Ren Dhark Drakhon 13 – Cyborg Krise 1. »Sie vermuten richtig, Mensch. Ja, ich bin einer aus dem Volk, das ihr die Myster...
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Ren Dhark Drakhon 13 – Cyborg Krise 1. »Sie vermuten richtig, Mensch. Ja, ich bin einer aus dem Volk, das ihr die Mysterious nennt.« Ren Dhark ließ die Worte in sich nachklingen. Der sie gesprochen hatte, stand vor ihm - augenscheinlich ein Mensch, schlank und muskulös, hochgewachsen, mit dunklem Haar und dunklen Augen. Dhark schätzte ihn auf etwa 40 Jahre, eher etwas weniger. Jim Smith. War das sein richtiger Name? Bestimmt nicht! Als Jim Smith war er auf Terra aufgetreten, vorher als John Brown auf Babylon. Und jetzt hatte er mit seinem Ringraumer die Entscheidung herbeigeführt, als es darum ging, das entartete Schwarze Loch im Zentrum der Milchstraße zu einem »normalen« Super Black Hole zu machen. Eine waghalsige Aktion. Wäre sie fehlgeschlagen, gäbe es in ein paar Wochen oder Monaten zwei Galaxien nicht mehr, aber statt dessen eine Strahlenhölle aus kol lidierenden Sternen, weil dann die Galaxis Drakhon, angezogen von der Superschwerkraft des manipulierten Black Holes im Zentrum der Milchstraße, per Transition in der Menschheitsgalaxis materialisiert wäre. Vorboten der Katastrophe forderten schon seit Jahren und Jahrzehnten ihren Tribut, hatten ganze Völker gezwungen, ihre Heimatwelten aufzugeben und in »ruhigere« stellare Bereiche auszuwandern - sofern sie dazu in der Lage waren. Wer nicht fliehen konnte, starb oder trug schwerste Strahlenschäden davon, die den Nachwuchs zu nicht lebensfähigen Kreaturen mutieren ließ. Aber es war gelungen. Statt dessen gab es die Rahim nicht mehr, die mit ihren unwahrscheinlich starken Parakräften terranische Spezialraumer jenseits des Ereignishorizonts vor einem Absturz in das Schwarze Loch bewahrt hatten, während die an Bord installierten Masseneutralisatoren die Manipulation rückgängig machten, die vor über tausend Jahren von den Mysterious vorgenommen worden war!
Ich bin einer aus dem Volk, das ihr die Mysterious nennt. Einer aus dem Volk, das für den Beinahe-Untergang zweier Ga-laxien mit all ihren Zivilisationen verantwortlich war. Fühlte er sich unter Ren Dharks Blick unbehaglich? Keine Regung zeichnete sich in seinem Gesicht ab, das Dhark von den Fahndungsfotos der Galaktischen Sicherheitsorganisation her kannte. Aber als er dann den Blick wandte und zu dem etwa zehnjährigen Mädchen hinübersah, das immer noch bewußtlos in einem der Kontursitze des breiten Instrumentenpults mehr lag als saß, glaubte Dhark eine Wärme und Zuneigung zu spüren, die er zum letzten Mal bei seinen eigenen Eltern erlebt hatte. Dann sah Smith wieder Ren Dhark an. Er wirkte müde. »Sie wird gleich erwachen«, sagte er. Dhark nickte. Er sah sich einmal mehr in der Zentrale des Ring-raumers um, den Jim Smith EPOY nannte. Sie glich der der POINT OF bis ins Detail - von einer Ausnahme abgesehen. Der EPOY fehlte ein Checkmaster! Damit war Ren Dharks Schiff der EPOY auf jeden Fall überlegen! Aber die EPOY mußte trotzdem noch um Klassen besser sein als die S-Kreuzer, die die POINT OF ins Zentrum der Galaxis begleitet hatten. Die Bildkugel über dem Steuerpult zeigte sie und auch die drei großen Ellipsenraumer der Nogk, die als Beobachter hergesandt worden waren. Es zuckte Dhark in den Fingern, sich im Kommandosessel niederzulassen und die EPOY zu steuern. Zu erproben, wie gut dieses Raumschiff wirklich war. Jim Smith schien seine Gedanken zu erahnen. »Bitte, Commander... wenn Sie Platz nehmen wollen?« Dhark schüttelte den Kopf. »Kein Bedarf, Jim.« Aber er ver suchte mit der Gedankensteuerung des Ringraumers Kontakt aufzunehmen, falls es eine gab. Vielleicht existierte sie ja ebensowenig wie ein Checkmaster. Anflug und Andockversuch an der POINT OF, dachte er konzentriert. Definition: POINT OF ist Raumschiff, zu dem Transmitterverbindung geschaltet wurde. Über diese Transmitterverbindung von Zentrale zu Zentrale war er an Bord der EPOY gekommen, der Warnung seines
Freundes Dan Riker zum Trotz, als Jim Smith ihn dazu
eingeladen hatte.
Es gab eine Gedankensteuerung in der EPOY!
Ungültige Anweisung, kam ihre lautlose Antwort. Ausführung
verweigert.
Smith, der ein Mysterious sein wollte, lachte leise auf.
»Dieses Raumschiff gehorcht nur mir, Commander. Sie
würden es nicht einmal steuern können, wenn ich tot wäre. Es
sei denn, ich würde Sie autorisieren.«
Natürlich. Die Gedankensteuerung hatte sich bei ihm genauso
gemeldet wie bei Ren Dhark. Das war auch in der POINT OF
normal, aber auf die Kommandozentrale beziehungsweise die
Führungsoffiziere begrenzt. Die »normalen«
Besatzungsmitglieder bekamen davon nichts mit. Nach
welchen Kriterien die Gedankensteuerung oder der hinter ihr
stehende Checkmaster bei seiner Auswahl vorging, war bis
heute ungeklärt.
»Sie haben sich gut abgesichert, Jim.«
»Hätten Sie es an meiner Stelle nicht auch getan, Ren?« über
nahm Smith die vertraulichere Anredeform.
»Wer sind Sie wirklich?« fragte Dhark leise. Er war nicht
sicher, ob Smith ihn nicht belog. Immerhin hatte sich dieser
Mann auf Terra als Datendieb gezeigt und versucht, sich über
das globale Datennetz das gesamte Wissen der Menschheit
anzueignen; ein Versuch, der im buchstäblich allerletzten
Moment von der Galaktischen Sicherheitsorganisation
gestoppt werden konnte. Ob er nicht dennoch jede Menge
Informationen gesammelt hatte, ehe sein Treiben entdeckt
wurde, war unbekannt. Immerhin war er auch auf Hope
aufgetaucht, hatte im Industriedom von Deluge Unruhe
gestiftet und anschließend eines der modernsten Raumschiffe
der Terranischen Flotte, den Tofirit-Ringraumer EUROPA,
gestohlen. Dafür hatte Colonel P. S. Clark, der Ex-
Kommandant des Raumers, geschworen, ihm den Hals
umzudrehen, wenn ihm dieser Smith jemals in die Finger
käme.
Smith ein Mysterious?
Die Technik, die er benutzte, sprach dafür. Und trotz des
Mißtrauens, das in Ren schwelte, wollte er Smith Glauben
schenken. Zu lange hatte er schon all seine Kraft dafür verwendet, dieses vor tausend Jahren aus der Galaxis verschwundene Volk zu finden, das die POINT OF gebaut und überall technische Hinterlassenschaften verstreut hatte, die Terra bislang von größtem Nutzen waren. Er wollte sie endlich kennenlernen, diese Geheimnisvollen, über die kaum mehr bekannt war, als daß sie vielen Völkern der Milchstraße als Mörderrasse verhaßt waren - obgleich das alles sich inzwischen als Verwechslung entpuppt hatte. Grakos hatten die Utaren sie genannt. Wo immer ein Geschwader Ringraumer auftauchte, stand der Tod im Hintergrund, hatten sie seinerzeit berichtet. Und davon, daß diese Grakos ganze Planeten entvölkerten und ihre Bewohner in die Sklaverei entführten. Inzwischen war klar, daß Grakos und Mysterious nicht identisch waren, aber Grakos mußten Ringraumer der Mysterious erobert und benutzt haben und hatten damit all ihre Grausamkeit und Bos-haftigkeit den Mysterious zugeschoben, deren Aussehen ebenso wie das der Grakos niemals jemand hatte beschreiben können, weil bei ihren Aktionen die einen wie die anderen angeblich ihre Raumschiffe niemals verlassen hatten... Grakos... Sie bedeuteten keine Gefahr mehr. Was vor tausend Jahren die Mysterious nicht geschafft hatten, war den Terranem gelungen. Im Vorfeld der Aktion um das entartete Schwarze Loch hatten sie die Grakogefahr ausgeschaltet und Verträge geschlossen. Die insek-toiden Gordo, die in einer letzten Entwicklungsstufe aus den vormals mörderischen Grakos entstanden, schienen vertrauenswürdig und friedliebend zu sein. Und diese Gordo hatten jetzt die Kontrolle über ihr Gesamtvolk. 10 Mysterious... Schon einmal hatte Ren geglaubt, am Ziel seiner Suche zu stehen. Damals, als er nach Drakhon vorstieß und noch nicht ahnte, welche Bedeutung diese mit der Milchstraße kollidierende zweite Galaxis hatte. Auf einem DrakhonPlaneten, auf der Welt der Shirs, hatte er die Salter entdeckt,
die vorgaben, die letzten aussterbenden Mysterious zu sein. Er hatte sie nach Terra gebracht, und dort waren sie dann tatsächlich gestorben. Nur stellte sich dabei heraus, daß das alles eine große Täuschung war. Die Shirs hatten mit ihren hypnosuggestiven Parakräften den Terranem vorge schwindelt, die Salter seien die Mysterious. Die Wirklichkeit sah anders aus. Die Salter hatten einst auf der Erde gelebt. Sie hatten Terra Lern, wie sie es nannten - verlassen müssen und waren zu einem Hilfsvolk der Mysterious geworden. Nicht mehr und nicht weniger. War es ein Wunder, daß Ren deshalb diesem Jim Smith gegenüber mißtrauisch blieb? Ich bin einer aus dem Volk, das ihr die Mysterious nennt. Konnte es wirklich sein? War diese Lösung nicht zu einfach,
zu sehr aus dem Hut gezaubert nach den Enttäuschungen, die
Ren in den letzten Jahren seiner Suche immer wieder erlebt
hatte?
Die Tel in der Stemenbrücke... die Salter... die Rahim in
Drakhon... immer wieder hatte er glauben wollen und
gehofft, und jedesmal war er ins Leere gestoßen.
Er fürchtete, daß ihm jetzt eine weitere Enttäuschung bevor
stand.
»Wer sind Sie wirklich, Jim Smith?«
Der vorgebliche Mysterious lächelte.
»Die Wahrheit, Commander Ren Dhark, befindet sich immer
im Verstand des Fragenden«, sagte er.
»Commander?« meldete sich eine zaghafte Stimme.
»Commander Ren Dhark?«
Juanita Gonzales!
Die Zehnjährige war aus ihrer Bewußtlosigkeit erwacht. Mit
ein paar Schritten war Smith bei ihr, half ihr in eine aufrechte
Sitzposition. Strich ihr durch das lange, weiche Haar. Das
Mädchen sah Dhark aus großen Augen an, musterte den
großen, weißblonden Mann eingehend. »Sie sind Ren Dhark?
Echt?«
»Ganz echt«, schmunzelte er. »Möchtest du meinen Ausweis
sehen, Juanita?«
»Woher wissen Sie, wer ich bin?« stieß sie erschrocken
hervor und wechselte einen schnellen Blick mit Smith. »Es gehört zu meinen Pflichten, so viele Menschen wie möglich zu kennen«, erwiderte Ren. Er wußte aus dem GSODossier, wen er vor sich hatte. Juanita Gonzales stammte aus den Slums von Rio de Janeiro. Smith hatte sie dort aufgegabelt und mitgenommen. Zuerst war die GSO von einer Entführung ausgegangen, aber auf Hope hatte sich gezeigt, daß sich das Mädchen durchaus freiwillig und offensichtlich gern bei Smith aufhielt. Und offenbar verfügte sie über eine interessante Parabegabung. Sie konnte sich und andere »unsichtbar« machen... Nicht wirklich unsichtbar. Nicht in der Form, wie es die entarteten Cyborgs Mildan und Dordig einst gekonnt hatten, die von Crekker-Tels umgedreht worden waren. Die Crekker gab es nicht mehr, wie es auch Mildan und Dordig nicht mehr gab, aber damals waren diese Cyborgs nur sichtbar geworden, wenn man in direkten Körperkontakt mit ihnen kam. Ortungsgeräte und Fotoapparate hatten nicht auf sie angesprochen. Auf Juanita Gonzales schon! Aber irgendwie schaffte sie es, anderen Menschen vorzugaukeln, da sei niemand. Sie wurde einfach nicht wahrgenommen. Und sie konnte andere, wie zum Beispiel diesen Jim Smith, in das Nicht-wahrgenommenwerden mit einbeziehen! Dieses Talent hatte sie jedenfalls auf Hope im Industriedom von 12 Deluge einige Male unter Beweis gestellt und dabei eine Menge Unruhe gestiftet. Die größere Unruhe hingegen hatte Smith verursacht, als er die EUROPA kaperte. Unwillkürlich mußte Dhark bei dem Gedanken schmunzeln, was der vor Zorn tobende Colonel P. S. Clark wohl tun würde, wenn er erführ, daß es sich bei dem Dieb um einen Mysterious handelte! »He, reden Sie nicht mit jedem?« hörte er im nächsten Moment Juanitas Stimme. Da wurde ihm klar, daß er ihre Frage noch nicht beantwortet hatte, die sie ihm eben stellte.
»Entschuldige bitte«, sagte er. »Ich habe wohl gerade nicht aufgepaßt. Was hattest du gefragt?« »Ob Sie sehr viele Menschen kennen, Mister Dhark. Und wie viele.« »Wie viele... hm. Ich glaube, das kann ich dir nicht beantwor ten.« Sie nickte. »Habe ich mir gedacht. Aber Sie haben es geschafft, nicht? Sie haben dieses Schwarze Loch kaputtgemacht, ja? Das, was uns sonst alle umbringen würde?« »Dein großer Freund Jim hat mir dabei sehr geholfen«, sagte Dhark. Ihre Augen leuchteten, als sie Smith ansah. »Hast du? Wunderbar! Ich wußte, daß ihr es schaffen würdet.« Der Fremde lächelte. »Ich habe so gut wie nichts dazu beigetragen«, sagte er. »Der Commander der Planeten hat die Arbeit erledigt. Er wäre auch ganz gut ohne mich zurechtgekommen.« Er wandte sich Dhark zu. »Sie war immer überzeugt, daß Sie es schaffen würden, Dhark. Ich hatte eher Bedenken. Uns ist es seinerzeit nicht mehr gelungen, den Prozeß umzukehren, als wir erkannten, was geschehen würde...« »Moment mal!« fuhr Juanita auf. »Was heißt das, Jim? Uns ist es nicht mehr gelungen? Wir haben doch nie...« »Ich meinte das etwas anders«, sagte Smith leise. »Terraner Dhark, ich glaube, wir sollten unser kleines Gespräch etwas vertagen.« 13 Das Mädchen runzelte die Stirn. »Jim, was soll das heißen? Wie anders meintest du das? Du nennst den Commander Terraner Dhark, als wenn du selbst kein Terraner wärst! Und wer ist >wir« »Ich glaube, ich muß dir einiges erklären. Ich...« »Das glaube ich auch!« sagte sie entschieden wie eine langjährige Ehefrau, die ihren Göttergatten mal wieder herunterputzt, weil der seine Schwiegermutter scheel angesehen hat. »Mit >wir< meinst du nicht dich und mich, sondern dich und...«
Sie stockte ein paar Sekunden lang. Ihre Augen weiteten sich.
»Das Monster!« stieß sie dann hervor. »Das Monster meinst
du! Es existiert doch! Du hast mich beschwindelt, Jim!«
Sie schien fassungslos, und Dhark sah, wie die Angst in ihr
emporkroch. Angst davor, verraten worden zu sein. Angst,
daß ihr Vertrauen, ihre Zuneigung, mißbraucht wurde.
»Juanita!« stieß Smith hervor. »Es ist nicht so! Es ist alles...«
»Das Monster!« schrie sie auf. »Du hast es immer gewußt!
Du hast mich belogen, du hast nur so getan, als wäre es nicht
da! Warum, Jim? Warum hast du das getan?«
Etwas ratlos sah der Commander zu. Er verstand nicht,
worum es ging. Von welchem Monster war die Rede?
Was verbarg sich noch in diesem Ringraumer?
Unwillkürlich tastete Dhark nach seinem Paraschocker, den
er unter der Uniformjacke trug. Sein Freund Dan Riker hatte
ihm geraten, einen Blaster mitzunehmen, aber Ren war
überzeugt, daß das nicht nötig war. Jetzt war er sich dessen
plötzlich nicht mehr ganz so sicher.
»Es gibt kein Monster, Juanita«, sagte Smith erstaunlich
ruhig. »Glaube es mir.«
»Du belügst mich! Warum?«
»Es gibt wirklich keines. Aber ich bin nicht der, für den du
mich hältst.«
»Du machst mit diesem Monster gemeinsame Sache!«
»Hör mir bitte zu!« verlangte Smith geduldig. »Ich belüge
dich nicht. Ich habe dich niemals belogen. Aber ich...«
14
»Aber du steckst mit dem Monster unter einer Decke! Es ist
hier irgendwo an Bord, und du tust so, als wäre es nicht da!
Du tust so, als wäre ich verrückt!« Sie war nahe daran, mit
ihren kleinen Fäusten auf ihn einzuschlagen. Aber irgendwie
war da doch noch eine Menge Respekt - und vielleicht auch
kindliche Liebe?
Dhark schüttelte den Kopf. Das einzige, was er begriff, war,
daß dieses Mädchen offenbar sehr an Smith hing und sich
böse hintergangen fühlte. Er wollte etwas sagen, wollte
Juanita beruhigen. Aber er kam nicht einmal zu Wort. Die
beiden wechselten ständig Rede und Gegenrede, gaben ihm
keine Chance, sich einzumischen, wenn er sie nicht
überschreien wollte. Und er wollte der Kleinen gegenüber nicht unbedingt als unhöflicher Grobian dastehen. Unterdessen fuhr Smith fort. »Juanita, hör mir bitte zu. Ich habe dich wirklich nie belogen, aber ich habe dir nicht alles über mich gesagt. Es gibt da...« »... ein Monster!« »Nein. Es gibt kein Monster«, wiederholte Smith. Dhark bewunderte ihn für seine Geduld. Er selbst wäre vermutlich schon ausgerastet. Zumindest war er auch als Zuhörer nahe daran. Warum ließ das Mädchen den Mann nicht einfach mal ausreden? »Juanita...« Sie reagierte überhaupt nicht auf seinen Einwurf. Sah den Commander der Planeten nicht einmal an. Sie starrte nur Smith an, und das ausgesprochen wütend. »Es gibt kein Monster«, sagte Smith. »Ich kann es dir beweisen. Hier und jetzt, wenn du willst.« »Ach, ja? Und wie willst du das anstellen? Glaubst du, es traut sich nicht her, weil Ren Dhark hier ist?« Der hätte beinahe aufgelacht, weil ihm weibliche Logik dieser Form in Streitgesprächen geläufig war. Nicht nur von Joan Gipsy, sondern auch von anderen Herrinnen der Schöpfung. Aber diese weibliche Gesprächslogik aus Kindermund zu hören warf ihn doch beinahe um. »Das, was du für ein Monster hältst, Juanita - es fürchtet sich 15 nicht vor Ren Dhark«, sagte Smith geduldig. »Es ist bereits hier.« Sie zuckte zusammen, sah sich rasch um, plötzlich verängstigt. Jetzt schien sie Dhark doch wahrzunehmen, warf ihm einen hilfesuchenden Blick zu. Er breitete die Arme leicht aus, als wolle er Juanita schützend umarmen, und nickte ihr lächelnd zu. Ich bin hier, dir kann nichts passieren. Wer gerade zwei Galaxien vor dem Untergang gerettet hat, wird ja wohl noch mit einem Monster fertig! »Also doch«, stieß sie hervor. »Es ist also doch hier. Du hast mich doch belogen, Jim.« »Nein«, sagte er immer noch sanft und geduldig. »Ich kann
dich doch gar nicht belügen, Juanita. Niemals. Da sind nur Dinge, die du nicht weißt. Die ich von dir fernhalten wollte, um dich zu schützen. Warum wohl, glaubst du, solltest du nachts nicht allein durch die EPOY strolchen? Weil...« Und das Monster war da. Nein, es war kein Monster... oder doch? Jim Smith veränderte sich! Seine Gesichtszüge zerflossen, morphten zu etwas anderem. Seine Gestalt veränderte sich ebenfalls leicht. Die Schultern wurden ein paar Zentimeter breiter, das Haar weißblond. Das Gesicht verjüngte sich um ein knappes Jahrzehnt. Ein paar Zentimeter in der Körpergröße veränderten sich ebenfalls. Plötzlich gab es zwei Ren Dharks in der Zentrale der EPOY! Einen in der Uniform der Terranischen Flotte, die der Comman-der der Planeten immer trug, wenn er mit der POINT OF flog, statt auf Terra Politik zu machen und in maßgeschneiderten Anzügen aufzutreten. Und einen Ren Dhark gab es in der Kleidung des Jim Smith. Unwillkürlich hatte Dhark einen Sprung vorwärts gemacht und sich schützend vor Juanita gestellt, als die Verwandlung begann. 16 Er zog den Schocker, den er auf das Ungeheuer richtete oder auf das, was vor einigen Sekunden noch Jim Smith gewesen war. Ein zweiter Ren Dhark! Aber der zeigte sich nicht aggressiv. Er breitete nur die Arme aus. »Siehst du, Juanita?« fragte er. Sie schaute an Dhark vorbei. Schwieg. Er benutz,! mein Aussehen, aber nicht meine Stimme, durchfuhr es den Commander. Hypnose war also nicht im
Spiel.
Was aber dann?
Da veränderte Smith sich erneut. Er schrumpfte, nahm die
Gestalt eines zehnjährigen Mädchens an, dem die
Erwachsenenkleidung regelrecht um den Körper schlotterte.
Es gab jetzt keinen zweiten Ren Dhark mehr, sondern eine
zweite Juanita Gonzales.
»Nein«, keuchte die echte Juanita.
Ein Gestaltwandler, erkannte Ren Dhark. Smith war
tatsächlich alles andere als ein Mensch. Aber war er deshalb
tatsächlich ein Mysterious?
»Dhark«, sagte die falsche Juanita mit Smiths Stimme.
»Kommen Sie. Berühren Sie mich. Heben sie mich auf den
Arm.«
Was bei einem zehnjährigen Mädchen problemlos möglich
gewesen wäre.
An diesem Geschöpf verhob der Commander sich!
Er schätzte das Gewicht des Juanita-Doubles auf rund 100
Kilo. Es war vermutlich das Gewicht, das Smith auf die
Waage brachte.
Das also konnte er nicht verändern!
Erschrocken starrte das Mädchen ihn an, den Mann, dem sie
bisher bedingungslos vertraut hatte.
Da nahm Smith wieder seine vorherige Gestalt an, sah wieder
aus wie Jim Smith.
»Juanita, hast du es gesehen?« fragte er. »Ich war du, und ich
war Ren Dhark. Ich kann jedes andere Lebewesen sein, wenn
ich es will. Ich war das Monster, das du in jener Nacht
gesehen hast.«
Juanita wirbelte herum und stürmte aus der Zentrale, rannte
davon. Ren Dhark folgte ihr.
Er wußte, welches Risiko er damit einging. Er ließ eine
Lebensform, von der er nicht wissen konnte, ob sie gefährlich
war, hinter seinem Rücken. Aber irgendwie spürte er, daß
keine wirkliche Gefahr bestand.
Er holte Juanita rasch ein; sie war schon nach ein paar Metern
stehengeblieben und lehnte jetzt an der Unitallwand des
Korridors. Leicht zuckte sie zusammen, als er sie ansprach.
»Was war das mit dem Monster, Juanita?« fragte er.
»Möchtest du es mir erzählen?«
Sie kreuzte die Arme schützend vor der Brust und krallte die
Finger geradezu in ihre Schultern. »Nein«, preßte sie hervor.
»Wie du willst«, sagte er und wandte sich ab.
»Warten Sie«, hörte er ihre Stimme.
Er verharrte.
»Du kannst mich ruhig duzen«, sagte er. »Ich heiße Ren.«
»Aber das gehört sich nicht«, sagte sie. »Sie sind der
Commander der Planeten.«
»Aber du solltest trotzdem >Ren< zu mir sagen«, fuhr er fort.
»Das gehört sich nicht, Senhor«, sagte sie entschieden.
»Dann muß ich auch Sie zu Ihnen sagen, Senhorita
Gonzales.« Er machte eine Kratzfuß-Verbeugung und
schwenkte einen imaginären Hut, als grüße er eine Dame
vergangener Jahrhunderte. Nur konnte er sie damit nicht zum
Lachen bringen, wie er es hoffte; da war nur ein ganz kurzes
Aufblitzen und Zwinkern.
Kinder sollen lachen, dachte er. Sie sollen sich ihres Lebens
freuen. Die Unbeschwertheit ist viel zu kurz... und es gibt
nichts Schöneres im Universum als fröhlich lachende,
glückliche Kinder!
Aber Juanita schien das Lachen verlernt zu haben, oder hatte
sie
18
es niemals gelernt in jener brutalen Welt, in der sie
aufgewachsen war?
Jim Smith hätte ihm etwas anderes erzählen können. Smith
hatte Juanita über längere Zeit kennengelernt, hatte das
Lachen und die Freude in ihrer Seele wecken können. Aber
davon ahnte Dhark nichts. Wie sollte er auch? Wen kannte er
denn überhaupt wirklich? Gut, er hatte seine Freunde, kannte
sie seit Jahren und wußte, wie sie dachten und empfanden.
Aber war das wirklich genug?
Wer kann schon wirklich in die Seele eines anderen Menschen blicken? »Also, Senhorita Gonzales«, sagte er. »Wie ist das nun mit
dem Monster?«
Und da erzählte sie es ihm...
Nachts bewegte Juanita sich durch den Ringraumer, der die Erde verlassen hatte und durch den Sternendschungel einem unbekannten Ziel entgegenflog. Sie hatte bei ihren Exkursionen ein schlechtes Gewissen; immerhin hatte Jim sie angewiesen, nachts in ihrer Kabine zu bleiben. Aber sie wollte einfach nur wissen, was er vor ihr verbarg. Sie fragte sich, warum er ihr all jene Räume nicht zeigte. Schließlich stieg sie hinauf ins achte und oberste Deck. Hier fand sie eine Reihe wissenschaftlicher Forschungslabors. Deren Ausstattung mit komplizierten und in ihrer Funktion kaum zu durchschauenden technischen Gerätschaften überstieg Juanitas Fassungsvermögen. Schrankgroße Apparate, übersät mit Schaltern, Tasten und Anzeigen, Öffnungen mit flirrenden Kraftfeldern, seltsam geformte Geräte... und Juanita machte, daß sie wieder auf den Korridor hinauskam. Es wunderte sie, daß so viele Ar beitsplätze eingerichtet waren, obgleich das Raumschiff von Jim allein gesteuert wurde. Und was sie auch erstaunte: In keinem der Räume gab es Staub. Gerade so, als wären sie alle in ständiger Benutzung. Aber von wem denn? Nichts wies daraufhin, daß sich noch je mand im Schiff befand. Sie betätigte den Öffner einer weiteren Labortür. Lautlos glitt die Türplatte in die Wand zurück und gab den Weg frei. Juanitas Augen weiteten sich vor Entsetzen. In dem Laborraum hockte ein Ungeheuer! Ein großer, unförmiger, graubrauner Klumpen, wie eine feuchte schleimige Fleischmasse, aus der Tentakelarme wie die eines Kraken hervorragten. Das Wesen kauerte vor einem der komplizierten Geräte, und die Tentakelarme bewegten sich rasch hin und her, bildeten dünne, fingerähnliche Greiforgane aus, mit denen es Schalter berührte, um sie dann wieder mit der Masse zu verschmelzen. Juanita japste nach Luft - und preßte die gleich wieder als langgezogenen Schrei hinaus. Das amöbenartige Etwas bewegte sich, wabbelte und öffnete ein Auge auf der ihr zugewandten Seite. In völliger Panik wirbelte sie herum und stürmte hinaus, fand ihre Kabine, schlüpfte hinein. Sie warf sich auf ihr Bett,
kauerte sich in einer Ecke zusammen und schlug die Hände
vors Gesicht. Zwischen den Fingern schaute sie angstvoll
hervor, sah immer wieder zur Tür.
Ihr Herzschlag hämmerte, daß sie ihn zu hören glaubte.
Jim, dachte sie. Oh, Jim! Warum habe ich nicht getan, was du
wolltest? Warum bin ich nicht in meiner Kabine geblieben?
Jetzt hat es mich entdeckt, das Ungeheuer, es wird mich
verfolgen und umbringen...
Gellend schrie sie auf, als die Kabinentür geöffnet wurde..
»Aber es war Jim, der hereinkam, nicht das Ungeheuer«,
keuchte sie. Sie zitterte bei der Erinnerung an das
Schreckensbild
20 und zeigte sich da wieder als normales Kind. Als Ren Dhark sie berühren und in seine Arme ziehen wollte, riß sie sich sofort los und schlug nach ihm. »Entschuldigen Sie, Commander«, preßte sie augenblicklich hervor und biß sich dabei fast die Unterlippe wund. Dhark nickte und lächelte. Dabei war ihm gar nicht zum Lächeln zumute. Smith war ein Gestaltwandler. Er konnte jedes beliebige Aussehen annehmen. Er hatte es eben unter Beweis gestellt, als er erst Dhark und dann Juanita nachahmte. Das erklärte, weshalb er auf Babylon als John Brown und auf Terra als Jim Smith auftreten konnte. Danach hatte er die Smith-Identität beibehalten; vermutlich des Mädchens wegen. Aber unter wie vielen Namen war er vielleicht schon vorher auf Planeten der terranischen Föderation aufgetreten? Und was hatte er dort getan? War er wirklich ein Mysterious? Wenn es so war; wenn alle Mysterious Gestaltwandler waren, vielleicht stimmte dann die ganze Geschichte der Galaxis nicht mehr. Dann gab es einen Grund für andere Völker, die Mysterious noch mehr zu hassen als die Grakos, die nicht einmal humanoid waren. Denn dann war niemand vor ihnen sicher! Dann konnten sie Regierungen unterwandern, Wirtschaftssysteme ganzer Stemenreiche kontrollieren, konnten für ihnen genehme
Entscheidungen sorgen, alles manipulieren... und niemand würde sie als das erkennen, was sie waren. Jeder würde sie für jemanden seines eigenen Volkes halten. Jim Smith sah wie ein Terraner aus. Warum sollte er nicht die Gestalt eines Nogk annehmen oder eines Amphi? Warum nicht als Rateke auftreten? Als Gestaltwandler war ihm doch alles möglich! Aber irgendwie paßte einiges nicht so recht zusammen. Wenn die Mysterious in der Lage waren, ihr Aussehen jederzeit zu ver 21 ändern, wozu brauchten sie dann derart riesige Kampfflotten? Mehrere tausend Ringraumer waren es damals gewesen, die Terra angriffen und nur mit viel Glück und einem Trick gerade noch rechtzeitig gestoppt werden konnten. Ein großer Teil der Robotflotte war im Sol-System zurückgeblieben, die anderen in Weltraumtiefen wieder verschwunden. Während Terra einen Teil der verbliebenen Raumer in den Dienst der TF stellte, jagte Dhark den anderen Schiffen nach - verlor sie dabei, fand aber die Sternenbrücke und eine Menge weiterer technischer Errungenschaften. Damals waren es garantiert nicht alle Schiffe der Robotflotte gewesen. So, wie Ren Dhark die Gigantomanie der Mysterious kennengelernt hatte, handelte es sich bei jenen Ringraumem sicher um kaum mehr als ein Prozent. Und alle waren sie jetzt verloren, durch die Galaktische Kata strophe. Nicht mehr funktionsfähig. Wenn sich nach dem Verschwinden Drakhons daran etwas geändert hätte - nichts Eiligeres als eine Funknachricht darüber wäre zu Ren Dhark gelangt. Die technische Macht des Mysterious-Erbes war gebrochen. Weder Terraner noch Tel konnten mehr damit auftrumpfen. Wenig mehr als 500 S-Kreuzer waren der TF geblieben, davon mittlerweile einige bei den Kämpfen gegen Grakos vernichtet. Allerdings: auch die verbliebenen 531 Ringraumer waren noch ein enormes Potential. Auch wenn keiner davon die Qualitäten der POINT OF erreichte. Dhark dachte wieder an Smith. Der Mann war gefährlich, das
hatte er bewiesen, als er auf Terra zum Datendieb wurde und auf Hope die EUROPA stahl. Andererseits schien er kein Feind der Terraner zu sein. Denn sonst hätte er ganz anders zugelangt, und dann hätte er mit seinem Raumer vielleicht auch nicht in die Auseinandersetzung mit den Rahim eingegriffen. »Ich glaube nicht, daß es wirklich ein Monster an Bord gab oder gibt«, sagte Dhark leise. »Mister Smith kann seine Gestalt verändern. Er hat es uns doch gezeigt. Und er sagte auch, daß er dieses.. . Monster gewesen ist.« 22 »Nein!« fuhr Juanita ihn an. Sie rannte wieder los, flüchtete. Sie wollte es einfach nicht glauben. Sie hatte gesehen, wozu Smith fähig war, aber ihr Verstand sperrte sich dagegen. Juanita wollte es einfach nicht wahrhaben. Wie tief mußte ihre Zuneigung zu diesem Mann sein, daß sie nicht einmal die Wahrheit akzeptierte, weil diese Wahrheit ihr das Ungeheuer zeigte, vor dem sie Angst hatte! Sie konnte nichts dagegen tun, sich vor dem Monster zu fürchten, aber sie wollte sich nicht vor Smith fürchten müssen. Da kam Ren mit Worten nicht durch. Das zu klären, mußte er Smith überlassen. Der hatte die Wahrheit bislang verschwiegen, und sicher aus gutem Grund. Weil er nämlich das Mädchen nicht in eine Krise stürzen wollte. Erst Ren Dhark gegenüber hatte er sich offenbart. Warum? Er hätte sein Geheimnis für sich behalten können. Er hätte sich sehr leicht aus der Sache herausreden können, und niemand hätte etwas gemerkt. Aber er schien reinen Tisch machen zu wollen. Das sprach für ihn, den Gestaltwandler, das »Ungeheuer«. Dhark kehrte langsam in die Zentrale zurück. Es hatte keinen Sinn, Juanita hinterherzulaufen. Sie brauchte jetzt erst einmal eine Erholungspause, aber vielleicht sollte Smith zu ihr gehen und sich um sie kümmern. Dhark machte ihm den Vorschlag, als er den Leitstand der EPOY wieder betrat.
»Sie haben recht, Commander«, sagte Smith. »Genau das werde ich tun. Das bedeutet aber, daß Sie an Bord ihrer POINT OF zurückkehren werden. Ich«, er lächelte, »kann und will es mir nicht leisten, daß Sie während meiner Abwesenheit hier herumpfuschen und versuchen, die Kontrolleinrichtungen der EPOY auszutricksen.« »Das trauen Sie mir zu?« »Wem sonst?« Smith grinste. »Ich gestehe: Ich habe Ihnen ein Raumschiff gestohlen, die EUROPA. Sie aber haben meinem Volk 23 ein paar tausend Schiffe entwendet. Wir beherrschten einst das Universum. Und Sie wollen uns beerben.« Dhark runzelte die Stirn. »Es ist nicht böse gemeint«, wiegelte Smith ab. »Ich würde in Ihrer Lage nicht anders handeln. Aber gerade deshalb muß ich Sie von den Kontrollen femhalten.« Dhark streckte die Hand aus und deutete auf den Gestaltwandler. »Wenn ich es wirklich darauf anlegte, würden Sie nichts dagegen tun können«, behauptete er. »Ich denke. Sie wissen, daß meine POINT OF das bessere Schiff mit der besseren Ausrüstung ist. Ich könnte Ihre Transmitter fernsteuern und ein Enterkommando an Bord bringen, dem Sie nichts entgegenzusetzen hätten.« »Wie würden Sie das anstellen wollen?« »Der Checkmaster der POINT OF koppelt meine und Ihre Gedankensteuerung, Smith.« »Nette Idee. Klappt aber nicht. Zwischen Ihrem und meinem Raumer liegen tausend Jahre Entwicklungszeit. Da werden einige Dinge inkompatibel. Aber was soll's? Ich glaube kaum, daß wir beide es nötig haben, uns um ein einzelnes Raumschiff zu streiten. Ich will Ihnen ja auch nicht Ihre POINT OF wegnehmen, obgleich ich sicher das größere Recht dazu hätte, den Raumer zu fliegen, den Margun und Sola einst auf Kaso entwickelten. Behalten Sie die POINT OF, und ich behalte meine EPOY. Jetzt aber muß ich mich allmählich um Juanita kümmern. Sie sieht mich als eine Art Ersatzvater. Ich kann sie jetzt nicht einfach allein lassen.« »Sie sollten mir zuerst noch einige Fragen beantworten«, ver
langte Dhark. Einige Fragen? Er hatte Tausende'. »Später vielleicht... wie wäre es auf Terra? Ich begleite Sie dorthin, wenn Sie mir freies Geleit zusichern.« »Gewährt«, sagte Dhark schnell. »Dort werden wir tatsächlich mehr Zeit und Ruhe haben.« Hoffentlich. In den nächsten Tagen und Wochen mußte es in der Galaxis drunter und drüber gehen. Das Verschwinden Drakhons und das Abklingen der galaktischen Magnetfeldstörungen würde 24 für Unsicherheit sorgen. Vielleicht wurden die Karten der Machtverteilung in der Galaxis von den raumfahrenden Völkern ganz neu gemischt, jetzt, da es keinen Grund mehr gab, zu fliehen oder in eine Weltuntergangsstimmung zu verfallen. Da war es gut, wenn er sich auf Terra befand, um sich den Menschen zu zeigen und für sie das zu sein, wozu sie ihn vor Jahren gewählt hatten: zum Commander der Planeten, zur Leitfigur, zum Hoffnungsträger. »Wie heißen Sie eigentlich wirklich?« fragte er. »Jim Smith ist doch nicht Ihr richtiger Name.« »Nennen Sie mich Gisol«, sagte der Mysterious. Dhark wurde immer sicherer, keinem Hochstapler auf den Leim zu gehen. Daß Smith - oder Gisol - die Namen Margun und Sola erwähnte und auch die Mysteriousbezeichnung für den Planeten Hope, sprach für die Richtigkeit seiner Behauptung. Auch der Name seines Schiffes... Ren hatte als bisher einziger Mensch die Sprache der Mysterious erlernt und wußte, daß Epoy »Heimat« bedeutete. Gisol hatte sein Schiff also nach seinem Herkunftsplaneten benannt. Natürlich, etwas Unsicherheit blieb nach wie vor. Die Salter hatten sich anfangs auch erfolgreich als die letzten Mysterious ausgegeben. Aber intuitiv spürte der Commander, daß er es hier endlich mit einem echten Vertreter der Geheimnisvollen zu tun hatte. »Eines muß ich jetzt noch wissen, sofort«, fuhr er fort. »Die Mysterious verließen vor tausend Jahren die Galaxis, gaben alle ihre Stützpunkte auf. Kommen sie jetzt zurück, da die
Gefahr von Drakhon gebannt ist? Sind Sie deshalb hier,
Gisol? Als Vorhut...?«
Gisol schüttelte den Kopf wie ein Terraner. Natürlich; er
hatte die Verhaltensweisen der Menschen annehmen müssen,
um nicht in seinen Rollen als Brown oder Smith durchschaut
zu werden.
»Nein, Commander«, sagte er. »Ich bin allein gekommen. Ich
suche Hilfe.«
2. Zehn - nein, elf Ringraumer verließen den Raumsektor um das Schwarze Superloch im galaktischen Zentrum. Hier war alles getan, was getan werden konnte. Die Schiffe nahmen Kurs aufTerra. Smith alias Gisol hatte sich ihnen angeschlossen. Er vertraute Ren Dharks Zusicherung auf freies Geleit. Was außerhalb des Vertrauens lag, waren die Gerüchte, die plötzlich an Bord der anderen Schiffe kursierten. Aber keines davon kam der Wahrheit nahe. Den Kommandanten des fremden, unbekannten Ringraumers, der entscheidend in das Geschehen eingegriffen hatte, hielt man offensichtlich für einen Abenteurer, der auf irgendeinem Planeten noch einen funktionsfähigen Ringraumer gefunden hatte, so wie einst Ren Dhark. Daß es sich bei ihm vermutlich um einen Angehörigen der Mysterious handelte, darüber sprach der Commander zunächst nur im kleinsten Kreis seiner Freunde und Vertrauten. Die Nogk, die der Manipulation des Schwarzen Loches als Beobachter beigewohnt hatten, verabschiedeten sich. Ihre drei Ellipsenraumer nahmen Kurs auf Reet. Weit draußen außerhalb der Galaxis lag ihr Sonnensystem, das eine kleine Insel im unheilvollen Exspect bildete, jener Zone, die die ganze Milchstraße umgab und verhinderte, daß Raumschiffe sie verlassen konnten. Je weiter man vorstieß, desto gigantischer wurde der Energieverbrauch. Ursprünglich hatten die Nogk, die als strahlungsabhängige Mutanten vor dem sich verändernden galaktischen Magnetfeld fliehen muß ten, in die Nachbargalaxis Andromeda auswandern wollen.
