hörte Sally rumoren, dann sah sie, wie der Schatten, den das Schlafzimmerlicht auf die Treppe warf, verschwand. Hope legte den Kopf zurück und konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass ihre Beziehung womöglich in größeren Schwierigkeiten steckte, als sie sich vorstellen konnte, auch wenn sie nicht hätte sagen können, wieso. Fast das gesamte letzte Jahr hindurch hatte sie das Gefühl gehabt, als sei Sally innerlich woanders, und zwar die ganze Zeit. Sie fragte sich, ob sich jemand ebenso schnell entlieben wie verlieben konnte. Sie atmete langsam aus und wechselte von ihren Ängsten bezüglich ihrer Lebensgefährtin zu ihren Ängsten um Ashley.
Sie kannte Scott nicht besonders gut und hatte in den fünfzehn Jahren vielleicht ganze sechs Mal mit ihm gesprochen, was, wie sie einräumte, schon seltsam war. Das Bild, das sie sich von ihm machte, stützte sich auf das, was Sally und Ashley über ihn sagten. Jedenfalls hielt sie ihn nicht für einen Menschen, der zu übereiltem Handeln neigte, schon gar nicht, wenn es um etwas so Banales wie einen anonymen Liebesbrief ging. Bei ihren Tätigkeiten als Trainerin wie auch als Schulpsychologin war Hope schon mit so vielen bizarren und gefährlichen Beziehungen konfrontiert worden, dass sie dazu neigte, die Sache ernst zu nehmen. Sie klapste noch einmal einladend mit der flachen Hand auf den Platz neben ihr, doch Nameless rührte sich kaum. Es war zu abgedroschen, musste sie unwillkürlich denken, wenn jemand mit ihrer sexuellen Ausrichtung allen Männern misstraute. Andererseits wusste sie, welchen Schaden ein Mensch anrichten konnte, der sich emotional in etwas verrannte, besonders ein junger Mensch. Sie hob den Kopf und blickte zur Decke, als könne sie durch den Putz und die Hartfaserplatte hindurchsehen und erfahren, was Sally gerade dachte. Hope wusste, dass Sally Schlafprobleme hatte. Wenn sie endlich eingenickt war, warf sie sich hin und her und schien von lebhaften Träumen heimgesucht zu werden.
Ob auch Ashley schwer einschlafen kann?, fragte sich Hope. Es wäre wohl besser, dieser Frage nachzugehen, sie wusste nur nicht, wie. Hope hatte keine Ahnung, dass genau zur selben Zeit auch Scott wach lag und sich mit dem gleichen Dilemma quälte.
Boston hat etwas von einem Chamäleon, das unterscheidet es von anderen Städten. An einem strahlenden Sommermorgen pulsiert es vor Energie und Erfindungsreichtum. Es strotzt vor Gelehrsamkeit und Kontinuität, es atmet den Hauch der Geschichte. Es strahlt eine Heiterkeit aus, die unbegrenzte Möglichkeiten verspricht. Doch man braucht nur dieselben Häuserzeilen entlangzugehen, wenn sich die Nebelschwaden vom Hafen herüberwälzen oder wenn klirrender Frost in der Luft liegt oder wenn der schmutzige Schnee von gestern an den Straßenrändern liegt, und Boston präsentiert sich als ein unwirtlicher, kalter Ort von einer abweisenden Düsternis und Härte. Ich betrachtete den spätnachmittäglichen Schatten, der langsam über die Dartmouth Street kroch, und fühlte, wie vom Charles River heiße Luft herüberwehte. Von meinem
Standort aus konnte ich den Fluss nicht sehen, auch wenn ich wusste, dass mich nur ein paar Häuserblocks von ihm trennten. Ich hatte es nicht weit bis zur Newbury Street mit ihren modischen Geschäften und exklusiven Galerien. Auch The Berklee School of Music, um die sich ehrgeizige Musiker jedweder Richtung scharten, war ganz in der Nähe: Auf den angrenzenden Bürgersteigen begegneten sich aufstrebende Punkrocker, Folk-Sänger und Konzertpianisten. Lange Künstlermähnen, hochgegelte Stacheln, ungepflegte Strähnen. Dazwischen ein Obdachloser, im Schatten mit dem Rücken an die Wand einer schmalen Gasse gelehnt, der leise Selbstgespräche führte und unentwegt vor und zurück wippte – vor und zurück, vor und zurück. Während ich mich zum Gehen wandte, hörte er womöglich viele Stimmen, vielleicht aber auch nur die sehnsüchtigen Forderungen einer einzigen, wer konnte das sagen. Nicht weit von mir hupte ein BMW, als ein paar Studenten, von der Sonne geblendet, einfach auf die Straße liefen. Kurz darauf beschleunigte er mit quietschenden Reifen. Für einen Moment blieb ich stehen. Das Einmalige an Boston war, dass es für die unterschiedlichsten Strömungen offenblieb und sie alle in sich vereinte. Es war, kam mir plötzlich in den Sinn, nicht verwunderlich, dass Michael O’Connell sich an einem Ort zu Hause fühlte, der einem eine solche Auswahl an Identitäten bot. Zu diesem Zeitpunkt kannte ich ihn noch nicht besonders gut, aber ich hatte immerhin eine leise Ahnung, wie er tickte.
Natürlich sah sich Ashley Freeman dem gleichen Rätsel gegenüber.
6 Ein Vorgeschmack auf das, was kommen sollte
Bis Mittag wagte sie sich nicht zu rühren. Als die Sonne zu den Fenstern hereinströmte und der ferne Straßenlärm in ihre Wohnung drang, stand sie auf. Eine Weile starrte sie durch die verdreckte Scheibe, wie um sich einzureden, dass bei diesem Hin- und Herwogen eines ganz gewöhnlichen Tages eigentlich nichts Besonderes passieren konnte. Sie fixierte jeweils eine Person auf dem Bürgersteig, solange sie in ihrem Gesichtsfeld war. Auch wenn sie niemanden kannte, wirkten alle vertraut. Alle passten in das übliche Schema: Der Geschäftsmann. Der Student. Die Kellnerin. Dort unten herrschte eine Welt der Zielstrebigkeit und Zweckmäßigkeit, an der sie nicht teilhaben konnte. Ashley fühlte sich unter diesen Menschen wie eine Insel. Einen Moment lang wünschte sie sich, sie hätte eine Zimmergenossin oder beste Freundin. Jemand, dem sie
sich anvertrauen konnte, jemand, der am Fußende des Bettes sitzen und einen Tee schlürfen würde, bereit, beim jeweiligen Stichwort zu lachen oder zu weinen oder in anderer Form Anteilnahme zu zeigen. Sie wusste, dass sie in Boston unzählige Leute kannte, aber niemanden, mit dem sie eine ernste Belastung teilen konnte, schon gar nicht, wenn sie Michael O’Connell hieß. Sie hatte hundert Freunde, aber keinen richtigen Freund. Sie drehte sich zu ihrem mit halb fertiggestellten Referaten, kunstgeschichtlichen Lehrbüchern, einem Laptop und einigen CDs übersäten Schreibtisch um. Sie wühlte in dem Durcheinander, bis sie einen kleinen Zettel mit einer Zahl darauf fand. Dann holte Ashley einmal tief Luft und wählte Michael O’Connells Nummer. Es klingelte zwei Mal, bevor er sich meldete. »Ja?« »Ashley. Michael, ich …« Es trat Schweigen ein. Sie wünschte, sie hätte sich genau zurechtgelegt, was sie sagen sollte, um sich klar und unmissverständlich auszudrücken. Stattdessen bekamen die Emotionen die Oberhand. »Ich will nicht, dass du mich noch mal anrufst«, platzte sie heraus.
Er sagte nichts. »Als du heute Morgen am Telefon warst, da habe ich noch geschlafen. Ich habe mich zu Tode erschrocken …« Sie wartete auf eine Entschuldigung, doch vergeblich. »Michael, bitte«, fügte sie hinzu. Es klang so, als bäte sie ihn um einen Gefallen. Er antwortete nicht. Sie stammelte weiter. »Hör mal, das war nur eine Nacht, nicht mehr. Wir hatten ein bisschen Spaß, ein paar Drinks zu viel, und es hätte nicht so weit gehen sollen, auch wenn ich es nicht bereue, das meine ich nicht. Es tut mir leid, wenn du meine Gefühle missverstanden hast. Können wir nicht einfach als Freunde auseinandergehen? Jeder sein eigenes Leben führen?« Sie hörte zwar am anderen Ende seinen Atem, aber kein Wort. »Deshalb möchte ich«, fuhr sie fort und war sich dabei durchaus bewusst, dass sie immer weniger überzeugend, immer jämmerlicher klang, »dass du mir keine Briefe mehr schickst, schon gar nicht solche wie letzte Woche. Der war doch von dir, oder? Er kann nur von dir sein. Ich weiß, dass du ziemlich viel um die Ohren hast, und ich bin mit meiner Arbeit eingespannt und versuche, das mit dem Graduiertenprogramm hinzukriegen, ich hab einfach nicht
die Zeit für eine ernsthafte Beziehung. Ich weiß, du verstehst das. Ich brauche meinen Freiraum. Ich meine, wir haben beide so viele Dinge laufen, für mich ist es einfach nicht der richtige Moment, und ich wette, für dich genauso wenig. Das verstehst du doch, oder?« Sie ließ die Frage sinken und wartete eine Weile, bis sie in das Schweigen hinein, das sie sich als Zustimmung deutete, hinzufügte: »Ich weiß es zu schätzen, dass du mir zuhörst, Michael. Und ich wünsche dir nur das Beste, ehrlich. Vielleicht können wir irgendwann in Zukunft bessere Freunde werden. Aber im Moment nicht, okay? Es tut mir leid, wenn dich das enttäuscht, aber falls du mich wirklich so liebst, wie du sagst, dann wirst du verstehen, dass ich für mich sein möchte und derzeit keine feste Bindung eingehen will. Ich kann nicht für alle Zukunft sprechen, aber derzeit kommt das für mich einfach nicht in Frage, ja? Ich möchte, dass wir das als Freunde beenden, ja?« Sie hörte seinen Atem, ein und aus. Ruhig und regelmäßig. »Hör mal«, sagte sie, und nun schlich sich eine gewisse Ungeduld, eine gewisse Verzweiflung in ihren Ton, »wir kennen uns doch eigentlich gar nicht. Es war ein einziges Mal, und wir waren beide ein bisschen betrunken, stimmt’s? Wie kannst du behaupten, du würdest mich lieben? Wie kannst du so etwas sagen? Wir wären füreinander bestimmt – das ist verrückt. Du könntest nicht ohne mich leben. Das ergibt doch keinen Sinn. Nicht den
geringsten. Ich will einfach nur, dass du mich in Ruhe lässt, okay? Du wirst jemand anders finden, jemand, der genau richtig für dich ist, bestimmt. Aber ich bin es nicht. Bitte, Michael, lass mich einfach in Ruhe, ja?« Michael O’Connell sagte kein Wort. Er lachte nur. Es klang fremd und kam wie aus weiter Entfernung. Und es hatte nicht das Geringste mit dem zu tun, was sie gesagt hatte, nichts daran war komisch oder ironisch gewesen. Es lief ihr eiskalt den Rücken hinunter. Dann legte sie auf. Eine Weile blieb sie stehen und starrte auf den Hörer in ihrer Hand, während sie sich fragte, ob die Unterhaltung tatsächlich stattgefunden hatte. Einen Augenblick lang war sie sich nicht einmal sicher, ob er überhaupt am Apparat gewesen war, doch dann erinnerte sie sich an das eine Wort, das er gesagt hatte, und das war eindeutig er gewesen, auch wenn er für sie fast ein Fremder war. Sie stellte das Telefon sorgsam auf den Sockel und sah sich verängstigt in der Wohnung um, als rechnete sie jeden Moment damit, dass sich jemand auf sie stürzen würde. Sie konnte das ferne Verkehrsrauschen hören, doch es trug wenig dazu bei, dieses Gefühl vollkommener Einsamkeit, das sie überkam, auch nur abzumildern. In einem Anfall von Erschöpfung ließ sich Ashley auf die Bettkante sinken, während ihr die Tränen in die Augen
stiegen. Sie fühlte sich unsäglich klein. Sie wusste nicht im Mindesten, was sie von der Situation halten sollte; sie hatte lediglich das Gefühl, dass eine Lawine ins Rollen gekommen war und immer schneller wurde – vielleicht noch aufzuhalten, aber es blieb nicht mehr viel Zeit. Sie wischte sich die Augen und befahl sich, ihre Emotionen in den Griff zu bekommen. Sie versuchte, das Gefühl der Hilflosigkeit mit Widerstandskraft und Entschlossenheit zu überwinden. Ashley schüttelte energisch den Kopf. »Du hättest dir zurechtlegen müssen, was du sagst«, wies sie sich laut zurecht. Der Widerhall ihrer eigenen Worte in dem engen Apartment irritierte sie. Eigentlich hatte sie alles darangesetzt, ihrer Aufforderung Nachdruck zu verleihen – das war der Zweck ihres Anrufs gewesen, doch stattdessen hatte sie schwach und jämmerlich geklungen, hatte ihn geradezu angefleht, alles Dinge, die, wie sie fand, nicht zu ihr passten. Sie zwang sich, vom Bettrand aufzustehen. »Verflucht noch mal«, murmelte sie und fügte hinzu: »Was für ein gottverdammter, beschissener Schlamassel.« Danach ließ sie einen ganzen Sturzbach an Obszönitäten los, zischte jedes böse, derbe und rohe Wort in die abgestandene Luft ihres Zimmers, um ihrem Frust und ihrem Ärger freien Lauf zu lassen. Dann versuchte sie sich zu beruhigen. »Er ist nichts weiter als ein Mistkerl«, sagte sie laut. »Schließlich nicht der erste, den du kennenlernst.«
Tief im Innern wusste Ashley, dass das nicht stimmte. Doch sie fühlte sich besser, wenn sie ihre eigene Stimme so grimmig und entschieden hörte. Sie suchte in ihren Sachen, fand ein Handtuch und ging zielstrebig in ihr kleines Badezimmer. Innerhalb weniger Sekunden lief die heiße Dusche, und sie hatte die Kleider abgestreift. Als sie unter den dampfenden Wasserstrahl trat, hatte sie das Gefühl, durch das Gespräch mit Michael O’Connell beschmutzt worden zu sein, und sie schrubbte sich die Haut rot, als gelte es, einen unangenehmen Geruch loszuwerden oder einen hartnäckigen Flecken, der sich allen Versuchen, ihn zu entfernen, widersetzte. Als sie aus der Dusche trat, wischte sie ein Stück des beschlagenen Spiegels frei und sah sich tief in die Augen. Mach einen Plan, sagte sie sich. Ignorier den Mistkerl einfach, und er geht von allein. Sie schnaubte und spannte die Muskeln in den Oberarmen an. Sie ließ den Blick über ihren Körper gleiten, als wolle sie die Kurven ihrer Brüste, ihren flachen Bauch, die straffen Beine abschätzen. Sie fand, sie war fit, gepflegt und gut aussehend. Und sie hielt sich für stark. Ashley betrat ihr Schlafzimmer und zog sich an. Sie hatte den Drang, etwas Neues anzuziehen, etwas anderes, etwas, das sie nicht kannte. Sie schob den Laptop in den Rucksack und sah nach, ob sie Bargeld in der Brieftasche hatte. Ihre Pläne für diesen Tag glichen mehr oder weniger
denen an jedem anderen Tag: hinüber in den Bibliotheksflügel des Museums, um zwischen den Regalen mit kunstgeschichtlichen Büchern zu studieren, bevor sie zu ihrem Job ging. Sie hatte mehr als ein Referat, das sie fertigstellen musste, und sie hoffte, dass es ihr helfen würde, Michael O’Connell zu vergessen, wenn sie sich in die Bücher und Abbildungen großer Visionen stürzte. Als sie sicher war, alles dabeizuhaben, was sie brauchte, schnapp te sie sich die Schlüssel und öffnete die Tür zum Flur. Und blieb abrupt stehen. An der Wand gegenüber ihrer Tür war ein Dutzend Rosen mit Klebeband befestigt worden. Tote Rosen. Schlaff und verwelkt. Während sie darauf starrte, löste sich ein blutrotes Blütenblatt, das vom Alter fast schwarz geworden war, und flatterte zu Boden, als sei es nicht durch einen Luftzug abgerissen worden, sondern allein durch Ashleys Blick. Sie konnte die Augen nicht davon lassen.
Scott saß an seinem Schreibtisch in seinem kleinen Büro am College, zwirbelte einen Bleistift zwischen den Fingern der rechten Hand und dachte über die Frage nach, wie man sich in das Leben seines fast erwachsenen Kindes einmischen konnte, ohne dass es auffiel. Wäre Ashley noch
ein Teenager oder ein Kind, dann hätte er das Recht gehabt, ein bisschen aufzubrausen und von ihr die gewünschte Auskunft zu verlangen, selbst wenn er Tränenströme, Beschimpfungen und die ganze übrige Kind-Eltern-Dynamik heraufbeschwor. Ashley aber stand genau zwischen Jugend und dem Erwachsensein, und er hatte keine Ahnung, wie er vorgehen sollte. Außerdem wuchs mit jeder Sekunde, die er untätig blieb, seine Sorge. Er musste behutsam, aber effizient vorgehen. Ihn umgaben Regale voller Geschichtsbände und eine billig gerahmte Reproduktion der Unabhängigkeitserklärung. Mindestens drei Fotos von Ashley standen auf der Ecke seines Schreibtischs oder hingen an der Wand ihm gegenüber. Das erstaunlichste Bild von ihr war der Schnappschuss bei einem Basketballspiel, mit angespanntem Gesicht und flatterndem roten Pferdeschwanz, während sie in die Höhe sprang und zwei Gegnerinnen den Ball wegnahm. Er hatte noch ein Foto, das er allerdings in der obersten Schreibtischschublade aufbewahrte. Es war ein Bild von ihm selbst mit zwanzig Jahren, ein wenig jünger, als seine Tochter jetzt war. Er saß auf einer Munitionskiste neben einem Stapel Granaten, direkt hinter der 125-Millimeter-Haubitze. Den Helm zu seinen Füßen abgelegt, rauchte er eine Zigarette, was in der Nähe von so viel Zündstoff wohl keine gute Idee gewesen war. Er blickte erschöpft und leer. Manchmal glaubte Scott, dass dieses Foto die einzig handgreifliche
Erinnerung an seine Kriegszeit war. Zuerst hatte er es rahmen lassen, und dann hatte er es versteckt. Er glaubte nicht, dass er es jemals Sally gezeigt hatte, selbst als Ashley unterwegs war und sie glaubten, sie liebten sich noch. Einen Moment lang überlegte er, ob Sally ihn je nach seinen Kriegserfahrungen gefragt hatte. Scott setzte sich auf seinem Stuhl zurecht. Der Gedanke an seine Vergangenheit machte ihn nervös. Er befasste sich lieber mit der Geschichte anderer als mit der eigenen. Scott wippte vor und zurück. In Gedanken ging er wieder den Wortlaut des Briefes durch. Dabei kam ihm eine Idee. Es gehörte zu Scotts zugleich guten wie schlechten Gewohnheiten, Karten und Zettel mit Namen und Telefonnummern nicht wegwerfen zu können. Eine Art von Sammeltrieb. Er musste fast eine halbe Stunde in Schreibtischschubladen und Aktenschränken wühlen, doch am Ende hatte er gefunden, was er suchte. Er hoffte, dass die Handynummer noch stimmte. Beim dritten Klingelton hörte er eine vage vertraute Stimme. »Hallo?« »Ist da Susan Fletcher?«
»Ja, wer spricht da?« »Susan, Scott Freeman hier, Ashleys Vater … Sie wissen schon, von ihren ersten beiden Studienjahren.« Einen Moment herrschte Schweigen, dann hellte sich die Stimme am anderen Ende auf. »Mr. Freeman, ja, natürlich, ist ein wenig her …« »Tja, wie die Zeit vergeht.« »Können Sie laut sagen. Du liebe Güte, wie geht’s Ashley? Ich hab sie seit vielen Monaten nicht gesehen …« »Deshalb rufe ich ehrlich gesagt an.« »Gibt es ein Problem?« Scott überlegte. »Möglicherweise ja.«
Susan Fletcher war ein Wirbelwind von einer jungen Frau, die zwischen ihrem Kopf, dem Schreibtisch und dem Computer ständig ein halbes Dutzend Ideen und Pläne jonglierte. Sie war klein, dunkelhaarig, nahezu anstrengend intensiv und ein unerschöpfliches Bündel an Energie. Kaum hatte sie das Examen in der Tasche, hatte die Credit Suisse First Boston sie sich für ihren Sektor Finanzplanung geangelt.
Sie stand vor dem Fenster ihrer Bürokabine und sah zu, wie ein Flugzeug nach dem anderen zur Landung auf den Logan Airport herunterschwebte. Ihr Gespräch mit Scott Freeman hatte sie ein wenig beunruhigt, und sie war sich nicht sicher, wie sie vorgehen sollte, auch wenn sie ihm versprochen hatte, sich der Sache anzunehmen. Susan mochte Ashley, obschon sie seit fast zwei Jahren keinen Kontakt mehr hatten. Sie waren im ersten Jahr am College als Zimmergenossinnen zusammengewürfelt worden, zunächst erstaunt, wie verschieden sie waren, und dann umso erstaunter, als sie merkten, wie gut sie sich verstanden. Sie blieben ein zweites Jahr zusammen, bevor sie beide vom Campus wegzogen. Sie sahen sich bedeutend weniger, doch wann immer sie sich trafen, hatte sich stets dieses vertraute Gefühl wieder eingestellt, und sie hatten eine Menge Spaß miteinander gehabt. Inzwischen verband sie nur noch wenig – hätte Susan jetzt geheiratet, wäre es fraglich, ob sie Ashley gebeten hätte, Brautjungfer zu sein. Doch sie hegte für ihre frühere Zimmergenossin eine große Zuneigung, dachte sie zumindest. Sie blickte zum Telefon. Irgendwie fühlte sie sich bei dem, worum Ashleys Vater sie gebeten hatte, unbehaglich. Zunächst ging es darum, sie mehr als nur ein bisschen auszuspionieren. Andererseits handelte es sich wohl um kaum mehr als übertriebene
väterliche Sorge. Sie konnte einen Anruf machen, der sie beruhigte, Scott Freeman Rückmeldung erstatten, und alle würden wieder zur Tagesordnung übergehen. Außerdem hätte es den Vorteil, mit einer alten Freundin Kontakt aufzunehmen, in den meisten Fällen keine schlechte Idee. Falls es zu Irritationen kam, dann wohl am ehesten zwischen Ashley und ihrem Vater. Also griff sie mit wenig Bedenken zu ihrem Telefon, blickte ein letztes Mal in die einsetzende Abenddämmerung draußen am Hafen und wählte Ashleys Nummer. Es klingelte fünf Mal, bevor sich jemand meldete, genau in dem Moment, als Susan dachte, sie müsse eine Nachricht auf den Anrufbeantworter sprechen. »Ja?« Die Stimme ihrer Freundin war schroff, was Susan überraschte. »Hey, Free-Girl, wie läuft’s denn so?« Es schwang ein wenig Nostalgie mit, als sie Ashleys Spitznamen aus dem ersten College-Jahr benutzte. Das einzige Seminar, das sie gemeinsam belegt hatten, befasste sich mit Frauen im zwanzigsten Jahrhundert, und sie hatten sich eines Abends nach ein paar Bier darauf verständigt, dass Freeman sexistisch und unpassend war, Freifrau die falschen Assoziationen weckte, während FreeGirl ziemlich gut passte.
Ashley wartete vor dem Hammer and Anvil auf der Straße. Gegen den schneidenden Wind zog sie sich den Jackenkragen hoch, während ihr die Kälte vom Bürgersteig durch die Sohlen zog. Sie wusste, dass sie ein paar Minuten zu früh dran war. Susan verspätete sich nie. Das passte einfach nicht zu ihr. Ashley sah auf die Uhr, und genau in diesem Augenblick hörte sie ein Stück weiter die Straße hinauf eine Hupe dröhnen. Susan Fletchers strahlendes Grinsen durchdrang den frühen Abend, als sie die Scheibe herunterkurbelte. »Hey, Free-Girl!«, brüllte sie aufrichtig herzlich. »Du hast doch wohl nicht geglaubt, ich würde dich warten lassen? Geh schon mal rein und such uns einen Tisch. Ich parke da vorne. Bin in zwei Minuten da, höchstens.« Ashley winkte ihr zu und sah dem Wagen nach, wie er sich vom Bürgersteig löste. Ziemlich teurer neuer Schlitten, dachte Ashley. Rot. Sie sah, wie Susan einen Block weiter in ein Parkhaus einbog, dann ging sie ins Restaurant. Susan fuhr auf Ebene drei hinauf, wo weniger Autos standen und sie den neuen Audi an einer Stelle parken konnte, an der es unwahrscheinlich war, dass sich jemand direkt neben sie setzte und die Tür verkratzte. Der Wagen war erst zwei Wochen alt, zur Hälfte ein Geschenk ihrer stolzen Eltern, zur Hälfte eins, das sie sich selbst gemacht hatte, und sie würde verdammt noch mal dafür sorgen, dass der neue Glanz nicht unter dem hektischen Verkehr
des Bostoner Zentrums Schaden litt. Sie stellte die Alarmanlage an und machte sich auf den Weg zum Restaurant. Sie beeilte sich, nahm die Treppe, statt auf den Fahrstuhl zu warten, und war binnen Minuten im Hammer and Anvil, wo sie den Mantel abstreifte und im Nu vor Ashleys Tisch stand, auf dem bereits zwei Glas Bier zur Begrüßung warteten. Die beiden umarmten sich. »Hey, Kumpel«, sagte Susan. »Ist zu lange her.« »Ich hab dir ein Bier bestellt, aber dann kamen mir ernste Bedenken. Eine Karrierefrau an der Wall Street steht vielleicht mehr auf Scotch on the Rocks oder Dry Martini«, meinte Ashley. »Heute Abend halte ich mich an Bier«, erwiderte Susan. »Ash, du siehst großartig aus.« Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, räumte Susan innerlich ein. Ihre Freundin von einst wirkte nervös und bleich. »Tatsächlich?«, fragte Ashley. »Ich glaube nicht.« »Was ist? Gibt’s Probleme?« Ashley zögerte, zuckte die Achseln und sah sich im
Restaurant um. Helles Licht, Spiegel. Toasts, die an einen benachbarten Tisch gerufen wurden, ein trautes Paar neben dem anderen. Ein heiteres Stimmengewirr. Sie hatte plötzlich das Gefühl, als hätten die Ereignisse an diesem Morgen in einem Paralleluniversum stattgefunden. In ihrer Umgebung herrschte sorglose Ausgelassenheit. Sie seufzte. »Ach, Susie, ich bin einem miesen Typen begegnet. Er hat mir ein bisschen Angst gemacht. Das ist alles.« »Angst gemacht? Womit denn?« »Na ja, er hat eigentlich nichts getan, es hat eher damit zu tun, was er mir sagt. Behauptet, er liebt mich, ich wäre die Richtige für ihn, eine andere interessiere ihn nicht. All so’n Quatsch. Ergibt einfach keinen Sinn. Wir waren nur ein einziges Mal zusammen, und das war ein großer Fehler. Ich hab versucht, es ihm auf die freundliche Art zu stecken, hab ihm gesagt, danke, aber das war’s. Hab irgendwie gehofft, das würde reichen, aber als ich heute aus der Wohnung kam, waren Blumen von ihm vor meiner Tür.« »Na ja, Blumen klingen fast nach einem Gentleman.« »Verwelkte.« Dazu fiel Susan erst einmal nichts ein. »Das ist nicht komisch«, sagte sie schließlich. »Woher weißt du, dass er es war?«
»Es kommt niemand sonst in Frage.« »Und was willst du nun machen?« »Machen? Den Typen einfach links liegenlassen. Der haut schon ab. Tun sie alle, früher oder später.« »Toller Plan, Free-Girl. Klingt, als hättest du dir wirklich jeden Schritt genau überlegt.« Ashley lachte, auch wenn es eigentlich nicht komisch war. »Mir fällt schon was ein, früher oder später.« Susan grinste. »Erinnert mich an diesen Mathe-Kurs. Weißt du noch? Im ersten Jahr. Wenn ich mich recht entsinne, hast du’s bei der Zwischenprüfung mit diesem Motto gehalten und dann, als du die Lektion nicht ganz verstanden hattest, am Semesterende wieder.« »Ich hätte eben an der Highschool nicht so gut in Mathe sein sollen. Meine Mutter hat mich zu diesem Fehler verleitet. Ich denke, sie hat daraus gelernt. Das war das letzte Mal, dass sie mich auch nur gefragt hat, was für Seminare ich belege.« Beide jungen Frauen steckten die Köpfe zusammen und kicherten. Es gibt doch weniges im Leben, dachte Ashley, was so beruhigend ist wie das Wiedersehen mit einer alten
Freundin. Die lebte zwar inzwischen in einer anderen Welt, erinnerte sich aber an dieselben alten Witze, egal, wie weit ihre Wege inzwischen auseinandergingen. »Ach, genug von diesem miesen Typen. Ich hab einen anderen Kerl kennengelernt, den ich ziemlich cool finde. Ich hoffe, er ruft wieder an.« Susan grinste. »Ash. Das Erste, was ich mitbekommen habe, als ich mit dir zusammenwohnte, war, dass die Jungs dich immer wieder anrufen.« Sie stellte weder weitere Fragen, noch fiel zwischen ihnen der Name Michael O’Connell. Und doch hatte Susan das Gefühl, genug gehört zu haben oder zumindest annähernd genug. Verwelkte Blumen.
Draußen auf der Straße vor dem Hammer and Anvil nahm Ashley ihre Freundin lange und ausgiebig in die Arme. »Es war toll, dich zu sehen, Susie. Wir sollten uns öfter treffen.« »Wenn du die Sache mit dem Graduiertenprogramm in trocknen Tüchern hast, ruf mich an. Vielleicht sehen wir uns einfach regelmäßig, was weiß ich, einmal die Woche, dann kannst du meine Klagen über blöde Chefs und dämliche Geschäftsmodelle mit ein wenig künstlerischem Feingefühl besänftigen.« »Das wäre schön«, seufzte Ashley. Sie legte den Kopf
zurück und starrte in den klaren, eisigen Himmel. Über das diffuse Lichtermeer der Straßen und Häuser breitete sich ein sternenübersätes blauschwarzes Firmament. »Eins noch, Ash«, setzte Susan an, während sie in ihrer Handtasche nach den Schlüsseln kramte. »Ich mache mir ein biss chen Sorgen wegen diesem Typen, der dir auf die Nerven geht …« »Michael? Michael Zum Kotzen …«, sagte Ashley mit einer wegwerfenden Handbewegung und in einem Ton, der sogar in ihren eigenen Ohren verlogen klang. »Den bin ich in wenigen Tagen los, Susie. Typen wie der brauchen ein klares, großes Nein, dann ziehen sie winselnd ab und jammern ein paar Tage, bis sie mit ihren Saufkumpeln in irgendeine Sportler-Bar gehen und sich darauf verständigen, dass sämtliche Frauen Schlampen sind, und das war’s dann auch.« »Ich hoffe, dass du recht behältst. Trotzdem, ich wäre eine lausige Freundin, wenn ich dir nicht anbieten würde, dass du mich jederzeit anrufen kannst. Tag und Nacht. Wenn dieser Typ nicht von der Bildfläche verschwindet.« »Danke, Susie. Weiß ich zu schätzen. Aber keine Sorge.« »Ach ja, du erinnerst dich doch wohl noch, dass ich ein Naturtalent darin bin, mir Sorgen zu machen.« Sie lachten beide, umarmten sich noch einmal, und mit
einem Lächeln auf den Lippen drehte Ashley sich um und schlenderte durch das streifige Licht, das die Neonlettern über den Restaurants und Geschäften aufs Pflaster warfen. Susan Fletcher sah ihr eine Weile nach, bevor sie die entgegengesetzte Richtung einschlug. Sie wurde nie ganz schlau aus Ashley. Sie verband auf mysteriöse Weise Kultiviertheit mit Naivität. Kein Wunder, dass die Jungs sich zu ihr hingezogen fühlten, doch im Grunde, vermutete Susan, war sie isoliert und schwer zu erreichen. Selbst die Art, wie sie ging, indem sie schwerelos in die Schatten tauchte, schien nicht von dieser Welt. Susan sog die frostige Nachtluft ein. Es war ihr unangenehm, ihrer Freundin nicht zu beichten, dass Scott hinter dem Treffen steckte und ihr Anruf am frühen Abend nicht zufällig kam. Sie trat von einem Fuß auf den anderen und fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, ihrer Freundin gegenüber nicht richtig ehrlich gewesen zu sein und für deren Vater nicht allzu viel herausgefunden zu haben. Michael Zum Kotzen, dachte sie. Und verwelkte Blumen. Entweder war es völlig harmlos oder aber wirklich beängstigend. Susan wusste nicht, was von beidem. Ebenso wenig war sie sich darüber im Klaren, für welche dieser diametral entgegengesetzten Versionen sie sich gegenüber Scott Freeman entscheiden sollte. Sie schnaubte einmal laut vernehmlich, um ihrer Unzufriedenheit in beiderlei Hinsicht Luft zu machen, und begab sich zügig auf den Weg zum Parkhaus anderthalb
Häuserblocks weiter. Sie hatte die Schlüssel in der Hand und die Finger an der Tränengasdose, die am Schlüsselbund hing. Susan fürchtete sich vor wenig, wusste aber auch, dass Vorsicht das Leben verlängerte. Sie wünschte sich, sie hätte vernünftigere Schuhe angezogen. Sie hörte ihre Schritte auf dem Pflaster widerhallen, und obwohl sie sich mit den Geräuschen von der nahe gelegenen Straße vermengten, fühlte sie sich in diesem Moment so verloren, als wäre sie der letzte Fußgänger, der in dieser Nacht noch auf dieser Straße, im Zentrum von Boston oder gar der ganzen Stadt auf den Beinen war. Sie ging langsamer und sah sich um. Sie konnte niemanden auf dem Bürgersteig entdecken. Sie versuchte, in ein nahe gelegenes Restaurant zu schauen, doch vor den Fenstern waren die Gardinen zugezogen. Sie blieb stehen und wirbelte blitzartig herum. Niemand. Die Straße hinter ihr war menschenleer. Susan schüttelte den Kopf. Sie sagte sich, dass die Unterhaltung über diesen unheimlichen Typen ihr zugesetzt hatte. Sie atmete langsam tief ein, bis ihre Lungen sich ganz mit der frischen Luft gefüllt hatten. Verwelkte Blumen. Irgendetwas an dieser Bemerkung erzeugte bei ihr so zwiespältige Gefühle, dass sie jeder weitere Schritt Überwindung kostete. Wieder blieb sie stehen. Sie war erschrocken, sie fror, zog den Mantel enger, ging vorgebeugt weiter und beschleunigte, sobald sie dunkle Ecken passieren musste.
Immer wieder drehte sie sich nach rechts und links, entdeckte aber niemanden, obwohl sie die ganze Zeit das Gefühl hatte, als folgte ihr jemand. Sie redete sich ein, sie sei allein, doch als sie das nicht beruhigen konnte, legte sie noch einmal an Tempo zu. Schon nach wenigen Schritten fühlte sie sich wie unter Strom, und das Gefühl, beobachtet zu werden, wurde noch stärker. Wieder zögerte sie, ließ die Blicke schweifen, sah forschend in die Fenster von Bürogebäuden – auf der Suche nach dem einen Augenpaar, das, wie sie nur allzu deutlich spürte, jeden ihrer Schritte beobachtete. Doch auch diesmal fand sie nicht den kleinsten Anhaltspunkt dafür, dass ihre kalte, nervöse Angst, die ihr die Kehle zuschnürte und sie überwältigte, berechtigt war. Reiß dich zusammen, befahl sie sich. Sie lief so schnell, wie es ihre hohen Absätze erlaubten. Sie hatte das Gefühl, so ziemlich alles falsch gemacht, fast sämtliche Regeln missachtet zu haben, an die sich eine Frau zu ihrer Sicherheit in der Großstadt halten sollte, nicht bei der Sache gewesen zu sein und sich in eine gefährliche Situation manövriert zu haben. Nur dass sie keine handgreifliche Bedrohung sehen und deshalb nur noch schneller vorwärts stolpern konnte. Susan verlor das Gleichgewicht, rutschte aus, fing sich gerade noch, ließ jedoch die Handtasche fallen. Hastig hob sie Lippenstift, Kugelschreiber, Portemonnaie und Tasche
auf, die quer über den Bürgersteig verstreut lagen. Ebenso eilig stopfte sie die Sachen wieder in die Tasche und hängte sich den Riemen über die Schulter. Der Eingang zur Parkgarage war nur noch wenige Meter entfernt, und noch im Laufen streckte sie die Hand nach den Glastüren aus. Sie warf sich in den engen Raum dahinter und atmete keuchend aus. Auf der anderen Seite der dicken Schlackensteinmauer befand sich der Kiosk, an dem der Angestellte beim Verlassen der Garage die Parkgebühr von den Fahrern kassierte. Sie fragte sich, ob er sie hören konnte, falls sie laut schrie. Das bezweifelte sie. Ebenso glaubte sich nicht, dass er etwas unternehmen würde, falls er sie doch hörte. Susan nahm sich ins Gebet. Pack die Sache selbst an. Finde deinen Wagen und hau ab. Benimm dich nicht wie ein kleines Kind. Einen Moment lang starrte sie zur Treppe hinüber. Sie war dunkel und lag im Schatten. Sie drehte sich um, drückte den Fahrstuhlknopf und wartete. Sie fixierte die kleinen Lämpchen, die den Abstieg des Fahrstuhls anzeigten. Ebene drei. Ebene zwei. Ebene eins. Erdgeschoss. Die Türen öffneten sich ächzend und rasselnd. Sie trat vor und blieb abrupt stehen. Ein Mann in Parka und Skimütze stürmte mit abgewandtem
Gesicht, so dass sie es nicht sehen konnte, derart schnell an ihr vorbei, dass er sie beinahe umgerannt hätte. Susan rang nach Luft und taumelte zur Seite. Wie um einen Schlag abzuwehren, hob sie den Arm, doch die Gestalt stürzte bereits durch die Glastür Richtung Treppe und verschwand so schnell im Dunkel, dass sie kaum Zeit hatte, sich irgendetwas von ihm einzuprägen. Er trug Jeans. Die Skimütze war schwarz und der Parka marineblau. Das war’s. Sie konnte nicht sagen, ob er klein oder groß, kräftig gebaut oder schmächtig, jung oder alt, weiß oder dunkelhäutig war. »Verdammt«, stieß sie keuchend hervor. »Was zum Teufel war das?« Einen Moment lang lauschte sie angestrengt, konnte jedoch nichts hören. So schnell, wie der Mann aufgetaucht war, so schnell war er wieder verschwunden, und sie fühlte sich doppelt einsam und verloren. »Verdammt«, wiederholte sie, während ihr das Herz bis zum Halse schlug und das Adrenalin in den Schläfen pochte. Die Angst hatte sie überschwemmt, und nicht nur ihr logisches Denken, sondern auch das Ich-Bewusstsein ausgeschaltet. Susan Fletcher versuchte mit aller Macht, die Kontrolle über sich zurückzugewinnen. Mit äußerster Willenskraft brachte sie jede Gliedmaße dazu, ihr zu gehorchen. Beine, Arme,
Hände. Sie bestand darauf, dass ihr Herz und ihre Lungen sich erholten, doch ihrer Stimme war noch nicht wieder zu trauen. Die Fahrstuhltüren wollten sich gerade wieder schließen, doch Susan packte unvermittelt zu und hielt sie auf. Sie zwang sich, in den Lift zu steigen, und drückte die Drei. Als die Türen sich schlossen und sie alleine war, fühlte sie sich ein bisschen erleichtert. Der Fahrstuhl ächzte an der Eins vorbei nach oben, bis er auf Ebene zwei plötzlich langsamer wurde und stehenblieb. Er ruckelte ein wenig, und die Türen gingen auf. Susan sah hoch und wollte schreien, brachte aber keinen Ton heraus. Der Mann, der eben an ihr vorbeigeprescht war, stand vor der Tür. Dieselbe Jeans. Derselbe Parka. Doch jetzt hatte er die Skimütze zu einer Maske heruntergezogen, so dass sie nur seine Augen sehen konnte, die sich in sie bohrten. Sie warf sich an die Rückwand des Aufzuggehäuses. Sie hatte das Gefühl, von dem bloßen Druck, der von dem Mann wie eine Woge ausging, buchstäblich zu schrumpfen, ja beinahe zu Boden gepresst zu werden. Die Angst war wie ein Sog, der ihr die Füße wegriss, sie fortzuspülen und zu ertränken drohte. Sie wollte mit der Hand ausholen, sich verteidigen, doch stattdessen fühlte sich Susan vollkommen gelähmt. Es war, als würde der Mann hinter der Maske sie mit einem grellen Licht blenden. Sie schnappte nach Luft, um etwas zu sagen, ohne die
geringste Ahnung, was; sie wollte um Hilfe rufen, brachte aber nichts heraus. Der Mann hinter der Maske rührte sich nicht. Er machte keinen Schritt nach vorn. Er starrte sie einfach an. Susan zwängte sich noch weiter in die Ecke und hielt sich mit letzter Kraft eine Hand vors Gesicht. Sie hatte das Gefühl, ihr Atem setze aus. Immer noch tat er nichts. Er starrte sie an, als wollte er sich ihr Gesicht, ihre Kleider, den Ausdruck von Panik in ihren Augen ins Gedächtnis einbrennen. Dann flüsterte er: »Jetzt
kenne ich Sie.« Dann setzten sich die Lifttüren plötzlich wieder in Bewegung und schlossen sich langsam.
Als ich sie diesmal anrief, hatte ich keinen drängenden Grund. Sie wirkte seltsam unbeteiligt, als hätte sie meine Fragen und ihre Antworten bereits im Geiste vorweggenommen und folgte nur noch einem fertigen Skript.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich Michael O’Connells Verhalten richtig einordnen kann. Einmal denke ich, dass ich ein Gefühl für ihn bekomme, und dann …« »… tut er etwas, das Sie nicht erwartet haben?« »Ja. Die verwelkten Blumen, das ist eine klare Botschaft, aber …« »Bereitet uns nicht manchmal das die allergrößte Panik, was wir auf uns zukommen sehen und verstehen, und nicht so sehr das Unbekannte?« Das war nicht zu leugnen. Sie schwieg eine Weile, bevor sie den Faden wieder aufnahm. »Demnach hat Michael sich nicht genau so verhalten, wie Sie es zunächst vermutet hätten. Sehen Sie nicht den Reiz, einfach Angst zu erzeugen?« »Na ja, schon, aber …« »Wenn man sich eben noch vollkommen hilflos fühlt und vor lauter Panik wie gelähmt ist und im nächsten Moment scheinbar von der Gefahr befreit …« »Woher soll ich mit Sicherheit sagen können, dass es überhaupt Michael O’Connell gewesen ist?«, konterte ich. »Das können Sie nicht«, antwortete sie. »Aber wenn der
Maskierte im Parkhaus wirklich vorgehabt hätte, sie zu vergewaltigen oder zu berauben, hätte er dann nicht eins von beidem versucht? Die Umstände waren für beide Verbrechen ideal. Jemand mit einer ganz anderen Agenda dagegen benimmt sich ungewöhnlich und unberechenbar.« Als ich nicht gleich antwortete, zögerte auch sie, als dächte sie über ihre eigenen Worte nach. »Vielleicht sollten Sie nicht nur darauf achten, was passiert ist, sondern auch, welche Wirkung es hatte.« »Meinetwegen, aber Sie müssen mir ein bisschen auf die Sprünge helfen.« »Susan Fletcher war eine begabte, durchsetzungsfähige Frau. Sie war klug, vorsichtig, in vielen Dingen beschlagen. Trotzdem hat die Angst sie zutiefst verwundet. Eine solch abgrundtiefe Furcht kann verheerende Folgen haben. Angst ist eine Sache – der bleibende Schaden kann genauso erdrückend sein. In diesem Moment im Fahrstuhl hat sie sich verletzlich gefühlt. Machtlos. Auf diese Weise wurde sie wirkungsvoll daran gehindert, Ashley in den Tagen danach zur Seite zu stehen, wie sie es sonst getan hätte.« »Ich glaube, ich verstehe …« »Jemand mit diesen Talenten und dieser Durchsetzungskraft wäre Ashley eine ganz große Stütze
gewesen, und deshalb wurde sie unschädlich gemacht, aus der vordersten Linie verdrängt. Auf erschreckend effiziente Weise.« »Ja …« »Was ist aber tatsächlich passiert?«, fragte sie mich plötzlich. »Was war so viel schlimmer, was war um ein Vielfaches erschreckender als alles, was er bis dahin getan hatte?« Ich dachte einen Moment nach, bevor ich antwortete: »Michael O’Connell lernte dazu.« Sie sagte nichts. Ich sah sie vor mir, wie sie mit der einen Hand das Telefon umklammerte und mit der anderen Halt suchte. Ihre Fingerknöchel würden sich weiß verfärben, während sie gegen etwas ankämpfte, was ich noch nicht verstand. Als sie schließlich reagierte, war es fast im Flüsterton, als kostete sie das Reden große Kraft. »Ja, das stimmt. Er lernte dazu. Aber Sie wissen immer noch nicht, was als Nächstes mit Susan passierte.«
7 Als die Dinge allmählich Konturen annahmen
Achtundvierzig Stunden lang hörte Scott nichts von Susan Fletcher. Als sie sich dann doch noch meldete, wünschte er sich, sie hätte geschwiegen. Er hatte sich mit den Dingen abgelenkt, die für Akademiker typisch waren, hatte seinen Stundenplan für das bevorstehende Frühjahrssemester durchgesehen, hatte die Konzepte verschiedener Vorlesungen skizziert, einige Schreiben von Historischen Gesellschaften und Arbeitsgruppen beantwortet. Eigentlich hatte er mit keiner schnellen Rückmeldung von Susan Fletcher gerechnet. Er wusste, dass er sie in eine missliche Lage gebracht hatte, und er wäre nicht verwundert gewesen, hätte er einen vernichtend sarkastischen Anruf von Ashley erhalten, die ihn fragte, wieso er sich in ihre Angelegenheiten mischte. Er wusste, dass er darauf nicht viel zu entgegnen hatte. Folglich ließ er die Stunden verstreichen, ohne sich übermäßig zu sorgen. Es bringt nichts, nervös zu sein, sagte er sich jedes Mal, wenn er sich dabei ertappte, das schwarze Telefon mit Blicken zu fixieren, das stumm auf seinem Schreibtisch stand. Als es schließlich klingelte, schreckte er zusammen. Im ersten Moment erkannte er Susan Fletchers Stimme nicht wieder. »Professor Freeman?«
»Ja?« »Susan … Susan Fletcher. Sie haben mich vor ein paar Tagen angerufen … wegen Ashley …« »Ja, sicher, Susan, tut mir leid. Ich hatte nicht damit gerechnet, so schnell von Ihnen zu hören.« Das stimmte natürlich nicht. Er hatte gehofft, dass sie sich möglichst bald bei ihm melden würde. Sie schwieg einen Moment, und Scott hörte, wie sie sich räusperte. »Stimmt etwas nicht?«, fragte er und hatte seine eigene Stimme nicht ganz unter Kontrolle. »Ich weiß nicht. Vielleicht. Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen.« »Was ist mit Ashley?«, platzte er heraus und bereute augenblicklich, nach ihr zu fragen statt nach dem Grund für den unverkennbar beunruhigten Ton, den er heraushörte. »Ihr fehlt nichts«, sagte Susan langsam. »Sieht zumindest so aus, aber sie hat tatsächlich Probleme mit einem Kerl, wie Sie vermutet hatten. Jedenfalls glaube ich das. Sie wollte im Grunde nicht darüber reden.« Jedes Wort klang ängstlich, fast, als glaubte sie, jemand hörte mit.
»Sie klingen unsicher«, sagte Scott. »Ich habe ein paar schwierige Tage hinter mir. Seit dem Treffen mit Ashley. Genauer gesagt, war das Wiedersehen das letzte Positive, was mir passiert ist.« »Was ist geschehen?« »Ich weiß nicht. Nichts. Alles. Ich kann es nicht sagen.« »Ich verstehe nicht. Wie meinen Sie das?« »Ich hatte einen Unfall.« »Oh, mein Gott«, rief Scott. »Das ist ja furchtbar. Ist Ihnen was passiert?« »Nein, ich hatte nur einen Schock. Mein Wagen hat einiges abbekommen. Aber meine Knochen sind noch heil. Eine leichte Gehirnerschütterung. Ich habe eine große Schwiele quer über der Brust, und es fühlt sich so an, als wären meine Rippen gequetscht. Aber abgesehen von ein paar Schürfwunden bin ich nur ein bisschen desorientiert. Sonst fehlt mir, glaube ich, nichts.« »Aber was …« »Das rechte Vorderrad ist abgesprungen. Ich fuhr mit fast hundertzwanzig Stundenkilometern, vielleicht auch etwas mehr, vielleicht eher hundertvierzig, und das Vorderrad hat
sich gelöst. Eigentlich habe ich unglaubliches Glück gehabt, weil ich merkte, dass der Wagen zu schlingern und zu flattern begann, also trat ich fest auf die Bremse und war schon sehr viel langsamer, als das Rad ganz abging. Dann hab ich die Kontrolle verloren.« »Mein Gott …« »Es hat sich alles im Kreis gedreht, und da war dieser Lärm. Es war, als würde mir jemand ins Ohr brüllen, und ich war wie elektrisiert, weil ich wusste, dass ich nichts machen konnte. Aber ich habe wirklich Glück gehabt. Ich wurde gegen diese Auffangdinger geschleudert, diese sandgefüllten Fässer oder was das ist, die den Aufprall abfedern.« »Das Rad hat sich gelöst, sagen Sie?« »Ja, so erklärte es der Trooper von der State Police. Man hat es vierhundert Meter weiter hinten auf der Straße gefunden.« »So etwas höre ich zum ersten Mal …« »Der Polizist auch. Außerdem war der Wagen fast brandneu.« Scott zögerte, und für einen Moment herrschte Schweigen. »Glauben Sie …«, setzte er an, brachte den Satz aber
nicht zu Ende. »Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, erwiderte Susan. »Eben noch flog ich den Highway entlang, und dann …« Wieder sagte er nichts, und nach einer Weile flüsterte Susan: »Ich bin so schnell gefahren, weil ich Angst hatte …« Jetzt war Scott hellwach. Während Susan Fletcher ihm im Einzelnen erzählte, was an dem Abend vorgefallen war, an dem sie sich mit Ashley getroffen hatte, unterbrach er sie kein einziges Mal. Er stellte keine Fragen, nicht einmal bei der Erwähnung von »Michael Zum Kotzen«, den einzigen Namen, an den sie sich erinnern konnte. In Susans Gedächtnis waren die Dinge ein wenig durcheinandergeraten, und mehr als einmal hörte er die Frustration heraus, wenn sie versuchte, Einzelheiten richtig wiederzugeben. Er schob es auf ihre leichte Gehirnerschütterung. Sie entschuldigte sich dafür, was Scott völlig überflüssig fand. Sie wusste nicht, ob irgendetwas von dem, was ihr passiert war, mit Ashley in Verbindung stand. Sie wusste nur, dass sie sich mit ihr getroffen hatte und sie in Angst und Schrecken versetzt worden war, kaum dass sie Ashley zum Abschied umarmt hatte. Sie konnte von Glück sagen, dass sie noch am Leben war. »Glauben Sie, dass dieser Kerl, mit dem Ashley zu tun hatte, hinter all dem steckt, was Ihnen
zugestoßen ist?«, fragte Scott, der keinen Zusammenhang sehen wollte, aber von einer Nervosität erfasst wurde, die er nicht recht beschreiben konnte. »Ich weiß nicht, ich weiß es wirklich nicht. Wahrscheinlich reiner Zufall. Aber ich glaube«, sagte Susan, den Tränen nahe und fast im Flüsterton, »wenn Sie einverstanden sind, dann werde ich mich eine Weile nicht mit Ashley treffen. Bis ich mich wieder ganz erholt habe.« Als Scott auflegte, überlegte er, dass es nur zwei Möglichkeiten gab: Entweder war da nichts oder das denkbar Schlimmste. Wir sind füreinander bestimmt. Er versuchte zu schlucken, doch er hatte einen vollkommen trockenen Mund. Ashley lief so zügig, als sollten ihre Füße auf dem Bürgersteig mit dem Ansturm ihrer Gedanken Schritt halten. Der Satz, dir folgt jemand, hatte in ihrem Kopf noch keine konkrete Form angenommen, doch in einem Winkel ihres Bewusstseins hatte sich das Gefühl festgesetzt, dass etwas nicht stimmte. Sie trug eine kleine Einkaufstüte mit Lebensmitteln in den Armen und den mit Kunstgeschichtsbänden berstend vollen Rucksack auf dem Rücken, und sie kam sich etwas merkwürdig vor, als sie immer wieder stehenblieb und die Blicke die Straße entlang schweifen ließ, um zu sehen, was sie so beunruhigte.
Sie konnte absolut nichts Ungewöhnliches entdecken. Das ist eben so in der Großstadt, sagte sie sich. Zu Hause im westlichen Massachusetts war es ein bisschen übersichtlicher, und wenn etwas nicht stimmte, erkannte man leichter, was. Der ständige Menschenstrom, das pulsierende Leben in Boston dagegen überstieg ihre Fähigkeit, Veränderungen auszumachen. Sie begann ein wenig zu schwitzen, als hätte es plötzlich einen Temperaturanstieg gegeben, was sie irritierte, denn das Gegenteil war der Fall. Sie ließ den Blick langsam über die Straße gleiten. Autos. Busse. Fußgänger, alles wie immer. Sie spitzte die Ohren. Dasselbe gleichmäßige Hintergrundrauschen, derselbe Alltagstakt. Sie rief jeden ihrer Sinne einzeln ab und stellte fest, dass keiner etwas wahrgenommen hatte, das die diffuse Angst, die sie wie schwache Stromschläge überfiel, hätte erklären können. Und so ignorierte sie das Gefühl. Sie lief im Eilmarsch weiter und bog von der Hauptstraße in die Seitenstraße ein, in der einen halben Häuserblock weiter ihr Wohnhaus lag. In Boston unterscheiden sich die Wohnungen für Studenten deutlich von denen für Berufstätige mit eigenem Einkommen. Ashley gehörte noch zur studentischen Welt.
Die Straße hatte ein akzeptables Maß an Schäbigkeit, eine leichte Schmutzschicht, die ihr in jugendlichen Augen zusätzliches Flair verlieh, während sie denen, die weitergezogen waren, nur als ein Anzeichen für Unstetigkeit galt. Die Bäume, die in die schmalen Grasstreifen gepflanzt waren, wirkten ein wenig schief, als reckten sie sich nach der zu spärlichen Sonne. Ashley wuchtete ihre Sachen die Treppe hoch und balancierte die Einkaufstüte auf dem Knie, während sie die Wohnungstür aufschloss. Als sie die Tür hinter sich verriegelte, fühlte sie sich plötzlich erschöpft. Sie sah sich um und stellte erleichtert fest, dass keinerlei verwelkte Blumen auf sie warteten. Sie brauchte keine fünf Minuten, um das Knuspermüsli, den Joghurt, das Quellwasser und die Salatdressings im kleinen Kühlschrank zu verstauen. Im Gemüsefach fand sie eine Flasche Bier, machte sie auf und nahm einen ausgiebigen Schluck. Dann ging sie in ihr Wohnzimmer und war erleichtert, dass keine Nachrichten auf dem Anrufbeantworter waren. Sie nahm noch einen Schluck und merkte, wie albern sie sich eigentlich benahm, da es eine Reihe von Leuten gab, von denen sie gerne hören würde. Auf jeden Fall hoffte sie, dass sich Susan Fletcher bald wegen eines nächsten Treffens melden würde, und dann wünschte sie sich auch einen Anruf von Will Goodwin mit einer Einladung zu einem zweiten Date. Als sie im Geist
die Liste ihrer Freunde durchging, sagte sie sich, dass sie ganz schön dumm sein musste, wenn sie Michael O’Connell erlaubte, sie von ihren Freunden zu isolieren. Außerdem sagte sie sich, dass sie ihm gegenüber bei diesem Anruf ziemlich direkt gewesen war und er vielleicht endlich aufgegeben hatte. Je länger sie das Gespräch noch einmal im Kopf abspulte, desto deutlicher sah sie, dass es so viel Aufmerksamkeit nicht verdiente. Sie streifte die Schuhe ab, ließ sich auf ihren Schreibtischstuhl fallen, schaltete den Laptop ein und summte vor sich hin, während er hochfuhr. Zu ihrer Überraschung hatte sie über fünfzig neue E-Mails. Sie sah die Adressen an und stellte fest, dass sie von fast sämtlichen Leuten kamen, die in ihrem Adressbuch gespeichert waren. Sie bewegte den Kursor zur ersten Nachricht, von einem Mädchen namens Anne Armstrong, das mit ihr im Museum arbeitete, und machte sie auf. Ashley lehnte sich vor, um zu lesen, was ihre Bekannte ihr mitzuteilen hatte. Aber die Nachricht kam nicht von Anne Armstrong.
Hallo, Ashley. Ich habe dich so vermisst, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr. Aber bald sind wir für immer zusammen, und das wird wunderbar. Wie du siehst, hast du noch sechsundfünfzig weitere Nachrichten. Du solltest
sie nicht löschen. Du findest darin wichtige Informationen, die du brauchen wirst. Ich liebe dich heute mehr als gestern, und morgen werde ich dich noch mehr lieben. Immer dein, Michael
Ashley glaubte, dass sie einen schrillen Schrei ausstieß, doch sie blieb stumm.
Zunächst zeigte sich der Eigentümer der Autowerkstatt nicht besonders hilfsbereit. »Eins wollen wir mal klarstellen«, sagte er und wischte sich die ölverschmierten Hände an einem ebenso schmutzigen Lumpen ab, »wenn Sie was über Michael O’Connell wissen wollen, müssen Sie mir schon sagen, wieso.« »Ich bin Schriftsteller«, erklärte ich. »Er kommt in einem Buch vor, an dem ich schreibe.« »O’Connell in einem Buch?« Auf die Frage folgte ein
kurzes, trockenes Lachen. »Kann ja nur eine Art Krimi sein.« »Das stimmt«, gab ich zu. »Gewissermaßen. Ich wäre Ihnen wirklich sehr verbunden …« »Wir kriegen hier fünfzig Mäuse die Stunde dafür, dass wir Ihren Wagen reparieren«, stellte er fest. »Was glauben Sie, wie lange wir brauchen?« »Hängt davon ab, wie viel Sie mir zu erzählen haben«, gab ich zurück. Er schnaubte erneut. »Also, das hängt wieder davon ab, was Sie wissen wollen. Ich hab die ganze Zeit, die O’Connell hier beschäftigt war, mit ihm gearbeitet. Natürlich ist das schon ein paar Jährchen her, und ich hab ihn ’ne ganze Weile nicht mehr gesehen. Was ich zu schätzen weiß. Aber, verflucht noch mal, mir verdankte er die Stelle, also hab ich auch ’ne ganze Menge zu erzählen. Ich könnte Ihnen auch das Getriebe an dem Chevy da reparieren, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Wir hatten meine Frage umkreist wie die Katze den heißen Brei, und ich bezweifelte, dass wir auf diese Weise viel weiter kommen würden. Also griff ich in meine Gesäßtasche, zog mein Portemonnaie heraus und zählte hundert Dollar ab. Ich legte die Scheine vor mir auf die Theke. »Nur die Wahrheit«, sagte ich. »Und keine
Gerüchte.« Der Mechaniker fixierte das Geld. »Über den Hurensohn, geht klar.« Er streckte die Hand aus, doch wie eine von diesen abgebrühten Figuren in tausend kommerziellen Hollywoodstreifen legte ich die flache Hand auf das Bündel. Der Mann grinste, so dass seine weißen Zähne mitsamt Lücken zum Vorschein kamen. »Zuerst habe ich eine Frage«, begann der Mann. »Wissen Sie, wo O’Connell jetzt ist?« »Nein«, antwortete ich. »Noch nicht. Aber früher oder später finde ich ihn. Wieso?« »Weil er nicht gerade der Typ ist, dem ich gerne ans Bein pinkeln möchte. Bin nicht scharf drauf, dass er mir selbst einen Besuch abstattet, um mir Fragen zu stellen. Zum Beispiel, weshalb ich mit Ihnen geplaudert hab. Ich glaub, Ihnen würde es auch nicht gefallen, sich von dem ausquetschen zu lassen, schon gar nicht, wenn ihm was nicht passt.« »Ich behandle unser Gespräch vertraulich«, versprach ich. »Große, hehre Worte. Aber woher soll ich wissen, Mr. Schriftsteller, dass Sie sich auch dran halten?« »Das Risiko müssen Sie wohl eingehen.«
Er schüttelte den Kopf, schielte aber zugleich auf das Geld. »Dann tut’s mir leid«, erklärte er. »Besonders, wenn es um den Burschen geht. Würde meinen Seelenfrieden nicht für lausige hundert Dollar opfern.« Er überlegte einen Moment, brummte etwas wie »Scheiß drauf« und zuckte mit den Achseln. »Michael O’Connell. Hat hier ungefähr ein Jahr gearbeitet, und ich hab keine zwei Minuten gebraucht, um dafür zu sorgen, dass er immer in derselben Schicht ist wie ich. War nicht versessen darauf, mich von ihm nach Strich und Faden beklauen zu lassen. Das war der cleverste Mistkerl, der in dem Laden hier jemals Zündkerzen gewechselt hat, so viel steht fest. Und er war sehr cool, wenn er Geld gestohlen hat. Verteufelt heimtückisch und verflucht charmant, beides in einem, ist das zu fassen? So dass man es kaum merkte, wenn er einen beschissen hat. Die meisten Jungs, die ich anheuere, um an der Zapfsäule zu bedienen, sind entweder College-Kids, die sich ein bisschen was nebenbei verdienen, oder Jungs, die bei den großen Firmen die Prüfungen zum Automechaniker vermasselt haben und deshalb hier landen. Die sind entweder zu jung, um zu stehlen, oder zu dumm dafür. Sie verstehen, was ich meine?« Ich antwortete nicht, sondern sah mir den Tankstellenbesitzer genauer an. Er war vermutlich ungefähr in meinem Alter, doch die viele Zeit, die er sowohl in der Sommerhitze als auch im frostigen Winter unter einem Auto verbrachte, hatte ihm einen Kranz Runzeln um die Augen und im restlichen Gesicht eingegraben. Das Rauchen hatte
ein Übriges getan, und er nutzte die Gesprächspause, um sich eine Zigarette zwischen die Lippen zu stecken, womit er sein eigenes Rauchen-verboten-Schild ignorierte, das deutlich sichtbar an der Rückwand prangte. Er hatte die seltsame Gewohnheit, mich direkt anzusprechen, dabei aber den Kopf ein wenig schräg zu halten, so dass man das Gefühl hatte, als kämen seine Worte von irgendwo seitlich. »Er hat also hier angefangen zu arbeiten …« »Sicher. Er war hier angestellt, aber das heißt nicht, dass er hier wirklich gearbeitet hat, wenn Sie verstehen, was ich meine.« »Nein, ich fürchte, nicht«, sagte ich. Der Werkstattbesitzer verdrehte die Augen. »O. C. hat seine Stunden hier abgesessen. Aber alte Vergaser zu reparieren oder Inspektionen durchzuführen, das war nicht sein Ding. Da hat er wohl nicht seine Zukunft gesehen.« »Wo dann?« »Na ja, eher darin, eine vollkommen intakte Benzinpumpe gegen eine überholte auszutauschen und die Differenz einzusacken. Gegen einen Zwanziger extra sicherzustellen, dass die letzte Schrottlaube, die hier reinkommt, den ASU-
Test besteht, das passte ihm auch ins Konzept. Oder auch mal mit dem Hammer ein vorderes Kugellager zu demolieren und so einem Bostoner College-Studenten weiszumachen, er bräuchte neue Bremsen und eine Adjustierung, auch so was gehörte zu seinen Geschäftsgepflogenheiten.« »Ein Betrüger also?« Der Mechaniker grinste. »Was dachten Sie denn. Aber das ist bei O’Connell nur die Spitze des Eisbergs.« »Na schön, was noch?« »Abends hat er Computerkurse besucht, und er kannte sich mit allem aus, was man mit so einem Laptop anstellen kann. Der Junge war ein Ass auf dem Gebiet. Kreditkartenbetrug. Diebstahl persönlicher Daten. Tricksen mit doppelter Rechnung. Telefonschwindel. Das ganze Programm. Da kannte er sich aus. In seiner Freizeit hat er jede Website, jede Zeitung oder Zeitschrift durchgekämmt, um sich Anregungen zu holen, wie er den Leuten noch mehr Geld aus der Tasche ziehen konnte. Er hat ganze Aktenordner mit Zeitungsausschnitten angelegt, um immer auf dem neuesten Stand zu sein. Wissen Sie, was er immer gesagt hat?« »Nein, was?« »Man muss einen nicht erledigen, um ihn zu erledigen.
Aber wenn man es wirklich will, dann kann man auch das. Und wenn du wirklich weißt, was du tust, kommt dir keiner drauf. Niemals.« Das schrieb ich mir auf. Als der Mann sah, wie ich mir Notizen machte, grinste er und nahm sich die hundert Dollar. Ich überließ sie ihm. »Wissen Sie, was das absolut Idiotischste war?« »Was?« »Er wollte perfekt sein. Als ob er groß rauskommen wollte. Andererseits wollte er auch wieder anonym bleiben.« »Als Kleinkrimineller?«, fragte ich. »Nein, da liegen Sie falsch. Er wusste, dass er groß rauskommen würde. Er hatte Ehrgeiz. Er war süchtig danach, als wär’s ’ne Art Droge. Wissen Sie, wie das ist, ständig mit einem zusammen zu sein, der so was wie ein Junkie ist, nur dass er nicht Kokain schnieft oder sich Heroin reinjagt? Er war die ganze Zeit high mit irgendwelchen Plänen. Allzeit bereit für den großen Coup. Als ob der irgendwo da draußen nur auf ihn wartete und er ihn nur noch genauer orten müsste. Der Job hier war nur Zeitvertreib, kleine Zwischenstation auf seinem Weg nach oben. Dabei war es gar nicht mal das Geld oder der Ruhm, was ihn reizte. War irgendwas anderes.«
»Sie haben sich von ihm getrennt?« »Allerdings. Ich hatte keine Lust, mich jedes Mal, wenn er wieder was Neues ausgeheckt hatte, von ihm ausnehmen zu lassen wie ’ne Weihnachtsgans. Früher oder später würde er aus irgendwas richtig Kleinholz machen, Sie wissen schon – der Zweck heiligt die Mittel, wie man so sagt … das war O’Connell, wie er leibt und lebt.« »Aber Sie wissen nicht …« »Keine Ahnung, was danach aus ihm geworden ist. Hab jedenfalls genug zu Gesicht gekriegt, um ganz schön Angst zu bekommen.« Ich sah den Mechaniker an. Angst, hatte ich den Eindruck, war ein Wort, das normalerweise wenig in seinem Vokabular zu suchen hatte. »Das verstehe ich nicht ganz«, hakte ich nach. »Er hat Ihnen Angst gemacht?« Der Werkstattbesitzer nahm einen langen Zug von seiner Zigarette und formte Rauchkringel um seinen Kopf. »Sind Sie schon mal einem begegnet, der immer was anderes macht, als was er eigentlich macht? Weiß nicht, klingt vielleicht irre, aber so war O’Connell. Und wenn Sie ihn drauf angesprochen haben, egal auf was, dann hat er Sie einfach nur angestarrt, als wären Sie Luft und als würde er sich gerade etwas über Sie aufschreiben und in seinem Kopf abspeichern, weil er es eines Tages irgendwie gegen
Sie verwenden will.« »Auch gegen Sie?« »Auf die eine oder andere Art. Er gehörte einfach zu den Typen, denen man nicht in die Quere kommen möchte. Ein bisschen beiseite stehen, das schadete nichts. Aber ihm in die Quere kommen oder ihm bei seinen Plänen dazwischenfunken … na ja, das ließ man besser bleiben.« »War er gewalttätig?« »Er war, was ihm gerade zupass kam. Vielleicht war das so unheimlich an ihm.« Der Mann nahm noch einen tiefen Lungenzug. Ich stellte ihm keine weiteren Fragen, doch er fügte hinzu: »Wissen Sie was, Mr. Schriftsteller, ich hab eine Geschichte für Sie. Vor zehn Jahren hab ich hier mal richtig spät noch malocht, ich meine, bis zwei, drei Uhr nachts, da kommen zwei Kids reinmarschiert, und im nächsten Moment hab ich ’ne blitzende Neunmillimeter vor der Nase, und einer von den Jungs brüllt ›Scheißkerl dies‹ und ›Schwanzlutscher das‹ und ›Ich feuer dir ’ne Ladung in die Fresse, du alter Sack‹ und weiß Gott was noch für’n Bullshit, und ich hab wirklich gedacht, das war’s dann wohl, der macht Ernst, während sein Partner die Kasse ausräumt. Ich bin ja nicht sonderlich fromm, aber ich hab jedes Vaterunser und jedes ›Gegrüßet seist Du, Maria‹, das mir irgendwie in den Sinn gekommen
ist, heruntergebetet, weil ich dachte, das ist mein Ende. Doch dann sind die beiden einfach abgezogen, fast ohne ein weiteres Wort, und haben mich da hinter der Kasse auf dem Boden liegengelassen, mit dem dringenden Bedürfnis, meine Unterwäsche zu wechseln. Sie verstehen?« Ich nickte. »Ziemlich unangenehm.« »Können Sie laut sagen, Sir, äußerst unangenehm.« Er lächelte und schüttelte den Kopf. »Aber was hat das alles mit O’Connell zu tun?« Der Mann schüttelte langsam den Kopf und seufzte. »Nichts«, sagte er betont. »Rein gar nichts. Bis auf eines: Jedes Mal, wenn ich mit Michael O’Connell geredet hab und er hat nicht geantwortet, sondern mich nur auf diese komische Art angesehen, hat es mich daran erinnert, wie ich in dieses schwarze Loch der Knarre in der Hand des Jungen gestarrt habe. Haargenau dasselbe Gefühl. Verging kein einziges Mal, wo ich mit ihm geredet hab und nicht dieses mulmige Gefühl bekam: Wenn ich was Falsches sage, bringt er mich um.«
8 Ein Anflug von Panik
Ashley beugte sich zum Monitor vor und versuchte, jedes Wort, das vor ihr aufflimmerte, richtig einzuschätzen. Seit über einer Stunde hatte sie unverändert in dieser Haltung dagesessen, so dass sich allmählich ihr Rücken verspannte. Sie merkte, wie ihre Muskeln in den Waden zu zittern begannen, als hätte sie an diesem Tag ihr übliches Jogging-Pensum überzogen. Die E-Mail-Botschaften waren eine schwindelerregende Phalanx an Liebesbekundungen, elektronisch geschaffene Herzen, Ballons, schlechte Poesie von O’Connells eigener Hand, entschieden bessere Verse, die er bei Shakespeare oder Andrew Marvell oder sogar Rod McKuen zusammengeklaubt hatte. Es wirkte alles unglaublich kindisch und billig und doch ganz und gar furchterregend. Sie versuchte, einzelne Wortkombinationen und Phrasen aus den E-Mails herauszuschreiben und eine verschlüsselte Botschaft darin zu erkennen. Er hatte ihr die Aufgabe nicht erleichtert und zum Beispiel ein Wort kursiv oder fett gesetzt. Als sie nahezu zwei Stunden darüber gebrütet hatte, warf sie genervt den Bleistift in die Ecke. Sie kam sich so dämlich vor, weil ihr
offensichtlich etwas entging, das jeder Fan von Kreuzworträtseln oder Akrosticha herausbekommen hätte. »Was soll das Ganze?«, herrschte sie den Monitor an. »Was willst du mir sagen?« Sie erschrak darüber, wie ungewohnt schrill ihre Stimme klang. Sie scrollte zurück, begann noch mal von vorne und ging jede Nachricht erneut durch, von der ersten bis zur letzten. Eine Mail nach der anderen leuchtete auf dem Bildschirm auf und verschwand, ohne dass sie weiterkam. »Was? Was? Was?«, schrie sie bei jeder neuen Nachricht. Und in dieser Sekunde wurde es ihr klar. Michael O’Connells Nachricht war nicht in den E-Mails versteckt, die er ihr geschickt hatte. Die Nachricht war die Tatsache, dass er sie hatte schicken können. Jede verzeichnete als Absender eine der Adressen, die sie auf ihrem PC gespeichert hatte. Und jede kam von ihm. Die Tatsache, dass sie Liebesbeteuerungen auf Grundschulniveau enthielten, war ohne jeden Belang. Der springende Punkt war, dass er in der Lage gewesen war, sich in ihren Computer einzuhacken, und dass er sie durch eine geschickte Wortwahl dazu gebracht hatte, jede einzelne Nachricht zu lesen. Darüber hinaus wurde ihr klar, dass sie ihm durch das Öffnen seiner Nachrichten wahrscheinlich irgendeinen elektronischen Zugang
verschafft hatte. Michael O’Connell war wie ein Virus, und jetzt war er ihr fast so nahe, als säße er neben ihr. Ashley atmete heftig ein und verlor fast das Gleichgewicht, als sie sich auf ihrem Stuhl zurücklehnte und merkte, wie sich das Zimmer um sie zu drehen begann. Sie hielt sich mit beiden Händen an den Lehnen fest und holte ein paar Mal tief Luft, um ihren jagenden Herzschlag in den Griff zu bekommen. Langsam wendete sie sich um und ließ den Blick über die kleine Welt ihrer Wohnung schweifen. Michael O’Connell hatte genau eine Nacht hier verbracht, noch dazu eine verkürzte. Sie hatte den Eindruck gehabt, dass sie beide ein bisschen betrunken waren, als sie ihn eingeladen hatte, mit hochzukommen. In ihrer jetzigen verängstigten, stocknüchternen Verfassung versuchte sie, im Geist noch einmal durchzuspielen, was geschehen war. Sie war wütend auf sich, dass sie sich nicht daran erinnern konnte, wie viel er tatsächlich getrunken hatte. Ein Bier? Zwei? Hatte er sich zurückgehalten, während sie weitere Drinks bestellte? Ihre Panik hatte die Erinnerung daran erschüttert. Was in der Nacht passiert war, ließ sich am besten als eine abstoßende Form von Kontrollverlust beschreiben, eine Stimmung, die sie an sich nicht kannte und die ihr wesensfremd war. Sie hatten etwas unbeholfen die Kleider abgestreift und dann wie wild auf ihrem Bett kopuliert. Es war ein hektischer, gereizter Akt gewesen, ohne viel Zärtlichkeit: Nach wenigen Sekunden war es vorbei. Sollten
tatsächlich irgendwelche Gefühle im Spiel gewesen sein, so konnte sie sich nicht daran erinnern. Für sie war es eine explosive, rebellische Entladung gewesen, zu einem Zeitpunkt, als sie nach einem lautstarken, unschönen Bruch mit ihrem Freund aus dem vorletzten Studienjahr, an dem sie trotz einiger Auseinandersetzungen und trotz ihrer wachsenden Unzufriedenheit bis ins letzte Jahr festgehalten hatte, nicht eben wählerisch war. Ihre Unsicherheit wegen des bevorstehenden Abschlussexamens, des weiterführenden Studiums und ihrer Berufswahl belastete sie auf Schritt und Tritt. Sie hatte sich von ihren Eltern, ihren Freunden isoliert gefühlt. Alles in ihrem Leben war ihr als Zwang erschienen, in Schieflage geraten, als fehlte der rote Faden. Inmitten dieser Turbulenzen kam es zu der einen miesen Nacht mit O’Connell. Er war gutaussehend, verführerisch, anders als all die Studenten, mit denen sie in ihrer College-Zeit ausgegangen war, und sie hatte einfach übersehen, auf welch eigenartige Art und Weise er sie über den Tisch hinweg angesehen hatte, als wollte er sich jeden Zentimeter ihrer Haut ins Gedächtnis einprägen, und zwar nicht unbedingt aus romantischen Motiven. Sie schüttelte den Kopf. Hinterher waren sie einfach auf die Laken gesackt. Sie hatte das Gefühl gehabt, als schwankte das Zimmer ein wenig, und einen säuerlichen Geschmack auf der Zunge gespürt. Sie hatte sich ein Kissen geschnappt und war in
einen bleischweren Schlaf gesunken. Was hatte er getan?, überlegte sie. Er hatte sich eine Zigarette angezündet. Am Morgen war sie aufgestanden, ohne ihn noch einmal an sich heranzulassen. Sie hatte sich irgendeine Ausrede einfallen lassen, sie müsse pünktlich zu einem Termin, hatte ihm kein Frühstück angeboten oder auch nur einen Kuss gegeben, sondern war augenblicklich in die Dusche verschwunden, wo sie jeden Zentimeter ihres Körpers gründlich eingeseift und unter dampfend heißem Wasser abgespült hatte, als haftete ein ungewohnter Geruch an ihr. Sie hatte gehofft, er würde gehen, doch er war geblieben. Ashley versuchte, sich an die kurze Unterhaltung am Morgen danach zu erinnern. Es hatte ein unaufrichtiger Ton geherrscht, nachdem sie auf Distanz gegangen war, ihm die kalte Schulter zeigte und sich mit anderen Dingen beschäftigte, bis er sie schließlich unbehaglich lange schweigend angesehen, dann gelächelt und genickt hatte und nach einem wortkargen Abschied gegangen war. Und jetzt phantasierte er von Liebe, dachte sie. Wieso auf einmal? Sie sah ihn vor sich, wie er mit einem kalten Ausdruck im Gesicht durch die Tür verschwand. Bei dieser Erinnerung rutschte sie unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her.
Die anderen Männer, die sie, wie kurz auch immer, gekannt hatte, waren entweder beleidigt, zuversichtlich oder auch mit einem unbeholfenen Macho-Gehabe nach einem One-Night-Stand von dannen gezogen. Er hatte einfach eiskalt geschwiegen und sich entfernt. Es schien, kam ihr jetzt in den Sinn, als hätte er gewusst, dass es nicht für lange war. Sie überlegte. Schlaf. Dusche. Viel Zeit, in der sie ihm den Rücken zugekehrt hatte. War der Computer an gewesen? Was hatte auf ihrem Schreibtisch herumgelegen? Ihre Kontoauszüge? Welche Nummern? Welche Passwörter? Was hatte er in dieser Zeit finden und stehlen können? Was hatte er sonst noch an sich genommen? Es war die nächstliegende Frage, die sie sich aber nicht ernsthaft zu stellen wagte. Einen Moment lang drehte sich wieder das Zimmer um sie. Dann stand Ashley auf und lief, so schnell sie konnte, in das kleine Badezimmer, wo sie sich über die Kloschüssel beugte und heftig erbrach.
Nachdem sie Gesicht und Mund gespült hatte, zog sich Ashley eine Decke um die Schulter und setzte sich auf die Bettkante, um zu überlegen, was sie machen sollte. Sie fühlte sich wie ein gestrandeter Flüchtling, der tagelang auf
rauer See umhergetrieben war. Doch je länger sie dasaß, desto wütender wurde sie. Wenn sie sich nicht völlig irrte, hatte Michael O’Connell nicht die geringsten Ansprüche auf sie. Er hatte kein Recht, sie zu belästigen. Seine Beteuerungen ewiger Liebe waren mehr als nur albern. Im Allgemeinen war Ashley ein verständnisvoller Mensch, der fast um jeden Preis Konfrontation und Auseinandersetzungen vermied. Aber dieser Blödsinn, ihr fiel kein besseres Wort dafür ein, nach nur einer Nacht, ging wirklich zu weit. Sie warf die Decke weg und sprang auf. »Verdammt noch mal«, rief sie. »Schluss damit. Noch heute. Genug mit diesem Scheiß.« Sie ging zu ihrem Schreibtisch und nahm das Handy. Ohne vorher zu überlegen, was sie sagen sollte, wählte Ashley O’Connells Nummer. Er meldete sich fast augenblicklich. »Hallo, Liebste«, sagte er beinah beschwingt, auf jeden Fall aber in einem plump vertraulichen Ton, der sie in Rage versetzte.
»Ich bin nicht deine Liebste«, versetzte sie. Er antwortete nicht. »Hör zu, Michael«, begann sie. »Das muss ein Ende haben.« Wieder sagte er nichts. »In Ordnung?« Schweigen. Nach einer Weile war sie sich nicht einmal sicher, ob er noch in der Leitung war. »Michael?« »Ich bin dran«, antwortete er kalt. »Es ist vorbei.« »Ich glaube dir nicht«, erwiderte er. »Aus und vorbei.« Wieder trat eine Pause ein, bevor er sagte: »Ich glaube, nicht.« Ashley wollte gerade einen neuen Anlauf nehmen, als sie merkte, dass er aufgelegt hatte. Sie fluchte. »Du gottverdammter Scheißkerl!« Dann tippte sie seine Nummer noch einmal ein.
»Du willst es noch mal versuchen?«, meldete er sich diesmal. Sie holte tief Luft. »Na schön«, antwortete Ashley steif. »Wenn du es mir unbedingt schwermachen willst, dann kann ich es auch auf die harte Tour.« Sie hörte, wie er lachte, doch er erwiderte nichts. »Okay«, sagte sie. »Wir treffen uns zum Lunch.« »Wo?«, fragte er wie aus der Pistole geschossen. Sie überlegte angestrengt, welcher Treffpunkt am besten war – ein Ort, an dem sie sich auskannte, wo reger Betrieb herrschte, wo man sie kannte und ihn nicht, ein Ort, an dem sie Heimvorteil genoss. Das alles würde ihr den nötigen Mut einflößen, ihn ein für alle Mal zum Teufel zu jagen. »Das Restaurant im Kunstmuseum«, schlug sie vor. »Heute um eins, okay?« Sie spürte förmlich sein Grinsen am anderen Ende der Leitung. Es jagte ihr eine Gänsehaut den Rücken herunter, als wäre durch die Ritzen im Fenster ein kalter Windzug hereingefegt. Der Vorschlag war wohl auf sein Einverständnis getroffen, denn er hatte aufgelegt.
»Dann geht es, wenn ich Sie richtig verstehe«, sagte ich, »wohl vor allem um die richtige Einschätzung der Situation. Jeder hätte sehen müssen, worauf es hinauslief.« »Ja«, räumte sie ein. »Das ist aber leichter gesagt als getan.« »Finden Sie?« »Ja. Wir machen uns gerne weis, dass wir eine Gefahr bereits im Voraus erkennen. Kunststück, einer Gefahr auszuweichen, wenn vorher sämtliche Alarmglocken schrillen und die Sirenen heulen. Wenn man nicht weiß, womit man es zu tun hat, sieht die Sache ganz anders aus.« Sie überlegte einen Moment, während ich schwieg. Sie trank Eistee und hob ihr Glas an die Lippen. »Ashley hat es gewusst.« Wieder schüttelte sie den Kopf. »Nein. Sicher, sie hatte Angst. Aber sie war auch so wütend, dass ihre Sicht getrübt war, sie konnte nicht erkennen, in was für einer verzweifelten Lage sie sich
befand. Und mal ehrlich, was wusste sie denn schon von Michael O’Connell? Herzlich wenig. Nicht annähernd so viel wie er über sie. Seltsamerweise hatte Scott als nicht unmittelbar Beteiligter besser begriffen, womit sie konfrontiert war, da er sich weit mehr von seinem Instinkt leiten ließ, besonders am Anfang.« »Und Sally? Und ihre Lebensgefährtin, Hope?« »Die hatte bis dahin noch nicht die Angst gepackt. Sollte aber nicht mehr lange dauern.« »Und O’Connell?« Sie zögerte. »Sie wussten es noch nicht. Da jedenfalls noch nicht.« »Was?« »Dass die Sache anfing, ihm richtig Spaß zu machen.«
9 Zwei unterschiedliche Treffen
Als Scott Ashley weder zu Hause noch per Handy erreichen konnte, trat ihm der Schweiß auf die Stirn, doch er redete sich ein, das hätte nichts zu bedeuten. Es war Mittag, sie war zweifellos unterwegs, und es wäre nicht das erste Mal, wenn seine Tochter das Handy zum Aufladen daheim gelassen hätte. Und so sprach er ihr jeweils ein kurzes »Wollte nur mal hören, wie’s so läuft« auf die Mailbox, lehnte sich zurück und fragte sich, ob er Grund zur Sorge hatte. Als er merkte, dass sein Puls beschleunigt war, stand er auf und wanderte in seinem kleinen Büro auf und ab. Dann setzte er sich wieder hin und lenkte sich mit Erledigungen ab, beantwortete E-Mails von Studenten, druckte ein paar Essays aus. Er versuchte Zeit totzuschlagen, ohne zu wissen, wie viel Zeit ihm noch blieb. Nicht lange und er saß wieder untätig in seinem Schreibtischsessel und wippte fast unmerklich vor und zurück, während in ihm Erinnerungen aus Ashleys Kindheit und Jugend aufstiegen. Schlechte Erinnerungen. Als sie gerade ein Jahr alt war, hatte sie sich eine üble Bronchitis eingefangen, ihr Fieber war rasant gestiegen, und sie hörte nicht auf zu husten. Er hatte sie die ganze Nacht hindurch in den Armen gehalten und versucht, sie zu trösten, mit besänftigenden Worten den bellenden Husten zu beruhigen, während er auf ihren immer flacheren Atem horchte. Um acht Uhr morgens hatte er den Kinderarzt angerufen, der sie sofort sehen wollte. Der Doktor hatte
sich über Ashley gebeugt, ihre Brust abgehorcht, hatte sich mit einem Ruck zu ihm und Sally umgedreht und in unterkühltem Ton gefragt, wieso sie das Kind nicht viel früher in die Notaufnahme gebracht hätten. »Oder dachten Sie, wenn Sie sie die ganze Nacht im Arm halten, würde sich ihr Zustand bessern?« Scott hatte nichts gesagt, aber er hatte tatsächlich geglaubt, es würde ihr besser gehen, wenn er sie in den Armen hielt. Natürlich war ein Antibiotikum die wirkungsvollere Methode. Als Ashley anfing, die Hälfte ihrer Zeit bei ihm und die andere Hälfte bei Sally zu verbringen, lief Scott so manches Mal bis spät in die Nacht in seinem Schlafzimmer hin und her, während er auf ihre Heimkehr wartete und sich die schlimmsten Szenarien ausmalte: Autounglücke, Überfälle, Drogen, Alkohol, Sex – all die bösen Gefahren, die auf eine Jugendliche lauerten. Er wusste, dass Sally längst im Bett liegen musste, während der Teenager Ashley den Aufstand gegen Gott weiß was probte. Sally hatten Sorgen schon immer erschöpft. Es war, dachte Scott, als wollte sie, indem sie einfach einschlief, die Probleme ungeschehen machen. Er hasste das. Er hatte sich immer allein gefühlt, schon lange vor der Scheidung. Er griff nach einem Bleistift und drehte ihn so vehement
zwischen den Fingern, dass er zerbrach. Er holte tief Luft. »Oder dachten Sie, wenn Sie sie die
ganze Nacht im Arm halten, würde sich ihr Zustand bessern?« Scott wurde klar, dass es sinnlos war, sich Sorgen zu machen. Er musste etwas unternehmen, selbst wenn es vollkommen falsch war. Ashley traf etwa zehn Minuten früher als sonst an ihrem Arbeitsplatz ein. Die Wut hatte ihren gewohnten Schlendergang beschleunigt, bis sie, das Kinn trotzig vorgeschoben, die Gedanken bei Michael O’Connell, in einen energischen Schritt verfiel. Einen Moment lang sah sie zu den trutzigen dorischen Säulen hoch, die den Eingang zum Museum schmückten, dann wandte sie sich um und ließ den Blick über die Straße schweifen. Sie war mit sich zufrieden. Ihr Arbeitsplatz war ihre Welt, nicht seine. Sie fühlte sich zwischen den Kunstwerken zu Hause, sie verstand jedes Exponat, sie fühlte die Energie hinter jedem Pinselstrich. Die Gemälde waren so monumental wie das Museum selbst und beanspruchten jeweils viel Platz an den Wänden. Viele Besucher fühlten sich davon eingeschüchtert, weil sie sich unter einer solch großformatigen Leinwand vorkamen wie geschrumpft.
Sie fühlte einen Hauch von Befriedigung. Es war der ideale Ort, um sich aus dem Zugriff von Michael O’Connell und seinen idiotischen Liebesbeteuerungen zu lösen. Im Museum würde sie die Oberhand gewinnen, er war hier fremd. Er musste sich klein und unbedeutend fühlen. Sie erwartete, dass ihr Treffen kurz und schmerzlos vonstatten gehen würde. Sie spielte es in Gedanken durch. Fest und kompromisslos. Höflich, aber entschieden. Keine Tiraden, keine erhobene Stimme. Kein einziges flehentliches Bitte, lass mich in Ruhe. Direkt, sachlich. Ende der Geschichte. Schluss, aus. Keine Debatte über Liebe. Keine Diskussion über künftige Möglichkeiten. Nichts über den One-Night-Stand. Kein Wort über die E-Mails. Kein Kommentar zu den verwelkten Blumen. Nichts, was zu einem längeren Meinungsaustausch führen könnte. Nichts, was er als Kritik auffassen könnte. Eine klare Trennung ohne Wenn und Aber. Einfach nur: Nein, danke, tut mir leid, aber es ist vorbei. Für immer Lebewohl. Sie malte sich sogar aus, dass vielleicht, wenn sie das hier hinter sich hatte, Will Goodwin anrufen würde. Es wunderte sie, dass er es noch nicht getan hatte. Ashley war es nicht gewohnt, dass ein Junge sich nicht wieder meldete, und so
wusste sie nicht recht, was sie davon halten sollte. Auf ihrem Weg durch die Büroräume des Museums, während sie ihren Kollegen zunickte, dachte sie eine Weile an Will statt an Michael O’Connell und sog die Normalität eines ganz gewöhnlichen Tages in sich auf. Als es Mittag war, begab sie sich in die Cafeteria, setzte sich an einen kleinen Tisch und bestellte ein Glas überteuerten Sprudel, aber nichts zu essen. Sie hatte sich so in Stellung gebracht, dass sie Michael O’Connell sehen konnte, sobald er die Stufen zum Museum hochkam und durch die breiten Glastüren trat. Sie schaute auf die Uhr, stellte fest, dass es Punkt ein Uhr war, und lehnte sich mit der Gewissheit zurück, dass er sie nicht warten lassen würde. Sie merkte, dass ihr die Hände ein bisschen zitterten und ihr der Schweiß in die Achselhöhlen trat. Sie schärfte sich ein: keinen Kuss auf die Wange. Keinen Handschlag. Nicht den geringsten physischen Kontakt. Biete ihm einfach den Stuhl gegenüber an und mach’s knapp und bündig. Lass dich nicht aus dem Konzept bringen. Sie nahm einen Fünf-Dollar-Schein heraus – mehr als genug für ein einziges Glas Wasser – und steckte ihn in die Blazertasche, um ihn schnell herausziehen zu können. Für diese Vorsichtsmaßnahme klopfte sie sich innerlich auf die Schulter.
Was noch?, überlegte sie. Nichts dem Zufall überlassen. Nachdem sie den Plan in Gedanken noch einmal durchgespielt hatte, fühlte sie trotz der Aufregung eine innere Leere. Sie sah durch die Spiegelglasfenster und rechnete jeden Moment damit, dass er erschien. Einige Paare traten in ihr Blickfeld, dann eine Familie, zwei Eltern, die ein gelangweiltes sechsjähriges Kind mitschleiften. Als Nächstes kam ein seltsam aussehendes älteres Männerpaar, das sich sehr langsam die breiten Stufen zum Museumseingang hinaufschob und wie auf Kommando gleichzeitig Pausen einlegte, bevor es sich an den weiteren Aufstieg begab. Sie suchte den Bürgersteig ab und blickte die ganze Straße hinunter. Von Michael O’Connell keine Spur. Um zehn nach wand sie sich unruhig auf ihrem Platz. Um Viertel nach kam der Kellner und fragte sie höflich, aber entschieden, ob sie ihre Bestellung aufgeben wollte. Um halb zwei wusste sie, dass er nicht kommen würde. Dennoch wartete sie. Um zwei legte sie die fünf Dollar auf den Tisch und ging. Sie sah sich ein letztes Mal um, doch Michael O’Connell war nirgends zu sehen. Mit einem dumpfen, leeren Gefühl im Magen begab sie sich wieder an ihren Arbeitsplatz. Als
sie ihren Schreibtisch erreichte, griff sie schon nach dem Telefon, um ihn zur Rede zu stellen. Ihre Finger schwebten über dem Hörer. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, dass er vielleicht einfach nur gekniffen hatte. Er hatte begriffen, dass sie ihn ein für alle Mal loswerden wollte, und beschlossen, sich die schlechte Nachricht nicht persönlich anzuhören. Vielleicht, dachte sie, hat er sich bereits aus meinem Leben verabschiedet. In dem Fall war der Anruf überflüssig und sogar kontraproduktiv. Sie wagte zwar kaum, an so viel Glück zu glauben, aber es war immerhin eine Chance. Die Vorstellung war zu verführerisch: mit einem Schlag frei. Ein wenig verunsichert, wie sie die Situation einzuschätzen hatte, kehrte sie an ihre Arbeit zurück und versuchte, sich mit dem Einerlei des Jobs abzulenken.
Ashley machte freiwillig Überstunden. Es goss in Strömen, als sie das Museum verließ. Ein kalter Regen, der wütend auf den verlassenen Bürgersteig prasselte. Ashley zog eine Strickmütze über und die Jacke enger, bevor sie sich mit gesenktem Kopf auf den Heimweg begab. Vorsichtig ging sie die glitschige
Museumstreppe zum Bürgersteig hinunter. Sie wollte gerade in die Straße einbiegen, als sie unwillkürlich zu einer Stelle auf der gegenüberliegenden Straßenseite blicken musste, wo ein Neonschild sein schimmernd rotes Licht über das Pflaster warf und sich mit den Scheinwerfern der vorbeifahrenden Autos mischte. Sie konnte nicht recht sagen, was ihren Blick magisch dorthin lenkte, doch die Gestalt, die sie sah, hatte etwas Gespenstisches. Halb im Licht und halb im Schatten stand Michael O’Connell da und wartete. Sie blieb abrupt stehen. Ihre Blicke trafen sich über die Straße hinweg. Er trug eine dunkle Wollmütze und einen trist olivfarbenen Parka im Army-Stil. Er wirkte einerseits anonym und versteckt, schien andererseits aber mit einer Intensität zu glühen, die sie sich nicht erklären konnte. Sie überkam eine Hitzewoge, und sie schnappte nach Luft, als ob es ihr plötzlich die Kehle zuschnürte. Er rührte sich nicht und gab abgesehen von diesem unverwandten Blick nicht zu erkennen, ob er sie auch nur erkannte. Ashley trat einen Schritt zurück. Sie merkte, wie ihr das Herz bis zum Hals pochte, aber sie wusste nicht, was sie machen sollte.
Auf der Straße vor ihr schwenkte ein Wagen plötzlich aus, um nicht mit einem Taxi zu kollidieren, und tauchte einen Moment den Weg vor ihren Füßen in helles Licht. Ein kurzes Hupkonzert, quietschende Reifen auf nassem Asphalt. Für einen kurzen Augenblick war sie abgelenkt, und als sie wieder hinsah, war Michael O’Connell verschwunden. Sie erschrak zum zweiten Mal. Sie spähte in beide Richtungen die Straße entlang, doch Michael O’Connell war wie vom Erdboden verschluckt. Sekundenlang war sie sich nicht einmal sicher, was genau sie gesehen hatte. Er schien eher eine Halluzination denn Realität zu sein. Ashley machte ein paar unsichere, tastende Schritte, ein wenig schwankend wie ein Betrunkener auf einer Party und so schwer wie eine Witwe bei der Beerdigung. Sie war voller Zweifel. Wieder schnellte sie herum, um O’Connell auszumachen, doch er war nirgends zu entdecken. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass er direkt hinter ihr lief, und so wirbelte sie abrupt herum und wäre um ein Haar mit einem Geschäftsmann zusammengestoßen, der es eilig hatte. Als sie im letzten Moment auswich, wäre sie fast in ein junges Paar gestolpert, das ihr hastig »Hey! Aufpassen!« zurief, bevor es vorüber war. Ashley drehte sich um und folgte den beiden, indem sie achtlos in Pfützen stapfte, um sie einzuholen. Immer wieder drehte sie den Kopf in alle Richtungen und suchte rechts und links, doch vergeblich. Sie hätte sich am liebsten ganz
umgedreht und hinter sich geschaut, aber sie hatte zu viel Angst. Stattdessen verfiel sie fast in einen Laufschritt. Binnen Sekunden hatte sie die U-Bahn-Station erreicht und stürmte durch das Drehkreuz, um erleichtert in das Gedränge und das grelle Licht auf dem Bahnsteig zu treten. Sie reckte den Kopf, um in dem Menschengewühl O’Connell auszumachen, doch wieder war er nirgends zu sehen. Sie wandte sich um und suchte die Gesichter ab, die durch das Drehkreuz und die Treppe hochströmten, doch sie entdeckte ihn nirgends. Dennoch war sie sich keineswegs sicher, dass er nicht irgendwo in der Nähe war. Sie hatte nicht den Überblick über jede Menschentraube, und außerdem verstellten ihr Plakatwände und Pfeiler den Blick. Sie beugte sich über den Rand des Bahnsteigs und sehnte den Zug herbei. In diesem Moment wollte sie bloß weg von hier. Sie beruhigte sich gerade mit dem Gedanken, dass ihr in einer überfüllten Bahnstation nichts passieren konnte, als sie von hinten angerempelt wurde, und eine schwindelerregende Sekunde lang glaubte sie, das Gleichgewicht zu verlieren und auf die Gleise zu stürzen. Sie schnappte nach Luft und fuhr heftig zurück. Ashley schluckte schwer und schüttelte den Kopf. Sie riss sich zusammen, spannte die Muskeln an wie ein Boxer, der den gegnerischen Schlag kommen sieht, als müsse Michael O’Connell direkt hinter ihr stehen, um ihr den
entscheidenden Stoß zu versetzen. Sie horchte, ob sie seinen Atem an ihrem Ohr hören konnte, wagte es in ihrer Panik aber nicht, sich umzudrehen und nachzusehen. Der einfahrende Zug erfüllte die Station mit dem unangenehmen Kreischen der Bremsen. Als die U-Bahn schließlich vor ihr hielt und die Türen sich mit einem leisen Zischen öffneten, gab sie einen Stoßseufzer von sich. Sie ließ sich von der Pendlertraube vorwärtstreiben und schlüpfte auf einen Sitz, an dem sie augenblicklich zwischen einer älteren Frau und einem nach Zigaretten riechenden Studenten eingepfercht war, der sich neben ihr fallen ließ. Vor ihr hielt sich ein halbes Dutzend Fahrgäste stehend an den Metallhandgriffen und Querstangen über den Köpfen fest. Ashley sah auf, blickte nach links und rechts, überprüfte jedes Gesicht. Sie sah ihn nicht. Mit einem weiteren Zischen gingen die Türen zu. Der Zug ruckelte einmal kräftig, als er anfuhr. Sie konnte nicht sagen, wieso, doch sie wirbelte plötzlich auf ihrem Sitz herum und warf einen letzten Blick auf den Bahnsteig zurück, als der Zug an Fahrt gewann. Was sie sah, verschlug ihr den Atem, und nur deshalb schrie sie nicht laut auf: O’Connell stand genau an der Stelle, an der sie eben eingestiegen war. Er rührte sich nicht, sondern verharrte reglos wie eine Statue. Wieder bohrte sich sein
Blick in ihre Augen, bevor der Zug mit zunehmendem Tempo die Station hinter sich ließ und O’Connell ihren Blicken entschwand. Sie fühlte das rhythmische Schaukeln des Pendlerzugs und genoss die rasante Fahrt, die sie von ihrem Verfolger entfernte. Doch egal, wie schnell der Zug fuhr – Ashley hatte begriffen, dass die Distanz, die er zwischen sie legte, trügerisch war. Und letztlich nicht existierte.
Der Campus der Universität von Massachusetts-Boston liegt in Dorchester direkt neben dem Hafen. Die Gebäude auf dem Gelände sind so plump und trutzig wie eine mittelalterliche Festung, und an einem heißen Frühsommertag scheinen die braunen Klinkerwände und die grau betonierten Gehwege die Hitze aufzusaugen. Es ist ein offensichtlich stiefmütterlich behandeltes Lehrinstitut, das seine Pforten jenen öffnet, die Appetit auf einen zweiten Bildungshappen haben. Es besitzt das Einfühlungsvermögen eines Infanteristen, die Attraktivität eines Mauerblümchens, steht aber Gewehr bei Fuß, wenn man es am meisten braucht. Ich verlief mich in dieser Betonwüste und musste jemanden
nach dem Weg fragen, bevor ich das richtige Treppenhaus fand, das zu einem schäbigen Aufenthaltsraum außerhalb der Cafeteria führte. Ich blieb einen Moment stehen, dann entdeckte ich Professor Corcoran, der mich aus einer der ruhigeren Ecken zu sich winkte. Wir machten uns kurz miteinander bekannt, ein Handschlag und ein wenig Small Talk über das für die Jahreszeit zu heiße Wetter. »Also«, sagte der Professor, während er sich setzte und einen Schluck Wasser nahm. »Wie kann ich Ihnen helfen?« »Michael O’Connell«, antwortete ich. »Er hat vor ein paar Jahren zwei von Ihren Computerkursen belegt. Ich hatte gehofft, dass Sie sich an ihn erinnern können.« Corcoran nickte. »Ich entsinne mich tatsächlich an ihn«, erklärte er. »Normalerweise würde ich das nicht, und das spricht wohl an sich schon Bände.« »Inwiefern?« »In den letzten zwei Jahren waren Dutzende, nein, Hunderte von Studenten bei mir in denselben Kursen wie er. Eine Menge Klausuren und Referate, eine Menge Gesichter. Nach einer Weile verschwimmen sie zu einer einzigen Spezies – Blue Jeans, Baseballkappe falsch herum, zwei Jobs gleichzeitig, um sich während des zweiten Bildungswegs über Wasser zu halten.«
»Und O’Connell …« »Nun, sagen wir mal, es überrascht mich nicht, dass jemand bei mir auftaucht, um mich über ihn auszufragen.« Der Professor war ein drahtiger, kleiner Mann, mit bifokaler Brille und schütterem, blassblondem Haar. Er hatte eine Reihe Kugelschreiber und Bleistifte in seiner Brusttasche und eine ramponierte, vollgestopfte braune Aktentasche aus Leinen neben sich stehen. »Wieso überrascht es Sie nicht?« »Eigentlich habe ich immer damit gerechnet, dass ein Kripobeamter hier auftauchen würde, um mich über O’Connell zu befragen. Oder das FBI, vielleicht auch ein Stellvertretender Bundesstaatsanwalt. Sie wissen, wer meine Kurse besucht? Studenten, die zu Recht davon ausgehen, dass die Kenntnisse, die sie bei mir erwerben, ihre finanziellen Aussichten deutlich verbessern werden. Das Problem ist nur: Je versierter die Studenten werden, desto besser begreifen sie auch, wie leicht man mit den Informationen Missbrauch treiben kann.« »Missbrauch?« »Eine höfliche Formulierung für das, was es in Wahrheit ist«, erklärte er. »Ich halte eine eigene Vorlesung über Gesetzesverstöße, aber trotzdem …«
»O’Connell?« »Die meisten Kids, die sich, ähm, für die dunkle Seite entscheiden …«, begann er lachend, »na ja, die entsprechen ziemlich genau dem Bild, das man sich von ihnen macht. Unreife Computerfreaks und hochgradige Versager. Meistens machen sie ein bisschen Ärger, betätigen sich als Hacker, laden Videospiele herunter, ohne die Lizenzgebühren zu zahlen, stehlen Musikdateien oder machen sogar Raubkopien von Hollywood-Filmen, bevor sie als DVDs rauskommen, so was in der Art. Aber O’Connell war anders.« »Erklären Sie mir, wie anders«, bat ich ihn. »Er war unendlich gefährlicher und furchterregender.« »Inwiefern?« »Weil er im Computer genau das sah, was er ist, ein Werkzeug. Was für Werkzeuge braucht ein übler Bursche? Ein Messer? Eine Knarre? Ein Fluchtauto? Kommt ganz darauf an, was für ein Verbrechen man begehen will, nicht wahr? Ein Computer kann in den falschen Händen genauso verheerend sein wie eine Neunmillimeter, und bei ihm, das können Sie mir glauben, kann man weiß Gott von den falschen Händen sprechen.« »Was hat Sie zu diesem Urteil veranlasst?«
»Ich wusste es vom ersten Moment an. Er gehörte nicht zu diesen etwas ungepflegten jungen Leuten, wie wir sie oft hier haben, die die Welt nicht verstehen. Er hatte so etwas, ich weiß nicht, Lässiges an sich. Er sah gut aus. War gut gebaut. Aber er hatte eine gefährliche Ausstrahlung. Als interessierte er sich nicht im Mindesten für irgendetwas anderes als seine, na ja, seine unausgesprochene Agenda. Und wenn man ihn genau betrachtete, erkannte man einen wirklich irritierenden Blick in seinen Augen. Als wollte er einem sagen: ›Komm mir nicht in die Quere.‹ Wissen Sie, einmal hat er eine Hausarbeit eingereicht, ein paar Tage nach dem Abgabetermin, also habe ich gemacht, was ich in jedem Kurs gleich in der ersten Stunde ankündige: Ich habe die Arbeit für jeden Tag, den sie verspätet war, eine Note heruntergesetzt. Er kam in meine Sprechstunde, um mir zu sagen, das wäre unfair von mir. Sie können sich wohl denken, dass das nicht die erste Beschwerde eines Studenten über eine Note war. Aber bei O’Connell lief das Gespräch irgendwie anders. Ich weiß selbst nicht, wie er es angestellt hat, jedenfalls sah ich mich plötzlich für meine Entscheidung unter einem Rechtfertigungszwang, und nicht etwa andersherum. Und je mehr ich ihm erklärte, dass es nicht unfair sei, desto mehr verengten sich seine Augen. Er hatte einen Blick an sich, Sie wissen schon, der hätte töten können. Er schaffte mit den Augen, wozu andere die Fäuste brauchen. Man wusste einfach, dass man nicht das Zielobjekt eines solchen Blickes sein wollte. Er sprach niemals Drohungen aus,
auch nicht indirekt, er tat eigentlich gar nichts. Aber ich wusste die ganze Zeit, in der wir redeten, sehr genau, wie sein Besuch zu verstehen war. Als Warnung.« »Und es hat Wirkung gezeigt.« »Hat mir ein paar schlaflose Nächte bereitet. Meine Frau hat mich immer wieder gefragt, was los sei, und ich musste ihr antworten, nichts, obwohl ich wusste, dass das nicht der Wahrheit entsprach. Ich hatte das Gefühl, vor etwas wirklich Beängstigendem auszuweichen.« »Aber er hat nie etwas gemacht?« »Na ja, er hat mich eines Tages, als sich unsere Wege kreuzten, wissen lassen, er hätte zufällig gerade herausgefunden, wo ich wohne.« »Und?« »Das war’s. Das reichte.« »Wie das?« »Ich habe mich über beinah jede Regel hinweggesetzt, an die ich mich sonst halte. Völliges moralisches Versagen meinerseits. Ich habe ihn nach dem Unterricht zu mir bestellt, habe ihm erklärt, ich hätte mich geirrt, er hätte hundertprozentig recht, und habe ihm für die Hausarbeit und auch gleich für das ganze Semester eine Eins
gegeben.« Ich sagte nichts. »Also«, fragte Professor Corcoran, während er seine Sachen zusammenklaubte, »wen hat er umgebracht?«
10 Ein schlechter Start
Hope war in der Küche und probierte ein neues Rezept aus, während sie darauf wartete, dass Sally nach Hause kam. Sie probierte die Soße, verbrannte sich die Zunge und fluchte leise. Es schmeckte nicht richtig, und sie fürchtete, dass es auf ein verdorbenes Abendessen hinauslief. Für einen Moment fühlte sie sich viel hilfloser, als es ein missratenes Kochexperiment rechtfertigte, und sie merkte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie wusste nicht recht, wieso sie und Sally eine so schwierige Phase durchmachten. Oberflächlich betrachtet gab es eigentlich keinen Grund für ihre gedehnten Gesprächspausen und frostigen Momente.
Weder in Sallys Anwaltspraxis noch an Hopes Schule gab es besorgniserregende Probleme. Finanziell ging es ihnen sogar recht gut, und sie verfügten über die Mittel für exotische Urlaubsreisen, einen neuen Wagen oder sogar eine neue Einbauküche, falls ihnen danach war. Doch jedes Mal, wenn das Gespräch auf eines dieser luxuriösen Vorhaben kam, wurde es beiseite gewischt. Logische Begründungen, weshalb sie weder das eine noch das andere tun sollten, wurden nachgeliefert. Hope stellte fest, dass jedes Hindernis, das ein mögliches Abenteuer zunichte machte, von Sally aufgerichtet wurde, und das bekümmerte sie zutiefst. Sie hatte das Gefühl, dass es lange her war, seit sie etwas miteinander geteilt hatten. Selbst ihr früher einmal von Zärtlichkeit und Hingabe geprägtes Liebesleben war in letzter Zeit deutlich abgekühlt und mechanisch, routinemäßig geworden, was ihr zu schaffen machte. Außerdem hatten sie weitaus seltener Sex. Die erkaltete Leidenschaft legte den Gedanken nahe, dass Sally bei jemand anderem Zuneigung suchte. Einerseits war die Vorstellung, Sally könnte eine Affäre haben, vollkommen lächerlich, andererseits wiederum logisch. Hope biss die Zähne zusammen und warnte sich davor, das Desaster herbeizureden. Außerdem würde sie ein solcher Verdacht nur noch nervöser machen. Sie hasste
es, mit Zweifeln zu leben. Das passte nicht zu ihr, und es wäre ein Fehler gewesen, solchen Befürchtungen nachzugeben. Sie sah auf die Uhr an der Wand und hatte auf einmal den Drang, den Herd auszuschalten und sich die Laufschuhe zu schnappen, um ausgiebig und schnell zu joggen. Es war noch nicht ganz dunkel, und sie dachte, dass trotz ihrer Erschöpfung vom Schultag und vom Fußballtraining ein paar Kilometer Sprint nicht schaden konnten. In ihrer Zeit als aktive Spielerin hatte sie auf eines immer zählen können: dass sie gegen Ende einer Begegnung mehr Energie übrig hatte als ihre Gegnerinnen. Sie war nie sicher gewesen, ob das an ihrer besseren Kondition lag, wie ihre Trainer annahmen. Sie glaubte eher, dass es mit einer emotionalen Fähigkeit zusammenhing, einer besonderen Triebkraft, so dass sie noch auf Kraftreserven zurückgreifen konnte, wenn andere schon schlappmachten; so dass sie noch schnell laufen konnte, wenn andere schon keuchten, als könnte sie die totale Erschöpfung auf die Zeit nach dem Spiel schieben. Sie machte die Herdplatten aus und lief, zwei Stufen auf einmal nehmend, nach oben. Sie brauchte nur ein paar Sekunden, sich auszuziehen und in Shorts sowie ein altes Manchester-United-Sweatshirt zu schlüpfen. Sie wollte aus dem Haus sein, wenn Sally zurückkam, und keine langen Erklärungen dafür abgeben, wieso sie dem dringenden Bedürfnis folgte zu joggen, statt wie gewöhnlich um diese
Zeit das Abendessen zu machen. Nameless stand unten an der Treppe und wedelte mit gedämpftem Enthusiasmus. Er erkannte das Jogging-Outfit und wusste, dass er dazu nur noch selten mitgenommen wurde. Früher einmal wäre er augenblicklich an ihrer Seite gewesen und hätte sie begeistert angesprungen, doch inzwischen gab er sich damit zufrieden, sie bis zur Tür zu begleiten, sich dann hinzulegen und auf sie zu warten, was der Hund, wie Hope vermutete, zu seinen Pflichten zählte. Hope war stehengeblieben, um ihm den Kopf zu kraulen, als das Telefon klingelte. Am liebsten wäre sie in diesem Moment all den Problemen, die sie bewegten, einfach davongerannt, und wenn auch nur für eine Weile. Sie nahm an, dass es Sally war, die ihr sagen wollte, dass es bei ihr später werden würde. Sie rief eigentlich nie mehr an, um ihr zu sagen, dass sie früher käme. Hope wollte das nicht hören, und so war ihr erster Impuls, das Telefon klingeln zu lassen. Es läutete wieder. Sie ging zur Tür und machte sie auf. Doch dann drehte sie sich um und war mit wenigen Sätzen in der Küche, um den Anruf entgegenzunehmen. »Hallo«, sagte sie kurz angebunden, nüchtern.
»Hope?« In dieser Sekunde erkannte Hope nicht nur Ashleys Stimme, sondern auch, dass sie in größter Bedrängnis schien. »Hallo, Killer«, meldete sie sich mit Ashleys Spitznamen, den nur sie beide verwendeten. »Stimmt was nicht?« Sie legte eine Beschwingtheit in ihren Ton, der nicht nur ihrer eigenen Situation widersprach, sondern auch dem Druck, den sie plötzlich im Magen spürte. »Ach, Hope«, brachte Ashley heraus, und Hope hörte deutlich heraus, dass sie geweint haben musste. »Ich glaube, ich habe ein Problem.«
Sally hörte im Autoradio den auf alternativen Rock spezialisierten Lokalsender, als der verstorbene Warren Zevon mit Poor, Poor Pitiful Me ertönte. Aus irgendeinem ihr selbst nicht ersichtlichen Grund konnte sie nicht anders, als rechts heranzufahren, zuzuhören und mit den Fingern den Rhythmus zu trommeln. Während die Musik ihren Kleinwagen durchflutete, streckte sie die Hände vor sich aus. Die Adern bildeten auf ihren Handrücken ein bläulich schimmerndes Netz wie die Interstate-Autobahnen auf dem
Atlas. Ihre Finger waren etwas steif, vielleicht der erste Anflug von Arthritis. Sie rieb sie aneinander, um etwas von der Geschmeidigkeit heraufzubeschwören, die sie einmal besessen hatten. Als sie jünger war, hatte sie einiges an ihrem Äußeren schön gefunden: ihre Haut, ihre Augen, ihre Körperformen. Am stolzesten war sie jedoch auf ihre Hände gewesen – die Musik steckte ihr buchstäblich in den Fingerspitzen. In ihrer Kindheit und Jugend hatte sie Cello gespielt und ernsthaft überlegt, an den Musikhochschulen Julliard und Berklee vorzuspielen, sich im letzten Moment jedoch für eine weniger ausgefallene Laufbahn entschieden, die schließlich auf einen Ehemann, eine Tochter, eine Affäre mit einer anderen Frau, eine Scheidung, einen Juraabschluss und ihre derzeitige Anwaltspraxis in ihrem derzeitigen Leben hinauslief. Sie spielte ihr Instrument nicht mehr. Sie konnte ihm nicht mehr dieselben reinen und subtilen Klänge entlocken wie früher einmal, und sie hatte keine Lust, sich ihre Fehler anzuhören. Sally ertrug es nicht, ungeschickt zu sein. Während sie im Auto saß, verlor der Song allmählich an Schwung, und Sally erhaschte im äußersten Winkel ihres Rückspiegels einen Blick auf ihre Augen. Sie richtete den Spiegel aus, um ihr Gesicht ganz zu sehen. In weniger als einem Jahr würde sie fünfzig, ein Alter, das manche als einen Meilenstein betrachteten, das sie jedoch innerlich
fürchtete. Sie hasste es, wie schlaff ihr Kinn und ihr Hintern geworden waren. Ohne Hope davon zu erzählen, war sie Mitglied in einem örtlichen Fitness-Club geworden und strampelte sich, sooft es ihre Zeit erlaubte, auf dem Laufband und dem Ellipsentrainer ab. Sie las Werbung für kosmetische Chirurgie und hatte sogar schon ernsthaft darüber nachgedacht, sich unter dem Deckmantel einer Geschäftsreise heimlich in eine dieser luxuriösen Schönheitsfarmen abzusetzen. Sie war sich nicht sicher, weshalb sie diese Dinge vor ihrer Lebensgefährtin verbarg, war jedoch klug genug, zu erkennen, dass die Tatsache an sich schon Bände sprach. Sally holte tief Luft und stellte das Radio ab. Einen Moment lang kam ihr der Gedanke, dass ihr die ganze Jugend gestohlen worden war. Sie hatte einen bitteren Geschmack auf der Zunge, als ihr ins Bewusstsein drang, dass alles in ihrem Leben vorhersehbar, unverrückbar wie in Stein gemeißelt war. Selbst ihre Lebenspartnerschaft, die in einigen Landesteilen Tratsch hinter vorgehaltener Hand über Gartenzäune hinweg provoziert und als exotisch und gefährlich gegolten hätte, war im westlichen Massachusetts so langweilige Routine wie das Kommen und Gehen der Jahreszeiten. Sie war nicht einmal ein sexueller Renegat. Sally packte das Lenkrad und stieß einen kurzen, wütenden
Schrei aus. Nicht schrill – eher ein dumpfes Aufbrüllen wie vor Schmerz. Sie sah sich hastig um und vergewisserte sich, dass kein Passant sie hatte hören können. Mit keuchendem Atem legte sie den Gang ein. Was kommt als Nächstes?, fragte sie sich, während ihr durchaus bewusst war, dass sie wieder einmal zu spät zum Abendessen kam. Irgendeine Krankheit? Vielleicht Brustkrebs oder Osteoporose oder Anämie. Egal, was, so konnte es sie kaum schwerer treffen als diese unkontrollierbare, ohnmächtige Wut und Frustration, die sie umtrieb und der sie nichts entgegenzusetzen hatte.
»Die beiden Frauen steckten also in einer Krise?« »Ja, ich denke, das könnte man so sagen. Doch das trifft nicht einmal ansatzweise den Moment, als Michael O’Connell sich in ihrer beider Leben drängte, als seine bloße Präsenz die ganze Situation in einem völlig neuen Licht erscheinen ließ.« »Verstehe«, sagte ich.
»Wirklich? Klingt mir eigentlich nicht danach«, erwiderte sie. Wir saßen in einem kleinen Restaurant nicht weit von der Straßenfront, so dass sie durch die Spiegelglasfenster auf die Hauptstraße der kleinen College-Stadt blicken konnte, in der wir zu Hause waren. Sie lächelte einen Moment und wandte den Kopf wieder in meine Richtung. »In unserer gehobenen Mittelschicht, in der wir es uns so behaglich eingerichtet haben, nehmen wir vieles als selbstverständlich, nicht wahr?« Sie wartete keine Antwort von mir ab, sondern fuhr fort. »Die Probleme tauchen nicht nur dann auf, wenn wir am wenigsten damit rechnen, sondern auch in Situationen, wenn wir am wenigsten dafür gewappnet sind«, erklärte sie, und zwar in einem etwas gereizten, pointierten Ton, der nicht ganz zu diesem schönen, trägen Nachmittag passen wollte. »Zugegeben«, seufzte ich. »Scotts Leben mag nicht eben perfekt gewesen sein, aber alles in allem war es gar nicht so schlecht. Er hatte eine gute berufliche Stellung, ein gewisses Prestige, ein mehr als angemessenes Einkommen, was ihn zumindest teilweise über seine Einsamkeit in der Lebensmitte hinweggetröstet haben dürfte. Susan und Hope steckten zwar gerade in einer Krise, aber auch sie verfügten über Mittel, über beträchtliche Mittel. Und ebenso befand sich Ashley trotz ihrer soliden Bildung und ihrer Attraktivität in einer Phase
des Umbruchs. So ist das Leben nun mal, nicht wahr? Was soll daran …« Sie schnitt mir das Wort ab, indem sie wie ein Verkehrspolizist eine Hand in die Höhe hielt, während sie mit der anderen nach einem Glas Eistee griff. Sie trank, bevor sie mir antwortete. »Sie müssen das nüchtern sehen, sonst ergibt die ganze Geschichte keinen Sinn.« Ich erwiderte nichts. »Sterben«, sagte sie nach einer Weile, »ist eine höchst simple Angelegenheit. Aber Sie müssen begreifen, dass all die kleinen Augenblicke bis dahin und all die Minuten danach entsetzlich kompliziert sind.«
11 Die erste Reaktion
Sally war erstaunt, dass die Haustür sperrangelweit offen stand. Nameless lag im Eingangsbereich platt am Boden, weder schlafend noch wachsam, sondern mehr oder
minder beides zugleich. Er hob den Kopf und klopfte mit dem Schwanz, als er Sally kommen sah. Sie bückte sich und streichelte ihn einmal kurz hinter den Ohren. Viel weiter ging ihre Beziehung zu dem Haustier nicht. Sie hegte den Verdacht, dass Nameless, wäre Jack the Ripper mit einem großen Hundekuchen in der einen und einem blutigen Messer in der anderen Hand hereinspaziert, sich an den Hundekuchen gehalten hätte. Sie konnte die letzten Worte einer Unterhaltung hören, als sie die Aktentasche in dem kleinen Vorraum abstellte. »Ja, ja. Gut. Hab ich verstanden. Wir rufen dich noch heute Abend zurück. Mach dir keine Sorgen, alles wird gut. Klar. Also, bis dann.« Sally hörte, wie das Telefon auf den Sockel fiel, Hope tief durchatmete und stöhnte: »Gott im Himmel.« »Was ist los?«, fragte Sally. Hope fuhr herum. »Ich hab dich nicht kommen hören …« »Du hast offenbar die Tür aufgelassen.« Sally warf einen Blick auf die Joggingkleidung. »Wolltest du gerade raus oder kommst du gerade zurück?« Hope ignorierte die Frage ebenso wie Sallys Ton und sagte: »Das war Ashley. Sie ist ziemlich aufgelöst. Offenbar hat sie sich in Boston wirklich mit einem
unheimlichen Typen eingelassen, und jetzt bekommt sie Angst.« Sally schwieg einen Moment, bevor sie nachhakte: »Was genau soll ich unter ›irgendwie eingelassen‹ verstehen?« Hope antwortete: »Das solltest du dir von ihr selbst erklären lassen. Aber soweit ich es verstehe, hatte sie einen One-Night-Stand mit dem Kerl, und jetzt wird sie ihn nicht mehr los.« »Geht es um denselben Burschen, der den Brief geschrieben hat, den Scott bei ihr fand?« »Sieht so aus. Er überhäuft sie mit irrationalen Beteuerungen im Stil von Wir sind füreinander bestimmt. Es klingt, als wäre der Kerl nicht ganz dicht, aber du solltest dir das Ganze wirklich lieber von Ashley erzählen lassen. Es wirkt, ich weiß nicht, sehr viel realer, wenn du es von ihr hörst.« »Also, vermutlich macht sie nur aus einer Mücke einen Elefanten, aber …« Hope unterbrach sie. »So klang es für mich allerdings nicht. Okay, wir wissen beide, dass sie dazu neigt, die Dinge zu dramatisieren, aber ich glaube, sie war wirklich ziemlich aufgelöst. Ich denke, du solltest sofort zurückrufen. Tut ihr bestimmt gut, von ihrer Mutter zu hören und sich trösten zu lassen.«
»Hat der Kerl sie geschlagen? Oder bedroht?« »Nicht direkt. Ja und nein, ist nicht so leicht zu sagen.« »Was soll das nun wieder heißen, nicht direkt?«, fragte Sally mit Nachdruck. Hope schüttelte den Kopf. »Ich will damit sagen, Ich bring dich um ist eine Drohung. Aber Wir werden für immer zusammen sein kann auf dasselbe hinauslaufen. Es ist einfach schwer zu sagen, bis du es mit eigenen Ohren hörst.« Hope war ein wenig verblüfft. Sally reagierte entschieden cool und irritierend ruhig auf das, was sie hörte. Das überraschte sie. »Ruf Ashley an«, wiederholte sie. »Wahrscheinlich hast du recht!«, sagte Sally und ging zum Telefon.
Scott versuchte, Ashley über das Festnetztelefon zu erreichen, doch zum dritten Mal an diesem Abend war besetzt, und er wurde zur Mailbox umgeleitet. Er hatte es bereits über ihr Handy versucht, doch auch da schlug ihm nur ihre muntere Aufforderung entgegen, eine Nachricht zu hinterlassen. Er war mehr als irritiert. Was nützt einem all die neue Kommunikationstechnik, dachte er, wenn sie
ihren Zweck nicht besser erfüllt? Wenn man im achtzehnten Jahrhundert einen Brief aus beträchtlicher Ferne bekam, dann wurde er verdammt noch mal ernst genommen. Bevor sein Frustpegel weiter stieg, klingelte das Telefon. »Ashley?«, fragte er hastig. »Nein, Scott, ich bin’s, Sally«, kam die Antwort. »Sally«, wiederholte er ihren Namen. »Ist irgendetwas?« Sie zögerte einige Sekunden, und vor düsteren Vorahnungen zog sich sein Magen schlagartig zusammen. »Als wir das letzte Mal telefoniert haben«, begann Sally und kratzte all ihren anwaltlichen Gleichmut zusammen, »da hast du dich besorgt über einen Brief geäußert, den du gefunden hattest. Möglicherweise war deine Reaktion berechtigt.« Scott brauchte einen Moment. Er hätte diese professionelle Vernunft in ihrem Ton am liebsten niedergeschrien. »Wieso? Was ist passiert? Wo ist Ashley?« »Ihr fehlt nichts«, erklärte Sally. »Aber möglicherweise hat sie wirklich ein Problem.« Auf dem Nachhauseweg machte Michael O’Connell einen Abstecher in einen kleinen Laden für Künstlerbedarf. Sein
Vorrat an Kohlestiften ging zur Neige, und er steckte eine Packung in seine Parkatasche. Er nahm einen mittelgroßen Skizzenblock und ging damit zur Theke. Hinter der Kasse saß eine gelangweilte junge Frau, deren Gesicht, passend zu den schwarzroten Strähnen im Haar, eine Phalanx an Piercings zierte, in einen Anne-RiceRoman über Vampire vertieft. Sie trug ein schwarzes TShirt mit der Aufschrift Befreit die West Memphis Three in großen, gotisch angehauchten Lettern. Einen Moment lang war O’Connell sauer auf sich. So nachlässig, wie dieses Mädchen die ein- und ausgehende Kundschaft im Blick behielt, hätte er sich die Taschen mit viel mehr Ware vollstopfen können. Er nahm sich einen weiteren Besuch in ein paar Tagen vor. Er war ein wenig von sich enttäuscht, als er für den Block einige zerfledderte Ein-Dollar-Scheine über die Theke schob. Er wusste, dass die Angestellte nie auf den Gedanken käme, jemandem die Taschen zu durchsuchen, der bereit war, für etwas zu zahlen. Fehlanzeige. Er erinnerte sich, wie er an der Highschool Football spielte. Seine Lieblingsbegegnungen waren immer diejenigen gewesen, bei denen ein Täuschungsmoment zur Taktik gehörte. Wiege die gegnerische Mannschaft in einem bestimmten Glauben, während etwas ganz anderes passiert. Ein angetäuschter Pass. Eine doppelte Kehrtwende. Er machte sich das Prinzip zur Lebensphilosophie und brachte es bei jeder Gelegenheit zum Einsatz. Sorge dafür, dass dich die Leute unterschätzen. Suggeriere, dass etwas Bestimmtes im
Gange ist, während die Gefahr ganz woanders liegt. Es war das spielerische Element, das ihn daran reizte. Die Verkäuferin gab ihm das Wechselgeld, und er fragte: »Wer sind die West Memphis Three?« Sie sah ihn an, als bereite ihr der bloße Akt der Kommunikation physische Schmerzen. Sie seufzte: »Das sind drei Jugendliche, die wegen Mord verurteilt worden sind, an einem anderen Jugendlichen, aber sie haben es nicht getan. Sie wurden eigentlich nur verurteilt, weil sie so anders aussehen. Den ganzen fanatischen Bibelpredigern da unten, denen hat nicht gepasst, wie sie sich anzogen und wie sie über Gothic-Sachen geredet haben und über Satan und so, und jetzt sitzen sie in der Todeszelle, und das ist nicht fair. Im Fernsehen, auf HBO, haben sie einen Bericht darüber gebracht.« »Sie wurden verhaftet?« »Das war nicht in Ordnung. Bloß weil du anders bist, heißt das noch lange nicht, dass du schuldig bist.« Michael O’Connell nickte. »Stimmt«, sagte er. »Macht es den Cops leicht, dich zu finden«, fügte er hinzu. »Dann schnappen sie dich. Aber wenn du so wie die anderen bist, kannst du machen, was du willst. Einfach alles.« Er kehrte in die Abenddämmerung zurück. Auf seinem
Nachhauseweg stellte er im Geiste eine Liste der Informationen zusammen, die er erhalten hatte. Es gibt eine kleine Gruppe am Rande der Gesellschaft, resümierte er, in der man sich relativ unbehelligt bewegen kann. Mach einen Bogen um die Ladenketten mit ihrem Wachpersonal. Arbeite an einer Tankstelle, deren Eigentümer Kosten sparen will und bereit ist, wegzugucken. Lass besser nichts in einem Dairy Mart oder einem 7-11 mitgehen, weil da ständig gestohlen wird und es vielleicht einen Cop gibt, der hinter einem Spionspiegel hockt und sich nach Feierabend mit einer Knarre Kaliber .12 ein Zubrot verdient. Bau immer auf den Überraschungseffekt, aber übertreib’s nicht, die Leute sollen verunsichert, aber nicht aufgeschreckt werden. Verlass dich nie auf andere. Er war ein Naturtalent. Michael O’Connell stapfte die Straße entlang zu seinem Wohnblock und dann die Treppe hoch. Wie immer wimmelte es im Flur vor seiner Tür von den miauenden Viechern seiner alten Nachbarin. Wie immer hatte sie für die Tiere Fress- und Wassernäpfe hingestellt. Er senkte den Blick, und einige flitzten davon. Das waren die cleveren, dachte er, die eine Bedrohung erkannten, auch wenn sie nicht wussten, worin sie bestand. Die anderen liefen kreuz und quer. Er öffnete seine Tür so leise wie möglich und horchte auf Geräusche in den anderen Wohnungen, besonders in der der alten Frau. Dann kniete
er sich nieder und streckte die Hand aus, bis eine der vertrauensseligsten Katzen nahe genug herankam, damit er sie am Kopf kraulen konnte. Mit einer schnellen, geübten Bewegung packte er das Tier am Hals und trug es in seine Wohnung. Das Opfer strampelte einen Moment und versuchte, sich durch Winden und Kratzen zu befreien, doch O’Connell hielt es mit eisernem Griff. Er ging in die Küche und zog eine große Reißverschlusstasche hervor. Diese würde den anderen in der Tiefkühltruhe Gesellschaft leisten. Wenn er ein halbes Dutzend beisammen hatte, sagte er sich, würde er sie irgendwo in einen entfernten Container werfen. Und dann von neuem anfangen. Er traute der Alten nicht zu, dass sie die Zahl ihrer Haustiere kannte. Außerdem hatte er sie ein, zwei Mal höflich gebeten, nicht gar so viele zu halten. Sie war seiner höflichen Bitte nicht nachgekommen und hatte damit das Todesurteil über die Katzen gesprochen. Er war nur der Vollstrecker.
Scott hörte seiner Exfrau aufmerksam zu und wurde von Sekunde zu Sekunde wütender. Nicht, weil sie seine Intuition ignoriert hatte, und auch nicht, weil er von Anfang an richtig gelegen hatte. Was ihn auf die Palme brachte, war dieser kontrollierte Ton. Doch er sagte sich, dass es der Situation nicht dienlich war, mit Sally
Streit anzufangen. »Also«, resümierte sie, »ich glaube, und Ashley glaubt das auch, dass es das Beste wäre, wenn du nach Boston fahren und sie übers Wochenende nach Hause holen würdest, damit sie ein bisschen Abstand gewinnt und richtig einschätzen kann, welche Probleme der Mann ihr tatsächlich machen kann.« »In Ordnung«, stimmte Scott zu. »Ich fahr morgen hin.« »Mit einem bisschen Abstand sieht man meistens klarer«, erklärte Sally. »Du musst es ja wissen«, gab Scott den Ball zurück. Sally wollte schon mit einem ähnlichen Sarkasmus kontern, überlegte es sich aber anders. »Scott, kannst du einfach nur Ashley holen? Ich würde selbst fahren, aber …« »Nein, ich mach das schon. Wahrscheinlich hast du einen Gerichtstermin oder sonst etwas, das nicht warten kann.« »Ja, habe ich tatsächlich.« »Außerdem habe ich auf der Rückfahrt die Gelegenheit, sie auszufragen. Dann können wir zusammen überlegen, wie wir vorgehen wollen. Ein bisschen weiter planen, als
sie nur übers Wochenende zu holen. Vielleicht reicht es ja schon, wenn ich mit dem Kerl rede.« »Ich denke, bevor wir die Sache an uns reißen, sollten wir Ashley jede erdenkliche Möglichkeit lassen, es selbst zu lösen. Das gehört zum Erwachsenwerden dazu.« »Das ist genau der durch und durch rationale, ach so vernünftige Standpunkt, den ich wirklich hasse«, brauste Scott auf. Sally sagte nichts. Sie wollte nicht, dass das Gespräch in noch fruchtlosere Bahnen geriet. Außerdem begriff sie, dass Scott durchaus das Recht hatte, sich aufzuregen. So funktionierte ihr Gehirn nun mal, betrachtete jedes Wort, das fiel, wie durch ein Prisma, bei dem jede Seite bedeutsam war. Das machte sie zu einer ausgezeichneten Anwältin und gelegentlich zu einem schwierigen Menschen. »Vielleicht sollte ich noch heute fahren«, schlug Scott vor. »Nein«, widersprach Sally prompt. »Das sähe nach Panik aus. Wir sollten nichts überstürzen.« Einen Moment schwiegen sie beide. »Hey«, platzte Scott heraus, »hast du irgendwelche Erfahrungen mit so was?« Er dachte dabei an ihren Beruf, doch Sally verstand ihn anders. »Nein«, gab sie auf der Stelle zurück. »Der einzige Mann, der je zu mir gesagt hat, er würde mich für immer
lieben, warst du.«
In der Lokalzeitung wurde in den letzten Tagen über eine Geschichte berichtet, die in dem Tal, in dem ich lebte, große Aufmerksamkeit erregt hatte. Ein dreizehnjähriges Kind war in die zehnte Pflegefamilie vermittelt worden und unter fragwürdigen Umständen gestorben. Nicht nur die örtliche Polizei und die Staatsanwaltschaft ermittelten in dem Fall, sondern in einem weiten Umkreis erprobten sich auch die Nachrichtenagenturen an dieser Sache. Die zugänglichen Fakten waren jedoch so undurchsichtig, so dunkel und widersprüchlich, dass die Wahrheit wohl nie ans Licht kommen würde. Das Kind war an einer einzigen Schusswunde gestorben. Der tödliche Schuss erfolgte aus nächster Nähe. Die Pflegeeltern sagten, der Junge habe die Handfeuerwaffe des Vaters gefunden und damit gespielt, als sich der Schuss löste. Oder es sei kein Spiel gewesen, sondern Selbstmord. Vielleicht aber bedeuteten die äußerst frischen Quetschungen an Armen und Oberkörper des Kindes, welche die Autopsie ans Licht brachte, dass es geschlagen und dann gewaltsam niedergedrückt worden war, während etwas noch viel Abgründigeres geschah. Vielleicht hatte aber auch das
Kind mit einem Erwachsenen um die Waffe gekämpft, und sie war aus Versehen losgegangen. Mord aus Frustration. Mord aus Gier. Mord aus keinem anderen Grund als den schlechten Karten, die das Leben oft denen austeilt, die am wenigsten in der Lage sind zu bluffen. Ich hatte das Gefühl, dass die Wahrheit oft kaum zu fassen ist. Eine Woche lang starrte mir jeden Tag aufs Neue das Schwarzweißfoto des Kindes von der Zeitung entgegen. Als er noch lebte, zeigte der Junge ein schönes, ironisches, fast scheues Lächeln und hatte blitzende, kluge Augen. Vielleicht lebte das Interesse an der Geschichte von diesem Bild, bevor es dem ständigen neuen Stoff, dem unaufhaltsamen Strom der Ereignisse weichen musste. Es lag etwas Unehrliches in diesem Tod. Jemand war hereingelegt worden. Das Kind hatte niemanden, jedenfalls keinen Menschen, dem es wichtig genug war. Ich denke, ich war keinen Deut besser als alle anderen, die von der Geschichte lasen, in den Nachrichten davon hörten oder sich beim Plausch über den Gartenzaun hinweg darüber unterhielten. Sie berührte jeden, der schon einmal ein schlafendes Kind betrachtet und sich bewusstgemacht hatte, wie verletzlich alles Leben ist und wie wenig Kontrolle wir über das haben, was wir als Glück definieren. Auf ihre
Weise machten auch Scott, Sally und Hope im Lauf der Ereignisse diese Erfahrung.
