Volker Krämer
Das dunkle Alphabet Version: v1.0 »Ihr Besuch wäre jetzt da, Dorian.« Dorian Howe zuckte zu sammen und ...
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Volker Krämer
Das dunkle Alphabet Version: v1.0 »Ihr Besuch wäre jetzt da, Dorian.« Dorian Howe zuckte zu sammen und hätte sich mit der Ahlenspitze beinahe die Fingerkuppe perforiert. Um Ruhe bemüht hob er den Kopf ein wenig an. Die Beleuchtung der starken Lupe ermüdete seine Augen immer sehr. Er musste ein wenig blinzeln, als er zu seiner Assistentin aufsah, die direkt vor der Werkbank stand. Celia Lennox war eine junge Frau von gerade einmal 23 Jahren. Dass sie unzweifelhaft bildhübsch war, konnte selbst ein alter Junggeselle wie Dorian nicht übersehen. Ebenso wenig, dass sie groß war. Sehr groß sogar. Wie konnte sich ein circa 185 Zentime ter großes Wesen so vollkommen geräuschlos bewegen? Celia war vor drei Monaten bei Howe eingedrungen. Ja, einge drungen! Genauer gesagt hatte die Fakultät sie ihm aufge zwungen. Als Professor für Kunsthistorik gewährte man ihm sonst gewisse Freiheiten, doch diesmal …
Dorian war nicht der Typ Professor, der sich Tag für Tag in den hei ligen Hallen der Universität herumdrückte, die ihm schon als Student zuwider gewesen waren. Seine stets ausgebuchten Vorlesungen waren ihm wichtig, nicht der Uni-Alltag mit seiner Bürokratie und dem neidischen Kollegium. Howe versuchte, seiner blonden Heimsuchung so etwas wie ein Lächeln zu schenken. »Besuch? Ach, richtig. Schicken Sie ihn doch bitte zu mir herein. Oder haben Sie eine gute Idee, wie man ihn ver jagen könnte?« Wenn Celia Lennox die Ironie seiner Frage verstanden hatte, dann ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Wortlos drehte sie sich um und schwebte in Richtung Tür davon. Eine Referendarin für Kunsthistorie – Schwerpunkt Medienge schichte – sollte keine so aufregende Figur besitzen, fand Howe. Zu mindest dann nicht, wenn man sie ihm für ein volles Jahr zugeteilt hatte. Mit Händen und Füßen hatte Dorian sich dagegen gewehrt. Vergeblich, denn es gab Verpflichtungen, denen auch er sich nicht entziehen konnte. Das hatte man ihm unmissverständlich klar ge macht. Nur gut, dass Dorian sich in Sachen Frauen sein ureigenes Immun system zugelegt hatte. Mit diesem Thema war er durch. Mit einem breiten Grinsen betrat Cliff Readers den Raum, der so gar nichts vom Arbeitszimmer eines Kunsthistorikers an sich hatte. Schon eher fühlte man sich an eine Mischung aus Museum und Werkstatt erinnert. Sammlern von alten Drucken wäre das Herz aufgegangen, wenn sie in den Schätzen gestöbert hätten, die hier achtlos herumlagen. Es gab unzählige Werkzeuge aus den vergangenen Jahrhunderten, die alle etwas mit der Buchdruckkunst zu tun hatten. Und dazwischen – teilweise ordentlich in Setzkästen sortiert, teilweise wie hingeworfen wirkend – Bleilettern, Klischees aus Holz, Kupfer oder Eisen. Howe hatte sie nie gezählt oder gar katalogisiert, doch jedes einzelne Stück
hatte für ihn eine ganz besondere Bedeutung. Das war Dorian Howes Welt. Die historische Bedeutung von Gu tenbergs Erfindung des Buchdrucks. So hatte auch der Titel seines ersten Buches gelautet, das seither als Standartwerk galt. Der Geruch nach Papier, Blei und Druckfarbe war das Parfüm sei nes Lebens. Cliff Readers hatte seinen alten Studienkollegen oft genug hier be sucht. Howe nannte den erbarmungswürdigen Zustand seiner Arbeitsumgebung kreatives Umfeld, und Cliff hatte es sich schon lange abgewöhnt, seinen Freund vom Gegenteil überzeugen zu wollen. Ohne zu fragen bediente sich Readers an der Kaffeemaschine und suchte sich einen halbwegs passablen Stuhl. »Wenn du dich noch immer nicht an deine Referendarin gewöhnt haben solltest … Also ich übernehme sie sofort als Sekretärin.« Mit exakt diesem Spruch hatte Howe gerechnet, denn er kannte Cliff nur zu gut. »Das Mädchen ist schon in Ordnung. Wenn sie nur nicht immer wie eine Schleichkatze durch das Haus geistern würde.« Readers zuckte mit den Schultern. »Sie will dich nicht unnötig stö ren. Was willst du mehr? Ich für meinen Teil liebe Schleichkatzen.« Dorian winkte ab. »Lass es gut sein, Cliff. Du bist sicher nicht hier, um dich mit mir über Celia zu unterhalten. Wenn du zu mir kom mst, dann bedeutet das Arbeit und Ärger. Und zwar immer. Also los, komm zur Sache!« Readers wunderte sich nicht über Howes kurz angebundene Art. Dorian hatte ja Recht. Über Cliff Readers Schreibtisch im For schungsministerium gingen alle Anfragen nach wissenschaftlichem Hilfeersuchen, wie es offiziell bezeichnet wurde. National oder in ternational – wo auch immer Forscher an ihre Grenzen stießen, konnten sie Experten um Hilfe bitten. Cliff hatte Dorian Howe schon um die halbe Welt geschickt. Wenn
es um alte Drucktechniken, Schriften und Folianten ging, dann war er nun einmal die unumstrittene Nummer Eins. Heute jedoch spürte Readers eine Unsicherheit, die er früher nicht gekannt hatte. Unruhig nestelten seine Finger an dem großen Um schlag herum, den er die ganze Zeit über in den Händen hielt. »Nun gut, Dorian.« Kurz hielt er inne und sah Howe fest in die Augen. »Aber versprich mir, dass du den Auftrag ablehnst, wenn du Bedenken hast. Du darfst dich mir nicht verpflichtet fühlen.« Howe nickte. So unsicher kannte er Readers gar nicht. Aus dem Umschlag fischte Cliff ein halbes Dutzend Fotos, die er Dorian überreichte. Es waren allesamt Bilder im DIN-à-5-Format. Bereits das erste von ihnen vertrieb jegliche Lethargie aus Howes Gedanken. Eine aus Holz gebaute Druckpresse, wie sie Johannes Gutenberg benutzt hatte. Eine so genannte Spindelpresse, von denen es auf der Welt im Grunde nur noch Repliken zu bestaunen gab. Doch diese hier schien kein Nachbau zu sein! Mit zittrigen Händen legte Dorian das Foto unter die starke Lupe, die durch ein Stativ fest mit der Werkbank verbunden war. Minu tenlang vertiefte er sich in die Details. Cliff Readers ahnte, was in seinem Freund vor sich ging und schwieg. Endlich schien Howe wie aus einer Trance zu erwachen. »Wo hast du das Foto her? Wo steht die Presse? Wann kann ich sie sehen?« Die Fragen sprudelten nur so aus seinem Mund. Beim Anblick des zweiten und dritten Bildes verstummte er jedoch wieder. Was er hier sah, war sein ganz privater Garten Eden. Was der Fotograf abgelichtet hatte, war eine sensationell gut erhaltene komplette Druckwerkstatt aus dem 15. Jahrhundert. Cliffs Hand legte sich schwer auf den kleinen Fotopacken und hol te Howe in die Realität zurück. »Dorian, ehe du das nächste Foto siehst, muss ich dir etwas sagen. Vor vielen Jahren hast du mir
immer wieder Geschichten über einen ganz bestimmten Schrifttyp erzählt. Erinnerst du dich daran? Die verlorenen Lettern, hast du sie genannt. Ich bin nicht sicher, aber …« Dorian Howe hörte ihm längst nicht mehr zu, denn er war gefangen von dem, was er sah. Es war eine relativ unscharfe Fotografie, die längst nicht alle Feinheiten des abgelichteten Druckbogens preisgab. Links oben prangte auf dem Blatt ein kunstvoll gearbeitetes Initial, das Howe aus der Erinnerung heraus nicht zuordnen konnte. Doch das war jetzt nicht von Belang. Es war die Schrift, die sich aus Typen zusammensetzte, deren Existenz Howes Weltbild gehörig erschütterten. Es dauerte eine Weile, bis er seine Stimme wieder gefunden hatte. »Ich reise noch heute ab. Erledige bitte alles Notwendige für mich.« Cliff Readers war kaum überrascht, dass sein Freund nicht einmal nach dem Reisziel gefragt hatte …
* Dorian Howe liebte Deutschland. Es lag ja in der Natur der Sache, dass durch sein Fachgebiet ein ganz eigener Bezug zu diesem Land und seinen Bewohnern ent standen war. In seiner Jugend hatte Dorian sogar drei Jahre lang in Mainz gelebt, denn er wollte seine Studien dort betreiben, wo die Geschichte des Buchdrucks begonnen hatte. Dort war er Gutenberg und seiner revolutionären Erfindung ganz nahe gewesen. Auch später hatten ihn unzählige Reisen in dieses Land geführt. Er war ein guter Kunde der Deutschen Bahn, denn Howe hasste lange Autofahrten – und er hatte panische Flugangst. Autofahrer waren ihm suspekt, denn sie hatten ihren Gasfuß nur selten unter Kontrolle. Flugzeugen konnte er nicht vertrauen, denn