Aber sie waren nie so weit gekommen. Das System der Sonne Corr war die Endmarke ihrer Flucht; weiter konnten sie nicht. Die Energievorräte ihrer Raumer reichten nicht aus, um auch nur einige Dutzend Lichtjahre tiefer in den intergalaktischen Leerraum vorzustoßen. Auch die anderen Völker hätten es nicht geschafft. Ihre Antriebe versagten in jenen finsteren Räumen jenseits des galaktischen Halos. Sie waren Gefangene ihrer Stemeninsel gewesen, verdammt zum Sterben in der Drakhon-Hölle. Die Gefahr war jetzt gebannt. Niemand brauchte mehr zu sterben. Schlagartig waren die Magnetstürme abgeebbt. Es war verblüffend, wie unspektakulär Drakhon in sein Heimatuniversum zurückgekehrt war. Es gab keinen weiteren Galaktischen Blitz, keine Gravitationsschocks. Nur aus jenen Sektoren, in denen sich die beiden Sterneninseln bereits durchdrungen hatten, kamen Katastrophenmeldungen. Sonnen, die sich gerade erst im Laufe von Monaten oder Jahrhunderten an die neuen gegenseitigen Anziehungskräfte angepaßt hatten, mußten jetzt neue Bahnen suchen, weil es keine entsprechenden Anziehungspunkte mehr gab. Sterne und Planeten, die zu Drakhon gehörten, fehlten einfach. Vielleicht würden in jenem Randbereich Zivilisationen untergehen müssen, weil ihre Planeten kippten, weil ihre Sonnen anders reagierten als zuvor. Aber was waren diese wenigen im Vergleich zu den vielen, die gerettet wurden? Dhark mußte sich der Tragik verschließen. Ein so gigantisches Rettungsunterfangen konnte einfach nicht ohne Opfer vollzogen werden. Millionen, Milliarden, Billionen von Lebewesen mochten sterben - aber was waren sie gegen die Myriaden Überlebenden? Traurig und tragisch für jeden, den das Schicksal traf. Aber... Nicht darüber nachdenken! stoppte der Commander sich selbst. Er manövrierte sich durch diese Gedanken nur in eine Zwickmühle, aus der er nie wieder heil herauskam, wenn er sich nicht rechtzeitig davon löste. Was er getan hatte, war richtig. Die Mysterious hatten damals auch geglaubt, es sei richtig, was sie taten, als sie das Schwarze Loch veränderten. Sie hatten das Beste für sich gewollt und eine Katastrophe
heraufbeschworen. Und die Terraner hatten diesen Fehler jetzt wieder ausgebügelt. Sie hatten innerhalb von höchstens zwei Jahren mehr erreicht als die Mysterious in Jahrhunderten! Dhark würde Gisol viele Fragen stellen müssen, sehr viele Fragen. Und er war nicht sicher, ob er auch alle Antworten erhielt. 28 Mußte Gisol nicht sein eigenes Volk anklagen, wenn er diese Fragen wahrheitsgemäß beantwortete? Auf die Unterhaltung war der Commander schon gespannt. Aber er bezähmte seine Ungeduld. Der Rückflug nach Terra dauerte länger als der Herflug; man stand nicht mehr unter Zeitdruck. Man mußte sich nicht per Transition fortbewegen, sondern konnte energiesparend im Intervallfeld-Überlichtflug reisen. Das forderte den Räumern weniger Ressourcen ab. Auch wenn die Gefahr, daß die M-Konverter irgendwann ausbrannten, längst nicht mehr so groß war wie einst, bevor Robert Saam und Chris Shanton herausgefunden hatten, daß Tofirit als »Brennstoff« verwendet werden konnte, gab es keinen Grund, mehr zu verpulvern als nötig. Denn auch Tofirit kostete Geld. Man hatte jetzt Zeit und konnte sich Sparsamkeit erlauben jetzt endlich. Aber für wie lange? »Du hast mich zweimal belogen«, sagte Juanita leise. Gisol schüttelte den Kopf. »Nein«, protestierte er sanft. »Doch! Das erste Mal, als du sagtest, es gäbe kein Ungeheuer im Schiff, und das zweite Mal, als du sagtest, du selbst wärst es. Ich kann dir nicht mehr glauben.« »Doch, das kannst du«, sagte der Mysterious. »Ich habe beide Male die Wahrheit gesagt. Beim ersten Mal warst du so verängstigt... ich wußte nicht, ob du es verkraften würdest, wenn ich mich dir so gezeigt hätte, wie ich wirklich bin. Aber jetzt... du hast doch gesehen, daß ich in der Lage bin, dein Aussehen anzunehmen, und auch das von Commander Dhark. Ich kann so aussehen wie irgendein beliebiges Wesen,
wenn ich will. Ich kann jedes Aussehen annehmen.« Juanita starrte auf den Boden zu ihren Füßen. Sie saß in ihrer Kabine. Jim Smith stand ihr gegenüber. Er war 29 zu ihr gekommen, um das Mißverständnis ein für allemal zu klären. Und er hatte Zeit. Es würde dauern, bis sie Lern erreichten -oder Terra, wie die Menschen ihre Heimatwelt jetzt nannten. Die Automatik flog den Ringraumer. Jim brauchte sich um nichts zu kümmern. Der Kurs nach Terra war bekannt, und mit Gefahr brauchte er nicht zu rechnen. Mit ihm flogen zehn Ringschiffe der Terraner. Das war Sicherheit genug. Wer würde es wagen, sie anzugreifen? Er wunderte sich darüber, wie leicht es ihm fiel zu akzeptieren, daß die Terraner das technische Erbe seines Volkes übernommen hatten. Sie lebten in einer unbezähmbaren Sturm-und-Drang-Phase, wie sein Volk auch. Damals, als es noch ein Universum zu erobern gab. Heute war es anders... ganz anders... aber es freute ihn zu se hen, daß die Terraner die Erwartungen erfüllten, die man einst in sie gesetzt hatte. Sie schienen ihm würdig, als Partner akzeptiert zu werden. Nicht nur als Helfer, wie einst die Salter... »Aber du kannst das Ungeheuer nicht sein«, flüsterte Juanita verloren. »Du bist Jim Smith, mein großer Freund.« »Ich sagte doch, daß es kein Ungeheuer gibt. Das, was du da mals gesehen hast - das war wirklich ich. Es war meine richtige Gestalt. Das hier ist nur... wie soll ich es nennen? Eine Maske? Tarnung? Tarnung, sicher. Ich sehe so aus, damit ich niemanden erschrecke. Erst recht nicht dich, Juanita.« Sie hob den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Du kannst mich nicht erschrecken.« »Und doch bist du davongelaufen, als du mich in dem Labor raum sahst. Juanita... glaubst du mir, was ich sage, wenn ich dir zeige, wie ich wirklich aussehe?« »Du siehst aus wie Jim Smith. Du bist Jim Smith.« »Dann schau her.«
Sie sah ihn an.
Und er verwandelte sich.
30 Irgendwie floß er aus seiner Kleidung heraus, die neben ihm
haltlos zusammenfiel. Juanita registrierte es wie in einem
Alptraum. Vor ihren Augen entstand etwas, das keinesfalls
menschlich war.
Es war ein großer, irgendwie grauer Klumpen, der
Tentakelarme ausbildete und sich ständig veränderte. Es war
das Monster von damals! Dieses Ungeheuer, das an einem
der Laborgeräte zu arbeiten schien, und vor dem sie dann
schreiend geflüchtet war.
Alles in ihr drängte danach, davonzulaufen.
Weg von hier, weg von diesem Ungeheuer, diesem
unförmigen, unglaublichen Etwas, das sich ständig verformte,
keine wirklich feste Gestalt besaß. Weg von dieser
entsetzlichen Kreatur! Lieber hätte sie eine Vogelspinne
gestreichelt.
Aber dieses - dieses Ding!
Das war Jim?
0h nein!
Das konnte nicht Jim sein!
Aber...
Jim hatte doch auch in der Zentrale des Ringraumers schon
zwei Verwandlungen durchgeführt, nur hatte er sich da
trotzdem in menschlichem Aussehen gezeigt! Hier aber... wie
nannte man das? Amöbe! durchfuhr es sie. Sie kannte diesen
Begriff aus ihren Lemprogrammen, die sie während der Flüge
mit Jim und auch während des Aufenthalts auf seinem
Planeten eifrig genutzt hatte, weil sie doch klug sein und so
viel wie möglich wissen wollte. Richtig, das war es. Dieses
Ungeheuer sah aus wie eine Amöbe. Aber es konnte keine
sein, denn die waren doch klein, winzig klein, nur mit dem
Mikroskop richtig zu sehen. Einzeller, entsann Juanita sich.
Daß dieser Lehrstoff für höhere Schulklassen gedacht war,
spielte keine Rolle; sie war eifrig und wißbegierig und längst
dem voraus, was sie jemals auf der Erde in einer Schule hätte
ler
31 nen können. Einzellige Lebewesen waren winzig. Das Ungeheuer aber war groß, riesengroß. Na gut... nicht riesengroß. Je länger sie es anstarrte, desto klarer wurde das Bild in ihrem Verstand. Sie begann allmählich, ihre Angst zu überwinden, so wie sie vor Jahren ihre Angst vor Spinnen überwunden hatte. Andere Kinder liefen heute noch davon. Aber eine Vogelspinne auf der Hand zu halten war interessant. Die Borstenhaare kitzelten. Und wenn man sich nicht zu schnell bewegte, so daß die Spinne sich nicht bedroht fühlte, war auch alles in bester Ordnung. Jetzt starrte sie das Ungeheuer an, diese Amöbe, die keine sein konnte, weil sie dafür viel zu groß war. Sie war halb so groß wie Jim, aber doppelt so breit, und sie veränderte ihre Form immer noch. Und sie sprach plötzlich. »Glaubst du mir jetzt, Juanita? Siehst du es? Ich bin Jim. Egal, wie ich aussehe. So... oder so... oder so...« Der Klumpen verwandelte sich wieder, wurde zu einem weißen Pferd mit einem Hom auf der Stirn, dann zu einem Adler, zu einem Delphin... und schließlich wieder zu Jim Smith. Fassungslos starrte Juanita ihn an. »Ups!« machte Jim, drehte ihr ganz schnell den Rücken zu und sammelte seine Kleidung auf, um sie rasch anzuziehen. Da erst brachte Juanita es fertig, gleichzeitig zu erröten und zu kichern. Sie hatte Jim nie zuvor nackt gesehen. »Entschuldige bitte«, preßte er hervor. »Das... das war so nicht beabsichtigt.« Sie kicherte lauter. In den Slums von Rio hatte sie die Straßenjungen oft genug nackt gesehen, und bei den großen Kamevalsumzügen trugen die wunderschönen Tänzerinnen häufig kaum mehr als ein fröhliches Lächeln. Juanita träumte selbst davon, Tänzerin in einer der Sambaschulen zu werden und auf einem der Umzugswagen im Karneval zu tanzen, aber vielleicht nicht nackt, sondern in einem tollen Kostüm, mit funkelnden Straßsteinen besetzt, mit vielen bunten Federn und hauchdünnen Schleiern... 32
Jim wirkte verlegen, und das war lustig.
»Hach, ich habe schon ganz andere Leute nackt gesehen!«
versicherte sie altklug. »Mach dir nichts draus...«
Und dann glaubte sie wieder das Ungeheuer zu sehen, als das
er sich ihr gezeigt hatte. Und das Einhorn und den Adler und
den Delphin...
»Das kannst du wirklich, Jim?« preßte sie hervor, jäh wieder
emst werden. »Das bist du wirklich alles?«
»Das, was du ein Ungeheuer nennst, Juanita, das ist meine
wirkliche Gestalt«, sagte er leise. »Ich bin kein Mensch. Ich
bin euch Menschen fremder als jedes andere Geschöpf dieser
Galaxis.«
Sie schloß die Augen, versuchte das Monster zu sehen und
sah Jim.
Sie hatte immer noch ein wenig Angst, aber jetzt wußte sie,
daß sie keine Angst haben mußte. Sie konnte sie
zurückdrängen und vergessen. Wie schrecklich auch immer
dieses schleimige Ungeheuer aussah - es war Jim.
Und Jim sah jetzt wieder aus wie Jim.
»Bitte«, flüsterte sie. »Darf ich dich anfassen?«
»Sicher.« Er kam zu ihr, kauerte sich vor ihr auf den Boden,
um gleiche Augenhöhe zu haben. Sie berührte sein Gesicht
mit den Fingerkuppen. Es war menschliche Haut, die sie
spürte, es war ein Mensch, den sie sah. Es war Jim, nicht das
Monster.
Okay, vielleicht konnte er wie ein Monster aussehen. Aber er
war doch keines. Er war Jim.
»Mein richtiger Name ist Gisol«, sagte er.
»Gisol«, echote sie. »Nein, dein richtiger Name ist Jim. Du
bist Jim.«
»Wie du willst«, sagte er.
Sie dachte an das Weihnachtsfest auf Jims Planet. An das Ge
schenk, das sie für ihn gebastelt hatte. Und an den
Weihnachtsbaum, den er aufgestellt und geschmückt hatte.
Nein, ein Ungeheuer tat so etwas nicht. Jim war kein
Ungeheuer, auch wenn er vielleicht wie eines aussah.
33 Es war so schön gewesen an jenem Abend... so
wunderschön... sie hatten miteinander geredet, sie hatten Lieder gesungen... Weihnachtslieder, die sie kannte, und Lieder, die Jim sang und die sie nicht kannte. »WorgunLieder«, hatte er gesagt. Schwermütige, traurig klingende Lieder in einer Sprache, die Juanita nicht kannte. Er war kein Mensch, aber vielleicht war er menschlicher als alle Menschen, mit denen Juanita bisher zu tun hatte. Sie sprang auf und umarmte ihn. »Du bist Jim«, sagte sie. »Und es ist mir ganz egal, ob du wie ein Ungeheuer aussiehst oder nicht.« »Ich hab' da was ausgegraben«, grinste Dan Riker. Der schwarzhaarige Chef der Terranischen Flotte hatte trotz seiner Vorliebe für gutes Essen die Figur eines Langstreckenläufers. Er strolchte lieber mit Ren Dhark durch den Sternendschungel, statt an seinem Schreibtisch in Cent Field zu sitzen, den er viel lieber seinem Stellvertreter Marschall Bulton überließ. Nun hatte er seinen Freund Ren in dessen Kabine aufgesucht. »Und was?« wollte Dhark wissen. »Einen Schatz? Oder eine Leiche im Keller?« »Wie man's nimmt«, schmunzelte Dan. »Sieht jedenfalls so aus, als wäre unser gerade zurückliegendes Abenteuer erst der Anfang. Aber jetzt haben wir ja Erfahrung...« »Wovon redest du?« drängte Dhark ungeduldig. Er war nervös; auf Terra wartete garantiert politischer Ärger mit dem Parlament und privater Ärger mit Joan Gipsy, und Dan spielte Folterknecht und ließ ihn schmoren! »Willst du's wirklich wissen?« versuchte Dan es noch spannender zu machen und ignorierte die Alarmzeichen in Rens Gesicht. »Ich bring dich um«, flüsterte der seinem Freund zu. Dan hob abwehrend die Hände. »Doch nicht dafür! Hier...« und er drückte auf eine Sensortaste. Ein Holo-Bildschirm glomm auf 34 und zeigte Text.
»Das ist eine Meldung der Medienagentur DPA, die im September des sagenhaften Jahres 2001 veröffentlicht wurde«, erklärte Dan. »Damals gab's uns beide noch gar nicht, aber offensichtlich haben Wissenschaftler seit jeher ein Faible für Katastrophenmeldungen, nur haben sie sich dummerweise ein wenig verschätzt. In der Zeitspanne und in der Richtung, weil Drakhon in der entgegengesetzten Himmelsrichtung zu suchen war...« Neugierig geworden, beugte Dhark sich leicht vor und las die Zeilen, die in der Bildwiedergabe erschienen: 25. September 2001 dpa <Titel> Der Milchstraße steht ein Super-Crash bevor In rund fünf Milliarden Jahren erwarten Astronomen einen Zusammenstoß unserer Milchstraße mit der benachbarten Andromedagalaxis. Dann werden die beiden Schwarzen Löcher der Galaxien begleitet von einem gigantischen Feuerwerk zu einem einzigen Schwarzen Loch mit etwa 40 Millionen Sonnenmassen verschmelzen, sagte Professor RalfBender, Direktor der Universitätssternwarte München, gestern beim Astronomiekongreß »Jenam 200l«. Bender hat mit seinem US-amerikanischen Kollegen Professor Douglas Richstone (Michigan) sehr massereiche Schwarze Löcher in erdnahen Galaxien nachgewiesen. Dabei zeigten die Wissenschaftler, daß die Masse Schwarzer Löcher ungefähr 0,2 Prozent von der Gesamtmasse der jeweiligen Galaxis beträgt. Sie fanden heraus, daß die Sterngeschwindigkeit unabhängig vom Zustand der Galaxis signifikant mit der Masse des Schwarzen Loches zusammenhängt. <Ende> »Das gibt's doch nicht, oder?« Ren sah seinen Freund kopf schüttelnd an. »Doch. Eine völlig seriöse Meldung. Also können wir in rund fünf Milliarden Jahren den ganzen Mist noch einmal machen...« 35 Dhark seufzte. »Dan, ich habe keine Lust, mich derzeit von
dir verkaspem zu lassen. Weißt du, was fünf Milliarden Jahre für eine Zeitspanne sind? Bei allem Respekt für die astronomischen Eierköpfe, aber das hier geht...« »... auch mir völlig am Arsch vorbei, Commander, Sir«, winkte Riker ab. »Ich hatte gehofft, dich damit ein bißchen aufmuntern zu können. Aber wer nicht will, der hat schon, Mister Miesegrimm. Was ist mit dir los? Denkst du schon wieder an Joan Gipsy? Mann, nicht jede Frau kann so fantastisch sein wie Anja und...« »Es reicht jetzt, Dan!« Messerscharf klangen Dharks Worte, und in diesem Moment begriff Dan, daß er gerade einen wunden Punkt angesprochen hatte. Ren hatte ihm einmal gestanden, daß er in Anja Field, heute Anja Riker, verliebt gewesen war, aber sie hatte nur Augen für Dan gehabt, und die beiden waren ein Paar geworden. Dan hatte seinen Freund nie gefragt, warum er Anja seine Gefühle nicht gestanden hatte. Damals nicht, und er wollte ihn auch heute und künftig niemals danach fragen. Das war eines der wenigen Tabuthemen zwischen ihnen. »Sorry, Ren... reden wir also über Jim Smith.« Dan nahm seinem Freund gegenüber Platz. »Was machen wir jetzt mit dem seltsamen Vogel? Ein Mysterious und zugleich ein Gestaltwandler...« »Davon wissen bis jetzt drei... nein, vier Personen, wenn wir Gisol selbst mitzählen«, sagte Dhark. »Diese Personen sind du und ich sowie Juanita. Sonst weiß niemand davon. Und dabei sollte es vorerst bleiben.« »Darf ich mal unseren speziellen Freund Bert Stranger von Terra-Press zitieren? >Das Volk hat ein Recht auf Information !< Stranger zerreißt uns coram publico in der Luft!« »Aber erst, nachdem er von dem Informationsdefizit erfährt, und hast du schon vergessen, daß Stranger zwar ein Reporter ist, der Sensationen nachjagt, der aber auch schon unter Beweis gestellt hat, daß er auch mal auf eine Story verzichtet und die Klappe hält, 36 wenn höhere Interessen im Spiel sind?«
»Aber was diese höheren Interessen sind, definiert Mister Strangs »Wer sonst? Er ist als Reporter der Vertreter der Öffentlichkeit. Sollen wir die Definition erstellen und uns damit als Diktatoren hinstellen, die das Volk entmündigen? Nein, Dan... das ist nicht mein Spiel.« »Und was willst du tun? An Bord der Schiffe gärt die Gerüchteküche. Wenn wir gelandet sind, wird niemand die Besatzungen hindern können, in den Raumhafenkneipen ihre Spekulationen loszuwerden! Wir können nicht jedem einen Aufpasser zur Seite stellen, und wir können auch nicht jedem die Erinnerung löschen, falls Dir das in den Sinn gekommen sein sollte!« »Keine Sekunde lang!« entfuhr es Dhark. Er war bestürzt über diesen Vorwurf, der allerdings eine gewisse Berechtigung besaß. Erron-3... Doch das lag lange zurück und spielte keine Rolle mehr. »Wir werden uns eine Geschichte einfallen lassen«, sagte Dhark. »Eine, die die Wahrheit zwar knapp verfehlt und umschreibt, aber nicht negiert. So, daß uns hinterher keiner festnageln kann, wir jetzt aber erst einmal unsere Ruhe haben.« Er beugte sich vor. »Dan, wir haben auf Terra genug politische Schwierigkeiten. Da können wir so etwas überhaupt nicht gebrauchen!« »Das sagst ausgerechnet du? Der einzige Politiker des Universums ohne Machtambitionen?« »Dan... daß Smith Datendiebstahl versucht hat, ist bekannt geworden. Wenn wir ihn jetzt präsentieren, wird man ihn unter Anklage stellen, und wir können das nicht verhindern, ohne Rechtsbeugung zu betreiben. Dabei sind wir ihm für seine Hilfe am Schwarzen Loch eine Menge schuldig, nur wird das niemand sehen wollen, sondern uns... mir einen Strick daraus drehen, wenn ich oder wir unsere Hände schützend über ihn halten, um uns auch nur halbwegs dankbar zu erweisen! Dan, die Menschheit und erst recht unsere Gesetzgebung kennt Dankbarkeit nur als Fremdwort. Entscheidend sind Paragraphen.
Außerdem: Gisol ist ein Mysterious.« »Was noch zu beweisen ist... denke an die Salter!« »An die denke ich in diesem Zusammenhang ständig, und dennoch bin ich mir meiner Sache sicher. Gisol ist ein Mysterious und ein Gestaltwandler. Wenn das an die Öffentlichkeit kommt, wird sich nicht nur die GSO für ihn interessieren. Er wird zum Versuchsobjekt der Wissenschaftler! Nein, mein Lieber - das werde ich nicht zulassen.« »Und wie willst du verhindern, daß Mediziner, Psychologen, Ethnologen und was es sonst noch an Logen gibt, ihn in seine metaphysischen und metapsychischen Bestandteile zerlegen?« »Indem wir die Mühle zumachen! Nichts 'rauslassen über seine Person, seine Herkunft und seine Fähigkeiten. Zehn Ringraumer sind zu unserer Mission gestartet, elf kehren zurück - eines der TF-Schiffe ist eben zu uns gestoßen. Wir schirmen Gisol zunächst ab. Von seinen Fähigkeiten wissen nur wir und Juanita. Der wird man kindliche Fantasie unterstellen. Und wir werden uns erst einmal in aller Ruhe allein mit Gisol unterhalten. Weißt du, was er sagte? Er sei allein gekommen, weil er Hilfe suche! Dan... ein Mysterious, der auf unsere Hilfe hofft!« »Ich hoffe auch, aber daß du dich nicht in einem Wunschtraum verlierst; wieder einmal«, brummte Riker. Dhark schluckte die Bemerkung kommentarlos. Sie waren Freunde, die sich auch mal die Wahrheit um die Ohren schlagen konnten, ohne darüber in Streit zu geraten. »Wenn wir auf Cent Field landen, sacken wir ihn freundlichst ein«, fuhr Dhark fort, »ehe jemand anderer auf die Idee kommt. Und dann führen wir Gespräche, die hoffentlich recht informativ sind, in einem erst einmal ziemlich kleinem Kreis. Was danach geschieht, hängt davon ab, was Gisol zuzulassen bereit ist. Dan, er hat uns geholfen! Ohne ihn hätten wir es nicht geschafft, als die Rahim durchdrehten. Wir sind ihm etwas schuldig, ganz gleich, was er zuvor getan hat oder künftig tun wird. Wir haben eine Schuld abzutragen. Aber nicht, indem wir ihn der Wissenschaft, den Medien und dem Geheimdienst ausliefern.«
»Diese Töne kenne ich noch gar nicht von dir«, staunte Dan Riker. »Vor allem beim Stichwort Geheimdienst. Du warst es doch immer, der die GSO förderte. Und sicher nicht nur, weil ihr Chef Bernd Eylers auf Hope gegen Rocco und später auf Terra gegen Norman Dewitt agierte.« Dhark winkte ab. »Bist du für oder gegen meinen Plan?« fragte er trocken. Riker verzog das Gesicht »Dreimal darfst du raten...« Als Dharks Ringraumerflotte in Erdnähe kam, suchte der Com-mander die Funk-Z auf. Er komplimentierte die Diensthabenden hinaus und funkte selbst. Es war nicht so, daß er seiner Mannschaft mißtraute - aber er wollte den Kreis der Eingeweihten so klein wie eben möglich halten. Deshalb ging er auch über To-Funk nicht ins Detail. Er gab lediglich Anweisungen, die unverzüglich auszuführen waren, ohne nach einer Begründung zu fragen. Danach löschte er die Speicherung seines Funkverkehrs, nachdem er die Löschung auch für Terra angeordnet hatte. Er konnte sich dabei auf die Notstandsbestimmungen berufen, die nach wie vor gültig waren. Besonders wohl fühlte er sich dabei zwar nicht - weder bei dem von ihm ausgerufenen Notstand an sich noch bei seiner jetzigen Aktion. Aber er war davon überzeugt, das Richtige zu tun. Die Notstandsgesetze würden wohl noch einige Zeit weiter in Kraft bleiben müssen, obgleich die Gefahr durch die Grakos und durch Drakhon vorbei war. Aber der Finanzhaushalt Terras war nach wie vor desolat, und Dhark wunderte sich, daß sein Finanzminister Lamont nicht schon wie sein Vorgänger das Handtuch geworfen hatte, sondern nach wie vor unermüdlich an Sparmaßnahmen herumstrickte. Zudem taten sich allmählich auch Versorgungslücken auf. Gerade durch die Sparmaßnahmen und Subventionsstreichungen gab es immer mehr Konkurse, und jede Firma, die geschlossen wurde, bedeutete noch weniger Steuern, dafür aber mehr Arbeitslose, die finanziert werden mußten. Terra war kaum
noch in der Lage, seine Bevölkerung zu ernähren. Dem wäre theoretisch abzuhelfen, indem das Kolonisierungsprogramm forciert würde. Aber der Flotte fehlten die Kapazitäten, und die Kolonisten mußten in der Anfangsphase auch versorgt werden. Sogar auf Hope hätte man nicht siedeln können, wenn der Kolonistenraumer nicht jede Menge Versorgungsgüter mitgeführt hätte. Das aber kostete wiederum noch mehr Geld. Selbst die Besiedelung des Mysterious-Planeten Babylon erwies sich mittlerweile als Bumerang, auch wenn sie zunächst wie eine Goldgrube ausgesehen hatte. Aber zehn Millionen Menschen mußten anders betreut, versorgt und verwaltet werden als eine Million. Kühle Rechner hatten es Ren Dhark noch vor gar nicht langer Zeit vorgehalten. Die Aktion, die Milchstraße zu retten, hatte Terra in den finanziellen Ruin getrieben. Aber andererseits: Was hätte den Menschen ein halbwegs stabiler Haushalt gebracht, wenn sie im Zuge der Kollision beider Galaxien starben? Geld nahm niemand mit ins Grab. Doch jetzt konnte man wieder mit dem Aufbau beginnen. Es würde ein harter, dorniger Weg werden, voller Blut, Schweiß und Tränen. Aber es war Leben, nicht Tod. Und das war es, was den Commander immer wieder beruhigte. Es konnte weitergehen. Es endete nicht in ein paar Wochen oder Monaten in einer infernalischen Katastrophe. Kurz dachte er an die Pressemeldung, die Dan Riker aufgestöbert hatte. In fünf Milliarden Jahren sollten sich andere um dieses Problem kümmern. Dann war es aber vermutlich-wesentlich schwerer, die Katastrophe zu verhindern, denn Andromeda konnte nicht einfach in ihr Heimatuniversum zurückversetzt werden. Andromeda gehörte hierher. Aber was war schon in fünf Milliarden Jahren? Vermutlich gab es dann das Sol-System schon nicht mehr, war die Sonne, die den Menschen Wärme spendete, seit ihre Vorfahren aus dem Wasser ans Land gekrochen waren, schon ausgebrannt. Ren war kein Astronom, kein Mathematiker, und der Umgang mit solchen Zahlen war einfach viel zu abstrakt.
Wichtig war das, was jetzt geschah.
Wenn die Menschheit jetzt erfuhr, daß einer der legendären
Mysterious aufgetaucht war - die Konsequenzen waren
unabsehbar.
Ren war in dieser Hinsicht nicht bereit, auch nur das
geringste Risiko einzugehen.
Deshalb hatte er seine Anweisungen erteilt. Verschlüsselt und
über To-Funk, der so extrem stark gebündelt und gerichtet
war, daß die anderen Raumer, obgleich sie in unmittelbarer
Nähe flogen, nichts davon mitbekamen!
Selbst Gisol nicht, wie sich etwas später herausstellte...
Der Commander atmete tief durch.
Was er tun konnte, hatte er getan.
Ein paar Kleinigkeiten gab es noch. Aber das konnte er
wieder von den Funkern erledigen lassen.
Zwei von elf Schiffen waren auf Cent Field gelandet. Neun
Ringraumer blieben im All. Ihre Kommandanten hatten den
Befehl, Funkstille zu halten. Damit wollte Ren Dhark vermei
den, daß Besatzungsmitglieder beim Landurlaub auf Terra
oder beim Funkkontakt mit Angehörigen Gerüchte in Umlauf
brachten. Daß die Mannschaften diese Anordnung nicht
begriffen und wie eine Bestrafung empfanden, ließ sich nicht
vermeiden. Auch der POINT OF war ein
Kommunikationsmaulkorb verpaßt worden. Ihre Besatzung
bekam Landurlaub verordnet und zugleich den Befehl, nichts
über den zurückliegenden Einsatz auszuplaudern. Dhark
wußte, daß er sich auf seine Mannschaft verlassen konnte.
Die Jungs und Mädels waren zusammen mit ihm eine ver
schworene Gemeinschaft und würden inquisitorische
Reporterteams von Terra-Press, Intermedia und anderen
eiskalt auflaufen lassen.
Ren Dhark und Dan Riker verließen die POINT OF mit Flash
002. Auch aus der EPOY löste sich ein Flash mit zwei Insassen an Bord. Beide Kleinstraumer tauchten dabei im Schutz ihrer Intervallfelder zunächst in den Erdboden ein und stiegen erst mehr als ein Dutzend Kilometer vom Rand des Raumhafens entfernt wieder in die Luft auf, um eine direkte Beobachtung
zu vermeiden.
Die beiden Flash hatten ein gemeinsames Ziel.
Es lag in den Rocky Mountains.
Ein Landsitz der Regierung, in den verschneiten Bergen und
nicht unähnlich dem Blockhaus, in dem Ren Dhark auf
Einladung des Industriellen Terence Wallis mit diesem das
Weihnachtsfest verlebt hatte. Auch etwas, woraus mir die
Opposition im Wahlkampf einen Strick drehen kann, dachte
Dhark etwas bitter.
Längst wurde ihm schon zum Vorwurf gemacht, daß er
seinerzeit Wallis' Angebot einer mehrere Jahre umfassenden
Steuervorauszahlung akzeptiert hatte, um die Staatsfinanzen
zu sichern. Von Korruption war die Rede, und die Redner
waren die selben Leute, die ihn noch wenige Tage vorher
angegriffen hatten, weil er mit seinen außenpolitischen
Hasard-Aktionen Terras Finanzen ruinierte. Egal, was er
machte und wie er es machte - es wurde von seinen
politischen Gegnern grundsätzlich negativ ausgelegt.
Das Haus, das der terranischen Regierung gehörte, war
immerhin ein wenig größer und luxuriöser eingerichtet als die
Blockhütte von Terence Wallis.
Vor dem Gebäude parkten die beiden Flash.
Das umliegende Gelände wurde weiträumig von Einheiten
der Rauminfanterie der TF abgeschirmt und gesichert. Da
kam kein Braunbär durch, kein Wapitihirsch, kein Waschbär
und erst recht kein Mensch, ganz gleich, ob er der GSO
angehörte, einem Me-dienkonzem, oder einfach nur so
zufällig hier unterwegs war. General John Martell leitete den
Einsatz persönlich. Er und Dhark kannten sich aus der Zeit
der Invasion, hatten Seite an Seite gegen die Giants
gekämpft, als Martell den inzwischen längst aufgegebenen
Stützpunkt T-XXX tief im Felsmassiv des Mount King in
Alaska leitete, eine der T-Basen, die einst von der
Weltregierung eingerichtet worden waren als Fluchtpunkt im
Kriegsfall.
Aber auch John Martell gegenüber hatte Dhark jetzt keine
Details verraten. Ihm war nur wichtig, daß der General ihm
vertraute und seine Leute keine Fragen stellten.
Ren Dhark sah auf die Schneelandschaft hinaus und wußte,
daß er hier sicher war.
Genauer gesagt, daß Gisol hier sicher war.
Vorläufig.
Drei Menschen und ein Mysterious konnten sich hier
wohlfühlen. Roboter vom »Blechmann«-Typ sorgten für den
Service. Sie nahmen den Menschen Handreichungen ab, sie
sorgten für das Abendessen, und einer schaffte es sogar,
fachgerecht das Kaminholz in Brand zu setzen. Die Flammen
über den knisternden Holzscheiten schufen eine anheimelnde,
freundliche Atmosphäre; das Hauptlicht wurde gedimmt.
Gisol amüsierte sich über die Roboter. »Der völlig
mißglückte Versuch«, kommentierte er erheitert, »einen
Kompromiß zu schließen zwischen Zweckrobotem und
humanoider Gestalt.«
»Was hast du an diesen Robotern auszusetzen, Jim?« fragte
Juanita verwundert.
»An ihrer Zweckmäßigkeit sicher nichts«, sagte Gisol. »Aber
wir Worgun haben bei der Entwicklung von Robotern nie
versucht, ihnen eine besondere Gestalt zu geben, sondern das
Aussehen der jeweiligen Funktion angepaßt. Schau, Juanita.
Menschen versuchen immer, alles nach ihrem eigenen Bild
zu formen, nach ihren Idealvorstellungen. Es muß irgendwie
elegant oder auch lustig aussehen. Aber oft stört die Form die
Funktion. Ein Gleiter, der statt einer strömungsgünstigen
Form aussieht wie... Donald Duck, wird sicher weit mehr
Luftwiderstand haben und daher auch einen höheren
Energieverbrauch.«
»Ich verstehe, was du meinst, Jim«, sagte Juanita. »Trotzdem
fände ich es toll, wenn so ein Gleiter wie Donald Duck
aussähe. Und bei Robotern ist es doch völlig egal.« Sie
wandte sich Dhark zu. »Mister Commander, könnte man
nicht Roboter bauen lassen, die wie Gartenzwerge aussehen
oder wie kleine Äffchen?«
Riker lachte auf. »Um Himmels Willen!« Er kämpfte gegen
die Vorstellung an, von einer ganzen Schar bunter,
langbärtiger Gartenzwerge umwimmelt und bedient zu
werden.
»Sicher könnte man das, Senhorita«, schmunzelte Ren Dhark. »Aber wie du gerade an der Reaktion meines Freundes siehst, teilen nicht alle Menschen deine Vorlieben.« »War ja nur mal 'ne Frage«, maulte Juanita. »Und es käme auch darauf an, ob es sich lohnt, solche Roboter zu bauen«, fuhr Dhark fort. »Sicher gibt es viele Menschen, die Gartenzwergroboter kaufen würden. Aber diese Roboter wären vermutlich sehr teuer, weil es eine Menge Geld kostet, ihre Form zu entwickeln und ihr Aussehen. Sowas lohnt sich erst ab bestimmten Stückzahlen, bei denen der Verkaufserlös die Entwicklungskosten übersteigt. Gibt es nur wenige Kunden, muß der Ver kaufspreis sehr hoch sein, was die Kunden wiederum abschreckt.« »Das verstehe ich«, sagte Juanita. »Aber Jim würde sicher so einen Roboter kaufen. Oder sogar zwei.« Gisol verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte de monstrativ den Kopf. »Nein?« entfuhr es Juanita. »Aber warum nicht?« »Um dich zu ärgern«, grinste er. »Du bist doof!« fauchte sie ihn an. Dhark lächelte stumm. Zwischen den beiden stimmte die Chemie offenbar wieder. Juanita schien es verkraftet zu haben, daß Jim Smith ein »Ungeheuer« war. Dan Riker kramte eine Zigarettenpackung aus seiner Jackentasche hervor, fischte zwei der Stäbchen heraus und warf eines seinem Freund zu. Dann hielt er die Packung Gisol entgegen. Der schüttelte stumm den Kopf. Dhark und Riker nahmen die Zigaretten zwischen die Lippen, drehten sie leicht und setzten sie mit dem dadurch ausgelösten Py-romechanismus in Brand. Riker sah den Gestaltwandler nachdenklich an. »Sie bezeichneten sich eben als Worgun, wenn ich Sie richtig verstanden habe, Gisol«, sagte er. »Das ist die Bezeichnung für mein Volk. Worgun bedeutet in Ihrer Sprache...« »Die Lebenden«, ergänzte Dhark. Gisol nickte und zeigte nicht, ob ihn die Unterbrechung über
raschte. Die nächste Unterbrechung kam von Juanita. »Als wir die Weihnachtslieder sangen«, sagte sie, »da fragte ich dich, was das für eine Sprache ist, in der deine Lieder waren. Du sagtest >Worgun<. Warum hast du mir nicht da schon gesagt, daß du kein Mensch bist?« »Ich wollte dich nicht erschrecken. Es war ein so wunderschöner Abend...« »Du hättest mich nicht erschreckt«, sagte sie. »Du kannst mich nie erschrecken, Jim.« Er wußte, daß es anders war, aber er nickte nur. »Künftig werde ich daran denken«, versprach er. »Erzählen Sie uns von Ihrem Volk«, bat Ren Dhark. »Und warum es vor tausend Jahren seine Heimat verlassen hat und dabei alles mitnahm, was Rückschlüsse zugelassen hätte...« »Wir haben vor tausend Jahren unsere Heimat nicht verlassen«, sagte Gisol. »Wir sind damals in unsere Heimat zurückgekehrt. In die Galaxis Om...« Juanita lauschte mit großen Augen und gespitzten Ohren. Ihr großer Freund Jim erzählte endlich von sich selbst... Mochte er wie ein Ungeheuer aussehen in seiner wahren Gestalt, so war er es doch in Wirklichkeit nicht. Er hatte ihr soviel beigebracht, soviel für sie getan, hatte sie Abenteuer erleben lassen, von denen sie zuvor nicht einmal träumen konnte. Und die Sterne am Himmel, er hatte sie nicht für sie heruntergeholt, aber er hatte sie zu ihnen gebracht. Sterne, zum Greifen nah. Wer ihres Alters war schon jemals so weit in Weltraumtiefen vorgestoßen, hatte auf anderen Planeten gelebt? Jim hatte ihr etwas Einzigartiges geschenkt. Er konnte all das, was Juanitas Vater vielleicht gewollt hatte, aber niemals schaffen konnte. Jim war wie ein Ersatzvater für Juanita. Und er hatte sogar dem Commander der Planeten geholfen, die Galaxis zu retten. Ren Dhark, der doch sonst auch alles konnte, hatte offen eingestanden, daß es ihm ohne Jims Hilfe nicht gelungen wäre! Nein, Jim konnte kein Ungeheuer sein. Ungeheuer waren böse. Jim aber war gut. Und jetzt erzählte er. Doch noch nicht direkt von sich selbst, aber von seinem
Volk, von seiner Herkunft. Und es war schier unglaublich,
was er zu erzählen hatte. Doch Juanita glaubte ihm.
Sie konnte ihm wieder glauben.
Er war einer der legendären Mysterious. Ein
Geheimnisvoller. Auf wen konnte diese Bezeichnung besser
zutreffen als auf Jim Smith?
46
3. »Wir, die Worgun, waren einst die beherrschende Spezies in der Galaxis Orn«, begann Gisol. »Wir blicken auf eine kontinuierliche Geschichte von rund anderthalb Millionen Jahren eurer Rechnung zurück. Seit etwa einer Million Jahre bereisen wir den Weltraum.« »Angeber«, grinste Dan Riker trocken. »Typisch Mysterious. Mit Kleinigkeiten habt ihr euch ja noch nie abgegeben...« »Wie meinen Sie das, Major Riker?« fragte Gisol und zeigte sich wieder einmal bestens informiert, weil er den schwarzhaarigen, untersetzten Mann mit seinem offiziellen Dienstrang anredete. Dabei war Riker Chef der Terranischen Flotte, nur hatte er immer vergessen, sich selbst entsprechend in die zugehörige Besoldungsgruppe zu befördern. Jetzt schmunzelte Dhark. Riker zeigte keine Sekunde lang Verblüffung darüber, daß Gisol ihn mit seinem Dienstrang ansprach, der in der Öffentlichkeit kaum jemandem bekannt war, und damit unter Beweis stellte, wie umfangreich der Wissenspool war, den der Mysterious während seiner Aufenthalte auf Babylon, Terra und Hope an sich gebracht hatte. Er beugte sich leicht vor. »Wie ich das meine, Gisol? Der Größenwahn Ihres Volkes zeigt sich doch überall in der Galaxis. Die Stemenbrücke, das Sternbild der Sterne, die Transitionsinseln auf dem Weg zur anderen Seite der Galaxis in Richtung Drakhon, wo Ihre Leute ganze Raumsektoren von fünfzig bis hundert Lichtjahren Durchmesser sternenfrei geräumt haben... der Abwehrring der stellaren Forts, die gigantischen Produktionsanlagen auf Dockyard... Erron-1 mit seiner Gigant-Hyperfunkstation, mit der wir sogar Sendungen aus Andro-meda hereinholen konnten, weil die Sende- und Empfangsleistung durch die stellare Wasserstoffwolke
verstärkt wurde, in der Erron-1 sich verbarg, die Hyperfunkverbindung von Salteria aus zum Industriedom von Hope, wo Olans Gesicht und Olans Stimme damals zu sehen und zu hören waren, und so weiter...« Gisol lachte! 47 Der Mysterious schüttelte immer noch lachend den Kopf, als er sagte: »Riker, wenn Sie das alles für großartig, oder meinetwegen auch größenwahnsinnig, halten - dann kennen Sie immer noch nur einen winzigen Bruchteil dessen, was meine Vorfahren einst schufen, und nicht nur in dieser Galaxis, sondern überall, wo wir unsere Spuren hinterließen. Was Sie mir gerade aufzählten... Kleinigkeiten sind es.« »Kleinigkeiten!« Riker seufzte und sah Dhark an. »Hebt dieser Zellklumpen jetzt endgültig ab?« Da sprang Juanita empört auf. »Mister Riker, Sie beleidigen Jim! Er ist kein Zellklumpen, und er ist auch nicht größenwahnsinnig!« »Bleib ganz ruhig, Juanita«, bat Gisol. »Er hat mich nicht beleidigt. Aus seiner Sicht hat er ja recht. Jemand, der auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe steht, kann nicht erfassen, wie einfach und wie natürlich es ist, Dinge zu erschaffen, die das Vorstellungsvermögen des Betreffenden übertreffen.« »Niedrigere Entwicklungsstufe?« knurrte Riker. »Wir sind keine Halbaffen, wenn Sie das meinen.« »Das habe ich auch nicht gesagt. Ich wollte mich nicht über Sie erheben. So wie ihr Terraner haben wir Worgun auch einst angefangen, nur konnten wir dabei nicht auf die Hinterlassenschaften eines technisch höherstehenden Volkes zurückgreifen. Was wir entwickelten, schufen wir aus eigener Kraft. Ihnen ist vieles in den Schoß gefallen, weil Sie das Glück hatten, mit Ihrem Kolonisten-raumer ausgerechnet auf einem unserer Planeten zu landen, auf Kaso... »Hope«, kommentierte Dhark. »In unserer Sprache klingt das positiver. Hoffnung... und all unsere Hoffnungen wurden erfüllt, als wir Ihre Technik fanden und auswerten konnten.« »Was wir alles dieser Ratte Rocco zu verdanken haben«, murrte Riker. »Ausgerechnet diesem Lumpen, der sich zum
Stadtpräsidenten machte und uns als gefährliche
Kontrahenten auf den anderen Kontinent deportieren ließ.
Ohne diese Aktion wären wir
wahrscheinlich nie auf das Höhlensystem gestoßen, säßen
immer noch vom Rest der Galaxis abgeschnitten auf Hope,
würden Däumchen drehen, die Erde wäre noch von den
Giants unterjocht, und das Schwarze Loch und Drakhon
würden uns in ein paar Monaten ein furioses Ende
bereiten...«
Dhark schmunzelte. »So hat jede Münze zwei Seiten. Aber
bleiben wir beim Thema. Mittlerweile sind die meisten
technischen Errungenschaften Ihres Volkes unbrauchbar
geworden, Gisol, unabhängig davon, ob wir sie als
größenwahnsinnig betrachten oder nicht. Hoffentlich nicht
auch in Orn... wer weiß, wie weit diese Schockwelle reicht,
die bei der letzten Drakhon-Transition alles lahmlegte.
Immerhin hat sie sogar die Nogk erreicht, weit draußen im
Exspect.«
Gisol verschränkte die Arme vor der Brust. »Sie erwarten
von mir, daß ich die galaktische Position meiner Heimat
preisgebe?«
»Ja.«
»Warum sollte ich es nicht tun? Über kurz oder lang würden
Sie es ohnehin herausfinden. Außerdem sagte ich schon, daß
ich hierher kam, weil ich Hilfe suche. Also... Commander,
verfügen Sie hier über Datenbank-Zugriff?«
»Sicher...«
»Dann zeige ich Ihnen, wo sich Om befindet...«
Der Regierungslandsitz verfügte nicht nur über etliche
Räumlichkeiten, in denen Staatsgäste einquartiert werden
konnten, sondern neben mehreren Büros auch über ein
Kommunikations- und Datenzentrum. Die Büros waren
derzeit verwaist; Dhark wollte verhindern, daß unbeabsichtigt
Informationen über Gisol nach außen drangen.