12 Der erste freiwillige Plan
Scott fuhr am folgenden Morgen Richtung Osten – so früh, dass die aufgehende Sonne sich im Reservoir vor der Stadt Gardner spiegelte und für einen Augenblick die Windschutzscheibe mit gleißendem Licht überzog. Gewöhnlich brachte er den Porsche auf der Route zwei mit ihren langen, kaum befahrenen Streckenabschnitten durch einige der unscheinbarsten Landstriche Neuenglands auf Touren. Einmal hatte ein Trooper von der State Police, der nicht mit sich spaßen ließ, ihn mit hundertsiebzig Stundenkilometern erwischt; er hatte den Kopf zum Fenster hereingesteckt und ihm die übliche Gardinenpredigt gehalten, die Scott geflissentlich ignorierte, auch wenn er den Strafzettel damit nicht verhindern konnte. Der Wagen brummte, wie es typisch für einen Porsche ist, der einem sagen will, ich kann schneller, wenn du mich lässt. Scott blieb bei seiner Geschwindigkeit und überdachte das kurze Gespräch mit Ashley am Abend
zuvor. Sie hatten kein Wort darüber verloren, weshalb er sie holte. Er hatte zu ein, zwei Fragen angesetzt, dann aber erkannt, dass sie bereits sowohl mit Hope als auch mit ihrer Mutter gesprochen hatte und er folglich nur dieselben Fragen wiederholen würde, die sie bereits beantwortet hatte. Also hatten sie sich im Wesentlichen auf die Logistik beschränkt, wie etwa Ich komme früh, und Du brauchst
nicht erst einzuparken, hupe nur einmal kurz, und ich bin sofort unten … Er ging davon aus, dass sie auftauen würde, wenn sie erst mal neben ihm saß, wenigstens genug, um ihm bei der Einschätzung der Lage zu helfen. Bis jetzt war er sich noch nicht sicher, was er von dem Ganzen halten sollte. Die Tatsache, dass sein erster Eindruck bei der Lektüre des Briefs sich als richtig erwiesen hatte, brachte ihm keinerlei Befriedigung. Ebenso wenig wusste er jetzt, da er seine Tochter aus Boston abholte, wie viel Grund zur Sorge er tatsächlich hatte. Auf eine verquere Weise freute er sich auf das Wiedersehen mit ihr, da er bezweifelte, dass er noch oft Gelegenheit bekommen würde, sich als Vater zu bewähren. Sie wurde erwachsen und brauchte ihn oder ihre Mutter nicht mehr annähernd so sehr wie als Kind. Scott schob sich die Sonnenbrille auf die Nase. Was braucht Ashley dann? Ein bisschen zusätzliches Geld in der Tasche. Vielleicht irgendwann in der Zukunft eine Hochzeitsfeier. Rat? Eher unwahrscheinlich. Er trat das
Gaspedal durch, und der Wagen machte einen Satz nach vorne. Es war schön, gebraucht zu werden, dachte er, auch wenn er vermutete, dass es das letzte Mal sein könnte. Jedenfalls nicht mehr in diesem klar definierten ElternKind-Verhältnis, in dem man Gefahr lief, die Probleme zu dramatisieren. Ashley war in der Lage, aus eigener Kraft da herauszufinden. Er ging sogar davon aus, dass sie auf diesem Recht bestehen würde. Ihm fiel dabei allenfalls die Rolle zu, sie von der Seitenlinie aus anzufeuern, ihr Mut zuzusprechen und den einen oder anderen bescheidenen Vorschlag zu machen. Beim ersten Anblick des Briefs war in ihm ein Beschützerinstinkt erwacht, der ihn an ihre Kindheit erinnert hatte. Jetzt auf seiner Fahrt zu ihr erkannte er niedergedrückt, dass seine Aufgabe wohl eher bescheiden ausfallen würde, obwohl seine Ängste sich bestätigt hatten. Vermutlich behielt er seine Gefühle am besten für sich. Andererseits war ein Teil von ihm überglücklich angesichts der Chance, einmal nicht nur von ferne Anteil am Leben seiner Tochter zu haben. Scott grinste. Erwischt mich, wenn ihr könnt, dachte er, während Baumgruppen, die noch ihr Herbstlaub trugen, am Straßenrand vorbeifegten.
Ashley hörte das zweifache Hupen, warf einen raschen
Blick aus dem Fenster und sah das vertraute Profil ihres Vaters in dem schwarzen Porsche. Mit einem kurzen Winken begrüßte er sie und machte ihr zugleich Zeichen, sich zu beeilen, weil er den Verkehr blockierte und es in Boston durchaus Leute gab, die angesichts lästiger Verkehrsbehinderungen gerne ein paar Takte mit dem Übeltäter redeten. Bostoner Sportsfreunde verleihen ihren Forderungen am liebsten mit Hupen oder Brüllen Nachdruck. In Miami oder Houston können bei einer solchen Konversation schon mal Feuerwaffen aufblitzen, in Boston dagegen macht man von der verbrieften Redefreiheit Gebrauch. Sie schnappte sich eine kleine Reisetasche und schloss sorgfältig die Wohnungstür ab. Beim Anrufbeantworter und dem Computer hatte sie den Stecker herausgezogen, das Handy war ausgeschaltet. Keine Nachrichten. Keine EMails. Keine Kontaktmöglichkeit, dachte sie, als sie die Treppe hinunterhastete und zur Haustür hinausschoss. »Hi, meine Schöne«, sagte Scott, als sie den Bürgersteig überquerte. »Hi, Dad«, antwortete Ashley. Sie lächelte. »Lässt du mich fahren?« »Tja«, überlegte Scott, »vielleicht das nächste Mal …« Das war ein alter Witz zwischen ihnen. Scott ließ
grundsätzlich niemanden hinter das Lenkrad seines Porsche. Er schob versicherungstechnische Gründe vor, doch darauf fiel Ashley nicht herein. »Ist das alles, was du brauchst?«, fragte Scott, als er die kleine Tasche sah. »Ja. Hab sowieso genug Sachen drüben, bei dir und bei Mom.« Scott schüttelte den Kopf und umarmte sie lächelnd. »Ich entsinne mich noch sehr gut an Zeiten«, erklärte er in gespielt feierlichem Ton, »als es Schrankkoffer, Reisetaschen und riesige Armeerucksäcke zu tragen gab, die alle mit vollkommen überflüssigen Klamotten vollgestopft waren, nur um ganz sicherzugehen, dass du dich mindestens ein halbes Dutzend Mal am Tag umziehen kannst.« Sie grinste und öffnete die Beifahrertür. »Sehen wir zu, dass wir hier wegkommen, bevor irgendein Lieferwagen dir dein Midlife-Crisis-Spielzeug zerquetscht«, lachte sie. Sie lehnte sich an die lederbezogene Kopfstütze, schloss für einen Moment die Augen und fühlte sich zum ersten Mal seit Stunden ein wenig sicher. Sie atmete langsam aus und merkte, wie sie sich entspannte. »Danke, dass du gekommen bist, Dad.« Wenige Worte, die Bände sprachen.
Es lenkte sie ab, mit ihrem Vater zu reden, während er sich mit dem kleinen Wagen in den Verkehr einfädelte. Er hätte die Gestalt, die in den Schatten eines Baumes trat, als sie daran vorüberfuhren, natürlich nicht erkannt. Ihr wäre sie auf keinen Fall entgangen, hätte sie die Augen offen gehalten und wäre sie wachsamer gewesen. Michael O’Connell starrte ihnen nach und prägte sich den Wagen, den Fahrer sowie das Kennzeichen ein.
»Hören Sie sich jemals Liebeslieder an?«, fragte sie. Die Frage kam überraschend, und ich zögerte einen Moment mit meiner Antwort. »Liebeslieder?« »Ja. Liebeslieder. Sie wissen schon, Yummy, yummy, yummy, I’ve got love in my tummy, oder meinetwegen Maria … I’ve just met a girl named Maria, mir fallen unzählige ein …« »Eigentlich nicht«, antwortete ich. »Ich meine, mehr oder
weniger tut das vermutlich jeder. Drehen sich nicht neunundneunzig Prozent aller Songs, ob Pop, Rock, Country, was weiß ich, sogar Punk, irgendwie um Liebe? Eine verlorene Liebe. Unerwiderte Liebe. Glückliche Liebe, unglückliche Liebe. Ich verstehe nicht ganz, was das mit unserem Thema zu tun hat …« Ich war ein bisschen verärgert. Ich wollte herausfinden, was Ashley als nächsten Schritt geplant hatte. Und ganz gewiss wollte ich besser verstehen, wie Michael O’Connell tickte. »Die meisten Liebeslieder handeln gar nicht von Liebe. Es geht um eine Menge andere Dinge, aber vor allem um Frustration. Um sexuelle Lust vielleicht. Um Begierde. Sehnsucht. Enttäuschung. Selten geht es dabei um die Liebe an sich, das heißt um das, was übrigbleibt, wenn man all diese anderen Aspekte außer Acht lässt – um gegenseitige Verlässlichkeit. Das Problem ist, dass wir das zu oft aus dem Blick verlieren, weil wir uns zu sehr auf andere Dinge fixieren, die wir dann für das Ein-und-Alles unserer Gefühle halten.« »Meinetwegen«, stimmte ich langsam zu. »Und Michael O’Connell?« »Für ihn war Liebe gleichbedeutend mit Wut. Mit Zorn.« Ich sagte nichts. »Und das war für ihn so lebensnotwendig wie die Luft zum
Atmen.«
13 Das geringste aller Ziele
Das Röhren des Sportwagens wiegte Ashley fast augenblicklich in den Schlaf. Fast eine Stunde lang rührte sie sich nicht mehr, dann öffnete sie abrupt die Augen und rappelte sich, etwas desorientiert, mit einem leichten Schnaufer hoch. Scott sah, wie sie gehetzt um sich blickte und ein, zwei Sekunden mit den Händen in der Luft herumfuchtelte, bevor sie sich wieder in den ergonomisch geformten Sitz zurückfallen ließ. Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Du liebe Güte«, seufzte sie. »Bin ich weggetreten?« Scott ging darauf nicht ein. »Müde?« »Ja, schon«, sagte sie. »Vielleicht auch nur zum ersten Mal seit Stunden richtig entspannt. Es überkam mich einfach. Fühlt sich seltsam an. Weder gut noch schlecht. Nur seltsam.«
»Möchtest du jetzt darüber reden?« Ashley schien ein wenig zu zögern, so als ob mit jeder Meile, die sich im Rückspiegel zwischen sie und Boston legte, auch die Probleme, in denen sie steckte, in die Ferne rückten und immer kleiner wurden. Scott stellte eine weitere Frage, bevor sie reagierte. »Vielleicht solltest du mir erst mal sagen, was du deiner Mom und ihrer Lebensgefährtin erzählt hast«, schlug er ruhig vor und wusste sehr wohl, wie gestelzt und förmlich er Sally und Hope tituliert hatte. »Dann haben wir wenigstens alle denselben Informationsstand, was ich sinnvoll fände«, fügte er hinzu. »Dann können wir die Köpfe zusammenstecken und einen Plan schmieden, wie du vielleicht am besten weiter verfährst.« Er war sich nicht sicher, ob Ashley tatsächlich nach Hause kam, um die nächsten Schritte vorzubereiten, aber sicherlich entsprach ein solcher Vorschlag dem, was sie von ihm erwarten würde, und allein das schon war vermutlich beruhigend. Ashley schwieg eine Weile, schauderte und begann zu erzählen: »Verwelkte Blumen. Verwelkte Blumen, die vor meiner Wohnung an die Wand geklebt waren. Und dann ist er mir gefolgt, statt sich, wie verabredet, mit mir in einem Restaurant zu treffen, in dem ich ihn endgültig loswerden wollte, es kam mir so vor, als wäre ich ein Tier und er der Jäger, der mir immer näher kommt …« Sie hielt inne, sah aus dem Seitenfenster, als müsse sie erst ihre Gedanken
ordnen, um wieder Klarheit hineinzubringen, bevor sie mit einem Stoßseufzer hinzufügte: »Am besten fange ich ganz vorne an, damit du alles verstehst …« Scott verlangsamte auf die vorschriftsmäßige Geschwindigkeit und wechselte auf die rechte Spur, die für den Porsche ganz ungewohnt war. Ohne ein Wort zu sagen, hörte er zu.
Als sie die kleine College-Stadt erreichten, in der Scott lebte, hatte Ashley ihm über die Beziehung, falls das Wort nicht zu hoch gegriffen war, zu Michael O’Connell ziemlich erschöpfend Auskunft gegeben. Das erste Kennenlernen hatte sie geschönt, da es ihr peinlich war, mit ihrem Vater über Alkohol und ihr Sexleben zu sprechen. Sie hatte diese Dinge mit harmlosen Euphemismen umschrieben, wie etwa, danach waren wir zusammen und wir hatten einiges intus, statt sich deutlicher auszudrücken. Scott verstand auch so sehr genau, was vorgefallen war, verkniff sich aber, allzu penetrant nachzuhaken. Vermutlich gab es Einzelheiten, die er sich lieber ersparte. Nachdem sie den Highway verlassen hatten, wechselte er ein, zwei Mal den Gang und bretterte über die Landstraßen weiter. Ashley hüllte sich wieder in Schweigen und starrte aus dem Fenster. Inzwischen war es heller Tag unter einem
hohen, blassblauen Himmel. »Es ist schön«, erklärte sie, »mal wieder zu Hause zu sein. Wenn einen so viel andere Sachen beschäftigen, vergisst man, wie gut man einen Ort kennt. Und dann ist man auf einmal wieder daheim: derselbe alte Anger. Dasselbe alte Rathaus. Die Restaurants. Cafés. Die Kids, die auf dem Rasen Frisbee spielen. Man könnte meinen, dass die ganze Welt in Ordnung sein muss.« Sie atmete mit einem Schnauben aus. »Also, Dad, jetzt weißt du alles. Was hältst du davon?« Scott versuchte, sich zu einem Lächeln zu zwingen, hinter dem er den Aufruhr seiner Gefühle verbergen konnte. »Ich denke, wir sollten einen Weg finden, Mr. O’Connell eine Absage zu erteilen, ohne uns zu viel Ärger einzuhandeln«, erwiderte er, auch wenn nicht viel Überzeugungskraft dahintersteckte. Dennoch gab er sich optimistisch. »Vielleicht muss man wirklich nur mit ihm reden. Vielleicht brauchst du aber auch Distanz. Das könnte dich Zeit kosten, bevor du mit deinem Graduiertenstudium beginnst. So kann es im Leben kommen. Es läuft nicht immer glatt. Aber ich bin sicher, wir kriegen das geregelt. Er klingt nicht ganz so bedrohlich, wie ich ursprünglich dachte.« Ashley schien etwas freier zu atmen. »Meinst du?«, fragte sie. »Aber sicher. Ich wette, deine Mom sieht das genauso.
Weißt du, in ihrer Kanzlei ist sie ganz schön taffen Burschen begegnet, bei den Scheidungsverfahren zum Beispiel oder den Fällen von Kleinkriminalität. Und sie hat einiges an Missbrauch zu sehen bekommen, auch wenn das unseren Fall meiner Meinung nach nicht zutreffend beschreibt. Sie ist also ziemlich kompetent, wenn es darum geht, mit solchen Dingen fertig zu werden.« Ashley nickte. »Ich meine, er hat dich nicht geschlagen, oder?« Scott stellte die Frage, obwohl Ashley sie bereits beantwortet hatte. »Hab ich doch schon gesagt, nein. Er behauptet nur, wir wären füreinander geschaffen.« »Nun ja«, sagte Scott, »auch wenn ich nicht weiß, wer ihn geschaffen hat, weiß ich zumindest, wer dich geschaffen hat, und ich bezweifle doch sehr, dass es ihm zuliebe war.« Ein zartes Lächeln huschte über Ashleys Gesicht. »Und glaub mir«, schob Scott einen zweiten Scherz hinterher, um sie noch ein bisschen aufzuheitern, »das scheint mir kein Problem zu sein, das ein hochgeachteter Historiker nicht lösen könnte. Ein bisschen Recherche. Vielleicht ein paar originale Dokumente oder Augenzeugenberichte. Primärquellen. Feldarbeit, und wir
sind dicht am Ball.« Ashley brachte ein verhaltenes Lachen zustande. »Dad, hier geht es nicht um eine wissenschaftliche Arbeit …« »Nicht?« Sie musste wieder lächeln. Scott drehte sich ein wenig auf seinem Sitz zu ihr um, eben genug, um ihr ganzes Lächeln aufzufangen, das ihn an unzählige Momente erinnerte und kostbarer war als alles andere in seinem Leben.
Samstag war an Hopes Privatschule Sporttag, und so war sie hin- und hergerissen, ob sie zum Campus fahren oder auf Scott und Ashley warten sollte. Aus Erfahrung wusste sie, dass die Morgensonne das Spielfeld nur ungenügend trocknen würde, und so rechnete sie für den Nachmittag mit einer Schlammschlacht. Noch vor einer Generation war die Vorstellung, Mädchen im Dreck spielen zu sehen, derart fremd, dass das Spiel wahrscheinlich abgesagt worden wäre. Heute dagegen freuten sich die Mädchen eher auf einen matschigen Boden. Verschmiert und verschwitzt galt heute als positiv. Fortschritt, der sich an Dreck festmacht. Sie blickte von der Wanduhr zum Fenster und wieder zurück und horchte auf das unverkennbare Geräusch von Scotts Wagen, wenn er an der Ecke den Gang herunterschaltete und das letzte Stück zu ihrem
Häuserblock herangefahren kam. Nameless wartete an der Tür. Zu alt, um ungeduldig zu sein, aber dennoch nicht bereit, zurückzubleiben. Er kannte den Satz, Lust auf ein Fußballspiel?, und sooft er ihn hörte, selbst im Flüsterton, erwachte er augenblicklich aus einem nahezu komatösen Zustand zu einem wilden Freudentaumel. Die Fenster standen einen Spaltbreit offen, und sie hörte Geräusche aus den Nachbarhäusern, die so typisch für einen Samstagmorgen waren, dass sie allzu sehr dem Klischee entsprachen: ein Rasenmäher, der stotternd angeworfen wurde; ein Laubbläser mit seinem jaulenden Geräusch, das fröhliche Kreischen spielender Kinder in einem nahe gelegenen Garten. Es war nur schwer vorstellbar, dass irgendwo etwas lauerte, das dieses geordnete Lebensgefüge bedrohen könnte. Sie hatte keine Ahnung, dass Ashley kurz zuvor derselbe Gedanke gekommen war. Als sie den Kopf umwandte, sah sie Sally hinter sich im Türrahmen stehen. »Bist du spät dran?«, fragte Sally. »Wann fängt das Spiel an?« »Ist noch ein bisschen Zeit«, antwortete sie. »Ist das Spiel heute wichtig?«
»Sie sind alle wichtig, aber ein paar davon mehr als die anderen. Wir machen uns nicht schlecht.« Sie zögerte, bevor sie hinzufügte: »Sie müssten jeden Moment da sein. Hat Scott nicht gesagt, dass er früh losfahren will?« Auch Sally brauchte einen Moment, bevor sie antwortete: »Ich glaube, wir sollten Scott hereinbitten, er wird dabei sein wollen, wenn wir Entscheidungen treffen.« »Gute Idee«, stimmte Hope zu, wenn auch nicht wirklich überzeugt. Alles, was Scott betraf, versetzte sie in eine Situation, die man oberflächlich betrachtet als peinlich hätte bezeichnen können, aber ihre Schwierigkeiten gingen viel tiefer und waren komplizierter. Sie glaubte, dass Scott sie hasste, auch wenn er sich nie explizit geäußert hatte. Zumindest hasste er es, sie zu sehen. Oder hasste das, wofür sie stand. Oder das, was sie getan hatte, damit Sally sich für sie entschied, oder einfach das, was zwischen ihnen geschehen war. Wie auch immer, er brachte ihr innerlich geballte Wut entgegen, und sie hatte es aufgegeben, daran je etwas ändern zu wollen. »Ich überlege nur«, sagte Sally, »ob es so klug wäre, wenn du bei seiner Ankunft da bist, und ich ihn bitte, reinzukommen.« Da war es also, dachte Hope.
Sie war auf der Stelle wütend und zugleich enttäuscht von Sally. Es erschien ihr ganz und gar unfair; schließlich waren genügend Jahre verstrichen, um einen zivilisierten Umgang zwischen ihnen zu ermöglichen, selbst wenn die unterschwelligen Gefühle stets stark waren. Es versetzte sie in Rage, dass Sally auf Scotts Gefühle Rücksicht nehmen wollte, indem sie ihre mit Füßen trat. Auch sie hatte Jahre in Ashleys Erziehung investiert, und obwohl sie nicht ihr Fleisch und Blut war, lag ihr das Glück des Mädchens genauso am Herzen wie Scott und Sally. Sie biss sich auf die Lippen. Überleg dir genau, was du sagst. »Ich denke, das wäre nicht fair. Aber wenn du es für wichtig hältst, dann beuge ich mich deiner höheren Weisheit in diesen Dingen.« Den letzten Teil des Satzes konnte man sarkastisch verstehen, und Sally war sich nicht sicher, wie er gemeint war. Sie trat einen Schritt zurück und war über sich selbst erschrocken, dass sie überhaupt erwogen hatte, Hope aus dem Haus zu schicken, nur weil sie Scott erwartete. Was mache ich nur? »Nein …«, fing sie an, wurde jedoch vom Geräusch des Wagens unterbrochen, der die leichte Anhöhe zu ihrem Haus hochfuhr. »Da sind sie«, sagte sie.
»Nun ja«, stellte Hope steif fest, »dann bin ich wohl da.« Nameless erkannte das Geräusch des Autos und sprang mit einem Satz auf. Sie gingen zusammen zur Haustür, und der Hund zwängte sich zwischen ihren Beinen hindurch, während der Porsche in die Einfahrt rollte. Als Ashley aus dem Wagen stieg, war Nameless schon bei ihr. Sie bückte sich und streckte ihr Gesicht seiner Schnauze entgegen, um die nasse Hundebegrüßung in Empfang zu nehmen. Auch Scott verließ, ein wenig unsicher, wie es jetzt weitergehen sollte, den Porsche. Er hob zögernd die Hand, um Sally zuzuwinken, und nickte in Hopes Richtung. »Wohlbehalten angekommen«, sagte er. Sally ging über den Rasen zur Einfahrt und blieb kurz stehen, um Ashley zu umarmen. »Willst du nicht reinkommen, damit wir zusammen planen können, wie wir weiter vorgehen?«, fragte sie Scott. Ashley hob den Kopf und sah ihren Vater und ihre Mutter an. Sie wurde sich in diesem Moment bewusst, wie selten sich die beiden jemals auch nur auf Armeslänge nahe kamen. Ihre Begegnungen waren stets von einem gewissen Abstand charakterisiert. »Das liegt bei Ashley«, erklärte Scott. »Vielleicht hat sie keine Lust, sich direkt in die Sache zu stürzen. Vielleicht braucht sie erst ein Mittagessen und muss sich ein
bisschen erholen.« Beide sahen Ashley erwartungsvoll an, und sie nickte, auch wenn sie dabei das Gefühl hatte, etwas Feiges zu tun. »In Ordnung«, entschied Sally in ihrem kompetenten Anwaltston. »Dann heute Nachmittag. Sagen wir, zwischen vier und halb fünf?« Scott nickte. Dann deutete er aufs Haus. »Hier?« »Wieso nicht?«, fragte Sally. Scott fielen ein Dutzend triftige Gründe ein, wieso nicht, doch es gelang ihm, sie hinunterzuschlucken. »Also dann, halb fünf. Wir könnten uns zum Tee treffen. Wie zivilisierte Menschen.« Sally ließ den Sarkasmus unkommentiert. Sie wandte sich zu Ashley um und fragte, indem sie auf die Tasche deutete: »Ist das dein ganzes Gepäck?« »Das ist alles«, erwiderte sie.
Ashley hüpfte vorsichtig um das matschige Spielfeld herum und suchte eine Stelle, von der aus sie sehen konnte, wie Hope das Fußballspiel dirigierte. Nameless war an das Ende der Bank geleint, schlug aber mit dem Schwanz, als er sie sah. Dann legte er den Kopf wieder hin. Löwen, dachte Ashley, als sie zu ihm hinübersah. Die schlafen an
einem afrikanischen Tag oft bis zu zwanzig Stunden. Nameless schien sich diesem Standard inzwischen zu nähern, auch wenn er ansonsten nicht viel Löwenhaftes an sich hatte. Manchmal fragte sie sich, ob sie alle miteinander überhaupt zurechtgekommen wären, hätte es ihn nicht gegeben. Es hatte sie immer enttäuscht, dass ihre Mutter die Bedeutung des Hundes nie richtig würdigen konnte. Rettungshund, dachte sie. Blindenhund. Wachhund. Nameless hatte im metaphorischen Sinne alle diese Rollen ausgefüllt, und jetzt war er alt und fast pensioniert, aber immer noch beinahe so etwas wie ein Bruder. Sie ließ den Blick über die Hügelkette in der Ferne schweifen. Die Ortsansässigen bezeichneten den Holyoke Range als Gebirge, doch das war ein wenig übertrieben. Die Rockies sind ein Gebirge, fand sie. Diesen Hügeln wollte man eine Größe verleihen, die sie nicht besaßen, auch wenn sie an einem schönen Herbstnachmittag mit ihrer prächtigen rotbraunen Färbung wettmachten, was sie an Höhe nicht zu bieten hatten. Sie drehte sich um und verfolgte wieder das Fußballspiel. Es fiel ihr nicht schwer, sich fünf Jahre zurückzuversetzen, als sie selbst in Blauweiß dort links außen auf und ab gelaufen war. Sie war immer eine gute Spielerin gewesen, wenn auch nicht so gut wie Hope. Hope spielte unbekümmert frei, während Ashley es nie schaffte, ganz aus sich herauszugehen.
Sie freute sich wie närrisch, als das Mädchen auf ihrer alten Position den spielentscheidenden Treffer landete. Sie wartete ab, bis die Hochrufe und das Händeschütteln ein Ende nahmen. In diesem Moment sah sie, wie Hope Nameless von der Leine befreite und einen Ball zur Mitte des Spielfelds rollte. Nur einen, dachte Ashley, und nicht annähernd so weit geworfen, wie er früher einmal apportieren konnte. Sie sah zu, wie er den Ball einfing und ihn voller Hundefreude mit Schnauze und Vorderpfoten an Hope zurückgab. Als Hope den Ball aufhob und in ein großes Tragenetz packte, entdeckte sie Ashley an der Seitenlinie. »Hey, Killer, du bist noch vorbeigekommen. Wie fandest du’s?« Als sie ihren Spitznamen hörte, den Hope ihr in ihrem ersten Jahr an der Uni gegeben hatte, musste sie schmunzeln. Hope hatte ihn ihr verpasst, weil sie auf dem Spielfeld viel zu zurückhaltend gewesen war, zu schüchtern inmitten der älteren Mädchen. Also hatte Hope sie beiseite genommen und ihr gesagt, wenn sie spielte, dürfe sie nicht die alte Ashley sein, die sich über die Gefühle anderer Gedanken machte, sondern sich stattdessen in einen Killer verwandeln, der mit aller Härte agierte, der sich und anderen nichts schenkte und den Einsatz brachte, der nötig ist, um am Ende vom Feld zu laufen und sich völlig verausgabt zu haben. Sie beide hatten diese Rolle für sich behalten, weder Sally noch Scott wussten davon, nicht
einmal die übrige Mannschaft. Zuerst war sich Ashley dabei albern vorgekommen, doch nach und nach hatte sie es zu schätzen gewusst. »Sie sehen gut aus. Stark.« Hope blickte an ihr vorbei. »Sally ist nicht mitgekommen?« Ashley schüttelte den Kopf. »Wir sind zu jung, zu unerfahren«, erwiderte Hope, auch wenn es ihr nicht gelang, ihre Enttäuschung zu verbergen. »Aber wenn wir uns nicht einschüchtern lassen, können wir uns ganz gut schlagen.« Ashley nickte. Sie fragte sich, ob man über ihre Situation dasselbe sagen konnte.
Scott saß ein bisschen unbehaglich in der Mitte der Wohnzimmercouch, rechts und links neben sich je ein freier Platz. Jede der drei Frauen nahm ihm gegenüber einen eigenen Sessel ein. Es hatte etwas seltsam Förmliches, und er fühlte sich ein wenig wie auf der Anklagebank. »Also«, begann er in forschem Ton, »ich denke, die erste Frage lautet, was wissen wir tatsächlich über den Kerl, der Ashley belästigt? Ich meine, was ist er für ein Mensch? Wo kommt er her? Die grundlegenden Fakten …«
Er wandte sich Ashley zu, die aussah, als säße sie auf einer scharfen Kante. »Ich hab euch alles gesagt, was ich weiß«, erwiderte sie. »Und das ist ziemlich dürftig.« Sie wartete nur darauf, dass einer der anderen so etwas sagte wie, Nun ja, eigentlich hättest du es besser wissen
müssen, statt ihn für einen One-Night-Stand in deine Wohnung zu lassen, aber keiner machte eine solche Bemerkung. »Eigentlich wollte ich damit sagen«, beeilte sich Scott, das Schweigen zu brechen, »dass wir nicht wissen, ob dieser O’Connell für ein kurzes Gespräch überhaupt zugänglich ist. Vielleicht ja, vielleicht aber auch nicht. Wenn man allerdings mit einer gewissen Bestimmtheit vorgehen würde …« »Das hab ich schon versucht«, gab Ashley zu bedenken. »Ja, ich weiß. Du hast wirklich das Richtige getan. Aber ich schlage vor, dir jetzt ein bisschen Nachdruck zu verschaffen. Zum Beispiel durch mich«, erklärte Scott. »Meint ihr nicht auch, dass es zunächst einmal darum geht, nicht unnötig Probleme an die Wand zu malen? Vielleicht müssen wir nur ein bisschen Präsenz zeigen. Die väterlichen Muskeln spielen lassen.« Sally nickte. »Vielleicht können wir ihn von zwei Seiten in die Zange nehmen. Scott, du gehst zu diesem Kerl und
sagst ihm, er solle Ashley in Ruhe lassen. Gleichzeitig machen wir ihm die Sache schmackhaft, indem wir ihm Bargeld anbieten. Eine stattliche Summe, sagen wir, fünftausend oder so. Für jemanden, der an einer Tankstelle arbeitet und nebenher versucht, einen Abschluss in Informatik zu machen, muss das eine Menge Geld sein.« »Eine Bestechung, damit er Ashley in Frieden lässt?«, fragte Scott. »Funktioniert so etwas?« »Nach meiner Erfahrung mit Familienstreitigkeiten, Scheidungen, Sorgerechtsfällen und dergleichen kann eine finanzielle Regelung einiges bewirken.« »Dein Wort in Gottes Ohr«, sagte Scott. Er glaubte ihr nicht. Er hegte auch seine Zweifel daran, dass es helfen würde, mit O’Connell zu reden, doch er wusste, dass man erst einmal die naheliegenden Mittel ausschöpfen musste. »Und wenn er nun …« Sally hob die Hand, um ihn mitten in der Frage zu unterbrechen. »Eilen wir den Dingen nicht voraus. Der Kerl hat sich schaurig benommen. Aber soweit ich sehe, hat er sich bis jetzt noch nicht strafbar gemacht. Uns bleibt immer noch die Option, einen Privatdetektiv zu engagieren, ihn der Polizei zu melden, einstweilige Verfügungen zu erwirken …« »Das wird’s sicher bringen«, meinte Scott sarkastisch.
Sally überhörte ihn. »… und uns andere Rechtsmittel vorzubehalten. Ashley könnte sogar aus Boston wegziehen. Sicher, das wäre ein Rückschlag, aber die Möglichkeit besteht. Ich denke nur, wir sollten mit dem Nächstliegenden beginnen.« »Na schön«, sagte Scott, erleichtert darüber, dass Sallys Überlegungen sich mehr oder weniger mit seinen deckten. »Und wie gehen wir jetzt vor?« »Ashley ruft den Kerl an. Trifft eine weitere Verabredung. Du nimmst Bargeld und deinen Vater mit. Und zwar an einem öffentlichen Ort. Redet Klartext. Das war’s dann hoffentlich.« Scott wollte den Kopf schütteln, überlegte es sich aber anders. Es klang nicht ganz verkehrt. Jedenfalls war es einen Versuch wert. Er beschloss, Sallys Plan mit einer kleinen Abwandlung umzusetzen. Hope hatte das ganze Gespräch hindurch geschwiegen. Sally drehte sich zu ihr um. »Was meinst du?«, fragte sie. »Ich denke, es ist eine angemessene Vorgehensweise«, antwortete sie, obwohl sie kein Wort davon glaubte. Scott ärgerte sich plötzlich darüber, dass Hope überhaupt um ihre Meinung gebeten worden war. Er hätte ihr am liebsten gesagt, dass sie bei dem Ganzen nichts zu suchen hätte. Sei vernünftig, schärfte er sich ein. Auch wenn es irritierend ist. »Gut, abgemacht. Das ist der Plan,
zumindest so lange, bis wir merken, dass er nicht funktioniert.« Sally nickte. »Also, Scott, möchtest du wirklich eine Tasse Tee, oder war das vorhin als Witz gemeint?«
»Ich kann mir nicht vorstellen …«, setzte ich an, stockte und versuchte es andersherum. »Ich meine, die können doch nicht völlig blind gewesen sein …« »Gegen das, was ihnen bevorstand?«, fragte sie, ohne eine Antwort zu erwarten. »Sie wussten schließlich nichts davon, dass er Will zusammengeschlagen hatte. Sie wussten auch nichts von dem, ähm, Unfall, den Ashleys Freundin nach dem Restaurantbesuch hatte. Sie hatten nicht die geringste Ahnung, welcher Ruf Michael O’Connell vorauseilte, und sie wussten auch nicht, welchen Eindruck er auf Kollegen, Lehrer und was weiß ich wen machte. All die Dinge, die sie dazu gebracht hätten, eine andere Richtung einzuschlagen. Sie wussten lediglich, dass – wie drückte Ashley sich noch aus? – dass er ein Mistkerl war. Was für ein unschuldiges Wort.« »Trotzdem, mit ihm reden, ihm Geld anbieten – wie
konnten sie auch nur einen Moment lang glauben, dass das funktioniert?« »Wieso nicht? Macht man das nicht so?« »Schon, aber …« »Im Nachhinein weiß man es immer besser. Wir glauben immer, wir wüssten eine Antwort, wenn wir in Wahrheit keine haben. Welche Alternativen hatten sie denn zu diesem Zeitpunkt?« »Na ja, sie hätten aggressiver vorgehen können …« »Das konnten sie doch nicht wissen!« Plötzlich erhob sie die Stimme und klang gereizt. Sie lehnte sich zu mir vor, und ich sah, wie sie wütend die Augen zusammenkniff. »Was ist eigentlich so schwer daran zu begreifen, dass die Kräfte der Verdrängung stark sind, und zwar bei jedem von uns? Wir wollen nicht an das Schlimmste glauben!« Sie schwieg, um tief Luft zu holen. Ich wollte etwas sagen, doch sie hob die Hand. »Sparen Sie sich bitte die lahmen Entschuldigungen«, stoppte sie mich. »Würden Sie nicht auch an die harmloseste Variante glauben wollen, während in Wahrheit die größte Gefahr direkt vor Ihrer Nase lauert?« Sie atmete noch einmal tief durch. »Mit Ausnahme von Hope. Sie sah es kommen. Zumindest ahnte sie etwas. Doch aus irgendeinem Grund tat sie das Dümmste, was
sie machen konnte: sie schwieg. Vorerst jedenfalls …«
14 Dummheit
Scott rutschte, eine Flasche Bier in der Hand, unruhig auf seinem Barhocker herum, während er versuchte, gleichzeitig die Eingangstür und Ashley, die in einer ruhigen Ecke saß, im Auge zu behalten. Sie sah immer wieder auf, schob das Besteck auf dem Tisch umher und trommelte nervös mit den Fingern auf die Holzplatte, während sie wartete. Er hatte mit ihr eingeübt, was sie sagen sollte, wenn sie Michael O’Connell anrief, und was sie machen sollte, wenn er kam. Scott hatte einen Umschlag mit fünftausend Dollar in Hunderterscheinen in der Tasche. Es war ein beachtliches Bündel, wenn man es auf eine Tischplatte knallte; er setzte darauf, dass dies eine größere Wirkung haben würde als die tatsächliche Summe. Bei dem Gedanken an das Geld merkte er, wie ihm der Schweiß unangenehm unter die Achseln trat. Doch vermutlich erging es ihm viel besser als seiner Tochter. Sie war innerlich vollkommen verkrampft. Dennoch vertraute er bei dem
bevorstehenden Treffen auf ihr theatralisches Talent. Scott räusperte sich und nahm einen Schluck Bier. Er spannte unter seiner Sportjacke die Muskeln an und erinnerte sich zum zehnten Mal an diesem Tag daran, dass ein Mann, der bereit war, eine Frau zu tyrannisieren, angesichts eines körperlich ebenbürtigen Gegners, der älter und gewiefter war als er, höchstwahrscheinlich kneifen würde. Er hatte sein ganzes Berufsleben hindurch immer wieder mit Studenten vom Schlag eines Michael O’Connell zu tun gehabt, und er hatte eine ganze Reihe von ihnen erfolgreich eingeschüchtert. Er machte dem Barkeeper Zeichen, ihm noch ein Bier zu bringen. Ashley ihrerseits wurde vor Anspannung abwechselnd heiß und kalt. Als sie O’Connell auf dem Handy erreicht hatte, war sie auf der Hut gewesen und hatte sich an ein Drehbuch gehalten, das sie zusammen mit ihrem Vater auf der Rückfahrt nach Boston ausgearbeitet hatte. Nicht auf Konfrontationskurs, aber auch nicht entgegenkommend. Es ging lediglich darum, ihn von Angesicht zu Angesicht zu sehen, so dass, falls nötig, ihr Vater einschreiten konnte. »Michael, ich bin’s, Ashley …« »Wo warst du?« »Ich musste weg, ich hatte was zu erledigen.«
»Was denn?« »Das, worüber wir reden müssen. Wieso bist du neulich nicht zum Museum gekommen?« »Der Treffpunkt hat mir nicht gefallen. Und ich wollte mir nicht anhören, was du mir zu sagen hattest. Ashley, ich glaube wirklich, dass es zwischen uns gut läuft …« »Wenn du das glaubst, dann lass uns heute Abend etwas zusammen essen. Dieselbe Bar, in der wir uns zu unserem ersten und letzten Date getroffen haben. Okay?« »Nur«, hatte er geantwortet, »nur, wenn du mir versprichst, dass es nicht darum geht, mir den Laufpass zu geben. Ich brauche dich, Ashley. Und du brauchst mich. Ich weiß es einfach.« Er hatte fast wie ein kleiner Junge geklungen. Das hatte sie ein bisschen verwirrt. Sie hatte gezögert. »Meinetwegen, versprochen. Heute Abend um acht?« »Das wäre toll. Wir haben eine Menge zu bereden. Über die Zukunft und so.« »Großartig«, hatte sie unbeschwert gelogen. Statt auf seine letzte Bemerkung zu antworten, hatte sie aufgelegt und kein Wort darüber fallengelassen, welche Angst er ihr
eingejagt hatte, als er ihr bei strömendem Regen bis zur UBahn gefolgt war. Kein Wort über die verwelkten Blumen. Kein Wort zu all den Dingen, die ihr eine Gänsehaut einjagten.
Jetzt legte sie alles daran, nicht dauernd zu ihrem Vater an der Bar hinüberzusehen, sondern die Tür im Auge zu behalten. Es war fast acht, und sie hoffte, dass er sie nicht wieder versetzte. Der Plan, den sie mit ihrem Vater ausgearbeitet hatte, war simpel: möglichst früh im Restaurant sein und eine Sitzecke wählen, damit O’Connell, wenn er erst einmal saß, nicht entwischen konnte, sobald Scott sich plötzlich neben ihn plazierte, sondern mit ihnen reden musste. Sie beide würden sich gegenseitig die Bälle zuwerfen und ihn zwingen, sie in Ruhe zu lassen. Zahlenmäßige Überlegenheit. Der Vorteil eines öffentlichen Orts. Psychologisch gesehen, hatte ihr Vater betont, waren sie ihm mehr als gewachsen, und sie würden von Anfang bis Ende die Situation unter Kontrolle haben. Sie mussten nur stark sein. Unerbittlich. Deutlich. Sie durften keine Zweifel daran aufkommen lassen, wie ernst es ihnen war. Scott hatte klar beschrieben, was aller Voraussicht nach passieren würde. Denk dran: Wir sind zu zweit. Wir sind cleverer als er. Wir sind gebildeter. Wir verfügen über größere finanzielle Mittel. Ende der Geschichte. Sie griff nach dem Glas auf dem Tisch und nahm einen Schluck Wasser.
Als sie das Glas absetzte, sah sie O’Connell durch die Tür kommen. Sie richtete sich halb auf und winkte ihn heran. Sie beobachtete, wie er den Blick durch das Restaurant schweifen ließ, hätte aber nicht sagen können, ob er Scott an der Bar gesehen hatte. Sie warf einen verstohlenen Blick auf ihren Vater und bemerkte, wie er sich plötzlich straffte. Sie holte tief Luft und flüsterte sich zu: »Okay, Ashley. Vorhang auf. Es geht los.« O’Connell hatte im Nu den Raum durchquert und schlüpfte auf die Bank ihr gegenüber. »Hey, Ashley«, sagte er forsch. »Mensch, tut das gut, dich wiederzusehen.« Sie konnte sich nicht beherrschen. »Wieso bist du nicht wie verabredet zum Lunch erschienen?«, fuhr sie ihn an. »Und dann, als du mich beschattet hast …« »Hab ich dir Angst gemacht?«, fragte er in einem Ton, als hätte sie einen harmlosen Witz erzählt. »Ja. Wenn du meinst, dass du mich liebst, wieso tust du dann so etwas?« Er lächelte nur, und Ashley wurde bewusst, dass sie die Antwort besser nicht hören wollte. Michael O’Connell warf
den Kopf ein wenig zurück und beugte sich dann zu ihr vor. Er versuchte, über den Tisch hinweg ihre Hand zu ergreifen, doch sie zog beide Hände rasch zurück und legte sie unter dem Tisch auf den Schoß. Sie wollte nicht, dass er sie berührte. Er gab ein schnaubendes Lachen von sich und lehnte sich zurück. »Dann geht es hier wohl nicht um ein nettes romantisches Dinner zu zweit?« »Michael, ich …« »Ich mag es nicht, wenn jemand, den ich liebe, mir nicht die Wahrheit sagt. Das macht mich wütend.« »Ich hab versucht, dir …« »Ich glaube, du verstehst mich nicht ganz, Ashley«, erklärte er ruhig. Ohne die Stimme zu erheben. Ohne jedes Anzeichen, dass sie über etwas Bedeutenderes als das Wetter sprachen. »Meinst du, ich hätte keine Gefühle?« Er sagte das in einem ausdruckslosen, fast nüchternen Ton. Nein, ich glaube nicht, blitzte es ihr durch den Kopf, doch stattdessen sagte sie: »Hör zu, Michael, wieso machst du es uns eigentlich so schwer?« Er lächelte wieder. »Ich finde es gar nicht schwer. Weil es nicht dazu kommen wird. Ich liebe dich, Ashley. Und du liebst mich. Du weißt es nur noch nicht. Aber du begreifst
es schon noch.« »Nein, Michael, das tue ich nicht«, erwiderte sie. Kaum war es ausgesprochen, wusste sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Sie war zu direkt und hatte sich darauf eingelassen, über Liebe zu sprechen, wo es um ganz andere Dinge gehen sollte. »Glaubst du nicht an Liebe auf den ersten Blick?«, fragte er in beinahe scherzendem Ton. »Michael, bitte! Wieso kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?« Er zögerte, und sie sah, wie ein Anflug von einem Lächeln um seine Mundwinkel huschte, und sie überkam der schreckliche Gedanke: Er genießt die Situation … »Wie’s aussieht, werde ich dir meine Liebe wohl beweisen müssen.« Sein Lächeln ging fast in ein Grinsen über. »Du musst mir gar nichts beweisen …« Er klang selbstgefällig. »Du irrst dich. Du liegst vollkommen schief, wirklich. Ich könnte auch sagen, mir ist todernst bei der Sache, aber ich möchte keinen falschen Eindruck erwecken.« Ashley schnappte nach Luft, als sie erkannte, dass nichts so laufen würde wie gehofft. Sie hob die rechte Hand ans
Haar und strich es sich zweimal aus dem Gesicht. Dies war das Zeichen für ihren Vater, einzuschreiten. Aus dem Augenwinkel heraus sah sie, wie er blitzschnell von seinem Hocker sprang und mit drei großen Schritten bei ihnen war. Wie geplant stand er am Tisch und hinderte O’Connell daran, aufzustehen. »Ich glaube, Sie hören nicht richtig zu.« Scott sprach ruhig, doch mit einem kalten Nachdruck, der bei widerspenstigen Studenten seine Wirkung nicht verfehlte. O’Connell wandte den Blick nicht von Ashley. »Du hast also gedacht, du brauchst Hilfe?«, fragte er. Sie nickte. Langsam drehte er sich auf seinem Sitz um und musterte Scott von oben bis unten. »Hallo, Professor, wollen Sie sich nicht setzen?«
Hope beobachtete schweigend, wie Sally das Kreuzworträtsel der New York Times löste, das von der letzten Sonntagsausgabe übriggeblieben war. Sie arbeitete nie mit dem Bleistift, sondern tippte sich mit dem Kuli an die Schneidezähne, bevor sie Buchstaben in die Kästchen einsetzte und eins nach dem anderen füllte. Das
Schweigen, das Hope schon seit einer ganzen Weile zwischen ihnen registrierte, häufte sich in letzter Zeit. Sie sah zu Sally hinüber und fragte sich, was sie so unglücklich machte, doch dann wurde ihr bewusst, dass ihr die Antwort vielleicht nicht gefallen würde. Stattdessen sprach sie etwas anderes an. »Sally, meinst du nicht, wir sollten über diesen Kerl reden, den Ashley sich aufgehalst hat?« Sally sah auf, als sie Hopes Frage hörte. Sie hatte gerade den Stift auf sieben waagrecht, Wort mit vier Buchstaben, angesetzt – das Stichwort lautete »mörderischer Clown«, und die Lösung Gacy. Sie überlegte. »Ich weiß nicht, was es da zu reden gibt. Scott und Ashley müssten das gemeinsam eigentlich schaffen. Ich hoffe, dass er irgendwann heute Abend anruft und uns Bescheid gibt, dass alles geregelt ist. Finito. Aus und vorbei. Das Leben kann weitergehen. Nur dass wir unsere fünf Riesen los sind.« »Hast du keine Angst, dass der Kerl schlimmer sein könnte, als wir denken?« Sally zuckte die Achseln. »Er scheint ein Widerling zu sein, sicher. Aber Scott kennt sich mit College-Studenten gut aus, also nehme ich an, dass er jeden Moment aus Ashleys Leben verschwinden wird.«
Hope formulierte ihre nächste Frage mit Bedacht. »Lassen sich deiner beruflichen Erfahrung nach Menschen in Scheidungsfällen oder häuslichen Streitigkeiten so leicht kaufen?« Sie wusste, dass die Antwort Nein lautete. Mehr als einmal hatte Sally beim Abendessen oder auch noch später im Bett ihrer Frustration über die Uneinsichtigkeit von Klienten und ihren Familien Luft gemacht. »Na ja«, antwortete Sally mit einer Seelenruhe, die Hope auf die Palme brachte. »Ich denke, wir sollten erst mal abwarten. Es hat keinen Sinn, schwarzzusehen.« Hope schüttelte den Kopf. »Das ist das Dümmste, was mir seit langem zu Ohren gekommen ist«, erklärte sie mit leicht erhobener Stimme. »Wir wissen nicht, ob ein Gewitter über uns hereinbricht, wieso also Kerzen, Batterien und Nahrungsvorräte kaufen? Wir wissen nicht, ob wir die Grippe bekommen, wozu sich also impfen lassen?« Sally legte ihr Kreuzworträtsel weg. »Meinetwegen«, gab sie nach, jetzt ebenfalls irritiert. »Was für Batterien würdest du denn kaufen? Und an welche Impfung hast du gedacht?« Hope sah ihre langjährige Lebensgefährtin an und musste unwillkürlich denken, wie wenig sie im Grunde über Sally und sich selbst wusste. Sie lebten in einer Welt, in der das
Wort »normal« ein wenig anders definiert war, und Hope hatte zuweilen das Gefühl, auf einem Pulverfass zu sitzen. »Ich kann die Frage nicht beantworten«, sagte sie langsam, »das weißt du genau. Ich finde aber, wir sollten etwas tun, statt uns auf Scotts Anruf zu versteifen und zu hoffen, dass er Entwarnung gibt. Ich glaube keine Sekunde daran, dass wir einen solchen Anruf bekommen. Oder auch verdient haben.« »Verdient haben?« »Denk darüber nach, während du dein Kreuzworträtsel zu Ende bringst. Ich lese noch ein bisschen.« Bei dem Gedanken, dass Sally sich mit weitaus wichtigeren Rätseln befassen sollte, holte sie tief Luft. Sally nickte und wandte sich wieder der Rätselseite zu. Sie wollte etwas zu Hope sagen, etwas Beruhigendes, etwas Liebevolles, etwas, das die Spannung zwischen ihnen zerstreuen würde, doch stattdessen starrte sie auf das Kreuzworträtsel. Drei senkrecht: »Was die göttliche Muse sang«, und ihr fiel ein, dass Homers Ilias mit den Worten beginnt, »Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus …« Es gab vier leere Kästchen, und der letzte Buchstabe war ein N, folglich war es nicht mehr allzu schwer, auf ZORN zu kommen.
Scott rutschte auf die Bank, so dass er wie geplant Michael O’Connell in die Ecke drängte. Es war eng. In diesem Moment erschien die Kellnerin mit den Speisekarten an ihrem Tisch. »Bringen Sie mir ein Bier«, sagte O’Connell. Dann wandte er sich an Scott. »Ich geh davon aus, dass Sie die Runde schmeißen.« Es herrschte einen Moment Schweigen, und O’Connell drehte sich zu Ashley. »Du steckst heute voller Überraschungen, Ashley. Findest du nicht, dass dies eine Angelegenheit zwischen dir und mir ist?« »Ich hab versucht, es dir klarzumachen«, antwortete sie, »aber du wolltest nicht auf mich hören.« »Also bist du darauf verfallen, deinen Vater mitzubringen …« Er drehte sich halb zur Seite und starrte Scott an. »… Nun ja, ich weiß nicht. Was genau soll er denn tun?« Auch wenn die Frage an Ashley gerichtet war, übernahm Scott die Entgegnung. »Ich will Ihnen nur helfen zu verstehen, dass es wirklich vorbei ist, wenn sie sagt, dass es vorbei ist.«
Wieder nahm sich Michael O’Connell viel Zeit, Scott zu taxieren. »Weder die geballte Faust noch freundliche Überredung. Also, Professor, was soll das hier werden?« »Ich denke, es wird höchste Zeit, dass Sie Ashley in Ruhe lassen. Sie führen Ihr Leben, Ashley ihres. Sie ist beschäftigt. Sie arbeitet. Sie studiert. Hat gar nicht die Zeit für eine feste Beziehung. Schon gar nicht eine, wie sie Ihnen vorzuschweben scheint. Ich bin hier, alles zu tun, was in meiner Macht steht, um Ihnen das begreiflich zu machen.« O’Connell schien durch Scott nicht im Mindesten aus der Fassung gebracht zu sein. »Wie kommen Sie darauf, das ginge Sie etwas an?« »Wenn Sie sich weigern, auf Ashley zu hören, geht es mich etwas an.« O’Connell lächelte. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht.« Die Kellnerin brachte O’Connell sein Bier, und er trank das halbe Glas in einem Zug leer. Er grinste erneut. »Was haben Sie denn im Köcher, Professor, das mich davon abbringen soll, Ashley zu lieben? Woher wollen Sie wissen, dass wir nicht wie füreinander bestimmt sind? Was wissen Sie schon von mir? Ich will’s Ihnen sagen: nichts. Vielleicht sehe ich nicht so aus, wie Sie es sich für sie gewünscht
hätten, und vielleicht bin ich nicht der Yuppie mit HarvardBWL-Abschluss und BMW, auf den Sie hoffen, aber ich verstehe mich auf eine Menge Dinge, und sie hätte es um einiges schlechter treffen können. Dass ich vielleicht nicht in Ihre Vorstellung passe, besagt gar nichts.« Scott wusste nicht recht, was er antworten sollte. O’Connell hatte dem Gespräch eine unerwartete Wendung gegeben. »Ich will Sie gar nicht kennenlernen«, erklärte Scott. »Ich will nur, dass Sie Ashley in Ruhe lassen. Und ich bin bereit, das Nötige zu tun, damit Sie das begreifen.« O’Connell schwieg einen Moment, bevor er reagierte. »Da hege ich meine Zweifel. Das Nötige? Ich glaube nicht, dass Sie das so meinen, wie Sie es sagen.« »Nennen Sie einen Preis«, sagte Scott kalt. »Einen Preis?« »Sie haben mich sehr wohl verstanden«, bekräftigte Scott. »Nennen Sie einen Preis.« »Ich soll ein Preisschild an meine Gefühle zu Ashley heften?« »Kommen Sie mir nicht dumm«, fuhr Scott ihn an. O’Connells Grinsen und die Leichtigkeit, mit der er die
Unterhaltung meisterte, waren mehr als irritierend. »Das könnte ich nie im Leben«, erklärte Michael. »Und ich will Ihr Geld nicht.« Scott griff in seine Tasche und zog den weißen Umschlag mit den fünftausend Dollar heraus. »Was machen Sie da?«, fragte O’Connell. »Das sind fünf Riesen. Nur dafür, dass Sie Ashley und mir Ihr Wort geben, sich ab jetzt aus ihrem Leben rauszuhalten.« »Sie wollen mich bezahlen?« »Das sehen Sie richtig.« »Habe ich Sie etwa um Geld gebeten?« »Nein.« »Dieses Geld hat also nichts mit irgendwelchen Forderungen meinerseits zu tun, richtig?« »Nein. Ich will dafür nur Ihr Wort.« O’Connell wandte sich an Ashley. »Ich hab dich nie um Geld gebeten, stimmt’s?« »Nein, hast du nicht.«
O’Connell nahm das Geld in die Hand. »Wenn ich es nehmen würde, dann wäre es ein Geschenk, nicht wahr?« »Als Gegenleistung für ein Versprechen.« Er lächelte. »In Ordnung. Ich will das Geld nicht. Aber ich gebe dir das Versprechen. Ich verspreche es.« O’Connell umfasste das Geld weiterhin. »Dass Sie sie in Ruhe lassen? Aus ihrem Leben verschwinden? Sie nie wieder belästigen?« »Darum geht es Ihnen, nicht wahr?« »Ja.« O’Connell überlegte. »Und allen wäre gedient, wie?« »Ja.« »Nur mir nicht.« Er sah Ashley über den Tisch hinweg mit einem so durchdringenden Blick an, dass ihr die Worte fehlten und sie erstarrte. Sein nonchalantes Lächeln, das zu der Härte in seinen Augen nicht passte, machte die Sache nur schlimmer. Es war das Kälteste, was Ashley je gesehen hatte. »War Ihnen das die Fahrt hierher wert, Professor?«
Scott antwortete nicht. Er rechnete halb damit, dass O’Connell das Geld auf den Tisch oder ihm ins Gesicht werfen würde, und er spannte die Muskeln an, um seine Gefühle im Zaum zu halten. Doch statt einer dramatischen Geste drehte sich O’Connell noch einmal zu Ashley um und starrte sie an. Er bohrte seinen Blick mit einer Intensität in sein Gegenüber, dass Ashley sich unwillkürlich darunter wand. »Weißt du, was die Beatles zu Zeiten deines Vaters gesungen haben?« Sie schüttelte den Kopf. »I don’t care for money, money can’t buy you love …« Ohne die Augen von Ashley zu lassen, verwirrte O’Connell sie beide, indem er den Umschlag in die eigene Tasche steckte. Immer noch Ashley fixierend, sagte er: »Na schön, Professor, wird Zeit, dass Sie mich rauslassen. Ich glaube, ich bleibe doch nicht zum Essen. Aber danke für das Bier.« Scott stand auf und trat an die Tischkante, während O’Connell erstaunlich flink aus seiner Ecke rutschte und aufstand. Eine Sekunde blieb er stehen und starrte weiterhin Ashley an. Dann drehte er sich abrupt um und lief quer durchs Restaurant zum Ausgang, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Sie schwiegen fast eine ganze Minute lang. »Was da eben passiert ist …«, begann Ashley. Scott erwiderte nichts. Er war nicht sicher, wie er die Situation einschätzen sollte. Die Kellnerin kam wieder an ihren Tisch und fragte: »Also nur zwei zum Essen?«, während sie ihnen die Karte reichte.
Vor Ashleys Haus schien sich die Nacht selbst mit Schatten zu übermalen, und das verstreute Licht der Straßenlaternen hatte der wachsenden herbstlichen Dunkelheit wenig entgegenzusetzen. Scott fand keinen Parkplatz, und so hielt er vor einem Hydranten. Er ließ den Motor laufen und drehte sich zu seiner Tochter um. »Vielleicht solltest du für ein paar Tage zu uns rauskommen. Nur so lange, bis wir sicher sind, dass der Kerl Wort hält. Bleib ein paar Tage bei mir und dann eine Weile bei deiner Mutter. Ein bisschen Zeit und ein bisschen Abstand können nur zu deinem Vorteil sein.« »Eigentlich sollte nicht ich diejenige sein, die wegläuft und sich versteckt«, sagte Ashley. »Ich habe Seminare, ich habe einen Job …« »Ich weiß, aber ein bisschen Vorsicht kann nicht schaden.« »Ich hasse das. Ich hasse das einfach.«
»Ich weiß. Schätzchen, aber mir fällt nichts Besseres ein.« Ashley seufzte, dann drehte sie sich mit einem Lächeln zu ihrem Vater um. »Er hat mir nur einen ordentlichen Schrecken eingejagt. Das wird schon wieder. Wenn’s hart auf hart kommt, kneifen Typen wie der. Mag sein, dass er sich ein bisschen großspurig aufgeplustert hat, als er das Geld nahm, aber im Grunde haben wir ihn doch ganz schön kalt abserviert, meinst du nicht? Er wird mich wüst beschimpfen, wenn er mit seinen Kumpeln einen hebt, und dann geht er zur Tagesordnung über. Mir gefällt das alles nicht, und du bist einiges Geld los …« »Das Übelste«, überlegte Scott, »war, dass er sagt, er will es nicht, und es dann doch einsackt. Es war fast so, als würde er das Ganze aufzeichnen – das eine sagen und etwas anderes machen. Unheimlich, der Bursche.« »Na ja, hoffen wir, dass alles vorbei ist.« »Kannst du laut sagen. Also, lass uns Folgendes machen: Das leiseste Anzeichen von ihm, und ich meine wirklich das leiseste, und du meldest dich zu Hause. Sorge dafür, dass deine Mom sich darum kümmert oder Hope oder ich, und zwar sofort. Jederzeit, bei Tag und bei Nacht, in Ordnung? Sobald du auch nur den vagen Verdacht hegst, dass er dich verfolgt, rufst du an; wenn er dich belästigt oder auch nur beobachtet, greif zum Telefon. Selbst, wenn
du nur ein komisches Gefühl hast, meldest du dich, ja?« »Mach ich. Dad, mir ist Michael auch unheimlich. Ich habe nicht vor, die Heldin zu spielen. Ich will nur wieder ein normales Leben führen wie bisher, selbst wenn es vielleicht nicht eben spektakulär war …« Sie seufzte wieder, löste ihren Gurt, schnappte sich die Handtasche und holte ihre Wohnungsschlüssel heraus. »Soll ich dich bis nach oben bringen?«. »Nein. Aber wenn es dir nichts ausmacht, wär’s nett, wenn du hier warten würdest, bis ich in der Wohnung bin.« »Hör mal, Schatz, das macht mir gar nichts aus. Ich möchte nur, dass du glücklich bist. Und ich würde diese ganze Sache und diesen Michael O’Connell gerne sehr schnell vergessen. Ich wünsche mir, dass du deinen Magister oder deinen Doktor in Kunstgeschichte machst und ein wunderschönes Leben führst. Das möchte ich, und deine Mutter möchte das auch. Und so wird es auch sein, glaube mir. Und früher oder später wirst du den Richtigen kennenlernen, und die ganze Geschichte hier wird nur ein kleiner Schönheitsfehler sein, an den du dich kaum noch erinnerst. Du wirst gar nicht mehr daran denken.« »Ein Alptraum von einem Schönheitsfehler.« Sie beugte sich zu ihm vor und küsste ihn auf die Wange. »Danke, Dad«, sagte sie. »Und danke fürs Fahren und für die Hilfe
und einfach, weiß nicht, dafür, dass es dich gibt.« Er fühlte sich wie im Himmel, schüttelte aber den Kopf. »Du bist was Besonderes«, gab er zurück. Ashley stieg aus, und Scott winkte ihr noch einmal zu. »Jetzt schlaf dich erst mal aus und ruf uns morgen an, nur damit wir in Verbindung bleiben.« Sie nickte. Ein letzter Gedanke, der sich in seinem Hinterkopf eingenistet hatte, machte ihm zu schaffen, und bevor er es verhindern konnte, rutschte ihm heraus: »Hör mal, Ashley, eins ist mir unklar.« Sie wollte gerade die Wagentür schließen, steckte aber noch einmal den Kopf herein. »Hattest du O’Connell irgendetwas über mich erzählt? Oder über deine Mutter?« »Nein …«, antwortete sie zögerlich. »Ich meine, bei diesem ersten und einzigen schlimmen Date, hast du da überhaupt etwas von uns erzählt?« Sie schüttelte den Kopf. »Wieso fragst du?« Er lächelte. »Nur so. Einfach nur so. Sieh zu, dass du reinkommst. Ruf morgen an.«
Ashley lächelte, strich sich die Haare aus dem Gesicht und nickte. Scott grinste und erklärte: »Um diese Zeit bin ich in ein paar Minuten zu Hause. Ich hoffe, die gesamte State Police hat heute Nacht frei.« »Werde bitte nie erwachsen, Dad, sonst wäre ich sehr enttäuscht«, lachte Ashley. Dann machte sie die Tür zu und eilte mit wenigen Sätzen die Eingangstreppe hoch. Sie brauchte nicht mehr als ein, zwei Sekunden, um die Haustür aufzuschließen und die zweite Tür hinter dem Windfang zu öffnen. Beim Eintreten winkte sie Scott noch einmal zu, der wartete, bis er sie nach oben gehen sah, bevor er den Gang einlegte und aus der Lücke vor dem Hydranten fuhr, während er sich genau in dieser Sekunde fragte, woher O’Connell wusste, dass er Professor war.
»Sie fühlten sich also sicher?« »Ja, einigermaßen. Nicht im Sinne eines Hochgefühls – die Kugel hat uns knapp verfehlt –, aber für den Augenblick außer Gefahr. Trotzdem blieben natürlich Zweifel und Bedenken. Eine Art Restrisiko. Aber im Prinzip fühlten sie
sich sicher.« »Obwohl sie wenig Grund dazu hatten?« »Würde ich Ihnen das alles sonst erzählen? Fünftausend Dollar und War nett mit dir, man sieht sich?« »Natürlich nicht.« »Wie gesagt, das ist eine Geschichte auf Leben und Tod.« Als ich nichts erwiderte, sah sie auf und blickte aus dem Fenster, so dass ihr Profil in Licht getaucht war. »Fragen Sie sich nicht auch«, begann sie langsam, »wie schnell einem das Leben auf den Kopf gestellt werden kann? Ich meine, was schützt uns eigentlich? Der religiöse Fundamentalist würde wahrscheinlich sagen, der Glaube. Der Akademiker würde sagen, Wissen. Der Arzt entscheidet sich vielleicht für Sachkenntnis und Erfahrung. Der Polizist möglicherweise für eine Neun-MillimeterAutomatik. Der Politiker verlässt sich auf das Gesetz. Aber mal ehrlich, was schützt uns wirklich?« »Darauf erwarten Sie doch wohl keine Antwort von mir?« Sie warf den Kopf zurück und lachte laut. »Nein«, sagte sie. »Keineswegs. Jedenfalls jetzt noch nicht. Ashley natürlich genauso wenig.«
15 Drei Beschwerden
Im Lauf der folgenden Tage bedrückte jeden von ihnen ein dumpfes Unbehagen, fast, als hinge eine dunkelgraue Wolke über ihrem Leben. Als Scott das Treffen mit Michael O’Connell noch einmal Revue passieren ließ, erschien es ihm einmal seltsam unkonkret verlaufen zu sein, dann wieder erstaunlich klar. Er erklärte Ashley, er wolle jeden Tag einmal kurz von ihr hören, nur um zu wissen, dass alles in Ordnung sei, und so machten sie es sich zur Gewohnheit, am frühen Abend zu telefonieren. Bei allem Unabhängigkeitsdrang hatte Ashley nicht widersprochen. Scott wusste nicht, dass Sally dieselbe Regelung mit ihr getroffen hatte. Sally ihrerseits stellte überraschend fest, dass in ihrem Leben nichts mehr wirklich in Ordnung war. Es kam ihr ein bisschen so vor, als hätten sich sämtliche Verankerungen gelockert, bis auf Ashley, und selbst die gab ihr wenig Halt. Die täglichen Anrufe bei ihrer Tochter dienten Sally, wie sie bald begriff, ebenso sehr dazu, selbst wieder Boden unter den Füßen zu bekommen wie sich zu versichern, dass bei Ashley alles in Ordnung war. Schließlich, so sagte sie sich,
gehörte die Episode mit O’Connell einfach zu den Unannehmlichkeiten, mit denen alle jungen Leute früher oder später einmal konfrontiert sein können. Was Sally sehr viel mehr beunruhigte, war ihre wenig effiziente Arbeit in der Kanzlei und die wachsende Spannung zwischen ihr und Hope. Eindeutig stimmte etwas nicht zwischen ihnen, doch es gelang ihr nicht, in Ruhe darüber nachzudenken. Stattdessen stürzte sie sich in ihre diversen Fälle, verzettelte sich aber dabei, verrannte sich bei einem Fall in Details, während sie bei einem anderen große, dringende Probleme ignorierte. Hope hangelte sich einfach von einem Tag zum anderen und fragte sich, was eigentlich mit ihnen passierte. Sally hielt sie nicht auf dem Laufenden, Scott konnte sie nicht anrufen, und zum ersten Mal in all den Jahren, die sie mit Sally zusammen war, hatte sie das Gefühl, es sei unangebracht, ihrerseits Ashley anzurufen. Sie stürzte sich in dieser wichtigen Phase vor den Entscheidungsspielen in die Arbeit mit der Mannschaft sowie in ihre psychologische Beratungstätigkeit bei den unteren Semestern. Sie fühlte sich, als liefe sie barfuß über einen Scherbenhaufen. Als Hope eine dringende Nachricht vom Dekan erhielt, war sie überrascht. Wie er sie zu sich zitierte, hätte kaum knapper formuliert werden können: Kommen Sie um Punkt vierzehn Uhr in mein Büro.
Als Hope den Campus durchquerte, um pünktlich zu ihrem Termin zu erscheinen, huschten ein paar dünne Wolken über den schiefergrauen Himmel. Es lag eine unangenehme vorwinterliche Kälte in der Luft. Das Büro des Dekans befand sich in einem viktorianisch inspirierten weißen Bauwerk mit breiten Massivholztüren und einem brennenden Kamin im Empfangsbereich. Kein Student verirrte sich hierher, es sei denn, er war in ernsten Schwierigkeiten. Sie schob die Tür auf, nickte einigen der Büroangestellten zu und ging die Treppe zum zweiten Stock hinauf. Ihr Vorgesetzter war ein Veteran des Instituts, der immer noch einen Teil des Lateinunterrichts sowie einen Griechischkurs bestritt und die hehre altsprachliche Tradition hochhielt, die immer unpopulärer wurde. »Herr Dekan?«, sagte Hope und streckte den Kopf zur Tür hinein. »Sie wollten mich sprechen?« Während der ganzen Zeit, die sie schon am College tätig war, hatte sie, wenn es hoch kam, vielleicht ein Dutzend Mal wenige Worte mit Stephen Mitchell gewechselt. Sie hatten gemeinsam in ein paar Ausschüssen gesessen, und sie wusste, dass er sich mit Vergnügen ein Meisterschaftsspiel angesehen hatte, bei dem sie Trainerin gewesen war, auch wenn er im Allgemeinen der Fußballmannschaft der Jungen den Vorzug gab. Sie hatte ihn immer humorvoll gefunden, und er hatte sie an einen
brummigen alten Grundschullehrer erinnert, eine Art Mr. Chips, der nicht zu Vorurteilen neigte, was sie an einem Menschen zu schätzen wusste. Wer sie so akzeptieren konnte, wie sie war, dem brachte sie ihre ganze Wertschätzung entgegen. Das gehörte nun einmal dazu, wenn man, wie man es hierzulande nannte, einen ›alternativen Lifestyle‹ pflegte, einen Ausdruck, den Hope hasste, da er ganz und gar unromantisch war. »Ah, Hope, ja, ja, ja, kommen Sie herein.« Dekan Mitchell befleißigte sich der Sprache eines Antiquars, mit einem wunderlichen Sinn für Präzision. Slang oder Kurzformen kamen ihm nicht über die Lippen. Er war dafür berüchtigt, Referate mit Sätzen zu kommentieren wie: Ich verzweifle oft an der intellektuellen Zukunft der menschlichen Spezies. Er deutete auf einen großen Ohrensessel aus rotem Leder, der ihm gegenüber am Schreibtisch stand. Es war ein Sitzmöbel, in dem man versank, so dass Hope sich lächerlich klein vorkam. »Ich habe Ihre Nachricht bekommen«, begann Hope. »Womit kann ich dienen, Stephen?« Dekan Mitchell fuchtelte einen Moment mit den Händen, drehte sich dann zum Fenster um, als koste es ihn Überwindung, etwas zu sagen. Doch lange ließ er sie nicht warten.
»Hope, ich glaube, wir haben ein ernstes Problem.« »Ein Problem?« »Ja. Jemand hat einen schweren Vorwurf gegen Sie erhoben.« »Einen Vorwurf? Was denn?« Der Dekan zögerte, als fühlte er sich schon jetzt von dem, was er zu sagen hatte, zutiefst beleidigt. Er fuhr sich mit der Hand durch das dünne graue Haar und rückte die Brille zurecht, bevor er in einem herzerweichenden Ton, so als hätte er jemandem den Tod eines nahen Angehörigen mitzuteilen, sagte: »Die Beschwerde fällt wohl in die Rubrik sexuelle Belästigung.«
Fast genau zur selben Zeit, als Hope Dekan Mitchell gegenübersaß und die Worte hörte, die sie ihr ganzes Berufsleben hindurch gefürchtet hatte, schloss Scott eine Sprechstunde mit einem Studenten höheren Semesters ab, der sein Seminar »Texte zum amerikanischen Freiheitskrieg« besuchte. Der junge Mann tat sich schwer. »Finden Sie nicht, dass Washingtons Worte sehr mit Bedacht gewählt sind?«, fragte Scott. »Zugleich aber auch seine Entschlossenheit zum Ausdruck bringen?« Der Student nickte. »Es erscheint mir trotzdem zu
abstrakt«, zögerte er, »um daraus seine Motive, die Gunst der Stunde abzuleiten. All das, wofür Washington diesen sicheren Instinkt besessen haben soll.« Scott lächelte. »Wissen Sie was? Es soll heute Abend einen richtigen Temperatursturz geben. Wahrscheinlich unter den Gefrierpunkt. Vielleicht gibt es ein Schneegestöber. Wie wär’s, wenn Sie ein paar von Washingtons Briefen mit nach draußen nehmen würden, um sie beim Licht einer Taschenlampe zu lesen, oder noch besser, einer Kerze? Am besten so um Mitternacht, im Innenhof des Campus. Schauen Sie mal, ob Sie ihnen dann mehr abgewinnen können.« Der Student grinste. »Im Ernst? Draußen im Dunkeln?« »Unbedingt«, erwiderte Scott. »Und fangen Sie sich keine Lungenentzündung ein, Sie dürfen nämlich nur eine einzige Wolldecke mitnehmen, um sich warm zu halten, und Sie müssen Schuhe mit Löchern in den Sohlen tragen, dann können wir unsere Diskussion, sagen wir, Mitte der Woche fortsetzen. Einverstanden?« Auf seinem Schreibtisch klingelte das Telefon, und er nahm ab, als der Student gerade zur Tür hinaus verschwand. »Ja?«, meldete er sich. »Scott Freeman.« »Scott, William Burris von der Yale …« »Hallo, Professor, das ist eine Überraschung …«
Scott saß plötzlich kerzengerade. Wenn man amerikanische Geschichte unterrichtete, war ein Anruf von William Burris so etwas wie eine Stimme aus dem Himmel. Der Mann war Pulitzer-Preisträger, Bestsellerautor, bekleidete eine äußerst großzügig ausgestattete Professur an einer der führenden Universitäten, fungierte gelegentlich auch als Ratgeber von Präsidenten und anderen Staatsoberhäuptern – ein Wissenschaftler von untadeligem Ruf, mit einem Hang zu Savile-Row-Anzügen für zweitausend Dollar das Stück, die er sich maßschneidern ließ, wenn er gerade mal in Oxford, Cambridge oder an sonst einem Institut dozierte, das sich seine sechsstelligen Honorare leisten konnte. »Ja, ist eine Weile her, nicht wahr? Wann haben wir uns das letzte Mal gesehen? Bei irgendeiner SocietyKonferenz, nehme ich an?« Damit war eine der vielen historischen Gesellschaften gemeint, bei denen Scott Mitglied war und die alles daransetzten, Burris auf die Rednerliste zu bekommen. »Ich denke, es ist ein paar Jahre her. Wie geht es Ihnen, Professor?« »Bestens, bestens«, antwortete er. Scott sah ihn vor sich, grauhaarig und imposant, in einem Büro wie seinem eigenen, nur beträchtlich größer, mit einer Sekretärin, die Anrufe von Agenten, Produzenten, Redakteuren, Königen
und Premierministern entgegennahm und Studenten aus dem Vorzimmer scheuchte. »Ja, mir geht’s gut, trotz der äußerst bedrohlichen Aussicht, dass unser Football-Team möglicherweise ein paar Spiele an die Achse des Bösen, von Princeton bis Harvard, verliert, was dieses Jahr tatsächlich passieren könnte.« »Vielleicht reichen die Aufnahmegebühren für einen besseren Quarterback im nächsten Jahr?« »Steht zu hoffen. Aber, ähm, Scott, das ist nicht der Grund meines Anrufs.« »Hatte ich auch nicht angenommen. Was kann ich für Sie tun, Professor?« »Erinnern Sie sich an einen Beitrag, den Sie vor etwa drei Jahren für unser Journal of American History geschrieben haben? Es ging darin um Truppenbewegungen unmittelbar nach den Schlachten von Trenton und Princeton, als Washington so viele maßgebliche, und ich wage zu sagen, vorausschauende Entscheidungen traf?« »Sicher, Professor.« Scott veröffentlichte nicht gerade viel, doch dieser Artikel hatte erheblich zu der Entscheidung seines eigenen Instituts beigetragen, das Programm der Hauptveranstaltungen in amerikanischer Geschichte nicht herunterzufahren. »Das war eine gute Arbeit, Scott«, sagte Burris gedehnt.
»Anschaulich und provokant.« »Danke. Aber ich sehe immer noch nicht …« »Bei der Arbeit an dem Aufsatz, bei der Formulierung Ihrer Thesen, äh, haben Sie da auf Hilfe von anderer Seite zurückgegriffen?« »Ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstanden habe, Professor.« »Der Aufsatz, haben Sie den völlig allein verfasst? Und die Forschungsergebnisse, die stammten auch von Ihnen?« »Ja. Ich hatte ein, zwei studentische Hilfskräfte, fortgeschrittene Semester, die mir mit ein paar Zitaten geholfen haben. Aber ansonsten habe ich ihn allein verfasst, einschließlich der Thesen.« »Es steht eine höchst unglückliche Anschuldigung im Raum, was diesen Aufsatz betrifft.« »Eine Anschuldigung?« »Ja. Der Vorwurf akademischer Unredlichkeit.« »Wie bitte?« »Geistiger Diebstahl, Scott. Tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen.«
»Aber das ist absurd!« »Die Beschwerde, die uns vorliegt, führt ein paar missliche Übereinstimmungen zwischen Ihrer Arbeit und einer Arbeit an, die an einem anderen Institut eingereicht wurde.« Scott holte tief Luft. Ihm wurde augenblicklich schwindelig, und er griff nach der Schreibtischkante, um Halt zu finden. »Von wem kommt dieser Vorwurf?«, fragte er. »Da liegt eben das Problem«, antwortete Burris. »Ich habe sie auf elektronischem Wege erhalten, und sie war anonym.« »Anonym!« »Aber unabhängig von der Urheberschaft können wir sie nicht ignorieren. Schon gar nicht unter den Augen der Öffentlichkeit. Die Presse fällt gerne über Fehltritte im Universitätsbetrieb her. Ist schnell mit Verurteilungen bei der Hand, die zu großen Peinlichkeiten führen und unabsehbaren Schaden anrichten können. Deshalb scheint es mir das Beste zu sein, diese Anschuldigung im Keim zu ersticken. Vorausgesetzt natürlich, Sie können Ihre handschriftlichen Notizen finden und Zeile für Zeile, Kapitel für Kapitel den genauen Wortlaut nach weisen und das Journal davon überzeugen, dass die Anschuldigungen haltlos sind.«
»Natürlich, aber …« Scott begann zu stottern. Er fand keine Worte. »In dieser Zeit grassierender Besserwisserei, in der alles unter die Lupe genommen wird, muss man tugendsamer sein als Lots Weib, so ist das leider heutzutage.« »Ich weiß, aber …«, stammelte Scott erneut. »Ich werde Ihnen sofort per Eilzustellung die Beschuldigung im Wortlaut schicken. Und dann werden wir uns wohl noch einmal unterhalten müssen.« »Ja. Ja, selbstverständlich.« »Ach und, Scott«, fügte der Professor in einem ungerührten, unvermittelt kalten, kraftlosen Ton hinzu, »ich hoffe sehr, dass wir das unter uns klären können. Aber bitte unterschätzen Sie nicht, wie gefährlich das für Sie werden kann. Ich sage Ihnen das als Freund und als Historikerkollege. Ich habe schon vielversprechende Karrieren aus viel geringerem Anlass zusammenbrechen sehen. Viel geringerem Anlass.« Der Nachdruck auf den letzten Worten war überflüssig, doch was er sagte, war nur allzu wahr. Scott nickte. »Freund« war ein Wort, das er selbst nicht in den Mund genommen hätte, denn falls dieser Vorwurf in Akademikerkreisen die Runde machte, dann hatte er die
längste Zeit Freunde gehabt. Sally starrte aus dem Fenster in das schwindende Licht des Spätnachmittags. Sie war in einem seltsamen Zustand, in dem ihr eine Menge Dinge durch den Kopf gingen, ohne dass sie sich auf eines konzentrierte. Es klopfte, und sie wirbelte herum. Eine Kanzleiangestellte stand, einen weißen Briefumschlag in der Hand, verlegen in der Tür. »Sally«, sagte die Assistentin, »das kam gerade per Eilboten für Sie. Vielleicht ist es was Wichtiges …« Sally erwartete keine vorbereitenden Schriftsätze oder andere Dokumente, die so dringlich gewesen wären, doch sie nickte und fragte: »Von wem kommt der?« »Von der bundesstaatlichen Anwaltskammer«, erwiderte die Assistentin. Sally nahm den Umschlag entgegen und betrachtete ihn verwundert von allen Seiten. Sie konnte sich nicht entsinnen, abgesehen von Beitragserhebungen und Einladungen zu irgendwelchen Dinnerpartys oder Vorträgen, zu denen sie nie gegangen war, jemals Post von der Kammer erhalten zu haben. Jedenfalls waren sie nie per Eilzustellung und Einschreiben mit Rückschein gekommen.
Sie riss den Umschlag auf und zog einen einseitigen Brief heraus. Er war an sie gerichtet, unterschrieben vom Vorsitzenden der Anwaltskammer, einem Mann, den sie nur vom Hörensagen kannte, ein prominenter Angehöriger einer führenden Kanzlei in Boston, der in Kreisen der Demokratischen Partei verkehrte sowie regelmäßig in Fernseh-Talkshows auftrat und in den Gesellschaftsnachrichten auftauchte. Er spielte, so viel wusste Sally, in einer ganz anderen Liga als sie. Sie las den kurzen Brief sorgfältig durch. Jede Sekunde, die währenddessen verging, schien den Raum zu verdunkeln.
Sehr geehrte Ms. Freeman-Richards, hiermit setze ich Sie über eine Beschwerde in Kenntnis, die bei der Anwaltskanzlei hinsichtlich Ihres Umgangs mit Klientenkonten in dem laufenden Verfahren Johnson ./. Johnson, verhandelt vor Richter V. Martinson, am Berufungsgericht, Abteilung Familienrecht, eingegangen ist. Dieser Beschwerde zufolge wurden mit diesem Verfahren in Verbindung stehende Gelder auf ein unter Ihrem Namen geführtes Privatkonto transferiert. Ein solcher Vorgang verstößt gegen M. G. L. 302, Absatz 43 und stellt überdies einen schweren Verstoß gegen das Strafrecht gemäß U. S. S., Absatz 11 dar. Wir weisen Sie darauf hin, dass die Anwaltskammer
binnen einer Woche Ihre eidliche Erklärung zur Erhellung der Angelegenheit benötigt und sich andernfalls gezwungen sehen wird, die Sache an die Staatsanwaltschaft von Hampshire County sowie die Bundesstaatsanwaltschaft für den westlichen Verwaltungsdistrikt von Massachusetts für Strafverfolgung weiterzuleiten. Sally hatte das Gefühl, dass ihr jedes Wort des Briefs im Halse steckenblieb, als hätte sie ein Stück Fleisch in die Luftröhre bekommen. »Unmöglich«, rief sie laut. »Absolut scheißunmöglich!« Der Kraftausdruck hallte von den Wänden wider. Sally holte tief Luft und wirbelte zu ihrem Computer herum. Hastig tippte sie die Daten zu dem in dem Schreiben der Anwaltskammer genannten Scheidungsverfahren ein. Johnson gegen Johnson gehörte in jeder Hinsicht zu ihren unkomplizierteren Fällen, auch wenn er unter einer starken Animosität zwischen der Ehefrau, ihrer Klientin, und dem getrennt lebenden Ehemann litt. Der Mann war Augenchirurg in dieser Stadt, Vater der beiden minderjährigen, ehelichen Kinder, ein gewohnheitsmäßiger Betrüger, den Sally dabei erwischt hatte, als er versuchte, gemeinsame Vermögenswerte auf ein Konto auf den Bahamas zu verschieben. Er hatte sich dabei so dumm angestellt, dass er zuerst größere Barbeträge von ihrem gemeinsamen Broker-Konto abgehoben und anschließend Flugtickets mit seiner Visa-Karte bezahlt hatte, um sich die
Meilen gutschreiben zu lassen. Sally hatte einen Gerichtsbeschluss erwirkt, wonach die entsprechenden Vermögenswerte beschlagnahmt und bis zur rechtskräftigen Scheidung auf ein Anderkonto ihrer Klientin transferiert würden. Mit der Scheidung war kurz nach Weihnachten zu rechnen. Nach ihrer Schätzung sollten auf dem Konto etwas über vierhunderttausend Dollar liegen. Das traf aber nicht zu. Sie starrte auf den Monitor und sah, dass es weniger als die Hälfte war. »Das kann nicht sein«, sagte sie laut. So nah an der Panik wie noch nie in ihrem Leben machte sich Sally daran, jede Bewegung auf diesem Konto im Einzelnen durchzugehen. In den letzten Tagen war über eine Viertelmillion Dollar auf elektronischem Wege von diesem Konto abgezweigt und auf fast ein Dutzend andere Konten überwiesen worden. Auf diese anderen Konten hatte sie keinen Zugriff, da sie unter verschiedenen Namen geführt wurden – sowohl von natürlichen Personen als auch von dubiosen Firmen. Mit wachsendem Entsetzen sah sie, dass die letzte Überweisung auf ihr eigenes Girokonto erfolgt war, und zwar exakt in Höhe von fünfzehntausend Dollar, vor kaum vierundzwanzig Stunden. »Das kann nicht sein«, wiederholte sie. »Wie …«
Sie brach den Gedanken abrupt ab, da die Antwort auf diese Frage vermutlich kompliziert war und ihr auf Anhieb keine einfallen würde. Sie wusste in diesem Moment nur, dass sie wahrscheinlich mit den größten Schwierigkeiten zu rechnen hatte.
»Eine Sache begreife ich noch nicht …« »Was denn?«, fragte sie geduldig. »Das Warum für Michael O’Connells Liebe. Ich meine, er redete ständig davon, sie zu lieben, aber gab es in seinem Verhalten irgendetwas in irgendeiner Form, das irgendjemand irgendwie unter Liebe verstehen würde?« »Nicht viel, oder?« »Eben. Es scheint mir, dass sich in seinem Kopf etwas ganz anderes abgespielt hat.« »Da könnten Sie richtig liegen«, antwortete sie, so distanziert und doch so verführerisch wie immer. Sie zögerte und schien, wie so oft, vorsichtig ihre
Gedanken zu ordnen. Ich bekam den Eindruck, dass sie die Geschichte unter ihre Kontrolle bringen wollte, wenn auch auf eine Weise, die ich nicht durchschaute. Das gab mir ein unbehagliches Gefühl, denn ich konnte den Verdacht nicht abschütteln, als würde ich für etwas missbraucht. »Ich glaube«, begann sie langsam, »ich sollte Ihnen den Namen eines Mannes nennen, der Ihnen in dieser Hinsicht weiterhelfen könnte. Er ist Psychologe. Ein Experte für obsessive Liebe.« Wieder schwieg sie einen Moment. »So nennen wir das, auch wenn es in Wirklichkeit herzlich wenig mit Liebe zu tun hat. Liebe assoziieren wir mit Rosen zum Valentinstag oder meinetwegen mit Postkartengrüßen. Schokolade in herzförmigen Packungen, mit Engelsputten oder Amor mit dem Pfeil, Hollywood-Schnulzen. Ich glaube, mit all dem hat es herzlich wenig zu tun. Liebe hängt viel tiefer mit unserer dunklen Seite zusammen, als wir denken.« »Sie klingen zynisch«, erklärte ich, »und gefühllos.« Sie lächelte. »Wahrscheinlich«, stimmte sie zu. »Wenn man jemandem wie Michael O’Connell begegnet, dann wirft das unter Umständen ein anderes Licht auf die Frage, was genau wir unter Glück verstehen. Wie gesagt, ihm haben es ein paar von uns zu verdanken, dass wir die Dinge mit anderen Augen sehen.«
Sie schüttelte den Kopf. Dann griff sie nach einer Schublade am Tisch und zog sie auf. Sie suchte einen Moment lang darin, bevor ein kleiner Block und ein Bleistift zum Vorschein kamen. »Hier«, sagte sie und schrieb einen Namen auf. »Reden Sie mit diesem Mann. Sagen Sie ihm, ich hätte Sie geschickt.« Sie warf den Kopf zurück und lachte, auch wenn mir entging, was so komisch war. »Und sagen Sie ihm, ich würde jeden Interessenskonflikt verneinen und auf die ärztliche Schweigepflicht des Arztes verzichten. Nein, noch besser …« Damit schrieb sie rasch etwas auf den Zettel. »Das erledige ich selbst.«
16 Eine Reihe gordischer Knoten
Ashley hielt wie nun schon seit zwei Wochen aus Vorsicht Abstand vom Fenster. Sie hatte keine Ahnung, was gerade mit den drei Menschen passierte, die ihre Familie ausmachten, und
konzentrierte sich ganz auf das fortwährende Gefühl, beobachtet zu werden. Das Problem war nur, dass sie jedes Mal, wenn dieses Gefühl sie vollkommen zu überwältigen drohte, nicht den geringsten konkreten Anhaltspunkt dafür finden konnte. Jedes Mal, wenn sie sich auf dem Weg zu einem Seminar oder zu ihrer Arbeit im Museum schnell und unerwartet umdrehte, stieß sie nur auf die irritierten Gesichter der Fußgänger hinter ihr. Sie hatte sich angewöhnt, erst in die U-Bahn zu springen, kurz bevor sich die Türen schlossen, und danach sämtliche Fahrgäste ins Visier zu nehmen, als könnte die alte Dame, die den Herald las, oder der Arbeiter mit der zerbeulten Red-SoxKappe O’Connell in irgendeiner raffinierten Verkleidung sein. Zu Hause schlich sie in die Ecke neben dem Fenster und nahm in beide Richtungen die Straße in Augenschein. Sie horchte an ihrer Tür, ob es irgendwelche verdächtigen Geräusche gab, bevor sie die Wohnung verließ. Draußen wechselte sie die Route, selbst wenn sie nur in den Lebensmittelladen oder die Apotheke ging. Sie kaufte sich ein Telefon mit Anruferkennung und installierte dasselbe Dienstmerkmal auf ihrem Handy. Sie sprach mit ihren Nachbarn und fragte sie, ob einem von ihnen etwas Außergewöhnliches aufgefallen sei, besonders, ob sie einen Mann im Eingang, an der Straßenecke oder weiter hinten gesehen hätten, auf den die Beschreibung von Michael O’Connell passte. Keiner von ihnen konnte helfen, denn keiner von ihnen hatte jemanden gesehen, der sich verdächtig benahm.
Doch je mehr sie sich einredete, Michael O’Connell sei nicht mehr in ihrer Nähe, desto dichter schien er heranzurücken. Sie konnte nie laut und deutlich sagen: »Das war er …«, doch es gab Dutzende kleiner Dinge, verräterische Anzeichen dafür, dass er weder aus ihrem Leben verschwunden war noch Abstand von ihr hielt. Eines Tages kam sie nach Hause und stellte fest, dass jemand ein großes X in den Lack ihrer Wohnungstür geritzt hatte, vermutlich mit einem simplen Taschenmesser oder auch nur einem Schlüssel, der gerade zur Hand war. Ein anderes Mal hatte jemand ihren Briefkasten geöffnet und ihr Häuflein Rechnungen, Werbezettel, Kreditkartenofferten und Kataloge auf dem Boden des Flurs verstreut. Im Museum stellte sie wiederholt fest, dass jemand die Sachen auf ihrem Schreibtisch anders angeordnet hatte. Hatte das Telefon gestern noch rechts gestanden, befand es sich am nächsten Tag links. Einmal kam sie herein und fand die oberste Schublade verschlossen, was ganz gegen ihre Gewohnheit war, da sie nichts von Wert aufbewahrte. Sowohl bei der Arbeit als auch zu Hause klingelte des Öfteren ihr Telefon ein, zwei Mal hintereinander, doch wenn sie abnahm, war nur das Freizeichen zu hören. Und wenn sie die Anruferkennung überprüfte, erschien nur der Vermerk »Anschluss ohne Nummernangabe« oder aber eine Telefonnummer, die sie nicht kannte. Sie versuchte mehrfach, zurückzurufen, bekam jedoch jedes Mal nur das Besetztzeichen oder eine elektronische Störung.
Sie war unschlüssig, was sie tun sollte. Ein paar dieser Dinge versuchte sie, Sally oder Scott zu beschreiben, mit denen sie immer noch täglich telefonierte, aber nicht alle, denn einige schienen einfach zu bizarr, um sie auch nur zu erwähnen. Andere mochten zu den üblichen Alltagspannen zählen – so zum Beispiel, dass die Professorin, bei der sie ein Oberseminar besuchte, keinen elektronischen Zugriff auf ihr Zwischenprüfungszeugnis bekam und der Computerservice an ihrem College nicht sagen konnte, wieso eine Reihe ihrer Dateien geblockt waren. Es kostete einige Mühe, diese Probleme zu beheben. Wenn Ashley allein in ihrer Wohnung auf ihrem Schreibtischsessel wippte und zusah, wie draußen die Nacht hereinbrach, dachte sie, dass O’Connell alles und nichts war und sie nicht weiterwusste. Mit der Unsicherheit stellte sich Frustration ein und mit der Frustration die kalte Wut. Schließlich hatte er sein Wort gegeben. Sie redete sich das immer wieder ein, auch wenn sie ihm eigentlich nicht glaubte. Und je mehr sie darüber nachdachte, desto größer wurde ihre Hilflosigkeit.
Scott verbrachte eine schlaflose Nacht damit, auf die Unterlagen zu warten, die Professor Burris ihm von Yale per Eilpost schicken wollte. In einer akademischen
Laufbahn gibt es nur wenige Dinge, die gefährlicher sind, als des Plagiats bezichtigt zu werden, und Scott wusste, dass er schnell und effizient handeln musste. Als Erstes hatte er zu Hause in seinem Keller den Karton gefunden, in dem er seine Notizen zum Aufsatz im Journal of American History aufbewahrte. Anschließend hatte er den beiden Studenten, die ihm vor drei Jahren mit den Zitaten und mit Recherchen geholfen hatten, je eine E-Mail geschrieben. Er hatte Glück, dass er von beiden noch Kontaktadressen hatte. Er teilte ihnen nicht direkt mit, wessen er beschuldigt wurde, sondern schrieb ihnen nur, ein Kollege habe ihm zu der von ihm verfassten Arbeit einige Fragen gestellt und er würde möglicherweise auf ihre Erinnerungen zurückgreifen müsse. Es ging ihm nur darum, sie schon einmal vorzuwarnen, während er auf das Schreiben mit den Unterlagen wartete. Im Moment konnte er nicht mehr tun. Er saß an seinem Schreibtisch im College, als der Eilbote mit einem großen Brief für ihn kam. Er bescheinigte hastig den Empfang und war schon dabei, den Umschlag aufzureißen, als das Telefon klingelte. »Professor Freeman?« »Am Apparat. Wer spricht da?« »Ted Morris, von der College-Zeitung.«
Scott überlegte einen Moment, bevor er antwortete: »Nehmen Sie an einem meiner Seminare teil, Mr. Morris?« »Nein, Sir.« »Ich bin ziemlich beschäftigt«, erklärte Scott. »Aber wie kann ich Ihnen helfen?« Er spürte das Zögern am anderen Ende der Leitung, bevor der Student sich wieder zu Wort meldete. »Wir haben einen Hinweis bekommen, eine Anschuldigung, genauer gesagt, und ich gehe der Sache nach.« »Einen Hinweis?« »Ja.« »Ich glaube, ich verstehe Sie nicht ganz«, was glatt gelogen war, da er sehr wohl wusste, worum es ging. »Uns liegt die Behauptung vor, Professor, Sie seien in eine, nun ja, ich weiß nicht, wie ich es nennen soll, eine Angelegenheit akademischer Integrität verwickelt.« Ted Morris wählte seine Worte mit Sorgfalt. »Wer hat Ihnen das gesagt?« »Ähm, ist das von Belang, Sir?«
»Möglicherweise ja.« »Offenbar kommt der Vorwurf von einem verstimmten Absolventen an einer Universität im Süden. Mehr kann ich im Moment nicht sagen.« »Ich kann mich beim besten Willen nicht entsinnen, Examensabsolventen unten im Süden zu kennen«, versetzte Scott mit gespielter Nonchalance. »›Verstimmt‹ trifft allerdings bedauerlicherweise im Lauf einer akademischen Laufbahn auf so ziemlich jeden Absolventen zu. Liegt irgendwie in der Natur der Sache, meinen Sie nicht, Ted?« Er ließ die Anrede »Mister« fallen, um die hierarchische Distanz zu unterstreichen. Er besaß Autorität und Macht, zumindest sollte Ted Morris von der Uni-Zeitung das glauben. Ted Morris legte zwar eine Pause ein, war zu Scotts Ärger jedoch nicht so leicht einzuschüchtern. »Hier geht es allerdings um eine höchst einfache Frage. Werden Sie beschuldigt …« »Niemand beschuldigt mich irgendeiner Sache. Jedenfalls nicht, dass ich wüsste«, warf Scott hastig ein. »Nichts, was über die reine Routine in akademischen Kreisen hinausgeht …« »Ich verstehe, Professor. Routine. Trotzdem meine ich,
dass ich persönlich mit Ihnen sprechen sollte.« »Ich bin sehr beschäftigt. Aber am Freitag habe ich meine Sprechstunde. Kommen Sie doch dann vorbei …« Auf diese Weise würde er ein paar Tage Zeit gewinnen. »Wir sind mit dem Redaktionsschluss ein bisschen unter Druck, Professor Freeman …« »Da kann ich Ihnen nicht helfen. Ich hab immer wieder festgestellt, dass sich Ungenauigkeiten oder, schlimmer noch, Irrtümer einschleichen, wenn man die Dinge übereilt.« Das war ein Bluff, doch er musste sich den Studenten am Telefon ein wenig vom Hals halten. »In Ordnung, Freitag. Ach, Professor Freeman, nur noch eins.« »Was denn, Ted?«, fragte er so herablassend wie möglich zurück. »Sie sollten wissen, dass ich zugleich freier Mitarbeiter beim Globe und bei der Times bin.« Scott schluckte. »Nun denn«, sagte er in einem Ton, als sei er von der Neuigkeit geradezu begeistert. »Umso besser. Es gibt eine Menge guter Geschichten auf diesem
Campus, für die sich diese Blätter interessieren könnten. Dann also bis Freitag.« Scott hoffte, dass er die Sache genügend heruntergespielt hatte, um den Kerl davon abzuhalten, bei dem Lokalressort beider Zeitungen anzurufen und mit ein paar Worten Scotts ganze berufliche Laufbahn implodieren zu lassen. Als er auflegte, wurde ihm bewusst, dass er noch nie in seinem Leben vor der Stimme eines Studenten solche Angst gehabt hatte. Hastig wandte er sich wieder den Unterlagen von Professor Burris zu. Bei jedem Wort, das er las, überkamen ihn Wogen der Angst.
Hope begab sich zur Damentoilette in der Nähe der Zulassungsstelle, vielleicht dem einzigen Ort auf dem Campus, an dem sie eine Weile allein sein konnte. Als sich die Tür hinter ihr schloss, gab sie dem Aufruhr ihrer Gefühle nach und brach in ein ungezügeltes, verzweifeltes Schluchzen aus. In der Beschwerde gegen sie, die in Form einer anonymen E-Mail im Dekanat eingegangen war, wurde behauptet, Hope habe nach einem Training in einem dampfigen Vorraum zwischen den Duschen und dem Umkleideraum der Mädchen eine zurückgebliebene Studentin bedrängt. In der E-Mail wurde detailliert beschrieben, wie sie der jungen Frau die Brüste gestreichelt, ihr an den Schritt gegriffen
und der Fünfzehnjährigen dabei etwas über die Vorzüge von Sex mit einer Frau zugeraunt habe. Als sich der Teenager gegen die Avancen zur Wehr gesetzt habe, sei Hope zu Drohungen übergegangen: Sie könne ihre Noten ändern, falls sie sich bei der College-Leitung oder bei ihren Eltern beschwerte. Die E-Mail endete mit dem dringenden Rat an die Schule, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um ein Gerichtsverfahren oder sogar strafrechtliche Schritte zu vermeiden. Das Schreiben bediente sich solcher Begriffe wie Nötigung zum Geschlechtsverkehr mit Minderjährigen sowie Verführung zur Homosexualität, um Hopes Verhalten zu beschreiben. Nicht ein Wort von alledem stimmte. Nicht ein einziger in nahezu pornografischem Detail beschriebener Augenblick hatte tatsächlich stattgefunden. Doch Hope wagte zu bezweifeln, dass ihr das im Mindesten nutzte. Die abstoßende Beschreibung des angeblichen Vorfalls bediente alte Klischees und irrationale Ängste. Sie sprach in ihrer Grobschlächtigkeit das Unterste im Menschen an. Die Tatsache, dass es nie geschehen war, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, wer die junge Frau war, dass sie es sich genau aus diesem Grund zum Prinzip machte, niemals die Umkleidekabine der Sporthalle zu betreten, wenn nicht ein anderes Mitglied des Lehrkörpers zugegen
war, dass sie, wenn irgendetwas an der Schule aufkam, das auch nur entfernt mit Sexualität zu tun hatte, die Integrität einer Nonne an den Tag legte und schließlich ihre Partnerschaft mit Sally niemals zur Schau gestellt hatte – dies alles zählte plötzlich nicht mehr. Auch die Anonymität der Beschwerde hatte nichts zu besagen. Gerüchte und Andeutungen würden sich wie ein Lauffeuer am College verbreiten, und die Leute würden sich in Spekulationen darüber ergehen, wen es getroffen haben könnte, statt darüber nachzudenken, ob es überhaupt geschehen war. An einer Highschool oder einer Privatschule gibt es keinen explosiveren Zündstoff als die Unterstellung widerrechtlichen Sexualverhaltens. Eine vernünftige, behutsame Untersuchung des Vorwurfs würde es nie geben, so viel war Hope klar. Und ihr energisches Leugnen gegenüber dem Dekan würde vermutlich auch wenig nützen. Außerdem machte sie sich darüber Sorgen, welche Auswirkungen die Sache auf das soziale Umfeld haben würde, in dem sie und Sally verkehrten. Andere Frauen, die wie sie in Partnerschaften zusammenlebten, würden sich wahrscheinlich lautstark ihrer Sache annehmen. Sie sah im Geiste schon Kundgebungen und Reden, Zeitungsartikel und Demos am Schultor vor sich, alles angeblich zu ihrer Unterstützung. Viele Frauen wie Hope hassten es, stigmatisiert zu werden, und sie würden sich
solidarisch zeigen wollen und nicht bereit sein, zurückzustecken. Das war unvermeidlich. Und das würde, hegte sie den starken Verdacht, jede Chance im Keim ersticken, sich stillschweigend aus der Affäre zu ziehen. Sie ging zum Waschbecken und spritzte sich immer wieder kaltes Wasser ins Gesicht, als könnte sie das, was sie erwartete, irgendwie herunterspülen. Sie wollte nicht, dass sich jemand ihre Sache auf die Fahnen schrieb, und sie wollte nicht das Vertrauen ihrer Schülerinnen verlieren, das sie in all den Jahren aufgebaut hatte. Sie hatte dem Dekan gesagt: »Nichts von alledem ist vorgefallen. Nichts dergleichen ist jemals vorgefallen. Wie kann ich ohne Namen, Datum, Zeitpunkt und ähnlichen Informationen meine Unschuld beweisen?« Er hatte ihr recht gegeben und zugesagt, die Anschuldigung vorerst nicht öffentlich zu machen, auch wenn er sie wohl oder übel mit dem Institutsleiter würde besprechen müssen, möglicherweise auch mit dem Vorsitzenden des Kuratoriums. Hope wusste, dass Gerüchte unvermeidlich waren. Sie hatte das sagen wollen, sich dann aber auf die Zunge gebissen, weil sie begriff, dass sie daran kaum etwas würde ändern können. Der Dekan legte ihr nahe, sich in der Schule völlig normal zu verhalten, bis ihnen nähere Informationen vorlägen. »Trainieren Sie weiter, Hope«, hatte Dekan Wilson geraten. »Gewinnen Sie die Ligameisterschaft. Behalten
Sie sämtliche Beratungstermine mit den Schülern bei, aber …« An dieser Stelle hatte er gezögert. »Aber was?«, hatte Hope gefragt. »Lassen Sie immer die Tür offen stehen.« Als sie ihre rot geränderten Augen im Spiegel der Damentoilette betrachtete, fühlte sich Hope so verletzlich wie noch nie. Als sie den Zufluchtsort verließ, war ihr klar, dass die Welt, in der sie sich relativ sicher gefühlt hatte, schlagartig zu einem unglaublich gefährlichen Ort geworden war.
Sally versuchte fieberhaft, den Dokumenten, die sie vor Augen hatte, einen Sinn abzugewinnen. Die ganze Zeit hatte sie das Gefühl, dass es im Raum wärmer geworden war; wie bei einem harten Fitnesstraining lief ihr der Schweiß in Strömen herunter. Sie vermutete, dass jemand ihr elektronisches Passwort gestohlen und damit verheerenden Schaden angerichtet hatte. Sie war wütend auf sich, wenn sie daran dachte, dass sie kein schwierigeres Passwort gewählt hatte. Es ging bei dem Fall um eine Scheidung, und so war sie auf »Scheidrecht« verfallen. Sie hatte sich mit den für die Kontensicherheit zuständigen Kundendiensten der diversen Banken in Verbindung gesetzt, die Zahlungen aus
dem vermeintlich unantastbaren Klientenkonto empfangen hatten, und so war es ihr gelungen, den größten Teil der abgezweigten Gelder zurückzuholen oder wenigstens einfrieren zu lassen, so dass niemand Zugriff darauf hatte. Die Banken hatten außerdem zugesagt, bei einem Teil der Summen elektronische Fangstellen einzurichten, mit deren Hilfe jeder, der elektronisch oder persönlich versuchte, etwas davon abzuheben, zurückverfolgt werden konnte. Doch nicht überall war sie erfolgreich. Mehrere Transaktionen hatten eine schwin delerregende Folge von Ein- und Auszahlungen durchlaufen, bis sie am Ende auf einem Konto einer Offshore-Bank ver schwanden, zu dem sie nicht durchdringen konnte. Hier stieß sie bei ihren Anrufen mit ihrer Geschichte vom Datenraub auf weniger verständnisvolle Ohren als gehofft. Ihr spontaner Impuls war, sich einen Anwalt zu nehmen, doch dann rückte sie wieder davon ab, fürs Erste. Stattdessen schöpfte sie das Kreditlimit auf ihr Eigenkapital an ihrem und Hopes Haus aus und beglich damit das Defizit auf dem Klientenkonto, während sie gleichzeitig sich und ihre ahnungslose Lebensgefährtin in beträchtliche Schulden stürzte. Es würde Monate dauern, dachte sie, bis sie so viel verdient hatte, dass der finanzielle Schaden wiedergutgemacht war, doch zumindest war sie, so hoffte sie, zuerst einmal vor Schlimmerem bewahrt. Mit größter Sorgfalt setzte sie den Brief an die
Anwaltskammer auf. Sie beschrieb darin einige der Transaktionen und erklärte, dass sie von einem Dritten vorgenommen worden seien. Sie habe jedoch aus eigenen Mitteln das Klientenkonto wieder aufgefüllt und in Absprache mit der Bank vor jedem weiteren unberechtigten elektronischen Zugriff geschützt. Sie hoffe, mit diesem Brief einem Eingreifen der Staatsanwaltschaft oder einer strafrechtlichen Verfolgung zuvorgekommen zu sein, zumindest bis sie festgestellt habe, wer ihr diesen Schaden zugefügt habe. Sie dachte daran, Auskunft darüber zu verlangen, wer die Beschwerde bei der Anwaltskammer eingereicht hatte, doch sie wusste, dass man ihr nicht verraten würde, in welcher Form diese dort eingegangen war, bis man entschieden hatte, ob die Sache weiterverfolgt werden würde oder nicht. Ergo musste sie wohl eine Zeitlang mit der Ungewissheit leben. Sally hatte sich nie für eine eiskalte Anwältin gehalten. Ihre größte Stärke lag darin, zwischen den gegnerischen Seiten Kompromisse auszuhandeln. Sie hasste den Moment, wenn die Chance, einen Vergleich zu erzielen, nicht mehr gegeben war. Doch als sie sich auf ihrem Schreibtischstuhl herumdrehte und auf den Stapel mit Ausdrucken von Transaktionen starrte, mit denen ihr Tisch übersät war, empfand sie nichts als Verzweiflung. Wer ihr das angetan hatte, der musste sie wahrlich hassen.
Dies warf eine Frage auf, der sie sich nur ungern stellte, denn niemand schafft es, eine rentable Anwaltskanzlei zu führen, noch dazu mit Schwerpunkt auf Scheidungs- und Sorgerechtsfälle sowie auf Kleinkriminalität, ohne sich Feinde zu machen. Die meisten plustern sich nur auf. Wenige gehen darüber hinaus. Aber wer?, fragte sie sich. Es war etliche Monate her, seit ihr jemand wütend gedroht hatte, zumindest auf ernstzunehmende Weise. Bei der Vorstellung, dass da draußen jemand herumlief und seinen Angriff geduldig und sorgfältig plante, biss sie sich auf die Lippen. Sally lehnte sich zurück, drehte sich auf ihrem Stuhl im Kreis und machte sich klar, dass sie Hope erzählen musste, was geschehen war. Sie wusste nicht, wie sie das anstellen sollte. Zwischen ihnen hatte sich so viel Spannung angesammelt, und jetzt standen sie mit einem Schlag unter erheblichem finanziellem Druck. Natürlich kam sie auf den Gedanken, zur Polizei zu gehen, da immerhin ein Diebstahl stattgefunden hatte. Doch wie bei vielen Anwälten ging ihr das gegen den Strich. Und bis sie mehr wusste, bis sie herausbekommen hatte, wer das getan hatte und weshalb, war ihr nicht danach, dass ein polizeilicher Ermittler seine Nase in ihre
Klientenakten steckte. Geh der Sache auf den Grund, sagte sie sich. Bring das selbst in Ordnung. Sally schnappte ihre Aktentasche, stopfte so viele Papiere wie möglich hinein und stand mit einem Ruck auf. Sie war in wenigen Schritten an der Tür und riss im Vorbeigehen den Mantel vom Haken. Außer ihr war niemand mehr im Büro, und so schloss sie ab, bevor sie eilig die Treppe hinunterlief und auf die Straße trat. Einen Augenblick lang brachte sie die kalte Luft durcheinander, und sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn, weil ihr plötzlich schwindelig war. In dieser Sekunde konnte sie sich nicht einmal daran erinnern, wo sie den Wagen geparkt hatte. Alles drehte sich, und sie schnappte wie in einer Panikattacke nach Luft. Sie ballte die Fäuste und fühlte einen schmerzhaften Stich. Ihr Herz raste, die Schläfen pochten, und sie tastete nach einer Mauer in ihrer Nähe, um sich festzuhalten. Sally befahl sich mit aller Macht, den Überblick zu bewahren und systematisch vorzugehen. Ja nicht die Kontrolle verlieren, schärfte sie sich ein. Ihr Wagen stand wie immer im Parkhaus. Sie knöpfte den Mantel zu und zwang sich, normal zu atmen. Sie merkte, wie der Druck in ihrer Brust und in der Magengrube nachließ. Doch kaum waren ihre Körperreaktionen wieder unter Kontrolle, hatte sie plötzlich das Gefühl, nicht mehr
allein zu sein. Sie wirbelte herum, doch der Bürgersteig war abgesehen von den wenigen Studenten, die ein nahe gelegenes Café frequentierten, menschenleer. Der Verkehr auf der Hauptstraße bewegte sich normal. An einem Bus zischten die Druckluftbremsen, als er vor dem alten Theater in die Haltestelle einschwenkte und stehenblieb. Alles war wie immer. Alles ging, stellte Sally fest, seinen gewohnten Gang. So schien es jedenfalls. Sie holte noch einmal tief Luft und schritt in normalem Tempo Richtung Parkhaus. Ein Teil von ihr wollte losrennen, und sie konnte nur knapp ihren Drang beherrschen, in einen Laufschritt zu verfallen, als die abendliche Dunkelheit sich über sie legte. Bald boten nur noch das fahle Licht der Straßenlaternen und die beleuchteten Schaufenster kleine Zufluchtstätten gegen den Einbruch der Nacht.
»Wissen Sie, selbst wenn ich von meiner Schweigepflicht entbunden bin, mit Unterschrift und allem Drum und Dran, so ist mir doch nicht wohl dabei, über Dinge zu sprechen, die mir vertraulich mitgeteilt wurden.«
»Das ist Ihr gutes Recht«, versicherte ich mit falscher Großherzigkeit. »Ich kann Sie voll und ganz verstehen.« Mit diesen Worten versuchte ich, das genaue Gegenteil zu suggerieren. »Tatsächlich?«, fragte er. Der Psychologe war ein verschmitzter kleiner Herr mit graugesträhnten Locken, die ihm richtungslos um den Kragen sprossen, als hingen sie an krausen, widersprüchlichen Ideen unter seiner Kopfhaut. Er trug eine Brille, wodurch er vage an ein Insekt erinnerte, und er hatte eine seltsame Eigenart. Er sprach einen Gedanken aus und wedelte dann mit der Hand in der Luft, um seine Worte zu unterstreichen. »Immerhin«, fuhr er fort, »bin ich nicht so sicher, ob die Wirkung, die Michael O’Connell auf diese Leute hatte, bis heute ganz verstanden wurde.« »Wie meinen Sie das?« Er seufzte. »Ich denke, Sie können sich das zum Beispiel wie einen Autounfall vorstellen, vielleicht von einem betrunkenen Fahrer verursacht. Ein Moment des Verlustes, der Angst, des Konflikts, wie auch immer man das sehen will. Doch die Nachwirkungen bleiben über Jahre, möglicherweise ein Leben lang. Darum geht es bei diesem Fall.«
»Aber …« »Ich weiß einfach nicht, ob ich darüber sprechen kann«, erklärte er abrupt. »Ein paar Dinge, die in dieser Praxis gesagt werden, müssen vertraulich bleiben, auch wenn ich Ihre Absicht, die Geschichte niederzuschreiben, begrüße. Falls ich sie begrüße, hab’s eigentlich noch nicht richtig zu Ende gedacht. Und ganz sicher hasse ich es wie die Pest, wenn ich das eine oder andere ausplaudere, und am nächsten Tag flattert mir eine Vorladung ins Haus, und ich muss ein paar Columbo-Typen in schlecht sitzenden Anzügen reinlassen, die sich dümmer stellen, als sie sind. Nein danke.« Ich seufzte und wusste nicht recht, ob ich enttäuscht sein oder seine Haltung respektieren sollte. Er schenkte mir ein strahlendes Lächeln und zuckte mit den Achseln. »Nun ja«, sagte ich, »damit meine Fahrt hierher nicht ganz umsonst gewesen ist, können Sie mir vielleicht wenigstens ein paar Dinge über O’Connells obsessive Liebe zu Ashley erklären …« Der Psychologe schnaubte und schien plötzlich aufgebracht. »Liebe. Liebe! Mein Gott, was hat das mit Liebe zu tun? Eins müssen Sie über die Psyche eines Menschen wie O’Connell wissen. Es geht um Besitz.«
»Ja«, stimmte ich zu, »das leuchtet ein. Aber was bekam er? Es ging nicht um Geld. Es ging nicht um sexuelle Begierde. Um Leidenschaft. Und trotzdem habe ich, nach allem, was ich bis jetzt weiß, das Gefühl, als ob dies alles zusammen durchaus eine Rolle spielte …« Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und beugte sich dann abrupt zu mir vor. »Sie nehmen die Dinge zu wörtlich«, erklärte er. »Ein Banküberfall sagt etwas Konkretes aus. Vielleicht gilt das sogar für einen Drogen-Deal oder dafür, dass man den Verkäufer, der im Laden um die Ecke Nachtschicht schiebt, einfach so erschießt. Für Serienmorde und vergewaltigungen. Solche Verbrechen sind weitaus leichter einzuordnen. Dieses nicht. Michael O’Connells vermeintliche Liebe war ein Verbrechen, das um die Frage der Identität kreiste. Auf diese Weise nahm es überhand, bekam es ganz andere Dimensionen. Nahm es verheerende Ausmaße an.« Ich nickte. Ich wollte gerade etwas fragen, doch er fuchtelte erneut mit der Hand herum, so dass ich verstummte. »Noch etwas, das Sie stets im Auge behalten müssen«, sagte er mit einem gewissen Zögern. »Sie müssen auch verstehen, dass Michael O’Connell …«, er brauchte einen Moment, um tief einzuatmen, bevor er weitersprach, »… gnadenlos war.«
17 Eine aus den Fugen geratene Welt
Zum ersten Mal in ihrem relativ kurzen Leben hatte Ashley nicht nur das Gefühl, ihre Welt sei unglaublich klein, sondern nunmehr auch mit so wenigen Fixpunkten versehen, dass sie nirgendwo Zuflucht bot, kein sicheres Versteck, um Luft zu holen und zur Ruhe zu kommen. Die kleinen Irritationen, die Zeichen dafür, dass sie beschattet und beobachtet wurde, kehrten regelmäßig wieder. Ihr Telefon war zu einer Waffe gegen sie geworden – am anderen Ende Schweigen oder schweres Atmen. Sie traute ihrem Computer nicht mehr. Sie weigerte sich, ihre E-Mail zu öffnen, da sie nicht mehr sagen konnte, von wem sie tatsächlich kam. Sie erklärte ihrem Vermieter, sie habe ihre Wohnungsschlüssel verloren, und er ließ einen Schlosser kommen, um das Schloss an ihrer Tür zu ersetzen. Aber sie bezweifelte, dass es viel brachte. Der Handwerker meinte, es würde die meisten Leute draußen halten, allerdings nicht jemanden, der wusste, was er tat. Sie
brauchte nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass O’Connell zur Sorte derer gehörte, die wussten, was sie taten. Bei ihrer Arbeitsstelle im Museum beklagten sich Kollegen darüber, dass sie anonyme Anrufe und irritierende E-Mails erhielten, die suggerierten, Ashley arbeite hinter ihrem Rücken an einem Projekt oder redete gegenüber der Verwaltung schlecht über sie. Wenn Ashley zu erklären versuchte, dass das alles nicht stimmte, hatte sie nicht das Gefühl, als würde man ihr viel Glauben schenken. Aus heiterem Himmel beschuldigte sie eines Morgens ein homosexueller Kollege, sie sei eine verkappte Schwulenhasserin. Der Vorwurf war derart lächerlich, dass Ashley wie vor den Kopf geschlagen war und nicht wusste, was sie sagen sollte. Ein, zwei Tage später beäugte eine schwarze Kollegin sie argwöhnisch und weigerte sich, mit ihr zu essen. Als Ashley fragte, was passiert sei, erklärte die Frau brüsk: »Wir haben absolut nichts zu besprechen. Lass mich in Ruhe.« Nach ihrem abendlichen Graduiertenseminar über moderne europäische Impressionisten zitierte ihre Professorin sie zu sich und eröffnete ihr, dass sie Gefahr lief, durchzufallen, wenn sie nicht endlich regelmäßig käme. Ashley war schockiert. Sie machte den Mund auf und starrte die Frau an, die kaum von ihrem Wust an Papieren, Dias und großen Hochglanzkunstbänden aufsah, die sich
auf ihrem Schreibtisch stapelten. Ashley versuchte, sich umzusehen, sich an irgendetwas festzuklammern, damit das Schwindelgefühl verging, das sie zu überwältigen drohte. »Aber das ist unmöglich …«, brachte Ashley heraus. »Ich habe kein einziges Mal gefehlt. Ich müsste genau in der Mitte auf sämtlichen Anwesenheitslisten stehen.« »Bitte belügen Sie mich nicht«, erwiderte die Professorin steif. »Aber ich bin doch nicht …« »Die Listen werden von einem der Assistenten durchgesehen und dann ins Computersystem des Seminars eingespeist«, erklärte die Professorin kalt. »Bei den wöchentlichen Vorlesungen und den zusätzlichen Diavorträgen, von denen wir bislang über zwanzig hatten, können wir Ihren Namen nur ganze zwei Mal entdecken. Davon ist einmal heute Abend.« »Aber ich bin immer da gewesen«, sagte Ashley in flehentlichem Ton. »Ich versteh das nicht. Kann ich Ihnen bitte meine Notizen zeigen?« »Jeder kann jemand anderen bitten, für ihn mitzuschreiben oder hinterher abschreiben zu lassen …« »Aber ich war wirklich da. Ich schwör’s. Jemandem ist ein
Fehler unterlaufen.« »Sicher. Jemandem. Ein Fehler. Aber klar doch, wir sind schuld …«, meinte die Professorin sarkastisch. »Also, ich glaube, dass jemand absichtlich meine Teilnahmenachweise sabotiert …« Die Professorin zögerte einen Moment, dann schüttelte sie den Kopf. »Das wäre das erste Mal. Wozu sollte das jemand machen?« »Ein Exfreund …«, stammelte Ashley. »Noch einmal, Miss Freeman, wozu sollte das dienen?« »Er will mich beherrschen …« Die Professorin war unschlüssig. »Können Sie diese Unterstellung beweisen?« Ashley holte langsam Luft. »Ich wüsste nicht, wie.« »Sie verstehen, dass ich Ihnen das nicht ohne weiteres abnehmen kann?« Ashley wollte etwas sagen, doch die Frau wehrte mit einer Handbewegung ab. »Ich habe gleich zu Beginn, in der ersten Vorlesung,
gesagt, dass eine regelmäßige Teilnahme erforderlich ist. Ich bin kein herzloser Mensch, Miss Freeman. Wenn jemand eine Stunde verpasst, vielleicht sogar zwei, dann habe ich dafür Verständnis. Es kommt schon mal zu Terminüberschneidungen, unvorhergesehenen Schwierigkeiten. Aber es liegt in Ihrer Verantwortung, regelmäßig da zu sein und das Text- und Bildmate rial durchzuarbeiten. Ich glaube nicht, dass Sie dieses Seminar erfolgreich abschließen können. Ehrlich gesagt, bin ich nicht geneigt …« »Dann lassen Sie mich einen Test schreiben, eine Klausur, ein Referat. Etwas, das mir die Chance gibt, Ihnen zu beweisen, dass ich jede Vorlesung verstanden habe …« »Es gibt bei mir keine Freistellungen oder Sonderregelungen«, erklärte die Professorin kurz angebunden. »Dann müsste ich das für jeden Studenten tun, der wenig oder gar kein Engagement an den Tag legt und da sitzt, wo Sie jetzt sitzen, Miss Freeman, und mir ins Gesicht lügt, die unglaublichsten Entschuldigungen auftischt, vom Hund, der die Hausaufgabe gefressen hat, bis zur Großmutter, die plötzlich gestorben ist. Großmütter sterben in meinen Kursen mit deprimierender Regelmäßigkeit, und oft mehr als nur einmal. Also, kein P ardon, Miss Freeman. Kommen Sie von nun an regelmäßig. Schreiben Sie eine Eins bei der Abschlussklausur, falls Sie können, was ich bezweifle, denn das hat noch niemand geschafft, und vielleicht kann ich
beide Augen zudrücken und Sie bestehen lassen. Das wird sich zeigen. Haben Sie sich schon einmal überlegt, ob Sie das Fach wechseln wollen? Vielleicht ist Kunstgeschichte und ein Graduiertenkolleg nicht das Richtige für Sie.« »Kunst war schon immer …« Die Professorin hielt erneut die Hand hoch und unterbrach Ashley mitten im Satz. »Tatsächlich? Vielleicht liege ich ja falsch. Wie auch immer, viel Glück, Miss Freeman. Sie werden es brauchen.« Mit Glück, dachte Ashley, hat das Ganze nichts zu tun. Sie verließ das Büro der Professorin und trat in einen Flur, der von der Leere widerhallte. Aus dem Treppenhaus oder von einem anderen Stockwerk konnte sie Gelächter hören, wenn auch körperlos, beinahe gespenstisch. Sie stand wie erstarrt. Er war da, er beobachtete sie. Langsam drehte sie sich im Kreis, als stünde er, wie ein Schatten, der ihr ständig folgt, immer gerade im blinden Fleck ihres Gesichtsfelds. Sie horchte auf einen Atemzug, ein Flüstern, irgendetwas Konkretes, dem sie entnehmen konnte, dass er wirklich da war, doch sie bemerkte nichts. Ashley stiegen langsam die Tränen in die Augen. Sie zweifelte nicht daran, dass O’Connell es irgendwie geschafft hatte, ihren Namen von den Anwesenheitslisten zu tilgen. Sie sackte gegen die Wand und atmete schwer.
All die Stunden, die sie in den Seminaren zugebracht hatte, die ganze Aufmerksamkeit, die sie auf die Vorlesungen verwandte, die Notizen, die sie sich gemacht, die Fachkenntnisse, die sie sich angeeignet, und das Gespür für Form und Farbe, für die Stilrichtungen und die Ästhetik der Künstler, mit denen sich das Seminar beschäftigt hatte, schien sie sich nur eingebildet zu haben, oder es existierte in einem Paralleluniversum, in dem die Ashley, für die sie sich gehalten hatte, ihrem gewohnten Leben nachging und den einmal eingeschlagenen Weg beschritt.
Er bringt mich zum Verschwinden. Mit der Verzweiflung kam die Wut. Sie stieß sich energisch von der Wand ab. Das muss ein Ende haben.
Scott blieb von dem, was er gehört hatte, wie gelähmt an seinem Schreibtisch sitzen. Er hatte das Gefühl, als sei etwas in ihm überreizt. Die Worte auf den Seiten, die vor ihm lagen, flirrten wie Hitze über einer geteerten Straße, und er merkte, wie sich seine Brust unter den ersten Anzeichen der Panik zusammenzog. Was Professor Burris ihm geschickt hatte, war die Fotokopie seines eigenen Artikels im Journal sowie der Computerausdruck der Doktorarbeit eines gewissen Louis Smith an der Universität von South Carolina. Die Arbeit war
etwa acht Monate vor dem Erscheinen von Scotts Aufsatz am dortigen Institut für Geschichte eingereicht worden und beschäftigte sich im Kern weitgehend mit demselben Stoff. Ihre Übereinstimmungen waren unvermeidlich, und beide Arbeiten hatten sich zum Teil auf dasselbe Quellenmaterial gestützt. Doch das war nicht das Gefährliche daran. Es war nicht zu leugnen: Ein halbes Dutzend Kernabschnitte lautete Wort für Wort gleich. Professor Burris hatte die kritischen Passagen freundlicherweise eigenhändig gelb markiert. Im Rahmen eines umfangreichen wissenschaftlichen Aufsatzes in einer Fachzeitschrift einerseits und in einer hundertsechzig Seiten umfassenden Doktorarbeit andererseits stellten die fraglichen Abschnitte nur einen winzigen Prozentsatz des Textes dar, und die darin enthaltenen Erkenntnisse waren nicht von weltbewegender akademischer Brisanz. Doch Scott wusste, dass das nicht das Geringste zur Sache tat. Sie stimmten wörtlich überein, das allein zählte. Er musste plötzlich an die Königin in Alice im Wunderland denken: erst die Hinrichtung, dann die Urteilsfindung. Scott hatte nicht den geringsten Zweifel, dass er selbst die Sätze geschrieben hatte, die vor ihm lagen. Den Gedanken, dass einer seiner beiden studentischen Assistenten diese Sätze zufällig notiert und er sie
verwendet hatte, ohne sie genauestens zu prüfen, konnte er begraben. Sie hatten untadelige Arbeit geleistet. Er selbst dagegen offenbar nicht. Er krümmte sich unter dem Aufruhr der Gefühle. Professor Burris hatte nicht angedeutet, aus welcher Quelle die Beschwerde stammte. Scott nahm an, dass sie von dem Doktoranden oder aber von einem Fakultätsmitglied der Universität von South California kam. Es bestand die Möglichkeit, dass irgendein Geschichtsfreak, von denen es in der Vereinigten Staaten Hunderttausende gab, den Vergleich angestellt hatte, doch er bezweifelte, dass so jemand genügend Einfluss hatte, um einen derart prominenten Historiker wie Burris vor seinen Karren zu spannen. Es war schon fast Mittag, als Scott unrasiert, mit müden Augen und nach seiner vierten Tasse Kaffee endlich den geschäftsführenden Direktor des Historischen Instituts der USC am Telefon hatte. Zu seiner Überraschung war der Mann umgänglich und hilfsbereit und ganz offensichtlich über die heikle Angelegenheit noch nicht im Bilde. Sein Verdacht ging sogar augenblicklich in die umgekehrte Richtung. »Ja, sicher erinnere ich mich an diese Dissertation«, erzählte er. »Sie bekam sehr hohe Noten von der
gesamten Kommission. Sie war gut recherchiert und gut geschrieben und sollte, soweit ich mich entsinne, veröffentlicht werden. Und der junge Mann, ein wirklich guter Student und ein sehr netter Kerl, hat vermutlich eine großartige Karriere vor sich. Aber Sie sagen, diese Arbeit wirft Fragen auf? Kann ich mir kaum vorstellen …« »Ich möchte mir lediglich ein paar Übereinstimmungen ansehen. Immerhin arbeiten wir auf dem gleichen Spezialgebiet.« »Sicher«, sagte der Direktor. »Auch wenn ich es schrecklich fände, sollte sich zeigen, dass einer unserer Studenten sich unredlich verhalten hätte.« Scott zögerte. Er wusste, dass er dem Historikerkollegen den falschen Eindruck vermittelt hatte, der ehemalige Student habe sich möglicherweise eines akademischen Vergehens schuldig gemacht. »Wissen Sie, wenn ich mit dem jungen Mann reden könnte, lässt sich alles vielleicht klären«, meinte er. »Aber gewiss«, erwiderte der Direktor. »Warten Sie mal …« Scott musste einige nervenaufreibende Minuten warten. Er saß reglos da und wartete darauf, das Gespräch fortzusetzen, das ihn möglicherweise alles kosten würde, was er sich in Jahren aufgebaut hatte.