schließlich waren sie schwerer als Luft. Sie gehörten nicht an den Himmel. Und manchen von ihnen wurde das auch schlagartig be wusst – wenn sie abstürzten. Die Schiene hingegen war sein Freund, auch wenn ihm das den Hohn und Spott seiner Kollegen einbrachte. Howe kümmerte sich nicht weiter darum. Celia Lennox hatte es kommentarlos hingenommen, dass die Reise ein wenig umständlich über den Schienenweg ging. Immer wieder vertiefte sie sich in die Unterlagen, die ihnen Cliff Readers zur Verfügung gestellt hatte. Mit übergeschlagenen Beinen saß sie Howe im Abteil gegenüber. Jeder andere Mann hätte große Probleme gehabt, seine Blicke von ihren makellosen Beinen zu lassen, die von dem kurzen Sommer kleid besonders betont wurden. Manchmal fragte sie sich ernsthaft, ob Dorian Howe überhaupt ein männliches Wesen war oder nur noch Fleisch gewordene Wissenschaft? Ihm fiel nichts Besseres ein, als seit Stunden aus dem Fenster zu starren. Celia räusperte sich vernehmlich. »Stimmen Sie mir zu, dass die Gegend um Leipzig ein logischer Fundort ist, Dorian?« Es war si cherlich ihr zehnter Versuch ein Gespräch in Gang zu bringen. Sie hatte sich geschworen, dass es der allerletzte sein würde. »Es ist ja historisch verbrieft, dass aus Mainz vertriebene Drucker unter anderem auch in Leipzig ihre eigenen Werkstätten gegründet haben.« Es dauerte einige Sekunden, bis Howes Reaktion erfolgte. »Hmmm, ja.« Dabei wandte er ihr nicht einmal den Kopf zu. Celia Lennox platzte der Kragen. »Also nun reicht es mir! Es ist wohl besser, wenn ich am nächsten Bahnhof aussteige und zurück nach England fahre. Aber wahrscheinlich würden Sie selbst das nicht einmal registrieren!« Verwirrt und verblüfft über diesen Ausbruch betrachtete Howe seine Referendarin, als würde er sie tatsächlich erst jetzt bemerken.
Sein Blick war besorgt und angespannt zugleich. »Das wäre sicherlich nicht die schlechteste Lösung«, meinte er. »Mir ist nicht wohl bei dieser Sache. Es wäre besser gewesen, ich hätte die Fahrt alleine angetreten.« Celias Wut erlosch mit einem Mal, denn Howe schien ernsthaft besorgt zu sein. Nur den Grund dafür sprach er natürlich wieder einmal nicht aus. Da bremste der Zug, und Celias Blick verfing sich im ständig grö ßer werdenden Gebäude des imposanten Bahnhoftrakts hinter dem Fenster. »Wir sind da. Leipzig Hauptbahnhof.« Damit hatte sich jedes weitere Wort erübrigt. Natürlich würde sie die Heimreise nicht antreten. Jetzt erst recht nicht, denn so verunsi chert und ängstlich hatte Celia ihren Chef noch nie zuvor erlebt …
* Ihr Empfangskomitee bestand aus einem übergewichtigen Glatz kopf, der sich ihnen mit hochrotem Gesicht näherte. Dorian Howe verzog unwillig das Gesicht, als er ihn erkannte. »Hätte ich mir denken können, dass Köster seine Finger mit im Spiel hat.« Mehr konnte er nicht sagen, denn der Dicke war erstaunlich flink bei ihnen. »Professor Howe!«, begrüßte er seinen Gast überschwenglich. »Sie werden nicht glauben, wie sehr ich mich freue, Sie zu sehen. Es ist lange her, nicht wahr?« Celia beachtete er mit keinem Blick. »Aber jetzt kommen Sie, kommen Sie … hier entlang.« Ohne eine Erwiderung abzuwarten hastete er auf seinen zu kurz geratenen Beinen dem Ausgang entgegen. Howe und Celia blieb nichts anderes übrig, als ihm ganz einfach zu folgen.
Minuten später saßen sie im Fond eines Geländewagens, den Kö ster halsbrecherisch durch die Innenstadt Leipzigs manövrierte. Der Stauraum des Offroaders war dermaßen mit Werkzeug voll gestopft, dass sie ihre Reisetaschen auf den Knien halten mussten. Aus Howes Gesicht war jede Farbe gewichen. »Sie sollten ein wenig langsamer und umsichtiger fahren, Köster.« Der Kahlkopf lachte gekünstelt auf. »Richtig, ich vergaß Ihre Panik vor Autofahrten. Aber keine Sorge, Professor Howe, wir haben es nicht sehr weit. Der Fundort liegt am südlichen Stadtrand.« »Erzählen Sie uns mehr davon!« Celia war erstaunt, dass ihr Chef sie tatsächlich mit einbezog. Köster brachte das Fahrzeug vor einer roten Ampel hart zum Stehen. Im Innenspiegel konnte Celia seine nervös flackernden Augen sehen. Und den Schweiß, der ihm auf der Stirn stand. Angst schweiß? Celia war sich da ziemlich sicher. Irgendetwas brachte diesen Mann aus der Fassung. Als die Ampel umsprang, ließ Köster die Kupplung schnappen. Mit einem Satz sprang der Jeep vorwärts. »Es handelt sich um ein altes Fabrikgelände, das nach der Wende von einem Investor für nicht viel mehr als einen Apfel und ein Ei aufgekauft wurde«, berichtete Köster. »Bis vor einem Jahr hat er es brach liegen lassen. Schließlich sollte dort ein riesiger Kaufpark ent stehen. Daran ist nichts ungewöhnlich. Ähnliche Fälle gibt es überall in den so genannten Neuen Bundesländern.« Köster bemerkte offen bar nicht, dass er die Höchstgeschwindigkeit schon weit über schritten hatte. Sein rechter Fuß lag bleiern auf dem Gaspedal. »Bei dem Abriss fand man die Grundmauern der alten Klosteranlage. Ist übrigens in keiner Chronik verzeichnet gewesen. Seltsam, oder? Aber richtig interessant wurde es erst nach der Entdeckung der Kellergewölbe.« In einiger Entfernung konnte Celia Baukräne ausmachen. Sie schienen sich ihrem Ziel zu nähern.
»Wie viele Wissenschaftler sind am Projekt beteiligt?«, fragte Ho we. Sein Magen rebellierte. Es war gut gewesen, dass er das Speise angebot im Zug verschmäht hatte, denn sonst hätte diese Fahrt für ihn in einer Katastrophe geendet. Er kurbelte die Seitenscheibe eine Handbreit nach unten. Der Fahrtwind tat ihm gut. »Vierzehn …«, sagte Köster zögernd, »ursprünglich zumindest. Aber aktuell sind es noch acht Kollegen und Kolleginnen. Sie werden sich fragen, warum wir uns nahezu halbiert haben.« Mit der rechten Hand wischte sich Köster dicke Schweißperlen von der Stirn. »Warten Sie noch ein paar Minuten – dann werden Sie es ver stehen. Ganz sicher sogar.« Das gesamte Bauareal war von hohen Zäunen umgeben. Celia stutzte, als man sie bei der Einfahrt intensiv kontrollierte. Sicherheit musste es auf solchen Fundstellen natürlich geben, doch schließlich handelte es sich hier ja nicht um Fort Knox. Endlich stoppte Köster den Jeep wenig später endgültig. Ein weitere Absperrzaun und die obligatorischen Zelte rings um her kamen Celia nur zu bekannt vor. Primitiv, doch ausreichend für erste Untersuchungen. Laborcontainer und Wohnwagen für die Wissenschaftler würden sicherlich bald folgen. Forscher konnten durchaus bescheiden in ihren Ansprüchen sein, wenn sie das Jagd fieber gepackt hatte. Von den Klosterruinen konnte man in der Baugrube nur wenige Fragmente ausmachen, aber es war ja erst ein kleiner Teil freigelegt worden. Celias Erfahrungen mit solchen Ausgrabungen waren noch gering, doch wenn sie sich nicht sehr irrte, dann konnte das hier ein Objekt werden, dessen Erforschung sicherlich mehrere Jahre dauern würde. Der Eigentümer des Geländes musste vor Wut kochen. Sei nen Kaufpark konnte er zunächst einmal vergessen. Howe war sichtlich bemüht, die Begrüßung seiner deutschen Kollegen so schnell und einsilbig wie nur möglich hinter sich zu
bringen. Er brannte darauf, endlich in die Gewölbe geführt zu werden. Köster schien es zu bemerken. Mit zwei Sicherheitshelmen in den Händen kam er auf die Besucher aus England zu. »Setzen Sie die bitte auf und folgen Sie mir. Aber Vorsicht! Bleiben Sie dicht hinter mir. Auch wenn Sie mich nun für einen armen Irren halten – hier kann alles zu einer Gefahr werden.« Mit unsicheren Schritten ging er zu der von hellen Strahlern aus geleuchteten Bodenöffnung, die in das untere Geschoss der Anlage führte. Celia erhaschte den Blick einer jungen Frau, die ihnen entgegen kam. Es gehörte nicht viel Menschenkenntnis dazu, um zu er kennen, dass ihr Gesicht von Angst gezeichnet war. Panischer Angst …
* Die rohen Steinstufen führten steil in die Tiefe. Weder Howe noch Celia konnten trotz der intensiven Ausleuch tung am Boden der Treppe Details erkennen. Erst als sie die unterste Stufe erreicht hatten, sahen sie den Grund dafür. Ein Gang führte einige Meter weiter waagerecht nach vorne, dann ging es erneut über breite Stufen mindestens drei Meter in die Tiefe. Wie in Trance betrat Dorian Howe den in grelles Kunstlicht ge tauchten Raum, der direkt am Treppenabsatz anschloss. Die unge wöhnlich hoch gewölbte Decke, die glatt verputzten Wände, das Ka chelmosaik des ebenen Bodens – all das registrierte er in diesen Momenten nicht. Sein Herz begann, schneller zu schlagen. Zwei Druckpressen waren der Blickfang des Raumes. Im hinteren Teil standen roh ge zimmerte Werkbänke, auf denen Setzkästen und Werkzeuge lagen.