Wenn sie hier wieder verschwanden und jemand vom
Personal seine freien Tage nahm, mochte dem Betreffenden
ohne jeden bösen Willen, ohne einen Versuch der Angeberei
oder wie auch immer im privaten Gespräch eine Bemerkung
herausrutschen, eine Andeutung nur... und irgend jemand
anderer würde seine Schlüsse ziehen... Also war das Personal noch vor Ankunft der Gäste heimge schickt worden. Bezahlter Sonderurlaub. Noch ließ sich alles weitgehend unter Verschluß halten. Wenn Bernd Eylers nicht aus der »Allianz« ausbrach und niemand von der POINT OF-Mannschaft mit jemandem plauderte, würde es zwar eine Menge Spekulationen über die EPOY geben. Aber alles würde sich höchstens darum drehen, daß der Datendieb und Abenteurer gefaßt worden war, der vermutlich irgendwo im Sternendschungel einen Ringraumer gefunden und für sich behalten hatte statt ihn der Regierung zur Verfügung zu stellen. Niemand würde von einem Mysterious reden. Auch in der POINT OF wußte ja so gut wie niemand davon. Und die Raumsoldaten, die den Landsitz weiträumig absperrten, erst recht nicht. Dhark suchte den Kommunikations- und Datenraum auf. Es gab zwei von Schaltern, Reglern und Anzeigen übersäte Konsolen, und es gab eine holographische Bildwiedergabe, die Ren Dhark als erstes einschaltete. Ein Projektionswürfel von etwa zwei Metern Durchmesser entstand von einem Moment zum anderen mitten im Raum, ähnlich den Bildkugeln in der POINT OF und in der EPOY. Allerdings gab es Unterschiede. Während die Bildkugeln mit ihrem Durchmesser von etwa 2,60 Metern absolut frei in der Luft schwebten, ohne daß erkennbar war, auf welche Weise sie proji-ziert wurden, waren hier die Laserprojektoren deutlich zu sehen, von denen der Holowürfel erzeugt wurde, der im Moment nur ein neblig-transparentes Grau zeigte. Ein weiterer Unterschied bestand darin, daß die Wiedergabe der Bildkugeln über die Gedankensteuerung geregelt werden konnte. Soweit indessen waren die Terraner noch lange nicht... Juanita, die den anderen gefolgt war, sah sich um und rümpfte die Nase. »Billiger Abklatsch«, fand sie. »In Jims Raumschiff sieht das viel schöner aus.« »Jims Raumschiff ist in seiner Entwicklung ja auch etwa eine Million Jahre weiter als wir, kleine Lady«, spöttelte Dan Riker. »Da muß man über solche kleinen Unzulänglichkeiten
schon mal großzügig hinweg sehen.« »Pah«, machte sie leise. Dhark hatte in einem der Kontursessel Platz genommen und begann zu schalten. Er zögerte sekundenlang, überlegte. Hier kannte er sich nicht so gut aus. An sich hätte es ja gereicht, den normalen »Stemenatlas« zu laden. Aber er wollte Gisol überraschen. Also nahm er Funkverbindung mit der POINT OF auf. Dort hatte Walt Brugg Dienst. »Brugg, können Sie mich auf den Checkmaster umschalten? Verschlüsselt, gerafft, zerhackt.« »Was zur Würgleber der Panzerhomschrexe hast du vor, Ren?« flüsterte Riker, der neben seinen Sitz getreten war. »Verbindung kommt, Dhark!« Dann war Brugg aus der Leitung. Der Mann, der von Anfang an zur Stammbesatzung des Ringraumers gehörte und schon den ersten Testflug mitgemacht hatte, stellte keine Fragen. Auf dem Display vor Ren Dhark entstand die Wiedergabe einer Eingabetastatur. Verdammt, wie funktioniert das hier, fragte sich der Commander, der mit der Technik der Mysterious mittlerweile wesentlich vertrauter war als mit der der Terraner. Zudem waren hier auch noch Komponenten aus Giant- und Amphitechnologie mit eingeflossen. Aber dann wurde ihm wieder klar, wie er zu schalten hatte. Er synchronisierte die virtuelle Tastatur des Displays mit der vor seinem Sitz. Was er jetzt eingab, wurde per Funk zum Checkmaster der POINT OF übertragen. Die komplizierte Verschlüsselung verhinderte, daß jemand anderer sich einklinken konnte. Das Datenzentrum im Landhaus und der Checkmaster waren jetzt miteinander vemetzt. Er konnte seine Eingaben tätigen, als befände er sich in der Zentrale der POINT OF, und der Checkmaster sandte ihm die abgerufenen Daten zu. Der Holowürfel war nicht mehr nebelgrau! Er zeigte Weltraumschwärze, und in dieser das funkelnde Sternenmeer mit seinen Myriaden von Lichtpunkten, mit seinen farbigen Materie- und Gaswolken... und er zeigte eingeblendete Schriftsymbole der Mysterious! Unwillkürlich hielt Dan Riker den Atem an.
Sternkarten der Mysterious wurden hier dreidimensional wie dergegeben! Riker kannte sie. Sie stammten vom Planeten Mirac, auf dem sie erstmals auf die Statue eines Goldenen Menschen gestoßen waren! Dort hatte es auch einen von Unbekannten zusammengeschossenen Ringraumer gegeben, und in der unter zwölf Metern Sand begrabenen Austemdachstadt unbekannter, vermutlich ausgestorbener Planetarier einen Flash. Sie hatten ihn geborgen und in ihm Sternkarten gefunden, die unbekannte Bereiche der Galaxis zeigten... dieser Galaxis? Einige der dargestellten Bereiche hatte man inzwischen identifiziert, andere nicht. Die eingeblendeten Schriftsymbole brachten die Astronomen auch nicht weiter. Dhark hatte für sie einiges davon übersetzt, aber später stellte sich heraus, daß bei bestimmter Betrachtungsweise diese Folienkarten, dreidimensional wiedergegeben, mittels spezieller Querverweise noch einmal ganz neue, andere Sektionen zeigten. Gisol zeigte nicht, ob er beeindruckt war. »Woher stammen diese Karten, Dhark?« wollte er wissen. »Wir fanden sie. Nicht auf Kaso... sondern an einem Ort, wo jemand Ihrem Volk eine Niederlage beibrachte.« »Es gibt viele solche Orte im Universum«, sagte Gisol kühl. »Lassen Sie mich diese Karten durchsehen.« Er wollte Dhark von dessen Platz drängen. Aber der Commander blieb sitzen. Er dachte nicht daran, Gisol Zugriff auf die Schaltkonsole und damit eventuell auf den Checkmaster zu gewähren. »Sagen Sie mir, wie ich vorgehen muß, um den gesamten Bestand so zu sichten, wie Sie es wünschen.« Gisol gab ihm Anweisungen. Dabei benutzte er seine Sprache, die der Mysterious, der Wor-gun. War es ein Anzeichen, daß er über Dharks Verhalten verärgert war? Daß er die Schaltwege vor Riker und Juanita geheimhalten wollte, konnte es nicht sein. Alles ließ sich später nachvollziehen, solange die Protokolldatei
nicht gelöscht wurde. Und selbst dann würde es noch Aufzeichnungen im Checkmaster geben, der über die Zweiwegeverbindung mitbekam, welche Schalter und Regler hier betätigt wurden. Eine perfekte Abstimmung von terranischer und M-Technik! Gisol sprach schnell. Provozierend schnell. Aber Dhark konnte er damit nicht irritieren. Der Commander hatte diese Sprache zu gut gelernt und bekam alles mit, erfaßte sogar den Sinn bestimmter Betonungen. Gisol war tatsächlich verärgert! Er wollte mit seinem Sprechtempo den Terraner zu Rückfragen zwingen, nur tat Dhark ihm diesen Gefallen nicht, weil er die My-sterioussprache ebenso perfekt beherrschte wie das Angloter, das auf Terra zur einheitlichen Amtssprache geworden war, ohne regionale Idiome zu verdrängen. Die traten allerdings immer weiter in den Hintergrund und gehörten mittlerweile größtenteils schon zur Folklore. Dhark schaltete. Dann plötzlich kapitulierte Gisol! »Diese Sternkarten zeigen Om nicht«, behauptete er. »Wer sie angelegt hat, hatte andere Interessenschwerpunkte.« Dabei hatte er nicht verraten, welche Schwerpunkte hier vertreten waren und welche stellaren Bereiche dargestellt wurden. »War ein Versuch«, stellte Dhark klar und schaltete um. Die 53 Verbindung zum Checkmaster der POINT OF wurde unterbrochen. Mit schnellem Fingerdruck auf eine Kombination von Sensortasten löschte der Commander die Protokolldatei und nahm dann Zugriff auf die normale astronomische Datenbank. Wieder zeigte der Holowürfel Sternbilder. Diesmal räumte Dhark den Platz an der Konsole. »Bitte, Gisol...« Der schüttelte den Kopf und seufzte wie ein Mensch. »Warum nicht gleich so?« brummte er und ließ sich im freigewordenen Sitz nieder. Er brauchte sich nicht zu orientieren. Er kam mit der terrani schen Technik klar. Plötzlich zeigte die Holographie die Milchstraße in der
Draufsicht. Als Doppelgalaxis! Die Datenbank befand sich auf dem zweitneusten Stand; die Daten Dutzender von Forschungsraumem, die Terra zur anderen Seite der Milchstraße geschickt hatte, um Drakhon optisch zu vermessen, waren hier bereits eingeflossen. Aber noch war man nicht wieder soweit, Drakhon aus der aktuellen Darstellung zu löschen. Dafür hatte es logischerweise noch keine Zeit gegeben. Und es würde noch Wochen und Monate dauern, bis die ersten korrekten Daten kamen. Immerhin hatte Drakhon zur Zeit der letzten Dateneingaben längst damit begonnen, in die Milchstraße einzudringen. Dort fehlten jetzt in den Spiralarmen der galaktischen Ostseite jede Menge Sterne und Planeten, die de facto zur anderen Galaxis gehörten und nun Lücken hinterlassen hatten. So zeigte die Wiedergabe immer noch Drakhon als zweite Spiralgalaxis, die in einem Winkel von rund 80 Grad in die eigene Milchstraße vorstieß. Dhark entsann sich, was der Tel Dro Cimc damals erzählt hatte, als sie dem Ruf des Signalstems folgten und die einst von den Mysterious geschaffenen Transitionsinseln benutzen, um plötzlich den anderen Rand der Milchstraße zu erreichen. Cimc hatte von einer uralten Legende seines Volkes gesprochen. Niemand, berichtete er, wagte, über den Rand der Milchstraße hinauszufliegen, 54 weil dahinter der mörderische Riese Drakhon seine gierigen Fänge ausstreckte... jener mythische Riese war nichts anderes als die Zweite Galaxis, die sich schubweise manifestiert hatte, als der raumfahrerische Höhenflug der Tel begann. Im Laufe von mehr als drei Jahrhunderten verloren sich selbst bei einem hochtechnisierten Volk viele Fakten im Treibsand der Mythologie. Gisol schaltete weiter und verkleinerte die Wiedergabe. Andere Galaxien erschienen rings um die Milchstraße Andromeda mit ihren Satelliten, die Magellanschen Wolken... und dann: »Om«, sagte der Mysterious. »Das hier war meine Heimat.«
»Sculptor«, sagte Dan Riker leise und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Der Sculptor-Haufen, nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen System... etwa zehn Millionen Lichtjahre entfernt. Zehn Millionen... das ist eine unglaubliche Entfernung.« Ren Dhark nickte stumm. Fast andächtig betrachtete er die Wiedergabe im Holo-Würfel. Die Galaxis im SculptorHaufen, die Gisol Om nannte, war etwas größer als die Milchstraße. Die Datenbank blendete entsprechende Erläuterungen in die Wiedergabe ein. »Gisol, ich glaube Ihnen nicht mehr«, sagte Riker. »Zehn Millionen Lichtjahre sind auch für den Größenwahn Ihres Volkes zu viel. Das können Sie einfach nicht schaffen.« »Und warum nicht?« fragte Gisol. »Weil Sie die nötigen Energiemengen überhaupt nicht zusammenbekommen!« platzte es aus Riker heraus. »Und wenn Sie Ihr ganzes Schiff mit Tofirit vollpacken und noch ein paar Kisten außen drannageln, schaffen Sie das nicht. Das Exspect ist ein Energiefresser bösester Art! Vielleicht kommen Sie bis Andromeda oder ein kleines Stückchen weiter, falls es im Raum dazwischen noch Sonnensysteme wie Corr gibt, die ihr eigenes Spannungsfeld aufbauen und das Exspect entsprechend neutralisieren! Aber auch die Raumsprünge dorthin benötigen ungeheure Energiemengen! 55 Und ich kann mir kaum vorstellen, daß es viele solcher Stemenin-seln wie das Corr-System gibt. Die statistische Wahrscheinlichkeit spricht dagegen. Ein Ringraumer schafft das niemals.« »Ich verfüge über zehn Ringraumer«, eröffnete Gisol. »Stimmt!« bekräftigte Juanita sofort. »Ich habe sie gesehen. Sie sind in einer Höhle geparkt und...« »Ach ja. In einer Höhle. Wie überaus interessant«, unterbrach Riker sie spöttisch. »Scheint so, als würde alles, was die Myste-rious betrifft, in einer Höhle beginnen.« Juanita stampfte mit dem Fuß auf. »Es ist unhöflich, jemanden zu unterbrechen! Auch wenn ich nur ein Kind bin! Aber ich habe diese Raumschiffe wirklich gesehen, und auch
die EUROPA! Jims Roboter sägen sie kaputt.« »Na klasse.« Riker sah Gisol finster an. »Über den Besitzan spruch, was die S-Kreuzer angeht, können wir vielleicht streiten, mein Bester, falls Sie wirklich der sind, der Sie zu sein vorgeben. Aber die EUROPA ist Eigentum Terras, Eigentum der TF. Somit machen Sie sich strafbar. Diebstahl, Sachbeschädigung... nein, mehr noch: Wandalismus. Glauben Sie ernsthaft, daß Sie in den nächsten zehn Jahren wieder aus dem Gefängnis 'rauskommen? Ganz abgesehen von Aktionen wie Datendiebstahl, Widerstand gegen Sicherheitsbeamte Terras...« »Ich lasse nicht zu, daß sie dich ins Gefängnis stecken, Jim!« stieß Juanita hervor. Sie fuhr herum, sah Ren Dhark an und deutete mit ausgestrecktem Arm auf Dan Riker. »Ich dachte immer. Sie wären ein großer, gerechter Mann, Commander Ren Dhark!« sagte sie energisch. »Dann sorgen Sie dafür, daß der da seine Drohungen nicht wahrmacht! Oder haben Sie alle schon vergessen, was Jim für Sie getan hat?« »Keiner von uns hat das vergessen«, sagte Ren leise. »Denn dann säßen wir ganz bestimmt nicht zu viert hier. Trotzdem fällt es auch mir schwer, Gisol zu glauben. Zehn Millionen Lichtjahre -kannst du dir vorstellen, was das für eine Entfernung ist, Juanita? Unsere Milchstraße hat einen Durchmesser von etwa hunderttau 56 send Lichtjahren. Eine Million ist das Zehnfache. Zehn Millionen das Hundertfache...« »Soweit kann ich schon rechnen, Commander der Planeten!« fauchte die Zehnjährige. »Bin ja nicht dumm!« Gisol schien sich zu amüsieren. »Glauben Sie wenigstens ihr, wenn Sie es bei mir schon nicht wollen«, sagte er. »Anhand der Lemprogramme, die ich ihr zur Verfügung gestellt habe, hat sie ihre Altersgenossen längst weit überflügelt. Sie dürfte auf dem kognitiven Status eines anderthalb mal so alten Wesens sein, vielleicht noch etwas höher. Und sie verfügt über einen recht hohen Intelligenzquotienten.« »Das ändert aber nichts an Fakten...«
Der Mysterious winkte ab. »Sie sehen die Fakten aus Ihrer Perspektive. Sie sehen ein Dreieck, das blau leuchtet. Ich sehe ein Dreieck, das rot funkelt. Wir stehen beide im Winkel von 120 Grad von dem Dreieck entfernt. Es ist ein Prisma, und die Seite, die Sie sehen, strahlt eine andere Lichtfarbe ab als meine Seite. Das einfallende Licht, das vom Prisma zerlegt wird, ist aber dasselbe. So ist es auch mit Fakten. Sie sind das Licht, das vom Prisma der Wahrnehmung aufgespalten wird. Jeder von uns sieht einen Aspekt der Wahrheit, aber nicht das Ganze.« »Jetzt werden Sie nicht auch noch zum Philosophen!« »Ich werde nicht, ich bin vielleicht längst einer, Mister Riker«, gab Gisol zurück. »Ich werde Ihnen erklären, wie mein Aspekt der Wahrheit aussieht, und ich werde Ihnen zeigen, wie das unzerlegte Licht der Wahrheit leuchtet. Aber Sie haben nichts davon, wenn ich Ihnen die Vorgeschichte nicht darlege. Darf ich Sie deshalb noch um etwas Geduld bitten?« Riker wies auf seinen Freund. »Er ist der Gastgeber und be stimmt, wieviel Zeit wir aufwenden können.« »Für eine gute Geschichte reicht es allemal«, sagte Ren Dhark und zwinkerte Juanita dabei zu. Aber sie runzelte daraufhin nur die Stirn und sah ihn fast böse an. »Und es scheint auch eine traurige Geschichte zu sein«, fuhr 57 Ren fort. »Falls es niemandem von euch aufgefallen ist: Gisol benutzte vorhin eine seltsame Formulierung. Er sagte: Das hier war meine Heimat. Nicht etwa: Das hier ist meine Heimat. Gisol, was ist in Orn geschehen? Warum haben Sie den langen Weg auf sich genommen, um hier Hilfe zu suchen?« »Gehen wir zurück in das große Zimmer«, schlug der Gestaltwandler vor. »Es ist schön, in die Flammen des Kaminfeuers zu schauen, während man erzählt...« 4. »Viele Jahre lang war Om das absolute Herrschaftsgebiet der Worgun«, erzählte Gisol. »Vor etwa fünfhundert Jahrtausenden Ihrer Zeitrechnung, Commander, unternahmen
meine Vorfahren ein großes biologisches Experiment. Sie drangen in den uns benachbarten Sternhaufen vor, den Sie >lokale Gruppe< nennen. In den vier großen Galaxien dieser Gruppe wurden jeweils unterschiedliche biologische Manipulationen durchgeführt, um die langfristige Entwicklung bestimmter Spezies zu studieren.« »Manipulationen?« hakte Dhark nach. Er legte den Kopf leicht schrägt. »Was soll das bedeuten?« »Der typische Größenwahnsinn der Mysterious«, sagte Riker schroff. »Denk an die Giants, Ren. Die sind doch auch der Hexenküche dieser...« Er hielt ein. Er hatte »Ungeheuer« sagen wollen, aber gerade noch rechtzeitig erinnerte er sich daran, daß auch Juanita in ihrer Runde saß, und sie würde auf diese Bezeichnung wohl recht allergisch reagieren. »Die Giants«, sagte Gisol leise. »Sie meinen die Biostrukte? Von denen weiß ich nur wenig.« »Biostrukte«, echote Ren Dhark nachdenklich. »Eine treffende Bezeichnung, scheint mir. Sie selbst nannten sich die >All-Hüter< und nahmen ihrerseits Experimente vor, als sie versuchten, aus Terranem >Robonen< zu machen und sie so zu manipulieren, daß sie möglicherweise die Strahlenstürme durch Anpassung überleben könnten...« Gisol sah ihn fassungslos an. In seiner menschlichen Gestalt übernahm er auch menschliche Mimik. »Dhark, die Biostrukte haben experimentiert? Das geht aus den Daten, die mir zugänglich wurden, nicht hervor! Ren Dhark lächelte. »Kein Wunder... diese Daten sind so gesichert, daß niemand Zugriff hat, der nicht von mir oder von Manu Tschobe und Echri Ezbal ausdrücklich dazu autorisiert wird. Diese 59 Sicherungen können Sie auch mit M-Technologie nicht überwinden, Gisol. Bei allem Respekt vor der Supermathematik Ihres Volkes, mit deren Hilfe Sie die entsprechenden Trojaner programmiert haben, als Sie das Terranet unter Kontrolle nahmen... aber wir haben da auch unsere Experten, die entsprechende Sicherungen
programmieren konnten.« Dan Riker grinste von einem Ohr zum anderen. »Unsere Experten« waren niemand anders als eine ganz be stimmte Person namens Anja, mit der er nicht ganz zufällig verheiratet war. Wenn sich jemand mit M-Mathematik bestens auskannte, dann war sie es. Mit Feuereifer hatte sie sich seinerzeit darauf gestürzt, durch die Mentcaps Wissen angesammelt und dieses Wissen durch Anwendung gesichert und ausgebaut. Sie lehrte an Terras Hochschulen MMathematik und gab ihr schon unglaublich umfangreiches Wissen weiter, wenn sie nicht zwischendurch mal wieder mit ihrem Mann und den alten Freunden in der POINT OF durch den Weltraum strolchte. Einst unter Commander Sam Dhark Chefmathematikerin des Kolonistenraumers GALAXIS, jetzt unter Commander Ren Dhark Chefmathematikerin der POINT OF, wenn sie an Bord war... Gisol zuckte mit den Schultern. »Akzeptiert, nur fällt es mir schwer, Ihre Bezeichnung >M< zu verinnerlichen, die Sie der Technik und der Wissenschaft meines Volkes immer voranstellen. >M< wie >Mysterious<, das klingt so fremd... ich bin ein Worgun, und ich würde es vorziehen, wenn Sie in Gesprächen diese Bezeichnung verwendeten. Oder was würden Sie davon halten, wenn man über Ihre technischen Errungenschaften als >B-Technik< spräche - als >Barbaren-Technolo-gie« Dhark und Riker sahen sich an. »Irgendwie hat er recht, unser Worgun-Mysterious, nicht?« sagte Riker. »Bezeichnen wir's also als >W-Technik< und >W-Mathematik<, wobei ich gestehen muß, daß das nun wiederum nach all den Jahren der Gewöhnung für mich sehr fremd klingt. 60 Andererseits ist das W ja auch nur ein auf den Kopf gestelltes M, und so, wie Mister Gisol hier alles auf den Kopf stellt, paßt es sogar...« »Jim stellt nichts auf den Kopf!« glaubte Juanita ihren großen Freund sofort wieder verteidigen zu müssen.
Der schien immer noch nicht glauben zu wollen, was er eben gehört hatte. »Die Biostrukte haben also wirklich mit Biomaterial experimentiert? Verzeihung... mit Menschen?« »Ja«, bestätigte Dhark. »Aber diese Experimente verliefen... nicht zufriedenstellend.« Er mußte an die telepathisch begabten Robonenkinder denken. Tyler und... wie hatten die anderen noch geheißen? Fast entsetzt stellte er fest, sich an die Namen nicht mehr erinnern zu können. »Die Giants«, warf Riker ein, »die Biostrukte, wie Sie sie nennen, nannten sich selbst >die All-Hüter< und uns >die Verdammten^ Nach dem Grund dafür befragt, äußerte auf dem Planeten Mounts der Giant Itaktl seinerzeit gegenüber einem Besatzungsmitglied der POINT OF: Weil ihr verdammt seid z.u sterben.« Gisol nickte. »Dieses Biostrukt hatte damit nicht ganz unrecht. Aber nicht nur Ihr Volk gehörte zu denen, die verdammt waren zu sterben. Da muß wohl einiges falschgelaufen sein. Nun, vielleicht werde ich Näheres darüber erfahren. Daß die Biostrukte allerdings solche Eigeninitiative entwickelten, war und ist absolut unerwünscht.« »Nett, daß auch Ihren Leuten mal was aus dem Ruder läuft«, bemerkte Riker trocken. »Sie sprachen von Manipulationen«, erinnerte Ren Dhark den Worgun. »Von einem großen biologischen Experiment.« Gisol griff den Faden wieder auf. Es schien, als sei er geradezu dankbar dafür, daß der Commander ihn wieder zum Thema zurückbrachte. »Es waren vier Galaxien Ihrer sogenannten Lokalen Gruppe, die wir auswählten«, sagte er. »Ihre Milchstraße, M 31, M 33 und Maffei l. In jeder dieser Galaxien lief ein spezielles Programm ab.« »Unsere Galaxis, Andromeda, Triangulum und Maffei l«, murmelte Dhark. »Eine interessante Konstellation.« Er entsann sich, daß die beiden Maffei-Galaxien erst Mitte der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts von irdischen Astronomen entdeckt worden waren; deshalb hatten die nach ihrem Entdecker benannten Maffei l und Maffei 2 logischerweise keine »M«-Bezeichnung im Messier
Stemkatalog, der bereits im Jahr 1771 von dem Astronomen Charles Messier angelegt worden war und heute noch An wendung fand. Ob und welche NGC-Kennzeichnung ihnen im erst im vergangenen Jahrhundert erstellten New General Catalogue zugedacht war, konnte Ren im Moment nicht sagen. Wer hatte schon alle Nebensächlichkeiten ständig im Kopf? »Was waren das für Programme?« fragte Riker. »In Ihrer Galaxis, der Milchstraße, um mal bei dieser Bezeichnung zu bleiben, die mir außerordentlich gefällt«, erläuterte Gisol, »wurden humanoide Lebensformen so manipuliert, daß sie zu Intelligenzen heranwuchsen. Es war äußerst interessant, ihre Entwicklung und ihren Werdegang zu studieren. Menschen, Tel, Utaren und viele andere wurden durch uns gewissermaßen erzeugt. Zumindest aber wurde ihre Entwicklung angeschoben und gefördert durch unsere Bioprogramme.« »So, wie die Giants es mit den Robonen versuchten«, murmelte Dhark bestürzt. Er sah an Gisol vorbei. »Es gibt bei uns viele Legenden, in all unseren unterschiedlichen Kulturen. Legenden, die von Göttern reden, die uns schufen und zeitweise unter uns wandelten. Es gab sogar Menschen, die Beweise dafür suchten, daß unsere Götter von den Sternen kamen. Sie, Gisol - Ihr Volk - Sie waren unsere Götter?« »Ja«, sagte der Worgun einfach. Für einige Minuten herrschte Stille. Selbst der frechforschen Juanita und Dan Riker, der sich zum sarkastischen Kritiker entwickelt hatte, fiel dazu nichts ein. »Die Menschen, die Beweise suchten, hatten recht«, sagte Gisol 62 nach einer Weile. »Wurden sie fündig?« »Ihrer Ansicht nach ja«, erwiderte Ren Dhark. »Aber sie wurden von vielen Skeptikern verlacht. Erich von Däniken und andere vor ihm... die etablierten Wissenschaftler mit ihrem Brett vorm Kopf haben sie verlacht, weil ja nicht sein kann, was nicht sein darf. So sehr mich Ihre Eröffnung
bestürzt, Gisol, so sehr freut es mich auch, daß jene Leute damals doch recht hatten!« »Götter«, murmelte Riker. »Die Mysterious sind unsere Götter? Unsere Schöpfer? Unfaßbar. - Waren Ihre Leute tatsächlich immer wieder auf unserem Planeten? Irgendwie kann ich das nicht so recht glauben, denn sie sind doch vor etwa 1000 Jahren aus der Milchstraße verschwunden, und viele angebliche Erscheinungen...« »Sind UFO-Hysterie und nachweisbar hirnrissig«, unterbrach Ren seinen Freund. »Die hat nicht mal Däniken so richtig akzeptiert. Aber was sich vor zweitausend und dreitausend Jahren und noch früher abspielte... Dan, damals waren die Mysterious noch in unserer Galaxis aktiv!« Er sah Gisol fragend an. »Waren Sie damals tatsächlich als Beobachter oder Agitatoren aufTerra?« »Ich nicht«, sagte Gisol. »Und ob andere meines Volkes hier waren, weiß ich nicht. Das liegt lange zurück. Zu jener Zeit gab es mich noch nicht.« »Und seit wann gibt es Sie?« wollte Riker wissen. Da spitzte auch Juanita wieder die Ohren. »Seit etwa 180 ihrer Jahre.« Riker pfiff durch die Zähne. »Alter Mann«, kommentierte er. »Sie sollten anfangen, an Ihre Rente zu denken.« »Ich verstehe nicht.« Gisol sah ihn irritiert an. »Bist du wirklich schon so alt, Jim?« staunte Juanita. »Echt? 180 Jahre?« »Ja.« »Und wie alt wird man so bei Ihnen?« hakte Riker nach. 63 »Durchschnittlich gesehen. Die Salter haben ja auch ein gewaltiges Alter auf dem Buckel gehabt.« »Wie alt... hm.« Gisol schien nachdenken zu müssen. »Im Durchschnitt etwa 900 Jahre, glaube ich. Ich bin mir aber nicht ganz sicher. Es kann mehr sein oder auch weniger.« »Wenn wir das mal auf unsere durchschnittliche Lebenserwartung von lausigen 100 Jahren umrechnen, sind Sie also ein 20j ähriger Jungspund«, rechnete Riker. »Na
klasse.« »Dan, allmählich wirst du ekelhaft«, kommentierte sein Freund. »Wie jung waren wir denn, als wir erstmals in den Weltraum gerlogen sind?« Riker grinste. »Damals haben wir aber noch keine Galaxien vor dem Untergang gerettet. Höchstens ein paar süße Mädels vor dem Zugriff unserer lüsternen Kameraden... und etwas später dann mal ein oder zwei Planeten vor bösen Diktatoren oder Außerirdischen... ich würde allerdings die süßen Mädels bevorzugen.« »Weiß Anja von deinen diesbezüglichen Ambitionen?« spöttelte Ren. »Aaaaahhhhrrrrgggg! Hüte dich, es ihr zu erzählen! Terra braucht sonst einen neuen Commander der Planeten und ich eine Gefängniszelle...« »Könnt ihr Erwachsenen vielleicht auch mal wieder zur Sache kommen?« drängte Juanita. »Ich will wissen, wie es weitergeht!« Jim nickte ihr zu. »Danke. - In der Milchstraße präferierten wir Menschenähnliche, in Andromeda beschleunigten wir die Entwicklung von Echsen, in Triangulum die von Insekten und in Maffei l die von Methanatmern. Dort machten wir übrigens keine Unterschiede zwischen den Spezies, weil Methanatmer zwar unter allen Erscheinungsformen vertreten sind, aber in ihrer Gesamtheit gegenüber den Sauerstoff atmern allgemein unterrepräsentiert sind.« Dhark nickte. »Methanatmer... gibt es die wirklich? Methan ist ein sehr träger und alles andere als reaktionsfreudiger Stoff.« »Das wissen wir«, sagte Gisol. »Es ist auch nur die Oberbe64 Zeichnung. Vorwiegend sind es Wasserstoff- und Ammoniakatmer und andere, aber alle diese Völker haben gemeinsam, daß sie in ihrem Luftgemisch einen hohen Methananteil haben. Deshalb bezeichnen wir sie alle so. Wesen, die nur Methan einatmen, können aufgrund ihres entsprechend langsamen Stoffwechsels niemals genügend Intelligenz entwickeln, um auch nur ihre Freßfeinde halb
wegs rechtzeitig zu erkennen, und selbst wenn, scheitert die Flucht an der Trägheit ihrer Erkenntnisbefähigung. Erfahrungswerte, die meine Vorfahren anhand ihrer Experimente erarbeiten konnten.« »Und diese Experimente... haben funktioniert?« fragte Riker leise. »Zum Teil«, sagte Gisol. »Bei manchen Arten nicht, bei anderen besser als erwartet - wie bei Ihnen.« »Danke für Ihre Offenheit«, sagte Riker. »Nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich Ihnen ebenso offen erkläre, daß ich Ihre Spezies liebend gern ausrotten würde - wenn es dafür nicht längst schon zu spät wäre.« »Ich kann Sie verstehen«, sagte Gisol. »Viele andere haben es versucht, ohne die Hintergründe zu kennen. Und wie ich anfangs schon sagte, wir haben bitter dafür bezahlt.« Ren Dhark schloß die Augen. Er begriff nicht, warum Dan den Mysterious - den Worgun! -ständig provozierte. Und er mußte an die Grakos denken, aber auch an andere Völker, die den Mysterious Angst und Haß entgegenbrachten. Wer konnte schon damit leben, als eine Art Laborratte angesehen zu werden? Die Humanoiden der Milchstraße - Früchte eines Experimentes der Worgun! Wie wäre ihre Entwicklung verlaufen, wenn sie nicht von den Mysterious gestört und auf deren Weise beschleunigt worden wäre? Einige Sekunden lang hoffte er, aus diesem Alptraum erwachen oder Gisol als Betrüger entlarven zu können, so wie auch die Salter eine Täuschung gewesen waren. Aber je länger er mit Gisol zu tun hatte, um so eher war er bereit, ihm zu glauben. 65 Damals, als er auf Salteria, dem Planeten der Shirs, Olan und den anderen Saltem begegnete, hatte er ganz anders empfunden als jetzt. Damals war es ein düsterer Hintergrund gewesen. Die Salter standen am Ende ihres Lebensweges. Auch ohne den Mordanschlag, dem sie auf Terra erlegen waren, hätten sie nicht mehr lange gelebt. Manu Tschobe hatte zwar einen
Weg gefunden, die Negativwirkungen des lebensverlängernden Taralyth B zu neutralisieren. Dennoch wären den letzten Saltem nur noch wenige »natürliche« Jahre geblieben. Hier aber, in Gestalt Gisols, sah Ren die Jugend. Und er sah nicht nur, er fühlte auch. Da war viel mehr als nur die Erscheinung selbst. Bei den Saltern hatte Ren noch geglaubt, es mit den letzten Mysterious zu tun zu haben. Jetzt aber, bei Gi-sol, war er sich sicher. Und das machte ihn ratlos. Was die Mysterious getan hatten, war verwerflich. Ihre Experimente mit Lebewesen waren pervers, widerwärtig. Niemand hatte das Recht, sich zum Gott über andere emporzuschwingen! Seit er auf Hope das Höhlensystem der Mysterious betreten hatte, war es sein großer Traum, einmal einem lebenden Vertreter ihrer Gattung gegenüberzustehen. Wie oft hatte er von ihnen geträumt, wie oft war er auf ihrer Spur gewesen und hatte geglaubt, ganz nahe dran zu sein! Und jetzt, da ihm ein Mysterious gegenübersaß, entzauberte sich dieser selbst, wischte den Mythos mit wenigen brutalen, ehrlichen Worten hinfort, diesen Mythos, den Ren Dhark für sich selbst aufgebaut hatte. Damit umzugehen fiel schwer. Ein Traum verlosch. Wurde vernichtet von der Wirklichkeit. Das Ende aller Träume... das Ende des Regenbogens, aber am Ende stand für Ren die Enttäuschung, und ihm wurde klar, daß sein Freund Dan die bessere Möglichkeit gefunden hatte, mit die 66 ser Enttäuschung fertigzuwerden. Dan konnte sich in Sarkasmus und Zynismus flüchten. All die Jahre hatte er den Traum mit Ren geteilt, aber immer alles etwas distanzierter und kritischer gesehen. Deshalb konnte er sich nun auch besser davon lösen. Vergötterte Mysterious... Andere, wie Are Doorn, hatten sie oft genug verflucht. Und
nun, aus einem ganz anderen Grund, mußte auch Ren Dhark sie verfluchen. Die Menschheit als genetisches Experiment der Worgun, die sehen wollten, wie sich Humanoide entwickelten... Was bedeutete das? Gnade oder Fluch? Wären die Menschen ohne diese Manipulation nicht so schnell zu den Sternen geflogen? Aber dann setzte sein Verstand wieder ein. So schlimm es auch war: Ohne diese Manipulationen hätte es vielleicht im Jahr 2051 keinen Kolonistenraumer GALAXIS gegeben, der auf Hope notlandete, und keinen Ren Dhark, der das Erbe der Mysterious entdeckte, ohne das schließlich die Rettung der Milchstraße vor der vernichtenden Kollision mit Drakhon nicht hätte erfolgen können... Jede Münze hat zwei Seiten. Das war die andere. So verwerflich das Handeln der Worgun auch sein mochte: Es hatte auch seinen Nutzen. Kein Schatten existiert ohne Licht. Auch wenn es schwerfiel, das zu akzeptieren. Nach einer Weile setzte Gisol an, mit seiner Erzählung fortzufahren. Vor etwa zweitausend Jahren betrat ein neues, bisher unbekanntes Volk die galaktische Bühne von Orn. Es waren insektenhafte Wesen, die Zyzzkt. Ein dynamisches, rasend schnell expandierendes Volk, das sich sehr rasch ein eigenes Stemenreich aufbaute. Das stellte kein Problem dar - Orn war eine große Galaxis, und in den kosmischen Weiten gab es genug Sterne und Planeten, die für die Zyzzkt geeignet waren. 67 Doch die Zyzzkt wollten mehr. Sie brauchten Platz! Ihre Vermehrungsrate war gigantisch, und um sich nicht einschränken zu müssen, reichte es ihnen nicht mehr, selbst Welten zur Besiedelung zu erschließen. Sie verlangten von den Worgun, daß diese ihnen schon erschlossene Welten zur Verfügung stellten. Eine Forderung, der die Worgun nicht nachgeben konnten
und wollten. Sie hatten nicht investiert, um zu verschenken. Wer etwas erreichen wollte, sollte es sich selbst erarbeiten. Diese Einstellung empfanden die Zyzzkt als Arroganz. Immer wieder forderten sie, daß die Worgun ihnen Planeten zur Verfügung stellen sollten, die sie besiedeln konnten. Die Worgun aber sahen nicht nur die Frechheit der aktuellen Forderungen, sondern auch die Gefahr für die Zukunft. Die hohe Vermehrungsrate des Insektenvolks war mehr als bedenklich. Die Zyzzkt brauchten Platz. Viel Platz. Sehr viel Platz. Immer mehr Platz. Heute ein Sonnensystem. In zehn Jahren hundert Systeme. In fünfzig Jahren tausend Systeme. In hundert Jahren zehntausend Systeme. Über kurz oder lang würden sie die Worgun verdrängen. Und nicht nur sie, sondern auch alle anderen Intelligenzen in Om. Geburtenkontrolle war für sie ein Tabu. Jedes Ei mußte einen neuen Zyzzkt das Licht seiner Sonne erschauen lassen, und die weiblichen Zyzzkt legten viele Eier in jedem der vielen Fruchtbarkeitszyklen. Es kam zu ersten Auseinandersetzungen. Raumflotten der Zyzzkt griffen Worgun-Planeten an, die ihnen nicht zur Verfügung gestellt wurden. Eine Erpressertaktik: Wenn ihr uns nicht gebt, was wir wollen, könnt ihr es auch nicht behalten. Die Worgun schlugen zurück. Sie rüsteten auf. Sie warnten die Zyzzkt, und als diese die Warnungen nicht beherzigten, zerschossen sie deren Kampf schiffe. Aber die Zyzzkt konterten. 68 Sie waren hochintelligent - obgleich sie nicht zum »Entwicklungsprogramm« der Worgun gehört hatten. Im Vergleich waren sie diesem Bioprogramm weit voraus. Sie entwickelten Abschirmungen und neue Waffen. Die Worgun waren gezwungen, ebenfalls aufzurüsten, weil die Zyzzkt immer häufiger antraten, um sich mit Gewalt zu holen, was ihnen friedlich verwehrt wurde. Schon vorher waren die Worgun mächtig gewesen. Sie
wußten sich zu schützen. Doch jetzt, da sie mit annähernd gleichwertigen Waffen angegriffen wurden, da ihnen ein gleichwertiger Feind entstanden war, mußten sie die Entwicklung von defensiven und offensiven Kampfmitteln forcieren. Sie taten es vorwiegend bei den offensiven Mitteln. Die Konflikte verschärften sich immer mehr. Aus kleinen Scharmützeln wurden große Schlachten. Die Worgun entwickelten Abwehrtechniken, die teilweise in den Grenzbereich zu übergeordneten Dimensionen griffen. Aber sie schreckten noch immer davor zurück, mit Angriffen auf Wohnplaneten den Krieg zu den Zyzzkt zu tragen. Auf den Spuren der Mysterious gelangten die Zyzzkt schließlich auch in die Milchstraße. Dort trafen sie auf die Grakos, die »verschwundenen« Nachfahren der G'Loorn. Die beiden Insektenvölker verbündeten sich. »Was nicht gerade logisch klingt«, warf Ren Dhark ein. »Wenn ich mir anschaue, wie Insekten miteinander umgehen, scheint es eher das archetypische Verhalten zu sein, auf die jeweils andere Spezies loszugehen. Bienen und Wespen bekämpfen einander, Ameisenvölker führen Eroberungskriege gegeneinander - lediglich Fliegen leben friedlich nebeneinander, aber die haben auch nie eine Zusammengehörigkeit entwickelt, weil sie dafür einfach zu blöde sind.« »Sie übersehen dabei, Dhark«, sagte Gisol, »daß es sich dabei um primitive Arten handelt, die nur ihrem Instinkt folgen. Bei Grakos und Zyzzkt hingegen handelt es sich um hochentwickelte 69 Völker. Bei ihnen kontrolliert der Intellekt den Instinkt. Und sie sehen: Hier sind wir Insekten, dort sind die Humanoiden. Gemeinsamkeiten verbinden in diesem Fall, auch wenn sie sich noch vor einer Million Jahren vielleicht bis aufs zerknackende Chitin bekämpft hätten. Hier wurden leider gemeinsame Interessen deutlich...« »Gemeinsame?« »Die Zyzzkt versprachen den Grakos die Herrschaft über die Milchstraße, wenn sie ihnen im Kampf gegen uns
Worgun halfen«, fuhr Gisol fort. Die Worgun konnten in der Milchstraße ihrerseits auf das von Lern - der Erde - stammende Hilfsvolk der Salter zurückgreifen, das bereits seit rund 50 000 Jahren in ihren Diensten stand. Dhark hob die Hand. »Gisol, die Salter, die sich nach ihrer Ursprungswelt sehnten, wie wir von den Shirs wissen warum habt ihr ihnen niemals gestattet, nach Lern zurückzukehren? Kein Salter, der einst Terra verließ, hat unseren blauen Planeten wiedergesehen, und die Nachfahren der Salter erst recht nicht. Warum war die Erde für sie tabu?« » »Ich weiß es nicht«, gestand Gisol. »Glauben Sie es mir oder nicht - darüber habe ich wirklich keine Informationen.« Von dem, was er wußte, erzählte er weiter. Mit Hilfe der Zyzzkt bauten die Grakos Stützpunkte im Hy perraum auf, in denen sie für die Worgun und für die Salter unerreichbar wurden. Der Hyperraum aber wurde den Grakos zum Verhängnis. Denn unter seiner Strahlung verwandelten sie sich langsam, und wurden dabei teilweiser Bestandteil des Hyperraums. Sie wurden zu Schatten in dieser Welt, die sich hinter fünfdimensionalen Energieschirmen verbergen mußten. Ihre Angriffe waren und blieben dennoch mörderisch. Sie bewegten sich mit ihren Kampfstationen im Hyperraum und waren dadurch in der Lage, ganz nach Belieben überall aufzutauchen. Immer wieder schlugen sie unverhofft zu. Die Salter, die Ringraumer flogen, mußten hinnehmen, daß Grakos Ringschiffe eroberten und selbst für ihre bösartigen Attacken verwendeten gegen alles, was auch nur annähernd humanoid war. Damit erreichten sie, daß ihre boshaften und mörderischen Angriffe den Saltem oder eben den Worgun zugeschrieben wurden. Schließlich entwickelten die Worgun eine Abwehrmaßnahme, die ihresgleichen suchte, aber zur Gigantomanie ihrer Art paßte. Um die schweren, mörderischen Angriffe der Grakos in der Milchstraße, die von den Worgun NaI genannt wurde, endlich zu beenden, manipulierten sie das überschwere