»Also, Professor Freeman«, meldete sich der geschäftsführende Direktor, »tut mir leid, dass ich Sie warten lassen musste. Es ist ein bisschen schwierig, mit Louis in Verbindung zu treten. Der frischgekürte Dr. Smith hat bei Teach For America angeheuert. Das tun bei uns verdammt wenige Studenten. Jedenfalls haben wir von ihm eine Telefonnummer und eine Adresse irgendwo nördlich von Lander, Wyoming, in einem Indianer-Reservat. Die gebe ich Ihnen jetzt …« Scott rief in Wyoming an und erfuhr, dass Louis Smith gerade dabei war, Achtklässler zu unterrichten, und zwar noch einige Stunden. So hinterließ er seinen Namen und seine Nummer und erklärte, es sei dringend. Als endlich das Telefon klingelte, schnappte er hastig danach. »Professor Freeman? Louis Smith …« »Danke, dass Sie zurückrufen«, sagte Scott. Der junge Mann schien entzückt. »Ich fühle mich durch Ihren Anruf wirklich geehrt, Professor Freeman. Ich habe alles gelesen, was Sie je veröffentlicht haben, besonders über die Anfänge des amerikanischen Freiheitskrieges. Das ist mein Spezialgebiet, und ich muss zugeben, dass ich es nach wie vor absolut faszinierend finde. Die militärischen Manöver, die politischen Intrigen, der fast unmöglich scheinende Erfolg. So viele Lektionen für uns heute. Ich meine, Sie können sich wohl vorstellen, dass die Leute in
einem Indianer-Reservat eine ganz andere Geschichtsauffassung haben als die, die wir für selbstverständlich halten …« Der Mann sprach schnell und ohne Punkt und Komma. Doch bevor Scott etwas einwerfen konnte, hielt Smith inne, holte einmal tief Luft und entschuldigte sich. »Tut mir leid, ich schwadroniere drauflos. Bitte, Professor Freeman, welchem Umstand verdanke ich die Ehre Ihres Anrufs?« Scott zögerte. Mit der grenzenlosen Energie, die der junge Lehrer verströmte, hatte er nicht gerechnet. »Ich habe Ihre Doktorarbeit gelesen …« »Tatsächlich? Das ist phantastisch, ich meine, wenn sie Ihnen gefallen hat. Finden Sie, ich hab sie ordentlich hinbekommen?« »Sie ist ausgezeichnet«, erklärte Scott etwas überrascht. »Und Ihre Erkenntnisse sind treffend und präzise.« »Danke, Professor. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie viel mir das bedeutet. Sie kennen das ja, man steckt all die Arbeit hinein, und vielleicht wird das Ganze dann von einem akademischen Verlag herausgegeben, ich hoffe, dass es noch dazu kommt, aber außer der Kommission am Institut und der eigenen Freundin blickt im Grunde keiner hinein. Dass Sie sie tatsächlich gelesen haben …« »Da wäre eine Frage«, begann Scott steif. »Es gibt ein
paar Übereinstimmungen zwischen Ihrer Arbeit und einem Aufsatz, den ich ein paar Monate später …« »Ja«, bestätigte der junge Mann. »Im Journal of American History. Ich hab ihn aufmerksam gelesen, weil wir uns weitgehend mit dem gleichen Material befassen. Aber Übereinstimmungen, wie meinen Sie das?« Scott holte noch einmal tief Luft. »Ich wurde beschuldigt, ein paar Absätze, die Sie geschrieben haben, plagiiert zu haben. Ich habe es nicht getan, aber ich wurde dessen beschuldigt …« Er verstummte und wartete. Louis Smith brauchte ein paar Sekunden, um sich zu fassen. »Aber das ist verrückt«, sagte er. »Wer beschuldigt Sie?« »Ich weiß es nicht. Ich dachte, vielleicht Sie.« »Ich?« »Ja.« »Nein, ganz und gar nicht. Unmöglich.« Scott fühlte sich wieder schwindelig. Er wusste nicht im Geringsten, was er von dem Ganzen halten sollte. »Aber ich habe einen Ausdruck Ihrer Doktorarbeit vor mir, und darin gibt es eine Reihe von Abschnitten, die Wort für Wort
identisch sind. Ich weiß nicht, wie es dazu gekommen ist, aber …« »Unmöglich«, wiederholte Louis Smith. »Als Ihr Artikel erschien, hatte ich meine Arbeit schon Monate fertig, aber Ihre Forschungsarbeit muss mehr oder weniger zeitgleich gelaufen sein. Sie kommen an meinen Text fast nur auf der Universitäts-Website und über ein paar Links von historischen Sites heran. Die Vorstellung, dass Sie sie gefunden und dann ein paar Formulierungen übernommen haben sollen, ist mir ein absolutes Rätsel. Können Sie mir die Abschnitte vorlesen, die gleich sind?« Scott sah sich die gelb markierten Passagen an. »Ja«, sagte er. »In meinem Artikel schreibe ich auf Seite dreiunddreißig …« Anschließend las Scott den entsprechenden Paragraphen in dem anderen Dokument vor. Louis Smith reagierte langsam. »Also, das ist höchst merkwürdig, weil nämlich dieser Abschnitt, den Sie gerade vorgelesen haben und der angeblich in beiden Texten vorkommt, im meinem nicht existiert. Das heißt, ich habe ihn nie geschrieben. Er kommt in meiner Arbeit nicht vor. Ich meine, wir gelangen zu ähnlichen Schlüssen, aber das, was da, wie Sie sagen, stehen soll, steht da nicht.« »Aber«, entgegnete Scott, »ich habe das von einem
Ausdruck Ihrer Doktorarbeit abgelesen.« »Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, Professor, aber mir kommt der Verdacht, dass jemand das Dokument, das Sie vor sich haben, manipuliert hat. Kennen Sie jemanden, der so etwas tun würde?«
Der Wind war heftiger geworden und strich messerscharf über das Spielfeld. Im Westen verblasste das Licht, so dass der übrige Tag wie unter einem grauen Schleier verschwand, als Hope die Mannschaft am Ende des Trainings um sich scharte. Die Haarsträhnen, die aus ihren Pferdeschwänzen gerutscht waren, klebten ihnen vom Schweiß an der Stirn. Sie hatte ihnen heute nichts geschenkt, hatte härter trainiert als vielleicht sonst gegen Ende der Saison, doch sie hatte sich dabei verausgabt, mit ihnen zu rennen. Vor Anstrengung zu keuchen hatte gutgetan, und die scharfe, kalte Luft schien das Einzige zu sein, was sie ablenken konnte. »Mächtig ins Zeug gelegt«, lobte sie. »Ihr seid so gut gewesen wie die ganze Saison über schon. Noch zwei Wochen bis zu den Meisterschaftsspielen. Ihr werdet ein harter Gegner sein. Sehr hart. Gut so. Aber es gibt sieben andere Mannschaften, die vielleicht genauso schwer an sich arbeiten. Von nun an geht es nicht mehr nur um die physische Kraft. Jetzt geht es darum, wie stark euer
Wunsch ist, eure Sehnsucht. Wie soll man sich an dieses Jahr, an diese Saison, an diese Mannschaft erinnern?« Sie sah sich unter den schweißglänzenden Gesichtern der jungen Frauen um, die verstanden hatten, dass man einen Preis nur durch harte Arbeit und volle Hingabe erringen kann. Zuerst sticht es ihnen nur ins Auge, dachte Hope, aber dann geht es ihnen so richtig unter die Haut, dann sind sie richtig heiß. »Hört zu«, sagte Hope vorsichtig, »um zu gewinnen, müssen wir an einem Strang ziehen. Gibt es also etwas, das einer von euch vor dem ganzen Team sagen will? Gibt es irgendetwas, das euren Kampfgeist hemmen könnte?« Die Mädchen sahen sich eigentümlich an. Einige schüttelten den Kopf. Hope war sich nicht sicher, ob vielleicht schon die ersten Gerüchte in Umlauf gekommen waren, doch es war kaum vorstellbar, dass noch gar nicht getuschelt wurde. In einem solchen Umfeld gibt es keine Geheimnisse. Die Mädchen schienen kollektiv die Achseln zu zucken. Sie wollte darin ein Zeichen sehen, dass sie zu ihr hielten. »In Ordnung«, erklärte sie. »Aber falls es jemanden unter euch gibt, und sei es auch nur eine, die etwas bedrückt, bevor die Meisterschaftsspiele beginnen, dann kann sie zu mir kommen. Meine Tür steht euch immer offen. Oder,
wenn ihr nicht mit mir reden wollt, dann wendet euch an die Fachleiterin für Leichtathletik.« Sie fasste nicht, dass sie das sagte. Sie hatte so viel Geistesgegenwart, das Thema zu wechseln. »So schweigsam habe ich euch als Team überhaupt noch nicht gesehen. Ich muss wohl annehmen, dass es euch allen die Sprache verschlagen hat, weil ihr so hart gearbeitet habt. Klopft euch alle mal gegenseitig auf die Schultern, und dann schnappt eure Taschen und geht rein.« Das brachte ihr eine Runde Beifall ein. Zusätzliche Runden hatten nicht immer dieselbe Wirkung. Hope winkte ihnen noch einmal zu und schickte sie los. Sie sind so weit, dachte sie, nur dass sie sich fragte, ob das auch auf sie selbst zutraf. In Sekundenschnelle verzogen sich die Mädchen in kleinen Gruppen vom Spielfeld, und Hope hörte ihr Lachen. Sie sah ihnen nach, dann setzte sie sich auf die Holzbank an der Seitenlinie. Der Wind war stärker geworden, und sie zog die Schultern gegen die Kälte ein. Unwillkürlich musste sie denken, dass sie sich in erheblichem Ausmaße darüber definierte, Teil von etwas zu sein, Teil des College, Teil des Teams, und das war jetzt gefährdet. Ein Schatten glitt über das grüne Gras des Fußballplatzes, so dass die Erde darunter
schwarz zu sein schien. Es gibt wenig auf dieser Welt, was so zermürbend ist, wie fälschlich eines Vergehens beschuldigt zu werden, dachte sie. Eine ohnmächtige Wut stieg in ihr auf. Sie wollte die Person finden, die ihr das angetan hatte, und mit den nackten Fäusten verprügeln. Doch wer immer das sein mochte – in diesem Moment hatte sie nicht mehr Substanz als die hereinbrechende Dunkelheit, und so legte Hope bei aller Wut den Kopf in die Hände und schluchzte los.
»Ashley? Ashley Freeman? Die hab ich eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Seit Monaten, könnte auch über ein Jahr her sein. Wohnt sie noch in der Stadt?« Ich antwortete nicht, sondern stellte eine Gegenfrage: »Sie haben zur selben Zeit hier im Museum gearbeitet wie sie?« »Ja. Ein paar von uns hatten Teilzeitjobs, während wir uns auf diverse Prüfungen vorbereiteten.« Ich befand mich in der Eingangshalle des Museums, nicht weit von dem Restaurant, in dem Ashley an dem Nachmittag vergeblich auf Michael O’Connell gewartet
hatte. Die junge Frau an der Rezeption trug ihr Haar an den Seiten sehr kurz geschnitten, während sie in der Mitte einen hochgegelten Kamm stehen ließ, was ihr ein gockelhaftes Aussehen verlieh. Eines ihrer Ohren zierten ein halbes Dutzend Ringe, das andere ein einziger großer, leuchtend orangefarbener Reif, was den Gesamteindruck in Schieflage brachte. Sie sah mit einem zarten, jugendlichen Lächeln zu mir auf und stellte mir endlich die naheliegende Frage. »Wieso interessieren Sie sich für Ashley? Ist etwas mit ihr?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich interessiere mich für einen Rechtsfall, mit dem sie in Verbindung stand. Ich mache nur ein bisschen Hintergrundrecherche. Wollte mal sehen, wo sie gearbeitet hat. Dann haben Sie sie also gekannt, als sie noch hier war?« »Nicht besonders gut.« Die junge Frau zögerte. »Was ist?«, fragte ich. »Ich glaube, es gab nicht allzu viele, die sie kannten, oder auch mochten.« »Tatsächlich?«
»Na ja, ich hab mal zufällig mitgehört, wie jemand zu jemand anderem sagte, Ashley sei ganz und gar nicht das, was sie zu sein scheint, oder so was in der Art. Ich glaube, die meisten dachten so über sie. Als sie wegging, gab es ’ne Menge Getuschel und Spekulationen.« »Wieso?« »Sie haben irgendwas auf ihrem Computer hier im Museum gefunden, was sie in Schwierigkeiten brachte. Hab ich jedenfalls läuten gehört.« »Irgendwas?« »Na ja, total was anderes. Ist sie wieder in Schwierigkeiten?« »Nicht direkt«, erwiderte ich. »Schwierigkeiten ist vielleicht nicht das richtige Wort.«
18 Als sich die Dinge zuspitzten
Michael O’Connell stellte fest, dass sein größtes Talent die
Fähigkeit zu warten war. Dabei ging es nicht einfach nur darum, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten oder geduldig herumzusitzen. Richtiges Warten erforderte Planung und gezielte Vorbereitungen, so dass er in dem Moment, auf den er hingearbeitet hatte, den anderen Akteuren einen entscheidenden Schritt voraus war. Er betrachtete sich als eine Art Regisseur, als jemand, der den gesamten Handlungsverlauf Akt für Akt und Szene für Szene bis zum Ende vor sich sah. Er war ein Mann, der jeden erdenkbaren Schluss im Voraus kannte, da er alles ausnahmslos entwickelt hatte. O’Connell hatte sich bis auf die Boxershorts ausgezogen, und sein Körper glänzte. Vor einigen Jahren hatte er in einem modernen Antiquariat ein Fitness-Übungsbuch erstanden, das sich Mitte der sechziger Jahre großer Popularität erfreut hatte. Dieses Programm stammte aus einem Lehrbuch der Royal Canadian Air Force über physische Gesundheit und war mit antiquierten Abbildungen von Männern in Shorts illustriert, welche Brücken, einarmigen Liegestütz und Rückenstrecker absolvierten. Es waren auch seltsame Verrenkungen dabei, die er gewissenhaft exerzierte, wie zum Beispiel in die Luft zu springen und die Knie dabei anzuziehen, so dass er seine Zehen berühren konnte. Es war das Gegenteil zu Pilates, Billy Blank, Body by Jake oder SechsMinuten-Bauchübungstraining und wie sie nicht alle hießen, die im Tagesprogramm sämtlicher Fernsehkanäle liefen. Er war im Air-Force-Training inzwischen ziemlich gut und
hatte sich unter seiner lose sitzenden, abgetragenen Studentenkluft den Körperbau eines Ringkämpfers antrainiert. Er hatte es ebenso wenig nötig, in irgendeinen Schickimicki-Fitness-Club einzutreten, wie Leib und Seele mit Langläufen am Ufer des Charles zu beleben. Er zog es vor, seine Muskeln daheim in seinem Zimmer zu modellieren und dazu gelegentlich über Kopfhörer eine vermeintlich satanische Rockgruppe wie Black Sabbath oder AC/DC zu hören. Er legte sich hin, hob die Beine über den Kopf und ließ sie langsam wieder sinken. Dabei hielt er drei Mal die Position etwa zehn Zentimeter über dem Dielenboden, bevor er die Beine fallen ließ. Die Übung wiederholte er fünfundzwanzig Mal. Beim letzten Durchgang blieb er, die Arme seitlich ausgestreckt, in der Stellung und rührte sich eine Minute lang nicht; dann noch einmal eine Minute. Er wusste, dass er sich nach etwa drei weiteren Minuten allmählich etwas unbehaglich und nach noch einmal zwei Minuten völlig erschöpft fühlen würde. Nach sechs hatte er akute Schmerzen. O’Connell sagte sich, dass es längst nicht mehr darum ging, Muskeln aufzubauen. Inzwischen ging es um Selbstüberwindung. Er schloss die Augen und verdrängte das Brennen in seinem Bauch durch das Bild von Ashley in seiner
Phantasie. Langsam zeichnete er sämtliche Einzelheiten mit der ganzen Geduld eines Künstlers, der jede charakteristische Kurve, jeden verschatteten Winkel wiedergab. Fang mit ihren Füßen an, der Form ihrer gespreizten Zehen, dem Spann, ihrer straffen Ferse. Dann langsam das Bein hoch, die Muskeln ihrer Wade, ihr Knie und ihren Oberschenkel. Er biss die Zähne zusammen und lächelte. Normalerweise konnte er, nachdem er lange bei ihrem Unterleib verweilt war, seine Position bis über ihre Brüste hinaus halten und von dort bis hinauf zu der geschwungenen Kurve ihres langen, geschmeidigen Halses, bevor er sich gezwungen sah, die Hacken auf den Boden fallen zu lassen. Doch mit zunehmender Kraft würde er früher oder später auch noch ihre Gesichtszüge sowie ihre Haare nachzeichnen können. Er freute sich schon darauf, so stark zu sein. Mit einem Keuchen entspannte er sich, und seine Füße prallten auf den harten Boden. Sie wird anrufen, dachte er. Heute. Vielleicht morgen. Das war unausweichlich. Er hatte Kräfte in Bewegung gesetzt, denen sie ausgeliefert war. Die Schlinge würde sich immer enger ziehen. Sie wird sich aufregen, sagte er sich. Sie wird wütend sein, fordernd, was ihm nicht das Geringste
bedeutete. Was dagegen zählte, war die Tatsache, dass sie diesmal allein sein würde. Verzweifelt und verletzlich. Er holte tief Luft. Einen Moment lang glaubte er, Ashley an seiner Seite zu fühlen, weich und warm. Er schloss die Augen und genoss eine Weile das Gefühl. Als es vorüber war, lächelte er. Michael O’Connell legte sich auf den Rücken und starrte zur weißgetünchten Decke mit der nackten 110-WattGlühbirne. Er hatte einmal gelesen, dass in längst vergessenen Orden des elften und zwölften Jahrhunderts die Mönche trotz Hitze, Kälte, Hunger, Durst und Schmerzen stundenlang in dieser Position verweilten und halluzinierten, Visionen hatten, den unveränderlichen Himmel schauten und das unerbittliche Wort Gottes hörten. Das war für ihn hundertprozentig nachzuvollziehen.
Was Sally zu schaffen machte, war ein einziges OffshoreBankkonto auf das mehrere Transaktionen von ihrem Klientenkonto gegangen waren. Die fragliche Summe belief sich auf etwa fünfzigtausend Dollar – verglichen mit der gestohlenen Gesamtsumme nicht viel. Doch es war der einzige Betrag, zu dessen Banksystem sie keinen Zugang bekam. Als sie die Bank in Grand Bahama angerufen hatte, hatte
man sich nicht kooperativ gezeigt und ihr klargemacht, dass sie von ihrer eigenen Bankenaufsicht autorisiert sein müsse, was jedoch selbst für Ermittler der SEC, der Börsenaufsichtsbehörde, oder der IRS, der obersten amerikanischen Steuerbehörde, kein Leichtes und für eine Anwältin, die ohne richterliche Verfügung oder Drohungen des Außenministeriums arbeitete, praktisch unmöglich sei. Sally blieb es rätselhaft, wieso jemand pfiffig genug war, ihr Klientenkonto zu plündern, sich aber mit nur einem Fünftel der Summe zufriedengab. Die anderen Transaktionen ließen sich über schwindelerregend viele Zwischenstationen quer durchs Land letztlich doch zurückverfolgen und höchstwahrscheinlich auch zurückbekommen. Es war ihr immerhin gelungen, die Gelder an fast einem Dutzend verschiedenen Instituten einzufrieren, so dass sie dort unter verschiedenen, offensichtlich falschen Namen auf Abruf lagen. Wieso, fragte sie sich, hatte derjenige nicht einfach das ganze Geld in die Offshore-Konten eingezahlt, auf denen es höchstwahrscheinlich ganz und gar unerreichbar war? Der größere Teil des Geldes lag dort einfach auf Eis, und es würde sie immense Mühe kosten, es zurückzuholen. Das machte ihr schwer zu schaffen. Sie konnte beim besten Willen nicht sagen, was für einer Straftat sie zum Opfer gefallen war. Fest stand, dass ihr Ruf als Anwältin Schaden nehmen, wenn nicht gar einen ernsten Riss bekommen würde.
Ebenso wenig konnte sie sich denken, wer ihr den schweren Schlag versetzt hatte. Natürlich fiel ihr erster Verdacht auf die gegnerische Seite in dem Scheidungsverfahren. Doch sie konnte beim besten Willen keinen Sinn darin erkennen, dass ihr der Mann so viele Schwierigkeiten bereiten sollte, die schließlich nur zu einer Verschleppung des Verfahrens führen und damit beide Seiten Geld kosten würden. Bei Scheidungsfällen war sie natürlich an irrationales Verhalten gewöhnt, das hier aber stellte sie vor ein Rätsel. Normalerweise benahmen sich die Leute demonstrativ kleinlich und unausstehlich, wenn sie versuchten, Ärger zu machen. Die dezente Vorgehensweise in diesem Fall passte nicht dazu. Ihr zweiter Verdacht kreiste um die Möglichkeit, dass ein Gegner in einem ganz anderen Verfahren dahintersteckte. Vielleicht jemand, gegen den sie in der Vergangenheit gewonnen hatte? Das beunruhigte sie noch mehr. Die Vorstellung, dass jemand über einen längeren Zeitraum Rachegelüste hegte, dass er monatelang, wenn nicht gar Jahre damit wartete, zuzuschlagen, hätte aus Der Pate stammen können. Sally hatte die Kanzlei früher als sonst verlassen und war durch das Altstadtzentrum zu einem Restaurant gegangen, das sich mit einem pseudoirischen Namen schmückte und über eine ruhige, dunkle Bar verfügte, in der sie ihren
zweiten Scotch mit Soda vor sich stehen hatte. Im Hintergrund hörte sie Friend of the Devil von The Grateful Dead. Wer hasst mich?, fragte sie sich. Wer immer hinter der Sache stecken mochte – eines war Sally sonnenklar: Sie musste es Hope erzählen. Das stand ihr vor Augen. Bei ihrem ohnehin gespannten Verhältnis war das so ziemlich das Letzte, was sie brauchen konnten. Sally nahm einen ausgiebigen Schluck von ihrem bitteren Drink. Irgendjemand da draußen hasst mich, und ich bin ein Feigling, dachte sie. Ein Freund des Teufels ist auch mein Freund. Sie betrachtete das Glas, kam zu dem Schluss, dass es auf der ganzen Welt nicht genug Alkohol gab, um ihr Unglück zu ertränken, schob es von sich und machte sich mit dem bisschen, was sie an aufrechtem Gang noch zustande brachte, nach Hause auf.
Scott beendete seinen Brief an Professor Burris und las ihn noch einmal sorgfältig durch. Das Wort, das er gewählt hatte, um zu beschreiben, worum es hier ging, war Schwindel – er stellte den ganzen Vorgang so dar, als seien sie alle einem raffinierten, wenn auch rätselhaften Studentenstreich zum Opfer gefallen. Nur dass Scott darüber nicht lachen konnte.
Der einzige Teil des sorgfältig aufgesetzten Briefs, der ihm leichtgefallen war, bestand in dem Abschnitt, in dem er Burris empfahl, sich die akademische Leistung von Louis Smith genauer anzusehen. Damit hoffte Scott der Karriere des jungen Mannes Auftrieb zu geben. Er unterschrieb die E-Mail und verschickte sie. Dann ging er nach Hause zurück und setzte sich in seinen alten, ramponierten Ohrensessel, um in Ruhe darüber nachzudenken, was da mit ihm geschehen war. Er wollte sich nicht dem Trugschluss hingeben, dass ein einziger Brief, selbst wenn er so klar formuliert war wie der, den er gerade abgeschickt hatte, ihn aus seiner misslichen Lage befreite. Ende der Woche stand ihm immer noch der herumschnüffelnde Reporter der Uni-Zeitung ins Haus. Mit zunehmender Dämmerung wurde es dunkel im Zimmer, und Scott wusste, dass er sich früher oder später würde verteidigen müssen. Die Tatsache, dass der Vorwurf jeder Grundlage entbehrte, war dabei nur wenig von Belang und Überzeugungskraft. Irgendwo würde irgendjemand ihn für schuldig halten. Das Ganze machte Scott wütend, und er ballte die Hände zu Fäusten, dabei ahnte er nicht, dass Sally und Hope sich zur gleichen Zeit mit denselben Fragen quälten und dass ihnen allen sehr viel klarer gewesen wäre, woher ihre Probleme rührten, hätten sie nur gegenseitig von ihrem jeweiligen Missgeschick gewusst.
Doch durch die Umstände und durch unglückliche Fügung kreiste jeder um sich selbst.
Ashley wollte im Museum gerade Feierabend machen und packte ihre Sachen zusammen, als sie von ihrem Schreibtisch aufschaute und den stellvertretenden Direktor wenige Meter von ihr entfernt unbehaglich herumstehen sah. »Ashley«, sagte er gestelzt, während er den Blick über den Raum schweifen ließ, »ich würde gerne mit Ihnen sprechen.« Sie legte ihre kleine Mappe nieder und folgte dem Direktor pflichtbewusst in sein Büro. Das stille Museum hatte plötzlich etwas von einer Krypta, in der ihre Schritte widerhallten. Schatten schienen die Kunst an den Wänden in Mitleidenschaft zu ziehen, die Formen zu entstellen und die Farben zu verfälschen. Der Vizedirektor deutete auf einen Stuhl, während er sich hinter seinen Schreibtisch setzte. Er hielt inne, zupfte seine Krawatte zurecht, seufzte und sah sie direkt an. Der Mann hatte die nervöse Eigenart, sich im unpassenden Moment die Hände zu reiben. »Ashley, es hat Beschwerden über Sie gegeben.« »Beschwerden? Was für Beschwerden?«
Er antwortete nicht direkt. »Haben Sie in letzter Zeit irgendwelche Probleme?« Sie wusste zwar, dass die Antwort ja lautete, doch sie wollte dem Direktor nicht mehr als nötig Auskunft über ihr Privatleben geben. Sie hielt ihn für einen Schmeichler und Hohlkopf. Sie wusste, dass er daheim in Somerville zwei kleine Kinder hatte, ein Umstand, der ihn nicht davon abhalten konnte, jede neue junge Mitarbeiterin anzumachen. »Nein. Nichts von Bedeutung«, log sie. »Wieso fragen Sie?« »Sie würden also sagen, dass bei Ihnen alles normal verläuft? Nichts Neues?« »Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen?« »Ihre Ansichten, Ihre, ähm, Weltanschauung hat sich nicht in letzter Zeit in eine radikale Richtung bewegt?« »Ich habe dieselben Ansichten wie immer«, erklärte sie gedehnt. Er zögerte wieder, bevor er sagte: »Das hatte ich befürchtet. Ich kenne Sie nicht besonders gut, Ashley. Also nehme ich an, dass ich keinen Grund habe, mich über irgendetwas zu wundern. Aber ich muss schon sagen …« Er unterbrach sich mitten im Satz. »Ich möchte es einmal so formulieren: Wissen Sie, in diesem Museum versuchen
wir, den Ansichten und Meinungen und, nun ja, der Lebensweise anderer Menschen gegenüber tolerant zu sein. Wir hüten uns vor kritischen Urteilen. Aber es gibt gewisse Grenzen, die gewahrt werden müssen, finden Sie nicht auch?« Sie hatte nicht den leisesten Schimmer, wovon die Rede war, doch sie nickte. »Gewisse Grenzen, ja.« Der stellvertretende Direktor sah zugleich traurig und verärgert aus. Er beugte sich vor. »Meinen Sie wirklich, es hätte den Holocaust nie gegeben?« Ashley fuhr auf ihrem Stuhl zurück. »Was?« »Die Ermordung von sechs Millionen Juden sei nur Propaganda und nie wirklich geschehen?« »Ich kann Ihnen nicht folgen …« »Sind Schwarze wirklich eine minderwertige Rasse? Submongoloid? Kaum höherstehend als wilde Tiere?« Vor lauter Schock blieb ihr die Stimme weg. »Und stehen FBI und CIA wirklich unter der Kontrolle von Juden? Und ist die Reinhaltung der Rasse wirklich die größte Herausforderung, der sich unsere Nation heute
gegenübersieht?« »Ich weiß nicht, was Sie …« Er hob die Hand und hatte ein rotes Gesicht. Er deutete auf seinen Computer. »Kommen Sie hier herüber und loggen Sie sich mit Ihrem Benutzernamen und Ihrem Passwort ein«, wies er sie schroff an. »Ich verstehe nicht …« »Tun Sie mir einfach den Gefallen«, forderte er kalt. Sie stand auf, ging zu seiner Seite herum und tat, was er verlangte. Der Computer erwachte zum Leben, ließ die vertraute kleine Fanfare ertönen, und ein Bild des Museums erfüllte den Monitor, gefolgt von einem Fenster mit »Willkommen, Ashley« und der Nachricht: »Sie haben ungelesene E-Mails.« »Bitte«, sagte Ashley. Sie stand auf. Der Direktor drängte sich abrupt an ihr vorbei an die Tastatur. »Hier«, erklärte er wütend. »Kürzliche Suchergebnisse.« Unter ihrem Namen und Passwort tippte er energisch eine Tastenfolge. Das Bild vom Museum verschwand augenblicklich und machte einem schwarzroten Bildschirm
Platz. Zu Marschmusik, die aus den Lautsprechern dröhnte, erschien ein großes Hakenkreuz. Auch wenn Ashley das Horst-Wessel-Lied nicht kannte, war ihr der Charakter dieser Musik sofort klar. Sie machte staunend den Mund auf und versuchte, etwas zu sagen, doch sie konnte den Blick nicht vom Monitor lassen, auf dem jetzt eine alte Wochenschau in Schwarzweiß erschien, in der eine in Reih und Glied aufgestellte Menschenschar Sieg Heil! skandierte. Sie erkannte Leni Riefenstahls Der Triumph des Willens. Dies verblasste, und eine Website erschien mit dem Gruß: »Willkommen in der arischen Nation!« Augenblicklich folgte eine zweite Seite, auf der »Willkommen, Sturmbannführerin Ashley Freeman« zu lesen war. »Bitte geben Sie Ihr Passwort ein.« »Müssen wir das vertiefen?«, fragte der stellvertretende Direktor. »Das ist verrückt«, brachte Ashley hervor. »Das ist nicht von mir. Ich weiß nicht, wie …« »Nicht von Ihnen?« »Nein, ich weiß nicht wie, aber …« Der stellvertretende Direktor zeigte auf den Bildschirm. »Also, dann geben Sie Ihr Museumspasswort ein.« »Aber …«
»Tun Sie mir den Gefallen«, sagte er kalt. Sie beugte sich vor und tippte es ein. Augenblicklich wechselte der Bildschirm, und eine neue Seite erschien. Wieder ertönte eine Fanfare. Etwas von Wagner. »Ich verstehe das nicht …« »Aber sicher, natürlich nicht …« »Jemand hat mir das angehängt«, beteuerte Ashley. »Ein Exfreund von mir. Ich weiß nicht, wie er das gemacht hat, aber er kennt sich mit Computern gut aus, und er muss …« Der stellvertretende Direktor hob die Hand. »Sagten Sie nicht eben noch, bei Ihnen liefe alles ganz normal? Das war das Erste, was ich Sie gefragt habe, und Sie haben nein gesagt, es gebe nichts Besonderes. Ein Exfreund, der Sie auf einer modernen Nazi-Website zum Mitglied einer von Hass getriebenen Gruppierung macht, also wirklich, ich würde das schon als ungewöhnlich bezeichnen.« »Das ist, er ist, ich weiß nicht …« Der stellvertretende Direktor schüttelte den Kopf. »Bitte verärgern Sie mich nicht noch mehr mit lahmen Entschuldigungen. Sie sind den letzten Tag hier gewesen, Ashley. Selbst wenn Ihre Entschuldigung der Wahrheit entsprechen sollte, nun ja, wir können hier so etwas nicht dulden, weder den widerwärtigen Freund noch die echte
Überzeugung. Beides ist in einer Atmosphäre der Toleranz, wie wir sie hier zu fördern versuchen, vollkommen inakzeptabel. Das hier ist Hass-Pornographie. Ich lasse das nicht zu. Und, um ehrlich zu sein, bin ich mir auch nicht sicher, ob ich Ihnen glauben kann. Wir werden Ihnen Ihren letzten Gehaltsscheck zuschicken. Gute Nacht, Miss Freeman. Bitte kommen Sie nicht wieder. Und«, fügte er hinzu, »erwarten Sie auch keine Empfehlung.«
Ashley schwankte zwischen unbändiger Wut und Tränen der Enttäuschung, als sie durch die einbrechende Nacht zurück zu ihrer Wohnung ging. Mit jedem Schritt wurde sie wütender und konnte kaum noch die Schatten und die Dunkelheit erkennen, die sie umgaben. Fast im Stechschritt lief sie durch die Straßen der Stadt und versuchte vergeblich, sich einen Aktionsplan zurechtzulegen. Vor Zorn konnte sie keinen klaren Gedanken fassen, und so überließ sie sich dem Aufruhr, bis ihr ganzer Körper zitterte. Niemand, der bei Sinnen war, würde einem anderen erlauben, das Leben vollkommen zu versauen, und sie war vollkommen bei Sinnen, also musste das Ganze ein Ende haben, und zwar noch an diesem Abend. Sie warf ihre Jacke und ihren Rucksack aufs Bett und lief schnurstracks zum Telefon. In Sekundenschnelle hatte sie Michael O’Connells Nummer gewählt. Er klang verschlafen,
nicht ganz da, als er sich meldete. »Ja, wer ist da bitte?« »Du weißt verdammt noch mal sehr gut, wer dran ist«, schrie sie bitter. »Ashley! Ich wusste, dass du anrufen würdest …« »Du Scheißkerl! Du hast mir meine Arbeit an der Uni versaut. Jetzt hast du mich um meinen Job gebracht. Was für ein mieser Typ bist du eigentlich?« Er sagte nichts. »Lass mich in Ruhe! Wieso lässt du mich nicht einfach in Ruhe?« Er schwieg. Sie kam in Fahrt. »Ich hasse dich! Sei verdammt, Michael! Ich hab dir gesagt, es ist vorbei, und das meine ich auch! Ich will dich nie wiedersehen. Ich kann nicht fassen, dass du mir das antust. Und du hast die Stirn zu behaupten, dass du mich liebst? Du bist krank, du bist ein schlechter Mensch, Michael, und ich will, dass du aus meinem Leben verschwindest. Für immer! Verstehst du?« Er antwortete immer noch nicht.
»Hörst du, Michael? Es ist vorbei! Finito. Endgültig und für alle Zeiten. Was immer du dir eingebildet hast, es ist aus und vorbei. Geht das in deinen Schädel?« Sie wartete auf eine Antwort, doch die blieb aus. Das Schweigen kroch langsam wie Weinranken an ihr hoch. »Michael?«, fragte sie. Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass er nicht mehr dran war, dass er aufgelegt hatte, so dass ihre Worte ins Leere gingen. »Hast du das begriffen? Es ist aus …«, versuchte sie es noch einmal. Wieder begegnete ihr nur Schweigen. Sie glaubte, seinen Atem durchs Telefon zu hören. »Michael, bitte. Es muss ein Ende haben.« Als er dann doch reagierte, erschrak sie beinahe. »Ashley«, sagte er fast beschwingt, mit einem leisen Lachen in der Stimme, als spräche er eine andere Sprache, von der sie kein Wort verstand. »Es ist wunderbar, deine Stimme zu hören. Ich zähle die Tage, bis wir wieder zusammen sein können.« Er legte eine Pause ein, bevor er hinzufügte: »Für immer.« Dann legte er auf.
»Aber etwas ist passiert«, vermutete ich. »Ja«, erwiderte sie. »Etwas, das heißt, einiges ist passiert.« Ich beobachtete ihr Gesicht und sah, dass sie um Worte rang. Sie zeigte ihren Widerwillen so, wie jemand im Winter einen warmen Pullover anzieht, um gegen den Wind und einen Kälteeinbruch gefeit zu sein. »Und?«, fragte ich, von ihrer ausweichenden Art ein wenig gereizt. »Wie ist der Zusammenhang? Sie haben mein Interesse an der Geschichte geweckt, indem Sie gesagt haben, ich sollte mir einen Reim auf das Ganze machen. Bis jetzt bin ich nicht sicher, was ich davon halten soll. Ich sehe, was für Spielchen Michael O’Connell getrieben hat. Aber zu welchem Zweck? Ich sehe, wie ein Verbrechen Gestalt annimmt, aber was für eins?« Sie hob die Hand, um mich zu unterbrechen. »Sie wollen, dass die Dinge einfach sind, nicht wahr? Aber Verbrechen sind nicht so simpel. Wenn man genauer hinsieht, dann erkennt man, dass dabei viele Kräfte
mitspielen. Haben Sie sich noch nie gefragt, ob wir nicht mit dazu beitragen, dass eine psychisch oder emotional belastende Atmosphäre entsteht, in der schlechte Dinge, schreckliche Dinge einen Nährboden finden, so dass sie Wurzeln schlagen und sich irgendwann zu einem Alptraum auswachsen? Ob wir nicht eine Art Brutstätte für das Böse sind, jeder für sich? Sieht doch manchmal so aus, oder nicht?« Ich antwortete nicht darauf. Stattdessen betrachtete ich sie, wie sie in ihre Tasse starrte, als wollte sie im Kaffeesatz lesen. »Beschleicht Sie nicht auch manchmal das Gefühl, dass wir ein unglaublich diffuses, zerrissenes Leben führen? In märchenhaften, glücklicheren Zeiten, da wurde man erwachsen und blieb, wo man hingehörte. Kaufte vermutlich ein Haus in derselben Straße, wo die Eltern wohnen. Stieg ins Familienunternehmen ein. Auf die Weise waren wir alle weiter miteinander verbunden, auf derselben Wellenlänge, in derselben Umgebung. Das waren noch naive Zeiten. Wie im Fernsehen, Die Honeymooners und Vater ist der Beste. Was für eine reizende Idee: Vater ist der Beste. Jetzt genießen wir eine gute Bildung und suchen das Weite.« Sie schwieg, bevor sie mich fragte: »Was würden Sie denn tun, wenn Sie begreifen müssten, dass jemand Ihr Leben ruinieren will? Und«, fügte sie hinzu, »verstehen Sie denn
nicht? Aus unserer Sicht, von unserer sicheren Warte aus ist es nicht schwer zu erkennen, dass da ein Mensch ist, der versucht, ihr Leben zu zerstören. Aber das konnten sie nicht sehen …« »Und wieso nicht?«, platzte ich heraus. »Weil das keinen Sinn ergibt. Es ist nicht plausibel. Ich meine, wieso? Wieso sollte er das machen …« »Na schön, wieso?« »Noch nicht«, erwiderte sie. »Das müssen Sie selbst rausfinden. Ein paar Dinge sind jedoch klar: Obwohl er nicht halb so viel Bildung, halb so viel Mittel, halb so viel Prestige besaß, verfügte Michael O’Connell über die ganze Macht. Er war doppelt so gewieft wie sie, weil sie wie alle anderen waren, er aber nicht. Da waren sie nun, gingen ihm immer tiefer in das Netz seiner tiefen Bösartigkeit, ohne dass sie es erkannten. Jedenfalls nicht als das, was es war. Was würden Sie machen? Ist das nicht die Frage? Schreckliche Dinge sind passiert, aber wo liegt die wahre Bedrohung?« Ich antwortete nicht direkt. Stattdessen wiederholte ich meine Frage, auf die ich immer noch eine Antwort wollte. »Aber etwas änderte sich?« »Ja, es kam ein Moment der Klarheit.«
»Wie das?« Sie lächelte. »Eine Glückssträhne in einer ansonsten immer unglücklicheren Situation.«
19 Strategiewechsel
Zuerst war Ashley vor Wut überwältigt. Sekunden nachdem Michael O’Connell aus der Leitung gegangen war, schleuderte sie das Handy quer durch den Raum, so dass es mit einem lauten Knall an der Wand zerbrach. Sie stand vorgebeugt da, die Hände zu Fäusten geballt, das Gesicht hochrot und verzerrt, die Zähne zusammengepresst. Sie nahm das erstbeste Lehrbuch und warf es in dieselbe Richtung, so dass es auf den Putz traf und mit einem dumpfen Geräusch zu Boden fiel. Sie stürmte ins Schlafzimmer, schnappte sich ein kleines Kissen vom Bett und überzog es mit einer Salve von
Fausthieben wie ein Boxer in der letzten Runde, holte immer und immer wieder mit beiden Armen aus. Dann packte sie das Kissen, vergrub beide Hände darin und riss es auseinander. Kleine Stückchen aus der Synthetikfüllung flogen durch die Luft und setzten sich ihr auf Haare und Kleider. Ihr stiegen die Tränen in die Augen, und endlich ließ sie einen Schrei der Verzweiflung heraus, bevor sie in eine vollständige, tiefe Depression hinüberglitt. Ashley warf sich aufs Bett, rollte sich wie ein Fötus zusammen und schluchzte los. Ganze Sturzbäche kamen aus ihr heraus, nachdem alle Selbstbeherrschung durchbrochen war. Ihr Körper schüttelte und krümmte sich vor ohnmächtiger Wut, und sie keuchte, als sei ihr die Frustration in jede Faser gedrungen und breitete sich wie ein Virus aus. Als keine Tränen mehr kamen, drehte sie sich auf den Rücken und starrte an die Decke, während sie den Kissenfetzen fest umklammerte. Sie holte tief Luft. Ihr war klar, dass Tränen ihr Problem nicht lösen würden, dennoch fühlte sie sich ein bisschen besser. Als sie merkte, dass ihr Herzschlag sich normalisiert hatte, richtete sie sich auf. »Also«, sagte sie laut. »Reiß dich zusammen, Mädel.« Sie blickte zu dem zerbrochenen Handy hinüber und kam
zu dem Schluss, dass ihr Wutanfall ein Segen war. Sie musste sich ein neues Handy besorgen und eine neue Nummer dazu. Eine, tröstete sie sich, die Michael O’Connell nicht kannte. Sie blickte zum Festnetztelefon auf ihrem Schreibtisch. »Das meldest du ab«, befahl sie sich. Neben ihrem Telefon stand ihr Laptop. »Na schön«, erklärte sie in dem Ton, in dem man mit einem kleinen Kind sprach, »Wechsle zu einem anderen Provider. Eröffne ein neues E-Mail-Account. Lösche sämtliche Daten zum Online-Banking. Richte alles neu ein.« Dann sah sie sich in der Wohnung um. »Wenn du umziehen musst, dann musst du eben umziehen.« Sie seufzte einmal tief. Sie konnte morgen früh ins Studentensekretariat marschieren und ihre Zeugnisse korrigieren lassen. Sie wusste, dass das ziemlich aufwendig werden würde, doch sie hatte ihre Abschlussdokumente auch auf Papier, und egal, welche Gemeinheiten Michael O’Connell ihr angetan hatte, fand sie bestimmt einen Weg, da mit heiler Haut herauszukommen. Möglicherweise war bei ihren derzeitigen Seminaren und ihren angeblichen Fehlzeiten nichts zu machen, doch das war nur ein Kurs, zweifellos ein Rückschlag, aber kein fataler.
Die Kündigung stellte ein ernsteres Problem dar. Sie musste davon ausgehen, dass der stellvertretende Direktor ihr auch in Zukunft Steine in den Weg legen würde. Er war ein starrköpfiger Stümper und ein verkappter Sexist, und sie hasste den Gedanken, ihm noch einmal in die Quere zu kommen. Sie beschloss, sich an einen ihrer ehemaligen Professoren zu wenden und diesen zu bitten, dem Mann einen Brief zu schreiben und ihm darin zu erklären, dass er sich in seinem Urteil über sie geirrt hatte und dass ihr Zeugnis dem Rechnung tragen solle. Sie war relativ zuversichtlich, dass sie jemanden dazu bringen konnte, wenn sie ihm die Situation erklärte. Selbst wenn es ihr den Job nicht zurückbrachte, so konnte es zumindest den Schaden begrenzen. Schließlich, sagte sie sich, gab es nicht nur im Museum Jobs. Es musste noch andere geben, voller Kunst und Farben, die ihrem Wesen und ihren Zukunftsplänen entsprachen. Je mehr Ashley plante, desto besser fühlte sie sich. Je mehr Entscheidungen sie traf, desto weniger hilflos kam sie sich vor, desto stärker und entschlossener fühlte sie sich. Nach einer Weile stand sie auf, schüttelte sich von Kopf bis Fuß und ging ins Bad. Sie starrte ihr Spiegelbild mit den geschwollenen, roten Augen an. »Also«, wies sie sich an, während sie das Waschbecken mit dampfend heißem Wasser füllte und anfing, sich das Gesicht zu waschen, »keine Tränen mehr wegen dieses verdammten Dreckskerls.«
Sie würde sich auch keine Angst mehr einjagen lassen, nicht mehr die Zähne zusammenbeißen und sich nervös machen lassen. Sie würde ihr Leben wieder in den Griff bekommen, ob es Michael O’Connell passte oder nicht. Sie hatte auf einmal Hunger, und nachdem sie so viel von ihrer Traurigkeit abgewaschen hatte, wie sie konnte, ging sie in die Küche, fand einen Halbliterbecher Ben-andJerry’s-Phish-Food-Eiscreme im Tiefkühlfach und löffelte eine großzügige Portion, um sich von dem süßen Geschmack die Stimmung aufhellen zu lassen, bevor sie an das verbliebene Telefon ging und ihren Vater anrief. Als sie, den Becher in der Hand, durchs Zimmer ging, stoppte sie am Fenster und starrte mit einem Anflug von Unsicherheit in die Nacht. Hör auf, den Schatten abzusuchen. Ashley machte kehrt, schnappte sich das Festnetztelefon und tippte die Nummer ein, ohne zu ahnen, dass im selben Moment ein Augenpaar das schwache Licht in ihrer Wohnung abtastete, um einen Blick auf sie zu erhaschen, weil das bloße Wissen um ihre Gegenwart zugleich etwas Unbefriedigendes wie Tröstliches hatte. Die Dunkelheit war willkommen, ihre Nähe in diesem Moment hatte ihren eigenen Reiz. Sie würde nie begreifen, dachte er, dass jeder Schritt, den sie unternahm, um sich von ihm zu lösen, ihn nur noch mehr erregte und seine Leidenschaft schürte. Er schlug den Kragen seiner Jacke hoch und trat noch weiter in den Schatten zurück. Wenn nötig, konnte er sich die ganze Nacht über warm halten und warten.
Hope war erstaunt, als sie bei ihrer Heimkehr am Abend Sally vorfand, die auf sie wartete. Sie hatten die steifsten Umgangsformen miteinander angenommen, die vor allem von ausgedehntem Schweigen gekennzeichnet waren. Sie sah ihre langjährige Lebensgefährtin an, und es überkam sie eine Woge der Erschöpfung und des Entsetzens. Es ist also so weit, dachte sie. Wir brauchen nur noch auszusprechen, dass es zu Ende ist. Eine namenlose Traurigkeit stieg in ihr auf, während sie Sally nervös betrachtete. »Du bist ein bisschen früher dran«, stellte sie so neutral wie möglich fest. »Hunger? Ich kann was improvisieren, wenn auch nichts Besonderes …« Sally rührte sich kaum. Sie hielt den nächsten Scotch in der Hand. »Ich habe keinen Hunger«, erklärte sie mit einer etwas nachlässigen Aussprache. »Aber wir müssen reden. Wir haben ein Problem.« »Ja«, sagte Hope, während sie sich langsam die Jacke auszog, »das sehe ich genauso.« »Mehr als eins«, fügte Sally hinzu. »Ja. Mehr als eins«, bestätigte Hope. »Vielleicht brauche
ich auch einen Drink.« Sie ging in die Küche. Während Hope sich ein großes Glas Weißwein einschenkte, versuchte Sally, sich darüber klarzuwerden, wo sie am besten anfangen und welches der unzähligen Probleme sie als Erstes zur Sprache bringen sollte. Sie hatte das Gefühl, dass sich in ihrem Kopf alles zu einem einzigen Berg auftürmte – die Plünderung ihres Klientenkontos und die damit verbundene Bedrohung ihrer Karriere zusammen mit der Kälte, die sie gegenüber Hope empfand. Wer bin ich?, fragte sich Sally. Sie fühlte sich so ähnlich wie in der Zeit, bevor sie sich von Scott trennte. Eine Art dunkelgrauer Schatten, der sich über ihre Gedanken legte. Es kostete sie eine ungeheure Willensanstrengung, sitzen zu bleiben. Sie wollte aufstehen und weglaufen. Für eine Anwältin, die daran gewöhnt ist, heikle Probleme zu lösen, fühlte sie sich plötzlich ziemlich hilflos. Als sie aufsah, stand Hope in der Tür. »Ich muss dir sagen, was passiert ist«, sagte Sally. »Du hast dich in jemand anders verliebt?« »Nein, nein …«
»Einen Mann?« »Nein.« »Dann in eine andere Frau?« »Nein.« »Du liebst mich nicht mehr«, fuhr Hope fort. »Ich weiß nicht, was ich liebe«, erwiderte Sally. »Ich fühle mich, ich weiß nicht, als ob ich verblasse, wie ein altes Foto.« Für Hope klang das nach Selbstmitleid und allzu romantischen Ansprüchen. Es machte sie wütend, und nach all der Spannung, unter der sie gelitten hatte, konnte sie sich nur mühsam beherrschen. »Weißt du, Sally«, sagte sie in einer Kälte, die sie selbst überraschte, »mir ist wirklich nicht danach, das Hin und Her deiner Gemütszustände zu diskutieren. Na schön, es ist nicht alles perfekt. Was hast du vor? Ich hasse es, in diesem Minenfeld zu leben. Ich habe den Eindruck, wir sollten uns entweder trennen oder, ich weiß nicht. Was schlägst du vor? Diese seelische Achterbahnfahrt ist mir jedenfalls ganz und gar zuwider …« Sally schüttelte den Kopf. »Habe ich noch nicht drüber nachgedacht.«
»Offensichtlich nicht, verdammt noch mal«, gab Hope zurück und hatte ein schlechtes Gewissen, als sie feststellte, wie gut es ihr tat, die Wut herauszulassen. Sally wollte etwas sagen, überlegte es sich aber anders. »Da ist noch ein Problem«, erklärte sie, »das uns beide und unser Zusammenleben tangiert.« Sally berichtete ihr von dem Beschwerdebrief der Anwaltskammer und der harten Realität, dass ein Gutteil ihrer Ersparnisse zumindest vorerst verloren war und dass sie wahrscheinlich einige Zeit brauchen würde, das Geld aufzutreiben und die nötigen Dokumente zusammenzubekommen, um es zurückzuholen. Hope hörte ihr entsetzt zu. »Du machst Witze, oder?« »Schön wär’s.« »Aber das war nicht dein Geld, es war unser Geld. Du hättest mich vorher fragen sollen …« »Ich musste zügig handeln, um einer Untersuchung seitens der Kammer zuvorzukommen.« »Gut, das ist ein Grund. Aber es erklärt nicht, wieso du nicht das verdammte Telefon genommen und mir gesagt hast, was los ist.« Sally antwortete nichts.
»Wir stehen demnach nicht nur kurz vor der Scheidung, wir sind auch plötzlich pleite?« Sally nickte. »Das heißt, nicht ganz, nur, bis die Sache geregelt ist …« »Na, toll, einfach toll. Ganz großartig, verflucht noch mal. Was zum Teufel sollen wir jetzt machen?« Hope stand auf und lief im Zimmer auf und ab. Sie war so wütend auf ihre Lebensgefährtin, dass sie den Eindruck hatte, die Lichter im Raum hätten sich wie bei einer plötzlichen Stromschwankung für einen Moment verdunkelt. Bevor Sally antworten konnte, Ich weiß nicht, klingelte das Telefon. Hope fuhr herum, starrte auf den Apparat, als wäre er schuld an dem Unglück, und stampfte durchs Zimmer, um ranzugehen. Sie murmelte Obszönitäten, die ihren Schritten den Takt gaben. »Ja?«, sagte sie unhöflich. »Wer spricht da?« Sally saß angesichts des Desasters wie ein Häufchen Elend in ihrem Sessel und sah, wie Hopes Gesicht mit einem Schlag erstarrte. »Was ist los?«, fragte sie. »Ist was passiert?« Hope schwieg, während sie offenbar dem Anrufer zuhörte.
Nach einer Weile nickte sie und sagte: »Verdammte Scheiße. Warte, ich geb sie dir.« Sie drehte sich zu Sally um. »Ja, nein. Hier, für dich. Es ist Scott. Dieser Scheißkerl mischt sich wieder in Ashleys Leben ein. Im großen Stil.« Eine Stunde später traf Scott bei ihnen ein. Er klingelte und hörte Nameless bellen, bevor Hope an der Tür erschien. Sie brauchten wie üblich einen Moment, um ihr verlegenes Schweigen zu überwinden, dann forderte sie ihn mit einer Geste auf einzutreten. »Hey, Scott, komm rein.« Er war erstaunt, als er sah, dass Hope geweint haben musste, denn er hatte stets angenommen, sie sei die Stärkere im Verhältnis zu Sally. Eines wusste er mit Sicherheit: Seine Exfrau war der launische Teil, egal in welcher Partnerschaft. Als er das Wohnzimmer betrat, sparte er sich einen Gruß. »Hast du mit Ashley gesprochen?« Sally nickte. »Ja, während du unterwegs warst. Sie hat mir erzählt, was du schon von ihr wusstest. Jetzt steht sie ohne Arbeit da und mit einem ziemlichen Schlamassel an der Uni.« Sie seufzte. »Wir haben offenbar unterschätzt, wie hartnäckig dieser O’Connell ist.« Scott zog die Augenbrauen hoch. »Das ist wohl ein bisschen untertrieben«, sagte er. »Wahrscheinlich war der
Fehler unvermeidlich. Aber jetzt müssen wir Ashley helfen, da wieder rauszukommen.« »Ich dachte, deshalb bist du nach Boston gefahren«, meinte Sally kalt und sah ihren Mann stirnrunzelnd an. »Mit fünftausend guten Gründen in bar.« »Ja«, erwiderte Scott ebenso unterkühlt. »Unser Bestechungsversuch hat, wie’s aussieht, nicht funktioniert. Also, wie soll es jetzt weitergehen?« Sie schwiegen alle einen Moment lang, bis es aus Hope herausbrach: »Ashley ist in einer blöden Situation. Sie braucht ganz offensichtlich Hilfe, aber wie? Und was? Was können wir tun?« »Es muss doch Gesetze geben«, vermutete Scott. »Sicher, aber wie können wir uns darauf berufen?«, fuhr Hope fort. »Und gegen welches Gesetz hat der Kerl unserer Meinung nach verstoßen? Er hat sie nicht tätlich angegriffen. Er hat sie nicht geschlagen. Ihr nicht gedroht. Er hat ihr gesagt, er liebt sie. Und er ist ihr gefolgt. Er hat mit Hilfe des Computers ihr Leben völlig durcheinandergebracht. Grober Unfug im Großen und Ganzen …« »Dagegen gibt es Gesetze«, erklärte Sally. Dann verstummte sie.
»Grober Unfug mit dem Computer«, nahm Scott den Faden auf. »Das beschreibt es doch wohl kaum.« »Noch dazu anonym«, fügte Sally hinzu. Alle drei überlegten angestrengt, was sie sagen sollten. Nach einer Weile lehnte sich Scott zurück und berichtete: »Ich hatte letzte Woche selbst ein wirklich heikles Problem, das ebenfalls anonym mit dem Computer in die Welt gesetzt wurde. Ich hoffe zwar, es ist gelöst, aber …« Einen Moment lang schwiegen alle drei, dann eröffnete Hope: »Ich auch.« Sally sah erstaunt auf. Doch bevor sie etwas sagen konnte, zeigte Hope mit dem Finger auf sie. »Und sie auch.« Hope stand auf. »Ich denke, wir können alle einen Drink gebrauchen«, erklärte sie und machte sich auf die Suche nach einer neuen Flasche Wein. »Vielleicht auch mehr als einen«, fügte sie im Weggehen hinzu, während Scott und Sally sich einen fragenden Blick zuwarfen.
Der Detective der bundesstaatlichen Polizei, der mir gegenübersaß, schien auf den ersten Blick ein überraschend aufgeräumter Mann zu sein, der wenig von den abgebrühten, weltverdrossenen Figuren in Kriminalromanen an sich hatte. Er war von mittlerer Größe und normalem Körperbau, trug einen blauen Blazer zur billigen khakifarbenen Hose, kurz geschnittenes dunkelblondes Haar und einen einnehmenden buschigen Schnurrbart auf der Oberlippe. Ohne die glänzende Neunmillimeter Glock, die er in einem Schulterhalfter an der Seite trug, wäre er als Handelsvertreter oder auch als Studienrat durchgegangen. Er wippte auf seinem Stuhl zurück, ignorierte ein klingelndes Telefon und sagte: »Sie wollen demnach etwas über Stalking erfahren?« »Ja. Ich recherchiere«, antwortete ich. »Für ein Buch oder einen Artikel? Sie haben nicht ein persönliches Interesse an dem Thema?« »Ich verstehe nicht ganz …« Der Polizist grinste. »Na ja, klingt ein bisschen so wie der Kerl, der beim Doktor anruft und sagt: ›Ich hab diesen Arbeitskollegen, der möchte gerne wissen, ähm, welche die Symptome einer Geschlechtskrankheit sind, ähm, von Gonorrhö oder Syphilis. Und wie er, also, mein Kumpel, da
drangekommen sein könnte, er hat nämlich ziemlich Schmerzen …‹« Ich schüttelte den Kopf. »Sie meinen, ich werde von einem Stalker belästigt und will …« Er lächelte verschmitzt. »… Vielleicht sind ja Sie ein verkappter Stalker und suchen Rat, wie Sie vermeiden können, erwischt zu werden. So etwas Verrücktes brächte ein richtiger Stalker glatt fertig. Es ist grundsätzlich ein Fehler, sie zu unterschätzen. Und das, was sie planen und wann sie es in die Tat umsetzen.« Wieder federte er auf seinem Stuhl zurück. »Ein dedizierter Stalker erhebt seine Obsession zu einer Wissenschaft. Und zu einer Kunst.« »Inwiefern?« »Er studiert nicht nur sein Opfer, sondern auch dessen Umfeld. Familie. Freunde. Beruf. Schule oder Universität. Das Restaurant, in das die Zielperson gerne geht. Das Kino. Meinetwegen auch die Werkstatt, in der sie ihr Auto warten lässt, oder wo sie ihre Lottoscheine abgibt. Wo sie den Hund Gassi führt. Er schöpft alle möglichen Quellen – legal wie illegal – aus, um an möglichst viele Informationen zu kommen. Ständig taxiert er, plant er voraus. Jeder Gedanke gilt seinem Opfer, und das in einem Maße, dass
er dessen nächste Schritte im Voraus ahnt, als könne er Gedanken lesen. Am Ende scheint er es fast besser zu kennen als es sich selbst.« »Was treibt ihn letztlich dazu an?« »Da sind sich die Psychologen nicht so recht einig. Obsessive Verhaltensweisen sind letztlich immer ein wenig rätselhaft. Eine Vergangenheit mit Ecken und Kanten?« »Vermutlich wohl mehr als das.« »Ja, vermutlich. Ich nehme stark an, dass man, wenn man ein bisschen an der Oberfläche kratzt, auf ziemlich scheußliche Sachen stößt. Missbrauch. Gewalt. Das ganze Programm.« Er schüttelte den Kopf. »Gefährliche Burschen, diese Stalker. Alles andere als gewöhnliche Kleinkriminelle. Ob man nun die Kassiererin an einem Campingplatz oder am Supermarkt um die Ecke ist, deren Exfreund aus der Motorrad-Gang sie verfolgt, oder ein Hollywood-Star mit einem Haufen Geld, dem ein obsessiver Fan nachstellt, man ist in großer Gefahr, denn egal, was man macht, sie kommen an einen ran, wenn sie es nur stark genug wollen. Die Vollzugsbehörden können allenfalls mit einstweiligen Verfügungen reagieren, aber nicht ein mögliches Verbrechen verhindern, und dasselbe gilt für die Gesetze gegen das Cyber-Stalking. Stalker wissen das. Und das Beängstigende ist, dass es ihnen oft sogar egal ist, vollkommen egal. Gegen die üblichen
Sanktionen sind sie immun. Bloßstellung, finanzieller Ruin, Gefängnis, ja der Tod – das kann sie alles nicht schrecken. Das Einzige, was sie fürchten, ist, ihre Zielperson aus dem Auge zu verlieren. Das beherrscht alles und wird ihnen zum einzigen Lebenssinn.« »Was kann ein Opfer machen?« Er griff in seinen Schreibtisch und zog eine Broschüre mit dem Titel Sind Sie ein Stalking-Opfer? Ratschläge von der State Police Massachusetts hervor. »Wir geben ihnen diese Lektüre an die Hand.« »Ist das alles?« »Bis ein Verbrechen begangen wird. Und dann ist es meist schon zu spät.« »Was ist mit Hilfsorganisationen und …« »Nun ja, die können in dem einen oder anderen Fall nützlich sein. Sie bieten einen sicheren Ort, geheime Unterkunft, Selbsthilfegruppen, was weiß ich. Sie können in manchen Fällen gewisse Unterstützung gewähren. Und ich würde nie jemandem davon abraten, sich an diese Gruppen zu wenden, aber man muss behutsam vorgehen, denn es könnte auch eine Eskalation herbeiführen, die man nicht gewollt hat. Gewöhnlich ist es dafür allerdings sowieso zu spät. Wissen Sie, was wirklich verrückt ist?«
»Was?« »Unsere Gesetzgebung hier in Massachusetts ist die fortschrittlichste überhaupt, wenn es um den Schutz der Bürger geht, aber ein entschiedener Stalker findet immer einen Weg, sie zu umgehen. Und was noch schlimmer ist – wenn Sie sich erst mal an die Polizei wenden, wenn Sie Anzeige erstatten und den Fall protokollieren lassen und eine gerichtliche Verfügung gegen den Stalker erwirken, dass er Ihnen vom Halse bleiben muss, können Sie genau damit ein Desaster auslösen. Den Kerl zu einer unüberlegten Handlung treiben, so dass er sein ganzes Arsenal ins Feld führt und erklärt: ›Wenn ich dich nicht haben kann, dann kriegt dich auch kein anderer.‹« »Und …« »Gebrauchen Sie Ihre Phantasie, Sie sind doch Schriftsteller. Sie wissen, was passiert, wenn ein Kerl als Rambo verkleidet, im Tarnanzug, mit einer Zwölf-SchussAutomatik, mindestens zwei Pistolen und genügend Munition am Gürtel, um stundenlang eine ganze Spezialeinheit in Schach zu halten, am Arbeitsplatz oder bei Ihnen zu Hause aufkreuzt. Haben Sie doch alles schon im Film gesehen.« Ich sagte nichts, während ich die entsprechenden Szenen vor Augen sah. Der Detective grinste wieder.
»Eins sollten Sie wissen: Soweit wir es sowohl aus Sicht des Kriminologen als auch aus Sicht der forensischen Psychologie beurteilen können, entspricht das Profil eines dedizierten Stalkers mehr oder weniger dem eines Serienkillers.« Er lehnte sich zurück. »Da kommt man ins Grübeln, oder?«
20 Richtiges und falsches Handeln
Hat einer von euch eine konkrete Vorstellung dessen, womit wir es hier zu tun haben?« Sallys Frage stand im Raum. »Ich meine, was wissen wir, abgesehen von dem wenigen, das Ashley uns erzählt hat, über den Kerl, der in ihr Leben eingebrochen ist?« Sally drehte sich zu ihrem Ex um. Sie war beim Scotch geblieben und hätte längst betrunken sein müssen, war aber aus schierer Nervosität stocknüchtern. »Scott, außer Ashley bist du der Einzige von uns, der den Typen gesehen hat. Ich nehme an, du hast bei eurer Begegnung deine
Beobachtungen gemacht, ein Gefühl für den Mann entwickelt. Vielleicht sollten wir damit beginnen …« Scott zögerte. Er war daran gewöhnt, ein Gespräch in einem Seminarraum zu moderieren, und so musste er sich erst in die Situation hineinfinden, dass plötzlich ihm eine Frage gestellt wurde. »Er war ein Typ, mit dem wohl keiner von uns vertraut sein dürfte«, sagte er vorsichtig. »Wie meinst du das?«, fragte Sally. »Na ja, er war kräftig gebaut, gutaussehend und offensichtlich ziemlich intelligent, gleichzeitig hatte er aber auch etwas Ungehobeltes, so wie man es von einem Mann erwarten würde, der gerne Motorrad fährt, einer gering qualifizierten Arbeit nachgeht und nach der Highschool Volkshochschulkurse belegt. Mein Eindruck war, dass er aus unterprivilegierten Verhältnissen stammt, ein Typ, wie er nicht allzu oft bei mir am College zu finden ist, oder auch bei Hope, und vollkommen anders als die Jungs, die Ashley sonst anschleppt, in die sie eben noch unsterblich verliebt ist, um ihnen vier Wochen später den Laufpass zu geben. Das war meistens der Künstlertyp, schmalbrüstig, mit langen Haaren und nervös. O’Connell schien dagegen taff und gewieft. Vielleicht bist du dem einen oder anderen von diesem Schlag schon in deiner Kanzlei begegnet, aber ich vermute, dass du eher die gehobenen Schichten vertrittst.«
»Und dieser Kerl …« »… Unterschicht. Aber das muss ja kein Nachteil sein.« Sally überlegte. »Was zum Teufel hatte Ashley überhaupt mit dem zu schaffen?« »Sie hat mit ihm einen Fehler gemacht«, erklärte Hope. Sie hatte schweigend dagesessen, hatte Nameless den Rücken gestreichelt und innerlich gekocht. Erst war sie nicht sicher gewesen, ob es ihr zustand, an dem Gespräch teilzunehmen, doch dann war sie zu dem Schluss gekommen, dass sie sehr wohl ein Wörtchen mitzureden hatte. Sie begriff nicht, wie Sally so distanziert sein konnte, als ginge sie das alles, einschließlich ihrer plötzlich prekären finanziellen Situation, nur am Rande etwas an. »Jeder trifft ab und zu die falsche Wahl. Und bereut sie später. Der Unterschied ist nur, dass wir einen Schlussstrich ziehen können. Dieser Typ aber will Ashley nicht loslassen.« Sie warf einen Blick in Scotts Richtung, bevor sie sich wieder Sally zuwandte. »Vielleicht war Scott dein Fehler. Vielleicht war ich es. Vielleicht hat es auch jemanden gegeben, von dem wir beide nichts wissen und den du uns beiden jahrelang vorenthalten hast. Wie auch immer, das Leben ist für dich weitergegangen. Dieser Typ dagegen scheint vollkommen anders zu ticken.« »Na schön«, sagte Sally vorsichtig, nachdem einen
Moment lang betretenes Schweigen geherrscht hatte. »Wie soll es weitergehen?« »Als Erstes einmal sollten wir zusehen, dass wir Ashley schleunigst da wegholen«, schlug Scott vor. »Aber sie studiert nun mal in Boston. Da ist sie zu Hause. Sollen wir sie vielleicht wie ein Kind, das im Ferienlager an Heimweh leidet, nach Hause holen?« »Ja, genau das.« »Glaubst du, sie würde kommen?«, warf Hope ein. »Haben wir überhaupt das Recht dazu?«, fragte Sally hastig. »Sie ist erwachsen. Sie ist kein kleines Mädchen mehr.« »Das weiß ich auch«, erwiderte Scott gereizt. »Aber wenn wir die Sache vernünftig betrachten …« »Ist irgendetwas von alledem überhaupt vernünftig?«, fragte Hope schroff. »Ich meine, ist es vielleicht fair, dass Ashley bei den ersten Anzeichen von Ärger zu Hause unterkriechen soll? Sie hat das Recht zu leben, wo sie will, und sie hat das Anrecht auf ihr eigenes Leben. Und dieser Typ, dieser O’Connell, hat nicht das Recht, sie in die Flucht zu schlagen.« »Richtig, aber hier geht es nicht um Rechte, hier geht es
darum, den Tatsachen ins Auge zu sehen.« »Also«, stellte Sally fest, »Tatsache ist, dass wir tun müssen, was Ashley will, und wir wissen noch nicht, was das ist.« »Sie ist meine Tochter. Ich denke, wenn ich sie um etwas bitte, dann wird sie es verdammt noch mal auch tun«, erwiderte Scott steif und mit einem verärgerten Unterton. »Du bist ihr Vater, aber sie ist nicht dein Eigentum«, wies ihn Sally zurecht. Es herrschte betretenes Schweigen im Raum, das erst gebrochen wurde, als jeder von ihnen erkannte, wie unbehaglich ihnen zumute war. »Wir sollten herausfinden, was Ashley will.« »Das mag ja politisch korrekt sein, aber in meinen Augen wäre das nur lasch und unentschieden«, meinte Scott. »Ich denke, wir müssen aggressiver vorgehen. Zumindest, bis wir uns ein besseres Bild davon machen können, womit wir es zu tun haben.« Wieder herrschte Schweigen. »Ich stimme Scott zu«, erklärte Hope unvermittelt. Sally fuhr zu ihr herum und sah sie erstaunt an.
»Ich denke, wir sollten, ja, ich weiß nicht, die Initiative ergreifen«, fuhr Hope fort. »Zumindest bis zu einem gewissen Grad.« »Und was schlagt ihr beide dann vor?« »Wir sollten«, sagte Scott langsam, »ein bisschen mehr über Michael O’Connell in Erfahrung bringen, während wir Ashley seinem unmittelbaren Zugriff entziehen. Wir sollten tun, was in unserer Macht steht, jeder von uns. Vielleicht sollte einer von uns den Mann unter die Lupe nehmen …« Sally hob die Hand. »Wir sollten einen Profi hinzuziehen. Ich kenne ein, zwei Privatdetektive, die sich ständig mit solchen Ermittlungen befassen. Sind außerdem nicht teuer.« »Gut«, stimmte Scott zu. »Engagiere du einen, und dann sehen wir, womit er aufwarten kann. In der Zwischenzeit müssen wir Ashley aus O’Connells physischer Reichweite schaffen …« »Sie nach Hause holen? Das erscheint mir kindisch und feige«, wandte Sally ein. »Aber es scheint dennoch sinnvoll. Vielleicht braucht sie im Moment jemanden, der ein bisschen auf sie aufpasst.« Scott und Sally funkelten sich an, als erlebten sie diese Situation nicht zum ersten Mal.
»Meine Mutter«, schlug Hope vor. »Deine Mutter?« »Ja, Ashley hat sich immer gut mit ihr verstanden, und sie lebt in einer Kleinstadt, in der ein Fremder, der seltsame Fragen stellt, nicht unbemerkt bleibt. Es wäre nicht leicht für O’Connell, ihr dahin nachzufolgen. Es ist weit genug weg, aber nicht zu weit. Und ich bezweifle, dass er herausfindet, wo sie ist.« »Aber ihr Studium …«, zögerte Sally. »Von einem verpassten Semester geht die Welt nicht unter«, erklärte Hope kurz angebunden. »Das sehe ich genauso«, stimmte Scott ein. »Also gut, wir haben einen Plan. Jetzt müssen wir nur noch Ashley dafür gewinnen.«
Michael O’Connell hörte auf seinem iPod die Rolling Stones. Als Mick Jagger »All your love is just sweet addiction …« sang, tanzte er fast die Straße entlang, ohne auf die Passanten zu achten, die ihn anstarrten, als er mit den Füßen den Rhythmus des Schlagzeugs auf dem Bürgersteig stampfte. Er ließ sich von den Klängen inspirieren und stellte sich vor, welcher Takt zu seinem
nächsten Schritt am besten passte, den er mit Ashley unternehmen würde. Etwas, womit sie nicht rechnete, dachte er, etwas, das ihr eindringlich vor Augen führte, wie hautnah er immer bei ihr war. Er glaubte nicht, dass sie das bis jetzt wirklich begriffen hatte. Bis jetzt noch nicht. Er hatte vor ihrer Wohnung gewartet, bis er sah, dass alle Lichter gelöscht waren, und er wusste, dass sie sich schlafen gelegt hatte. Ashley verstand auch nicht, um wie viel leichter es war, im Dunkeln zu sehen. Eine Lampe macht nur einen bestimmten Ausschnitt sichtbar. Es war viel klüger, Gestalten und Bewegungen im Schatten der Nacht zu erkennen. Die besten Raubtiere, rief sich O’Connell ins Gedächtnis, waren nachtaktiv. Der Song war zu Ende, und er blieb auf dem Bürgersteig stehen. Auf der anderen Straßenseite sah er ein kleines Programmkino, in dem ein französischer Film mit dem Titel Nid de guêpes lief. Er glitt wieder in den Schatten und beobachtete die Leute, die aus dem Kino kamen. Wie erwartet, waren es vor allem junge Paare. Sie schienen beschwingt und hatten nicht diesen typischen Ausdruck, Ich habe gerade etwas Bedeutungsvolles gesehen, wie so viele, wenn sie aus einem dieser Cineastenkinos kamen. Sein Blick fiel auf ein junges Paar, das Arm in Arm lachend
auf den Bürgersteig trat. Die beiden irritierten ihn augenblicklich. Er merkte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte, und er ließ sie nicht aus den Augen, als sie auf dem Bürgersteig gegenüber ein Neonlicht passierten. Er presste die Zähne zusammen und hatte einen scharfen Geschmack auf der Zunge. Es war nichts Bemerkenswertes an dem Paar, und dennoch brachten die beiden ihn vollkommen in Rage. Er sah, wie sich die junge Frau an den Jungen schmiegte, seinen Arm nahm und mit ihrem verschränkte, so dass sie wie eine einzige Gestalt im Gleichschritt die Straße hinunterliefen, ein Moment der öffentlichen Intimität. O’Connell beschleunigte seine eigenen Schritte und lief auf seiner Straßenseite neben den beiden her, so dass er sie aus größerer Nähe betrachten konnte, während sich in ihm blanke Wut zusammenbraute. Sie rieben im Gehen ihre Schultern aneinander und neigten sich einander zu. O’Connell sah, dass sie abwechselnd lachten, lächelten und sich angeregt unterhielten. Er glaubte nicht, dass sie schon lange zusammen waren. Ihre Körpersprache, ihre Bewegungen, ihre Gesten, die Art, wie sie einander zuhörten und lachten, verriet die Aufregung des Neuen, erstes Werben und Kennenlernen. Er sah, wie das Mädchen den Arm des Jungen stärker umfasste, und er zog den Schluss, dass sie schon
miteinander geschlafen hatten, wahrscheinlich aber erst ein Mal. Bei jeder Berührung, jeder Zärtlichkeit, jedem Moment der Erkundung sprühten Funken, alles war verheißungsvoll. Er spürte einen abgründigen Hass. Es fiel O’Connell nicht schwer, sich auszumalen, wie sie den Rest der Nacht verbringen würden. Es war schon spät, also würden sie nicht erst noch bei Starbucks auf einen Kaffee oder bei Baskin-Robbin für ein, zwei Kugeln Eis haltmachen, auch wenn sie vor beiden stehenbleiben und so tun würden, als dächten sie ernsthaft darüber nach, wo sie sich doch in Wahrheit nur gegenseitig verschlingen wollten. Der Junge plauderte wahrscheinlich weiter über Filme, über Bücher, über irgendwelche Seminare an seinem College, und das Mädchen hörte zu, warf gelegentlich ein Wort ein, während sie die ganze Zeit mehr darauf hörte, was für ein Mensch er war und was er ihr bedeuten könnte. Der Junge brauchte nicht mehr Ermutigung als den Druck an seinem Arm. Sie werden lachend in die Wohnung gehen. Und waren sie erst einmal drinnen, wäre es eine Sache von Sekunden, bis sie das Bett gefunden und sich ausgezogen hatten. Die ganze Müdigkeit nach einem langen Tag wäre wie weggeblasen, wenn sie Liebe machten. Er atmete schwer, obschon auch leise. So etwa haben sie sich das gedacht. So hätten sie es
gerne. So ist es geplant. Er lächelte. Aber nicht heute Nacht. Er lief schneller und hielt sich auf gleicher Höhe wie das Paar, ließ die beiden von seiner Straßenseite aus nicht mehr aus den Augen. Als an einer Kreuzung die Fußgängerampel auf Gelb schaltete, war er im Nu auf dem Zebrastreifen und begab sich mit gesenktem Kopf und gebeugten Schultern direkt auf ihre Seite. Sie bewegten sich nun auf ihn zu, so dass sie sich wie zwei Schiffe im Kanal jeden Moment kreuzen mussten, ziemlich dicht nebeneinander, aber jedes in seiner Fahrrinne. O’Connell schätzte den Abstand und rechnete ihn hoch, während er registrierte, dass sie immer noch ins Gespräch vertieft waren und ihre Umgebung nur halb wahrnahmen. Genau in diesem Moment, als O’Connell nur noch knapp einen Meter von dem Paar entfernt war, machte er einen Schlenker zur Seite, so dass er fest gegen die Schulter des Jungen stieß. Der Aufprall tat ihm gut, und er drehte sich abrupt zu dem Pärchen um und brüllte: »Hey! Was soll das! Passt gefälligst auf, wo ihr langlauft!« Das Paar drehte sich halb in O’Connells Richtung. »Hey, tut mir leid«, entschuldigte sich der Junge. »Meine Schuld, tut mir leid.« Nach einem kurzen Blick in O’Connells Richtung gingen sie weiter.
»Arschloch«, sagte O’Connell laut genug, dass sie es hören mussten, wobei er sich jedoch schnell abwendete, als wäre nichts gewesen. Sie hatten ihn nur vage zu sehen bekommen. Der Junge fuhr, das Mädchen immer noch am Arm, herum und wollte wohl etwas erwidern, überlegte es sich aber anders. Er wollte nichts tun oder sagen, was ihnen die Stimmung verdarb, und wandte sich ab. O’Connell zählte langsam bis drei, so dass das Paar, das ihm jetzt wieder den Rücken kehrte, etwas Abstand gewann, dann ging er erneut los und folgte den beiden. Es hupte plötzlich, so dass das Mädchen über die Schulter blickte und ihn sah. Er registrierte den Schrecken in ihrem Gesicht. Perfekt, dachte er. Lauft ein paar Schritte und verdaut den Schock, fragt euch, ob es eine Bedrohung gibt. Kaum hatte er den Bürgersteig erreicht und sah, dass das Mädchen hastig mit dem Jungen sprach, duckte O’Connell sich in einen abgedunkelten Winkel an einer Ladenfront, so dass er aus ihrem Blickfeld verschwand. Dabei hätte er am liebsten laut gelacht. Wieder zählte er. Eins, zwei, drei … Genug Zeit für den Jungen, sich anzuhören, was das Mädchen zu sagen hatte, und stehenzubleiben. Vier, fünf, sechs …
Er blieb, wo er war, und drehte sich zu den Schatten und Lichtstreifen der Neonleuchten um. Sieben, acht, neun … Der Junge blickte angestrengt in die dunkle Nacht, sah ihn aber nicht. Zehn, elf, zwölf … Er drehte sich wieder zu seinem Mädchen um. Dreizehn, vierzehn, fünfzehn … Ein zweiter Blick, nur um sicherzugehen. Sechzehn, siebzehn, achtzehn … Ein letzter, unsicherer Blick über die Schulter, zur Beruhigung. O’Connell trat aus dem Schatten und sah, dass das Pärchen jetzt schneller ging und bereits den halben Block zurückgelegt hatte. Er folgte ihnen rasch, diesmal erneut auf der anderen Straßenseite, wo er in Laufschritt überging, bis er wieder auf ihrer Höhe war. Auch diesmal entdeckte ihn das Mädchen zuerst.
Er malte sich aus, wie ihr die Angst in die Glieder fuhr. Auf der anderen Straßenseite stolperte das Mädchen und drehte sich dabei halb in seine Richtung. O’Connell starrte sie an, so dass sie seine bohrenden Blicke trafen, als sie den Kopf in seine Richtung wendete. In seinen Augen stand pure Wut. Jetzt drehte sich auch der Junge zu ihm um, doch damit hatte O’Connell gerechnet, und so lief er urplötzlich voraus, bis er das Ende des Häuserblocks erreicht hatte. Sein unvorhersehbares Verhalten machte ihm mächtig Spaß. Damit konnten sie nicht gerechnet haben, und er wusste, dass es sie ziemlich verwirren musste. Die junge Frau und der junge Mann hinter ihm würden jetzt gemeinsam überlegen, ob sie weiter in Richtung ihrer Wohnung gehen oder umkehren und eine andere Route einschlagen sollten. Wieder trat er in einen Schatten und verschnaufte. Er sah sich kurz um und stellte fest, dass er eine Seitenstraße mit kleinen Mehrfamilienhäusern im Rücken hatte, ähnlich wie die, in der Ashley wohnte, mit Bäumen gesäumt, deren Äste sich gespenstisch in die nächtliche Beleuchtung reckten. Jede noch so kleine Lücke am Rand war zugeparkt, und aus den Hauseingängen drang fahles Licht. Er schlüpfte aus seinem Schatten und lief die Straße zügig ein Stück hinunter. Nach etwas mehr als einem halben
Block duckte er sich wieder in einen Schatten und wartete. An der Ecke stand eine Laterne, und er nahm an, dass die beiden auf dem Weg zu ihrer Wohnung durch den Lichtkegel kommen würden. Er hatte sich nicht getäuscht. Er sah, wie das Pärchen um die Ecke kam und einen Moment lang stehenblieb, bevor es eilig weiterlief. Sie haben Angst, dachte er. Können nicht sagen, ob sie in Sicherheit sind. Fühlen sich aber schon ein wenig beruhigter. Er drückte sich von der Wand ab, beugte die Schultern vor und marschierte forsch schräg über die Straße, um sich ihnen in den Weg zu stellen. Sie sahen ihn fast im selben Moment. Das Mädchen keuchte, und der Junge, ganz Gentleman, schob sie ein wenig hinter sich, um O’Connell die Stirn zu bieten. Der Beschützer ballte die Faust und ging wie ein Boxer, der auf das Klingelzeichen wartet, in Stellung. »Aus dem Weg!«, forderte der Jüngere mit erhobener, aufgeregter Stimme. Das Mädchen gab einen erstickten Laut von sich. »Was wollen Sie?«, herrschte er O’Connell an und hielt die Stellung zwischen der Bedrohung und dem Mädchen.
O’Connell blieb stehen und sah den Jungen an. »Wie meinen Sie das?«, fragte er. »Bleiben Sie, wo Sie sind!«, rief der Junge. »Entspann dich, Kumpel«, meinte O’Connell. »Wo liegt das Problem?« »Wieso sind Sie uns gefolgt?« Die Frage kam von dem Mädchen, und ihre Stimme klang vor Panik schrill. »Euch gefolgt?«, echote O’Connell. »Was redest du da?« Der Junge hatte die Hände weiter zur Faust geballt, doch er wirkte erstaunt, ja verwirrt. »Ihr seid ja übergeschnappt«, erklärte O’Connell. Damit lief er rasch an ihnen vorbei. »Ihr habt sie ja nicht mehr alle«, schickte er hinterher. »Lassen Sie uns in Ruhe«, forderte der Junge – nicht sehr überzeugend, wie O’Connell fand. Als er ein halbes Dutzend Schritt an ihnen vorbei war, blieb er stehen und drehte sich um. Wie erwartet, klammerten sie sich immer noch aneinander und starrten ihm in Abwehrstellung hinterher. »Ihr zwei habt Glück gehabt«, sagte O’Connell. Sie sahen ihn ungläubig an.
»Wisst ihr, dass ihr heute Nacht um ein Haar gestorben wärt?« Ohne ihnen die Gelegenheit zu einer Antwort zu geben, wirbelte er herum und ging, so schnell er konnte, ohne zu rennen, von einem Schatten zum nächsten. Das junge Paar ließ er stehen, und er vermutete, dass sie sich an die Angst, die sie in dieser Nacht ausgestanden hatten, um einiges länger erinnern würden als an das Glück, mit dem der Abend begonnen hatte.
»Ich glaube, ich muss ein bisschen mehr über Sally und Scott und auch über Hope erfahren«, sagte ich. »Nicht über Ashley?« »Ashley scheint mir doch noch sehr jung, noch unfertig zu sein.« Sie runzelte die Stirn. »Das ist wohl richtig. Aber woher wollen Sie wissen, dass Michael O’Connell sie nicht fertig gemacht hat?« Ich wusste auf diese Frage nichts zu erwidern, doch der
unterkühlte Ton war mir nicht entgangen. »Sie haben mir verraten, dass jemand stirbt. Sie meinen doch wohl nicht, dass es dabei um Ashley ging …« Meine Frage stand eine Weile zwischen uns im Raum, bevor sie endlich antwortete: »Sie war am meisten gefährdet.« »Ja«, erwiderte ich, »aber …« Sie unterbrach mich. »Und ich nehme an, Sie glauben, O’Connell bereits zu durchschauen?« »Nein, nicht wirklich. Noch lange nicht. Aber ich denke an die nächsten Schritte, die ich unternehmen sollte, und dabei musste ich die anderen im Blick behalten.« Sie schwieg, während sie mit ihrem Glas Eistee spielte und wieder den Kopf zum Fenster wandte, um hinauszustarren. »Ich denke oft an sie«, sagte sie, »ich kann nicht anders.« Sie griff nach einer Schachtel Papiertaschentücher. Ihr standen die Tränen in den Augenwinkeln, doch sie lächelte schwach. Sie atmete einmal langsam tief durch. »Haben Sie darüber nachgedacht, wieso Verbrechen so niederschmetternd sein können?«, fragte sie unvermittelt. Ich wusste, dass sie die Frage selbst beantworten würde.
»Weil sie so unerwartet kommen. Weil sie gänzlich außerhalb der Routine unseres Lebens liegen. Wir werden davon überrumpelt. Es betrifft uns ganz unmittelbar, es berührt das Existenzielle.« »Ja, das ist sicher richtig.« Sie starrte mich an. »Ein Geschichtsprofessor an einem snobistischen liberalen College. Eine Kleinstadtanwältin, die sich auf wenig komplizierte Scheidungen und kleinere Immobilientransaktionen spezialisiert. Eine Schulpsychologin und Fußballtrainerin. Und eine junge Kunststudentin, die in einer Traumwelt lebt. Was hatten sie der Herausforderung entgegenzusetzen?« »Gute Frage, ja, was?« »Das müssen Sie begreifen«, erklärte sie. »Nicht nur das, was sie planten und was sie in die Tat umsetzten, sondern auch, woher sie die Kraft und die intellektuellen Einsichten nahmen.« »In Ordnung«, sagte ich zögernd. »Denn am Ende zahlen sie einen hohen Preis.« Ich sagte nichts. Sie beendete das Schweigen. »Im Nachhinein sieht es
immer so einfach aus. Aber wenn man mittendrin steckt, ist alles ziemlich verworren und nie so sauber und eindeutig, wie wir es gerne hätten.«
21 Eine Reihe möglicher Fehltritte
Je mehr Scott las, desto entsetzter war er. Direkt am Morgen nach dem höchst unbefriedigenden Treffen mit Sally und Hope hatte er sich, wie es sich für einen Akademiker gehörte, in das Studium der Phänomene gestürzt, für die Michael O’Connell stand. Er hatte sich in die Niederungen der städtischen Bücherei begeben und Literatur zu zwanghaften und obsessiven Verhaltensstörungen herausgesucht. Auf seinem Tisch in der Ecke des Lesesaals stapelten sich Bücher, Magazine und Zeitungen. Eine drückende Schwere lastete auf dem Raum, und Scott hatte plötzlich das Gefühl, als bekäme er kaum Luft. In einem Anflug von Panik schlug sein Herz so schnell, als wollte es zerspringen. Was er an diesem Vormittag in sich aufgenommen hatte, war eine Litanei der Verzweiflung.
Es war ein Exkurs in den Tod. Immer und immer wieder hatte er von dieser Frau hier und jener Frau dort, von jung bis alt, gelesen, die für einen Mann zur ungezügelten Obsession geworden war. Sie alle hatten gelitten. Die meisten wurden ermordet. Selbst die Überlebenden waren für immer gezeichnet. Dabei schien es keinen Unterschied zu machen, wo die Frauen lebten. Im Norden oder Süden, in den Vereinigten Staaten oder irgendeinem anderen Land. Einige waren noch jung, Studentinnen wie Ashley. Andere waren älter. Reich, arm, gebildet oder unterprivilegiert, das alles spielte keine Rolle. Ein paar von ihnen waren mit ihren Stalkern einmal verheiratet gewesen. Andere Kolleginnen. Wieder andere Klassenkameraden. Einige waren Liebhaber gewesen. Sie hatten nichts unversucht gelassen, hatten sich an die Behörden gewandt, ihre Familie, Freunde und alle möglichen anderen Menschen bei ihrem verzweifelten Versuch, sich von dieser unerwünschten, gnadenlos obsessiven Aufmerksamkeit zu befreien, um Hilfe gebeten. Er las: unbeirrbare Begierde. Alle hatten sie vergeblich Hilfe gesucht. Sie wurden erschossen, erstochen, zusammengeschlagen. Einige hatten überlebt, die Mehrheit nicht. Manchmal starben zusammen mit ihnen auch Kinder.
Manchmal ließen Kollegen oder Nachbarn ihr Leben, ein Kollateralschaden der Wut. Scott schauderte unter der Informationsflut. Ihm wurde schwin delig, wenn er daran dachte, in was für einer Falle Ashley saß. Seite um Seite, in jedem Buch und jedem Artikel war Liebe der einzige gemeinsame Nenner. Natürlich war ihm klar, dass es nicht um echte Liebe ging. Es war vielmehr etwas zutiefst Perverses, das aus den düstersten Winkeln einer kranken männlichen Vorstellungskraft rührte. Es war etwas, das seinen Platz in forensischer Psychiatrie verdiente, nicht auf Valentinspostkarten. Doch die Art Liebe, über die er las, schien in jedem dieser Fälle hartnäckig Fuß gefasst zu haben, und das machte ihm noch mehr zu schaffen. Scott griff sich ein Buch nach dem nächsten, las eine Geschichte, eine Tragödie nach der anderen – in der Hoffnung, dass wenigstens eine ihm sagte, wo ein Ausweg lag. Er überflog die Seiten, die er hastig weiterblätterte, bis er ein Buch weglegte und sich gleich das nächste vornahm und dort mit wachsender Sorge von vorne nach der Antwort suchte. Als Historiker, als Akademiker glaubte er, dass die Lösung irgendwo in einem Abschnitt stand. Er lebte in einer Welt der Vernunft, der klar gegliederten Argumente. Irgendwo in dieser Welt musste Hilfe zu finden sein. Je mehr er sich das einredete, desto klarer wurde ihm,
dass seine Suche fruchtlos war. Scott stand auf, indem er den schweren Eichenstuhl so heftig vom Tisch zurückschob, dass er zu Boden krachte und wie ein Schuss die Stille des Raumes zerriss. Er fühlte mit einem Schlag, wie in seinem Rücken aller Augen auf ihn gerichtet waren, doch er taumelte von seinem Tisch wie ein Verwundeter – schwindelig, eine Hand an der Brust. In diesem Moment empfand er nur noch Panik. Mit einer fahrigen Bewegung deutete er auf all seine Recherchen, und als er merkte, dass ihm die Kehle zugeschnürt war, drehte er sich um und ließ sämtliche Papiere liegen. Er rannte mitten durch die Kartothek, an der Auskunftsstelle und den Bibliothekaren vorbei, die ihn schockiert beobachteten. Noch keiner von ihnen hatte jemanden gesehen, den das bloße gedruckte Wort in solche Angst versetzte. Einer versuchte, ihm etwas hinterherzurufen, doch Scott hörte ihn nicht mehr, als er in den wolkenverhange nen Novembernachmittag hinausstürmte. Dabei war die Luft weniger eisig als dieses Gefühl in seiner Brust. Er wusste nur eins – dass er Ashley so schnell wie möglich aus der Schusslinie holen musste.
Auch Sallys Tag begann mit Entscheidungen, die sie für absolut vernünftig hielt. Für sie stand als Erstes auf der Geschäftsordnung, sich ein
Bild davon zu machen, was für eine Persönlichkeit durch ihre Tochter in ihr Leben eingedrungen war. Dass er sich mit Computern auskannte und jeden von ihnen durch seine Manipulationen empfindlich geschädigt hatte, schien nur offensichtlich. Sie verwarf den spontanen Gedanken, mit sämtlichen Informationen zur Polizei zu gehen, weil sie sich zu diesem Zeitpunkt nicht sicher war, ob die viel mehr tun würde, als ihr geduldig zuzuhören, aber auch, weil sie fürchtete, die Inte grität ihrer Anwalt-Klienten-Beziehung zu belasten. Vorerst, dachte sie, war es keine gute Idee, die Polizei einzuschalten. Ihr wurde angst und bange bei dem Gedanken, dass O’Connell, falls er wirklich hinter allem stand, wovon sie noch nicht hundertprozentig überzeugt war, dass dieser Mensch über ein derart feines Sensorium verfügte. Das war gefährlich. Er schien zu wissen, wie er Menschen auch ohne Fäuste oder Waffen verletzen konnte, auf eine Art und Weise, die schwer zu fassen war. Das machte ihr Angst. Die Vorstellung, dass er wusste, wie er sie ins Unglück stürzen konnte, ließ sie erstarren. Andererseits, rief sie sich ins Gedächtnis, war O’Connell ihnen nicht wirklich gewachsen. Genauer gesagt, war er ihr nicht gewachsen. Bei Scott war sie sich da nicht so sicher. Die jahrelange Arbeit in den kultivierten Kreisen einer kleinen philosophischen Fakultät hatte ihm die kantige Zähigkeit genommen, die sie zu
Beginn ihrer Ehe angezogen hatte. Zu einer Zeit, als so etwas nicht gut angesehen war, entschied er sich für den Krieg, und er hatte sich mit einer Entschlossenheit ins Studium gestürzt, die sie unwiderstehlich fand. Nachdem er seinen Doktor gemacht, nachdem sie geheiratet und Ashley bekommen hatten und sie selbst begann, Jura zu studieren, hatte sie registriert, dass er weicher geworden war. Als ob die bevorstehenden mittleren Jahre sich nicht nur in seiner Taille, sondern auch seiner Haltung niedergeschlagen hätten. »Also gut, Mr. O’Connell«, sagte sie laut, »Sie haben sich mit der falschen Familie angelegt. Jetzt werden Sie ein paar kleine Überraschungen erleben.« Sie drehte sich um, warf sich in einen Sessel und griff nach dem Telefon. Sie fand die gewünschte Nummer in ihrem Verteiler und tippte sie schnell ein. Sie brachte sogar die nötige Geduld auf, als eine Sekretärin sie in die Warteschleife verwies. Als sie am anderen Ende die vertraute Stimme hörte, fühlte sie sich gleich besser. »Murphy am Apparat. Was kann ich für Sie tun, Frau Anwältin?« »Hallo, Matthew«, begrüßte ihn Sally. »Ich habe ein Problem.« »Na ja, Ms. Freeman-Richards, das ist der einzige Grund
auf der Welt, weswegen die Leute diese Nummer wählen. Wozu sollten sie sich sonst an einen Privatdetektiv wenden? Also, was darf’s diesmal sein? Sagen Sie nicht, in Ihrer hübschen kleinen Stadt liegt ein Scheidungsfall an. Gestaltet sich vielleicht ein klitzekleines bisschen fieser als gedacht?« Sally sah Matthew Murphy vor ihrem geistigen Auge an seinem Schreibtisch. Er hatte sein Büro in einem etwas schmuddeligen alten Gebäude in Springfield, ein paar Häuserblocks vom Bundesgerichtshof entfernt am Rande einer ziemlich heruntergekommenen Gegend. Murphy schätzte vermutlich die Anonymität, die ihm diese Umgebung verschaffte. Ins Auge fallender Protz war seine Sache nicht. »Nein, kein Scheidungsfall, Matthew …« Sie hätte ein paar bedeutend exklusivere Privatdetektive anrufen können. Doch Murphy verfügte über eine weitaus schillerndere Vergangenheit und eine harte Gangart, die sich in diesem Fall als nützlich erweisen konnten. Außerdem hoffte sie, dass die Gefahr, am Bezirksgericht für Geschwätz zu sorgen, beträchtlich geringer war, wenn sie jemanden von auswärts anheuerte. »Was anderes, Frau Anwältin? Dann geht es, wie soll ich sagen, um etwas Heikleres?«
Er besaß offenbar die Fähigkeit, aus den wenigen Worten, die sie ausgesprochen hatte, eine Menge herauszulesen. »Wie gut sind Ihre Beziehungen in der Gegend von Boston?«, fragte sie. »Ich hab da immer noch ein paar Freunde«, erwiderte er. »Welcher Art?« Er lachte, bevor er antwortete. »Na ja, ein paar Freunde auf beiden Seiten der Linie, an der sich die Geister scheiden, Frau Anwältin. Ein paar weniger freundliche Zeitgenossen, die sich gerne ein kleines Zubrot verdienen, und ein paar von den Jungs, die sie gerne hinter Gitter bringen würden.« Murphy war zwanzig Jahre lang bei der Mordkommission der State Police gewesen, bevor er sich vorzeitig pensionieren ließ und seine eigene Detektei aufmachte. Gerüchten zufolge war seine Abfindung Teil eines Deals gewesen, der ihm auferlegte, über ein paar Aktivitäten eines Drogendezernats in Worcester, auf die er in Verbindung mit einer Mordserie im Drogenmilieu gestoßen war, den Mund zu halten. Eine fragwürdige Arena, wenn auch vielleicht nur dem Ruf nach, und Murphy war mit allem Pomp und Trara in den Ruhestand entlassen worden, während möglicherweise die Alternative entweder eine Anklage gegen ihn oder auch eine halbautomatische Waffe in der Hand eines Latino gewesen wäre.
»Können Sie für mich einer Sache in Boston auf den Grund gehen?« »Ich bin mit ein paar anderen Fällen ziemlich eingedeckt«, erwiderte er. »Um was für eine Sache geht es denn?« Sally holte tief Luft. »Etwas Persönliches. Betrifft ein Mitglied meiner Familie.« Es trat eine kurze Pause ein, bevor er sagte: »Nun, Frau Anwältin, das erklärt wohl, weshalb Sie ein altes Schlachtross hier draußen anrufen, statt einen von diesen Lackaffen aus dem Kader des FBI oder der Kripo in den höheren Gefilden, in denen Sie Ihre Kanzlei betreiben. Was genau kann ich demnach für Sie tun?« »Meine Tochter hatte sich mit einem jungen Mann in Boston eingelassen.« »Und Sie mögen den Kerl nicht besonders?« »Gelinde gesagt. Er beteuert ihr unentwegt seine Liebe. Lässt sie nicht in Ruhe. Hat irgendeinen Mist mit dem Computer gedreht, der sie ihren Job gekostet hat. Dann hat er ihr das Postgraduiertenstudium zerstört. Vielleicht noch mehr. Hängt ihr wahrscheinlich ständig an den Fersen. Steckt möglicherweise auch hinter einigem Ärger, den ich, mein Ex und eine Freundin von mir haben. Wieder was mit dem Computer.«
»Was für Ärger?« »Hat sich an meinen Konten zu schaffen gemacht. Ein paar anonyme Beschwerden vom Stapel gelassen, kurz gesagt, eine Menge Unheil angerichtet.« Sally fand, dass sie den Schaden, den O’Connell ihnen verursacht hatte, ziemlich untertrieb. »Dieser Kerl verfügt demnach über ein paar ausgeprägte Fertigkeiten. Wie wollen wir ihn nennen, Exfreund?« »Nichts dagegen, auch wenn sie offenbar nur ein einziges Date gehabt haben.« »Der macht das alles nur wegen, was, einem One-NightStand?« »Sieht so aus.« Murphy schwieg einen Moment, und Sallys Zuversicht geriet ein wenig ins Schwanken. »Okay, hab verstanden. Wie man es auch dreht und wendet, der Typ scheint ein übler Bursche zu sein.« »Haben Sie Erfahrung auf dem Gebiet? Mit obsessiven Typen?« Wieder herrschte Schweigen, und Sally fühlte sich
zunehmend unbehaglich. »Allerdings, Frau Anwältin, allerdings«, sagte er langsam. »Mir sind schon ein paar Typen über den Weg gelaufen, die mehr oder weniger dem entsprechen, was Sie beschreiben. Damals bei der Mordkommission.« Bei diesem Stichwort bekam Sally einen trockenen Mund.
Hopes Mutter hatte im Garten die Blätter zusammengeharkt und war gerade ins Haus gekommen, als das Telefon klingelte. Auf dem Display erkannte sie die Nummer ihrer Tochter. Wie immer griff sie mit einem Anflug von Unsicherheit nach dem Hörer. »Hallo, Liebling«, meldete sich Catherine Frazier. »Das ist eine Überraschung. Wir haben eine Ewigkeit nicht telefoniert.« »Hallo, Mutter«, sagte Hope ein wenig schuldbewusst. »Ich hatte mit dem College und dem Team so viel zu tun, und die Zeit verging wie im Flug. Wie geht’s dir?« »Wie soll’s mir schon gehen, gut«, antwortete Catherine. »Ich igele mich für den Winter ein. Die Leute hier meinen alle, dieses Jahr wird er lang.« Hope atmete einmal tief durch. Zwischen ihrer Mutter und ihr herrschte stets eine unterschwellige Spannung. Obgleich nach außen hin freundlich im Umgang, kam es ihr
so vor, als gäbe es zwischen ihnen einen Knoten, der sich immer fester zuzog, während er ein Segel straff hielt, das in heftigen Böen flatterte. Catherine Frazier war in Vermont verwachsen und grenzenlos liberal in ihren politischen Ansichten, bis auf einen einzigen Punkt – den entscheidenden für ihre Tochter. Sie war eine treue Anhängerin der katholischen Kirche im kleinen Städtchen Putney, nicht weit vom benachbarten Brattleboro, ebenso bekannt für seine Exhippies wie für sein Granola-Müsli. Sie war eine Frau, die nach dem Tod ihres Mannes nie wieder ans Heiraten gedacht hatte und jetzt glücklich und zufrieden allein am Waldrand lebte. Sie hegte nach wie vor beträchtliche Zweifel an der Beziehung ihrer Tochter zu Sally. Auch wenn sie ihre Vorbehalte in einem Bundesstaat, der gleichgeschlechtliche Ehen willkommen hieß, für sich behielt, so betete sie doch jeden Sonntagmorgen um eine Eingebung, die ihr begreiflich machte, was ihre Beziehung über die Jahre belastet hatte. Früher hatte sie die Sache zuweilen im Beichtstuhl zur Sprache gebracht, doch sie war es leid, »Gelobet seist du, Maria« und »Vaterunser« zu beten, die ihr kaum Erleichterung verschafften. Nach Hopes Ansicht rührten die Spannungen daher, dass sie nicht »normal« war und ihrer Mutter keine Enkelkinder schenken konnte, und ob sie nun miteinander redeten oder ob Schweigen zwischen ihnen herrschte, die Spannungen nahmen in jedem Fall zu, denn das entscheidende Thema klammerten sie aus.
»Ich muss dich um einen Gefallen bitten«, begann Hope. »Jederzeit, Liebes«, erwiderte Catherine. Hope wusste, dass das gelogen war. Es hatte schon Gelegenheiten gegeben, bei denen ihre Mutter ihr durchaus eine Bitte abgeschlagen hätte. »Es geht um Ashley«, erklärte Hope. »Sie muss für eine Weile aus Boston heraus.« »Aber was ist denn passiert? Sie ist doch nicht etwa krank, oder? Es hat keinen Unfall gegeben?« »Nein, nicht direkt …« »Braucht sie Geld? Ich hab mehr als genug, und ich helfe gerne aus …« »Nein, Mutter, ich will es dir erklären.« »Aber was ist mit ihrem Studium?« »Das wird sie ein Weilchen auf Eis legen müssen.« »Liebes, das klingt sehr verwirrend. Wo liegt das Problem?« Hope holte tief Luft und platzte heraus: »Es geht um einen Mann.«
Als Scott an diesem Abend versuchte, Ashley auf dem Handy anzurufen, hörte er nur: »Kein Anschluss unter dieser Nummer«, was ihn augenblicklich in Panik versetzte. Er rief sie auf dem Festnetztelefon an, und als sie sich meldete, überkam ihn eine weitere Woge der Beklemmung. Er konzentrierte sich darauf, sich die Angst nicht anmerken zu lassen. »Hey, Ash«, begrüßte er sie forsch. »Wie geht’s, wie steht’s?« Ashley ihrerseits wusste nicht recht, was sie antworten sollte. Sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass sie beobachtet und dass jedes Wort, das sie sagte, abgehört wurde. Sie zögerte jedes Mal, wenn sie ihre Wohnung verließ, fühlte sich draußen auf der Straße nicht sicher, sah misstrauisch in jede Sackgasse und jeden verschatteten Winkel. Gewöhnliche Großstadtgeräusche, mit denen sie sonst so vertraut war, dröhnten ihr schrill in den Ohren. Sie entschloss sich zu einer Halbwahrheit. Sie wollte ihren Vater nicht ängstigen. »Geht so«, sagte sie. »Ist nur alles eine blöde Situation.« »Hast du noch mal von O’Connell gehört?«, fragte er.
Sie antwortete nur indirekt, indem sie meinte: »Dad, ich muss ein paar Schritte unternehmen …« »Ja«, stimmte er etwas hastig zu. »Unbedingt.« »Ich hab das Handy abgemeldet …«, berichtete sie, was die Durchsage erklärte. »Ja, und diese Leitung musst du auch abmelden. Um ehrlich zu sein, musst du wohl einiges mehr tun, als wir geahnt haben.« »Ich muss umziehen«, sagte sie verdrießlich. »Ich mag diese Wohnung, aber …« »Ich glaube«, führte Scott den Satz behutsam weiter, »dass du mehr tun musst, als einfach nur umzuziehen.« Ashley antwortete nicht sofort. »Und wir müssen noch ein paar Schritte unternehmen …«, fuhr er fort. »Wie meinst du das?«, platzte Ashley heraus. Scott holte tief Luft und wechselte in den nüchternsten, selbstverständlichsten, akademischen Ton, als ginge es darum, die Fehler im Referat eines fortgeschrittenen Studenten aufzuzeigen. »Ich habe ein bisschen gelesen und recherchiert. Ohne übereilte Schlüsse ziehen zu wollen,
fürchte ich, dass O’Connell fähig ist, nun ja, noch aggressiver zu werden als bisher.« »Aggressiv. Das ist ein Euphemismus. Meinst du, er könnte mir was antun?« »Anderen wurde unter ähnlichen Umständen etwas angetan. Ich will damit nur sagen, dass wir Vorkehrungen treffen sollten.« Wieder herrschte Schweigen, bevor sie reagierte. »Was schlägst du vor?« »Ich denke, du musst verschwinden. Das heißt, Boston verlassen, dich für eine Weile an einem sicheren Ort verstecken, und wenn O’Connell endlich weitergezogen ist, kannst du wieder ein normales Leben führen.« »Woher nimmst du den Optimismus, dass er tatsächlich weiterzieht?« »Wir verfügen über Mittel und Wege, Ashley. Und wenn du Boston für immer verlassen, wenn du, sagen wir, nach L. A., Chicago oder Miami ziehen musst, dann lässt sich auch das machen. Du bist noch jung, Ashley, du hast noch viel Zeit, um deine Pläne zu verwirklichen. Ich denke nur, wir müssen ein paar drastische Schritte unternehmen, damit O’Connell dich nicht finden kann.«
Ashley merkte, wie Wut in ihr hochstieg. »Er hat kein Recht dazu«, sagte sie mit erhobener Stimme. »Wieso gerade ich? Was hab ich denn Schlimmes getan? Wieso muss er ausgerechnet mein Leben verpfuschen?« Scott gab seiner Tochter Zeit, Dampf abzulassen, bevor er antwortete. Diese Methode war ein Relikt aus ihrer Kindheit. Er hatte schon früh begriffen, dass Ashley am ehesten zu sich kam, nachdem sie sich ordentlich aufgeplustert und ausgetobt hatte. Danach war sie zugänglich und für vernünftige Argumente halbwegs zu haben. Die Tricks eines Vaters. »Er hat nicht das Recht, er ist lediglich dazu in der Lage. Also sollten wir versuchen, ein paar Schachzüge zu machen, die er nicht voraussehen kann. Und das Erste ist nun mal, dich außer Reichweite zu bringen.« Wieder spürte Scott, wie Ashley am anderen Ende der Leitung die Situation abwog. Er wusste nicht, dass vieles von dem, was er sagte, auch ihr schon in den Sinn gekommen war. Dennoch war sein Vorschlag deprimierend, und Ashley merkte, dass ihr Tränen in den Augen standen. Das alles war vollkommen ungerecht. Als sie sich wieder meldete, schwang Resignation in ihrer Stimme mit. »Einverstanden, Dad«, erklärte sie. »Es wird Zeit, dass Ashley verschwindet.«
»Sie haben also einen Privatdetektiv engagiert?« »Ja. Einen äußerst kompetenten und versierten.« »Das leuchtet ein. So oder ähnlich hätte wohl jedes halbwegs gebildete, finanziell unabhängige Elternpaar reagiert. Einen Experten ins Boot holen. Ich denke, ich sollte mich mit ihm unterhalten. Er hat sicher für Sally eine Art Bericht verfasst. Das machen Privatdetektive doch immer am Ende, oder? Der müsste doch noch aufzutreiben sein?« »Ja, Sie haben recht«, bestätigte sie. »Es gab einen Bericht. Einen vorläufigen Bericht. Ich habe die Kopie, die Sally bekam.« »Und?« »Wie wär’s, wenn Sie zuerst mit Matthew Murphy reden würden? Und danach gebe ich Ihnen den Bericht, falls Sie dann noch darauf zurückgreifen wollen.« »Sie könnten mir einige Mühe ersparen«, sagte ich.
»Vielleicht«, erwiderte sie. »Aber ich weiß nicht, ob es wirklich meine Aufgabe ist, Ihnen Zeit und Mühe zu ersparen. Außerdem denke ich, dass ein Besuch bei dem Privatdetektiv, wie soll ich mich ausdrücken, eine lehrreiche Erfahrung für Sie ist.« Sie lächelte, wenn auch freudlos, und ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass sie sich irgendwie über mich lustig machte. Ich stand auf, um zu gehen, und zuckte die Achseln. Als sie mein enttäuschtes Gesicht sah, seufzte sie. »Manchmal geht es um Eindrücke«, sagte sie unvermittelt. »Sie erfahren etwas, Sie sehen etwas und Sie hören etwas, es hinterlässt einen nachhaltigen Eindruck bei Ihnen. An einem Punkt war es auch so bei Scott, Sally, Hope und Ashley. Eine Reihe von Ereignissen oder Momenten, die sich häuften und nach und nach zu einer Vorstellung davon verschmolzen, wie die Zukunft für sie aussehen könnte. Gehen Sie zu dem Privatdetektiv«, sagte sie in entschiedenem Ton. »Das wird Ihnen unendlich weiterhelfen. Und wenn Sie es dann noch für nötig halten, gebe ich Ihnen den Bericht.«
22
Von der Bildfläche verschwinden
Kleiner Ganove, war Matthew Murphys erster Gedanke. Er starrte auf das wenig eindrucksvolle Vorstrafenregister von Michael O’Connell, das ein Leben geringfügiger Gesetzesverstöße offenbarte. Ein bisschen Kreditkartenbetrug, der, wie Murphy vermutete, darin bestand, geklaute Karten zu benutzen; ein Autodiebstahl als Teenager, eine Körperverletzung, die nach einer Kneipenprügelei aussah und aus der O’Connell als Sieger hervorgegangen war. Für die diversen leichten Straftaten, deren O’Connell angeklagt war, hatte er nie mehr als Bewährungsstrafen bekommen, auch wenn O’Connell einmal fünf Monate in einem Distriktgefängnis eingesessen hatte, weil er die bescheidene Kaution nicht aufbringen konnte. Genauso lange brauchte sein Pflichtverteidiger, um die Anklage wegen tätlichen Angriffs auf einfache Körperverletzung herunterzudrücken. Eine Geld- und eine Haftstrafe von sechs Monaten auf Bewährung hatte es dafür gegeben, wie Murphy dem Register entnahm. Er merkte sich vor, den Bewährungshelfer anzurufen, auch wenn er bezweifelte, dass ihm der Mann von großer Hilfe sein würde. Diese Leute verbringen den Großteil ihrer Zeit mit den bedeutsameren Kriminellen, und dazu zählte O’Connell, zumindest in den Augen des Rechtssystems, nicht.
Natürlich konnte man das, was er bis jetzt an Informationen zusammengetragen hatte, auch von einer etwas anderen Warte sehen: O’Connell machte, was er wollte, er ließ sich nur nicht erwischen. Murphy schüttelte den Kopf. Nicht gerade ein TopKrimineller, dachte er. Er betrachtete erneut den Stapel Papiere auf seinem Schoß. Fünf Monate im Bezirksgefängnis. Für einen Kleinkriminellen wie O’Connell nicht mehr als eine Unannehmlichkeit. Gerade genug Zeit, um von den erfahreneren Insassen den einen oder anderen wertvollen Rat aufzuschnappen, wenn man Augen und Ohren aufsperrte und den harten Kerlen nicht in die Quere kam. Kriminalität erforderte nach Murphys Erfahrung wie jeder höhere Abschluss einiges an Studium. Er hatte ein Verbrecherfoto in Schwarzweiß von O’Connell vor sich. War das der Beginn deiner Karriere?, fragte er ihn in Gedanken. Er wagte es zu bezweifeln. Diese fünf Monate waren nur ein bisschen Examensbüffelei. Er tippte, das O’Connell da bereits eine Menge wusste. Der Kriminalbeamte der State Police, der ihm die Knastpapiere besorgt hatte, kam an O’Connells Jugendstrafregister nicht heran. Das machte Murphy
hellhörig. Er hatte keine Ahnung, was er da schon angestellt hatte. Immerhin bezeugten die Ausdrucke, die er vor sich hatte, nur eine geringe Gewaltbereitschaft. Das beruhigte ihn. Einfach nur ein schlimmer Finger, dachte er. Keiner mit einer Neunmillimeter in der Tasche. Ein wenig verriet die Polizeiakte ihm schon: O’Connell war im Wohnwagenmilieu an der Küste von New Hampshire aufgewachsen. Viel Kindheit dürfte es wohl nicht gegeben haben. Kein heimeliges weißes Schindelhaus mit gedecktem Apfelkuchen im Ofen, während die Kinder im Vorgarten Touch Football spielen; wahrscheinlich ging es in seiner Kindheit eher darum, Schlägen auszuweichen. Gute Schulzeugnisse – für die Zeit, die er da war. Offenbar klafften da ein paar Lücken. Ein paar Ausflüge in den Jugendstrafvollzug?, spekulierte er. Hat trotzdem die Highschool geschafft. Würde wetten, du hast den Schulpsychologen ein intensives Trainingsprogramm geliefert. Intelligent genug, um es ins örtliche Community College zu schaffen. Abgebrochen. Wiedergekommen. Nicht zu Ende gebracht. Zeugnisse von der UMass Boston, der staatlichen Universität in Boston. Geschickt im Umgang mit Werkzeug – ein recht versierter Mechaniker. Hat offenbar dieselbe Begabung genutzt, um Computertechnik zu lernen. Eine Menge Arbeit, die da auf ihn zukam, dachte Murphy, falls Sally Freeman-Richards das wünschte. Er wusste mehr oder weniger im Voraus, was er finden würde. Missbrauch durch den Vater. Betrunkene Mutter. Oder vielleicht vom Vater verlassen und eine verführerische
Mutter. Scheidung, Hilfsarbeiter- und andere Jobs im Niedriglohnsektor und samstagabends zu viel Gewalt nach zu viel Bier. Es war ein strahlender, vielversprechender Nachmittag, als Matthew Murphy vor Michael O’Connells schmuddeligem Mehrfamilienhaus parkte. Zwischen den heruntergekommenen Mietshäusern war ein Streifen Himmel zu sehen, und an der Ecke konnte er von ferne das CITGO-Logo über dem Fenway Park erkennen. Er sah einmal nach links und einmal nach rechts die Straße entlang und zuckte die Achseln. Nicht anders als viele Straßen in Boston, registrierte er. Eine Mischung aus jungen Leuten auf dem Weg nach oben und alten Leuten auf dem Abstieg. Dazwischen ein paar vom Schlag O’Connells, die hier Zwischenstation machten, auf dem steilen Weg bergab. Es war eine Kleinigkeit gewesen, mit Hilfe eines Freundes bei der State Police O’Connells Namen durchlaufen zu lassen und auf diese Weise an das Register zu kommen, das er auf den Knien liegen hatte, einschließlich der spärlichen Informationen zu seinem Hintergrund und den aktenkundigen Adressen. Jetzt brauchte er vorerst nur noch ein gutes Foto von der Zielperson. Auf dem Beifahrersitz lag eine moderne Digitalkamera mit Teleobjektiv. Das wichtigste Werkzeug des Privatdetektivs. Murphy war Mitte fünfzig – in der Lebensphase, in der die
Angst vor dem Altwerden beginnt. Er war kinderlos, geschieden. Was er am meisten vermisste, waren die Jahre als junger Mann im engen Uniformkragen auf dem Massachusetts Turnpike hinter dem Lenkrad eines Streifenwagens, als er routinemäßig im Akkord arbeitete und seinen Kreislauf mit Kaffee und Adrenalin hochpeitschte. Er vermisste auch seine Zeit bei der Mordkommission, doch er war klug genug zu begreifen, dass er sich zu viele Feinde gemacht hatte, um dort das Pensionsalter zu erreichen. Er schmunzelte. Sein ganzes Leben lang hatte er gewusst, wie man den Kopf im letzten Moment aus der Schlinge zieht. Als er nach einem Jahr State Police bei einer Verfolgungsjagd seinen Streifenwagen zu Schrott fuhr, hatte er nur ein paar Kratzer davongetragen, während für die reichen, betrunkenen Kids in Daddys BMW, die er gejagt hatte, jede Hilfe zu spät kam. Bei einer mitternächtlichen Schießerei mit einem bis zur Besinnungslosigkeit vollgekoksten Drogendealer hatte der Mann das Magazin einer Neunmillimeter in seine Richtung leer geballert und damit die Hauswand hinter ihm perforiert. Die einzige Kugel, die er selbst mit geschlossenen Augen auf den Mann abgefeuert hatte, war ein Volltreffer in die Brust gewesen. Er hatte sich bei so vielen Situationen retten können, dass er sich nicht einmal mehr an alle erinnern konnte, einschließlich einer Begegnung mit einem mehrfachen Mörder, der ein Schlachtermesser in der einen Hand und ein neunjähriges Mädchen an der anderen hielt, während die Leiche seiner Exfrau zu seinen Füßen lag und die seiner
Schwiegermutter in einer Blutlache auf dem Küchenboden. Für die Festnahme hatte Murphy eine Auszeichnung bekommen. Eine Belobigung wie auch eine Drohung seitens des Mörders, der schwor, ihn sich als Nächstes vorzuknöpfen, falls er je wieder auf freien Fuß kommen sollte, was nicht allzu wahrscheinlich war. Für Matthew Murphy war die Anzahl an Drohungen, die er auf sich gezogen hatte, ein präziser Gradmesser für seine Leistung. Es waren zu viele, um sie zu zählen. Michael O’Connell war bestenfalls nur lästig. Er atmete tief durch und überflog noch einmal die Unterlagen auf der Suche nach Anzeichen dafür, wie man den Kerl einschüchtern konnte. Das jedenfalls war die grobe Richtung, die er Sally Freeman-Richards vorschlagen würde. Er würde dem Burschen, flankiert von ein paar alten Kumpeln bei der State Police nach deren Dienstschluss einen nächtlichen Besuch abstatten. Inoffiziell, aber doch mit so viel Drohpotenzial wie möglich, und da brachten sie einiges auf. Sie würden ihn sich ein bisschen zur Brust nehmen und ihm anschließend die einstweilige richterliche Verfügung präsentieren. O’Connell sollte dann dämmern, dass er sich mit seiner Verfolgung von Freeman-Richards’ Tochter weit mehr Ärger einhandelte, als die Sache wert war. Und er sollte keinen Zweifel daran hegen, dass der Ärger in diesem Fall den Namen Matthew Murphy trug.
Er grinste. Das sollte die Sache wohl regeln. Zu seiner Zeit hatte er es mit ein paar richtig ausgerasteten Stalkern zu tun gehabt, Typen, auf die eine Drohung mit vorgehaltener Waffe wenig Eindruck gemacht hätte – Pitbulls, die durch einen Feuersturm laufen würden, um an die Person heranzukommen, von der sie besessen waren, doch O’Connell schien im Grunde nur ein kleiner Ganove zu sein, und mit dem Schlag kannte er sich nun wirklich aus. Was er allerdings nach allem, was er über Michael O’Connell gelesen hatte, nicht begreifen konnte, war, wieso dieses miese kleine Stück Dreck glaubte, Leuten wie Sally Freeman-Richards und ihrer Tochter Ärger machen zu können. Murphy schüttelte den Kopf. Er hatte schon mehr als einen Mordfall gehabt, bei dem ein verlassener Freund oder Ehemann an einer armen Frau, die nichts weiter getan hatte, als ihren Willen durchzusetzen, seine Wut ausgelassen hatte. Murphy fühlte sich mit jedem, der sich aus einer gewalttätigen Beziehung zu lösen hoffte, automatisch solidarisch. Dabei blieb ihm allerdings ein Rätsel, woher diese Leidenschaft kam. Bei den Fällen, die er im Lauf der Jahre bearbeitet hatte, war er zu dem Schluss gekommen, dass möglicherweise Liebe der dümmste Grund ist, um seine Freiheit, seine Zukunft und in manchen Fällen sogar sein Leben wegzuwerfen. Murphy blickte erneut zur Haustür hinüber. »Na, komm schon, Kleiner«, sagte er laut. »Lass dich mal anschauen. Ich hab meine Zeit nicht gestohlen.«
Wie auf Kommando bewegte sich etwas am Eingang zu O’Connells Mehrfamilienhaus, und als Murphy sich vorbeugte, um besser zu sehen, erkannte er auf Anhieb das Gesicht von dem drei Jahre alten Polizeifoto wieder. Er schnappte sich die Kamera und richtete sie auf O’Connells Gesicht. Zu seiner Überraschung blieb O’Connell einen Moment stehen und schaute fast in seine Richtung. Blitzschnell machte er ein halbes Dutzend Schnappschüsse hintereinander. »Hab dich«, freute er sich laut und grinste. »Hast mir die Sache leichtgemacht.« Dabei bedachte Murphy allerdings nicht, dass dasselbe umgekehrt galt.
Der Anruf war für Scott ein Leichtes gewesen, auch wenn dies anschließend ein bisschen Organisation nach sich zog. Er hatte den Football-Trainer in seinem Büro erreicht, wo er gerade mit dem für die Abwehr zuständigen Mitarbeiter die Spielpläne durchging. Scott war dem Mann verschiedentlich bei geselligen Anlässen begegnet, und er legte Wert darauf, so viele Spiele wie möglich zu sehen. »Coach Warner? Scott Freeman …« »Scott! Schön, von Ihnen zu hören. Bin allerdings im Moment ziemlich beschäftigt …«
»Mit einer ungeheuer raffiniert ausgeklügelten Abwehrstrategie, die den Feind vollkommen aus dem Konzept bringen soll, so dass nur noch ein einziges Häufchen kleinmütige Stümper übrigbleibt?«, fragte Scott. Der Trainer lachte. »Sie sagen es. Wir geben uns erst zufrieden, wenn der Gegner dem Nervenzusammenbruch nahe ist. Aber deswegen rufen Sie nicht an?« »Ich wollte Sie um einen kleinen Gefallen bitten. Ein bisschen Muskelkraft.« »Muskelkraft haben wir reichlich. Allerdings auch Seminare und Training. Die Jungs sind ziemlich eingespannt …« »Wie sieht’s denn mit Sonntag aus? Ich brauche zwei, vielleicht drei Jungs. Nur ein paar schwere Sachen zu heben, wofür ich sie großzügig und bar bezahlen würde.« »Sonntag? Das würde gehen. Was sind das für schwere Sachen?« »Es geht um den Auszug meiner Tochter aus ihrer kleinen Wohnung in Boston, und ich muss ihre Sachen einlagern. Und zwar möglichst schnell.« »Endlich mal eine Aufgabe, der wir schlichten FootballTypen uns gewachsen fühlen«, entgegnete der Trainer lachend. »Geht klar, ich höre mich heute beim Training mal
um, ob es Freiwillige gibt, und schicke sie morgen bei Ihnen vorbei.« Die drei jungen Männer, die sich am nächsten Morgen in seinem Büro blicken ließen, waren durchweg kräftig gewachsen und erpicht darauf, ein bisschen was nebenbei zu verdienen. Scott erklärte ihnen kurz und bündig, dass es darum ging, am Sonntagmorgen einen Kleintransporter zu leihen, nach Boston zu fahren, alles in Kartons zu packen und zu einem Speditionslager außerhalb der Stadt zu bringen, mit dem er bereits alles geregelt hätte. »Das muss sofort passieren«, sagte Scott. »Lieber gestern als heute.« »Weshalb so eilig?«, fragte einer der Jungs. Scott hatte mit der Frage gerechnet und sich eine Antwort zurechtgelegt. »Meine Tochter hat in Boston mit dem Graduiertenstudium angefangen. Vor einiger Zeit hatte sie sich um ein Auslandsstipendium beworben. Niemand hatte mehr damit gerechnet, dass etwas dabei rauskommt, aber, siehe da, dieser Tage kam der positive Bescheid. Allerdings zeitlich gebunden. Kurz gesagt geht sie für ein halbes bis ein Dreivierteljahr nach Florenz, um die Kunst der Renaissance zu studieren. Sie muss in wenigen Tagen im Flieger sitzen, und ich habe keine Lust, länger als nötig die Miete zu
zahlen, die Kaution kann ich mir, wie’s aussieht, sowieso abschminken. Na ja, was soll’s«, seufzte er und setzte sich dabei gehörig in Szene, »wenn man auf Märtyrer und geköpfte Propheten steht, dann ist man da wohl genau richtig. Hab allerdings das Gefühl, dass Begriffe wie ›Job‹ oder ›Karriere‹ für meine Tochter derzeit Fremdwörter sind …« Darüber mussten die jungen Leute lachen, da sie diese Einstellung durchaus teilten. Sie trafen alle Vorkehrungen, und Scott verabredete sich für Sonntagmorgen mit ihnen. Er hegte die vage, wenn auch nicht aus der Luft gegriffene Vermutung, dass sich jemand Bestimmtes, so er denn die drei Möbelpacker sah, lebhaft für die Geschichte interessieren würde, die Scott mit Bedacht ausgestreut hatte.
Ashley fühlte sich ein bisschen lächerlich. Sie hatte Sachen für eine Woche in ihren Matchbeutel gestopft und Kleider für eine weitere Woche in einen Koffer mit Rollen gepackt. Tags zuvor war der Zusteller von Federal Express mit einem Paket von ihrem Vater an ihrer Tür erschienen. Es enthielt zwei Reiseführer zu italienischen Städten, ein englisch-italienisches Wörterbuch sowie drei große Bildbände über die Kunst der
Renaissance. Zwei davon besaß sie bereits. Außerdem fand sie in dem Päckchen ein von seinem eigenen College herausgegebenes Handbuch mit dem Titel Wegweiser zum Auslandsstudium. Er hatte einen kurzen Brief verfasst, für den er mit dem Computer den ehrfurchtgebietenden Briefkopf des fiktiven Institute For the Study of Renaissance Art entworfen hatte und der sie zu dem Studienprogramm willkommen hieß sowie eine Kontaktadresse für ihre Ankunft in Rom enthielt. Die war sogar echt – sie gehörte einem Professor der Universität von Bologna, dem Scott einmal auf einer Historikerkonferenz begegnet war und der, wie er wusste, gerade ein Sabbatjahr in Afrika verbrachte. Er glaubte nicht, dass Michael O’Connell ihn würde auftreiben können. Und selbst wenn, die Mischung aus Fiktion und Wirklichkeit würde ihn zumindest verwirren. Das war, fand Scott, ein kluger Schachzug. Diesen Brief sollte Ashley wie aus Versehen in ihrer Wohnung liegen lassen. Seine weiteren Instruktionen an sie waren detailliert und, wie sie fand, ein wenig zu viel des Guten. Doch sie hatte ihm versprochen, sie genau zu befolgen. Nichts von dem, was er sich überlegt hatte, war wirklich falsch, sondern durchaus folgerichtig, denn wenn sie ihr Ziel erreichen wollten, mussten sie zu einigen Täuschungsmanövern greifen.
Einer der Reiseführer sollte in einer Außentasche ihrer Tasche stecken, und zwar so, dass der Titel herausragte und jemand, der zufällig an diesem Gepäckstück vorbeilief, ihn nicht übersehen konnte. Die anderen Bücher sollte sie in der Wohnung zurücklassen, damit sie mit den übrigen Sachen verpackt würden, wobei Scott ihr allerdings einschärfte, sie an einer auffälligen Stelle auf ihrem Schreibtisch oder Nachtschrank zu deponieren. Bevor sie ihr Telefon abmeldete, sollte sie sich ein Taxi rufen. Wenn es eintraf, sollte sie ihre Wohnung abschließen und den Schlüssel auf den Türsturz legen, wo die FootballMöbelpacker ihn leicht finden würden. Ashley sah sich in der kleinen Wohnung um, die für sie so etwas wie ein Zuhause gewesen war. Die Poster an den Wänden, die Topfpflanzen, der schmuddelig orangefarbene Duschvorhang waren ihr erstes persönliches Eigentum gewesen, und sie war erstaunt, wie sehr sie plötzlich an den einfachsten Dingen hing. Manchmal hatte sie das Gefühl, noch nicht so recht zu wissen, wer sie war und was für ein Mensch sie werden wollte, doch diese Wohnung war so etwas wie ein erster Schritt in diese Richtung gewesen. »Verfluchter Hund!«, sagte sie laut und ersparte sich, den Namen auszusprechen. Sie betrachtete den handschriftlichen Zettel ihres Vaters.
Na schön, dachte sie, bringen wir es zu Ende. Dann ging sie zum Telefon und rief sich ein Taxi. Nervös wartete sie im Flur hinter der Haustür, bis der Wagen kam. So wie ihr Vater ihr geraten hatte, trug sie eine Sonnenbrille und eine Strickmütze auf dem Kopf und hatte den Kragen ihrer Jacke hochgeschlagen. Du musst wie jemand aussehen, der nicht erkannt werden und abhauen will, hatte er geschrieben. Sie war sich nicht sicher, ob sie ein Stück auf der Bühne aufführte oder sich vernünftig benahm. Als das Taxi vor ihrem Gebäude hielt, trat sie eilig durch die Tür und legte den Schlüssel an die vereinbarte Stelle. Dann stürzte sie mit gesenktem Kopf, ohne nach rechts und nach links zu gucken, so hastig und verstohlen nach draußen, wie sie konnte, während sie davon ausging, dass Michael O’Connell irgendwo stand und sie sah. Es war früher Nachmittag, und die blendende Sonne warf ihre Strahlen zwischen die Schatten der schma len Nebenstraßen. Sie schwang ihren Koffer und die Reisetasche auf den Sitz und stürzte hinterher. »Logan«, sagte sie. »International, Abflug-Terminal.« Dann zog sie den Kopf ein und machte sich klein, als wollte sie sich verstecken. Am Flughafen gab sie dem Fahrer ein bescheidenes Trinkgeld und erklärte betont: »Italien, ich fliege nach
Florenz. Ich studiere im Ausland.« Ob er allerdings ein einziges Wort verstanden hatte, konnte sie nicht sagen. Sie rollte ihr Gepäck in die Abflughalle und durchquerte sie zum Takt der startenden und landenden Jets über der Hafenbucht. Bei den verschiedenen Reihen, die sich am Check-in gebildet hatten, herrschte eine gewisse Hektik. Ein aufgeregtes Schnattern in allen möglichen Sprachen hing in der Luft. Sie blickte zum Ausgang, dann drehte sie sich abrupt nach rechts und steuerte die Fahrstühle an, wo sie auf eine Menschentraube stieß, die mit einem AirLingus-Flug aus Shannon eingetroffen war, allesamt Rotschöpfe mit weißer Haut, die schnell und mit Akzent munter durcheinanderredeten. Sie trugen die nicht zu übersehenden grün-weißen Streifen von Celtic und waren auf dem Weg zu einer großen Familienfeier in South Boston. Ashley fand an der Rückseite des Aufzugs ein bisschen Platz und öffnete hastig ihre Tasche. Sie stopfte ihre Strickmütze, die Fleecejacke und Sonnenbrille hinein und zog eine rotbraune Baseballkappe des Boston College sowie einen braunen Ledermantel heraus. Blitzschnell kleidete sie sich um und war dankbar dafür, dass die Mitfahrenden sich offenbar nichts dabei dachten. Im dritten Stock stieg sie Richtung Parkhauszugang aus. Auf dem grauen, düsteren Parkgelände, wo es nach Öl stank und von quietschenden Reifen auf den kreisrunden
Rampen widerhallte, lief sie zügig zu den Inland-Terminals hinüber. Dann folgte sie den Schildern zur Busverbindung Richtung U-Bahn-Station. Im U-Bahn-Abteil befand sich nur ein halbes Dutzend Menschen, und Michael O’Connell war nicht darunter. Es bestand keine Gefahr, dass er ihr folgte. Jetzt nicht mehr. Allmählich kam bei ihr so etwas wie freudige Erregung auf und ein berauschendes Gefühl der Freiheit. Ihr Herz schlug höher, und ihr wurde bewusst, dass sie lächelte, vermutlich zum ersten Mal seit Tagen. Dennoch hielt Ashley sich streng an die Instruktionen ihres Vaters und räumte innerlich ein: Sie mögen verrückt sein, aber sie scheinen zu funktionieren. Sie stieg in der Congress Street aus und lief, immer noch mit ihrem doppelten Gepäck, die wenigen Häuserblocks bis zum Kindermuseum. Hinter der Eingangstür gab es eine Stelle, an der sie ihre Taschen aufgeben und eine Eintrittskarte lösen konnte. Dann begab sie sich in das verschlungene Labyrinth des Museums und wanderte vom Lego-Raum zum naturwissenschaftlichen Teil, wo sie ein Heer von kichernden, lebhaften Kindern mit ihren Eltern oder Lehrern umgab. Als sie inmitten des aufgeregten, fröhlichen Lärms verharrte, begriff sie plötzlich die Logik ihres Vaters: Trotz der verwinkelten Anlage, der Treppen und Rutschen hätte sich O’Connell an diesem Ort nicht verstecken können. Man hätte ihm sofort angesehen, dass er hier nicht hingehörte, wohingegen Ashley problemlos als
Kindergärtnerin oder Babysitter durchging, die sich mühsam ihren Weg durch die Menge der Besucher bahnte. Sie sah auf die Uhr und hielt sich weiterhin an den Plan. Exakt um sechzehn Uhr holte sie ihr Gepäck wieder ab und stieg unverzüglich in eines der Taxis, die draußen warteten. Diesmal suchte sie sorgsam die Straße nach Michael O’Connell ab. Das Museum lag in einem ehemaligen Lagerhausviertel, und die breite Straße war in beide Richtungen gut zu überschauen. Sie erkannte, wie genial sie den Schauplatz ausgesucht hatten: kein Versteck, keine dunklen Gassen, Bäume oder schattigen Winkel. Ashley lächelte zufrieden und bat den Fahrer, sie zur PeterPan-Bushaltestelle zu bringen. Der Mann murrte, das sei eine zu kurze Strecke, aber das war ihr egal; zum ersten Mal seit Tagen war sie befreit von dem Gefühl, beobachtet zu werden. Als sich das Taxi seinen Weg durch das südliche Boston bahnte, summte sie sogar leise vor sich hin. Für einen Bus, der in weniger als zehn Minuten abfahren sollte, kaufte sie einen Fahrschein nach Montreal. Er machte Station in Brattleboro, Vermont, bevor er nach Kanada weiterfuhr. Sie würde lediglich ein gutes Stück vor ihrem gebuchten Reiseziel aussteigen. Und sie freute sich darauf, Catherine wiederzusehen. Als sie in den Bus stieg, schlug ihr ein Gestank nach
Abgasen und Schmieröl entgegen. Es war bereits dunkel, und grelle Neonstreifen glitzerten an der silbrigen Karosserie des Busses. Ganz hinten fand sie einen Fensterplatz. Einen Moment lang starrte sie in das zunehmende Dunkel und staunte, dass sie sich nicht unsicher fühlte, sondern beinahe frei. Und als der Fahrer die Tür schloss und knirschend den Gang einlegte, um rückwärts aus der Parkbucht zu fahren, schloss sie die Augen und lauschte auf den Rhythmus des Motors, während sie zügig durch die Straßen des Stadtzentrums Richtung Highway fuhren. Es war früher Abend, doch kaum hatten sie die City hinter sich gelassen, fiel Ashley in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Die Sonne schien unbarmherzig. Es war einer dieser Tage, an denen sich die stehende, aufgeheizte Luft zwischen den Hügeln staute, als ich ein paar Häuserblocks vor Matthew Murphys Büro anhielt. Über dem Bürgersteig hing ein Schleier flirrender warmer Luft. In vielen älteren Städten Neuenglands sieht man leicht, wo in der Zeit der Reconstruction, nach dem Bürgerkrieg, das Geld ausgegangen war, wo die Politiker nur auf
Stimmenfang aus waren und wenig Gegenleistung erbrachten. Nur einen Häuserblock von den gehobenen Geschäftshäusern entfernt wirkt alles deutlich schäbiger, heruntergekommener. Es ist noch kein richtiger Verfall, so wie ein Zahn von innen her fault, sondern eher eine Art Resignation. Der Straßenzug, in dem ich sein Büro zu finden hoffte, war vielleicht noch eine Spur ärmlicher als einige andere. An der Ecke warb eine dunkle, höhlenartige Bar unter einer Neonreklame von Budweiser Bier auf einem handbeschrifteten Schild mit Oben ohne rund um die Uhr. Gegenüber lag eine kleine Bodega, in deren Regalen sich Chips, Früchte, Tecate-Malzgetränk und Lebensmittel in Dosen stapelten, während die Ladentür eine Flagge von Honduras zierte. Die übrigen Gebäude reihten sich in das Einerlei der Klinkerbauten ein, wie sie in jeder Großstadt allgegenwärtig sind. Ein Streifenwagen fuhr langsam an mir vorbei. Ich fand den Eingang zu Murphys Gebäude etwa in der Mitte des Blocks. Es war ein unauffälliger Bau, mit einem einzigen Fahrstuhl neben einem Schild, auf dem über zwei Geschosse verteilt vier Büros ausgewiesen waren. Murphy hatte seins gegenüber einer Außenstelle des Sozialamts. Neben seiner Tür hing ein billiges schwarzes Holzschild mit seinem Namen und darunter in goldenen Lettern sein Gewerbe: Vertrauliche Ermittlungen jeglicher
Art. Ich wollte die Tür mit der Hand aufdrücken, doch sie war verschlossen. Ich versuchte es noch ein paar Mal, dann klopfte ich laut. Es kam keine Antwort. Ich klopfte wieder und fluchte ein paar Mal leise. Als ich zurücktrat und bei dem Gedanken, dass ich einen ganzen Tag damit vergeudet hatte, hierherzufahren, den Kopf schüttelte, ging gegenüber die Tür des Sozialamts auf, und eine Frau in mittlerem Alter erschien mit einem Stapel Akten auf dem Arm. Als sie mich sah, seufzte sie und sagte prompt: »Da ist keiner mehr.« »Sind die umgezogen?« »Wenn Sie es so nennen wollen«, erwiderte sie. »Hat in der Zeitung gestanden.« Ich sah sie erstaunt an, und sie runzelte die Stirn. »Sie haben geschäftlich mit Mr. Murphy zu tun?« »Ich hätte ein paar Fragen an ihn«, erklärte ich. »Nun ja«, meinte sie steif, »ich kann Ihnen seine neue Adresse nennen. Ist nur ein paar Straßen weiter.«
»Großartig«, sagte ich. »Wo ungefähr?« Sie zuckte die Achseln. »Auf dem Friedhof River View.«
23 Wut
Er ermahnte sich zur Ruhe. Das fiel Michael O’Connell schwer. Gewöhnlich funktionierte er besser mit einer gewissen Wut im Bauch, die sein Urteilsvermögen inspirierte und ihn mit sicherem Instinkt in eine Richtung trieb, die ihm Befriedigung verschaffte. Eine Schlägerei. Eine Beleidigung. Eine Obszönität. Dies alles waren Gelegenheiten, die er fast genauso genoss, wie Pläne zu schmieden. Es gab nicht viel, das so reizvoll war, wie vorauszusagen, was jemand als Nächstes tun würde, und dann demjenigen dabei zuzusehen, wie er es tat. Er hatte Ashley beobachtet, als sie aus ihrem Gebäude in das Taxi gestürmt war, und hatte sich das Unternehmen sowie die Nummer gemerkt. Er war nicht überrascht, dass sie weg wollte. Wegzulaufen war bei Leuten wie Ashley und
ihrer Familie die natürlichste Reaktion, sagte er sich. Er hielt sie für Feiglinge. Er rief beim Fahrdienstleiter der Taxizentrale an, gab dem Mann die Nummer des Wagens durch und erklärte, er habe eine Brille auf dem Bürgersteig gefunden, die der jungen Dame offenbar heruntergefallen sei. Ob er sie ihr irgendwie zurückgeben könne. Der Fahrdienstleiter hatte einen Moment gezögert, während er die Liste seiner Funkrufe durchging. »Ähm, ich glaube, da ist nichts zu machen.« »Wieso nicht?«, hatte O’Connell gefragt. »Die Fahrt ging zum Flughafen Logan, Internationales Abflug-Terminal«, lautete die Antwort. »Schmeißen Sie sie weg, oder bringen Sie sie zu so ’ner Sammelstelle von der Caritas.« »Na ja«, sagte O’Connell, damit es locker klang, »Da wird jemand nicht allzu viel von den Sehenswürdigkeiten haben, wo immer die Dame ihren Urlaub verbringt.« »Pech für sie«, meinte der Fahrdienstleiter. Das war stark untertrieben, fand Michael O’Connell, während er innerlich kochte. Jetzt war er einen halben Block von ihrer Wohnung entfernt auf dem Posten und sah drei jungen Männern dabei zu, wie sie Kartons aus ihrem Gebäude trugen. Auf der Straße
parkte in zweiter Reihe ein mittelgroßer Kleintransporter, und sie hatten es offenbar eilig, den Job zu erledigen und abzuhauen. Wieder schärfte O’Connell sich ein, Ruhe zu bewahren. Er machte ein paar Lockerungsübungen mit den Schultern, deren Muskeln sich verspannt hatten, und ballte ein halbes Dutzend Mal die Fäuste, um sie zu entkrampfen. Dann schlenderte er gemächlich die Straße entlang bis zu der Stelle, an der die drei beschäftigt waren. Einer der Jungs trug zwei Bücherkisten, auf denen er zusätzlich eine Lampe balancierte, als O’Connell an den Eingangsstufen erschien. Der Kerl schwankte ein wenig unter dem Gewicht. »Hey, geht’s rein oder raus?«, fragte O’Connell. »Is’n Auszug«, erwiderte der Junge. »Warte, ich nehm dir was ab«, bot O’Connell an und schnappte sich die Lampe, bevor sie auf den Bürgersteig fiel. Er war wie elektrisiert, als er die Finger um den Metallfuß legte, als berührte er nicht nur einen Gegenstand, der Ashley gehörte, sondern ihre Haut. Er merkte, wie er die Lampe streichelte, und erinnerte sich genau, wo sie in der Wohnung auf dem Nachttisch gestanden hatte. Er sah im Geiste vor sich, wie sie einen Lichtkegel über ihre Kurven warf. Sein Atem beschleunigte sich, und er hatte fast einen Anflug von Schwindel, als er sie dem Möbelpacker wiedergab.