Ein Durchbruch führte in den zweiten, nicht minder großen Raum, der sich als perfekt eingerichtete Gießerei entpuppte. Hier waren die Drucktypen gefertigt worden. Eine völlig autarke Werkstatt also, die nicht auf Zulieferer angewiesen war. Howe holte tief Luft und spürte das Brennen in seinen Lungen. Hektisch fischte er in seinen Taschen nach dem Notfallspray, das er stets bei sich trug. Die Aufregung machte seinen Bronchien offenbar zu schaffen. Zwei Spraystöße sollten ausreichend sein. Langsam und tief atmen. Immer mit der Ruhe. Dorian schloss die Augen und wartete auf die befreiende Wirkung. Für einen kurzen Moment spürte er eine flüchtige Berührung – und eisige Kälte griff nach seinem Herz! Howe taumelte und stieß mit dem Rücken gegen eine der Druck pressen. Im Fallen presste er die rechte Hand auf die linke Brustsei te. Ein Infarkt! Nein, bitte nicht! Wie aus weiter Entfernung hörte er Celias Schrei und unnatürlich laut dröhnende Schritte, die sich ihm näherten. DAS LETZTE TEIL ZUR DUNKLEN GANZHEIT … Howe fühlte, wie kräftige Hände nach ihm griffen. NUR EIN TEIL ZUR MACHT. Die fehlende Atemluft verwirrte seinen Verstand. Es konnte nicht anders sein, denn diese Worte kamen tonlos zu ihm, waren ganz einfach da – und doch wieder nicht. KANNST DU ES? Irgendetwas wurde hart auf seinen Mund gepresst. Dann ertönte das Zischen, scharf und bösartig wie der Warnlaut einer in die Enge getriebenen Schlange. Gierig sogen Howes Lungen den reinen Sauerstoff in sich auf. Langsam bekam die Welt um ihn herum wieder Farben und Um risse – und Gesichter … »Dorian, hören Sie mich?« Celias Stimme klang ganz einfach
wundervoll, denn sie war so real. Köster nahm die Atemmaske von Howes Gesicht. »Ich hatte Sie ja gewarnt. Hier unten ist alles anders.« Howe kam mit Mühe auf die Beine. Der Eismantel um sein Herz war geschmolzen. Wenn das ein Infarkt gewesen war, wie konnte er sich so schnell davon erholt haben? Sein fragender Blick richtete sich auf die Sauerstoffflasche, die hier unten so deplaziert wirkte. »Ich denke, mir reicht es nun mit Ihren sibylleschen Andeutungen, Köster. Reden Sie Klartext, Mann! Es scheint Sie ja nicht sonderlich zu überraschen, was mir eben passiert ist.« Dorian deute auf die Sauerstoffmaske, die Köster noch in der Hand hielt. »Ist das hier eine archäologische Fundstelle oder eine medizinische Notfallstation? Ich höre, Köster!« »Gut, ganz wie Sie wollen.« Der Deutsche machte eine alles um fassende Handbewegung. »Als die Gewölbe entdeckt wurden, war ich noch nicht vor Ort. Man hat mir berichtet, dass zunächst zwei Männer zur ersten Erkundung nach unten geschickt wurden. Zwei äußerst erfahrene Leute, die so eine Sache mit aller Vorsicht an gingen.« Köster legte die Atemmaske zu Boden. Verwundert bemerkte Do rian, das sein Gegenüber dabei einen ängstlichen Blick auf die Druckpresse warf, gegen die Howe vorhin gefallen war. »Die beiden hatten natürlich tragbare Messgeräte bei sich, mit denen sie die Luftzusammensetzung hier unten testen konnten«, be richtete Köster weiter. »Man weiß nie, was einen in Räumen erwartet, die über Jahrhunderte verschüttet gewesen sind. Aber sie meldeten über Funk, dass die Luft okay sei. Einer der beiden sagte mir später, er hatte für einen Moment das Gefühl, als würde ir gendetwas nach ihm greifen – nach seinen Gedanken. In der nächs ten Sekunde griff sich sein Partner mit beiden Händen an den Hals, röchelte und kippte um. Einfach so.« In den Augen seiner Zuhörer konnte Köster Skepsis lesen, doch damit hatte er gerechnet. »Sein
Kollege schleppte ihn über die Stufen nach oben. Aber es war zu spät. Der Mann war bereits tot. Ein kerngesunder Mann, übrigens. Das war der Startschuss, Howe, nur der erste Schlag.« Celia Lennox wollte eine Frage stellen, doch eine Handbewegung Howes hielt sie zurück. Köster lehnte sich schwer gegen eine Werkbank. »Man brachte un ter strengen Vorsichtsmaßnahmen eine portable Anlage zur Luftum wälzung in die Räume. Der Vorfall war schrecklich, doch dieser Fund war einfach zu großartig, um sich abschrecken zu lassen. Ein Team wurde zusammengestellt. Alles was in Deutschland Rang und Namen hat – inklusive meiner Wenigkeit.« Köster fabrizierte ein schräges Lächeln. »Alles in allem vierzehn Personen, die sich daran machten, die Funde zu katalogisieren. Am dritten Tag wurde Do ktor Sternfeld von dem Hebel der Druckpresse hinter Ihnen getötet.« Howe zog die Augenbrauen nach oben. »Sie phantasieren, Köster. Sie wissen so gut wie ich, dass ein solcher Hebel mit großer Kraft be wegt werden muss. Er kann nicht …« Dorian sah unwillkürlich zu der Maschine. Der besagte Hebel ragte waagerecht gute 80 Zentime ter aus der Presse hervor. Es war vollkommen unmöglich, dass er sich selbsttätig bewegt hatte. Dazu bedurfte es zweier muskulöser Arme. »Aber er hat!« Kösters Augen waren zu schmalen Schlitzen ge worden. »Es ging alles so schnell, dass es keiner von uns anderen wirklich richtig gesehen hat. Der Hebel hat Sternfelds Adamsapfel zerschmettert. Sie können sich denken, was hier los war. Polizei, die Sicherheitsleute vom Innenministerium – sie haben uns tagelang ausgequetscht. Herausgefunden haben sie trotzdem nichts. Als wir endlich wieder an die Arbeit gehen konnten, hat sich meine Assis tentin vor meinen Augen die Kehle durchgeschnitten. Genau dort, wo Ihre hübsche Referendarin jetzt steht.«
Celia machte einen erschrockenen Schritt zur Seite. Erst jetzt be merkte sie den rotbraunen Fleck auf dem Boden. »Was soll das?«, fuhr sie Köster wütend an. »Welche Story tischen Sie uns hier auf? Der Fluch der Mumie, Teil 10? Das sollten Sie besser Hollywood überlassen.« Köster lachte humorlos auf. »Das würde ich gerne tun. Alles, was ich Ihnen sage, ist die Wahrheit. Sie müssen nur die anderen fragen. Ich habe meine Assistentin sehr gemocht, wissen Sie? Eine lebens frohe Frau, verheiratet, zwei kleine Kinder … Da gab es keinen Grund für einen Selbstmord. Nicht den geringsten! Sie hätte sich nie selbst getötet. Nicht aus eigenem, freien Willen.« Howe wurde langsam klar, warum Cliff Readers ihm freigestellt hatte, ob er diesen Auftrag übernehmen wollte. »Drei Todesfälle«, fasste er zusammen. »Da wundert es mich, dass überhaupt noch jemand vom wissenschaftlichen Team vor Ort ist.« »Ich habe auch meine liebe Mühe und Not, damit ich zumindest eine Rumpfmannschaft am Ball halte.« Kösters Blicke irrten durch den Raum. »Ich wusste mir keinen anderen Rat mehr, ich musste Sie ganz einfach hierher holen, Howe. Hier geschieht etwas, das rational nicht zu erklären ist. Erinnern Sie sich an ein bestimmtes Foto, das ich Readers zukommen ließ? Ich bin in diesen Dingen kein Experte wie Sie, aber vielleicht …« Howe ließ Köster nicht ausreden. »Wir werden sehen. Ich muss mir zunächst einen Überblick verschaffen – und zwar alleine!« Ohne Widerspruch zog Köster ab. Celia Lennox fühlte sich als seine Assistentin von dem Rauswurf nicht angesprochen und begann mit ihrer Digitalkamera, Fotos von den Druckbögen zu machen. Nie zuvor hatte sie derart gut erhaltene Drucke aus dem 15. Jahrhundert gesehen. Howe legte ihr die Hand auf die Schulter. Verblüfft drehte sie sich zu ihm um.