Schwarze Loch im Zentrum der Milchstraße. Dazu brauchten sie nicht einmal in die damals noch vorhandene Quiet Zone einzudringen. Von den für dieses Phänomen verantwortlichen G'Loorn hielten sie sich fern, da sie von diesen nicht gestört wurden und somit auch keine Händel mit ihnen hatten. Daß die Grakos Abkömmlinge der G'Loom waren, spielte dabei keine Rolle, da die Worgun weder die Nachkommen für die Taten ihrer Ahnen haftbar machten noch umgekehrt. Die Worgun schufen riesige Materiesender, mit denen sie manipulierte Sonnenmaterie in das Schwarze Superloch schickten und dessen Masse so erhöhten. Im Inneren der Quiet Zone wurden diese Manipulationen nicht entdeckt, da die Schale aus Schwarzen Löchern den Effekt nach innen hin abschirmte. Nach außen hin aber riß die verstärkte Gravitationswirkung des manipulierten Schwarzen Loches die Stationen der Grakos aus dem Hyperraum und machte sie so angreifbar. In einer gewaltigen Vemichtungs schiacht wurden die Grakos entscheidend geschlagen, und die wenigen Überlebenden flohen in die Tiefen des Alls. Doch die Manipulation der Gravitationskräfte des Black Holes hatte weitere, unvorhergesehene Folgen. Die heute legendären Worgun-Wissenschaftler Margun und Sola hatten anhand verschiedener Phänomene, die angemessen wurden, ausgerechnet, daß eine Galaxis aus einem anderen Kontinuum in 71 unseres gerissen und den Untergang der Milchstraße herbeiführen würde. Die künstlich erhöhte Masse des Schwarzen Loches krümmte mit ihrer Schwerkraft den Raum in einem bestimmten Bereich dermaßen stark, daß der Effekt jenes andere Kontinuum ebenfalls betraf. Vielleicht hätte es nicht einmal so schwerwiegende Folgen gehabt, wenn nicht in ziemlich genau diesem Einflußbereich sich »drüben« eine andere Galaxis befunden hätte. Sonst wäre höchstens Sternenstaub aus intergalaktischen Leerräumen hereingezogen worden. So aber war Drakhon zu nahe dran... Die in der Milchstraße stationierten Worgun wollten die
Galaxis fluchtartig verlassen, mußten aber zu ihrem Schrecken feststellen, daß ihre Raumschiffe das ebenfalls durch die Manipulation des Schwarzen Zentrumslochs entstandene Exspect nicht überwinden konnten. Bis heute war rätselhaft geblieben, auf welche Weise diese Veränderung des galaktischen Spannungsgefälles stattfand; Klar war nur, daß sie durch die Manipulation des Black Hole ausgelöst worden war. »Das entspricht der Chaostheorie«, sagte Ren Dhark. »Da gibt es einen Spruch, der mich immer wieder fasziniert: Der Flügelschlag eines Schmetterlings kann unter Umständen durch zahlreiche sich immer mehr verstärkende Wechselwirkungen einen Wirbelsturm auf der anderen Seite der Welt auslösen.« »Was durchaus mit den Gesetzen der Thermodynamik übereinstimmt«, sagte Gisol. »Wo Chaos ist, zeigt es das Bestreben, sich zu vergrößern. Die Entropie hat immer das Bedürfnis, einem Zustand noch höheren Durcheinanders entgegenzustreben.« »Es ist monumental«, murmelte Dan Riker. »Ein lokales Ereignis zieht universale Folgen nach sich... dieses Exspect, Gisol -wie weit reicht es in den Raum hinaus? Wird es irgendwann auch wieder schwächer, praktisch einer Kugelschale gleich, die sich um unsere Galaxis legt?« Der Worgun nickte. »Wie wir später feststellten, reicht es ungefähr auf halbem Weg bis nach Andromeda. Seine Wirkung steigt exponentiell an, fast unmittelbar bis an seine Außengrenze. Es 72 erwies sich als undurchdringlich für uns.« Er verstummte. »Wenn das Exspect durch die Manipulation am Schwarzen Loch entstand«, sann Ren Dhark, »könnte es doch sein, daß es jetzt nicht mehr existiert. Schließlich haben wir das Black Hole wieder normalisiert! Müßte dann nicht auch der Rest des betroffenen Universums wieder auf den ursprünglichen Normalzustand zurückfallen?« »Ren!« stieß Riker hervor. »Das - das wäre ja...«
Der Commander erhob sich. »Ich möchte unsere Runde nicht unbedingt sprengen«, sagte er. »Aber das will ich jetzt wissen - sofort.« Er ging hinüber in den Kommunikationsraum und ließ sich vor einem der Paneele nieder. Er rief Cent Field an. Diesmal nicht die POINT OF, sondern die Funkzentrale der TF. »Commander«, stieß der Diensthabende hervor. »Wir haben gerade versucht. Sie zu erreichen. Der Stab der TF ist informiert, die Regierung ebenfalls, nur Ihr Aufenthaltsort war unbekannt, und die Notbesatzung in Ihrem Flaggschiff wollte nicht mit Informationen herausrücken...« Dhark seufzte. »Fassen Sie sich bitte kurz. Weshalb versuchten Sie so dringend, mich zu erreichen?« »Commander, wir erhielten eine Nachricht von den Nogk, die von unseren Forschungsraumern bestätigt wurde. Dieser Nachricht zufolge existiert das Exspect nicht mehr. Die Messungen scheinen gesichert.« Ren atmete tief durch. War das die Bestätigung für seine Vermutung, für seine Hoffnung? »Scheinen gesichert oder sind gesichert?« »Sir, ich bin nur Funker. Ich gebe nur weiter, was ich weitergeben soll.« »Schon gut«, sagte Ren. »Können Sie mir eine Verbindung zu den Astro-Labs in Alamo Gordo schalten? Mit Professor Monty 73 Bell. Sie würden mir etwas Arbeit abnehmen.« »Natürlich, Sir. Sofort. Verbindung kommt.« Ren lehnte sich zurück. Einige Minuten verstrichen. Dann erschien Monty Beils Gesicht auf dem Viphoschirm. Der Astrophysiker, acht Jahre älter als Dhark, hatte schon vor der Invasion zu dessen Freundeskreis gehört. Nach der Befreiung der Erde vom Giant-Joch war er zum Leiter der unterirdischen Forschungsstadt ernannt worden, die man unterhalb Alamo Gordos angelegt hatte. Dort wurde derzeit auch im Auftrag der Gordo fieberhaft an einem
Aggressionshemmer für die Grakos gearbeitet. »Ren, wenn du wissen willst, wie weit man in Sachen Grako-Forschung ist, bist du bei mir an der falschen Adresse«, begann Bell auch prompt. »Dafür sind die Kollegen...« »Stop!« unterbrach Dhark seinen Freund. »Mich interessiert das Exspect.« »Hat man dir das noch nicht erzählt?« wunderte sich Monty Bell. »Das existiert nicht mehr.« »Gesichert? In der TF spricht man von >anscheinend<.« »Gesichert, Ren«, sagte Bell. »Das müßte man doch auch in der TF inzwischen begriffen haben. Als die Nogk von eurer Aktion zurück ins Corr-System transitierten, kam es zu einem Fehlsprung. Sie waren plötzlich gut zwanzigtausend Lichtjahre weiter im intergalaktischen Tiefraum. Dabei stellten sie fest, daß das Exspect nicht mehr existiert. Die Fehltransition resultierte aus dem hohen Energieaufwand, der für die Überwindung des Exspect nötig war. Und der jetzt plötzlich nicht mehr nötig ist. Sie haben sofort For schungsdrohnen losgejagt und Transitionen vornehmen lassen, bis fünfzigtausend Lichtjahre in den Leerraum hinaus. Alles klappte problemlos.« Ren nickte. Die Nogk waren schon immer schnell gewesen. Sie schufen in rasendem Tempo, wofür die Terraner und andere Völker die zehnfache Zeit gebraucht hätten. Manchmal fragte Dhark 74 sich, ob die Nogk nicht vielleicht auf irgendeine rätselhafte Weise neben der Zeit existierten... denn oft schien es nach allen logistischen Gesetzmäßigkeiten einfach unmöglich, was sie erreichten. Vielleicht lag es an der unglaublichen, fast ameisenhaften Disziplin, der sich die Nogk unterwarfen. Freizeitverhalten war ihnen völlig unbekannt. Alles, was sie jemals taten, stand immer im Dienst der Gemeinschaft. Ein für mehr Gehalt streikender Nogk war schlicht undenkbar. Ihr Zusammengehörigkeitsgefühl war schon legendär. »Auf Anfrage bestätigten unsere Forschungsraumer das
Phänomen«, fuhr Monty Bell derweil fort. »Du weißt ja, daß wir einige Dutzend FO-Raumer in den stellaren Grenzbereich zu Drakhon geschickt haben. Sie führten nun Transitionen durch, die sie problemlos weit in den Tiefraum führten. Kein Powerfading mehr, keine Energie Verluste. Transitionen können zielsicher wie nie zuvor durchgeführt werden. Verdammt, Ren, wieso hat man dir das noch nicht gesagt?« »Weil ich mich für einen Urlaubstag komplett ausgeklinkt habe«, wich Dhark aus, »und kein Mensch weiß, wo er mich findet.« »Ach ja. Und an deinem Urlaubstag interessierst du dich plötzlich trotzdem brennend für den Rest des Universums... Ren, du hast 'nen Vogel, aber einen vom Format Albatros!« »Und den werde ich jetzt weiter füttern«, schmunzelte Dhark. »Danke für die Information.« »Was wirst du jetzt...« hörte er den Professor für Astrophysik noch fragen, aber da hatte er die Verbindung schon wieder unterbrochen. Ren erhob sich und kehrte zu den anderen zurück. »Das Exspect existiert nicht mehr«, sagte er. »Künftig haben wir freien Flug für freie Terraner...« Riker sprang auf. »Was - tatsächlich?« Dhark nickte. »Ab sofort steht uns das ganze Universum offen«, sagte er. Und fügte schmunzelnd hinzu: »Und wenn dich Cäsar fragt: 75 >Das ganze?<, so sage ihm: >Das ganze !<.« Gisol und Juanita blickten ihn ob dieser Worte verständnislos an. Sie hatten nie auf dem Dachboden von Rens Großvater gestöbert. Sie hatten nie »Asterix« gelesen... »Trotzdem interessiert mich, wie Sie das Exspect überwinden konnten«, sagte Ren Dhark. »Denn ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie per Zeitreise aus einer Zukunft hierher gelangt sind, in der es dieses Hindernis nicht mehr gibt.« »Margun und Sola waren eben genial«, sagte Gisol. »Sie
fanden heraus, daß zehn Ringraumer, gekoppelt zu einem Tunnel, mit ihren Intervallfeldem eine Art Düseneffekt erzeugen.« »Düseneffekt?« Gisol grinste. »Was glauben Sie wohl, weshalb ich ausgerechnet über zehn Ringraumer verfüge? Das ist die Meßzahl. Bei weniger Schiffen funktioniert es nicht, bei mehr bringt es keine Verbesserung oder funktioniert teilweise auch nicht. Man stapelt die Ringe praktisch übereinander, so daß ein Rohr entsteht. Die Intervallfelder sorgen dabei für einen Düseneffekt, wenn alle zehn Schiffe auf Sternensog schalten. Sie kennen diesen Effekt sicher - wenn sie Wasser durch ein Rohr schicken und dessen Querschnitt immer weiter verringern, werden die Fließgeschwindigkeit und der Strahldruck höher.« »Klar«, sagte Juanita. Soviel begriff sogar sie. »Sie können das bei den Ringraumem sogar beobachten«, fuhr Gisol fort. »Sie wissen ja - die Flächenprojektoren emittieren den sogenannten Brennkreis. Je größer sein Durchmesser, um so langsamer die Fluggeschwindigkeit. Wird der Raumer beschleunigt, verkleinert sich der Brennkreis. Überschreitet das Schiff die Licht geschwindigkeit, wird aus dem Brennkreis der Brennpunkt.« »Der seine Größe dann aber nicht mehr verändert«, sagte Dhark, 76 »unabhängig davon, ob wir mit zehnfacher oder zehnmillionenfacher Lichtgeschwindigkeit fliegen.« »Wenn man diese zehn Raumschiffe zusammenschaltet, verändert sich der Brennpunkt dennoch. Er wird von Schiff zu Schiff kleiner, bis er schließlich kaum noch meßbar ist, aber dennoch die gleiche Energiemenge abgibt und damit auch einen entsprechend höheren energetischen Druck. Dieser verstärkte Druck sorgte dafür, daß die Raumschiffe im Verbund nicht nur wesentlich schneller fliegen können, sondern auch mit weniger Energieaufwand. So läßt sich das Exspect austricksen. Der Flug von Om hierher verlief normal. Ich hatte mit dem Exspect keine Probleme, wie auch meine
Vorfahren keine Probleme hatten, als sie dem Funkruf ron wedda wi terra folgten.« »Wieder was dazugelemt«, brummte Riker. »Was damals ein Problem war«, fuhr Gisol fort, »bestand darin» daß die Ringraumer eigentlich für eine Evakuierung sehr ungeeignet waren. Schließlich waren sie nichts anderes als Beiboote der schweren Kampfeinheiten und allenfalls als Kurierboote für die Verbindung der anderen Galaxien nach Om gedacht.« »Beiboote?« stöhnte Riker auf. »Diese Superkreuzer waren Kurier- und Beiboote? Ich fasse es nicht! MysteriousGrößenwahn in Reinkultur...« »Superkreuzer...?« Gisol schüttelte den Kopf. »Meine Güte, Riker, was wollen Sie mit kleinen Raumschiffchen anfangen, die gerade mal 180 Meter durchmessen? Die haben doch keine wirkliche Kampfkraft!« Riker hüstelte. »Unsere schweren Kampfeinheiten dagegen, mit denen man schon ein bißchen ausrichten konnte, mußten allerdings in jeder Warnender, kodierter Funkspruch der Mysterious, von Dr. Alpho Marcuse entschlüsselt und übersetzt, mit dem Text »Größte Gefahr! Alle sofort zurückkommen!« Wobei das Wort terra nichts mit der Erde zu tun hat, sondern »Gefahr« bedeutet. 77 von uns betretenen Galaxis vor Ort gebaut werden. Der Energieaufwand, sie von Om in andere Galaxien zu fliegen, war zu hoch.« »Ach!« höhnte Riker. »Wie erschreckend...« »Es gab damals schon Stimmen, die sich gegen diese Raumer aussprachen, weil sie zu viel Tofirit verbrauchten. Das war eben auch der Grund für die jeweiligen Neubauten. Als mein Volk Ihre Galaxis wegen der Gefahr durch Drakhon aufgab, blieb den Wor-gun deshalb nichts anderes übrig, als alle Schlacht- und Basisschiffe zu sprengen, die mehr als 100 Ihrer Kilometer Durchmesser hatten und wegen der
Energieprobleme die Galaxis sowieso nicht verlassen konnten. Wir ließen die Beiboote zurück, und drei Schwere Kreuzer der Erron-Klasse, die wir ihrer Antriebe entledigten. Sie sollten als Basen für die Salter verbleiben. »Erron?« keuchte Riker auf. »Die Erron-Stationen?« »Was Sie als Stationen bezeichnen, sind für uns Raumschiffe. Aber diese drei sind nicht mehr mobil.« »Sag jetzt nicht schon wieder was von Größenwahn«, mahnte Dhark. »Nach Ihrer Zeitrechnung muß es etwa das Jahr 1012 gewesen sein, als die Worgun die Ringraumer betraten und aus der Milchstraße flohen. Wir ließen nichts zurück, woraus man Rückschlüsse auf uns hätte ziehen können, damit kein künftiger Feind mehr Informationen erhielt. Gut, es gab noch die drei Errons und einige weitere technische Hinterlassenschaften, aber sie dienten dem Schutz der Salter bis zum Ende, das zu erwarten war. Sie und alle anderen humanoiden Schöpfungen in der Milchstraße waren zum Untergang verdammt. Daher nannten wir sie die Verdammten. Diesen Begriff haben die Biostrukte offenbar aufgegriffen.« »Warum habt ihr die Verdammten nicht mitgenommen?« fragte Dhark. »Ihr habt sie geschaffen und dann zum Untergang verurteilt. Wenn ich mir anschaue, wie viele - hm, Beiboote es hier noch gab, ehe der Galaktische Blitz sie unbrauchbar machte... es dürften etliche Tausend gewesen sein.« »Millionen«, sagte Gisol. »Vielleicht hätten wir noch viel mehr 78 retten können, nicht nur unsere Schöpfungen. Es blieb ja noch Zeit. Aber, Dhark, meine Vorfahren benahmen sich wie Götter! Und Götter haben es nicht nötig, Sterbliche zu retten. Ich weiß, daß ich kein Gott bin. Ich hätte es versucht, aber damals dachte niemand wie ich.« »Und heute?« »Heute ist alles anders«, versicherte Gisol. »Denn der Krieg gegen die Zyzzkt, der in Orn tobte, nahm eine dramatische
Wendung. Plötzlich verfügten die Zyzzkt über eine unsere Waffen, über die neueste Entwicklung - die übrigens in dieser Hinsicht auch die letzte war. Mit Mix-4 konnten sie unsere Raumer vernichtend schlagen.« »Mix-4?« stieß Dhark überrascht hervor. »Wir kennen in der POINT OF Mix-1 bis Mix-3, und das auch erst seit unserem Besuch in Erron-3.« »Ich sagte es schon einmal - Ihre POINT OF ist ein alter Kasten«, sagte Gisol ohne Spott. »Es gibt da zwar ein paar Dinge, die Margun und Sola in diesen Versuchsraumer einbauten, die ich auch gern hätte, aber allgemein - nein, danke. Ich ziehe meine EPOY vor, Commander. Mix-4 war dann allerdings auch unsere letzte waffentechnische Entwicklung. Damit lassen sich Intervallfelder >aufweichen<. Damit habe ich auf Kaso übrigens auch Ihren Tofiritraumer geknackt.« »Bei Gelegenheit werde ich Sie dem damaligen Kommandanten vorstellen. Er spricht nicht gerade freundlich über einen gewissen Jim Smith«, sagte Riker trocken. »Es ist doch nur ein Raumschiff!« verteidigte Juanita den My-sterious. »Er hat niemandem von der Besatzung Schaden zugerügt.« »Nur ein Raumschiff ist auch ein Raumschiff, kleine Lady«, sagte Riker. »Weißt du, was das Material kostet, aus dem die EUROPA gebaut wurde? Und weißt du, wie sehr das Ehrgefühl des Kommandanten leidet?« Juanita zog es vor, darauf nicht zu antworten. 79 Statt dessen erzählte Gisol weiter. Die Worgun wurden ver nichtend geschlagen. Die Überlebenden wurden auf ihrem Ursprungsplaneten Epoy eingepfercht und mußten fortan als Vasallen der Zyzzkt vegetieren. Ihre Führungsschicht hatte man ausgerottet, ihre besten Forscher wurden regelmäßig in Zyzzkt-Dienste gepreßt, und an die Führungsspitze der Worgun kamen zwielichtige, den Zyzzkt genehme Gestalten. Der Nachwuchs wurde einer Art Dauergehirnwäsche unterzogen, nach der die Worgun der Abschaum und die Zyzzkt die Retter des Universums waren. Diese Situation dauerte bis in die Gegenwart an.
Gisol selbst wurde vor etwa 180 Jahren geboren und wuchs zusammen mit seinem Geschwisterkind bei seinem Erzeuger auf. Ausgerechnet Juanita war es, die jetzt fragte: »Wie geht das bei euch, Jim? Wo kommen bei euch die Kinder her? Ich meine, du bist doch in Wirklichkeit so ein klumpiges Dingsbums, und... hm... äh...« Jim grinste. »Wir Worgun sind geschlechtslos, können aber sexuell empfinden, wenn wir sexuelle Lebewesen wie etwa die Menschen nachbilden. Wir sind nicht einfach nur klumpige Dingsbumse, sondern wir können die ganzen Hormone und so weiter erzeugen und Sex genießen, wie es bei euch Menschen der Fall ist. Im Gegensatz zu euch Menschen vermehren wir uns aber nur einmal im Leben, auch wenn wir unseren Partner noch so sehr lieben und noch so viel Spaß dabei haben. Etwa um unser zweihundertstes Lebensjahr herum kommt es zu zwei Kapselwucherungen an unseren Gehirnen. Dabei entstehen zwei > Fruchtkapseln < mit Gehirnmasse. Die müssen mit den zwei Fruchtkapseln eines anderen Worgun zusammengebracht werden. Außerdem muß jeder der beiden Beteiligten einen kleinen Teil seiner Körpermasse spenden. Die beiden Körpermassen und die vier Fruchtkapseln vermischen sich zu einem Zellbrei, aus dem vier neue Worgun entstehen. Abweichungen von dieser Zahl sind äußerst selten. Jeder der Beteiligten zieht zwei der vier Kinder groß, die nach etwa 20 Jahren ausgewachsen und er 80 wachsen sind. Diese >Privatzeit< gilt als glücklichste Epoche im Leben eines Worgun.« »Aha«, machte die Zehnjährige. »Nur vier Kinder? Bißchen wenig für neunhundert Jahre, nicht? Ich dachte...« Sie verstummte. »Was?« fragte Jim leise. »Ich dachte«, sagte Juanita nach einigem Zögern, »wir könnten viel mehr Kinder haben...« Für eine Weile sagte niemand etwas. Dann endlich raunte
Jim leise: »So sehr magst du mich, Juanita?« Sie nickte nur. »Ich mag dich auch sehr«, sagte er. »Aber eine Familie - es würde nicht funktionieren. Wir sind genetisch nicht kompatibel. Das heißt, kein Worgun kann mit einem Wesen einer anderen Art Kinder haben. Juanita...« »Schon gut«, sagte sie seltsam rauh. »Es macht nichts, Jim. Es ändert doch nichts. Ist nur schade.« »Ja«, sagte er. Und er dachte an das Weihnachtsgeschenk, das sie für ihn gebastelt hatte. Das Modell einer Blockhütte, in der sie beide wohnen würden und in der sie für ihn sorgen wollte, wenn er eines Tages alt und schwach und krank wurde... damals ahnte sie doch noch nicht, daß er noch leben würde, wenn außer ihm schon niemand mehr an Juanita Gonzales dachte... unwillkürlich erhob er sich aus seinem Sessel, ging zu ihr und drückte ihr einen Kuß auf die Stirn. Sie stand ebenfalls auf, umschlang ihn mit ihren Armen und schmiegte sich irgendwie hilfesuchend an ihn. »Schon gut«, flüsterte sie. »Es war nur ein kleiner Traum, Jim...« Er streichelte ihr Haar und ihren Rücken. Für eine Weile sagte niemand etwas. Irgendwann löste das Mädchen die Umarmung. Irgendwann erzählte Jim weiter. 81 Statt in Schulen wurden die jungen Worgun mittels Computernetzwerken unterrichtet. Sie erhielten Mentcaps und mußten dann in Sitzungen am globalen Netz das durch die Kapseln erworbene Wissen vertiefen, um es dauerhaft zu festigen. Die Mentcaps wurden von der Regierung hergestellt und verteilt. Aber es waren auch illegale Mentcaps im Umlauf... In diesem Unterricht erfuhr Gisol erstmals vom verlorenen Krieg gegen »die Verehrten«, wie die Zyzzkt offiziell genannt wurden, und den »Verbrechen« der Worgun: Sie hatten angeblich gnadenlos Wohnwelten der Zyzzkt zerstört und Millionen von ihnen dabei getötet. Dann aber entwickelten sie eine perfide Bio-waffe, der mehrere Milliarden Zyzzkt zum Opfer fielen. Wegen dieser Untaten
war ihre Niederlage nur gerecht. Die Galaxis Orn durfte nie wieder von der Großmachtssucht der Worgun bedroht werden. Deshalb mußten sie sich auf ihren Ursprungsplaneten Epoy beschränken und für alle Zeiten Buße leisten für ihre Verbrechen an den Verehrten. Gisol war schockiert und mochte das nicht so recht glauben. In Datenträgem, die nicht auf offiziellem Weg zu bekommen waren -aber das Netz war recht vielschichtig fand er andere Darstellungen: Die Zyzzkt hatten ganze Wohnbevölkerungen der Worgun ausgelöscht, während die Worgun stets nur gegen militärische Ziele vorgegangen waren. Die Seuche, an der so viele Zyzzkt starben, ging ebenfalls auf sie zurück: In der Milchstraße, von den Worgun Nai genannt, hatten die Grakos lange vor ihrer Flucht in den Hyperraum versucht, die Worgun mit einem genetisch auf sie zugeschnittenen Virus zu vernichten. Die Heilung der Seuche gelang, indem man das Virus mutierte. Nun war es für die Worgun nicht mehr gefährlich, wohl aber für die Zyzzkt, unter denen es mehrere Millionen Opfer forderte - und nicht Milliarden, wie die Insektoiden verbreiteten. Überhaupt behaupteten die nur im Untergrund tätigen Extremisten, die Verehrten hätten den Grakos bei der Entwicklung der Seuche geholfen und wären letzten Endes nur Opfer ihrer eigenen Niedertracht geworden. Wie auch immer, jedes Individuum im Zyzzkt-Imperium hatte ein Gerät von der Größe eines altertümlichen Reiseweckers zu tragen, das Gestaltwandeln unmöglich machte und gleichzeitig Daten über seinen Träger speicherte und an überall vorhandene Kontrollgeräte funkte - den IDDämpfer. Es galt als obszön, wenn Worgun ihre Gestalt veränderten, eine Fähigkeit, über die sonst kein Volk verfügte: Man erhob sich nicht über andere. Auch Kunst und selbst Sprache der Worgun wurden immer mehr von ZyzzktEle-menten durchdrungen. Die Regierung zeigte sich als unfähig, korrupt und den Zyzzkt treu ergeben. Als Gisol zu Hause anfing, die offizielle Geschichte zu hinterfragen, waren sein Erzeuger und sein Geschwisterkind entsetzt über soviel unangebrachtes Verhalten. Gisol gefiel sich darin, den ID-Dämpfer zu Hause abzulegen und alle
mögliche Gestalten anzunehmen, auch Fantasiewesen und Zyzzkt. Letzteres galt als ein besonders schweres Verbrechen. Über Kontakte im Netz machte Gisol Bekanntschaft mit einer im Untergrund operierenden Gruppe von Freiheitskämpfern, die natürlich offiziell als Extremisten verschrien waren. Zu Hause bekam er deswegen größte Probleme, aber wenigstens verriet ihn seine Familie nicht an die Behörden. Mit 50 Jahren (nach terranischer Zeitrechnung) war Gisol ein voll ausgebildeter Ingenieur, der nach außen hin seine politische Einstellung perfekt zu verbergen wußte. Seine Leistungen machten die Regierung auf ihn aufmerksam, und er wurde in das »Amt für Freundschaft und tätige Reue« bestellt. Dort erfuhr er, daß Worgun nicht nur auf Epoy lebten, wie offiziell verkündet, sondern in kleinen Gruppen auch auf Welten der Verehrten, wo sie in tätiger Reue für die Untaten ihres Volkes technische Entwicklungsarbeit für die Verehrten betrieben. Gisol sollte auf solch eine Welt verbracht werden und für die Zyzzkt arbeiten. Die Untergrundgruppe ahnte etwas von diesen offiziell undenkbaren Vorgängen, hatte aber keine Beweise. Sie bat Gisol, den Auftrag anzunehmen. Er bekam eine Neuentwicklung der Gruppe, einen falschen ID-Dämpfer, der eine Gestaltveränderung nicht verhinderte und stets die der momentanen Gestalt entsprechenden Personendaten abstrahlte. Gisol behielt natürlich seine Worgun-Gestalt und flog auf eine karge Wüstenwelt mit großen Vorkommen bestimmter seltener Erze, wo die Worgun im Auftrag und unter Aufsicht der Zyzzkt eine Ringraumerproduktion aufbauten. Großkampfschiffe wurden kaum noch gebaut, da es einen eklatanten Mangel an Ala-Metall gab. »Ala-Metall?« hakte Dhark nach. »Unsere Bezeichnung für Tofirit«, erklärte Gisol. Er fuhr fort. Die Ringraumer waren natürlich nicht für die Worgun, sondern für die Zyzzkt bestimmt, die überall ihre Aufpasser hatten. Im Laufe der nächsten zehn Jahre gelang es Gisol, Informationen an die Freiheitskämpfer weiterzuleiten, die
noch einige ihrer Leute auf dieser Welt einschleusten. Inzwischen war die Produktionsanlage für Ringraumer, vergleichbar mit der auf Dockyard, so gut wie fertig und würde die Zyzzkt bald mit noch mehr Schiffen versorgen und ihre Macht noch vergrößern. Die ersten 25 Schiffe waren gebaut und wurden den letzten Tests unterzogen. Gisols Gruppe plante, die Schiffe zu stehlen und die Produktionsanlage zu zerstören. Doch in ihren Reihen war ein Verräter. Die Aktion ging schief. Alle Rebellen bis auf Gisol wurden getötet. Dem aber gelang es, in eines der 25 Schiffe einzudringen und es mit der Automatik ebenso zu entführen wie die 24 anderen. Da alle seine Freunde getötet wurden, zerstörte er mit den 25 Schiffen - die sich mit Hilfe der Gedankensteuerung von ihm allein kommandieren ließen - die Produktionsanlagen und tötete dabei natürlich auch Worgun, was ihn zu einem Ausgestoßenen machte. Er koppelte seine Schiffe zusammen und floh mit ihnen in die Tiefe des Raumes. Die nächsten Jahre verbrachte er damit, für seine in einem si 84 cheren Versteck untergebrachten Schiffe Tofirit zu sammeln und Verbündete zu finden für den Kampf gegen die Zyzzkt. Vor etwa zwei Jahren hatte er genug Treibstoff für einen Flug mit zehn Schiffen nach Nai zusammen. Und nun war er hier... Seine Zuhörer waren wie vor den Kopf geschlagen. Gisol, der Worgun, war nichts anderes als ein Rebell gegen die Unterdrücker seines Volkes. Und ein Mythos war zerstört. Der Mythos der Mysterious... 5. Die Erde hat sich nicht verändert - aber wir haben es, sinnierte Hen Falluta, seines Zeichen Erster Offizier der POINT OF, den Blick auf die holographische Bildkugel gerichtet. Mit Sicherheit haben wir das. Die jüngsten Ereignisse müssen Spuren hinterlassen haben. Die Nachdenklichkeit, die ihn beschlich, teilten viele, wenn
nicht sogar alle an Bord der POINT OF. So knapp wie diesmal war es noch nie gewesen. Vom Erfolg ihrer Mission im Milchstraßenzentrum hatte nicht nur das Schicksal der Ringraumerbesatzung, nicht nur das der Erdbewohner abgehangen - nein, diesmal war alles eine Nummer größer gewesen: Die Zukunft zweier Galaxien hatte am seidenen Faden gehangen. Milchstraße und Drakhon hätten sich um ein Haar gegenseitig ausgelöscht, mit allem darin befindlichen Leben! Es war noch einmal gutgegangen. Wenn auch nicht für alle. Die Rahim etwa hatten ihren Verrat in letzter Sekunde mit dem Tod bezahlt. Aus vermeintlichen Verbündeten waren Gegner geworden, die nur durch das Einschreiten eines fremden Ringrau-mers daran hatten gehindert werden können, sich in den Besitz der terranischen Ringschiffe zu bringen. Das explodierende Super Black Hole, von dem die tödliche Gefahr für beide Galaxien ausgegangen war, hatte die Rahim-Verräter in den Untergang gerissen. Danach aber war der unselige Anziehungseffekt, den das von den Mysterious manipulierte Schwarze Loch ausgeübt hatte, schlagartig erloschen. Drakhon war in sein angestammtes Universum zurückgekehrt. Und das Magnetfeld der Milchstraße, über Jahrhunderte von der Galaxis aus dem fremden Kontinuum und den unnatürlichen Gravitationswerten aus ihrem Zentrum malträtiert, pegelte sich ganz allmählich wieder auf Normal werte ein. Was kaum noch jemand, dem die Gefahr in ihrer vollen Tragweite bekannt gewesen war, zu hoffen gewagt hatte, war eingetre 86 ten: Normalität. Falluta seufzte. Die Milchstraßenvölker besaßen wieder eine Perspektive, eine Zukunft. Ein Kapitel war abgeschlossen, ein neues, hoffentlich freundlicheres hatte sich geöffnet. Das Leben war ständiger Veränderung unterzogen. Ohne sie gäbe es wohl auch keinen Fortschritt, kein Vorankommen, sinnierte der Mann, der gemeinsam mit dem Zweiten Offizier, Leon Bebir, in
Abwesenheit von Ren Dhark und Dan Riker die Verantwortung an Bord trug. Draußen auf dem Landefeld wimmelte es um die heimgekehrte POINT OF von Menschen und Fahrzeugen. Bevor Ren Dhark das Schiff mit unbekanntem Ziel verlassen hatte, hatte er noch eine bewegende Ansprache an die Mannschaft gehalten, hatte den Besatzungsmitgliedern für ihren Einsatz und ihr Durchhaltevermögen in den zurückliegenden schweren Wochen gedankt und ihnen erholsame Tage auf der Erde gewünscht. Und jetzt... jetzt wartete Hen Falluta darauf, daß die Stammbesatzung den wohlverdienten Urlaub auch antrat aber bislang hatte noch kein Mann, keine Frau den Fuß aus dem Schiff gesetzt. Es war, als könnten sie sich nicht trennen. Als wäre ihnen der Ringraumer mehr zur Heimat geworden als der Planet selbst, auf dem sie geboren waren... »Es geht los«, sagte Leon Bebir neben ihm. Offenbar erriet er, worum Fallutas Gedanken kreisten. »Los?« echote der Offizier. Bebir zeigte auf eine Stelle der Bildkugel, die den Außenbereich der POINT OF wiedergab. In Schleuse 2 entstand Bewegung. Zwei Gestalten sprangen auf die Piste des Raumhafens Cent Field. Es berührte Falluta auf eigentümliche Weise, daß ausgerechnet Bram Sass und Lati Oshuta den Anfang machten und den von höchster Stelle »verordneten« Landgang antraten. Die beiden Cyborgs marschierten Schulter an Schulter über die 87 Piste auf einen der bereitstehenden Gleiter zu, die Taxidienste verrichteten. Falluta wußte nicht, wer hier auf Terra auf die beiden Cyborgs wartete - ob überhaupt jemand wartete. Aber sie lieferten offenbar anderen den Anreiz, es ihnen gleichzutun. Weitere Personen lösten sich aus den Schatten der insgesamt vier Schleusen. Wie Sass und Oshuta trugen auch sie nur leichtes Gepäck bei sich, und viele von ihnen bewegten sich mit einer gewissen Verlegenheit, als wäre es ihnen nicht
wirklich angenehm, die POINT OF zu verlassen. Was rede ich mir da ein? Als Falluta nach Sass und Oshuta suchte, waren beide bereits verschwunden. Ein Schwebetaxi entfernte sich in Richtung Hauptgebäude des Raumhafens. Hen Falluta war kein Mensch mit einem Hang für Vorahnungen. Dennoch überkam ihn beim Anblick der aus dem Schiff strebenden Besatzung ein wehmütiges, fast quälendes Gefühl. Sie waren zu einer großen Familie zusammengewachsen, und mitanzusehen, wie sich diese Familie nun - zumindest vorübergehend - in alle Winde zerstreute, bereitete ihm spürbar Unbehagen... Das planmäßige Eintreffen der aus Nachwuchskräften bestehenden Bodenmannschaft lenkte ihn jedoch schon bald darauf ab. »Na, dann wollen wir mal!« Falluta klopfte Bebir auf die Schulter, und gemeinsam verließen sie die Zentrale, um den »zweiten Anzug« des Schiffes in Empfang zu nehmen und praxistauglich zu machen. Kein Gedanke mehr an Sass, Oshuta oder irgendein anderes Mitglied der Stammbesatzung. Kein Gedanke mehr daran, daß etwas die »Familie« dauerhaft sprengen könnte. Weil manche von denen, die gegangen waren, vielleicht nie mehr wiederkehren würden...
88 Frank Buscetta trat auf die mitternächtliche Straße der New Bronx und sog die salzige Luft ein, die vom Central Park und dem Atlantik herüberwehte. Nach dem Gedränge im Inneren der Halle fühlte sich Buscetta hier draußen wie von einem Druck befreit. Ein zufriedenes Lächeln umspielte seine Mundwinkel, als er über die Folientasche strich, die er unter dem Arm trug. Sie war prall voll mit Schätzen, die jedes Sammlerherz - und damit auch seines - höherschlagen lassen mußten.
Was für ein Glückspilz er war! Für einen Moment harrte er schwelgerisch vor der rostfleckigen Tür aus und nahm die Tasche in seine Hand. Die Ausbeute seines Besuchs konnte sich wahrhaftig sehen lassen. An einem weniger brisanten Ort als diesem hätte er dafür ein kleines Vermögen in Dollar hinblättern müssen hier aber, mitten im Herzen des neuen Armenviertels von New York, waren ihm die seltenen Stücke fast umsonst in den Schoß gefallen. Er drehte sich um und starrte gegen die graffitibeschmierte Rückfront der Halle, als wäre er einer der Superhelden aus den Comics, die er so leidenschaftlich sammelte, und könnte mit seinem Röntgenblick durch die Plastikbetonwand wie durch ein gläsernes Fenster hindurchblicken. Auf den armen Teufel, den er mit ein paar Scheinen glücklichgemacht hatte ohne daß dieser auch nur im entferntesten ahnte, wie glücklich er erst Buscetta mit dem Verkauf der erstaunlich guterhaltenen Comichefte aus dem späten 20. Jahrhundert gemacht hatte... Buscetta widerstand dem Verlangen, sich das Schnäppchen, das er ergattert hatte, noch einmal gleich hier, an Ort und Stelle, anzuschauen. Langsam erwachte wieder sein ausgeprägter Sinn für Vorsicht und rief ihm in Erinnerung, wo zur Hölle er sich herumtrieb. Er räusperte sich. Die zum Schneiden dicke Luft drinnen hatte sich auf seine Stimmbänder gelegt und in seiner Kleidung festgesetzt. 89 Der Dreiundzwanzigjährige lebte in einem noch recht ansehnlichen Haus in Brooklyn - das leider nicht sein eigenes war. Er wohnte dort zur Untermiete bei einem Ehepaar, für das seine verstorbene Mutter früher geputzt hatte. Seine Eltern lebten nicht mehr, sie waren in den Wirren der GiantÄra umgekommen. Er war mittelgroß, beinahe schmächtig und hatte einen ziemlich weltfremden Ausdruck auf seinem Gesicht, das immer ein wenig naiv in die Welt schaute. Seinen Lebensunterhalt (und das Geld für sein ComicHobby) verdiente er sich durch Gelegenheitsarbeiten. Er war
handwerklich sehr geschickt und fand immer mal wieder einen Job. Derzeit arbeitete er als Bürobote bei Terra-Press. Aushilfsweise, bis der festangestellte Bote wieder gesund war. Und danach? Das würde sich schon finden. Buscetta machte sich nur selten Sorgen um seine berufliche Zukunft. Irgendwie ging das Leben schon weiter, so oder so. Frank war ein Verlierer - aber kein Verlorener. Er ertränkte seinen Kummer nicht im Alkohol, er suchte auch keine Selbstbestätigung in wechselnden Frauenbekanntschaften, ja, er rauchte nicht einmal. Die einzige Sucht, der er frönte, hieß Comics, und diese Lust ließ er sich nötigenfalls etwas kosten. Nicht immer kam er wie heute mit ein paar Scheinchen davon. Ohne seinen Schatz herauszunehmen, hob er die Tasche in die Höhe, öffnete sie ein ganz klein wenig, steckte die Nase hinein und - ließ den typischen Geruch von altem Papier auf sich wirken, das noch auf traditionelle Weise bedruckt worden war, nicht vergleichbar mit den heutzutage üblichen Folien. Hier war echte Farbe zum Einsatz gekommen, Drucker schwärze, und auch das Papier selbst... heute gab es so etwas nicht mehr. Buscetta zwang sich, seine Schwärmereien zu verschieben. Er klemmte die Tasche wieder unter den Arm und tauchte mit ausgreifenden Schritten in die Schatten ein, die abseits des Torbe 90 reichs der Halle wucherten und ihn selbst zu einem Schatten machten. Nur wenige, spärlich verteilte Lampen hellten das Dunkel der Nacht auf. Buscetta tastete nach dem illegal erworbenen Paraschocker, den er eingesteckt hatte, um sich wenigstens die Illusion von Sicherheit zu erhalten. Der nächste U-Bahnhof war nur wenige Gehminuten von dem Gebäude entfernt, in dem ein permanenter Handel mit Trödel oder dem, was die Leute dafür hielten, betrieben wurde. Durch Zufall war Buscetta vor Wochen zum
erstenmal hierher gekommen - bei Tag. Und gleich bei seinem ersten Besuch hatte er das Potential erkannt, das der Markt bot. Hier boten ausschließlich Bronx-Be-wohner ihre Habseligkeiten feil. Und in aller Regel besuchten auch nur Bronx-Bewohner den chaotischen Basar. Die Kriminali tätsrate der New Bronx überstieg die aller übrigen Stadtviertel um mindestens das Dreifache. Eine Lösung der Misere oder ein Programm, das mittelfristig Abhilfe versprochen hätte, war weit und breit nicht in Sicht. Die Bewohner fühlten sich - zu Recht - von der Politik vergessen. Frank Buscetta überkam ein merkwürdiges Gefühl, während er sich all dies vor Augen hielt. Aber das Unbehagen war weniger auf sein Mitleid mit den BronxBewohnern zurückzuführen als vielmehr auf die Geräusche, die plötzlich in seiner unmittelbaren Nähe erklangen. Eine schnelle Abfolge von Schritten. Buscetta drehte sich um - und sah seinen schlimmsten Alptraum bestätigt: Eine Gruppe Halbwüchsiger hatte sich hinter ihm aus einer Seitenstraße gelöst, ihn erspäht... und augenblicklich reagiert. Kehliges, bösartiges Lachen stach wie Klingen in Buscettas Ohren. Im wabernden Licht eines nahen Feuers, vor dem ein in eine Decke gehüllter Penner stand, sah er es metallisch aufblitzen. In den Fäusten seiner Verfolger und an ihrer nietenbeschlagenen Kleidung. Neo-Rocker, dachte er erschrocken und wußte, daß er von dem 91 Mann am Feuer keine Hilfe zu erwarten hatte. Dabei trennten ihn höchstens noch hundert Schritte von der relativen Sicherheit der U-B ahnstation. Lausige hundert Schritte...! Buscetta überlegte, ob er es schaffen konnte, die Station zu erreichen, wenn er die Beine in die Hand nahm und schneller rannte als jemals zuvor in seinem Leben. Der Schocker in seiner Faust gaukelte ihm immer noch trügerische Überlegenheit vor. Und das, obwohl er sechs Kerle in schwarzer Kunstlederkluft und mit Totenköpfen auf den Schirmmützen zählte.