»Danke«, antwortete der Junge und zwängte das Utensil respektlos in eine Lücke im Laster. »Bleiben nur noch der verfluchte Schreibtisch, das Bett und ein, zwei Läufer, dann wär’s geschafft.« O’Connell schluckte schwer und deutete auf eine rosa Tagesdecke. Er wusste noch genau, wie er sie in jener Nacht mit den Füßen weggeschoben hatte, bevor er sich über sie beugte. »Das sind nicht eure Sachen?« »Nee.« Der Junge streckte den Rücken. »Wir machen den Umzug für die Tochter eines Professors. Werden ziemlich gut bezahlt.« »Nicht schlecht«, sagte O’Connell langsam, als habe er an jedem Wort zu kauen; er hatte große Mühe, sich den Anschein beiläufiger Neugier zu geben. »Das muss das Mädchen sein, das auf dem zweiten Stock wohnt. Ich wohne da drüben …« Er deutete vage auf ein paar Gebäude. »Die ist ziemlich sexy. Geht sie aus Boston weg?« »Florenz in Italien«, sagt der Mann. »Hat’n Auslandsstipendium bekommen.« »Nicht schlecht, alle Achtung.« »Kannst du laut sagen.«
»Na ja, dann noch viel Spaß mit dem Zeug.« O’Connell winkte und schlenderte davon. Er überquerte die Straße und fand einen Baumstamm, an den er sich lehnen konnte. Er atmete hastig und tat nichts gegen den eisigen Druck, der sich in ihm aufbaute. Er sah zu, wie Ashleys Möbel Stück für Stück im Kleinlaster verschwanden, und fragte sich, ob das, was er da sah, vielleicht nur Einbildung war. Er fühlte sich wie vor einer Kinoleinwand, auf der alles real zu sein scheint, es aber nicht ist. Eine Taxifahrt zum Internationalen Flughafen Logan. Ein Trio CollegeStudenten, die an einem stillen Sonntagmorgen Ashleys Sachen packten. Ein Privatdetektiv mit einer Adresse in Springfield, der gegenüber seinem eigenen Wohnhaus parkte und ihn fotografierte. Michael O’Connell wusste, dass das irgendwie zusammenpasste, er konnte sich nur noch nicht vorstellen, wie. Nur über eines war er sich sicher: Falls Ashleys Leute glaubten, sie könnten sie mit einem Flugzeugticket aus seiner Reichweite schaffen, dann lagen sie gründlich falsch. Damit machten sie die Sache für ihn nur noch bedeutend interessanter. Er würde sie finden, und wenn er dafür nach Italien fliegen musste. »Niemand bestiehlt mich«, flüsterte er. »Niemand nimmt mir weg, was mir gehört.«
Catherine Frazier zog die Fleecejacke ein wenig enger um sich und sah zu, wie ihr Atem kleine Dampfkringel bildete. Die Luft war schon jetzt empfindlich kalt und kündete von noch strengeren Nächten. So ist Vermont nun mal, dachte sie, es warnt einen vor dem, was kommt, vorausgesetzt, man achtet darauf. Ein kalter Geschmack dunklen Himmels auf den Lippen und ein taubes Gefühl in den Wangen, über ihr das Knarren in den Bäumen und morgen früh eine hauchdünne Eisschicht auf den Teichen. In den kommenden Tagen würde es Schauer geben. Sie nahm sich vor, nachzusehen, wie viel Brennholz sie hinter dem Haus gestapelt hatte. Sie wünschte sich, Menschen so gut deuten zu können wie das Wetter. Der Bus aus Boston hatte ein wenig Verspätung, und statt drinnen bei der Kegelbahn oder im Restaurant zu warten, war sie ins Freie getreten. Grelles Licht machte sie seltsam nervös; sie fühlte sich im Schatten und im Nebel wohler. Sie freute sich auf das Wiedersehen mit Ashley, auch wenn sie wie immer ein wenig hilflos überlegte, als was sie ihren Besuch vorstellen sollte. Ashley war nicht ihre Enkeltochter und auch keine Nichte. Sie gehörte nicht durch Adoption zur Familie, auch wenn das der Sache am nächsten kam. Vermonter mischten sich normalerweise nicht in anderer Leute Privatangelegenheiten ein, sondern hielten es mit der alten Weisheit von Neuengland: Was ich nicht weiß,
macht mich nicht heiß. Trotzdem würden die Frauen ihrer Kirche und die Leute hinter der Theke des Gemischtwarenladens oder im Haushaltswarengeschäft oder auch sonst überall, wo man sie seit Ewigkeiten kannte, ihr Fragen stellen. Hier oben hatten sie alle feine Antennen für die kleinsten Anzeichen von Scheinheiligkeit. Und die Tatsache, dass sie die Tochter der Lebensgefährtin von Hope bei sich zu Hause willkommen hieß, während sie diese Beziehung nicht gutheißen konnte, mochte für Zündstoff sorgen. Catherine legte den Kopf zurück und ließ den Blick über den schwarzen Baldachin schweifen. Sie fragte sich, ob man so viele widersprüchliche Gefühle in sich vereinen konnte, wie es Sterne am Himmel gab. Ashley war noch ein Kind gewesen, als sie in Catherines Leben trat. Sie dachte an ihre erste Begegnung und musste unwillkürlich schmunzeln. Ich hatte zu viele Sachen an, erinnerte sie sich. Es war heiß, aber ich trug einen wollenen Rock und Pullover. Wie dumm von mir. Ich muss auf sie gewirkt haben, als wäre ich hundert Jahre alt. Catherine war steif, ja, aberwitzig förmlich gewesen und hatte der Elfjährigen die Hand hingestreckt, als Ashley ihr vorgestellt wurde. Doch das Kind hatte sie vom ersten Moment an bezaubert, und so rührte der Waffenstillstand mit ihrer eigenen Tochter sowie der höfliche Anschein, den sie gegenüber deren Lebenspartnerin (sie hasste das
Wort, es klang so geschäftsmäßig) wahrte, entscheidend von ihrer Zuneigung zu Ashley her. Sie hatte wilde Kindergeburtstage und entsetzlich nasse Fußballspiele besucht und Ashley bei einer Highschool-Theateraufführung als Julia bewundert, auch wenn sie es gehasst hatte, sie auf der Bühne sterben zu sehen. Sie hatte abends auf ihrer Bettkante gesessen, als mit Ashleys erstem Freund Schluss war und die Fünfzehnjährige sich die Augen aus heulte, und sie war in rasantem Tempo, viel schneller als sonst, gefahren, um Ashley in ihrem Abschlussballkleid zu fotografieren. Sie hatte Ashley gepflegt, als sie die Grippe hatte und Sally bei Gericht eingespannt war; sie hatte neben ihr auf dem Boden geschlafen und die ganze Nacht auf ihren Atem gelauscht. Sie hatte Ashley gastlich aufgenommen, als sie mit voller Campingausrüstung und ein paar College-Freunden bei ihr aufgetaucht war, um auf dem Weg in die Green Mountains haltzumachen. Ein paar Mal hatte sie Ashley in Boston zum Dinner eingeladen, und in besonders glücklicher Erinnerung hatte sie ihren Ausflug in die Metropole, als sie überdachte Tribünenplätze im Fenway Stadion ergattert hatten: Catherine war unter irgendeinem Vorwand in die Stadt gefahren, obwohl sie in Wahrheit nur Ashley wiedersehen wollte. Sie scharrte mit den Füßen im Schotter des Parkplatzes und wartete auf den Bus, während sie denken musste, dass ihr das Leben zwar die Enkelkinder versagt hatte, die sie sich gewünscht und mit denen sie gerechnet hatte, dass sie mit Ashley dafür aber vom Schicksal gesegnet
war. Von dem Moment an, als das Kind schüchtern zu ihr hochgeblinzelt und sie gefragt hatte: »Möchtest du mein Zimmer sehen? Vielleicht können wir ein Buch zusammen lesen?«, hatte sie das Gefühl gehabt, mit der Kleinen in eine andere Welt einzutauchen, in der die Enttäuschungen und Schwierigkeiten, die sie mit Hope durchstand, nichts zu suchen hatten. »Verflucht noch mal«, sagte Catherine laut, »kann ein Bus so viel Verspätung haben?« In diesem Moment hörte sie das Schnauben eines großen Dieselmotors, der abbremste, um in eine Kurve zu gehen, und sie sah, wie die Scheinwerfer ins Dunkel des Parkplatzes schnitten. Sie trat eilig vor und reckte die Arme bereits zum Gruß über den Kopf.
Sallys Sekretärin meldete über die Gegensprechanlage: »Ich habe einen Mr. Murphy am Telefon, er sagt, er hätte Informationen für Sie.« »Stellen Sie durch«, sagte Sally. »Hallo, Mr. Murphy, lassen Sie hören.« »Na ja«, vermeldete er in einem weltverdrossen zynischen Ton. »Nicht so viel, wie ich noch rauskriegen kann und werde, wenn Sie wollen, dass ich weitermache. Aber ich
hatte mir gedacht, dass Sie lieber früher als später den neuesten Stand der Dinge erfahren wollen, wenn man bedenkt, dass diese Ermittlung für Sie von, ähm, persönlichem Interesse ist.« »Das sehen Sie richtig.« »Wollen Sie zuerst das Fazit oder die Details?« »Erzählen Sie mir einfach, was Sie herausgebracht haben.« »Also, ich denke, Sie müssen sich nicht die allergrößten Sorgen machen. Natürlich haben Sie Grund zur Sorge, dass Sie mich da bitte nicht falsch verstehen, aber ich will es mal so sagen: Ich hab schon Schlimmeres gesehen.« Sally fühlte eine Woge der Erleichterung. »Okay, das ist gut. Wie wär’s, wenn Sie mir alles erzählen würden?« »Na ja, er hat ein Vorstrafenregister. Kein wirklich langes und keins, bei dem einem überall rote Lämpchen aufleuchten, wenn Sie verstehen, was ich meine, aber bedenklich genug.« »Gewaltdelikte?« »Auch, aber nichts allzu Ernstes. Schlägereien, so was in
der Art. Seiner Akte nach sind keine Waffen im Spiel. Das ist schon mal gut. Natürlich kann es auch einfach heißen, dass er sich nicht hat erwischen lassen …« »Hören Sie«, fuhr Murphy fort, »dieser O’Connell ist ein übler Bursche, aber ich denke, wir haben es mit einem Leichtgewicht zu tun. Ich meine, ich habe diesen Typus schon tausend Mal gesehen, und wenn wir ihm zeigen, dass wir keinen Spaß verstehen, knickt so jemand sehr schnell ein. Wenn Sie das Geld aufbringen wollen, kann ich ihm zusammen mit ein paar alten Kumpeln einen kleinen Besuch abstatten und ihm eine Heidenangst einjagen. Ihm stecken, dass er sich mit den falschen Leuten anlegt, dass auf Dauer eine andere Lebenseinstellung seiner Gesundheit vielleicht nicht schaden würde …« »Sie meinen, ihm drohen?« »Nein, Ma’am, und ich würde auf keinen Fall zu Gewaltanwendung raten …« Murphy legte eine Pause ein, damit die Worte Wirkung zeigten und Sally Zeit hatte zu begreifen, dass er das genaue Gegenteil meinte. »… denn das wäre eine Straftat, und Sie als jemand, der bei Gericht tätig ist, würden mich niemals damit beauftragen, gegen jemanden tätlich zu werden. Ich meine viel mehr, dass man ihn, ähm, einschüchtern könnte. Darum
geht es, ums Einschüchtern. Alles ganz streng im Rahmen des Gesetzes. So wie Sie und ich das Gesetz verstehen. Wir wollen nur sicherstellen, dass er sich gut überlegt, was er tut.« »Das klingt in der Tat überzeugend.« »Das würde ich gerne übernehmen. Kostet Sie auch nicht zu viel. Nur das übliche Tagegeld und die Reisespesen für mich. Und eine kleine Aufwandsentschädigung für meine, ähm, Begleiter.« »Also«, sagte Sally in bewusst zögerlichem Ton, »ich bin mir nicht sicher, ob ich mich mit dem Gedanken anfreunden kann, noch jemand anderen zu involvieren. Selbst bei Freunden, auf deren Diskretion bei solchen Angelegenheiten Sie sich verlassen können. Besonders, wenn es um einen Staatspolizisten geht, der zu einem späteren Zeitpunkt womöglich gezwungen sein könnte, ähm, wahrheitsgemäß vor Gericht auszusagen. Ich versuche nur, vorausschauend zu entscheiden«, fügte sie hinzu. »Künftige Eventualitäten mit einzubeziehen. Wir sollten uns keine offenen Flanken erlauben.« Murphy war im Laufe der Jahre zu der Überzeugung gelangt, dass allen Anwälten das Verständnis dafür abging, die Grenze zwischen dem zu sehen, was sich tagtäglich auf der Straße abspielte, und dem, was anschließend von ganz und gar vernünftigen, kühl denkenden Menschen vor
Gericht beschrieben wurde. Fast keiner von ihnen ist in der Lage, diesen Unterschied zu erkennen. Zuweilen ein blutiger Unterschied. Er seufzte in sich hinein. »Da sagen Sie was, Frau Anwältin. Aber ich denke, ich kann diese, nun ja, diese Vorkehrungen alleine treffen, ohne jemanden zu involvieren, der derzeit im Polizeidienst tätig ist. Falls es das ist, worauf Sie hinauswollen.« »Das wäre klug.« »Dann soll ich also weitermachen?« »Am besten machen Sie einen Plan, Mr. Murphy. Und das ist unser Ausgangspunkt.« »Ich melde mich«, sagte er. Während sie noch den Hörer am Ohr hielt, war die Leitung tot. Sally lehnte sich in ihrem Sessel zurück und fühlte sich zugleich ebenso verunsichert wie beruhigt, was, wie sie wusste, vollkommen unvereinbar war.
Es war ein typischer städtischer Friedhof, der in eine
vernachlässigte Gegend gelegt worden war, mit einem schwarzen schmiedeeisernen Zaun rundherum. Ich ließ den Blick von einem grauen Grabstein zum nächsten wandern, von einer Reihe zur anderen, und ging die Namen durch. Den Hügel aufwärts nahmen sie an Statur zu. Auf schlichte Granitplatten folgten aufwendige Formen und Gestalten. Auch die eingemeißelten Inschriften wurden länger. Zum Andenken an die Geliebte Frau und Mutter oder den Hingebungsvollen Vater. Nach allem, was ich über Matthew Murphy erfahren hatte, glaubte ich nicht, dass er unter Posaunenengeln begraben lag. Ich lief systematisch die Reihen auf und ab, und merkte bald, wie mir das Hemd am Rücken klebte und ein dünner Schweißfilm auf der Stirn stand. Als ich gerade aufgeben wollte, entdeckte ich einen unscheinbaren Stein mit dem Namen Matthew Thomas Murphy über seinen Lebensdaten. Nichts weiter. Ich schrieb mir die Daten auf und blieb einen Moment lang stehen. »Was ist passiert?«, fragte ich laut. Nicht einmal ein Lufthauch oder eine Geistervision gab Antwort. Im nächsten Moment wurde mir, mit einigem Ärger, klar, wer mir auf die Frage Auskunft geben konnte. Ein paar Häuserblocks vom Friedhof entfernt gab es eine Tankstelle und ein Münztelefon. Ich steckte ein paar Münzen ein und wählte ihre Nummer.
Als sie sich meldete, nannte ich nicht meinen Namen. »Sie haben mich belogen«, sagte ich gereizt. Sie schwieg, und ich hörte, wie sie tief Luft holte. »Inwiefern?«, fragte sie. »Lügen ist ein starkes Wort.« »Sie haben mir gesagt, ich soll zu Murphy gehen und mit ihm reden. Und jetzt finde ich ihn nicht in seinem Büro, sondern auf dem Friedhof. Wo er Fraß für Maden und Regenwürmer ist. Das klingt mir doch ziemlich nach einer Lüge. Was zum Teufel soll das Ganze?« Wieder schwieg sie und wog ihre Worte vorsichtig ab. »Aber was haben Sie gesehen?«, erkundigte sie sich. »Ich hab ein Grab gesehen. Mit einem billigen Stein.« »Dann haben Sie nicht genug gesehen«, stellte sie fest. »Was soll es denn da noch zu sehen geben?«, wollte ich gerne wissen. Mit einem Schlag war ihre Stimme kalt, distanziert. Beinahe winterlich. »Schauen Sie genauer hin, viel genauer. Hätte ich Sie ohne Grund dahingeschickt? Sie sehen einen Granitstein mit einem Namen und Daten. Ich sehe eine Geschichte.« Dann legte sie auf.
24 Einschüchterung
Er ging davon aus, dass ein zusätzlicher Tag, den er in Michael O’Connell investierte, mehr als angemessen war. Es gab eine Reihe bedeutend schwierigerer Fälle, um die sich Matthew Murphy kümmern musste: Er hatte Fotos von heimlichen Affären zu liefern, Belege für Steuerhinterziehung zu überprüfen, Leute zu beschatten, Leute zu stellen, Leute zu befragen. Er wusste, dass Sally Freeman-Richards nicht zu den betuchteren Anwälten in der Gegend zählte; bei ihr stand keine BMW- oder Mercedes-Limousine vor dem Haus; und ihm war klar, dass seine bescheidene Rechnung einen Anstandsrabatt ausweisen würde. Vielleicht war die Gelegenheit, dem Dreckskerl einen gehörigen Denkzettel zu verpassen, zehn Prozent wert. Wann hatte er denn schon mal Gelegenheit, wie in den guten alten Zeiten einen Typen in die Mangel zu nehmen? Es ging doch nichts über das Vergnügen, den harten Burschen herauszukehren und die alte Pumpe mit einem ordentlichen Adrenalinstoß so richtig auf Trab zu bringen, dachte er.
Er stellte den Wagen zwei Häuserblocks von O’Connells Wohnung entfernt in einem Parkhaus ab, wo er mehrere Decks hochgefahren war, bis er sich unbeobachtet fühlen konnte. Dann öffnete er seinen Kofferraum. Jeweils in einem eigenen Matchbeutel hielt er eine Reihe von Waffen bereit. In der langen roten Tasche befand sich ein vollautomatisches Gewehr, ein Colt AR-15, mit einem Zweiundzwanzig-Schuss-Bananenmagazin. Das gute Stück diente ihm dazu, schnell und zügig den Rückzug anzutreten, wenn es richtig großen Ärger gab, denn die wurde mit jedem Problem fertig. In der kleineren gelben hatte er eine Automatik .380 in einem Schulterhalfter. In einer dritten, schwarzen, verbarg sich ein Revolver .357 mit fünfzehn Zentimeter langem Lauf und teflonbeschichteten Geschossen, die man Cop-Killer nannte, weil sie durch die bei den meisten Polizeieinheiten üblichen kugelsicheren Westen drangen. Für den anstehenden Auftrag hielt er die .380 für die richtige Wahl. Er konnte noch nicht sagen, ob es genügen würde, sie O’Connell zu zeigen, wozu er nur die Anzugjacke offen zu tragen brauchte. Matthew Murphy war in allen Einschüchterungsmethoden versiert. Er zog sich das Schulterhalfter über, schlüpfte in ein Paar dünne Lederhandschuhe und übte ein, zwei Mal das altvertraute, schnelle Ziehen der Waffe. Als Murphy sich davon überzeugt hatte, dass er noch über die alte Geschicklichkeit verfügte, machte er sich auf den Weg.
Eine leichte Brise wirbelte den Dreck zu seinen Füßen auf. Es herrschte noch gerade genügend Tageslicht, um gegenüber O’Connells Gebäude die passende dunkle Stelle zu finden, und als er sich mit dem Rücken an eine Ziegelwand schmiegte, flackerten die ersten Straßenlaternen auf. Zwar hoffte er, dass es nicht zu lange dauern würde, doch er war ein geduldiger Mann und ans Warten gewöhnt.
Scott hatte das dringende Bedürfnis, sich selbst auf die Schulter zu klopfen. Auf dem Anrufbeantworter war bereits eine Nachricht von Ashley, die seinen labyrinthischen Anweisungen gefolgt und sicher bei Catherine in Vermont gelandet war. Mit der Entwicklung der letzten Tage konnte er überaus zufrieden sein. Die Football-Jungs waren zurückgekehrt, nachdem sie Ashleys Sachen in Medford eingelagert hatten. Dabei hatte Scott erfahren, dass wie vermutet ein Mann, dessen Beschreibung auf O’Connell passte, tatsächlich Fragen gestellt und mit einer offensichtlich erfundenen Geschichte verbrämt hatte, bevor er weitergezogen war. Doch seine Erkundigungen waren ins Leere gestoßen. Er würde einem Phantom nachjagen. Die Auskünfte würden im Sande verlaufen.
»Damit hast du wohl nicht gerechnet, Scheißkerl«, triumphierte Scott laut. Er stand im kleinen Wohnzimmer seines Hauses und legte auf dem abgewetzten Orientteppich ein Tänzchen hin. Im nächsten Moment griff er nach der Fernbedienung seiner Stereoanlage und drückte so lange auf die Knöpfe, bis Jimi Hendrix mit Purple Haze aus den Lautsprechern donnerte. Als Ashley klein gewesen war, hatte er ihr den altertümlichen Ausdruck beigebracht, eine kesse Sohle aufs Parkett zu legen, und so kam sie damals, wenn er bei der Arbeit war, und fragte: »Können wir eine kesse Sohle aufs Parkett legen?« Dann brachte er ihr zu seiner Sechziger-Jahre-Musik die alten Modetänze The Frug, The Swim und den F. S. F. bei, die für seinen Geschmack als Erwachsener zu den lächerlichsten Bewegungen gehörten, die sich das Gehirn des Homo faber seit Menschengedenken hatte einfallen lassen. Dann kicherte sie jedes Mal und ahmte ihn nach, bis sie mit kindlichen Lachanfällen zu Boden fiel. Doch selbst dann besaß Ashley noch eine Anmut, die ihn in Erstaunen versetzte. Nie war etwas Unbeholfenes oder Holpriges an ihren Schritten; für ihn war es immer Ballett gewesen. Er wusste, dass er einfach hingerissen war, so wie es Vätern nun mal mit ihren Töchtern erging, doch er hatte seine Wahrnehmung einer kritischen, akademischen Prüfung unterzogen, die ihn darin bestärkte, dass nichts jemals so schön sein konnte wie sein Kind.
Scott atmete aus. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Michael O’Connell sie jemals in Vermont vermuten sollte. Jetzt, dachte Scott, mussten sie nur noch einige Zeit verstreichen lassen, in einer anderen Stadt ihr weiteres Studium neu organisieren und Ashley einfach da anknüpfen lassen, wo sie aufgehört hatte. Ein kleiner Rückschlag, vielleicht ein verlorenes halbes Jahr, um größere Probleme abzuwenden. Scott hob den Kopf und sah sich im Wohnzimmer um. Er fühlte sich plötzlich allein und wünschte sich, es wäre jemand bei ihm, mit dem er seine Hochstimmung hätte teilen können. Keine seiner Eroberungen aus jüngster Zeit, mit denen er essen und auch schon mal ins Bett ging, erfüllte diesen Zweck. Seine eigentlichen Freunde am College waren eingefleischte Akademiker, und er glaubte nicht, dass auch nur einer von ihnen ihm hätte nachempfinden können, was er durchlebte. Nicht eine Sekunde. Er runzelte die Stirn. Der einzige Mensch, dem er sich wirklich mitgeteilt hatte, war Sally gewesen. Und sie würde er jetzt nicht anrufen. Gerade jetzt nicht. Tiefste Verbitterung wallte einen Moment lang in ihm auf. Sie hatte ihn verlassen, um mit Hope zusammenzuziehen.
Es war ein klarer Schnitt gewesen. Von einem Augenblick auf den anderen. Taschen und Koffer, die gepackt in der Diele standen, während er um die richtigen Worte rang, obwohl er wusste, dass es die nicht gab. Er hatte gewusst, dass sie unglücklich war. Er hatte gewusst, dass sie sich unerfüllt fühlte und dass Zweifel an ihr nagten. Doch er hatte angenommen, das hinge mit ihrer Karriere zusammen oder mit einer Art Midlife-Crisis oder auch nur mit der Langeweile der selbstgenügsamen liberalen, akademischen Welt, in der sie sich zusammen eingerichtet hatten. Das alles war nachvollziehbar, man konnte darüber diskutieren, es einordnen und begreifen. Völlig unbegreiflich war ihm dagegen, dass alles, was einmal gegolten hatte, mit einem Mal eine Lüge sein sollte. Einen Moment lang stellte er sich Sally mit Hope im Bett vor. Was kann sie ihr geben, das ich ihr nicht geben konnte?, fragte er sich und merkte im selben Augenblick, dass dies eine überaus gefährliche Frage war und er die Antwort darauf lieber nicht wissen wollte. Er schüttelte den Kopf. Die Ehe war eine Lüge gewesen, dachte er. Sämtliche Liebesbeteuerungen und der Wunsch, fürs Leben zusammenzubleiben, waren gelogen. Das einzig Wahre, das aus alledem hervorgegangen war, das war Ashley, und selbst da war er sich letztlich nicht sicher. Hat sie mich geliebt, als wir sie empfangen haben? Hat sie mich geliebt, als sie mit ihr schwanger war? Wusste Sally bei Ashleys Geburt, dass sie sich selbst etwas vorgemacht
hatte? Oder kam das ganz plötzlich? Oder hat sie es die ganze Zeit gewusst und es nur nicht wahrhaben wollen? Er senkte den Kopf und überließ sich der Flut von Bildern, die ihn bedrängten. Wie Ashley am Strand spielt. Wie Ashley in den Kindergarten geht. Wie Ashley ihm zum Vatertag eine Karte über und über mit Blumen bemalt. Die klebte immer noch an der Wand in seinem Büro. Wusste es Sally während all dieser Momente? Zu Weihnachten und an Geburtstagen? Bei Halloween-Kinderfesten und beim Ostereiersuchen? Er wusste es nicht, doch er wusste, dass der Waffenstillstand, der nach der Scheidung zwischen ihnen herrschte, ebenfalls eine Lüge war, wenn auch eine wichtige, um Ashley zu schützen. Sie hatten von Anfang an erkannt, dass sie die Verletzlichste von ihnen war, dass sie am meisten zu verlieren hatte. Scott und Sally war in all den Tagen, Monaten und Jahren das, was auf dem Spiel stand, längst abhanden gekommen. Er wiederholte in Gedanken den Satz: Sie ist jetzt in Sicherheit. Scott ging zu einem Schränkchen und holte ein Flasche Scotch heraus. Er goss sich etwas davon in ein Glas, nahm einen Schluck, ließ die bittere, bernsteinfarbene Flüssigkeit langsam die Kehle hinunterlaufen und erhob das Glas zu einem spöttischen, einsamen Trinkspruch: »Auf uns«, sagte er. »Auf uns alle. Was immer das bedeuten mag.«
Auch Michael O’Connell dachte an Liebe. Er stand an
einem Tresen und hatte ein Gläschen Schnaps in einen Krug Bier gekippt und leerte ihn in einem Zug, um die Sinne abzustumpfen. Er merkte, wie er innerlich kochte, und ihm wurde klar, dass keine Droge und kein Drink die Spannung dämpfen konnten, die sich in ihm staute. So viel er auch trinken mochte, war er zu einer widerwärtigen Nüchternheit verdammt. Er starrte auf den Krug, der vor ihm auf dem Tresen stand, schloss die Augen und ließ die blanke Wut an seinen Herzwänden und seinen Phantasien scheppernd widerhallen. Er hasste es, ausmanövriert, kaltgestellt oder für dumm verkauft zu werden. Folglich stand die Bestrafung der Menschen, die ihm das angetan hatten, auf seiner Tagesordnung ganz oben. Wie hatte er nur glauben können, die bescheidenen Internetprobleme, die er ihnen bereitet hatte, würden genügen. Ashleys Familie, das wusste er jetzt, brauchte wohl eine Reihe weitaus ernsterer Lektionen. Sie hatten ihn um etwas betrogen, das sie ihm schuldig waren. Je mehr O’Connell innerlich kochte, wenn er an die Beleidigung dachte, die sie ihm zugefügt hatten, desto mehr malte er sich Ashley aus. Er dachte an ihr rotblondes Haar, das ihr weich und vollkommen um die Schultern fiel. In seiner Vorstellung konnte er jede Einzelheit ihres Gesichts nachzeichnen und wie ein Künstler mit allen Schatten modellieren, besonders das Lächeln, das sie ihm schenkte, und die Augen mit diesem einladenden Blick.
Seine Gedanken glitten ihren Körper hinab, verweilten an jeder Kurve, der Sinnlichkeit ihrer Brüste, dem sanften Schwung ihrer Hüfte. Er sah im Geist ihre Beine neben sich ausgestreckt, und während er in das schummrige Licht der Bar starrte, merkte er, wie ihn seine Phantasien erregten. Er rutschte auf seinem Barhocker hin und her und dachte daran, was für eine ideale Frau Ashley war – aber andererseits auch wieder nicht, weil sie diesen Schlag ins Gesicht gegen ihn ausgeheckt hatte. Diesen Hieb gegen sein Herz. Während der Alkohol seine Emotionen entfesselte, spürte er, wie die Antwort lauten musste; keine Zärtlichkeiten, kein tastendes Erkunden, dachte er kalt. Tu ihr weh, so wie sie dir weh getan hat. Nur so konnte er ihr ganz und gar begreiflich machen, wie sehr er sie liebte. Wieder rückte er sich auf seinem Sitz zurecht. Er war jetzt vollends entbrannt. Einmal hatte er in einem Roman gelesen, dass die Krieger gewisser afrikanischer Stämme sexuell erregt in die Schlacht gezogen waren, um sich – den Schild in der einen Hand, den Speer in der anderen und eine Erektion zwischen den Beinen – auf den Feind zu stürzen. Das gefiel ihm. Er gab sich keine Mühe, die Wölbung in seiner Hose zu kaschieren, als er sein leeres Glas wegschob und von seinem Hocker aufstand. Einen Moment lang hoffte er
sogar, dass jemand hinstarren und eine Bemerkung fallenlassen würde. Er wünschte sich in dieser Sekunde nichts so sehr wie eine Prügelei. Doch niemand beachtete ihn. Ein wenig enttäuscht durchquerte er den Raum und trat auf die Straße. Es war Nacht geworden, und eine eisige Kälte schlug ihm ins Gesicht. Das bewirkte allerdings wenig, um seine Phantasie abzukühlen. Er stellte sich vor, wie er sich über Ashley beugte, in sie hineinstieß und jede Höhlung, jede Spalte, jeden Zentimeter ihres Körpers für seine eigene Lust ausschöpfte. Er hörte die Laute, die sie von sich gab, und ihm war es gleich, ob sie dabei vor Begierde stöhnte und schrie oder ob sie vor Schmerz zu schluchzen begann. Liebe und Verletzung, dachte er, eine Zärtlichkeit und eine Ohrfeige waren letztlich dasselbe. Trotz der Kälte öffnete er die Jacke und knöpfte sich das Hemd auf, um sich die kühle Luft über den Körper streichen zu lassen, während er im Gehen den Kopf zurückwarf und gierig Atem holte. Die Kälte richtete gegen das brennende Verlangen nichts aus. Liebe ist wie eine Krankheit, dachte er. Ashley war wie ein Virus, der sich ungehemmt in seiner Blutbahn ausbreitete. In dieser Sekunde begriff er, dass er nie wieder ohne sie sein würde. Nicht für eine Sekunde seines Lebens. Während er weiterlief, wurde ihm klar, dass er seine Liebe zu Ashley nur unter Kontrolle bringen konnte, indem er Ashley unter seine Kontrolle brachte. Noch nie war ihm etwas so klar gewesen.
Michael O’Connell bog um die Ecke in die Straße ein, in der seine Wohnung lag, während in seinem Kopf die Bilder aus Lust und Gewalt in einer gefährlichen Mischung aus Blut und Begierde brodelten, und so war er nicht so aufmerksam wie sonst, als er hinter sich eine leise Stimme hörte. »Komm mit, O’Connell, reden wir ein paar Takte.« Er fühlte einen eisernen Griff an seinem Oberarm. Matthew Murphy hatte O’Connell mühelos erkannt, als er durch den Lichtkegel einer Straßenlaterne lief. Er war aus dem Schatten gehuscht und im nächsten Moment hinter ihm gewesen. Murphy war in diesen Methoden versiert, und sein in fünfundzwanzig Jahren Polizeidienst geschulter Instinkt sagte ihm, dass O’Connell ein Neuling war, wenn es um schwere Delikte ging. »Wer zum Teufel sind Sie?«, stammelte O’Connell. »Ich bin dein beschissenster Alptraum, du Arschloch. Und jetzt mach schon die Tür auf und lass uns hübsch still und leise in deine Bruchbude raufgehen, damit ich dir auf halbwegs manierliche Art stecken kann, was Sache ist und wo’s für dich langgeht, ohne dass ich gleich Hackfleisch oder Schlimmeres aus dir mache. Und das willst du doch nicht, O’Connell, oder? Wie nennen dich deine Freunde? OC? Oder vielleicht einfach nur Mike, hey?«
O’Connell wollte sich aus dem Schraubstock winden, doch das verstärkte nur den Druck, und so gab er auf. Bevor er antworten konnte, ließ Murphy eine zweite Kanonade Fragen los. »Vielleicht hat Michael O’Connell ja keine Freunde, folglich auch keinen Spitznamen. Weißt du was, Mikeyboy, ich lass mir selbst was einfallen, während wir hochgehen. Denn, glaub mir, du wirst dir wünschen, mich zum Freund zu haben, und zwar mehr, als du dir jemals irgendetwas auf der Welt gewünscht hast. Im Moment, Mikeyboy, gibt es absolut nichts Wichtigeres für dich, als dafür zu sorgen, dass ich dein Freund bleibe. Geht das in deinen Schädel?« O’Connell stöhnte vor Schmerz, als er versuchte, sich weit genug umzudrehen, um Murphy ins Blickfeld zu bekommen, doch der ehemalige Bulle hielt sich genau hinter ihm und flüsterte ihm ins Ohr, ohne den Druck auf seinen Arm und in den unteren Rücken auch nur einen Moment zu lockern, während er ihn vorwärtsschob. »Rein mit dir. Die Treppe hoch. Ab in deine Wohnung, Mikeyboy. Damit wir in aller Ruhe reden können.« Und so stolperte O’Connell im unnachgiebigen Griff von Matthew Murphy durch die Haustür und zum zweiten Stock hinauf, ohne dass der beißende Spott an seinem Ohr auch nur einen Moment verstummte.
Als sie O’Connells Tür erreichten, packte Murphy noch fester zu, und der alte Hase spürte, wie sein Opfer vor Schmerz zusammenzuckte. »Und noch was, Mikeyboy. Wenn wir Freunde sein sollen, dann darfst du mich nicht wütend machen. Dann solltest du alles daransetzen, dass ich nicht die Beherrschung verliere. Sonst zwingst du mich vielleicht, etwas zu tun, das du hinterher bereust, wenn du noch Gelegenheit hast, etwas zu bereuen, was ich sehr bezweifeln möchte. Verstehst du? Und jetzt hübsch langsam die Tür auf, wenn ich bitten darf.« Als O’Connell es geschafft hatte, den Schlüssel aus seiner Tasche zu holen und ins Schloss zu stecken, warf Murphy einen Blick in den Flur und sah die nachbarliche Katzenmenagerie in die Ecken flitzen. Eine buckelte sogar und fauchte in O’Connells Richtung. »Nicht allzu beliebt hier in der Gegend, was, Mikeyboy?«, stellte Murphy fest und verdrehte dem jungen Mann erneut den Arm. »Hast du was gegen Katzen? Haben die was gegen dich?« »Wir verstehen uns nicht besonders«, stöhnte O’Connell. »Ich bin nicht überrascht«, sagte Murphy und schubste den Jüngeren hinterhältig, so dass er in die Wohnung taumelte. O’Connell stolperte über einen fadenscheinigen Teppich am Boden. Stürzte nach vorn und schlug unsanft gegen
eine Wand. Er wollte sich umdrehen und endlich den ersten Blick auf Murphy werfen. Doch der Detektiv war für einen Mann im mittleren Alter erstaunlich agil; er beugte sich wie ein spöttisch grinsendes mittelalterliches Fabelwesen an einer Kirche über ihn und durchbohrte ihn mit seinem bösen Blick. O’Connell strampelte, um sich wenigstens in eine halb sitzende Position aufzurichten, und starrte den ehemaligen Kripobeamten an. »Das gefällt dir nicht besonders, wie, Mikeyboy? Bist es nicht gewöhnt, dich rumschubsen zu lassen, was?« O’Connell sagte nichts. Er versuchte immer noch, die Situation richtig einzuschätzen, und er wusste genug, um den Mund zu halten. Murphy nutzte diesen Moment, um langsam das Jackett zurückzuziehen, so dass die .380er im Schulterhalfter zum Vorschein kam. »Ich hab einen Freund mitgebracht, Mikeyboy. Wie du siehst.« Der junge Mann stöhnte wieder auf und blickte abwechselnd von der Waffe zu ihrem Besitzer. Murphy griff rasch in seine Jacke und zog die Automatik. Das war zwar nicht geplant, doch etwas in O’Connells trotzigem Blick sagte ihm, dass er die Sache beschleunigen sollte. Mit einer raschen Bewegung schob er eine Ladung in die
Kammer und legte den Daumen an den Sicherungshebel. Langsam senkte er die Pistole, bis sich die Mündung in O’Connells Stirn zwischen den Augen drückte. »Leck mich«, schnaubte der Jüngere. Murphy presste ihm das Eisen an die Nasenwurzel, fest genug, dass es weh tat, aber nicht so fest, dass sie brach. »Falsche Wortwahl«, erklärte er. Dann beugte er sich hinunter, packte mit der Linken O’Connells Wangen und drückte sie fest zwischen den Fingern. »Und ich dachte, wir würden Freunde werden.« O’Connell starrte den ehemaligen Kripomann weiter unverwandt an, und Murphy schlug seinen Kopf mit einer abrupten Bewegung gegen die Wand. »Ein bisschen mehr Höflichkeit, wenn ich bitten darf«, sagte er kalt. »Ein wenig kultiviertes Benehmen. Macht alles entschieden leichter.« Dann packte er O’Connell an der Jacke und zog ihn hoch, ohne die Handfeuerwaffe von ihrem Platz zu nehmen. Murphy manövrierte den Jüngeren rückwärts und stieß ihn so heftig auf einen Stuhl, dass er damit beinahe umgekippt wäre und sich nur knapp halten konnte. »Dabei bin ich noch nicht mal richtig ungemütlich geworden, Mikeyboy. Keineswegs. Wir sind gerade erst dabei, uns ein bisschen kennenzulernen.« »Sie sind kein Cop, oder?«, fragte O’Connell.
»Du hast mit Cops Bekanntschaft gemacht, nicht wahr, Mikeyboy? Du hast nicht nur einmal einem Cop gegenübergesessen, hab ich recht?« O’Connell nickte. »Also, da sagst du hundertprozentig die Scheißwahrheit«, sagte Murphy lächelnd. Er hatte mit der Frage gerechnet. »Du solltest dir wünschen, ich wäre ein Cop. Ich meine, du solltest zu dem Gott, von dem du vielleicht annimmst, er würde dich hören, in diesem Moment ein Stoßgebet schicken, ›Bitte, mach, dass er ein Cop ist …‹, denn Cops, na ja, die haben Vorschriften, Mikeyboy. Vorschriften und Regeln. Aber ich nicht. Ich mach dir entschieden mehr Ärger. Ganz entschieden mehr. Ich bin Privatdetektiv.« O’Connell schnaubte verächtlich, und Murphy schlug ihm ins Gesicht. Das Geräusch seiner flachen Hand auf O’Connells Wange hallte in der Wohnung wider. Murphy lächelte. »Dir müsste ich das doch eigentlich nicht erklären, dir doch nicht, jemandem mit deinem Durchblick, Mikeyboy. Aber okay, ein kleiner Diskussionsbeitrag, lass dir ein paar Sachen erklären. Erstens, ich war mal Cop. Hab mehr als zwanzig Jahre damit zugebracht, Leute zusammenzuscheißen, die um einiges taffer waren als du. Die meisten von den taffen Jungs sitzen jetzt im Knast und verfluchen mich. Oder aber sie sind tot und verschwenden nicht mehr allzu viele Gedanken an meine Wenigkeit, weil
sie im Jenseits mit größeren Problemen zu kämpfen haben. Zweitens habe ich eine ordentliche, uneingeschränkte Befugnis vom Bundesstaat Massachusetts wie auch der Regierung der Vereinigten Staaten, diese Waffe zu tragen. Und weißt du, worauf diese beiden Kleinigkeiten hinauslaufen?« O’Connell antwortete nicht, und Murphy schlug ihm wieder ins Gesicht. »Scheiße!«, rutschte es O’Connell heraus. »Wenn ich dir eine Frage stelle, Mikeyboy, dann hab doch bitte die Güte, mir zu antworten.« Er zog die Hand zurück, und O’Connell sagte: »Ich weiß nicht. Worauf laufen sie hinaus?« Murphy grinste. »Ich meine, ich habe Freunde – richtig gute Freunde, nicht so wie unser kleines Freundschaftsspielchen hier, sondern echte Kumpel, die mir mehr als einen Gefallen schulden, weil ich ihnen in all den Jahren mehr als einmal den Arsch gerettet habe. Die sind jederzeit bereit, ihn sich für mich aufzureißen, und die glauben mir alles, was ich ihnen über unser kleines Treffen heute Abend erzähle. Egal was passiert, geben die keinen Pfifferling für einen Dreckskerl wie dich. Und wenn ich denen erzähle, dass du mit einem Messer oder mit sonst einer Waffe auf mich losgegangen bist, die ich dir in die
leblose Hand stecke, und wenn ich denen sage, es sei einfach dein verdammtes Pech gewesen, dass ich dir deinen armen kleinen Hintern wegpusten musste, dann glauben die mir aufs Wort. Die werden mich sogar dazu beglückwünschen, dass ich ein bisschen aufgeräumt habe, bevor du noch mehr Ärger machen konntest. Die werden das unter Verbrechensvorbeugung abbuchen. Also, das ist so ungefähr die Situation, in der du dich im Moment befindest, Mikeyboy. Mit anderen Worten: Ich kann so ziemlich alles tun, was ich verdammt noch mal will, und du bist absolut machtlos dagegen. Ist das klar?« O’Connell zögerte, nickte aber, als er sah, wie Murphy zum nächsten Schlag ausholte. »Gut. Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung, wie es so schön heißt.« O’Connell schmeckte etwas Blut auf seinen Lippen. »Ich will es besser noch mal wiederholen, damit es keine Missverständnisse gibt: Mir steht es frei zu tun, was ich für richtig halte, einschließlich der Möglichkeit, dich auf dem direktesten Weg ins Jenseits zu befördern, oder genauer gesagt, in die Hölle. Hast du das kapiert, Mikeyboy?« »Ich denke schon«, erwiderte O’Connell. Murphy fing an, um den Stuhl herumzuwandern. Dabei berührte der Lauf seiner Waffe die ganze Zeit O’Connell an
irgendeiner Stelle, klopfte ihm schmerzhaft auf den Kopf oder drückte in die Höhlung zwischen seinem Hals und der Schulter. »Ziemlich schäbige Bleibe, muss ich sagen, Mikeyboy. Ziemlich runtergekommen. Drecksloch …« Murphy starrte quer durch den Raum und sah einen Laptop auf dem Tisch. Er nahm sich vor, ein paar von O’Connells Sicherungsdisketten mitzunehmen. Bis dahin lief es mehr oder weniger so, wie Murphy es vorausgesehen hatte. O’Connell war so berechenbar, wie er vermutet hatte. Er spürte das Unbehagen des jungen Mannes, er wusste, dass er Unschlüssigkeit und Zweifel auslöste, indem er ihm mit der Waffe auf dem Kopf herumpochte. In allen Konfrontationen, dachte Murphy, gelangt man bei der Befragung an einen Punkt, an dem man die Identität der Zielperson schlichtweg unter die eigene Kontrolle bekommt und sie sich gefügig macht. Wir sind auf dem richtigen Weg, dachte Murphy. Wir machen eindeutig Fortschritte. »Kein tolles Leben, was, Mikeyboy? Ich meine, sieht mir nicht gerade nach einer rosigen Zukunft aus.« »Mir genügt’s.« »Na schön. Aber wie kommst du auch nur für einen Moment auf die Idee, Ashley Freeman würde sie gerne mit dir teilen?«
O’Connell schwieg, und Murphy versetzte ihm mit der freien Hand von hinten einen Hieb. »Beantworte gefälligst meine Frage, Arschloch.« »Ich liebe sie«, sagte O’Connell. »Und sie liebt mich.« Murphy schlug ihn wieder. »Da bin ich anderer Meinung, du mieses Stück Dreck, du Abschaum aus der Gosse.« Aus O’Connells Ohr kam ein dünnes Rinnsal Blut. »Die Frau hat Klasse, Mikeyboy. Im Unterschied zu dir hat sie Zukunftschancen. Sie kommt aus einer gut situierten Familie, sie ist gebildet und hat Großes vor. Du dagegen kommst aus der Scheiße.« Murphy unterstrich die letzten Worte mit ein paar kräftigen Ohrfeigen. »Und du wirst in der Scheiße enden. Ja, was denn wohl? Knast? Oder glaubst du wirklich, du schaffst es, draußen zu bleiben?« »Ich bin sauber. Ich hab kein Gesetz übertreten.« Die wiederholten Schläge zeigten Wirkung. O’Connells Stimme kippte ein wenig, und Murphy glaubte ein gewisses Beben herauszuhören. »Tatsächlich? Soll ich mir dich mal etwas genauer unter die Lupe nehmen?« Murphy war wieder beim Ausgangspunkt angelangt, und noch einmal klopfte er O’Connell mit dem Pistolenlauf auf
den Nasenrücken, um auf eine Antwort zu pochen. »Nein.« »Dachte ich mir.« Er packte O’Connell am Kinn und verdrehte es schmerzhaft. Er sah einen Anflug von Tränen in seinen Augenwinkeln. »Aber Mikey, meinst du nicht, du solltest mich ein bisschen höflicher bitten, mich aus deinem Leben rauszuhalten?« »Bitte halten Sie sich aus meinem Leben raus«, sagte O’Connell ruhig und langsam. »Also, das würde ich ja gerne. Wenn ich mir die ganze Sache sozusagen objektiv anschaue, meinst du nicht auch, dass es da wirklich das Allerbeste für dich wäre, absolut sicherzustellen, dass du mich nie im Leben wiedersiehst? Dass dieses kleine Plauderstündchen mit absoluter Gewissheit das letzte Mal ist, dass wir uns begegnen? Hab ich recht?« »Ja.« O’Connell wusste nicht recht, welche Frage er eigentlich beantworten sollte, er wusste nur, dass er nicht noch einmal geschlagen werden wollte. Und obwohl er nicht glaubte, dass der Mann, der vor ihm stand, ihn erschießen würde, hätte er es nicht beschwören können. »Du musst mich aber erst einmal davon überzeugen, nicht
wahr?« »Ja.« Murphy lächelte. Dann klopfte er O’Connell leicht auf den Kopf. »Damit wir uns auch richtig verstehen«, sagte Murphy. »Wir sind hier so traut beisammen, um zwischen uns, von Mann zu Mann, so etwas wie eine einstweilige Verfügung auszuhandeln. Genauso, als wären wir damit vor Gericht gegangen. Nur dass unsere scheiß Abmachung für immer gilt, kapiert? Du weißt genau, worin eine Bedingung besteht. Halt dich von ihr fern. Kein Kontakt. Allerdings ist unsere Verfügung eine Art Sonderregelung, nur zwischen dir und mir, Mikeyboy, und nicht so ein windelweicher Wisch, den ein alter Furz von einem Richter ausgestellt hat und um den du dich einen Scheißdreck scherst. Unsere Abmachung ist garantiert bindend.« Mit diesen letzten Worten rammte Murphy O’Connell die Faust in die Wange und streckte ihn zu Boden. Murphy war, die Automatik in der Hand, bereits über ihm, bevor der junge Mann auch nur einen Gedanken fassen konnte. »Vielleicht sollte ich nicht länger meine Zeit mit dir verplempern, sondern die Sache gleich zu Ende bringen«, sinnierte er. Es klickte, als Murphy seine Waffe mit dem Daumen entsicherte. Er hielt die Linke hoch, als wollte er
sich vor der spritzenden blutigen Gehirnmasse schützen. »Mach mir die Entscheidung leichter«, sagte Murphy. »So oder so, Mikeyboy. Aber gib mir einen triftigen Grund.« O’Connell versuchte, sich vom Pistolenlauf wegzudrehen, doch der Expolizist drückte ihn mit seinem Gewicht zu Boden. »Bitte«, flehte er plötzlich, »Bitte, ich lass sie in Ruhe, ich versprech’s. Ich lass sie in Ruhe …« »Schon mal ’n Anfang, Arschloch. Und weiter?« »Ich werde mich nie mehr bei ihr blicken lassen. Ich verschwinde aus ihrem Leben. Ich halte mich fern. Was soll ich noch sagen?« O’Connell fing beinahe zu schluchzen an. Es klang mit jedem Wort erbärmlicher. »Ich muss drüber nachdenken, Mikeyboy.« Murphy senkte die vorgehaltene Hand und zog die Waffe von O’Connells Gesicht zurück. »Keine Bewegung, ich seh mich nur ein bisschen um.« Er ging zu dem billigen Tisch hinüber, auf dem der Computer stand. Dort lagen ein paar unbeschriftete, wiederverwendbare Disketten verstreut. Murphy schnappte
sie sich und steckte sie in die Jackentasche. Dann drehte er sich wieder zu dem jungen Mann um, der immer noch am Boden lag. »Hast du da deine Ashley-Datei drin? Pfuschst du damit im Leben von Leuten herum, die zehn Klassen besser sind als du?« O’Connell nickte nur, und Murphy grinste. »Ich glaube nicht«, erklärte er energisch. »Jetzt nicht mehr.« Im selben Moment ging der Griff seiner Waffe auf die Tastatur nieder. »Ups«, sagte er, als das Plastik zersplitterte. Zwei weitere Schläge auf den Bildschirm sowie das Touchpad, und der Laptop war ein Trümmerhaufen. O’Connell sah zu, ohne ein Wort zu sagen. Mit dem Pistolenlauf stocherte Murphy in den Bruchstücken herum. »Ich glaube, wir hätten es dann eigentlich, Mikeyboy …« Er kam zu O’Connell zurück und baute sich über ihm auf. »Ich möchte, dass du dir was merkst«, sagte er mit Nachdruck. »Was?«, fragte O’Connell. Seine Augen waren wie erwartet tränennass. »Ich kann dich jederzeit finden. Ich stöber dich jederzeit auf, egal, in welchem Rattenloch du dich verkriechst.« Der Jüngere nickte nur stumm. Murphy starrte ihn mit einem durchbohrenden Blick an, um festzustellen, ob er in seinem Gesicht noch eine Spur von Auflehnung entdecken konnte – irgendetwas anderes als
Gefügigkeit. Als er sich vom Gegenteil überzeugt hatte, lächelte er. »Gut. Du hast heute Abend eine Menge gelernt, Mikeyboy. Eine richtige Lektion. War doch gar nicht so schwer, oder? Unser kleines Plauderstündchen war mir ein echtes Vergnügen. Dir doch sicher auch? Vielleicht doch nicht. Aber da wäre noch eine Sache …« Blitzschnell kniete er sich hin und drückte O’Connell erneut fest zu Boden. Mit derselben Bewegung stieß er ihm den Lauf der Automatik in den Mund, so dass er gegen seine Zähne knallte. Er sah den Ausdruck der Panik in den Augen des jungen Mannes – genau das, was er bezweckte. »Peng«, machte er ruhig. Dann zog er die Waffe langsam heraus, stand auf, grinste ihm noch einmal zu und ging.
Die kühle Nachtluft schlug Murphy entgegen, und er hätte am liebsten den Kopf zurückgelegt und laut gelacht. Er steckte die Automatik .380 wieder in sein Schulterhalfter, strich das Jackett darüber glatt, um präsentabel auszusehen, und setzte sich in Bewegung. Zügig, doch ohne Hast ging er die Straße entlang und genoss die Dunkelheit, die Stadt und das Gefühl des Erfolgs. Er
überlegte, wie lange er nach Springfield zurück brauchen würde und ob es noch für ein spätes Abendessen reichte. Nach wenigen Schritten fing er an, vor sich hin zu summen. Er hatte recht behalten: Die Gelegenheit, sich einen Dreckskerl wie O’Connell vorzuknöpfen, war die zehn Prozent Nachlass wert, die er Sally Freeman-Richards gewähren wollte. Das war doch wirklich nicht schwer, sagte er in Gedanken. Es war ein befriedigendes Gefühl zu wissen, dass er noch immer die alten Tricks draufhatte, und er fühlte sich viel jünger. Gleich am Morgen würde er einen kleinen Bericht zusammenstellen, der allerdings die Teile aussparte, bei denen die Automatik eine entscheidende Rolle gespielt hatte. Den würde er zusammen mit seiner Rechnung an Sally schicken und ihr seine abschließende Einschätzung mitteilen, dass sie sich um Michael O’Connell nie wieder Gedanken machen müsse. Murphy hielt sich zugute, ziemlich genau sagen zu können, was Angst bei schwachen Menschen ausrichten kann.
O’Connell spürte einen pochenden Schmerz im Ohr, und ihm brannte die Wange. Er rechnete damit, dass ein, zwei Zähne locker waren, da er Blut auf der Zunge schmeckte. Seine Glieder waren steif, als er sich vom Boden hochrappelte, doch er ging sofort zum Fenster und sah gerade noch, wie der ehemalige Kripomann um die Ecke lief. Michael O’Connell wischte sich mit der Hand übers Gesicht und dachte: Das war doch wirklich nicht schwer,
oder? Er wusste, dass man einen Polizisten am besten dadurch überzeugte, indem man die Prügel einsteckte. Das mochte schmerzhaft oder peinlich sein, besonders, wenn es sich dabei um einen alten Knaben handelte, mit dem er spielend fertig geworden wäre, hätte der nicht eine Knarre und er selbst keine gehabt. Dann lächelte er, leckte sich die Lippen und ließ sich den salzigen Geschmack auf der Zunge zergehen. Allerdings hatte er an diesem Abend eine Menge gelernt, genau wie Matthew Murphy ihm bescheinigt hatte. Vor allem aber hatte er erfahren, dass Ashley keineswegs zu einem Graduiertenstudium im Ausland war, denn wieso sollte ihre Familie ihm dieses Großmaul von einem Ex-Cop an den Hals hetzen, um ihn einzuschüchtern, wenn ihn Tausende Meilen von Ashley trennten? Das ergab nicht den geringsten Sinn. Das machten sie nur, weil sie in der Nähe war. Viel näher, als er vermutet hatte. In Reichweite? Er schätzte, ja. O’Connell atmete einmal heftig durch die Nase ein. Er wusste zwar nicht, wo sie war, doch früher oder später würde er es herausbekommen. Die Zeit spielte für ihn keine Rolle mehr. Das Einzige, was zählte, war Ashley.
Das Gebäude der News Republican stand auf einem
Grundstück, das an den Bahnhof angrenzte, mit einem deprimierenden Blick auf den Interstate Highway, Parkplätze und leere Flächen, auf denen sich der Unrat türmte. Es war nicht vollkommen verwahrlost, sondern hatte nur ausgedient – überall Maschendrahtzäune, durch die Luft wirbelnder Müll, graffitistrotzende Autobahnunterführungen. Das Gebäude der Zeitung war ein vierstöckiger, rechtwinkliger Bau, ein Klotz aus Ziegeln und Schlackenstein. Es erinnerte eher an ein Waffenarsenal oder eine Festung als eine Redaktion. Drinnen beherbergte das Gebäude mit dem kuriosen Namen The Morgue einen kleinen Raum voller Computer. Eine hilfsbereite junge Frau hatte mir gezeigt, wie man auf die Dateien zugreifen konnte, und so brauchte ich nicht lange, bis ich die Artikel über Matthew Murphys letzten Tag, oder besser gesagt, seine letzten Minuten, fand. Die Schlagzeile auf der Titelseite lautete: Exkripobeamter getötet. Es gab zwei Untertitel: Leiche in Nebenstraße gefunden und Polizei spricht von Hinrichtung. Ich füllte mehrere Seiten in meinem Notizbuch mit Einzelheiten aus der Flut von Meldungen dieses Tages wie auch aus einigen Folgeberichten der anschließenden Ausgaben. Offenbar gab es endlos viele Tatverdächtige. Murphy war während seiner Zeit bei der Polizei an einer Reihe spektakulärer Fälle beteiligt gewesen und hatte sich auch nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst als
Privatdetektiv mit beängstigender Regelmäßigkeit Feinde gemacht. Ich hegte wenig Zweifel daran, dass seine Ermordung ebenso bei der Kripo von Springfield wie bei der Mordkommission der State Police, die den Fall zweifellos übernommen hatte, oberste Priorität genossen hatte. Der zuständige Staatsanwalt dürfte unter enormem Druck gestanden haben, da Polizistenmorde über eine Karriere entscheiden können. Jeder bei der Polizei hat wahrscheinlich mitmischen wollen. Wenn einer von ihnen getötet wird, stirbt immer auch ein kleiner Teil von ihnen. Allerdings erwiesen sich die Berichte, die ich las, als ziemlich dünn und endeten nicht so wie erwartet. Irgendwann wiederholten sich die Meldungen. Es gab keine Verhaftungen, keinen Anklagebeschluss des großen Geschworenengerichts, der mit Getöse verkündet worden wäre. Kein Strafprozess wurde anberaumt. Es war eine Geschichte, bei der das dramatische Ende sich in nichts auflöste. Ich schob mich vom Computer zurück und starrte nach meiner letzten Suchanfrage auf ein Fenster mit der Auskunft: Keine weiteren Einträge gefunden. Da kann etwas nicht stimmen, dachte ich. Jemand hatte Murphy brutal ermordet, und es musste eine Verbindung zu Ashley geben. Auf irgendeine Weise.
Aber ich konnte sie nicht sehen.
25 Sicherheit
Die Kanzleiassistentin klopfte an Sallys offene Tür und hielt ihr einen Eilbrief entgegen. »Der ist gerade für Sie gekommen«, sagte sie. »Ich weiß nicht, von wem. Soll ich mich darum kümmern?« »Nein, ich mach das schon. Ich weiß, was es ist.« Sally dankte ihrer Mitarbeiterin, nahm den Umschlag und schloss die Tür hinter sich. Sie lächelte. Murphy war ein übertrieben vorsichtiger Mann, dachte sie. Sie nahm an, dass er für die etwas heiklere Korrespondenz eine Reihe Postfächer unterhielt. Deutlich sichtbare Briefköpfe und Absender waren für jemanden in seinem Gewerbe nicht unbedingt hilfreich.
Er hatte sie vor einigen Tagen während seiner Rückkehr
aus Boston von unterwegs aus angerufen. »Ich denke, Ihr Problem lässt sich nie wieder blicken, Ms. FreemanRichards.« Sie war zu Hause gewesen und hatte Hope gegenübergesessen. Beide hatten sie gelesen: Hope war in Dickens’ Geschichte zweier Städte versunken, während sie selbst liegengebliebene Teile der letzten Sonntagsausgabe der New York Times überflogen hatte. »Das sind gute Neuigkeiten, Mr. Murphy. Ich bin hocherfreut, das zu hören. Was genau führt Sie zu diesem Schluss?« Es fiel ihr leicht, in ihren gewohnten, vernünftigen Anwaltston zu wechseln. »Nun ja, ich weiß nicht, wie genau Sie das wissen wollen. Jedenfalls ist unser gemeinsamer Freund …« Er lachte bei dem Wort. »Na, jedenfalls haben wir uns unterhalten. Es war ein gutes Gespräch. Eine ausführliche Diskussion über das Für und Wider seiner, sagen wir mal, Verhaltensweise. Und am Ende des vorhersehbaren Gesprächsverlaufs räumte Mr. O’Connell ein, dass es in der Tat ein erhebliches Problem darstellen könnte, Ashley weiter nachzustellen. Ihm wurde zur entsprechenden Einsicht verholfen, und er hat sich unzweideutig dahingehend geäußert, sich unverzüglich aus ihrem Leben zu entfernen.« »Und Sie haben es ihm abgenommen?«
»Ich hatte guten Grund, ihm zu glauben, Ms. FreemanRichards. Seine Aufrichtigkeit war offensichtlich.« Sally hatte geschwiegen, um zwischen den Zeilen von Murphys Ausführungen zu lesen. »Und niemand wurde verletzt?«, hatte sie sich erkundigt. »Nicht dauerhaft, wenn man davon absieht, dass Mr. O’Connell jetzt vielleicht an gebrochenem Herzen leidet, aber das bezweifle ich. Allerdings hat sich ihm die Erkenntnis tief eingegraben, dass es äußerst leichtsinnig wäre, mit seinem Verhalten fortzufahren, und nachdem ich ihm einige harte Fakten vor Augen geführt beziehungsweise unter die Nase gerieben oder in sonstiger Form nahegebracht habe, hat er sich zwar erst einmal ein bisschen die Zähne daran ausgebissen, sie aber am Ende geschluckt. Notgedrungen. Ich denke nicht, dass Sie weitere Einzelheiten zu hören wünschen, Ms. Freeman-Richards. Möglicherweise würden sie Ihnen ein bisschen Unbehagen bereiten.« Sally fand, dass ihr Gespräch von einer erlesenen Höflichkeit war, so als müssten die zarten Ohren einer Dame der viktorianischen Gesellschaft geschont werden, damit sie nicht erbleichte und ihr in einem Anfall von Melancholie die Sinne schwanden. »Nein, vermutlich nicht.«
»Dachte ich mir. Ich schicke Ihnen morgen oder übermorgen einen detaillierten Bericht. Und sollte Ihnen irgendetwas Verdächtiges auffallen, rufen Sie mich bitte an, Tag und Nacht, und ich werde mich darum kümmern. Ich meine, es ist nie vollkommen auszuschließen, dass Mr. O’Connell es sich noch einmal anders überlegt. Aber ich wage es zu bezweifeln. Er scheint mir ein schwacher Mensch zu sein, Ms. Freeman-Richards. Ein ganz kleiner Mann, und damit meine ich nicht seine Körpergröße. Aber ich glaube, der ist jetzt hundertprozentig aus Ihrem Leben verschwunden. Sollten Sie in Zukunft einmal investigativen Bedarf haben, hoffe ich, dass Sie auf mich zurückkommen …« Sally war ein wenig erstaunt darüber, wie Murphy O’Connell sah. Seine Beschreibung deckte sich nicht ganz mit ihren eigenen Schlussfolgerungen. Doch es war beruhigend zu hören, und so schob sie etwaige Ungereimtheiten nur allzu gerne beiseite. »Natürlich, Mr. Murphy. Wie’s aussieht, haben Sie die Dinge genau so geregelt, wie ich gehofft hatte. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich bin, das zu hören.« »Das Vergnügen war ganz auf meiner Seite, Ma’am.« Sie legte auf und sagte zu Hope: »Also, das war’s.« »Was war was?«
»Ich hab dem Mistkerl einen Privatdetektiv rübergeschickt, den ich kenne. Und wie vermutet, ist er gegenüber einem erheblich stärkeren und bedeutend härteren und erfahreneren Mann ganz schnell eingeknickt. Typen wie der sind von Grund auf feige. Man braucht ihnen nur klarzumachen, dass man sich nichts gefallen lässt, und schon ziehen sie den Schwanz ein und verschwinden.« »Meinst du?«, zögerte Hope. »Ich weiß nicht. Ich habe eher den Eindruck, dass der Kerl dafür zu entschlossen ist, auch wenn ich verflucht noch mal nicht weiß, wieso. Und ich halte ihn auch für ein bisschen fähiger als du. Vergiss nicht, in was für einen Ärger er uns alle allein mit seinem simplen Computerzugang hineingeritten hat.« »Hör mal, Hope«, hatte Sally entgegnet. »Wir haben versucht, fair mit ihm zu verhandeln. Wir haben ihm die Chance gegeben abzuhauen, oder? Wir haben ihm sogar eine stattliche Summe dafür bezahlt. Hätten wir noch fairer sein können? Hätten wir noch direkter sein können?« »Ich weiß nicht.« »Wir haben doch die ganze Zeit mit offenen Karten gespielt, oder?« »Ja, nehme ich an.« »Und er hat es nicht kapiert, oder? Er wollte uns allen
Schwierigkeiten machen. Diese kleine Lektion hat ihm nun gezeigt, dass mit uns nicht zu spaßen ist. So oder so, es ist vorbei.« Äußerlich schüttelte Hope zwar nicht den Kopf, doch sie hegte ihre Zweifel. Sally hatte das in ihren Augen gesehen und wollte ansetzen, etwas zu sagen, überlegte es sich aber und schwieg. »Nun ja, das war’s jedenfalls«, meinte sie nach einer Weile, und es klang wie ein abschließendes Urteil, wenn auch ein wenig irritiert, dass Hope sie nicht stärker unterstützte.
Sally nahm den Brief von Murphy und setzte sich an ihren Schreibtisch, um noch einmal die Unterhaltung mit Hope Revue passieren zu lassen. Ihr kam der seltsame Gedanke, dass sie mit vertauschten Rollen spielten: Hope, die jünger und oft auch eigensinniger war, hätte zufrieden sein müssen und nicht Sally. Sally riss die Lasche auf und ließ den Inhalt auf den Schreibtisch fallen. Es handelte sich um ein Begleitschreiben, einen Stapel zusammengehefteter Papiere, einige Fotos und eine Reihe Computerdisketten.
Bei den Fotos handelte es sich um Aufnahmen, die von Michael O’Connell vor seinem Wohnhaus gemacht worden waren. Unter den Papieren befand sich sein bescheidenes Vorstrafenregister und das wenige, was Murphy hinsichtlich seiner Arbeitsverhältnisse und schulischen Laufbahn hatte ausgraben können; außerdem ein paar Informationen über seine Familie einschließlich der Anschrift seiner Mutter und seines Vaters. Einem Vermerk zufolge war die Mutter verstorben. An den Computerdisketten klebte ein gelber Zettel, auf dem stand: Sie sind verschlüsselt.
Wahrscheinlich kann sie ein Experte ohne Probleme öffnen. Vermutlich enthalten sie Informationen über Ihre Tochter. Vielleicht Fotos. Ich habe sie aus OCs Wohnung mitgenommen, aber ich nehme an, dass er davon noch Kopien hat. Ich wusste nicht, ob Sie zusätzliches Geld investieren wollten, um sie professionell untersuchen zu lassen. Der Computer, den er benutzt, wurde während unseres Treffens versehentlich zerstört, so dass sämtliche Informationen auf der Festplatte höchstwahrscheinlich vernichtet sind. In seinem Begleitbrief beschrieb Murphy kurz, wie er vor seinem Wohnhaus auf O’Connell gewartet hatte, ohne jedoch Einzelheiten über ihr Gespräch preiszugeben. Außerdem war die Rechnung für seine Dienste beigelegt, die einen kleinen Nachlass enthielt. Sally griff augenblicklich zu ihrem Scheckbuch, um zu
begleichen, was sie Murphy schuldig war. Zusammen mit einer Notiz, auf der nur stand, Danke für Ihre Hilfe! Wir
melden uns bei Ihnen, falls weitere Maßnahmen erforderlich sind, steckte sie beides in ein unbeschriftetes Kuvert. Das gesamte Material einschließlich der Computerdisketten packte sie in einen braunen Umschlag, auf den sie in großen Lettern Ashleys Mistkerl schrieb. Mit einem Gefühl der Erleichterung ging sie zu ihrem Aktenschrank und schob den Umschlag ganz hinten in die unterste Schublade, wo er hoffentlich in ein paar Jahren in Vergessenheit geraten würde.
Im Spätherbst ist nachmittags das Licht am Rande der Green Mountains von einer Klarheit, in der alle Gegenstände schärfere Konturen annehmen, bevor der Tag zunehmend früher verblasst. Catherine stand am Fenster vor ihrem Küchenspülstein und beobachtete Ashley links von ihr. Das Mädchen saß draußen hinter dem Haus, gehüllt in eine leuchtend gelbe Fleecejacke, am Rande einer gepflasterten Veranda. Hinter ihr erstreckte sich eine Weide, die bis zum Waldrand führte. Am Vortag waren sie nach Brattleboro gefahren und hatten Papier, eine Staffelei sowie Pinsel und Wasserfarben besorgt, und Ashley war jetzt in ein eigenes Gemälde vertieft, auf dem sie die letzten Lichtstrahlen einzufangen versuchte, die langsam
über die Hügelketten wanderten und in den Kiefernzweigen verweilten. Catherine versuchte, Ashleys Körpersprache zu deuten; sie signalisierte sowohl freudige Erregung wie auch Frustration. Sie war entspannt, sie genoss den Moment, in dem sie den Pinsel in der Hand hielt und sah, wie sich die Farben vor ihren Augen entfalteten. Catherine kam plötzlich der Gedanke, dass die junge Frau und ihr Gemälde den gleichen Vorgang durchmachten: Sie nahmen Gestalt an. Nachdem Ashley mit dem Bus eingetroffen war, hatten sie den größten Teil des Abends damit verbracht, zusammen Tee zu trinken und darüber zu reden, was passiert war. Catherine hatte mit einer Mischung aus ungläubigem Staunen und wachsendem Unbehagen zugehört. Sie blickte aus dem Fenster und beobachtete, wie Ashley einen langen blassblauen Streifen Wasserfarbenhimmel auftrug. »Es ist nicht richtig«, sagte sie laut. Sie merkte, wie ihr die Angst hochkroch, Ashley könnte sich – so ihr diffuses Gefühl – von O’Connell irgendwie infizieren lassen. Sie fürchtete, das Mädchen könnte sich am Ende wegen der Verhaltensweise eines einzigen Mannes gegen alle Männer wenden. Catherine hielt sich am Rand des Spülsteins fest. Sie sah sich außerstande, die düstere Vorstellung ganz zu Ende zu denken. Sie wollte sich den Wunsch nicht eingestehen:
Möge Ashley nicht werden wie Hope. Als sie merkte, wie sich diese Wolke über ihre Stimmung legte, war sie wütend auf sich, denn sie liebte ihre Tochter. Hope war intelligent. Hope war schön. Hope hatte Charme. Hope war für andere eine Quelle der Inspiration. Hope holte aus den jungen Leuten, mit denen sie arbeitete und die sie trainierte, das Beste heraus. Hope hatte alles, was sich eine Mutter an ihrer Tochter nur wünschen konnte, mit einer einzigen Ausnahme, und die türmte sich wie ein Berg vor Catherine auf, den sie nicht überwinden konnte. Während sie durchs Fenster ihre – ja, was? Nichte? Adoptivenkelin? – betrachtete, kam sie über ihre Ängste nicht hinweg. Was Catherine in diesem Moment nicht erkannte, war die Tatsache, dass sie sich mit den vollkommen falschen Ängsten plagte.
»Wie ist Murphy gestorben?«, wollte ich wissen. »Wie? Das ist doch wohl nicht schwer zu erraten. Eine Kugel. Vielleicht ein Kandelaber wie in Alle Mörder sind schon da. Was weiß ich«, erwiderte sie. »Nein, wie tatsächlich …«
»Die Frage sollte besser lauten, warum?«, meinte sie. »Eines wüsste ich gerne«, fuhr sie plötzlich fort. »Hat man wegen des Mords an Murphy überhaupt irgendjemanden verhaftet?« »Nein, nicht, dass ich wüsste.« »Also, ich habe das Gefühl, dass Sie an der falschen Stelle nach Antworten suchen. Niemand wurde verhaftet. Das spricht Bände, oder? Sie wollen, dass ich, irgendein Kripobeamter oder auch ein Staatsanwalt, dass einer von uns Ihnen sagt: ›Also, Murphy wurde von, Sie wissen schon, ermordet, aber für einen Haftbefehl hatten wir nicht genügend Beweise gegen ihn in der Hand.‹ Das wäre natürlich sehr angenehm und einfach, ein sauberer Schnitt.« Sie hielt inne. »Aber ich habe Ihnen nie eine einfache Geschichte versprochen.« Das stimmte. »Können Sie so kreativ denken wie Scott, Sally, Hope und Ashley?« »Ja«, antwortete ich ein wenig vorschnell. »Gut«, sagte sie etwas verächtlich. »Leichter gesagt als getan.« Ich ersparte mir eine Entgegnung. »Aber verraten Sie mir eins: Gilt das auch im Vergleich zu Michael O’Connell?«
26 Der erste Übergriff
Von der Mitte der Longfellow Bridge aus konnte er den Charles hinauf bis nach Cambridge sehen. So früh am Morgen war es kalt und frisch, doch mitten auf dem Fluss schnellten Boote dahin, deren Ruder im Gleichtakt durch das tiefblaue Wasser pflügten und an der ruhigen Oberfläche kleine Strudel bildeten. Überall sonst polierte die aufgehende Sonne das Wasser zu Spiegelglanz. Er hörte, wie die Mannschaften zum Takt der Befehle des Steuermanns in Synkopen ächzten. Besonders gefiel ihm, wie der Kleinste das Tempo vorgab, wie das schwächste Glied die Kräftigeren beherrschte. Der Geringste war der Wichtigste; er sah als Einziger, wohin sie fuhren, und er saß am Steuer. O’Connell behagte der Gedanke, dass er zwar körperlich stark genug war, das Boot voranzubringen, zugleich aber schlau genug für das Ruder im Achtersteven. O’Connell schlenderte gern über die Brücke, wenn er ein vertracktes Problem zu lösen hatte. Auf der Fahrbahn toste der Verkehr, während die Passanten auf dem Fußweg zügig zur Arbeit liefen. Unter ihm strömte das Wasser
Richtung Meer, und in der Ferne tauchten U-Bahnen voller Pendler aus ihren Schächten auf. O’Connell hatte das Gefühl, als sei er der Einzige, der stillstand und sich die Zeit nehmen konnte, sich ganz und gar auf das Dilemma zu konzentrieren, mit dem er sich konfrontiert sah. Eigentlich sind es zwei, dachte er. Ashley. Und der ehemalige Cop Murphy. Ihm war klar, dass der Weg zu Ashley entweder über Scott oder über Sally führte. Er musste nur herausfinden, über wen von beiden, und er war zuversichtlich, dass ihm das gelingen würde. Dabei stand ihm allerdings der Ex-Cop im Wege. Der war ein ernstes Problem. Er leckte sich die Lippen, schmeckte immer noch das Blut auf der Zunge, spürte die Schwellung, wo er ihn geschlagen hatte. Doch die blauen Flecke und Striemen verblassten schneller als seine Erinnerung. Sobald sich O’Connell auch nur in die Nähe der Eltern wagte, würden sie den Privatdetektiv auf ihn hetzen, und er konnte nicht mit Sicherheit sagen, wie gefährlich der ihm werden mochte. Wahrscheinlich nicht ganz so schlimm, wie er ihm angedroht hatte. O’Connell rief sich eine simple Tatsache ins Gedächtnis: Hinsichtlich Ashley und ihrer Familie musste er derjenige sein, der die Macht besaß. Falls Gewalt unumgänglich war, dann musste sie von ihm ausgehen. Murphy brachte diesen Grundsatz
ins Wanken, und das gefiel ihm nicht. Er streckte die Hände aus und hielt sich an der reich verzierten Betonbalustrade fest. Wut war wie eine Droge, die ihn in Wellen überschwemmte und alles, was er sah, in ein Kaleidoskop der Emotionen verwandelte. Einen Augenblick lang starrte er auf den dunklen Fluss zu seinen Füßen und bezweifelte, dass die eiskalte Wassertemperatur dicht am Gefrierpunkt ihn hätte abkühlen können. Er atmete langsam aus, um seinen Zorn in den Griff zu bekommen. Es gefiel ihm, wenn er rotsah, doch es durfte nicht zu seinem eigenen Schaden sein. Er schärfte sich ein: Konzentrier dich, raste nicht aus. Ganz oben auf seiner Tagesordnung stand die Aufgabe, Murphy von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Das war vermutlich nicht weiter schwierig. Vielleicht ein bisschen riskant, aber nicht unmöglich. Nicht so leicht wie das, was er mit ein paar Hieben via Computer gegen Scott und Sally und Hope ausgerichtet hatte, damit sie begriffen, mit wem sie es zu tun hatten. Aber auf keinen Fall außerhalb seiner Reichweite. Michael O’Connell blickte übers Wasser und sah, wie eine der Rudermannschaften eine Pause einlegte. Der Bootsrumpf hatte so viel Schwung, dass er weiter durchs Wasser glitt, während die Männer sich entspannt über ihre Ruder beugten und die Blätter im Wasser hinter sich
herzogen. Er fand es schön, wie das Boot sozusagen durch die Erinnerung an die Muskelkraft der Mannschaft von selbst weiterschwamm. Es schnitt wie eine Rasierklinge in den Fluss – ähnlich wie er selbst.
Er verbrachte einen großen Teil des Tages und den frühen Abend damit, vor dem Gebäude, in dem Murphy seine Detektei unterhielt, Wache zu halten. Als er es zum ersten Mal vor Augen hatte, war er hocherfreut gewesen, denn es war ein schäbiger Bau ohne die üblichen modernen Sicherheitsvorkehrungen, die ihm sein Vorhaben erschwert hätten. O’Connell grinste. Spätestens von nun an sollte er sich dies zur ersten Regel machen, dachte er: Wende die Schwäche der anderen immer zu deiner Stärke. Er hatte sich drei verschiedene Stellen für seine Überwachung ausgesucht. Seinen Wagen, etwa in der Mitte des Häuserblocks geparkt; einen spanischen Lebensmittelladen an der Ecke und einen Lesesaal der Christian Science fast unmittelbar gegenüber dem Gebäude. Einen einzigen kritischen Moment hatte es gegeben, als er letzteren Posten verließ und Murphy just in dem Moment aus der Haustür trat. Wie jeder Ermittler besaß er einen ausgeprägten
Sicherheitsinstinkt und hatte sofort nach rechts und nach links sowie auf die andere Straßenseite gespäht. O’Connell hatte eine Sekunde lang die kalte Angst gepackt, dass er ihn entdeckt haben könnte. Im selben Moment hatte er gewusst, dass Murphy ihn erkennen würde, falls er versucht hätte, sich zu verstecken oder wegzuducken. Also hatte er sich gezwungen, einfach die Straße entlangzuschlendern. Er hatte lediglich die Schultern ein wenig eingezogen und das Gesicht kaum merklich weggedreht, damit sein Profil nicht zu sehen war, und sich nicht ein einziges Mal umgedreht, sondern nur seinen Kragen schützend hochgeschlagen, bis er die Tür zur Bodega erreichte. Kaum war er drinnen, war er allerdings zur Seite getreten und hatte aus dem Fenster geschaut, um festzustellen, was Murphy machte. Dann lachte er leise. Der Detektiv ging ahnungslos vorbei. Als hätte er sich vor nichts und niemandem auf der Welt zu fürchten, dachte O’Connell, während er den offenbar unbekümmerten Murphy zügigen Schritts Richtung Parkplatz laufen sah. Vielleicht ist das auch nur die Arroganz eines Kerls, der glaubt, dass ihm niemand was anhaben kann, dachte er. Ob man jemanden wiedererkennt, hängt entscheidend vom
Kontext ab. Wenn man damit rechnet, jemandem zu begegnen, erkennt man ihn auch. Wenn nicht, dann nicht. Dann wird man quasi unsichtbar. Murphy würde niemals auf den Gedanken kommen, dass O’Connell den Detektiv so leicht bis zu seinem Arbeitsplatz zurückverfolgen könnte. Ebenso wenig würde Murphy damit rechnen, dass Michael O’Connell seine Privatanschrift einschließlich Telefonnummer in der Tasche hatte. Murphy würde sich auch nicht träumen lassen, dass O’Connell, nachdem er ihn geohrfeigt hatte, ihm bis nach WestMassachusetts folgen würde. Das alles konnte der Mann nicht ahnen, dachte O’Connell. Und deshalb konnte er mich nicht sehen, auch wenn ich keine zwanzig Meter von ihm entfernt stand. Er dachte, er wäre fertig mit mir. O’Connell kehrte zu seinem Wagen zurück, wo er wartete und das Gebäude beobachtete; er nahm sich die Zeit zu notieren, wann die anderen wenigen Büroangestellten in dem Haus Feierabend machten. Eine davon war vermutlich Murphys Sekretärin. Er sah zu, wie die Frau genau wie zuvor der Detektiv Richtung Parkplatz eilte. Kein netter Zug, dachte er, dass er es der Frau überlässt, für einen Hungerlohn abends dichtzumachen. Besonders wenn sie nicht die Kunst beherrscht, Türen wirklich sicher zu verschließen. Wenig später drehte er den Zündschlüssel und fuhr langsam aus seiner Parklücke, um seine Abfahrt
genau auf ihre abzustimmen. Binnen achtundvierzig Stunden hatte er genügend Informationen für seinen nächsten Schritt zusammen, der es ihm ermöglichen würde, Ashley wieder ungehindert zu folgen. Er wusste jetzt einigermaßen, wann jeweils die anderen Büros in Murphys Gebäude schlossen. Er wusste, dass der Leiter der sozialen Beratungsstelle gegenüber Murphys Büro als Letzter ging und die Haustür mit nur einem einzigen Schlüssel abschloss. Der Anwalt im Erdgeschoss hatte nur eine juristische Hilfskraft. O’Connell hegte den Verdacht, dass er seine Frau betrog, denn er und die Assistentin verließen das Gebäude Arm in Arm und mit einem Gesicht, als täten sie etwas Verbotenes. O’Connell gefiel die Vorstellung, dass sie es auf dem Fußboden trieben und sich auf einem schmutzigen, abgewetzten Teppich wälzten. Seine Phantasien über die Örtlichkeit, ihre Positionen und sogar ihre Leidenschaft halfen ihm, die Zeit totzuschlagen. Über Murphys Sekretärin wusste er nicht viel, doch das eine oder andere hatte er immerhin in Erfahrung bringen können. Sie war Anfang sechzig und verwitwet. Sie war alleinstehend, eine unscheinbare Frau mit einem unscheinbaren Leben, in dem ihr einzig zwei Möpse Gesellschaft leisteten, die Mr. Big und Beauty hießen. Sie liebte die Hunde.
O’Connell war der Frau in einen Stop-and-ShopSupermarkt gefolgt. Es war nicht schwer gewesen, sie in eine Unterhaltung zu verwickeln, als sie vor dem Hundefutter stehenblieb. »Entschuldigen Sie bitte, vielleicht können Sie mir helfen … Meine Freundin hat gerade einen kleinen Hund übernommen, und ich wollte ihm was richtig Erlesenes zu fressen kaufen, aber es gibt einfach zu viele Sorten. Verstehen Sie viel von Hunden?« Er ging davon aus, dass sie nach ihrer kleinen Plauderei denken würde: Was für ein höflicher junger Mann. Michael O’Connell hatte seinen Wagen zwei Häuserblocks von Murphys Gebäude entfernt, in entgegengesetzter Richtung von dem Parkplatz abgestellt, den offenbar alle im Haus benutzten. Es war viertel vor fünf, und er hatte alles, was er brauchte, in einer billigen Sporttasche zusammengepackt und im Kofferraum verstaut. Er atmete langsam ein und aus, um sich wie ein Schwimmer vor dem Besteigen des Startblocks zu beruhigen. Ein einziger prekärer Moment, der Rest war höchstwahrscheinlich ein Kinderspiel. O’Connell stieg aus, vergewisserte sich noch einmal, dass seine Parkuhr bis zum Anschlag gefüllt war, und lief zügig hinüber. An der Ecke blieb er stehen und wartete, bis sich
die ersten abendlichen Schatten über die Straße senkten. In den ersten Novembertagen wird es in Neuengland am Abend schnell dunkel, und es ist von einem Moment zum anderen Nacht. In dieser Zeit des Übergangs fühlte er sich zu Hause. Jetzt ging es nur noch darum, ins Haus zu kommen, ohne dass ihn jemand bemerkte, insbesondere nicht Murphy oder seine Sekretärin. Er holte noch einmal tief Luft, konzentrierte sich auf Ashley, rief sich ins Gedächtnis, dass er ihr nach diesem Abend sehr viel näher sein würde, und lief zügig weiter. Hinter ihm ging plötzlich eine Lampe an. Er hielt sich für unsichtbar, niemand wusste oder ahnte, dass er hier war. Als er die Haustür erreichte, sah er, dass der Eingangsbereich menschenleer war. In einer Sekunde war er drinnen. Er hörte ein leises Rauschen, als der Fahrstuhl herunterkam. Augenblicklich durchquerte er den Flur und trat auf die Treppe des Notausgangs, wo er genau in dem Moment, als der Lift unten war, die Tür hinter sich schloss. Er drückte sich an die Wand und versuchte, sich die Leute jenseits der Stahltür vorzustellen. Er glaubte, Stimmen zu hören. Während ihm der Schweiß in die Achselhöhlen trat, glaubte er, Murphys unverwechselbare Stimme und die seiner Sekretärin zu erkennen.
Muss diese Möpse füttern, sagte er sich. Sie ist spät dran. Er hörte, wie die Haustür zufiel. O’Connell sah auf die Uhr. Komm schon, flüsterte er. Feierabend. Leiter der Beratungsstelle, du bist dran. Er drückte sich wieder an die Wand und wartete. Das Treppenhaus war nicht gerade das ideale Versteck, doch er wusste, dass es an diesem Abend seinen Zweck erfüllen würde. Wieder ein Zeichen, dass es ihm bestimmt war, mit Ashley zusammen zu sein. Wir sind füreinander geschaffen. Er mäßigte seinen schnellen Atem und schloss die Augen, um sich ganz seiner Obsession hinzugeben und im Gedanken an Ashley geduldig auszuharren. Im Lauf seines Lebens war O’Connell schon in eine Reihe Geschäfte, das eine oder andere Haus und mehr als eine Fabrik eingebrochen, wenn sich dort niemand mehr aufhielt. Er vertraute auf sein Können, während er auf der kalten Steintreppe saß und wartete. Er hatte sich für den Fall, dass ihn jemand dort entdeckte, nicht einmal eine Ausrede zurechtgelegt. Er wusste, dass er dort sicher war. Er wusste, dass ihn die Liebe beschützte. Es war schon fast sieben, als er zum letzten Mal das Knarren des Fahrstuhls hörte. Er hielt den Atem an und neigte sich in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Mit einem Schlag saß er im Dunkeln. Der Büroleiter hatte
am Hauptschalter neben dem Fahrstuhl das Licht gelöscht. Er hörte, wie die Haustür aufging und zufiel, dann ein einziges Klicken im einzigen Schloss. Er sah auf die Uhr, deren Ziffernblatt gerade noch hell genug leuchtete, dass er die Zeit erkennen konnte. Er wartete noch eine Viertelstunde, bevor er durch die Tür des Treppenhauses wieder in den Eingangsflur trat. Er war beinah erstaunt, wie leicht alles ging. Durch die Glastür warf er einen vorsichtigen Blick auf die menschenleere Straße. Dann drehte er an dem Einriegelschloss und verließ das Haus. Rasch war er wieder an seinem Wagen und holte die Tasche aus dem Kofferraum. In wenigen Minuten war er wieder zurück im Gebäude. Als Erstes griff er in die Tasche und zog mehrere Paar OPHandschuhe heraus, die er übereinander anzog – ein mehrfacher Schutz. Dann holte er eine Sprühdose mit einem Desinfektionsmittel auf Ammoniakbasis heraus und besprühte gründlich den Hebel des Riegelschlosses, den er angefasst hatte. Als das erledigt war, machte er die Tür wieder zu. Genauso verfuhr er mit der Klinke der Tür zum Treppenhaus und jeder anderen Stelle, die er vielleicht mit den Händen berührt hatte. Dann ging er die Treppe zum zweiten Stock hinauf und holte unterwegs eine kleine
Taschenlampe heraus. Er hatte sich die Mühe gemacht, die Vorderseite mit rotem Klebeband zu dimmen. Zwar hatte er auf diese Weise nur halb so viel Licht, doch das war durch ein Fenster praktisch nicht zu sehen. Er nahm sich die Zeit, auf dem Flur nach Sicherheitsvorrichtungen zu suchen, fand jedoch keine. Michael O’Connell schüttelte den Kopf. Er hätte gedacht, dass Murphy einen sicheren Arbeitsplatz gewählt hätte. Doch Infrarotkameras und Videoüberwachung kosteten Geld. Dieses Gebäude bot ihm wahrscheinlich eine äußerst niedrige Miete, und darin lag sein Reiz. Er schmunzelte. Davon einmal abgesehen, was war hier schon zu holen? Kein Bargeld. Keine Juwelen. Keine Kunst. Keine tragbaren elektronischen Geräte. Jeder Gauner, der auf sich hielt, konnte Lohnenderes finden. Was sag ich, dachte O’Connell, in der Bodega an der Ecke lagen wahrscheinlich um die tausend Mäuse in der Kasse und eine nützliche Kaliber zwölf auf dem Fach darunter. Das war ein weitaus einträglicheres Zielobjekt. Allerdings schwebte ihm ja auch nicht wie irgendeinem Fixer ein Bruch im Tante-Emma-Laden vor. O’Connell sah sich um. Was war in diesem Gebäude zu holen? Er grinste wieder. Informationen.
Der Schlüssel zum Erfolg seines kleinen nächtlichen Abenteuers lag in der Tatsache, dass niemand vermuten würde, wonach er suchte. O’Connell ließ sich Zeit damit, die Tür zu Murphys Büro aufzubrechen, und als er schließlich eintrat, war er auf der Hut vor möglichen weiteren Sicherheitsvorkehrungen wie einem Bewegungsmelder oder einer Alarmanlage. Als ihn Stille begrüßte, konnte er sein Glück kaum fassen. Zunächst sah er sich vorsichtig im Büro um und verschaffte sich einen Überblick. Wieder hätte er lachen können. Das Büro verfügte über ein schäbiges Wartezimmer mit einem einfachen Schreibtisch für die Sekretärin und einem billigen, klumpigen Sofa und Sessel sowie einen weiteren kleinen Raum, in dem Murphy seine Geschäfte tätigte. Dieses lag hinter einer solideren Tür mit mehr als nur einem Einfachschloss. O’Connell hatte schon die Hand am Knauf, überlegte es sich aber anders. Das knauserige Arschloch hat höchstwahrscheinlich seine ganzen Sicherheitsvorrichtungen, soweit er sie für nötig hält, da drinnen konzentriert. Er drehte sich um, und sein Blick fiel auf den Schreibtisch der Sekretärin. Sie hatte ihren eigenen Computer.
Er setzte sich auf ihren Stuhl und fuhr den PC hoch. Nach der Eingangsseite wurden die Zugangsdaten mit dem Passwort abgefragt. Er holte tief Luft und tippte nacheinander die Namen ihrer Hunde ein. Dann versuchte er es mit verschiedenen Kombinationen, doch keine passte. Er überlegte sich andere Möglichkeiten, bevor er grinsend »Mopsfan« eingab. Der Rechner sirrte, und nach wenigen Sekunden hatte O’Connell, wie er annahm, die Mehrzahl von Murphys Falldateien vor der Nase. Er scrollte die Liste herunter und stieß auf Ashley Freeman. Er kämpfte gegen den Drang an, diese Datei augenblicklich zu öffnen. Vorfreude ist die beste Freude, dachte er. Dann ging er jeden anderen Fall auf dem PC der Sekretärin durch und verweilte mehr als einmal bei den provokanten Digitalfotos, die bei einigen der Fälle abgespeichert waren. Sorgfältig machte er sich daran, eine um die andere Datei auf den mitgebrachten Disketten zu speichern. Er glaubte nicht, dass er auf diese Weise alles in die Finger bekam, was der ehemalige Kripobeamte auf seinem eigenen Computer hatte. Zweifellos behielt Murphy sich den Zugang zu besonders brisantem Material selbst vor. Doch für seine Zwecke hatte O’Connell mehr als genug. Er brauchte ein paar Stunden, bis er fertig war. Als er
aufstand, waren seine Glieder steif, und er streckte sich. Er ließ sich auf den Boden fallen, um rasch hintereinander ein paar Liegestütze zu absolvieren, die seine Muskeln entspannten. Dann ging er zu Murphys Bürotür hinüber. Er griff in seine Tasche und zog eine kleine Brechstange heraus. Er unternahm ein paar halbherzige Versuche, bei denen er die Oberfläche verkratzte und das Holz einkerbte, bevor er aufgab. Schließlich kehrte er zum Schreibtisch der Sekretärin zurück, brach die Schubladen auf, zerwühlte den Inhalt, verstreute Papiere, Druckerpatronen und Bleistifte auf dem Boden. Er fand ein gerahmtes Bild von den Möpsen, ließ es fallen und zerbrach das Glas. Als er das Gefühl hatte, genügend Unordnung hinterlassen zu haben, verließ er das Büro und schloss die Tür hinter sich. Kaum war das Schloss eingeschnappt, brach er es mit der Brechstange auf. Danach musste der Türpfosten dran glauben, so dass die Holzsplitter flogen. Am Ende ließ er die Tür angelehnt. Als Nächstes stürmte er mit derselben Brachialgewalt das Büro der Beratungsstelle gegenüber. Drinnen brachte er rasch die Schubladen und Schränke durcheinander und breitete so viel Bürokram wie möglich auf dem Boden aus. Dann ging er wieder die Treppe hinunter und knöpfte sich die Kanzlei des Anwalts vor. Auch hier riss er den Inhalt aus den Aktenschränken und warf ihn hinunter. Er brach den Schreibtisch des Juristen auf, fand mehrere hundert Dollar in bar, die er sich in die Tasche stopfte. Er wollte gerade
gehen, als ihm der Gedanke kam, wenigstens einen gezielten Schlag gegen den Schreibtisch der Hilfskraft zu landen. Sie würde sich sonst als Außenseiter fühlen, wenn es sie nicht wie die anderen traf, dachte er grinsend. Doch als er sah, was zuunterst in der letzten Schublade lag, blieb er reglos stehen. »Also, wozu braucht wohl ein braves Mädchen wie du so ein Ding?«, flüsterte er. Es war eine Halbautomatik Kaliber .25. Diese Waffenart war klein, leicht zu verstecken, recht beliebt bei Auftragskillern und Meuchelmördern, weil sie schon an und für sich sehr leise, mit einem selbstgebastelten Schalldämpfer aber so gut wie gar nicht zu hören war. Wenn man Expan sionsgeschosse in den Neun-SchussLadestreifen einlegte, dann war sie den meisten Aufgaben durchaus gewachsen. Eine Damenpistole, es sei denn, in der Hand eines Experten. »Die nehmen wir besser mit«, sagte er leise. »Hast du dafür einen Waffenschein? Hast du sie bei der Polizei von Springfield registrieren lassen, Schätzchen? Ich vermute, nicht. Eine niedliche kleine Straßenknarre, hab ich recht?« Michael O’Connell steckte die Waffe in die Tasche. Eine äußerst ergiebige Nacht, dachte er, als er das Chaos betrachtete, das er angerichtet hatte.
Am Morgen würde der Leiter der Beratungsstelle die Polizei holen. Ein Kripobeamter würde die Aussage aufnehmen. Er würde ihnen allen sagen, sie sollten eine Bestandsaufnahme von den Dingen machen, die gestohlen waren. Dann würden sie zu dem Schluss kommen, dass ein unausgegorener Junkie eingebrochen war, um Kasse zu machen, und dann randaliert hatte, nachdem er feststellen musste, wie wenig in dem Haus zu holen war. Alle würden den Tag damit zubringen, Ordnung zu machen, Handwerker zu holen, die den Schaden an den Türen reparierten und neue Schlösser einbauten. Für alle wäre es nichts weiter als eine Unannehmlichkeit, was auch für den Anwalt und seine Geliebte galt, die ihrerseits ganz bestimmt nicht den Verlust ihrer illegalen Waffe melden würde. Nur Matthew Murphy würde sich auf die Schulter klopfen, weil seine zusätzlichen Schlösser und die schwere Tür zu seinem Büro seinen Arbeitsplatz vor dem Schicksal der anderen bewahrt hatte. Er würde sich vergewissern, dass nichts gestohlen war, und wahrscheinlich sogar darauf verzichten, den Schaden seiner Versicherung zu melden. Er würde lediglich seiner Sekretärin einen neuen Rahmen für ihre Hundefotos kaufen. Einen billigen obendrein, tippte O’Con nell, als er auf die Straße trat.
Der Hauptkommissar für die Bezirksstaatsanwaltschaft Hampden County war ein schmächtiger Mann Anfang vierzig mit Schildpattbrille und schütterem, dunkelblondem Haar, das er auf entwaffnende Weise lang trug. Er legte die Füße auf seinen Schreibtisch und wippte mit seinem Sessel zurück, während er mich aufmerksam musterte. Er hatte eine unangenehme Art, eine Mischung aus freundlicher Höflichkeit und gereiztem Unterton. »Demnach führt Sie Mr. Murphys Tod und unsere Unfähigkeit, die Ermittlungen mit einem zufriedenstellenden Ergebnis abzuschließen, zu uns?« »Ja«, sagte ich. »Denn ich nehme zwar an, dass sich eine Reihe von Instanzen mit dem Fall befasst hat, doch wenn eine davon einer Verhaftung nahegekommen wäre, dann hätte es bei Ihnen gelegen, die übrigen Schritte zu veranlassen.« »Korrekt«, bestätigte er. »Und wir haben keine Anklage erhoben.« »Aber Sie hatten einen Verdächtigen?« Er schüttelte den Kopf. »Plural, Verdächtige. Da lag ja, kurz gesagt, das Problem.«
»Wie das?« »Zu viele Feinde. Zu viele, denen sein Tod nicht nur gelegen kam, sondern eine ganze Reihe Leute, die sich aufrichtig darüber freuen mussten. Murphy wurde umgebracht, seine Leiche wie ein Stück Müll in eine schmale Gasse geworfen, und wir sind sicher, dass das Ereignis nicht nur von einer Person in diesem Bundesstaat begossen wurde.« »Aber Sie konnten den Kreis doch sicher einengen?« »Ja, einigermaßen. Aber denken Sie ja nicht, dass die Leute, die wir als Tatverdächtige geführt haben, die geringste Neigung gezeigt hätten, der Polizei zu helfen. Wir hoffen immer noch, dass irgendjemandem irgendwo, vielleicht in einem Gefängnis oder in einer Bar, etwas herausrutscht, was uns in die Lage versetzt, uns auf ein oder zwei Täter zu konzentrieren. Aber bis zu dem glücklichen Moment bleibt der Mord am ehemaligen Kripobeamten Murphy ein ungeklärter Fall.« »Aber Sie müssen doch irgendwelche konkreteren Spuren haben …« Der Hauptkommissar seufzte, nahm die Füße von seinem Schreibtisch und schwang herum. »Haben Sie Mr. Murphy gekannt?«
»Nein.« »Er war nicht unbedingt jemand, den die Leute mochten«, erklärte er und schüttelte den Kopf. »Er war eher jemand, der die Gratwanderung liebte, juristisch gesprochen. Bis wir Näheres über den Hintergrund in Erfahrung bringen, können wir nicht wissen, von welcher Seite des Grates der Mord ausging. Einmal von dem abgesehen, was die Leiche uns verrät, und das war nicht viel.« »Aber immerhin etwas?« »Der Mord lässt auf einen Profi schließen …« Der Hauptkommissar stand auf, trat hinter mich und legte mir den Zeigefinger auf den Hinterkopf. »Peng, peng«, sagte er. »Zwei Schüsse in den Kopf. Kaliber .25, mit Schalldämpfer vermutlich. Es handelte sich wahrscheinlich um Expansionsgeschosse. Beide Kugeln hatten weiche Spitzen und waren stark deformiert, als man sie entfernte, so dass ein ballistischer Abgleich unmöglich ist. Dann wurde die Leiche in eine schmale Gasse gezerrt und hinter Mülltonnen geschoben, wo sie unentdeckt blieb, bis am nächsten Morgen die Müllabfuhr kam. Derjenige, der ihn erschossen hat, besaß die Fähigkeit, sich Murphy unbemerkt zu nähern. Sehr wenige verwertbare Indizien. Nicht einmal eine abgeworfene Patronenhülse, was die Vermutung weiter erhärtet, dass wir es mit einem geübten
Killer zu tun haben, der sich die Mühe machte, sie aufzulesen, bevor er verschwand. In der Nacht, in der er getötet wurde, regnete es ziemlich stark, was den Tatort zusätzlich in Mitleidenschaft zog. Keine Zeugen. Keine offensichtlichen Spuren. Von Anfang an ein sehr schwieriger Fall, ohne dass uns jemand die Richtung zeigen konnte.« Er lief einen Bogen und ließ sich diesmal auf der Ecke seines Schreibtischs nieder. Er lächelte, doch es hatte etwas von einem Barrakuda. »Was war das nun für ein Mord? Rache? Hat da jemand eine alte Rechnung beglichen? Vielleicht war es auch schlicht ein Raubüberfall. Seine Brieftasche war leer geräumt, aber die Kreditkarten noch da. Schon seltsam, nicht wahr?« Er schwieg einen Moment, bevor er fragte: »Und Ihr Interesse an dem Fall? Woher kommt das?« »Murphy hatte am Rande mit einem Fall zu tun, den ich recherchiere.« Ich überlegte mir genau, was ich sagte. »Einer unserer Kommissare hat jeden Klienten unter die Lupe genommen, den er je hatte, der hat sich jeden, wirklich jeden Fall angesehen, an dem Murphy irgendwann einmal gearbeitet hatte. Für welchen interessieren Sie sich?« »Ashley Freeman«, erklärte ich vorsichtig.
Der Hauptkommissar schüttelte den Kopf. »Das ist wirklich interessant. Ich hätte gedacht, da ist nicht viel zu holen. Das war einer seiner kleineren Jobs, in den er vielleicht ein paar Tage investiert hat, nicht mehr. Und soviel ich weiß, einige Zeit vor seiner Ermordung zu Ende gebracht hat. Nein, der Mann, der Murphy erledigt hat, gehörte entweder zu einem der Drogenringe, die er in seiner Zeit bei der Polizei mit hochgehen lassen hat, oder es war einer von den Typen im organisierten Verbrechen, dem er als Privatdetektiv auf der Spur war. Oder auch einer der Polizisten, die in unschönen Scheidungsverfahren steckten. Das sind alles geeignetere Tatverdächtige.« Ich nickte. »Aber wissen Sie, was mich an diesem Fall wirklich fasziniert?« »Was denn?«, fragte ich. »Als wir anfingen, unter jedem Stein und hinter jedem Vorhang nachzusehen, kam es uns so vor, als hätte uns jeder, den wir befragten, irgendwie erwartet.« »Erwartet? Aber was ist daran so ungewöhnlich?« Der Hauptkommissar lächelte erneut. »Murphy hat sich immer sehr um Vertraulichkeit bemüht. Schließlich liegt das in der Natur seines Gewerbes. Er behielt alles für sich. Er war verschwiegen. Gab nichts preis, ließ sich nicht in die
Karten schauen. Die einzige Person, die auch nur eine vage Ahnung davon hatte, womit er seine Tage zubrachte, war seine Sekretärin. Sie erledigte den ganzen Schriftverkehr, die Rechnungen sowie Aktenführung.« »Und die konnte Ihnen nicht weiterhelfen?« »Sie hatte keine Ahnung. Nicht den blassesten Schimmer. Aber darum ging es gar nicht.« Er schwieg und sah mich eindringlich an, bevor er fortfuhr. »Wie konnten also all diese Leute wissen, dass wir uns mit ihnen befassten? Sicher konnten einige Zielpersonen, auf die er angesetzt war, gar nicht anders, als früher oder später zu merken, dass er in ihrem Leben herumschnüffelte. Aber das galt sicher nur für einen relativ kleinen Prozentsatz, und um die ging es nicht. Ich sage es noch einmal: Die Leute wussten es. Und zwar alle. Als wir bei ihnen auf der Matte standen, hatten sie nur auf uns gewartet und sich wasserdichte Alibis verschafft. Das stinkt. Das stinkt zum Himmel. Und da liegt der Hase im Pfeffer, nicht wahr?« Ich stand auf. »Sind Sie an einem echten Krimi interessiert?«, fragte der Hauptkommissar, während er mir die Hand schüttelte und hinter seinen Schreibtisch zurückkehrte. »Nun, dann lösen
Sie dieses Rätsel für mich.« Auch wenn ich den Mund hielt, wusste ich im selben Moment die Antwort.
27 Der zweite Übergriff
Hope hasste die Ruhe. Sie merkte, dass sie rastlos das letzte Training der Saison absolvierte und sich auf den Winter vorbereitete. Sie war ständig gereizt, aber nicht in der Lage, ihre Gefühle einzuordnen. Sie stellte fest, dass sie die Pfade des Campus entlanghetzte, obwohl eigentlich keine Eile geboten war. Sie erlebte, wie sie plötzlich eine trockene Kehle bekam, wie sie sich die Lippen lecken musste oder eine schwere Zunge hatte, so dass sie literweise Wasser trank. Mitten in einem Gespräch stellte sie fest, dass sie von dem, was gesagt worden war, nicht viel mitbekommen hatte. Die Angst hatte sie im Griff, und während ein Tag um den anderen verging, ohne dass etwas Schlimmes passierte, malte sie sich aus, wie anderswo ungleich Schrecklicheres geschah.
Nicht einen einzigen Moment lang glaubte sie daran, dass Michael O’Connell aus ihrer aller Leben verschwunden war. Scott hatte sich, soweit sie es beurteilen konnte, mit Feuereifer in seine Lehrtätigkeit gestürzt. Sally hatte sich wieder ihren anstehenden Scheidungsfällen und Geschäftsaufgaben gewidmet, während sie sich zufrieden auf die Schulter klopfte, weil sie selbst eine Lösung gefunden und die Sache zu einem guten Ende geführt hatte. Und Hope und Sally hatten sich wieder in die Détente ihres Kalten Kriegs geflüchtet, die ihre Beziehung kennzeichnete. Auch der letzte Rest an Zärtlichkeit war verflogen. Es gab nie eine Liebkosung, ein Kompliment oder ein Lachen und schon gar nicht eine Berührung, die zum Sex einlud. Man hätte meinen können, sie seien zu Nonnen geworden, die unter einem Dach zusammenlebten, die zwar das Bett miteinander teilten, aber mit irgendeinem Ideal im Jenseits vermählt waren. Hope fragte sich, ob Sallys letzte Monate mit Scott genauso verlaufen waren. Oder hatte sie den Schein gewahrt und mit ihm geschlafen, hatte Leidenschaft vorgetäuscht, ihm Essen gekocht, den Haushalt versorgt und mit ihm geplaudert, während sie immer wieder zu unmöglichen Zeiten verschwand, um sich mit Hope zu treffen und ihr zu sagen, ihr Herz gehörte ihr? In der Ferne hörte Hope Stimmen von den Spielfeldern. Nachspielzeit, dachte sie. Nur noch ein Spiel. Zwei bis zum Halbfinale. Sie konnte sich kaum auf die Spiele
konzentrieren, sondern steckte in einem Morast an Gefühlen – zu Ashley, zu Michael O’Connell, zu ihrer Mutter und vor allem zu Sally, um die sich alles zu einer einzigen Aussichtslosigkeit zusammenbraute. Im Gehen dachte sie daran, wie sie Sally kennen gelernt hatte. So einfach sollte Liebe immer sein. Man trifft sich bei der Eröffnung einer Kunstgalerie, man redet. Man macht einen Scherz und hört den anderen lachen. Man beschließt, noch auf ein Glas zusammenzubleiben. Dann lädt man sich zum Essen ein. Noch einmal, mitten am Tag. Schließlich eine zarte Berührung der Hand, ein Flüstern, ein Blick, und alles geht seinen Gang, so wie es Hope vom ersten Moment vorausgesehen hatte.
Liebe, dachte sie. Michael O’Connell phantasierte ständig davon, während Hope das Wort seit Wochen nicht mehr in den Mund genommen hatte. Vielleicht sogar seit Monaten. Ashley hatte ihr erzählt, dass er behauptete, er liebte sie. Nichts von seinem Verhalten – da zweifelte Hope keinen Moment – hatte auch nur das Geringste mit Liebe zu tun. Sie zog die Schultern ein. Er ist weg, sagte sie sich. Sally sagt, er ist weg. Scott sagt, er ist weg.
Ashley glaubt, er ist weg. Hope glaubte es nicht. Umgekehrt konnte sie nicht einen einzigen konkreten Anhaltspunkt dafür finden, dass er zurückgekehrt war. Sie hörte Stimmen, und sie sah, wie die Mädchen ihrer Mannschaft winkten, ihre Runden liefen und miteinander plauderten, sich schließlich in der Mitte des Spielfelds zusammenscharten. Sie griff nach der Pfeife an der Kordel um ihren Hals, beschloss jedoch, ihnen noch ein, zwei Minuten ihren Spaß zu lassen. Die Zeit, in der sie jung waren, ging so schnell vorbei, sie sollten jede Minute genießen. Nur wusste sie ebenso gut, dass junge Leute das niemals begreifen würden. Sie seufzte, pfiff das Spiel ab und beschloss, täglich mit ihrer Mutter und mit Ashley zu telefonieren, um sicher zu sein, dass alles in Ordnung war. Sie fragte sich, wieso Scott und Sally es nicht auch so hielten.
Sally starrte auf die Schlagzeile der Spätausgabe und merkte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Sie verschlang jedes Wort des Artikels, las ihn noch einmal, prägte sich Einzelheiten ein. Ex-Cop ermordet auf der Straße gefunden. Als sie das Blatt weglegte, merkte sie, dass sie Druckerschwärze an den Händen hatte. Erstaunt
betrachtete sie ihre Finger, bis ihr bewusst wurde, wie ihr bei der Lektüre der Schweiß ausgebrochen war, so dass die Farbe an ihrer Haut haftete.
Mord oder Hinrichtung? Die Worte hallten in ihrem Bewusstsein nach und ließen sich nicht verdrängen. Die
Polizei überprüft eine mögliche Verbindung zum organisierten Verbrechen. Das Erste, was sie sich einhämmerte, war: Das hat nichts mit Ashley zu tun. Sie wankte zurück, als hätte ihr jemand einen Schlag in den Magen versetzt – es hat entschieden mit Ashley zu tun. Ihr erstes Bedürfnis war, jemanden anzurufen. Als Anwältin kannte sie zahlreiche Kollegen mit einem guten Draht zur Bezirksanwaltschaft. Einer von ihnen musste doch Genaueres wissen. Insiderinformationen, die ihr ein besseres Bild verschafften. Mit einer Hand griff sie nach ihrem Rolodex, mit der anderen nach dem Telefon. Dann zögerte sie. Was machst du da? Sie atmete tief durch. Hol dir nicht freiwillig Leute ins Haus, die dein Leben unter die Lupe nehmen. Jeder Staatsanwalt, der auch nur am Rande mit dem Mord an Murphy zu tun hatte, würde ihr bedeutend mehr Fragen stellen als Auskünfte geben. Mit diesem Anruf würde sie sich und ihre Probleme mit einer Situation vermengen, aus
der sie sich lieber raushielt. Sally hustete. Sie hatte Murphy vorgeschickt, damit er sich Michael O’Connell vorknöpfte. Er hatte ihr einen Erfolgsbericht geschickt. Problem gelöst. Alle in Sicherheit. Ashley könne wieder ein normales Leben führen. Und wenig später ist Murphy tot. Sie konnte keinen Sinn darin sehen. Es war, als hätte man einen berühmten Mathematiker, einen Einstein, vor sich, der 2 + 2 = 5 an die Tafel schreibt, und niemand stellt es richtig. Sie schnappte sich die Zeitung und las jedes Wort zum dritten Mal durch. Nichts ließ darauf schließen, dass Michael O’Connell irgendetwas damit zu tun hatte. Es schien das Werk eines Profis zu sein. Offensichtlich ging es auf das Konto von ein paar wirklich üblen Burschen, denen Murphy in die Quere gekommen war. Dieser Mord überstieg die Fähigkeiten eines Mechanikers, Computerfreaks, Gelegenheitsstudenten und Kleinkriminellen von der Sorte Michael O’Connells, redete Sally sich trotzig ein. Das hatte nicht das Geringste mit ihnen zu tun, und es wäre ein Fehler, etwas anderes zu vermuten. Sie lehnte sich auf ihrem Schreibtischsessel zurück und atmete schwer.
Nein, wir sind alle in Sicherheit. Das ist Zufall. Sein Tod hatte nichts mit ihrer Situation zu tun. Schließlich war ihre Wahl auf Murphy gefallen, weil er bereit war, hier und da das Gesetz etwas großzügiger auszulegen. Und bei all den anderen Fällen war er zweifellos noch ganz anders zur Sache gegangen und hatte sich überall Feinde gemacht. Einer davon hatte sich schließlich gerächt, das musste es sein. Sie atmete langsam aus. Nein, das eigentliche Problem bestand darin, dass die Drohungen, mit denen Murphy O’Connell in Schach gehalten hatte, sich nunmehr in nichts aufgelöst hatten. Das war die größte Gefahr, der sie sich gegenübersahen. Natürlich setzte dies voraus, dass Michael O’Connell von Murphys Ermordung wusste und darin seine Chance erkannte. Unhaltbare Spekulationen, sagte sie sich. Dennoch griff sie nach dem Telefon. Sie hasste das, sie hasste den Gedanken, dass es so aussehen musste, als hätte sie bei ihrem Teil der Abmachung versagt, doch ihr war klar, dass sie dennoch ihren Exmann anrufen musste. Sally wählte Scotts Nummer und merkte, wie sie erneut zu schwitzen begann. »Hast du die Zeitung gelesen?«, fragte Sally unvermittelt. Als Scott Sallys Stimme in der Leitung hörte, war er
zunächst irritiert. »Die New York Times?«, fragte er kurz angebunden zurück, obwohl er wusste, dass sie ein anderes Blatt meinte. Es war genau die falsche Antwort, und Sally hätte ihn dafür erwürgen können. »Nein, das Lokalblatt.« »Nein. Wieso?« »Es gibt eine Meldung auf der Titelseite, über den Mord an einem ehemaligen Kripobeamten in Springfield.« »Ja. Bestimmt ein tragischer Fall. Und?« »Es ist der Privatdetektiv, den ich zu Michael O’Connell geschickt habe, während du Ashley aus Boston geschleust hast. Er hat sein Ding durchgezogen, kurz nachdem du ihr Verschwinden arrangiert hast.« »Sein Ding …?« »Ich hab nicht allzu viele Fragen gestellt. Und er war auch nicht sonderlich gesprächig. Aus offensichtlichen Gründen.« Scott zögerte. »Und was genau hat das mit uns und Ashley zu tun?«
Sallys Antwort kam prompt. »Wahrscheinlich nichts, vermutlich reiner Zufall. Wohl nur ein unglückliches Zusammentreffen von Ereignissen. Der Detektiv hat mir berichtet, er hätte sich mit O’Connell getroffen, und wir hätten nichts mehr von ihm zu befürchten. Und dann wird er plötzlich ermordet. Das beunruhigt mich, ein bisschen. Ich kann nicht sagen, ob es einen Zusammenhang gibt, aber ich dachte, du solltest es zumindest wissen. Ich meine, es verändert möglicherweise die Situation, irgendwie.« »Willst du demnach«, fragte Scott im wohlmodulierten Vorlesungston, »willst du damit sagen, wir hätten ein Problem? Verdammt, ich dachte, wir hätten unter die ganze Sache einen Schlussstrich gezogen. Ich dachte, wir hätten den Mistkerl ein für alle Male hinter uns gelassen.« »Ich weiß nicht. Haben wir ein Problem? Ich glaube eigentlich nicht. Ich wollte dich nur über etwas in Kenntnis setzen, das möglicherweise von Bedeutung ist.« »Hör mal, Ashley ist noch oben in Vermont, gesund und wohlbehalten bei Hopes Mutter. Mir scheint, unser nächster Schritt besteht darin, sie für ein neues Graduiertenstudium einzuschreiben, vielleicht unten in New York oder auch an der Westküste in San Francisco, wo sie noch nie war. Ich weiß, dass sie an Boston hängt, aber wir waren uns darin einig, dass sie einen neuen Anfang machen muss. Also verbringt sie ein bisschen Zeit in Vermont, sieht zu, wie sich die Blätter verfärben und zugeschneit werden, und
fängt im Frühjahrssemester wieder an. Ende der Geschichte. Wir sollten in diese Richtung weiterarbeiten und uns nicht ständig irgendeinen Schrecken einjagen lassen.« Sally biss die Zähne zusammen. Sie hasste solche Belehrun gen. »Chimäre«, sagte sie. »Wie bitte?« »Ein mythologisches Untier von entsetzlichen Ausmaßen, das es in Wahrheit gar nie gab.« »Ja. Und?« »So kann man die Sache auch sehen. Unter dem akademischen Blickwinkel«, erklärte Sally, um Scott zu irritieren. Das hätte sie eigentlich unterlassen sollen, tat es aber doch. Gescheiterte Beziehungen bringen Verhaltenszwänge mit sich, und darum handelte es sich hier. »Nun ja, vielleicht. Wie auch immer, wir sollten an die Zukunft denken. Wir müssen Ashleys Universitätszeugnisse abholen, damit sie sich erneut an Graduiertenschulen bewerben kann, selbst wenn es zunächst nur eine Gasthörerschaft wäre. Am besten erledigt das einer von uns und nicht sie. Und wir lassen die Zeugnisse an uns
schicken und nicht nach Vermont.« »Das übernehme ich. Mit der Büroadresse.« Sally legte auf und war wie immer betroffen, wie gut sie ihren Exmann kannte. Er hatte sich über die Jahre nicht geändert, nicht seit ihrer ersten Begegnung und nicht durch irgendetwas, das seitdem geschehen war. Er war so vorhersehbar wie eh und je. Sie saß immer noch an ihrem Schreibtisch. Sie blickte aus dem Fenster und sah, dass die Dunkelheit das letzte Licht des Tages geschluckt hatte und sogar die Schatten schwarz geworden waren.
Michael O’Connell beobachtete von seinem Posten unter einer ausladenden Eiche keinen halben Häuserblock von Sallys und Hopes Haus entfernt, wie dieselben Schatten länger wurden. Er fühlte sich innerlich beschwingt, als wäre mit den Händen zu greifen, wie viel näher er Ashley war. Er sah, wie in beiden Straßenrichtungen die Lichter angingen. Alle paar Minuten schwang sich ein Wagen herauf, dessen Scheinwerfer über die Rasenflächen strich. Er sah, wie in den Küchen gearbeitet, wie das Abendessen gerichtet wurde und wie der metallische Schimmer der Fernseher durch die Fenster drang.
Mir bleibt nur wenig Zeit. Er glaubte allerdings auch nicht, dass er viel brauchte. Sally und Hope wohnten an einer älteren, kurvenreichen Straße. Hier herrschte eine seltsame architektonische Mischung aus einigen neueren Ranchhäusern, die sich unter die stattlichen viktorianischen Villen aus der Jahrhundertwende mischten. Es war ein eigenartiges Viertel, mit seinen Alleen und dem soliden Mittelstandsflair ziemlich begehrt. Dort lebten vornehmlich Ärzte, Anwälte, Professoren. Eine Menge Rasen und Hecken und kleine Gärten und Halloween-Partys. Nicht eins der Viertel, in denen die Leute viel in die Sicherheitstechnik und die neuesten Schutzsysteme investierten. O’Connell huschte schnell die Straße entlang. Er wusste, dass Sally gewöhnlich erst spät aus der Kanzlei kam und Hope Fußballtraining hatte, bis es zu dunkel war, um den Ball zu erkennen. Somit brauchten sie beide noch eine Weile. Er tastete sich von einem Baumstamm zum anderen weiter und schlüpfte, ohne zu zögern, in die dunklen Schatten neben ihrem Gebäude. Hinter der Einfahrt befand sich ein alter Holzzaun mit einem Zugang zum rückwärtigen Garten. Als im Nachbarhaus die Lichter in der Küche angingen, wartete er einen Moment eng an die Außenwand geschmiegt.
Das Haus war auf einer kleinen Anhebung errichtet, so dass sich der Hauptwohntrakt oberhalb seines Kopfes befand. Doch wie viele ältere Häuser verfügte es über einen großen, so gut wie nie genutzten Keller, zu dem eine alte Tür mit angefaultem Holzrahmen führte. Er brauchte keine zehn Sekunden, um sie aufzustemmen. Er ließ die Tür hinter sich angelehnt und holte seine rotverklebte Taschenlampe heraus. Bei dem Gedanken, dass er nur wenige Meter von diesem feuchtkalten Raum, in dem er stand, etwas finden würde, das ihm sagte, wo genau Ashley sich jetzt befand, holte er tief Luft. Ein Brief mit Absender. Eine Telefonrechnung. Kreditkartenauszüge. Ein Zettel mit ihrem Namen an der Kühlschranktür. Aufgeregt leckte er sich die Lippen, während seine Hände vor Spannung fast zitterten. Der Einbruch in Murphys Büro war nichts Besonderes gewesen, ein Etappensieg auf dem Weg zu Ashley. Er fand, dass er umsichtig und professionell vorgegangen war. Dieser Einbruch hier war etwas anderes. Dies war ein Liebesdienst. Er blieb einen Moment stehen, um die abgestandene Kellerluft einzuatmen. Wenn sie nur wüsste, was ich alles auf mich nehmen musste, um sie zu finden und uns zusammenzubringen, dachte er, dann würde sie begreifen, wieso wir füreinander bestimmt sind. Irgendwann einmal, malte er sich aus, würde er ihr sagen können, dass er
Prügel bezogen, Gesetze gebrochen, seine Sicherheit und Freiheit aufs Spiel gesetzt hatte, alles nur für sie. Wenn sie mich danach nicht lieben kann, war sein nächster Gedanke, dann hat sie nicht verdient, irgendjemanden zu lieben. Er fühlte ein Zucken, einen Muskelkrampf quer durch seinen Körper, und er musste sich anstrengen, um ihn unter Kontrolle zu bekommen. Er merkte, wie sein Atem flach und stockend wurde. Eine Sekunde lang mahnte er sich, die Ruhe zu bewahren. Er malte sich Sally aus. Hope. Scott, und dabei stieg die blanke Wut in ihm auf. Die eng verflochtenen Gefühle von Liebe und Hass waren nicht mehr auseinanderzuhalten. Als er wieder einigermaßen ruhig geworden war, machte er sich vorsichtig auf den Weg durch den Keller, bis er an eine wackelige Treppe kam, die ihn nach oben in den Wohnbereich führte. Er war nicht sicher, wonach genau er zu suchen hatte, er wusste nur, dass es, was immer es war, in greifbarer Nähe sein musste. Er schob die Tür auf dem oberen Treppenabsatz auf und nahm augenblicklich an, dass er sich in einer Art Speisekammer im Anschluss an die Küche befand. Er wollte die Taschenlampe so schnell wie möglich ausschalten – selbst mit der dämpfenden roten Verklebung war ihr Schimmer viel eher dazu angetan, einen neugierigen Nachbarn auf den Plan zu rufen, als die Deckenlampe. Er sah eine Reihe Schalter an der Wand und erwischte mit dem ersten das Licht in der Küche. Mit
einem Lächeln knipste Michael O’Connell die Taschenlampe aus. Bleib von den Fenstern weg, schärfte er sich ein, und fang an zu suchen. Es ist hier. Irgendwo. Alles, was du wissen musst. Ich merke es ganz deutlich. Ich komme, Ashley. Er machte noch einen Schritt, als ein tiefes, bissiges Knurren aus dem Dunkel der Eingangsdiele kam.
Ich denke, wie bei den meisten Menschen, ist das, was mir Angst macht, entscheidend von Hollywood geprägt, das uns mit Außerirdischen, Vampiren, Monstern und Serienmördern überfüttert; dazu kommen diese brenzligen, unvorhersehbaren Momente im Leben, wenn der andere Wagen bei Rot über die Ampel fährt und man in Panik auf die Bremse tritt. Aber eine tiefe, lähmende Angst kommt aus der Unsicherheit. Sie nagt an der Widerstandskraft, sie gibt keine Ruhe und ist stets gegenwärtig. Als ich der jungen Frau gegenübersaß, sah ich jedes Fältchen, das die Angst in ihr Gesicht eingegraben und sie vorzeitig altern lassen hatte, jeden nervösen Tick – ihre Hände, die sie ständig rieb, das Augenlid, das unablässig zuckte, bis hin zum Beben in ihrer Stimme, das deutlicher zu hören war als
die Worte, die sie flüsterte. »Ich hätte mich nicht auf ein Treffen mit Ihnen einlassen sollen«, sagte sie. Manchmal ist es weniger die Angst zu sterben als die Angst weiterzuleben. Sie legte beide Hände um eine Tasse heißen Tee und hob sie langsam an die Lippen. Draußen war es unbarmherzig heiß, und jeder andere im Café des Einkaufszentrums trank etwas Eisgekühltes, doch sie schien die Hitze nicht wahrzunehmen. »Ich weiß das zu schätzen«, antwortete ich. »Ich werde nicht viel von Ihrer Zeit in Anspruch nehmen. Ich möchte nur eine Sache bestätigt haben.« »Ich muss los. Ich kann nicht bleiben. Ich darf nicht mit Ihnen gesehen werden. Meine Schwester hat die Kinder, und ich kann sie nicht zu lange bei ihr lassen. Wir ziehen um. Nächste Woche, nach …« Sie hielt inne und schüttelte den Kopf. »Nein, ich werde Ihnen nicht sagen, wohin wir ziehen. Das verstehen Sie doch?« Sie beugte sich ein wenig vor, und ich konnte eine dünne, lange, weiße Narbe nahe an ihrem Haaransatz sehen. »Natürlich. Es geht auch ganz schnell«, versuchte ich sie zu beruhigen. »Ihr Mann war Police Captain, und Sie haben
Matthew Murphy im Lauf Ihres Scheidungsverfahrens angeheuert, nicht wahr?« »Ja. Mein Exmann hat einen Teil seines Einkommens verschoben und mich und die drei Kinder betrogen. Ich wollte, dass Murphy herausfindet, wo er das Geld gelassen hatte. Meine Anwältin meinte, Murphy wäre gut in so was.« »Ihr Ex war ein Tatverdächtiger im Mordfall Murphy, richtig?« »Ja. Die Beamten der State Police haben ihn mehrmals befragt. Sie haben auch mit mir gesprochen.« Sie schüttelte den Kopf und fügte dann hinzu: »Ich war sein Alibi.« »Wie das?« »In der Nacht, in der Murphy ermordet wurde, tauchte mein Exmann ziemlich früh am Tag bei mir zu Hause auf. Er hatte getrunken. Er war in einer ausgesprochen miesen Stimmung, selbstmordgefährdet. Bestand darauf, reinzukommen, die Kinder zu sehen. Ich habe ihn nicht dazu bringen können zu gehen.« »Hatten Sie denn keine einstweilige Verfügung?« »Doch. Ein Annäherungsverbot. Zu allen Tageszeiten hundert Meter Abstand. So hieß es in der richterlichen
Verfügung. Hat mächtig viel gebracht. Er ist eins neunzig groß und fast hundertzwanzig Kilo schwer, und er kennt jeden Cop weit und breit. Alles Kumpel von ihm. Was sollte ich denn machen? Mich ihm entgegenstellen? Er hat gemacht, was er wollte.« »Tut mir leid. Das Alibi …« »Na, jedenfalls begann er zu trinken. Dann, mich zu verprügeln. Stundenlang. Bis zur Bewusstlosigkeit. Wenn er am nächsten Morgen aufwachte, hat er sich entschuldigt. Gesagt, es würde nie wieder vorkommen. Ist es auch nicht, eine ganze Woche lang.« »Und das haben Sie den Beamten von der State Police erzählt?« »Wollte ich nicht. Ich wünschte, ich hätte den Mumm gehabt, ihnen zu sagen: ›Aber sicher war er es. Er hat mir gesagt, er wär’s gewesen.‹ Auf diese Weise wäre ich ihn ein für alle Male losgeworden. Aber das hab ich nicht fertiggebracht.« Ich zögerte. »Was mich interessieren würde …« »Ich weiß, was Sie interessiert.« Sie griff sich an die Stirn und strich mit dem Finger den schmalen Grat der Narbe entlang. »Als er mich mit der Faust schlug, hat mich sein Ring vom Fitchburg State College – da haben wir uns kennengelernt – übel erwischt. Hat mir dieses Andenken an
ihn eingebracht. Sie wollen wissen, wie er von Murphy erfahren hat, nicht wahr?« Ich nickte. »Während eines Streits hat er es mir auf den Kopf zugesagt. Hat mich angebrüllt: ›Du hast tatsächlich geglaubt, ich wär zu blöd, um dahinterzukommen, dass du einen Privatschnüffler angeheuert hast?‹« Ich sah, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. »Er bekam einen anonymen Brief. Einen einfachen braunen Umschlag. Mit einer Kopie von allem, was Murphy über ihn rausgefunden hatte. All die vertraulichen Sachen, die nur meine Anwältin und mich etwas angingen. Irgendwo in Worcester abgestempelt. Ich kenne niemanden in der Stadt. Wer sollte so etwas an meinen Ex schicken? Das hat mich zwei Zähne gekostet, die er mir ausgeschlagen hat. Es hätte Murphy das Leben gekostet, wenn ich nur das Glück gehabt hätte, dass mein Exmann ihm mit einer Pistole aufgelauert hätte und nicht jemand anders. Vielleicht hat es ja Murphy das Leben gekostet. Vielleicht hat ja jemand anders auch so einen braunen Umschlag bekommen. Wer weiß. Ich hätte mir so gewünscht, dass es mein Ex gewesen wäre. Hätte alles so viel leichter gemacht.« Sie schob ihren Stuhl vom Tisch zurück. »Ich muss los.« Mit gesenktem Kopf und gebeugten Schultern sah sie in alle
Richtungen und drehte sich um. Dann trat sie aus der Tür des Cafés und hastete durch die Mall, indem sie den Passanten auswich, als ob die Angst ihr unaufhörlich im Nacken säße und ihr unzählige Gefahren ins Ohr flüsterte. Ich sah ihr nach und fragte mich, ob ich gerade Ashleys Zukunft vor mir gesehen hatte.