»Nicht jetzt, Celia«, bat er. »Noch nicht. Wir müssen erst wissen, was hier geschieht.« Im nächsten Moment war sie wieder Luft für ihn. Howe schlich durch die Räume wie eine Raubkatze. Ohne irgendetwas zu berüh ren, sog er die Eindrücke in sich auf. Celia kannte natürlich die Ge schichten, die sich um Dorian Howe rankten. Seine Art, sich an Fundorte heranzutasten, war bereits Legende. Doch jetzt erlebte sie es zum ersten Mal selbst. Minutenlang stand er bewegungslos mitten in Raum und lauschte. Tief sog er die Gerüche seiner Umgebung in sich ein. Dann ging er in die Knie, legte sich schließlich auf den Rücken. Howe ließ keine Perspektive aus, die ihm ein neues Bild vermitteln konnte. Im zweiten Raum wurde er fündig. »Sehen Sie die Zeichen an der Wand?« Celia ging in die Hocke, um ein vergleichbaren Blickwinkel zu erlangen. Während sie sich wieder aufrichtete, sah sie Howe bewundernd an. Der Mann entdeckte Dinge, die anderen verborgen blieben. Nur schemenhaft erkannte Celia das, was Dorian Zeichen nannte. Mit ih rer starken Handlampe leuchtete sie die Wand an, doch damit er reichte sie nur, dass die Hieroglyphen vollständig verblassten. »Können Sie etwas davon entziffern, Dorian?« So sehr sie ihr Wissen auch bemühte – keines dieser Zeichen ließ sich in eine be kannte Sprache einordnen. Howes Lippen begannen Worte zu formen. »Dunkeln … Ganz … die Macht.« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann zu wenig erkennen. Vielleicht könnte man den Text mit Infrarot besser sichtbar machen. Oder mit Lichtfiltern.« Er strich sich mit einer Hand über die Augen. »Köster wird uns morgen die entsprechenden Geräte besorgen. Heute bin ich zu müde für Spekulationen. Wir brechen erst einmal ab.« Schweigend verließen sie das Gewölbe. Oben erwartete sie Köster,
doch auch der bekam aus Howe kein weiteres Wort heraus. Einmal noch wandte sich Celia Lennox um, bevor sie ins Freie trat. Ihr war, als hätte sie ein Geräusch aus der Tiefe gehört. Doch das hing sicherlich mit ihren angespannten Nerven zu sammen. Ganz sicher …
* Celia Lennox hatte schon auf unbequemeren Unterlagen geschlafen. Allerdings verdiente dieses Metallgestell mit seinen quietschenden Federn und der viel zu dünnen Matratze die Bezeichnung »Bett« auf keinen Fall. Um drei Uhr in der Früh wachte sie aus ihrem unruhigen Schlaf auf, der nicht viel mehr als ein Dahindämmern gewesen war. Köster hatte Howe und Celia natürlich zu einem Hotel bringen wollen, in dem er zwei Zimmer für die Gäste aus England gebucht hatte. Doch Dorian hatte sich durch nichts dazu bewegen lassen, das Areal zu verlassen. Keine Frage, dass sie als seine Assistentin in seiner Nähe bleiben wollte. Celia versuchte, die knarrenden Federn zu überlisten. Beinahe ge räuschlos gelang es ihr, sich auf den Rücken zu drehen. Da sah sie das Licht. Es handelte sich um den Abstrahlkegel einer Taschenlampe, den jemand mit irgendeinem Tuch abdämpfte. Und dieser jemand konn te niemand anderes als Dorian Howe sein, denn er schlief allein im Zelt neben Celia. Still blieb sie liegen, wartete mehrere Minuten ab, bis das Licht in der Dunkelheit verschwand. Erst als sie sich sicher war, dass der Professor nicht nur einem menschlichen Bedürfnis gefolgt war, sprang Celia von ihrer Liege auf. Rasch schlüpfte sie in ihre Klei
dung und verließ das Zelt. Der Lichtkegel war nicht zu entdecken, aber Celia wusste, in wel cher Richtung sie zu suchen hatte. Die Minitaschenlampe, die sie an ihrem Schlüsselbund mit sich trug, erhellte mit ihrem intensiven blauen Licht den Weg zum Ein stieg in die Katakomben mehr als ausreichend. Celia hatte keine Idee, was Howe um diese Uhrzeit dort suchte, doch das spielte nur eine untergeordnete Rolle für sie. Was es auch sein mochte – es barg Gefahren in sich, und sie durfte ihn nicht alleine lassen. Unkontrollierbare Angst stieg in ihr hoch, als sie die erste Stufe unter den Füßen spürte. Mit jedem Schritt in die Tiefe schlug ihr Herz lauter, wurde ihre Atmung hektischer. Auf dem ersten Treppenabsatz lehnte sie sich gegen die raue Steinwand. Ruhig, befahl sie sich selbst. Ganz ruhig … hier ist niemand, der … Eine kräftige Hand legte sich auf ihren Mund. Celias Schrei erstickte tonlos, als das grelle Licht direkt in ihre Augen leuchtete. Ein Körper presste sich gegen ihren, verhinderte, dass ihr die Beine wegsackten. Die junge Frau vergaß alles, was man ihr über Selbstverteidigung beigebracht hatte. Zu groß waren Panik und Todesangst in ihr. »Was zum Teufel tun Sie hier unten?« Die Worte kamen im Flüsterton, doch sie waren an Intensität kaum zu überbieten. Alles in Celia Lennox entspannte sich. »Verdammt, Dorian, wollen Sie mein Herz zum Stillstand bringen? Was ich hier mache? Das wollte ich Sie fragen? Was tun Sie mitten in der Nacht …« Dorian Howe legte sich den Zeigefinger an die Lippen. »Still. Da unten ist jemand. Ich habe mitbekommen, wie eine Gestalt an meinem Zelt vorbeischlich. Irgendetwas geht da vor sich. Kommen Sie, aber keinen Laut, verstanden?« Celia löschte ihre Minilampe. Ein verräterischer Lichtstrahl war mehr als genug.