Er nahm allen Mut zusammen, blieb stehen, drehte sich zu ihnen um und rief: »Bleibt, wo ihr seid! Ich bin bewaffnet!« In dem Moment, als die Worte seinen Mund verlassen hatten, wußte er schon, daß er einen Fehler begangen hatte. Aber es war zu spät. Die Bande zögerte keinen Moment. Im Gegenteil. Johlend begann nun die Rocker in einen leichten Trab zu fallen. Dabei schwenkten sie die Gegenstände, die sie in den Fäusten hielten, und die dadurch besser erkennbar für Buscetta wurden. Das Blut sackte ihm in die Beine. Die Paraschocker wog plötzlich tonnenschwer und zog ihm den Arm nach unten, bis der Abstrahlpol am Ende der Mündung nicht mehr auf die Verfolger, sondern lotrecht zu Boden zeigte... Buscetta hatte plötzlich keinen Speichel mehr im Mund. Rauh wie Sandpapier fühlte sich seine Kehle an, und das Herz pochte schwerfällig wie ein ausgetrockneter Schwamm, der immer wieder von einer Faust zusammenpreßt wurde. Schwerer Fehler, dachte er. Schwerer, schwerer Fehler, Mister Buscetta... Die Stimme des vermutlichen Anführers der Bande erklang, sehr sanft, aber dennoch Unbeugsamkeit verströmend: »Laß fallen, wenn du uns nicht alle umbringen willst.« Dazu winkte er mit dem Gegenstand in seiner Hand. Die anderen schlössen sich ihm an. Demonstrativ zeigten sie ihm ihr Gegenargument zum Schocker, den Buscetta keineswegs auf tödliche 92 Dosis justiert hatte, sondern auf breiteste Fächerung, die gerade ausgereicht hätte, jeden Menschen, der davon erfaßt wurde, für ein paar Minuten zu paralysieren. Er wußte, warum er dies seit wenigen Sekunden nicht mehr in Erwägung zog. Er hatte in den Nachrichten von einer »Selbstmordclique« unter den Neos gehört, die in der New Bronx ihr Unwesen trieb und auf ebenso radikale wie ungewöhnliche Weise Raubzüge veranstaltete: Indem sie damit drohte, Thermogranaten zu zünden, falls ihre Forderungen nicht erfüllt wurden! Buscetta sah es glutrot in den Fäusten der Halbwüchsigen
leuchten - was nichts anderes bedeutete, als daß sie ihre Granaten scharfgemacht hatten und diese die Hölle entfesseln würden, wenn sie auch nur der Hand eines einzigen von ihnen entglitten. Die Zündung erfolgte bei diesem Waffentyp, sobald der Kontakt nicht mehr niedergedrückt wurde... Buscetta hatte keine Lust, im Wirkungskreis einer Mimsonne zu verpuffen - und es bedeutete für ihn keinerlei Trost, daß das Inferno auch die Täter verschlungen hätte. Nein, er war auch nicht bereit, sie auf die Probe zu stellen, wie weit sie mit ihrem perfiden Spielchen gehen würden - ob ihnen ihr eigenes Leben wirklich so wenig bedeutete, wie sie gegenüber dem Reporter von Terra-Press, der sie an einem streng geheimgehaltenen Treffpunkt interviewt hatte, behauptet hatten. Es hatte zu allen Zeiten Wahnsinnige gegeben, die vor nichts zurückschreckten. »Schon gut«, keuchte er. »Was - was wollt ihr? Bleibt stehen! Ich werfe euch zu, was ich an Barem und Kreditkarte dabei habe. Ihr braucht nicht -« Sie blieben nicht stehen. Unaufhaltsam, fast im Schlenderschritt kamen sie näher. Keinerlei Hast prägte ihren Auftritt. Sie waren von der Schlagkraft ihrer Argumente überzeugt - und reizten Buscetta damit beinahe zu einer Kurzschlußreaktion. Zeig 's ihnen, versuchte eine innere Stim 93 me, die er längst überwunden zu haben glaubte, ihn aufzustacheln. Früher hatte er öfter auf sie gehört. Aber sie hatte ihm nie - nicht ein einziges Mal - Glück gebracht. Während er resignierte und der Paraschocker seiner Hand entglitt, keuchte er: »Ihr habt euch den Falschen ausgesucht. Ich - ich bin nur ein armer Schlucker wie ihr, der -« Die Stimme des Anführers klang nun deutlich ärgerlicher, als sie ihm das Wort abschnitt. »Hör auf, uns für dumm verkaufen zu wollen. Wir haben dich beobachtet. Du bewegst dich nicht, wie einer von uns und du redest nicht so. Du hast gedacht, Gary mit einem Almosen abspeisen zu können. Aber wir mögen Gary, und
wir finden es nicht sehr nett, wie du ihn über den Tisch gezogen hast.« Gary war offenbar der Name des Mannes, von dem Buscetta den Stapel seltener Comics ergattert hatte. Noch während ihm dies klarwurde, fragte er sich, ob er von einem Händler hereingelegt worden war, der sich die Ware anschließend von seinen Gangsterfreunden wieder zurückholen ließ. Der Ärger darüber, daß es wahrscheinlich stimmte, nagte sekundenlang beinahe mehr an ihm als die fast an Hysterie grenzende Angst, die er verspürte. »Das ist ein gewaltiges Mißverständnis.« Sie hatten ihn eingeholt. Ihre Gesichter glommen dämonisch im Statusleuchten ihrer Waffen. »Was sollen wir mit ihm machen, Jungs? Sollen wir ihm eins unserer Spielzeuge in das Lügenmaul stopfen? Sollen wir ihn damit in eine bessere Welt schicken, damit aus ihm ein ehrlicherer Mensch wird?« Buscetta duckte sich unter der Bosheit dieser Drohung. Wegen ein paar Comics, rann es siedend heiß durch sein Him. Wegen ein paar beschissener Comics... »Ich... Jungs - ihr könnt alles von mir haben. Alles. Ich...« »Das wissen wir.« Aus dem Mund des Anführers, der seine Begleiter noch um Haupteslänge überragte und über zwei Meter groß sein mußte, klang dieses Zugeständnis keineswegs beruhigend. 94 »Wer sollte uns daran hindern, alles von dir zu bekommen?
Fang schon mal an, die Taschen zu leeren. Was hast du denn
Schönes zu
bieten?«
Buscetta sah keinen Sinn darin, auf Zeit zu spielen. Er wußte, daß sich keine Polizeistreife in diese Gegend verirrte. New Bronx war Niemandsland. New Bronx war gesetzesfreie Zone. Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um. Kein Hahn wird nach mir krähen, wenn ich nicht mehr zur Arbeit erscheine. Natürlich wird es auffallen. Natürlich werden ein paar Krokodilstränen vergossen - aber niemand
wird auch nur einen Finger krümmen, um mein Verschwinden aufzuklären. Ich werde eine Ziffer in einer Statistik. Nicht mehr und nicht weniger. Noch während die dumpfen Gedanken in ihm wucherten, kehrte er seine Taschen nach außen und ließ alles zu Boden fallen, was er bei sich trug. Die ID-Schlüssel seiner Wohnung eingeschlossen. »Das ist alles?« Buscetta spürte die Gefahr, die in der Enttäuschung des Bandenführers schwang. »Ich - ich habe nicht mehr mitgenommen.« »Du hattest Angst, beklaut zu werden, stimmt's?« Er nickte. Sein Blick irrte durch die Nacht. Aber weU und breit war kein anderer Passant zu sehen. Und selbst wenn jemand zufällig Zeuge des Überfalls geworden wäre, hätte er sich vermutlich davongestohlen, um nicht selbst Opfer zu werden. »Bist du reich? Irgend so ein dekadentes Arschloch, das sich gern die Gefahr um die Nase wehen läßt, weil's ihm daheim vor •dem Holoschirm zu langweilig geworden ist?« »Bewahre, nein! Ich bin nicht reich. Ich bin nur ein kleiner Hilfsarbeiter, der -« ]K »Was hältst du da unter dem Arm versteckt?« ^—' Buscetta wußte nicht, wie es hatte geschehen können, aber hatte die Tasche mit den Comics tatsächlich vergessen. »Nur ein paar Comics... ich sammle.« »Er sammelt«, verhöhnte ihn eine der anderen Gestalten. »Ist er 95 nicht niedlich?« Er trat aufBuscetta zu, lächelte ihn freundlich an - und schlug ihm ansatzlos mit der gleichen Faust, die auch die Granate hielt, in die Magengrube. Buscetta klappte zusammen wie ein Taschenmesser. Ihm wurde schwarz vor Augen, und als er wieder zu sich kam, lag er am Boden, zwischen seinen Habseligkeiten. Die Folientasche war aufgeplatzt, die Comics lagen verstreut um ihn herum. Der Kerl, der ihn geschlagen hatte, bückte sich gerade, um eines der Heftchen aufzuheben. Es war eine
Daredevil- Ausgabe. Er lachte verächtlich. »Was für ein abgefahrener Mist!« Und ein anderer fragte: »Legen wir ihn um? Ich meine wenn schon nichts zu holen ist, sollten wir wenigstens ein bißchen Spaß haben, oder?« Frank Buscetta fühlte sich, als wäre sein warmes, lebensspendendes Blut von einem Herzschlag zum nächsten durch Eiswasser ersetzt worden. In seinem Bauch bildete sich ein Knoten. Er krümmte sich. Der Schmerz, der pure Angst war, bohrte sich wie eine Messerklinge durch seine Magenwand. Sein Gedärm schien sich aufzulösen... , »Macht, was ihr wollt. Der Typ langweilt mich«, knurrte der Anführer, dessen Augen an dunkle Löcher erinnerten. In ihnen spiegelte sich nicht die leiseste Bereitschaft, Erbarmen walten zu lassen. »Danke, Boß!« Frank Buscetta verfluchte den Einfall, den Paraschocker einfach aufgegeben zu haben. Diese Verrückten waren völlig durchgedreht, bewegten und benahmen sich seltsam gespenstisch. Vielleicht standen sie unter dem unheilvollen Einfluß einer persönlichkeitsverzerrenden Synthodroge. Was immer es auch war, es würde ihn sein Leben kosten, begriff Buscetta mit einer Kälte im Herzen, die nichts mit Gleichgültigkeit zu tun hatte. Übergangslos begann er so heftig zu zittern, daß seine Zähne aufeinanderschlugen. Er war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig und bemerkte deshalb auch erst spät, daß sich jemand 96 zu ihnen gesellte. Aus einer Richtung, mit der niemand - auch er nicht - gerechnet hätte. Ausgerechnet der Penner in Hut und Mantel hatte sein wärmendes Feuer verlassen und tauchte wie ein Spuk im Rücken der Bande auf. Die ihn erst bemerkte, als er bereits - einschritt.
Warnungslos.
Buscetta gab einen erstickten Laut unsagbarer Verblüffung
von sich, und letztlich war diese Reaktion es, welche die
Aufmerksamkeit der Neo-Rocker erst auf den unerwarteten »Besuch« lenkte. Jemand schrie: »Verdufte, Alter! Du willst doch nicht, daß wir dich -« Weiter kam er nicht. Die Luft blieb ihm weg. Vor Staunen. Denn der vermeintliche Penner entledigte sich gerade mit einer unglaublichen Abfolge von raubtierhaft geschmeidigen Bewegungen seiner vermummenden Kleidung. Für einen Moment sah es aus, als stünde trotz der klobigen Figur ein Künstler auf einer Bühne vor seinem Publikum und zelebriere einen Auftritt. Der Umhang war wie ein Vorhang zu Boden gefallen. Bedrohlich spiegelte sich der Schein der Flammen, die aus der einen Steinwurf entfernten Blechtonne züngelten, auf dem muskelbepackten Körper des Unheimlichen, der nur den Bruchteil einer Sekunde innehielt, bevor er sich in ein Phantom verwandelte! In einen fleischgewordenen Racheengel! Seine Haut, dachte Buscetta, der immer noch zwischen seinen Comics saß, unfähig sich zu erheben, unfähig, einen Fluchtversuch zu starten. Seine ...Haut...! Aber es war nicht nur der Grünschimmer der Haut, die Buscetta gleichermaßen faszinierte wie abstieß, der Unbekannte wirkte insgesamt unmenschlich - wie ein der Phantasie entsprungenes Ungeheuer! Der Phantasie... Buscetta wußte nicht, warum ihn ausgerechnet 97 dieser Begriff in seinem Innersten dermaßen aufwühlte. Aber da war dieses Gefühl, diese Ahnung, den Fremden; der nicht nur wie eine Monstrosität aussah, sondern auch wie ein Berserker wütete, zu kennen. Jet^t dreh nicht völlig durch... Aber es war zum Überschnappen! Es erinnerte an einen Traum. Weder die Rasanz der Bewegungen des Grünen noch seine Durchschlagskraft wirkten real. Es konnte nur ein -
- Traum sein? Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als in der Hand eines der Neos ein Messer aufblitzte - eine häßlich gezackte Klinge, deren Stahl ebensowenig ein Gewissen besaß wie der Bursche, der sie ohne Zögern gegen den Grünen führte. Der davon auch überrascht wurde, nicht mehr völlig ausweichen konnte. Buscetta sah, wie sich die Waffe in die rechte Brustseite bohrte und dort bis zum Heft verschwand. Einen Moment erstarrte die Szene - dann rammte der Grüne dem Rocker die Faust ins Gesicht, und dieser wurde von der Wucht meterweit nach hinten getrieben. Da er das Messer immer noch umklammert hielt, nahm er es mit. Frank Buscetta blinzelte. Nein, dachte er, das - kann nicht sein. Die Klinge kann nicht... sauber sein... kein Tropfen Blut...?! Sein irrender Blick blieb urplötzlich an einem der Comics auf dem Boden haften. Und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Das ist irre! Absoluter Wahnsinn...! Natürlich war es Wahnsinn, an einen lebendiggewordenen Superhelden zu glauben, der einen schwachen Menschen in einer dunklen Straße der New Bronx davor bewahren wollte, Opfer einer durchgeknallten Straßenbande zu werden. Trotzdem... dieses Konterfei auf dem kolorierten Titel des antiquarischen Heftes, das da im Schmutz der Straße lag - es hatte eine geradezu frappie 98 rende Ähnlichkeit mit dem wild um sich dreschenden, hünenhaften Grünen, den auch die Thermogranaten in den Fäusten der Neo-Rocker nicht zu schrecken schienen, nicht eine Sekunde zögern ließen, die Bande mit bloßen Fäusten förmlich zu zerlegen! Noch während Buscettas Augen gebannt auf dem Magazin ruhten, schlitterte wie auf Stichwort eine der Granaten über den Boden und kam nur wenige Zentimeter von der grünen Fratze des HULK zur Ruhe. Der grüne Hulk...
... war dann auch Frank Buscettas letzter Gedanke - bevor der tückische Sprengsatz explodierte. Gordon Savage leitete das 63. Revier nicht, er litt es regelrecht. Hier in der New Bronx galt das Gesetz der Straße - das eigentliche Gesetz existierte nur auf dem Papier, und alle bisherigen Bemühungen, daran etwas zu ändern, mußten als gescheitert betrachtet werden. Selbst die hohe Politik schien sich damit längst abgefunden zu haben. Savage mangelte es an Leuten, an Ausrüstung und an... Motivation. Wer immer im 63. landete, der betrachtete seine Versetzung als Strafe, nicht als Chance zur Auszeichnung. Und wenn Savage ehrlich war, mußte er sich eingestehen, daß er selbst sich von dieser ungesunden Einschätzung nicht ausnahm. Er beneidete ranggleiche Kollegen um deren Reviere. New York war nach der Giant-Ära auferstanden wie Phönix aus der Asche. Architekten hatten ihr Möglichstes getan, um den verlorenen Glanz des Big Apple wieder neu erstrahlen zu lassen -aber auch die engagiertesten Stadtplaner hatten nicht verhindern können, daß neue Armen viertel entstanden. Und die New Bronx war das gefürchtetste Pflaster von allen. Mord und Totschlag waren an der Tagesordnung. Einmal mehr bewies der Mensch, daß er sich selbst der größte Wolf war... Savage verfolgte gerade zusammen mit Ned Baxter, einem seiner Sergeants, am Holoschirm das Baseballspiel der N.Y. Yankees gegen die Boston Red Socks, als er tumultartigen Lärm von draußen aus der Wachstube hörte. »Sieh mal nach, Ned, was da los ist.« Savage machte sich nicht einmal die Mühe, die Dose alkoholfreies Bier beim Sprechen vom Mund zu nehmen. Über den Rand des im Nostalgielook gefertigten Behältnisses hinweg zwinkerte er dem Sergeant zu, der murrend aufstand und dem Befehl folgte. Daß es ein Befehl war, hatte er trotz des schnoddrigen Tonfalls klar erkannt. Er verließ den Raum - und kehrten zwei Minuten später mit einem breiten Grinsen auf den Lippen zurück. »Das solltest du dir nicht entgehen lassen, Chef«, sagte er.
»Was?« »Den Spinner«, antwortete Sergeant Baxter ebenso lapidar wie rigoros. Gordon Savage fluchte und stand auf. Frank Buscetta wußte später nicht mehr, wie er zur Polizeistation gelangt war, zu Fuß mitten durch die Bronx. Er hätte auch nicht sagen können, wie lange er unterwegs gewesen war, bis endlich das Leuchtemblem des Reviers in der Nacht auftauchte und er über die Kontrollschranke stolperte, hinter der ihn zunächst eine seelenlose Automatenstimme mit den Worten empfing: »Weisen Sie sich aus, Bürger. Und dann erläutern Sie den Grund Ihres Be suchs.« Die Worte ernüchterten ihn schlagartig, und er kramte seine Ausweiskarte hervor, die er gegen das rot markierte Lesegerät preßte. »Frank Salvatore Buscetta, geboren 23. April 2035, wohnhaft Brooklyn Heights...« »Ja, ja, ja!« fiel Buscetta dem stoischen Robot ins Wort. »Ich 101
ich bin gekommen, um einen Überfall zu melden! Herrgott,
man wollte mich kaltmachen, und wäre dieser... dieser Kerl
nicht gewesen, dann...«
»Beruhigen Sie sich. Ihre Vitalwerte geben Anlaß zur Besorgnis. Ihr Blutdruck ist viel zu hoch. Sie gefährden -« »Mistiger Schrotthaufen!« Buscetta trat voller Zorn gegen die Blechverkleidung des Automaten. Und brachte diesen damit wider Erwarten zum Verstummen. Statt seiner ertönte plötzlich eine andere Stimme, so emotionsgeladen, daß sie nur einem Menschen aus Fleisch und Blut gehören konnte. »Sie machen sich durch Ihr Verhalten strafbar gemäß Paragraph 269, Abschnitt 3, >Beschädigung von öffentlichem Eigentum<. Heben Sie jetzt die Hände und unterlassen Sie verdächtige Bewegungen. Sie werden von einem gesundheitlich unbedenklichen Energiefeld auf Waffen
durchleuchtet. Legen Sie alles, was Sie an losen Teilen bei sich tragen, in das vor Ihnen befindliche Fach.« Buscetta fühlte, wie sein Blutdruck noch mehr in die Höhe schnellte. Es mißfiel ihm nicht nur, daß er unversehens selbst wie ein Verbrecher behandelt wurde, obwohl er eigentlich nur Anzeige gegen die Bande hatte erstatten wollen, die ihm nahe der Markthalle aufgelauert hatte, nein, es kotzte ihn an! Dennoch legte er die zusammengerafften Comics, den Woh nungsschlüssel, den Ausweis und ein paar andere Dinge wie befohlen in das Fach. Noch während er damit beschäftigt war, rieselte Schwachstrom durch seinen Körper, und kurz leuchtete er grün auf. So grün wie... Die massiv zurückkehrende Erinnerung ließ ihn schwanken. Seine Hand suchte nach Halt. Der Automat mißverstand es als angriffsähnliche Reaktion und versetzte ihm einen hochvoltigen Schlag. Buscetta schrie protestierend auf und ballte die Hand, die er sich »verbrannt« hatte, zur Faust. Noch während er sie drohend 102 schwenkte, öffnete sich links von ihm ein tunnelartiger Durchgang, in dem ein uniformierter Polizist, breit wie ein Schrank auftauchte, und einen Paralysator auf ihn richtete. Da Buscetta entschied, genug durchgeschüttelt worden zu sein, zwang er sich trotz seines Ärgers zur Besonnenheit. Langsam und beschwichtigend hob er die Hände. »Schon gut, das ist ein Mißverständnis. Ich bin das Opfer. Ich wurde überfallen und möchte Anzeige erstatten...« Minuten später fand Buscetta sich in einem Büro wieder, umgeben von abschätzig blickenden Cops, die ihn aufforderten, konkret zu werden. Und Buscetta erzählte. So wahrheitsgetreu wie möglich. Von den Neos. Von dem grünhäutigen Monster, dem er sein Leben zu verdanken hatte - von der explodierenden Granate... die sich als Attrappe erwiesen hatte, als harmloser Knallfrosch... und davon, wie der unheimliche Fremde sich einfach davongestohlen hatte, ohne ihm weiter Beachtung zu schenken, nachdem er sämtliche Rocker mit seinen bloßen
Fäusten niedergeschlagen und ins Reich der Träume geschickt hatte. »Wenn ihr euch beeilt«, schloß er, »könnt ihr die Typen einfach einsammeln, bevor sie wieder zu sich kommen.« Er blickte von Gesicht zu Gesicht. Die Polizisten nickten ernst, doch dann zwinkerte einer den Kollegen zu - und plötzlich verfielen alle in prustendes Gelächter. Buscetta spürte, wie es ihm heiß die Speiseröhre aufwärts rann. Sodbrennen. Wenn er eines haßte, dann, nicht emstgenommen zu werden. Besonders, wenn es um todernste Dinge ging - wie jetzt. Eine Nebentür öffnete sich, und ein weiterer Cop schaute herein. Er ließ sich berichten, worum es ging, griente und verschwand kurz. Aber nur, um in Gesellschaft eines weiteren, nachlässig gekleideten Cops wiederzukommen. Schlagartig wurde es still. »Sir...«, setzte Buscetta an, zwischen Hilflosigkeit und Ver 103 zweiflung schwankend. »Sir, ich...« »Sie sind also der Spinner«, stoppte ihn der Revierleiter der sich sofort als solcher zu erkennen gab. Und sich Buscettas Geschichte noch einmal von ganz vom erzählen ließ. »Ich weiß, daß es unglaubwürdig klingt«, endete Buscetta diesmal vorbeugend, »aber ich schwöre, es ist die volle Wahrheit. Der Grüne existiert. Sie haben mich untersucht ich habe keine verbotenen Stoffe konsumiert, nicht mal Alkohol. Und ich leide nicht unter Halluzinationen! An Ihrer Stelle würde ich vielleicht ähnlich reagieren, aber... er war da. Und er besitzt übermenschliche Kraft. Er ist fast unverletzbar. Er blutete nicht mal, als das Messer ihn traf. Er -« Einer der Beamten griff mit hochrotem Gesicht in eine Schublade und stemmte schließlich einen Stapel Papiere auf den Tisch, vor dem Buscetta Platz genommen hatte. Der Comicsammler erkannte seinen »Schatz«, den er in der Schleuse hatte abgeben müssen, sofort wieder.
Ein bestimmtes Heft wechselte zu dem Revierleiter, der es kurz ansah - und dann Buscetta herausfordernd entgegenhielt. »Mag sein, daß Sie nicht halluzinieren, Mister. Aber wenn ich sagte, daß Ihre Phantasie mit Ihnen durchgegangen ist würden Sie dem ebenfalls widersprechen?« Frank Buscetta sah ein, daß es keinen Zweck hatte. Kleinlaut schüttelte er den Kopf, einzig um Schadensbegrenzung bemüht. Er wollte nur noch nach Hause. Der Ausblick auf die nebelverhangenen Gebirgsgiganten war noch genau so atemberaubend wie am allerersten Tag: Aus 3200 Metern hatte es den Anschein, als befände man sich nicht nur dem Himmel verflucht nahe, sondern als gäbe es nirgendwo auf dem Planeten den kleinsten Mißton, weder Lärm, noch Hektik, noch... Gewalt. 104 Ein frommer Wunsch, dachte Ember To Yukan, der wußte, wie trügerisch der Friede war, den die Abgeschiedenheit des Himalaja vorgaukelte. Hier im Brana-Tal, wo die von Echri Ezbal gegründete Entwicklungsstation der Cyborgs lag, die Wiege der »Übermenschen« und - ihre Schule. To Yukan war einer der Ausbilder, ein erfahrener, introvertierter Mann, in dessen eisgrauen Augen sich die Weisheit eines Uralten zu spiegeln schien - obwohl er gerade mal ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel hatte. To Yukan war stolz auf seine Selbstdisziplin und erwartete sie auch von seinen Schülern. Gleichwohl war er auch in der Lage, tiefes Verständnis für die Sorgen und Nöte der ihm Anvertrauten zu entwickeln - bei denen es sich ja nicht um normale Menschen handelte. Entsprechend ungewöhnlich waren mitunter die Probleme, unter denen sie litten. Ihnen zu helfen, einen Weg zu finden, sich selbst zu akzeptieren, obwohl sie von vielen Terranem wie die Attraktionen eines Kuriositätenkabinetts bestaunt wurden, erforderte ein Maß an Sensibilität und eine unkonventionelle Denkweise, die nicht erlernbar war. Entweder man hatte die Begabung, mit »Übermenschen« umzugehen, die einen ständigen »Tanz auf
der Rasierklinge« vollführten, oder man hatte sie nicht. Ember To Yukan besaß sie. Das war nicht seine eigene Einschätzung, sondern das Urteil all derer, die er bislang unter seine Fittiche genommen und gedrillt hatte. Er war beliebt. Wenn Echri Ezbal die Seele der Station war, ' dann war Ember To Yukan ihr Herz... Unter der Goldbräune seiner Gesichtshaut zeichneten sich unzählige winzige Narben ab, die an die Oberfläche eines kraterübersäten Mondes erinnerten. Aber sie waren nur aus nächster Nähe erkennbar und harmonierten auf schwer beschreibliche Weise mit der hageren Physiognomie, mit der Hakennase und dem schmal-lippigen Mund. To Yukan war eine charismatische Erscheinung. Und jetzt war er nachdenklich. Weil er es nicht gewohnt war, 105 daß man ihn warten ließ. Nicht so lange, wie Rok Nassis es nun schon tat. Sie hatten eine Verabredung, einen Termin, dem sich auch bereits voll ausgebildete Cyborgs in festgelegten Zeitabständen stellen mußten. Die Nachkontrolle sozusagen. Ein Verfahren, das sich bewährt hatte; nicht nur, weil es durch gezielte Fragen dazu diente, das Persönlichkeitsprofil eines Cyborgs auf mögliche negative Veränderungen hin zu durchleuchten, nein, aus der späteren Auswertung ergaben sich auch immer wieder Anhaltspunkte, um das Ausbildungsprogramm selbst zu optimieren. To Yukan warf einen Blick auf das Chrono an seinem Handgelenk. Zwanzig Minuten Verspätung waren kein unentschuldbares Vergehen - aber sie waren, gerade für Rok Nassis, höchst ungewöhnlich. Noch einmal ließ To Yukan seinen Blick über die schneebe deckten Flanken der Achttausender schweifen, von denen das Brana-Tal wie von den Palisaden einer Festung umgeben war. Er konnte sich nicht vorstellen, daß es einen gewaltigeren Gebirgszug als den Himalaja gab - und doch wußte er, daß er sich irrte. Hier auf Terra hätte er vergeblich danach gesucht, aber viele Lichtjahre von Terra entfernt
existierte eine Welt namens Mounts. Ein Planet, dessen Berggiganten selbst den Mount Everest spielend in den Schatten stellten. To Yukan lächelte grimmig. Es gab immer irgendwo etwas noch Mächtigeres. Besonders dort draußen... Sein Blick richtete sich fast senkrecht nach oben. ... gab es noch so vieles zu entdecken, und etliches davon würde den Menschen wahrscheinlich nicht gefallen. Und wenn schon, dachte er. Was dort draußen auch immer sein mag, dort, wohin wir noch nicht gelangt sind oder blicken konnten, es wird uns stärken, nicht schwächen. Es wird uns helfen, uns weiterzuentwickeln. Uns Terraner als... Mitglied im Reigen der kosmischen Völker. Er gab sich einen Ruck und kehrte in sein Büro zurück. Während 106 er die Tür zu dem kleinen, terrassenartigen Vorbau verschloß, von dem aus er die imposante Kulisse bewundert und die dünne Luft geatmet hatte, reifte der Entschluß in ihm, Rok Nassis zu kontaktieren. Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch und aktivierte das Vi-phogerät, tippte Nassis' Kode ein. Keine Antwort. Anhand der Anzeigen erkannte Ember To Yukan, daß das Gegengerät nicht einmal empfangsbereit war. Dies beunruhigte ihn wesentlich mehr als die verzeihliche Verspätung des Cyborgs. To Yukan handelte bei aller Sorge routiniert und besonnen. Seine Vollmachten reichten aus, sich binnen weniger Minuten einen Überblick über Rok Nassis' Aktivitäten an diesem Tag zu verschaffen. Demnach hatte der Cyborg die Transmitterverbin-dung zwischen Alamo Gordo, seinem letzten Aufenthaltsort, und Katmandu noch benutzt, den dort für ihn reservierten Jett jedoch bis zur Stunde nicht in Anspruch genommen. Ein Mitarbeiter To Yukans hatte die Route für den Cyborg ausgearbeitet, da dringende Wartungsarbeiten die Nutzung des Trans-mitters im Brana-Tal verboten. Aber von Katmandu aus, der nächstgelegenen Station, benötigte ein
schnelles Fahrzeug nur wenige Minuten, um die verbleibende Distanz zu überbrücken... Ember To Yukan zwang sich, dem Vorfall noch keine allzugroße Bedeutung beizumessen. Seine Überlegungen bezüglich Rok Nassis beschränkten sich zunächst nur darauf, wie er disziplinarisch auf dessen eigenmächtiges Handeln reagieren sollte. Als 24 Stunden später immer noch keine Hinweise auf den Verbleib des Cyborgs eintrafen, erwachte dann doch mehr und mehr die Sorge in Ember To Yukan. War Rok Nassis vielleicht doch etwas zugestoßen? Ihm, einem Cyborg, dem eigentlich kaum etwas zustoßen konnte? Letztlich war es die Einschränkung »kaum«, die To Yukan handeln ließ. Er löste die Fahndung nach dem Vermißten aus. 107 6. Er erwachte durch vieltausendstimmigen Lärm, der auf und ab schwoll. Mark Carrell blinzelte irritiert, und es dauerte Sekunden, bis er sich einigermaßen zurechtfand. Bis er begriff, wo er sich überhaupt aufhielt: in seinem Bungalow am Rand von Alamo Gordo. Es war die dem Raumhafen entgegengesetzte Peripherie, so daß der Ausblick von der Terrasse gewollt nicht auf gelandete Schiffe, uniformierte Patrouillen und schwerbewaffnete Militäranlagen fiel. / In seiner karg bemessenen Freizeit wollte Carrell abschalten. In seiner kargen Freizeit wollte er sich der Illusion hingeben, ein ganz normaler Mensch zu sein... Was, zur Hölle, geht da draußen vor? Obwohl er sich unerklärlich schlecht fühlte, war er rasch auf den Beinen, schlüpfte in Hemd und Hose und war bereits eine Minute später auf der Straße, von wo der unglaubliche Lärm k zu ihm dröhnte. Hilflos, fassungslos stand er dann im Vorgarten des Bungalows und drehte sich zeitlupenhaft um seine eigene
Achse, während seine Handflächen wie von selbst den Weg zu den Ohren fanden und sich fest dagegen preßten, ohne daß das Schreien und Brüllen auch nur einen Deut schwächer wurde. Es war früher Morgen, die Sonne lugte gerade mal zur Hälfte über den Horizont, und das Bild der Vorstadt, das sich Carrells Auge bot, suggerierte nur eines: Schläfrigkeit. Der Cyborg war weit und breit der einzige, der sich vor seinem Haus zeigte. Wahrscheinlich saßen die meisten noch daheim in ihren vier Wänden, am Frühstückstisch oder vor dem Holoschirm, um die Morgennachrichten zu verfolgen... Womit auch immer sie gerade beschäftigt waren oder ob sie einfach noch in ihren Betten lagen, jedenfalls gab es keine Spur von der Meute, deren Stimmgewalt in Carrells Schädel pochte 108 immer noch anschwellend, selbst jetzt noch, da seine Augen den vermeintlichen Aufmarsch längst als Irrtum entlarvt hatten. Als... Halluzination. Besorgt löste Carrell seine Hände von den Ohren und wischte sich über das Gesicht, das schweißnaß war. Dabei merkte er, daß erzitterte. Immer fassungsloser horchte er in sich hinein, fand eindeutige Anzeichen von enormem Streß, vergleichbar fast mit der Anspannung während eines Kampfeinsatzes... Es war zum aus der Haut fahren. Es... 0 mein Gott...! Obwohl gar nicht anders erklärlich, traf Carrell die Erkenntnis, woher der Lärm kam, der ihm fast den Verstand raubte, mit der Wucht einer Titanenfaust. 0 - mein - Gott - ! Es gab nur eine Möglichkeit, dem drohenden Irrsinn zu entrinnen - und die nahm er wahr. »Mark...«
»Ich danke Ihnen, Echri, daß Sie mich sofort empfangen
haben.« Echri Ezbal, der Mann, der die Cyborgs »erfunden« hatte, erkannte sofort, in welchem Zustand sich Mark Carrell, Cyborg der zweiten Generation, befand. Er hatte auf sein Zweites System umgeschaltet und die Steuerung seines Körpers dem implantierten kybernetischen Programmhim übertragen. Ein Vorgang, wie er anläßlich eines Besuchs absolut ungewöhnlich war. Ezbal deutete in Richtung der kleinen Sitzecke, die vor einem Panoramafenster seines Arbeitstraktes aufgestellt war. Gleichzeitig erhob er sich hinter seinem Schreibtisch und schritt selbst darauf zu. Dem Hundertjährigen war seine Verblüffung nicht anzumer 109 ken. Carrell folgte ihm mit geschmeidigen Bewegungen. Sein Körper war eine Waffe und strahlte eine unbeugsame Strenge aus, vor der einige Personen auf seinem Weg von Alamo Gordo ins Himalaja-Gebirge regelrecht zurückgeprallt waren. Nicht soEzbal. Er hatte sich auf die Rolle des gespannten Beobachters zurückgezogen. Seine vergeistigt wirkende Miene verriet nichts über Sorgen oder gar Ängste, die ihn beim Anblick des Cyborgs befielen. Und doch, wenn er ehrlich gegenüber sich selbst war... beschlich ihn in Carrells Gegenwart ein Gefühl flatterhafter Unruhe, wie er es längst überwunden geglaubt hatte. Sein Blick senkte sich in die wachen, gleichzeitig aber wie toten Augen des Cyborgs, der umgeschaltet einem Roboter ähnlicher denn einem Menschen war. Eine bizarre Ausgangsposition für ein Gespräch. Ezbal wartete, bis der Cyborg ebenfalls Platz auf dem Sitzmöbel genommen hatte. Dann fragte er in bemüht sachlichem Ton: »Worum geht es, Mark?« »Sie haben es natürlich erkannt«, erwiderte der Cyborg, der seinerzeit als erster statt des vormals üblichen Adhesivs zur Bindung sämtlicher Körperflüssigkeiten und Gase das im
404-System entdeckte Phant-Virus erhalten hatte, das diese Funktion noch weitaus perfekter erfüllte. Beides, Adhesiv und Virus, machte es erst möglich, Menschen in Cyborgs zu verwandeln, ihre Körperflüssigkeiten und -gase nach Bedarf zu binden und ihren Körpern dadurch eine bis dahin nicht für möglich gehaltene Widerstandskraft und Stärke zu verleihen. Selbst zeitlich eng begrenzte Einsätze in der Lebensfeindlichkeit des Weltraums lagen damit im Bereich des Möglichen - ohne Schutzanzug! »Sie haben auf Ihr Zweites System geschaltet.« »Korrekt.« »Weshalb, wenn ich fragen darf?« Mark Carrell nickte kaum merklich. Sein sensibel geschnittenes 110 Gesicht blieb weiterhin fast teilnahmslos. Selbst die Augen ließen jenen Funken vermissen, den Echri Ezbal an Carrell neben dessen sonstigen Qualitäten - schätzen gelernt hatte: Witz. Esprit. »Ich stecke in einer Zwickmühle.« »Welcher Art?« »Etwas ist anders geworden. Mit mir.« »Und was konkret heißt das? Haben Sie... psychische Pro-' bleme?« »Noch nicht.« »Noch nicht? Mark - ich schätze Sie, und das wissen Sie sicherlich auch, aber...« »Es ist nicht so einfach.« »Zu erklären?« Carrell nickte. »Nicht einmal in dem nüchternen Zustand, in dem Sie sich gerade befinden - von purer Logik beherrscht?« Echri Ezbal machte aus seiner Verwunderung keinen Hehl. Gleichzeitig spürte er die wachsende Verunsicherung. Mark Carrells Verhalten war ein Präzedenzfall. Ezbal hatte immer befürchtet, eines Tages mit einer Situation konfrontiert zu werden, die ihn überforderte. Einem Cy borgproblem, das sich nicht auf rein biologisch-technischer Ebene lösen ließ. Aber er hatte keine Idee gehabt, welcher
Art genau die Problematik sein würde. War der gefürchtete Moment jetzt gekommen? »Das Programmgehim ist mein letzter Anker«, gestand Carrell mit leiser Stimme ein. »Ohne diese Möglichkeit hätte ich vielleicht schon den Verstand verloren.« Echri Ezbal betrachtete den Cyborg immer alarmierter. »Sie können über alles mit mir reden. Und wenn ich alles sage, meine ich das auch. Haben Sie Vertrauen, Mark.« »Ich habe Vertrauen - sonst wäre ich nicht unverzüglich hergekommen. Aber ich fürchte, auch Sie werden mir nicht helfen können. Es ist zu... absurd.« 111 »Was?« Eine Weile blickte Carrell seinen Mentor, der ihm stets eine Vertrauensperson gewesen war, nur stumm an, die Lippen strichdünn aufeinandergepreßt. Dann holte er tief Luft und fragte: »Die Phant-Viren sind nicht telepathisch, oder?« »Telepathisch?« Ezbal Verständnislosigkeit wurde durch die kryptischen Sätze Carrells nicht geringer. Der Cyborg nickte. »Ich bin heute morgen aufgewacht und... » Er zögerte. Selbst in diesem Zustand fiel es ihm schwer, darüber zu sprechen. Ezbal fröstelte plötzlich, als hätte ihn ein kalter Windhauch gestreift. »Und?« »... und hatte Stimmen in meinem Kopf. Fremde Stimmen. Hunderte. Tausende.« »Mark, Sie machen es mir sehr schwer, Ihren Ausführungen zu folgen. Vielleicht schalten Sie ja doch wieder zurück und reden mit mir als -« Er stockte, als hätte er sich selbst bei etwas ertappt. »Als Mensch?« Mark Carrells Züge verzerrten. Sein Gesicht war plötzlich schweißgebadet. In seinen Augen wucherte Schmerz. Tobte... Angst. Er hatte das Zweite System deaktiviert - und die persönlichen Folgen für ihn waren schrecklich. Echri Ezbal stemmte sich von seinem Sitz hoch. »Ich alarmiere sofort die Mediziner...«
Carrell schoß ebenfalls nach oben, trat einen Schritt vor und baute sich vor Ezbal auf. Nicht drohend, aber absolut bestimmt sagte er: »Nein - noch nicht. Warten Sie. Ich... ich wollte Ihnen nur zeigen, was es... aus mir macht. Ich - ich rette mich jetzt wieder ins Zweite System. Aber... lange werde ich auch das nicht durchhalten. Das wissen Sie selbst am besten...« Seine Züge lockerten sich, die namenlose Furcht, das Entsetzen über sich selbst - über das, was in ihm wütete wich so jäh, wie er 112 sich davon hatte zeichnen lassen. Ezbal machte keine Anstalten, sich wieder zu setzen. »Was sind das für Stimmen, die Sie zu hören glauben?« »Nicht glauben...« Carrell schüttelte den immer noch schweißnassen Kopf. »Ich höre sie. Nicht mit meinen Ohren, wie ich ganz zu Anfang dachte. Nein, sie schreien in meinem Schädel. In meinem Hirn. Deshalb meine Frage nach den Viren. Offenbar wurde es nie bemerkt, daß sie in der Lage sind, telepathische Fähigkeiten zu manifestieren. Oder latent vorhandene Gaben zu fördern... aber bei mir ist es erwacht. Ich kann Gedanken lesen... falsch: Ich muß Gedanken lesen! Denn ich kann es nicht einfach abschalten - es sei denn, ich flüchte ins Zweite System. Im Normalzustand aber... ist es nicht zu stoppen. Zumindest weiß ich nicht, wie! Sagen Sie es mir - oder beenden Sie es! Sie sind der Mann, der die größte Erfahrung damit hat, über das gesammelte Wissen aus allen Studien über... meinesgleichen verfügt. Stellen Sie es ab! Sonst -« »Sonst was?« hörte Ezbal sich fast wider Willen fragen. »- töte ich mich.« Sonst töte ich mich! Das wahre Ausmaß von Mark Carrells Verzweiflung hätte durch nichts deutlicher gemacht werden können als durch diese Ankündigung. »Das wäre die schlechteste aller Lösungen.«
»Bieten Sie mir eine Alternative.«
Ezbal streckte beide Hände aus und öffnete sie, als wollte er demonstrieren, daß er alles Menschenmögliche tun würde sobald er Carrells Problem erst einmal selbst verinnerlicht und begriffen hatte. Es fiel schwer. Telepathische Viren? Ein Cyborg, der ohne erkennbaren Anlaß, über Nacht quasi, zum Telepathen mutierte...? 113 Kaum einer kannte die Eigenschaften der Phant-Viren aus dem 404-System so gut wie Ezbal. Daß sie für Carrells ungewöhnliches Dilemma verantwortlich sein sollten, war zwar nicht auszuschließen, für wahrscheinlich erachtete er es nicht. Nein? Er zwang sich zur Objektivität. »Ich kümmere mich sofort darum. Haben Sie Vertrauen, Mark. Was passiert, wenn Sie das Zweite System ausblenden? Wie genau hören Sie die Stimmen, die Gedanken anderer Menschen Ihrer Umgebung? Verstehen Sie sie - oder ist es nur ein permanentes, Ihre eigenen Gedanken zerschlagendes Rauschen und Dröhnen im Hintergrund?« »Es ist unterschiedlich. Wenn ich jemandem sehr nahe komme, überlagern seine Gedanken alle anderen - und ich kann sie verstehen. Sie sind meist konfus, aber ihre Inhalte erschließen sich mir, sobald ich mich auf ein bestimmtes Muster konzentriere.« »Geben Sie mir eine Demonstration.« »Ich soll...?« »Ich bitte Sie, sich kurz auf mich zu konzentrieren, ja. Danach schalten Sie sofort wieder um.« Carrell zögerte merklich. »Ich erlaube es Ihnen, Mark.« Der Cyborg gab sich einen Ruck. »Okay.« Wieder veränderte sich seine Mimik. Sein ganzer Körper wirkte angespannt, als er sich dem Einfluß dessen aussetzte, was er gerade beschrieben hatte. Echri Ezbal schloß die Augen und dachte: Ich würde Ihnen nie Schaden zufügen wollen, Mark. Sofort nach den Tests, die
ich mit Ihnen durchführe, werde ich Sie, mit Ihrem Einverständnis, in ein künstliches Koma versetzen, aus dem ich Sie erst wieder erwecke, wenn ich hinter die Ursache Ihrer Veränderung gekommen bin. Und jetzt... sagen Sie laut, was ich gerade gedacht habe. Mark Carrell wiederholte Echri Ezbals gedankliche Ausführung fast wortgetreu. 114 Der alte Mann nickte. »Es war gut, daß Sie sofort zu mir ge kommen sind. Begleiten Sie mich jetzt in die Labors. Wir besitzen Aufzeichnungen über jedes genetische Detail Ihres Körpers, wir wissen, wie das EEG Ihres Gehirns aussieht... falls sich etwas verändert hat, werden wir es schnell finden.« Er versuchte, größtmögliche Zuversicht auszustrahlen. Doch als er Mark Carrell in die Augen schaute, begriff er, daß er dem telepathisch gewordenen Cyborg nichts vormachen konnte. Er liest in mir wie in einem aufgeschlagenen Buch... Eine beängstigende Erkenntnis. Ezbal wartete, bis Carrell auf das Zweite System geschaltet hatte. Dann verließen sie Seite an Seite das Büro - zwei Männer, die einander fremd geworden waren. Der Monsun hatte pünktlich eingesetzt, doch die Gruppe um Krischnan Prasad ließ sich davon nicht aufhalten. Der Jogi steuerte den uralten Jeep persönlich, halb erdrückt sowohl von den drei Pilgern, die sich auf dem Beifahrersitz drängten, als auch von den sechs hinten im Fond. Zu zehnt hatten sie sich in das einzige Gefährt gequetscht, dessen sie hatten habhaft werden können, und nun schwankte und schaukelte es entlang der engen Paßstraße, während der Regen auf das Dach trommelte und die fast gummilosen Wischer wie knochige Finger über die Frontscheibe schabten. Trotz der strapaziösen Enge übertönten frohe Stimmen das Prasseln des Regens. Weder der Anführer der Pilgerschar, die zu einem abgelegenen Kloster im Himalaja unterwegs war, noch die anderen Teilnehmer des Unternehmens zweifelten auch nur eine Sekunde daran, daß ihre
Unternehmung unter einem guten Stern stand - Regen hin, Regen her. Sie alle waren tiefgläubig, vertrauten ihrer Religion, die ihr Leben war und beschritten den edlen achtfachen Pfad, der hin zur Erleuchtung führen sollte. Gemeinsam wollten sie in der Abgeschiedenheit des Klosters die rechte Anschauung, das rechte Wollen, rechte Reden, rechte Tun, rechte Leben, rechte Streben, rechte Denken und rechte Sichversenken perfektionieren. Krischnan Pra-sad war ihr geistiger Führer, dem sie seit langem folgten. Katmandu war hinter ihnen verschwunden, und nicht einmal mehr die wenigen Hochhäuser der einzigen - dafür riesigen Stadt weit und breit waren durch den Vorhang aus stetig vom Himmel fallendem Wasser länger zu sehen. Unverzagt holperte der Geländewagen über die durchlöcherte Piste, die sich serpentinenartig durch das Hochgebirge wand. Da die Pilger über so gut wie keine irdischen Güter verfügten, hatten sie sich selbst dieses Fahrzeug zusammenbetteln müssen. Ein Schwebegleiter, der sie in einem Bruchteil der Zeit und auch wesentlich sicherer zu ihrem Ziel gebracht hätte, lag außerhalb ihrer finanziellen Möglichkeiten, war unerschwinglicher Luxus. Aber gerade die Schwere des Weges würde sie der Erfüllung näherbringen, davon war Krischnan Prasad überzeugt. Und obwohl die widrigen Wetterbedingungen eigentlich seine volle Aufmerksamkeit erforderten, schwelgte er selbst jetzt, während der halsbrecherischen Fahrt, in seinen Träumen von der eigenen Vervollkommnung. Die Zeiten waren schlecht. Die Menschen - zumindest hier in seiner Heimat überwiegend arm und notleidend. Kaum einen, der hier sein karges irdisches Leben fristete, interessierten die Bilder und Berichte von Reisen zu fernen Sternen und Planeten. Und obwohl die Zeugnisse dieses Aufbruchs selbst im Himalaja unleugbar geworden waren, vertrauten Menschen wie Krischnan Prasad weiterhin auf ihren Glauben - und darauf, daß das Leben Mühsal und Qual sein mußte. Nur strengste Askese öffnete dem Geist das Tor zum Nirwana...