28 Eine schnelle Fahrt
Hope stand auf dem kurzen ziegelsteingepflasterten Gehweg zu ihrer Haustür, als die Scheinwerfer von Sallys Auto über den Rasen glitten. Unschlüssig, was sie tun sollte, wartete sie. Früher einmal wäre sie zu Sallys Wagen gegangen, um sie mit einer Umarmung zu begrüßen, doch jetzt war sie sich nicht einmal sicher, ob sie stehenbleiben sollte, um mit ihr zusammen ins Haus zu gehen. Sie schob ihre Füße unentschlossen über den Boden und starrte in die Dunkelheit über dem Viertel. Hope hatte das Gefühl, dass sie beide sich angewöhnt hatten, immer später nach Hause zu kommen, so dass das Schweigen, das sie im Lauf des Abends erwartete, weniger Zeit hatte, sie niederzudrücken.
»Hey«, sagte sie, als sie hörte, wie Sally die Wagentür zuschlug. »Hey«, grüßte Sally mit einer erschöpften Stimme zurück. »Harter Tag?« Sally kam langsam über den Rasen zu ihr herüber. »Ja«, bemerkte sie kryptisch. »Lass uns drinnen drüber reden.« Hope nickte und ging die Eingangsstufen hoch. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Haustür weit. Im Haus war es pechschwarz, und sie hatte das Gefühl, als strömte die Nacht wie ein dunkler, gefährlicher Sog direkt an ihr vorbei ins Haus. Hope blieb in der Eingangsdiele stehen und wusste schlagartig, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Sie schnappte nach Luft. »Nameless!«, rief sie. Die Deckenlampe ging an, und Sally stand neben ihr. »Nameless!«, rief Hope ihr noch einmal zu. Dann: »Oh mein Gott …« Hope ließ ihren Rucksack auf den Boden fallen und trat vor. Die Angst hatte alle anderen Emotionen überwältigt, und in ihrem Körper überschlugen sich Frieren, Hitzewallungen
und kalte Schweißausbrüche. »Nameless!«, brüllte sie wieder. Sie hörte die Panik in ihrer eigenen Stimme. Hinter ihr machte Sally die Lampen an, so dass Wohnzimmer, Flur und das Fernsehzimmer im Erdgeschoss in hellem Licht erstrahlten. Und zuletzt die Küche. Der Hund lag reglos auf dem Boden ausgestreckt. Hope gab ein Stöhnen von sich, das aus einem tiefen Winkel ihres Bewusstseins kam, den sie nicht kannte. Sie warf sich auf Nameless’ Körper. Sie grub die Hände in sein Fell, versuchte, irgendwo Wärme zu spüren, und drückte ihr Ohr an seine Brust, um auf seinen Herzschlag zu hören. Hinter ihr stand Sally wie erstarrt in der Tür. »Ist er …« Hope stöhnte, inzwischen blind vor Tränen, noch einmal auf. Doch im selben Moment fasste sie unter den Körper des Hundes und hob ihn mit einer einzigen Bewegung auf. Sie drehte sich zu Sally um, und ohne ein Wort zu sagen, rannten sie beide zurück durch die Dunkelheit. Sally fuhr schnell, schneller als je zuvor, um über den Highway die Tierklinik in Springfield zu erreichen. Bei ihrem Slalom durch den Verkehr erreichte die Tachonadel beinah hundertsechzig Stundenkilometer, und sie hörte, wie Hope sagte: »Schon gut, du kannst langsamer fahren.« Hope hätte genauso etwas anderes sagen können, doch Sally verstand nur, dass sie den Kopf tief über die
Schnauze des Hundes gesenkt hatte, so dass sie schwer zu hören war. Für die letzten Kilometer brauchten sie nur wenige Minuten, und als sie durch die trüben Straßen der Innenstadt fuhren, sah sich Sally außerstande, etwas zu sagen, sondern horchte nur gebannt auf das untröstliche Schluchzen vom Rücksitz, das ihr wie Messerschnitte in die Eingeweide fuhr. Sie sah das rotweiße Notaufnahmeschild und hielt vor dem Eingang. Das Quietschen der Reifen schreckte die diensthabende Schwester an der Pforte hinter der Schiebetür auf. Hope hatte Nameless noch keine ein, zwei Meter weit gebracht, da hatte die Schwester ihn schon auf eine Trage gelegt. Bis Sally den Wagen geparkt hatte und hereingekommen war, saß Hope schon zusammengekauert, den Kopf in die Hände gestützt, im Wartezimmer. Als Sally sich neben sie setzte, sah sie kaum auf. »Ich hoffe, es ist …«, fing Sally an, ohne weiterzusprechen. »Er ist tot. Ich weiß es«, sagte Hope. »Ich habe keinen Herzschlag gehört. Keinen Puls gefühlt. Er hat nicht geatmet. Er war alt, aber … Wir hätten nicht hierherrasen sollen. Es passiert einfach. Man wird alt, und es passiert.« Sally saß da und sah zur Wand ihr gegenüber hoch. Sie rechnete jeden Moment damit, dass der Tierarzt
herauskam und Hope mitteilte, was sie bereits wusste. Doch zu Sallys Überraschung vergingen fünf Minuten, dann zehn. Nach zwanzig Minuten warteten sie immer noch. Nach einer halben Stunde kam ein großer junger Mann in weißem Laborkittel über der blassgrünen Krankenhauskleidung. »Miss Frazier?«, sagte er in einem ruhigen, wohlgesetzten Ton, der, wie Sally augenblicklich erkannte, von der Übung im Überbringen schlechter Nachrichten kam. Er sah Hope an. »Ja.« Ihre Stimme zitterte. »Es tut mir leid«, begann er langsam. »Wir haben versucht, ihn wiederzubeleben, aber er war schon nicht mehr am Leben, als Sie eintrafen.« »Ich weiß«, erklärte Hope. »Ich musste es einfach versuchen …« »Sie haben getan, was Sie konnten«, beruhigte sie der Veterinär. »Und wir auch.« »Ja, das weiß ich. Danke.« Es war, als müsse jedes Wort aus einer eisigen Region in ihrem Innern hervorgezogen werden. »Er war kein junger Hund mehr«, sagte der Tierart zögernd. »Fünfzehn«, bestätigte Hope.
Der Mann nickte. Er schien einen Moment zu zögern, bevor er fragte: »Und wie haben Sie ihn heute Abend vorgefunden?« »Als wir nach Hause kamen, lag er in der Küche. Auf dem Boden.« Der Tierarzt holte tief Luft. »Möchten Sie vielleicht reinkommen und sich von ihm verabschieden? Und da wäre noch etwas, das ich Ihnen gerne zeigen würde.« »Ja«, sagte Hope, während sie vergeblich die Tränen zurückzuhalten versuchte. »Ja, gerne. Ich möchte ihn noch einmal sehen.« Sie folgte dem Arzt durch zwei Pendeltüren, während Sally mit einem gewissen Abstand folgte. Das Untersuchungszimmer wurde von der Deckenlampe in strahlend weißes Licht getaucht. Es war wie jede typische Notaufnahme, mit Ventilatoren an der Wand, Blutdruckmessgeräten, Sanitätsschränkchen. Mitten auf einem blankgescheuerten Stahltisch, der das Licht gnadenlos reflektierte, lag Name less mit verfilztem Fell. Hope streckte die Hand nach ihm aus und strich ihm über die Seite. Er hatte die Augen geschlossen, und Hope fand, dass er friedlich aussah, als ob er schliefe. Der Tierarzt schwieg eine Weile und forderte Hope auf, ihm noch einmal übers Fell zu streichen. Dann fragte er
vorsichtig: »Hat es heute Abend irgendetwas Ungewöhnliches gegeben, als Sie nach Hause kamen?« Hope sah sich um. »Wie bitte? Etwas Ungewöhnliches?« »Wie meinen Sie das?«, fragte Sally. »Gab es irgendwelche Anzeichen für einen Einbruch?« Hope sah ihn verwirrt an. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen folgen kann.« Der Tierarzt trat neben sie. »Es tut mir leid, wenn das hart für Sie ist, aber als wir Namless untersucht haben, sind uns ein paar ungewöhnliche Dinge aufgefallen.« »Was sagen Sie da?« Der Tierarzt griff nach Namless und zog das Fell um die Kehle des Hundes zurück. »Sehen Sie die roten Streifen? Würgemale, typisch, wenn ein Tier erstickt wird. Und hier, sehen Sie.« Behutsam zog er Nameless’ Lefzen hoch und entblößte seine Zähne. »Das scheint Fleisch zu sein. Und auch Blut. Wir haben auch so etwas wie Stofffasern und Blut an seinen Pfoten gefunden, um die Krallen.« Hope sah zu dem Veterinär auf, als begriffe sie immer noch nicht, auf was er hinauswollte. »Wenn Sie nach Hause kommen, sollten Sie Ihre Türen und
Fenster daraufhin überprüfen, ob jemand gewaltsam eingedrungen ist.« Der Tierarzt blickte von Sally zu Hope, und ein trockenes, gequältes Lächeln huschte ihm um den Mund. »Es ist ziemlich offensichtlich, wen er beschützen wollte, egal, wie alt er war«, sagte der Arzt langsam. »Ohne Autopsie bin ich mir natürlich nicht sicher, aber es sieht ganz so aus, als wäre Nameless im Kampf gestorben.«
»Wer hat Murphy ermordet?«, fragte ich. »Glauben Sie, Michael O’Connell hat ihn erschossen?« Sie sah mich mit einem eigentümlichen Blick an, als sei die Frage irgendwie deplatziert. Wir waren bei ihr zu Hause, und da sie nicht gleich antwortete, warf ich einen Blick durchs Wohnzimmer. Plötzlich merkte ich, dass es keine Fotos gab. Sie lächelte. »Ich denke, Sie sollten sich fragen, ob Michael O’Connell es nötig hatte, Murphy zu töten? Vielleicht wollte er es. Er hatte eine Waffe. Er hatte die Gelegenheit. Aber hatte er nicht schon genug getan, indem er all diese vertraulichen Informationen an so viele verschiedene Leute schickte, um sein Ziel zu erreichen? Konnte er nicht ziemlich zuversichtlich sein, dass einer auf dieser Liste mit
Gewalt reagieren würde? War das nicht eher O’Connells Stil – indirekt vorzugehen? Ereignisse und Situationen zu schaffen? Seine Umgebung zu manipulieren? Er musste sich Murphy vom Hals schaffen. Murphy kam aus einer Welt, die Michael O’Connell kannte, und zwar nur allzu gut. Er war sich daher der Bedrohung, die er darstellte, sehr wohl bewusst. Murphy war in einem Punkt nicht so viel anders als O’Connell. Murphy musste verschwinden. Und genau das ist passiert, nicht wahr?« Sie sah mich an und senkte die Stimme fast zu einem Flüstern. »Was machen wir? Wie handeln wir? Es ist nicht schwer zu entscheiden, was man tun soll, wenn der Feind mit der Waffe auf einen zielt. Aber sind wir uns nicht oft selbst der größte Feind, weil wir unseren eigenen Augen nicht trauen? Glauben wir nicht oft, das Gewitter würde vorüberziehen, obwohl es sich deutlich zusammenbraut? Der Damm unter der Flut würde schon halten? Und so erfasst sie uns, nicht wahr?« Sie holte noch einmal tief Luft und wandte sich wieder zum Fenster, um hinauszustarren. »Und wenn sie uns erfasst hat, werden wir dann ertrinken?«
29
Eine Schrotflinte auf dem Schoß
Michael, ich vermisse dich. Ich liebe dich. Komm und rette mich. Er hörte, wie Ashley mit ihm sprach, fast so, als säße sie neben ihm auf dem Beifahrersitz. Er wiederholte die Worte immer wieder und veränderte den Tonfall – einmal flehentlich und verzweifelt, dann wieder sexy und einladend. Die Worte waren wie Liebkosungen. O’Connell war auf einer Mission – wie ein Soldat, der ein vermintes Gelände durchquert, oder ein Rettungsschwimmer, der in turbulente Gewässer taucht, hielt er weiter Kurs nach Norden, überquerte die Grenze nach Vermont, unaufhaltsam Ashley entgegen. Im Dunkeln tastete er mit den Fingern über die Bisswunden an seinem Handrücken und Unterarm. Das Blut aus der Wunde an der Wade hatte er mit einer Mullbinde aus dem billigen Verbandskasten im Handschuhfach stillen können. Er hatte wirklich verdammtes Glück gehabt, dass der Hund nicht seine Achillessehne zerfetzt hatte. Seine Jeans war zerrissen und wahrscheinlich blutverkrustet. Am Morgen musste er sich eine neue besorgen. Doch alles in allem war es ein großer Erfolg.
O’Connell griff nach oben und schaltete die Innenbeleuchtung ein. Er wusste, dass er keine anderthalb Stunden mehr von Ashley entfernt war, selbst für den Fall, dass er sich auf den Landstraßen zu Catherine Fraziers Haus einmal verfahren sollte. Er lächelte innerlich und hörte wieder Ashley nach sich rufen. Michael. Ich vermisse dich. Ich liebe dich. Komm und rette mich. Er kannte sie besser als sie sich selbst. Er öffnete das Fenster einen Spaltbreit und ließ frische Luft herein, um sich ein wenig abzukühlen. O’Connell wusste, dass es zwei Ashleys gab. Die eine war diejenige, die versucht hatte, ihn loszuwerden, die so wütend, so verängstigt und so ausweichend war. Diese Ashley gehörte zu Scott, Sally und dieser abartigen Hope. Bei dem Gedanken an sie runzelte er die Stirn. Ihre Beziehung war krankhaft, pervers, und er wusste, dass Ashley entschieden besser dran sein würde, wenn er sie befreit hatte. Die wahre Ashley war die Frau, die ihm am Tisch gegenübergesessen hatte, die mit ihm getrunken und über seine Witze gelacht hatte – atemberaubend, wie sie sich auf ihn eingelassen hatte. Die wahre Ashley hatte sich physisch und emotional viel tiefer mit ihm verbunden, als er je für möglich gehalten hatte. Die wahre Ashley hatte ihn, wenn auch nur kurz, in ihr Leben aufgenommen, und es war seine Pflicht, diesen Menschen wiederzufinden.
Er würde sie befreien. O’Connell wusste, dass die Ashley, die ihre Eltern und Stiefmutter für die echte Ashley hielten, nur ein Schatten ihrer selbst war. Die Studentin, Künstlerin und Museumsdrohne Ashley war eine Fiktion, eine Ausgeburt dieser liberalen Mittelschicht-Schmachtlappen, die nur einen Abklatsch von sich selbst haben wollten, damit sie einmal ein ähnlich albernes, unbedeutsames Leben führen würde wie sie. Die wahre Ashley wartete darauf, dass er wie der Märchenprinz kam und ihr eine andere Welt zeigte. Das war die Frau, die sich nach Abenteuer sehnte, nach einem Dasein im Grenzbereich: Bonnie und Clyde, eine Ashley, die er – jenseits der üblichen Regeln – an seiner Seite haben würde. Dass sie zögerte, ja, vor der Freiheit, die er ihr anbot, sogar zurückschreckte, war nicht weiter verwunderlich. Das aufregende Dasein, das er ihr brachte, muss sie zunächst ängstigen. Er musste es ihr zeigen. Michael O’Connell lächelte. Er war zuversichtlich. Es mochte nicht leicht werden. Wahrscheinlich würde es ein bisschen knifflig, doch früher oder später würden ihr die Augen geöffnet werden. Unter einer Aufwallung von Erregung gab O’Connell Vollgas, so dass der Wagen einen Satz nach vorne machte. In Sekundenschnelle war er auf die linke Spur
ausgeschert und holte alles aus dem Wagen heraus. Er wusste, dass ihn niemand aufhalten konnte. Nicht in dieser Nacht. Nicht mehr weit, dachte er, ganz bestimmt nicht mehr weit.
Hope hüllte ihre Trauer in die Schatten der Nacht. Auf dem Nachhauseweg hatte sie Sally fahren lassen. Hopes Schweigen schien bleich, gespenstisch, als wäre sie nicht ganz sie selbst. Sally besaß so viel Takt, schweigend am Lenkrad zu sitzen und Hope ihren Gedanken zu überlassen. Sie hatte ein wenig Schuldgefühle, dass es ihr nicht so schlecht ging, wie es eigentlich angebracht gewesen wäre. Doch sie bestürmten ganz andere Gedanken: So schrecklich der Verlust von Nameless auch sein mochte – sie beschäftigte vor allem, wie er gestorben war und was das zu bedeuten hatte. Sie hatte das dringende Bedürfnis, etwas zu unternehmen, während sie versuchte, sich einen Reim darauf zu machen, was an diesem Abend tatsächlich vorgefallen war. Auf ihrer Einfahrt kam der Wagen knirschend zum Stehen, und Sally sagte: »Es tut mir so leid, Hope. Ich weiß, was er dir bedeutet hat.« Hope hatte das Gefühl, als hörte sie seit Monaten die
ersten mitfühlenden Worte von ihrer Lebensgefährtin. Sie holte tief Luft, stand wortlos auf und lief über den Rasen, wobei sie das abgefallene Laub mit den Füßen aufwirbelte. Sie blieb an der Eingangstür stehen und nahm sich eine Sekunde, um sie zu untersuchen, bevor sie sich zu Sally umdrehte. »Hier ist er nicht rein«, stellte sie mit einem tiefen Seufzer fest. »Es sei denn, derjenige kann ein Schloss knacken, was vermutlich der Fall ist. Doch hier draußen hätte ihn irgendjemand, ein Nachbar oder Lieferant, gesehen.« Sally war jetzt bei ihr. »Hinterm Haus. Durch den Keller. Oder durch eins der Seitenfenster.« Hope nickte. »Ich schau hinten nach, sieh du dir die Fenster an, besonders drüben bei der Bibliothek.« Hope brauchte nicht lange, bis sie den zersplitterten Türrahmen gefunden hatte. Einen Moment lang stand sie nur da und starrte die Holzsplitter auf dem Zementboden an. »Sally, hier unten!« Eine einzige nackte Glühbirne an der Decke warf seltsame Schatten in die muffigen Ecken des alten Kellers. Hope erinnerte sich, dass Ashley in jüngeren Jahren immer Angst gehabt hatte, allein hinunterzugehen, um die Wäsche zu erledigen, als ob sich in den Ecken und Spinnweben Trolle oder Gespenster versteckten. Sie hatte bei diesen Gelegenheiten Nameless zur Verstärkung mitgenommen. Selbst noch als Teenager, als Ashley wusste, dass sie viel zu aufgeklärt war, um an
solchen Unsinn zu glauben, nahm sie alle ihre zu engen Jeans und die knapp geschnittene Unterwäsche, die ihre Mutter nicht sehen durfte, schnappte sich einen Hundekuchen und hielt Nameless die Kellertür auf. Das Tier trabte dann eifrig die Treppe hinunter und machte genügend Radau, um lauernde Dämonen zu verschrecken. Dann wartete er bereits auf Ashley, indem er dasaß und in freudiger Erwartung mit dem Schwanz Halbmonde auf den Kellerboden fegte. Als Sally die Treppe herunterkam, drehte Hope sich um. »Hier ist er eingebrochen.« Sally betrachtete die Splitter und nickte. Sie trat beiseite, und Hope ging an ihr vorbei. »Dann ist er die Treppe hoch. Wahrscheinlich hatte er eine von diesen Minitaschenlampen. Von da in die Küche.« »Da muss ihn Nameless gehört oder gerochen haben«, vermutete Sally. Hope holte Luft. »Nameless hat immer in der Eingangsdiele auf uns gewartet, also hat er auf Geräusche hinter sich reagiert und gewusst, dass es keiner von uns und auch nicht Ashley sein kann.« Hope sah sich in der Küche um. »Hier hat er gekämpft«, sagte sie leise.
Bis zuletzt, dachte sie. Sie sah den alten Hund vor sich, wie er die grauen Nackenhaare aufstellte und die Zähne fletschte. Sein Zuhause. Seine Familie. Niemand käme an ihm vorbei, auch wenn er schon sehr schwache Augen hatte und nur noch wenig hören konnte. Jedenfalls nicht, ohne dass er einen Preis dafür zahlte. Sie schluckte wieder ein paar Tränen herunter und hockte sich auf den Boden, um sich die Stelle genauer anzusehen. »Siehst du«, meinte sie nach einer Weile. »Genau hier.« Sally blickte nach unten. »Was ist das?« »Blut. Muss Blut sein. Und nicht das von Nameless.« »Du hast vermutlich recht«, sagte Sally. Und in mitfühlenderem Ton: »Braver Hund.« »Aber wonach hat dieser Einbrecher gesucht?« Diesmal schnappte Sally nach Luft. »Das war er«, erklärte sie ruhig. »Er? Du meinst …« »Der Mistkerl. O’Connell.« »Aber ich dachte … du hast doch gesagt, den wären wir los. Der Privatdetektiv hat dir doch gesagt …«
»Der Privatdetektiv, Murphy, wurde ermordet. Gestern.« Hope riss die Augen auf. »Ich wollte es dir sagen, als wir nach Hause kamen.« »Ermordet? Wie? Wo?« »Auf einer Straße in Springfield. Wie eine Hinrichtung, so ähnlich stand es in der Zeitung.« »Was zum Teufel soll man unter ›Hinrichtung‹ verstehen?«, fragte Hope mit erhobener Stimme. »Das soll heißen, jemand hat sich von hinten angeschlichen und ihm zwei kleinkalibrige Kugeln ins Gehirn gejagt.« Sally klang kalt, als sie hinter den Einzelheiten ihre Angst verbarg. »Du meinst, das war er? Wieso?« »Ich weiß nicht. Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen. Es gab eine Menge Leute, die Murphy hassten. Jeder von denen …« »Die andern interessieren uns nicht. Ich meine, glaubst du …« Hope starrte auf die Blutspritzer am Boden. »In Springfield könnte es demnach auch jemand anders gewesen sein, aber du meinst, dieser Einbruch hier war …«
»Wer sonst?« »Na ja, eben ein ganz gewöhnlicher Bruch. Wäre schließlich nicht das erste Mal in dieser Gegend.« »Es ist trotzdem ziemlich ungewöhnlich. Und selbst wenn es einen Einbruch gibt, sind es gewöhnlich nur Jugendliche. Das hier sieht mir nach was anderem aus. Kannst du feststellen, dass etwas gestohlen wurde?« »Nein.« »Wer könnte es sonst noch gewesen sein?« »Falls es O’Connell war, bedeutet das …« »Dass er wieder hinter Ashley her ist. Offensichtlich.« »Aber wieso hier?«, fragte Hope schließlich. Sally schauderte. »Er hat nach Informationen gesucht.« »Aber ich dachte, Scott hätte diese Geschichte erfunden und sie dem Mistkerl verkauft. Du weißt schon, Italien, das Stipendium, Kunst der Renaissance, längst über alle Berge.« Sally schüttelte den Kopf. »Wir wissen es nicht«, entgegnete sie kalt. »Wir haben keine Ahnung, was O’Connell weiß oder was er denkt oder was er erfahren
hat. Oder was er getan hat. Wir wissen nur, dass Murphy ermordet und Nameless erwürgt wurde. War es bei beiden derselbe? Wir tappen im Dunkeln.« Sie seufzte, ballte die Fäuste und schlug sich frustriert gegen die Stirn. »Wir können keine auch nur halbwegs sicheren Schlüsse ziehen.« Hope starrte auf den Boden und glaubte, neben der Tür zum Wohnzimmer ein, zwei weitere Blutstropfen entdeckt zu haben. »Sehen wir uns erst mal um und versuchen, seine Spur zu verfolgen.« Sally schloss die Augen und lehnte sich einen Moment mit dem Rücken an die Wand. Sie gab einen langen Stoßseufzer von sich. »Wenigstens gibt es hier nichts, was ihm verraten würde, wo sie ist. Darauf habe ich wirklich geachtet.« Sie öffnete die Augen und fuhr fort: »Und Nameless, weißt du, so wie er mit ihm gekämpft hat, das hat den Scheißkerl wahrscheinlich rechtzeitig in die Flucht geschlagen.« Hope nickte, auch wenn sie innerlich keineswegs so sicher war. »Sehen wir uns einfach um.« Ein anderer Blutspritzer fand sich im Flur zur kleinen Bibliothek und dem Fernsehzimmer. Hope suchte hier nach verräterischen Anzeichen dafür, dass O’Connell in diesem Raum gewesen war. Als ihr Blick
aufs Telefon fiel, schnappte sie nach Luft und machte einen Schritt nach vorn. »Sally«, sagte sie ruhig, »sieh mal.« Mehrere rote Flecken klebten am Telefon. »Aber das ist doch nur das Telefon …«, fing Sally an. Dann sah sie, dass die Nachrichtenanzeige rot blinkte. Sie drückte die Wiedergabetaste. Ashleys fröhliche Stimme erfüllte den Raum. »Hi Mom und hi Hope. Ich vermisse euch. Aber ich genieße es hier bei Catherine. Wir wollten essen gehen, und ich wollte nur wissen, ob ich in den nächsten Tagen mal kurz vorbeischauen kann. Catherine würde mir ihren Wagen leihen, wisst ihr, und ich könnte mir ein paar wärmere Sachen holen. Tagsüber ist es wunderschön in Vermont, aber nachts wird es ganz schön kalt, und ich brauche einen Parka und vielleicht auch Stiefel. Jedenfalls war das so eine Idee. Ich melde mich später wieder. Hab euch lieb.« »Oh mein Gott«, platzte Sally heraus. »Oh nein.« »Er weiß es«, sagte Hope. »Er weiß es mit Sicherheit.« Sally fuhr heftig zurück und wirbelte herum. Ihr Gesicht war völlig verzerrt, und vor Angst war ihr eiskalt. »Das ist nicht alles«, erklärte Hope leise. Sally folgte ihrem Blick zum Bücherregal. Das zweite Fach war voller
Familienfotoalben – von Hope und Sally, von Nameless und von ihnen allen mit Ashley. Darunter war auch eine anmutige Aufnahme von Ashley im Profil, beim Wandern in den Green Mountains, als gerade die Sonne untergeht – ein besonders glücklicher Schnappschuss. Das Bild gehörte zu ihren Lieblingsfotos, da es sie genau im Übergang vom Kind zur Erwachsenen, von der Zahnspange und knochigen Knien zu Grazie und Schönheit einfing. Das Bild stand normalerweise in der Mitte des Fachs. Es war nicht mehr da. Sally würgte und griff nach dem Telefon. Sie wählte Cathe rines Nummer und stand hilflos da, als es immer wieder klingelte, ohne dass jemand abnahm.
Scott hatte an diesem Abend beschlossen, zu einem der anderen nahe gelegenen Colleges zu fahren und sich den Vortrag eines Verfassungsrechtlers von Harvard anzuhören, der im Rah men einer Veranstaltungsreihe stattfand. Es war dabei um die Geschichte und Entwicklung des Rechts durch ordentliche Verfahren gegangen – eine wirklich lebendige Präsentation. Er fühlte sich geistig angeregt, und als er auf dem Nachhauseweg anhielt, um sich in einem chinesischen Restaurant Huhn mit
Eiernudeln, Beef und Erbsen zu besorgen, freute sich Scott darauf, den übrigen Abend allein mit seinen studentischen Referaten zu verbringen. Er merkte sich vor, im Lauf des Abends Ashley anzurufen, nur um zu sehen, ob alles in Ordnung war und ob er ihr Geld schicken sollte. Ihm war unbehaglich bei dem Gedanken, dass Catherine für sie aufkommen sollte. Er wollte eine angemessene finanzielle Übereinkunft treffen, zumal er nicht recht wusste, wie lange Ashley dort bleiben musste. Wahrscheinlich nicht mehr allzu lange. Dennoch wollte er nicht, dass sie Catherine zur Last fiel. Er wusste nicht, ob Catherine wohlhabend war. Sie waren sich nur ein, zwei Mal bei dankenswerterweise kurzen und überaus höflichen Gelegenheiten begegnet. Zumindest wusste er, dass sie Ashley gern hatte, ein eindeutiges Plus in seinen Augen. Das chinesische Essen fing gerade an, durch die Papiertüte zu tropfen, als er zur Tür hereinkam und das Telefon klingeln hörte. Er warf die Mahlzeit auf die Küchentheke und griff nach dem Hörer. »Ja? Hallo?«, fragte er knapp. »Scott, er ist hier gewesen, er hat Nameless getötet, und jetzt weiß er, wo Ashley ist, und ich kann sie am Telefon nicht erreichen.« Sallys Worte überschlugen sich.
»Sally, beruhige dich«, sagte er. »Eins nach dem anderen.« Er hörte seine eigene Stimme. Bedächtig. Vernünftig. Innerlich fühlte er dagegen, wie sich sein Herzschlag, sein Atem beschleunigte und sich alles um ihn zu drehen begann, als befände er sich im freien Fall aus einem düsteren, windgepeitschten Himmel.
Ashley und Catherine schlenderten, je einen Becher Kaffee in der Hand, durch Battleboro langsam Richtung Catherines Wagen und sahen sich unterwegs die Schaufensterauslagen an – von Künstlerbedarf über Haushaltswaren und Sportausrüstungen bis zu Büchern. Ashley fühlte sich an das College-Städtchen erinnert, in dem sie aufgewachsen war, ein Ort geprägt von den Jahreszeiten und einem gemächlichen Lebensrhythmus. In einer Stadt, die sich allergrößte Mühe gab, jedem Standpunkt gerecht zu werden, schien es keinen Grund zu geben, sich nicht heimisch oder gar bedroht zu fühlen. Von der Stadt hinaus aufs Land, wo Catherines Haus, abgeschieden von den Nachbarn, in die Hügel und Felder eingebettet lag, waren es mit dem Auto etwa zwanzig Minuten. Catherine ließ Ashley fahren, weil sie, wie sie sagte, nachts nicht mehr halb so gut sehen könne wie
früher einmal, auch wenn Ashley den Verdacht hegte, dass sie nur ihren Latte macchiato in Ruhe genießen wollte. Ashley freute sich, dass Catherine so freimütig über ein Gebrechen sprach. Denn Catherine hatte einen unerbittlichen Zug an sich. Sie ließ nicht zu, dass irgendeine der üblichen Altersbeschwerden sie bei irgendetwas, das sie tat, beeinträchtigte, solange sie nur ordentlich darüber wettern konnte. Unterwegs deutete Catherine auf die Straße vor ihnen. »Pass auf, dass du kein Reh erwischst. Schlecht für das Reh. Schlecht für den Wagen. Schlecht für uns.« Ashley ging folgsam mit dem Tempo herunter und warf einen Blick in den Rückspiegel. Sie sah, wie ein Scheinwerferpaar schnell näher kam. »Da scheint es jemand eilig zu haben.« Sie trat einmal kurz auf die Bremse, um sicherzustellen, dass der Wagen hinter ihnen ihre Rücklichter sah. »Du lieber Gott!«, platzte sie heraus. Der Wagen hinter ihnen war mit quietschenden Reifen unmittelbar bis knapp an ihre Stoßstange herangebraust. »Was zum Teufel soll das werden?«, brüllte Ashley. »Hey, hau ab!« »Ruhig bleiben«, sagte Catherine in kühlem Ton. Doch sie
hatte die Fingernägel in den Sitz gekrallt. »Lass das!«, rief Ashley, als der Fahrer hinter ihnen plötzlich das Fernlicht anmachte, so dass es viel zu hell in ihrem Wagen wurde. »Verdammt noch mal, was treibst du da?« Sie konnte nicht sehen, wer in dem Fahrzeug saß. Sie legte die Hände fest um das Lenkrad und fuhr weiter die einsame Landstraße entlang. »Lass ihn vorbei.« Catherine bemühte sich, die Panik zu unterdrücken. Sie versuchte, sich umzudrehen und hinter ihnen etwas zu erkennen, doch das Fernlicht blendete, und der Sitzgurt engte sie ein. »Fahr an der nächstbesten Stelle rechts ran. Gleich wird die Straße etwas breiter.« Sie versuchte, die Ruhe zu bewahren, während sie fieberhaft überlegte. Catherine kannte die Straßen in ihrer Gegend gut; sie versuchte, vorauszudenken und sich vorzustellen, wie viel Platz sie hatten. Ashley versuchte, schneller zu fahren, um etwas Abstand zu gewinnen, doch die Straße war zu schmal und kurvig. Das Auto hinter ihnen beschleunigte und blieb gleichauf. Sie drosselte erneut das Tempo. »Was zum Teufel will der von uns?«, schrie sie wieder. »Nicht anhalten«, sagte Catherine. »Egal, was du machst, halte ja nicht an. So ein Scheißkerl.«
»Und wenn er auffährt?«, fragte Ashley, nur um nicht laut zu schreien. »Tritt einfach genug auf die Bremse, damit er an uns vorbei muss. Falls er uns rammt, fahr weiter. Die Straße gabelt sich in anderthalb Kilometer nach rechts, da können wir drehen und in die Stadt zurückkehren. Auf dem Weg liegt die Feuerwehr, und vielleicht stoßen wir auch auf die Polizei.« Ashley brummte zustimmend. Catherine verschwieg Ashley, dass das nahe gelegene Brattleboro zwar eine Polizeibereitschaft rund um die Uhr haben mochte, die Gemeinde sich aber nach zehn Uhr abends auf die State Police oder Freiwillige verließ, die über Funk gerufen werden mussten. Sie wollte auf die Uhr sehen, wagte aber nicht, die Haltegriffe loszulassen. »Da vorne rechts!«, rief Catherine. Sie wusste, dass in etwa vierhundert Metern eine Parkbucht kam, die gerade groß genug war, dass ein Bus darauf wenden konnte. »Fahr dahin!« Ashley nickte und trat wieder aufs Gas. Das Fahrzeug hinter ihnen machte ebenfalls einen Satz und heftete sich an Ashley, als sie auf einen kleinen Schotterplatz neben der Straße fuhr. Sie versuchte, so plötzlich auszuschwenken, dass dem Fahrer hinter ihnen nichts anderes übrigblieb, als
vorbeizufahren. Aber es kam anders. Beide Frauen hörten das Kreischen der Bremsen und das Quietschen der Reifen auf Asphalt. »Halt dich fest!«, schrie Ashley. Beide wappneten sich für den Aufprall, und Ashley trat geräuschvoll auf die Bremse. Im Nu waren sie in eine Staubwolke gehüllt und hörten, wie der Schotter gegen ihr Chassis und in die angrenzenden Bäume prasselte. Als der Wagen über den lockeren Boden schlitterte, hielt sich Catherine eine Hand vors Gesicht, und Ashley presste sich gegen die Rücklehne. Ashley versuchte gegenzulenken, so wie sie es von ihrem Vater gelernt hatte, und die Kontrolle über das Fahrzeug zu gewinnen, bevor sie in die Böschung fuhr. Für einen Moment brach das Heck aus, doch Ashley warf das Steuer herum und fing es gerade noch ab. Sie sah auf und rechnete damit, den anderen Wagen vorbeirasen zu sehen, doch da war nichts. Ihr eigenes Fahrzeug kam schlingernd und stockend zum Stehen, und Ashley erwartete, während sie herumwirbelten, die Scheinwerfer und die Kollision. Catherine schlug auf dem Beifahrersitz gegen die Lehne und dann mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe, so
dass sie vor Schmerz aufstöhnte. »Halt dich fest!«, brüllte sie wieder und horchte auf das nächste Krachen. Doch stattdessen herrschte Stille.
Scott hörte das vergebliche Klingeln und wusste, dass niemand abnehmen würde. Als Erstes schärfte er sich ein, nicht allzu viel hineinzuinterpretieren, wenn niemand ans Telefon ging. Wahrscheinlich waren sie nur essen gegangen und noch nicht wieder zurück. Ashley war ein Nachtmensch, rief er sich ins Gedächtnis, und hatte Catherine vermutlich dazu verdonnert, mit ihr zu einer Spätvorstellung ins Kino zu gehen oder auf einen Drink in die Bar. Es gab Dutzende Gründe, weshalb sie noch unterwegs sein konnten. Nur keine Panik, wiederholte er für sich. Ohne einen vernünftigen Grund in Panik zu geraten nützte niemandem und würde nur Ashley irritieren, wenn sie sie schließlich erreichten. Und auch Catherine beunruhigen, da sie sich nicht gerne nachsagen ließ, einer Situation nicht gewachsen zu sein. Er holte tief Luft und rief seine Exfrau zurück. »Sally? Sie melden sich immer noch nicht.« »Ich glaube, sie ist in Gefahr, Scott. Das glaube ich wirklich.«
»Wieso? Wieso diesmal?« Bei Sally hatte sich eine perverse Gleichung im Kopf festgesetzt: toter Hund mal toter Detektiv geteilt durch zersplitterte Türpfosten mal das fehlende Foto hoch zwei – und die Rechnung geht auf … Stattdessen sagte sie nur: »Hör zu, es sind ein paar Dinge passiert. Ich kann dir das jetzt nicht alles erzählen, aber …« »Wieso nicht?«, fragte Scott so pedantisch, wie es nur ging. »Weil«, entgegnete Sally mit zusammengebissenen Zähnen, »jede Sekunde, die wir verlieren, sich als …« Sie brachte den Satz nicht zu Ende. Einen Moment lang schwiegen sie beide, und es taten sich Abgründe zwischen ihnen auf. »Hol mir mal Hope an den Apparat«, bat Scott überraschend. Sally wusste nicht, was sie sagen sollte. »Sie ist hier, aber …« »Gib sie mir einfach.« Er hörte Geräusche, als der Hörer von einer Hand zur anderen wechselte. Dann meldete sich Hope. »Scott?« »Ich komme auch nicht durch. Nicht mal zum Anrufbeantworter.«
»Sie hat keinen. Sie hält mehr davon, dass die Leute es noch mal versuchen.« »Glaubst du …« »Ja, allerdings.« »Sollten wir die Polizei holen?«, fragte Scott. Hope überlegte. »Das mache ich. Ich kenne die meisten Cops da oben, verdammt, mit ein paar von denen bin ich in dieselbe Klasse gegangen. Ich kann einen dazu bringen, raufzufahren und nach dem Rechten zu sehen.« »Geht das, ohne dass es zu viel Aufsehen macht?« »Ja, ich kann einfach sagen, dass ich meine Mutter nicht erreiche und sie schon älter ist. Die kennen sie alle, und es ist bestimmt kein Problem für sie.« »In Ordnung, tu das«, stimmte Scott zu, »und sag Sally, ich mach mich auf den Weg. Wenn du Catherine erreichst, sag ihr, dass ich komme. Aber ich brauche eine Wegbeschreibung.« Während Hope mit Scott sprach, sah sie, wie bleich Sally war und dass ihr die Hände zitterten. Noch nie hatte sie Sally derart in Panik gesehen, was Hope fast ebenso durcheinanderbrachte wie die Nacht, die sie von allen Seiten umschloss.
Catherine fand als Erste wieder Worte. »Alles in Ordnung, Ashley?« Ashley nickte, da ihre Lippen zu trocken waren und es ihr immer noch die Kehle zuschnürte und sie ihrer Stimme nicht traute. Immerhin merkte sie, wie ihr rasender Herzschlag sich normalisierte. »Mir fehlt nichts. Und dir?« »Kleiner Schlag auf den Kopf, weiter nichts.« »Sollen wir ins Krankenhaus?« »Nein, geht schon. Auch wenn ich mich offenbar von oben bis unten mit meinem Sechs-Dollar-Becher Kaffee begossen habe.« Catherine löste ihren Sicherheitsgurt und öffnete ihre Tür. »Ich brauche Luft«, erklärte sie in bemüht forschem Ton. Ashley schaltete den Motor aus. Auch sie trat in die Nacht. »Was ist passiert? Ich meine, was sollte das Ganze?« Catherine starrte die Straße zurück und wandte sich dann in die Richtung um, in die sie gefahren waren. »Hast du den Mistkerl vorbeifahren sehen?« »Nein.«
»Also, ich hab auch nicht gesehen, wo er abgeblieben ist. Wüsste zu gerne, wo er hin ist. Hoffentlich hat es ihn in die Bäume geschleudert oder über irgendeine Klippe.« Ashley schüttelte den Kopf. »Ich hab versucht, die Kontrolle zu behalten.« »Hast du auch verdammt gut hinbekommen«, sagte Cathe rine, die inzwischen wieder so normal sprechen konnte, dass es Ashley beruhigte. »Das war reif für die Formel Eins. Die Jungs haben dir nichts voraus, Ashley, wenn ich das so sagen darf. Ziemlich heikle Situation, absolut gemeistert. Wir sind immer noch da, und mein hübscher, beinahe neuer Wagen hat nicht einmal eine Schramme.« Auch wenn ihr nach wie vor die Angst in den Knochen steckte, musste Ashley schmunzeln. »Mein Vater hat mich früher nach Lime Rock in Connecticut mitgenommen und mit seinem alten Porsche die Rennstrecke für uns gebucht. Ich hab eine Menge von ihm gelernt.« »Na ja, vielleicht nicht gerade der klassische VaterTochter-Ausflug, aber immerhin etwas, das sich als nützlich erwiesen hat.« Ashley holte tief Luft. »Catherine, ist dir so etwas schon jemals zuvor passiert?« Die ältere Frau stand am Straßenrand und suchte das
Dunkel ab. »Nein, ich meine, es kann schon mal vorkommen, dass man eine von diesen schmalen, gewundenen Straßen entlangtuckert, und irgend so ein jugendlicher Hitzkopf wird ungeduldig und brettert auf gut Glück an einem vorbei. Aber der Kerl hier hatte was anderes im Sinn.« Sie stiegen wieder in den Wagen und schnallten sich an. Ashley zögerte, dann brach aus ihr heraus: »Ich frage mich, ob, du weißt schon, der Mistkerl, der mich verfolgt …« Catherine zuckte zurück. »Du meinst, der junge Mann, wegen dem du Boston verlassen hast …« »Ja, keine Ahnung.« Catherine schnaubte. »Ashley, Schätzchen, er weiß nicht, dass du hier bist, er weiß nicht, wo ich wohne, und es ist ziemlich schwer, uns am Ende der Welt zu finden. Außerdem glaube ich, wenn du jetzt nur noch durchs Leben gehst und über die Schulter siehst und alles, was irgendwie aus dem Rahmen fällt, diesem Mistkerl O’Connell zuschreibst oder wie der heißt, dann hast du nicht viel vom Leben.« Ashley nickte. Sie wollte sich gut zureden lassen, versuchte sich selbst Mut zu machen, doch die überzeugende Wirkung blieb aus. »Und außerdem behauptet der junge Mann, dass er dich
liebt, Ashley, Schätzchen. Liebt. Ich sehe beim besten Willen nicht, was das mit Liebe zu tun haben soll, wenn uns jemand von der Straße drängt.« Wieder schwieg Ashley, obwohl sie glaubte, die Antwort auf diese Frage zu kennen. Den Rest der Fahrt verbrachten sie weitgehend schweigend. Zu Catherines Haus führte eine lange Schottereinfahrt hinauf. In ihren vier Wänden war sie für sich, während sie außerhalb davon gern mit anderen zu tun hatte. Ashley starrte auf das dunkle Haus. Es stammte aus dem frühen achtzehnten Jahrhundert und war eine ehemalige Farm; Catherine witzelte gerne darüber, sie habe die Leitungen und die Küche erneuern lassen, aber nicht die Gespenster. Ashley starrte die weißen Holzschindelwände an und wünschte, sie hätten daran gedacht, drinnen ein paar Lampen anzulassen. Catherine dagegen war es gewöhnt, von der Dunkelheit begrüßt zu werden, und so stieg sie energisch aus dem Wagen. »Verflixt und zugenäht«, sagte sie plötzlich, »ich höre das Telefon klingeln.« Sie stöhnte laut vernehmlich und seufzte: »Ganz schön spät für Anrufe.« Sie ignorierte die Nacht, und im Vertrauen darauf, dass sie jede Unebenheit auf dem Weg zur Haustür kannte, stürmte
sie an Ashley vorbei. Catherine schloss grundsätzlich nicht ab, und so war sie augenblicklich im Haus, knipste das Licht an und hatte im Nu das alte Telefon mit Wählscheibe erreicht, das im Wohnzimmer stand. »Ja? Wer ist da?« »Mutter?« »Hope! Wie schön. Aber du rufst spät an.« »Mutter, ist bei euch alles in Ordnung?« »Ja, ja, wieso?« »Ist Ashley bei dir? Ist sie okay?« »Natürlich, Liebes. Sie ist hier neben mir. Was ist los?« »Er weiß Bescheid! Er kann schon auf dem Weg zu euch sein.« Catherine schnappte nach Luft, verlor aber nicht die Nerven. »Ganz ruhig, Liebes. Eins nach dem anderen.« Während sie dies sagte, drehte sie sich zu Ashley um, die wie erstarrt im Türrahmen verharrte. Hope wollte etwas sagen, doch Catherine hörte kaum zu. Zum ersten Mal stand Ashley die blanke Angst ins Gesicht geschrieben.
Scott holte alles aus seinem kleinen Wagen heraus, der spielend hundertsiebzig Stundenkilometer erreichte. Während er die Nacht mit ihren verschwommenen Schatten, den stattlichen Fichten und der schwarzen Hügelkette in der Ferne vorbeiziehen sah, hörte er den Motor des Porsche röhren. Die Strecke von Scotts zu Catherines Haus, für die man normalerweise rund zwei Stunden brauchte, wollte er in der Hälfte der Zeit schaffen. Er konnte nicht sagen, ob das schnell genug war. Er wusste nicht, was vor sich ging. Er wusste nicht, was O’Connell im Schilde führte und womit in dieser Nacht noch zu rechnen war. Ihm stand nur eine vage, monströse Gefahr unmittelbar vor Augen, und er war entschlossen, sich zwischen die Bedrohung und seine Tochter zu werfen. Unterwegs überwältigte ihn eine Flut an Bildern aus ihrer Vergangenheit, während er die Hände um das Lenkrad krallte. Ihn packte ein eisiges, lähmendes Gefühl, und er konnte sich nur schwer gegen den Eindruck wehren, dass er immer noch zu langsam fuhr und Sekunden zu spät kommen würde, um das Unglück zu verhindern. Und so trat er mit dem rechten Fuß aufs Gaspedal, ohne sich um irgendetwas zu scheren außer dem Bedürfnis, so schnell wie möglich voranzukommen.
Catherine legte auf und drehte sich zu Ashley um. Sie sprach leise, doch mit fester Stimme und überaus ruhig. Sie wählte ihre Worte mit Bedacht, so dass sie geradezu altertümlich wirkten. Die Konzentration auf das, was sie sagte, half ihr, die wachsende Panik zu bezwingen. Sie atmete langsam ein und rief sich ins Gedächtnis, dass sie zu einer Generation gehörte, die schon ganz andere Schlachten ausgefochten hatte und mit diesem O’Connell wohl fertig werden sollte. Und so legte sie die Entschlossenheit eines Roosevelt in ihre Worte. »Ashley, Schätzchen, es sieht so aus, als ob dieser junge Mann, der sich auf so unbekömmliche Weise zu dir hingezogen fühlt, herausgefunden hat, dass du nicht in Europa bist, sondern hier bei mir.« Ashley nickte, ohne ein Wort über die Lippen zu bringen. »Ich denke, es wird das Klügste sein, wenn du nach oben in dein Zimmer gehst und die Tür abschließt. Halte das Telefon bereit. Wie ich von Hope erfahre, ist dein Vater schon hierher unterwegs, und sie hat auch vor, die Sache der hiesigen Polizei zu melden.« Ashley machte einen Schritt Richtung Treppe, blieb dann aber stehen. »Catherine, was hast du vor? Vielleicht sollten wir schleunigst ins Auto zurück und nichts wie weg von hier.«
Catherine lächelte. »Also, mir erscheint es nicht sinnvoll, uns diesem Kerl noch einmal auf der Straße auszusetzen. Er hatte es, wie ich vermute, vorhin schon auf uns abgesehen. Nein, das hier ist mein Zuhause. Und deins. Falls der Kerl dir Böses will, dann stellen wir uns ihm am besten hier, auf vertrautem Terrain.« »In diesem Fall lasse ich dich nicht allein«, erklärte Ashley in einer Anwandlung aufgesetzter Zuversicht. »Dann bleiben wir eben beide hier sitzen und warten zusammen.« Catherine schüttelte den Kopf. »Ashley, Schätzchen, es ist wirklich lieb von dir, das anzubieten. Aber ich werde mich wesentlich wohler in meiner Haut fühlen, wenn ich hier warte und weiß, dass du dich oben eingeschlossen hast und außer Reichweite bist. Außerdem müsste die Polizei jeden Moment hier sein, also lass uns umsichtig und vernünftig sein. Vernünftig heißt im Moment, dass du bitte tust, worum ich dich gebeten habe.« Ashley wollte protestieren, doch Catherine winkte ab. »Ashley, lass mich mein Zuhause bitte so verteidigen, wie ich es für richtig halte.« Catherines unzweideutige Sprache verfehlte nicht ihre Wirkung. Ashley nickte. »In Ordnung. Ich warte oben. Aber wenn ich irgendetwas höre, das mir nicht gefällt, bin ich unten.« Sie hatte keine Ahnung, was sie mit irgendetwas,
das mir nicht gefällt, meinte. Catherine sah Ashley die Treppe hinaufhuschen. Sie blieb stehen, bis sie hörte, wie Ashley den altmodischen Schlüssel in ihrer Zimmertür drehte. Dann ging sie zu dem hölzernen Einbauschrank neben dem großen offenen Kamin. Hinter den gestapelten Scheiten klemmte in einem Lederfutteral die Schrotflinte ihres verstorbenen Mannes. Seit Jahren hatte sie sie nicht mehr hervorgeholt und ebenso lange nicht mehr gereinigt; sie war auch keineswegs sicher, dass das halbe Dutzend Patronen, die lose am Boden des Kastens rollten, noch abgefeuert werden konnten. Die Chancen, schätzte Catherine, standen eins zu eins, dass die Waffe, wenn sie einen Schuss abgab, in ihren Händen explodierte. Trotzdem war es eine große, einschüchternde Flinte mit einem gähnenden Loch am Ende des Laufs, und Catherine hoffte, das reichte. Sie nahm das Gewehr heraus und ließ sich schwer in einen Ohrensessel neben dem Kamin fallen. Sie legte alle sechs Patronen ein, spannte den Hahn und wartete, die Waffe quer über dem Schoß. Das Gewehr war ölig, und als sie sich die Finger an der Hose abwischte, hinterließen sie schwarze Striemen. Auch wenn sie nicht viel von Waffen verstand, wusste sie zumindest, wie man eine Flinte entsicherte. Als Catherine draußen unmittelbar hinter den Fenstern die ersten Geräusche hörte, die sich der Haustür näherten,
legte sie die Hand auf den Kolben.
Sie starrte weiter aus dem Fenster, und ich konnte mir vorstellen, dass sie dem einen oder anderen Gedanken nachhing, als sie sich abrupt wieder zu mir umdrehte und fragte: »Haben Sie sich schon mal vorstellen können, dass Sie in der Lage wären, jemanden zu töten?« Als ich nicht gleich etwas entgegnete, schüttelte sie den Kopf. »Keine Antwort ist auch eine Antwort. Vielleicht fällt Ihnen eher etwas auf die Frage ein, wie wir den Tod romantisieren.« »Ich verstehe nicht ganz, worauf Sie hinauswollen«, sagte ich vorsichtig. »Überlegen Sie mal, wie vielfältig wir uns in Formen von Gewalt ausdrücken. Im Fernsehen, im Kino. Videospiele für Kinder. Denken Sie an all die Studien, wonach das durchschnittliche Kind – wie viele Tode zu sehen bekommt? Viele tausend. In der Realität aber stellen wir fest, dass wir ziemlich hilflos reagieren, wenn wir uns tatsächlich einer lebensbedrohlichen Aggression gegenübersehen.« Ich ließ ihr Zeit, vom Fenster
wegzutreten und durchs Zimmer zu mir zu zurückzukommen, um wieder stumm ihren Platz einzunehmen. »Wir reden uns ein«, sagte sie nach einer Weile, »im Moment der größten Gefahr wüssten wir genau, was wir zu tun haben. In Wahrheit ist es ganz anders. Wir machen Fehler. Wir schätzen eine Situation falsch ein. Unsere sämtlichen Schwächen überwältigen uns auf einmal. Wir bringen nicht fertig, wozu wir uns für fähig gehalten hatten. Es übersteigt unsere Kräfte.« »Und Ashley?« Sie schüttelte den Kopf. »Schon mal daran gedacht, wie Angst uns lähmen kann?«
30 Eine Unterhaltung über die Liebe
Catherine holte ein einziges Mal tief Luft und setzte die Flinte an die Schulter, während sie auf Geräusche von draußen horchte. Sie zählte im Stillen die Schritte. Vom Fenster bis zur Hausecke, an den in Reih und Glied
aufgestellten Blumentöpfen vorbei bis zur Tür. Er wird es zuerst mit der Haustür versuchen, sagte sie sich. Auch wenn sich ihre Zunge geschwollen anfühlte, rief sie heiser: »Kommen Sie nur herein, Mr. O’Connell.« Sie brauchte nicht hinzuzufügen: Ich habe Sie schon erwartet. Einen Moment lang herrschte Stille, und Catherine horchte auf ihren eigenen schweren Atem, den ihr rasender Herzschlag beinahe übertönte. Sie hielt das Gewehr weiterhin in Anschlag und versuchte, sich zu beruhigen, während sie auf die Haustür zielte. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie auf irgendetwas geschossen. Nicht einmal zur Übung hatte sie je eine Waffe abgefeuert. Sie war in einem Arzthaushalt groß geworden. Hopes Vater dagegen hatte seine Kindheit auf einer Farm verbracht und als Unteroffizier bei der Marineinfanterie im Korea-Krieg gedient. Nicht zum ersten Mal wünschte sie sich, er wäre jetzt an ihrer Seite. Nach ein, zwei Sekunden hörte sie, wie die Haustür aufging und jemand in die Diele trat. »Hier drinnen, Mr. O’Connell«, brachte sie mit rauer Stimme heraus. Mit festem Schritt kam O’Connell um die Ecke und stand in der Tür. Catherine zielte augenblicklich auf ihn, genau auf die Brust.
»Hände hoch!« Ihr fiel nichts anderes ein. »Und rühren Sie sich nicht von der Stelle.« Michael O’Connell stand weder still, noch hob er die Hände. Stattdessen trat er ein Stück vor und deutete auf die Waffe. »Sie wollen auf mich schießen?« »Wenn Sie mich zwingen.« »Und was«, fing er an, während er den Blick durchs Zimmer schweifen ließ, als wollte er sich jeden Gegenstand, jede Farbe, jede Form, jeden Winkel einprägen, »was würde Sie dazu zwingen?« Er sagte das, als wäre es ein Scherz. »Ich denke, die Antwort wollen Sie nicht wirklich hören«, erwiderte sie schlagfertig. O’Connell schüttelte den Kopf, als verstünde er zwar, sei aber anderer Meinung. »Nein«, entgegnete er und kam noch ein Stückchen weiter heran, »genau das muss ich wissen.« Er lächelte. »Werden Sie schießen, wenn ich etwas sage, das Ihnen nicht gefällt? Wenn ich nicht stehenbleibe? Wenn ich näher komme? Oder wenn ich zurücktrete? Was bringt Sie dazu, abzudrücken?« »Sie wollen es wissen, ja? Meinetwegen, finden Sie’s raus.«
O’Connell machte wieder einen Schritt auf sie zu. »Das reicht. Und die Hände hoch, wenn ich bitten darf.« Catherine brachte die Worte so ruhig heraus, wie sie konnte, und hoffte, dass sie entschlossen klangen. Doch ihre Stimme war flach und dünn. Vielleicht auch zum ersten Mal wirklich alt. O’Connell schien die Entfernung zwischen ihnen abzuschätzen. »Catherine, richtig? Catherine Frazier. Sie sind Hopes Mutter, nicht wahr?« Sie nickte. »Darf ich Sie Catherine nennen? Oder hätten Sie’s lieber förmlich? Ich möchte nicht unhöflich sein.« »Sie können mich nennen, wie Sie wollen, denn Sie werden nicht lange bleiben.« »Na ja, Catherine …« »Nein, ich hab’s mir anders überlegt, ich ziehe Mrs. Frazier vor.« Er nickte wieder mit einem Gesicht, als hätte sie einen Witz gemacht.
»Nun ja, Mrs. Frazier, ich hab auch nicht vor, lange zu bleiben. Ich möchte nur mit Ashley sprechen.« »Sie ist nicht da.« Er schüttelte den Kopf und grinste. »Mrs. Frazier, Sie stammen bestimmt aus gutem Hause und haben später Ihrer eigenen Tochter beigebracht, dass es unrecht ist zu lügen, besonders einem Menschen direkt ins Gesicht. Das macht den anderen wütend. Und wer wütend ist, nun ja, der tut schreckliche Dinge, nicht wahr?« Catherine zielte weiter auf O’Connell. Sie strengte sich an, ihren Atem in den Griff zu bekommen, und schluckte. »Sind Sie zu schrecklichen Dingen fähig, Mr. O’Connell? Denn in diesem Fall sollte ich am besten gleich jetzt auf Sie schießen und den Abend traurig enden lassen. Traurig für Sie.« Catherine wusste nicht, ob sie nur bluffte. Sie konzentrierte sich mit aller Macht auf den Mann vor ihren Augen und war kaum in der Lage, etwas anderes als ihn und die kurze Entfernung, die sie beide trennte, zu sehen. Sie merkte, wie ihr der Schweiß die Arme herunterlief, und fragte sich, wieso O’Connell eigentlich nicht nervös war. Er schien gegen den Anblick einer Waffe immun zu sein. Sie hatte das irritierende Gefühl, dass er sich amüsierte.
»Wozu ich in der Lage bin und wozu Sie – das sind interessante Fragen, nicht wahr, Mrs. Frazier?« Catherine holte Luft und kniff die Augen zusammen, als zielte sie. O’Connell schlenderte unbeeindruckt durchs Zimmer und machte sich mit seinem Zuschnitt vertraut. »Faszinierende Fragen, Mr. O’Connell. Aber jetzt wird es Zeit für Sie zu gehen. Solange Sie noch am Leben sind. Gehen Sie und kommen Sie nie wieder. Und vor allem, lassen Sie Ashley in Ruhe.« Auch wenn O’Connell grinste, entging Catherine nicht, wie er seine Umgebung inspizierte. Sie sah, dass sich hinter seinem Grinsen etwas derart Düsteres, Beunruhigendes verbarg, dass sie sich keine Vorstellung davon machen konnte. Als er das Wort ergriff, sprach er mit gedämpfter Stimme. »Sie ist ganz nahe, nicht wahr? Ich merke das. Sie ist hier ganz in der Nähe.« Catherine sagte nichts. »Ich glaube, Mrs. Frazier, Sie haben etwas nicht begriffen.« »Und das wäre?« »Ich liebe Ashley. Sie und ich sind füreinander geschaffen.«
»Sie irren, Mr. O’Connell.« »Wir sind ein Paar. Wir passen zueinander, wie Topf und Deckel, Mrs. Frazier.« »Ich glaube nicht, Mr. O’Connell.« »Ich werde tun, was nötig ist, Mrs. Frazier.« »Das glaube ich Ihnen. Dasselbe gilt für andere.« Das war das Mutigste, zu dem sie sich in diesem Moment aufschwingen konnte. Er schwieg und musterte sie von oben bis unten. Sie nahm an, dass er kräftig, muskulös und geschmeidig war. Wahrscheinlich war er so schnell wie Hope, nur sehr viel stärker. Falls er es darauf anlegte und die wenigen Schritte wagte, die ihn von ihr trennten, wäre es eine Sache von Sekunden. Sie saß, sie war wehrlos – einzig die uralte Schrotflinte konnte ihn davon abhalten zu tun, wozu er gekommen war. Mit einem Schlag fühlte sie sich schrecklich alt, als trübte sich ihre Sehkraft, als hörte sie nur noch schwer und könne sich nur noch langsam bewegen. Er schien mit einer einzigen Ausnahme in jeder Hinsicht im Vorteil zu sein. Und dabei hatte sie keine Ahnung, ob er – unter der Jacke oder in der Hosentasche eine Waffe bei sich trug. Eine Pistole? Ein Messer? Sie keuchte.
»Ich glaube, dass Sie nicht begreifen, Mrs. Frazier. Ich werde Ashley immer lieben. Und die Vorstellung, dass Sie oder ihre Eltern oder sonst irgendjemand mich von ihr fernhalten könnte, ist ziemlich lachhaft.« »Nicht an diesem Abend, nicht in meinem Haus. Heute Abend werden Sie sich schön umdrehen und gehen. Andernfalls werden Sie dank meiner Schrotflinte hier mit den Füßen zuerst hinausgetragen.« Er schwieg wieder und grinste. »Eine alte Vogelflinte. Mit so kleinkalibriger Munition, dass sie kaum mehr anrichtet als ein Luftgewehr.« »Möchten Sie’s ausprobieren?« »Nein«, erwiderte er langsam. »Ich glaube nicht.« Sie sagte nichts, während O’Connell intensiv über etwas nachzudenken schien. »Verraten Sie mir doch bitte eins, Mrs. Frazier, wenn wir uns schon mal so nett unterhalten: Wieso glauben Sie eigentlich, dass ich für Ashley nicht der Richtige bin? Sehe ich nicht gut genug aus? Bin ich nicht intelligent genug? Wieso sollte ich sie nicht lieben dürfen? Was wissen Sie denn schon über mich? Wer würde sie Ihrer Meinung nach wohl mehr lieben als ich? Könnte es nicht sein, dass ich das Beste bin, das ihr je passiert ist?«
»Das bezweifle ich, Mr. O’Connell.« »Glauben Sie nicht an Liebe auf den ersten Blick, Mrs. Frazier? Wieso ist für Sie eine Liebe akzeptabel und die andere nicht?« Dies traf sie an einem neuralgischen Punkt, doch sie hielt den Mund. O’Connell zögerte, dann straffte er sich. »Ashley!«, brüllte er. »Ashley! Ich weiß, dass du mich hören kannst. Ich liebe dich! Ich werde dich immer lieben! Ich werde immer für dich da sein!« Seine Worte hallten durchs Haus. O’Connell wandte sich wieder Catherine zu. »Haben Sie die Polizei gerufen, Mrs. Frazier?« Sie antwortete nicht. »Ich denke, schon«, sagte er ruhig. »Aber welches Gesetz habe ich hier heute Abend eigentlich übertreten? Ich will es Ihnen sagen: keins.« Er wies auf die Flinte. »Was nicht alle von sich sagen können.« Sie packte den Kolben fester und drückte den Finger an
den Abzug. Ja nicht zögern, schärfte sie sich ein. Ja keine Panik. Plötzlich schien die vertraute Welt ihres Heims, ihres Wohnzimmers, inmitten ihrer Andenken und Bilder, ihr fremd zu sein. Sie wollte etwas sagen, das sie irgendwie an die Normalität erinnerte. Schieß!, brüllte eine Stimme tief in ihrem Innern. Erschieß ihn, bevor er euch alle
umbringt! In dieser Sekunde der Unentschlossenheit flüsterte O’Connell: »Gar nicht so leicht, jemanden zu töten, nicht wahr? Es ist eine Sache zu sagen: ›Stehenbleiben, oder ich schieße‹, und eine ganz andere, es auch wirklich zu tun. Denken Sie mal drüber nach. Schönen Abend noch, Mrs. Frazier. Wir sehen uns wieder. Ich komme zurück.«
Erschieß ihn! Erschieß ihn! Töte ihn jetzt! Während sie noch versuchte, die Stimme in ihrem Kopf zu verstehen, drehte O’Connell sich um und war atemberaubend schnell aus ihrem Gesichtskreis verschwunden. Sie schnappte nach Luft. Wie ein Gespenst. Eben noch stand er vor ihr, dann war er weg. Sie hörte seine Schritte auf den Holzdielen im Flur, dann das Öffnen und Zuschlagen der Eingangstür. Catherine atmete langsam aus und sackte auf dem Sessel zurück. Ihre Finger schienen an der Flinte festgeschweißt, und es kostete sie einige Willenskraft, sie zu lösen. Langsam ließ sie die Waffe sinken. Sie fühlte sich plötzlich so müde und erschöpft wie seit Jahren nicht mehr. Ihr
zitterten die Hände, ihr stiegen die Tränen in die Augen, und sie hatte Mühe, genügend Luft in die Lungen zu bekommen. Sie entsann sich eines ähnlichen Moments vor vielen Jahren im Krankenhaus, als ihr die Hand ihres Mannes entglitt und er, einfach so, dahinging. Sie hatte dasselbe Gefühl der Hilflosigkeit wie damals. Sie wollte Ashley rufen, brachte aber keinen Ton heraus. Sie wollte aufstehen und die Haustür abschließen, doch sie war wie erstarrt. Wir haben keine Chance. Catherine blieb einige Minuten im Sessel sitzen – sie hätte nicht sagen können, wie lange. Sie regte sich erst wieder und hatte sich halbwegs unter Kontrolle, als blinkende rotblaue Lichter den Raum erfüllten.
Wie Stromstöße durchzuckten Ashley die Gedanken. Sie hatte hinter der verschlossenen Schlafzimmertür gekauert und gehört, dass Catherine und O’Connell miteinander redeten, auch wenn sie nicht verstehen konnte, was. Nur die Worte, die O’Connell gerufen hatte, waren ihr wie Speere ins Bewusstsein gedrungen, und sie war vor Angst wie erstarrt. Als sie die Haustür zuschlagen hörte, blieb sie auf dem Boden hinter dem Bett hocken, ein Kissen an die Brust gedrückt, das Gesicht darin vergraben, um nichts zu hören, nichts zu sehen und am besten nicht
einmal zu atmen. An der Stelle, an der sie mit den Zähnen ins Kissen gebissen hatte, um nicht zu schreien, war es feucht. Sie merkte, wie ihr Tränen über die Wangen liefen, und sie hatte entsetzliche Angst. Die Angst wiederum machte ihr Angst. Sie schämte sich dafür, dass sie Catherine mit Michael O’Connell allein gelassen hatte, auch wenn die Ältere darauf bestanden hatte. Die Frage Wieso kann er mich nicht endlich in Ruhe lassen? hatte sie lange hinter sich gelassen, und sie wusste, dass sie sich in einer viel hoffnungsloseren Lage befand, als sie sich je hatte träumen lassen. »Ashley!« Catherines Stimme drang durch die Wand und ihre Ängste. »Ja …«, würgte sie zur Antwort hervor. »Die Polizei ist da. Du kannst runterkommen.« Als sie das Zimmer verließ und vom obersten Treppenabsatz hinunterschaute, sah sie Catherine bei einem Polizisten in mittlerem Alter mit Smokey-the-BearHut. Er hatte Notizblock und Stift in der Hand und schüttelte den Kopf. »Ich verstehe, Mrs. Frazier.« Der Beamte sprach ein wenig schwerfällig, und Ashley sah deutlich die Frustration in Catherines Gesicht. »Aber ich kann nicht eine detaillierte Meldung über jemanden machen, den Sie selbst in Ihr Haus
eingeladen haben, nur weil er eine zwanghafte Zuneigung zu Miss Freeman hegt … Guten Abend, Miss Freeman, wenn Sie vielleicht runterkommen könnten …« Ashley folgte seiner Bitte. »Also, hat der Kerl Sie geschlagen oder bedroht?« Catherine schnaubte. »Jedes Wort von diesem Mann war eine Drohung, Sergeant Connors. Nicht einmal so sehr durch das, was er gesagt hat, sondern wie.« Der Polizist wandte sich an Ashley. »Sie waren oben, Miss? Demnach können Sie nichts bezeugen?« Ashley nickte. »Abgesehen davon, dass er hier war, hat er Ihnen demnach nichts getan, nicht wahr, Miss?« »Nein«, sagte Ashley. Es klang hilflos. Er schüttelte den Kopf und klappte den Notizblock zu, als er sich wieder an Catherine wandte. »Sie hätten sagen müssen, Mrs. Frazier, er hätte Sie geschlagen und Sie in Todesangst versetzt. Es hätte irgendeinen physischen Kontakt geben müssen. Dann hätten wir etwas in der Hand. Sie hätten sagen können, er hätte eine Waffe gezückt. Wenigstens, dass er das Haus unbefugt betreten hat. Aber wir können schlecht jemanden verhaften, bloß weil er Ihnen
sagt, dass er Miss Freeman liebt.« Der Beamte grinste und versuchte, einen kleinen Scherz zu machen. »Ich meine, ich möchte wetten, dass jeder Junge sich in Miss Freeman verliebt.« Catherine stampfte mit dem Fuß auf. »Das hat doch alles keinen Sinn. Wollen Sie damit sagen, es gibt nichts, was Sie für uns tun können?« »Nicht, bis wir uns sicher sein können, dass eine kriminelle Handlung stattgefunden hat.« »Was ist mit Stalking? Das ist eine kriminelle Handlung!« »Ja, aber das hat hier heute Abend nicht stattgefunden, oder? Wenn Sie allerdings beweisen können, dass es ein solches Handlungsmuster gibt, dann sollten Sie Miss Freeman überreden, zu einem Richter zu gehen und eine einstweilige Verfügung zu erwirken. Das bedeutet dann, dass wir den Kerl, wenn er sich ihr auf unter hundert Meter nähert, festnehmen können. Wir hätten Munition, um es mal so zu sagen. Ansonsten …« Er sah Ashley an. »Sie haben keine solche Verfügung, zum Beispiel in Boston, wo Sie leben?« Sie schüttelte den Kopf.
»Na ja, Sie sollten drüber nachdenken. Natürlich …« »Natürlich was?«, hakte Catherine nach. »Na ja, ich will ja nicht spekulieren …« »Was?« »Sie müssen auf der Hut sein. Schließlich wollen Sie ihn nicht zu irgendwelchen Kurzschlusshandlungen provozieren. Manch mal kann eine Verfügung mehr Schaden anrichten, als sie Gutes bewirkt. Wenden Sie sich am besten an einen Fachmann, Miss Freeman.« »Wir wenden uns doch gerade an Fachleute!«, fiel ihm Catherine ins Wort. »Gehört das hier nicht zu Ihrem Beruf?« »Ich dachte mehr an jemanden, der sich in diesen Familienangelegenheiten auskennt.« Catherine schüttelte den Kopf, war aber klug genug, nichts zu entgegnen. Es wäre nur von Nachteil gewesen, einen örtlichen Polizisten zu beleidigen. »Falls er wiederkommt, Mrs. Frazier, rufen Sie die Nebenstelle an, und ich schicke Ihnen jemanden vorbei. Tag und Nacht. Das ist das Mindeste, was wir tun können. Wenn er weiß, dass ein Cop nach dem Rechten schaut,
wird er sich nicht viel herausnehmen. Das ist auch schon alles, was ich Ihnen anbieten kann.« Der Mann steckte mit einer übertriebenen Geste den Stift und den Notizblock in die Hemdtasche, machte kehrt und ging zur Tür. Er blieb noch einmal stehen, und Ashley hatte den Eindruck, als wäre er ein wenig verlegen. »Uns sind sozusagen die Hände gebunden«, erklärte er. »Ich werde über diesen Einsatz einen Bericht schreiben, nur für den Fall, dass Sie sich wegen einer Verfügung an einen Richter wenden.« Catherine schnaubte nur noch einmal verächtlich. »Na, wenn das nicht beruhigend ist«, sagte sie wütend. »Dann haben wir ja nichts mehr zu fürchten. Das ist genauso, als würden Sie sagen, das ganze Haus müsste erst abgebrannt sein, bevor wir die Feuerwehr rufen dürfen.« »Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen, wirklich, Mrs. Frazier, und ich weiß, dass diese Dinge heikel sind. Aber wie gesagt, rufen Sie uns an, wenn er sich wieder blicken lässt. Wir kommen sofort raus.« Plötzlich hob der Polizist den Kopf und horchte. »Du liebe Güte«, meinte er. »Da hat’s aber jemand mächtig eilig.« Catherine und Ashley neigten sich ein wenig vor und lauschten auf das ferne Geräusch eines aufheulenden
Motors. Ashley erkannte es sofort wieder. Während sie dastanden, kam es näher, wurde lauter, und sie alle sahen, wie die Scheinwerfer durch die Baumgruppen unweit des Hauses blitzten. »Das ist mein Vater«, sagte Ashley. Sie hätte wenigstens so etwas wie Erleichterung empfinden müssen und ein Gefühl der Sicherheit, da er wissen würde, was sie am besten tun sollten. Doch diese Gefühle stellten sich nicht ein.
»Ich widme mich ausgiebig dem Studium der Angst«, erklärte sie. »Die physiologischen Reaktionen. Der psychische Stress. Ich habe psychiatrische Lehrbücher und soziologische Abhandlungen gelesen. Ich lese Bücher darüber, wie Menschen auf die unterschiedlichsten schwierigen Situationen reagieren. Ich mache mir Notizen, gehe zu Vorträgen, was sich gerade bietet, um das Ganze besser zu verstehen.« Wieder wandte sie sich ab und starrte aus dem Fenster auf die harmlose Vorstadtumgebung hinter der Scheibe. »Das hier hat eigentlich nicht viel von einer Klinik«, sagte
ich. »Es wirkt alles so ruhig und friedlich.« Sie schüttelte den Kopf. »Alles Illusion. Die Angst nimmt an verschiedenen Orten unterschiedliche Formen an. Es hängt alles daran, was wir – im Unterschied zu dem, was dann wirklich passiert – für die nächsten Sekunden befürchten.« »Und Michael O’Connell?« Ein bitteres Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Haben Sie sich schon mal gefragt, wie es kommt, dass manche Menschen einfach instinktiv wissen, wie man Angst und Schrecken verbreitet? Der Auftragskiller. Der sexuelle Psychopath. Der religiöse Fanatiker. Die haben das sozusagen im Blut. Er gehörte zu dieser Kategorie. Es kommt mir so vor, als hingen diese Leute weniger am Leben als zum Beispiel Ashley und ihre Familie. Die normalen emotionalen Bindungen und Hemmungen, die für uns alle selbstverständlich sind, waren bei O’Connell nicht vorhanden. Er hatte sie durch etwas wirklich Irritierendes ersetzt.« »Nämlich?« »Er liebte das, was er war.«
30 Flucht vor dem Unsichtbaren
Catherine stand draußen und starrte in den sternenübersäten mitternächtlichen Himmel. Es war so kalt, dass sie ihren Atem sehen konnte, doch sie fröstelte weit mehr von dem, was geschehen war. Wenn sie einen Ort auf der Welt für sicher gehalten hatte, dann ihr eigenes Zuhause, auf einem Grund und Boden, den sie seit so vielen Jahren in guten wie in schlechten Zeiten bewohnte und auf dem sie jeden Baum, jeden Strauch kannte und wo tausend Erinnerungen erwachten, wenn die Dachrinnen unter einer Brise schepperten. Hier hatte sie Wurzeln geschlagen. Doch in dieser Nacht war die Sicherheit ihres Hauses in dem Moment untergraben, als sie O’Connell sagen hörte: Ich komme zurück. Catherine wandte sich zum Haus um. Plötzlich schien es ihr zu kalt, um draußen stehenzubleiben und zu überlegen, was sie machen sollte, was sie ein wenig überraschte. Sie hatte schon oft und zu allen Jahreszeiten so unter dem Himmel von Vermont gestanden und über die unterschiedlichsten Fragen nachgedacht. Doch in dieser Nacht brachte der schwarze Himmel keine Klarheit, sondern nur eisige Kälte, die ihr den Rücken hinunterkroch, so dass sie zitterte. Ihr kam der schreckliche Gedanke, dass Michael O’Connell den Frost gar nicht bemerkte. Seine Obsession hielt ihn
warm. Sie betrachtete die Baumreihe an der Grundstücksgrenze und darüber hinaus über das flache Gelände neben ihrem Haus, wo ihr Mann mit einem geliehenen Traktor ein Stück eingeebnet hatte, um darauf Sportrasen einzusäen und zwei Torpfosten zu setzen – alles als Geschenk zu Hopes elftem Geburtstag. Gewöhnlich rief der Anblick des Minispielfelds viele glückliche Erinnerungen wach, die Catherine tröstlich fand. In dieser Nacht jedoch wanderte ihr Blick an den verblichenen weißen Pfosten vorbei. Sie stellte sich vor, dass O’Connell irgendwo dort draußen lauerte und sie aus sicherer Entfernung beobachtete. Catherine biss die Zähne zusammen und ging wieder ins Haus, nachdem sie an der Tür noch einmal stehengeblieben war und in einer eindeutig obszönen Geste die Hand gehoben hatte. Für alle Fälle, dachte sie. Es war längst nach Mitternacht, doch sie hatten noch eine Menge zu packen. Ihre eigene Tasche war fertig, doch Ashley, die immer noch vollkommen fertig war, brauchte länger. Scott saß, die alte Schrotflinte neben sich auf dem Tisch, in der Küche und trank schwarzen Kaffee. Er strich mit dem Finger den Lauf entlang und dachte, dass sie weitaus besser dran wären, wenn Catherine einfach abgedrückt hätte. Sie hätten sich für den Rest der Nacht mit der örtlichen Polizei und einem Coroner herumschlagen
müssen und Catherine einen Anwalt besorgt, obwohl sie vermutlich nicht einmal festgenommen worden wäre. Wenn sie den Bastard einfach erschossen hätte, als er durch die Tür kam, stellte er sich vor, dann wäre kurz danach er eingetroffen und hätte geholfen, die Dinge in Ordnung zu bringen. Binnen Tagen hätten sie wieder ein normales Leben führen können. Er hörte, wie Catherine zur Haustür herein und in die Küche kam. »Ich denke, ich leiste dir Gesellschaft«, erklärte sie und goss sich selbst eine Tasse ein. »Es wird eine lange Nacht«, sagte Scott. »Ist es schon.« »Ist Ashley so weit?« »Braucht noch eine Minute«, meinte Catherine. »Sie packt nur das Nötigste.« »Sie ist ganz schön mitgenommen.« Catherine nickte. »Das kannst du ihr nicht verübeln. Ich bin auch noch ganz schön durcheinander.« »Du überspielst es besser.«
»Hab mehr Erfahrung.« »Ich wünschte …«, begann er, brachte den Satz aber nicht zu Ende. Catherine verzog den Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen. »Ich weiß, was du dir wünschst.« »Ich wünschte, du hättest ihn geradewegs zur Hölle geschickt.« Sie nickte. »Ich auch. Im Nachhinein.« Keiner von beiden sprach aus, was sie beide dachten: O’Connell vor der Mündung einer Schusswaffe zu haben war eine Gelegenheit gewesen, wie sie sich wahrscheinlich kein zweites Mal bieten würde. So schnell ihm der Gedanke kam, so schnell verbannte Scott ihn aus seinem Kopf. Der aufgeklärte, rationale Mensch in ihm erklärte entschieden, dass Gewalt nie die Antwort sein konnte. Doch ebenso schnell stellte sich die Gegenfrage ein: Wieso eigentlich nicht? Ashley kam und blieb im Türrahmen stehen. »Also«, sagte sie. »Ich bin so weit.« Sie starrte ihren Vater und Catherine an. »Seid ihr sicher, dass es das Beste ist, wegzufahren?«
»Wir sind hier draußen ziemlich isoliert, Schätzchen«, erwiderte Catherine behutsam. »Und es ist wirklich nicht leicht, vorherzusagen, was Mr. O’Connell als Nächstes tut.« »Es ist nicht fair«, meinte Ashley. »Catherine und mir gegenüber, und auch allen anderen gegenüber.« »Ich denke, es geht hier längst nicht mehr um Fairness«, sagte Scott. »Es geht vor allem um unsere Sicherheit«, warf Catherine in sanftem Ton ein. »Besser übervorsichtig als zu wenig.« Ashley ballte die Fäuste und kämpfte gegen die Tränen an. »Lasst uns einfach gehen«, schlug Scott vor. »Sieh mal, wenigstens wird sich deine Mutter ganz entschieden besser fühlen, wenn du nach Hause kommst. Hope auch. Und Catherine möchte ganz gewiss nicht allein hier oben bleiben und sich mit dem Scheißkerl rumschlagen, wenn er rausgefunden hat, dass wir dich weggeschafft haben.« »Auch wenn ich mich das nächste Mal, glaube ich, nicht lange mit Small Talk aufhalten werde«, erklärte Catherine steif. Dabei deutete sie auf die Flinte, so dass Scott und Ashley beide schmunzelten. »Catherine«, sagte Ashley, während sie sich die Augen wischte, »du würdest einen tollen Profikiller abgeben.« Catherine lächelte. »Danke, Schätzchen. Das nehme ich
als Kompliment.« Scott stand auf. »Ist jedem klar, wie das heute Nacht laufen soll?« Ashley und Catherine nickten beide. »Auch wenn’s mir ein bisschen übertrieben vorkommt«, fügte Catherine hinzu. »Lieber Vorsicht als das Nachsehen. Wir gehen besser davon aus, dass er das Anwesen beobachtet, meint ihr nicht? Und dass er versuchen wird, uns zu folgen. Und dass wir nicht wissen, worauf er noch verfällt. Immerhin hat er euch heute schon einmal von der Straße abgedrängt.« »Falls er das war«, gab Ashley zu bedenken. »Wir konnten den Kerl nicht ein einziges Mal richtig sehen. Oder seinen Wagen. Es leuchtet mir nicht ein. Wieso sollte er uns zuerst fast umbringen wollen, um als Nächstes in der Diele zu stehen und zu brüllen, dass er mich liebt?« Scott schüttelte den Kopf. Er begriff es genauso wenig. »Wie auch immer, wir geben ihm was zu beißen, falls er uns observiert.« Er sammelte das Gepäck ein und stellte es an der Haustür auf. Catherine löschte sämtliche Lichter. Scott ließ die beiden Frauen in der Diele zurück und trat in die Nacht. Als er das Dunkel absuchte, fühlte er sich plötzlich an die Zeit erinnert, als er selbst in Ashleys Alter war und in Vietnam mit dem Fernglas in den Dschungel spähte, wenn endlich
einmal die Haubitzen hinter ihm schwiegen, wenn ihm der feuchte, muffige Geruch der prall gefüllten Sandsäcke, an die er sich lehnte, in die Nase stieg und er sich fragte, ob sie in diesem Moment vom undurchdringlichen Dickicht aus beobachtet wurden. Scott glitt hinters Lenkrad seines Porsche und fuhr rückwärts neben Catherines kleinen Kombi mit Vierradantrieb. Er ließ den Motor laufen und stieg aus, nachdem er die Kofferraumhaube entriegelt hatte. Dann beugte er sich in Catherines Auto und warf den Motor an. Er öffnete bei beiden Wagen die Beifahrertür und kurbelte jeweils die Rücklehne so weit herunter, wie es ging. Dann ging Scott wieder ins Haus und holte das Gepäck. Catherines Tasche packte er in seinen Porsche und Ashleys in Catherines Fahrzeug; er klappte bei beiden den Kofferraum zu, ließ jedoch alle vier Türen offen. Mit wenigen Schritten war er wieder an der Haustür. »Seid ihr so weit?« Beide Frauen nickten. »Dann los. Schnell.« Alle drei bewegten sie sich in einem einzigen Knäuel. Ashley glitt auf den Beifahrersitz des Porsche und Catherine hinters Lenkrad ihres eigenen Wagens. Sobald
sie saß, tauchte Ashley ab, so dass sie von draußen nicht mehr zu sehen war. Ihr Haar hatte sie unter einer eng anliegenden dunkelblauen Strickmütze versteckt. Scott lief herum und schlug sämtliche Türen zu, bevor er auf seinen eigenen Sitz sprang. Er machte Catherine Zeichen mit dem Siegesdaumen, und sie gab so kräftig Gas, dass der Schotter spritzte. Scott schwenkte, dicht hinter ihr her, auf die Straße. Jetzt Tempo, was das Zeug hält, dachte er. Doch Catherine stand bereits auf dem Gaspedal, und so rasten sie dicht an dicht Richtung Highway. Scott sah in den Rückspiegel, um hinter ihnen nach Scheinwerfern zu suchen. Die vielen Kurven verstellten allerdings die Sicht. Wir haben Vollmond, dachte Scott. Wenn ich in dieser Nacht jemanden verfolgen wollte, führe ich ohne Licht. Neben ihm drückte sich Ashley an den flachen Sitz. Er beschleunigte und blieb dicht hinter Catherine. Sie wollte zu einer Stelle, die sie kannte, kurz vor der Highway-Auffahrt. Es war eine Drive-In-Bank mit einem kleinen Parkplatz dahinter. Als sie vor sich die Abzweigung entdeckte, wartete sie mit dem Blinken bis zur letzten Sekunde und riss das Steuer herum. Beim Abschwenken in die zweispurige Einfahrt hörte sie kurz die Reifen quietschen; sie fuhr sofort bis ans hintere Ende, wo es keine Beleuchtung gab. Dort hielt sie an und holte Luft.
Scott fuhr neben ihr heran, sprang heraus und rannte zur Ecke des Gebäudes. Ein einziger Wagen fuhr auf der Hauptstraße vorbei, dann folgte ein zweiter; bei keinem konnte er den Fahrer erkennen. Doch keins der Fahrzeuge drosselte das Tempo; vielmehr passierten sie beide die Abfahrt; keines von beiden bog zum Highway ab. Auch sonst ließ nichts darauf schließen, dass die Fahrer zögerten oder jemanden suchten. Er wartete, bis ein weiteres Fahrzeug vorbeikam, was fast eine Minute dauerte. Dann kehrte er zu den beiden Frauen zurück. »Alles klar, Zeit zum Tauschen«, sagte er, »er ist nirgends zu sehen.« Wortlos glitt Ashley aus dem Porsche und duckte sich auf den Beifahrersitz des Kombi, wo sie sich in eine alte Wolldecke wickelte. Catherine nickte, legte den Gang ein und fuhr zur Highway-Einfahrt Richtung Süden. Scott folgte ihr dicht, doch statt ebenfalls die Auffahrt nach Süden zu nehmen, hielt er an der Landstraße an. Er sah den Rücklichtern des kleineren Wagens hinterher. Er wartete, fest entschlossen, sich jeden Wagen gut anzusehen, der Catherine nach Süden folgte. Außer ihm war niemand weit und breit. Er zählte bis dreißig, trat heftig
aufs Gas und lenkte den Porsche mit quietschenden Reifen auf die Auffahrt nach Norden. Am Ende der Auffahrt fuhr er schon rund hundertfünfzig Stundenkilometer. Er sah, dass ihm auf der rechten Spur ein Sattelschlepper den Weg versperrte, doch statt zu bremsen, gab er Gas und überholte den Lkw auf der Standspur. Der Fahrer hinter ihm hupte gewaltig und blinkte mit allem, was er hatte. Scott ignorierte ihn und konzentrierte sich auf die nächstbeste Gelegenheit zu einer illegalen Wendemöglichkeit links von ihm. Er hoffte, dass nicht irgendwo die Polizei auf ihn lauerte. Sein Fernlicht fiel auf ein Schild mit der Aufschrift Nur für autorisierte Fahrzeuge, und er trat auf die Bremse. Mit ein und derselben Bewegung knipste er alle Lichter aus. Der Porsche holperte auf den unbefestigten Mittelstreifen und setzte ein, zwei Mal mit dem Chassis auf, als er von der Autobahn nach Norden auf die südliche wechselte. Ein rascher Blick sagte ihm, dass sie leer war. Indem er kräftig beschleunigte, warf er den Porsche wieder auf den Highway und machte die Scheinwerfer an. Auf der Mittellinie leuchteten kurz die roten Augen eines Rehs. Er holte tief Luft. Das mach mir erst mal nach, sagte er in Gedanken. Er schätzte, dass er kaum zehn Minuten brauchen würde, um wieder hinter Catherine und Ashley zu sein, nachdem er sich auf dem Weg bis dahin jeden Wagen angesehen hatte. Anschließend würde er sie bis nach Hause begleiten.
Er presste die Lippen zusammen. Ich hab noch ein paar Tricks auf Lager, dachte er. Er spürte, wie der Motor vor Geschwindigkeit brummte, und zum ersten Mal in dieser Nacht kam in ihm das Gefühl auf, die Situation einigermaßen unter Kontrolle zu haben. Allerdings war er klug genug, um zu wissen, dass dieses Gefühl wahrscheinlich nicht von Dauer sein würde.
Nach so viel Anspannung brauchten sie alle so dringend ein bisschen Schlaf, dass sie am nächsten Tag erst spät zusammenkamen. Besonders Ashley hatte, als sie gehört hatte, wie Nameless gestorben war, im Bett noch bitter geweint, bevor sie in einen tiefen, doch wenig erholsamen Schlaf gefallen war, den Träume mit schwarzen Todesbildern quälten. Mehr als einmal schrie sie auf, so dass entweder Hope oder Sally an ihre Tür gelaufen kam, um wie nach einem kleinen Kind zu sehen. Scott war zum College zurückgefahren. Er hatte sich anderthalb Stunden Schlaf in seinem Schreibtischsessel gegönnt, bevor er mit dem Gefühl erwachte, dass der ganze Tag missraten würde. Auf der Herrentoilette, wo er sich notdürftig wusch, brachte er ein paar Sekunden damit zu, sich im Spiegel zu mustern. Geschichte, dachte er, befasst sich mit Männern und Frauen, die sich
außergewöhnlichen Ereignissen gegenübersehen. Es geht dabei letztlich um den Mut des einen, die Feigheit des anderen, die Weitsicht eines Dritten und das Versagen des Vierten. Es geht um Emotionen und Psychologie, die sich so oder so ausprägen. In ihm stieg eine kalte Übelkeit hoch, als ihn die Frage bedrängte, ob er sein ganzes Berufsleben damit zugebracht hatte zu studieren, was andere taten, ohne zu lernen, wie er selbst handeln musste. Michael O’Connell, so glaubte er, war nichts weiter als ein kurzer Moment in seiner eigenen Lebensgeschichte. Doch seine Handlungsweise in den nächsten paar Tagen würde ihn für den Rest seiner Tage prägen.
Sally kämpfte mit der blanken Wut. Sie hatte das Gefühl, dass alles, was sie bis jetzt versucht hatten, vergeblich gewesen war. Sie waren zunächst vernünftig, höflich gewesen. Sie hatten es mit Einschüchterung probiert. Mit Täuschung. Mit Flucht. Doch sämtliche Strategien, die sie eingesetzt hatten, waren ins Leere gelaufen. Ihr eigenes Leben war völlig durcheinandergeraten, ihre Privatsphäre empfindlich verletzt und sie alle miteinander vollkommen aus den gewohnten Gleisen geworfen. Eine Welt aus Angst und Schrecken, dachte sie. Das
erwartete sie. Sie saß im Wohnzimmer – allein. Sie merkte, wie sie Grimassen schnitt, den Kopf schüttelte, mit den Händen die Luft zerschnitt, wie sie wütend mit dem Finger zeigte, die Stirn runzelte und bewegt gestikulierte, als sei sie mitten in einer furiosen Auseinandersetzung, obwohl niemand außer ihr selbst ihre Worte hören konnte, die in ihrem Kopf widerhallten. Oben schlief Ashley noch, doch Sally hatte vor, sie bald zu wecken. Hope und Catherine machten draußen einen Spaziergang, um irgendwo in einem Restaurant etwas zum Abendessen zu besorgen. Höchstwahrscheinlich diskutierten sie, in was sie da hineingeraten waren. Sie war als Wachposten zurückgeblieben. Sally fühlte, wie sich ihr Puls beschleunigte. Sie befanden sich an einem Scheideweg, ohne dass sie deutlich sehen konnte, worin ihre Wahl bestand. Sie lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Ich hab alles vermasselt, dachte sie. Ich hab alles verpfuscht. Sie seufzte und ging zu ihrem Schreibtisch, auf dem sie alte Sammelalben und Fotos sowie andere Andenken aufbewahrte, die zu schade zum Wegwerfen, aber nicht gut genug zum Rahmen waren. Sie öffnete eine große
Schublade und wühlte in den Stapeln, bis sie fand, was sie suchte: ein Bild von ihrem Vater und ihrer Mutter. Sie waren beide viel zu jung gestorben, der eine bei einem Unfall, die andere an einem Herzleiden. Sally konnte nicht sagen, wieso sie jetzt das Bedürfnis hatte, die Fotos hervorzuholen, doch sie war von dem Wunsch, ihnen in die Augen zu schauen und ihren Blick auf sich gerichtet zu sehen, beinahe überwältigt. Als könnten die beiden sie beruhigen. Sie hatten sie zurückgelassen, und sie hatte sich – trotz ihrer Zweifel darüber, wer sie war und was aus ihr einmal werden würde – an Scott geklammert, weil sie ihn für verlässlich hielt. Wahrscheinlich hatte derselbe Instinkt sie zum Jurastudium getrieben: der eiserne Wille, nie wieder Opfer der Ereignisse zu sein. Bei diesem Gedanken schüttelte sie den Kopf und rief sich ins Gedächtnis, wie albern die Vorstellung war. Jeder konnte zum Opfer werden. Jederzeit. Als dieser widerwärtige Gedanke sich bei ihr einnistete, hörte sie Ashley im oberen Stockwerk. Sie holte tief Luft. Eines bleibt allerdings wahr: Eine Mutter tut alles, um ihr Kind zu schützen. »Ashley, bist du das? Bist du auf?« Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann kam die Antwort nach einem gedehnten Stöhnen. »Ja. Hi, Mom. Ich komm runter, ich putz mir nur noch die Zähne.«
Sie wollte gerade antworten, als das Telefon klingelte. Das Geräusch lief ihr eiskalt über den Rücken. Sie sah auf die Anruferkennung, doch da stand nur privater Anrufer. Sally griff nach dem Telefon und biss sich auf die Lippe. »Ja, wer spricht da bitte?«, sagte sie und legte so viel Anwaltsfrostigkeit in ihre Stimme, wie sie konnte. Es kam keine Antwort. »Wer ist da!«, fragte sie in scharfem Ton. Es blieb still in der Leitung. Sie hörte nicht einmal jemanden atmen. »Verflucht noch mal, lassen Sie uns in Frieden!«, flüsterte sie. Ihre Worte drangen wie Nägel in die Stille, und sie knallte das Telefon auf den Sockel. »Mom? Wer war das?«, rief Ashley von oben. Sally hörte, wie die Stimme ihrer Tochter einen Moment lang zitterte. »Ach, nichts«, rief sie. »Nur so ein blöder Werbeanruf, für Zeitschriftenabos.« Kaum waren ihr die Worte über die Lippen gekommen, fragte sie sich, wieso sie es nicht fertiggebracht hatte, die Wahrheit zu sagen. »Kommst du
runter?« »Ja, gleich.« Sally hörte, wie die Tür zum Schlafzimmer zufiel. Sie nahm das Telefon und wählte die 69. Augenblicklich ertönte eine Ansage: »Die Nummer 413555-0987 gehört zu einem Münztelefon in Greenfield, Massachusetts.« Dicht dran, dachte sie. Keine Stunde Fahrt.
Als Michael O’Connell das Münztelefon einhängte, war sein erster Impuls, Richtung Süden zu fahren, wo Ashley, wie er wusste, auf ihn wartete, und die Gunst des Augenblicks zu nutzen. Jedes Wort, das er von Sally gehört hatte, sagte ihm, wie geschwächt sie war. Er lehnte sich zurück, schloss die Augen und stellte sich Ashley vor. Er fühlte, wie ihm das Blut in Wallung kam, als stünde jede Ader und jede Vene unter Strom. Er atmete in flachen Zügen ein, wie ein Schwimmer, der hyperventiliert, bevor er ins Wasser springt. Sie rechnen damit, sagte er sich, dass er ihnen nach Hause folgte.
Sie werden vorbereitet sein, überlegte er. Einen Plan aushecken, damit er nicht nahe an sie herankam. Verteidigungs linien, Mauern aufrichten. Sie können mich nicht schlagen. Das war die einfachste, offensichtlichste, unbestreitbare
Wahrheit. Wieder atmete er ein. Sie werden denken, ich wäre zu ihnen unterwegs. Aber wozu die Eile? Sollen sie sich Sorgen machen. Sollen sie sich schlaflose Nächte bereiten. Lass sie bei jedem Geräusch im Dunkeln zusammenzucken. Wenn sie ihm dann vor Anspannung und Erschöpfung und Zweifeln nur noch wenig entgegenzusetzen hatten, dann würde er kommen. Wenn sie am wenigsten damit rechneten. O’Connell steppte mit den Füßen auf dem Bürgersteig wie ein Tänzer, der seinen Rhythmus findet. Ich bin selbst dann bei ihnen, an ihrer Seite, wenn ich nicht da bin. Michael O’Connell kam zu dem Schluss, dass er es an diesem Tag nicht eilig hatte. Die Liebe, die er zu Ashley empfand, konnte mit der größten Geduld einhergehen.
Diesmal verabredete sie sich mit mir um Mitternacht vor der Notaufnahme eines Krankenhauses in Springfield. Als ich sie fragte, wieso um Mitternacht, ließ sie mich wissen, dass sie zwei Nächte die Woche ehrenamtlichen Dienst im Krankenhaus leistete und dass sie gewöhnlich ihre Pause in der Geisterstunde einlegte. »Was für eine ehrenamtliche Tätigkeit?«, erkundigte ich mich. »Beratung. Misshandelte Ehefrauen. Geschlagene Kinder. Vernachlässigte ältere Menschen. Die kommen alle ins Krankenhaus, und jemand muss da sein, um sie an die richtigen staatlichen Stellen weiterzuvermitteln, damit sie Hilfe bekommen.« Trotz der Bilder, die sie heraufbeschwor, wirkte ihr Ton kühl und gefasst. »Meine Aufgabe besteht darin, für die herausgebrochenen Zähne, blauen Augen, Rasiermesserschnittwunden und gebrochenen Rippen den richtigen Papierkram einzuleiten.« Sie wartete auf mich, während sie eine Zigarette bis zum Filter herunterrauchte und dabei tief inhalierte. Als ich aus dem Schatten des Parkplatzes auf sie zukam, deutete ich auf die Zigarette. »Wusste gar nicht, dass Sie rauchen.«
»Tu ich auch nicht.« Sie nahm einen weiteren langen Zug. »Nur hier. Zwei Nächte die Woche. Eine Zigarette zur Pause um Mitternacht. Nicht mehr. Wenn ich später heimkomme, werfe ich die restliche Packung weg. Kaufe jede Woche eine neue.« Sie lächelte, auch wenn ihr Gesicht teilweise im Schatten lag. »Rauchen ist im Vergleich zu dem, was ich hier zu sehen bekomme, eine lässliche Sünde. Zum Beispiel ein Kind, dem der durchgeknallte Stiefvater systematisch sämtliche Finger gebrochen hat. Oder eine Mutter im achten Monat, die mit einem Metallkleiderbügel geschlagen worden ist. So was in der Art. Ganz alltäglich. Ganz normal. Überaus brutal. Einfach die übliche Gemeinheit, die als Leben durchgeht. Schon bemerkenswert, nicht wahr, wie grausam wir zueinander sein können?« »Ja.« »Also, was wollen Sie als Nächstes wissen?«, fragte sie. »Scott, Sally und Hope waren nicht bereit, sich auf eine ungewisse Lage einzulassen, nicht wahr?« Sie schüttelte den Kopf. Eine schrill heulende Krankenwagensirene drang durch die Nacht. Notfälle kündigen sich durch die unterschiedlichsten Geräusche an.
32 Der erste und einzige Plan
Als sie am Abend zusammenkamen, lag Hilflosigkeit in der Luft. Besonders Ashley schien von den Ereignissen wie gelähmt. Sie kauerte mit angewinkelten Beinen in einem Armlehnsessel unter einer Decke und klammerte sich an einen uralten Teddybär, dessen Ohr Nameless einst zerknabbert hatte. Ashley sah sich im Zimmer um, und ihr wurde bewusst, dass sie das Desaster angerichtet hatte, in dem sie sich jetzt befand, auch wenn sie nicht recht sah, womit sie das alles verdient hatte. Längst war die einzige, ein wenig angetrunkene Nacht, in der sie mit Michael O’Connell auf ihrem Bett gelandet war, in weite Ferne gerückt, ganz zu schweigen von dem Gespräch, bei dem sie seine Einladung zu diesem einen Date angenommen hatte, weil sie fand, dass O’Connell anders war als all die Jungs, die sie vom College her kannte. Jetzt hielt sie sich nur noch für dumm und naiv. Und sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie machen sollte. Als sie aufsah und ihr Blick nacheinander auf Catherine und
Hope, ihrer Mutter und ihrem Vater ruhte, wurde ihr zugleich bewusst, dass sie auch ihre Familie in Gefahr gebracht hatte; nicht ganz so wie sich selbst, aber trotzdem. Sie wollte sich entschuldigen, und so machte sie einen Anfang. »Das ist alles meine Schuld«, erklärte sie. Sally reagierte prompt. »Nein, ist es nicht. Und wenn du dich selbst quälst, hilft das keinem von uns.« »Na ja, hätte ich nicht …« Scott unterbrach sie. »Du hast einen Fehler gemacht. Das hatten wir alles schon; das sollten wir hinter uns lassen. Danach haben wir die Sache nur noch verschlimmert, indem wir dachten, wir hätten es mit einem vernünftigem Menschen zu tun. Also, mag sein, dass du anfangs etwas falsch gemacht hast, Ashley, aber O’Connell hat es geschafft, uns schnell mit reinzuziehen, und wir müssen uns alle vorwerfen lassen, unterschätzt zu haben, wozu der Mann fähig ist. Vorhaltungen und Schuldzuweisungen bringen herzlich wenig. Deine Mutter hat recht. Jetzt kann es einzig und allein darum gehen, was wir als Nächstes unternehmen.« »Ich glaube, Scott«, sagte Hope langsam, »das trifft es nicht ganz.« Er sah sie an. »Wie meinst du das?«
»Die Frage lautet wohl eher, wie weit wollen wir gehen?« Es herrschte Schweigen im Raum. »Denn«, fuhr Hope fort, und obwohl sie in ruhigem Ton sprach, schwang so etwas wie Autorität in ihren Worten mit, »wir haben keine rechte Vorstellung davon, wozu O’Con nell bereit ist. Es gibt einige Anhaltspunkte dafür, dass er vor nichts und niemandem zurückschreckt. Aber wo liegen seine Grenzen? Kennt er überhaupt welche? Ich denke, wir gehen besser davon aus, dass er keine Hemmungen kennt.« »Ich wünschte, ich hätte …«, rutschte es Catherine heraus, ohne den Satz zu Ende zu sprechen. »Nun ja«, schloss sie kurz und bündig, »Scott weiß, was ich meine.« »Ich denke«, schaltete Sally sich ein, »es ist an der Zeit, auch juristisch gegen ihn vorzugehen.« »Na ja, das hat unser Mann von der Polizei nach meinem kleinen Plausch mit Mr. O’Connell auch gemeint«, bemerkte Catherine trocken. »Du scheinst nicht viel davon zu halten«, sagte Hope. »Ganz richtig.« Leise fügte sie hinzu: »Wann hat der Staat schon mal geholfen, wenn es darauf ankam?« Scott wandte sich an Sally. »Du bist die Anwältin. Du hast
zweifellos beruflich bereits mit solchen Problemen zu tun gehabt. Wie müssen wir vorgehen? Was dürften wir erwarten?« Sally schwieg und spielte im Kopf verschiedene Möglichkeiten durch, bevor sie antwortete. »Ashley müsste vor Gericht gehen. Ich könnte zwar den Papierkram übernehmen, aber es ist immer ratsamer, sich einen neutralen Rechtsbeistand zu suchen. Sie müsste eine Aussage machen, dass sie ein Opfer von Stalking – von beharrlicher Nachstellung – ist, dass sie um ihr seelisches und leibliches Wohl fürchten muss. Sie wird wahrscheinlich beweisen müssen, dass bei O’Connell ein systematisches Verhaltensmuster vorliegt, doch die meisten Richter zeigen viel Verständnis und sind bereit, auch ohne allzu viel Bestätigung von dritter Seite der Sache Glauben zu schenken. Dann erlässt der Richter eine einstweilige Verfügung, die der Polizei die Handhabe gibt, O’Connell zu verhaften, sobald er sich ihr auf eine bestimmte Distanz nähert – gewöhnlich werden dreißig bis hundert Meter festgesetzt. Darüber hinaus würde der Richter verfügen, dass O’Connell keinerlei Kontakt mit ihr aufnehmen darf, weder telefonisch noch über den Computer. Diese Verfügungen sind im Allgemeinen ziemlich umfassend und würden praktisch bedeuten, dass er aus Ashleys Leben verschwindet, vorausgesetzt – das allerdings ist das große Fragezeichen.« »Was denn?«, hakte Ashley nach.
»Vorausgesetzt, er hält sich an die Verfügung.« »Und wenn nicht?« »Na ja, dann kann die Polizei eingreifen. Theoretisch könnte er wegen des Verstoßes in Haft genommen werden. Damit wäre er für eine Weile aus dem Verkehr gezogen; das gängige Strafmaß ist ein halbes Jahr. Allerdings nur, wenn der Richter das Höchstmaß ansetzt. In der Praxis gibt es da eine Menge Kompromisse. Die Richter bringen jemanden nicht gerne für etwas hinter Gitter, was in ihren Augen oft nichts weiter als eine Familienstreitigkeit ist.« Sally holte tief Luft. »So sollte es theoretisch laufen. In der Realität gehen die Dinge nie so glatt.« Sie sah sich in der Runde um. »Ashley erstattet Anzeige und sagt vor Gericht aus. Aber was können wir schon wirklich beweisen? Wir wissen nicht mit Bestimmtheit, dass er sie den Job gekostet hat. Wir können nicht mit Bestimmtheit sagen, dass er hinter dem ganzen Ärger steckt, den wir alle hatten. Wir können nicht mit Bestimmtheit sagen, dass er hier eingebrochen ist. Wir können ihm nicht beweisen, dass er Murphy umgebracht hat, auch wenn er es möglicherweise gewesen ist.« Sally atmete nochmals tief ein. Die anderen blieben vollkommen still.
»Ich hab darüber nachgedacht«, fuhr sie fort, »und das ist weiß Gott nicht die offensichtlichste Option. Ganz bestimmt nicht. Ich möchte wetten, dass Michael O’Connell mit Verfügungen Erfahrung hat und weiß, wie er damit umgehen muss. Anders gesagt, ich denke, O’Connell hat eine klare Vorstellung davon, womit er durchkommt und womit nicht. Aber wenn wir etwas erreichen wollen, das über eine simple gerichtliche Verfügung hinausgeht, wenn wir bezwecken wollen, dass er tatsächlich einer kriminellen Handlung angeklagt wird, müsste Ashley ihm beweisen können, dass er hinter all dem steckt, was passiert ist. Sie müsste im Gerichtssaal überzeugen und im Kreuzverhör. Darüber hinaus würde sie ein Prozess mit Michael O’Connell unmittelbar in Berührung bringen. Wenn man jemanden eines Verbrechens anklagt, dann bringt das eine sogenannte sekundäre Bindung mit sich. Man geht mit demjenigen eine tiefgreifende Beziehung ein, auch wenn er dank einer Verfügung auf Distanz gehalten wird. Sie müsste ihm vor Gericht gegenübertreten, was, wie ich fürchte, seine Obsession nur noch verstärken würde. Womöglich genießt er es sogar. Aber eines ist sicher: Ashley und O’Connell würden eine dauerhafte Verbindung eingehen, ich meine, Ashley würde ständig über die Schulter sehen, es sei denn, sie würde die Flucht ergreifen. An einen ganz anderen Ort gehen. Eine andere Identität annehmen. Und selbst das könnte ihr keine volle Sicherheit geben. Falls er sein ganzes Leben daran hängen würde, sie zu finden …«
Sally war in Fahrt gekommen. »Angst zu haben und vor Gericht zu beweisen, dass diese Angst tatsächlich begründet ist, sind zwei Paar Schuhe. Außerdem gibt es noch etwas ganz anderes zu bedenken.« »Das wäre?«, fragte Scott. »Was tut er, falls Ashley die Verfügung tatsächlich erwirkt? Wie wütend macht ihn das? Wozu provoziert ihn ein solcher Schritt? Und wie geht es dann weiter? Vielleicht will er sie bestrafen. Oder auch uns. Vielleicht kommt er zu dem Schluss, dass es an der Zeit ist, etwas Drastisches zu unternehmen. Wenn ich dich nicht kriege, dann soll dich auch kein anderer kriegen. Was meint ihr, worauf das hinauslaufen kann?« Sie schwiegen alle, bis Ashley sagte: »Ich weiß, worauf das hinausläuft.« Niemand wollte näher erläutern, was sie alle verstanden. Doch Ashley sprach es aus, auch wenn ihre Stimme dabei zitterte: »Er wird mich umbringen wollen.« Scott polterte augenblicklich heraus: »Nein, nein, nein, Ashley, so was darfst du nicht sagen. Das wissen wir nun wirklich nicht.« Er schwieg betreten, als ihm bewusst wurde, wie absolut lächerlich jedes seiner Worte klang.
Einen Augenblick lang wurde ihm schwindelig. Ihm war, als ob jede noch so aberwitzige Vorstellung – dass dieser Mann Ashley tatsächlich töten könnte – plausibel klang und umgekehrt alles, was vernünftig war, auf den Kopf gestellt wurde. Er merkte, wie ihn eine Eiseskälte überkam, und er sprang auf. »Falls er uns noch einmal nahe kommt …« Die Drohung schien so leer wie alles andere. »Was?«, platzte es aus Ashley heraus. »Was wirst du dann tun? Ihm Geschichtsbücher an den Kopf werfen? Ihn mit endlosen Vorträgen in die Knie zwingen?« »Nein, ich werde …« »Was? Was willst du machen? Und wie? Willst du mich sieben Tage die Woche rund um die Uhr bewachen?« Sally versuchte, Haltung zu bewahren. »Ashley«, ging sie ruhig dazwischen, »bitte zähme deine Wut …« »Wieso?«, schrie sie. »Wieso soll ich nicht wütend sein? Woher nimmt der Scheißkerl das Recht, mein Leben kaputtzumachen?« Die Antwort auf diese Frage lag für alle auf der Hand.
»Was müssen wir demnach tun?«, fragte sie mit wankender, mühsam beherrschter Stimme. »Ich vermute, ich muss weg. Von vorne anfangen. Auf jeden Fall ganz woanders hin. Mich jahrelang verstecken, bis irgendetwas passiert, das es mir ermöglicht, wieder hervorzukriechen? Ein grandioses Suchmich-fang-mich-Spiel, ja? Ashley versteckt sich, und Michael O’Connell sucht sie. Woher will ich jemals wissen, dass ich in Sicherheit bin?« »Vermutlich«, bestätigte Sally, immer noch in einem möglichst gedämpften Ton, »mehr können wir uns nicht erhoffen. Es sei denn …« »Es sei denn was?«, fragte Scott. Sie wählte ihre Worte mit Bedacht. »Wir denken uns einen anderen Plan aus.« »Wie meinst du das?«, wollte Scott wissen. Sally sprach langsam. »Ich will damit sagen, dass wir zwei Möglichkeiten haben. Die eine, den legalen Rahmen auszuschöpfen. Das mag unzureichend sein, aber das steht uns offen. Bei manchen hat es funktioniert. Bei anderen nicht. Das Gesetz bringt dem einen Sicherheit, für den anderen kann es tödlich enden. Das Gesetz bietet keine Garantie.« Scott lehnte sich vor. »Und es gibt eine Alternative?«
Sally war selbst schockiert, als sie sich sagen hörte: »Die Alternative wäre, das Problem außerhalb des gesetzlichen Rahmens zu lösen.« »Und das hieße?« »Ich denke«, erwiderte Sally kalt, »die Frage solltest du im Moment noch nicht stellen.« Nach dieser Auskunft herrschte beklemmendes Schweigen. Scott starrte Sally, wie ihm schien, eine Ewigkeit an. Noch nie hatte er sie so kühl überlegt gesehen. »Wieso nicht«, platzte Catherine heraus, »laden wir den Mistkerl doch einfach hierher zum Essen ein und erschießen ihn, sobald er zur Tür hereinkommt! Peng! Ziemliche Schweinerei in der Eingangsdiele, ein Freiwilliger, der saubermacht, und das war’s.« Wieder herrschte Stille im Raum. Jeder von ihnen konnte dem Vorschlag durchaus etwas abgewinnen. Nur Sally, die sofort in ihren pragmatischen Juristenjargon verfiel, sah die Sache nüchtern. »Damit würden wir uns ein Problem vom Halse schaffen, näm lich O’Connell, uns aber unzählige andere aufladen.« Scott nickte. »Ich denke, ich verstehe, was du meinst, aber fahr fort.«
Sally hatte tatsächlich ein Lächeln für ihren Exmann und für Catherine übrig. »Erstens ist das, was du sagst – ihn einladen und erschießen – vorsätzlicher Mord, selbst wenn er es verdient. In diesem Bundesstaat stehen darauf fünfundzwanzig Jahre bis lebenslänglich, ohne Bewährung. Und die bloße Tatsache, dass wir das miteinander diskutiert haben, macht uns alle zu Mittätern, das heißt, keiner von uns, auch Ashley nicht, wäre hinterher auf freiem Fuß. Sicher, man könnte es mit einer Schulderlassung versuchen – Nichtigkeitserklärung ist der entsprechende juristische Terminus; die Geschworenen entscheiden, dass man zu dem Schritt, den man unternommen hat, berechtigt war –, aber das ist sehr selten. Und niemand sollte darauf zählen.« »Es gibt dabei noch andere Probleme«, fügte Scott hinzu. »Würden wir dadurch nicht alle unser Leben ruinieren? Unsere berufliche Laufbahn, das, was wir sind, alles wäre mit einem Schlag zunichte. Und wir wären ein gefundenes Fressen für Court TV oder den National Enquirer. Unser gesamtes Leben würde an die Öffentlichkeit gezerrt. Und selbst wenn wir das auf uns nähmen und es schafften, Ashley da rauszuhalten, würde sie den Rest ihres Lebens damit zubringen, uns im Gefängnis zu besuchen und Hard Copy Interviews zu verweigern oder ihre Geschichte im Film der Woche von Lifetime Network wiedersehen.« »Und das würde im Klartext bedeuten«, warf Hope ein, die
lange geschwiegen hatte, »dass O’Connell gewinnt. Auch wenn er tot wäre, selbst dann wäre Ashleys Leben – und unseres da zu – ruiniert. Und was er gesagt hat – wenn ich sie nicht kriegen kann –, träfe am Ende ein, auf eine ziemlich bizarre Art und Weise. Sie wäre für immer stigmatisiert.« Catherine schnaubte, als sei sie anderer Meinung, doch in Wahrheit sah sie das ganze Szenario vor sich. Sie schlug heftig die Hände zusammen und sagte energisch: »Irgendeine Möglichkeit, Michael O’Connell aus Ashleys Leben zu entfernen, bevor Schlimmeres passiert, muss es doch geben.« Scott überlegte fieberhaft. Bei dem Wort »entfernen« schwirrten ihm alle möglichen Gedanken durch den Kopf. »Ich denke«, sagte er langsam, »ich habe eine Idee.« Die anderen sahen ihn erwartungsvoll an. Er lief ein paar Schritte auf und ab. »Zunächst einmal«, erklärte er mit Bedacht, »habe ich das Gefühl, dass wir den Spieß herumdrehen sollten.« »Wie meinst du das?«, fragte Sally. »Ich meine«, antwortete Scott bedächtig, »dass umgekehrt wir dem Stalker ›beharrlich nachstellen‹, das heißt, alles – und ich meine wirklich alles – über den Bastard in
Erfahrung bringen, was wir nur können.« »Wozu?«, wollte Hope wissen. »Weil er irgendwo eine Angriffsfläche bieten muss. Und weil er damit am wenigsten rechnen wird.« Catherine nickte nachdrücklich. Jeder Mensch hatte einen wunden Punkt; man musste ihn lediglich herausfinden und sich zunutze machen. »Na schön«, sagte sie. »Das ließe sich wohl machen. Aber worauf soll das Ganze hinaus?« Scott wog jedes seiner Worte ab. »Wir können ihn nicht eigenhändig umbringen, aber wir müssen ihn entfernen. Wer kann das für uns tun? Und zwar so, dass wir alle – besonders aber Ashley – vollkommen unbeschadet daraus hervorgehen, oder sagen wir besser, nahezu unbeschadet, wenn wir es richtig anstellen.« »Ich weiß nicht, wen du meinst«, zweifelte Sally für die Übrigen. »Du hast es eben selbst gesagt, Sally«, erwiderte Scott. »Wer entfernt jemanden für fünf, zehn, zwanzig Jahre oder sogar lebenslänglich aus der Gesellschaft?« »Der Bundesstaat Massachusetts.« Scott nickte. »Es geht demnach lediglich darum, einen Weg zu finden, wie wir den Bundesstaat dazu bringen,
Michael O’Connell wegzusperren. Die werden das mit Freuden tun, nicht wahr? Wir müssen nur eine Kleinigkeit dazu beisteuern.« »Und das wäre?« »Das richtige Verbrechen.«
»Aber sehen Sie denn nicht, wie genial Scotts Plan war?«, fragte sie. »Ich weiß nicht, ob genial das Wort ist, das mir dazu einfällt«, antwortete ich, »töricht und riskant kommt mir eher in den Sinn.« Sie schwieg. »Meinetwegen, auf den ersten Blick. Aber ich will Ihnen sagen, was an Scotts Überlegung so einmalig war: Es ging ganz und gar gegen den Strich, oder wie viele unkündbare Geschichtsprofessoren an einem kleinen, renommierten College kennen Sie, die zu Kriminellen werden?« Ich erwiderte nichts. »Oder Schulpsychologen und Trainerinnen? Oder Kleinstadtanwältinnen? Und was ist mit der Kunststudentin
Ashley? Was könnte wohl dieser kleinen, gut situierten Gruppe ferner liegen als der Beschluss, ein Verbrechen zu begehen? Und zu einem Mittel zu greifen, das Gewalt einschließt?« »Trotzdem, ich weiß nicht …« »Wer steht wohl weniger im Verdacht, das Gesetz zu übertreten? Dank Sally und ihrer juristischen Fachkenntnisse wussten sie besser als irgendjemand sonst, worauf sie sich einließen. Und Scott hatte, aufgrund seiner Ausbildung beim Militär, viel mehr das Zeug dazu, kriminell zu werden, als er sich hatte träumen lassen. Lag für sie nicht das größte Problem in der moralischen Hemmschwelle, die ihr Status in der Gesellschaft mit sich brachte?« »Ich hätte trotzdem damit gerechnet, dass sie die Polizei holten.« »Und wer garantierte ihnen, dass das System zu ihren Gunsten arbeiten würde? Wie oft haben Sie denn schon die Morgenzeitung aufgeschlagen und sind Zeuge einer Tragödie geworden, die eine obsessive Liebe ins Rollen brachte? Wie oft haben Sie schon den Spruch der Polizei gelesen: ›Uns waren die Hände gebunden‹?« »Trotzdem …« »Sie würden bestimmt nicht wollen, dass man in Ihren
Grabstein die Worte meißelt: ›Wenn nur …‹« »Da stimme ich Ihnen zu, aber …« »Sie befanden sich in durchaus guter Gesellschaft. Filmstars können ein Lied von Stalkern singen. Sekretärinnen in hektischen Büros. Aber auch Leute in Wohnwagenparks oder nicht berufstätige Mütter. Fernsehgrößen. Obsessionen kommen in sämtlichen ökonomischen und gesellschaftlichen Schichten vor. Nur ihre Reaktion auf diese Herausforderung war einmalig. Und was war ihr Ziel? Ashley zu beschützen. Konnte es ein selbstloseres Motiv geben als das? Versetzen Sie sich doch nur mal in ihre Lage. Was würden Sie denn tun?« Und da stand sie nun im Raum – die einfachste Frage, auf die es doch keine Antwort gab. Sie holte tief Luft. »In Wahrheit lautete die einzige Frage, ob sie damit durchkommen würden.«
33 Einige schwere Entscheidungen
Scott war wie elektrisiert. Er betrachtete die Frauen, in deren Mitte er stand, und fing an, fieberhaft Pläne zu schmieden, die ihren Zündstoff von der Wut bezogen, die er für Michael O’Connell empfand. Sally rutschte unbehaglich auf ihrem Sessel hin und her, und er sah, wie die Anwältin in ihr an seinem Vorschlag zu knabbern hatte, wie sie seine Worte hin und her wendete und seine Ideen zerpflückte. Sie wird bei allem, was ich vorschlage, die Gefahren sehen, dachte er. Er fragte sich, ob sie genauso sehen würde, dass all diese Gefahren geringer waren als die eine große Bedrohung, der sich Ashley ausgesetzt sah. Doch zu seiner Überraschung nickte Sally plötzlich. »Was getan werden muss«, erklärte sie kalt, »das muss getan werden. Was auch immer.« Dann wandte sie sich an Catherine und Hope. »Also, ich denke, wir sind dabei, eine Grenze zu überschreiten, und ihr beide werdet euch vielleicht überlegen wollen, ob ihr etwas damit zu tun haben möchtet. Immerhin ist Ashley Scotts und meine Tochter, wir tragen die Verantwortung. Hope, du bist ihr, zugegeben, eine zweite Mutter gewesen, vielleicht mehr als das, und du, Catherine, ihre einzige richtige Großmutter – aber trotzdem, ihr seid keine Blutsverwandten, und …« »Halt verdammt noch mal den Mund«, knurrte Hope sie an. Augenblicklich herrschte Schweigen im Raum, und Hope
hielt es wie Scott nicht länger auf ihrem Sessel. Sie fasste sich und sagte: »Weißt du, Ashley hat, in guten wie in schlechten Zeiten, von dem Tag an zu meinem Leben gehört, an dem wir beide uns begegnet sind. Und selbst wenn die letzten Tage für uns beide nicht die besten waren und wenn unsere Zukunft ungewiss sein mag, so ändert das nichts an meinen Gefühlen zu Ashley. Also, zum Teufel mit dir. Ich entscheide selbst, wozu ich bereit bin und wozu nicht.« Catherine fügte schlicht hinzu: »Dasselbe gilt für mich.« Sally wand sich in ihrem Sessel. Ich hab alles vermasselt. Was zum Teufel ist nur mit mir los?, dachte sie. »Hast du eigentlich überhaupt etwas über Liebe begriffen?«, fragte Hope. Die Frage hallte durchs Zimmer. Nachdem das Schweigen sich allzu lange eingenistet hatte, richtete Hope ihre Konzentration auf Scott. »Also, Scott, erzähl du uns ein bisschen genauer, was dir vorschwebt.« Scott trat vor. »Sally hat recht. Wir sind dabei, eine Grenze zu überschreiten. Von diesem Moment an werden die Dinge doppelt riskant.« Plötzlich sah er in allem und jedem ein Risiko, und er zögerte. »Über einen Gesetzesbruch zu reden ist eine Sache. Es zu tun und das Risiko auf sich zu
nehmen eine ganz andere.« Er wandte sich an Ashley. »Liebes«, sagte er gedehnt, »das ist der Moment, in dem du aufstehen und den Raum verlassen solltest. Ich fände es gut, wenn du nach oben gehen und warten würdest, bis Mom oder ich dich runterrufen.« »Was?« Ashley brüllte die Frage beinahe, augenblicklich empört. »Das betrifft mich, das ist mein Problem. Und jetzt, wo ihr daran denkt, etwas zu unternehmen, etwas, das mich unmittelbar angeht, da willst du, dass ich gehe? Vergiss es, Dad, ich lasse mich nicht ausschließen. Wir reden hier immerhin über mein Leben.« Wieder herrschte beklommenes Schweigen, bis Sally beipflichtete: »Ja, das stimmt, aber hör zu, Liebling. Wir müssen die Gewissheit haben, dass du – juristisch gesehen – an dem, was wir tun, vollkommen unbeteiligt bist. Deshalb kannst du an der Planung nicht mitwirken. Wahrscheinlich wirst du etwas tun können, ich weiß es nicht. Aber es wird dann nicht Teil einer kriminellen Konspiration sein. Du musst sowohl vor O’Connell sicher sein als auch vor der Polizei, falls das, was wir am Ende entscheiden, uns um die Ohren fliegt.« Sally sagte das in ihrem kurz angebundenen, effizienten Anwaltston.
»Also stelle verdammt noch mal keine Fragen. Tu, was dein Vater sagt. Geh nach oben, warte geduldig, und danach mach einfach, worum wir dich bitten, ohne zu fragen, warum.« »Du behandelst mich wie ein Kind!«, platzte Ashley heraus. »Genau«, sagte Sally ruhig. »Das lass ich mir nicht gefallen.« »Doch, das wirst du. Denn das ist die Bedingung dafür, dass ich weitermache.« »Das kannst du nicht mit mir machen!« »Was machen wir denn?«, beharrte Sally. »Du weißt nicht, was wir tun werden. Willst du etwa sagen, wir hätten nicht das Recht, aus freien Stücken und nach eigenem Gutdünken etwas für unsere Tochter zu tun? Willst du etwa behaupten, wir dürften keine Schritte unternehmen, um dir zu helfen?« »Ich sage ja nur, dass es hier um mein Leben geht!« »Ja«, bestätigte Sally, »das sagtest du bereits. Wir haben es gehört. Und genau deswegen hat dein Vater dich gebeten, den Raum zu verlassen.« Ashley funkelte ihre Eltern an, und die Tränen standen ihr in den Augen. Sie fühlte sich vollkommen hilflos und
ohnmächtig. Sie wollte gerade erneut protestieren, als Hope sie unterbrach. »Mutter, es wäre schön, wenn du mit Ashley raufgehen würdest.« »Was?«, herrschte Catherine sie an. »Mach dich nicht lächerlich. Ich bin kein Kind, das du herumkommandieren kannst.« »Ich kommandiere nicht.« Hope schwieg einen Moment, bevor sie sagte: »Genau betrachtet, tue ich es doch. Und ich sage dasselbe zu dir wie Scott und Sally eben zu Ashley. Du wirst gebeten werden, etwas zu tun. Da bin ich mir sicher. Es ist für mich einfach zu schwer, ungewohnte Pfade zu betreten, wenn ich mir die ganze Zeit Sorgen um dich machen muss. So einfach ist das.« »Na schön, es ist nett von dir, dass du dir Sorgen machst, Schätzchen, aber ich bin viel zu alt und viel zu eigensinnig, als dass mein eigenes Kind auf mich aufpassen müsste. Ich kann sehr gut für mich selbst entscheiden, verdammt.« »Das ist es ja gerade.« Hope sah ihre Mutter streng an. »Wieso willst du nicht begreifen, dass ich – genau wie Sally und Scott durch Ashley – in meinem Handlungsspielraum eingeschränkt bin? Bist du so selbstbezogen, dass du mir nicht gestatten kannst, meinen eigenen Weg zu gehen?«
Diese Frage ließ Catherine verstummen. Ihr war bewusst, dass genau diese Frage seit vielen Jahre zwischen ihr und ihrer Tochter stand. Jedes Mal hatte sie eingelenkt, selbst wenn Hope nichts davon wusste. Catherine schnaubte und drückte sich ruckartig an die Sessellehne – wütend über das, was ihre Tochter sagte, und ebenso wütend darüber, dass sie ihr nicht widersprechen konnte. Einen Moment lang kochte sie innerlich, dann stand sie auf. »Ich denke, du irrst«, sagte sie. »Was mich betrifft. Und du« – damit drehte sie sich zu Sally um – »irrst dich vielleicht in Bezug auf Ashley.« Catherine schüttelte den Kopf. »Wir sind beide vollkommen in der Lage, alle möglichen Risiken einzugehen. Große Risiken, wenn es sein muss. Aber das hier ist nur der erste Schritt, und falls ihr darauf besteht, dass ich hier und jetzt gehe, dann werde ich das tun.« Sie drehte sich zu Ash ley um. »Das könnte sich noch ändern. Ich hoffe, das wird es auch. Aber für den Augenblick, meinetwegen. Komm, Schätzchen, du und ich gehen jetzt nach oben und vertrauen darauf, dass es diesen Herrschaften bald dämmern wird, wie absolut dumm es ist, wenn sie uns ausschließen wollen.« Sie nahm Ashley bei der Hand, um sie halb aus dem Sessel zu ziehen. »Das passt mir nicht, ganz und gar nicht«, erklärte Ashley. »Und ich halte es für absolut unfair. Und nicht richtig.« Dennoch stand sie auf und trottete hinter Catherine her
nach oben. Die drei Zurückgebliebenen sahen ihnen schweigend nach. »Danke, Hope«, meinte Sally. »Das war ein ziemlich kluger Zug.« »Wir spielen hier nicht Schach«, erwiderte Hope. »Doch, in gewisser Weise schon«, sagte Scott. »Zumindest ab jetzt.«
Es dauerte zwar eine Weile, aber am Ende hatten sie die vorläufige Aufgabenverteilung zwischen ihnen festgelegt. Ausgehend von dem spärlichen Gerüst an Informationen, die sie Murphys Bericht entnahmen, sollte Scott Michael O’Connells Vergangenheit durchleuchten. Sich sein Zuhause ansehen, nachforschen, wo er aufgewachsen war, so viel wie möglich über O’Connells familiären Hintergrund, seine beruflichen Tätigkeiten, seine Ausbildung in Erfahrung bringen. Scott sollte feststellen, mit wem sie es überhaupt zu tun hatten. Sally sollte sich übers Wochenende mit der juristischen Seite befassen. Sie wussten nicht, welches Verbrechen sie Michael O’Connell unterschieben sollten, zumindest im Augenblick noch nicht, auch wenn sie die Befürchtung hegten, dass es ein Kapitalverbrechen sein musste. Das ganze Gespräch hindurch vermieden sie es, den Begriff Mord in den Mund
zu nehmen, doch er lauerte hinter allem, was sie sagten. Ein Verbrechen aus der Luft zu greifen erfordert einiges an Planung, die Sally übernahm. Sie sollte nicht nur herausfinden, welches die geeignetste Straftat war – das heißt, was O’Connell am sichersten und für die längste Zeit aus ihrem Leben verbannen würde –, sondern auch, welches sich seitens der Staatsanwaltschaft am leichtesten beweisen ließ. Welches am wenigsten verhandlungs- oder kompromissfähig war. Es musste etwas sein, das er nicht von sich weisen und nicht anderen anlasten konnte. Was immer es war, er musste vollkommen allein dastehen. Und sie hatte in Erfahrung zu bringen, unter welchen Voraussetzungen die Staatsanwaltschaft ihm die Tat absolut wasserdicht vor Gericht beweisen konnte. Hope, die, so ihre Vermutung, die Einzige von ihnen war, die O’Connell vielleicht nicht sofort wiedererkennen würde, übernahm die Aufgabe, ihn aufzuspüren und zu beschatten. Sie sollte seinen Alltag so gründlich ausspionieren, wie sie konnte. Sie gingen davon aus, dass die nötigen Antworten auf diese Weise zu finden waren. Dabei war schwer zu sagen, wer von ihnen sich der größten Gefahr aussetzte. Wahrscheinlich Hope, dachte Sally, weil sie O’Connell physisch am nächsten käme. Doch Sally wusste, dass sie bereits in dem Moment eine
Straftat beging, als sie ihren ersten juristischen Fachtext zur Hand nahm. Scott seinerseits bewegte sich auf dem unsichersten Terrain, da keiner von ihnen ahnen konnte, worauf er sich einließ, sobald er den Namen Michael O’Connell in der Gegend erwähnte, in der er aufgewachsen war. Es wurde beschlossen, dass Catherine und Ashley im Haus bleiben würden. Catherine, die es immer noch bedauerte, O’Con nell nicht erschossen zu haben, als sich ihr die Gelegenheit dazu bot, war dafür zuständig, sich für den Fall, dass O’Connell plötzlich an ihrer Haustür stehen sollte, ein System an Schutzvorkehrungen auszudenken. Das war Sallys allergrößte Sorge: dass er zuschlagen würde, bevor sie handeln konnten. Gegenüber Hope und Scott vermied sie es allerdings, von einem Wettlauf zu sprechen. Sie nahm aber an, dass sie alle das Gleiche dachten.
Einen Moment lang beäugte sie mich, als erwartete sie, dass ich etwas sagte.
Doch als ich schwieg, fragte sie geradeheraus: »Haben Sie sich schon mal gründlich mit der Vorstellung vom perfekten Verbrechen befasst? Ich habe einige Zeit darauf verwendet, mich mit ein paar Fragen auseinanderzusetzen. Was ist Recht? Was ist Unrecht? Was ist gerecht? Was ist ungerecht? Am Ende bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass das perfekte Verbrechen, das wirklich perfekte Verbrechen nicht nur daran hängt, ob man ungeschoren davonkommt – das wäre die Mindestanforderung –, sondern dass man dabei auch eine tiefgreifende psychische Veränderung auslöst. Es muss eine Erfahrung sein, die das ganze Leben grundlegend verändert.« »Einen Rembrandt aus dem Louvre zu stehlen würde demnach nicht genügen?« »Nein, das macht einen höchstens reich. Und es macht einen allenfalls zu einem Kunsträuber. Nicht viel anders als der kleine Ganove, der im Laden an der Ecke die Knarre schwingt. Ich denke, das perfekte, vielleicht sollte ich besser sagen: das ideale Verbrechen ist eher auf der moralischen Ebene angesiedelt. Es macht ein Unrecht gut. Es schafft Gerechtigkeit, statt ihr zuwiderzulaufen. Es öffnet Horizonte.« Ich wich auf meinem Stuhl zurück. Mir lagen Dutzende Fragen auf der Zunge, doch es erschien mir sinnvoller, sie einfach reden zu lassen.
»Und noch etwas«, fügte sie kalt hinzu. »Was denn?« »Das Verbrechen stellt die Unschuld wieder her.« »Sie meinen, Ashley?« Sie lächelte. »Natürlich.«
34 Die Frau, die Katzen liebte
Das Halbfinale ging ins Elfmeterschießen. Im Sport, musste sie denken, gab es wahrlich eine ganze Reihe grausamer Abschlussrituale, doch das hier war eins der schlimmsten. Hopes Mannschaft war eindeutig unter Druck geraten, hatte jedoch zu einer Willensstärke gefunden, die ihr half, dem Gegner standzuhalten. Ganz offensichtlich waren die Mädchen er schöpft, und die Anstrengung stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Sie waren alle schweiß- und dreckverschmiert, und mehr als eine hatte blutige Knie. Die Torhüterin rannte im
Hintergrund nervös hin und her. Hope überlegte, ob sie hingehen und etwas zu ihr sagen sollte, doch dann verstand sie, dass dies ein Moment war, in dem ihre Spielerin auf sich gestellt war. Falls sie das Mädchen beim Training nicht angemessen vorbereitet hatte, dann gab es nichts, womit sie das Defizit jetzt in der letzten Minute wettmachen konnte. Sie hatten das Glück nicht auf ihrer Seite. Hopes fünfte Schützin, ihre Kapitänin, Liga- und Regionalklassenspielerin, die in ihren vier Studienjahren noch keinen Elfmeter verschossen hatte, traf die Querlatte, und so endete die Saison mit dem hässlichen Geräusch eines Balls, der an Metall abprallt. Einfach so, ungefähr so heftig wie eine Herzattacke. Die Mädchen des gegnerischen Teams kreischten vor ungezügelter Freude und rannten nach vorne, um ihre Torwartin zu umarmen, die während des ganzen Elfmeterschießens kein einziges Mal mit dem Ball in Berührung gekommen war. Hope sah, wie ihre eigene Spielerin auf dem schmutzigen Spielfeld in die Knie ging, bevor sie das Gesicht in die Hände legte und in Tränen ausbrach. Die anderen Mädchen waren nicht weniger am Ende, und Hope spürte, dass ihre eigenen Nerven blanklagen. Dennoch schaffte sie es, ihnen zu sagen: »Lasst eure Mannschaftskameradin da draußen nicht alleine. Ihr gewinnt als Team, und ihr verliert als Team. Geht zu ihr und erinnert sie daran.« Die Mädchen rannten alle zu ihrer Kapitänin, und Hope
fragte sich, woher sie die Energie dazu nahmen. Sie war in diesem Moment auf sie alle stolz. Siege, dachte sie, bringen geteilte Freude. Niederlagen erweisen den wahren Charakter. Hope sah zu, wie sich die Mannschaft auf dem Spielfeld versammelte. Sie dachte daran, dass sie in den nächsten Tagen eine weitere Schlacht zu schlagen hatte. Sie fröstelte bei dem Gedanken und zitterte. Dies war das letzte Spiel. Der Winter stand vor der Tür. Es war Zeit, mit dem anderen Spiel zu beginnen.