Mitten auf der zweiten Treppe stoppte Dorian und verharrte reg los. »Riechen Sie das auch?« Schnuppernd sog er die Luft ein, wie ein Bluthund auf frischer Fährte. Celia konnte da nicht mithalten. Die Gerüche in den unter irdischen Räumen waren intensiv, doch für ihre ungeübte Nase hatten sie sich keinen Deut verändert. »Was soll ich denn um Himmels Willen riechen?« »Blei.« Dorian Howe richtete den Strahl der Handlampe nun di rekt in den ersten der beiden Räume, doch hier hatte sich auf den ersten Blick nichts verändert. »Flüssiges Blei«, präzisierte Howe. Alle Vorsicht bei Seite lassend durchquerte er den Druckraum mit schnellen Schritten – und blieb wie angewurzelt im Durchgang zur Gießerei stehen. Nur Sekunden später war Celia neben ihm und sah den Grund für Howes Entsetzen. Köster lag auf dem Boden neben der primitiven Schmelzanlage. Im großen Tiegel brodelte das flüssige Metall, warf bedrohliche Bla sen, die zischend zerplatzten. Übel riechender Dampf hatte sich im ganzen Raum verteilt und machte Howe und Lennox das Atmen schwer. Kösters rechte Hand hielt noch im Tod krampfhaft die hölzerne Schöpfkelle umklammert, aus der er sich das kochende Blei in den Mund geschüttet hatte … ER KONNTE ES NICHT. KANNST DU ES? Entsetzt schloss Dorian Howe die Augen. Mit aller Kraft versuchte er, die Stimme in seinem Kopf zu ignorieren. Doch er wusste in diesem Augenblick, dass er ihr nicht entkommen konnte. Sie würde ihn nicht mehr los lassen …
*
Das Polizeiaufgebot war groß. Doch es wurde bei weitem von dem der Medienvertreter übertrof fen. Celia war Engländerin. Daher war sie alles andere als überrascht, dass sich die schreibende Presse und die deutschen TV-Anstalten auf diesen spektakulären Fall stürzten. In Großbritannien hätte es höchstwahrscheinlich aufwändige Sondersendungen zu besten Tageszeiten gegeben; hier begnügte man sich mit kurzen, aber nicht minder reißerisch aufgemachten Beiträgen, die selbst in seriösen Nachrichtensendungen ausgestrahlt wurden. Mysteriöser Tod durch siedendes Blei – Selbstmord oder barbarische Hinrichtung? So oder ähnlich lauteten die TV-Aufmacher. Und der Boulevardpresse würden sicher noch bessere Headlines einfallen. So sehr er sich auch zierte, Dorian Howe kam um diverse In terviews nicht herum. Und seine überaus medienwirksame Assis tentin musste vor aufdringlichen Reportern regelrecht die Flucht ergreifen. Erst am späten Nachmittag ließen die Beamten Celia in die unter irdischen Räume. Verblüfft betrachtete sie die Szenerie, die sich ihr hier bot. Sie hatte mit Polizeibeamten gerechnet, vielleicht noch mit Sicherheitsbeamten in ihren obligatorischen dunklen Anzügen, die auffällig unauffällig herumstanden. Was sie vorfand, waren Männer in weißen Kitteln, die Vermessungen durchführten. Und mitten un ter ihnen stand ein sichtbar verunsicherter Professor Howe … »Was soll das hier, Dorian?«, fragte Celia. Sie deutete auf die Männer, die mit ihren Lasergesteuerten Distanzmessern jeden Zentimeter der beiden Räume erfassten. Die Druckpressen, die Werkbänke – alles wurde abgetastet und per Bluetooth-Technologie auf Laptops übertragen. Das alles lief absolut professionell ab. Howe nahm die junge Frau zur Seite. »Vier Tote in nur wenigen Tagen. Können Sie sich nicht denken, wie allergisch gewisse Stellen
darauf reagieren, Celia? Politiker können auf so ein Medienspekta kel dankend verzichten. Das Innenministerium hätte am liebsten für immer den Zugang zu den Katakomben verschlossen. Aber die Fundstücke sind zu wertvoll und einzigartig, um sie einfach unter Beton verrotten zu lassen. Ich habe einen Kompromiss vorge schlagen, den man tatsächlich akzeptiert hat. Alles wird ausgelagert. Morgen in aller Frühe beginnt man mit dem Umzug der Exponate.« Howe wich dem Blick seiner Referendarin aus, denn Celia Lennox war eine intelligente Frau, die Zwei und Zwei zusammenzählen konnte. »Sie wollen mir doch nicht weiß machen, dass Sie auch an so einen Unsinn wie einen Fluch glauben?«, fragte sie. »Dorian, ich …« Howe schnitt ihr das Wort mit einer barschen Geste ab. »Das können Sie sehen, wie immer Sie wollen. Kein Wissenschaftler wird mehr bereit sein, sich in diese Räume zu begeben. Nennen Sie es Aberglaube oder Feigheit. Das ist eine Tatsache. Ich denke, es wird besser sein, wenn Sie noch heute abreisen, Celia. Ich bleibe noch in Deutschland. Es gibt einige Dinge, die ich hier erledigen muss.« Er ließ ihr keine Zeit zu einer Antwort. Energisch wandte er sich um und ging zu den Messtechnikern, die gerade an einer der beiden Pressen arbeiteten. Celia Lennox kehrte schweigend an die Oberfläche zurück. Sie kannte Dorian Howe nun lange genug. Niemand konnte behaupten, dass er ein sonderlich höflicher und kommunikativer Mensch war. Nein, ganz sicher nicht. Mit seinem Auftritt von vorhin jedoch hätte er jeden Mann täuschen können – doch Celia war eine Frau. Und sie konnte den wahren Sinn hinter Dorians Worten erkennen: Howe wollte sie schützen! Vor wem oder was? Sie konnte sich diese Frage nicht beantworten. Doch er fürchtete um Celias Leben, das war ihr überdeutlich ge worden. Unbehelligt von Sicherheitsbeamten und den Presseleuten kehrte
sie in ihr Zelt zurück. Sie hatte eine lange Nacht vor sich …
* Verwundert öffnete sie die Augen. Es war ein durchdringendes Brummen, das ihren leichten Schlaf abrupt beendet hatte. Wütend auf sich selbst sprang Celia von der Liege hoch. Sie hatte doch wach bleiben wollen! Aber Stille und Monotonie waren stärker als der Vorsatz gewesen. Ein Blick auf die Uhr weckte endgültig all ihre Lebensgeister. 5 Uhr 12! Draußen wurde es bereits hell, und das immer näher kommende Dröhnen eines LKW-Motors konnte nur bedeuten, dass die Aktion begann. Ein rascher Blick in Howes Zelt bewies, dass der Professor die Nacht über nicht hier geschlafen hatte. Sicher hatte zumindest er kein Auge zugemacht. Niemand hinderte die junge Engländerin daran, in die Kata komben zu steigen. Warum auch? Jeder hier kannte sie mittlerweile als Howes Assistentin. Als Celia den ersten Raum betrat, dockte sich der Spezi altransporter oben direkt vor die Einstiegsöffnung. Geübte Hände begannen mit dem Ausladen der mobilen Hebegeräte, die den Transport der schweren Druckerpressen über die vielen Stufen ermöglichen sollten. Alles sollte schnell gehen, aber ohne dabei die Exponate zu beschädigen, die einfach unersetzbar waren. Celia hatte erwartet, Dorian Howe in hektischen Aktivitäten anzu treffen. Er war als Perfektionist bekannt, dem nichts schnell und ge
nau genug gehen konnte. Sie fand ihn im zweiten Raum. In sich zusammengesunken hockte er auf einem Schemel. Er war wach, doch er bemerkte sie erst, als sie ihn vorsichtig an der Schulter berührte. Aus glasigen Augen sah er zu ihr hoch. »Kann ich es? Es darf nicht geschehen, aber …« Nur langsam schien er seine Assistentin zu er kennen. »Celia? Ich dachte, Sie wären abgereist.« Ein Ruck ging durch seinen Körper. »Habe ich etwa die ganze Nacht hier gehockt? Ich erinnere mich nicht mehr …« Mit einer Hand fuhr er sich über die müden Augen. Celia Lennox schrie auf. »Um Gottes Willen, Dorian, Sie bluten ja!« Quer über Howes Augenpartie zog sich ein blutiger Streifen. »Ihre Hände! Was haben Sie damit gemacht?« Professor Howe starrte auf seine Hände, als gehörten sie nicht zu ihm. Überall waren kleine Risse und Schnitte zu erkennen. Ganz so, als hätte er sich mit einem Skalpell zu verstümmeln versucht. »Ich habe keine Ahnung, Celia. Ich habe nur hier gesessen und nachge dacht. Irgendwann muss ich eingeschlafen sein.« Celia war bereits zurück im vorderen Raum. Irgendwo dort hatte sie gestern ein Notfallpaket liegen sehen. Es gehörte zur Grundaus stattung jedes Forscherteams, wenn ein neuer Fundort untersucht wurde. Irgendwer hatte es wohl hier vergessen. Viel konnte man mit dem Inhalt nicht anfangen, doch zumindest Mullbinden und Pflaster würde sie darin finden. Mit dem Paket eilte sie zurück zu Howe. Doch noch vor dem Durchgang zum hinteren Raum stockte sie. Die Setzkästen … Irgendjemand hatte sich daran zu schaffen gemacht. Und dieser Je mand hatte genau gewusst, was er tat. Celia erschrak, als Howe plötzlich ganz dicht neben ihr auftauchte. Mit zittrigen Händen strich er über die beinahe fertig gesetzte Seite,
die dort auf einer Holzplatte lag. Zwei Seiten der Platte waren durch aufgeleimte Stege begrenzt, die den unzähligen Bleibuchstaben Halt gaben. »Wer ist das gewesen …?«, fragte er so leise gehaucht, dass Celia sie beinahe nicht verstanden hätte. Howe war noch immer nicht richtig bei sich. Celia Lennox fühlte die Gänsehaut, die beim Betrachten der Schriftzeichen über ihren Körper lief. Schriftzeichen? Waren das wirklich die Zeichen einer Schrift? Sie sah Formen, die sie an simple Mandalas erinnerten; andere hatten Ähnlichkeit mit Tribals. Immer wieder tauchte ein an seiner Spitze abgestumpfter Pfeil auf, der einmal für sich alleine stand, dann wieder in eine andere Letter eingearbeitet worden war. Celia erkannte einen stilisierten Hundekörper, dem der Kopf fehlte, ein Auge, aus dem der stumpfe Pfeil ragte. Zwischen den Lettern gab es immer wieder Blindstücke aus Blei, als hätte der Setzer das entspre chende Zeichen nicht gefunden. Es wirkte trotz seiner Bedrohlichkeit irgendwie unfertig. Alles in allem handelte es sich um eine wirre und unlogisch erscheinende Ansammlung von Zeichen, doch jedes einzelne von ihnen strahlte Kälte aus … böse, zerstörerische Kälte. Und die rief nach ihr, lockte sie zu sich. Es war alles so einfach. Sie musste sich ja nur fallen lassen, sich von der Kraft durchfließen lassen. Sie durfte sich nur nicht wehren … nicht wehren …. Sie riss den Blick von dem Machwerk, das in seiner Gesamtheit nach ihrem Verstand griff. Ein scharfer Schmerz raste durch Celias Kopf – und ihr Denken war wieder klar. Für Sekunden taumelte sie, verlor die Gewalt über ihren Körper. Hart schlug sie mit der Schulter gegen das rohe Mauerwerk. Der Aufprall brachte ihre Lebensgeister endgültig zurück. Und Celia handelte.