Die Insassen des Jeeps wurden jäh aus ihren Gedanken und Gesprächen gerissen, als es unmittelbar vor ihnen zu einem Steinschlag kam und Prasad mächtig auf die Bremse treten mußte. 116 Der klobige Wagen reagierte schleppend, schlingerte weiterhin auf den meterhohen Felsbrocken zu, der die schmale Straße blokkierte, nachdem er sich vom Hang gelöst, heruntergepurzelt und zum Liegen gekommen war. Trotz aller Bemühungen prallte der Jeep noch mit solcher Wucht gegen das Hindernis, daß nicht nur Prasad, sondern auch Kirti Sen, der Pilger, der auf dem Schoß der beiden saß, die sich den Beifahrersitz teilten (also zu dritt neben dem Fahrer kauerten) mit dem Kopf gegen die Scheibe geschleudert wurde und sich eine Platzwunde zuzog. Mit einem infernalischen Geräusch kam der Jeep zum Stehen. Niemand fluchte, aber alle wußten, daß, wenn sie Pech hatten, ihre Reise schon hier ein jähes, vorzeitiges Ende gefunden hatte. »Ich sehe nach, ob etwas kaputtgegangen ist.« Krischnan Prasad stieg aus. Der strömende Regen durchnäßte ihn binnen weniger Herzschläge bis auf die Knochen. Zwei, drei seiner Begleiter folgten mühsam, nachdem auch sie sich vom ersten Schreck erholt hatten. Ihre bleichen Gesichter leuchteten gespenstisch. Prasad besaß kaum größere Kenntnis, was Fahrzeuge betraf, als seine Mitreisenden. Dennoch öffnete er entschlossen die Kühlerhaube. Und während er sich zu dem dampfenden Motor hinabbeugte -- erschien das Monster. Der Schrei, mit dem Kirti Sen starb, war das Furchtbarste, das Krischnan Prasad jemals im Leben gehört hatte. Weil der Schrei ein Leben beendete. Vor seinen Augen. In allernächster Nähe! Fassungslos spähte Prasad an der aufgeklappten Blechhaube vorbei zu der Stelle, wo die beiden mit ihm ausgestiegenen
Pilger wie zu Salzsäulen erstarrt standen, während Kirti Sens Gebrüll be 117 reits in ein schwaches Gurgeln überging und schließlich völlig verstummte. Abrupt. Denn das gräßliche, fellbepackte Ungeheuer, das ihn mit seinen Klauen an der Gurgel gepackt hatte, vollführte eine jähe, blitzschnelle Bewegung. Und das Geräusch, das dabei gedämpft durch die Regenwand drang, erinnerte an einen morschen, brechenden Zweig. Nur daß der Zweig nachweislich kein Zweig war - sondern Sens Genick. Prasad blickte wie hypnotisiert in die Augen des Sterbenden. Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit stieg wieder ein Gefühl in ihm hoch, das er überwunden zu haben glaubte. Zorn. Dicht gefolgt von einem noch stärkeren, brennenderen. Haß! Er konnte nichts dagegen tun. Mehr noch als der Anblick des Toten schürte das Bild des Mörders die Rage in ihm. Ein-Dämon!? , Krischnan Prasad hatte keine andere Erklärung für das Wesen, halb Mensch, halb räuberisches Tier, das Kirti Sen immer noch wie eine schlaffe Puppe schüttelte. Der Unhold sah nur entfernt menschenähnlich aus - eine Mischung aus vorzeitlichem Primaten und etwas rundweg Dämonischem was sich besonders in den hornartigen Auswüchsen am Schädel und den bestialisch gebleckten Zähnen ausdrückte. Prasad überwand seine Lähmung nur zögerlich. »Ins Auto - schnell!« keuchte er dann und gestikulierte dabei wild in Richtung der anderen. »Im Auto sind wir -« - sicherer, hatte er sagen wollen. Doch das Wort blieb ihm im Halse stecken, als das Monster ihn auf brutalste Weise widerlegte. Den Toten einfach von sich schleudernd, überwand es die fünf, sechs Schritte zum Jeep aus dem Stand heraus und landete so hef
118 tig auf dem Wagendach, daß sich das Blech nach innen beulte. Das Entsetzen der Insassen artikulierte sich in heiseren Schreien. Keiner trug etwas bei sich, was einer Waffe auch nur ähnelte, weshalb sie sich in Gebete flüchteten. Krischnan Prasad fühlte mit ihnen. Er sah und hörte, wie die Bestie mit ihren Pranken auf das Dach einhieb, wie die an gebogene stählerne Dornen erinnernden Klauen in das Blech eindrangen... das Ungetüm dann aber abgelenkt wurde. Von den beiden Pilgern, die bei Kirti Sen gestanden hatten, als das Monster ihn sich packte. Und die jetzt ihr Heil in der Flucht suchten. Hals über Kopf da-vonrannten - und damit genau das taten, was auch Krischnan Prasad gerade als einziger Ausweg durch den Sinn geschossen war. Weg! Nur weg hier...! Es war kreatürliche Angst, die ihn ebenso beseelte wie die anderen Pilger. Furcht vor diesem Fabelwesen, das geradewegs der Hölle entstiegen zu sein schien. Das... Wieder lahmte das nackte Entsetzen Prasad und brachte seine Gedanken ins Stocken, als er Zeuge wurde, was die Bestie mit den beiden Flüchtenden anstellte, wie sie sie geradezu spielerisch leicht einholte und im Blutrausch mit den mörderischen Klauen zerfleischte. Sie hatten keine Chance zur Gegenwehr. Alles ging blitzschnell, wie tausendfach einstudiert oder von einem dunklen Instinkt eingeflößt. Das Wesen, das der gestaltgewordene Alptraum war, schlug seine Beute wie von Sinnen. Prasads Blick hing wie gebannt an dem dämonenhaften Killer, der, wie Prasad erst jetzt bemerkte, Kleidung trug auch wenn sie kaum noch als solche erkennbar war. Der Stoff war zerrissen, überall klafften Löcher und gaben den Blick auf einen völlig deformiert wirkenden Körper frei. Prasad wagte den Gedanken, der in ihm aufkeimte, kaum zuzu
119 lassen. Und doch... Vielleicht ist er doch kein Dämon vielleicht ist er... ein Mensch... Gewesen? Nein? Prasad konnte und wollte es nicht glauben. Ein Dämon, hämmerte er sich ein. Kein Mensch würde Der Mörder ließ von seinen jüngsten Opfern ab. Drei - drei hatte er bereits auf dem Gewissen. Alle, die ausgestiegen waren - bis auf Prasad! Selbst durch den Regen hindurch glaubte der Pilger die Augen des unmenschlichen Vollstreckers leuchten zu sehen. Der Blick des Mordwesens saugte sich regelrecht an ihm fest, bestimmte ihn zu seinem nächsten Ziel. Prasad überlegte, ob er in den Wagen flüchten sollte, wo die noch Lebenden zusammengepfercht kauerten und sich einem letzten Fünkchen Hoffnung hingaben, dort ungeschoren davonzukommen. Die Scheiben waren von innen beschlagen. Nur schemenhaft konnte er die bleichen Gesichter sehen. Eine Hand winkte ihm zu, ohne daß klarwurde, was sie damit ausdrücken wollte. Prasad sah das Ungetüm heranhetzen, mehr Tier als Mensch -mehr Dämon als Tier, und doch... ... nichts von alledem. Er wich zurück, warf einen Blick über die Schulter und fand sich am Rand des Abgrunds, der neben der Straße gähnte. Irgendwo dort unten gab es einen Boden, aber der heftige Niederschlag verhinderte, daß man ihn von hier oben sehen konnte. Es mußten vierzig, fünfzig Meter sein, die es steil abwärts ging -mindestens. Krischnan Prasad hatte nie überlegt, wie er eines Tages sterben wollte, wenn seine Stunde schlug. Dennoch wußte er, daß er, wenn er eine Wahl zwischen zwei Todesarten hatte, sich niemals für ein Ende in den Fängen dieses Biests entscheiden würde. In seinem angstumnebelten Zustand war er nicht wirklich in der Lage, das Für und Wider beider Möglichkeiten auszuloten. Nicht
120 in der kurzen Zeitspanne, die ihm zur Verfügung stand. Also handelte er einfach. Sah das Monster, hörte seinen stoßweisen Atem, drehte sich um, warf im Umdrehen noch einen letzten, allerletzten Blick zu denen die so wenig klar denken und abwägen konnten wie er, eingesperrt in eine Schachtel aus Blech, die keinerlei wirklichen Schutz bot und... ... sprang. Sprang wie ein Athlet über den Rand der Straße, an der es keine Planke, kein Geländer gab, das ihn noch hätte stoppen können, und fiel dann mit einem Schrei, in dem sich alle Not entlud, die Arme ausgebreitet, als bilde er sich ein, fliegen zu können, wie ein Stein in die Tiefe. Von dem, was oben, hinter ihm, geschah, hörte und sah er nichts mehr. Der Sturz schien endlos zu dauern, während sich sein Verstand in den hintersten Winkel seines Hirns zurückzog, darin verkroch, auf den Schmerz wartete, den brutalen Aufprall, der ihm jeden einzelnen Knochen im Leib brechen würde. Mark Carrell starrte auf das Objekt, das vollkommen lautlos, gleichsam aus dem Nichts heraus, in der Mitte des Laborraumes materialisierte. Ein visuell eingefärbtes Antigravfeld, mit speziellen Eigenschaften. Echri Ezbal deutete darauf. »Es ist Ihnen ja nicht ganz fremd...« »Nein«, erwiderte Carrell, unangreifbar für die Stimmen in seinem Schädel, die Ezbal nicht hören konnte - sonst hätte er seine eigene auch darunter gefunden. Das Gebilde, das sich vor ihnen stabilisiert hatte, besaß eine Länge von etwa drei Metern und einen Durchmesser von einem knappen Meter. 121 Eine »Röhre«, entstanden aus der perfekten Synthese
gebändigter Energie und Antischwerkraft. Wer immer sich in sie hineinlegte, sich von den unsichtbaren Polstern tragen und dem dazugehörigen Diagnosestrom durchleuchten ließ, konnte nichts vor diesem Wunderwerk moderner Medizintechnik verbergen. Nichts Anatomisches zumindest. Ein dazugehöriger Suprasensor komplettierte die Gerätschaft, die im Regelfall dazu genutzt wurde, die Cy borganwärter einer medizinischen Prüfung zu unterziehen. Vom Resultat einer solchen Untersuchung hing dann neben den psychologischen Momenten ab, ob ein Mensch die Anforderungen erfüllte, die die Trägerschaft des Phant-Virus an ihn stellte. War das Phant-Virus dafür verantwortlich, daß der Telepath in Mark Carrell geweckt worden war? Aber warum? Bislang war kein Fall dieser Art bekanntgeworden; nicht einmal ein annähernd vergleichbarer. Carrell kletterte geschmeidig in die Röhre und legte sich flach auf den Rücken. Es war nicht nötig, sich der Kleidung zu entledigen. Echri Ezbal hatte sich neben der Steuereinheit plaziert, nur drei Schritte von Carrells Kopf entfernt. »Sind Sie bereit?« fragte er. »Ja.« »Dann nehmen Sie es jetzt bitte noch einmal auf sich schalten Sie zurück aus dem Zweiten System.« Unbelastet von jeglicher Emotion folgte Carrell der Anweisung sofort. Was sich jedoch augenblicklich änderte. Sein Körper krümmte sich, als sich die Flut von Stimmen Bahn in ihm brach, nicht länger zurückgehalten von dem künstlich errichteten Damm des Zweiten Systems. Carrell stöhnte auf. Ezbal hielt sich nicht mit gutem Zureden auf; er aktivierte das Diagnosefeld, das sich mit einem elektrischen Summen aufbaute. Es sah aus wie eine Scheibe aus blauem Licht, die sich mit ihrer 122 Breitseite langsam vom Fußende des Cyborgs bis hinauf zum Kopf bewegte. Langsam, nicht schneller als fünf Zentimeter pro Sekunde. Gleichzeitig lieferte die Abtastung gestochen
scharfe Bilder auf einen der beiden Überwachungsmonitore vor Ezbal, dessen Fingerkuppen geübt über die Sensorik huschten und Feineinstellungen vornahmen. Der linke Monitor offenbarte Ezbal das »aktuelle« Innenleben des Cyborgs - der rechte ein Monate zurückliegendes Bild, das während einer Routinekontrolle aufgenommen worden war. Damals hatte es an Carrells Verfassung nichts auszusetzen gegeben, und nun diente es zum Abgleich der neu erfaßten Daten. Die geringste Unstimmigkeit und Abweichung konnte so aufgedeckt werden - nicht nur von Ezbals Augen, sondern sehr viel verläßlicher - von dem zugeschalteten Hochleistungsrechner. Voller Anspannung leitete Ezbal den zweiten Schritt ein, noch bevor das erste Verfahren abgeschlossen war. Eine Zusatzeinrichtung der Röhre zapfte Carrell wenige Milliliter Blut ab und leitete es in ein spezielles Analysesegment. »Es ist gleich überstanden, Mark«, sagte Ezbal, dessen Mundhöhle schon bei den ersten Resultaten aus der Blutuntersuchung trocken geworden war. »Wie geht es Ihnen?« »Mir ginge es besser, wenn ich nicht wüßte, was Sie gerade erfahren haben.« Echri Ezbal kniff die Lippen zusammen. Die Vorstellung, nichts, rein gar nichts, vor dem Cyborg verbergen zu können, obwohl es zum jetzigen Zeitpunkt eher abträglich war, ihn mit der Sorge zu konfrontieren, die in Ezbal immer stärker anschwoll, war so ungewohnt, daß er Mühe hatte, damit umzugehen. »Entkrampfen Sie sich, Echri«, hörte er Carrell hinzufügen. »Ich will die Wahrheit hören. Sie können völlig offen mit mir reden. Hilft Ihnen das?« Hilft Ihnen das? Beschämt gab sich Ezbal einen Ruck. Er stand in der Verantwor-^ng, Carrell zu helfen - nicht umgekehrt. 123 »Ich wünschte, ich hätte bessere Nachrichten für Sie, Mark.«
»Ich weiß. Was bedeutet das, was Sie an meinem Blut festgestellt haben?« Das blaue Feld erreichte Carrells Kopf und passierte ihn. Danach erlosch es. Der Cyborg wartete noch drei Sekunden, dann schwang er sich aus der Röhre heraus und trat neben Ezbal. Sein schweißglänzendes Gesicht und die wie im Fieber glühenden Augen bewiesen, daß er weiterhin auf die Hilfe des Zweiten Systems verzichtete. Ezbal ahnte, warum. Carrell wollte nicht belogen werden. Er wollte jede Lüge durchschauen. Es war immer noch grotesk und unvorstellbar, daß der Cyborg plötzlich Gedanken lesen konnte. Aber ein noch größeres Problem war, daß er diese Fähigkeit offenkundig nicht in einem Maße steuern konnte, das es ihm erlaubt hätte, die Gedanken auszublenden, die er nicht lesen wollte. Offenbar empfing er die aller Menschen im näheren Umkreis gleichzeitig. Was immer »näher« in diesem Fall auch bedeutete... »Sie können meine Gedanken aus dem Wust der anderen herausfiltern?« fragte Ezbal, ohne zunächst auf Carrells Frage einzugehen. »Sie sind am lautesten«, erwiderte der Cyborg. »Dann hat es zumindest auch mit Entfernung zu tun.« Carrell schloß kurz die Augen. Die Ungeduld stand ihm ins Gesicht geschrieben. Hören Sie auf! dachte Ezbal so intensiv es ihm möglich war. Wir reden darüber. Ich verspreche es. Geben Sie mir etwas Zeit, die Ergebnisse hieb- und stichfest auszuwerten, Fehlinterpretationen auszuschließen und die Meinung anderer Mitglieder meines Teams, denen ich vertraue, einzuholen! Carrells Lider sprangen hoch wie von kleinen Stahlfedern bewegt. »In Ordnung«, sagte er. »Sie wissen, wo Sie mich finden können.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Es liegt an den 124 Viren, oder?« Ezbal zuckte die Achseln. »Ich kann es noch nicht sagen.
Etwas hat sie verändert. Mit welcher Konsequenz, und worum es sich bei diesem Etwas handelt, kann ich nicht sagen. Noch nicht. Gedulden Sie sich bitte. Ich sorge dafür, daß Sie erst einmal abschalten können - sich von den Stimmen befreien, ohne auf das Zweite System zurückgreifen zu müssen...« Carrell schwieg. Wortlos verließ er den Raum. Krischnan Prasad wußte nicht, ob er den Eindrücken trauen sollte, die zeitlupenhaft langsam in sein dämmerndes Bewußtsein sickerten - als wäre er von einer dicken, schwammigen Kruste umgeben, die nichts ungefiltert zu ihm vordringen ließ. Er öffnete die Augen. In einem Akt, der allein schon seine Kräfte zu übersteigen drohte, erfüllt von einer jenseitigen Kälte und Taubheit. Sie endete zögerlich, als jemand zu ihm sprach. Beruhigend auf ihn einredete. Ein Mann. Ein... Arzt? \ Prasad blickte in das verschwommene Gesicht eines Mannes, der einen typischen Kittel trug und vor einem typischen Bett in einem typischen Zimmer stand. Krankenhaus. Ich bin... in einer Klinik... ? Die Erinnerung stürzte wie ein Schwall eiskaltes Wasser auf ihn ein. Wasser... Regen... die Bestie... der - Abgrund... »Wo...?« Prasad erschrak vor seinem eigenen Krächzen, räus-perte sich, begann von neuem, die Kehle hart und rauh wie Sandstein. »Wo... bin ich?« »In Sicherheit.« Prasad konnte das bittere Auflachen nicht zurückhalten; es erschütterte seinen zerschundenen Körper unter dem Verbandsmate 125 rial. Ich sehe aus wie eine Mumie. Aber... wieso bin ich nicht tot? »Wie lange war ich ohne Bewußtsein?«
»Einen vollen Tag.« Prasad schluckte krampfhaft. »Wer sind Sie? Was fehlt mir?« »Ich bin Dr. Nadesch, Chef der Chirurgie im Städtischen Klinikum Katmandu. Sie sind außer Lebensgefahr, werden aber noch eine lange Weile das Bett hüten müssen.« Dr. Nadesch lächelte routiniert. Prasad fühlte sich nicht wohl. »Über die Details reden wir, wenn Ihre Verfassung es erlaubt. Ich behellige Sie auch nur ungern, aber man hat mich...« Er stockte kurz, nestelte an einem Stift, der in der Brusttasche seines Kittels steckte. »Man hat mich sehr eindringlich gebeten. Sie, sobald ich es für verantwortbar halte, zu fragen, ob Sie der Polizei ein paar Fragen beantworten möchten.« »Der Polizei.« »Haben Sie noch eine Erinnerung an die Ereignisse vor Ihrem Sturz?« Für einen Moment überlagerte die fellüberwucherte Fratze der Bestie das Gesicht des Arztes. »Ja.« »Man wird Sie genau danach fragen. Sagen Sie mir, ob Sie sich dazu in der Lage sehen - falls nicht, werde ich die Polizei abwimmeln. Sie sind mein Patient. Ich lasse nicht zu, daß -« »Ich will, daß das Ungeheuer geschnappt wird.« »Das - Ungeheuer?« »Sind die Beamten hier?« wich Prasad aus. »Einer.« Dr. Nadesch nickte. »Ich möchte mit ihm sprechen.« »Es ist Ihre Entscheidung. Soll ich dabeibleiben? Ich meine - zu Ihrem Schutz?« Krischnan Prasad zuckte mit den Achseln. Eine simple Bewegung, die eine Flut von Schmerz durch seinen Körper pumpte. 126 Er stöhnte auf. Dr. Nadesch wartete kurz ab, bis er sich wieder gefangen hatte. Als keine anderslautende Absichtserklärung Prasads erfolgte, verließ er den Raum und kehrte nur Sekunden später in Begleitung einer uniformierten Person zurück. »Das ist Jansef Farjog. Ich werde dem Gespräch beiwohnen
und mir vorbehalten, einzuschreiten, wenn ich das Wohl meines Patienten gefährdet sehe. Er ist zwar über den Berg, aber immer noch in einem kritischen Zustand.« Farjog nickte ernst. »Ich habe nicht vor, ihm Schaden zuzufügen. .. Mr. Prasad?« Krischnan Prasad hob zum Zeichen, daß sie beginnen konnten, leicht die linke Hand, die noch am wenigsten ramponiert schien. »Was können Sie mir über den Hergang des Überfalls sagen? Wie viele Räuber waren es?« Prasad begriff. Die Polizei ging von einem normalen Überfall aus. Bevor er dem widersprach, fragte er mit schwankender Stimme: »Sind alle - tot?« »Alle bis auf Sie. Sie sind der einzige Überlebende. Sie wurden im Gestrüpp des Steilhangs neben der Straße gefunden - gut zwanzig Meter unterhalb der Stelle, wo man die Leichen entdeckte.« Prasad schloß kurz die Augen und ballte die weitgehend gesunde Hand zur Faust. Als er wieder zu dem Polizisten aufsah, trübte sich sein Blick, und Tränen rollten über seine Wangen. »Es war keine Räuberbande«, sagte er gepreßt. »Sondern?« Prasad schilderte bebend, was sich zugetragen hatte. Nadesch und Farjog tauschten Blicke. »Kann es sein, daß sein Verstand unter dem schweren Sturz gelitten hat?« fragte Jansef Farjog kurze Zeit später Dr. Nadesch auf dem Flur. »Er steht zweifellos unter den Auswirkungen eines Schocks«, räumte der Arzt ein. »Sein Gerede von einem Monster... offenbar 127 mußte er mit ansehen, wie seine Begleiter umgebracht wurden. Seinen Angaben zufolge wurde er nicht in die Schlucht gestoßen, sondern sprang freiwillig - um dem zu entgehen, was den anderen zustieß... welcher Art sind die Verletzungen, denen die Opfer erlagen?« fragte er. »Stützen sie in irgendeiner Weise die Phantasie des Patienten?«
»Sie wurden regelrecht dahingeschlachtet - das endgültige Obduktionsergebnis steht noch aus. Fakt ist: Der Fels, von dem Pra-sad sprach, der den Jeep stoppte, wurde wieder aus dem Weg gerollt, Täter und Jeep sind verschwunden. Der massive Regen der letzten Stunden hat die meisten Spuren verwischt. Unsere Fahndung verlief bislang ergebnislos.« »Greueltaten wie diese passieren immer wieder«, nickte Dr. Na-desch. »Die Fanatiker sterben nie aus.« Jansef Farjog verabschiedete sich mit den Worten: »Benachrichtigen Sie mich, wenn Sie der Meinung sind, daß sich der Schock des Patienten soweit gelegt hat, daß man vernünftig mit ihm reden kann. Vielleicht weiß ich bis dahin schon mehr. Das oder die >Monster< können nicht völlig vom Erdboden verschluckt worden sein.« Dr. Nadesch erwiderte nichts. Er hatte wenig Zutrauen zur Arbeit der Polizei. Aber das erwähnte er weder Farjog noch seinem Patienten gegenüber. 7. Als der medikamentös eingeleitete Schlaf von ihm abfiel, gab sich Mark Carrell ein paar Herzschläge lang der Hoffnung hin, sein Alptraum sei vorbei - ebenso spontan zu Ende gegangen wie er begonnen hatte. Doch die Stimmen setzten lediglich mit einiger Verzögerung ein, gerade so, als wollten sie ihn zunächst in Sicherheit wiegen, um dann mit noch brachialerer Gewalt über ihn herzufallen. Carrell spürte, wie die Hilflosigkeit ihn wieder zu strangulieren begann; eine Ohnmacht, wie er sie vergleichbar noch in keinem Einsatz auf Leben und Tod durchlitten hatte. Auf Leben und Tod. Die Besorgnis, die er vor dem Einschlafen bei Echri Ezbal gerunden hatte, hallte schon deshalb so stark in Carrell nach, weil er früher nie in der Lage gewesen war, Emotionen anderer so klar, so niederschmetternd in ihrer bis in sein eigenes Gehirn strahlenden Wucht zu erfahren. Etwas hatte die Viren verändert. Etwas hatte sie zur Mutation gebracht.
Mehr wußte er noch nicht. Sein Blick fand das Chrono, das die Decke seiner Unterkunft im Brana-Tal als leuchtende Ziffemfolge zierte. Rund zwölf Stunden waren vergangen, seit er sich hingelegt hatte. Ausreichend Zeit eigentlich, um den Ursprung des Virenproblems aufzudecken, fand Carrell. Er stand auf. Normalerweise fühlte er sich bei seinen Besuchen hier heimisch. Doch diesmal wollte nicht einmal ein Hauch von Geborgenheit aufkommen. Die Stimmen rauschten durch sein Denken, zerschlugen eigene Gedanken, machten es schier unmöglich, über eine Sache zu grübeln, ohne permanent abgelenkt zu werden... Auf dem Weg zur Hygienezelle stutzte er. Obwohl sich niemand im Raum und damit in unmittelbarer Nähe 129 befand, tönte eine Stimme um ein Vielfaches lauter als alle anderen. Carrell konzentrierte sich auf den Denker, der schreckliche Qualen durchmachte. Holger, dachte er beklommen. Er entdeckte eindeutige Hinweise auf die Identität des Leidenden. Es handelte sich um Holger Alsop, der sich ebenfalls im Brana-Tal aufhielt. Mark Carrell hatte sich sofort bei seiner Ankunft einen Überblick über die anwesenden Cyborgs verschafft. Er hatte dies immer getan, und es war ihm in Fleisch und Blut übergegangen, die Listen derer durchzugehen, die der Cyborgstation aus diesem oder jenem Grund gerade einen Besuch abstatteten. Alsop war dabeigewesen. Und jetzt... litt er. Carrell widerstand der Versuchung, dem anderen Cyborg beruhigende Gedanken schicken zu wollen. Es hätte nicht funktioniert. Oder? Wer weiß... wer weiß, wie sehr ich mich wirklich verändert habe. Wozu ich noch in der Lage bin... Carrell betrat die Hygienezelle und sprühte sich eiskaltes Wasser ins Gesicht, rieb es sich in den Nacken. Katzenwäsche nannte man so etwas.
Es mußte genügen. Rasch stieg er in seine Kleider und informierte Echri Ezbal über das Zimmervipho über die stummen Hilfeschreie, die in seinem Kopf hallten. Ezbal war sofort alarmiert. »Wir müssen reden - am besten treffen wir uns bei Holger«, sagte er noch, ehe er Carrell darüber informierte, wo Alsop logierte. Carrell gab der Versuchung nicht nach, Ezbals »Stimme« unter all dem Lärm, der in seinem Schädel tobte, herauszulesen. Statt dessen schaltete er in den einzigen Zustand, der ihm ein - wenn auch teuer erkauftes Wohlbefinden ermöglichte. Teuer deshalb, weil er im Zweiten System beträchtliche Teile dessen, was seine Persönlichkeit ausmachte, quasi »an der Garderobe« ablegte. Doch es gab keine Alternative... i 130 Der gezähmte, der Natur abgetrotzte Teil des Brana-Tals besaß die Ausdehnung eines kleinen Dorfes. Alles war überschaubar -und binnen weniger Minuten auch ohne Fahrzeug erreichbar. Die Unterkünfte lagen ohnehin eng beisammen. Als Carrell Holger Alsops Quartier erreichte, traf Echri Ezbal gerade auf einer Schweberplatte ein, auf der außer ihm noch drei weitere Leute, Männer und Frauen, Platz genommen hatten. An den Emblemen auf ihren Overalls erkannte Carrell, daß es sich um Angehörige des medizinischen Korps handelte, das fester Bestandteil der Station war. »Mark...« rief Ezbal, während er vorsichtig von der Platte kletterte. »Begleiten Sie uns!« Gemeinsam liefen sie zur Tür. Wie bei den anderen Quartieren auch gab es Sensoren, die dem Bewohner die Ankunft meldeten. Doch obwohl davon auszugehen war, daß sie auch in diesem Fall ihre Aufgabe erfüllten, kam es zu keiner Türöffnung. Auch nicht, nachdem Ezbal den Summer betätigt hatte. Über Armbandvipho nahm der Leiter der Cyborgstation Kontakt zur Kontrollstelle auf und ließ den Zugang von dort aus fement-riegeln. Wenig später betraten sie das Innere des
Wohnwürfels. Holger Alsop, der 1,80 Meter große Cyborg mit akademischen Titeln in Mathematik und robonischer Entwicklungslehre, lag wie hingeworfen im Raum, unmittelbar hinter dem Eingangsbereich, und wälzte sich in konvulsivischen Zuckungen am Boden. Dazu wimmerte er unablässig und hatte Schaum vor dem Mund, der auch seine leicht vorspringende Kinnpartie vollständig bedeckte. I^ie beiden tiefen Stirnfurchen, sein Markenzeichen, glommen ßbenso scharlachrot wie die beiden tiefen Kerben rechts und links der Mundwinkel. Die charakteristischen und für Alsop typischen Stellen sahen aus, als wäre die Haut darüber fein säuberlich ent 131 femt worden. Als schimmere rot und roh das nackte, stark durchblutete Fleisch... Ezbal gab seinen Begleitern mit dem Äskulap-Zeichen auf den Overalls ein Zeichen, worauf diese sofort zu dem sich windenden und krümmenden Cyborg eilten und ihr Diagnosebesteck einsetzten. Ezbal und Carrell hielten sich zunächst abwartend im Hintergrund. »Was fehlt ihm?« fragte der alte Mann, nachdem einige Zeit vergangen war und Alsop sich nach Verabreichung einer Injektion leicht beruhigt hatte. »Ist er ansprechbar?« Der junge Arzt, der dem Cyborg die Spritze gegeben hatte, hob den Kopf und sagte: »Sobald das Mittel wirkt, müßte er uns wahrnehmen. Es scheint sich um ein muskuläres Problem zu handeln.« »Ein muskuläres Problem?« Carrell wartete die Antwort nicht ab, sondern ging zu Alsop und kniete neben ihm nieder. Seine Hand fuhr sacht über das schweißnasse Gesicht des Cyborgs, und Ezbal, der ihm folgte, hatte in diesem Moment das starke Gefühl, daß Carrell sich in diesem Moment selbst in dem ungewohnt hilflos daliegenden Endzwanziger sah. Als blickte er in einen Spiegel, der ihm die eigene Qual in Person Alsops vor Augen hielt. Ein Eindruck, der stark genug schien, Carrell selbst im umgeschalteten Zustand zu beeindrucken. Eigentlich ein
Ding der Unmöglichkeit, und doch... »Holger?« Ezbal hatte noch nie jemanden so eindringlich zu einem anderen sprechen hören, und als er seinen Blick von Alsop löste und kurz auf Carrell lenkte, erkannte er, daß der Cyborg sein Zweites System deaktiviert hatte. Offenbar wollte er dem Leidensgenossen ganz nahe sein. Dem Leidensgenossen... um Ezbals Herz schien sich eine eisige Hand zu legen und zuzudrücken. Wenn das wahr wäre, dachte er erschüttert. Weiter wollte^ er nicht gehen, sperrte sich gegen seinen eigenen Verdacht. 132 »Holger!« Alsops Zuckungen ebbten weiter ab - entweder wirkte das Medikament, oder er reagierte auf die direkte Ansprache seines Cy-borgkameraden. In seine aufgerissenen, bislang stier und starr ins Nichts blikkenden Augen trat... Erkennen. »Mark...« Auch Ezbal mischte sich jetzt ein. »Holger - was ist passiert?« Alsops Blick huschte kurz zu Ezbal, kehrte dann aber wieder zu Carrell zurück - als wäre er der Einzige, der ihn in dieser Situation wirklich verstehen konnte, und als spürte Alsop, daß auch Carrell mit sich kämpfte. Einen ähnlichen Kampf focht wie der am Boden liegende Cyborg? War auch Alsop urplötzlich telepathisch geworden? Ezbal verwarf den Gedanken. Und Holger Alsop krächzte: »Ich... ich kann mich nicht... bewegen. Nicht... kontrolliert. Es... bewegt mich!« »Was meinen Sie mit >es« fragte Ezbal. Mark Carrell beugte sich über Alsop und sagte eindringlich: »Geh aufs Zweite System, Holger. Ich weiß, wovon i,ch rede -notfalls kannst Du auch noch phanten!« Ein Cyborg, der auf das Zweite System umschaltete, wurde von einem kleinen, aber hochleistungsfähigen Programmgehim gesteuert, das seine Emotionen ausschaltete und seine Reflexe enorm verbesserte. Nach einigen
Problemen mit den Cyborgs der ersten Serie war die Technik jetzt so verfeinert worden, daß der Mensch im Notfall immer noch die Anordnungen der Maschine in seinem Kopf übersteuern konnte. Die zweite Sonderfähigkeit der Cyborgs, deren Körper durch beifällige Eingriffe schon extrem stark und widerstandsfähig geworden war, nannte man Phanten. Durch die Aktivierung des im Körper ruhenden extraterrestrischen Phant-Virus wurden sämtliche Gase und Flüssigkeiten im Körper eines Cyborgs gebunden, was 133 ihn beinahe unverwundbar machte. Allerdings konnte ein Cyborg längstens neun Tage und sechs Stunden am Stück phanten, da das Virus ansonsten einen blitzartig wuchernden, absolut tödlichen Krebs auslösen würde. Für Augenblicke sah Alsop den befreundeten Cyborg nur aus weit aufgerissenen Augen an. Dann aber entspannte er sich. Die krampfartigen Erschütterungen seines Körpers hörten schlagartig auf. Dennoch klang seine Stimme geschwächt, wie die eines alten Mannes, als er sagte: »Ich dachte schon, es hört nie wieder auf...« Echri Ezbal wartete, bis Alsop sich aus eigener Kraft vom Boden erhoben hatte und ausdruckslos die Mediziner musterte, die sich zuerst um ihn gekümmert hatten. Dann fragte er erneut: »Wie ist es dazu gekommen? Wann fing es an. Holger?« »Es geschah aus heiterem Himmel«, erwiderte der Cyborg. »Eine Art Krampf zog sich durch meinen ganzen Körper. Ich verlor die Gewalt über ihn, stürzte. Dann wurden die Schmerzen so unerträglich, daß ich nicht einmal mehr denken konnte. Ich kam erst wieder zu mir, als - ihr hier wart. Meine Nervenbahnen... meine Muskeln... alles brennt, alles schmerzt, nichts gehorcht mir mehr! Ich war so benommen, so verwirrt, daß ich nicht selbst auf die Idee kam zu phanten... ist das nicht verrückt?« Ezbal und Carrell tauschten Blicke. »Nein«, sagte Carrell. »Zumindest nicht verrückter als das, was mir passiert ist. Ich muß im Zweiten System bleiben, um es zu ertragen. Deshalb konnte ich dir den Rat geben. Nur
deshalb.« Holger Alsop wirkte ratlos. Und diese Ratlosigkeit wuchs, als Carrell ihm in dürren Worten schilderte, wie er sich verändert hatte - wie er über Nacht zum Telepathen geworden war. »Das ist Wahnsinn«, reagierte Alsop. »Und es hat... mit den Phant-Viren zu tun?« Fragend blickte er zu Echri Ezbal. Auch Mark Carrell starrte fragend in Richtung des CyborgSchöpfers. »Sind Sie inzwischen weitergekommen? Konnten Sie die Auswertung meiner Daten abschließen?« ; 134 »Ich wollte in Ruhe mit Ihnen darüber sprechen. Hier -« »Dieser Ort ist so gut wie jeder andere«, fiel Carrell ihm ins Wort - und ließ keinen Zweifel daran, daß er nicht bereit war, sich länger hinhalten zu lassen. In Holger Alsop hatte er einen unerwarteten Verbündeten gefunden. Auch einen Leidensgenossen? Carrell verließ das Zweite System und lauschte kurz in sich hinein. Obwohl es dies wahrscheinlich nicht war, betrachtete er es in seiner Situation als legitim, Ezbal quasi dazu zu zwingen, ihm die volle Wahrheit über seinen Zustand zu verraten. Doch als er den Stimmen lauschte und die mentalen Impulse Ezbals herauszusortieren versuchte, empfing er plötzlich etwas anderes, sehr viel Besorgniserregenderes. Irritiert studierte er die konfusen Gedankenfetzen. »In Ordnung«, sagte Ezbal in diesem Moment. »Es ist Ihre Entscheidung -« Carrell unterbrach ihn. »Etwas geht vor. Das... gefällt mir nicht!« An seinem Mienenspiel erkannte Ezbal, daß der Cyborg nicht mehr im Zweiten System war, und schlußfolgerte richtig, womit Carrell gerade beschäftigt war. »Was gefällt Ihnen nicht, Mark? Mißachten Sie schon wieder meine Privatsphäre? Ich sagte doch gerade, daß ich bereit bin -« ? Wieder fuhr Carrell ihm ins Wort. »Es geht nicht um mich. Ich empfange die Gedanken anderer Cyborgs im Tal. Sie alle sind aufs äußerste verwirrt. Tief um ihr Wohl
besorgt. Ich fürchte...« »Was?« »...es hat sie alle erwischt.« Echri Ezbal betrachtete ihn wie eine Erscheinung. »Wissen Sie überhaupt, was Sie da reden?« 135 »Ich bin nicht schuld daran, Echri, hoffentlich begreifen Sie das mgsam und verhalten sich mir gegenüber entsprechend. Ich habe war davon gehört, daß die Überbringer schlechter Nachrichten in ler Vergangenheit häufig selbst in Ungnade fielen, aber...« »Schon gut. Entschuldigen Sie, aber Sie werden verstehen, daß nir das alles an die Nieren geht.« »Holger und ich fühlen mit Ihnen, Echri.« Der Sarkasmus war unüberhörbar. Carrell machte keinen Hehl iaraus, wer von allen Anwesenden am meisten zu bedauern war. Und wem es - auch gesundheitlich - am dreckigsten ging. »Ich werde Sie sofort der gleichen Untersuchung unterziehen wie Mark«, wandte sich Ezbal an Alsop. »Seine Viren haben sich verändert. Eine Form von Entartung fand statt. Da es keine sonstigen Hinweise gibt, gehe ich inzwischen davon aus, daß die Veränderung bei Mark eine besondere parapsychische Sensibilisierung auslöste. Haben Sie ähnliches auch bei sich festgestellt?« Alsop schüttelte den Kopf. »Es könnte sein«, fuhr Ezbal fort, daß es sich bei jedem individuell anders äußert. Bei Ihnen könnte es der Verlust der Körperkontrolle sein. Bei anderen...« Er zuckte demonstrativ die Achseln. »Offengestanden weiß ich es nicht. Noch nicht. Aber ich werde sofort eine außerordentliche Zusammenkunft der hier im Brana-Tal befindlichen Cyborgs anordnen. Und ich hoffe inständig, daß Sie nicht recht behalten, Mark. Denn wenn die Stimmen und Gefühle, die Sie empfangen, nicht trügen, müssen wir die Entartung als generellen Prozeß betrachten, dem sich auf Dauer kein Phant-Träger entziehen kann, weder hier noch sonstwo in der Galaxis...«
Während Ezbals Mitarbeiter eine Zusammenkunft der Cyborgs organisierten, unterzog sich Holger Alsop einer nahezu identischen Untersuchung, wie Mark Carrell sie bereits absolviert hatte. 136 Auch er legte sich in die Röhre, auch ihm wurde Blut entnommen, um eine mögliche Veränderung der Phant-Viren zu erkennen. Das Ergebnis war niederschmetternd: Auch der Cyborg Holger Alsop wies eklatante Veränderungen an seinem Virenstamm auf. Allerdings in anderer Weise als Carrell. Die Mutation war eine völlig andere. War Carrell deshalb zum Telepathen und Alsop zum QuasiKrüppel geworden? Ich weiß es nicht, dachte Ezbal so hilflos, wie er sich selten in seinem Leben gefühlt hatte. Und wenn ich es nicht begreife, wie soll ich es dann den Betroffenen vermitteln? Ihm fehlten jegliche Grundlagen, um aus den Virenveränderungen Rückschlüsse darauf zu ziehen, wie sich diese Veränderungen auf Körper und Geist der Betroffenen auswirkten. In der Vergangenheit hatte es mitunter Jahre und Jahrzehnte gedauert, um die Strukturen und Wirkungsweisen von Viren zu entschlüsseln - das ging dank fortgeschrittener Technik heutzutage zwar wesentlich schneller, aber an eine kurzfristig erreichbare Lösung glaubte Ezbal dennoch nicht. Er war Realist, kein Träumer. Aber gleichzeitig fühlte er eine noch stärkere Verantwortung als jemals zuvor für die Menschen, die das Phant-Virus in sich trugen. Ich habe es ihnen übertragen. Ich habe es ihnen schmackhaft gemacht. Und... ich muß verhindern, daß es sie völlig deformiert! Noch während er mit der Auswertung der Untersuchung be schäftigt war, erreichte ihn eine neuerliche Hiobsbotschaft, die er so nicht erwartet hatte. Jüan Sortas, der Assistent, den er damit betraut hatte, die Konferenz der Cyborgs für den Nachmittag zu organisieren, meldete über Vipho, daß es zu keiner Zusammenkunft
kommen würde. »Wie meinen Sie das, Jüan?« »Ich erreiche so gut wie keinen Cyborg«, erwiderte sein Assistent mit einem Gesicht, als hätte er akute Zahnschmerzen. Vor Ezbals geistigem Auge tauchte sofort das Bild des sich am ?oden seines Quartiers krümmenden Holger Alsop auf. 137 »Wir müssen sofort alle Unterkünfte inspizieren und Medo-Teams -« »Ich weiß, was Sie denken, Echri, aber das ist es nicht. Ich habe sofort, als keine Resonanz auf meinen Aufruf erfolgte, recherchiert und auch stichprobenartige Überprüfungen der Unterkünfte durchführen lassen. Das Problem ist nicht... krankheitsbedingt. Zumindest gibt es bislang darauf keine Hinweise.« »Kommen Sie zur Sache!« »Die Sache ist die«, erwiderte Sortas bereitwillig, »es halten sich kaum noch Cyborgs im Brana-Tal auf. Fast alle, die da waren -noch bis vor Stunden da waren - sind zwischenzeitlich verschwunden. Meinen Nachforschungen zufolge entweder zu Fuß, per Jett oder per wieder instandgesetztem Transmitter...« »Wissen Sie, was Sie da sagen?« »Ich wünschte, ich könnte Ihnen eine andere Auskunft geben.« Echri Ezbal schwieg kurz. »Wenn Sie recht haben, reden wir hier über einen Exodus der Cyborgs - eine regelrechte Flucht. Als ob sie etwas zu verbergen hätten...« Er faßte sich. »Ist etwas über die Ziele der Verschwundenen bekannt?« »Sämtliche Transmitterdurchgänge führten in terranische Großstädte«, antwortete Ortega. »Und wie ich gerade von Ember To Yukan erfahren habe, wird auch Rok Nassis vermißt, der sich zwar nicht im Brana-Tal aufhielt, aber hierher kommen sollte, zu einer Routineuntersuchung.« »Warum erfahre ich all das erst jetzt? Wie konnte es
geschehen, daß niemand vom Stationspersonal mißtrauisch wurde, als so viele Transmitterbewegungen und Inanspruchnahmen der Jetts auf einmal anfielen?« Jüan Ortega am anderen Ende der Verbindung wirkte hilflos. »Schon gut«, seufzte Ezbal. »Schuldzuweisungen bringen uns 138 jetzt nicht weiter. Bleiben Sie am Ball. Schalten Sie die Behörden ein, notfalls die GSO... sie sagten vorhin, fast alle Cyborgs seien verschwunden. Welche sind noch da?« »Nur Mark Carrell, Holger Alsop und...« »Ja?« »... die Snide-Zwillinge.« »Die Snide-Zwillinge...« Echri Ezbal wiegte nachdenklich den Kopf. »Treffen Sie Vorsorge, daß sie nicht auch noch abhanden-kommen.« »Das habe ich bereits getan - wenngleich Charly und George versichern, dergleichen nicht vorzuhaben.« »Worauf ich momentan aber keine Wette abschließen würde.« »Dito, Sir.« Ezbal trennte die Verbindung, verließ das Labor und begab sich schnurstracks zu dem Raum, in dem Alsop und Carrell auf ihn warteten. Holger Alsop blickte ihm ausdruckslos entgegen, als er eintrat. »Ich werde sterben«, sagte er. Echri Ezbal fühlte sich überrumpelt. Ein Geschmack wie Galle breitete sich in seinem Mund aus. »Davon kann keine Rede sein. Bislang ist nur bekannt, daß auch Ihre Viren verändert sind. Was genau -« »Ich werde sterben«, unterbrach ihn Alsop. »Und zwar in ziemlich exakt neun Tagen.« »Wie kommen Sie auf diese absurde Idee?« »Sie ist nicht absurd. Sie wissen doch, wie lange ein Cyborg maximal phanten kann, ohne daß es ihn umbringt.« Ezbal stand immer noch nahe der Tür, durch die er gekommen war. Er schüttelte den Kopf. »Sie müssen nicht
permanent auf Phant bleiben. Wir helfen Ihnen mit Medikamenten. Alles andere wird sich finden. Geben Sie uns etwas Zeit.« »Ich habe keine Zeit«, erwiderte Alsop fast trotzig. »Denn Sie ""ren sich.« »Inwiefern?« 139 »Ich kann den Phant-Modus nicht mehr verlassen. Obwohl ich es wieder und wieder versucht habe. Deshalb werde ich sterben, und niemand weiß das besser als Sie. In jetzt noch genau neun Tagen und...« er tippte mit Nachdruck auf sein Chrono »... drei armseligen Stunden.« Frank Buscetta erschien an diesem und auch am nächsten Tag nicht zur Arbeit. Er meldete sich krank. Und krank... krank fühlte er sich wahrhaftig. Nicht emstgenommen, zum Spinner degradiert, so fühlteersich! Der grüne Mann, der Hulk-Doppelgänger, ging ihm einfach nicht aus dem Sinn. Muß ihn finden. Muß ihn den Bullen auf dem Silbertablett servieren, um mich zu rehabilitieren. Muß... muß... muß... Es wurde zur fixen Idee. Buscetta schlief kaum noch, rasierte sich nicht mehr, aß nur noch aus antrainierten Reflexen und der puren Vernunft heraus, nicht weil er wirklich Appetit hatte. Unablässig überlegte er, wie er sein Trauma bewältigen konnte. Und alle Gedanken mündeten in den einen, der ihm versicherte, daß er den »Grünen« finden mußte, einfach nur finden! War er gefährlich? Nicht für jemanden, der nicht selbst Gefahr ausströmte sprach Buscetta sich Mut zu. Seine Schlußfolgerung hätte keiner ernsthaften Prüfung standgehalten, denn genaugenommen wußte er nichts über seinen Retter. Dieser konnte ihn ebensogut nur geschont haben, weil er zu sehr mit den anderen beschäftigt gewesen war und ihn aus den Augen verloren hatte. Er hatte sich eingemischt, ganz klar, aber gehörte er deshalb automatisch zu den »Guten«? Vielleicht
hatte er noch eine Rechnung offengehabt mit den Neos -oder einer anderen Bande - und war deshalb förmlich auf Rache programmiert gewesen... 140 Aber er war kein Mensch! Auch in diesem Punkt war Frank Buscetta felsenfest überzeugt, sich nicht zu irren. Doch welche Folgerung ließ sich daraus ableiten? Handelte es sich um ein Alten, das sich heimlich, still und leise auf der Erde eingeschlichen hatte? War so etwas überhaupt möglich? Der Nogk-Schirm ist abgeschaltet, seit die intergalaktischen Magnetfeldschwankungen und die damit einhergehenden Hy-perraumorkane aufgehört haben, die Milchstraße zu einem Höllenort zu machen. Die unbemerkte Landung eines außerirdischen Raumschiffs wäre damit zumindest möglicher als noch vor Wochen und Monaten... Er schüttelte den Kopf. Im Grunde glaubte er nicht an die Alien-Theorie. Aber welche Erklärung gab es sonst für einen Mann, der dem phantastischen Hulk wie aus dem Gesicht geschnitten war? Muß ihn finden. Muß - ihn - unbedingt -finden! Frank Buscetta beschloß, nicht länger nur davon zu träumen, sondern endlich zu handeln. Noch in der gleichen Stunde verließ er sein Apartment, das er zur Untermiete bewohnte. Als er aus der Tür trat, drehte er sich noch einmal um und blickte zurück - so intensiv, als müßte er das, was er sah, in seinem Gedächtnis bewahren. Wie jemand, der nicht wirklich daran glaubte, je wieder heimzukehren... Auch tags darauf hatte Holger Alsop noch keine Möglichkeit gefunden, aus dem Phant-Modus zurückzuschalten. Er wurde mehr und mehr zum tödlichen Korsett für ihn - einerseits schützte er ihn zwar davor, wieder in die Krämpfe zu verfallen, andererseits aber würde er ihm auch, so nicht doch noch eine Lösung gefunden wurde, unweigerlich den Tod bringen.