Auch wenn sie es nicht wusste, hatte sie ihren Wagen genau an derselben Stelle schräg gegenüber von O’Connells Haus geparkt wie seinerzeit Matthew Murphy. Sie lehnte sich auf dem Sitz zurück und zog ihre Strickmütze ein wenig tiefer. Abschließend rückte sie eine neue Brille mit Fensterglas auf der Nase zurecht. Sie trug sonst keine Brille, doch sie ging davon aus, dass ein wenig Maskierung nicht schaden konnte. Hope war sich nicht sicher, ob Michael O’Connell sie je gesehen hatte, doch sie vermutete, dass das der Fall war. Wahrscheinlich hatte er mit jedem von ihnen mehr oder weniger dasselbe getan, was sie in diesem Augenblick tat. Sie trug Jeans und einen alten Kolani gegen die Kälte am Spätnachmittag. Auch wenn Hope durchschnittlich fünfzehn Jahre mehr auf dem Buckel hatte als die Studenten in der Gegend, konnte sie doch jung genug aussehen, um als älteres Semester durchzugehen. Verzweifelt darum bemüht, möglichst
unauffällig zu wirken, hatte sie ihre Kleider mit derselben Nervosität ausgewählt wie jemand vor einem ersten Date. Sie wollte wie ein Chamäleon, das die Färbung seiner Umgebung annimmt, mit den Straßen von Boston verschmelzen und sich unsichtbar machen. Sie ging davon aus, dass er sie nach wenigen Minuten ent decken würde, falls sie einfach im Wagen sitzen blieb. Geh lieber davon aus, dass er alles weiß, schärfte sie sich ein, dass er weiß, wie du aussiehst, und sich jede Einzelheit deines vier Jahre alten Kleinwagens eingeprägt hat, einschließlich des Kennzeichens. Hope saß reglos da und konnte den Gedanken nicht loswerden, dass sie für ihn allzu leicht zu erkennen war und eine falsche Brille daher herzlich wenig brachte. Sie betrachtete Murphys Bericht auf ihrem Schoß, warf einen weiteren langen Blick auf O’Connells Foto, das ihm beigefügt war, und fragte sich, ob sie ihn erkennen würde. Da ihr nichts Besseres einfiel, öffnete sie die Tür und trat auf die Straße. Sie warf einen verstohlenen Blick auf O’Connells Adresse und wünschte sich, es möge endlich so dunkel werden, dass er in seiner Wohnung Licht machen musste; dann wurde ihr bewusst, dass er viel eher sie sehen würde als umgekehrt, wenn sie in seine Richtung starrte. Sie drehte sich um und lief zügig bis ans Ende des Häuserblocks,
während sie das Gefühl nicht abschütteln konnte, dass sich ihr ein Augenpaar in den Rücken bohrte. Sie ging um die Ecke und blieb stehen. Was nützte es, seine Wohnung zu observieren, wenn sie sich davonstahl? Sie holte tief Luft und fühlte sich völlig inkompetent. Nutzlos, nutzlos, sagte sie sich. Geh zurück, finde ein Versteck in einem Durchgang oder hinter einem Baum und warte. Hab so viel Geduld wie er. Als sie kehrtmachte, erneut um die Ecke lief und den Häuserblock nach einem Versteck absuchte, schüttelte sie gerade den Kopf über ihr Verhalten, als sie O’Connell aus seinem Gebäude kommen sah. Er reckte das Gesicht gen Himmel und grinste, so dass er eine bösartige Unbekümmertheit verströmte, die sie in Rage versetzte. Sie war wütend; es kam ihr vor, als machte er sich über sie lustig, obwohl natürlich nichts darauf schließen ließ, dass er die geringste Ahnung von ihrer Nähe hatte. Sie huschte zur Seite und versuchte, sich an eine Wand zu drücken, während sie ihn weiter beobachtete und hoffte, dass ihre Blicke sich nicht trafen. Im selben Moment entdeckte sie eine kleine, verhutzelte ältere Frau, die Michael O’Connell auf derselben Straßenseite entgegenkam. Hope bemerkte, dass sich seine Miene verfinsterte, kaum dass er sie entdeckt hatte. Der Ausdruck in seinem Gesicht machte Hope Angst; es war, als hätte der Mann sich im Bruchteil einer Sekunde verwandelt – von hemdsärmeliger
Nonchalance zu geballtem Zorn. Die alte Frau schien der Inbegriff an Harmlosigkeit zu sein. Ihr Gang war quälend langsam. Sie war klein und gedrungen und trug einen schäbigen schwarzen Mantel, der wahrscheinlich zwanzig Jahre alt war, und dazu eine bunte Strickmütze auf dem Kopf. Mit beiden Händen trug sie schwere weiße Plastiktüten mit Lebensmitteleinkäufen. Kaum entdeckte die alte Frau Michael O’Connell, sah Hope, wie ihre Augen blitzten und sie ein wenig von ihrer Route abkam, um ihm den Weg zu verstellen. Hope drückte sich auf der anderen Straßenseite eng an einen Baum. Die Frau versuchte, eine Hand zu heben, ohne die Tüte abzusetzen, und drohte ihm mit dem Zeigefinger. »Ich kenne Sie!«, sagte sie laut. »Ich weiß, was Sie machen!« »’n Scheißdreck wissen Sie über mich«, erwiderte O’Connell, seinerseits mit erhobener Stimme. »Ich weiß, dass Sie was mit meinen Katzen machen. Ich weiß, dass Sie welche stehlen. Oder schlimmer! Sie sind ein übler, bösartiger Mensch, und ich sollte Sie der Polizei melden!« »Ich hab Ihren verdammten Katzen nichts getan. Vielleicht
füttert irgendeine andere verrückte Alte die durch. Vielleicht mögen sie auch nur den Fraß nicht, den Sie ihnen rausstellen. Vielleicht haben sie auch irgendwo eine bessere Bleibe gefunden, alte Schlampe. Und jetzt lassen Sie mich in Ruhe, und seien Sie lieber froh, dass ich Ihnen nicht das Gesundheitsamt auf den Hals schicke, denn die werden mit absoluter Sicherheit all diese räudigen Viecher einsammeln und einschläfern.« »Sie sind ein grausamer, herzloser Mensch«, versetzte die alte Frau steif. »Geh’n Sie mir aus dem Weg und scheren Sie sich zum Teufel«, schnauzte O’Connell und drängte sich an der alten Frau vorbei, um weiter die Straße hinunterzuschlendern. »Ich weiß, was Sie machen!«, brüllte die alte Frau ihm noch einmal hinterher. O’Connell drehte sich um und erwiderte ihren wütenden Blick. »Wissen Sie was?«, antwortete er kalt. »Also, Sie können von Glück sagen, wenn ich das, was ich angeblich mit Ihren Katzen mache, nicht eines Tages mit Ihnen mache.« Hope sah, wie die alte Dame nach Luft schnappte und einen Schritt zurücktrat, als hätte sie der Schlag getroffen. O’Connell, offensichtlich mit seiner Antwort zufrieden, machte kehrt und eilte grinsend die Straße entlang.
Hope wusste nicht, wo er hin wollte, doch ihr war klar, dass sie ihm folgen sollte. Als sie sich wieder zu der alten Frau umdrehte, die immer noch wie erstarrt auf dem Bürgersteig stand, kam ihr eine Idee. Kaum war Michael O’Connell am Ende des Häuserblocks um die Ecke verschwunden, stürmte Hope zu der Frau. Nach einem letzten Blick auf die Straßenecke winkte sie ihr zu. »Entschuldigen Sie, Ma’am«, rief sie so freundlich, wie sie konnte, aber deutlich genug, um die Dame auf sich aufmerksam zu machen, »Entschuldigen Sie …« Die Frau drehte sich misstrauisch zu ihr um. »Ja?«, fragte sie vorsichtig. »Tut mir leid«, entschuldigte sich Hope hastig. »Ich war auf der anderen Straßenseite und habe wohl oder übel Ihren Wortwechsel mit dem jungen Mann da mit angehört.« Die Frau sah Hope weiter vorsichtig an, während Hope behutsam näher trat. »Er wirkte sehr unhöflich und respektlos.« Die alte Frau zuckte die Achseln und fragte sich offenbar immer noch, was Hope von ihr wollte. Hope holte tief Luft und ließ eine Lüge vom Stapel. »Ich vermisse seit ein paar Tagen meinen Kater, einen
richtig süßen Gescheckten, mit weißen Vorderpfoten – deshalb nenne ich ihn Socks. Er kommt nicht mehr nach Hause, und ich weiß einfach nicht, was ich machen soll. Ich werde noch wahnsinnig. Ich wohne nur ein, zwei Straßen weiter.« Hope winkte vage in eine Richtung, die praktisch ganz Boston einschloss. »Vielleicht haben Sie ihn ja gesehen?« In Wahrheit konnte Hope Katzen nicht besonders leiden. Sie brachten sie zum Niesen, und sie mochte nicht, wie die Tiere sie ansahen. »Er ist so ein süßer Fratz, ich hab ihn schon seit Jahren, und es passt einfach nicht zu ihm, so lange wegzubleiben.« Die Lügen kamen ihr glatt über die Lippen. »Ich weiß nicht«, antwortete die alte Frau langsam. »Ich hab ein paar Gescheckte in meiner Sammlung, aber soviel ich weiß, keine neuen. Andererseits …« Die Frau wandte den Blick von Hope zu der Stelle, an der Michael O’Connell verschwunden war. Sie fauchte beinahe wie einer ihrer Schützlinge. »Ich kann nicht ausschließen, dass er was Böses mit ihnen gemacht hat.« Hope verzog entsetzt das Gesicht. »Der mag keine Katzen, ja? Was muss man für ein Mensch sein …« Sie brauchte den Satz nicht zu Ende zu führen. Die alte Frau machte einen Schritt zurück und musterte Hope von
oben bis unten. »Vielleicht hätten Sie Lust auf eine Tasse Tee, und ich zeige Ihnen meine Kinderschar?« Hope nickte und beugte sich herunter, um der Frau die Einkaufstüten abzunehmen. Ich bin drinnen, dachte sie. Es gab ihr das Gefühl, direkt in die Nachbarschaft der Höhle des Löwen eingeladen zu werden.
Scott seufzte beim Anblick des hingeklatschten Baus aus verblichenen Schlacken- und Ziegelsteinen und stellte sich vor, dass derselbe Architekt, der diese Highschool entworfen hatte, sonst vermutlich Gefängnisse baute. Davor parkte eine Reihe gelber Schulbusse mit laufenden Motoren und erfüllte die Luft mit starkem Dieselgestank. Eine ausgefranste amerikanische Flagge hatte sich um den Mast gewickelt und mit der Fahne von New Hampshire verheddert. Beide flatterten zuckend in der steifen Brise. Seitlich befand sich ein hoher, rostiger Maschendrahtzaun. Auf einem Vordach waren zwei Botschaften zu lesen: Auf in den Kampf! Und: Ab sofort Anmerdung zur Aufnahmeprüfung! Niemand schien den Schreibfehler bemerkt zu haben. Auch Scott hatte sich eine Kopie von Murphys Bericht in die Jackentasche gestopft. Er enthielt nicht mehr als ein erstes Skelett von O’Connells Vergangenheit, und Scott war entschlossen, die Knochen mit Fleisch zu füllen.
O’Connells Highschool bot so gut wie jeder andere Ansatzpunkt einen logischen Einstieg, auch wenn das, was er hier erfahren würde, zehn Jahre alt war. Er hatte einen deprimierenden Morgen damit verbracht, die Welt in Augenschein zu nehmen, in der O’Connell aufgewachsen war. Die Küstenregion von New Hampshire ist ein Ort der Widersprüche; der Atlantik verleiht ihr große Schönheit, doch die Industrie, die sich überall dort angesiedelt hatte, wo Flüsse sich ins Meer ergossen, war abweisend und herzlos, eine Phalanx an Schornsteinen und Bahnhöfen, Lagerhäusern und Hüttenwerken, die rund um die Uhr arbeiteten. Es war, als blickte man am helllichten Tage auf eine viel zu alte Stripperin in einem heruntergekommenen Club. Die Gegend, in der Michael O’Connell aufgewachsen war, wurde vom Schiffsbau beherrscht. Riesige Kräne, die tonnenweise Stahl bewegen konnten, ragten in den grauen Himmel. Hier war es im Sommer so heiß wie im Winter kalt, und die Menschen trugen den ganzen Tag über Schutzhelme, Overalls und schwere, ramponierte Stiefel. Die Leute, die auf den Werften arbeiteten, waren stämmig und stetig und ebenso unverzichtbar wie das schwere Gerät, das sie bedienten. Härte galt hier als höchste Tugend. Scott fühlte sich gänzlich fehl am Platze. Als er im Auto saß und die Schülerscharen aus dem Gebäude kommen sah,
kam er sich vor wie von einem anderen Stern. In seiner Welt wurden die Studenten auf einen Weg zum Erfolg gebracht, der mit all den Statussymbolen einherging, welche Amerika so gern vorzeigte: dicke Wagen und Bankkonten, große Häuser. Die Teenager, die er auf ihrem Weg zu den Bussen beobachtete, hegten bescheidenere Träume, vermutete er, und viele von ihnen würden in einer Fabrik mit einem langen Arbeitstag und Stechuhr enden. Wenn ich in dieser Gegend aufwachsen würde, dachte er, würde ich alles daransetzen, hier wegzukommen. Als die vollbeladenen Busse sich langsam auf den Weg machten, stieg er aus und lief schnell zum Schultor hinüber. Ein Wachmann, der in der Nähe stand, verwies ihn ans Haupt büro. Dort standen mehrere Sekretärinnen hinter einer Theke. Er konnte an ihnen vorbei den Schuldirektor sehen, der in müdem Ton eine Schülerin mit weinrotem Stachelhaar und schwarzer Lederjacke sowie Ohr- und Augenbrauenpiercings belehrte. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte eine junge Frau. »Ich hoffe«, erwiderte Scott. »Mein Name ist Johnson. Ich arbeite für Raytheon; wissen Sie, wir kommen aus der Gegend von Boston. Wir wollen gerade einem jungen Mann eine Stelle anbieten. In seinem Lebenslauf steht, dass er hier vor zehn Jahren seinen Highschool-Abschluss gemacht hat. Wissen Sie, wir haben eine Reihe Regierungsaufträge, deshalb müssen wir alles doppelt
überprüfen.« Die Sekretärin drehte sich zu ihrem Computer um. »Der Name?« »Michael O’Connell.« Sie drückte einige Tasten. »Abschlussjahrgang 1995.« »Haben Sie irgendetwas, womit Sie uns vielleicht helfen können?« »Noten und andere Daten kann ich nicht ohne schriftliche Genehmigung rausgeben.« »Ja, sicher«, sagte Scott. »Na jedenfalls, vielen Dank.« Er zögerte einen Moment, während die Sekretärin sich wieder daranmachte, Unterlagen elektronisch abzuspeichern. Scotts Blick traf sich mit dem einer älteren Frau, die gerade in dem Moment aus einem Büro des stellvertretenden Direktors herausgekommen war, als er O’Connells Namen genannt hatte. Sie schien mit sich zu kämpfen. Dann ging sie mit einem kleinen Achselzucken zu ihm herüber. »Ich kannte ihn«, erklärte sie. »Er bekommt einen Job?« »Programmieren. Datenerstellung, so was in der Art. Es ist nichts von zentraler Bedeutung, aber da ein Teil der
Informationen mit Pentagon-Verträgen zu tun hat, müssen wir den Leu mund der Bewerber überprüfen.« Sie schüttelte erstaunt den Kopf. »Freut mich zu hören, dass er sein Leben in Ordnung gebracht hat. Raytheon. Das ist eine große Firma.« »War sein Leben denn damals so durcheinander?« Die Frau lächelte. »Könnte man so sagen.« »Wissen Sie, jeder hat an der Highschool mal irgendwann Ärger. Wir versuchen, über die typischen TeenagerProbleme hinwegzusehen. Bei ernsteren Problemen sind wir allerdings auf der Hut.« Die Frau nickte wieder. »Ja, Kleinkram.« Sie überlegte. »O’Connell?« »Es fällt mir schwer. Besonders, wenn er die Dinge zu seinen Gunsten gewendet hat. Ich möchte ihm nicht im Wege stehen.« »Es wäre eine Hilfe für uns, wirklich.« Die Frau zögerte erneut, bevor sie sagte: »Er hat damals, solange er hier war, für schlechte Nachrichten gesorgt.« »Wie das?«
»War clever. Weitaus intelligenter als die meisten. Ganz entschieden sogar. Aber voller Probleme. Hab immer gedacht, er ist ein Typ, der ein Massaker wie das in Columbine anrichten könnte, nur dass Columbine später war. Wissen Sie, still, führte aber ständig irgendwas im Schilde. Was mich am meisten auf die Palme brachte, war, dass er sich in den Kopf setzen konnte, Sie wären ein Problem für ihn oder Sie stünden ihm im Weg oder er müsste unbedingt etwas Bestimmtes erreichen, und es gab für ihn nichts anderes mehr. Interessierte er sich für ein Fach, dann bekam er locker eine Eins. Passte ihm ein Lehrer nicht, na ja, dann passierten merkwürdige Dinge. Schlimme Dinge. Zum Beispiel konnte der Wagen des Lehrers zertrümmert werden. Oder seine Unterrichtsmaterialien gingen verloren. Oder eine gefälschte Polizeimeldung deutete auf irgendein illegales Verhalten hin. Michael schien immer etwas damit zu tun zu haben, aber man konnte ihm nie etwas beweisen. Ich war erleichtert, als er die Schule verließ.« Scott nickte. »Wieso …«, begann er, doch die Frau brachte den Satz für ihn zu Ende. »Bei dem Elternhaus musste es schiefgehen.« »Wo …« »Das sollte ich wirklich nicht.« Sie nahm einen Zettel heraus und schrieb eine Adresse auf. »Ich weiß nicht, ob
die noch stimmt. Möglicherweise nicht.« Scott nahm sie. »Wie kommt es, dass Sie sich noch so gut daran erinnern? Das ist immerhin zehn Jahre her.« Sie lächelte. »Ich hab die ganze Zeit auf jemanden gewartet, der mich nach Michael O’Connell fragt. Allerdings hätte ich nie gedacht, dass es jemand sein würde, der ihm einen Job geben will. Hatte eher mit der Polizei gerechnet.« »Sie scheinen sich Ihrer Sache sehr sicher zu sein.« Die Frau lächelte. »Ich war mal seine Lehrerin. Englisch in der elften Klasse. Er hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Über die Jahre hat es vielleicht ein Dutzend oder so gegeben, die man nicht vergisst. Die Hälfte davon aus den richtigen Grün den, die andere Hälfte aus den falschen. Wird er mit jungen Frauen in einem Büro arbeiten?« »Ja, wieso?« »Er schien den Mädchen hier irgendwie Unbehagen zu bereiten. Gleichzeitig fühlten sie sich zu ihm hingezogen. Hab nie ganz begriffen, wieso. Wieso fühlt man sich zu jemandem hingezogen, von dem man weiß, dass er einem Kummer machen wird?« »Keine Ahnung. Vielleicht sollte ich mit der einen oder
anderen reden?« »Sicher. Aber wer weiß schon nach so langer Zeit, wo die geblieben sind? Jedenfalls wage ich zu bezweifeln, dass Sie allzu viele Menschen finden, die bereit sind, mit Ihnen über Michael zu sprechen. Wie gesagt, er hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen.« »Und seine Familie?« »Das da ist seine damalige Anschrift. Wie gesagt, ich weiß nicht, ob der Vater noch lebt. Sie können es ja überprüfen.« »Und die Mutter?« »Die ist schon vor Jahren gestorben. Ich hab die Geschichte nie vollständig gehört, aber …« Die Frau straffte sich abrupt. »Soviel ich weiß, starb sie, als er klein war. Vielleicht zehn? Oder dreizehn? Ich denke, mehr sollte ich wirklich nicht sagen. Ich habe schon zu viel geplaudert. Sie brauchen doch nicht meinen Namen, oder?« Scott schüttelte den Kopf. Er hatte genug gehört.
»Earl Grey, Fräulein? Mit ein bisschen Milch?«
»Das wäre schön«, antwortete Hope. »Vielen Dank, Mrs. Abramowicz.« »Sagen Sie bitte Hilda zu mir.« »Gerne, Hilda, danke. Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen.« »Bin gleich bei Ihnen.« Hope hörte, wie der Kessel sang. Sie sah sich um und prägte sich so viel von der Wohnung ein, wie sie konnte. An der Wand hing ein Kruzifix neben einem grellbunten Gemälde von Jesus beim Letzten Abendmahl. Das wiederum rahmten verblichene Schwarzweißfotos von Männern mit steifem Kragen und Frauen in Spitzen. Dagegen hoben sich Bilder von einer dunklen, doch grünen Landschaft ab, von Straßen mit Kopfsteinpflaster und einer Kirche mit steilen Türmen. Hope machte sich leicht einen Reim darauf: längst verstorbene Angehörige in einem osteuropäischen Land, das Hilda jahrzehntelang nicht mehr besucht hatte. Es war ein wenig so, als hätte sie die Wände ihrer Wohnung mit Gespenstern tapeziert. Sie suchte immer noch nach der Geschichte der alten Frau: die Farbe, die rund um die Fensterbänke abblätterte; eine Reihe Arzneimittelfläschchen. In einer Ecke stapelten sich Zeitschriften und Zeitungen, und ein mindestens fünfzehn Jahre alter Fernseher stand in der Nähe eines roten Armlehnstuhls. Dies alles wirkte leer.
Es gab nur ein einziges Schlafzimmer. In der Nähe des Sessels entdeckte Hope einen Korb mit Stricknadeln. Die Wohnung roch ältlich und nach Katzen. Acht oder mehr hockten auf dem Sofa, auf der Fensterbank und an der Heizung. Mehr als eine kam heran und schmiegte sich an Hope. Sie schätzte, dass sich im Schlafzimmer noch einmal doppelt so viele verbargen. Sie holte tief Luft und fragte sich, wie Menschen so einsam enden konnten. Mrs. Abramowicz kam mit zwei Tassen dampfendem Tee herein. Sie lächelte der Katzenversammlung entgegen, die sich im Nu an sie schmiegten und ihr auf dem Fuße folgten. »Ist noch nicht ganz Zeit fürs Abendessen, Liebchen. Dauert aber nicht mehr lange. Erst möchte sich Mutter noch ein bisschen unterhalten.« Sie wandte sich an Hope. »Ihren Socks sehen Sie nicht in meiner kleinen Menagerie, oder?« »Nein«, sagte Hope und legte einen traurigen Ton auf. »Und im Flur vorhin auch nicht.« »Ich versuche, meine Lieblinge aus dem Flur rauszuhalten. Kann ich natürlich nicht die ganze Zeit, weil sie eben kommen und gehen, wie sie wollen, so sind Katzen nun mal. Weil ich nämlich glaube, dass er etwas Schlimmes mit ihnen macht.« »Wie kommen Sie darauf …«
»Er weiß nicht, dass ich jede von ihnen genau kenne. Und alle paar Tage fehlt eine. Ich würde gerne die Polizei holen, aber er hat recht. Die würden mir wahrscheinlich meine übrigen kleinen Freunde wegnehmen, und das könnte ich nicht ertragen. Er ist ein schlechter Mensch, und ich wünschte, er würde ausziehen. Ich würde niemals …« Mrs. Abramowicz schwieg, und Hope beugte sich vor. Die alte Frau seufzte und sah sich in ihrer Wohnung um. »Ich fürchte, meine Liebe, dass dieser böse Mensch ihn sich geschnappt haben könnte, falls Ihr Socks hier zu Besuch war. Oder ihm etwas angetan hat. Das kann ich nicht sagen.« Hope nickte. »Der klingt schrecklich.« »Er macht mir Angst, und normalerweise rede ich nicht mit ihm, außer wenn wir wie heute eine Auseinandersetzung haben. Ich glaube, ein paar von den anderen, die hier leben, fürchten sich auch vor ihm, aber die sagen auch nichts. Und was können wir schon machen? Er bezahlt seine Miete pünktlich, macht keinen Lärm, feiert keine wilden Partys, und alles andere ist den Eigentümern egal.« Hope nippte an dem süßen Tee. »Ich wünschte, ich könnte mir sicher sein. Ich meine, wegen Socks.« Mrs. Abramowicz lehnte sich zurück. »Da gäbe es eine Möglichkeit«, sagte sie langsam, »wie Sie ganz sicher sein
könnten. Und gleichzeitig würde es mir ein paar Fragen beantworten. Ich bin alt und nicht mehr sehr kräftig. Und ich habe Angst. Aber ich weiß nicht, wo ich sonst hin soll. Sie dagegen, meine Liebe, Sie scheinen wesentlich stärker zu sein. Sogar stärker, als ich früher war, in Ihrem Alter. Und ich möchte wetten, dass Ihnen so schnell keiner Angst einjagt.« »Das stimmt.« Wieder lächelte die alte Frau, beinahe schüchtern. »Als mein Mann noch lebte, war unsere Wohnung größer. Da hat genauer gesagt der ganze Teil dazugehört, in dem jetzt Mr. O’Connell wohnt. Wir hatten zwei Schlafzimmer und ein Wohnzimmer, ein Arbeitszimmer und ein richtiges Esszimmer und die ganze Rückseite des Gebäudes für uns. Aber als mein Alfred starb, haben sie die Wohnung in drei Teile zerschnitten. Allerdings haben sie es sich ein bisschen leichtgemacht.« »Leicht?« Mrs. Abramowicz nahm noch einen Schluck Tee. Hope sah, wie ihre Augen in einer Anwandlung von Ärger blitzten. »Ja. Oder wie finden Sie das, wenn sie an den neuen Wohnungen nicht mal die Schlösser auswechseln? An den Türen, die mal zu meiner Wohnung gehörten.« Hope nickte. Sie fühlte plötzlich eine Spannung wie einen
elektrischen Schlag. »Ich wüsste zu gerne, was er mit meinen Katzen gemacht hat«, erklärte Mrs. Abramowicz langsam. Ihre Augen verengten sich, ihre Stimme wurde tiefer, und Hope erkannte, dass mit der Frau nicht zu spaßen war. »Und ich denke, Sie wollen über Ihren Socks Klarheit haben. Es gibt nur eine Möglichkeit, sich Gewissheit zu verschaffen, nämlich reinzugehen.« Sie beugte sich vor, so dass sie nur noch einen halben Meter von Hopes Gesicht entfernt war, als sie flüsterte: »Er weiß es nicht, aber ich habe einen Schlüssel zu seiner Wohnungstür.«
»Nun«, sagte sie, während sich ihr ein Schatten übers Gesicht legte. »Sehen Sie jetzt, was auf dem Spiel stand?« Jeder Reporter weiß, dass zwischen dem Chronisten und seinem Gegenstand eine natürliche Verführungskraft besteht. Vielleicht geht es auch nur darum, dass er instinktiv weiß, wie er einer Quelle die schwierigsten Geschichten entlocken kann. Dennoch war mir bewusst, dass sie die Gespräche lenkte, und zwar von Anfang an. Unsere Treffen waren Rendezvous zum Zweck der Information, nur dass ich sie beim Erzählen der Geschichte
ebenso für meine Absichten nutzen würde wie sie mich jetzt. Sie schwieg eine Weile, bevor sie fragte: »Wie oft bekommen Sie von Ihren Freunden im mittleren Alter zu hören, sie wollten am liebsten alles ändern? Etwas anderes sein, als was sie sind? Sie wünschten sich, es würde etwas passieren, das ihr Leben auf den Kopf stellt und sie aus ihrer öden, tödlichen Routine herausreißt?« »Schon oft«, erwiderte ich. »Die meisten Menschen lügen, wenn sie sagen, sie wollten eine solche Veränderung, weil Veränderungen viel zu beängstigend sind. In Wahrheit wollen sie nur ihre Jugend wiederhaben. In der Jugend sind alle Möglichkeiten Abenteuer. Erst im mittleren Alter fangen wir an, unsere Entscheidungen zu hinterfragen. Wir haben einen Weg eingeschlagen, und jetzt müssen wir ihn auch gehen, nicht wahr? Dann wird es auf einmal zum Problem. Wir gewinnen nicht im Lotto. Stattdessen ruft unser Chef uns herein und eröffnet uns, wir würden wegrationalisiert. Der Mann oder die Frau, mit dem oder der wir seit zwanzig Jahren verheiratet sind, eröffnet uns: ›Ich habe jemanden kennengelernt, ich werde weggehen.‹ Der Arzt sieht vom Bluttest auf und sagt: ›Diese Zahlen gefallen mir nicht, ich werde weitere Untersuchungen veranlassen.‹« »Scott und Sally …«
»Für sie hatte Michael O’Connell diesen Augenblick geschaffen, beziehungsweise dieser Moment kam rasch auf sie zu. Konnten sie Ashley beschützen?« Sie legte plötzlich die Hand auf den Mund, und ich hörte einen tiefen Seufzer. Sie brauchte eine Sekunde, um sich zu fassen. »Weil sie, ohne dass es einer von ihnen ausgesprochen hatte, da jedenfalls noch nicht, alle letztlich wussten, dass sie für das, was sie erreichen wollten, einen hohen Preis bezahlen würden.«
35 Alle in einem Boot
Hope stand unbehaglich mit dem Schlüssel zur Wohnungstür von Michael O’Connell im Flur. Hinter ihr lauerte Mrs. Abramowicz an ihrer eigenen Tür, und die Katzen strichen ihr um die Füße. Sie drängte Hope. »Ich halte Wache. Es passiert schon nichts. Beeilen Sie sich nur«, flüsterte die alte Frau. Hope holte einmal tief Luft und steckte den Schlüssel ins Schloss. Ihr war weder ganz klar, was sie hier eigentlich
machte, noch, wonach sie suchte oder was sie zu erfahren hoffte. Doch sie hatte den Schlüssel in der Hand, und als er sich mit einem leisen Klicken drehte, stellte sie sich vor, wie O’Connell den Bürgersteig entlang auf das Haus zukam und im abendlichen Dämmerlicht jeden Moment hinter ihr stehen würde. Sie spürte förmlich seinen Atem an ihrem Ohr, glaubte seine zischende Stimme zu hören. Sie biss die Zähne zusammen und sagte sich, falls es hart auf hart kam, würde sie sich mit aller Kraft wehren. »Schnell, meine Liebe«, drängte Mrs. Abramowicz, »finden Sie raus, was er mit meinen Katzen macht.« Hope drückte die Tür auf und trat ein. Sie war unschlüssig, ob sie sie hinter sich zumachen oder auflassen sollte, um – ja, was?, dachte sie. Wenn er zurückkommt, sitze ich hier in der Falle. Keine Hintertür. Keine Feuerleiter. Kein Fluchtweg weit und breit. Sie atmete tief durch und lehnte die Wohnungstür an. Zumindest hoffte sie, ein Warnzeichen von Mrs. Abramowicz zu hören, falls die alte Dame dazu imstande war. Hope warf einen Blick auf die Wohnung. Sie war schmuddelig und vernachlässigt. Ganz offensichtlich hatte O’Connell keinen Sinn für seine unmittelbare Umgebung. Keine bunten Poster an den Wänden, keine Topfpflanzen im Fenster, keine mehrfarbige Brücke auf dem Boden. Weder Fernseher noch Stereoanlage. Nur ein paar
zerfledderte Handbücher zu Computerkursen in einer hinteren Ecke. Die Wohnung war karg und schäbig, von der Einfachheit einer Mönchsklause. Das irritierte Hope, denn sie erkannte, dass O’Connell seine ganze Leidenschaft in seine Phantasien steckte. Er lebte in einer anderen Welt, die mit dem Ort, an dem er sich abends schlafen legte, wenig gemein hatte. Zügig ging sie ein paar Schritte weiter, holte noch einmal tief Luft und machte in diesem Moment einen Plan. Präge dir alles ein, sagte sie sich. Mache dir ein vollständiges Bild. Sie griff in ihre Jackentasche und fand einen Zettel. Auf einem kleinen Schreibtisch entdeckte sie einen billigen Stift. Augenblicklich zeichnete sie einen groben Grundriss und wandte sich wieder zum Schreibtisch. Er bestand aus einer billigen Holzplatte auf zwei schwarzen Aktenschränken. Der einzige Stuhl im Raum, aus Holz, mit steifer Rückenlehne, stand vor einem Laptop. Das Ganze war von äußerster Schlichtheit; sie stellte sich Michael O’Connell vor, wie er, das Gesicht in metallisches Licht getaucht, vor dem Bildschirm saß und sich auf die Bilder vor ihm konzentrierte. Der Laptop schien neu zu sein. Er war geöffnet, der Stecker eingestöpselt, und es leuchtete ein Lämpchen.
Hope hielt die Luft an, horchte auf irgendwelche Geräusche vom Flur und setzte sich vor den PC. Sie notierte sich Fabrikat und Modell. Dann starrte sie auf den schwarzen Bildschirm. Wie ein Arbeiter, der nach einem nackten Stromkabel greift, berührte sie zögerlich das Mousepad in der Mitte. Es surrte, dann leuchtete der Bildschirmschoner auf. Hope merkte, wie ihr der Mund trocken wurde und sich ihr die Kehle zusammenschnürte. Sie blickte auf ein Bild von Ashley. Es war nicht hundertprozentig scharf und offensichtlich in Eile und aus geringer Entfernung aufgenommen. Sie drehte sich um, als habe sie ein plötzliches Geräusch hinter ihr erschreckt. Ihr Gesicht war angstverzerrt. Hope starrte auf das Bild und hörte, wie ihr Atem kurz und flach wurde. Die Aufnahme, die O’Connell als Bildschirmschoner ausgesucht hatte, sprach Bände und verhieß nichts Gutes. O’Connell liebte den Moment, in dem er Ashley überrascht und verängstigt hatte. Das war Liebe, dachte sie, und zwar die übelste Sorte. Sie biss sich auf die Lippe, bewegte den Kursor auf EIGENE DATEIEN und klickte sie an. Sie stieß auf vier Unterverzeichnisse: Ashley Liebe. Ashley Hass. Ashley Familie. Ashley Zukunft.
Sie klickte das erste an, doch es erschien nur ein Fenster: »Geben Sie Ihr Passwort ein.« Sie bewegte den Kursor auf Ashley Hass. Wieder blinkte ihr dieselbe Aufforderung entgegen. Hope schüttelte den Kopf. Sie traute sich zu, das Passwort herauszubekommen, wenn sie nur lange genug sitzen blieb und darüber nachdachte, doch sie machte sich schon jetzt Sorgen darüber, wie lange sie bereits in der Wohnung war. Immer noch atemlos, schloss sie sämtliche Dateien und versetzte den Laptop wieder in den ursprünglichen Zustand. Dann zog sie die Schubladen auf, fand sie aber bis auf ein paar verstreute Bleistifte und einen Stoß Druckerpapier leer. Als sie aufstand, fühlte sie sich ein wenig schwindelig. Beeil dich, mahnte sie sich. Du spielst mit dem Feuer. Sie sah sich um. Schau im Schlafzimmer nach. Der Raum roch nach Schweiß und mangelnder Hygiene. Sie lief zu einer ramponierten Kommode und wühlte, so schnell sie konnte, den Inhalt durch. Auf einem Bettgestell befand sich eine Matratze, darauf eine verkrumpelte Decke. Sie ging in die Knie und sah unter dem Bett nach. Nichts. Sie ging zu dem kleinen Schrank. Darin hingen ein paar Jacken und Hemden. Ein einziges schwarzes Sakko.
Zwei Krawatten. Ein Anzughemd und eine graue Hose. Nichts Besonderes. Sie wollte sich gerade umdrehen, als sie in der hintersten Ecke des Schranks einen einzelnen verbeulten alten Arbeitsstiefel entdeckte, in den er eine dreckverkrustete Sportsocke gestopft hatte. Der Schuh war teilweise hinter einem Stapel verschwitzter Sportkleidung verborgen. Ein einzelner Stiefel ergab keinen Sinn. Sie sah sich nach dem zweiten um, konnte aber keinen finden. Das machte ihr zu schaffen. Sie stand reglos da und starrte auf den Stiefel, als habe er ihr etwas zu sagen. Dann griff sie in den hintersten Winkel, schob behutsam die Kleidung weg und nahm den Stiefel heraus. Er war schwer, und sie dachte sofort, dass etwas darin versteckt sein musste. Wie eine Chirurgin, die ein Stück Haut zurückschält, nahm sie die Socke heraus. Sie stöhnte auf. Im Stiefel befand sich eine Pistole. Sie wollte danach greifen, mahnte sich aber, die Waffe nicht anzurühren. Ein Teil von ihr wollte sie packen, sie stehlen, sie einfach aus Michael O’Connells Reichweite entfernen. Ist das die Waffe, mit der er Ashley töten wird? Hope fühlte sich, als hätte sie jemand unter Wasser getaucht. Natürlich musste O’Connell, falls die Waffe weg
war, den Schluss ziehen, dass einer von ihnen da gewesen war. Und er würde etwas unternehmen. Vielleicht würde es eine gewaltsame Reaktion auslösen. Vielleicht hatte er auch irgendwo eine zweite Waffe versteckt. Vielleicht, vielleicht. Ihr schwirrten Fragen und Zweifel durch den Kopf. Sie wünschte sich, sie hätte die Möglichkeit, die Waffe unschädlich zu machen, zum Beispiel, indem sie den Schlagbolzen entfernte. Sie hatte einmal in einem Krimi darüber gelesen, aber sie hatte keine Ahnung, wie man das machte. Die Patronen herauszunehmen, war nutzlos, da er merken würde, dass jemand da gewesen war, und sie einfach ersetzen würde. Sie starrte die Waffe an. Am Lauf sah sie das Fabrikat und das Kaliber, .25. Die Hässlichkeit der Pistole überwältigte sie beinahe. Unsicher, ob sie das Richtige tat, steckte sie die Waffe wieder in den Stiefel, diesen in die Ecke im Schrank und rückte die Kleider so zurecht, dass alles so aussah wie zuvor. Sie wäre am liebsten weggerannt. Wie lange war sie schon in der Wohnung? Fünf Minuten? Zwanzig? Sie glaubte, Schritte zu hören und Stimmen und merkte, dass sie halluzinierte. Hau ab!, sagte sie sich. Hope trat am Badezimmer linker Hand vorbei den Rückzug
an. Auf der Höhe der kleinen Küche blieb sie stehen. Die Katzen, dachte sie. Mrs. Abrawowicz wird wissen wollen, ob sie eine Spur von ihnen entdeckt hatte. Sie spähte in den kleinen Raum. Kein Tisch, nur ein Kühlschrank, ein kleiner vierflammiger Herd und ein Regal mit ein paar Dosen Suppe und Eintopfgerichten. Kein Katzenfutter. Kein Rattengift, um es in eine tödliche Mahlzeit zu mischen. Hope ging zum Kühlschrank und zog die Tür auf. Ein bisschen Brotaufstrich und kaltes Bier war alles, was O’Connell hier aufbewahrte. Sie machte zu und öffnete, fast wie nebenbei die kleinere Klappe zum Tiefkühlfach, wo sie mit ein paar Pizzen rechnete. Was sie sah, war wie ein Schlag ins Gesicht, und sie konnte nur mühsam einen Schrei unterdrücken. Dort starrten ihr die Kadaver von mindestens einem halben Dutzend Katzen entgegen. Eine davon hatte fratzenartig die Zähne gebleckt, ein entsetzliches, eisiges Todesgrinsen. Hope bekam Panik, und sie machte, die Hand auf den Mund gelegt, einen Satz zurück. Ihr raste das Herz, ihr war speiübel, und sie fühlte sich fiebrig heiß. Sie wollte schreien, aber aus ihrer zugeschnürten Kehle drang kein Laut. Jede Faser in ihr schrie, lauf weg, nichts wie raus hier
und komm nie wieder. Sie versuchte, sich zur Ruhe zu zwingen, doch sie hatte keine Chance. Als sie die Hand ausstreckte, um die Klappe zum Tiefkühlfach zu schließen, zitterte sie. Aus dem Flur hörte sie plötzlich ein Zischen. »Beeilen Sie sich! Jemand ist am Fahrstuhl!« Hope machte kehrt und rannte zur Wohnungstür. »Schnell!«, hörte sie Mrs. Abramowicz flüstern. »Da kommt jemand!« Die alte Dame lauerte immer noch in ihrer eigenen Wohnungstür, als Hope in den Flur geschossen kam. Sie sah, wie die Stockwerkanzeige über dem Fahrstuhl wechselte, während sie O’Connells Tür abschloss. Sie hantierte mit dem Schlüssel herum und ließ ihn beinahe fallen, als sie versuchte, ihn ins Schloss zu stecken. Mrs. Abramowicz wich zurück und suchte in ihren eigenen Räumen Zuflucht. Die Katzen zu ihren Füßen huschten hin und her, als spürten sie die Angst und Panik in der Stimme der alten Frau. »Schnell, schnell, wir müssen weg!« Hope sah, dass die alte Dame fast ganz hinter der Tür verschwunden war und diese angelehnt hatte. Sie spürte, wie der Schlüssel das Schloss zuschnappen ließ, und trat, mit dem Gesicht zum Fahrstuhl, zurück. Als er ihr Stockwerk erreichte, sah sie das Licht in der Kabine. Sie war wie erstarrt, unfähig, sich zu bewegen.
Der Fahrstuhl schien zu halten, fuhr aber doch weiter zum nächsten Stock. Ihre Ohren dröhnten vor Adrenalin, so dass jedes Geräusch gleich einem Echo jenseits einer Schlucht wie von ferne kam. Sie machte blitzschnell eine Bestandsaufnahme von ihrem Herzen, ihrer Lunge, ihrem Kopf, um festzustellen, was noch funktionierte und was durch die Angst außer Kraft gesetzt war. Hinter ihr öffnete Mrs. Abramowicz die Tür einen Spaltbreit weiter und streckte den Kopf heraus. »Falscher Alarm, meine Liebe. Haben Sie rausbekommen, was mit meinen Katzen passiert ist?« Hope holte tief Luft und versuchte, ihren Puls zu normalisieren. Als sie wieder sprechen konnte, klang ihre Stimme kalt. »Nein«, log sie. »Nirgends eine Spur von ihnen.« Sie sah eine gewisse Enttäuschung in den Augen der alten Frau. »Ich denke, ich sollte jetzt besser gehen«, erklärte Hope steif. Doch sie war geistesgegenwärtig genug, den Schlüssel zu Michael O’Connells Wohnung in die
Jackentasche zu stecken, während sie kehrtmachte und Richtung Notausgang hastete. Sie wusste, dass das Warten auf den Fahrstuhl ihre Geduld überstieg. Hope taumelte, so schnell sie konnte, die Treppe hinunter, während sich ihr Magen immer noch stoßweise verkrampfte. Mit gekrümmten Schultern hastete sie voran, um endlich nach draußen zu gelangen. Als sie aufsah, erblickte sie in der Tür zur Eingangsdiele eine Gestalt im Dunkeln. Die Angst erdrückte sie beinahe, bis sie erkannte, dass es nur zwei andere Mieter waren, die ins Haus hineinkamen. Einer von ihnen schnaubte, »He!«, als sie sich hastig an ihnen vorbei in die kalte Nacht schob und für das Dunkel, das ihr entgegenschlug, ein Dankgebet zum Himmel schickte. Die letzten Stufen bis zum Gehsteig sprang sie fast, bevor sie, ohne sich noch einmal umzuschauen, die Straße überquerte, die Wagenschlüssel zückte und sich endlich auf den Fahrersitz warf. Innerlich hörte sie eine Stimme, die eindringlich mahnte: Hau ab! Worauf wartest du? Sie wollte gerade aus der Parklücke fahren, als sie aufsah und noch einmal zusammenzuckte. Michael O’Connell schlenderte auf der anderen Straßenseite den Bürgersteig entlang. Sie folgte ihm mit den Augen, als er vor dem Gebäude stehenblieb, in der Tasche nach dem Schlüssel kramte und, ohne auch nur ein einziges Mal in ihre Richtung zu sehen, die Treppe hinaufging und im Haus verschwand.
Sie wartete und sah wenig später die Lichter seiner Wohnung angehen. Hope hatte Angst, er könnte irgendwie bemerken, dass sie da gewesen war. Dass sie etwas durcheinandergebracht hatte, etwas nicht wieder so hinterlassen, wie sie es vorgefunden hatte. Sie legte den Gang ein und fuhr auf die Straße. Ohne sich umzusehen, steuerte sie die nächste Ecke an, wendete und passierte auf einer breiten Straße einige Häuserblocks, bis sie eine andere Stelle fand, an der sie halten konnte. Sie fuhr in die Lücke und überlegte. Wie lange? Drei Minuten? Vier? Fünf? Wie viele Sekunden hatten gelegen zwischen ihrem Einbruch und seiner Rückkehr? Ihr Magen zog sich immer noch zusammen, und die Übelkeit siegte. Hope öffnete die Tür und erbrach still und unerkannt den ganzen Earl-Grey-Tee von Mrs. Abramowicz in den Rinnstein.
Am folgenden Morgen machte sich Scott schon früh an die Arbeit. Kurz vor Sonnenaufgang stand er in seinem billigen Motelzimmer auf und fuhr im Dämmerlicht des Novembertags zu einer Stelle direkt gegenüber dem Haus, in dem Michael O’Connell aufgewachsen war. Er stellte den Motor ab und blieb sitzen, bis die erste Winterkälte ins Wageninnere kroch. Es war eine triste Straße, besser als
ein Wohnwagenpark, aber nicht viel. Die allesamt dringend reparaturbedürftigen Häuser duckten sich an den Straßenrändern. Von den Traufen schälte sich die Farbe, die Dachrinnen hatten sich aus ihren Verankerungen gelöst, kaputtes Spielzeug, aufgegebene Autos und demontierte Schneemobile verunstalteten mehr als einen Eingangsbereich. Fliegengittertüren klapperten im Wind. Einige Fenster waren mit einem robusten Stück Plastik notdürftig ausgebessert worden. Es war augenscheinlich ein Viertel bar jeder Hoffnung. Es war ein Ort, an dem sich die Ambitionen auf ein Sechserpack Bier, einen Lottoschein und ein Motorrad beschränkten, auf Tattoos und einen Samstagabend, an dem man sich volllaufen ließ. Die Teenager sorgten sich wahrscheinlich zu gleichen Teilen um ungewollte Schwangerschaften und Hockeyergebnisse, während die älteren Leute wohl vor allem die Frage beschäftigte, ob ihre Renten sie vor Lebensmittelmarken bewahren konnten. Diese Straße gehörte zu den unfreundlichsten Orten, die Scott je gesehen hatte. Wie zuvor an der Schule wusste Scott auch hier, dass er ein Fremdkörper war. Scott betrachtete das Wogen der morgendlichen Aktivitäten – Kinder, die zu den Schulbussen eilten, und Männer und Frauen, die mit Henkelmännern zur Arbeit strebten. Als es ein wenig ruhiger wurde, stieg er aus. Er hatte eine Rolle Zwanzig-Dollar-Scheine in der Tasche und
rechnete damit, dass er an diesem Morgen einen guten Teil davon loswerden würde. Scott kehrte O’Connells Haus den Rücken und steuerte auf die Adresse direkt gegenüber zu. Er klopfte laut an und ignorierte das wilde, kehlige Bellen eines Hundes. Nach ein paar Sekunden brüllte eine Frau das Tier wütend an, endlich still zu sein, und die Tür öffnete sich. »Ja?« Der Frau – Ende dreißig, in einem rosa Morgenmantel mit dem Logo eines Lebensmittelladens –, die vor ihm stand, hing eine Zigarette im Mundwinkel. Sie versuchte, in der einen Hand ihre Tasse Kaffee zu balancieren, während sie mit der anderen den Hund am Halsband festhielt. »Tut mir leid, er ist eigentlich ganz harmlos, aber er macht den Leuten Angst, weil er jeden anspringt. Mein Mann sagt immer, ich müsste ihn besser erziehen …« Sie zuckte die Achseln. »Schon in Ordnung«, beschwichtigte Scott durch die Fliegengittertür. »Wie kann ich Ihnen helfen?« »Ich komme von der staatlichen Bewährungsabteilung«, log Scott. »Wir führen die Überprüfung eines Straftäters ohne Vorstrafenregister durch, eine Abwägung der Umstände vor der Urteilsfindung. Ein gewisser Michael O’Connell. Hat
mal hier gegenüber gewohnt. Haben Sie ihn wohl gekannt?« Die Frau nickte. »Ein bisschen. Hab ihn seit Jahren nicht mehr gesehen. Was hat er angestellt?« Scott überlegte einen Moment, bevor er sagte: »Es geht um ein Einbruchsdelikt.« »Hat was geklaut, wie?« »Ja«, bestätigte Scott, »sieht so aus.« Die Frau schnaubte. »Und ein Eigentor geschossen, der Idiot? Hätte ihn eigentlich für ein bisschen cleverer gehalten.« »Intelligenter Bursche, oder?« »Gab sich zumindest so. Weiß nicht, ob das dasselbe ist.« Scott lächelte. »Na jedenfalls«, nahm er langsam seinen Faden wieder auf, »wir interessieren uns in erster Linie für die Verhältnisse, aus denen er stammt. Ich muss gleich noch seinen Vater befragen, aber Sie wissen ja, die Nachbarn können manchmal …« Er brauchte den Satz nicht zu Ende zu sprechen, denn die Frau nickte energisch. »Weiß eigentlich nicht allzu viel. Wir sind erst seit ein paar Jahren hier. Aber der alte Mann – na ja, der ist schon ewig
da. Nicht besonders beliebt in der Gegend.« »Wieso?« »Er bezieht ’ne Rente, wegen Erwerbsunfähigkeit. Hat früher auf einer der Werften drüben in Portsmouth gearbeitet. Hatte irgendso ’n Unfall. Sagt er. Hat sich den Rücken verletzt. Sackt jeden Monat einen Scheck vom Betrieb und einen vom Staat ein, und vom Bundesstaat auch noch nebenbei. Aber für einen, der sagt, er ist verletzt, scheint er bestens zurechtzukommen. Verdient sich als Dachdecker was dazu, schon ein bisschen seltsam für ’nen Krüppel. Mein Mann sagt, der arbeitet schwarz. Hab immer damit gerechnet, dass eines Tages so ’n Typ vom Finanzamt vorbeikommt und ein paar Fragen stellt.« »Das erklärt aber noch nicht, dass die Leute ihn nicht …« »Er ist einfach ein mieser Arsch und ein Säufer. Und wenn er sich volllaufen lässt, dann macht er Rabatz. Einen Riesenradau. Dann können Sie ihn mitten in der Nacht brüllen hören, und bestimmt nicht die feinste Sprache, nur dass eigentlich keiner da ist, den er anbrüllen könnte. Manchmal kommt er raus und feuert ein paar Schüsse mit der alten Knarre ab, die er in dem Saustall da drinnen hat, den er sein Zuhause nennt. Hier sind Kinder in der Nachbarschaft, aber das ist ihm egal. Hat auch mal auf den Hund von Nachbarn geschossen. Zum Glück nicht auf meinen. Jedenfalls einfach losgeballert, ohne jeden Grund,
nur so zum Spaß.« »Und der Sohn?« »Wie gesagt, den kannte ich kaum. Aber, wie man so sagt, fällt der Apfel nicht weit vom Stamm. Klingt jedenfalls so.« »Was ist mit der Mutter?« »Die ist längst tot. Hab sie nie gekannt. War wohl ein Unfall, hieß es jedenfalls. Manche meinen, sie hat sich das Leben genommen. Andere geben ihrem Alten die Schuld. Die Polizei hat die Sache ziemlich gründlich unter die Lupe genommen. War wohl verdächtig. Aber dann haben sie es fallenlassen. Vielleicht stand damals was in der Zeitung, keine Ahnung. Ist vor meiner Zeit passiert.« Der Hund bellte erneut, und Scott trat von der Tür zurück. »Vielen Dank auch«, sagte er. »Nur noch eins. Bitte behandeln Sie das hier vertraulich. Wenn die Leute anfangen zu reden, dann erschwert das unsere weiteren Befragungen.« »Ach so, ja, sicher.« Die Frau schob den Hund mit dem Fuß zurück und nahm einen Zug von ihrer Zigarette. »Hey, könnt ihr da unten in Massachusetts den Alten nicht gleich zusammen mit dem Jungen hinter Gitter bringen? Dann hätten wir hier bedeutend mehr Ruhe.«
Scott arbeitete sich den restlichen Vormittag durch das Viertel, indem er sich jeweils als einen anderen Typ von Ermittler ausgab. Ein einziges Mal fragte ihn jemand, ob er sich ausweisen könnte, und er trat schnell den Rückzug an. Er erfuhr nicht allzu viel. Die Familie O’Connell war hier länger ansässig als die meisten Nachbarn, und der Eindruck, den die Leute von ihnen hatten, schränkte ihre Kontakte stark ein. In einer Hinsicht war die mangelnde Beliebtheit der Familie für Scott von Vorteil: Die Leute waren bereit zu reden. Doch was sie zu sagen hatten, bestätigte nur, was Scott bereits wusste oder vermutete. Es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass der alte O’Connell das Haus verlassen hätte, auch wenn Scott sich sagte, dass er sehr wohl hinausgeschlüpft sein konnte, während er selbst gerade mit dem einen oder anderen Nachbarn sprach. Immerhin hatte sich ein kleiner schwarzer DodgePick-up den ganzen Tag über noch nicht von der Stelle gerührt. Scott ging davon aus, dass es sich dabei um O’Connells Fahrzeug handelte. Er wusste, dass er auch an die Tür klopfen musste, doch er war sich noch nicht sicher, als was er sich vorstellen sollte. Er beschloss, erst noch einen weiteren Vorstoß in der örtlichen Stadtbücherei zu unternehmen und etwas über die näheren Umstände des Todes von Mrs. O’Connell in Erfahrung zu bringen.
Die Bibliothek war im Unterschied zu den schäbigen Häusern in den Nebenstraßen und auf dem ehemaligen Farmland ein stattliches, zweistöckiges Gebäude aus Glas und Backstein, das an den neuen Komplex der Stadtverwaltung und Polizei grenzte. Scott ging zur Haupttheke, und eine zarte Frau, vielleicht fünf, sechs Jahre älter als Ashley, sah von ihrer Arbeit auf. Sie war dabei, jeweils Ausleihkärtchen in die Innenseite der hinteren Buchdeckel zu stecken, und fragte: »Kann ich Ihnen helfen?« »Ja. Haben Sie Highschool-Jahrbücher im Archiv? Und können Sie mir sagen, wo die hiesigen Zeitungen auf Mikrofilm gelagert werden?« »Sicher. Die Mikrofilme finden Sie da drüben.« Sie deutete auf einen Nebenraum. »Und die Sammlung ist klar gekennzeichnet. Soll Ihnen jemand mit dem Apparat helfen?« Scott schüttelte den Kopf. »Ich komm schon klar. Und die Jahrbücher?« »Bei den Nachschlagewerken. Nach welchem Jahrgang suchen Sie denn?« »Lincoln High, Abschluss von 1995.«
Die junge Frau machte ein überraschtes Gesicht und grinste dann. »Mein Jahrgang. Vielleicht kann ich Ihnen helfen?« »Kannten Sie einen jungen Mann namens Michael O’Connell?« Sie erstarrte. Einen Moment lang sagte sie nichts. Scott las der jungen Frau vom Gesicht ab, dass eine Flut an schlechten Erinnerungen sie überrollte. »Was hat er angestellt?«, flüsterte sie schließlich.
Sally brütete über einer Reihe juristischer Bücher und Überblicksartikel, ohne genau benennen zu können, wonach sie suchte. Je mehr sie las, je mehr sie in Erwägung zog, je mehr sie analysierte, desto schlimmer fühlte sie sich. Es war etwas vollkommen anderes, stellte sie bitter fest, sich intellektuell mit Verbrechen auseinanderzusetzen, kriminelle Handlungen in der abstrakten Welt des Gerichtssaals auf der Grundlage von Argumenten und Beweismaterial, von Fahndungsergebnissen, Festnahmen, gerichtsmedizinischen Erkenntnissen und Geständnissen zu beleuchten und sich dann auf ein funktionierendes Strafrechtssystem zu verlassen. Dieses System diente dem Zweck, der Menschheit strafbare Handlungen
auszutreiben. Es neutralisierte die greifbare Realität eines Verbrechens und verlieh ihm geradezu eine theatralische Note. Sie war mit der Vorgehensweise vertraut. Was sie jetzt versuchte, ging allerdings in eine völlig andere Richtung. Ein Verbrechen finden. Dann überlegen, wie man es Michael O’Connell anhängen konnte. Ihn hinter Gitter bringen konnte. Um selbst wieder ein normales Leben führen zu können. Es klang so einfach. Scotts Feuereifer hatte auch sie beflügelt, bis sie sich tatsächlich hingesetzt und versucht hatte, sich durch alle möglichen Optionen durchzuwühlen. Das Beste, was sie bisher hatte finden können, waren Betrug und Erpressung. Es würde nicht leicht, dachte sie, aber immerhin konnten sie sämtliche illegalen Handlungen von O’Connell bis zu diesem Punkt zusammennehmen und sie so hinbiegen, dass es aussähe, als hätte er von ihr und Scott Geld erpressen wollen. Sie konnte einem Staatsanwalt wohl plausibel machen, dass alles, was O’Connell getan hatte – besonders die Belästigung von Ashley –, Teil eines aggressiven Plans gewesen war. Das Einzige, was sie fabrizieren mussten, war eine Art Drohung, wenn sie ihm nicht eine bestimmte Summe zahlten. Scott konnte unter Eid aussagen, dass O’Connell, als er von ihm die
fünftausend Dollar entgegennahm, mehr verlangt hätte, und dass er den Betrag noch in die Höhe getrieben hätte, als sie nicht gleich spurten. Bis zu diesem Punkt konnten sie sogar für die Tatsache, dass sie die Polizei nicht eingeschaltet hatten, eine plausible Erklärung finden, indem sie argumentierten, sie hätten Angst davor gehabt, wie er reagieren würde. Das Problem – beziehungsweise, dachte Sally deprimiert, wohl eher das erste Problem von vielen – war eine Bemerkung von Scott, nachdem er die fünftausend Dollar übergeben hatte. Er hatte den Verdacht geäußert, dass O’Connell ein verstecktes Mikrofon dabeigehabt und die gesamte Unterhaltung aufgenommen haben könnte. Falls das stimmte, standen unversehens sie als die Lügner da. O’Connell käme ungeschoren davon, ihnen drohte vielleicht eine Anklage, und ihre Kanzlei wäre ebenso in Gefahr wie Scotts Lehramt. Sie könnten wieder von vorne anfangen, und nichts stünde zwischen O’Connell, seiner Wut und Ashley. Selbst wenn sie Erfolg hatten, konnte es passieren, dass O’Connell ein mildes Urteil bekam. Ein paar Jahre? Wie lange würde Ashley, nachdem er erst einmal hinter Gittern saß, brauchen, um ein neues Leben anzufangen und sich innerlich von den psychischen Auswirkungen seiner Obsession zu lösen? Drei Jahre? Fünf? Zehn? Konnte sie sich jemals hundertprozentig sicher sein, dass er nicht
eines Tages wieder bei ihr auf der Matte stand? Sally lehnte sich fest an ihren Stuhl. Bring ihn um, dachte sie. Sie keuchte laut. Sie konnte nicht fassen, was ihre innere Stimme ihr suggerierte. Was ist an deinem Leben so großartig, dass es nicht geopfert werden könnte? Das ergab schon eher Sinn. Sie konnte nicht sagen, dass sie ihre Arbeit liebte, und sie war voller Zweifel hinsichtlich ihrer Beziehung zu Hope. Es war Wochen, ja Monate her, seit sie das letzte Mal so etwas wie Freude darüber empfunden hatte, wer sie war und wofür sie stand. Ein höherer Sinn in ihrem Leben? Sie hätte lachen mögen, brachte es aber nicht über sich. Sie war eine Kleinstadtanwältin in mittleren Jahren, die dabei zusehen musste, wie die Falten sich jeden Tag ein bisschen tiefer in ihr Gesicht eingruben. Das einzig bleibende Zeichen, das sie in ihrem Leben gesetzt hatte, war vermutlich Ashley. Selbst wenn ihre Tochter aus einer vorgetäuschten Liebe hervorgegangen war, so war sie doch ganz zweifellos das Beste, was Sally und Scott in ihrer kurzen Zeit miteinander zustande gebracht hatten. Ihre Zukunft ist es wert, dafür zu sterben, deine nicht.
Wieder war Sally schockiert über ihre eigenen, hartnäckigen Gedanken. Das ist der pure Wahnsinn. Allerdings hat der Wahnsinn Methode. Bring ihn um, sagte sie sich erneut. Und dann kam ihr ein anderer, noch bizarrerer Gedanke. Oder deichsel es so, dass er dich tötet. Und dafür bezahlt. Sie starrte auf die Bücher und die anderen Texte, die vor ihr ausgebreitet lagen. Jemand musste sterben. Davon war sie mit einem Mal vollkommen überzeugt.
Zum ersten Mal, seit ich mit der Arbeit an der Geschichte begonnen hatte, litt ich unter Alpträumen. Sie kamen ungebeten und sorgten dafür, dass ich mich nachts unruhig und schweißgebadet im Bett herumwälzte, dann für einen Schluck Wasser ins Badezimmer torkelte
und in den Spiegel sah. Ich schlüpfte aus dem Bad, tappte den Flur entlang und schaute bei meinen Kindern vorbei, um mich zu vergewissern, dass sie friedlich schliefen. Als ich zurückkam, murmelte meine Frau: »Alles in Ordnung?«, und war schon wieder eingeschlafen, bevor ich antworten konnte. Ich ließ den Kopf ins Kissen sinken und starrte in die endlosen Winkel der Dunkelheit. Am nächsten Tag rief ich sie an. »Ich denke, es ist an der Zeit, dass ich mit einigen der Hauptfiguren in diesem Drama spreche«, verkündete ich schroff. »Ich schiebe das schon viel zu lange vor mir her.« »Ja. Ich habe damit gerechnet, dass Sie irgendwann mit dieser Forderung kommen würden. Ich kann nur nicht sagen, wer bereit wäre, mit Ihnen zu sprechen.« »Sie sind damit einverstanden, dass ich ihre Geschichte erzähle, aber nicht bereit, mit mir zu reden?«, fragte ich ungläubig. Als sie sich wieder meldete, spürte ich, wie sie mit sich kämpfte; wir bewegten uns offenbar auf einen kritischen Punkt zu. Ich kam der Sache näher. »Ich habe Angst«, sagte sie. »Angst? Wovor?«
»Es steht so viel auf dem Spiel. Ein Leben steht gegen einen Tod. Hoffnung gegen Verzweiflung. Es geht um so viel.« »Ich kann sie finden«, erklärte ich unvermittelt. »Ich habe es nicht nötig, Ihr Katz-und-Maus-Spiel mitzumachen. Ich könnte Universitätsverzeichnisse wälzen. Datenbanken von Anwälten oder dergleichen. Mir Websites über Studenten ansehen, solche von lesbischen Frauen. In die Chatrooms von Psychopathen gehen, was weiß ich. Irgendwo werde ich genug Informationen bekommen, um mit dem, was ich von Ihnen weiß, reale Namen, Orte und Fakten zu verbinden.« »Glauben Sie, ich hätte Ihnen nicht die Wahrheit erzählt?« »Doch. Ich sage ja auch nur, dass ich inzwischen genug weiß, um alleine weiterzumachen.« »Sicher, aber dann würde ich nicht mehr ans Telefon gehen, wenn Sie anrufen. Und vielleicht würden Sie nie erfahren, was wirklich passiert ist. Sie kennen vielleicht ein paar Fakten, und Sie können sich vielleicht den Rest zusammenreimen, so dass Sie eine Menge Material zu einer Geschichte hätten – das Fleisch vielleicht, aber nicht die Knochen. Möchten Sie das riskieren?« »Nein«, gab ich nach, »das will ich nicht.« »Dachte ich mir.«
»Ich akzeptiere Ihre Spielregeln. Aber nicht mehr sehr lange. Ich bin mit meiner Geduld bald am Ende.« »Ja, das höre ich Ihnen an.« Doch es klang nicht so, als ob es sie im Mindesten beeindrucken würde. Damit legte sie auf.
36 Figuren auf dem Schachbrett
Ashley schmollte immer noch, weil sie von der wichtigsten Entscheidung, die sie je in ihrem Leben zu treffen haben würde, ausgeschlossen war. Catherine fühlte sich durch Hopes, Scotts und Sallys unvernünftige Entscheidung weniger außer Gefecht gesetzt. Sie verbrachte eine Stunde am Telefon und wählte eine Nummer nach der anderen, bevor sie Ashley beiseite nahm und sagte: »Es gibt Arbeit für uns beide.« Ashley stand mit einer Tasse Kaffee in der Küche und starrte auf Nameless’ leeren Napf. Niemand hatte es fertiggebracht, ihn wegzuräumen. Sie war verspannt und kam sich vor, als wäre sie an einen Mast gefesselt,
während rings umher Dinge geschahen, die eng mit ihr verbunden waren, ohne dass sie sehen konnte, was. »Und was?« »Nun ja«, erklärte Catherine leise, »es liegt mir nicht, außen vor zu bleiben und den anderen zuzusehen.« »Mir auch nicht.« »Ich denke, wir sollten ein paar Schritte unternehmen, und zwar solche, die vielleicht noch kein anderer in der Familie in Erwägung gezogen hat.« Catherine hielt ihre Autoschlüssel hoch. »Fahren wir los«, schlug sie kurz angebunden vor. »Und wo soll’s hingehen?« »Wir treffen uns mit einem Mann«, antwortete Catherine munter. »Einem äußerst unappetitlichen Burschen, fürchte ich.« Ashley musste wohl ein wenig überrascht gewirkt haben, denn die Ältere grinste. »Das ist genau das, was wir brauchen. Einen widerwärtigen Menschen.« Sie machte kehrt und lief, Ashley im Schlepptau, Richtung Wagen. »Deine Eltern und Hope müssen von diesem Ausflug nichts erfahren«, meinte sie, als sie auf die Straße fuhr. Ashley schwieg, während Catherine Gas gab und wiederholt in den Rückspiegel schaute, um sicherzugehen, dass ihnen
niemand folgte. »Wir brauchen Hilfe von jemandem, der aus einer anderen Welt kommt. Mit anderen Werten. Zum Glück«, sagte sie mit einem Seufzer, »kenne ich bei mir daheim ein paar Leute, die jemanden kannten, der haargenau meiner Vorstellung entspricht.« Ashley brannten einige Fragen auf der Zunge, doch sie lehnte sich zurück und tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie ohnehin bald mehr erfahren würde. Sie zog die Augenbrauen hoch, als Catherine aus den Nebenstraßen auf einen breiten Boulevard einbog, dann zur HighwayAuffahrt einschwenkte und in die Richtung fuhr, aus der sie erst wenige Tage zuvor geflohen waren. »Wo soll’s hingehen?« »Zu einem Kaff nur ungefähr eine Dreiviertelstunde nördlich von hier«, sagte Catherine beschwingt. »Vielleicht zweihundert Meter von der Grenze zwischen Massachusetts und dem ehrwürdigen Bundesstaat Vermont.« »Und was haben wir da zu suchen?« Catherine lächelte. »Wie gesagt, einen Mann. Die Sorte, mit der bis jetzt weder du zu tun gehabt hast noch ich, würde ich behaupten.« Ihr Lächeln verflog, und in strengerem Ton fügte sie hinzu: »Vielleicht finden wir ein bisschen Sicherheit.«
Mehr erklärte sie nicht, und Ashley fragte nicht nach, auch wenn sie bezweifelte, dass Sicherheit so leicht zu finden war, auch jenseits der Grenze nach Vermont.
Scott verließ die Stadtbibliothek in Eile. Er hatte eine wahrlich beunruhigende Geschichte gehört, so wie sie die amerikanische Kleinstadt schrieb – eine Mischung aus Gerüchten, Verdächtigungen, Eifersucht und Übertreibung, gepaart mit einem wahren Kern, ein paar Fakten und einigen Möglichkeiten. Von Geschichten wie dieser ging eine gewisse radioaktive Strahlung aus. Wenn auch für das bloße Auge nicht erkennbar, zeitigen sie eine gefährliche Wirkung. »Sie müssen wissen«, hatte die Bibliothekarin ihm anvertraut, »wie unerfreulich der Tod von Michael O’Connells Mutter war.« »Unerfreulich« schien Scott die Sache kaum zu treffen. Es gibt Beziehungen, die von Anfang an nichts Gutes verheißen und am besten nie zustande gekommen wären, aber aus irgendeinem teuflischen Grund dennoch eingegangen werden und eine tödliche Dynamik entwickeln. In so ein häusliches Umfeld war Michael O’Connell hineingeboren worden: ein gewalttätiger Vater, meist betrunken, der das Zuhause mit Wutausbrüchen
zusammenschweißte; und eine Mutter, die an der Highschool die Abschlussrede gehalten hatte und ihre vielversprechende Zukunft an einen Mann verschwendete, der sie in ihrem ersten Jahr am Community College verführte. Ein gutes Aussehen, eine gewisse Ähnlichkeit mit Elvis, sein dunkles Haar, sein muskulöser Körperbau, der gutbezahlte Job bei der Werft, der schnelle Wagen und das fröhliche Lachen hatten seine dunkleren Seiten verborgen. Die Polizei ging samstagabends bei den O’Connells ein und aus. Ein gebrochener Arm, ausgeschlagene Zähne, Blutergüsse, Sozialarbeiter, Fahrten zur Notaufnahme waren ihr Hochzeitsgeschenk gewesen. Im Gegenzug hatte er eine gebrochene Nase abbekommen, die sein Gesicht entstellte, nachdem sie falsch behandelt worden war, und mehr als einmal musste er seine Frau in Schach halten, wenn sie ein Küchenmesser schwang. Es war der sattsam bekannte Kreislauf aus Beschimpfung, Gewalt und Verzeihen, der sich wohl endlos fortgesetzt hätte, wäre nicht zweierlei passiert: Der Vater stürzte, und die Mutter erkrankte. O’Connell senior rutschte bei der Arbeit von einer Stelle in etwa zehn Meter Höhe und schlug auf einem Stahlträger auf. Er hätte tot sein müssen, verbrachte aber stattdessen ein halbes Jahr im Krankenhaus, wo er sich von einigen gebrochenen Wirbeln erholte und eine Schmerzmittelabhängigkeit entwi ckelte. Zugleich bezog er
von nun an eine beträchtliche Versicherungssumme und Arbeitsunfähigkeitsrente, die er größtenteils bei unzähligen Runden Bier im örtlichen Kriegsveteranenlokal verprasste oder an dubiose Geschäftemacher verlor, die das schnelle Geld versprachen. In der Zwischenzeit bekam O’Connells Mutter Gebärmutterkrebs. Die Operation und ihre eigene Tablettenabhängigkeit machten das Leben noch unsicherer. In der Nacht, in der O’Connells Mutter einen Tag nach seinem Geburtstag starb, war der Junge dreizehn. Was Scott von der Bibliothekarin wie auch aus dem Zeitungsarchiv erfahren hatte, war so beunruhigend wie verwirrend. Beide Eltern hatten getrunken und sich gestritten; das war, nach Aussage einiger Nachbarn, schon eine Weile so gegangen, aber im üblichen Rahmen, so dass niemand sich zu einem Notruf bemüßigt fühlte. Am frühen Abend allerdings, kurz nach Einbruch der Dunkelheit, hatte es einen lautstarken Ausbruch gegeben und danach zwei Schüsse. Die Schüsse waren der fragliche Teil der Geschichte. Einige der Nachbarn konnten sich genau daran erinnern, dass zwischen den beiden Schüssen einige Zeit – mindestens dreißig Sekunden, vielleicht sogar eine Minute – vergangen war. O’Connells Vater hatte selbst die Polizei verständigt.
Als die Beamten eintrafen, fanden sie die Mutter mit einer Wunde in der Brust, die von einem Schuss aus nächster Nähe stammte, tot auf dem Boden, während eine zweite Kugel in die Decke gedrungen war. Der Junge kauerte in einer Ecke, und der Vater, dessen Gesicht voller roter Kratzspuren war, hielt eine Pistole, Kaliber .38, mit kurzem Lauf in der Hand. Die Geschichte des Seniors war einfach: Sie hätten getrunken und sich dann wie gewöhnlich gestritten, nur dass sie diesmal den Revolver gezogen hätte, den er in seiner Schreibtischschublade aufbewahrte. Er könne nicht sagen, wie sie an den Schlüssel gekommen sei. Sie hätte gedroht, ihn zu erschießen. Gesagt, er habe sie einmal zu oft geschlagen und jetzt sei er dran. Er aber sei wie ein wild gewordener Stier mit wenigen Sätzen bei ihr gewesen, hätte sie angeschrien und gebrüllt, sie sollte es ja nicht wagen. Er hätte ihre Hand gepackt. Es sei zu einem Handgemenge gekommen. Der erste Schuss, der sich löste, sei in die Decke gegangen, der zweite in ihre Brust. Ein Handgemenge. Zu viel Alkohol. Ein Unfall. Das war seine Version, zumindest nach Aussage der Bibliothekarin. Natürlich hatte sich die Polizei sofort gefragt, ob nicht vielmehr O’Connells Vater die Waffe gezückt hatte und die Mutter um ihr Leben kämpfte. Mehr als ein Ermittler sah sich die Fotos vom Tatort an und hielt es für wahrscheinlich,
dass sie seine betrunkenen Zudringlichkeiten abgewehrt und in einem verzweifelten Versuch, den Schuss abzulenken, den Pistolenlauf gepackt hatte. Der Schuss in die Decke war dann nachträglich gefallen, um die Version des Vaters zum Tathergang glaubhaft erscheinen zu lassen. Und in dieser verwirrenden Situation, in der es zwei mögliche Erklärungen gab – die der Notwehr und die von einem primitiven Mord unter Alkoholeinfluss –, konnte allein der Junge die Antwort liefern. Bestätigte er die eine Wahrheit, dann käme sein Vater ins Gefängnis und er selbst ins Heim. Bezeugte er die andere, dann würde sein Leben – das einzige, das er kannte – so weitergehen wie bisher, abzüglich der Mutter. Scott glaubte, dass dies der einzige Moment war, in dem er jemals so etwas wie Mitleid mit O’Connell empfand, und auch das nur im Nachhinein, in Bezug auf Ereignisse vor annähernd fünfzehn Jahren. Einen Augenblick lang fragte er sich, was er getan hätte, und er begriff, dass die Wahl zwischen zwei Schrecken in Wahrheit keine Wahl ist. Der Teufel, den man kennt, macht einem weniger Angst als der unbekannte. Also hatte der junge O’Connell die Geschichte seines Vaters bestätigt.
Sah er zuweilen in seinen Alpträumen, wie seine Mutter erschossen wurde? Wie sie um ihr Leben kämpfte? Brannte sich ihm jeden Morgen, den er erwachte und an dem sein Vater ihn argwöhnisch beäugte, eine schreckliche Lüge ein? Scott fuhr zurück und stellte den Wagen vor dem Haus der O’Connells ab. Dort ist alles beisammen, alles, was einen Menschen zum Mörder macht. Scott verstand nicht viel von Psychologie – auch wenn er wie jeder Historiker begriffen hatte, dass zuweilen große Ereignisse große Emotionen auslösten. Immerhin sah er, was jeder Hobby-Freudianer gesehen hätte: wie O’Connells Vergangenheit seine Zukunft gefährdete. Und während sich sein Atem beschleunigte, wusste Scott, dass das einzig Unumgängliche in O’Connells Leben Ashley war. Wird er Ashley genauso leichtfertig töten wie sein Vater seine Mutter? Scott hob den Kopf und konzentrierte sich wieder auf das Elternhaus ihres Widersachers. Während er hinüberstarrte, entging ihm die Gestalt, die aus dem Schatten eines nahen Baumes trat, so dass er erstaunt zusammenzuckte und Herzklopfen bekam, als es energisch an der Fensterscheibe klopfte.
»Steigen Sie aus!« Dies war eine Aufforderung, die keinen Kompromiss duldete. Scott sah verwirrt auf und blickte in das Gesicht eines dunkelhaarigen Mannes mit krummer Nase, das sich fast an die Scheibe drückte. In einer Hand hielt der Mann den Stiel einer Axt. »Steigen Sie aus!«, wiederholte er. In Panik wollte Scott den Gang einlegen und aufs Gaspedal drücken, doch er tat es nicht. Der Mann holte aus wie ein Schlagmann, der die Flugbahn des Effetballs abschätzt. Scott atmete tief ein, schnallte den Sicherheitsgurt ab und öffnete die Tür. Der Mann sah ihn, die Waffe immer noch gezückt, mit einem gefährlichen Ausdruck an. »Sind Sie der Kerl, der die Leute über mich ausfragt?«, herrschte er ihn an. »Wer zum Teufel sind Sie? Und wie wär’s, wenn Sie mir verraten würden, wieso Sie sich so mächtig für mich interessieren, bevor ich Kleinholz aus Ihnen mache?«
Sally drehte sich zu ihrem Computer um und erkannte, dass ihr Vorhaben sie belasten würde. Sie griff in ihre Schreibtischschublade und zog einen alten gelben Kanzleiblock heraus. Eine Computerdatei mit den Einzelheiten eines noch unbestimmten Verbrechens
anzulegen wäre ein Fehler gewesen. Sie mahnte sich, rückwärts zu denken – ungefähr so, wie es Ermittler tun. Ein Blatt Papier konnte man vernichten. Es war so wie ein Spaziergang am Strand; Fußspuren oberhalb der Flutlinie konnten lange halten. Alles unterhalb davon spülten die Wellen weg. Sie biss sich auf die Lippe und griff nach einem Bleistift. Oben auf die Seite schrieb sie Motiv. Es folgte eine zweite Kategorie: Mittel. Und wohl oder übel eine dritte: Gelegenheit. Sally starrte auf die Worte. Sie bildeten die heilige Dreifaltigkeit der Polizeiarbeit. Fülle diese Lücken aus, und in neun von zehn Fällen weißt du, wen du verhaften und unter Anklage stellen musst. Und in ebenso vielen Fällen auch, wer rechtskräftig verurteilt wird. Ein Strafrechtsverteidiger hatte in diesem Fall leichtes Spiel: Wie bei einem dreibeinigen Schemel fiel das Ganze in sich zusammen, wenn man ein Bein absägte. Jetzt versuchte sie, selbst ein Verbrechen zu planen und vorherzusagen, wie man bei diesem Fall ermitteln würde. Sie wählte stets Euphemismen. Straftat oder Vorfall oder Ereignis. Sie scheute sich vor dem Begriff Mord. Sie fügte eine vierte Überschrift hinzu: Kriminaltechnische
Untersuchung. Damit konnte sie arbeiten, dachte sie. Sally machte sich daran, aufzulisten, wie sie sich verraten könnten. DNAtaugliches Material – also Haar, Haut und Blut – durften sie auf keinen Fall zurücklassen. Ballistik – falls sie zu einer Schusswaffe greifen mussten, dann zu einer, die nicht bis zu ihnen zurückverfolgt werden konnte. Oder aber sie mussten sie so sicher loswerden, dass sie niemals gefunden werden konnte, und das ging eigentlich nur, wenn man sie ins Meer warf. Es gab noch eine Fülle anderer Fragen. Kleiderfasern, verräterische Fingerabdrücke, Fußspuren auf weichem Grund, Reifenspuren. Zeugen, die jemanden kommen oder gehen sahen. Überwachungskameras. Und sie konnte sich keinesfalls sicher sein, dass nicht einer von ihnen – Scott, Ashley, Hope oder Catherine – sich verraten würde, wenn ihnen ein Kommissarenduo gegenübersaß, von dem grundsätzlich einer den guten und einer den bösen Cop mimte. Sie würden vielleicht versuchen, ihnen eine Geschichte aufzutischen oder, schlimmer noch, glattweg zu lügen, was fast immer schiefging, und damit die Übrigen ebenfalls ans Messer liefern. Sollte jemals auch nur einer von ihnen im Vernehmungszimmer landen, war von vornherein alles aus. Sie mussten das, was zu tun war, vollkommen anonym erledigen. Selbst für jemanden, der genau hinsah, musste es auf eine Spur verweisen, die mit Ashley nicht das Geringste zu tun hatte.
Je mehr Sally dies alles bedachte, desto schwerer erschien das Ganze. Sie hatte vor Augen, dass alles, was sie sich aufgebaut hatten, zunichte würde – nicht nur ihre berufliche Arbeit, die sie vernachlässigt hatte, sondern auch ihre Partnerschaft und letztlich ihr ganzes Leben. Es war, als ob durch die Gefährdung Ashleys auch alle anderen Sicherheiten schwänden. Sally schüttelte den Kopf. Sie betrachtete das Blatt und fühlte sich plötzlich an Klausuren beim Jurastudium erinnert. In gewisser Weise war das hier dasselbe. Nur dass es diesmal nicht um einen Abschluss ging, wenn sie scheiterte, sondern um ihrer aller Zukunft. Sie machte sich eine Notiz: diverse Paar OP-Handschuhe besorgen. Das würde zumindest ihre DNA und Fingerabdrücke reduzieren, wenn sie erst einmal wussten, was sie unternehmen würden. Sie machte sich eine zweite Notiz: zum Heilsarmee-Laden gehen und Kleider besorgen. Schuhe nicht vergessen. Sally nickte. Was es auch ist, du schaffst das. Der widerwärtige Mann, den Catherine und Ashley treffen wollten, stand neben der Tür seines zerbeulten Geländewagens, rauchte eine Zigarette und scharrte wie
ein ungeduldiges Pferd mit dem rechten Fuß. Catherine erkannte sofort seine rotschwarze Jagdjacke und die Abzeichen der National Rifle Association, die das Heck des Geländewagens schmückten. Er war klein, mit Stirnglatze und gewölbter Brust, der Bier- und SchnapsTyp, musste Catherine unwillkürlich denken. Er hatte früher in der einen oder anderen Fabrik gearbeitet, dann aber eine beständigere Einnahmequelle entdeckt. Sie parkte ihm gegenüber und sagte zu Ashley: »Bleib hier. Halte den Kopf unten. Falls ich dich brauche, werde ich winken.« Ashley wusste nicht recht, was sie von der Situation halten sollte. Sie nickte und drehte sich auf die Seite, um Catherine im Auge zu behalten. Catherine stieg aus. »Mr. Johnson, nehme ich an?« »Ganz recht. Sie müssen Mrs. Frazier sein?« »Ja.« »Normalerweise läuft es anders. Ich wickle meine Geschäfte lieber bei regulären Schusswaffen-Vorführungen ab.« Catherine nickte. Sie bezweifelte, dass die Bemerkung der Wahrheit entsprach, doch sie gehörte zu der Farce.
»Ich weiß es zu schätzen, dass Sie sich die Zeit genommen haben«, erklärte sie. »Ich hätte nicht angerufen, wenn die Sache nicht dringend wäre.« »Zum persönlichen Gebrauch? Zum persönlichen Schutz?« »Ja, allerdings.« »Wissen Sie, ich bin Sammler, kein Händler, und gewöhnlich tätige ich meine Geschäfte wie schon gesagt bei den regulären Vorführungen. Sonst müsste ich nämlich eine bundesweit gültige Zulassung haben, Sie verstehen.« Sie nickte. Sie verstand, dass der Mann in einer Art Geheimcode sprach, um nicht mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen. »Auch das weiß ich sehr zu schätzen«, erwiderte sie. »Wissen Sie, ein regulärer Waffenhändler muss alle möglichen Papiere für den Bund ausfüllen. Und dann ist da noch die dreitägige Wartezeit. Ein Waffensammler dagegen kann sich das sparen und ohne diesen ganzen Aufwand Handel treiben. Natürlich muss ich Sie das fragen: Sie haben doch keine illegalen Pläne mit dieser Waffe?« »Selbstverständlich nicht. Sie dient meinem Schutz. Man kann heutzutage nicht genug auf seine Sicherheit bedacht sein. Also, was haben Sie für mich?« Der Waffenhändler ging zum Heck seines Wagens und
machte den Kofferraum auf. Darin befand sich ein stahlverstärkter Koffer mit einem Kombinationsschloss, das er rasch öffnete. In schwarzes Styropor gebettet blitzte dort eine Reihe Handfeuerwaffen. Sie starrte ziemlich verständnislos darauf. »Ich kenne mich damit nicht aus.« Mr. Johnson nickte. »Die Fünfundvierziger und die Neunmillimeter sind wahrscheinlich mehr als eine Nummer zu groß für Ihre Zwecke. Ich denke, Sie sollten sich diese beiden genauer anschauen: die Automatik, Kaliber .25, und den Revolver Kaliber .32. Ich denke, was Sie brauchen, ist die kurzläufige Zweiunddreißiger. Die hat eher, na ja, einen weiblichen Zuschnitt. Sechs Schuss in der Trommel. Einfach nur zielen und schießen. Sehr verlässlich, klein, handlich, nicht schwer. Passt in eine Handtasche. Bei den Damen wirklich sehr beliebt. Der Nachteil ist nur, dass sie nicht die größte Schlagkraft hat, wissen Sie? Größere Kanone, größere Schlagkraft, größere Bombenlast. Damit will ich nicht sagen, dass ein Schuss aus einer Zweiunddreißiger nicht tödlich wäre. Das ist er. Aber verstehen Sie, was ich meine?« »Natürlich. Ich denke, ich nehme die Zweiunddreißiger.« Mr. Johnson lächelte. »Eine gute Wahl. Jetzt verlangt das Gesetz von mir, dass ich Sie frage, ob Sie die Waffe aus dem Bundesstaat schaffen wollen.« »Selbstverständlich nicht«, log Catherine.
»Oder einer anderen Person übergeben wollen.« Catherine warf nicht einmal einen verstohlenen Blick zu Ashley im Auto, als sie sagte: »Auf keinen Fall.« »Noch beabsichtigen Sie, die Waffe zu irgendwelchen illegalen Zwecken zu benutzen?« »Wiederum, negativ.« Er nickte. »Sicher.« Er sah von Catherine zu ihrem Wagen. »Ich hab ja bereits Ihre Kontaktdaten. Ich habe die Seriennummer. Falls jemand, wie zum Beispiel vom Amt für Alkohol, Tabak, Schusswaffen und Sprengstoffe Fragen stellen würde, dann wissen Sie, dass die sich an mich wenden können. Es würde mir zwar nicht gefallen, denen damit zu dienen, aber ich würde es tun. Sie verstehen, was ich meine? Wenn Sie einen Mann haben, den Sie erschießen wollen, also, das ist Ihre Sache, ich will damit nur sagen …« Catherine hielt die Hand hoch. »Mein Mann ist vor ein paar Jahren gestorben. Bitte, Mr. Johnson, seien Sie ganz beruhigt. Das hier dient nur dem Schutz einer alten Frau, die allein auf dem Lande lebt.« Er lächelte. »Vierhundert Dollar. In bar. Und ich leg noch eine Schachtel Patronen extra drauf. Suchen Sie sich eine Übungsmöglichkeit. Das kann entscheidend sein.«
Er nahm die Waffe und legte sie in ein billiges Lederetui. »Das ist kostenlos«, erklärte er und reichte ihr die Waffe, während sie ihm das Geld übergab. »Noch etwas sollten Sie vielleicht berücksichtigen. Wenn Sie beschließen, damit abzudrücken«, sagte er langsam, während er in Anschlag ging, »achten Sie darauf, immer beide Hände zu benutzen, um nicht zu wackeln, nehmen Sie eine bequeme Stellung ein, atmen Sie tief ein und dann noch etwas …« »Ja?« »Schießen Sie alle sechs hintereinander. Wenn Sie sich entscheiden, auf etwas oder jemanden zu schießen, Mrs. Frazier, dann gibt es keine halben Sachen, wissen Sie. Nur in Hollywood kann der Gute dem Bösen eine Waffe aus der Hand schießen oder ihn in die Schulter treffen. Im wirklichen Leben nicht. Wenn Sie sich also entschieden haben, dann zielen Sie mitten in die Brust und bringen Sie’s zu Ende. Sie wollen auf etwas schießen? Dann töten Sie es.« Catherine nickte. »Worte, die man sich zu Herzen nehmen sollte.«
Die stellvertretende Direktorin des kunsthistorischen Instituts ließ mich wissen, sie habe nur wenig Zeit. Sie sei mitten in ihrer regulären Sprechstunde, und gewöhnlich säße noch ein Überhang an Studenten vor ihrer Tür. Sie grinste, als sie mir das ganze Arsenal an studentischen Ausreden, Beschwerden, Anfragen und Kritiken zusammenfasste, die auch an diesem Tag wieder auf sie warteten. »Also«, sagte sie und lehnte sich in ihrem Sessel zurück, »welchem Umstand verdanke ich den Besuch eines erwachsenen Menschen?« Ich erklärte ihr so vage, wie es ging, ohne dass sie gleich verstummte, wofür ich mich interessierte. »Ashley?«, meinte sie. »Ja, ich erinnere mich. Vor ein paar Jahren, oder? Ein äußerst seltsamer Fall.« »Inwiefern?« »Hervorragende Noten in den ersten Semestern, eine künstlerische Ader und auch noch richtig fleißig – sie hatte eine Teilzeitstelle beim Museum –, und auf einmal schien bei ihr alles äußerst dramatisch in die Brüche zu gehen. Ich habe immer vermutet, dass Probleme mit einem Jungen dahinterstecken. Das ist gewöhnlich der Fall, wenn vielversprechende junge Frauen ins Straucheln geraten. In den meisten Fällen lassen sich diese Probleme mit Bergen
von Taschentüchern für die Tränen und ein paar Tassen Tee relativ schnell lösen. In ihrem Fall allerdings gab es im ganzen Seminar Gerede, Gerüchte, besser gesagt, darüber, wie sie im Museum gefeuert wurde und wie es um die Integrität ihrer akademischen Arbeit stand. Aber mir ist nicht ganz wohl dabei, ohne ihre Zustimmung Ihnen diese Dinge mitzuteilen. Sie haben nicht zufällig ein entsprechendes Dokument dabei?« »Nein.« Die Direktorin zuckte die Achseln und setzte ein trockenes Lächeln auf. »Dann darf ich Ihnen nur begrenzt Auskunft geben.« »Sicher.« Ich stand auf, um mich zu verabschieden. »Trotzdem, danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben.« »Sagen Sie«, fragte die Direktorin, »vielleicht wissen Sie, was aus ihr geworden ist? Sie scheint völlig aus unserer Welt verschwunden zu sein.« Ich zögerte, weil ich nicht recht wusste, wie ich ihre Frage beantworten sollte. Mein Schweigen brachte mir einen besorgten Blick der Direktorin ein. »Ist ihr was zugestoßen?«, erkundigte sie sich in einem Ton, aus dem alle Scherzhaftigkeit gewichen war. »Das wäre schrecklich.«
»Ja, man kann wohl sagen, dass ihr etwas zugestoßen ist.«
37 Ein aufschlussreiches Gespräch
Scott stieg langsam aus und starrte den Mann an, der zweifellos O’Connells Vater war. Der Mann schwang bedrohlich den Axtstiel. Scott trat aus der Reichweite der Waffe zurück und holte tief Luft, während er sich wunderte, weshalb er so ruhig war. »Ich weiß nicht, ob es so klug ist, mich damit zu bedrohen, Mr. O’Connell.« Der Senior zuckte und ächzte. »Sie haben sämtliche Nachbarn abgeklappert und über mich ausgehorcht. Also kriegen Sie das hier zu spüren, sobald ich weiß, wer Sie sind.« Scott fixierte den Vater. Er kniff die Augen zusammen und schwieg mit ausdruckslosem Gesicht, bis der Mann sagte: »Ich warte auf eine Antwort.« »Das ist mir klar. Ich überlege nur noch, was für eine Sie bekommen werden.«
Das verwirrte O’Connells Vater. Er trat zurück, dann wieder vor und schwang den Axtstiel erneut, während er wiederholte: »Wer sind Sie?« Scott starrte seinen Gegner an, indem er ihn langsam von oben bis unten musterte, als hätte er von dem Prügel, der auf seinen Kopf zielte, nicht das Geringste zu befürchten. Der Mann war zugleich weich und kräftig gebaut – ein Bierbauch wölbte sich über der verfleckten Jeans, und auf den muskulösen Armen prangte eine Reihe verschlungener Tattoos. Über der Hose und den Stiefeln trug er nur ein schwarzes T-Shirt mit dem Harley-Davidson-Logo, als könnten ihm die frostigen Novembertemperaturen nichts anhaben. Sein dunkles, kurz geschnittenes Haar hatte graue Strähnen. Ein Tattoo mit dem Namen Lucy an seinem Unterarm war vermutlich alles, was abgesehen von Sohn und Haus von seiner Ehe übriggeblieben war. Scott schätzte, dass der Mann getrunken hatte, auch wenn er weder torkelte noch lallte. Wahrscheinlich hatte er nur so viel intus, dass es ihm die Hemmungen löste und sein Denken benebelte, was für Scott nur von Vorteil sein konnte. Scott verschränkte langsam die Arme und schüttelte den Kopf, um zu unterstreichen, dass er Herr der Situation war. »Ich könnte Ihnen den größten Ärger Ihres Lebens machen, Mr. O’Connell. Und zwar mit ausgesprochen schmerzhaften Begleiterscheinungen. Andererseits könnte ich auch von
großer Hilfe für Sie sein. Das wäre eine Gelegenheit für Sie, sich eine nette Summe nebenher zu verdienen. Was von beidem darf es sein?« Der Axtstiel senkte sich ein Stück. »Reden Sie weiter.« Scott schüttelte den Kopf. Er improvisierte. »Ich verhandle nicht auf der Straße, Mr. O’Connell. Und dem Mann, den ich vertrete, wäre es ganz bestimmt nicht recht, wenn ich seine Geschäfte vor der ganzen Nachbarschaft ausbreite.« »Wovon zum Teufel reden Sie?« »Gehen wir ins Haus, dann können wir ein bisschen unter vier Augen plaudern. Sonst steige ich wieder in meinen Wagen, und Sie sehen mich nie wieder. Allerdings könnte es sein, dass jemand anders Ihnen einen kleinen Besuch abstattet. Und dieser Jemand oder besser gesagt, diese Jemande, Mr. O’Connell, werden ganz bestimmt nicht annähernd so zugänglich sein wie ich. Die haben vollkommen andere Verhandlungsmethoden.« Scott ging davon aus, dass O’Connell einen Großteil seines Lebens damit zugebracht hatte, Drohungen einzustecken oder auszuteilen, so dass er diese Sprache verstehen würde. »Wie, sagten Sie noch gleich, war Ihr Name?«, fragte
O’Connell. »Ich habe ihn nicht genannt. Habe ich auch eigentlich nicht vor.« O’Connell zögerte und ließ den Axtstiel noch tiefer sinken. »Was soll das?«, wollte er wissen. Doch sein Tonfall verriet ein gewisses Interesse. »Es geht um Schulden. Mehr werde ich Ihnen für den Augenblick nicht verraten. Die Sache könnte sich für Sie lohnen – es könnte einiges Geld dabei rausspringen. Oder auch nicht. Liegt ganz bei Ihnen.« »Wieso sollten Sie mir was zahlen?« »Jemandem was zu zahlen ist immer leichter als die Alternative.« Scott ließ O’Connells Vater darüber brüten, was wohl mit der Alternative gemeint war. Wieder hielt O’Connells Vater inne, dann ließ er den Axtstiel vollends an seiner Seite baumeln. »Meinetwegen. Ich kauf Ihnen diesen Quatsch zwar nicht ab, aber von mir aus kommen Sie rein. Sagen Sie mir, worum es geht, spucken Sie aus, was Sie von mir wollen.« Damit machte er Scott mit dem Axtstiel Zeichen, ihm über die Straße ins Haus zu folgen.
Jenseits eines Feldwegs parallel zum Westfield River gibt es unterhalb der Chesterfield Gorge im Wald eine Stelle, an der zu beiden Ufern zwanzig Meter hohe graue Felsplatten aufragen, die prähistorische seismische Erdverschiebungen einst aufgetürmt haben. In den kälteren Monaten ist diese Stelle bei Jägern, in der wärmeren Jahreszeit bei Anglern beliebt. An den heißesten Sommertagen machten sich Ashley und ihre Freunde zu dieser Stelle auf, um im kühlen Wasser nackt zu baden. »Ich denke, du solltest beide Hände benutzen«, erklärte Catherine streng. »Halte die Waffe ruhig in der rechten Hand, fass mit der linken nach, ziele und drücke ab.« Ashley grätschte die Beine ein wenig, legte die Linke über die Rechte und spannt, den Zeigefinger am Abzug, die Muskeln an. »Los geht’s«, meinte sie ruhig. Sie drückte ab, und die Waffe in ihrer Hand machte einen Ruck. Der Schuss hallte durch den Wald, und an der Eiche, auf deren Stamm sie gezielt hatte, splitterte Rinde ab. »Wow. Das kribbelt im ganzen Unterarm.« Catherine nickte. »Ich glaube, du musst fünf, sechs Mal abdrücken, während du ruhig zielst, so dass alle sechs Schuss dicht beieinander treffen. Kannst du das versuchen?«
»Es fühlt sich an, als wollte das Ding in alle Richtungen springen, als wäre es lebendig.« »Wahrscheinlich kann man sagen, dass es eine eigene Persönlichkeit hat.« Ashley nickte, und Catherine fügte hinzu: »Und keine besonders nette.« »Ich versuch’s noch einmal.« Wieder nahm sie eine schussbereite Stellung ein und packte diesmal mit der Linken fester zu, um die Waffe ruhig zu halten. »Auf ein Neues.« Sie feuerte die übrigen fünf Schuss hintereinander ab. Drei trafen den Baumstamm in einem Abstand von sechzig bis neunzig Zentimetern. Die anderen beiden gingen daran vorbei in den Wald. Sie hörte sie zischen und ein paar Äste mit den letzten tief hängenden Blättern knistern. Die kahlen Bäume ringsum schienen das Echo der Schüsse zurückzuwerfen, so dass es ihr in den Ohren dröhnte. Sie atmete mit einem gedehnten Pfeifen aus. »Nicht die Augen zumachen«, sagte Catherine. »Ich glaube, ich sollte es noch einmal versuchen.« Ashley ließ die Trommel aufschnappen und die leeren Patronenhülsen auf den Nadelboden fallen. Bedächtig
nahm sie das nächste halbe Dutzend Kugeln und legte sie ein. »Ich werde das Ding nur ein einziges Mal benutzen.« »Ja. Und nur dann, wenn du keine andere Wahl hast.« »Genau.« Ashley drehte sich halb um und zielte erneut auf den Stamm. »Nur im äußersten Notfall.« »Wenn dir nichts anderes übrigbleibt.« »Wenn mir nichts anderes übrigbleibt.« Es hätte dazu eine Menge zu sagen gegeben, doch beide Frauen scheuten sich, laut auszusprechen, was sie dachten, selbst in der stillen Anonymität des Waldes.
Scott lief langsam den etwa dreißig Meter langen, spärlich mit Schotter bedeckten Weg zu O’Connells Haus hinauf. Es war ein einstöckiges, weißes Holzhaus, auf dessen Dach neben einer neueren Satellitenschüssel eine eingeknickte Fernsehantenne wie der gebrochene Flügel eines Vogels hing. Vor dem Haus stand ein verblichener roter Toyota, an dem eine Tür fehlte und dessen eine Achse auf einem Stein aufgebockt war. Das Blech war überall rostig verfleckt. Vor einer Seitentür parkte – zur Hälfte durch ein Flachdach aus gewelltem Plastik geschützt – ein neuerer schwarzer Pick-up. Das Dach machte den Platz darunter zu einer Art Carport, den sich der Wagen allerdings mit einer
ramponierten roten Schneefräse und einem Schneemobil ohne Tretwerk teilen musste. Als Scott an dem Pick-up vorbeikam, fielen ihm außerdem eine Aluminiumleiter, ein hölzerner Werkzeugkasten und einiges Bedachungsmaterial ins Auge, das achtlos herumlag. O’Connell verwies ihn auf den Nebeneingang, auch wenn es an der Vorderfront eine Haustür gab. Vermutlich wurde sie selten benutzt. Gibt sicher auch noch eine Hintertür, dachte Scott und nahm sich vor, das zu überprüfen. »Hier lang. Ist ein bisschen unaufgeräumt. Ich hab nicht mit Besuch gerechnet«, sagte O’Connells Vater grimmig. Scott trat durch eine Aluminium-Fliegengittertür, dann durch eine zweite aus massivem Holz und gelangte in eine kleine Küche. Unaufgeräumt war vornehm ausgedrückt. Pizzaschachteln. Fertiggerichte für die Mikrowelle. Drei Kästen Coors Light in Silberfolienverpackung. Eine Flasche Johnnie Walker Black Label auf dem Tisch ergänzte die Phalanx an Dosen. »Gehen wir ins Wohnzimmer, da können wir uns setzen, Mr. – na schön, wie immer Sie heißen. Wie soll ich Sie nennen?« »Smith wäre mir recht«, meinte Scott. »Und falls Sie sich das nicht merken können, tut’s auch Jones.«
O’Connells Vater prustete ein wenig. »Meinetwegen, Mr. Smith oder Jones. Wo ich Sie jetzt schon mal zu mir eingeladen habe, wäre es, finde ich, an der Zeit, dass Sie sich da drüben hinsetzen, wo ich Sie im Auge habe, und mir klipp und klar sagen, was Sie wollen, damit ich nicht doch noch das Gefühl habe, mein Axtstiel sollte ein paar Takte mit Ihnen reden. Und am besten kommen Sie möglichst schnell zu dem Teil, wie ich mir ein paar Mäuse nebenher verdienen kann. Ein Bier?« Scott betrat ein kleines Wohnzimmer. Es war mit einem abgewetzten Sofa, einem Lehnstuhl und einer großen rotweißen Kühlbox ausgestattet, die als Beistelltisch diente und nahe bei einem überdimensionierten Fernseher stand. Der Boden war mit Zeitungen, pornografischen Heften sowie Reklameblättern von Lebensmittelketten und Katalogen von Jagdgeschäften übersät. Auf einem klapprigen Tisch stand ein betagter Computer. Von einer Wand glotzte Scott der ausgestopfte Kopf eines Hirschs mit Glasaugen entgegen. An einem seiner Geweihenden war ein T-Shirt aufgehängt. Er versuchte sich vorzustellen, wie es in den Jahren ausgesehen hatte, als O’Connell noch hier lebte, und erkannte das Potenzial eines nor malen Zuhauses. Wenn man das Gerümpel aus dem Garten räumte, drinnen den ganzen Müll wegwarf, das Sofa reparierte, Stühle beschaffte, ein paar Poster an die Wände hängte und alles mit Farbe auffrischte, wäre es halbwegs akzeptabel gewesen. Der ganze Unrat sagte ihm
viel über den Vater und wenig über den Sohn. Wahrscheinlich hatte der Senior seine tote Frau und seinen abwesenden Sohn durch dieses Chaos ersetzt. Scott setzte sich auf einen Stuhl, der gefährlich knarrte und zusammenzubrechen drohte, bevor er sich an O’Connells Vater wandte. »Ich habe die Leute hier befragt, weil Ihr Sohn etwas hat, das der Person gehört, die ich vertrete. Mein Klient will es wiederhaben.« »Dann sind Sie ’n Anwalt?« Scott zuckte die Achseln. O’Connell ließ sich auf einen Polstersessel fallen und legte sich den Axtstiel über die Beine. »Und wer mag wohl dieser Boss von Ihnen sein?« Scott schüttelte den Kopf. »Namen tun wirklich nichts zur Sache.« »Na schön, Mr. Smith. Dann sagen Sie mir wenigstens, womit er sein Geld verdient.« Scott setzte das gemeinste Grinsen auf, das er zuwege brachte. »Mein Klient verdient einen Haufen Geld.« »Legal oder illegal?«
»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen raten kann, diese Frage zu stellen, Mr. O’Connell. Und falls ich sie beantworten würde, dann wäre es ohnehin eine Lüge.« Scott hörte sich reden und war über die Leichtigkeit, mit der er eine Figur und eine Geschichte dazu erfand, um den Senior reinzulegen, selbst entsetzt. Gier, dachte er, ist eine starke Droge. O’Connell lächelte. »Sie wollen also mit meinem eigensinnigen Bengel Kontakt aufnehmen. Können ihn in der Stadt nicht auftreiben, wie?« »Nein, er scheint abgetaucht zu sein.« »Und da schnüffeln Sie hier herum.« »Nur eine von mehreren Möglichkeiten.« »Meinem Jungen gefällt es hier nicht.« Scott hob die Hand, um O’Connells Vater das Wort abzuschneiden. »Halten wir uns nicht mit dem Offensichtlichen auf«, sagte er gespreizt. »Können Sie uns dabei helfen, Ihren Sohn zu finden?« »Wie viel?« »Wie viel Hilfe können wir von Ihnen erwarten?« »Kann ich nicht sicher sagen. Wir reden nicht viel miteinander.«
»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?« »Vor’n paar Jahren. Wir verstehen uns nicht allzu gut.« »Und während der Feiertage?« O’Connell schüttelte den Kopf. »Ich sag ja, wir verstehen uns nicht gerade toll. Was hat er denn geklaut?« Scott lächelte. »Noch einmal, Mr. O’Connell, solche Informationen würden Sie in eine, wie soll ich sagen, prekäre Lage bringen. Verstehen Sie, was ich meine?« »Ich bin ja nicht blöd. Sicher verstehe ich Sie. Und wie prekär genau, Mr. Jones?« »Spekulationen sind unergiebig.« »Ich meine, wie tief sitzt er in der Scheiße? So tief, dass er mit ’ner Menge Prügel zu rechnen hat? Oder mit ’ner Ladung Blei?« Scott holte Luft und überlegte fieberhaft, wie weit er die Geschichte treiben durfte. »Sagen wir mal, er kann den Schaden, den er angerichtet hat, wiedergutmachen. Aber das erfordert Kooperation. Es geht um eine heikle Angelegenheit, Mr. O’Connell. Und wenn wir noch länger warten müssten, könnte es wirklich
problematisch werden.« Scott fühlte sich innerlich eiskalt. »Was, Drogen? Hat er jemandem Drogen geklaut? Oder Geld?« Scott lächelte. »Mr. O’Connell, ich will es einmal so sagen. Sollte Ihr Sohn versuchen, sich mit Ihnen in Verbindung zu setzen, und Sie würden uns darüber in Kenntnis setzen, dann würden wir uns dafür erkenntlich zeigen.« »Wie viel?« »Das fragten Sie bereits.« Scott stand auf, ließ den Blick durchs Zimmer schweifen und entdeckte einen Flur, der zu den Schlafzimmern im hinteren Teil des Hauses führte. Er war schmal, stellte er fest, und bot wenig Bewegungsspielraum. »Verständigen wir uns einfach darauf, dass es ein hübsches Weihnachtsgeschenk wäre.« »Falls ich den Jungen finde, wie krieg ich dann Sie zu fassen? Haben Sie ’ne Telefonnummer für mich?« Scott sprach so überheblich wie möglich. »Mr. O’Connell. Ich hab’s nicht so mit Telefonieren. Man hinterlässt Spuren, kann zurückverfolgt werden.« Er deutete auf den Computer »Können Sie mir eine E-Mail schicken?« O’Connell atmete heftig aus. »Wieso nicht. Aber eins müssen Sie mir schon versprechen, Mr. Jones oder Smith, verflucht noch mal, dass mein Junge dabei nicht
draufgeht.« »Meinetwegen«, log Scott mühelos. »Das kann ich Ihnen gerne versprechen. Sobald Sie von Ihrem Jungen hören, schicken Sie an diese Adresse eine E-Mail.« Er ging zu dem Tisch, fand eine offene Telefonrechnung und einen Bleistiftstummel. Dann erfand er aus dem Stegreif eine EMail-Anschrift und schrieb sie auf. Er reichte O’Connell den Zettel. »Verlieren Sie die nicht. Und unter welcher Telefonnummer kann ich Sie erreichen?« Der Senior ratterte die Nummer herunter, während er auf die E-Mail-Adresse starrte. »Okay«, meinte O’Connells Vater. »War’s das?« Scott lächelte. »Wir werden uns nicht wiedersehen. Und falls irgendjemand Sie fragt, sind Sie bestimmt so vernünftig und sagen, dass dieses kleine Treffen nie stattgefunden hat. Sollte Ihr Sohn dieser Jemand sein, nun ja, dann gilt diese Warnung natürlich umso mehr. Haben wir uns verstanden?« O’Connell sah sich noch einmal die Adresse an, grinste und zuckte die Achseln. »Geht klar.« »Gut. Bleiben Sie sitzen, ich finde selbst hinaus.« Scotts Puls raste, als er langsam zur Tür ging. Er wusste,
dass irgendwo hinter ihm nicht nur der Axtstiel war, sondern auch eine Pistole, von der ihm die Nachbarn berichtet hatten, und darüber hinaus aller Wahrscheinlichkeit nach eine Schwerkaliberflinte; der glasäugige Hirschkopf an der Wand legte das nahe. Er musste darauf vertrauen, dass O’Connells Vater nicht so geistesgegenwärtig war, sein Kennzeichen zu notieren, auch wenn der markante kleine Porsche ohnehin nicht schwer wiederzuerkennen war. Scott schärfte sich auf dem Weg zum Auto jede Einzelheit ein; möglicherweise würde er wieder herkommen, und dann wollte er genau im Kopf haben, wie die Möbel standen. Er registrierte das leichte Schloss an der Tür und verließ das Haus. Gier war eine schreckliche Sache, und jemand, der sein eigenes Kind für Geld ans Messer lieferte, musste von einer Grausamkeit sein, die jenseits seiner eigenen emotionalen Reichweite lag. Er merkte, wie ihn eine plötzliche Woge der Übelkeit überkam. Immerhin konnte er noch klar genug denken, um kurz um die Ecke hinters Haus zu schauen und die zusätzliche Tür zu entdecken, mit der er gerechnet hatte. Dann machte er kehrt und lief zügig die Einfahrt zurück zur Straße. Am Horizont zogen graue Wolken auf.
Michael O’Connell fand, dass er sich in den letzten Tagen entschieden zu rar gemacht hatte.
Wenn er Ashley zwingend klarmachen wollte, dass niemand außer ihm sie beschützen konnte, dann musste er ihr zeigen, wie gefährdet sie und ihre Familie waren. Das Einzige, was sie daran hinderte, das ganze Ausmaß seiner Liebe zu erkennen und zu sehen, wie leidenschaftlich er sich danach sehnte, sie an seiner Seite zu haben, war der Kokon, den ihre Eltern um sie gesponnen hatten. Und wenn er an Catherine dachte, dann hatte er einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Sie war alt, sie war gebrechlich, und sie lebte allein da draußen, und er hatte es trotzdem versäumt, sie auszuschalten, obwohl es ein Leichtes gewesen wäre und er sie direkt vor sich gehabt hatte. Er beschloss, diesen Fehler nicht noch einmal zu begehen. Er saß an seinem Computer und spielte ziellos mit dem Kursor, ohne zu merken, wie still es um ihn war. Der Laptop war neu. Nachdem Matthew Murphy seinen alten zertrümmert hatte, war ihm nichts anderes übriggeblieben, als augenblicklich für Ersatz zu sorgen. Nach einer Weile fuhr er den Computer herunter und wandte sich vom Schreibtisch ab. Er hatte das unbezwingbare Bedürfnis, etwas Überraschendes zu tun, etwas, womit er Ashley auf sich aufmerksam machen würde, etwas, das sie nicht ignorieren konnten und das ihr begreiflich machte, wie sinnlos es war, vor ihm davonzulaufen.
Er stand auf und streckte die Glieder, indem er die Arme hinter dem Kopf verschränkte, den Rücken krümmte und dabei unbewusst die Katzen im Hausflur nachahmte. Michael O’Connell fühlte sich plötzlich unglaublich stark. Er musste Ashley einmal wieder einen Besuch abstatten, und wenn auch nur, um sie daran zu erinnern, dass er noch da war und auf sie wartete. Er nahm seine Winterjacke und seine Autoschlüssel. Ashleys Familie hatte keine Ahnung, wie nahe Liebe und Tod beieinanderlagen. Er lächelte bei dem Gedanken, dass sie offenbar nicht im Mindesten begriffen, wer von ihnen eigentlich der Romantiker war. Nicht immer konnte man Liebe mit Rosen und Diamanten zum Ausdruck bringen oder mit süßlichen Liebespostkarten. Es war an der Zeit, sie wissen zu lassen, dass sich an seiner Hingabe nichts geändert hatte. Ihm schwirrten alle möglichen Ideen durch den Kopf.
Das Telefon klingelte, als Scott gerade zur Haustür hereinkam. »Scott?« Es war Sally. »Ja?«, sagte er. »Du klingst so außer Atem.« »Ich hab das Telefon klingeln gehört. Ich war draußen. Ich komme gerade heim und musste ins Haus rennen. Ist alles
klar bei euch?« »Ja, einigermaßen.« »Wie meinst du das?« »Na ja, es ist nichts Dramatisches passiert. Ashley und Catherine waren tagsüber weg, aber sie wollen nicht sagen, was sie gemacht haben. Ich war in der Kanzlei und habe versucht zu sondieren, welchen Weg wir am besten einschlagen – das Ergebnis ist durchwachsen. Hope sagt kaum ein Wort, seit sie aus Boston zurück ist, sie besteht nur darauf, dass wir alle uns unverzüglich noch mal zusammensetzen. Kannst du jetzt direkt rüberkommen?« »Hat sie angedeutet, wieso?« »Nein, sagte ich doch. Hörst du mir nicht zu? Aber es hat mit dem zu tun, was sie in Boston vorgefunden hat, als sie O’Connell observierte. Ich hab sie noch nie so missmutig gesehen. Sie sitzt nebenan, starrt ins Leere und sagt immer nur, dass wir alle sofort miteinander reden müssen.« Scott fragte sich, was vorgefallen war, damit Hope so in sich gekehrt war. Das passte nicht im Mindesten zu ihr. Er versuchte, nicht auf den nahezu hysterischen Unterton zu reagieren, den er bei Sally heraushörte. Sie war offenbar mit den Nerven am Ende. Das erinnerte ihn an ihre letzten gemeinsamen Monate, bevor er von ihrer Affäre mit Hope erfuhr, als er jedoch schon längst auf einer tieferen,
instinktiven Ebene wusste, dass zwischen ihnen so ziemlich alles falsch lief. Er nickte unwillkürlich und erklärte: »In Ordnung. Ich hab auch eine Menge über O’Connell rausgefunden, und weiß Gott nichts Gutes …« Wieder schwieg er einen Moment, denn zum ersten Mal, seit er quer durch den Bundesstaat gefahren war, nahmen die ersten Ansätze einer Idee in seinem Kopf diffuse Gestalt an. »Ich weiß noch nicht, wie wir den besten Gebrauch davon machen sollen, aber … Also, ich bin gleich bei euch. Wie geht’s Ashley?« »Sie wirkt geistesabwesend, fast apathisch. Als psychologischer Laie würde man wohl sagen, das sind die ersten Anzeichen einer ausgewachsenen Depression. Es ist wie eine richtig schwere Krankheit, diesen Kerl in seinem Leben zu haben. Wie Krebs.« »Du solltest so etwas nicht sagen«, entgegnete Scott. »Du meinst, ich sollte kein Realist sein? Erwartest du mehr Optimismus von mir?« Scott schwieg. Sally konnte verdammt schwierig sein und einen mit ihrer direkten Art in den Wahnsinn treiben. Doch in der gegenwärtigen Situation, mit den Problemen ihrer Tochter, machte es ihm Angst. Er hätte nicht sagen können, ob er richtig lag, wenn er an der Hoffnung festhielt, einen Ausweg zu finden, oder ob Sallys Einschätzung, dass sie in den größten Schwierigkeiten steckten und alles nur
schlimmer wurde, der Wahrheit näher kam. Er hätte schreien können. Stattdessen biss er die Zähne zusammen und antwortete: »Wie gesagt, bin ich gleich da. Du kannst Ashley …« Wieder unterbrach er sich. Er spürte, dass Sally schwer Luft bekam. »Was? Soll ich ihr sagen, alles wird gut?«, fragte sie bitter. »Ach, und Scott, ich hoffe, du hast unsere nächsten Schritte im Gepäck, oder wenigstens eine Pizza.«
»Sie wollen immer noch nicht«, erklärte sie. »Verstehe«, antwortete ich, auch wenn ich nicht wusste, ob es stimmte. »Trotzdem muss ich wenigstens mit einem von ihnen reden. Sonst wird keine runde Geschichte draus.« »Na ja«, sagte sie langsam, offenbar jedes Wort abwägend. »Einer von ihnen ist bereit, ja sogar darauf erpicht, Ihnen zu sagen, was er weiß. Ich bin nur nicht sicher, ob Sie wirklich auf eine solche Unterhaltung gefasst
sind.« »Das leuchtet mir nicht ein. Einer will reden, aber was? Die anderen wollen es verhindern, um sich zu schützen? Oder wollen Sie alle beschützen?« »Sie sind nicht sicher, ob Sie ihre Lage wirklich verstehen.« »Machen Sie sich nicht lächerlich. Ich habe schon mit allen möglichen Leuten gesprochen, hab das Ganze von allen Seiten beleuchtet. Sie waren in einer verzweifelten Lage. Was sie auch getan haben, um da irgendwie rauszukommen, scheint mir gerechtfertigt zu sein …« »Wirklich? Finden Sie, dass der Zweck die Mittel heiligt?« »Habe ich das gesagt?« »Ja.« »Also, eigentlich wollte ich nur sagen …« Sie unterbrach mich mit der erhobenen Hand und stand auf, um über den Garten und eine Reihe Bäume hinweg auf die Straße zu schauen. Sie seufzte tief. »Sie waren am Scheideweg. Sie mussten sich entscheiden. Wie so viele ganz gewöhnliche Menschen, hatten auch sie eine Wahl zu treffen, die tiefgreifende persönliche Konsequenzen nach sich ziehen würde. Das müssen Sie begreifen.«
»Aber welche Wahl hatten sie denn?« »Gute Frage«, antwortete sie mit einem kurzen gequälten Lachen. »Sagen Sie es mir.«
38 Das Ausmaß des Bösen
Als Scott den Fußweg zum Haus seiner Exfrau hochging, plagten ihn tausend Zweifel und Ungewissheiten. An der Haustür hob er die Hand, um zu klingeln, zögerte jedoch. Er drehte sich noch einmal um und starrte in das Dunkel auf der Straße. Er war Michael O’Connell inzwischen bedeutend nähergekommen, doch er wusste, dass der sich immer noch vor ihm versteckte. Er fragte sich, ob seine Zielperson ihn umgekehrt ebenso aufmerksam studierte. Er wusste nicht, ob es möglich war, einen Vorsprung zu erzielen. Er hatte seine Vorbehalte. Nach allem, was er wusste, stand O’Connell wahrscheinlich just in diesem Moment in der vollkommenen Dunkelheit und beobachtete ihn. Scott fühlte eine Woge blanker Wut, am liebsten hätte
er laut aufgeschrien. Er fragte sich, was wäre, wenn O’Connell alles, was Scott bei seiner Erkundungsfahrt herausgefunden und was er für so undurchschaubar gehalten hatte, in Wahrheit vorhergesehen und in sein Kalkül längst einbezogen hatte. Er konnte den Gedanken nicht loswerden, dass der Kerl von allem, was er unternommen hatte, bereits wusste. Er stöhnte leise auf und merkte, wie ihm der Schweiß unter die Achseln trat. Er machte einen Schritt von der Tür zurück, um den Mann zu stellen, der ihn vermutlich beobachtete, doch er riss sich zusammen. Hinter ihm ging die Tür auf. Es war Sally. Einen Moment lang folgte sie Scotts Blick in die Nacht. Im selben Moment verstand sie, wonach er suchte. »Meinst du, er ist irgendwo da draußen?« Ihre Stimme war ausdruckslos und hart. »Ja und nein.« »Was denn nun?« »Ich denke, er versteckt sich da draußen im Schutz der Dunkelheit. Oder auch nicht. Wir können es nicht sagen, also sind wir in beiden Fällen aufgeschmissen.« Sally legte ihm die Hand auf die Schulter. Eine kleine
Geste überraschender Zärtlichkeit, die sich seltsam für sie anfühlte, während sie sich bewusstmachte, dass sie den Mann, mit dem sie einmal das Bett geteilt hatte, seit Jahren nicht mehr berührt hatte. »Komm rein«, sagte sie, »drinnen sind wir genauso aufgeschmissen, aber wenigstens ist es wärmer.«
Hope trank ein Bier und hielt sich immer wieder die kalte Flasche an die Stirn, als hätte sie Fieber und brauchte Kühlung. Ashley und Catherine wurden in die Küche beordert, um etwas zu essen zu machen – das jedenfalls war Sallys allzu offensichtliche Erklärung, um sie aus dem Zimmer zu komplimentieren, während sie ihre Pläne schmiedeten. Scott stand immer noch unter einer gewissen Anspannung, als ob dieses Gefühl draußen auf der Eingangstreppe sich hartnäckig eingenistet hätte. Sally dagegen war gut organisiert. Sie wandte sich an Scott und deutete auf Hope. »Sie hat seit ihrer Rückkehr kaum ein Wort gesprochen, aber ich glaube, sie hat etwas entdeckt.« Bevor Scott etwas erwidern konnte, stellte Hope ihr Bier laut vernehmlich auf den Tisch. »Ich glaube, es ist schlimmer, als wir gedacht hatten«, brach sie ihr Schweigen. »Schlimmer? Wie kann es denn noch schlimmer sein?«
Hope stand plötzlich ein Bild vor Augen: die grinsende Totenmaske einer tiefgefrorenen Katze. »Er ist krank und pervers. Er foltert und tötet gerne kleine Tiere.« »Woher weißt du das?« »Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen.« »Gott im Himmel!«, entfuhr es Scott. »Ein Sadist?«, fragte Sally. »Teils ja. Sieht jedenfalls ganz danach aus. Aber das ist nur die eine Seite von ihm. Da ist noch etwas.« Hopes Ton war hart wie Granit. »Er hat eine Pistole.« »Hast du die auch gesehen?« »Ja. Ich konnte in seine Wohnung, als er nicht da war.« »Wie hast du das geschafft?« »Was tut das schon zur Sache? Ich hab mich mit einer Nachbarin angefreundet, die wiederum zufällig einen Schlüssel hatte. Und was ich drinnen gesehen habe, hat mir klargemacht, dass es nur noch schlimmer werden kann. Nicht besser. Er ist ein ganz und gar bösartiger Mensch. Bösartig genug, um Ashley zu töten? Ich hab jedenfalls
nichts gesehen, was mir das Gegenteil nahelegt. Er hat verschlüsselte Computerdateien über sie. Eine nennt er Ashley Liebe und eine Ashley Hass. Das sagt ja wohl alles. Aber damit nicht genug. Er hat auch welche über uns. Ich habe keine Ahnung, was da drin ist. Obsession beschreibt jedenfalls das, womit wir es zu tun haben, nur sehr unzulänglich. Also, jetzt seid ihr dran. Er ist krank. Er ist entschlossen. Er ist besessen. Worauf läuft das hinaus? Können wir uns davor verstecken? Geht das überhaupt?« »Was willst du uns sagen, Hope?«, fragte Sally. »Ich will damit sagen, dass alles, was ich gesehen habe, dafür spricht, dass ein tragischer Ausgang unausweichlich ist. Und ihr wisst, was das bedeutet.« Hope hatte Mühe, die Bilder aus O’Connells Wohnung abzuschütteln. Tiefgefrorene Katzen, eine Schusswaffe im Schuh, kahle, mönchische Wände, eine schmuddelige Bleibe, die nur einem Zweck gewidmet ist: Ashley. Sie ließ sich gegen die Lehne fallen, als sie merkte, wie schwer es war, den handgreiflichsten Gedanken zu vermitteln: O’Connell kannte nur einen einzigen Lebensinhalt. Sally wandte sich an Scott. »Wie war’s bei dir? Hast du was in Erfahrung bringen können?« »Eine Menge, aber nichts, was Hopes Eindruck im Mindesten widersprechen würde. Ich hab gesehen, wo er aufgewachsen ist. Ich hab tatsächlich mit seinem Vater
gesprochen. Einen so miesen, verdorbenen, gewissenlosen Scheißkerl findet man nicht alle Tage.« Sie ließen Scotts Worte sinken. Es gab vieles zu sagen, doch sie wussten alle drei, dass es im Grunde nur auf das hinauslief, was sie bereits ahnten. Sally brach das Schweigen. »Wir müssen …« Je mehr sie gehört hatte, desto kälter fühlte sie sich innerlich. Fast kam es ihr so vor, als ob ihr Herzschlag an einem Monitor jetzt kaum mehr als eine gerade Linie bilden würde. »Ist er ein Mörder?«, platzte sie heraus. »Sind wir uns da sicher?« »Woran erkennt man einen Mörder? Ich meine, woher sollen wir das wissen? Sicher wissen?«, fragte Scott. »Alles, was wir bisher in Erfahrung gebracht haben, sagt mir, dass die Antwort auf deine Frage ja lauten muss. Aber bevor er nicht etwas Handgreifliches tut …« »Er könnte Murphy umgebracht haben.« »Er könnte auch Jimmy Hoffa oder JFK umgebracht haben, nach allem, was wir bislang haben«, erwiderte Scott düster. »Wir müssen uns auf das konzentrieren, worüber wir Gewissheit haben.« »Na ja, Gewissheit haben wir nicht eben im Überfluss«, antwortete Sally. »Genauer gesagt, ist es das, was wir am
wenigsten haben. Wir wissen eigentlich gar nichts, außer dass er ein gefährlicher Mensch ist und dass er irgendwo da draußen lauert. Und dass er Ashley etwas antun könnte oder auch nicht. Dass er sie in alle Ewigkeit verfolgen könnte. Oder auch nicht. Bei dem Kerl müssen wir verflucht noch mal mit allem rechnen.« Wieder verfielen sie in Schweigen. Hope kam der Gedanke, dass sie in einer Art Irrgarten gefangen waren und, egal, welchen Weg sie nahmen, nie zum Ausgang finden würden. Nach geraumer Zeit sagte Sally im Flüsterton: »Es muss jemand sterben.« Das Wort ließ den Raum gefrieren. Scott war der Erste, der sich fing, auch wenn seine Stimme heiser klang, als habe er Schmerzen. Er sah Sally an. »Der Plan sah vor, eine Straftat zu finden und sie O’Connell anzuhängen. Das solltest du recherchieren.« »Wenn wir Gewissheit – Gott, wie ich das Wort hasse – erlangen wollen, dann können wir uns entweder etwas sehr Kompliziertes ausdenken, wozu uns möglicherweise die Zeit fehlt, oder Ashley muss lügen. Ich meine, wir könnten sie verprügeln und dann behaupten, es wäre O’Connell gewesen. Das wäre ein tätlicher Angriff und würde ihn wahrscheinlich für eine ganze Weile hinter Gitter bringen.
Natürlich müsste ihr einer von uns die Blutergüsse beibringen und ihr ein paar Zähne ausschlagen und die eine oder andere Rippe brechen, damit es ein richtig ernstes Verbrechen ist. Wie gefällt euch das Szenario? Und wenn die Sache platzen würde, sobald ein Kommissar ein paar Fragen stellt …« »Schon gut. Aber was …« »Uns bleibt immer noch die Alternative, zur Polizei zu gehen und uns eine einstweilige Verfügung zu besorgen. Glaubt irgendjemand in diesem Raum, dass so ein Fetzen Papier sie schützen wird?« »Nein.« »Können wir nach allem, was wir bis jetzt wissen, ernsthaft glauben, dass er gegen die Verfügung verstößt, ohne Ashley etwas anzutun, so dass wir wiederum strafrechtlich gegen ihn vorgehen könnten? Was, nicht zu vergessen, ein langwieriger Vorgang ist, währenddessen er auf Kaution frei herumlaufen würde.« »Nein, verflucht noch mal«, murmelte Scott. Sally sah ihm ins Gesicht. »Der Mann, den du getroffen hast … der Vater …« »Ein absoluter Mistkerl. Bösartig im höchsten Maße.«
Sally nickte. »Und sein Verhältnis zu seinem Sohn?« »Er hasst sein Kind. Sein Kind hasst ihn. Sie haben sich seit Jahren nicht mehr gesehen.« »Was weißt du über diesen Hass?« »Er war gewalttätig, sowohl gegenüber O’Connells Mutter als auch gegen seinen Sohn; der Typ, der sich volllaufen lässt und dann freigebig Schläge austeilt. In der gesamten Nachbarschaft verschrien. Für jedes Kind muss er ein Alptraum gewesen sein, von O’Connell ganz zu schweigen.« Sally schnappte nach Luft und bemühte sich nach Kräften, das, was sie zu sagen hatte, weniger verrückt klingen zu lassen, als es tatsächlich war. »Würdest du sagen«, formulierte sie mit Bedacht, »dass dieser Mann gewissermaßen, aus psychologischer Sicht, der Grund dafür ist, dass O’Connell so geworden ist?« Scott nickte. »Keine Frage. So viel kann jeder Hobby-Freudianer sagen.« »Gewalt bringt Gewalt hervor«, resümierte Sally. »Ja.« »Ashley ist demnach in dieser bedrohlichen Lage, weil dieser Mann vor Jahren bei seinem eigenen Kind ein ungesundes, wahrscheinlich mörderisches und obsessives
Bedürfnis geweckt hat, geliebt zu werden, jemanden unter seine Kontrolle zu bekommen, ich weiß nicht, ihn zu zerstören oder zerstört zu werden, wie immer man es ausdrücken mag.« »Genau das war mein Eindruck.« Er kam jetzt langsam in Schwung. »Und da ist noch etwas. Die Mutter – die wahrlich auch kein Engel war – ist unter fragwürdigen Umständen gestorben. Es könnte durchaus sein, dass er sie getötet hat. Man konnte es ihm nur nicht beweisen.« »Dann hätte er nicht nur einen Mörder herangezogen, sondern wäre selbst einer?«, hakte Sally nach. »Ja, so könnte man sagen.« »Wenn wir uns also für einen Moment in die Vergangenheit zurückversetzen«, fuhr Sally fort und offenbarte ihre ganze Verzweiflung in ihren Worten, »würdest du dann nicht auch sagen, dass die Gefahr, die O’Connell für unsere Ashley darstellt, ihren psychischen Ursprung in seinem Vater hat?« »Ja.« »Dann«, sagte sie abrupt, »ist es einfach.« »Was ist einfach?«, fragte Hope. Sally lächelte, auch wenn an dem, was sie zu sagen hatte, absolut nichts Erfreuliches war. »Statt dass wir Michael
O’Connell töten, bringen wir seinen Vater um. Und finden einen Weg, es seinem Sohn anzuhängen.« Wieder herrschte Schweigen im Raum. »Das ist nur logisch«, schob Sally hastig nach. »Der Sohn hasst den Vater. Der Vater hasst den Sohn. Folglich wäre es nicht unwahrscheinlich, wenn ein Zusammentreffen zwischen den beiden tödlich enden würde.« Scott nickte bedächtig. »Sind nicht die beiden zusammen ziemlich eindeutig die Wurzel der Gefahr für Ashley?« Bei diesen Worten wandte sich Sally an Hope, die ebenfalls nickte. »Sind wir zu einem Mord fähig?«, fragte Sally. »Könnten wir – selbst aus den allerbesten Motiven – jemanden ermorden und dann am nächsten Tag aufwachen und so weitermachen wie bisher, als wäre nichts geschehen?« Hope sah zu Scott. Keine leichte Frage in seiner Situation, dachte Hope. Jedes weitere Wort von Sally war eine Ohrfeige. »Machen wir uns nichts vor, Mord verändert alles. Aber der entscheidende Punkt wäre, dass wir Ashley helfen, wieder an ihr Leben vor Michael O’Connell anzuknüpfen. Das wäre
wahrscheinlich zu schaffen – vorausgesetzt, wir halten sie fast gänzlich aus allem heraus. Was nicht gerade leicht sein wird. Aber wir drei, wir schmieden das Mordkomplott. Uns wird es verändern, nicht wahr? Denn in diesem Moment, mit dieser Unterredung, überschreiten wir eine Grenze. Bis zu diesem Punkt sind wir die Guten gewesen, die versuchen, Ashley vor dem Bösen zu beschützen. Denn, egal was Michael O’Connell getan haben oder was er planen mag, wir sind wir. Er wird von nachvollziehbaren psychischen Kräften getrieben; seine Bösartigkeit stammt aus seiner Kindheit und Jugend, aus seinen häuslichen Verhältnissen, was weiß ich. Wahrscheinlich kann er im Grunde nichts dafür, dass er so geworden ist. Er ist das unbewusste Ergebnis von traumatischen Erfahrungen und Deprivation. Folglich hat alles, was er uns angetan hat und was er Ashley vielleicht noch antun wird, eine Art moralische und emo tionale Basis. Es mag noch so unrecht sein, aber es gibt eine Erklärung dafür. Wir dagegen, also, ich will damit nur sagen, dass wir kaltblütig und egoistisch vorgehen müssen, ohne dass wir eine Entschuldigung für unser Verhalten hätten. Außer vielleicht einer.« Hope und Scott hatten Sallys Ausführungen konzentriert zugehört. Sally war unruhig in ihrem Sessel herumgerutscht und hatte sich gewunden, als bereite ihr jedes Wort eine Qual, so frostig kalt sie ihr auch über die Lippen kommen mochten. »Und die wäre?«, fragte Hope vorsichtig.
»Ashley wäre in Sicherheit.« Wieder senkte sich die Stille über den Raum. Sally schnappte hörbar nach Luft. »Das heißt, unter einer entscheidenden Voraussetzung«, sagte sie fast im Flüsterton. »Nämlich?«, fragte Scott. »Dass wir uns nicht erwischen lassen.«
Es war Nacht geworden, und wir saßen auf zwei Adirondack-Gartenstühlen auf ihrer Terrasse. Harte Sitze für harte Gedanken. Bei mir hatten sich so viele Fragen aufgestaut, dass ich mehr denn je darauf aus war, mit den Hauptpersonen oder zumindest mit einer von ihnen zu sprechen, um mir von dem Augenblick ein Bild zu machen, in dem sie von Opfern zu Verschwörern wurden. Doch so wütend sie mich auch machte, ließ sie sich nicht überfahren, sondern starrte nur in die feuchte Sommernacht hinaus.