Sie hatte ihre Körpergröße oft verflucht, denn die hatte stets die nettesten Jungs und Männer eingeschüchtert, weil keiner eine Freundin wollte, bei der man beim ersten Kuss den Kopf in den Nacken legen musste. Hier und jetzt konnte sie ihre 183 Zentimeter endlich einmal vorteilhaft einsetzen. Dorian Howe hatte der Gewalt nichts entgegen zu setzen, mit der ihn seine Referendarin in den hinteren Raum beförderte. Nur Se kunden später war er wieder bei sich und starrte auf seine blutenden Hände. »Wie konnte ich das nur tun?«, murmelte er. »Es muss meinen Verstand vollkommen in seine Gewalt gebracht haben.« Ohne Gegenwehr ließ er Celia gewähren, die notdürftig die Blu tungen an seinen Händen stoppte. Dorians Verletzungen stammten eindeutig von den scharfkantigen Bleilettern. So gut sie konnte, ent fernte die junge Frau winzige Bleisplitter, die sich in den Schnitten befanden. Das konnte eine böse Blutvergiftung geben, und Howes Hände mussten professionell versorgt werden, doch das musste jetzt noch warten. »Finden Sie nicht, dass es an der Zeit wäre, mich aufzuklären, Do rian?«, fragte sie. »Was geschieht hier? Ich setzte mein Leben nicht so gerne aufs Spiel, wenn ich den Grund dafür nicht einmal kenne.« Der Lärm von draußen wurde intensiver. Offenbar waren die Vor arbeiten erledigt. Der Abtransport würde nun bald beginnen. Dorian Howe nickte. »Es ist beinahe zwanzig Jahre her, als ich über eine Aufzeichnung stolperte, die einige meiner Kollegen damals für absoluten Unsinn hielten. Es ging um einen Aspekt zu Gutenbergs Erfindung, den man vollkommen außer Acht gelassen hatte. Der Buchdruck, vor allem die Herstellung von immer wieder verwendbaren Lettern aus Blei, ermöglichte dem Zugang für die breite Masse der Menschen zur Bibel. Vorher hatten nur Männer der Kirche, Adelige und Reiche die Möglichkeit, in der Heiligen Schrift zu lesen. Nun war sie beliebig oft kopierbar. Ihre Ausbreitung über
den Erdball war von diesem Moment an nicht mehr aufzuhalten.« Celia nickte ungeduldig. »Sie erzählen mir da keine Neuigkeiten, Dorian. Kommen Sie zum Punkt.« Howe konnte den Blick nicht von seinen bandagierten Händen lassen. »Ja, natürlich. Es gab damals Gegenbewegungen, die das mit allen Mitteln verhindern wollten. Sekten, Götzengläubige – nennen Sie sie, wie Sie wollen. Sie erkannten die Gefahr für ihre Lehren und versuchten, Druck auf Gutenberg auszuüben. Doch das misslang gründlich. Also hielten sie sich an zwei seiner besten Gehilfen: Gün ther und Landolf. Die zwei waren willige Opfer, denn sie waren von der Kirche enttäuscht worden. Zudem gönnten sie Gutenberg seinen Erfolg nicht. Als Gutenberg merkte, was da in seiner Werkstatt für seltsame Dinge geschahen, warf er die beiden kurzerhand hinaus.« Celia begann zu ahnen, was Howe ihr vermitteln wollte, doch das entscheidende Puzzlestück fehlte ihr noch. »Die beiden haben ihre eigene Druckerei auf die Beine gestellt. Und zwar hier, in den Kata komben dieses Klosters? Ist es so gewesen? Aber dann …« »Es waren die Führer dieser Sekte, die Gutenbergs Gehilfen hier Unterschlupf gewährten und ihnen Geld und Material zur Verfü gung stellten. Hier sollten sie vollenden, was ihnen in Mainz miss lungen war. Das hier war kein Kirchenkloster, sondern exakt das Gegenteil davon. Günther und Landolf hatten die Zeichen des Bösen in Blei gegossen. In den Schriftstücken, die ich damals fand, stand geschrieben, dass Gutenberg die Lettern mit einem Hammer zer schlagen hatte – wie ein Wahnsinniger soll er gewütet haben. Doch die Stempel, die Patrizen, mit der man unzählige Kopien gießen konnte, fand er nicht. Günther und Landolf mussten sie in Sicherheit gebracht haben. Und hier haben sie es neu entstehen lassen – das dunkle Alphabet …« Celias Blick fiel auf die Bleiseite, die nur wenige Schritte von ihr entfernt war. »Das dunkle Alphabet. Warum musste Köster sterben? Und was war mit den anderen Opfern?«
Entsetzt registrierte sie, dass sie die Existenz dieser unheimlichen Macht keine Sekunde lang in Frage stellte. Dorians Erzählung … Die bedrohliche Kälte, die von diesen Zeichen ausging … die Kraft, die nach Celias Bewusstsein gegriffen hatte … Alles passte so nahtlos zusammen, auch wenn es gegen jede Logik war. Howe lachte grell auf. »Köster? Dieser Dilettant. Er hätte es können müssen. Ich kann es! Und die anderen Idioten? Wir haben sie getestet. Sie alle konnten es nicht vollenden. Warum also sollten sie dann noch leben dürfen?« In seinen Augen flackerte der blanke Wahnsinn, der Howes Verstand schlagartig übernommen hatte – und Celia wusste, dass sie keine einzige Sekunde mehr verlieren durfte. Ihre flache Hand traf Howe mitten ins Gesicht. Der Kopf des Professors schlug nach hinten, Blut spritzte aus sei ner Nase. Sein gesamter Körper erzitterte, als hätte ihn ein schweres Fieber befallen. Doch im nächsten Moment war es wieder Dorian, der seine Assis tentin mit Verblüffung anschaute. Das fremde Bewusstsein hatte sich von ihm zurückgezogen. Zumindest für den Augenblick … »Schnell, Celia!«, stieß er hervor. »Wir müssen weg von hier! Noch einen Angriff auf meinen Geist kann ich nicht mehr ertragen. Raus, nur raus …« Seine bandagierte Hand umklammerte Celias Rechte und zerrte die junge Frau zum Ausgang. Das Unheil kündigte sich mit einem dumpfen Grollen an. Einen Herzschlag später spürte Celia, wie der Boden unter ihren Füßen vibrierte. Wie von einer Titanenhand getroffen wurde sie quer durch den Raum geschleudert. Sie sah die Wand auf sich zukom men, wollte schützend die Hände über ihren Kopf bringen, doch da kam schon der Aufprall. Sie registrierte noch, dass ein unnatürlich verdrehter Körper in ihr Blickfeld rutschte. Da schwanden Celia Lennox die Sinne …
* Irgendetwas drang ihr in Nase und Mund, machte ihr das Atmen schwer. Celia Lennox hustete heftig und rang nach Luft. Staub! Nahezu sechshundert Jahre alter Gesteinsstaub reizte ihre Atemwege. Er war überall im Raum. Erst langsam sank er zu Boden und gab die Sicht auf die Katastrophe frei. Bedächtig rappelte sich Celia auf die Beine. Die Beule an ihrem Hinterkopf würde enorme Ausmaße annehmen, doch viel mehr als einen dumpfen Kopfschmerz schien sie bei ihrer unfreiwilligen Flugeinlage nicht abbekommen zu haben. Keine zwei Meter neben ihr lag einer der Techniker mit grotesk verrenkten Gliedmaßen. Es bedurfte keines zweiten Blickes, um Klarheit zu bekommen. Der Mann war tot. Der Druck, der Celia durch den Raum geschleudert hatte, musste ihn wohl voll erwischt haben. Ein weiterer Toter lag neben den Trümmern einer der Druck pressen direkt neben dem Ausgang. Doch diesen Ausgang gab es jetzt nicht mehr! Dicke Steinbrocken hatten ihn vollständig verschlossen. Der Weg nach draußen war versperrt. Ein Erdrutsch? Ein großer Teil der überirdischen Anlage war abgesackt, so viel war klar. Doch an einen Zufall konnte Celia Lennox nicht glauben. Nicht, seit sie mehr über das wusste, was hier unten lauerte. Celia suchte mit den Augen den Raum ab, doch sie konnte Howe nicht entdecken. War er unter den Steinmassen begraben? Panik drängte sich in ihr Bewusstsein. Mit ihrem ganzen Körpergewicht stemmte sie sich gegen die graue Wand aus Stein und Schutt. Immer wieder warf sie sich dagegen. Es war sinnlos. Um den Weg frei zu kriegen, musste man schon