Dieser Gedanke ließ sich nur ertragen, wenn er auf sein Zweites 141 System umschaltete - und mit geradezu roboterhafter Kühle zählte er selbst den Todescountdown ab, der unaufhaltsam lief. Zu Phanten bedeutete, den Viren den Wirtskörper zu überlassen - ihnen die Kontrolle darüber zu übergeben. Mark Carrell verbrachte viel Zeit mit Holger Alsop, und obwohl er die Gedanken anderer Menschen in seiner Umgebung kaum noch ertrug - sie waren zwar weniger geworden, weil sich das Tal geleert hatte, aber ihm kam es vor, als würden die wenigen von Stunde zu Stunde intensiver denken - mied er den Übergang ins Zweite System, so lange er es noch irgendwie ertragen konnte. Eine neue Angst war zu der mentalen Folter, unter der er litt, hinzugekommen: Carrell fürchtete um den Verlust seiner Menschlichkeit, sollte er analog zu Alsops Phant-Problem im zweiten System »steckenbleiben«. Bislang gab es dafür kein Indiz, aber den Cyborgkameraden vor Augen vergaß Carrell die Möglichkeit, daß dies geschehen könnte, keine Sekunde lang. Ezbal hatte ihm ein Psychopharmakum gegeben, das ihm auch im Wachzustand das Ertragen der fremden Stimmen in seinem Kopf erträglicher machen sollte. Es zeigte Wirkung. Gleichzeitig jedoch hatte Carrell das dumpfe Gefühl, daß die Medikamente auch seine Persönlichkeit in einer Weise veränderten, die ihm nicht gefiel. Er wurde insgesamt lethargischer. Er nahm seine Umwelt nur noch wie durch Watte wahr, als falle er mehr und mehr aus der Realität heraus. »Wenn einer das Phant-Virus wieder in den Griff bekommen kann«, sagte Holger Alsop gerade über den Tisch in seinem Quartier hinweg, an dem sie saßen und auf dem sich Carrells Medikamentencocktail stapelte, »dann Ezbal.« Er wirkte gefaßt, fast unbeteiligt - aber nichts hätte Carrell mehr erschrecken können als der stoische Gedankenfluß, der
sich ihm 142 auftat, wenn er sich auf die Alsop-Stimme in seinem Hirn konzentrierte. »Ja«, sagte Carrell. »Offenbar sind doch nicht alle Cyborgs von der Mutation betroffen«, fuhr Alsop fort. »Kurz bevor du gekommen bist, erfuhr ich von einem von Ezbals Assistenten, daß die Untersuchung der Snide-Zwillinge ohne greifbare Resultate verlief.« Carrell war verblüfft. »Wirklich?« Er fuhr sich mit der Hand über das schwitzige Gesicht und starrte danach noch sekundenlang auf die naßglänzende Hand, bevor er sie an seiner Kleidung abwischte. »Ich kann nur sagen, was mir gesagt wurde.« »Es brach auch bei uns nicht genau zeitgleich aus«, sagte Carrell. »Sie sind keineswegs sicher. Vielleicht dauert es nur etwas länger... ich glaube nicht, daß auch nur einer von uns, der das Virus trägt, verschont bleibt. Ezbal hat inzwischen Nachricht aus allen Bereichen der Erde. Die meisten der Cyborgs, die überprüft werden sollten, haben sich der Kontrolle entzogen... das ist etwas, was ich nicht verstehe. Als ich die Veränderung bemerkte, hatte ich nur noch den dringenden Wunsch, mich ins Brana-Tal zu begeben und Ezbal um Hilfe zu bitten. - Bei fast allen anderen, du ausgenommen, scheint das genaue Gegenteil der Fall zu sein. Sie... sie flüchten und verstecken sich, als wären sie Verbrecher!« »Es könnte auch Scham sein.« »Es gibt keinen Grund, sich zu schämen. Niemand ist für das verantwortlich, was hier geschieht. Niemand -« »Jemand... etwas«, unterbrach Alsop ihn, »muß dafür verantwortlich sein. Oder hältst du es für einen natürlichen Prozeß, daß sich die Phant-Viren plötzlich und fast zeitgleich, als stünden sie untereinander in einem nicht erklärbaren Dialog, verändern und dabei auch uns... verwandeln?« Carrell schwieg. Glaubte er den Stimmen in seinem Kopf, dann war dies alles andere als ein natürlicher Prozeß. Dann manipulierte etwas/jemand an den Cyborgs. Aber wer oder
was wäre dazu in
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der Lage gewesen? Die Geheimwaffe eines Feindes?
Terra besaß - immer noch - Gegner zuhauf, die wahrscheinlich jede Gelegenheit beim Schöpf ergriffen hätten, den Menschen zu schaden. Vielleicht steckte sogar jener »gnadenlose Feind« dahinter, vor dem schon die Mysterious hatten fliehen müssen... Spekulation! dachte Carrell ärgerlich. Das ist wildeste Spekulation! Es gab kein einziges Indiz, das diese These gestützt hätte. Noch nicht. »Was sagt Ren Dhark zu alledem? Er müßte längst informiert sein.« Mark Carrell stemmte sich von seinem Sitz hoch und durchwanderte die kleine Unterkunft nervös. »Ich schätze, Ezbal steht mit ihm in Kontakt - mit ihm und mit jeder Menge anderer maßgeblicher Leute.« »Wird uns das retten?« Mark Carrell hatte sich selbst im Phant-Zustand noch niemals lachen hören. Holger Alsop schaffte dieses Kunststückchen jetzt. Wobei sein Lachen jedoch eher wie das bissige Knurren eines in die Enge getriebenen Raubtiers klang. Der Türsummer unterbrach ihre Unterredung. Holger Alsop aktivierte den Monitor, der den Außenbereich zeigte. »Es ist Ezbal...« Mark Carrell streckte seine telepathischen Fühler wie in einem bereits perfekt antrainierten Reflex nach dem Schöpfer der Cyborgs aus... ... und prallte vor der Aura aus Düsternis und Bestürzung zurück. Ein Todesbote, dachte er, ohne sich dem Inhalt der dunklen Gedanken zu widmen. Und Echri Ezbal wurde der Rolle, die ihm Carrell in seiner Vorstellung bereits fest zugewiesen hatte, vollauf gerecht...
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»Sie bringen keine guten Nachrichten«, empfing Mark Carrell den Mann, der trotz seines für frühere Generationen hohen Alters normalerweise Vitalität versprühte, diesen Eindruck seit den Geschehnissen um die Phant-Mutation jedoch kaum noch aufrechterhalten konnte. »Einer muß es tun«, erwiderte Echri Ezbal ernst. Er blieb zwischen den beiden um einen kleinen Tisch herum sitzenden Cyborgs stehen und machte auch keine Anstalten, Platz zu nehmen. »Und ich bin niemand, der sich vor seiner Verantwortung drückt.« Carrell kniff die Augen leicht zusammen. In seinem Schädel pochte der Chor ferner Stimmen, und es waren längst nicht mehr nur die Gedanken von Menschen, die sich im Brana-Tal aufhielten. Die kurzzeitige Abschwächung der Flut, nachdem die meisten Cyborgs die Station verlassen hatten, war längst durch den Zuwachs an neuen Stimmen egalisiert, wenn nicht übertroffen worden. Wo wird es enden? Werde ich irgendwann von den Sorgen, Ängsten, Nöten, dem Glück und der Euphorie von Milliarden Erdenbewohnern durchtost sein? Wird es noch weitergehen? Über die Grenzen des Planeten hinaus? Werde ich den Gedanken von außerirdischen Lebens formen lauschen, ihre Gesänge in mir hören, ihr Gebrüll, wenn sie in Kriege ziehen, ihre Verzweiflung, wenn sie sterben...? Er selbst würde dann längst als lallender Irrer in irgendeinem Sanatorium vor sich hin siechen, seine Umwelt nicht mehr mit den Sinnen wahrnehmen, die ihm in die Wiege gelegt worden und die normal waren. Er würde in einer Welt aufgegangen und daran wahnsinnig geworden sein, die nur ihm allein zugänglich war. Keinem anderen. Keinem verfluchten anderen! Als hätte plötzlich auch Ezbal die Fähigkeit, die Carrell so sehr verwünschte, sagte er, an ihn gewandt: »Die gute Nachricht ist. Sie werden den Gedanken, denen Sie permanent ausgesetzt sind, solange Sie aufs Zweite System verzichten, nicht bis zu Ihrem Lebensabend ausgeliefert sein.«
145 »Sie haben ein Mittel gefunden, es abzustellen?« Carrell stand unwillkürlich auf - etwas, was er unter anderen Umständen beim Erscheinen Ezbals ohnehin getan hätte. Doch die Qualen, denen er ausgesetzt war, hatten ihn bereits erschreckend antriebsschwach werden lassen. Ezbal schüttelte den Kopf. Seine Haut war teigig grau, und in seinen Augen war soviel Dunkelheit, daß es Carrell nicht überrascht hätte, auch beim Suchen nach den Gedanken des Cyborg-schöpfers nur auf Dunkelheit... und Leere zu stoßen. Er zwang sich, es nicht zu überprüfen. Er mußte lernen, mit der Privatsphäre seiner Mitmenschen umzugehen - auch wenn ihm diese Selbstdisziplin gerade im Moment unsagbar schwerfiel. »Ich entschuldige mich für meine Wortwahl«, sagte Ezbal, »ich wollte keine falsche Hoffnung in Ihnen schüren. Das Gegenteil ist der Fall. Ich... wir - meine Assistenten und ich haben kein Mittel gefunden. Das Virus wird selbst verhindern, daß Sie Ihren Lebensabend wie auch immer verbringen werden.« Carrell schloß die Augen und kam sich vor, als treibe er mutterseelenallein auf einem fremden, unendlichen Ozean. »Sie wollen sagen -?« »Ich will nicht, aber ich muß.« »Ich werde sterben?« »Wenn ich die jüngsten Untersuchungsergebnisse auch nur annähernd richtig deute - ja, Mark. Ich weiß nicht, was ich sagen kann, außer, daß wir alles versuchen werden, die Viren doch noch in ihre Schranken zu weisen.« Carrell fühlte Alsops Blick wie das gebündelte Licht eines Brennglases auf sich gerichtet. »Wir werden alle sterben«, sagte der Cyborg, der nicht mehr in der Lage war, aus dem Phantzustand zurückzukehren. »Und ich beginne zu glauben, daß der Tod eine Erlösung für uns sein wird. Wir haben mit Kräften gespielt, an denen wir nie hätten rühren dürfen. - Das ist kein Vorwurf, der sich gegen Sie richtet, Echri. 146 Es ist nur eine Feststellung. Niemand konnte wissen, wohin
es eines Tages - und noch dazu so bald - führen würde.« Echri Ezbal hörte wie versteinert zu. Schließlich sagte er: »Es gibt noch eine verschwindend kleine Hoffnung.« »Welcher Art?« »Sie hat mit den Snide-Zwillingen zu tun. Sie sind weiterhin völlig unverändert, völlig... gesund. Wenn es mir gelingt, den Faktor zu ermitteln, der bei ihnen die Mutation verhindert...« »Wir hatten uns gerade darüber unterhalten«, sagte Alsop, während sich Carrell gar nicht mehr in der Lage sah, sich an dem Gespräch zu beteiligen. »Wahrscheinlich bewahrt nur noch der Zeitfaktor die Snides davor, ebenfalls... befallen zu werden. Woher nehmen Sie die Zuversicht, daß sie immun gegen das sind, was uns frißt? Jetzt gerade, in einer Stunde oder in einem Tag kann es auch sie erwischen.« Ezbal schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht.« »Diese Form von Ignoranz paßt nicht zu Ihnen, Echri«, sagte Alsop fast tadelnd. »Wir müssen uns den Gegebenheiten stellen, ihnen ins Auge blicken.« »Wenn man Sie hört, könnte man meinen, Sie wollten sterben!« Alsop schüttelte den Kopf. »Ich will nur nicht so weiterleben. Nicht einmal mehr die Tage, die mir noch bleiben. Das würde nur Sinn machen, wenn es noch eine Hoffnung gäbe.« »Ich habe gerade versucht, Ihnen zu erklären, daß es die gibt.« »Glauben Sie das wirklich?« mischte sich Carrell ein. Es kostete ihn unglaubliche Überwindung. »Wir müssen noch enger zusammenarbeiten - Sie, Holger, die Zwillinge und ich! Dann können wir es schaffen. Davon bin ich überzeugt - ja, ich schwöre Ihnen, das bin ich!« Sowohl Carrell, als auch Alsop spürte die Kraft, die hinter Ezbals Worten schwang. Carrell zuckte die Achseln und sagte schließlich in flapsigerer Art, als ihm selbst geheuer war: »Vorsicht rechnen Sie damit, daß wir Sie beim Wort nehmen.« 147
Er wußte wirklich nicht, ob er das Richtige tat - nun schon den dritten Tag in Folge. Aber es war zur fixen Idee geworden - von der er sich nur kurieren konnte, wenn er das Phantom aufspürte. Und auch wenn es ihm nicht gelingen sollte, den Grünen der Polizei zuzuführen, dann wollte er doch wenigstens einen stichhaltigen Beweis für seine Existenz in die Finger bekommen. Deshalb hatte Frank Buscetta wie auch an den Tagen davor seine Ringkamera mitgenommen. Federleicht und winzig war sie; er konnte sie einfach über den Mittelfinger der rechten Hand schieben. Der winzige Speicherkristall war in der Lage, mehrere Stunden Bildmaterial in tadelloser Qualität aufzuzeichnen. Ein nicht einmal Stecknadel-kopfgroßes Mikrofon hielt außerdem sämtliche Geräusche im Umkreis fest. Normalerweise hätte er sich ein solches Teil gar nicht leisten können. Ein weitläufiger Bekannter hatte es ihm verschafft, unter der Hand, zu einem spottbilligen Ratenpreis. Wahrscheinlich war die Kamera gestohlen, doch wen juckte das schon? Der Zweck heiligte die Mittel. Buscetta lächelte schief, als er die U-Bahnstation verließ. Er hätte nicht einmal sagen können, woher sein plötzliches Draufgängertum rührte. Es war nicht Mut, es war einfach... töricht. Er wußte das, aber er konnte oder wollte es nicht ändern. Der Grüne beherrschte all seine Gedanken. Er mußte ihn finden, mußte ihn fragen, warum er sich für ihn, einen Wildfremden, eingesetzt hatte. Und woher er kam. Ein Hüne. Ein lebendig gewordener Superheld... Es bereitete Buscetta durchaus Sorgen, mitzuerleben, wie ihn die Begegnung mit dem Grünen verändert, wie sie ihn aus der relativ gefestigten Bahn seines bisherigen Lebens geworfen hatte. Aber diese Besorgnis reichte nicht aus, ihn von seinem Scheuklappenhandeln abrücken zu lassen. 148 Es war dunkel geworden in der New Bronx. Die Zeit der Banden. Die Zeit, in der jeder Schritt abseits der belebten Straßen zum schier unkalkulierbaren Risiko wurde - Buscetta hatte es am eigenen Leib erfahren, war wie durch ein Wunder
davongekommen... ... und hatte nun nichts Besseres zu tun, als sich offenen Auges emeut in die Gefahr zu stürzen! »Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um« - lautete so nicht ein altes terranisches Sprichwort? Er ließ sich nicht aufhalten, nicht einmal einschüchtern. Er hatte sich auf dem Schwarzmarkt einen neuen Paraschocker besorgt, den er in der Tasche trug. Mehr nicht. Wie trügerisch die vermeintliche Sicherheit war, die von einer solchen Waffe ausging, hatte er bei der Begegnung mit den Neos erfahren. Und selbst wenn die potentiellen Räuber und Mörder, die ihm in den Schatten der Häuserschluchten auflauerten, nicht so radikal vorgingen wie die Neos, so mußte er doch damit rechnen, daß auch sie bewaffnet waren. Mit Schockern oder sogar Blastem. Der illegale Waffenhandel ermöglichte es Leuten mit Geld, sich jede Art von Artillerie zuzulegen. Ich bin ein Narr, dachte Buscetta. Er streunte durch die Nacht, bewegte sich durch die selbe Gegend wie in jener Nacht, nahe der Markthalle. Lief durch kaum erhellte Hinterhöfe und Gassen. Lauschte. Ging weiter. Lauschte... Ich, der Jäger des Hulk, ein gottverdammter, hirnverbrannter -Seine Gedanken gerannen, als in unmittelbarer Nähe ein polterndes Geräusch erklang. Katzen, dachte er. Hunde. - Ratten... Falls letzteres zutraf, blieb noch die Frage, ob zwei- oder vierbeinig. Er umfaßte mit der einen Hand den Schocker in seiner Jak-kentasche, mit der anderen die Stablampe in seiner Linken, ließ sie Jedoch ausgeschaltet. Die Geräusche wurden mit jedem Schritt lauter, den er sich der Quelle näherte. Hölle, es gab unzählige Obdachlose gerade in der New Bronx. Und es war... es elektrisierte ihn gleichsam. Urplötzlich. Denn er mahlte die Gegenwart des von ihm gesuchten Mannes, lange bevor er ihn sah - mit dem untrüglichen Instinkt des Jägers, zu dem er seit jener Nacht geworden war... Hunger, dachte er. Huuuungerrr!
Er meinte, von innen heraus zu verbrennen - bei lebendigem Leib zu schrumpfen und zu mumifizieren, als würde ihm alles Wasser aus dem Körper gezogen. Duuurrrst... Hunger und Durst waren alles, was sein Denken und Handeln noch bestimmte. Seit Tagen wanderte er durch die Stadt, vornehmlich nachts. Bei Tag verkroch er sich unter Säcken von Müll und... und versuchte, Ruhe zu finden. Schlaf. Vergessen. Dabei hatte er doch schon alles vergessen, was ihn einmal ausgemacht hatte. Bevor Es nach ihm gegriffen und sich seiner bemächtigt hatte -jenes schreckliche Es, das ihn seither nur noch seine niedersten Instinkte leben ließ. s Huuungerrr... Duuurrrst... Er wühlte sich durch den Abfall von Menschen, die selten'bis nie etwas wegwarfen, was noch zu gebrauchen war. Weil sie selbst nichts besaßen -jedenfalls nichts im Überfluß. Sein Heißhunger, seine Gier wuchs von Minute zu Minute, von einem pumpenden Schlag seines Herzens zum nächsten getrieben, und füllte längst sein ganzes Sein aus, als Frank Buscetta sah den vermaledeiten Kerl im Schatten. Er wühlte in einer Mülltonne, schaufelte den Inhalt geradezu mit seinen riesigen Händen heraus und gab dazu grunzende, knurrende, tierhafte Laute von sich. Aber er war kein Tier (oder doch...?). Er trug wieder jenen Hut, jenen Mantel, wie in der Nacht, die Buscettas Leben verändert hatte - wie tief, spürte er erst jetzt, da er dem Unheimlichen neuerlich gegenüberstand. Zuvor war alles nur eine Idee, eine Vorstellung gewesen. Das Auffinden des Grünen... er begriff, daß er nie wirklich daran geglaubt hatte, es schaffen zu können. Nicht in diesem gigantischen Labyrinth aus Straßen, Gassen und Höfen. Doch das Schicksal - oder eine unbekannte Anziehungskraft -hatte ihn wider Erwarten die richtige Fährte aus Tausenden möglichen aufnehmen lassen.
Und jetzt... Buscetta hob wie in Trance die Hand, richtete die Ringkamera auf den Hünen, der geradezu besessen im Unrat wühlte, und aktivierte das Nachtsichthologramm. Erst durch die Projektionslinse hindurch vermochte Buscetta die Dunkelheit weit genug aufzulösen, um die Bestätigung seines Gefühls zu erhalten: Es war der Grüne! ? Gleichzeitig erschrak Buscetta vor der Physiognomie der Gestalt, in der ein unerwarteter Zuwachs an... animalischer Wut tobte. Der Grünhäutige sah tatsächlich aus wie der Hulk aus seinen heißgeliebten Comics - und er benahm sich auch so! Ich muß völlig den Verstand verloren haben! Wie
konnte ich überhaupt nach diesem... diesem Ding
suchen?!
»Verstand verloren« umschrieb auch den Zustand des Grünen scheinbar nahezu perfekt. Denn noch mehr als bei seiner Auseinandersetzung mit den Neos wirkte er jetzt von allen guten Geistern verlassen - gleichzeitig aber völlig auf den Inhalt der stinkenden Tonne konzentriert, als läge darin der größte Schatz des Universums verborgen. Buscetta löste den Ringzoom aus, bis das verzerrte Gesicht der Monstrosität den gesamten Erfassungsbereich der Kamera einnahm. Sobald die Aufnahme im Kasten ist... nichts wie weg! Schnur-Wracks zu den Bullen und Der Hulk-Verschnitt hielt inne. Es sah aus, als gefriere jede sei 151 ner Bewegungen. Doch schon einen Sekundenbruchteil später tauchte er mit seinen Händen aus der Tonne hervor und hob gleichzeitig den Kopf - soweit, daß er genau in Buscettas Richtung schauen konnte. Und dies auch tat. Ihre Blicke begegneten sich durch das Sucherfeld der Kamera hindurch. Die Augen des Ungetüms glühten. Frank Buscettas Herz rutschte in die Hose. Er brauchte länger, viel länger als der »Hulk«, um sich aus seiner Erstarrung zu lösen. Und noch während er darum kämpfte,
die Lähmung aus seinen Gliedern zu verbannen, wischte der Hüne bereits in einer Explosion von Wut die Tonne mit einem seiner muskelbepackten Arme beiseite und - stürmte Buscetta entgegen. Der Wind, den er durch die Geschwindigkeit selbst erzeugte, riß ihm den Hut vom Kopf. Das Wehen des umhangartigen Mantels verlieh ihm dabei noch zusätzlich den Nimbus eines bizarren Superwesens, das geradewegs einem Comic entstiegen war. Buscetta war außerstande, dem Unheil auszuweichen. Zäh wie Teer wälzten sich die Gedanken durch sein Hirn. Das Verderben flog ihm förmlich entgegen. Und dann traf ihn der Hieb gegen die Brust. So wie gerade noch eine leblose Tonne durch die Luft geschleudert worden war, fühlte sich nun Buscetta davongewirbelt. Der Sturz auf den Asphalt ernüchterte ihn erstaunlicherweise. Er sortierte seine durchgeschüttelten Knochen und kam irgendwie wieder auf die Beine, bevor der Grüne erneut bei ihm war. Jetzt erst erinnerte er sich der Waffe, die er bei sich trug. Er zerrte sie hervor und richtete den Abstrahlpol auf das Mischwesen aus Mensch und... und was? Der neuerlich heranstürmende Grüne bremste. Seine Körperbeherrschung war unglaublich. Aus dem Sprint heraus kam er zum Stehen. Als hätte ein unsichtbares Hindernis ihn aufgehalten, stoppte er, zur Salzsäule erstarrt. Buscetta machte zuerst die Waffe in seiner Faust dafür verant 152
wortlich. Doch dann bemerkte er den Blick des Geschöpfs,
aus dem die unbeherrschte Wut, der berserkerhafte
Tötungswille vollständig verschwunden war.
Erkennen malte die Züge des Unholds regelrecht weich. Schieß! gemahnte sich Buscetta selbst. Worauf wartest du? Schieß!? So eine Gelegenheit bekommst du kein zweites Mal! Der Paraschocker war auf Höchstleistung justiert. Einen Menschen hätte die Ladung töten können.
Der Grüne riß plötzlich die Hände hoch. So abrupt, daß Buscettas zitternder Finger fast den Druckknopf auslöste und den summenden Parastrahl auslöste. Doch dann hörte er das Wort. Das gelallte, einsame Wort, das sich wie eine Klinge in sein Herz schnitt. »Hilll-fffe!« Eine List, warnte Buscettas gesunder Menschenverstand. Aber den hatte er offenbar längst verloren. Er ergab sich ganz seinem Instinkt, der ihm vorgaukelte, daß der Angriff des Grünen nur einem schrecklichen Mißverständnis entsprungen war. Er hatte sich selbst bedroht gefühlt durch den Mann, der ihn filmte. Doch jetzt hatte er sich seiner erinnert, ihn wiedererkannt. Die Waffe schreckte ihn nicht - es war sein Gewissen, das ihn stoppte. Und nicht nur das. Er... er faßte... Zutrauen. Er legte sein Schicksal in Buscettas Hände, bat um... »Hilll-jffe!« Noch kläglicher, noch verzweifelter rann das Wort aus der Kehle des Riesen. Buscetta fühlte längst verlorengeglaubtes Selbstbewußtsein in sich zurückströmen und stammelte: »Wer bist du? Wie... könnte ich dir... helfen?« Der Grüne trat einen Schritt auf ihn zu. Buscettas Waffe ruckte nach oben. Sein Gegenüber zuckte zusammen, hob besänftigend die Hände und wirkte dabei trotz seiner Größe wie ein kleiner, verstörter Junge, der sich in der Welt verirrt hatte und nun alle Kraft zusam 153 mennahm, um sich einem Erwachsenen anzuvertrauen. Einem mißtrauischen Erwachsenen. Mit einer tödlichen Waffe in der Hand. »Schon gut. Schon gut...« hörte Buscetta sich sagen. »Noch einmal: Wer bist du? Was für eine Art Hilfe erwartest du von mir?« 8. Fumio Takaschi steuerte die unförmige Sonde behutsam wie
einen Herzkatheder durch die nicht einmal einen halben Meter durchmessende Ader der Abwasserleitung, die aus einem der Megahochhäuser in die Tokioter Kanalisation führte. Darin wurden keine Fäkalien transportiert, nur streng getrennte Flüssigkeiten, etwa jene, die Menschen benutzten, um sich zu waschen oder damit zu kochen. Für Exkremente gab es eigene Leitungen, die in entsprechende Klär- und Aufbereitungsbecken führten. Jene Abwässer, für deren ungehemmten Fluß Takaschi und seine Kollegen zuständig waren, stanken dank der schon dem Trinkwasser bei gemischten Mikroorganismen nicht einmal, sondern verbreiteten höchst wohlriechende Düfte, welche die Arbeit in dreißig Metern Tiefe unter dem Stadtmoloch fast angenehm machten. Vanille. Dieses Jahr hatten sich die Stadtväter für Vanille entschieden. Die Zeiten, da Kanalarbeiter unablässig mit Unrat, Krankheitserregern oder sogar Ratten konfrontiert worden waren, gehörten der Vergangenheit an. Zumindest galt dies für Tokio, das sich im Zuge der Wiederaufbauprogramme nach der Giant-Invasion zu einer Vorzeigemetropole gemausert hatte. Nicht nur unterirdisch, natürlich. Auch oberirdisch war die Stadt so sauber, daß sie stellenweise fast schon steril wirkte. Strikte Umweltschutzgesetze, deren Einhaltung rigoros überwacht wurde, hatten diesen »Quantensprung« in Sachen Reinlichkeit und Ordnung ermöglicht - und nicht jeder fand dieses neue Tokio gut. Fumio Takaschi schon. Er stammte aus kleinsten Verhältnissen, und er liebte die blitzblank wie ein Phönix aus der Asche wiedererstandene Stadt. Schon als Kind war ihm Schmutz in jeglicher Form einfach zuwider gewesen. Sein Berufswunsch hatte demzufolge früh festge-^anden: irgend etwas im Dienste der Sauberkeit sollte es sein. Deshalb hatte er ein Ingenieurstudium absolviert und leitete seit Runmehr zwei Jahren eine der hundert Kolonnen, die das Abwas 155 semetz der Stadt in Ordnung halten sollten. Die Sonde, die von ihm gelenkt unterwegs war, sollte eine Verstopfung lokalisieren, die oben im Wolkenkratzer für
einige Unannehmlichkeiten sorgte. Routine. Trotzdem konzentrierte sich Takaschi, als ginge es um seine eigene Wohnung, die davon in Mitleidenschaft gezogen wurde. Während sich seine Kollegen Schigeo, Kazuo und Daisuke hinter ihm lautstark über das jüngste Cyberkaraokespektakel unterhielten, starrte er in die Optik des Spezialhelms, der ihn mit dem Auge der Sonde verband. Die antigravgetriebene Apparatur besaß neben starken Scheinwerfern und einem Infrarotsystem auch Instrumente, um jeden noch so feinen Haarriß in der Schachtwandung ausfindig zu machen. Während sie sich durch die Ader bewegte, wog ein Rechner unablässig ab, ob irgendwo Materialermüdungen in bedenklichem Ausmaß aufgetreten waren, denen entgegengewirkt werden mußte. Bislang war dies nicht der Fall. Die Sonde hatte sich bei einer Geschwindigkeit von drei Metern pro Minute etwa 15 Meter von Takaschis Standort wegbewegt. Die Ursache der Verstopfung war noch nicht sichtbar. Takaschi überlegte gerade, ob er die Geschwindigkeit erhöhen sollte, als etwas Seltsames geschah: Irgend etwas schien dem Auge entgegenzufliegen, so schnell, daß es unmöglich zu erkennen war, worum es sich dabei handelte und im nächsten Moment hatte Takaschi Bildausfall. Sein verblüffter Ausruf brachte die anderen Kolonnenmitglieder zum Verstummen. Indes bemühte sich Takaschi, die Verbindung wiederherzustellen. Er schaffte es. »Was ist?« fragte Daisuke, der Jüngste in der Mannschaft. Er hatte erst vor einem Monat bei ihnen angeheuert. Ohne den Helm abzunehmen, antwortete Takaschi: »Etwas hat die Scheinwerfer gekillt. Ich stand kurz im Dunkeln. Aber Infrarot 156 funktioniert noch. Ich werde -« Er stöhnte gequält auf. Taumelte. Sofort waren Kazuo und Schigeo bei ihm. »Fumio...« Fumio Takaschi brachte kein Wort der Erklärung über die
Lippen. Er zitterte wie Espenlaub. Schließlich stammelte er nur: »Das... das kann nicht sein...!« Gleichzeitig riß er sich den Helm vom Kopf und stierte seine Kollegen im Licht einer mitgebrachten Arbeitslampe an. »Was? Was kann nicht sein?« drängte Kazuo Mijagawa, der älteste, mit dem Takaschi anfänglich seine Autoritätsprobleme gehabt hatte, da Kazuo der Meinung gewesen war, die Leitung der Gruppe aufgrund seiner Erfahrungen eher verdient zu haben als ein frisch von der Ingenieursschule gekommenes Greenhorn. Doch im Laufe der zwei Jahre hatten sie sich zusammengerauft - mehr noch, man konnte es durchaus Freundschaft nennen, was sich zwi schen ihnen entwickelt hatte. Takaschi war außerstande, eine Antwort zu geben. Statt dessen hielt er Kazuo den Helm hin, als wollte er sagen: »Sieh selbst!« Kazuo Mijagawa ließ sich nicht lange bitten. Mit tiefen Sorgenfalten auf der Stirn forderte er Schigeo und Daisuke auf, sich um Takaschi zu kümmern, während er sich das feine Gespinst des Sondenkommunikators aufsetzte. Ein paar Handgriffe, und er hatte das visuelle System soweit justiert, daß er - wie zuvor Fumio Takaschi - via Infrarotauge das Schachtinnere ausmachen konnte. »Was siehst du?« drängte Schigeo, der spürbar nervös wurde, was ihm angesichts von Takaschis Nervenzusammenbruch nicht einmal zu verdenken war. Aber Kazuo sah nichts. Nichts Außergewöhnliches jedenfalls. Und erst recht nicht etwas, das Takaschis regelrechten Schockzustand erklärt hätte. Er wollte dies gerade zur Beruhigung der anderen aussprechen, als... 157 ... es ihn selbst erwischte. Genau wie kurz zuvor seinen Freund und Kollegen Takaschi! »Bei allen Kamt...!« beschwor er die Geister seines
Glaubens. Passenderweise - denn das, was er sah - und was vor ihm schon Takaschi gesehen haben mußte - konnte selbst nur ein... Geist sein! Starr vor Entsetzen blickte Kazuo Mijagawa auf die Infrarotwiedergabe eines entfernt menschlichen Schädels, aus dem ihn zwei Augen anstarrten. Ihn! Nicht die Sonde! Es hatte wahrhaftig den Anschein als wüßte der Verrückte, der sich in der Abwasserader versteckte, wer sich am Ende der Kamera befand - knapp zwanzig Höhenmeter von ihm entfernt. Und dann stieß der seltsam deformierte Schädel ohne Vorwarnung nach vom, rammte die Sonde - und zerstörte dabei, wie zuvor offenbar schon die Normalscheinwerfer, nun auch noch deren Infrarotoptik! Kazuo Mijagawa war eine Sekunde lang wie gelähmt. Dann begriff er, was der Angriff auf die Sonde bedeutete und schrie mit überschlagender Stimme: »Dieser Wahnsinnige kommt! Er kommt uns entgegen...!« Das Schnellrestaurant war nur schwach besucht. Daß es sich in einer Gegend wie dieser überhaupt halten konnte, grenzte nicht an ein Wunder. Seine Existenz war eine Folge der Firmenphilosophie, der zufolge Präsenz, notfalls auch vor Gewinn ging. An ein Wunder hingegen grenzte für Frank Buscetta selbst, was er hier tat. Er konnte wahrhaftig nicht sagen, daß er noch mit seinen beiden Beinen »fest im Leben« stand - das genaue Gegenteil war der Fall. Das Gefühl, immer mehr den Boden unter den Füßen zu verlieren und aus der Realität herauszufallen, verwandelte sei 158 nen Magen in einen harten Knoten, der es ihm unmöglich machte, auch nur den kleinsten Happen hinunterzuschlingen. Ganz anders der »Hulk«. Der Grüne hatte ihm gegenüber an einem der unattraktiven
Ecktische Platz genommen. Sein breitkrempiger Hut war tief ins Gesicht gezogen {Gesicht? - Buscetta fröstelte trotz der stickigen Wärme, die den Schnellimbiß füllte), der Kragen des verschlissenen Mantels hochgestellt. Ein übler Geruch ging von dem seltsamen Geschöpf aus, der wie das Klischee eines völlig heruntergekommenen Penners vor Buscetta saß. Doch daran schien sich niemand zu stören. Die wenigen anderen Gäste sahen kaum besser aus. Ich bin hier derjenige, der aus der Rolle fällt, dachte Buscetta. Er hatte schon den ein oder anderen begehrlichen Blick aufgeschnappt - der nicht ihm, wohl aber seiner bescheidenen Brieftasche galt. Er war hier der Außenseiter, ein junger Hänfling - ein leichtes Opfer. Die auf halbmeterhohen Absätzen heranstaksende Bedienung besaß keine Haarprobleme mehr. Ihr kahlrasierter, mit Hennabil-dem verzierter Schädel glänzte im Deckenlicht und erinnerte an ein bemaltes Riesenei. Dieser Eindruck änderte sich auch nicht, als sie mit herabhängenden Mundwinkeln das Tablett zwischen Buscetta und dem Grünen auf den Tisch donnerte und wortlos wieder davonschaukelte. Bezahlt hatte Frank bereits bei der Bestellung. »Worauf wartest du? - Lang zu!« ermunterte er seinen Alp traumgast. Auf dem Tablett befanden sich Burger, Getränkebecher und ein paar Gimmicks, die dem frugalen Mahl zu Werbezwecken beigefügt waren. Der Grüne saß Buscetta mit aufgestützten Armen gegenüber. Seine Haltung erinnerte an einen in der Hocke befindlichen Sumo-^inger, der sich jeden Moment mit voller Wucht auf seinen Gegner werfen konnte. 159 Und Gegner... ... waren sie vor einer knappen Stunde noch gewesen. Mehr als ein Lallen hatte der Grüne nicht zustande bekommen, aber es hatte genügt, um Buscetta davon zu überzeugen, daß er es, entgegen seinem ursprünglichen
Glauben, eben nicht mit einem Monster zu tun hatte - nur mit einer sehr bedauernswerten Kreatur, die Hunger litt. Die sich offenkundig durch den Müll der Bronx-Bewohner wühlte und nicht einmal davor zurückschreckte, sich von Ungeziefer zu ernähren, um zu überleben. Zu überleben! Noch nie zuvor war Buscetta in so enge Berührung mit dem Elend der Welt gekommen, das sich auch in New York, abseits des Wohlstands, neu angesiedelt hatte. Irgend etwas hatte ihm eingeflüstert, daß er dem Unglücklichen helfen mußte - und daß die dringendste Hilfe die war, ihm etwas Vernünftiges zu essen zu besorgen... Wahnsinn! Das bin nicht wirklich ich, der hier sitzt, oder? Das kann nur ein gottverfluchter Alptraum sein, aus dem ich erwache, wenn ich mich nur fest genug dräu/konzentriere! Dieser... Grüne und ich - an einer gedeckten Tafel... das kann einfach nicht wahr sein! Längst hatte er seine Ringkamera vergessen. Und auch jetzt, da er nur darauf wartete, daß der Grünhäutige endlich zulangte, erinnerte er sich nicht an sie. Weil sein Gegenüber alle Gedanken auf sich bündelte. »Iß! Du hast doch Hunger... oder hab ich da was mißverstanden?« Etwas knackte. Es mußten die Knöchel des Grünen sein, dessen Fäuste wie Schildkrötenköpfe zurückgezogen in den Ärmeln des Mantels steckten. Plötzlich fing der ganze Körper des Hünen an zu vibrieren, als müßte er erst eine festgefahrene Bremse lösen, und dann... dann schössen die riesigen Hände regelrecht aus den Stofföffnungen, schnappten sich einen der Burger und führten ihn 160 in die Schatten, die der Hut warf. Buscetta war zusammengezuckt, faßte sich aber wieder und lauschte dem lauten Schmatzen, das sofort Aufmerksamkeit erregte. Hie und da drehten sich ihnen Gesichter zu. Buscetta versuchte, es herunterzuspielen, lächelte gequält und zuckte die Schultern - nach dem Motto: Ich kann nichts für den Appetit meines Kumpels. Und noch weniger für seine Tischmanieren...