»Bemerkenswert, nicht wahr, wozu man bereit ist, wenn man in die Enge getrieben wird?«, sagte sie. »Na ja«, antwortete ich vorsichtig, »mit dem Rücken zur Wand …« Sie stieß ein freudloses Lachen aus. »Das ist es ja gerade«, meinte sie unvermittelt. »Sie glaubten, sie stünden mit dem Rücken zu dieser sprichwörtlichen Wand. Aber wie kann man sich da sicher sein?« »Ihre Ängste waren berechtigt. O’Connell stellte eine offensichtliche Bedrohung dar. Wissen konnten sie es natürlich letztlich nicht. So vor die Wahl gestellt, sich für eine von verschiedenen unbekannten Größen zu entscheiden, haben sie die Dinge selbst in die Hand genommen.« Wieder lächelte sie. »Aus Ihrem Mund klingt es so einfach und überzeugend. Wieso sehen Sie es nicht mal von der anderen Seite?« »Wie meinen Sie das?« »Also, stellen Sie sich vor, Sie betrachteten das Problem aus Sicht der Polizei. Sie haben es mit einem jungen Mann zu tun, der sich verliebt hat und dem Mädchen seiner Träume nachstellt. Kommt alle Tage vor. Sie wissen so gut wie ich, dass er ein Stalker ist – aber was könnte ein Kriminalbeamter tatsächlich beweisen? Meinen Sie nicht
auch, dass Michael O’Connell seine kleinen ComputerAttacken auf unsere Hauptpersonen so gut versteckt hatte, dass niemand sie bis zu ihm zurückverfolgen konnte? Und wie hatten sie reagiert? Mit einem Bestechungsversuch. Mit Drohungen. Sie haben ihn sogar zusammenschlagen lassen. Wenn Sie als Polizist mit dieser Situation konfrontiert wären, wer ließe sich wohl leichter vor Gericht bringen? Ich denke, Scott, Sally und sogar Hope. Sie haben schon an diesem Punkt gelogen; falsche Tatsachen vorgespiegelt. Selbst Ashley hat schon gegen das Gesetz verstoßen und diesen Revolver in ihren Besitz gebracht. Und nun planen sie gar einen Mord. An einem Unschuldigen. Aus psychologischer oder auch moralischer Sicht mag er nicht wirklich unschuldig gewesen sein, aber trotzdem … Und sie wollten sich nicht erwischen lassen. Welchen moralischen Ansprüchen hätten sie zu diesem Zeitpunkt noch genügt?« Ich erwiderte nichts. Mir schwirrten eigene Gedanken im Kopf herum. Wie hatten sie es geschafft? »Erinnern Sie sich noch, von wem sie hören mussten, etwas zu sagen und es zu tun seien zweierlei Paar Schuhe? Wer hat ihnen klargemacht, wie schwer es ist, tatsächlich abzudrücken?« Ich lächelte. »Ja, ich weiß. O’Connell.«
Sie lachte bitter. »Ja, das hat er zu der Unerschrockensten von ihnen gesagt, derjenigen, die am wenigsten zu verlieren gehabt hätte, wenn sie ihm eine Schrotladung in die Brust gejagt hätte – sie, die ihr Leben größtenteils schon hinter sich hatte und das geringste Risiko eingegangen wäre. In diesem entscheidenden Moment hat sie versagt, nicht wahr?« Sie schwieg eine Weile und starrte in die Dunkelheit. »Einer von ihnen musste jedoch den Mut aufbringen.«
39 Der Beginn eines unvollkommenen Verbrechens
Sally meldete sich als Erste wieder zu Wort. »Wir müssen die Aufgaben benennen und verteilen. Wir brauchen einen Plan. Und dann müssen wir uns daran halten. Peinlich genau.« Sie konnte ihren eigenen Worten nicht glauben. Sie waren so eiskalt berechnend, dass es ihr fast erschien, als kämen sie nicht von ihr, sondern einem Unbekannten. Sie konnte sich keine unwahrscheinlicheren Mörder denken als ihr Trio. Sie hegte immense Zweifel daran, dass sie tatsächlich das ausführen würden, was sie
vorgeschlagen hatte. Hope sah auf. »Ich habe keine Ahnung von diesen Dingen. Bisher hab ich noch nicht mal ein Knöllchen wegen erhöhter Geschwindigkeit bekommen. Ich lese nur selten Krimis oder Thriller; zuletzt hab ich am College Schuld und Sühne in einem Seminar und Kaltblütig in einem anderen gelesen.« Scott lachte etwas verlegen. »Na großartig. Im ersten treiben Schuldgefühle den Mörder fast in den Wahnsinn, so dass er sich am Ende stellt, und im anderen, na ja, da landen die Bösewichte am Galgen, weil sie keinen blassen Schimmer haben. Vielleicht sollten wir uns die Bücher nicht unbedingt zum Vorbild nehmen.« Wahrscheinlich hatte er einen ganz netten Witz gemacht, doch niemand konnte auch nur darüber schmunzeln. Sally winkte ab. »Wisst ihr was«, sagte sie schroff. »Wir sind keine Mörder. Wir sollten nicht einmal daran denken.« Scott brach das kurze Schweigen. »Mit anderen Worten, wir warten, bis etwas passiert, und hoffen, dass es keine Tragödie ist?« »Nein. Ja. Ich weiß nicht.« Sally schwankte plötzlich in ihren Gefühlen wie in ihrer Stimme. »Vielleicht vertrauen wir den juristischen Mitteln zu wenig. Vielleicht sollten wir doch eine
einstweilige Verfügung anstreben. Manchmal funktioniert es.« »Ich kann nicht erkennen, was das in unserem Fall helfen sollte«, sagte Scott. »Damit ist nichts gewonnen. Wir wären weiterhin ständig in Angst. Vor allen anderen Ashley. Wie kann man so leben? Und selbst wenn es O’Connell dazu bringt, Abstand zu halten, wird jeder Tag, an dem er scheinbar verschwunden ist, die Unsicherheit nur noch vergrößern. Das bringt keine Lösung! Bestenfalls schafft es die Illusion von Sicherheit. Und selbst wenn es tatsächlich Sicherheit brächte, woher könnten wir wissen, ob es so ist?« Sally stieß einen langen Seufzer aus. »Du bringst überzeugende Argumente, Scott, die nicht von der Hand zu weisen sind. Sag mir eins: Wirst du abdrücken und jemanden töten?« »Ja«, brach es aus ihm heraus. »Machst du es dir nicht ein bisschen zu leicht? Aus dir spricht die Leidenschaft, nicht die Vernunft. Und du, Hope? Würdest du jemanden, einen Fremden, töten, um Ashley zu schützen – oder würdest du dich in dem entscheidenden Moment nicht doch vielleicht fragen: ›Was mache ich hier eigentlich? Schließlich ist sie nicht mein Kind.‹« »Nein, natürlich nicht«, erwiderte Hope.
»Wie gesagt, mir scheint, wir antworten ein wenig vorschnell.« Scott überkam eine Woge der Frustration. »Und was ist mit dir, Advocatus Diaboli? Machst du’s?« Sally runzelte die Stirn. »Ja. Nein. Ich weiß es nicht.« Scott lehnte sich zurück. »Dann wüsste ich gerne eins. Als Ashley klein war, hast du da, wenn sie krank war, nicht mal gebetet: ›Lass es mich sein. Mach mich krank und sie gesund.‹?« Sally nickte. »Ich denke, jede Mutter hat das schon empfunden.« »Würdest du für dein Kind dein Leben geben?« Sally merkte, wie ihr die Emotionen die Kehle zuschnürten. Sie nickte. Sie schluckte schwer, um sich zu fassen. »Ich kann es«, sagte sie langsam. »Ich kann ein Verbrechen entwerfen. Ich weiß genug darüber. Und vielleicht funktioniert es sogar. Vielleicht aber auch nicht. Aber selbst wenn wir alle ins Gefängnis gehen, haben wir zumindest versucht, sie zu verteidigen. Das ist wenigstens etwas.« »Ja, aber nicht genug.« Scott war ein wenig überrascht, wie steif das klang. »Sag mir, was du denkst.«
Sally wechselte unruhig die Stellung. »Was ist eurer Meinung nach O’Connells wundester Punkt?« »Das müsste was mit dem Vater zu tun haben«, erwiderte Scott. »Genauer gesagt«, fuhr Sally fort, »ihr schlechtes Verhältnis. Ich schätze, diesen Hass wird O’Connell nicht unter Kontrolle haben.« Scott und Hope verfielen beide in Schweigen. »Da bietet er Angriffsfläche. So wie es ihm gelungen ist, unsere neuralgischen Punkte aufzuspüren, so müssen wir gegen ihn vorgehen. Haben wir nicht schon ein paar Lektionen von ihm bekommen? Er hat herausgefunden, wo er uns am leichtesten treffen kann, und das hat er sich zunutze gemacht. Dasselbe hat er mit Ashley getan. Er stellt alles auf den Kopf, um Kontrolle auszuüben. Wozu sitzen wir hier zusammen? Weil wir glauben, dass er ihr was antun wird. Sie vielleicht sogar töten wird, falls seine Frustration eskaliert. Wenn ich versuche, die Dinge mit etwas Abstand zu sehen, dann denke ich, dass wir mit ihm nur machen, was er bereits mit uns gemacht hat. Wir richten enormen Schaden an, ohne eine Spur zu hinterlassen.« Wieder erwiderten die anderen beiden nichts, doch alles, was Sally sagte, schien ihnen logisch. Scott und Hope betrachteten die Frau, die sie einmal geliebt hatten oder noch immer liebten, und sahen
jemanden, den sie kaum wiedererkannten. »Wir müssen Vater und Sohn zusammenbringen. Das wäre von entscheidender Bedeutung. Sie müssen miteinander konfrontiert werden. Hoffentlich gehen sie sich an die Gurgel. Sie müssten etwas tun, das die Polizei nachweisen kann. Ich meine, es müsste klar erwiesen sein, dass sie sich getroffen und geprügelt haben. Und in diese Wut müssen wir uns einmischen. Heimlich, ohne die geringsten Spuren zu hinterlassen – ganz und gar unsichtbar – außer für den Mann, den wir töten.« Sally sah jetzt nicht mehr Hope und Scott an, sondern starrte zur Decke. Sie sprach in einem nachdenklichen, beinahe spekulativen Ton. »Seht ihr, das wäre nur logisch. Sie hassen und misstrauen einander. Ihre Beziehung ist von Gewalt geprägt. Sie haben noch ein paar Rechnungen offen. Was wäre da näherliegend, als dass der Sohn im Zorn den Vater tötet?« »Stimmt«, pflichtete Scott bei. »Eine Gerechtigkeit wie in der griechischen Tragödie. Aber sie gehen sich seit Jahren aus dem Weg. Wie wollen wir …« Sally hob die Hand. Sie sprach leise. »Falls er annimmt, dass Ashley im Haus seines Alten ist …« »Du willst sie als Köder benutzen?«, platzte Scott heraus. Er schüttelte den Kopf. »Aber das ist unmöglich.«
»Was für einen Köder hätten wir denn sonst?«, antwortete Sally mit einer Gegenfrage. »Ich dachte, wir wären uns darin einig, Ashley aus allem rauszuhalten«, wandte Hope ein. Sally zuckte die Achseln. »Ashley könnte einen Anruf machen, ohne zu wissen, wozu. Wir könnten ihr in den Mund legen, was sie sagen soll.« Hope beugte sich vor. »Nur mal angenommen … rein hypothetisch, wir könnten sie beide in dasselbe Zimmer bestellen. Und dann kreuzen wir plötzlich auf … wie sollen wir ihn da töten?« Sie war verblüfft, als sie ihre eigenen Worte hörte. Sally überlegte. »Wir sind nicht stark genug …« Plötzlich wirkte ihr Gesicht wie versteinert. »Du sagst, O’Connell hat eine Pistole?« »Ja. In seiner Wohnung versteckt.« Sally nickte. »Die müssen wir verwenden. Nicht nur ein gleiches Modell. Genau die – seine eigene Waffe. Mit seinen Fingerabdrücken und vielleicht seiner DNA. »Und wie kommen wir da ran?«, fragte Scott. Hope griff wortlos in ihre Jeanstasche und hielt den Schlüssel zu O’Connells Wohnung hoch.
Die anderen beiden starrten sie an. Und obwohl keiner von ihnen etwas sagte, dachten sie beide dasselbe: Es wäre immerhin möglich.
Sally blieb allein zurück, während Scott und Hope sich zu Catherine und Ashley gesellten, um zu essen, was die beiden vorbereitet hatten. Ein Teil von ihr war wie elektrisiert, fieberte geradezu dem Mord entgegen. Angesichts der Ironie des Ganzen hätte sie laut lachen können. Wir sind dabei, etwas zu tun, das uns für immer verändern wird, damit wir uns nicht ständig ändern müssen. Sie hörte Hopes Stimme aus der Küche und musste unwillkürlich denken, dass sie nur wegen Michael O’Connell und seines Vaters wieder an den Punkt kommen konnten, an dem sie sich noch liebten. Sie fragte sich, ob der Weg zum Leben über den Tod führen konnte. Zweifellos lautete die Antwort ja. Soldaten, Feuerwehrleute, Rettungskräfte, Polizisten – sie alle wissen, dass sie eines Tages vor diese Wahl gestellt sein könnten, dass sie sich möglicherweise einmal selbst opfern mussten, damit andere überlebten. Waren sie nicht in einer ähnlichen Situation? Sie griff nach ihrem gelben Kanzleiblock und einem billigen Kugelschreiber.
Sally machte sich daran, Ideen zu notieren. Zunächst erstellte sie eine Liste mit Dingen, die sie brauchen würden, sowie mit Details, die der ermittelnden Polizei zwingend einen bestimmten Tathergang nahelegten. Während sie die Aufstellung ergänzte, wurde ihr immer klarer, dass der Schuss als solcher weniger entscheidend war als die nachträgliche Wirkung. Wie eine eifrige Studentin, der während der Examensprüfung plötzlich die richtigen Antworten einfallen, arbeitete sie sich in umgekehrter Reihenfolge durch das Verbrechen. Erfinde einen Mord, sagte sie sich. Sie hielt sich die Hand vors Gesicht. Wir sind dabei, das zu werden, was wir immer gehasst haben, dachte sie. Langsam ballte sie die Hand zur Faust, nur dass es sich für sie anfühlte, als legte sie die Finger um O’Connells Hals. Sie spürte förmlich, wie ihm die Luft ausging und er von einem Moment zum anderen unter ihrem Würgegriff erstickte.
Es war spät geworden, und ich stand unschlüssig in der Haustür. Man hört etwas. Jemand hat einem eine Geschichte erzählt. Worte im Flüsterton. Und mit einem
Schlag kommt es einem so vor, als würde es zwangsläufig immer mehr Fragen als Antworten geben. Sie musste das irgendwie gespürt haben, denn sie sagte: »Ah nen Sie jetzt, weshalb sie davor zurückschrecken, mit Ihnen zu reden?« »Ja«, antwortete ich. »Natürlich. Sie wollen keine Strafanzeige riskieren. Mord verjährt nicht.« Sie schnaubte. »Das versteht sich von selbst. Und zwar von Anfang an. Sie müssen versuchen, über die offensichtlichsten praktischen Erwägungen hinauszuschauen.« »Na schön, weil der Verrat, um den es hier auch geht, sie erschreckt.« Sie schnappte nach Luft, so als hätte sie vor etwas Angst. »Und worin, bitte schön, besteht dieser Verrat, wie Sie es so elegant formulieren?« Ich überlegte einen Moment. »Sally hatte Jura studiert, sie hätte mehr Respekt vor der Kraft des Gesetzes haben sollen.« »Ja, ja«, räumte sie ein und nickte. »Sie stand im Dienste des Gesetzes. Aber sie konnte in diesem Fall nur die Unzulänglichkeiten des Gesetzes sehen, nicht seine Stärken. Fahren Sie fort.«
»Und Scott, nun ja, er war Geschichtsprofessor. Mehr als irgendjemand sonst hätte er sehen müssen, wie gefährlich es ist, einseitig zu handeln. Er hätte sich einen Sinn für die soziale Gerechtigkeit bewahren müssen.« »Ein Mann, der Gewalt verabscheute und plötzlich zu diesem Mittel griff?«, fragte sie. »Ja. Selbst als er sich in jungen Jahren zum Kriegsdienst meldete, war das eher so etwas wie ein politischer Akt oder eine Gewissensentscheidung als ein HurraPatriotismus gewesen. Nur so ist es ihm gelungen, sich die Hände nicht oder kaum schmutzig zu machen. Aber Hope …« »Was ist mit Hope?«, fragte sie prompt. »Ich hab das Gefühl, dass man bei den dreien, wie soll ich sagen, von ihr am wenigsten erwarten würde, sich auf etwas Kriminelles einzulassen. Schließlich war sie am wenigsten involviert.« »Meinen Sie? Stand für sie nicht mehr auf dem Spiel als für die anderen? Eine Frau, die eine andere Frau liebt und die ganze gesellschaftliche Last auf sich nimmt, die das mit sich bringt? Hat sie nicht aus Liebe das größte Risiko auf sich genommen? Hatte sie es nicht aufgegeben, eine eigene Familie zu gründen, sich der Welt als ›normal‹ zu präsentieren, und deshalb Ashley quasi als ihr eigenes
Kind adoptiert? Erkannte sie in ihr einen Teil von sich selbst? Ein Leben, das ihr vielleicht auch einmal offengestanden hatte? Hat sie Ashley beneidet, geliebt, hat sie sich mit ihr auf eine so tiefe Weise verbunden gefühlt, dass es mit dem, was wir natürlicherweise von einer Mutter oder einem Vater erwarten, wenig zu tun hat? Und liegt es nicht nahe, dass sie als die Athletin, die sie schließlich war, dazu neigen würde, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen?« Ihr plötzlicher Wortschwall erdrückte mich so wie das Dunkel der Nacht. »Ja«, gab ich zu, »das kann ich nachvollziehen.« »Hope hatte in ihrem ganzen Leben nie das Risiko gescheut, sie war immer ihrem Instinkt gefolgt. Das machte ihre Schönheit aus.« »Von der Seite hatte ich es nicht gesehen.« »Meinen Sie nicht, dass Hope in gewisser Hinsicht der Schlüssel zu allem war?« Ich schüttelte, wenn auch kaum merklich, den Kopf. »Ja und nein.« »Wie soll ich das verstehen?«, fragte sie. »Der Schlüssel war von Anfang bis Ende Ashley.«
40 Ein Wettlauf durch die Schatten der Dunkelheit
Ashley stemmte sich gegen das Kopfbrett ihres Bettes und stützte die Füße auf das Fußende. Sie hielt die Spannung so lange, bis ihr vor Anstrengung die Muskeln zitterten. Als Teenager hatte sie das immer gemacht, wenn ihr Körper sich selbst davonzurennen drohte und sie unter ständigem »Wachsweh« litt, so als passten ihre Knochen nicht mehr in ihre Haut. Sport, hartes Lauftraining am Nachmittag unter Hopes Aufsicht, hatte geholfen, doch viele Nächte lang hatte sie sich im Bett hin und her geworfen und darauf gewartet, dass ihr Körper endlich ausgewachsen war. Es war noch früh, und so drangen gelegentliche Schlafgeräusche durchs Haus. Im Nachbarzimmer schnarchte Catherine laut. Von Sally und Hope war nichts zu vernehmen, auch wenn sie die beiden letzte Nacht noch lange hatte reden hören. Es war zu leise gewesen, um etwas zu verstehen, doch sie vermutete, dass es etwas mit ihr zu tun hatte. Schon lange hatte sie keine gedämpften, zärtlichen Worte mehr gehört, und das machte ihr zu schaffen. Sie wollte unbedingt, dass ihre Mutter mit Hope
zusammenblieb, doch Sally wirkte seit einigen Jahren so distanziert, dass sie nicht sicher war, wie es weitergehen würde. Manchmal glaubte sie, dass sie mit dem Scherbenhaufen einer weiteren Scheidung nicht zurechtkäme, selbst wenn sie als Freunde auseinandergingen. Aus Erfahrung wusste sie, dass eine »einvernehmliche Trennung« mehr oder weniger mit denselben inneren Qualen einherging. Einen Moment lang horchte Ashley, dann ließ sie es zu, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen. Nameless hatte immer am Ende des Flurs direkt vor der Tür zum Schlafzimmer von Sally und Hope auf einem zerschlissenen Hundelager geschlafen, damit er in Hopes Nähe war. Doch als Ashley noch klein war, hatte er nicht selten mit unnachahmlichem Hundeinstinkt gespürt, wenn sie Kummer hatte. Dann hatte er mit der Schnauze die Tür geöffnet und es sich ohne großes Aufhebens auf dem Teppich vor der Kommode bequem gemacht. Er hatte sie so lange angesehen, bis sie ihm erzählte, was sie bedrückte. Es war, als könnte sie sich selbst beruhigen, indem sie den Hund beruhigte. Ashley biss sich auf die Lippe. Allein dafür, was er Nameless angetan hat, könnte ich ihn eigenhändig erschießen. Sie schwang die Beine aus dem Bett und stand auf. Einen Moment lang ließ sie den Blick langsam über die vertraute
Umgebung aus ihrer Kindheit schweifen. An einer Wand hingen rund um ein aufgezogenes Poster Dutzende ihrer eigenen Zeichnungen. Dazwischen Schnappschüsse von ihren Freunden, von ihr selbst im Halloween-Kostüm, auf dem Fußballplatz und in voller Robe vor dem Abschlussball. Dann eine bunte Flagge mit dem Wort FRIEDEN in der Mitte über einer eingestickten weißen Taube. Eine leere Champagnerflasche mit zwei Papierblumen darin erinnerte an die Nacht in ihrem ersten Jahr am College, in der sie entjungfert wurde, ein Ereignis, in das sie Hope eingeweiht hatte, nicht aber ihre Eltern. Sie atmete langsam aus und musste unwillkürlich denken, dass all diese Dinge ihr sagten, wer sie einmal gewesen war, während sie eine Vorstellung davon bekommen wollte, was aus ihr werden würde. Sie ging zu der Schultertasche, die am Türknauf ihres Einbauschranks hing, griff hinein und zog den Revolver heraus. Ashley nahm ihn, drehte sich um und ging in Anschlag. Sie zielte aufs Bett. Langsam, ein Auge geschlossen, drehte sie sich um die Achse und richtete die Waffe aufs Fenster. Alle sechs Schuss auf einmal feuern, schärfte sie sich ein. Auf die Brust zielen. Nicht am Abzug ruckeln. So wenig wie möglich wackeln. Sie kam sich ein bisschen albern vor. Er wird nicht stillstehen, überlegte sie. Vielleicht stürzt er auf dich zu, um es kurz zu machen. Sie nahm wieder ihre
Stellung ein, grätschte die nackten Füße am Boden, ging ein wenig in die Knie. In Gedanken nahm sie Maß. Wie groß war O’Connell? Wie stark? Wie schnell würde er laufen? Würde er um sein Leben betteln? Würde er ihr versprechen, sie in Ruhe zu lassen? Schieß ihm gefälligst ins Herz, falls er eins hat. »Peng«, flüsterte sie. »Peng, peng, peng, peng, peng.« Sie ließ den Revolver sinken. »Du bist tot und ich am Leben. Und mein Leben kann weitergehen«, sagte sie so leise, dass die anderen, egal wie unruhig sie schliefen, sie nicht hören konnten. »Es mag noch so mies sein, aber immer noch besser als das hier.« Die Pistole fest im Griff, trat sie neben das Fenster. Hinter den Gardinen versteckt, spähte sie links und rechts die Straße entlang. Es dämmerte, so dass die Häuser gerade erst langsam Gestalt annahmen. Es war kalt, schätzte sie. Wahrscheinlich lag Raureif auf den Rasenflächen. Zu kalt, als dass O’Connell die Nacht über da draußen Wache gehalten haben könnte. Sie nickte und steckte die Waffe wieder in ihre Tasche. Dann zog sie eilig eine Jogginghose, einen schwarzen Rolli und ein Kapuzensweatshirt aus der Kommode und schnappte sich ihre Joggingschuhe. Sie glaubte nicht, dass sie in den nächsten Tagen viel Gelegenheit haben würde,
allein zu sein, und jetzt hatte sie die Chance. Als sie sich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer schlich, fiel es ihr ein wenig schwer, die Pistole zurückzulassen. Aber schließlich konnte sie mit dem Ding nicht laufen. Zu schwer und zu verrückt. Es lag kanadische Kälte in der Luft, die es über Vermont hinaus geschafft hatte. Sie ließ leise die Haustür zuschnappen und zog sich eine Strickmütze über die Ohren, dann rannte sie los, um auf der Straße zu sein, bevor jemand ihr das kleine Vergnügen ausreden konnte. Ashley lief schnell, damit ihr Herz das Blut in die kalten Finger pumpte, und mit jedem Meter ließ sie den Gedanken an das Risiko und bald auch die Kälte hinter sich. Ashley lief zügig, im Takt mit ihren Gedanken, wobei das Trommeln ihrer Füße ihre Wut in eine Art Jogging-Poesie verwandelte. Sie war es so leid, von ihrer Familie und ihrer eigenen Angst bedrängt, herumkommandiert und eingesperrt zu werden, dass sie darauf bestand, sich auf das Abenteuer einzulassen. Natürlich darfst du es ihm nicht extra leichtmachen, sagte sie sich und nahm einen unvorhersehbaren Zickzackkurs. Was sie dringend nötig hatte, war der Luxus, spontan zu handeln. Aus drei Meilen wurden vier, dann fünf, und der wilde
frühmorgendliche Aufbruch mündete in einen stetigen Rhythmus, der, so hoffte sie, zu ihrer Sicherheit beitrug. Der Wind war nicht mehr so kalt und drang ihr nicht mehr stechend in die Lungen. Sie spürte den Schweiß im Nacken, und als sie kehrtmachte, um den Heimweg anzutreten, fühlte sie sich ein wenig erschöpft, wenn auch nicht so sehr, dass sie ihr Tempo gedrosselt hätte. Stattdessen wurde ihr ein unbehagliches Gefühl, eine seltsame Unruhe bewusst. Sie blickte aufmerksam nach vorne und sah plötzlich, wie sich etwas bewegte. Sie hätte schwören können, dass sie nicht mehr alleine war. Sie schüttelte den Kopf und rannte weiter. Etwa acht Straßen von ihrem Haus entfernt schoss ein Wagen gefährlich nah an ihr vorbei. Sie stieß einen erschrockenen Laut aus und wollte einen Kraftausdruck hinterherschicken, lief jedoch weiter. Sechs Straßen von ihrem Haus entfernt rief jemand deutlich ihren Namen. Sie konnte nicht sagen, ob sie sich dies nur eingebildet hatte, und sie drehte sich auch nicht um, sondern lief nur umso schneller. Vier Straßen von zu Hause entfernt hupte jemand in ihrer Nähe. Bei dem Geräusch zuckte sie heftig zusammen und legte einen Sprint ein. Zwei Straßen von daheim hörte sie hinter sich plötzlich Reifen quietschen. Sie schnappte nach Luft, drehte sich
aber auch diesmal nicht um, sondern wechselte nur von der Straße auf den Bürgersteig, der von den Wurzeln der Bäume aufgebrochen und wellig war wie das Meer kurz vor einem Sturm. Der Zementboden schien nach ihren Knöcheln zu schnappen, und ihre Füße beklagten sich über das schwierige Gelände. Sie legte noch einmal Tempo zu. Sie hätte am liebsten die Augen geschlossen und versuchte mit aller Macht, sich gegen Geräusche abzuschotten. Da das unmöglich war, fing sie an, vor sich hin zu summen. Dabei hielt sie wie ein Rennpferd mit Scheuklappen den Blick konzentriert nach vorne gerichtet, um schnellstens nach Hause zu kommen. Sie sprang über ein Blumenbeet, schoss quer über den Rasen und wäre beinahe gegen die Haustür geprallt. Erst dann drehte sie sich langsam um. Sie starrte in beide Richtungen der Straße. Sie sah einen Mann aus seiner Einfahrt fahren. Ein paar lachende Kinder mit prall gefüllten Rucksäcken, die zum Schulbus liefen. Eine Frau in einem langen, leuchtend grünen Mantel, den sie sich über das Nachthemd geworfen hatte, bückte sich nach der Zeitung. Kein O’Connell. Jedenfalls nicht, so weit sie sehen konnte. Sie legte den Kopf zurück und atmete in kurzen Zügen die kalte Morgenluft ein. Noch einmal ließ sie den Blick über die vorstädtische Alltagsnormalität schweifen und schluckte schwer. In diesem Moment wurde ihr klar, dass er nicht
mehr tatsächlich da sein musste, um präsent zu sein.
Von seinem Beobachtungsposten ein Stück die Straße hinunter weidete sich Michael O’Connell an Ashley, wie sie unschlüssig auf den Eingangsstufen zum Haus ihrer Mutter stand. Er saß hinter dem Lenkrad seines Wagens und nippte an einer großen Tasse Kaffee. Hätte sie richtig hingesehen, dann hätte sie ihn wohl entdeckt, denn er gab sich nicht besonders Mühe, sich zu verstecken. Er wartete nur. Er hatte überlegt, ob er sie beim Joggen anhalten sollte, den Gedanken aber verworfen. Wenn er sie so überraschte, geriet sie vielleicht in Panik, und sie hätte ihm allzu leicht entwischen können. Immerhin war sie mit den Nebenstraßen und Gärten des Viertels viel besser vertraut, und so schnell er auch war, hätte er nicht mit Sicherheit sagen können, ob er sie eingeholt hätte. Vor allem aber hätte sie schreien können und damit die Aufmerksamkeit der Nachbarn auf sich gelenkt, so dass jemand vielleicht die Polizei gerufen hätte. Falls sie eine Szene gemacht hätte, dann hätte er sich verziehen müssen, bevor er Gelegenheit hatte, mit ihr zu sprechen. Was er am wenigsten brauchen konnte, war ein skeptischer Polizist, dem er erklären sollte, was er hier zu suchen hatte. Er musste vielmehr den richtigen Moment abwarten. Nicht hier, nicht auf der Straße, in dem Viertel, in dem sie aufgewachsen war. Hier schwang ihre Vergangenheit mit.
Er dagegen war ihre Zukunft. Viel leichter war es, ihren Anblick in sich aufzusaugen. Besonders gefiel es ihm, ihre Beine beim Laufen zu betrachten. Sie waren lang und geschmeidig, und er wünschte sich, er hätte in ihrer einzigen Nacht stärker darauf geachtet. Dennoch hatte er sie nackt und schimmernd vor Augen, und er wechselte die Stellung, als er in einer Woge die ersten Anzeichen sexueller Erregung spürte. Er wünschte, Ashley würde ihre Strickmütze herunternehmen, damit er ihr Haar sehen konnte, und als er wieder aufsah und sie genau das tat, schmunzelte er und fragte sich, ob er ihr auf telepathischem Wege alle möglichen unterschwelligen Botschaften schicken konnte. Es machte ihm nur umso deutlicher, wie stark sie miteinander verbunden waren. Michael O’Connell lachte laut. Er brauchte Ashley nur von ferne zu sehen, und schon durchströmte es warm seinen ganzen Körper. Es war, als übertrüge sie ihm ihre Energie. Unter dem Ansturm der Leidenschaft wurde es ihm unmöglich, länger stillzusitzen, und er öffnete die Tür. Nicht weit vor ihm drehte Ashley sich im selben Moment um und trat, ohne ihn zu sehen, erfüllt von Verzweiflung ins Haus. Michael O’Connell erhob sich, halb im Wagen, ein Bein auf
der Straße und starrte auf die Stelle, an der Ashley eben gestanden hatte. In seiner Phantasie sah er sie immer noch. Schnapp sie dir, sagte eine Stimme in seinem Innern. Doch das erschien ihm zu einfach. Er lächelte. Er musste sie nur allein erwischen, allerdings allein in seiner Welt, nicht ihrer. Ich bin unsichtbar, dachte er, als er wieder hinters Lenkrad sackte und vom Bordstein fuhr. Doch da irrte er. Im Schlafzimmer stand Sally am Fenster und sah hinaus. Sie packte die Fensterbank so fest, dass sich ihre Fingerknöchel verfärbten, und grub die Nägel so tief ins Holz, dass sie fürchtete, es zu zerbrechen. Es war das erste Mal, dass sie Michael O’Connell leibhaftig zu sehen bekam. Als sie die Gestalt hinterm Lenkrad des Wagens das erste Mal entdeckte, hatte sie sich eingeredet, das sei nicht der, für den sie ihn hielt, dabei aber sofort gewusst, dass sie sich etwas vormachte. Es konnte nur er sein. Er war so nah wie eh und je, knapp außerhalb ihrer Reichweite, und beschattete Ashley auf Schritt und Tritt. Selbst wenn sie ihn nicht sah, war er da. Sie fühlte sich benommen, erbost und von einer Panikattacke fast überwältigt. Liebe ist Hass, dachte sie. Liebe ist böse. Liebe ist falsch.
Sie sah dem Wagen hinterher. Liebe ist Tod, dachte sie. Keuchend wandte sie sich vom Fenster ab. Zuerst wollte sie allen sagen, dass sie gerade Michael O’Connell gesehen hatte, wie er nur wenige Meter von ihrer Haustür entfernt Ashley hinterherspionierte, doch dann überlegte sie es sich anders. Wer wütend ist, handelt unbesonnen. Wir müssen die Ruhe bewahren. Wir müssen klug sein. Organisiert. An die Arbeit. An die Arbeit. An die Arbeit. Sie drehte sich um und sah den Block mit ihren Notizen. Notizen zu einem Mord. Als sie den Bleistift zur Hand nahm, merkte sie allerdings, dass sie ein wenig zitterte.
Am späten Nachmittag machte sich Sally auf den Weg, um Dinge einzukaufen, die sie bei ihrem Vorhaben für unverzichtbar hielt. Erst am frühen Abend kam sie zurück, schaute kurz bei Ashley herein, die seltsam gelangweilt auf ihrem Bett eingerollt lag und las, und fragte sich, wo Hope stecken mochte, während sie Catherine in der Küche herumhantieren hörte. Dann rief sie Scott zu Hause an. »Ja?« »Scott? Ich bin’s, Sally.« »Alles in Ordnung?«
»Ja. Wir haben den Tag mehr oder weniger ohne besondere Vorkommnisse hinter uns gebracht«, berichtete sie und ließ unerwähnt, dass O’Connell an diesem Morgen in ihrer Straße gelauert hatte. »Ich wage allerdings zu bezweifeln, dass das noch lange der Fall ist.« »Das kann ich nachvollziehen.« »Gut, will ich hoffen. Ich denke nämlich, du solltest rüberkommen.« »Meinetwegen …« Er wirkte unentschlossen. »Es ist Zeit, dass wir handeln.« Sally lachte trocken, als hätte sie eine zynische Ader bei sich entdeckt. »Ich habe den Eindruck, als hätte es in den letzten Wochen mehr Übereinstimmung zwischen uns gegeben als während all der Jahre unserer Ehe.« Auch Scott verzog den Mund zu einem schmerzlichen Lächeln. »Seltsame Sicht der Dinge. Vielleicht hast du recht. Aber wir hatten auch Zeiten, die gar nicht so schlecht waren.« »Du hast ja nicht eine Lüge gelebt wie ich.« »Lüge ist ein starkes Wort.« »Hör mal, Scott, ich möchte den alten Streit nicht wieder
anfangen, wenn du nichts dagegen hast.« Sie schwiegen einen Moment, dann fügte Sally hinzu: »Wir sollten uns nicht ablenken lassen. Hier geht es nicht darum, wo wir einmal standen, sondern darum, welche Perspektive wir haben, oder sogar darum, wer wir sind. Und vor allen Dingen geht es um Ashley.« »Okay«, sagte Scott, der plötzlich einen gewaltigen Gefühlssumpf zwischen ihnen vor Augen hatte, über den sie nie geredet hatten und nie reden würden. »Ich habe einen Plan«, platzte Sally heraus. »Gut«, sagte er, nachdem er tief Luft geholt hatte. Er war sich nicht sicher, ob er es auch so meinte. »Ich weiß nicht, ob es ein guter Plan ist und ob er funktioniert. Ich weiß auch nicht, ob wir das hinbekommen.« »Lass hören.« »Wir sollten das nicht am Telefon besprechen, zumindest nicht diese Dinge.« »Sicher, du hast recht.« Er war sich nicht ganz so sicher, ob sie damit recht hatte, aber er sagte es trotzdem. »Ich komm gleich.« Er legte auf und musste plötzlich denken,
dass die Routine etwas Schreckliches an sich hatte. Zu unterrichten und mit all den Gespenstern von Staatsmännern, Soldaten und Politikern allein zu sein, die seine Seminare bevölkerten, dies füllte seine Tage aus und machte alles so vollkommen vorhersehbar. Das würde sich wohl bald ändern.
Hope war zurück, bevor Scott eintraf. Sie war spazieren gegangen und hatte ohne viel Erfolg versucht, sich über ihre Situation Klarheit zu verschaffen. Sie fand Sally im Wohnzimmer, wo sie, einen Bleistift zwischen den Lippen, über ein paar losen Blättern brütete. Bei Hopes Eintreten sah sie auf. »Ich hab einen Plan. Ich weiß zwar nicht, ob es funktioniert, aber Scott ist schon unterwegs, und wir können es zusammen durchgehen.« »Wo sind Mutter und Ashley?« »Oben. Keineswegs begeistert, dass wir sie beim Treffen nicht dabeihaben wollen.« »Mutter schätzt es nicht, ausgeschlossen zu werden, was für jemanden, der einen großen Teil seines Lebens allein im Wald von Vermont verbracht hat, zwar seltsam sein mag, aber so ist sie nun mal.« Hope zögerte, und Sally sah auf, weil Hope stockte.
»Was ist?« Hope schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht so genau, aber versuche doch, Folgendes nachzuvollziehen: Sie tut, worum wir sie bitten, ja? Nur dass ihr das vollkommen gegen den Strich geht. Sie ist immer eine Einzelgängerin gewesen, die sich nicht den Teufel um die Meinung anderer Leute schert. Und ihre scheinbare Gefügigkeit … na ja, ich bin mir nicht so sicher, ob wir darauf bauen dürfen, dass sie jemals genau das tut, worum wir sie bitten. Sie ist ein bisschen unberechenbar. Mein Dad hat das immer an ihr geliebt und ich auch, wenn man davon absieht, dass es für mich als Jugendliche gelegentlich nicht ganz so einfach war, falls du verstehst, was ich meine.« Sally lächelte. »Bist du denn so viel anders als sie?« Hope zuckte die Achseln, musste aber lachen. »Wahrscheinlich nicht.« »Und meinst du nicht, dass ich mich genauso davon angezogen gefühlt habe?« »Ich hab eigentlich Sturheit und Unberechenbarkeit nie für meine stärksten Charaktereigenschaften gehalten.« »Da siehst du mal, wie wenig du weißt.« Sally brachte ein zartes Grinsen zustande, während sie sich erneut über ihre ausgebreiteten Papiere beugte.
Die beiden Frauen schwiegen. Schon komisch, dachte Hope, dass dies seit Wochen die erste liebevolle Äußerung von Sally war. Es klopfte an der Tür. »Das wird Scott sein«, sagte Sally. Sie sammelte ihre Papiere ein, während Hope zur Tür ging, um ihn hereinzulassen. In den ein, zwei Sekunden, in denen sie alleine war, legte sie den Kopf zurück und holte tief Luft. Haben wir diese Sache erst in Gang gebracht, gibt es kein Zurück.
Catherine kochte innerlich vor Wut. Sie sah hinüber zu Ashley, bis diese ihr Buch, in dem sie dieselbe Seite zum dritten Mal gelesen hatte, auf den Boden schleuderte. »Ich weiß nicht, ob ich das länger mitmachen soll«, brach es aus Ashley heraus. »Ich werde wie eine Sechsjährige behandelt. Auf mein Zimmer geschickt, wo ich mich irgendwie beschäftigen soll, während meine Eltern meine Zukunft für mich planen. Verflucht noch mal, Catherine, ich bin doch kein kleines Kind! Ich kann selbst für mich einstehen.« »Da gebe ich dir recht«, sagte Catherine. »Weißt du was? Ich sollte mir einfach diese verdammte Pistole schnappen und das Problem ein für alle Mal lösen.«
»Ich glaube, Ashley, Schätzchen, das ist genau das, was deine Eltern verhindern wollen. Und ich habe dir diese Waffe nicht besorgt, damit du hergehst und drauflos ballerst, nur weil dich die ganze Sache ankotzt. Ich habe sie dir nur besorgt, damit du dich verteidigen kannst, falls O’Connell hinter dir her ist.« Ashley lehnte den Kopf zurück. »Ist er heute schon, weißt du?« »Er ist was?« »Er war da. Wahrscheinlich ist er in diesem Moment irgendwo da draußen. Und wartet.« »Wartet?« »Auf den richtigen Augenblick. Er ist verrückt. Verrückt nach mir. Verrückt und besessen, verrückt, ich weiß nicht, was. Aber er ist da. Für ihn gibt es nur eine Sache im Leben, die ihm wichtig ist, und das bin ich.« Catherine nickte. Plötzlich beugte sie sich vor. »Würdest du es fertigbringen?« Ashley riss die Augen auf und blickte von Catherine zu ihrer Schultertasche mit der Waffe und zurück. »Würdest du es schaffen?«, setzte Catherine nach.
»Ja«, antwortete Ashley steif. »Würde ich, sicher. Ich weiß es.« »Ich hab’s nicht geschafft, als es einfach gewesen wäre. Mit der Schrotflinte, als er mir direkt gegenüberstand. Ich hätte es schaffen sollen. Habe ich aber nicht. Wärst du stärker als ich, Liebes? Entschlossener? Tapferer?« »Ich weiß nicht. Aber, ja, doch, ich denke schon.« »Ich muss es wissen.« »Wie soll irgendjemand das wissen, bevor er es tatsächlich macht? Aber wenn du meinst, ob ich abdrücken kann, dann denke ich, ja.« »Ich könnte mir vorstellen, dass du es schaffst«, sagte Catherine. »Vielleicht, es wäre immerhin möglich. Es ist dunkel. Bist du davon überzeugt, dass er da draußen ist?« »Ja.« »Nun, du könntest dem ganzen Spuk ein Ende bereiten, indem du die Pistole da in die Jackentasche steckst und um Mitternacht mit mir einen Spaziergang machst. Und falls er versucht, sich uns in den Weg zu stellen, dann handelst du. Möglicherweise sagt er, dass er nur mit dir reden will, das sagen sie immer. Aber statt dich darauf einzulassen, erschießt du ihn einfach. Auf der Stelle. Dann kommt die Polizei, und wahrscheinlich nehmen sie dich fest. Dann soll
deine Mutter den besten Anwalt für dich anheuern. Du musst in Kauf nehmen, dass du vor Gericht kommst. Aber die Leute in dieser Gegend, in der deine Mutter und Hope wohnen, werden nicht besonders geneigt sein, einen Mann – insbesondere einen Stalker, der einer jungen Frau nachstellt – mit so etwas durchkommen zu lassen. Oder auch nur die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass es anders gelaufen ist, als wir sagen.« »Du meinst …« »Ich denke, du kannst es tun, wenn du bereit bist, den Preis dafür zu zahlen.« »Gefängnis?« »Vielleicht. Traurige Berühmtheit. Das Aushängeschild für alle möglichen Leute, denen es um etwas ganz anderes geht, genau wie deine Eltern es vorausgesagt haben.« Ashley warf den Kopf zurück. »Ich halte das nicht mehr sehr viel länger aus. Einen Moment hab ich schreckliche Angst, dann wieder bin ich stinkwütend. Eben noch fühle ich mich halbwegs sicher, im nächsten Moment bedroht.« »Wieso können wir nicht zu Gewalt greifen, bevor sie es uns gegenüber tun?«, sinnierte Catherine grimmig. »Wieso läuft es immer so unfair? Wieso müssen wir warten, bis wir das Opfer sind?«
»Das hab ich nicht vor.« »Gut, hatte ich mir gedacht. Dann lass uns überlegen, was wir tun können.« Ashley nickte.
Scott betrachtete mehrere kleine Stapel von Gegenständen, die im Wohnzimmer bereitlagen. »Du hast eingekauft«, stellte er fest. »Allerdings«, bestätigte Sally. »Willst du die Sachen mit uns durchgehen?« Scott fummelte an einer Packung salmiakgetränkter Papierhandtücher herum. »Die hier zum Beispiel?« »Wenn man befürchten müsste, dass man an einem verräterischen Ort DNA-Spuren hinterlassen hat, kann man sie damit wegwischen.« Scott blies die Backen auf. »Getränkte Tücher, Teil einer Mordwaffe sozusagen.« Sally beobachtete ihren Exmann und spürte, wie er schwankte. Sie fuhr in ungerührtem Ton fort: »Wenn ich es richtig sehe, haben wir uns darauf verständigt, O’Connell und seinen Vater zusammenzubringen. Das ist machbar.
Scott hat uns quasi mit der Nase drauf gestoßen. Und ich denke, wir dürfen davon ausgehen, dass es zu einem Streit zwischen den beiden kommen wird. Das haben wir ja durchgespielt. Dann müssen wir eine Möglichkeit finden, O’Connells eigene Waffe zu entwenden, sie so, wie er es vermutlich tun würde, auf seinen Vater zu richten, und wieder in O’Connells Versteck zurückzulegen, bevor er sie vermisst.« »Wieso lassen wir sie nicht einfach, na ja, ähm, am Tatort zurück?«, fragte Scott. »Das habe ich auch überlegt«, erwiderte Sally. »Aber sie wird das entscheidende Beweisstück sein. Polizei und Staatsanwaltschaft lieben es nun mal, die Mordwaffe zu finden. Darauf bauen sie ihre Theorie auf. Vor Gericht wird es unanfechtbar sein. Deshalb müssen wir sicherstellen, dass die Pistole bei ihm entdeckt wird, dass sie sich in seinem Besitz befindet.« »Und die anderen Sachen?«, fragte Hope. Sally warf einen Blick auf die Sammlung. Darunter waren mehrere Handys, eine Tube Sekundenkleber, ein Laptop, ein Herren-Overall in kleiner Größe, zwei Packungen OPHandschuhe, mehrere Paar OP-Schuhe, die man über die eigenen Schuhe ziehen konnte, zwei schwarze, enge, Kopf und Gesicht bedeckende Sturmhauben und ein Schweizer Messer. »Das sind alles Dinge, die wir nach meiner
Einschätzung brauchen werden. Einige andere Dinge, wie zum Beispiel ein paar Haare von O’Connells Kamm in seiner Wohnung, wären ausgesprochen nützlich. Ich bin mit meiner Liste immer noch nicht durch.« »Wozu der Computer?«, fragte Scott. Sally seufzte und wandte sich an Hope. »Das ist dasselbe Fabrikat und Modell wie in O’Connells Wohnung, oder?« Hope sah sich den Laptop genauer an. »Ja, soweit ich es beurteilen kann. Meiner Erinnerung nach.« »Also«, sagte Sally, »du sagst, auf seinem Computer hat er verschlüsseltes Material über Ashley, ja? Und über uns. Der hier nicht.« Hope nickte. »Ich glaube, ich verstehe langsam.« »Die Polizei wird seinen Computer beschlagnahmen. Ich möchte dafür sorgen, dass es einer ist, den wir für diesen Fall vorbereitet haben.« »Sie austauschen?« »Richtig. Um eine Verbindung zwischen ihm und uns zu tilgen. Wahrscheinlich hat er irgendwo auch Sicherungskopien, mit dem ganzen Zeug über Ashley und uns, aber trotzdem … der Zeitfaktor wird entscheidend sein.«
Damit reichte sie jedem von ihnen ein Blatt Kanzleiblockpapier. Oben hatte sie ein Zeitraster gezeichnet. Hope starrte auf das Blatt. Sally hatte Aufgaben, Ereignisse und Aktionen skizziert, von denen jede mit einem A, B oder C gekennzeichnet war. Als sie aufschaute, sah sie Sallys Blick auf sich gerichtet. »Du hast uns noch keine Aufgaben zugeteilt«, sagte Hope. »Du hast drei Leute, die eng miteinander verknüpfte Dinge tun, aber du sagst hier nicht, wer was übernimmt.« Sally lehnte sich in ihrem Sessel zurück und versuchte, die Ruhe zu bewahren. »Ich habe versucht, das Ganze mit den Augen eines polizeilichen Ermittlers zu sehen«, erklärte sie. »Wir müssen uns überlegen, was sie finden und wie sie es sich auslegen werden. Jedes Verbrechen folgt einer bestimmten Logik. Eins sollte zum anderen führen. Sie verfügen über moderne Untersuchungsmethoden wie DNAAnalyse, Forensik und Ballistik und was weiß ich noch alles. Ich habe so viel wie möglich in Betracht gezogen und mir dann ins Gedächtnis gerufen, was eine Ermittlung unmöglich macht. Zum Beispiel Feuer, das alles zunichte macht außer der Schusswaffenforensik. Wasser macht Wunden und DNA unbrauchbar, ruiniert Fingerabdrücke. Unser Problem ist, dass wir ein Verbrechen, ein Gewaltverbrechen begehen und dabei bewusst eine Spur hinterlassen wollen. Keine perfekte, aber deutlich genug,
damit sie in die gewünschte Richtung weist. Die Polizei übernimmt dann, wenn wir sauber gearbeitet haben, den Rest.« »Und wenn er nun die Polizei auf uns verweist?« »Darauf müssen wir gefasst sein. Bis zu einem gewissen Ausmaß können wir uns gegenseitig Alibis geben, aber vor allem müssen wir dafür sorgen, dass seine Hinweise unlogisch klingen, damit die Polizei ihm nichts von dem glaubt, was er sagt – was nicht allzu schwer fallen dürfte. Ansonsten versuchen wir, das Ganze auszusitzen. Ihr dürft nicht vergessen, wie unwahrscheinlich es ist, dass wir hinter so etwas stecken. Und Polizisten, na ja, die haben, wenn es um einen Toten geht, nun mal gerne einfache Antworten auf einfache Fragen.« Sally schwieg, während sie zuerst Scott, dann Hope eindringlich ansah. »Außerdem glaube ich nicht, dass er das tun wird«, fügte Sally hinzu. »Was tun wird?« »Uns gegenüber der Polizei zu nennen. Wenn wir es richtig anstellen, wird er gar nicht auf uns kommen.« Scott nickte. »Aber ich war immerhin da und habe die Leute ausgefragt. Irgendwer wird sich vermutlich an mich
erinnern.« »Aus diesem Grund wirst du in einem entscheidenden Moment Meilen entfernt sein und in Zeugengegenwart ganz etwas anderes tun müssen. Zum Beispiel irgendwo in Reichweite einer Videokamera eine Kreditkarte benutzen, eine Beschwerde einlegen oder so etwas in der Art. Andererseits ist es wahrscheinlich äußerst wichtig, dass du ganz in der Nähe bist.« Scott lehnte sich schwer zurück. »Das sehe ich auch, aber …« »Und dasselbe gilt für Ashley und Catherine. Obwohl jeder von ihnen eine Rolle spielen wird.« Wieder blieben die anderen beiden still. Sally holte tief Luft. »Was uns zu der entscheidenden Frage bringt. Dem eigentlichen Verbrechen. Ich habe darüber nachgedacht, und ich denke, dass ich das übernehmen muss.« Sie wartete, ob jemand etwas einzuwenden hatte, doch die anderen schwiegen. »Ich werde die Waffe besorgen müssen«, stellte Hope fest. »Ich weiß immerhin, wo sie ist. Ich hab den Schlüssel.« »Ja, aber du warst schon mal da. Du hast somit dasselbe
Problem wie Scott. Nein, jemand anders muss die Waffe holen. Du kannst mir sagen, wo sie steckt.« Hope nickte, doch Scott schüttelte den Kopf. »Vorausgesetzt, sie ist noch da, wo du sie gesehen hast. Was nicht unbedingt der Fall sein muss.« Sally räusperte sich. »Ja, aber selbst wenn wir die Waffe nicht finden können, dann haben wir uns ja noch nicht endgültig festgelegt. Wir können immer noch einen Rückzieher machen und mit einem zweiten Plan von vorn anfangen.« Scott schüttelte den Kopf. »Okay, nehmen wir einmal an, wir stehlen die Pistole und übergeben sie dir. Wie kommst du auf die Idee, dass du mit einer Schusswaffe umgehen kannst. Und gar unter diesen schwierigen Umständen?« »Muss ich eben. Ich denke, das ist meine Aufgabe.« Hope schüttelte den Kopf. »Da wäre ich mir nicht so sicher. Ich glaube – ich versuche, wie du vorzugehen, Sally, und wie ein Polizist zu denken – wenn Ashleys Mutter ein Verbrechen begeht, liegt darin eine Gefahr. Das könnte einem Cop durchaus plausibel erscheinen. Eine Mutter, die ihr Kind beschützt. Dagegen glaube ich nicht, dass irgendjemand auf die Idee käme, das die Lebensgefährtin der Mutter so etwas tut. Mit anderen Worten schützt mich die Tatsache, dass Ashley nicht mein eigenes Kind ist,
dass wir nicht blutsverwandt sind, meinst du nicht? Und für den Fall, dass es nötig wird, die Flucht zu ergreifen, wenn ein Sprint angesagt ist, dann bin ich jünger, schneller und stärker.« Sally und Scott starrten sie an. Beide wussten, was sie ihnen sagen wollte, doch keiner von ihnen fand die Worte, es zu verhindern. Hope versuchte trotz der Zweifel, die sich wie eine düstere Wolke über sie legten, zaghaft zu lächeln. »Nein«, erklärte sie, »ich sollte diejenige mit der Waffe in der Hand sein.«
Diesmal war ich ganz sicher, dass ihre Stimme stockte. »Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie sehr sich das Leben binnen Sekunden verändern kann? So viele Dinge erscheinen einem zunächst ganz klein, doch dann begreifen wir ihr ganzes Ausmaß.« Es ging auf Mitternacht zu, und sie hatte mich mit ihrem Anruf überrascht.
»Glauben Sie«, wollte sie unvermittelt wissen, »dass wir allein, im Dunkeln bei Nacht, wenn wir im Bett liegen und uns durch eine Flut von Problemen wälzen, die besseren Entscheidungen treffen? Oder ist es klüger, bis zum Morgen zu warten, wenn wieder Licht und Klarheit herrschen? Ich hätte gerne gewusst, wie sie zu ihren Entscheidungen kamen«, fragte sie bedächtig, »Bei Nacht? Oder bei Tage? Sagen Sie’s mir.« Ich antwortete nicht. Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie überhaupt nach einer Antwort suchte, doch sie blieb beharrlich. Ich erwiderte nichts, als sie ein Schluchzen unterdrückte. »Ich hab einen Namen für Sie«, erklärte sie hastig zu meiner Überraschung. »Der wird Sie, denke ich, ein Stück weiterbringen.« Ich wartete, den Kugelschreiber gezückt, ohne ein Wort, während ich mir alles Mögliche ausmalte. »Das Ende«, sagte sie. »Ahnen Sie es schon? Ich will’s mal anders ausdrücken: Glauben Sie, dass sie auf das Unvorhersehbare gefasst waren?« »Nein, wer ist das schon?« Sie lachte, doch dann schien der Laut in Weinen
überzugehen. Am Telefon war das schwer zu sagen.
41 Die Ereignisse nehmen ihren Lauf
Sally blickte zu Hope hinüber. Sie waren in ihrem Schlafzimmer, und nur die Nachttischlampe warf ein fahles, gelbes Licht über den Raum. »Ich kann nicht zulassen, dass du das tust«, sagte Sally. »Ich glaube, dir bleibt nichts anderes übrig«, erwiderte Hope mit einem kurzen Achselzucken. »Ich denke, die Entscheidung ist bereits gefallen. Außerdem ist es wahrscheinlich der ungefährlichste Part des ganzen Unterfangens.« Das war gelogen, doch wie sehr, hätte Hope nicht sagen können. »Unterfangen?« »Mir fällt kein besseres Wort ein.« Sally schüttelte den Kopf. »Auf dem Marktplatz geht eine Bombe hoch, und wir nennen es Kollateralschaden. Eine
Operation geht schief, und wir sprechen von Komplikationen. Ein Soldat wird getötet und zählt zu den Verlusten. Wir scheinen von Euphemismen zu leben.« »Und was ist mit uns?«, fragte Hope. »Welches Wort fällt dir zu uns beiden ein?« Sally runzelte die Stirn. Sie ging zum Spiegel. Vor einer Ewigkeit einmal war sie schön gewesen. Vor einer Ewigkeit war sie sprühend und dynamisch gewesen. Sie erkannte die Person, die ihr da entgegenstarrte, kaum wieder. »Ich vermute, wir beide wissen nicht, was der nächste Tag bringt. Ungewissheit. Das trifft es wohl.« Hope überkam ein Anflug von Emotionen. »Du könntest sagen, dass du mich liebst.« »Das tue ich. Nur dass ich mich selbst nicht mehr leiden kann.« Sie schwiegen, während Sally einen erneuten Blick auf ihre Notizen warf. »Weißt du, wir bringen die Sache hinter uns, und dann wird alles anders.« »Ich dachte, es ginge darum, dass danach alles wieder so weitergehen kann wie bisher.« »Beides«, meinte Sally unbeholfen. »Ich denke, es bringt
beides.« Sie nahm ein Blatt mit handschriftlichen Instruktionen, das zuoberst auf dem Stapel lag. »Das muss zu Ashley und Catherine. Willst du mitkommen, wenn ich mit ihnen rede? Nein, lieber nicht. Wenn du nicht dabei bist, können sie dir keine Fragen stellen.« »Dann warte ich hier auf dich.« Hope legte sich hin und kroch unter die Decke, als ihr ein Schauer den Rücken hinunterlief. Sally fand Ashley und Catherine zusammen in Ashleys Zimmer. »Ich hätte ein paar Bitten an euch beide. Könntet ihr die Aufgaben übernehmen, die ihr hier aufgelistet findet? Ist eigentlich nicht viel – Hauptsache, ihr stellt keine Fragen. Ich muss es wissen.« Catherine nahm die Liste und überflog sie, bevor sie sie an Ashley weiterreichte. »Ich denke, ja«, sagte sie. »Ich habe so was wie ein Skript verfasst, und ich gebe dir ein billiges Handy, das du bitte verlierst, nachdem du ihn angerufen hast«, erklärte Sally. »Du kannst natürlich improvisieren, aber das Entscheidende musst du rüberbringen. Verstehst du?« Ashley starrte auf den Text und nickte. »Du meinst …«
»Klingt wie der Anfang einer Frage«, unterbrach Sally sie mit einem trockenen Lächeln. »Es geht ganz entscheidend darum, dass du O’Connell dazu bringst, da hinzufahren. Das ist unabdingbar, hörst du? Und wir alle haben das Gefühl, eine Mischung aus Wut und Eifersucht und vielleicht ein bisschen Unentschlossenheit werden ihn dazu bewegen. Falls du es besser formulieren kannst, dann nur zu. Solange es zum selben Ergebnis führt. Hast du das verstanden? Hope, dein Vater und ich verlassen uns darauf. Kannst du diesen Part übernehmen, Ashley, Schatz? Denn es wird ganz entscheidend auf deine Überredungskunst ankommen.« »Was wird darauf ankommen?«, fragte sie. »Schon wieder eine Frage, die nicht beantwortet wird. Siehst du, da unten, ein paar Telefonnummern. Ich erwarte nicht von dir, dass du sie alle auswendig lernst, wichtig ist nur, dass am Ende dieses Blatt und alles andere vernichtet wird. Das wär’s für den Augenblick.« »Das ist alles?« »Du wirst gebeten, deinen Part zu übernehmen, wie du es dir gewünscht hast. Aber wie der letzte Akt aussehen soll, erfährst du nicht. Und das, worum wir dich bitten, erfordert nicht, dass du direkt mit ihm konfrontiert bist. Catherine, ich zähle dabei auf dich. Und auch, was die anderen Punkte auf der Liste betrifft.«
»Ich kann wirklich nicht behaupten, dass mir das gefällt«, meinte Catherine. »Ich mag es nicht, wenn ich agieren soll, ohne dass ich weiß, worum es geht.« »Na ja, für uns alle ist das hier Neuland. Aber ich bin darauf angewiesen, dass jeder von uns hundertprozentig seine Aufgaben kennt.« »Wir werden tun, worum du uns bittest, aber ich weiß wirklich nicht …« »Darum geht es ja gerade, du weißt es nicht.« Sally blieb im Türrahmen stehen. Sie sah Catherine, dann ihre Tochter an. »Ich frage mich, ob du weißt, wie sehr ein paar Menschen dich lieben«, sagte sie vorsichtig. »Und was diese Menschen für dich auf sich nehmen.« Ashley antwortete nicht, sondern nickte nur stumm. »Natürlich«, warf Catherine ein, »könnte man dasselbe für Michael O’Connell sagen, deshalb sind wir ja hier.«
Scott saß in seinem Porsche und wählte die Nummer von O’Con nells Vater auf dem Handy, das Sally ihm gegeben hatte. Es klingelte drei Mal, bevor der Mann sich meldete.
»Mr. O’Connell?«, meldete sich Scott in geschäftsmäßigem Ton. »Wer ist da?«, lallte es ein wenig am anderen Ende. »Mr. Smith am Apparat, Mr. O’Connell.« »Wer?« Einen Moment herrschte Konfusion. »Oder auch Mr. Jones, wenn Ihnen das lieber ist.« O’Connells Vater lachte. »Ach so, ja, klar. Hören Sie, diese E-Mail-Adresse, die Sie mir gegeben haben, die hat nicht funktioniert. Ich hab’s versucht, aber ich hab immer nur eine Fehlermeldung erhalten.« »Eine kleine Änderung in der Vorgehensweise, die durch gewisse Umstände erforderlich wurde, weiter nichts. Ich bitte um Entschuldigung.« Scott ging davon aus, dass O’Connells Vater den Computer überhaupt nur hatte, um leicht an PornoWebsites heranzukommen. »Ich gebe Ihnen meine Handy-Nummer.« »Okay, hab ich. Aber von meinem Jungen hab ich noch nix gehört, und ich glaub auch nicht mehr dran.« »Mr. O’Connell, es spricht einiges dafür, dass sich das
sehr bald ändern wird. Ich denke, Sie hören von ihm. Und falls dem so ist, rufen Sie bitte sofort diese Nummer an, wie eben besprochen. Das Interesse meines Klienten an einem Gespräch mit Ihrem Sohn hat sich in den letzten Tagen, sagen wir, verstärkt. Es erscheint ihm, sagen wir, dringlicher als zuvor. Deshalb stünde er für den Fall, dass Sie diesen Anruf machen, Ihnen gegenüber auch ungleich mehr in der Schuld, als ich ursprünglich angenommen hatte. Verstehen Sie, was ich sagen will?« O’Connell brauchte einen Moment, bis er antwortete. »Klar doch. Falls ich Schwein hab und der Junge lässt sich blicken, dann zahlt sich das noch besser für mich aus. Aber wie gesagt, ich hab noch nix von ihm gehört und werd’s wohl auch nicht.« »Nun ja, hoffen wir es. Für uns alle«, sagte Scott, bevor er das Gespräch beendete. Er lehnte den Kopf zurück und drückte auf den Knopf, um das Fenster herunterzulassen. Er hatte das Gefühl, als müsste er ersticken. Ihm war speiübel, doch als er versuchte, sich zu übergeben, kam nur ein trockenes Husten. Er atmete hastig und sah auf das gelbe Blatt mit Sallys Liste. Es war etwas zutiefst Erschreckendes an ihrem Organisationstalent und ihrer Gabe, mit geradezu mathematischer Präzision an etwas so Schwieriges heranzugehen wie das, was sie sich vorgenommen hatten. Einen Augenblick lang fühlte er wieder, wie seine
Körpertemperatur anstieg, und er hatte einen üblen, pelzigen Geschmack auf der Zunge. Sein ganzes Leben lang hatte Scott nur an der Peripherie von bedeutsamen Aktivitäten mitgewirkt. Er war in den Krieg gezogen, weil er dies für einen entscheidenden Moment in der Geschichte seiner Generation gehalten hatte, doch danach war er in den Hintergrund getreten und hatte sich in ein sicheres Leben zurückgezogen. Seine Ausbildung, seine Lehrtätigkeit dienten stets dazu, seinen Studenten zu helfen, aber nie sich selbst. Seine Ehe war ein einziges, demütigendes Fiasko gewesen, außer Ashley. Und jetzt, in seinen mittleren Jahren, während er sich durchs Leben wurstelte, kam diese Bedrohung, und zum ersten Mal war er aufgerufen, etwas ganz und gar Einmaliges zu tun und damit all die sorgfältig abgesteckten Sicherheitsbarrieren zu übertreten. Es war eine Sache, als wild gewordener Vater zu agieren und zu drohen, »Ich bringe den Kerl um«, wenn die Chancen, dass es dazu kam, gleich null waren. Jetzt, da ihr Plan, einen Menschen zu töten, stand und in Gang gesetzt war, schwankte er. Er fragte sich, ob er zu mehr imstande war, als zu lügen. Lügen, dachte er, darin bin ich gut. Darin hab ich Erfahrung. Wieder sah er auf die Liste. Worte würden nicht reichen, so viel war klar. Eine weitere Woge der Übelkeit stieg in seinem Magen auf, doch er kämpfte dagegen an und fuhr los. Als Erstes
musste er in ein Haushaltswarengeschäft. Er rechnete nicht damit, in den nächsten Stunden viel Schlaf zu bekommen.
Es war Vormittag, und Ashley war mit Catherine allein. Sally hatte in Bürokleidung das Haus verlassen, aber zusätzliche Sachen in ihre Aktentasche gestopft. Auch Hope war, den Rucksack lässig über die Schulter geworfen, gegangen, als wenn nichts wäre. Keine der beiden Frauen hatte gegenüber Ashley oder Catherine ein Wort verloren, was der Tag bringen würde. Aber weder Ashley noch Catherine waren die ausweichenden Blicke entgangen. Falls Sally und Hope die Nacht zuvor ausreichend Schlaf bekommen hatten, so war das ihren angespannten Gesten und gereizten Äußerungen nicht anzumerken. Dennoch hatten sie eine Zielstrebigkeit und Entschlossenheit an den Tag gelegt, die Ashley beinahe vor den Kopf gestoßen hätte. Noch nie hatte sie an einer von beiden einen so stahlharten Blick gesehen. Catherine kam, ein wenig kurzatmig, herein. »Da ist eindeutig was im Gange, meine Liebe.« Sie hielt ihr gelbes Blatt mit den Instruktionen in der Hand. »Gelinde gesagt«, erwiderte Ashley. »Verdammt. Ich hasse es, wenn ich ausgeschlossen werde und mir den
Kopf darüber zerbrechen muss, was passiert.« »Wir müssen ihrem Plan folgen. Egal, was es ist.« »Und wann, bitte schön, hat mal ein Plan, den meine Eltern ausgeheckt haben, tatsächlich funktioniert?«, fragte Ashley, auch wenn ihr bewusst war, dass sie wie ein gereizter Teenager klang. »Das kann ich nicht beurteilen. Ich weiß nur, dass Hope gewöhnlich genau das tut, was sie sagt. Sie ist wie ein Fels in der Brandung.« Ashley nickte. »Oder wie in dem Song, Thick as a brick. Nach der Scheidung hat das mein Dad in sein Kassettendeck eingelegt, und wir haben dazu durchs Wohnzimmer getanzt. Allzu viele gemeinsame Interessen hatten wir nicht, also hat er angefangen, seinen ganzen Sechziger-Rock-and-Roll aufzudrehen. Jethro Tull. The Dead. The Who. Hendrix. Joplin. Er hat mir den Frug und den Watusi und den Freddy beigebracht.« Ashley sah plötzlich aus dem Fenster, ohne zu wissen, dass in ihrem Vater vor wenigen Tagen dieselben Erinnerungen hochgestiegen waren. »Ich wüsste gerne, ob wir beide je wieder zusammen tanzen werden. Ich habe eigentlich immer gedacht, wenigstens noch das eine Mal, weißt du, wenn ich heirate und alle uns zusehen. Er würde meine Hand schnappen, ein, zwei Runden mit mir auf dem Parkett drehen, und alle würden klatschen. Für mich ein langes
weißes Kleid, Smoking für ihn. Als ich klein war, wollte ich nichts anderes, als mich verlieben. Nicht so ein trauriges, wütendes Durcheinander wie bei meiner Mutter und meinem Vater. Eher so etwas, wie Hope und meine Mutter es hatten, nur dass es einen so richtig unverschämt gutaussehenden, intelligenten Kerl geben würde. Und weißt du was, jedes Mal, wenn ich Hope davon erzählt habe, war sie die Erste, die zu mir gesagt hat, wie großartig das wäre. Wir haben zusammen gelacht und uns Hochzeitskleider und Blumen und all diese Sachen ausgedacht, die kleine Mädchen lieben.« Ashley trat zurück. »Und jetzt ist der erste Mann, der sagt, er liebt mich, und es auch noch meint, ein einziger Alptraum.« »Das Leben kann seltsam sein«, seufzte Catherine. »Wir müssen ihnen zutrauen, dass sie wissen, was sie tun.« »Meinst du, sie wissen es?« Catherine sah, dass Ashley den Revolver in der Rechten hielt. »Wenn sich mir die verdammte Chance bietet …«, setzte Ashley an. Dann zeigte sie auf die Liste. »Also gut. Erster Akt. Erste Szene. Bühne frei für Ashley und Catherine. Wie fängt unser Text an?« Catherine sah auf ihren Zettel. »Ich denke, wir machen erst
mal diesen Spaziergang.« »Und danach?«, fragte Ashley. Catherine sah auf ihre Liste. »Das ist dein großer Moment. Es ist der Teil, den deine Mutter dreifach unterstrichen hat. Bist du so weit?« Ashley antwortete nicht. Sie war sich nicht sicher. Sie schnappten sich ihre Mäntel und verließen zusammen das Haus. Auf den Eingangsstufen blieben sie stehen und blickten nach links und rechts. Ihnen schlug nichts weiter als die Ruhe eines reinen Wohngebiets entgegen. Ashley hielt den Pistolenkolben tief in der Parkatasche in der Hand und rieb mit dem Zeigefinger nervös am Abzugsbügel. Es machte sie betroffen, dass sie durch ihre Angst vor Michael O’Connell die Welt als eine einzige Bedrohung empfand. Die Straße, in der sie als Kind in all den Jahren gespielt hatte, in denen sie zwischen den beiden Häusern ihrer Eltern gewechselt hatte, hätte ihr eigentlich so vertraut sein müssen wie ihr eigenes Zimmer im Obergeschoss. Doch das war sie nicht. O’Connell hatte sie vollkommen verändert. Er hatte Ashley von allem abgeschnitten, was zu ihr gehörte: von ihrer Uni, ihrer Wohnung in Boston, ihrem Job und nun auch noch dem Ort, an dem sie aufgewachsen war. Sie fragte sich, ob ihm eigentlich bewusst war, wie genial seine Bösartigkeit war.
Sie berührte den Lauf der Pistole. Bring ihn um, sagte sie sich, denn das macht er sonst mit dir. Catherine und Ashley gingen langsam die Straße weiter. Ashley wollte ihn aus seinem Versteck locken, falls er in der Nähe war. Nachdem sie die Hälfte der Straße hinter sich hatten, zog sie die Strickmütze ab. Sie schüttelte den Kopf und ließ ihr Haar über die Schultern fallen, bevor sie die Mütze wieder überzog. Zum ersten und einzigen Mal seit Wochen wollte sie unwiderstehlich sein. »Geh nur weiter«, sagte Catherine. »Falls er da ist, lässt er sich blicken.« So schlichen sie den Bürgersteig entlang, als sie von hinten einen Wagen heranfahren hörten. Ashley umklammerte die Pistole und merkte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Als das Geräusch näher kam, wagte sie kaum noch zu atmen. Als der Wagen auf ihrer Höhe war, wirbelte sie herum, zog die Waffe heraus und grätschte die Beine, während sie in Schussbereitschaft in die Knie ging, wie sie es so gewissenhaft in ihrem Zimmer geübt hatte. Ihr Daumen glitt über den Sicherungshebel, dann zum Hahn. Sie atmete zwischen fast geschlossenen Lippen aus – zuerst ein Ächzen, dann ein angespanntes Pfeifen. Der Wagen mit einem Mann im mittleren Alter hinter dem
Lenkrad rollte an ihnen vorbei. Der Fahrer drehte sich nicht einmal zu ihnen um, sondern suchte angestrengt die Hausnummern auf der anderen Seite ab. Ashley stöhnte auf, doch Catherine behielt einen klaren Kopf. »Du solltest diese Waffe wegstecken«, erklärte sie ruhig. »Bevor eine nette Hausfrau und Mutter sie in deiner Hand entdeckt.« »Wo zum Teufel steckt der?« Catherine antwortete nicht. Sie gingen langsam weiter. Ashley war plötzlich die Ruhe selbst, gesammelt und bereit, ihre Waffe zu ziehen und alles mit einem Schnellfeuer als Antwort auf seine Fragen zu beenden. Fühlt es sich so an, wenn man bereit ist, jemanden zu töten? Doch der leibhaftige O’Connell war im Unterschied zu dem Gespenst O’Connell, das ihr schon so lange auf Schritt und Tritt folgte, nirgends zu sehen. Als sie geduldig einmal um den Block gelaufen und zu Sallys und Hopes Haus zurückgeschlendert waren, murmelte Catherine: »Na schön. Wenigstens wissen wir jetzt, er ist nicht hier. Irgendwo muss er sein. Bist du bereit für den nächsten Schritt?« Ashley glaubte nicht, dass irgendjemand die Antwort darauf wusste, bis er es versuchte.
Michael O’Connell befand sich an seinem behelfsmäßigen Schreibtisch in seinem dunklen Zimmer in den matten Lichtkegel seines Monitors getaucht. Er arbeitete an einer kleinen Überraschung für Ashleys Familie. In Unterwäsche, das nasse Haar nach dem Duschen glatt zurückgekämmt, hörte er laute Technomusik, die aus den Computerlautsprechern dröhnte, während seine Finger im Takt zur Musik über die Tasten eilten. Die Songs, die er sich anhörte, waren schnell, wie außer Kontrolle geraten. Es war O’Connell ein besonderes Vergnügen gewesen, von einem Teil des Geldes, das ihm Ashleys Vater bei seinem jämmerlichen Bestechungsversuch gegeben hatte, den Laptop zu kaufen, nachdem Matthew Murphy seinen alten zertrümmert hatte. Jetzt arbeitete er hart an einer Reihe elektronischer Attacken, die, wie er annahm, für erheblichen Ärger in ihrem Leben sorgen würden. Die erste bestand in einem anonymen Hinweis ans Finanzamt, demzufolge Sally ihre Klienten aufforderte, ihre Honorare teils per Scheck, teils bar zu zahlen. Nichts, davon ging O’Connell aus, hassten die Steuerbeamten mehr als Leute, die versuchten, große Batzen von ihrem Einkommen zu verbergen. Sie würden mit Skepsis reagieren, wenn sie es leugnete, und gnadenlos über ihre Buchhaltung herfallen. Bei dem Gedanken musste er laut lachen.
Der zweite Frontalangriff war ein ebenso anonymer Hin weis an die Zweigstelle der bundesweiten Drogenfahndungsbehörde, demzufolge Catherine auf ihrer Farm angeblich große Mengen Marihuana anbaute, und zwar in ihrem Gewächshaus im Innern ihrer Scheune. Er hoffte, dass der Tipp für einen Durchsuchungsbefehl reichte. Und selbst wenn die Suche nichts ergab – was außer Zweifel stand –, so hoffte er, dass das gemeine Fußvolk der Behörde aus ihren ach so kostbaren Antiquitäten und Erinnerungsstücken Kleinholz machen würde. Der dritte Coup war eine hübsche Überraschung für Scott. Er hatte sich als Histprof eingeloggt und im Internet gesurft. Dabei war er auf eine dänische Website mit der übelsten Sorte von Pornografie gestoßen, auf der vorrangig Kinder und Minderjährige in allen möglichen aufreizenden Posen zu sehen waren. Der nächste Schritt bestand einfach darin, sich eine gefälschte Kreditkarte zu besorgen und ausgewähltes Bildmaterial an Scotts Privatadresse schicken zu lassen. Es wäre relativ einfach, anschließend die örtliche Polizeidienststelle auf die Sendung aufmerksam zu machen. Wahrscheinlich würde das nicht einmal nötig sein. Vielmehr würde das amerikanische Zollamt, das sich um solche Importe kümmerte, bei der Polizei Meldung machen. Wenn er sich vorstellte, wie sich Ashleys Familie
angesichts der bürokratischen Schikanen, denen sie sich plötzlich ausgesetzt sah, alle möglichen Erklärungen aus den Rippen saugte oder in einem fensterlosen Raum einem Drogen- beziehungsweise Steuerfahnder oder Polizisten gegenübersaß, der für diese satte Wohlstandsbürger-Klientel nur Verachtung übrighatte, konnte er nur lachen. Vielleicht würden sie versuchen, es ihm anzulasten, doch das wagte er zu bezweifeln. Andererseits konnte er sich nicht sicher sein, und das hielt ihn zurück. Er wusste, dass er eine elektronische Spur hinterlassen würde, die bis zu seinem Computer zurückzuverfolgen war, sobald er zu den drei Einträgen die entsprechenden Tasten drückte. Vielleicht wäre es besser, überlegte er, bei nächster Gelegenheit in Scotts Haus einzubrechen, während er unterrichtete, und die Bestellung in Dänemark auf Scotts Computer abzuschicken. Bei den anderen anonymen Hinweisen war es genauso entscheidend, einen elektronischen Pfad zu wählen, der nicht zu ihm führte. Er seufzte. Das bedeutete, dass er ins südliche Vermont und ins westliche Massachusetts reisen musste. Sich jeweils eine virtuelle Identität zu erfinden war kein Problem. Und er konnte die Tipps aus Internet-Cafés oder aus Stadtbibliotheken versenden. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und lachte wieder laut auf.
Einmal mehr fragte sich Michael O’Connell, wie sie sich nur einbilden konnten, es mit ihm aufzunehmen. Während er grinsend dasaß und in Gedanken an diesen unangenehmen Überraschungen für Ashleys Familie feilte, klingelte das Handy auf seinem Schreibtisch. Das kam überraschend. Er hatte keine Freunde, die ihn anrufen würden. Seinen Job in der Autowerkstatt hatte er geschmissen, und an dem College, an dem er den einen oder anderen Kurs belegte, hatte niemand seine Nummer. Er überprüfte die Anruferkennung auf seinem Display. Der Name, den er sah, verschlug ihm den Atem: Ashley.
Bevor sie mir den Namen des Polizeibeamten gab, musste ich ihr versprechen, mir gut zu überlegen, was ich sagte. »Sie werden keine unbedachte Bemerkung fallenlassen«, hatte sie mir eingeschärft. »Sie werden nichts erwähnen, was ihn provoziert. Entweder Sie versprechen mir das oder Sie vergessen das Ganze und erhalten den Namen nicht.« »Ich werde vorsichtig sein, versprochen.«
Als ich dann in der Polizeistation auf einem abgewetzten Sofa saß, war ich mir hinsichtlich meiner Fähigkeiten weniger sicher. Rechts von mir öffnete sich eine Tür, und ein Mann etwa in meinem Alter, mit graumeliertem Haar und einer grellrosa Krawatte sowie einem beachtlichen Bauch erschien und reichte mir mit einem lockeren, schiefen Grinsen die Hand. Wir machten uns miteinander bekannt, und er bot mir einen Stuhl vor seinem Schreibtisch an. »Also, wie kann ich Ihnen helfen?« Ich nannte ihm noch einmal den Namen, den ich zuvor am Telefon erwähnt hatte. Er nickte. »In dieser Gegend haben wir nicht alle Tage einen Mord, und bei den wenigen, die wir doch reinbekommen, ist es meist die übliche Geschichte Freund-Freundin, EhemannFrau. Das hier fiel ein bisschen aus dem Rahmen. Ich versteh nur noch nicht, wieso Sie sich dafür interessieren.« »Ein paar Leute, die ich kenne, haben mir vorgeschlagen, mir den Fall ein bisschen näher anzusehen. Der richtige Stoff für eine gute Geschichte.« Der Kommissar zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. So viel allerdings kann ich sagen: Der Tatort war ein übler Anblick, das wahre Chaos. War schwierig, überhaupt da durchzukommen. Wir sind hier nicht das Morddezernat von
Hollywood.« Mit einer ausladenden Geste wies er auf den Raum. Es war ein bescheidenes Ambiente, in dem nicht nur jedes Utensil, sondern auch die Männer und Frauen an ihrem Arbeitsplatz deutliche Spuren des Alters aufwiesen. »Man mag uns ja alle für Dumpfbacken halten, aber am Ende hatten wir unser Puzzle zusammen.« »Ich halte Sie nicht dafür«, erklärte ich, »für Dumpfbacken, meine ich.« »Nun ja, da bilden Sie eher die Ausnahme von der Regel. Meistens kapieren die Leute das erst, wenn sie uns in Handschellen gegenübersitzen, wir sie uns zur Brust genommen haben und sie mit ein paar Jährchen Knast rechnen müssen.« Er schwieg und sah mich eindringlich an. »Sie arbeiten nicht für einen Anwalt, oder? So’n Typ, der krampfhaft nach Verfahrensfehlern sucht, die er rausposaunen kann, um ein Berufungsverfahren anzustrengen?« »Nein, wie gesagt, ich bin nur auf der Suche nach einer Geschichte.« Er nickte, doch ich war mir nicht hundertprozentig sicher, ob er mir glaubte. »Nun ja«, sagte der Kommissar gedehnt, »ob Sie da fündig werden? Mag sein, auf jeden Fall ist sie nicht neu, diese Geschichte. Na schön, fangen wir an.«
Er bückte sich und zog aus einem Schreibtischfach eine große Fächermappe, die er vor mir öffnete. Sie enthielt einen Stapel Hochglanzfotos, zwanzig mal fünfundzwanzig, die er auf dem ganzen Papierkram ausbreitete. Ich beugte mich vor. Auf sämtlichen Bildern war eine wahre Müllhalde zu sehen. Und eine Leiche. »Wie gesagt«, kommentierte er, »das reine Chaos.«
42 Die Pistole im Schuh
Etwa zur gleichen Zeit, als Catherine und Ashley um den Block liefen und sich fragten, wo Michael O’Connell war, parkte Scott am dicht bewaldeten hinteren Rand eines Rastplatzes an der Route zwei. Dieser Platz besaß den Vorzug, dass er von der Autobahn aus fast vollständig hinter Bäumen versteckt lag. Das war auch einer der Gründe, weshalb sie auf der Route zwei nach Boston gefahren waren. Sie war nicht so schnell wie die Mautstraße, dafür gab es weniger Verkehrspolizei und weniger Verkehr. Er saß allein in seinem klapprigen Pickup, während sein alter Porsche daheim in seiner Einfahrt
stand. Scott hörte, wie flach er atmete, und sagte sich, dass er verrückt sein musste. Wie nervös er in diesem Moment auch war, so wusste er sehr wohl, dass es nur noch viel schlimmer werden konnte. Wenig später wurde seine Geduld belohnt, als er einen neueren, weißen Ford Taurus auf den Rastplatz abbiegen sah. Er hielt etwa sechs, sieben Meter weiter. Er erkannte Hope hinter dem Lenkrad. Er griff nach einem kleinen, billigen, roten Sportbeutel, der neben seinen Beinen stand und schepperte, als er ihn hochnahm. Er stieg aus und lief zügig zum Ford hinüber. Hope kurbelte das Fenster herunter. »Pass auf«, sagte Scott knapp. »Sobald du einen Wagen kommen siehst, gib mir Zeichen.« Sie nickte. »Wo hast du …« »Letzte Nacht. Nach Mitternacht. Bin ins Parkhaus für Langzeitparker am Flughafen Hartford runter.« »Umsichtig. Aber haben sie da keine Überwachungskameras?« »Ich bin zu den Plätzen mit Satellitenüberwachung. Keine Bilder. Ich brauch nicht lange. Ist das ein Leihwagen?«
»Ja«, bestätigte sie. »Das schien mir das Vernünftigste zu sein.« Scott öffnete den Beutel und ging zum Heck des Fahrzeugs. Es dauerte nur wenige Minuten, bis er die Nummernschilder mit Kennzeichen von Massachusetts gegen die mitgebrachten aus Rhode Island ausgetauscht hatte, die er die Nacht zuvor von einem Wagen abgeschraubt hatte. In der Tasche befanden sich auch ein kleiner Steckschlüssel und eine Kneifzange. Die richtigen Nummernschilder schob er in den Sportbeutel und reichte ihn Hope. »Vergiss nicht«, sagte er, »die wieder dranzumachen, bevor du den Wagen zurückgibst.« Hope nickte. Schon jetzt sah sie bleich aus. »Hör zu, ruf mich an, falls es Schwierigkeiten gibt. Ich bin nicht weit und …« »Du meinst, wenn’s Probleme gibt, hab ich die Zeit, einen Anruf zu machen?« »Nein, natürlich nicht. Na schön, ich pass auf mich selbst auf …« Er verstummte. Es gab zu viel zu sagen, aber keine Worte. Scott trat zurück. »Sally müsste um diese Zeit schon auf der Mautstraße sein.«
»Dann fahr ich los«, meinte Hope. Sie warf die Sporttasche auf ihren Beifahrersitz. »Halte dich an die Geschwindigkeitsbegrenzung. Wir sehen uns nachher.« Ihm kam der Gedanke, dass er Viel Glück oder Pass auf dich auf oder sonst etwas Beruhigendes sagen sollte. Doch er tat es nicht. Stattdessen sah er Hopes Wagen hinterher, als sie vom Rastplatz fuhr, und schaute auf die Uhr, um zu schätzen, wo Sally um diese Zeit war. Sie nahm eine Parallelstraße Richtung Osten. Für einen Tag Nummernschilder auszutauschen schien eine Kleinigkeit, doch als Sally ihnen beiden eingeschärft hatte, auf kleine, scheinbar unbedeutende Details zu achten, hatte sie gute Gründe gehabt. In dem Moment hatte er zum ersten Mal begriffen, dass alles, was er bis dahin in seinem Leben gelernt hatte, nicht das Geringste mit dem zu tun hatte, was er im Begriff war zu tun. Am Rande eines plötzlichen Anfalls von Feigheit kehrte Scott zu seinem Pick-up zurück und wappnete sich innerlich für seine Fahrt ins Ungewisse.
Hope fuhr zu der Kreuzung, an der der Interstate Highway Richtung Nordost abzweigt. Sie hielt sich peinlich genau an Sallys Anweisungen und an die
Geschwindigkeitsbeschränkungen, um auf ihrem Weg zu der Stelle, die Sally ausgesucht hatte, nicht unnötig Aufmerksamkeit zu erregen. Sie beschloss, am besten jeweils nur an den nächsten Schritt zu denken, sozusagen eine Strichliste abzuhaken. Sie strengte sich an, die letzten drei Punkte kalt analytisch zu betrachten.
Das Verbrechen begehen. Wegfahren. Zum Treffpunkt mit Sally. Keine Spur hinterlassen.
Sie hätte einiges darum gegeben, Mathematikerin zu sein und das, was vor ihr lag, als eine Zahlenkette zu betrachten, die sich zu Theorien und Wahrscheinlichkeiten zusammenfügte. Sie wünschte sich, wie der Statistiker bei einer Versicherungsgesellschaft das Leben und die Zukunft von Menschen nach Effizienzgesichtspunkten hochzurechnen. Das war schlechterdings unmöglich. Also versuchte sie sich stattdessen in eine Art Zorn der Gerechtigkeit hineinzusteigern, der sich auf O’Connell und seine Familie entlud. Sie rief sich immer wieder ins Gedächtnis, dass der
Weg, den sie eingeschlagen hatten, der einzige war, den er ihnen übrigließ und den O’Connell nicht vorhersehen würde. Wenn sie nur wütend genug war, dann würde sie vielleicht fertigbringen, was sie freiwillig auf sich genommen hatte. Jemand muss sterben, sagte sie sich, bevor er Ashley tötet. Sie sagte sich diesen Satz wie ein perverses Mantra mehrere Kilometer lang immer wieder vor. Hope dachte an Spiele, bei denen in den letzten Minuten vor dem Schlusspfiff alles in der Schwebe hing. Ein tiefer Griff in die verborgenen Kraftreserven der Athletin, der für den Bruchteil einer Sekunde reichte und über den Ausgang entschied. Als Trainerin hatte sie ihre Mädchen stets angehalten, sich den Moment vor Augen zu führen, in dem Sieg und Niederlage sich die Waage halten, so dass sie, wenn es unweigerlich so weit war, psychisch gewappnet waren und, ohne zu zögern, handeln konnten. Sie vermutete, dass dies hier ähnlich sein würde. Und so biss sie sich auf die Lippe und malte sich die kommenden Ereignisse so aus, wie Sally sie umrissen hatte, einschließlich Scotts Ortsbeschreibung. Sie stellte sich das heruntergekommene, verwahrloste Haus vor, den verrosteten Wagen, den Carport mit Maschinenteilen und Gerümpel. Sie glaubte zu wissen, was sie drinnen erwartete: das Chaos aus Zeitungen, Bier flaschen und
Imbissresten, der schale Geschmack der Nutzlosigkeit. Und er würde da sein. Der Mann, der den Mann hervorgebracht hatte, der sie alle bedrohte. Sie wusste, dass sie sich, wenn sie ihm erst gegenüberstand, Michael O’Connell vor Augen führen musste. Sie sah vor sich, wie sie draußen wartete. Sie sah vor sich, wie sie eintrat. Sie sah sich Auge in Auge mit dem Mann, dem sie den Tod bestimmt hatten. Während ihre Gedanken wie ein Mühlrad im Kopf kreisten, fuhr sie Richtung Osten und wünschte sich, so tun zu können, als sei dies eine ganz gewöhnliche kleine Reise.
Am Nachmittag war Sally bereits in Boston und parkte an der Straße gegenüber Michael O’Connells Haus, wo sie den Eingang gut im Blickfeld hatte. In der Hand hielt sie den Schlüssel, den Hope ihr gegeben hatte. Sie hatte sich auf dem Fahrersitz ganz klein gemacht, um so unsichtbar wie möglich zu sein, während sie die ganze Zeit glaubte, dass jeder im ganzen Block sie bereits gesehen, sich ihr Gesicht eingeprägt und ihr Kennzeichen aufgeschrieben hatte. Auch wenn sie wusste, dass diese Befürchtungen grundlos waren, konnte sie sich nicht davon
lösen; ihre Ängste lauerten in ihrem Unterbewusstsein und drohten jeden Moment, die Kontrolle über sie zu gewinnen, und Sally gelang es nur mühsam, das zu verhindern. Sie wünschte sich, wie O’Connell mit der Dunkelheit vertraut zu sein. Das hätte ihr bei ihrer aller Vorhaben zweifellos geholfen. Wieder schüttelte sie den Kopf. Bis dahin war ihre einzige Rebellion, das einzige Mal, dass sie sich über die eng gesteckten gesellschaftlichen Normen hinwegzusetzen wagte, ihre Beziehung zu Hope gewesen. Sie kam sich absolut lächerlich vor. Eine Frau im mittleren Alter, aus dem gehobenen Mittelstand, verunsichert über ihre Gefühle zu ihrer Lebensgefährtin, hatte kaum das Zeug zu einer Gesetzesbrecherin. Und schon gar nicht zu einer Mörderin. Sie nahm ihr Notizblatt und versuchte, sich ein Bild davon zu machen, wo die anderen beiden jetzt waren. Hope wartete auf sie. Scott hatte bereits Stellung bezogen. Ashley war mit Catherine zu Hause. Und Michael O’Connell war hoffentlich in seiner Wohnung. Was hat dich nur geritten, als du dachtest, du könntest dir diesen Plan aushecken und es durchziehen?, stellte sie sich plötzlich zur Rede.
Es. Sie merkte, dass sie einen trockenen Hals bekam. Es beschrieb die Sache wohl kaum angemessen. Ein Mord. Ein vorsätzlicher Mord, ein Kapitalverbrechen. Ein so finsterer Plan, dass man in einigen Bundesstaaten dafür auf den elektrischen Stuhl oder in die Gaskammer kommen konnte. Selbst wenn mildernde Umstände anerkannt würden, konnte es ihnen immer noch fünfundzwanzig Jahre einbringen. Ashley nicht. Ashley würde nichts passieren. Im selben Moment blitzte ein anderer Gedanke auf: Ihrer aller Leben wäre ruiniert. Außer O’Connells. Er würde so weitermachen können wie bisher, und es gäbe wenig, was ihn daran hindern könnte, Ashley, oder falls ihm beliebte, einer anderen Ashley nachzustellen. Es wäre niemand mehr da, um sie zu beschützen. Sieh zu, dass es funktioniert. Sie schaute auf und sah, wie die Schatten über die Dächer krochen. Es geht los, dachte sie. Eine Woge der Freude fuhr ihm durch die Glieder, während er das Handy ans Ohr hielt, doch er zwang sich zur Ruhe, bis er die vertraute Stimme hörte.
»Michael? Bist du dran?« Er holte heftig Luft. »Hallo, Ashley.« »Hallo, Michael.« Einen Moment lang schwiegen sie beide. Ashley musste einen Augenblick auf das Blatt starren, das ihre Mutter für sie vorbereitet hatte. Eine Art Skript, in dem sie die Schlüsselsätze dreifach unterstrichen hatte. Doch die Seiten schienen vor ihren Augen zu verschwimmen. Als es plötzlich still wurde, beugte sich Michael O’Connell ruckartig auf seinem Sitz vor. Der Anruf war wundervoll und schrecklich zugleich. Er sagte ihm, dass er dabei war zu gewinnen. Er konnte nur mühsam das Grinsen zurückhalten, das sich über sein Gesicht breitete. Sein rechtes Bein fing an zu zucken wie der Fuß des Schlagzeugers an der Basstrommel. »Es ist wunderbar, deine Stimme zu hören«, seufzte er. »Wie’s aussieht, versuchen so viele Menschen, uns auseinanderzubringen. Aber du weißt, das lasse ich nicht zu. Niemals.« Er lachte leise, bevor er fortfuhr: »Es wird ihnen nicht gut bekommen, dass sie dich vor mir verstecken wollen. Das hast du ja selbst gesehen, nicht wahr? Ich finde dich überall.« Ashley schloss einen Moment lang die Augen. Seine Worte fuhren ihr wie Splitter in die Haut.
»Michael, ich hab dich immer wieder gebeten, mich in Frieden zu lassen. Ich habe alles versucht, um dir begreiflich zu machen, dass wir nicht zusammen sein werden. Ich will dich nicht. Kein bisschen.« Alles, was sie sagte, hatte sie ihm bereits früher gesagt. Ohne Erfolg. Sie erhoffte sich diesmal nichts anderes. Sie kam sich vor wie in einem Irrenhaus, kein logisches Argument würde fruchten. »Ich weiß, dass du es nicht so meinst«, entgegnete er, und sein Ton wurde von einer Sekunde zur anderen kalt. »Ich weiß, dass du dazu angestiftet worden bist, mir das zu sagen – all diese Leute, die dich zu etwas anderem machen wollen, als du bist. Ich weiß, dass du dir nur von anderen Leuten diktieren lässt, was du sagst. Deshalb höre ich auch nicht darauf.« Bei dem Stichwort diktieren geriet Ashley beinahe in Panik, während sie auf ihr Drehbuch blickte. Wenn er nun alles gesehen, alles mitbekommen hatte? »Nein, Michael, tausendmal nein. Du verstehst das völlig falsch. Du hast es von Anfang an falsch verstanden. Wir werden nicht zusammen sein!« »Das ist Schicksal, Ashley, wir sind füreinander bestimmt.« »Nein. Wie kannst du das nur denken?«
»Du verstehst nicht, was Liebe ist. Wahre Liebe. Bedingungslose Liebe. Liebe geht nicht vorbei«, fuhr er fort, indem er in kaltem Ton jedes Wort betonte. »Liebe hört nicht auf. Sie verlässt einen nicht. Sie ist immer in einem. Du solltest das wissen. Du hältst dich für eine Künstlerin und begreifst nicht die einfachste Sache von der Welt? Was stimmt mit dir nicht, Ashley?« »Mit mir ist alles in Ordnung«, erwiderte sie in scharfem Ton. »Oh nein.« O’Connell wippte auf seinem Stuhl vor und zurück. »Manchmal denke ich, du bist wirklich krank, Ashley, ich meine, du hast ein echtes Leiden. Bei einem, der die Wahrheit einfach nicht sehen kann, muss das ja wohl der Grund sein. Bei einem, der sich weigert, auf sein Herz zu hören. Aber mach dir keine Sorgen, Ashley, ich kann dich nämlich heilen. Ich werde für dich da sein. Egal, was passiert, was für schlimme Dinge passieren, du musst wissen, dass ich immer für dich da sein werde.« Ashley merkte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie fühlte sich vollkommen hilflos. »Bitte, Michael.« »Du brauchst vor nichts Angst zu haben.« In seiner Stimme klang düstere Wut mit, die dicht unter der Oberfläche zu lauern schien. »Ich werde dich beschützen.« Alles, was er sagte, musste sie denken, bedeutete das
genaue Gegenteil. Beschützen hieß weh tun. Du brauchst keine Angst zu haben hieß Du hast allen Grund zur Angst. Die Hoffnungslosigkeit ihrer Situation überwältigte sie fast. Sie merkte, wie in ihr eine Woge der Übelkeit hochstieg, ihre Stirn fühlte sich heiß an. Sie schloss die Augen und lehnte sich an die Wand, als könnte sie so das Zimmer daran hindern, sich um sie zu drehen. Es hört nie auf. Ashley öffnete die Augen und sah Catherine mit einem wilden Blick an. Catherine konnte zwar nur die eine Seite der Unterredung hören, doch sie wusste, dass es nicht gut lief. Sie stieß mit dem Zeigefinger auf das Skript und tippte so energisch auf die Worte, wie sie konnte. »Sag es! Sag es, Ashley!«, flüsterte sie verzweifelt. Ashley hob die Hand und wischte sich die Tränen weg. Sie schnappte nach Luft. Auch wenn sie nicht wusste, was sie in Bewegung setzte, hatte sie keinen Zweifel, dass es etwas Schreckliches war. »Michael«, begann sie langsam. »Ich hab alles, wirklich alles versucht. Ich hab auf alle erdenkliche Weise nein zu dir gesagt. Ich weiß nicht, wieso du das nicht begreifst. Wirklich nicht. Da ist etwas in dir, das ich nie verstehen werde. Deshalb werde ich jetzt gleich mit dem einzigen Menschen sprechen, der mir einfällt, der dir vielleicht sagen
kann, wo’s langgeht; dem du schon mal gehorcht hast. Jemand, der mir vielleicht raten kann, wie ich dir meinen Standpunkt begreiflich machen soll. Jemand, der wahrscheinlich weiß, wie ich dich dazu bringe, aus meinem Leben zu verschwinden. Jemand, von dem ich mir hundertprozentig sicher bin, dass er mir helfen wird, dich loszuwerden. Jemand, dem ich vertrauen kann, dass er mir hilft.« Alles, so viel wusste sie, war darauf angelegt, jedes Quentchen Wut in ihm zu entfachen. O’Connell antwortete nicht, und Ashley dachte, dass er ihr vielleicht zum ersten Mal zugehört hatte. »Es gibt nur einen Menschen auf der Welt, vor dem du, glaube ich, richtig Angst hast. Deshalb werde ich mich heute Abend mit ihm treffen.« »Was sagst du da?«, fragte O’Connell schroff. »Von wem redest du? Jemand, der dir helfen kann? Niemand kann dir helfen, Ashley. Niemand außer mir.« »Da irrst du dich. Es gibt einen Mann.« »Wen?«, brüllte O’Connell ins Handy. »Weißt du, wo ich gerade bin, Michael?« »Nein.«
»Ich bin gar nicht weit von deinem Zuhause, Michael. Nicht deiner Wohnung, sondern deinem Elternhaus. Ich bin auf dem Weg zu deinem Vater«, log Ashley so kalt, wie sie konnte, indem sie nach jedem Wort eine Pause einlegte. »Er kann mir helfen.« Dann legte sie auf. Als das Telefon binnen Sekunden klingelte, ignorierte sie es.
Sally sah auf. Es durchzuckte sie wie ein elektrischer Schlag, als sie sah, wie Michael O’Connell aus seinem Gebäude stürmte. Er stieß mit den Armen in seine Winterjacke, während er die Treppe in einem einzigen Satz hinuntersprang und die Straße weiterrannte. Als sie O’Connell in seinen Wagen steigen und mit quietschenden Reifen losfahren sah, stellte sie ihre Stoppuhr ein. Sie nahm ihr Handy und drückte die Kurzwahltaste. Als sich Scott meldete, antwortete sie: »Er ist jetzt unterwegs.« Dann legte sie auf. Scott würde jetzt ebenfalls die Zeit stoppen. Viel hatten sie nicht. Sally schnappte sich eine Schultertasche mit verschiedenen wichtigen Gegenständen und stieg augenblicklich aus dem Wagen, überquerte die Straße und stand vor der Tür zu O’Connells Haus. Sie hielt den Kopf
gesenkt und zog sich eine Skimütze, so tief sie konnte, ins Gesicht. Sie trug Kleider von der Heilsarmee: Jeans, abgetragene Turnschuhe und einen Herren-Kolani. Über einem Paar hautengen Latexhandschuhen trug sie ein Paar aus Leder. Sie redete sich gut zu, dass die Waffe da sein würde. Sie hatten keinen Plan B. Sie hatten sich nur darauf verständigt, dass sie das Ganze abblasen und nach WestMassachusetts zurückkehren würden, um sich etwas Neues auszudenken. Sie hielt es für denkbar, dass O’Connell die Pistole auf dem Weg zu seinem Vater mitgenommen hatte. Seine plötzliche Wut war eine der Unwägbarkeiten, die sie nicht hatte vorhersehen können. Sie hoffte fast, dass er sie mitgenommen hatte. Vielleicht würde er in der Form Gebrauch davon machen, wie sie es ihm anlasten wollten, vielleicht würde er den Fehler begehen, der mit einem Schlag ihr Problem aus der Welt schaffte. Oder aber er hatte die Waffe dabei und richtete sie auf einen von ihnen. Oder er hatte die Waffe dabei und richtete sie auf Ashley. Falls das hier danebenging, hatten sie keinen anderen Plan, als panikartig die Flucht zu ergreifen. Sally nahm denselben Weg wie Hope nur wenige Tage
zuvor. Binnen Sekunden stand sie vor der Wohnung. Sie war allein, den Schlüssel in der Hand. Keine Nachbarn. Die einzigen Augen, die ihr folgten, waren die der miauenden Katzen im Flur. Hat er heute schon eine von euch getötet?, fragte sie stumm. Sie steckte den Schlüssel ein und öffnete die Tür, so leise sie konnte. Sally schärfte sich ein, sich nicht erst umzusehen. Nicht erst die Welt, in der Michael O’Connell lebte, in Augenschein zu nehmen, denn sie wusste, dass sie das nur mit Panik erfüllen würde. Außerdem war zügiges Handeln bei ihrem Plan von entscheidender Bedeutung. Schnapp dir die Pistole! Sofort. Sie fand den Kleiderschrank. Sie fand die Ecke. Sie fand den Stiefel, in den eine schmutzige Socke gestopft war. »Sei da«, flüsterte sie tonlos. Sie zog den Strumpf heraus und merkte sich dabei, wie er im Stiefel gesteckt hatte. Als ihre Finger auf den Stahl des Laufs stießen, entfuhr ihr ein lauter Seufzer. Vorsichtig holte sie die Waffe heraus. Einen Moment lang zögerte sie. Da wären wir. Bring’s hinter dich oder kneife – beides versetzte sie in panische
Angst. Als ob jemand anders ihrer Hand Befehle erteilte, steckte sie die Waffe sorgsam in einen großen Plastikbeutel in ihrem Rucksack. Den Strumpf ließ sie auf dem Boden liegen. Es gab noch etwas zu tun. Eilig lief sie in das kleine Wohnzimmer und starrte auf den schäbigen Schreibtisch, auf dem Michael O’Connell seinen Laptop angeschlossen hatte. Von diesem Platz aus, dachte sie, hatte er ihnen allen eine Menge Ärger bereitet, und jetzt war es an der Zeit, es ihm heimzuzahlen. Trotz ihrer Angst verschaffte ihr dieser nächste Schritt eine gehässige Befriedigung. Sie zog das baugleiche Gerät aus ihrem Rucksack und wechselte seinen Computer gegen den neuen aus, den sie präpariert hatte. Auch wenn er den Unterschied vielleicht nicht sofort erkennen würde, musste es ihm früher oder später dämmern. Bei diesem Streich war sie mit sich zufrieden. Tags zuvor hatte sie Stunden damit zugebracht, eine bunte Vielfalt an pornografischem Material sowie extrem rechtslastige, staatsfeindliche Websites herunterzuladen, so dass auf der Festplatte so viel zornige, satanistisch inspirierte, Heavy-Metal-untermalte, schwer verdauliche Kost gespeichert war, wie sie hatte finden können. Als sie überzeugt war, auf dem Computer genügend belastende Inhalte untergebracht zu haben, hatte sie in einer Word-Datei einen wütenden Brief angefangen, der mit den Worten begann: Lieber Dad, du verdammter
Hurensohn, in dem O’Connell bekannte, er wisse jetzt, dass er vor Jahren niemals hätte lügen dürfen, um seinen Vater zu entlasten, und er sei jetzt bereit, diesen einen schweren Fehler in seinem Leben zu korrigieren. Er sei der einzige Mensch auf der Welt, der in der Lage sei, der Gerechtigkeit Genüge zu tun und den Mord an seiner Mutter zu rächen. Scotts Recherchen zur Familiengeschichte der O’Connells hatten ihr entscheidend geholfen. Noch zwei Dinge hatte Sally mit dem Computer gemacht. Sie hatte die Rückwand abgeschraubt, so dass die Innereien offen zutage lagen, und behutsam die Verbindung zum Netzkabel gelockert, so dass der Laptop nicht mehr anging und der Akku sich nicht mehr auflud. Dann hatte sie die Rückseite wieder geschlossen, allerdings mit einer Besonderheit. Mit zwei Tropfen Sekundenkleber hatte sie dafür gesorgt, dass eine der beiden Schrauben, die alles zusammenhielten, sich keinen Millimeter mehr bewegen ließ. O’Connell konnte das Gerät vielleicht reparieren, dachte sie, aber er wäre nicht in der Lage, hineinzukommen. Ein Techniker von der Forensik dagegen schon. Sie warf einen letzten prüfenden Blick auf den Laptop – es sah so aus, als stünde er genau so, wie O’Connell seinen zurückgelassen hatte. Sally schob O’Connells Laptop neben der Pistole in ihren
Ruck sack. Sie sah auf ihre Stoppuhr. Es waren elf Minuten vergangen. Zu langsam, zu langsam, schimpfte sie mit sich, während sie den Rucksack über die Schulter warf. Sie spürte, wie ihr die Konturen der Waffe gegen den Rücken schlugen. Sie atmete tief durch. Sie würde bald wiederkommen.
Das Handy auf dem Beifahrersitz klingelte beharrlich. Scott war sich nicht sicher gewesen, ob er diesen Anruf bekommen würde, hielt es aber immerhin für möglich, und so war er darauf gefasst, als er die Stimme am anderen Ende hörte. »Hey, spreche ich mit Mr. Jones?« O’Connells Vater klang ein wenig unsicher und gehetzt, aber auch freudig erregt. »Smith am Apparat«, erwiderte Scott. »Klar, Mr. Smith. Hören Sie, hier spricht …« »Ich weiß, wer dran ist, Mr. O’Connell.« »Tja, will ich auch meinen. Ich hab gerade einen Anruf von meinem Jungen bekommen, so wie Sie gesagt haben. Er ist in diesem Moment auf dem Weg hierher.«
»In diesem Moment?« »Ja. Sind ungefähr anderthalb Stunden Fahrt von Boston, nur dass er garantiert schnell fährt, vielleicht ist er also ein bisschen früher da.« »Ich werde entsprechende Vorkehrungen treffen, danke.« »Der Junge hat was von einem Mädchen gebrüllt. Klang wirklich aufgeregt, fast übergeschnappt. Hat die ganze Sache was mit ’nem Mädchen zu tun?« »Nein, es geht um Geld. Und um etwas, das er uns schuldig ist.« »Na ja, er sieht das offenbar anders.« »Wie er das sieht, ist für unsere geschäftliche Verabredung von keinerlei Belang, nicht wahr, Mr. O’Connell?« »Klar, denke schon. Und was soll ich jetzt machen?« Scott brauchte nicht lange zu überlegen. Er hatte mit der Frage gerechnet. »Warten Sie einfach auf ihn. Lassen Sie ihn ausreden, egal, was er sagt.« »Und was haben Sie vor?« »Wir werden gewisse Maßnahmen ergreifen, Mr. O’Connell, und Sie bekommen, wie versprochen, Ihren
angemessenen Lohn.« »Und was ist, wenn er nun plötzlich wieder geht?« Scott merkte, wie ihm die Kehle trocken wurde, wie sich ihm die Brust zusammenkrampfte. »Dann treten Sie zur Seite und lassen ihn gehen.«
Hope nahm, während sie auf Sally wartete, einen Schluck Kaffee. Sie verbrannte sich an der heißen, bitteren Flüssigkeit die Zunge. Sie hatte den Wagen auf dem Parkplatz einer Mall, hundert Meter vom Eingang eines großen Lebensmittelgeschäfts, abgestellt. Es herrschte reger Verkehr, doch sie war ein wenig weiter vom Eingang entfernt, als es nötig gewesen wäre, und hatte vielleicht ein halbes Dutzend Parklücken zwischen ihr und dem nächsten Wagen freigelassen. Als sie Sally in ihrem unscheinbaren Leihwagen langsam durch die Reihen der parkenden Autos fahren sah, saß sie kerzengerade. Sie steckte den Kaffeebecher in den Halter, kurbelte hastig das Fenster herunter und winkte Sally zu, um sie auf sich aufmerksam zu machen. Sie wartete, bis Sally eine Lücke zwei Reihen weiter genommen hatte, und zu ihr hinüberkam. Sie sah, wie sie sich nervös umschaute und wie blass sie war.
Sally schüttelte bereits den Kopf. »Ich kann nicht zulassen, dass du das machst. Das ist meine Aufgabe …« »Das hatten wir doch längst«, erwiderte Hope. »Und jetzt läuft es, so wie geplant. Jetzt alles umzuwerfen würde vermutlich alles vermasseln.« »Ich kann es einfach nicht.« Hope atmete tief ein. Das hier war ihre Chance, dachte sie. Sie konnte noch kneifen. Sich weigern. Einmal durchatmen und fragen: Was zum Teufel haben wir uns eigentlich dabei gedacht? »Und ob du kannst. Du musst«, entgegnete Hope. »Wir sind Ashleys einzige Chance. Und wahrscheinlich liegt auch für jeden von uns die einzige Chance darin, dass jeder das tut, wozu er fähig ist. So einfach ist das.« »Hast du Angst?« »Nein«, log Hope. »Wir sollten es abblasen, jetzt. Ich glaube, wir haben den Verstand verloren.« Ja, das haben wir wahrscheinlich, dachte Hope. »Wenn wir es jetzt nicht zu Ende bringen und Ashley das
Schlimmste passiert, dann wird sich keiner von uns für den Rest unserer Tage, egal wie lange wir noch zu leben haben, auch nur eine Sekunde lang verzeihen können, dass wir das zugelassen haben. Ich glaube, ich kann mir vergeben, was ich gleich tun werde. Aber einfach abzuwarten und zuzusehen, wie Ashley etwas zustößt, das nähmen wir alle mit ins Grab.« Hope holte tief Luft. »Wenn wir nicht handeln, dann handelt er, und wir werden nie mehr ruhig schlafen können.« »Ich weiß«, sagte Sally und schüttelte den Kopf. »Und jetzt die Waffe. Im Rucksack?« »Ja.« »Uns bleibt nicht mehr allzu viel Zeit, oder?« Sally sah auf ihre Stoppuhr. »Ich glaube, du liegst etwa eine Viertelstunde zurück. Scott sollte etwa um diese Zeit auch in Stellung gehen.« Hope lächelte und schüttelte den Kopf. »Weißt du, als Kind habe ich so oft Spiele gegen die Zeit gespielt. Die Zeit ist immer ein entscheidender Faktor. Das hier ist nicht viel anders. Ich muss los. Sofort. Das weißt du so gut wie ich. Wenn wir dieses Spiel zu Ende bringen, dann wäre es schrecklich, wenn es schiefginge, weil wir nicht schnell genug waren. Fahr jetzt einfach los, Sally. Tu, was auf deiner Liste steht. Und ich erledige das Meine. Am Ende
ist dann vielleicht alles wieder in Ordnung.« Es gab viel, was Sally in diesem Moment hätte sagen wollen, aber sie schwieg. Sie nahm Hopes Hand und drückte sie fest, während sie gegen die Tränen ankämpfte. Hope lächelte und meinte: »Fahr los. Es ist spät. Das ist nicht der Moment zum Reden. Das ist der Moment zum Handeln.« Sally nickte, ließ den Rucksack auf dem Boden von Hopes Wagen sinken und winkte ihr zaghaft hinterher, als sie vom Parkplatz fuhr. Zur Highway-Auffahrt waren es keine fünfhundert Meter, und Hope wusste, dass sie sich beeilen musste, um den zeitlichen Abstand zwischen ihr und Michael O’Connell aufzuholen. Sie sah absichtlich nicht in den Rückspiegel, bis sie von ihrem Treffpunkt weit genug entfernt war, um nicht sehen zu müssen, wie Sally verloren zwischen den Autos stand.
Scott fuhr mit seinem zerbeulten Pick-up auf den Studentenparkplatz eines großen Community College ungefähr zehn Kilometer von dem Haus entfernt, in dem Michael O’Connell aufgewachsen war. Unter den anderen Fahrzeugen, die hier standen, fiel sein ramponiertes Vehikel nicht weiter auf. Er vergewisserte sich, dass ihn niemand beobachtete, und
zog eilig eine alte Jeans, ein Sweatshirt, einen abgetragenen alten Parka und Sportschuhe an. Er stülpte sich eine marineblaue Mütze über Kopf und Ohren und setzte sich, trotz der einsetzenden Abenddämmerung, eine Sonnenbrille auf. Er schnappte sich einen Rucksack, tastete nach dem Handy in seiner Jackentasche und stieg aus. Seiner Stoppuhr nach war Michael O’Connell jetzt seit knapp siebzig Minuten unterwegs. Er würde rasen, rief sich Scott ins Gedächtnis, und ums Verrecken keine Pause einlegen, außer vielleicht, wenn ihn die Polizei anhielt, was ihnen nur zugute kommen konnte. Scott zog die Schultern ein und überquerte den Parkplatz. Er wusste, dass es nicht weit vom College-Eingang eine Buslinie gab, so dass er bis auf etwa anderthalb Kilometer an das Haus von O’Connell herankam. Er hatte sich den Fahrplan eingeprägt und das nötige Kleingeld für die Hinfahrt in die rechte, das für die Rückfahrt in die linke Tasche gesteckt. Ein halbes Dutzend Schüler und Studenten verschiedener Altersstufen wartete unter dem Dach der Haltestelle. Er passte dazu; an einem Community College konnte ein Student neunzehn oder neunundfünfzig sein. Er achtete darauf, Blickkontakt mit den anderen zu meiden. Er befahl sich, an neutrale Dinge zu denken und möglichst unsichtbar zu sein.
Als der Bus kam, fand er ziemlich weit hinten einen Sitz für sich allein. Er drehte sich zum Fenster und blickte auf die braune, verwitterte Landschaft, die an ihnen vorüberglitt. Scott stieg an seiner Haltestelle als Einziger aus. Einen Moment lang blieb er allein an der Straße stehen und beobachtete, wie der Bus in der Abenddämmerung ver schwand. Dann machte er sich die Straße entlang auf den Weg. Er lief schnell, ohne zu wissen, was ihn erwartete. Er wusste nur, dass Eile von entscheidender Bedeutung war.
Fotos vom Schauplatz eines Verbrechens haben etwas Unwirkliches an sich. Es kommt einem ein bisschen so vor, als versuchte man, sich einen Film aus einer Serie von Standfotos zusammenzusetzen, statt die bewegten Bilder zu sehen. Hochglanz, Multicolor, im Format zwanzig mal fünfundzwanzig, wirken sie wie Teile eines großen Puzzles. Ich versuchte, mir jede Aufnahme einzuprägen, und starrte sie an wie die Seiten eines Buchs. Der Kommissar saß mir gegenüber und betrachtete mein Gesicht.
»Ich versuche, mir das Ganze vorzustellen«, erklärte ich, »damit ich besser verstehe, was passiert ist.« »Nehmen Sie die Bilder als Linien auf einer Landkarte«, erklärte er. »Alle Tatorte ergeben früher oder später einen Sinn. Auch wenn ich zugeben muss, dass das hier kein Spaziergang war.« Er beugte sich vor und wühlte in den Fotos. »Sehen Sie.« Er deutete auf das ramponierte, verkohlte Mobiliar. »Manchmal kommt es eben auf die Erfahrung an. Man lernt, nicht nur das Durcheinander zu sehen, und dann erkennt man die Zeichen.« Ich starrte auf die Bilder und versuchte, sie mit seinen Augen zu sehen. »Und was?«, fragte ich. »Es hat einen Kampf gegeben. Einen schrecklichen Kampf.«
43 Die offene Tür
Scotts Erkundungsgang durchs Viertel einige Tage zuvor hatte ihm geholfen, die richtige Stelle zu finden, an der er warten konnte. Er wusste, dass er nicht auffallen durfte. Falls ihn irgendjemand sah und den dunkel gekleideten Mann, der um diese abendliche Stunde das Haus von O’Connell beobachtete, mit dem Mann in Anzug und Krawatte in Verbindung brachte, der so viele Fragen gestellt hatte, würde das ernste Probleme bereiten. Doch er musste die Frontseite des Hauses im Blick behalten, besonders die Einfahrt. Dabei durfte er auf keinen Fall die Aufmerksamkeit von Hunden oder Bewohnern in der Nachbarschaft erregen. Die Stelle, die er sich ausgesucht hatte, war vielleicht ein bisschen weit entfernt, erfüllte aber ihren Zweck. Die baufällige alte Scheune mit dem halb eingesackten Dach war nur noch ein Schandfleck in der Landschaft. Von der Ecke aus, an der er kauerte, sah er gerade noch den Eingang zu O’Connells Haus. Er rechnete damit, dass O’Connell mit Wut fuhr und vielleicht sogar mit quietschenden Reifen um die letzte Ecke bog, so dass der Schotter aufspritzen würde, wenn er auf das Grundstück schwenkte, wo er einmal zu Hause gewesen war. Mach möglichst viel Lärm, flüsterte er, als könnte O’Connell ihn hören, damit dich auf jeden Fall jemand sieht. In den Nachbarhäusern brannte Licht. Scott sog die kalte Luft ein. Er sah, wie an den Fenstern hier und da Gestalten vorbeihuschten, und registrierte das allgegenwärtige blaue Flackern von Fernsehbildschirmen.
Er hielt sich die Hand vors Gesicht, um zu sehen, ob sie zitterte. Ein bisschen vielleicht, aber nicht so schlimm, dass es etwas ausgemacht hätte. An diesem Abend würden sich eine Menge Dinge klären, sagte er sich. Es würde sich zum Beispiel erweisen, was für ein Mensch er war, und das Gleiche galt für Sally und auch für Hope. Einen Moment lang dachte er an Hope und merkte, wie in ihm Panik aufstieg. Ich kenne sie nicht, dachte er. Ich habe nur eine vage Vorstellung davon, was für eine Persönlichkeit sie ist. Und doch hing in diesem Moment alles in seinem Leben an ihren Fähigkeiten. Scott bekam nur schwer Luft, als er sich plötzlich fragte, wie sie alle miteinander auch nur einen Moment lang hatten glauben können, sie wären in der Lage, etwas Wirklichkeit werden zu lassen, das ihnen so gänzlich fremd war. In diesem kurzen Augenblick des Zweifels hörte er das Geräusch eines heranbrausenden Wagens.
Sally war inzwischen Richtung Boston umgekehrt. Sie steuerte ein besonders exklusives Einkaufsviertel in
Brookline an. Das erste Mal hielt sie vor einem Geldautomaten an einer Ladenstraße und zog mit ihrer Kreditkarte hundert Dollar. Sie achtete darauf, direkt nachdem der Automat ihr Geld ausspuckte, den Kopf zu heben, damit die Überwachungskamera ihr Gesicht gut aufnehmen konnte. Dann verstaute sie ihre Quittung mit genauer Zeitangabe in ihrer Tasche. Anschließend ging sie in die Mall, wo sie ein teures Wäschegeschäft betrat. Einen Moment blieb sie zwischen den Ständern mit Seiden- und Spitzendessous stehen, bis sie eine der jüngeren Verkäuferinnen entdeckte. Das Mädchen war wohl kaum älter als Ashley. Sally ging auf sie zu und sprach sie an: »Ob Sie mir vielleicht behilflich sein könnten?« »Selbstverständlich«, antwortete die junge Frau. »Was suchen Sie denn?« »Also, ich wollte meiner Tochter etwas mitbringen, sie hat ungefähr Ihre Größe. Etwas Besonderes, weil sie ein paar harte Wochen hinter sich hat. Sie hat sich von ihrem Freund getrennt, wissen Sie, und ich wollte ihr was schenken, worin sie sich schön und sexy findet, nachdem ihr so ein Trottel das Gefühl gegeben hat, das Gegenteil wäre der Fall. Verstehen Sie, was ich meine?« »Oh ja, und ob«, sagte die Verkäuferin und nickte. »Das ist
sehr einfühlsam von Ihnen.« »Na ja, so sind Mütter nun mal, nicht wahr? Und außerdem würde ich gerne einer besonderen Freundin was Nettes mitbringen. Jemandem, zu der ich, na ja, in letzter Zeit nicht sehr nett gewesen bin. Vielleicht einen Seidenpyjama?« »Da kann ich Ihnen auch weiterhelfen. Wissen Sie die Größe?« »Oh, ja, natürlich. Der ist für eine sehr enge Freundin. Wir teilen viel miteinander, drüben in West-Massachusetts, wo wir leben. Und in letzter Zeit haben wir einige Höhen und Tiefen hinter uns, und ich habe etwas wiedergutzumachen. Blumen sind ja immer ganz nett, aber bei einer besonderen Beziehung ist es manchmal besser, etwas zu kaufen, das länger hält, meinen Sie nicht?« Das Mädchen lächelte. »Unbedingt.« Sally ging davon aus, dass die Erwähnung von WestMassachusetts – im gesamten Bundesstaat dafür bekannt, dass sich dort Frauen mit ihren Lebensgefährtinnen tummelten – bei dem Mädchen einen bleibenden Eindruck hinterlassen würde. Sie folgte ihr zu den Ständern mit teurer Unterwäsche. Sie glaubte, dass sie genug gesagt hatte, um bei der jungen Dame nicht so schnell in Vergessenheit zu geraten. Sally dachte außerdem daran, eine Kreditkarte zu benutzen, die sie ebenfalls
unzweifelhaft mit diesem Ort in Verbindung bringen würde. Sie überlegte, ob sie vielleicht auch noch der Geschäftsleitung ein Kompliment zur Wahl ihrer Mitarbeiterinnen machen sollte. An solche Gespräche konnte man sich auch zu einem späteren Zeitpunkt noch erinnern. Sally fühlte sich wie auf einer Bühne, als rezitierte sie Zeilen, die aus der Not geboren waren. »Die hier gehören zu unseren hübschesten Sachen«, erklärte die Verkäuferin. Sally lächelte, als wäre das, was sie da machte, das Natürlichste auf der Welt. »Oh ja, wirklich.«
Mehr oder weniger zur gleichen Zeit befanden sich Catherine und Ashley in einem Bio-Supermarkt knapp anderthalb Kilometer von Hopes und Sallys Haus entfernt und schoben einen Einkaufswagen mit einer Menge ausgefallener organischer Lebensmittel vor sich her. Während der ganzen Fahrt hatten sie geschwiegen. Als sie nicht weit vom Eingang einen Gang entlangkamen, entdeckte Ashley eine üppige Dekoration aus frischen Kürbissen, die kunstvoll aufgetürmt und mit getrockneten Maishalmen geschmückt waren. Das Ganze sollte an Thanksgiving erinnern, und so vervollständigten Walnüsse,
Preiselbeeren und ein Truthahn aus Papier das Bild. Ashley stieß Catherine an und deutete auf die Dekoration. Catherine nickte. Zusammen schoben sie den Wagen dicht an den Turm. Als sie gerade direkt an dem Tisch vorbeikamen, auf dem die Auslagen gestapelt waren, sagte Catherine laut: »Oh, verdammt, wir haben den Bohnen-Dip vergessen.« Während sie das sagte, legten sie sich mit dem Wagen schwungvoll in die Kurve, so dass das Vorderrad am Tischbein hängenblieb. Die ganze Dekoration wackelte einen Moment, und Ashley gab einen kurzen Aufschrei von sich, beugte sich vor, als versuchte sie, alles festzuhalten, während sie in Wahrheit den größten Kürbis an der Basis wegzog. In Sekunden war alles mit einem lauten Krach in sich zusammengestürzt, so dass ein bunter Haufen verschiedener Kürbissorten zwischen Maiskolben über den Boden rollten. Catherine seufzte. »Oh mein Gott!«, rief sie laut. Im nächsten Moment waren sie von mehreren jungen Lageristen umringt, die sich daranmachten, die Pyramide wieder aufzubauen, während sich Ashley und Catherine überschwänglich beim Filialleiter entschuldigten und darauf bestanden, den Schaden zu bezahlen. Der Mann lehnte ihr
Angebot ab, doch Catherine griff in ihre Handtasche und zog fünfzig Dollar heraus, die sie ihm unter die Nase hielt. »Also, dann sorgen Sie doch bitte dafür, dass diese netten jungen Männer, die das Chaos aufräumen, das Ashley und ich verursacht haben, für ihre Hilfe belohnt werden.« »Nein, nein«, wehrte der Filialleiter ab. »Wirklich, Ma’am, das ist nicht nötig.« »Ich bestehe aber darauf.« »Ich auch«, stimmte Ashley ein. Der Filialleiter nahm schließlich zur großen Erleichterung der Jungen kopfschüttelnd das Geld. Anschließend schob Ashley ihren Einkaufswagen in die Schlange vor der Kasse, und Catherine zog eine Kreditkarte heraus, um die Waren zu bezahlen. Beide Frauen achteten darauf, dass auch sie sich einmal deutlich von vorne den Überwachungskameras präsentierten. Sie hegten wenig Zweifel, dass man sich an ihren Einkauf an diesem Abend erinnern würde. Dies war Sallys letzte Anordnung an sie beide gewesen: Sorgt dafür, dass ihr
etwas in der Öffentlichkeit tut, das eure Anwesenheit vor Ort beweist. Das war ihnen wohl gelungen. Sie wussten nicht, was um diese Zeit in einem anderen Teil von Neuengland
passierte, doch sie gingen davon aus, dass es etwas ganz und gar Schreckliches sein musste.
Die Scheinwerfer von Michael O’Connells Wagen strichen über die im Dunkeln liegende Front seines Elternhauses. Das Licht reflektierte im Lack von Vater O’Connells Kleintransporter. Eine Wagentür wurde laut zugekracht, und Scott sah, wie O’Connell den Seiteneingang zur Küche ansteuerte. Der Gang des Sohnes war so energiegeladen, dass er in der Dunkelheit zu leuchten schien. O’Connells Zorn hatte einen kritischen Punkt erreicht, dachte Scott. Wer wütend ist, bemerkt oft nicht die kleinen Dinge, die sich später als wichtig erweisen können. Er beobachtete, wie O’Connell die Seitentür aufriss und nach drinnen verschwand. Er war nur wenige Sekunden lang in Scotts Blickfeld gewesen, doch jede einzelne Bewegung, die Scott gesehen hatte, zeugte davon, dass das, was Ashley zu ihm gesagt hatte, ihn wild entschlossen hierhergetrieben hatte. Scott holte einmal tief Luft, beugte sich vor und rannte die Straße entlang, indem er versuchte, sich im Schatten zu halten. So schnell er konnte, lief er zu O’Connells Wagen in der Einfahrt. Er bückte sich und griff in seinen Rucksack. Als Erstes holte er ein Paar OP-Handschuhe heraus und
zog sie über. Als Nächstes nahm er einen Hartgummihammer und eine Schachtel verzinkter Dachdeckernägel heraus. Er warf einen einzigen Blick auf die Rückseite des Hauses, atmete einmal tief durch und trieb einen der Nägel in die Seitenwand von Michael O’Connells Hinterreifen. Er bückte sich und hörte ein leises Zischen. Dann nahm er noch ein paar Nägel und verstreute sie auf der Einfahrt. Möglichst geräuschlos lief Scott zum Heck von Vater O’Connells Pick-up. Dort ließ er die Schachtel mit den übrigen Nägeln offen auf dem Ladedeck liegen. Auch den Hammer deponierte er in der Nähe – eins von vielen Werkzeugen, die auf dem Pick-up und im Carport herumlagen. Nachdem er seine erste Aufgabe erledigt hatte, lief Scott gemächlich zu seinem Versteck zurück. Als er die Straße überquerte, hörte er laute, wutentbrannte Stimmen aus dem Haus. Er hätte gerne gewartet, um zu verstehen, was sie schrien, doch ihm war klar, dass das nicht ging. Als er die baufällige Scheune erreichte, zog er sein Handy heraus und drückte die Kurzwahltaste. Es klingelte zwei Mal, bevor Hope sich meldete. »Bist du schon in der Nähe?«, fragte er.
»Keine zehn Minuten.« »Es ist gerade so weit. Melde dich, wenn du anhältst.« Hope legte auf, ohne etwas zu erwidern. Sie drückte aufs Gas und fuhr schneller. Sie hatten eine Spanne von mindestens zwan zig Minuten zwischen O’Connells und ihrer eigener Ankunft eingeplant. Sie lagen ziemlich gut in der Zeit, dachte sie. Was sie nicht unbedingt beruhigte.
Im Haus standen Michael O’Connell und sein Vater sich auf wenige Schritt in dem verdreckten Wohnzimmer gegenüber. »Wo ist sie?«, brüllte der Sohn und ballte die Fäuste. »Wo ist sie?« »Wo ist wer?«, erwiderte der Vater. »Ashley, verdammt! Ashley!« Er sah sich mit wilden Blicken um. Der Vater lachte spöttisch. »Also, das ist ein Ding, wirklich ein Ding.« Michael O’Connell wirbelte wieder zu ihm herum. »Versteckt sie sich? Wo hast du sie hingeschafft?«
Der alte O’Connell schüttelte den Kopf. »Ich weiß immer noch nicht, was du da faselst. Und wer zum Teufel ist Ashley? Ein Mädchen aus deiner Highschool-Zeit?« »Nein, du weißt sehr wohl, wen ich meine. Sie hat dich angerufen. Sie sollte hier sein. Sie hat gesagt, sie ist auf dem Weg zu dir. Hör auf, mich zu verarschen, oder bei Gott …« Michael O’Connell schwang die Faust. »Oder du tust was?«, fragte der Vater in verächtlichem Ton. Der Alte blieb ruhig. Er nahm sich die Zeit, an einer Flasche Bier zu nippen, während er mit zusammengekniffenen Augen seinen Sohn anstarrte. Dann ging er bewusst zu seinem Polstersessel hinüber und ließ sich hineinfallen, um einen ausgiebigen Schluck aus der Flasche zu nehmen. Er zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, was das Ganze soll, Junge. Ich hab keine Ahnung von einer Ashley. Du lässt dich jahrelang nicht blicken, dann rufst du plötzlich an, kommst her und schreist wegen irgend so ’ner Fotze rum, wie ein Grünschnabel an der Highschool. Du stellst mir Fragen zu Sachen, von denen ich nicht den blassesten Schimmer habe, willst dies und das wissen, ohne dass ich verflucht noch mal die leiseste Ahnung habe, was du meinst. Wieso köpfst du nicht ein Bier, beruhigst dich erst mal und hörst auf, dich wie ein kleines Kind zu
benehmen?« Während er sprach, deutete er auf den Kühlschrank in der Küche. »Ich will nichts trinken. Ich will überhaupt nichts von dir – ich hab noch nie was von dir gewollt. Ich will nur wissen, wo Ashley ist.« Der Vater zuckte erneut die Achseln und breitete die Arme aus. »Ich weiß überhaupt nicht, von wem und von was die Rede ist. Du redest wirres Zeug.« Michael O’Connell kochte innerlich und zeigte mit dem Finger auf seinen Vater. »Du bleibst da sitzen, Alter. Bleib einfach da sitzen und rühr dich nicht vom Fleck. Ich seh mich um.« »Ich hab nicht vor, irgendwo hinzugehen. Du willst dich umsehen? Tu dir keinen Zwang an. Hat sich nicht viel verändert, seit du ausgezogen bist.« Der Sohn schüttelte den Kopf. »Doch, hat es«, sagte er bitter, während er auf dem Weg durch das kleine Wohnzimmer einige Zeitungen aus dem Weg trat. »Du bist um einiges älter und wahrscheinlich betrunkener, und der Saustall hier ist um einiges dreckiger.« Der Vater beäugte seinen Sohn misstrauisch, als der an ihm vorbeischoss. Er blieb in seinem Sessel sitzen, während der Jüngere die hinteren Räume betrat.
Als Erstes ging er in das Zimmer, das einmal seins gewesen war. Sein altes schmales Bett war immer noch in die Ecke gequetscht, und ein paar von seinen AC/DC- und Slayer-Postern hingen immer noch an der Wand. Ein paar billige Sporttrophäen, ein altes Football-Hemd, das er an die Wand ge nagelt hatte, ein paar Bücher von der Highschool und ein leuchtend rotes Gemälde von einem Chevrolet Corvette nahmen den übrigen Platz ein. Er rannte durch das Zimmer und riss den Kleiderschrank auf. Er hatte tatsächlich halb damit gerechnet, Ashley darin zu finden, doch außer ein, zwei alten Jacken, die nach Staub und Schimmel rochen, sowie ein paar Kisten mit uralten Videospielen war er leer. Er trat gegen eine Kiste und verstreute den Inhalt quer über den Boden. Alles im Zimmer erinnerte ihn an etwas, das er hasste: was er war und wo er herkam. Er sah, dass sein Vater einfach viele der alten Sachen seiner Mutter aufs Bett geworfen hatte – Kleider, Hosenanzüge, Mäntel, Stiefel, ein paar bemalte Schachteln mit billigem Schmuck und ein Fototriptychon von ihm mit seinen Eltern, das bei einem ihrer wenigen Urlaube auf einem Campingplatz oben in Maine entstanden war. Das Bild rührte nur an schreckliche Erinnerungen: zu viel Alkohol, zu viel Streit und eine schweigsame Heimfahrt. Es war, als hätte sein Vater einfach alles, was ihn an seine tote Frau und seinen entfremdeten Sohn erinnerte, in dieses Zimmer geworfen, wo es Staub und den Geruch des Alters ansammelte.