mehr als Muskelkraft ins Spiel bringen. »Lassen Sie es mich versuchen.« Die Stimme klang unvermittelt hinter ihr auf. Doch es war nicht Dorian, der da sprach. Es war der dritte Techniker, der am Verladen der Maschinen gearbeitet hatte. Offen bar hatte er mehr Glück als seine Kollegen gehabt. »Kümmern Sie sich besser um den Professor«, schlug er vor. »Meinen Kollegen können wir leider nicht mehr helfen.« Er deutete auf den hinteren Raum. »Man wird von außen versuchen, zu uns zu gelangen, keine Sorge. Aber das kann dauern. Wir müssen nur die Ruhe bewahren.« Sein Blick glitt zu dem Hydraulik-Heber, mit dem die Maschinen aus den Katakomben ans Tageslicht gebracht werden sollten. Er schien unbeschädigt zu sein. »Vielleicht können wir bei unserer Rettung ja ein wenig mithelfen.« Der Mann begann, das Ge rät zu untersuchen. »Wenn den Akkus nichts geschehen ist …« Er schien Celia bereits vergessen zu haben und öffnete die Abdeckung, unter der die Batterien verborgen waren. Celia wandte sich zum zweiten Raum, der Gießerei, aus der ihr ein Geruch entgegen schlug, den sie in übler Erinnerung hatte. So hatte es hier gerochen, als Dorian und sie den toten Köster fanden. Erleichtert atmete sie auf, als sie Howe auf dem Schemel vor der Werkbank sitzen sah. In seiner noch immer bandagierten rechten Hand hielt er einen Stichel, mit dem er irgendetwas bearbeitete, das Celia nicht erkennen konnte. »Dorian? Ist Ihnen auch nichts passiert? Sind Sie nicht verletzt?« Vorsichtig trat sie hinter ihn, legte eine Hand auf seine Schulter. Er reagierte nicht, nahm sie ganz einfach nicht wahr. Da bemerkte Celia die aus den Lettern zusammengefügte Seite, die direkt neben Howe auf dem Tisch lag. Sie hatte sich nicht verändert. Das war doch kaum möglich! Die Erschütterung hätte den Bleisatz in all seine Einzelteile zerlegen müssen, aber das war nicht ge schehen.
Celia wandte den Blick ab. Nicht noch einmal wollte sie unter den Einfluss der entsetzlichen Kälte geraten, die sich in ihr Denken ge bohrt hatte. Noch immer arbeitete Howe wie ein Besessener mit dem Stichel. Die Bandagen um seine Hände waren mit Blut getränkt, denn immer wieder rutschte das scharfkantige Werkzeug ab und bohrte sich in Dorians Fleisch. Er zuckte nicht einmal zusammen, als sich die Klinge tief in seine Handfläche grub. Er fühlte keine Schmerzen mehr, war nicht mehr als eine lebende Hülle, gefüllt mit dem Willen eines Wesens, das nicht hätte existieren dürfen. Doch es war da! Wir haben nur noch eine Chance, erkannte sie, raus ans Tageslicht! Celia wusste genau, dass Dorian Howe verloren war. Es hatte sich endgültig seiner bemächtigt. Und sie war ehrlich genug, um sich einzugestehen, dass der frostige Keim auch in ihr wuchs. Noch hatte sie Gewalt über ihr Denken und Handeln. »Junge Frau, helfen Sie mir hier!«, rief der Techniker. Celia eilte zum verschütteten Ausgang. Er stellte ihr keine Fragen, warum sie ohne den Professor kam. In seinen Augen konnte Celia die Angst sehen. Er konnte nicht wissen, was hier vor sich ging, doch er schien es instinktiv zu ahnen. »Vielleicht können wir die Steinbrocken so weit bewegen, dass sie nachrutschen«, erklärte er. »Verstehen Sie? Vielleicht …« Celia begriff, dass der Mann kurz davor stand, in Panik zu ge raten. Vielleicht war er klaustrophobisch veranlagt, vielleicht konnte er das Böse fühlen, das nach ihnen griff. Er wollte nur noch nach draußen. Wie, das war ihm gleichgültig. »Ich habe die beiden Hebekufen angebaut«, fuhr er fort. »Wenn wir damit in das Gestein vordringen können, haben wir vielleicht schon gewonnen.«
Die Kufen liefen vorne spitz zu, wie die Zinken einer Gabel. Celia war bereit, jede noch so kleine Chance zu nutzen. »Sagen Sie mir nur genau, was ich zu tun habe«, bat sie. »Und lassen Sie uns keine Sekunde mehr verlieren.« Vorsichtig schob der Mann das Hubgerät auf den Vollgummi reifen bis auf knapp zwei Meter vor den verschütteten Eingang und hob die Zinken hydraulisch an, bis sie exakt auf eine bestimmte Stelle zielten. »Also gut. Hören Sie zu. Das Gerät hat nicht viel Kraft, darum habe ich es so verändert, dass der ganze Saft der Akkus mit einem Schlag freigesetzt wird. Wir haben also nur diesen einen Ver such. Wir werden den Motor unter Volllast laufen lassen und dann die Bremse lösen. Ich hoffe nur, dass Schwung und Kraft ausrei chen.« Celia verstand. Wie eine Ramme sollten die Zinken in den Stein wall rasen. »Sie sollten noch einmal kontrollieren, ob Sie auch richtig gezielt haben.« Die Worte kamen aus ihrem Mund, doch es war nicht Celias Wille, der sie geformt hatte. Und es war auch nicht ihr Wille, der die Bremsverriegelung löste … Die Konstruktion machte einen wilden Satz nach vorne, und die Zinken schlugen hart gegen den Stein. Doch die Mauer rührte sich um keinen Millimeter. Zu sehr war ihre Kraft von dem Körper des Mannes gedämpft worden, der zwi schen ihnen und dem Hindernis stand. Er hatte nicht einmal ge schrien, als die spitzen Zinken ihn durchbohrten. Wie ein seltener Schmetterling hing er aufgespießt an der Wand aus Stein, die seine Grabkammer nach wie vor fest verschloss. Ohne eine Emotion wandte sich die junge Frau um. Hier gab es für sie nichts mehr zu tun. Dorian Howe stand im Durchgang zum hinteren Raum der Kata komben und hielt ihr triumphierend das Ergebnis seiner An strengungen entgegen. »Das letzte Teil zur dunklen Ganzheit! Ich
habe es erschaffen. Jahrhunderte mussten vergehen, doch jetzt ist es endlich vollbracht.« Achtlos warf er den blutverschmierten Stichel zu Boden, mit dem er die primitive Patrize gestaltet hatte, den Prototyp für eine Blei letter. Ein winziger Teil von Celia Lennox Bewusstsein war noch in der Lage zu begreifen, was hier geschah. Das letzte Teil zur dunklen Ganzheit war das fehlende Zeichen, mit dem das dunkle Alphabet erst wirklich komplett war. Sie erinnerte sich an die Lücken zwischen den Zeichen. Dort musste es eingesetzt werden – das letzte Teil, die fehlende Letter! Warum Günther und Landolf die Patrize damals nicht angefertigt hatten, war Celia unklar, doch was spielte das auch jetzt noch für eine Rolle? Vielleicht hatten auch sie ganz einfach versagt, wie Kö ster und seine Assistentin. Möglich, dass es nur einen Menschen auf der Erde gab, der die Fähigkeit besaß, diese Aufgabe zu lösen. Und dieser Mensch war Dorian Howe … »Komm mit mir!« In Howes Augen flackerten Irrsinn und Größen wahn. »Lass uns das Werk endlich vollenden. Die Welt soll die Schönheit des Dunklen endlich kennen lernen.« Irritiert ließ Celia das Glücksgefühl zu, das sich in ihr ausbreitete. Nach so vielen Jahrhunderten würde es heute endlich geschehen. Und sie war ein Teil dieser Erlösung, der Befreiung der Macht, die hier in diesen Räumen eine kleine Ewigkeit lang wie in einem Ker ker darauf gewartet hatte, sich endlich über die Welt ausbreiten zu können. Celia sah, wie Howe mit einem einzigen Hammerschlag die Pa trize in einen Kupferbarren schlug, die endgültige Gussform war be reit. Und in dem großen Tiegel brodelte das Blei, dessen Dämpfe sich beißend auf Celias Lungen legten …
* Dorian Howe arbeitete wie ein Besessener. Wieder und wieder tauchte er die Schopfkelle in das flüssige Me tall, ließ es mit bebenden Händen so vorsichtig wie nur möglich in die Form fließen. Zischend fiel Letter um Letter in den Wassertrog, kühlte sich dort rasch ab und härtete aus. Celia Lennox stand wie eine Statue neben Howe, deren Blick starr auf den Trog gerichtet war. Das Hochgefühl in ihr schwand bei je dem zischenden Aufbrodeln des kühlen Wassers um ein winziges Stück. Als Dorian Howe mit einem tiefen Seufzer die Schöpfkelle fallen ließ, wurde ihr schmerzlich bewusst, dass er seine Arbeit vollendet hatte. »Hilf mir!« Seine Stimme klang brüchig. »Reich mir die Lettern an. Ich will es endlich zu Ende bringen. Schnell!« Tief beugte er sich über die Bleiseite. Mit zittrigen Fingern löste er die ersten Blindzei chen heraus. »Was ist? Ich warte.« Als Celia die ersten Bleistücke aus dem Wasser holte, spürte sie den ziehenden Schmerz, der durch ihren Körper fuhr. Wie ein elektrischer Schlag pflanzte er sich bis zu ihrem Herzen fort. Blitz schnell zog sie die Hand zurück. Und nun sah sie zum ersten Mal das Ergebnis von Howes Arbeit. Das fehlende Zeichen war ein Pfeil, ähnlich dem, der in dem dunklen Alphabet in immer wiederkehrenden Varianten vorkam. Doch dieser hier war nicht stumpf. Er hatte eine dünne Spitze, die rechtwinklig abgebogen war. Die junge Frau schloss angewidert die Augen. Sie sah nicht die simple Form vor sich, sondern alles, für das sie stand. Mord, Folter, Gewalt, Trauer und Tränen – das Böse! Der Schlag traf Celia mitten ins Gesicht. Dorians Augen schienen aus ihren Höhlen zu quellen als er sie an
schrie. »Dummes Weib! Worauf wartest du? Bist du zu dumm, einen einfachen Befehl auszuführen? Es … wir wollen nicht mehr warten. Geh! Verschwinde! Ich brauche dich hier nicht mehr.« Er riss ihr die Lettern aus der Hand und wandte sich seiner Auf gabe zu. Mit geschickten Bewegungen setzte er die Zeichen an die entsprechenden Stellen. Jn diesem Moment begann die Wand hinter Celia in tiefem Rot zu glühen. Dort, wo die verschwommenen Schriftzeichen mit dem bloßen Auge kaum wahrnehmbar gewesen waren, strahlten sie nun hell auf. Und mit jeder Handbewegung Howes steigerte sich diese Intensität. Linkisch wühlte Dorian in dem Wassertrog und fischte eine weite re Hand voll Zeichen heraus. Celias Wange brannte von dem Schlag, doch viel stärker war der Schmerz, den sie bei dem Anblick der strahlenden Wand verspürte. Gleich würde es so weit sein. Nur noch einige Lettern fehlten … Celia Lennox Hände umklammerten den siedendheißen Schmelz tiegel, der auf zwei Zapfen über der Feuerstelle aufgehängt war. Das Gefäß mochte leer an die zwanzig Kilogramm wiegen, doch jetzt war es noch zusätzlich über die Hälfte mit flüssigem Blei gefüllt. Celia erschien es jedoch ganz leicht. Mühelos hob sie den Tiegel aus seiner Lagerung heraus. Die Hitze der Wandung verbrannte ihre Hände bis auf die Knochen – doch sie spürte keine Schmerzen … Sie fühlte nur, dass sie in diesem kurzen Moment wieder die Per son war, die das Böse hatte zerstören wollen. Celia sah Dorian Howes glühendes Gesicht, den Fanatismus in sei nem Blick. Es war ganz einfach, so unglaublich einfach. Mit einem einzigen Schwung entleerte sie den gesamten Inhalt des Tiegels.
Der flüssige Tod ergoss sich silbrig glänzend über Dorian Howes Kopf und schwappte in einem zähen Strahl über die Schrift des dunklen Alphabets. Wie ein dicker Zuckerguss bedeckte er das dunkle Werk, verband sich mit den filigranen Zeichen – und zer störte sie. Da setzte der entsetzliche Schmerz in Celias Händen ein und ließ sie wimmernd zu Boden sinken. Direkt neben Dorians Leiche, der ohne einen Laut gestorben war, krümmte sie sich zusammen. Die Qual in ihrem Körper brachte sie an den Rand einer gütigen Ohnmacht, doch etwas hielt Celia noch bei Bewusstsein: die Wand. Ihr Leuchten verblasste zusehends, doch da wurden die ersten Risse sichtbar, die sich im Herzschlagtempo verbreiteten. Als sich die ersten Steine lösten, wusste Celia, das sie gewonnen hatte. Gewonnen und doch verloren … Ein dicker Steinbrocken traf die junge Frau an der Schläfe. Als die gesamte Deckenkonstruktion einbrach, war Celia Lennox bereits tot …
* Der Besprechungsraum war kühl und zweckentsprechend ein gerichtet. Zehn Stühle umstanden einen ovalen Tisch – acht Männer und zwei Frauen hatten eine mehr als sechs Stunden lange Besprechung hinter sich gebracht. Doktor Petersen hatte das Meeting als Firstmanager des Ein kaufsparks geleitet. Knappe zwei Jahre nach der Eröffnung konnte man tatsächlich zufrieden mit den bisherigen Ergebnissen sein. Wenn es irgendwo in den neuen Bundesländern richtig brummte, dann hier. »Meine Damen, meine Herren. Ich denke, das war es für heute,
korrekt?«, fragte Petersen zum Abschluss der Besprechung. »Oder hat noch jemand einen Punkt, mit dem er uns unbedingt die Freizeit rauben will?« Allgemeines und devotes Lachen antwortete ihm. Eine junge Frau hob ein wenig schüchtern die Hand. »Lisa? Was gibt es bei Ihnen denn noch?« Doktor Petersen hielt große Stücke auf seine Medienbeauftragte. Alles hier war nach USStandart organisiert – Aufgabenoptimierung war das große Schlag wort der Zeit. »Nun, wir haben wieder einmal Probleme mit dem Umweltamt. Sie wissen doch: die Geruchsbelästigung auf dem Areal. Kunden haben sich wieder beschwert. Und niemand will die Parzelle auf Dauer anmieten. So etwas spricht sich herum.« Sie zuckte entschul digend mit den Schultern. Doktor Petersen kannte das Problem. »Bitte, Lisa, alle Messungen haben uns doch entlastet, nicht wahr? Es gibt keine unzulässigen Werte. Also – wenn die Kunden meckern, dann müssen wir eben eine Parfümerie dort ansiedeln.« Das Thema war für ihn damit erle digt. Minuten später leerte sich der Raum. Lisa Born wandte sich überrascht um, als ein noch recht neuer Kollege im Management sie ansprach. »Ach, sagen Sie, um welche Gerüche geht es denn dabei eigentlich? Ich kannte das Problem noch gar nicht.« Lisa lächelte, denn der Bursche sah gut aus. Zudem war er noch zu haben … so hörte man zumindest. »Wir wissen es selbst nicht so genau. Messtechnisch gibt es da keine Ergebnisse.« Sie hielt sich eng neben ihrem Begleiter. »Irgend wer hat mir erzählt, an dieser Stelle hätte es vor Baubeginn so eine Art Ausgrabung gegeben. Vielleicht hat es damit etwas zu tun. Aber gegen den Gestank ist wohl kein Kraut gewachsen.«
Er lächelte die hübsche Frau an. »Und … wonach soll es da stin ken?« Eigentlich war es ihm völlig gleichgültig, aber irgendetwas musste er schließlich sagen, damit die Konversation im Fluss blieb. Lisa hakte sich frech bei ihm unter. »Tja, die einen sagen, es würde modrig muffeln.« Die zwei lachten. Dann fuhr Lisa fort. »Die meis ten Meckerer sind sich aber sicher, das es nach flüssigem Blei riecht. Verrückt, nicht wahr?« »Ja, wirklich …« Er zögerte einen Moment. »Hätten Sie Lust mit mir noch eine Kleinigkeit essen zu gehen?« »Gerne, warum nicht?«, antwortete Lisa etwas überrascht. Gemeinsam verließen sie das Gebäude, dem wohlverdienten Fei erabend entgegen. Doch der Gedanke an die seltsamen Gerüche ließ den jungen Mann nicht los. Was war dort passiert …? ENDE