»Ashley!«, rief er laut. »Wo zum Teufel steckst du?« Aus dem Wohnzimmer rief sein Vater: »Du wirst da nix und niemand finden, aber such nur, falls du dich dann besser fühlst.« Dann lachte er – ein falsches, aufgesetztes Lachen, das noch mehr Wut auslöste. Michael O’Connell biss die Zähne zusammen und riss die Bade zimmertür auf. Er zog einen Duschvorhang zurück, der nach Moder und Schimmel roch. Ein Pillendöschen auf dem Waschbeckenrand fiel zu Boden, so dass sich die Tabletten quer über den Fliesenboden verstreuten. Er bückte sich und hob das Plastikdöschen auf, sah, dass es ein Herzmittel war, und lachte. »Die alte Pumpe macht dir zu schaffen, wie?«, sagte er laut. »Lass meine Sachen gefälligst in Ruhe«, gab der Vater zur Antwort. »Du kannst mich mal«, flüsterte Michael O’Connell. »Hoffentlich tut es noch ordentlich weh, bevor es dich umbringt.« Er warf das Döschen wieder zu Boden, wo er es zusammen mit den Pillen zertrat. Er lief in das zweite Schlafzimmer. Das französische Bett war nicht gemacht, die Wäsche
schmutzig. Es roch nach Rauch, Bier und dreckigen Kleidern. Ein Wäschepuff aus Plastik quoll von Sweatshirts und Unterwäsche über. Auf dem Nachttisch stand eine weitere Phalanx Tablettendosen neben halbvollen Schnapsflaschen und einem defekten Wecker. Er leerte sämtliche Döschen in die Hand und steckte die Tabletten in die Tasche, bevor er die Döschen aufs Bett warf. Kleine Überraschung, wenn du sie brauchst, dachte er. Michael O’Connell ging zum Schrank und riss die Doppeltür auf. Die eine Hälfte – diejenige, die einmal seiner Mutter gehört hatte – war leer. Die andere füllten die Kleider seines Vaters – sämtliche Hosen, Hemden, Sportjacketts und Krawatten, die er nie trug. Er ließ die Türen offen und ging zu der Glasschiebetür, die zum Garten führte. Er zog daran. Doch sie war abgeschlossen. Er drückte das Gesicht an die Scheibe, um in die Dunkelheit zu spähen. Er schloss auf und trat nach draußen, ohne auf seinen Vater zu reagieren, der hinter ihm brüllte: »Was soll das nun wieder werden?« Michael O’Connell sah nach rechts und links. Da hinten gab es kein Versteck, dachte er. Er drehte sich um und kehrte ins Haus zurück. »Ich seh im Keller nach«, rief er, »Wenn du mir die Mühe ersparen willst, sag mir, wo sie ist, Alter, oder muss ich dich ein bisschen unsanft aushorchen?«
»Tu, was du nicht lassen kannst. Sieh ruhig im Keller nach. Und weißt du was? Du machst mir auch jetzt keine Angst, nicht mehr als früher.« Das werden wir ja sehen, dachte Michael O’Connell. Er ging zu der Tür, die zum Keller führte. Es war ein dunkler, muffiger Ort. Voller Spinnweben und Staub. Mit neun Jahren hatte ihn seit Vater einmal hier eingesperrt. Seine Mutter war weg gewesen, und er hatte etwas getan, um den Alten zu ärgern. Sein Vater hatte ihn zuerst gegen die Schläfe geschlagen und dann die Kellertreppe hinuntergestoßen, wo er ihn eine Stunde lang im Dunkeln gelassen hatte. Michael O’Connell stand auf dem obersten Treppenabsatz. Was er an seinem Vater und seiner Mutter am meisten gehasst hatte, war die seltsame Tatsache, dass all der Streit, all das Gebrüll und der Schlagabtausch sie nur noch stärker zusammengeschweißt hatten. All das, was sie normalerweise auseinandergebracht hätte, das hatte ihre Beziehung zementiert. »Ashley!«, brüllte er. »Bist du da unten?« Eine nackte Glühbirne an der Decke warf ein wenig Licht in die hintersten Winkel. Auf der Suche nach ihr spähte er in jeden Schatten. Der Keller war leer.
Er merkte, wie ihm die Wut die Brust einschnürte und Hitzewellen ihm in die Arme und die geballten Fäuste schossen. Er drehte sich um und kehrte in das kleine Wohnzimmer zurück, wo sein Vater auf ihn wartete. »Sie ist da gewesen, stimmt’s?«, fragte Michael O’Connell. »Noch nicht lange her, habe ich recht? Um mit dir zu reden. Ich hab’s nur nicht rechtzeitig geschafft, und dann hat sie dir gesagt, du sollst mich belügen.« Der Ältere zuckte die Achseln. »Du redest immer noch dummes Zeug.« »Sag mir die Wahrheit.« »Ich sage die Wahrheit. Ich hab keinen Schimmer, was du da faselst.« »Wenn du mir nicht sagst, wie es gewesen ist, was sie dir gesagt hat, als sie zu dir kam, und wohin sie wollte, dann tu ich dir weh, alter Mann. Ich mach keine Witze. Ich kann das, und ich mach das – und glaube mir, ich kann dir mächtig weh tun, und du bist mir so scheißegal wie schon immer. Also, spuck’s endlich aus: Was hast du zu ihr gesagt, als sie dich anrief?« »Du bist entweder verrückter, als ich mich erinnern kann, oder dümmer. Im Moment ist mir nicht klar, was von beidem.« Der alte Mann hob die Flasche an den Mund und lehnte sich zurück.
Michael O’Connell trat vor und schlug ihm mit einer einzigen, gezielten Bewegung die Flasche aus der Hand. Sie zerbarst an der Wand. Der Vater reagierte kaum, auch wenn er auf die zerbrochene Flasche starrte, bevor er sich wieder seinem Sohn zuwandte. »Es war schon immer die Frage, wer von uns beiden bösartiger würde, nicht wahr?« »Leck mich, Alter. Beantworte meine Frage.« »Hol mir erst ein neues Bier.« Michael O’Connell beugte sich nach unten, packte seinen Vater am Hemd und zog ihn halb aus dem Sessel. Im selben Moment schoss die Rechte des Vaters nach vorne und packte den Sohn am Kragen. Er verdrehte den Sweater so, dass es ihm den Hals einschnürte. Ihre Gesichter waren nur Zentimeter voneinander entfernt. Dann stieß O’Connell seinen Vater zurück, und der alte Mann ließ seinen Sohn los. Michael O’Connell ging zum Fernseher. Einen Moment lang starrte er ihn an. »Zu viel Glotze ist nicht gut für dich, hast du das nicht gewusst?« Michael O’Connell ließ die spöttischen Worte einwirken,
dann holte er mit dem Fuß aus und versetzte dem Apparat einen Tritt im Karatestil, so dass er hintenüberkrachte und mit zerbrochenem Bildschirm am Boden lag. »Bastard. Dafür wirst du bezahlen.« »Ach ja? Was muss ich noch kaputtmachen, damit du mir endlich erzählst, was passiert ist, als sie dich angerufen hat? Wie lange ist sie hier gewesen? Was hat sie dir versprochen? Was hast du ihr versprochen?« Bevor sein Vater antworten konnte, ging O’Connell zu einem Bücherregal hinüber und fegte mit der Hand ein Fach mit Nippes und Fotos leer. »Das waren nur ein paar Überbleibsel von deiner Mutter. Die bedeuten mir nix.« »Du willst also, dass ich mich umsehe, bis ich was finde, das dir was bedeutet? Was hat sie zu dir gesagt?« »Junge«, erklärte der alte Mann zwischen zusammengepressten Lippen, »was immer diese Fotze dir bedeuten mag, ich hab keine Ahnung. Genauso wenig weiß ich, wo sie dich reingeritten hat. Steckst du in der Scheiße? Probleme mit Geld?« Michael O’Connell sah seinen Vater an. »Was faselst du da?«
»Wer ist hinter dir her, Junge? Ich glaube nämlich, dass sie dich jeden Moment finden, und dann werden sie nicht zimperlich sein. Aber das weißt du ja vielleicht schon.« »Na schön«, sagte Michael O’Connell langsam. »Deine letzte Chance, bevor ich rüberkomme und dir die Prügel heimzahle, die ich als Kind von dir eingesteckt habe. Hat dich heute ein Mädchen namens Ashley angerufen? Hat sie gesagt, sie bräuchte deine Hilfe, um mit mir Schluss zu machen? Hat sie gesagt, sie wäre auf dem Weg zu dir, um mit dir zu reden?« Der Senior sah seinen Sohn weiter wütend und mit zusammengekniffenen Augen an. Doch durch den Nebelschleier der Wut, die jeden Moment zu explodieren drohte, presste er hervor: »Nein, nein. Verdammt, keine Ashley. Kein Mädchen. Überhaupt nichts von dem, was du da faselst. Und das ist die verfluchte Wahrheit, ob du es glaubst oder nicht.« »Du lügst. Du alter Mistkerl, du lügst.« Der alte Mann schüttelte den Kopf und lachte, was Michael O’Connell nur noch mehr aufbrachte. Er fühlte sich, als balancierte er auf einem Fenstersims und versuchte, mit aller Macht, das Gleichgewicht zu wahren. Alles in ihm schrie danach, dem alten Mann ins Gesicht zu schlagen. Doch er holte tief Luft und sagte sich, dass er zuerst herausfinden sollte, was hier los war, weil es einen Grund
dafür geben musste, dass er hierhergelockt worden war. Er sah nur nicht, welchen. »Sie hat gesagt …« »Ich weiß nicht, was sie gesagt hat. Aber Miss Unbekannt hat hier weder angerufen noch sich an der Küchentür blicken lassen.« Michael O’Connell trat einen Schritt zurück. »Ich sehe nicht …« Ihm drehte sich alles im Kopf. Er begriff nicht, wieso Ashley ihn zu seinem Elternhaus locken sollte, wenn sie nicht etwas damit bezweckte. Nur was, fragte er sich. »Mit wem hast du Ärger?«, fragte der Alte erneut. »Mit keinem. Was willst du damit sagen?«, fauchte Michael, wütend darüber, dass er in seinem Gedankengang unterbrochen wurde. »Worum geht es? Drogen? Hast du mit ein paar Jungs einen kleinen Raubüberfall gedreht und die Beute allein eingesackt? Was hast du angestellt, dass Typen mit Geld nach dir suchen? Hast du ihnen was gestohlen, das ihnen gehört?« »Ich habe keinen blassen Schimmer, wovon du redest.« Das selbstgefällige Grinsen seines Vaters verwirrte ihn. Im selben Moment wurde ihm klar, dass der alte Mann sich eigentlich über den zerbrochenen Fernseher viel mehr hätte
aufregen müssen. Das kann nur bedeuten, dass er mit einem neuen rechnet, dachte er. »Wen hast du reingelegt, Junge? Weil nämlich jemand richtig Wut auf dich hat.« »Wer behauptet das?« Der alte Mann zuckte die Achseln. »Ich will nichts gesagt haben, ich weiß nur, was ich weiß.« Michael O’Connell streckte sich. Das ergibt alles keinen Sinn, dachte er. Oder vielleicht doch. »Alter, ich tu dir weh, wann begreifst du das endlich? Du bist alt und schwach, und ich werde dir große Schmerzen zufügen. Und jetzt sag mir endlich, wovon du redest!«, schrie er quer durchs Zimmer. Mit wenigen großen Schritten beugte er sich erneut über seinen Vater, der im Sessel sitzen blieb und grinste, während er sich fragte, ob er seinen Sohn lange genug festgehalten hatte, damit der mysteriöse Mr. Smith die entsprechenden Vorkehrungen treffen konnte, welche auch immer.
Nur wenige hundert Meter vom O’Connell’schen Haus entfernt entdeckte Hope in einer angrenzenden Straße einige alte, zerbeulte Autos und Pick-ups mit HarleyDavidson-Flügeln. Aus einem heruntergekommenen Haus
im Ranch-Stil, das ein Stück von der Straße zurückgesetzt war, drang Licht, und sie hörte laute Stimmen sowie harte Rockmusik. Ein kleines Familientreffen, dachte sie. Bier und Pizza, mit Methamphetamin zum Nachtisch. Sie parkte den Leihwagen einen Meter hinter einem der abgestellten Fahrzeuge, so dass sie ohne weiteres als Besucher durchging. So schnell sie konnte, zog sie sich den schwarzen Overall an, den Sally besorgt hatte. Sie stopfte sich eine marineblaue Kapuzenmütze mit Gesichtsmaske in die Tasche. Dann schlüpfte sie in OP- und anschließend in ein Paar Lederhandschuhe. Sie wickelte sich ein paar Lagen Isolierband um Hand- und Fußgelenke, so dass zwischen Overall und Handschuhen beziehungsweise Straßenschuhen keine nackte Haut freilag. Sie warf sich den Rucksack mit der Pistole über die Schulter und machte sich im Laufschritt auf den Weg zu O’Connells Haus, wo sie dank ihrer Kleidung mit der Nacht verschmolz. Sie zog das Handy heraus und wählte Scotts Nummer. »Ich bin da, ein paar hundert Meter entfernt. Wonach muss ich suchen?« »Der Junge fährt einen fünf Jahre alten roten Toyota, mit Kennzeichen von Massachusetts«, sagte Scott. »Der Vater hat einen schwarzen Pick-up, der halb in einem Carport
steht. Die einzige Außenbeleuchtung befindet sich an der seitlichen Nebentür. Da gehst du rein.« »Sind sie noch …« »Ja, ich hab gehört, wie drinnen etwas zu Bruch gegangen ist.« »Sonst keiner da?« »So weit ich sehe, nicht.« »Wo sollte ich …« »Zum Carport. Rechts. Er ist mit allen möglichen Motorteilen und mit Werkzeug übersät. Von da aus kannst du sie sehen, ohne gesehen zu werden.« »In Ordnung«, meinte Hope. »Halte die Augen auf. Ich melde mich wieder.« Scott legte auf. Er lehnte sich an die Seite der alten, baufälligen Scheune und starrte geradeaus. Es gab sehr wenig Licht. Keine Straßenlaternen in dieser ländlichen Gegend. Solange sich Hope im Schatten hielt, ging es ihr gut. Er stockte. Die Vorstellung, dass es ihr gutgehen könnte, war absolut falsch. Keinem von ihnen würde es gut gehen, wurde ihm bewusst. Außer Ashley vielleicht, und sie war
der ausschließliche Grund, weshalb sie das alles machten. Wenn er in dieser entscheidenden Nacht schon vor Angst wie gelähmt war, fragte sich Scott, wie sollte dann erst Hope ihre Zweifel in den Griff bekommen, die schließlich jene Bühne, die sie alle drei miteinander errichtet hatten, als Einzige betreten musste? Im Laufschritt und tief gebückt, mehr wie ein wildes Tier als die Athletin, die sie einmal gewesen war, durchquerte Hope den Gartenstreifen seitlich vom Haus und schlich sich zur Rückseite des Carports. Dort drehte sie sich um, ließ sich auf den Boden nieder und nahm sich einen Moment Zeit, um sich zu orientieren. Die nächsten Häuser waren mindestens dreißig, vierzig Meter entfernt auf der anderen Straßenseite. Sie legte den Kopf an die Carport-Wand und schloss die Augen. Hope versuchte eine Art Bestandsaufnahme ihrer Emotionen, als könnte sie so diejenigen ausfindig machen, die ihr in den nächsten Minuten die nötige Kraft geben würden. Sie rief sich ins Gedächtnis, wie der tote Nameless in ihren Armen lag, und tauschte dabei den Hund gegen Ashley. Der Gedanke machte sie hart. Noch weitere eiserne Kraft schöpfte sie aus der Vorstellung, dass O’Connell sich auch an Catherine rächen
könnte. Sie wusste, dass ihre Mutter nach Kräften kämpfen würde, doch bei einer solchen Auseinandersetzung hätte die alte Frau kaum eine Chance. Sie summierte sämtliche Gefahren, die ihnen allen drohten, und stellte die Gleichung auf. Dann versuchte sie, Zweifel und Unsicherheit zu subtrahieren. Was so logisch und eindeutig ausgesehen hatte, als sie zu dritt in ihrem behaglichen Wohnzimmer gesessen hatten, erschien jetzt falsch, pervers und vollkommen unmöglich. Ihr brach der Schweiß aus, und sie wusste, dass ihre Hände zitterten. Wer bin ich?, fragte sie sich. Kurz nach dem Tod ihres Vaters, da hatte es einen Moment gegeben, in dem sie richtig verängstigt war. Es ging nicht so sehr um die Angst, allein gelassen zu werden; vielmehr ging es um die Sorge, die Erwartungen, die er in sie gesetzt hatte, nicht erfüllen zu können. Sie versuchte sich einzuschärfen, ihr toter Vater hätte sie genau da sehen wollen, wo sie jetzt war – den Kopf an den Schuppen gelehnt und in die Nacht getaucht, während ihr von unten die Feuchtigkeit in die Kleider zog. Er würde nachempfinden können, dass man, um andere zu beschützen, ein Risiko auf sich nahm. Er hatte immer gewollt, dass sie die Dinge in die Hand nahm, zum Guten wie zum Schlechten. Du bist der Boss, hörte sie ihn sagen. Hope hatte das Gefühl, in diesem Moment tatsächlich am
Rand des Wahnsinns zu sein. Bewahre einen klaren Kopf, forderte sie sich auf. Sie streifte sich die Mütze über Kopf und Gesicht. Dann griff sie in den Rucksack und zog die Waffe aus dem Plastikbeutel. Sie legte den Finger um den Abzug. Zum ersten Mal in ihrem ganzen Leben hielt sie eine Schusswaffe in der Hand. Sie wünschte sich, mit Waffen mehr Erfahrung zu haben, merkte jedoch zu ihrem Staunen, dass von dem stählernen Kolben eine unbekannte, beinahe berauschende Energie ausging. Hope rutschte bis zur Ecke des Carports und horchte auf die wütenden Stimmen im Haus, während sie den richtigen Moment abwartete.
»Ich muss wissen, was los ist«, stieß Michael O’Connell hervor. Aus jedem Wort, das ihm über die Lippen kam, sprach der jahrelang angestaute Hass auf den Mann, der ihm gegenüber selbstgefällig in seinem Sessel wippte – und die Liebe zu Ashley. Er fühlte, wie sein Puls raste; ihm war fast schwindelig vor Zorn. »Was soll das Ganze eigentlich? Du kommst hierher und brüllst was von einem Mädchen, während du dir viel mehr Gedanken machen solltest, wen du da zur Weißglut
gebracht hast«, entgegnete sein Vater und zerschnitt mit der Hand die Luft. »Ich weiß nicht, was du da faselst. Ich hab niemanden zur Weißglut gebracht.« Der alte Mann zuckte provozierend die Achseln. Michael O’Con nell machte einen Schritt nach vorn und ballte die Fäuste, während sich der Senior endlich aus dem Sessel hochrappelte und seinem Sohn die Schulter entgegenhielt. »Du meinst, du bist alt genug und stark genug, um es mit mir aufzunehmen?« »Das fragst du lieber nicht, alter Mann. Du hast einen Bierbauch und bist ein bisschen aus der Form geraten. Bald hast du vielleicht wirklich was am Rücken, nicht wie damals, als du nur simuliert hast. Du warst richtig gut, wenn’s darum ging, Frauen und Kinder zu verprügeln, und auch das ist schon ’ne ganze Weile her. Ich bin kein Kind mehr. Denk drüber nach.« Bei dem frostigen Ton zuckte der Alte zusammen. Dann schwellte er die Brust und schüttelte den Kopf. »Ich bin damals locker mit dir fertig geworden. Du meinst, du bist erwachsen geworden, aber ich würde dir immer noch raten, dich nicht mit mir anzulegen. Ich kann dich immer noch kleinkriegen.« »Du warst damals ein Schwächling und heute auch. Mom
hat es mit dir aufgenommen. Wenn sie nicht betrunken war, konntest du sie nicht mal schlagen. So ist es schließlich passiert, nicht wahr? In der Nacht, in der sie starb. Sie war zu betrunken, um sich zu wehren. Du hast deine Chance gesehen und sie umgebracht.« Der Senior knurrte verächtlich. »Ich hätte nie für dich lügen sollen. Ich hätte den Cops von Anfang an die Wahrheit sagen sollen«, erwiderte Michael O’Con nell bitter. »Treib’s nicht zu weit«, antwortete der Vater kalt. »Halt dich aus Sachen raus, die dich nichts angehen.« Während ihre Worte leiser, aber hasserfüllter wurden, waren sich die Männer auf ungefähr einen Meter näher gekommen und standen sich nun wie Hunde gegenüber, die jeden Moment vom Knurren zum Beißen übergehen konnten. »Meinst du wirklich, du kannst mich umbringen und damit durchkommen wie bei ihr? Ich glaube nicht, alter Mann.« Der Vater schoss mit einem Ruck nach vorn und gab seinem Sohn eine Ohrfeige, dass es durchs ganze Zimmer hallte. Michael O’Connell grinste böse. Seine Rechte schnellte heraus und packte seinen Vater an der Gurgel. Dem alten
Mann die Luft abzudrücken, verschaffte ihm augenblicklich Befriedigung. Als er unter seinem Griff spürte, wie sich Muskeln zusammenzogen und Sehnen eindrückten, fühlte er eine fast übermächtige Leidenschaft. In Panik griff der Ältere nach dem Handgelenk des Sohnes und grub ihm die Nägel ins Fleisch, um sich zu befreien, während er kaum noch röcheln konnte. Als das Gesicht seines Vaters sich bedenklich rot färbte, stieß ihn Michael O’Connell plötzlich zurück. Der alte Mann taumelte gegen die Kühlbox und verschüttete alles, was darauf stand. Im Fallen griff er nach der Lehne seines Sessels und riss ihn um. Er lag auf dem Rücken am Boden und blickte erstaunte nach oben. Sein Sohn lachte und spuckte auf den alten Mann. »Bleib, wo du bist, Alter, bis du Schimmel ansetzt. Aber merk dir eins: Falls du je einen Anruf von Ashley bekommst, oder von einem ihrer Leute, und du ihnen versprichst, ihnen irgendwie zu helfen, dann komm ich zurück und bring dich um. Vorher werde ich dich so quälen, dass du mich anflehst aufzuhören. Hast du das verstanden? Am liebsten würde ich alles, was meine Vergangenheit betrifft, begraben – würde mich bedeutend besser fühlen. Und den Anfang mach ich mit dir.« Der Vater blieb wie gelähmt am Boden liegen. Der Sohn sah die angsterfüllten Augen des Alten und dachte zum ersten Mal an diesem Abend, dass sich die Fahrt Richtung Norden am Ende doch noch gelohnt haben könnte.
»Du solltest dir wünschen, mich nie wiederzusehen, du jämmerlicher alter Mann, denn das nächste Mal endest du in einer Kiste in der Erde, wo du hingehörst, wo du schon seit Jahren hingehörst.« Michael O’Connell drehte sich um und ging, ohne einen einzigen Blick zurückzuwerfen, zur Nebentür hinaus. Die kühle Nachtluft schlug ihm so unangenehm wie eine weitere schlechte Erinnerung entgegen, doch er konnte an nichts anderes denken als an das Spielchen, das Ashley mit ihm getrieben hatte, und an die Frage, wie sie annehmen konnte, dass sein Vater ihr von Hilfe wäre. Einer hatte gelogen, fragte sich nur, wer. Er stieg ein, startete den Wagen und gab Gas. Er kam zu dem Schluss, dass die Antwort auf diese Frage nicht warten konnte.
Hope hatte den Streit und das anschließende Gepolter eines kurzen Kampfes mit angehört. Sie packte die Automatik und hielt den Atem an, als sie nur wenige Meter von ihrem Versteck entfernt Michael O’Connell aus der Tür stürzen sah. Sie wartete, bis er rückwärts aus der Einfahrt gebraust war und mit Vollgas in die Nacht hinausfuhr. Jetzt, wusste sie, kam der entscheidende Moment.
Sally hatte ihr eingeschärft: Zögere keinen Augenblick. Sobald er weg ist, musst du rein. Sie stand auf. Hope hatte Sallys Stimme noch im Ohr.
Zögere nicht. Warte nicht. Geh sofort rein. Sag kein Wort, Drück einfach ab. Schau dich nicht um. Verlasse das Haus. Hope holte einmal tief Luft und trat hinter dem Carport hervor. Rasch durchquerte sie den Lichtkegel rund um den Nebeneingang. Sie senkte den Blick, sah, wie ihre Linke den Türknauf packte, und stürzte ins Haus. Hope stand in der Küche, doch durch die Tür gegenüber konnte sie ins Wohnzimmer sehen, so wie Scott es beschrieben hatte. Wie gelähmt stand sie da und beobachtete, wie Michael O’Connells Vater sich vom Boden aufraffte. Er drehte sich zu ihr um. Er wirkte nicht erstaunt. »Sie kommen von Mr. Jones?«, fragte er, während er sich aufrichtete und die Kleider abklopfte. »Sie haben den Mistkerl knapp verpasst. Das war eben sein Wagen.« Hope hob die Waffe und nahm eine schussbereite Stellung
ein. O’Connell senior sah sie verständnislos an. »Hey«, sagte er, »Sie sind hinter dem gottverdammten Jungen her, nicht hinter mir.« Plötzlich wirkte alles auf der Welt überdeutlich. Jede Farbe war greller, jedes Geräusch war lauter, jeder Geruch durchdringender. Hope hatte das Gefühl, als hallte ihr Atem in ihren Ohren nach – ein nervtötendes Rauschen. Sie versuchte, nicht darüber nachzudenken, was sie jetzt tun würde. Sie zielte direkt auf die Brust des alten Mannes und drückte ab. Und nichts geschah.
Der Kommissar brachte eine große Schachtel mit einem aufgebrochenen roten Siegel an seinen Tisch. Mit einem dumpfen Knall ließ er sie fallen und lehnte sich mit einem zarten Grinsen vor. »Sie wissen«, fragte er, »wie sich
Kinder zu Weihnachten fühlen, wenn sie auf all die eingepackten Geschenke unter dem Weihnachtsbaum blicken?« »Sicher, aber was …« »Beweismaterial zu sammeln hat was davon. Die Kinder glauben immer, das größte Päckchen wäre auch das beste, aber oft ist es nicht so. Das wertvollste Geschenk findet sich nicht selten in einer bescheideneren, weniger bunten Verpackung. Gewissermaßen passiert genau das bei uns. Der kleinste Fund könnte sich als der wertvollste erweisen, wenn es erst mal zum Prozess kommt. Deshalb muss man, wenn man an einen Tatort gelangt oder wenn man einen Durchsuchungsbefehl ausführt, jedes Detail berücksichtigen.« »Und bei diesem Fall?« Der Kommissar grinste. Er zog eine Pistole heraus, die in einem ebenfalls rot versiegelten Plastikbeutel steckte. Er reichte mir die Waffe, und ich betrachtete sie durch die transparente Hülle. Ich sah die Reste des Rußpulvers am Griff und am Lauf. »Seien Sie vorsichtig«, sagte er. »Ich glaube zwar nicht, dass das blöde Ding geladen ist, aber der Ladestreifen steckt immerhin drin, ich kann es also nicht ausschließen.« Er lächelte. »Sie glauben nicht, wie viele Unfälle mit
beinahe tödlichem Ausgang in der Asservatenkammer passieren, wenn die Leute mit Schusswaffen herumfuchteln, die vermeintlich nicht geladen sind.« Ich hielt die Waffe vorsichtig in der Hand. »Ziemlich mickrig.« Der Kommissar nickte. »Miststück«, meinte er und schüttelte leicht den Kopf. »Billiger geht’s nicht. Stammt von ’ner Firma in Ohio, die jedes Teil maschinell stanzt und dann zusammenschraubt, in ’nen Karton packt und an irgendeinen zwielichtigen Händler schickt. Ein gutes Waffengeschäft würde so einen Mist niemals führen. Und ein richtiger Profiwürde sie nicht benutzen.« »Funktioniert aber offenbar trotzdem.« »Halbwegs. Fünfundzwanziger Automatik. Kleinkaliber. Leichtgewicht. Professionelle Killer – und wir haben, wie Sie sich denken können, nicht alle Tage welche von der Sorte – mögen Waffen Kaliber .22 und .25, weil man da leicht einen selbstgebastelten Schalldämpfer draufbekommt, und sie, wenn man sie mit Magnum-Kugeln bestückt, saubere Arbeit leisten. So einen Schrott würden sie jedenfalls nie benutzen. Zu unzuverlässig. Nicht leicht zu handhaben, sowohl die Sicherung als auch die Schussvorrichtung klemmen schon mal, und wenn sie nicht
gerade aus nächster Nähe abgefeuert wird, ist sie auch nicht gerade präzise. Viel Durchschlagkraft darf man genauso wenig erwarten. Die kann kaum einen Pitbull oder Vergewaltiger von mittlerem Körperbau abhalten, es sei denn, man trifft ihn gleich beim ersten Schuss in die Pumpe oder eine andere tödliche Stelle.« Als ich die Waffe hin und her wendete, schmunzelte er. »Oder man feuert sie aus nächster Nähe ab. Wie zum Beispiel bei der Liebe.« Wieder grinste er. »Aber ganz allgemein gesprochen, ist es nicht klug, damit der Person, die man töten will, allzu nahe zu kommen.« Ich nickte, und der Kommissar plumpste wieder in seinen Sessel. »Sehen Sie, man lernt nicht aus.« Ich hielt die Pistole noch einmal hoch und gegen das Licht, als könnte sie mir etwas verraten. »Trotzdem«, fügte der Kommissar hinzu, »egal, wie schlecht die Waffe ist, hat sie hier offenbar ihre Schuldigkeit getan. Mehr oder weniger jedenfalls.«
44 Entscheidungen
Hope begriff augenblicklich, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Während ihr die wildesten Möglichkeiten im Kopf herumschwirrten, legte sie den Daumen an den Sicherungshebel und drückte ihn herunter, um dafür zu sorgen, dass er schussbereit war. Mit der Linken fuchtelte sie an der Kammer, um eine Ladung einzulegen – alles Dinge, die sie logischerweise hätte erledigen sollen, bevor sie das Haus betrat. Der Verschluss schnappte zurück und spannte die Waffe. Es war ein schrecklicher Gedanke, dass weder Sally noch sie auch nur daran gedacht hatten, zu überprüfen, ob die Waffe richtig geladen war. In dieser Sekunde wusste sie nicht, ob sie fliehen oder weitermachen sollte. O’Connells Vater, der sich gerade anschickte, die Hände hochzunehmen, stieß einen wütenden Schrei aus und stürzte sich quer durch den Raum auf Hope. Als sie die Waffe zum zweiten Mal schussbereit hatte, war er ihr bereits gefährlich nahe. Als sie abdrückte, warf er sich auf sie.
Sie spürte den Rückschlag der Waffe in ihrer Hand, hörte ein schnappendes Geräusch und einen dumpfen Schlag, dann taumelte sie zurück, prallte gegen den Küchentisch, so dass er zu Boden krachte und leere Schnapsflaschen durch den Raum flogen, um an Wänden und Schränken zu zersplittern. Hope fiel zu Boden und bekam einen Moment keine Luft. O’Connells Vater, der furchterregende Urlaute von sich gab, polterte auf sie. Er krallte sich in ihre Gesichtsmaske und versuchte, ihr die Kehle zuzudrücken, während er wild um sich schlug. Ob ihr erster Schuss ihn getroffen hatte, konnte sie nicht sagen. Sie versuchte mit aller Macht, die Waffe zu heben und noch einen Schuss abzufeuern, doch da legte O’Connell seine Hand wie einen Schraubstock um ihre und versuchte, die Waffe wegzuschleudern. Hope holte mit dem Bein aus und stieß ihm das Knie in die Leiste, so dass er vor Schmerz stöhnte, ohne dass es seinen Angriff dämpfte. Er war stärker als sie, das wusste sie sofort, und er versuchte, die Pistole nach hinten zu biegen, so dass der Lauf auf ihre Brust und nicht auf seine zeigte. Gleichzeitig drosch er mit der freien Hand auf sie ein. Die meisten Schläge gingen daneben, doch es trafen sie immer noch genug, dass ihr der Schmerz wie rote Schleier hinter die Augen trat. Wieder rammte sie das Knie hoch, und diesmal warf die Wucht sie beide nach hinten, so dass noch mehr
Gegenstände durch den Raum flogen. Ein Papierkorb fiel um, und der Kaffeesatz aus alten Filtertüten vermischt mit Eierschalen breitete sich über den Boden aus. Sie hörte noch mehr Glas zersplittern. O’Connell war ein erfahrener Kneipenschläger und wusste, dass die meisten Kämpfe durch die ersten Treffer entschieden wurden. Er war verwundet und fühlte, wie ihm der Schmerz durch den ganzen Körper schoss, doch es gelang ihm einigermaßen, ihn zu ignorieren und mit aller Kraft zu kämpfen. Weit mehr als Hope spürte er tief in seinem Innern, dass dieser Kampf der wichtigste in seinem Leben war. Wenn er nicht gewann, würde er sterben. Er drückte auf die Waffe und versuchte, sie auf den Körper seines Angreifers zu richten. Dabei war ihm durchaus bewusst, dass er bei einem Kampf mit seiner betrunkenen Frau vor vielen Jahren dasselbe getan hatte. Hope hatte das Stadium der Panik bereits hinter sich gelassen. Noch nie im Leben hatte sie eine solche Muskelkraft wie diese gegen sich gehabt. Das Adrenalin dröhnte in ihren Ohren, und sie schnappte nach Luft, um Kraft zu schöpfen und zu siegen. Mit einem gewaltigen Stoß schleuderte sie O’Connells Vater zur Seite, mit dem Ergebnis, dass sie beide gegen eine Theke stießen. Geschirr und Besteck flogen ihnen um die Ohren. Die Bewegung schien Wirkung zu zeigen. O’Connells Vater schrie auf vor Schmerz, und Hope sah,
wie sich an dem weißen Anstrich des Schranks ein roter Blutstreifen entlangzog. Ihr erster Schuss hatte Muskel- und Knochengewebe seiner Schulter zerfetzt, und er kämpfte trotz der Schmerzen. Er packte die Waffe mit beiden Händen, und Hope stieß ihm den freien Arm in den Leib, während sie seinen Kopf gegen den Schrank schlug. Sie sah seine gebleckten Zähne, das wutund angststarrende Gesicht. Wieder holte sie mit dem Knie aus, und wieder traf es seine Lenden. Sie drückte ihn zurück und versetzte ihm mit der freien Hand einen wuchtigen Schlag gegen das Kinn. Er taumelte unter dem Hieb, blieb aber dennoch auf ihr liegen. Immer wieder rammte sie ihm den linken Ellbogen in den Leib, während sie die Waffe in ihrem eisernen Griff behielt und jeden ihrer Muskeln zwang, dafür zu sorgen, dass sie nicht herumgedreht und auf sie selbst gerichtet wurde. In genau dieser Sekunde spürte sie, wie der Druck auf ihre Waffenhand nachließ. Sie hoffte schon, dass sie kurz davor war zu siegen, doch im nächsten Moment schnappte sie nach Luft, als sie der Schock eines unbeschreiblichen Schmerzes durchfuhr. Sie verdrehte die Augen und verlor beinahe das Bewusstsein. Sie wusste, dass ihr gleich schwarz vor den Augen werden musste, und sie warf sich im letzten Moment herum. O’Connells Vater hatte aus dem Durcheinander rings um
sie ein Küchenmesser gefischt. Während er mit einem Arm ihre Waffenhand hielt, hatte er Hope das Messer auf der Suche nach ihrem Herzen tief in die Seite gestoßen. Er legte seine ganze Kraft hinein. Hope fühlte, wie ihr die Spitze der Klinge ins Fleisch drang. Sie hatte nur einen Gedanken. Jetzt ist es so weit – auf Leben und Tod. Sie griff mit der Linken auf die andere Seite und nahm die Pistole. Blitzschnell hielt sie die Waffe O’Connell ins schmerzund wutverzerrte Gesicht. Im selben Moment, als die Messerklinge ihr mitten in die Seele zu dringen schien, stieß sie ihm den Lauf unters Kinn und drückte ab.
Scott hätte gerne einen Blick auf das Leuchtzifferblatt seiner Uhr geworfen, wagte jedoch nicht, den Blick vom Carport und dem Nebeneingang zu O’Connells Haus zu wenden. Im Flüsterton zählte er die Sekunden, seit Hopes dunkle Gestalt hineingegangen war. Es dauerte viel zu lange. Er trat ein Stück aus seinem Versteck, wich aber unschlüssig wieder zurück. Sein Herzschlag raste. Ein Teil von ihm schrie, dass alles schiefgegangen, dass alles verloren war, dass er hier und in diesem Moment bloß weg musste, bevor er noch unaufhaltsamer in den
verhängnisvollen Strudel der Ereignisse geriet. Die Angst drohte ihn wie eine heftige Meeresströmung in die Tiefe zu ziehen. Er bekam eine trockene Kehle. Er hatte raue Lippen. Die Nacht schien ihm den Hals zuzuschnüren, und er griff sich an den Kragen seines Sweatshirts. Er befahl sich zu gehen, zu verschwinden, egal, was geschehen war. Doch er tat es nicht. Stattdessen war er wie versteinert. Er spähte in die Dunkelheit. Er spitzte die Ohren. Er schaute angestrengt nach rechts, dann nach links und sah keinen Menschen. Es gibt Augenblicke im Leben, in denen man weiß, dass man irgendetwas unternehmen muss, auch wenn eine Möglichkeit gefährlicher wirkt als die andere und jede Wahl verzweifelt scheint. Was auch immer dort drüben passierte, Scott wusste, dass letztlich, und sei es auch nur indirekt, Ashleys Leben davon abhing, was er in den nächsten Sekunden unternahm. Vielleicht ihrer aller Leben. Und obwohl er das unwiderstehliche Bedürfnis hatte, der wachsenden Panik nachzugeben, holte Scott tief Luft, verbannte alle Gedanken, Überlegungen und Möglichkeiten
aus seinem Kopf und rannte los.
Hope wollte schreien, öffnete den Mund vor Entsetzen, doch statt eines schrillen Lauts kam nur ein krächzendes gedämpftes Geräusch ihres schweren Atems. Ihr zweiter Schuss hatte O’Connells Vater direkt unter dem Kinn getroffen, war durch den Mund nach oben gedrungen, hatte ihm die Zähne zerschmettert, die Zunge und den Gaumen zerfetzt und war tief in seinem Gehirn steckengeblieben, so dass er fast augenblicklich tot war. Die Wucht des Schusses hatte ihn zurückgeworfen und beinahe hochgehoben, doch dann war er wieder auf sie gestürzt, so dass sie unter dem Gewicht seiner Brust zu ersticken drohte. Seine Hand lag immer noch am Messerschaft, doch die Kraft, die es ihr in den Körper stieß, war gewichen. Der plötzlich aufwallende Schmerz schickte Feuerströme in ihre Seite, in die Lunge und ins Herz sowie dunkle Schleier der Agonie in ihren Kopf. Sie fühlte sich plötzlich erschöpft, und eine Stimme drängte sie, die Augen zu schließen und so, wie sie dort lag, einfach einzuschlafen. Doch zugleich meldete sich eine eiserne Willenskraft. Sie nahm alle Kraft zusammen und versuchte, das Gewicht des Toten wegzuwälzen. Beim ersten Mal reichte es nicht. Sie stemmte sich ein zweites Mal dagegen, und er schien sich
zentimeterweise zu bewegen. Sie unternahm einen dritten Versuch. Es war, als müsste sie einen Felsbrocken aus der Erde wälzen. Sie hörte, wie die Tür aufging, sah aber nicht, wer es war. Wieder kämpfte sie gegen die Bewusstlosigkeit an und schnappte nach Luft. »Oh mein Gott!« Die Stimme klang vertraut. Hope stöhnte. Ganz plötzlich und wundersamerweise verschwand das Gewicht, das sie niedergedrückt hatte, so als tauchte sie unter einer Meereswoge auf. Die Gestalt, die einmal O’Connells Vater gewesen war, sackte auf den Linoleumboden neben ihr. »Hope! Mein Gott!«, hörte sie jemanden flüstern, und sie zwang sich, den Kopf in die Richtung zu drehen. »Hallo, Scott.« Trotz der Schmerzen brachte sie ein schwaches Lächeln zustande. »Ich hatte Probleme.« »Das kann man wohl sagen. Wir müssen dich hier rausschaffen.« Sie nickte und versuchte, sich aufzusetzen. Das Messer steckte immer noch in ihrer Seite. Scott wollte danach
greifen, doch sie schüttelte den Kopf. »Rühr das nicht an«, sagte sie entschieden. Er nickte. »In Ordnung.« Halb hob er sie hoch, halb rappelte Hope sich auf. Die Bewegung verstärkte ihr Schwindelgefühl, doch sie konnte es überwinden. Sie biss die Zähne zusammen und stieg, auf Scott gestützt, über die Leiche von O’Connells Vater. »Ich brauche Hilfe.« Sie legte einen Arm um seine Schulter, und er ging langsam mit ihr Richtung Tür. »Die Pistole«, flüsterte sie. »Die Pistole, die muss mit.« Scott sah sich um und entdeckte die Waffe auf dem Boden. Er hob sie auf und holte auch Hopes Rucksack. Er ließ die Waffe wieder in den Plastikbeutel fallen, machte ihn zu und warf sich den Beutel über die freie Schulter. »Gehen wir«, sagte er. Sie stolperten durch die Tür, und Scott half Hope in den Schatten des Carports. Dort setzte er sie mit dem Rücken an die Wand. »Ich muss überlegen.« Sie nickte und sog die kalte Luft ein. Es half ihr, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Der Gedanke, wie knapp sie dem Tod entronnen war, gab ihr Kraft. Sie rappelte sich ein wenig hoch. »Ich kann laufen.« Scott schwankte irgendwo zwischen Entsetzen, Panik und
Entschlossenheit. Er wusste, dass er klar und effizient denken musste. Er nahm Hope die Maske ab und begriff plötzlich, wieso sich Sally in sie verliebt hatte. Es war, als hätte sich der Schmerz dessen, was sie getan hatte, ihrem Gesicht in kühnen Zügen eingeprägt. In dieser Sekunde wurde ihm klar, dass sie es ebenso für ihn wie für Sally und Ashley getan hatte. »Ich muss geblutet haben, auf dem Boden. Wenn die Polizei …« Scott nickte. Er dachte angestrengt nach, dann wusste er, was er zu tun hatte. »Warte hier. Geht das?« »Ja, es ist nicht so schlimm«, sagte Hope, auch wenn es offensichtlich nicht stimmte. »Ich bin angeschlagen, nicht richtig verletzt«, fügte sie im altbekannten Sportlerjargon hinzu. Wenn man nur angeschlagen ist, kann man noch spielen. Wenn man verletzt ist, nicht. »Bin gleich wieder da.« Scott huschte gebückt um die Ecke des Carports und ging in die Hocke, um sich, so gut es ging, zu verstecken, während er das Durcheinander aus Maschinenteilen, verstreuten Werkzeugen, leeren Farbdosen und
stapelweise Dachschindeln inspizierte. Er wusste, dass irgendwo in seiner Reichweite das sein musste, was er brauchte, die Frage war nur, ob er es in dem schwachen Licht entdecken würde. Hab Glück, flüsterte er. Dann sah er, was er suchte. Es war ein roter Plastikkanister. Bitte, sagte er. Sei nicht leer. Er nahm den Kanister, schüttelte ihn und fühlte, wie im unteren Drittel eine Flüssigkeit schwappte. Er schraubte den Deckel ab und hatte den unverwechselbaren Geruch von altem Benzin in der Nase. Scott beugte sich vor und lief schnellstmöglich aus dem Schatten des Carports ins Licht und zur Tür hinein. Einen Moment lang war er kurz davor, sich zu übergeben, und musste gegen den Brechreiz ankämpfen. Bei seinem ersten Betreten des Hauses hatte er nur Augen für Hope gehabt und sich darauf konzentriert, sie aus ihrer verzweifelten Lage zu befreien. Diesmal war er mit der Leiche von O’Connells Vater allein, und zum ersten Mal schaute er hin und sah das ganze Blut und das fratzenhaft entstellte Gesicht des Mannes. Er keuchte und mahnte sich zur Ruhe, was fruchtlos war. Er fühlte sein Herz bis zum Hals schlagen, und alles um ihn her schien plötzlich
erleuchtet. Das Chaos nach dem Kampf und das Blut schienen zu glänzen, als sei es in grellen Farben gemalt. Er dachte, dass bei einem gewaltsamen Tod alles heller, nicht dunkler aussieht. Scott kämpfte um jeden Atemzug, während er unsicher weiterging. Er sah sich die Stelle, an der er sie unter O’Connells Vater gefunden hatte und wo ihr Blut sein musste, an. Tatsächlich entdeckte er einige rote Spritzer auf dem Boden. Er goss etwas von dem Benzin auf die Stelle. Dann kippte er den Rest über Hemd und Hose des Vaters. Er sah sich um, entdeckte ein Geschirrtuch und tunkte es in die Mischung aus Blut und Benzin auf der Brust des Mannes. Das steckte er sich in die Tasche. Wieder wurde ihm schlecht, und er wollte sich irgendwo festhalten, zögerte aber im letzten Moment. Mit jeder Sekunde, die er hier drinnen am Tatort war, dachte er, wuchs die Wahrscheinlichkeit, verräterische Zeichen zu hinterlassen. Er stand auf, warf den Kanister in die Pfützen Benzin und trat an den Herd. Neben den Brennstellen lagen Streichhölzer auf der Arbeitsplatte. Er ging nahe an die Tür, zündete die ganze Schachtel an und warf sie auf die Brust der Leiche. Das Benzin explodierte und loderte zu einer hohen Flamme
auf. Einen Moment lang blieb Scott wie gelähmt stehen und sah zu, wie sich das Feuer ausbreitete, dann machte er kehrt und lief gebückt in die Nacht hinaus. Hope saß immer noch an den Carport gelehnt. Sie hatte die Hand mit dem Lederhandschuh am Griff des Messers, das ihr immer noch in der Seite steckte. »Du musst es irgendwie schaffen, hier wegzukommen«, sagte er. »Ich kann gehen.« Ihre Stimme klang krächzend. Sie hielten sich im Schatten, bis sie die Straße erreichten. Scott schlang seinen Arm um Hope, so dass sie sich bei ihm anlehnen konnte, und so dirigierte Hope sie zu ihrem Wagen. Keiner von beiden sah sich nach O’Connells Haus um. Scott betete, dass das Feuer, das er gelegt hatte, ein paar Minuten brauchte, bis es richtig um sich griff und von einem der benachbarten Häuser aus zu sehen war. »Geht’s?«, flüsterte er. »Ich schaff das schon«, antwortete Hope, auf ihn gestützt. Die nächtlich klare Luft half ihr dabei, ihre Gedanken zu ordnen. Sie nahm all ihre Willenskraft zusammen, um sich von den Schmerzen nicht überwältigen zu lassen, auch wenn sie bei jedem Schritt ein brennender elektrischer Schlag durchzuckte. Zuversicht und Kraft wechselten mit Erschöpfung und Verzweiflung. Sie wusste, dass diese
Nacht nicht so zu Ende gehen würde, wie von Sally geplant. Das Blut, das ihr deutlich spürbar aus der Wunde sickerte, machte ihr das unmissverständlich klar. »Halte durch«, redete Scott ihr gut zu. »Ein ganz normales Paar, das noch einen flotten nächtlichen Spaziergang macht«, scherzte Hope trotz der Schmerzen. »An der Ecke links, dann müsstest du den Wagen schon ein Stück die Straße runter sehen.« Jeder Schritt schien langsamer zu werden. Scott wusste nicht, was er tun würde, falls ein Wagen vorbeifuhr oder jemand herauskam und sie so sah. In der Ferne hörte er Hunde bellen. Als sie wie ein Paar, das beim Essen zu tief ins Glas geschaut hatte, um die Ecke wankten, entdeckte er ihren Wagen. Die Party in dem nahe gelegenen Haus hatte einen höheren Geräuschpegel erreicht. Hope brachte es fertig, sich gerade aufzurichten. Dabei fühlte sie sich, als müsse sie jeden Muskel in ihrem Körper anspannen und jedes Quäntchen Kraft aufbieten. »Setz mich hinters Lenkrad.« Sie versuchte, ihrer Stimme so viel Autorität zu verleihen, dass es keine Diskussionen geben würde. »Du kannst nicht fahren. Du brauchst einen Arzt und ein Krankenhaus.«
»Das weiß ich auch. Aber nicht hier. Nicht irgendwo in der Nähe.« Hope rechnete und versuchte, einen kühlen Kopf zu bewahren, auch wenn die Schmerzen es ihr nicht leichtmachten. »Die verdammten Nummernschilder«, erinnerte sie sich. »Die müssen doch unbedingt ausgetauscht werden. Tu das.« Scott war verwirrt. Er sah nicht ein, wieso das dringender sein sollte, als die Blutung aus ihrer Wunde zu stillen und sie so schnell wie möglich in eine Notaufnahme zu bringen. »Hör mal …«, protestierte er. »Tu’s einfach!« Er folgte ihrer Bitte und half ihr auf den Fahrersitz. Er griff nach der Schultertasche mit den Nummernschildern, warf einen prüfenden Blick zu dem Haus, in dem die Party im Gange war, kauerte sich jeweils vor und hinter den Leihwagen und schraubte die ursprünglichen Schilder mit Kennzeichen von Massachusetts an. Dann nahm er die anderen und steckte sie zu der Pistole in den Rucksack. Als Letztes stopfte er das benzin- und blutgetränkte Geschirrtuch in den Plastikbeutel mit der Waffe. Er kehrte zum Fahrersitz zurück. Hope hatte den Zündschlüssel eingesteckt, und er sah, wie sie vor Schmerzen das Gesicht verzerrte, als sie sich das
Isolierband von den Fuß- und Handgelenken riss sowie die zwei Paar Handschuhe auszog, um sie zusammen mit ihrer Mütze Scott zu übergeben. Er musste hilflos zusehen, wie sie sich die Messerklinge aus der Wunde zog. »Gott!«, keuchte sie. Ihr Kopf schlug an die Rückenlehne, und sie verlor beinahe das Bewusstsein. Doch so plötzlich sie die Woge überkam, wurde sie von der nächsten abgelöst – der Schmerz hielt sie wach. Sie schnappte nach Luft. »Ich muss dich unbedingt in ein Krankenhaus bringen.« »Das schaffe ich selbst. Für dich gibt es zu viel zu tun.« Sie deutete auf das Messer. »Das behalte ich.« Sie ließ es auf den Boden des Wagens fallen und schob es mit dem Fuß in eine Ecke, wo sie es nicht sehen musste. »Ich kann das für dich loswerden«, erbot sich Scott. Es fiel Hope schwer, logisch zu denken, doch sie schüttelte den Kopf. »Sieh zu, dass du die Sachen da loswirst und die Nummernschilder irgendwo entsorgst, wo man sie nicht mit diesem Wagen in Verbindung bringen kann.« Sie setzte alles daran, nichts zu vergessen und nicht den Überblick zu verlieren, doch die Schmerzen ließen eine besonnene Planung kaum zu. Sie wünschte sich, Sally wäre da. Sally würde alle Aspekte, sämtliche Details im Auge behalten. Darin war sie wirklich gut, dachte Hope.
Stattdessen sah sie Scott an und versuchte, ihn irgendwie als einen Teil von Sally zu betrachten, was er ja auch einmal gewesen war. »Also«, sagte sie. »Ab jetzt halten wir uns wieder an den Plan. Ich bin in der Lage zu fahren. Du tust, was als Nächstes auf deiner Liste steht.« Sie deutete auf den Rucksack mit der Waffe. »Ich kann dich nicht allein lassen. Das würde mir Sally nie verzeihen.« »Wenn du es nicht machst, wird sie dazu keine Gelegenheit mehr haben. Wir sind weit hinter den Zeitplan zurückgefallen. Deine nächsten Aufgaben sind entscheidend.« »Bist du sicher?« »Ja«, antwortete Hope, auch wenn sie wusste, dass es gelogen war. Woher sollte sie die Sicherheit nehmen? »Geh. Nun geh schon.« »Was soll ich Sally sagen?« Hope überlegte. Ihr schwirrte ein Dutzend Gedanken durch den Kopf, doch sie entgegnete nur: »Sag ihr einfach, ich komm schon klar. Ich melde mich später bei ihr.« »Ganz bestimmt?« Er betrachtete die Stelle in ihrer Seite,
wo das Messer gesteckt hatte. Er sah deutlich, wo der schwarze Mechanikeroverall blutgetränkt war. »Es ist nicht halb so schlimm, wie es aussieht«, log Hope noch einmal. »Jetzt geh endlich, bevor es zu spät ist.« Der Gedanke, dass sie nach allem, was sie getan hatte, am Ende doch noch scheitern könnten, erdrückte sie fast. Sie wedelte mit der Hand und sagte noch einmal: »Geh.« »In Ordnung«, gab er nach, richtete sich auf und trat zurück. »Ach, Scott?« »Ja?« »Danke, dass du mir zu Hilfe gekommen bist.« Er nickte. »Den schwierigen Teil hast du erledigt.« Damit schlug er die Fahrertür zu und sah zu, wie sich Hope zum Lenkrad herunterbeugte und den Motor anwarf. Er blieb stehen und sah zu, wie sie losfuhr. Er blickte ihr so lange hinterher, bis die Rücklichter in der tintenschwarzen Nacht verschwunden waren. Erst jetzt schwang er sich den Rucksack auf den Rücken und machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Er war spät dran, so viel war klar, und das konnte sich als verhängnisvoll erweisen, doch er musste mit dem Blatt spielen, das Sally ausgeteilt hatte. Er war sich nicht sicher, wozu Hope die übrige Nacht noch fähig sein würde. Fest stand nur, dass sie am meisten
Glück nötig hatte. Im selben Moment wurde ihm bewusst, dass das vielleicht nicht ganz stimmte, denn sie konnten nur hoffen, dass ihnen auch an anderer Stelle das Schicksal in dieser Nacht gewogen war.
Sie stand mit dem Wagen am Rande eines Parkplatzes, der zu einem Einkaufszentrum gehörte, und wartete auf Scott. Sie starrte auf ihre Armband-, dann auf die Stoppuhr, nahm das Handy und wollte schon anrufen, überlegte es sich aber anders. Sie war etwa eine Dreiviertelstunde von Boston entfernt, nicht weit vom Highway. Sie hatte diese Stelle nach ähnlichen Kriterien ausgesucht wie den Platz, auf dem sie Hope die Waffe übergeben hatte, nur dass Scott von hier aus schnell auf dem Weg ins westliche Massachusetts war. Sie lehnte sich an die Kopfstütze und schloss die Augen. Sie blockte jeden Gedanken an die möglichen Katastrophen ab, die sich in dieser Nacht ereignet haben könnten. In der Kunst des Tötens waren sie Amateure. Auch wenn jeder von ihnen über einschlägige Kenntnisse verfügte, die ihnen die Planung und Durchführung dieses Mordes als machbar erscheinen ließen, so waren sie, wenn es an die praktische Umsetzung ging, buchstäblich blutige Anfänger. Irgendwie hatte sie, als das Komplott in ihrem Kopf Gestalt annahm, geglaubt, ihre Unerfahrenheit sei ihr stärkster Trumpf. Könner würden nie so vorgehen. Der Plan
war zu ungestüm, zu wenig vorhersehbar und hing viel zu sehr davon ab, dass jeder Einzelne von ihnen gewisse Aufgaben effizient erledigte. Hierin lag aber auch die Stärke ihres Plans. Gebildete Menschen machten so etwas einfach nicht. Drogenabhängige oder gewalttätige Menschen arbeiteten sich allmählich die kriminelle Karriereleiter bis zum Kapitalverbrechen hoch. Das war logisch. Sie kniff die Augen zu. Vielleicht war es von Anfang an eine Illusion gewesen, dass sie auf der Bühne von Mördern erfolgreich agieren konnten. Augenblicklich hatte sie Hope und Scott in Handschellen und von Polizisten umringt vor Augen. O’Connells Vater würde eine Zeugenaussage machen, und sie wäre als Nächste dran, sobald entweder Scott oder Hope im Verhör einknickten. Und Ashley würde, selbst wenn sie Catherine an ihrer Seite hatte, künftig Michael O’Connell schutzlos ausgeliefert sein. Sie öffnete die Augen und warf einen prüfenden Blick über den grünlich erleuchteten Parkplatz. Von Scott weit und breit nichts zu sehen. Hope müsste auf dem Heimweg sein. Michael O’Connell musste irgendwo auf der Straße
liegengeblieben sein und entweder versuchen, selbst den Reifen zu wechseln, oder einen Abschleppwagen rufen. Er musste wütend sein, fluchen und sich fragen, was hier zum Teufel ge spielt wurde. Womit er am wenigsten rechnen konnte, war der Umstand, dass er in einem Drama eine Hauptrolle spielte. Sally lächelte bei dem Gedanken, dass höchstwahrscheinlich er sich am genausten ans Skript halten würde, ohne eine Zeile auszulassen oder einen falschen Schritt zu unternehmen, und das alles, ohne seinen Part auch nur zu ahnen. Es ging ihm an den Kragen, ohne dass er merkte, wie er in diesem Moment aus Ashleys Leben verdrängt wurde. Sie ballte die Faust. Wir haben dich, du Bastard. Sie atmete langsam aus. Vielleicht. Scott musste jeden Moment eintreffen. Frustriert und in Panik trommelte sie mit den Fingern auf dem Lenkrad. »Wo zum Teufel bleibst du nur?«, flüsterte sie inbrünstig und suchte erneut ihre Umgebung ab. »Komm schon, Scott, lass dich endlich blicken!« Wieder griff sie nach dem Handy und legte es zurück. Warten, begriff sie, war das Zweitschwierigste. Am schwersten war es, jemandem zu trauen, von dem sie einmal geglaubt hatte, dass sie ihn liebte, den sie dann im
Stich gelassen und betrogen hatte, bevor sie sich von ihm scheiden ließ. Einzig Ashley war es zu verdanken, dass zwischen ihr und ihrem Exmann noch so etwas wie ein zivilisierter Umgang herrschte. Vermutlich würde es reichen, um diese Nacht irgendwie hinter sich zu bringen. Dann wanderten ihre Gedanken zu Hope. Sie schüttelte den Kopf und merkte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie wusste, dass sie ihr vollkommen vertrauen konnte, auch wenn sie selbst in den letzten Monaten herzlich wenig zu diesem Verhältnis beigetragen hatte. Sie hatte das Gefühl, ganz und gar in der Luft zu hängen. »Komm schon!«, murmelte sie wieder, als könnte sie mit ihren Worten Scott heraufbeschwören.
In der hintersten Ecke des Parkplatzes, auf dem Scott seinen Pick-up gelassen hatte, befand sich ein großer grüner Müllcontainer. Zu seiner großen Erleichterung war er nicht nur mit prallen Müllsäcken, sondern auch mit Flaschen und Dosen fast vollständig gefüllt. Er griff nach einem Beutel, der halbleer zu sein schien, machte ihn auf und steckte die gestohlenen Nummernschilder sowie die Isolierbandreste und die Handschuhe hinein. Dann band er ihn sorgfältig wieder zu und legte den Beutel mitten auf die anderen Abfallsäcke. Er vermutete, dass der Container bald geleert werden würde, wahrscheinlich schon am
nächsten Tag. Er eilte zu seinem Pick-up zurück und wartete, bis keine anderen Wagen losfuhren, bevor er den Motor startete. Nachdem er den Rucksack auf dem Boden abgestellt hatte, wechselte Scott zu Anzug und Krawatte. Er wusste, dass Eile geboten war, doch ebenso klar war ihm auch, dass er keine Aufmerksamkeit auf sich lenken durfte. Er wünschte sich, er hätte aufs Gas drücken können, doch stattdessen hielt er sich peinlich genau an die Geschwindigkeitsbeschränkungen. Selbst auf der Autobahn blieb er auf dem Weg zu Sally auf der mittleren Spur. Er wusste nicht, was er ihr sagen sollte, wenn er ihr unter die Augen trat. Es schien unmöglich, für das, was in dieser Nacht vorgefallen war, die richtigen Worte zu finden. Sagte er nichts, würde sie ihn hassen. Sagte er ihr alles, wäre sie in Panik und würde ihn hassen. Sie würde sofort Hope zu Hilfe eilen, statt die Liste abzuarbeiten. Damit konnte alles nur noch schlimmer werden. Er fuhr durch die Nacht und wusste, dass er lügen würde. Vielleicht nicht allzu sehr, aber immerhin. Es machte ihn wütend und traurig zugleich, vor allem aber gab es ihm das Gefühl, zu versagen und zutiefst unaufrichtig zu sein.
Als er von der Ausfahrt auf den Parkplatz einbog, entdeckte er Sally sofort, und im nächsten Moment fuhr er in die Lücke neben ihr. Scott schnappte sich den Rucksack mit der Pistole sowie dem benzin- und blutgetränkten Geschirrtuch und stieg aus. Sally blieb hinter dem Lenkrad sitzen, warf jedoch schon mal den Motor an. »Du kommst spät«, stellte sie fest. »Ich weiß nicht, ob mir genug Zeit bleibt. Ist es nach Plan verlaufen?« »Nicht ganz«, antwortete Scott. »Es war nicht so einfach, wie wir dachten.« »Was soll das heißen?«, fragte Sally in ihrem barschen Anwaltston. »Es hat einen kleinen Kampf gegeben. Hope hat gesiegt, sie hat getan, was sie übernommen hatte.« Er zögerte. »Aber sie hat sich bei dem Handgemenge wohl leicht verletzt. Sie ist jetzt auf dem Weg nach Hause. Und ich hatte Angst, dass etwas zurückbleiben könnte, was sie verraten könnte, und so hab ich ein Feuer gelegt.« »Mein Gott!«, rief Sally, »das stand nicht im Plan.« »Ich habe mir nur wegen des Tatorts Gedanken gemacht, das weißt du. Ich dachte, auf diese Weise könnten wir am
wirkungsvollsten verhindern, dass irgendein Cop sich denken kann, was stattgefunden hat. Hast du das nicht immer betont?« Sally nickte. »Ja, ja, schon gut. Ist wahrscheinlich kein Problem.« »Im Rucksack findest du neben dem anderen Gegenstand auch noch ein Geschirrtuch. Etwas von dem Benzin kommt auf diese Weise an den Lauf. Werde es hinterher irgendwo los.« Sally nickte wieder. »Das war clever. Aber, Hope, was hast du noch wegen Hope gesagt?« Scott fragte sich, ob ihm die Lüge ins Gesicht geschrieben stand. »Sie dürfte jetzt wieder in der Zeit liegen. Tu, was du tun musst, und rufe sie später an.« »Was genau ist mit Hope passiert?«, hakte Sally in scharfem Ton nach. »Du musst endlich los. Du musst nach Boston. Die Zeit drängt. Wir haben keine Ahnung, was O’Connell macht.« »Was ist mit Hope passiert?«, wiederholte Sally mühsam beherrscht. »Wie gesagt, es hat einen Kampf gegeben. Sie hat einen Messerstich abbekommen. Als wir uns getrennt haben, hat sie dir ausrichten lassen, sie kommt schon klar. Verstehst du? Genau das hat sie gesagt. Sag Sally, ich komm schon
klar. Du musst die Sache heute Nacht zu Ende bringen. Hope hat ihren Teil getan. Ich meinen. Jetzt bist du dran. Nur noch das, und dann …« Er sprach den Satz nicht zu Ende. Sally schwieg einen Moment. »Einen Messerstich abbekommen? Was soll das heißen? Sag mir die Wahrheit!« »Das ist die Wahrheit«, erwiderte Scott steif. »Sie hat einen Stich abbekommen, das ist alles, und jetzt fahr.« Sally fielen in diesem Moment hundert verschiedene Antworten ein, die sie ihrem Exmann hätte geben können, doch sie schwieg. So wütend sie war, sie wusste doch, dass sie vor Jahren ihn belogen hatte so wie er jetzt sie, und sie konnte absolut nichts daran ändern. Sie nickte, weil sie ihrer Stimme nicht mehr traute, nahm den Rucksack und fuhr in die Nacht. Wieder blieb Scott zurück und starrte auf Rücklichter, die in der Dunkelheit verschwanden.
»Wie gesagt«, fuhr der Kommissar fort, während er auf die Tatortfotos wies, »die Flammen haben tatsächlich alles verdorben. Noch schlimmer als das Feuer ist das
verdammte Wasser, das die Feuerwehr drübergießt. Natürlich kann man sie nicht dran hindern«, bemerkte er mit einem trockenen Lachen. »Wir konnten von Glück sagen, dass nicht das ganze Haus in Flammen aufgegangen ist. Der Brand blieb mehr oder weniger auf die Küche beschränkt. Sehen Sie die Rückwand da, völlig verkohlt? Der Brandexperte sagt, dass derjenige, der ihn gelegt hat, keine Ahnung davon hatte, so dass der Brand sich nicht über den ganzen Raum ausgebreitet, sondern die Wand hoch in die Decke gefressen hat, und so hat es der Nachbar gegenüber bemerkt. Alles in allem können wir uns also glücklich schätzen, dass wir uns am Ende ein Bild machen konnten.« »Hatten Sie bis dahin schon viele Morde aufzuklären?«, fragte ich. »Hier? Wir sind hier nicht in Boston oder New York. Wir sind ein recht kleines Dezernat. Aber das Institut für Forensik ist ziemlich gut, und bei der Gerichtsmedizin arbeiten auch nicht lauter Trottel, deshalb kriegen wir einen Mord, wenn es denn schon mal dazu kommt, ganz gut in den Griff. Die meisten Morde, die wir zu Gesicht bekommen, sind häusliche Streitigkeiten, die außer Kontrolle geraten, oder auch schiefgegangene Drogendeals. Meistens steht der Böse noch dumm rum oder sein Kumpel, der uns sagen kann, nach wem wir zu suchen haben.« »Das war hier anders, oder?«
»Können Sie laut sagen. Es gab Fragen, bei denen wir uns erst mal am Kopf gekratzt haben. Und es gab ’ne ganze Menge Leute, die keine Träne vergossen haben, als sie hörten, der alte O’Connell hätte ins Gras gebissen. Er war ein mieser Ehemann, ein mieser Vater, ein mieser Nachbar und verlogen bis auf die Knochen. Wissen Sie, wenn der ’nen Hund gehabt hätte, dann hätte er das Biest verhungern lassen und aus Prinzip zwei Mal am Tag verprügelt, verstehen Sie? Na jedenfalls war im Haus und am Tatort noch genug übrig, um dem Täter auf die Spur zu kommen.« Ich nickte. »Und was genau?« »Läuft auf zweierlei hinaus. Ich meine, Sie haben ein Feuer und eine teilweise verkohlte Leiche, und so dämlich, wie wir nun mal sind, dachten wir anfänglich, der alte O’Connell hätte sich besoffen und es irgendwie geschafft, sich mitsamt seiner Bude in Brand zu setzen. Sie wissen schon, verliert mit ’ner Zigarette im Mund und ’ner Pulle Schnaps in der Hand das Bewusstsein. Natürlich hätte er dafür eigentlich im Wohnzimmer in einem Sessel sitzen oder im Schlafzimmer im Bett liegen müssen statt auf dem Küchenboden. Aber als der Gerichtsmediziner die Leiche auf dem Tisch hat und ein paar verkohlte Fleischreste wegschält, entdeckt er die Schusswunde und eine Kugel Kaliber fünfundzwanzig in seinem Hirn, dann auch noch eine in der Schulter. Na ja, da sahen die Dinge auf einmal ein bisschen anders aus. Also schauen wir uns die
triefende Schweinerei noch einmal an und suchen nach irgendwelchen Anhaltspunkten. Aber inzwischen hat der Doc unter den Fingernägeln des Alten auch noch Hautpartikel gefunden, also haben wir ’ne ganz gute DNA, und siehe da, das Chaos im Haus sieht ganz danach aus, als hätte ein Kampf stattgefunden, der für den alten Gauner nicht so gut gelaufen ist. Und als wir dabei sind, den Tatort zu filzen, erinnert sich plötzlich einer der Nachbarn, dass er gesehen hat, wie, nicht allzu lange bevor der Rauch aufsteigt, ein Wagen mit ’nem Kennzeichen aus Massachusetts mit quietschenden Reifen rausfährt. Das und die DNA-Analyse haben uns einen Durchsuchungsbefehl eingebracht. Und raten Sie mal, was wir da finden?« Er lächelte und schnaubte amüsiert. Die Befriedigung eines Polizisten über die Erfahrung, dass die Dinge ab und zu so laufen, wie sie sollen. Ich war mir nicht so sicher, ob ich zum gleichen Schluss gelangt wäre.
45 Ein einseitiger Anruf
Hope fuhr Richtung Norden durch die Mautstation an der Grenze nach Maine; sie wollte zu einer Stelle in der Nähe der Küste, die sie aus einem Urlaub vor vielen Jahren in Erinnerung hatte, nicht lange, nachdem sie und Sally sich ineinander verliebt hatten. Sie hatten die kleine Ashley mit auf ihre erste gemeinsame Reise genommen. Es war eine wilde Landschaft. Ein Park mit üppig wachsenden dunklen Bäumen und dichtem Unterholz reichte direkt bis ans Wasser, und die Atlantikbrecher schlugen an die felsige Steilküste, so dass die salzige Gischt in die Höhe spritzte. Wenn im Sommer die Seehunde an der Küste spielten und ein Dutzend verschiedene Möwenarten in den auflandigen Brisen kreischten, war es ein zauberhafter Ort. Jetzt war er wahrscheinlich einsam und verlassen und der einzige Platz, der ihr einfiel, an dem sie in Ruhe überlegen konnte, wie genau es weitergehen sollte. Sie drückte den Arm gegen die Wunde in ihrer Seite. Das half, die Blutung ein wenig zu stillen, während die Verletzung selbst in einen konstanten, pochenden Schmerz übergegangen war. Mehr als einmal glaubte sie, kurz vor einer Ohnmacht zu sein, doch dann hatte sie mit zusammengebissenen Zähnen immer wieder letzte Kraftreserven mobilisiert und traute sich zu, es bis ans Ziel zu schaffen. Sie versuchte zu raten, was innerlich mit ihr passiert war. Sie führte sich die verschiedenen Organe vor Augen –
Magen, Milz, Leber, Darm – und versuchte gleichsam wie bei einem Quiz zu raten, welche die Klinge aufgeschlitzt oder eingeschnitten hatte. Die ländliche Gegend wirkte noch dunkler als der nächtliche Himmel. Fichten standen in größeren Gruppen wie Zeugen an der Straße aufgereiht, um den Gang der Dinge zu verfolgen. Als sie von der Mautstraße abbog, keuchte sie schwer, weil ihr beim Drehen des Lenkrads an der Abfahrt und über ein Netz kleiner Nebenstraßen ein spitzer Schmerz in die Eingeweide stach. Sie versuchte, gleichmäßig und behutsam die frische Nachtluft ein- und auszuatmen. Sie gab sich der Phantasie hin, sie sei tatsächlich auf dem Weg zu dem Haus, in dem sie aufgewachsen war. Sie erinnerte sich an ihre Mutter in früheren Jahren – wie sie sich, die Haare hochgesteckt, im Garten mit den Blumen abmühte, während ihr Vater neben dem Haus auf dem Spielfeld, das er für sie angelegt hatte, versuchte, einen Fußball in der Luft zu jonglieren. Sie hörte, wie er rief, sie solle ihre Fußballschuhe anziehen und herauskommen, um mit ihm zu spielen. Seine Stimme klang kräftig und nicht so dünn wie später im Krankenhaus. Ich komme, dachte sie. Kleine braune Wegweiser gaben ihr alle paar Kilometer die Richtung zum Park an, und mittlerweile roch sie schon
ein wenig Salz in der Luft. Sie erinnerte sich an einen versteckten Parkplatz, der in einer Novembernacht zweifellos leer sein würde. Ein sehr schmaler, mit einer dicken Nadelschicht weich gepolsterter Pfad führte durch Bäume und Gebüsch hindurch an einem Picknickplatz vorbei und danach noch einmal ein bis anderthalb Kilometer bis zum Meer. Sie schaute nach oben und sah, dass Vollmond war. Sie wusste, dass sie vielleicht auf sein spärliches Licht angewiesen war. Er war gelb umrandet, und sie nahm an, dass Schnee und Eis nicht mehr lange auf sich warten lassen würden. Sie bezweifelte, dass in dieser Nacht noch irgendjemand anders hierherkommen würde; sie hätte nicht gewusst, was sie hätte sagen sollen. Sie hätte nicht mehr die Kraft gehabt, selbst auf die wohlmeinendsten Fragen eines Polizisten oder Parkwächters zu lügen. Hope sah noch ein Schild – ein großes weißes H mitten auf blauem Grund. Das war eine unfaire Versuchung, dachte sie. Sie konnte sich nicht erinnern, dass der Park nur wenige Kilometer von einem Krankenhaus entfernt lag. Einen Moment lang dachte sie daran, in diese Richtung abzubiegen: ein breiter Streifen helles Licht und ein neonrotes Schild mit den Lettern NOTAUFNAHME. Wahrscheinlich ein, zwei Krankenwagen, die auf einer kreisrunden Einfahrt in der Nähe standen. Direkt hinter der
Tür würde eine Nachtschwester an der Theke sitzen. Sie stellte sich die Schwester vor: eine stämmige Frau in mittlerem Alter, die Blut oder Gefahr nicht erschüttern konnte. Sie würde einen einzigen Blick auf die Wunde in Hopes Seite werfen; im nächsten Moment würde Hope ins grelle Neonlicht des Untersuchungszimmers blicken sowie die verhaltenen Stimmen eines Arztes und der Schwestern hören, die sich über sie beugten, um ihr das Leben zu retten.
Wer hat Ihnen das angetan?, würde sie jemand fragen. Sie würden ein Klemmbrett zur Hand halten, um ihre Antwort festzuhalten.
Ich selbst. Nein, im Ernst, wer war das? Die Polizei ist schon unterwegs und wird Sie dasselbe fragen. Bitte sagen Sie es uns. Ich kann es nicht sagen. Wir haben Fragen, wir brauchen Antworten. Wieso sind Sie hier? Wieso sind Sie so weit von zu Hause weg? Was haben Sie diese Nacht getan? Das werde ich nicht sagen.
Das ist nicht dasselbe, wie, das kann ich nicht sagen. Wir haben unsere Vorbehalte, unsere Zweifel. Falls Sie diese Nacht überleben, werden wir noch eine Menge Fragen an Sie haben. Ich werde sie nicht beantworten. Doch, das werden Sie. Früher oder später. Und dann wüssten wir auch noch gerne, wieso das Blut von jemand anderem an Ihrem Overall ist. Wie kommt das dahin? Hope biss die Zähne zusammen und fuhr geradeaus weiter.
Sally parkte fast an derselben Stelle gegenüber von Michael O’Connells Wohnung, an der sie früher an diesem Abend schon einmal gestanden hatte. Außer den anderen parkenden Autos in beiden Richtungen war die Straße leer. Es herrschte die Dunkelheit des Randbezirks, in dem die Nacht in jeden Winkel kroch, um die Schatten wie schwarze Tinte zusammenfließen zu lassen und das Licht abzuwehren, das aus den belebteren Gegenden der Innenstadt herüberdrang. Sie sah zuerst auf ihre Armbanduhr und dann auf die Stoppuhr, die für den ganzen Tag programmiert war. Sie atmete langsam ein.
Die Zeit verging allzu schleppend. Sally starrte zu der Fassade von Michael O’Connells Wohnhaus hoch. Seine Fenster blieben dunkel. Als sie nach rechts und links die Straße entlang blickte, wurde Sally heiß. Wie nahe war er schon? Noch zwei Minuten? Zwanzig? Fuhr er überhaupt hierher? Sie schüttelte den Kopf. Bei umsichtigerer Planung hätten sie jemanden abgestellt, der ihn vom Haus seines Vaters an beschattet hätte, und sie hätten jeden seiner Schritte an diesem Tag verfolgt. Sie biss sich auf die Lippe. Andererseits hätte es einen von ihnen in Gefahr gebracht, da er O’Connell allzu nahe gekommen wäre. Deshalb hatte sie sich die Verzögerung ausgedacht – die zeitliche Lücke zwischen seinem Abgang und seiner Heimkehr. Doch Scott hatte die Waffe gefährlich spät übergeben, und so konnte sie nicht wirklich einschätzen, wo O’Connell jetzt war. Entwich tatsächlich die Luft aus seinem Reifen, wie Scott ihr versprochen hatte? Hatte ihn das genügend lange aufgehalten? Die Frage, was wäre, wenn … tönte ihr schrill von allen Seiten entgegen wie die Dissonanz eines Symphonieorchesters mit verstimmten Instrumenten. Sie warf einen Blick auf den Rucksack mit der Waffe und wehrte sich gegen den Drang, ihn einfach in eine Mülltonne hinter dem Gebäude zu werfen. Die Chancen wären immer noch groß, dass die Cops ihn dort fänden. Doch mit Sicherheit ließ sich das nicht sagen, und in einer Nacht, an
der so viele Zweifel nagten, musste dieser Teil absolut zwingend sein. Einen Moment lang starrte sie auf das Handy. Ihre Gedanken drehten sich um Hope. Wo steckst du?, fragte sie stumm. Ist alles in Ordnung? Ihre Hände zitterten, und sie konnte nicht sagen, ob es aus Angst war, dass O’Connell sie erwischte und dadurch noch alles verdorben würde, oder aus Sorge um Hope. Sie versuchte, sich Hope vorzustellen und zu erahnen, was genau ihr passiert war, bemühte sich, in Scotts spärlicher Auskunft zwischen den Zeilen zu lesen, doch jeder Schritt in diese Richtung erfüllte sie mit noch mehr Panik. O’Connell kam ihr mit jeder Minute, die sie verstreichen ließ, unaufhaltsam näher; sie spürte es förmlich. Sie wusste, dass sie unverzüglich handeln musste. Und doch war sie von der Ungewissheit wie gelähmt. Hope war irgendwo da draußen und hatte Schmerzen; auch das spürte sie. Und sie konnte nichts dagegen tun. Sie stieß einen langen, leisen Seufzer aus. Und dann packte Sally unter äußerster Aufbietung ihrer Willenskraft den Rucksack und stieg aus. Sie betete, dass
die Nacht sie verhüllte, als sie mit gesenktem Kopf eilig die Straße überquerte. Sie wusste, dass sie nur irgendjemand zu sehen und später den Rucksack mit O’Connell und seiner Wohnung in Verbindung bringen musste, und sie flogen unweigerlich auf. Sie war klug genug, nicht zu rennen, sondern normal zu gehen. Blickkontakt mit einem Fremden wäre fatal gewesen. Irgendetwas, das sich in den nächsten Minuten irgendjemandem einprägen konnte, musste fatale Folgen haben. Für sie alle. Sie wusste, dass sie sich in diesem Moment zu bewähren hatte, dass alles in der Schwebe hing. Der kleinste Fehler, den sie machte, hätte die schrecklichsten Konsequenzen für sie alle und möglicherweise auch für Ashley. Sie hatte die Mordwaffe in ihrem Besitz. Das Risiko war enorm. Sally flüsterte sich zu: Geh weiter. Als sie den Eingangsflur durchquerte, hörte sie Stimmen im Fahrstuhl, und so duckte sie sich ins Treppenhaus und rannte, zwei Stufen auf einmal nehmend, hinauf. Sie wartete hinter der Brandschutztür und versuchte, daran zu horchen, doch als sie merkte, dass das nicht möglich war, öffnete sie sie und lief den Flur entlang zu O’Connells Wohnung. Wie schon einmal an diesem Tag hielt sie Mrs. Abramowicz’ Schlüssel in der Hand. Eine schreckliche Sekunde lang stellte sie sich vor, er wäre drinnen und läge im Dunkeln auf dem Bett. Für diesen Fall musste sie sich
etwas einfallen lassen. Wenn er nun tatsächlich zu Hause war? Wenn er auftauchte, bevor sie fertig war? Wenn er sie im Hausflur entdeckte? Im Fahrstuhl? Auf der Straße? Was sollte sie dann sagen? Würde sie mit ihm kämpfen? Würde sie versuchen, sich zu verstecken? Würde er sie überhaupt erkennen? Ihre Hand zitterte vor lauter Fragen, als sie die Tür aufschloss. Sie trat hastig ein und machte hinter sich zu. Sie horchte auf Atemgeräusche, auf Schritte, die Toilettenspülung oder das Tippen auf einer Tastatur – irgendetwas, das ihr sagte, dass sie nicht alleine war –, doch sie hörte nichts außer ihrem gequälten Atem, der mit jeder Sekunde, die verstrich, lauter und schneller zu werden schien. Mach schon! Mach endlich, du hast keine Zeit! Geduckt huschte sie durch die Diele, wagte nicht, Licht zu machen, verfluchte sich, als sie gegen eine Wand stolperte. Durch die Schlafzimmerfenster drang ein Schimmer von einer Straßenlampe, so dass sie gerade noch genug sehen konnte. Sie erblickte sich im Spiegel und hätte beinahe aufgeschrien. Sie schoss zum Kleiderschrank, machte in panischer Hast den Reißverschluss des Rucksacks auf und holte die Waffe heraus. Sie roch den beißenden Gestank nach Benzin, so
wie Scott es vorausgesagt hatte. Rasch kniete sie sich nieder, schob die Pistole wieder in den Stiefel und stopfte die Socke darüber, um den Geruch zu unterdrücken. Nachdem sie den Schuh wieder zurückgestellt hatte und hoffte, alles haargenau so hinterlassen zu haben, wie sie es in Erinnerung hatte, stand sie auf. Sally mahnte sich, langsam und umsichtig zu handeln, jeden Schritt vorauszuplanen, doch sie schaffte es nicht. Sie nahm den leeren Rucksack, sah sich noch einmal hektisch um, hoffte, dass man ihre Anwesenheit nicht bemerken würde, und machte auf dem Absatz kehrt. Wieder stolperte sie in der Dunkelheit. Sie versuchte, sich von der Angst nicht überwältigen zu lassen. Sie wollte nicht gegen etwas stoßen oder gar etwas umwerfen und Lärm verursachen. Es durfte keinerlei Anzeichen dafür geben, dass an diesem Tag zwei Mal jemand Fremdes in der Wohnung gewesen war. Das war jetzt, sagte sie sich, während sie wartete, bis ihr Herzschlag sich ein wenig normalisierte, von allergrößter Bedeutung. Ihren Abgang zu verzögern bereitete ihr Qualen. Als Sally die Tür erreichte, überkam sie eine gewaltige Panikattacke. Er ist da, dachte sie. Sie bildete sich ein, einen Schlüssel im Schloss zu hören. Sie glaubte,
Stimmen, Schritte zu vernehmen. Sally zwang sich, die Streiche zu ignorieren, die ihr die Angst in diesem Moment spielte. Sie trat in den Flur. Sie sah nach rechts, nach links und stellte fest, dass sie allein war. Dennoch zuckte ihre Hand, und sie glaubte, dass aus jeder Richtung verdächtige Geräusche drangen. Sie riss sich mit aller Macht zusammen und mahnte sich, nicht die Nerven zu verlieren. Wie schon einmal an diesem Tag, schloss sie ab und lief zum Treppenhaus. Wieder durchquerte sie den Hausflur und trat ins Freie. Plötzlich durchflutete sie das Gefühl, es geschafft zu haben. Voller Erleichterung darüber, dass sie niemand bemerkt hatte, lief sie zu ihrem Wagen. Auf der Straße vor ihrem Fahrzeug entdeckte sie einen Gully. Sie ließ Mrs. Abramowicz’ Schlüssel in den Rost fallen und hörte, wie er unten in schlammiges Wasser fiel. Erst als sie im Auto saß, die Tür zugemacht hatte und den Kopf anlehnte, traten ihr die Tränen in die Augen. Eine Sekunde lang glaubte sie, alles würde gut, und sie sagte sich: Ihr kann nichts mehr passieren. Wir haben es getan, Ashley ist in Sicherheit. In diesem Moment kam ihr Hope in den Sinn, und sie erfasste eine neue Woge der Panik, die aus einem tiefen, verborgenen Winkel ihres Bewusstseins aufzusteigen
schien und sie mit einer namenlosen Angst überschwemmte. Sally schnappte laut nach Luft und hielt den Atem an. Sie griff nach dem Handy und drückte Hopes Nummer.
Bei Scott stellte sich Erleichterung ein, als er in seine Einfahrt schwenkte. Er stellte den Pick-up an seinen gewohnten Platz hinter dem Haus, wo er von der Straße aus oder von den Nachbarn schwer zu sehen war. Er nahm die Kleider, die er in dieser Nacht getragen hatte, stieg in den Porsche und fuhr erneut auf die Straße. Er ließ den Motor aufheulen, um dafür zu sorgen, dass jeder, der noch auf war und fernsah oder las, ihn keinesfalls überhören konnte. Im Stadtzentrum war eine Pizzeria, die von Studenten frequentiert wurde. Kurz vor Mitternacht würde die Anwesenheit eines Professors nicht unbemerkt bleiben. Daran war auch nichts allzu Ungewöhnliches – Lehrer, die Hefte zu korrigieren hatten, versuchten oft, einen letzten Energieschub zu nutzen. Es war ein geeigneter Ort, um sich blicken zu lassen. Er parkte direkt vor dem Haus, und der Sportwagen fiel einigen jungen Männern auf, die in der Nähe des Fensters an einer Theke saßen. Der Wagen verfehlte nie seine Wirkung.
Er bestellte eine Hühnchen-und-Ananas-Pizza und bezahlte absichtlich mit seiner Kundenkarte. Falls er danach gefragt wurde, konnte er für die Stunden davor kein Alibi liefern. Zu Hause, Klausuren korrigiert, würde er sagen. Und, nein, ich gehe grundsätzlich nicht ans Telefon, wenn ich studentische Arbeiten durchsehe. Völlig ausgeschlossen wäre es allerdings, in der fraglichen Zeitspanne vom Haus des alten O’Connell bis nach Boston und dann zurück nach West-Massachusetts zu rasen. Jemanden töten und dann eine Pizza essen gehen? Detective, das ist absurd. Es war nicht gerade ein wasserdichtes Alibi, aber immerhin etwas. Es hing entscheidend davon ab, ob Sally mit der Waffe wie geplant verfahren war. So viel hing davon ab, dass die Waffe an ihrem ursprünglichen Platz gefunden wurde, dass Scott vor innerer Anspannung fast laut gehustet hätte. Er nahm seine Pizza zu einem freien Platz an der Theke mit und aß langsam. Er versuchte, nicht an diesen Tag zu denken, befahl sich, nicht jede Szene im Kopf noch einmal durchzugehen. Doch während er auf seinen Teller starrte, stahl sich das Bild eines ermordeten Mannes in sein Bewusstsein. Als er glaubte, den unverwechselbaren Geruch von Benzin und dann den ekelerregenden Gestank von brennendem Fleisch in der Nase zu haben, würgte er beinahe. Er sagte sich, du bist noch einmal in den Krieg gezogen. Er atmete
durch, aß weiter und konzentrierte sich auf das, was er noch zu erledigen hatte. Er musste jedes Kleidungsstück, das er in O’Connells Haus getragen hatte, im Depot der hiesigen Heilsarmee loswerden, wo es in den Mühlen der Wohltätigkeit untergehen würde. Er erinnerte sich daran, ja nicht die Schuhe zu vergessen. Es könnte noch Blut an den Sohlen kleben. Der Kalauer entging ihm nicht: Wir haben alle Blut an den Seelen. Er schaute auf seine Pizza und sah, wie seine Hand zitterte, als er sein Stück zum Munde führte. Was habe ich getan? Er weigerte sich, die Frage zu beantworten. Stattdessen dachte er an Hope. Je mehr er sich in ihre Situation hineinversetzte, mit der Wunde in ihrer Seite, desto mehr begriff er, dass noch viel geschehen musste, bis er aufatmen konnte. Scott sah sich hektisch im Restaurant um und starrte die anderen späten Besucher an, die alle wegblickten oder höflich geradeaus beziehungsweise am Fenster vorbei die Wand betrachteten. Einen Moment lang glaubte er, sie müssten ihn alle durchschauen, so als stünde ihm das Wort schuldig in einem grellroten Schriftzug ins Gesicht geschrieben. Er merkte, wie ihm das Bein krampfartig zu zucken
begann. Es wird schiefgehen. Wir wandern alle ins Kittchen. Außer Ashley. Er versuchte, sie sich mit aller Macht vor Augen zu führen, um die Verzweiflung, die ihn zu überwältigen drohte, einzudämmen. Die Pizza schmeckte plötzlich staubtrocken. Er wollte allein sein und auch wieder nicht, beides zugleich. Er schob den Pappteller weg. Zum ersten Mal erkannte Scott, dass das, was sie getan hatten, um Ashley die Sicherheit wiederzugeben, sie alle in einen Abgrund des Zweifels gestürzt hatte. Scott verließ langsam das Restaurant, kehrte zu seinem Wagen zurück und fragte sich, ob er je wieder ruhig schlafen würde. Er glaubte nicht.
Hope saß noch in ihrem Leihwagen, doch sie hatte den Motor ausgemacht und die Lampen gelöscht. Ihr Kopf ruhte auf dem Lenkrad. Sie war auf den hintersten Teil des kleinen Platzes am Eingang zum Park am Meer gefahren – so weit wie möglich von der Hauptstraße entfernt, so versteckt, wie sie konnte. Sie fühlte sich innerlich leicht, aber erschöpft, und sie war
sich nicht sicher, ob sie das Ende der Nacht erleben würde. Sie atmete flach und schwer. Auf dem Sitz neben ihr lag das Messer, das so viel Schaden angerichtet hatte, ein billiger Kugelschreiber und ein Blatt Papier. Sie zermarterte sich den Kopf, ob es noch irgendetwas gab, das sie verraten konnte. Sie sah das Handy, sagte sich, dass sie es loswerden musste, und als sie danach griff, klingelte es. Hope wusste, dass es Sally war. Sie nahm es, legte es ans Ohr und schloss die Augen. »Hope?«, meldete sich Sally, heiser vor Sorge. »Hope?« Sie antwortete nicht. »Bist du dran?« Wieder reagierte sie nicht. »Wo steckst du? Wie geht es dir?« Es gab so viel, was Hope hätte sagen können, doch ihr kam kein Laut über die Lippen. Sie atmete schwer ein. »Hope, bitte sag mir, wo du bist.«
Hope schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. »Bist du verletzt? Ist es schlimm?«
Ja. »Hope, bitte, so antworte doch«, flehte Sally. »Ich muss wissen, dass es nichts Schlimmes ist. Bist du auf dem Heimweg? Gehst du ins Krankenhaus? Wo bist du? Ich komme hin. Ich werde dir helfen, sag mir nur, was ich machen soll.«
Du kannst nichts mehr tun, dachte Hope. Nein, rede einfach weiter. Es ist wunderbar, deine Stimme zu hören. Weißt du noch, wie wir uns kennengelernt haben? Unsere Fingerspitzen haben sich berührt, als wir uns die Hand geschüttelt haben, und ich dachte, wir stehen in Flammen, mitten in der Galerie, vor allen Leuten. »Kannst du nicht reden? Ist jemand in deiner Nähe?«
Nein. Ich bin allein. Oder auch nicht. Du bist jetzt bei mir. Ashley ist bei mir. Catherine und mein Vater auch. Ich höre Nameless bellen, weil er auf den Fußballplatz will. Ich habe meine Erinnerungen. Sally wollte in Panik ausbrechen, der geballten Angst nachgeben, die wie ein Hurrikan in ihr tobte, doch sie schaffte es, sich an irgendeinem Anker in ihrem Innern
festzuhalten und der Zerreißprobe standzuhalten. »Hope, ich weiß, dass du mir zuhörst. Ich weiß es. Ich werde reden. Wenn du etwas sagen kannst, dann sag bitte was. Sag mir nur, wo ich dich finde, und ich komme. Bitte.«
Ich bin an einem Ort, an den du dich erinnerst. Wenn du es verstehst, wirst du lächeln und weinen. »Hope, es ist erledigt, wir haben es hinter uns. Wir haben es geschafft. Es liegt alles hinter uns. Sie ist ab jetzt vor ihm sicher. Ich weiß es. Alles wird wieder so, wie es war. Sie hat ihr Leben zurück, und du und ich, wir haben unsers, wir beide, und Scott wird weiter unterrichten, und es wird alles so sein wie früher, als wir noch glücklich waren. Ich hab dir so unrecht getan, ich weiß, ich war schrecklich, ich weiß, es war schwer für dich, aber bitte, Hope, von jetzt an blicken wir nach vorn, du und ich. Bitte verlass mich nicht. Nicht, wenn du noch eine Chance hast.«
Das hier ist unsere einzige Chance. »Bitte, Hope, rede mit mir.«
Wenn ich mit dir rede, bin ich nicht mehr in der Lage zu tun, was ich tun muss. Du wirst es mir ausreden. Ich kenne dich, Sally. Du bringst alle Überzeugungskraft und Beredsamkeit auf und deinen ganzen Witz, so wie früher, das habe ich vom ersten Moment an dir geliebt. Und
wenn ich nachgebe und mit dir rede, dann hab ich all deinen Argumenten, um mich umzustimmen, nichts mehr entgegenzusetzen. Sally horchte in die Stille, während sie sich verzweifelt überlegte, was sie noch sagen konnte. Für das, was hier vor sich ging, hatte sie keine Worte; dafür war es viel zu verzweifelt und alptraumhaft. Sie wusste nur, dass sie einen Satz, einen sprachlichen Ausdruck finden musste, um abzuwenden, was sie mit Entsetzen ahnte. »Hope, Liebste, bitte lass mich dir helfen.«
Das tust du schon. Rede weiter. Das macht mich stärker. »Egal, was passiert ist, ich pauke uns da raus. Ich weiß, dass ich das kann. Vertrau mir. Dazu bin ich schließlich ausgebildet, da kenne ich mich aus. Kein Problem ist so groß, als dass wir nicht einen Ausweg finden würden, wenn wir es zusammen angehen. Hat dieser Abend das nicht gezeigt?« Hope beugte sich zum Beifahrersitz herunter und nahm das Blatt und den Stift, die dort bereitlagen. Sie klemmte sich das Handy mit der Schulter ans Ohr, um weiter zuzuhören. »Hope, wir schaffen das. Wir können gewinnen. Ich weiß es. Sag mir, du weißt es auch.«
Das hier nicht. Zu viele Fragen. Wir wären alle in Gefahr.
Ich muss das tun. Nur so kann ich sicher sein, dass wir außer Gefahr sind. Sally schwieg, und Hope schrieb auf das Blatt: Es gibt zu viel traurige Dinge in meinem Leben. Sie schüttelte den Kopf. Die erste Lüge von vielen, dachte sie. Sie schrieb weiter.
An dem College, das ich liebe, bin ich zu Unrecht beschuldigt worden. Sally flüsterte: »Hope, bitte, ich weiß, dass du dran bist. Sag mir, was los ist. Sag mir, was ich machen soll. Ich bitte dich inständig darum.«
Und die Frau, die ich liebe, liebt mich nicht mehr. Hope schüttelte ein wenig den Kopf, als sie diese Worte schrieb. Sie biss sich auf die Lippe. Sie musste eine Möglichkeit finden, anzudeuten, dass dies hier ein Haufen Lügen war, so dass Sally es merkte, nicht aber der Parkwächter, der die Zeilen finden, oder der Polizist, der sie lesen würde.
Deshalb bin ich an diesen Ort gekommen, den wir einmal geliebt haben, um mich daran zu erinnern, wie es einmal war und wie es auch künftig gewesen wäre, das weiß ich, wäre ich nur stärker.
Sally, der die Tränen das Gesicht herunterliefen, gab etwas nach, das stärker war als das blanke Entsetzen. Es war das Gefühl der Unvermeidlichkeit. Sie will uns schützen. »Hope, Liebste, bitte«, stieß sie heiser zwischen vollkommen verzweifeltem Keuchen hervor. »Lass mich zu dir kommen und bei dir sein. Von Anfang an haben wir uns immer aufeinander verlassen. Wir haben uns gegenseitig geholfen, uns ergänzt. Lass mich das noch einmal tun, bitte.«
Tust du doch schon, Sally. Ich habe versucht, mich mit einem Messer zu erstechen, aber stattdessen fließt nur viel Blut, und es tut mir leid. Ich wollte eigentlich das Herz treffen, aber ich habe es nicht geschafft. Also wähle ich einen anderen Weg. Das ist es, dachte Hope. Der einzige Weg, der mir bleibt. Ich liebe euch alle und vertraue darauf, dass ihr mich ebenso in Erinnerung behalten werdet. Sie war erschöpft. Sallys Stimme war nur noch ein Flüstern. »Hope, meine Liebste, bitte, egal wie schwer du verletzt bist, wir können doch einfach sagen, ich wäre das gewesen. Scott hat
gesagt, du hättest einen Messerstich abbekommen. Dann sagen wir eben den Cops, das wäre ich gewesen. Sie werden uns glauben, ich weiß es. Du musst mich nicht verlassen. Wir können uns da rausreden, wir beide zusammen.« Hope musste traurig lächeln. Das war ein höchst verlockendes Angebot, dachte sie. Lügen wir uns doch um alle Fragen herum. Vielleicht würde es sogar funktionieren. Aber wahrscheinlich nicht. Nur so können wir sicher sein. Sie wollte Lebewohl sagen, wollte all die Dinge sagen, die Liebhaber und Gefährten sich einander im Dunkeln zuflüstern, wollte etwas über ihre Mutter und Ashley sagen und über alles, was in dieser Nacht geschehen war, doch sie tat es nicht. Stattdessen drückte sie nur die Austaste an ihrem Handy, und die Leitung war tot.
In ihrem Wagen, der immer noch an der Straße vor Michael O’Connells Wohnhaus stand, gab Sally endlich den Emo tionen nach, die sie zurückgehalten hatte, und sie schluchzte hemmungslos. Sie hatte das Gefühl, als ob sie schrumpfte, schlagartig kleiner, schwächer würde und nur noch ein Schatten von dem Menschen, der sie gewesen war, als der Tag begann. Sie war nicht sicher, ob das, was sie getan hatten, den Preis wert war, den sie alle gezahlt hatten. Sie krümmte sich, trat mit den Füßen und drosch mit
den Fäusten aufs Lenkrad ein. Irgendwann hörte sie auf und stöhnte, als hätte ihr jemand in den Magen geboxt. Sie schloss die Augen, wiegte sich vor und zurück und machte sich auf ihrem Sitz ganz klein. In ihrer völligen Agonie bemerkte sie nicht, wie Michael O’Connell laut fluchend unverhohlen seine Wut herausließ, als er, bis zur Weißglut gereizt und voller ätzender Bitterkeit, blind für seine Umgebung nur wenige Meter an ihr vorbei zu seiner Haustür stapfte.
EPILOG »Wollen Sie also eine Geschichte hören?«
Verstehe«, sagte sie, ein wenig misstrauisch. »Sie konnten also mit dem Kommissar reden, der in dem Fall ermittelt hat?« »Ja«, erwiderte ich, »es war äußerst aufschlussreich.« »Aber Sie kommen ein letztes Mal zu mir, weil Sie trotzdem noch ein paar Fragen haben, stimmt’s?«
»Ich bin immer noch davon überzeugt, dass ich mit ein paar anderen Leuten sprechen müsste.« Sie nickte, antwortete jedoch nicht gleich. Ich sah ihr an, dass sie sorgsam abwog, als versuchte sie, ihre Erinnerungen anhand von Fakten zu überprüfen. »Es geht nach wie vor um dieselbe Bitte, nicht wahr? Mit Sally oder Scott zu sprechen?« »Ja.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass sie mit Ihnen reden würden. Aber davon mal abgesehen – was erhoffen Sie sich von ihnen?« »Ich möchte wissen, wie es für sie gelaufen ist.« Diesmal lachte sie trocken. »Gelaufen? Unpassender kann man das, was sie durchgemacht und was sie getan und wie sie die Tage danach überstanden haben, wohl kaum umschreiben.« »Na ja, Sie wissen schon, wie ich es meine. Eine Einschätzung.« »Und Sie erwarten tatsächlich, sie würden Ihnen die Wahrheit sagen? Meinen Sie nicht, dass sie Sie für vollkommen übergeschnappt halten und ihnen einfach die Tür vor der Nase zuschlagen würden, wenn sie bei Ihnen
auf der Matte stünden und sagten: ›Ich hätte da noch ein paar Fragen zu dem Mann, den Sie umgebracht haben?‹ Und selbst wenn die Sie reinlassen und Sie fragen würden: ›Wie ist Ihr Leben verlaufen, seit Sie mit dem Mord durchgekommen sind?‹, was könnte sie denn dazu bewegen, sich die Wahrheit von der Seele zu reden? Sehen Sie nicht selbst, wie absurd das wäre?« »Aber Sie kennen die Antworten auf diese Fragen?« »Selbstverständlich«, sagte sie betont. Es war früh am Abend, am Ende eines Sommernachmittags, dieser Schwebezustand zwischen Tag und Nacht, in dem die Welt verblasst. Sie hatte in ihrem Haus die Fenster geöffnet, um die vereinzelten Geräusche hereinzulassen, die mir inzwischen von vielen Besuchen vertraut waren: Kinderstimmen, das gelegentliche Auto – der milde Abschied eines Tages in dieser friedlichen Vorstadtwelt. Ich ging ans Fenster und atmete die frische Luft. »Das hier wird für Sie nie wirklich ein Zuhause sein, oder?«, fragte ich. »Nein, natürlich nicht. Es ist tödlich, weil es so normal ist.« »Sie sind direkt umgezogen, nicht wahr? Nachdem das alles passiert ist.«
Sie nickte. »Das sehen Sie richtig.« »Wieso?« »Ich konnte mich nicht mehr darauf verlassen, dass ich dort, wo ich so viele Jahre lang für mich gelebt hatte, wirklich alleine war. Die Geister der Toten. Die Erinnerungen. Ich hatte Angst, den Verstand zu verlieren.« Sie lächelte. »Also, was haben Sie bei der Polizei erfahren?« »Dass es tatsächlich so gekommen ist, wie Sally vorhergesagt hat. Er hat es mir nicht explizit erzählt, ich habe es eher erschlossen. Als die Polizei in Michael O’Connells Wohnung kam, fand sie die Mordwaffe in seinem Stiefel versteckt. Seine DNA hatte sein Vater unter den Fingernägeln. Zuerst hat er nur zugegeben, dass er da gewesen war und sich mit dem Alten gestritten hatte, aber nicht, ihn getötet zu haben. Natürlich ist jemand, der die Herzmedikamente eines anderen in einem sadistischen Akt unter den Schuhsohlen zertritt, nicht ganz vertrauenswürdig, und so haben sie ihm nicht geglaubt. Keine Sekunde. Nein, sie hatten ihn am Haken, selbst ohne volles Geständnis, und als sie den Laptop, den er bei einem Laden in Reparatur gegeben hatte, beschlagnahmten und den wütenden Brief an den alten Herrn darauf fanden … na ja, Motiv, Mittel und Gelegenheit, alles vorhanden. Die heilige Dreifaltigkeit der polizeilichen Ermittlungsarbeit. Hatte Sally es nicht so beschrieben, als
sie den Plan entwarf?« »Ja, genau«, bestätigte sie. »Ich hatte mir gedacht, dass sie Ihnen das erzählen würden. Aber das ist noch nicht alles, oder?« »Er hat versucht, es Ashley, Scott, Sally und Hope anzuhängen, aber …« »Eine Verschwörung, bei der so vieles höchst unwahrscheinlich ist, nicht wahr? Erstens, die Mordwaffe stehlen, sie an jemand anderen weiterreichen, bis sie schließlich in die Hände eines Dritten gelangt, bevor sie wieder in O’Connells Wohnung geschafft wird, dann ein Brand … Mal ehrlich, das ergibt doch keinen Sinn, nicht wahr?« »Richtig, es ergab keinen Sinn. Schon gar nicht in Verbindung mit Hopes Selbstmord und den verzweifelten Abschiedszeilen, die sie hinterlassen hatte. Der Detective erklärte mir, wenn man O’Connells Version glauben wollte, dann müsste man schlucken, dass eine zum Selbstmord entschlossene Frau unterwegs haltmacht, um an einem Ort, an dem sie noch nie gewesen war, einen Mann zu ermorden, den sie noch nie gesehen hatte, anschließend den weiten Weg nach Boston zurückzufahren, die Waffe in O’Connells Wohnung zurückzuschaffen und am Ende bis nach Maine zu fahren, wo sie, bevor sie sich ins Meer stürzt, einen Abschiedsbrief schreibt, der nichts von
alledem erwähnt. Oder man hält vielleicht Sally für die Mörderin, aber die war zur Zeit des Mordes in Boston und hat zarte Dessous gekauft. Und Scott, vielleicht war der es ja, aber auf keinen Fall hatte er genug Zeit, die Tat zu begehen, dann nach Boston zu fahren und wenig später vor einem Stück Pizza in West-Massachusetts zu sitzen. Auch das nicht im Bereich des Wahrscheinlichen.« Während ich sprach, sah ich, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie schien immer aufrechter auf ihrem Sessel zu sitzen, als drehte jedes meiner Worte eine Schraube in ihrem Gedächtnis noch ein Stück fester. »Ergo?«, fragte sie, doch diesmal klang ihre Stimme erstickt. »Ergo passierte irgendwann genau das, was Sally vorausgesagt hatte. Michael O’Connell bekannte sich des Mordes im Affekt schuldig. Offenbar war er beim Prozess fest entschlossen, sich tapfer zu schlagen, und so beteuerte er bis zur letzten Minute seine Unschuld. Doch als die Cops ihm erklärten, dass dieser Schnüffler, Murphy, mit einer Waffe des gleichen Kalibers erschossen worden sei und dass sie sich auch bei diesem Fall für ihn interessieren könnten, entschied er sich für die elegantere Lösung. Natürlich war das nur ein Bluff gewesen. Die Schüsse, an denen Murphy gestorben war, hinterließen derart verformte Kugeln, dass sie für einen ballistischen Vergleich nicht taugten. Das weiß ich von der Polizei. Aber die Drohung
erwies sich als nützlich. Zwanzig Jahre. Die erste Anhörung wegen vorzeitiger Haftentlassung nach achtzehn Jahren.« »Ja, ja«, sagte sie. »Das wissen wir.« »Demnach haben sie erreicht, was sie wollten?« »Meinen Sie?« »Sie sind damit durchgekommen.« »Wirklich?« »Na ja, wenn ich glaube, was ich von Ihnen weiß, dann schon.« Sie erhob sich, lief im Zimmer auf und ab, ging zu einer Anrichte und goss sich einen Drink ein. »Nicht zu früh dafür, denke ich«, murmelte sie. Ich bemerkte, wie ihre Augen feucht wurden. Ich sah ihr schweigend zu. »›Sie sind damit durchgekommen‹, sagen Sie? Wirklich?« »Sie kommen nicht vor Gericht«, stellte ich klar. »Aber glauben Sie nicht, dass wir in uns richterliche Instanzen haben, vor denen Schuld und Unschuld anders abgewogen werden? Kommt überhaupt einer von ihnen –
besonders aber Scott und Sally – mit irgendetwas durch?« Ich antwortete nicht. Vermutlich hatte sie recht. »Meinen Sie nicht, dass Sally allein im Dunkeln liegt und die Nächte durchweint, wenn sie neben sich, da, wo einmal Hope gelegen hatte, Kälte spürt? Und die Last, die Scott jetzt auf seinen Schultern trägt – ahnen Sie, wie wenig er die Ereignisse jener Tage auch nur eine Sekunde vergessen kann? Verfolgt ihn dieser Geruch von verbranntem Fleisch und Tod vielleicht mit jeder Brise, die ihm entgegenschlägt? Kann er all diesen eifrigen jungen Menschen an seinem College ins Auge sehen, während er weiß, was für eine Lüge er mit sich herumschleppt?« Sie legte eine Pause ein und fragte: »Soll ich fortfahren?« Ich schüttelte den Kopf. »Denken Sie eingehend darüber nach. Sie werden bis an ihr Lebensende für das, was sie getan haben, bezahlen.« »Ich sollte mit ihnen reden«, wiederholte ich. Sie gab einen tiefen Seufzer von sich. »Nein, wirklich«, beharrte ich. »Ich sollte Scott und Sally befragen. Selbst wenn sie nicht mit mir reden wollen, sollte ich es wenigstens versuchen.«
»Meinen Sie nicht, Sie sollten sie mit ihren Alpträumen allein lassen?« »Sie sollten vor allem befreit sein.« »Von einem – ja, mag sein. Aber sind sie das wirklich?« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Sie nahm einen tiefen Schluck von ihrem Drink. »Jetzt sind wir also kurz vor dem Ende, nicht wahr? Ich habe Ihnen eine Geschichte erzählt. Was habe ich am Anfang zu Ihnen gesagt? Eine Geschichte über Mord?« »Ja, so haben Sie sich ausgedrückt.« Sie lächelte trotz der Tränen. »Aber da habe ich mich geirrt, besser gesagt, ich habe Ihnen nicht die Wahrheit gesagt. Nein, ganz und gar nicht. Es ist eine Liebesgeschichte.« Ich muss wohl erstaunt geguckt haben, doch sie ignorierte mich und ging zu einem Sideboard, um eine Schublade aufzuziehen. »Darauf läuft es hinaus. Eine Liebesgeschichte, von Anfang an. Wäre irgendetwas von alldem passiert, wenn es in Michael O’Connells Kindheit und Jugend einen einzigen Menschen gegeben hätte, der den Jungen liebte, so dass
er den Unterschied zwischen wahrer Liebe und Obsession begriffen hätte? Und haben nicht Sally und Scott ihre Tochter so geliebt, dass sie alles – wirklich alles – getan hätten, um sie vor Schaden zu bewahren, egal, welchen Preis sie dafür zahlten? Und Hope, hat sie Ashley nicht auf ganz besondere Weise geliebt, viel mehr, als irgendjemand ahnte? Und sie liebte auch Sally, viel tiefer, als selbst Sally wusste, und sie hat ihnen allen ein Geschenk gemacht – so etwas wie Freiheit, nicht wahr? Geht es nicht bei all dem, was von dem Tag an geschehen ist, als Michael O’Con nell in ihr Leben trat, im Grunde immer nur um Liebe? Zu viel Liebe. Nicht genug Liebe, doch wenn alles gesagt ist: Liebe.« Ich antwortete nicht. Ich sah, dass sie, während sie sprach, einen Schreibblock aus einer Schublade zog, um ein paar Zeilen zu notieren. »Sie haben«, erklärte sie plötzlich, »noch einige Dinge zu erledigen, um das Ganze richtig zu verstehen. Ich hab das Gefühl, dass es tatsächlich noch jemanden gibt, dem Sie Fragen stellen sollten. Letzte wichtige Informationen, die Sie einholen und, nun ja, weitergeben sollten. Ich zähle auf Sie.« »Was ist das?«, wollte ich wissen, als sie mir den Zettel reichte.
»Nachdem Sie das Nötige getan haben, seien Sie um diese Zeit an diesem Ort, und Sie werden verstehen.« Ich nahm den Zettel, warf einen Blick darauf und steckte ihn in die Tasche. »Ich hab ein paar Fotos«, sagte sie. »Ich bewahre sie heute meist in der Schublade auf. Wenn ich sie hervorhole, muss ich immer nur weinen und weinen, und das ist nicht gut, nicht wahr? Trotzdem sollten Sie sich ein, zwei ansehen.« Damit drehte sie sich wieder zu dem Sideboard herum, öffnete eine weitere Schublade, schob einige der gerahmten Bildern beiseite und zog schließlich eines heraus. Sie betrachtete das Bild mit feuchten Augen. »Hier.« Sie reichte mir das Foto mit brüchiger Stimme. »Das ist so gut wie jedes andere. Es ist nach den Bundesjugendmeisterschaften entstanden, wenige Wochen vor ihrem achtzehnten Geburtstag.« Auf dem Bild waren zwei Menschen: ein dreckverschmiertes, aber strahlendes junges Mädchen, das eine goldene Trophäe in die Höhe hielt, und ein deutlich älterer Mann, der eindeutig ihr Vater war und seinerseits sie in die Höhe hielt. Beide Gesichter strahlten vor Freude über einen hart errungenen Sieg. Ich starrte auf das Bild. Das Foto schien zum Leben zu erwachen, und
einen Moment lang konnte ich die Jubelrufe und die aufgeregten Stimmen hören sowie die Freudentränen sehen. »Ich hab die Aufnahme gemacht«, erzählte sie, »aber ich wünschte, ich wäre selbst mit drauf.« Wieder holte sie tief Luft. »Sie haben ihre Leiche nie gefunden, wissen Sie«, sagte sie, »es dauerte einige Tage, bis jemand ihren Wagen entdeckte und den Brief auf dem Armaturenbrett fand. Einen Tag danach gab es ein heftiges Unwetter, einen von diesen klassischen spätherbstlichen Nordweststürmen, so dass sie keine Taucher ins Wasser schicken konnten, um nach ihr zu suchen. Der Sog der Ebbe war im November sehr stark und muss sie meilenweit ins offene Meer getrieben haben. Zuerst konnte ich es kaum ertragen, doch mit der Zeit begriff ich, dass es vielleicht besser so war. Es gab mir die Möglichkeit, mich an so viele glücklichere Zeiten mit ihr zu erinnern. Sie haben mich gefragt, weshalb ich Ihnen diese Geschichte erzählt habe?« »Ja.« »Aus zweierlei Gründen. Erstens, weil sie tapferer war, als es irgendjemand hätte von ihr erwarten dürfen, und jemand sollte das wissen.« Catherine lächelte durch ihre Tränen hindurch und zeigte
dann auf meine Tasche, in die ich den Zettel gesteckt hatte. »Und der zweite Grund?«, fragte ich. »Den müssten Sie schon recht bald selbst herausfinden.« Wir schwiegen beide, dann lächelte sie. »Eine Liebesgeschichte«, sagte sie. »Eine Liebesgeschichte über den Tod.«
Die Ausstattung variiert mit dem Alter des Gefängnisses und mit dem Budget, das der Bundesstaat für eine moderne Strafvollzugstechnologie bereithält. Aber wenn man sich die Scheinwerfer, die Bewegungsmelder, die Sensoren, Elektronenaugen und Videomonitore wegdenkt, dann läuft Gefängnis immer noch auf eins hinaus: Schlösser und Gitter. In einem Vorraum wurde ich zuerst mit einem Scanner und dann auf die altmodische Art gründlich abgetastet. Ich musste ein Papier unterschreiben, auf dem ich versicherte, vom Staat keine außergewöhnlichen Maßnahmen zu meiner Befreiung zu erwarten, falls ich als Geisel genommen wurde. Meine Aktentasche wurde gefilzt. Mein Notizblock durchgeblättert, um sicherzugehen, dass ich nicht zwischen den Seiten etwas hineinschmuggelte. Dann wurde ich durch einen langen Korridor und anschließend eine elektronische Schleuse geführt, deren Gitter hinter mir
zuschnappten. Die Eskorte brachte mich in einen kleinen Raum, der, wie man mir erklärte, direkt an die Gefängnisbibliothek grenzte. Gewöhnlich diente er den Unterredungen zwischen Insassen und ihren Anwälten, doch ein Schriftsteller auf der Suche nach einer Story schien ihre Kriterien ebenfalls zu erfüllen. Der Raum verfügte über helle Deckenlampen sowie ein Fenster mit Blick auf einen glitzernden Nato-Draht und einen leeren blauen Himmel. Das Mobiliar beschränkte sich auf einen stabilen Metalltisch und billige Klappstühle. Mein Begleiter deutete auf einen der Stühle, dann auf die Nebentür. »Er kommt gleich. Denken Sie dran, Sie können ihm eine Schachtel Zigaretten geben, falls Sie welche mitgebracht haben, aber sonst nichts. In Ordnung? Sie können ihm ruhig die Hand schütteln, aber mehr Körperkontakt ist nicht erlaubt. Laut dem obersten Gericht des Bundesstaates sind wir nicht befugt, Ihr Gespräch mit anzuhören, aber die Kamera da« – er zeigte in die Ecke gegenüber –, »na ja, die zeichnet Ihre ganze Begegnung auf, einschließlich dieser Instruktionen, die ich Ihnen gerade gebe. Alles klar?« »Sicher«, sagte ich. »Könnte schlimmer sein. Wir sind um einiges netter als
manch anderer Bundesstaat. Möchte nicht unten in Georgia, Texas oder Alabama im Knast sein.« Ich nickte, und der Wärter fügte hinzu: »Wissen Sie, der Monitor, der dient auch zu Ihrem Schutz. Wir haben hier ein paar Kerle einsitzen, die Ihnen mal eben so die Kehle aufschlitzen, wenn Sie ein falsches Wort sagen. Deshalb die strenge Überwachung von solchen Besuchen.« »Ich werd’s mir merken.« »Aber keine Sorge, O’Connell ist bei uns fast so was wie’n Gentleman. Nur dass er aller Welt ständig klarmachen will, er wär unschuldig und so.« »Das behauptet er?« Der Wärter lächelte, als die Nebentür aufging und Michael O’Connell in Handschellen, blauem Denim-Arbeitshemd und dunklen Jeans hereingeführt wurde. »Sagen sie alle«, meinte der Wärter, während er dem Gefangenen die Handschellen aufschloss. Wir schüttelten uns die Hand und setzten uns einander gegenüber an den Tisch. Er hatte sich einen struppigen Bart stehen und das Haar zu einem Crewcut stutzen lassen. Er hatte ein paar Falten um die Augen, die vor ein paar Jahren wohl noch nicht da gewesen waren. Ich legte einen Notizblock vor mir auf den Tisch und spielte mit einem Bleistift, während er sich eine Zigarette anzündete.
»Schlechte Gewohnheit«, sagte er. »Hab ich erst hier drinnen angefangen.« »Kann Sie umbringen.« Er zuckte die Achseln. »Hier drinnen ist das meine geringste Sorge. Gibt ’ne Menge Möglichkeiten, umzukommen. Verflucht, Sie sehen einem schielenden Trottel in die Augen, und der geht Ihnen an die Gurgel. Und jetzt erzählen Sie mir, weshalb Sie kommen.« »Ich befasse mich mit dem Verbrechen, dem Sie das hier verdanken«, begann ich vorsichtig. Seine Augenbrauen gingen ein wenig in die Höhe. »Tatsächlich? Wer schickt Sie?« »Niemand. Ich interessiere mich einfach dafür.« »Und wie sind Sie drauf gekommen?« Ich wusste nicht recht, was ich antworten sollte. Ich wusste, dass die Frage kommen musste, hatte mir aber keine Antwort zurechtgelegt. Ich lehnte mich ein wenig zurück und erklärte: »Ich hab ausgerechnet auf einer Cocktailparty etwas aufgeschnappt, und das hat meine Neugier geweckt. Hab mich dann ein bisschen umgesehen und gedacht, ich rede mal mit Ihnen.«
»Ich war’s nicht, wissen Sie, ich bin unschuldig.« Ich nickte nur und hoffte, er würde weiterreden. Er wartete auf meine Reaktion, während er einen langen Zug von seiner Zigarette nahm und den Rauch in meine Richtung blies. »Schicken die Sie her?« »Wen meinen Sie?« »Scott. Sally. Vor allem Ashley. Haben die Sie hergeschickt, um sich zu vergewissern, dass ich noch hier bin, hinter Gittern?« »Nein. Mich schickt niemand. Ich komme aus eigenem Antrieb. Ich habe diese Leute nicht einmal kennengelernt.« »Sicher.« Er schnaubte verächtlich. »Klar doch. Wie viel zahlen die Ihnen dafür?« »Niemand bezahlt mich.« »Aber klar. Sie machen das kostenlos. Die verdammten Mistkerle. Man sollte meinen, dass sie mich wenigstens jetzt in Ruhe lassen.« »Sie können glauben, was Sie wollen.« Er schien einen Moment angestrengt nachzudenken, dann
beugte er sich vor. »Sagen Sie«, fragte er langsam, »was hat Ashley gesagt, als Sie sich mit ihnen getroffen haben?« »Ich habe mich mit niemandem getroffen.« Das war gelogen, und ich wusste, dass er es wusste. »Beschreiben Sie sie mir.« Wieder beugte er sich vor, als trieben ihn seine eigenen Fragen halb über den Tisch, und auf jedes Wort legte er eine eindringliche Betonung. »Was hatte sie an? Hat sie ihr Haar abgeschnitten? Erzählen Sie mir von ihren Händen. Sie hat schlanke, zarte Finger. Und ihre Beine? Immer noch lang und sexy? Aber vor allem möchte ich wissen, was sie mit ihrem Haar gemacht hat. Sie hat es doch nicht etwa abgeschnitten? Oder gefärbt? Ich hoffe nicht.« Sein Atem beschleunigte sich, und einen Moment lang dachte ich, er sei sexuell erregt. »Ich kann es Ihnen nicht sagen«, erwiderte ich. »Ich hab sie noch nie gesehen. Ich hab keine Ahnung, von wem Sie reden.« Er atmete langsam aus. »Wieso verschwenden Sie meine Zeit mit Lügen?« Dann ignorierte er seine eigene Frage und sagte: »Na ja, wenn Sie sie sehen, dann verstehen Sie, was ich meine. Ganz bestimmt.«
»Verstehe ich was?« »Wieso ich sie niemals vergessen werde.« »Selbst hier drinnen über die Jahre?« Er lächelte. »Selbst hier drinnen. Über die Jahre. Ich hab sie immer noch aus der Zeit, wo wir zusammen waren, genau vor Augen. Es ist, als wäre sie immer bei mir. Ich spüre sogar noch ihre Berührung.« Ich nickte. »Und die anderen Namen, die Sie erwähnten?« Wieder lächelte er, aber ganz anders. Es war das gerissene Grinsen eines Jägers. »Die werde ich auch nicht vergessen.« Er verzog den Mund. »Die waren das, wissen Sie. Ich weiß nicht, wie sie es geschafft haben, nur, dass sie es waren. Denen verdanke ich den Knast, da können Sie Gift drauf nehmen. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an sie denke. Keine Stunde. Keine Minute. Ich werde nie vergessen, was die mit mir gemacht haben.« »Aber Sie haben sich doch schuldig bekannt. Vor Gericht. Sie haben vor einem Richter einen Eid geschworen, die Wahrheit zu sagen, und haben sich zu der Tat bekannt.« »Das waren rein taktische Überlegungen. Mir blieb keine andere Wahl. Ich hätte fünfundzwanzig Jahre bis lebenslänglich bekommen. Durch das Schuldbekenntnis hab ich die Sache um sieben Jahre oder mehr verkürzt und
außerdem das Recht auf Anhörung wegen vorzeitiger Haftentlassung. Wenn ich dann rauskomme, werde ich einiges zurechtrücken.« Wieder lächelte er. »Nicht ganz, was Sie erwartet haben?« »Ich hatte eigentlich keine konkreten Erwartungen.« »Wir sind füreinander bestimmt. Ashley und ich. Daran hat sich nichts geändert. Dass ich jahrelang sitze, ändert nichts daran. Das ist nur ein bisschen Zeit, die verstreichen muss, bevor das Unausweichliche geschieht. Nennen Sie es Schicksal oder Vorsehung, aber so ist es nun mal. Ich habe viel Geduld. Und dann finde ich sie.« Ich nickte. Ich glaubte ihm. Er lehnte sich zurück und sah zur Überwachungskamera hoch, drückte seinen Zigarettenstummel aus, zog eine verkrumpelte Packung aus seiner Hemdtasche und zündete sich noch eine an. »Es ist eine Sucht«, erklärte er und ließ den Rauch in kleinen Schüben zwischen den Lippen entweichen. »Fast unmöglich, davon loszukommen, heißt es zumindest. Schlimmer als Heroin oder selbst Kokain.« Er lachte. »Wahrscheinlich bin ich so was wie ein Junkie.« Dann starrte er mich über den Tisch hinweg an. »Sind Sie schon mal süchtig gewesen? Nach irgendetwas oder jemandem?« Ich reagierte nicht. Schweigen ist auch eine Antwort.
»Sie wollen wissen, ob ich meinen Vater umgebracht habe? Nein. Ich habe es nicht getan«, sagte er steif und mit einem süffisanten Grinsen. »Sie haben den falschen Mann erwischt.«
Ich müsse eine Information weitergeben. Das hatte sie gesagt, da war ich mir ganz sicher. Ich brauchte nicht lange, um zu begreifen, was sie meinte. Ich bog in die Einfahrt, stellte den Wagen ab und stieg aus. Es war inzwischen heißer geworden. Ich konnte mir denken, dass es an einem heißen Nachmittag wie diesem besonders mühsam sein musste, die Räder eines Rollstuhls zu bewegen. Ich klopfte an Will Goodwins Tür, trat zurück und wartete. Das Blumenbeet, das ich vor Wochen gesehen hatte, stand inzwischen in voller Blütenpracht – in fein säuberlich geordneten Reihen wie bei einer Militärparade. Ich hörte das Quietschen der Reifen auf dem Holzfußboden, dann öffnete sich die Tür. »Mr. Goodwin? Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern, aber ich war vor ein paar Wochen schon mal hier.« Er lächelte. »Sicher, der Schriftsteller. Hätte nicht gedacht, Sie jemals wiederzusehen. Noch Fragen?«
Goodwin grinste. Ich bemerkte seit meinem letzten Besuch einige Veränderungen. Sein Haar war zotteliger, und die Delle in seiner Stirn, wo ihn das Rohr getroffen hatte, schien sich ein wenig gefüllt zu haben und wurde von seinen Locken kaschiert. Er hatte sich einen Bart stehen lassen, der sein Gesicht so rahmte, dass sein Kinn entschlossen wirkte. »Wie geht es Ihnen?«, fragte ich. Er deutete mit einer Handbewegung auf den Rollstuhl. »Ich habe tatsächlich ein paar Fortschritte gemacht, Mr. Schriftsteller. Jeden Tag kommt ein bisschen von meiner Erinnerung zurück. Natürlich nicht an den Überfall. Da kommt gar nichts, und das wird vermutlich auch so bleiben. Aber die Schule, das Studium, Bücher, die ich gelesen, Seminare, die ich besucht habe, also davon kommt jeden Tag wieder was zum Vorschein. Folglich habe ich, soweit das möglich ist, ein wenig Auftrieb. Kann wieder ein bisschen an die Zukunft denken.« »Das ist gut. Das ist wirklich gut.« Er lächelte, richtete sich im Sitzen ein wenig auf und lehnte sich dann zu mir vor. »Aber deshalb sind Sie nicht hier?« »Nein.« »Sie haben etwas in Erfahrung gebracht? In Bezug auf den
Überfall?« Ich nickte. Seine witzelnde, umgängliche Art schlug augenblicklich um, und er lehnte sich noch weiter vor, um mit Nachdruck zu fragen: »Was? Sagen Sie es mir. Was haben Sie rausgefunden?« Ich zögerte. Ich wusste, was ich mit dem, was ich tat, bewirken konnte. Ich fragte mich, ob sich ein Richter so fühlte, wenn er den Urteilsspruch von der Geschworenenbank hörte. Schuldig. Zeit zur Urteilsverkündung. »Ich weiß, wer Sie verletzt hat.« Ich betrachtete sein Gesicht. Es war, als fiele ein Schatten über seine Augen und verdunkelte den Raum zwischen uns. Schwarze Düsternis und blanker Hass. Seine Hand zitterte, und ich sah, wie er die Lippen zusammenpresste. »Sie wissen, wer mir das angetan hat?« »Ja. Das Problem ist nur, dass Sie mit dem, was ich herausgefunden habe, nicht zur Polizei gehen können, um Anzeige zu erstatten, und vor Gericht würde es erst recht nicht genügen.« »Aber« – seine Tonlage war höher, seine Stimme gepresst – »Sie wissen es trotzdem? Sie wissen es und sind sich sicher?«
»Ja. Ich bin mir absolut und vollkommen sicher. Es besteht nicht der geringste Zweifel. Aber, wie gesagt, ich kann Ihnen nicht die Art von Information bieten, mit der ein Cop etwas anzufangen weiß.« »Sagen Sie es mir.« Er sprach fast im Flüsterton, doch die Forderung war von erschreckender, archaischer Eindringlichkeit. »Wer hat mir das angetan?« Ich griff in meine Aktentasche und zog eine Kopie der Polizeifotos von Michael O’Connell heraus, die ich ihm reichte. Zwei Gründe, hatte Catherine zu mir gesagt. Und das hier war der zweite. »Das ist er?« »Ja.« »Wo ist er?« Ich reichte ihm noch ein Blatt. »Er sitzt im Gefängnis. Das hier ist die Adresse, seine Gefangenennummer, ein paar Einzelheiten zu der Haftstrafe, die er verbüßt, und das voraussichtliche Datum seiner ersten Anhörung wegen Haftentlassung. Bis dahin vergehen noch Jahre, aber besser, Sie haben es jetzt. Hier noch eine Telefonnummer, bei der weitere Informationen eingeholt werden können, falls gewünscht.« »Und Sie sind sich ganz sicher?«
»Ja, hundert Prozent.« »Wieso sagen Sie mir das?« »Ich dachte, Sie haben ein Recht darauf.« »Und woher wissen Sie es?« »Bitte fragen Sie mich das nicht.« Er schwieg. Dann nickte er. »In Ordnung. Ich ahne es. Geht in Ordnung.« Will Goodwin betrachtete erst das Foto, dann das Blatt Papier. »Es ist hart da, in diesem Gefängnis, oder?« »Ja. Die machen ihm das Leben nicht leicht.« »Da drinnen kann einem so ziemlich alles passieren.« »Das ist richtig. Man kann für ein Päckchen Zigaretten umgebracht werden. Hat er mir selbst gesagt.« Er nickte. »Ja, kann ich mir vorstellen.« Einen Moment lang ging sein Blick an mir vorbei, dann fügte er hinzu: »Das ist etwas, worüber man nachdenken muss.«
Ich trat zurück, um zu gehen, doch etwas hielt mich fest. Einen Moment lang war mir schwindelig, und meine Körpertemperatur schien steil nach oben zu klettern. Ich fragte mich, was ich gerade getan hatte. Ich sah, wie Will Goodwin kerzengerade dasaß und wie sich die Muskeln an seinen Armen spannten. »Danke«, sagte er langsam, doch mit dem ganzen Gewicht der Grausamkeit, die er erlitten hatte. »Danke, dass Sie an mich gedacht haben, und danke, dass Sie mir das hier gegeben haben.« »Dann geh ich mal.« Doch was ich bei ihm zurückließ, würde nie mehr von mir weichen. »Nur noch eine Frage«, hielt er mich plötzlich zurück. »Sicher. Was denn?« »Wissen Sie, weshalb er das getan hat?« Ich holte tief Luft. »Ja.« Wieder verdüsterte sich sein Gesicht, und seine Unterlippe zuckte. »Und warum also?« Er brachte die Frage nur mühsam heraus. »Weil Sie das falsche Mädchen geküsst haben.« Er schwieg und stieß die Luft heraus, als hätte er einen
Schlag auf die Lunge bekommen. Ich sah, wie meine Auskunft in ihm arbeitete. »Wegen eines Kusses …« »Ja, eines einzigen Kusses.« Er schien zu schwanken, als stürmten plötzlich ein Dutzend andere Fragen auf ihn ein, die er auch noch stellen wollte. Doch er tat es nicht. Stattdessen schüttelte er nur kaum merklich den Kopf. Ich sah jedoch, wie er mit der Hand das Rad seines Rollstuhls so fest packte, dass seine Fingerknöchel sich weiß verfärbten, und wie sich in seinem Innern die eisigste Wut anstaute, die ich je für möglich gehalten hätte.
Der Zettel, den Catherine mir gegeben hatte, führte mich zu einer Straße vor einem großen Kunstmuseum in einer Stadt, die weder New York noch Boston war. Es war kurz nach fünf Uhr Nachmittag. Es herrschte reger Verkehr, und auf den Bürgersteigen strebten die Passanten nach Hause. Eben ging die Sonne hinter den Bürogebäuden unter, und es ertönten die Eröffnungstakte der großstädtischen Abendsymphonie. Ich hörte Autohupen, ächzende Busmotoren und das Stimmengewirr von Leuten, die es eilig hatten. Ich stand auf der obersten Stufe einer ausladenden Treppe, und der Menschenstrom teilte sich um mich wie um einen Fels in der Brandung. Ich starrte geradeaus die breiten Stufen hinauf und glaubte im Grunde
nicht, dass ich sie erkennen würde. Doch als ich sie sah, hatte ich keinen Zweifel. Ich weiß nicht, wieso. Viele andere Frauen verließen um diese Zeit das Museum, und sie alle wirkten zum Beginn des Feierabends gelöst und entspannt. Sie waren alle bemerkenswerte, zauberhafte Erscheinungen. Doch für Ashley galt das alles noch viel mehr. Sie war von mehreren anderen jungen Leuten umgeben, die beim Verlassen des Gebäudes die Köpfe zusammensteckten, lebhaft miteinander redeten und sich auf irgendein Abenteuer freuten, das sie in ein, zwei Tagen vor sich hatten. Es schien, als fingen sich das letzte Tageslicht und die milde Brise in ihrem Haar und als trügen sie ihr Lachen weiter. Als sie an mir vorbeischwebte, hätte ich gerne ihren Namen geflüstert und sie gefragt, ob das, was sie vor sich hatte, die Ereignisse der Vergangenheit wert sei, doch ich wusste, dass dies die unfairste Frage war, die man sich denken konnte, da die Antwort in der Zukunft lag. Also sagte ich nichts und sah ihr nur hinterher. Ich glaube nicht, dass sie mich überhaupt wahrgenommen hat. Ich versuchte, in ihrer Stimme, in ihrem Gang etwas auszumachen, das ich wissen musste. Ich glaubte einen Moment, es gesehen zu haben, doch sicher war ich mir nicht. Und während ich sie mit den Augen verfolgte, tauchte Ashley im Gewühl der Menschenmassen unter, entschwand in ihr eigenes Leben.
Falls es tatsächlich Ashley war. Genauso gut hätte es Megan oder Sue oder Katie oder Molly oder Sarah sein können. Ich fand, das sei letztlich egal.
Im Knaur Taschenbuch Verlag sind bereits folgende Bücher des Autors erschienen: Die Anstalt Der Patient Der Fotograf Das Rätsel
Über den Autor: John Katzenbach war Gerichtsreporter für den Miami Herald und die Miami News, bevor er sich der Schriftstellerei zuwandte. Er hat in den USA bereits zehn Kriminalromane veröffentlicht, darunter die Bestseller Das Rätsel, Die Anstalt und Der Patient, die demnächst in Hollywood verfilmt werden. Zweimal war er für den Edgar Award, den renommiertesten Krimipreis der USA, nominiert. Er lebt mit seiner Familie im Westen des USBundesstaates Massachusetts.
Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Wrong Man« bei Ballantine Books, New York.
Besuchen Sie uns im Internet: www.knaur-ebook.de
Knaur Taschenbuch Copyright © 2006 by John Katzenbach Copyright © 2007 für die deutschsprachige Ausgabe bei Droemer Verlag. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden. Redaktion: Kirsten Reimers Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Umschlagabbildung: buchcover.com / Mikkel Ostergaard Satz: Adobe InDesign im Verlag ISBN 978-3-426-40010-4