Bis Buscettas Lächeln erstarb, hatte der Grüne bereits das Tablett komplett geräumt. Die Stille kehrte zurück - weil die Zähne nichts mehr zum Kauen hatten. Doch sie währte nicht lange, denn aus den Tiefen seiner Kehle grollte der Vermummte ein Wort, das sich wie mit Sägezähnen in Buscettas Him fraß: »Huuunnnggeeerrr!« Das ganze Restaurant mußte es hören. Buscetta hätte sich am liebsten unter dem Tisch verkrochen. Oder in sich selbst. Statt dessen winkte er die hochhackige Bedienung erneut heran. »Noch mal dasselbe bitte... oder nein: Bringen Sie die dreifache Ladung.« Er wedelte mit einem Geldschein, der die Forderung abdeckte. Die Mundwinkel der Lady erreichten Knietiefe. Aber sie spurte. Für die neue Ladung brauchte Frank Buscettas Gast nur unwesentlich länger als für die erste. Er aß nicht, er schlang nicht... er fraß! »Allmächtiger!« tönte es von den Nebentischen. Einige der Gäste waren inzwischen näher herangerückt, um das Spektakel besser verfolgen zu können. Rasend schnell schien sich herumzusprechen, was für ein Vielfraß sich hier breitgemacht hatte und seiner Sucht frönte. Das Lokal füllte sich. Buscetta blieb es nicht verborgen. Er beugte sich zu dem Grünen und zupfte ihn am Mantel, wollte ihn dazu bewegen, das Restaurant mit ihm zu verlassen. »Komm, wir gehen besser. Die Leute werden schon -« ^Huuunnnggeeerrr!« 161 Zeitgleich mit dem abermaligen Ausbruch erhaschte Frank Buscetta einen Blick unter die Hutschatten. Die Augen des Grünen hatten wieder zu glühen begonnen, als hätte jemand ein Feuer in seinem Quadratschädel entfacht. Buscetta verfluchte seine Gutmütigkeit und das Mitleid, das der ungeschlachte Hüne in ihm geweckt hatte. Gleichzeitig aber verwünschte er auch seine himmelschreiende Dummheit, die
ihn animiert hatte, diesen Kerl mit dem Gebaren eines Vorzeitmenschen ausgerechnet in ein Restaurant und damit ins Licht der Öffentlichkeit zu zerren. Ich hätte ihm eine Tüte holen sollen... aber mittlerweile wußte er, daß es mit einer Tüte nicht getan gewesen wäre. »Hulk« hatte mehr Hunger als ein Rudel Wölfe! Ohne den Blick von den bedrohlich glimmenden Augen zu lassen, kramte Buscetta in seiner Geldbörse. Allzu üppig war ihr Inhalt noch nie gewesen, und das meiste davon war inzwischen draufgegangen. Der spärliche Rest reichte höchstens noch für... »Bringen Sie noch mal drei Burger. Schnell, bitte.« Die Bedienung wackelte heran. Der Grüne riß ihr das neue Tablett förmlich aus den Händen. Satt machte ihn auch diese Portion nicht. »Meehrrrrrr! Ichch... brauchch meehhrrrr davvonnn....!« Buscetta wußte längst, daß sich Unheil zusammenbraute. Dennoch sagte er tapfer: »Sense, Mann. Das war alles, was ich an Mäusen hatte. Ich freue mich ja über deinen gesegneten Appetit, aber du verdirbst dir noch den Magen, wenn du so weiterfrißt. Und ich möchte wirklich nicht dabei sein, wenn du die Berge wieder auskotzt, die du gerade -« Der Grüne ließ ihn nicht einmal zu Ende lamentieren. Und er zeigte nicht gerade Dankbarkeit für das, was Buscetta ihm bis dahin an Nächstenliebe hatte angedeihen lassen. Mit einem Satz sprang er auf und kippte den nur nachlässig im Boden verankerten Tisch um, der Buscetta entgegenkam und ihn mitsamt des Stuhls. auf dem er saß, nach unten riß. Erst im Liegen, halb begraben von dem - glücklicherweise nicht 162 eben schweren - Plastikmöbel, begriff Buscetta, daß der »Hulk« inzwischen schon seinen Platz verlassen und unter dem Aufschrei der Bediensteten über die nahe Verkaufstheke geflankt war. Während er sich aufrappelte, schwoll der Lärm im Restaurant rapide an, alle schrien wild durcheinander, als ginge es um ihr Leben, und etliche flohen aus dem Raum. Buscettas suchender Blick fand den Grünen, der keinen Wert mehr auf Tarnung legte - dem es völlig egal schien, ob ihn jemand als die Monstrosität erkannte, die sich bis dahin
unter seiner Vermummung versteckt hatte. Ihm ist alles egal, erkannte Buscetta messerscharf. Er denkt nur noch ans Fressen! Mit normalem Heißhunger hatte das, was der grünhäutige Mann veranstaltete, nichts mehr gemein. Fasziniert beobachtete Buscetta, wie sein einstiger Retter sich in eine Art Allesfresser verwandelte - eine nur noch entfernt menschliche Maschinerie, die sämtliche Angestellte aus dem Bereich hinter dem Verkaufstresen verscheuchte und sich danach über alles hermachte, was dort an Eßbarem aufgereiht war. Vom Hut befreit, präsentierte sich der grüne, kantige Schädel wie die Schöpfung eines wahnsinnigen Bildhauers. Dieser klobige Kopf wirkte tatsächlich wie aus Stein modelliert - daß er lebte und die Mimik zwischen grotesker Häßlichkeit und unfreiwilliger Komik hin und her schwankte, machte den Anblick nur noch unheimlicher. Erst recht, als der Grüne auch noch seinen Mantel von sich schleuderte und die Muskelpakete sichtbar werden ließ, die wie gestraffte Taue unter der grünen Haut verliefen - so stark geschwollen, als wollten sie jeden Moment hervorbrechen. Zwischen den Kau- und Schluckbewegungen stahlen sich schreckliche Laute aus dem Rachen der schaurigen Mißgeburt. »Mißgeburt!« war auch das Wort, das Frank Buscetta aus seiner Nähe aufschnappte, dort wo sich immer noch Unentschlossene drängten, hin und her gerissen zwischen dem Wunsch auszuharren und weiter Zeuge des Amoklaufs zu werden - und dem verständli 163 chen Drang, die eigene Haut zu retten, ehe der Entstellte vielleicht auf die Idee kam, sich auf »Rohkost« umzustellen... Muß etwas tun! Bin schuld, daß er hier ist! Verdammt... Aber was könnte ich tun? Fast widerwillig erinnerte er sich an den Schocker, den er bei sich hatte. Indessen zerlegte der Hüne das Schnellrestaurant weiter in seine Bestandteile. Buscettas Hand verschwand in der Jackentasche, tastete
nach der Waffe. Dann berührte er sie. Nein! Ich - verschwinde besser... Er wollte feige sein. Wollte keinen auf »Held« machen. Nach Hause und nie wieder daran denken, bleute er sich ein. Nichts wie weg. Er drehte sich um. Richtung Ausgang. Dessen Glastüren in diesem Moment berstend zu einem Scherbenhaufen zusammenfielen. Ein riesiger Schweber war von außen dagegengekracht, hatte das Hindernis einfach durchstoßen. Seine Spitze ragte jetzt in das Lokal. Eine Luke öffnete sich, und ein Heer von behelmten Polizisten in schwarzen Schutzanzügen quoll heraus. Die Männer verteilten sich auf ihre einstudierten Positionen. Schwere Lasergewehre gingen in Anschlag. Bevor sich Buscetta versah, stand er genau zwischen den Fronten. Zwischen den wildentschlossen genau in seine Richtung zielenden Sicherheitskräften - und dem hinter ihm jäh erstarrten GRÜNEN HULK. Der einen Moment innehielt, als hätte er die Unsinnigkeit von Gegenwehr angesichts solcher Übermacht erkannt, dann aber... 0 Gott! blitzte es in Frank Buscetta auf. Oh - mein - GOTT! Es waren letzte Gedankenfunken, bevor das Inferno ausbrach. 164 »Dieser Wahnsinnige kommt! Er kommt uns entgegen...!« Das Gebrüll Kazuo Mijagawas grub sich tief in die Hirnrinde all derer, die es hörten. Selbst Fumio Takaschi erwachte aus seiner hysterischen Benommenheit. Und er war es auch, der die Bedeutung von Kazuos Warnruf als Erster verstand. Weil er den Kerl in der Leitung selbst gesehen hatte - und von dessen Anblick völlig aus der Bahn geworfen worden war! Die Verstopfung, dachte er. Dieser Irre ist der Verursacher der Verstopfung - nein, die Ursache.
Aber... Es war lebensgefährlich, in die enge Ader einzudringen. Es grenzte an Selbstmord! »Fumio...!« »Ich höre dich, Kazuo.« »Wir schnappen ihn uns! Du, Schigeo, orderst schon mal eine Polizeistreife. Sie soll uns am Ausgang Süd-11-Blau erwarten. Wir bringen ihr diesen Saboteur... was immer er mit seiner Aktion bewerkstelligen wollte! Sag ihnen das.« In der Zugluft der Kanalisation schien Schigeo wie ein stürmischen Winden ausgesetzter Ährenhalm zu schwanken. Hilfesuchend blickte er zu Daisuke, der so wenig begriff wie er. »Ja, ja, schon gut«, keuchte Kazuo. »Da steckt ein Mensch drin. In der Ader! Er hat gerade die Sonde zerstört, und ist, wenn mich nicht alles täuscht, auf dem Weg hier runter. Rauf kann er aus eigener Kraft die Senkrechte nicht mehr - dazu müßte er übermenschliche Kraft besitzen. Also bereiten wir ihm einen hübschen Empfang und schleifen ihn vor den Kadi! Ich hasse Idioten, die aus purer Langeweile Schäden anrichten. Dem werd' ich's zeigen!« Der Schreck war überwunden - zumindest für Kazuo Mijagawa. Einen gewaltigen Schraubenschlüssel in den Händen, baute er sich breitbeinig und bedrohlich vor der kreisrunden Wandöffnung auf, aus der die Abwasser normalerweise in den Hauptkanal flössen. 165 Dicht hinter der Öffnung ging es in einem 45-Grad-Bogen lotrecht nach oben. Fumio Takaschi holte tief Luft und sagte: »Er sah... deformiert aus. Bist du sicher, daß er überhaupt noch lebt?« »Er hat die Sonde attackiert.« »Vielleicht hat er sie nur im Herunterfallen unglücklich getroffen.« Kazuo schüttelte den Kopf. »Als du ihn gesehen hast - wo war er da?« »Er kam genau auf mich... ich meine, auf die Sonde... zu.« »Und als ich den Helm aufsetzte, war er zunächst irgendwo über ihr. Erst nach ein paar Sekunden kam er herab - und
rammte sie. Worauf die Verbindung zur Sonde abriß.« »Aber dann wäre er ja doch imstande, die Senkrechte nach oben zu bewältigen. Er wird den Teufel tun, zu uns herunterzu-« Was immer Takaschi Beruhigendes sagen wollte, es kam ihm nie über die Lippen. Ein Geräusch unmittelbar hinter der Wandöffnung lenkte ihn ab. Ein hartes Schaben - als reibe Metall über Metall. Es dauerte noch zwei, drei Herzschläge, dann flog etwas wie ein Geschoß aus dem Schacht heraus, traf Kazuo gegen die Brust und schmetterte ihn zu Boden. Kein Mensch, eine Maschine. Die Sonde. Stöhnend wälzte sich Kazuo Mijagawa in der Abwasserrinne, die zum nächsten Verteilerknoten führte, Schigeo war gerade dabeigewesen, über Armband vipho eine Verbindung zur Leitzentrale der Tokioter Polizei herzustellen. Noch während er ihre Position und sein Anliegen vorbrachte, wurde Kazuo von den Beinen geschleudert. Daisuke und Fumio eilten sofort zu ihm. Die Maschine lag halb unter ihm. Sie wog ohne ihr offenbar ausgefallenes AGravsystem gut fünf Zentner und konnte einen Menschen zerquetschen. Kazuo war ohne Bewußtsein. Sein Herz schlug holprig, unregelmäßig, wie Takaschi sofort erkannte. Alarmiert blickte er auf. »Schigeo - Kazuo braucht schnellstmögliche medizinische Hilfe! Ich schließe innere Blutungen nicht aus. Die Polizei soll -« Kaum noch erwartet von einem der Kolonnenmitglieder, brach mit kleiner Verspätung noch etwas aus der Wandöffnung hervor. Etwas, das nicht nur Takaschi zum Verstummen brachte, sondern auch Schigeo, auch Daisuke... WAS, BEI ALLEN GÖTTERN, IST DAS?!?
Fumio Takaschi zweifelte an seinem Verstand. Er war ein aufgeklärter Japaner, wissenstechnisch voll auf der Höhe der Zeit. Er hatte seinen Glauben, aber er betrachtete die Mythologie, auf der seine Kultur aufbaute, durchaus nüchtern, filterte die Dinge heraus, mit denen er etwas anfangen, etwas verbinden konnte. An Fabelwesen - an Monster glaubte er nicht. Aber jetzt sah er eines! Genau wie die anderen Kolonnenmitglieder, Kazuo ausgenommen, der immer noch ohne Bewußtsein war und dies wahrscheinlich auch noch eine Weile bleiben würde. Eine Gnade. Er mußte nicht sehen, was sie sahen. Er mußte nicht denken, er sei völlig übergeschnappt... Takaschi starrte regelrecht hypnotisiert auf das Geschöpf, das nieterlang aus der Wand hing, dessen Körper hin- und herpendelte und dessen Augen von einem Arbeiter zum anderen wanderten. Der Schädel erinnerte an das, was Takaschi bereits via Sondenhelm gesehen hatte - in Falschfarben. Aber der geschuppte Rest... Eine Schlange, dachte er bestürzt. Ein Schlangenwesen mit schwach menschlichen Zügen! Es besaß verkümmerte Extremitäten, die an winzige Beinchen ynd Ärmchen erinnerten. Zunächst war nicht klar ersichtlich, ob sich die Haut tatsächlich aus unzähligen Schuppen zusammensetzte, wie Takaschi es auf den ersten Blick empfunden hatte, oder einfach nur extrem grobporig war. Das Wesen schillerte rötlichgolden, war auf beklemmende Weise zugleich furchteinflößend und... schön. Schaurig schön. Ausschließlich schaurig waren allerdings seine Zähne. Als sich der fast lippenlose Mund gleichsam spaltete, wurden sie sichtbar. Haifischzähne, dachte Takaschi. Haifischzähne in einem Menschenkopf, der auf einem Schlangenkörper sitzt... Ihn schwindelte. So schnell wie sein Herz raste, so schnell stoben auch seine Gedanken durcheinander. Gänsehaut legte sich über seinen kompletten Körper. Er bekam kaum noch
Luft. Aggressiv drohend war das Gebiß des Mischwesens gebleckt, dessen Augen nun wieder zu Takaschi fanden, sich an dessen Blick förmlich festsaugten. Es kennt meine Gedanken. Es weidet sich an meinem Schrecken. Die Angst flüsterte ihm tausend Verrücktheiten ein. Er hörte Schigeo etwas rufen, das er nicht verstand. Und dann flog plötzlich etwas auf die »Schlange« zu - der schwere Schraubenschlüssel, der Kazuos Händen entglitten war. Schigeo oder Daisuke mußten ihn aufgehoben und gegen das Alptraumbiest geworfen haben. Wer immer es gewesen war, er traf nicht. Fast spielerisch wich die Kreatur aus. Ein scharfes Fauchen verließ ihren Rachen. Die Augen glühten auf, als bestünden sie aus plasmaheißer Masse. Jetzt haben wir es wütend gemacht. Richtig wütend... Plötzlich erfüllte ein infernalisches Kreischen das unterirdische Labyrinth. Es war mit nichts vergleichbar, was Takaschi oder einem der anderen jemals zuvor zu Ohren gekommen war. Der Schrei zerriß ihre Trommelfelle und brachte die mit Plastikbeton ausgekleideten Wände zum Beben. Takaschi preßte sich die Hände gegen die Ohren, was aber kaum Linderung brachte. Der schrille, nicht endenwollende Ton fräste sich förmlich durch jede Zelle seines Körpers. 168
Ihm wurde schwarz vor Augen. Er sank zu Boden.
Als er wieder zu sich kam, mußte einige Zeit vergangen sein.
Ein Mann in Sanitäterkleidung kümmerte sich um ihn. Er
sprach zu ihm, aber sein Mund öffnete und schloß sich wie
bei einem Fisch auf dem Trockenen.
Außer einem dumpfen Dröhnen, das von stechenden
Schmerzen begleitet wurde, drang kein Laut zu Takaschi vor.
Ich bin taub, dachte er.
Und fügte nach einer Weile hinzu: Aber am Leben. Das
Ungeheuer. .. es hat mich nicht gefressen. Und die anderen?
Matt sank er auf die A-GravIiege zurück, auf die man ihn
verfrachtet hatte. Durch ein Gewirr von Gängen ging es
hinauf ans Tageslicht. Verblüfft registrierte er das Großaufgebot von Polizeischwebern an der Oberfläche. Ein gewaltiger Tumult herrschte. Überall rannten Menschen wild durcheinander, Zivilisten und Uniformierte. Fumio Takaschi begriff: Es war noch nicht vorbei. Offenbar war es Schigeo doch noch gelungen, Hilfe herbeizurufen und ihren Standort durchzugeben. Und nun war die Jagd eröffnet. Aber die Jagd worauf! l Takaschi hatte immer noch keinen Namen für das unheimliche Geschöpf, das aus der Abwasserleitung gekommen war. Aber er trug das Bild des Monstrums in sich. So tief eingebrannt, daß er es nie wieder vergessen würde nicht bis ans Ende seiner Tage. Er schloß die Augen. Schmerz, Stille und Dunkelheit vermählten sich. Er sehnte die Ohnmacht zurück, wollte nichts mehr sehen. Für eine lange, lange Zeit nicht mehr. Bidschiro Mifune aktivierte das anzugeigene Antischwerkraftmodul und sank, den schweren Blaster im Anschlag, in die Tiefe. 169 Mifune war 22 Jahre alt, von fast hagerer, aber durchtrainierter Statur und Angehöriger eines Spezialeinsatzkommandos der Tokioter Polizei. Klaustrophobische Anwandlungen kannte er nicht. Wie die anderen Mitglieder seiner Einheit hatte er vor nicht einmal ganz dreißig Minuten den Einsatzbefehl erhalten und war mit einem schnellen Jett zum Schauplatz des Geschehens gelangt. Noch unterwegs hatte ihm seine vorgesetzte Dienststelle die näheren Umstände des Problems vermittelt. Es hatte sich abstrus angehört. Normalerweise war Mifune es gewohnt, knochentrockene Vorgaben zu erhalten. In diesem speziellen Fall jedoch klang alles verdächtig nach Massenhalluzination oder bewußter Irreführung der Behörden. Dazu paßte jedoch nicht, daß es Verletzte gegeben hatte - sogar einen Schwerverletzten. Und das alles sollte sich dort zugetragen haben, wohin
Mifune jetzt auf dem direktesten Weg unterwegs war: in der städtischen Kanalisation. Über Helmfunk stand Mifune mit der Einsatzleitung und seinen Mitstreitern in Verbindung. Insgesamt umfaßte die Einheit, die dem Spuk eines in Tokios Untergrund wütenden »Schlangenmonsters« ein Ende bereiten sollten, 18 Mann. An Monster glaubte Mifune nicht. Aber darüber machte er sich keine Gedanken. Er war darauf geschult, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und alle irrelevanten Punkte für die Dauer eines Einsatzes auszublenden. Ob Monster oder nicht war irrelevant. Etwas war dort unten. Etwas hatte eine Arbeitskolonne angegriffen. Und dieses Etwas aufzuspüren und unschädlich zu machen war die Aufgabe. Alles andere hatte weder Mifune noch ein anderes Mitglied des Trupps zu interessieren. Er lächelte grimmig, passierte die erste Sub-Ebene, auf der sich ein hochmodernes Schienennetz für Züge befand, mit denen das Gros des Güterverkehrs in Tokio abgewickelt wurde. Der Luft 170 raum und die Straßen waren für Warentransporte nur in Ausnah-mefällen geöffnet. Sub-Ebene l war sauber. Mifune befand sich ziemlich genau über dem Punkt, an dem es zum Zwischenfall gekommen war. Er gab seine Position durch und passierte Ebene 2, unter der, noch einmal gut zehn Meter tiefer, die Kanalisation verlief. Ebene 2 war Versorgungsleitungen für Strom und Wasser vorbehalten. Die Deckenhöhe dort betrug nur knapp über zwei Meter - gerade genug, um sich auch in Einsatzmontur und Helm nicht bücken zu müssen. Der Sinkschacht durchlief sämtliche Ebenen von der Oberfläche aus und endete in der Kanalisation. »Bin am Ziel«, meldete Mifune wenig später, den Blick durch das Nachtsichtvisier gerichtet. Nach und nach meldeten auch die anderen Mitglieder der Einheit das Erreichen ihrer von der Zentrale festgelegten Einsatzziele. Mifune befand sich von allen am nächsten bei
der Stelle, an der »es« passiert war. Der Bereich war geräumt. Sanitäter hatten die Verletzten weggebracht und waren dabei nirgends auf jenes Fabelwesen getroffen, von dem die Arbeiter phantasiert hatten. Eine Kreatur, halb Mensch, halb Schlange, um genau zu sein. Komm schon, z,eig dich! dachte Mifune. Angst war ihm ein Fremdwort. Sonst hätte er diesen Job längst an den Nagel gehängt. Mehr als einmal war er in regelrechte Guerillakämpfe mit Robo-nen verwickelt gewesen. Einen schlimmeren Feind konnte er sich nicht vorstellen. Noch nicht. Doch es schien, als hätte das Ungeheuer nur auf ihn gewartet, um sich aus seinem Versteck zu wagen. Als Mifune an einer schwer überschaubaren Kreuzung vorbeikam, schoß es aus einer Nische auf ihn zu. Die tödliche Waffe in seiner Faust entwickelte ein Eigenleben. Schneller als er überhaupt denken konnte, vollführte der Lauf 171
einen Schwenk in Richtung des heranrasenden Ungetüms.
Mifune berührte den Druckpunkt des Blasters - und entließ einen sonnenheißen Strahl aus dem Abstrahlpol. Aber er traf nicht das Ungetüm - nur die gegenüberliegende Wand. Unglaublich schnell war das eigentliche Ziel dem Schuß ausgewichen. Mifune spürte den Film aus kaltem Schweiß, der übergangslos sein Gesicht bedeckte. Er versuchte die Tatsache, daß er schwitzte (was er noch nie getan hatte jedenfalls nicht aus einer Panik heraus, wie sie ihn jetzt gerade packte) zu ignorieren und dem Schemen mit dem Lauf der Waffe zu folgen. Doch er war zu schnell. Er... es... Es stimmt! Es ist tatsächlich so, wie die Zeugen es schilderten... Kein Hirngespinst, die reine Wahrheit...! Ein Wesen mit menschlichen Zügen... ... und doch einer Schlange ähnlicher. Ein Hybridwesen, das sich phantomschnell bewegte und von einer Aura der Bedrohung umgeben war, wie Mifune sie
noch nie in ähnlicher Intensität erlebt hatte. Wieder feuerte er die Waffe ab. Wieder ging der Schuß fehl. »Hier Mifune«, krächzte er ins Helmmikro. »Alle zu mir! Ich hab das Ding vor der Nase! Es -« Weiter konnte er nicht sprechen. Das »Ding«, wie er es genannt hatte, änderte die Rollenverteilung - aus dem gejagten Wild wurde der Jäger. Eidschiro Mifune war nicht einmal in der Lage zu begreifen, wie das Ungetüm sich fortbewegte. Es schien den Gesetzen der Schwerkraft auch ohne technische Hilfen ein Schnippchen zu schlagen. Zumindest aber bewegte es sich so atemberaubend schnell über Boden und Wände, als besäße es Eigenzeit, die der Mifunes ständig um zwei, drei Sekunden voraus war. Und Saugnäpfe an den verkümmerten Extremitäten - Saugnäpfe, die es 172 ihm möglich machten, senkrechte Wände ebenso entlangzuhuschen wie den Boden! »Verstanden, Mifune. Nageln Sie es fest. Verstärkung ist unterwegs!« Er hörte die Stimme des Einsatzleiters nur am Rand seines Bewußtseins. Gleichzeitig versuchte er, dem geschoßartig auf ihn zukommenden Schuppentier auszuweichen. Tier? Es - es ist kein Tier. Es ist ein Im letzten Moment weigerte sich sein Verstand, es Mensch zu nennen. Der deformiert wirkende Schädel der Kreatur traf ihn wie ein riesiges, stahlummanteltes Projektil gegen die Brust. Mifune taumelte mit rudernden Armen nach hinten, verlor die überlebenswichtige Waffe, als seine Finger sich reflexartig spreizten -und sah das Monster auch schon erneut auf sich zustoßen. Diesmal mit weit aufgerissenem Rachen. Einem Schlund, groß genug, um Mifunes Kopf aufzunehmen und ihn zwischen den diamantartig funkelnden Zähnen zu zermalmen. Und auf den behelmten Kopf schien es im zweiten Anlauf
tatsächlich zu zielen. Es raste auf Mifune zu, der außerstande war, sich zur Seite zu werfen. Alles, was er noch tun konnte, war, die Augen zu schließen - und sich damit abzufinden, daß er hier unten, in den verschachtelten Gängen der Tokioter Kanalisation seinen Meister gefunden hatte. Doch der finale Biß blieb aus. Als Mifune nach einer Serie hart hämmernder Herzschläge immer noch lebte, öffnete er die Augen und sah gerade noch, wie das Ungeheuer durch die Decke über ihm brach. Es mußte dem Beton mit exakt den Zähnen, zwischen denen Mifune sich schon sein Dasein hatte aushauchen sehen, zu Leibe genickt sein - sich regelrecht durch ihn hindurchgefressen haben! 173 Synthetischer Beton erster Güte, der selbst höchsten statischen Anforderungen genügte... Mifune hatte keine Zeit zum Atemholen. Er aktivierte sein Anti-gravmodul, wischte ein paar Meter über den feuchtglänzenden Boden des Abwassersystems, pflückte die verlorene Waffe vom Boden und schoß dann geradewegs hinter dem fliehenden Schlangenwesen her. Durch das Loch hindurch, das es sich mit Hilfe seiner Zähne gegraben hatte. Erreichte die darüber befindliche Ebene 2... ... und traute seinen Augen nicht, als er sah, wie das Ding an einer der Starkstromleitungen zappelte. Daran übernimmst du dich, dachte Mifune schadenfroh. Er hatte dem Wesen immer noch nicht verziehen, daß es ihn so eiskalt überrumpelt und genaugenommen sogar besiegt hatte. Daran wirst selbst du dir deinen verdammten Magen verderben... Das Nachtsichtvisier lieferte ihm gestochen scharfe Bilder des Sterbens. Das Schlangenbiest klebte buchstäblich an der Starkstromstraße und würde bei lebendigem Leib geröstet werden. Ein paar Augenblicke noch, dann würden nur noch
Ascheflocken zu Boden rieseln. Auch eine Möglichkeit, einen Einsatz mit Erfolg abzuschließen... Dachte Mifune. Doch das Schlangenwesen belehrte ihn eines Besseren. Es weigerte sich einfach, zu verbrennen. Im Gegenteil - mit jedem weiteren Moment, den es an der Stromleitung hing, schien es sich wohler zu fühlen. Was Mifune als Zappeln und unkontrolliertes Zucken des Körpers und der verkrüppelten Gliedmaßen gedeutet hatte, war in Wirklichkeit Ausdruck größten Behagens. Es labte sich an dem Energiefluß, der jedes Mifune bekannte Lebewesen umgebracht hätte! Es ernährte sich davon, schöpfte Kraft, schien sogar unter dem steten Strom zu wachsen... Rechts und links von Mifune lösten sich Bodenteile auf. Polternd stürzten Betonbrocken nach unten. Durch die entstandenen Öffnungen stießen weitere Mitglieder seiner Einheit. »Keine Blaster!« brüllte Mifune ihnen über Helmfunk zu. Sie strauchelten. Entdeckten das Ungeheuer und wollten es mit ihren Kampfstrahlen niederstrecken. Sie hatten noch nicht begriffen, was Mifune erkannt zu haben meinte. Dieses Ding ernährte sich von Energie - es würde auch die Schüsse in Kraft umwandeln, die es todbringend gegen seine Feinde einsetzen konnte. »Um Himmels willen - nicht schießen!« Niemand hörte auf ihn. Aus einem halben Dutzend schwerer Waffen gleichzeitig lösten sich Strahlen und schössen auf das Schlangenwesen zu. 9. Serena, der größte Mond Babylons, hing wie eine riesige Orange am stemenübersäten Nachthimmel, nachdem die Sonne untergegangen war. Die zemarbte Oberfläche wirkte wie immer etwas unscharf, weil eine dünne Atmosphäre Serena mit einem fragilen milchigen Schleier umwob, der mit
einiger Phantasie ein silbriges Spinnennetz hätte sein können. Secundus, der zweitgrößte Mond, rund doppelt soweit entfernt wie Serena, leuchtete als winzige, münzengroße Scheibe im Zenit. Das Wesen, das mit auf- und abschwingenden Flughäuten lautlos durch die Nacht jagte, erweckte den Eindruck, als striche es als der dunkle, schweigende Schatten eines einsamen Zugvogels dicht über die Oberfläche des pockennarbigen, blutroten Mondes dahin. Erst als es sich dem Leib der goldenen Statue näherte, die mehr als acht Kilometer in Babylons Himmel ragte, wurde offenbar, daß es sich in der Lufthülle des Planeten bewegte. Im nächsten Augenblick kippte es scharf nach links und stürzte mit den über seinem Rücken zusammengeklappten Flughäuten lautlos und beinahe senkrecht nach unten. Das Kind, das auf der überwiegend blanken Unitallfläche rings um den Goldenen Menschen stand, in der sich die Monde Babylons und der Stemenhimmel spiegelten, sah mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund zu dem Wesen empor, das genau auf es herabstürzte. Die schwarz gekleidete humanoide Gestalt, die bisher mit weiten Sprüngen über die Unitallfläche gestürmt war, blieb wie angewurzelt stehen, als das Wesen, das eigentlich nur eine urzeitliche Flugechse mit einer Flügelspannweite von zirka drei Metern sein konnte, die Flughäute ausbreitete und gleichzeitig das Kind erreichte - und im nächsten Augenblick mit kraftvoll schlagenden Flügeln wieder durchstartete. Weil dieser Vorgang extrem schnell ablief, war kaum zu sehen, daß das Kind in einer ersten Reaktion über seine linke Schulter nach hinten griff, dann aber die rechte Hand wieder sinken ließ, während sich die braunen Gesichtsmuskeln strafften und die schwarzen Augen aufleuchteten. Die Gestalt stieß einen gellenden Schrei aus und stürmte wie von tausend Teufeln gejagt auf den Schauplatz des grausigen Geschehens zu. Sie bewegte sich außergewöhnlich schnell, aber sie hatte keine Chance, das Kind zu retten. Nicht bei einer Entfernung von zweihundert Metern. Schon wenige Sekunden später war die Flugechse auf
mindestens fünf Meter gestiegen. Von da an stieg sie jedoch nicht weiter, sondern flog mit kraftvollen und lautlosen Flügelschlägen fast waagerecht auf das massive Portal unter dem Goldenen zu - und flatterte danach hektisch durch die sogenannte Vitrinenhalle. Die humanoide Gestalt zögerte eine kaum meßbare Zeitspanne, denn diese verborgene Zugangsmöglichkeit zum Goldenen war ihr unbekannt. Nur ein begrenzter Kreis von Vertrauten war bisher über die Entdeckung von Henk de Groot und dem ebenso rätselhaft aufgetauchten wie wieder verschwundenen John Brown informiert. Und zu diesem Kreis gehörte sie nicht. Dann gab die Gestalt sich einen Ruck und stürmte mit Todesverachtung auf das fest und solide wirkende transparente Portal zu. Es sah aus, als wollte sie sich daran den Schädel einrennen. Doch sie drang ebenso widerstandslos hindurch wie die Flugechse und befand sich plötzlich in der Vitrinenhalle. Nur half das weder ihr noch dem Kind, denn da war von dem urzeitlichen Räuber und seiner Beute nichts mehr zu sehen. Dafür heulten die Triebwerke eines Schwebers auf: Umkehrschub. Zwei starke Scheinwerfer warfen grelle Lichtkegel in die Halle - und danach glitt der offene Schweber lautlos und nur mit Hilfe der Antigravaggregate zwischen den Vitrinen hindurch. »Halt, stehenbleiben!« riefeine energische Männerstimme. Die schwarzgekleidete Gestalt drehte sich um. Sie war männlichen Geschlechts, wie sich an ihrem kurzen, schwarzen Oberlippen- und Kinnbart erkennen ließ. Ihre Haut war gelbbraun, die Augen wirkten mongoloid, das Haar auf dem beinahe runden Schädel war schwarz und zu kleinen Büscheln gerollt. Die Kleidung bestand aus einer enganliegenden schwarzen Kombination und schwarzen Schnürstiefeln. Die Größe des Mannes betrug etwa l ,50 Meter. »Wie heißt du?« fragte jemand aus dem Schweber und richtete sich auf. Es war ein Mann in hellgrauer
Kombination, zirka 1,80 Meter groß, hager und sehnig, mit dunkelgrauen Augen und schütterem hellblondem Haar. »Das ist mein Sohn!« rief die Gestalt und zeigte über die Schulter dorthin, wo die Flugechse mit dem Kind zuletzt gesehen worden war. »Mein Sohn Karua. Er wurde von einem Tier entführt. Ich muß ihm helfen!« Die letzten Worte schrie er fast. »Wir wollen ihm auch helfen«, erwiderte der Mann im Schweber. »Mein Name ist Henk de Groot. Wie heißt du?« »Ich bin Ngade San«, antwortete der Kleinwüchsige, der dabei allerdings sehnig und energiegeladen-kraftvoll wirkte. »Ngade San...« wiederholte de Groot nachdenklich. »Anscheinend ein Buschmann, ein San, was die Abstammung betrifft. Okay. Und dein Sohn - ist wie alt?« »Zwölf Jahre«, murmelte Ngade und senkte den Kopf. »Helft mir, wenn ihr könnt. Das Tier tötet ihn vielleicht, obwohl er nicht wehrlos ist.« Er drehte sich um und traf Anstalten, tiefer in die Halle mit den Vitrinen hinein zu laufen. »Warte auf mich!« befahl Henk und stieg aus. Zwei seiner Begleiter folgten ihm: die Techniker Kim Boran und Ladislaw Hanky. Gemeinsam mit Ngade drangen sie tiefer in die Halle ein. Henk de Groot kannte sich hier bereits aus und übernahm deshalb die Führung. Er hatte ein ungutes Gefühl, eine Art Vorahnung von Unheil bei ihrem Tun, denn er konnte sich nicht erklären, wie die Flugechse mit dem Kind von einem Augenblick auf den anderen verschwunden sein sollte, nachdem sie die Vitrinenhalle erst zur Hälfte durchquert hatte. Erst recht konnte er sich nicht erklären, woher das Tier ursprünglich gekommen war. »Eigentlich kann sich die Flugechse nur versteckt haben«, sagte er zu seinen Leuten. »Aktiviert eure Multisensoren! Das Tier muß Wärme abstrahlen und der Junge ebenfalls. Die läßt sich orten -und wenn sie sich bewegen, reagieren zusätzlich die Bewegungsmelder.« Aber die Sensoren zeigten auch nach einigen Minuten weder Wärmestrahlung noch Bewegung an. »Wie kommt es eigentlich, daß ihr so schnell hier wart?«
wandte sich Ngade etwas später an Henk. •penk de Groot gab einen knurrenden Laut von sich. »Ganz einfach«, entgegnete er unwirsch. »Das Betreten des Goldenen sowie seiner näheren Umgebung ist für Unbefugte verboten. Als die Alarmanlage anschlug, starteten wir, um nach dem Rechten zu sehen. Was hatte dein Sohn überhaupt hier zu suchen, verdammt?« »Er war wohl nur neugierig, was es hier zu entdecken gab«, erklärte Ngade. »Als er aus unserem Wohnbereich verschwunden war, dachte ich mir nichts dabei. Schließlich ist er ein G'taronh. Aber als ich spürte, wohin er ging, folgte ich ihm sofort. Ich kenne ja das Verbot.« Henk hatte eigentlich fragen wollen, was G'taronh hieß, aber als ihn etwas anderes neugieriger machte, blieb er ruckartig stehen und hielt Ngades linken Arm fest. »Du spürtest, wohin er ging...?« Ngade befreite sich mit einer knappen, blitzschnellen Bewegung von Henks Griff. »Mach das nicht noch mal!« sagte er warnend. »Ich mag es nicht, wenn mich jemand ohne meine Erlaubnis anfaßt.« Er lächelte versöhnlich. »Natürlich spürte ich das, ich habe eine Begabung dazu. Das hängt mit meinem zweiten Beruf als Geistheiler zusammen.« >Aha!« brummte Henk. »So was wie Telepathie?« >Nicht ganz.« 179 »Und was heißt: zweiter Beruf?« »In erster Linie bin ich Transmittertechniker«, antwortete Ngade. »Bis heute habe ich in einer Abteilung für Transmitterforschung in dem Von Ardenne-Institut auf Babylon gearbeitet. Ab sofort aber arbeite ich hier. Wir haben die Flugechse und meinen Sohn nicht gefunden, obwohl wir die Vitrinenhalle jetzt fertig durchsucht haben. Das bedeutet, daß sie nur durch einen Transmit-ter entkommen konnten. Zu einem fernen Ort, denn andernfalls würde ich meinen Sohn spüren.« »Du scheinst recht zu haben«, bestätigte Henk. »Und ich weiß, daß es hier unten mindestens einen Transmitter gibt. Das wissen wir seit der ersten Erkundung des Goldenen
durch Ren Dhark und sein Team.* Aber die Suche danach ist gefährlich. Unter Umständen lösen wir einen neuen Massenangriff von Kugelrobotem aus. Wir brauchen erstens ein paar kampferfahrene Spezialsoldaten und zweitens die Genehmigung des Präsidenten und des Militärkommandanten der Kolonie.« »Das sehe ich ein«, entgegnete Ngade. »Aber ich werde nicht tatenlos abwarten, bis die Suche genehmigt ist. Ich bleibe hier und finde den Transmitter.« Henk de Groot schüttelte den Kopf. »Das kommt nicht in Frage. Du würdest vielleicht die ganze Kolonie in Gefahr bringen. Du wirst uns zum Präsidenten begleiten. Ich verspreche dir, daß ich mich für einen Blitzeinsatz starkmache.« »Ich bleibe hier!« beharrte Ngade störrisch. »Du kommst entweder freiwillig mit oder ich lasse Gewalt anwenden!« drohte Henk. »Die Sache ist kein Spaß.« Er trat einen Schritt zurück, zog seinen Blaster und schaltete ihn auf Betäuben. Ngade hob die Arme und ließ sie resigniert wieder sinken. »Okay, ich komme mit.« Henk de Groot ließ Kim Boran mit dem Auftrag in der Vitrinenhalle zurück, sich in einer Nische zu verstecken und von dort aus auf alles zu achten, was in der Halle auftauchte. Er sollte allerdings keine Ortungsgeräte benutzen, um niemanden auf seine Anwesenheit aufmerksam zu machen. Sollte er irgend etwas Verdächtiges feststellen, sollte er mit dem Armbandfunkgerät einen Mikrosekundenimpuls abstrahlen, der von Henks Armbandgerät empfangen würde. Danach stieg er mit Ngade San in den Schweber und kehrte auf kürzestem Wege zu der nächsten bewohnten Pyramide zurück, in der sich die Planetarische Administration mit dem Präsidentensitz und die Militärkommandantur befanden. Obwohl es kurz vor Mitternacht war, brauchte Henk den Präsidenten nicht zu wecken. Daniel Appeldoorn befand sich in einer Besprechung mit Oberst Petain, dem Militärkommandanten von Babylon. Appeldoorn hatte nämlich erst vor wenigen Stunden sein Amt angetreten. Da gab es eine Menge zu bereden.
Johan Lüttwitz, der Sekretär Appeldooms, fing die Besucher im Vorzimmer des Präsidenten ab. »Sie wünschen?« erkundigte er sich mit schnarrender Stimme. »Ich muß den Präsidenten sprechen«, antwortete Henk. »Dringend. Mein Name ist Henk de Groot.« »So?« echote Lüttwitz und zog eine Braue hoch. »Da könnte ja jeder kommen. Oder haben Sie einen Termin, de Groot?« Er blickte irritiert zu Ngade San, als der ein paar klickende Schnalz- und Sauglaute von sich gab. »Alles klar!« sagte Henk beschwichtigend. »Das ist die Art der Khoisaniden, sich kurz und bündig auszudrücken. Richtig, Ngade?« »Richtig!« bestätigte der Khoisanide und wedelte mit den Händen. »Und wenn Sie nicht schnell reagieren, mache ich Ihnen 181 Feuer unter dem äääh - Sitzfleisch!« Er blickte den Sekretär durchdringend an. »Das reicht!« schnauzte Lüttwitz. »Für Ihre Frechheit müßte ich Sie eigentlich hinauswerfen, Ngade.« »Bitte nicht« ertönte eine etwas näselnde Stimme aus den Lautsprechern der Gegensprechanlage. »Schicken Sie die Besucher herein, Johan! Henk de Groot hat immer Zugang zu mir - und zum Präsidenten, der soeben zur Bestätigung mit dem Kopf nickt.« »Sehr wohl, Sir!« erwiderte Lüttwitz steif, während er Haltung annahm. Dann winkte er den Besuchern. »Nun treten Sie schon durch, die Herrschaften! Oder brauchen Sie eine schriftliche Einladung?« Der Präsident und Oberst Petain erhoben sich von ihren Automatsesseln, in denen sie um die große Multiprojektionsplatte gesessen hatten, die das primäre Arbeitsmittel des jeweiligen Präsidenten von Babylon war. Daniel Appeldoorn wirkte groß und wuchtig mit seinen 1,84 Metern, den breiten Schultern, der bäuerisch breiten Stirn
über dem derben, rotwangigen Gesicht mit der großen fleischigen Nase, den dichten silberweißen Brauen und dem völlig kahlen Schädel. Die großen, aber enganliegenden Ohren und die wasserblauen Augen vervollständigten den Eindruck von Bauemschläue und starker Willenskraft. »Willkommen, de Groot!« rief er mit sonorer Stimme. »Endlich sehe ich Sie persönlich. Erst vor wenigen Minuten hatte ich zu Petain gesagt, daß ich sehr neugierig auf Sie wäre.« Er blickte von Henk abwechselnd zu Ladislaw Hanky und Ngade San. »Aber Sie sind sicher nicht hier, um Konversation zu machen. Was haben Sie zu berichten. Henk?« Unwillkürlich nahm Henk de Groot Haltung an, lockerte sie aber gleich wieder, weil er spürte, daß das bei Präsident Appeldoorn 182
unpassend war.
Er berichtete in knappen Worten, was sich beim und im Goldenen zugetragen hatte und schloß: »Ich halte es für dringend erforderlich, die Umstände aufzuklären, die mit dem Auftauchen und Verschwinden des geflügelten Wesens zu tun haben, Sir. Nicht nur, weil hier möglicherweise unsere Sicherheit betroffen ist, sondern auch, um das Schicksal von Ngades Sohn aufzuklären und das Leben des Jungen zu retten.« Appeldoorn nickte bedächtig. Der kleine gelbbraune Mann reckte sich, wirkte plötzlich genau so groß wie Appeldoorn, ohne wirklich so groß zu sein, gab ein paar hart klickende Schnalz- und Sauglaute von sich und erklärte dann: »Karua und ich sind die letzten Mitglieder unseres Stammes, dessen Vorfahren noch vom Jagen und Sammeln in der Kalahari lebten.« Der Präsident nickte abermals. »Ich weiß viel über Ihr Volk«, sagte Appeldoorn leise. »San-Buschmänner halten sich für Söhne und Töchter der ersten Menschen, deren Moral noch unbefleckt war. Ich kenne die Geschichte eures Volkes, denn meine Vorfahren kamen als Bauern - Boeren -mit Jan van Riebeeck ans Kap.
Buren und Sana vertrugen sich noch; erst die britische Okkupation mit ihren arroganten und anmaßenden Kolonialherren änderte alles und ließ die Moral in einem Sumpf von Habgier und Korruption versinken.« »Mein Volk wurde besitzlos«, sagte Ngade bitter. »Weil wir kein privates Eigentum an Land kannten - denn für uns gehörte alles Land allen - nahmen die Briten uns das Land einfach weg. Eine lange Zeit lebten wir bettelarm und am Rande des Existenzminimums.« Er winkte abrupt ab. »Das ist Vergangenheit. Mein Sohn wurde geraubt und ist in Gefahr; das ist Gegenwart! Henk ^rsprach mir, daß wir von Ihnen Unterstützung bekämen.« »Was wir brauchen, sind ein paar kampferprobte Spezialsoldaten und Ihre Genehmigung, einen weiteren Vorstoß in das Bunkerla byrinth unter dem Goldenen zu unternehmen, Sir!« wandte sich Henk de Groot an den Präsidenten. »Spezialsoldaten deswegen, weil es dort unten viele Gefahren gibt. Das Auftauchen der Kugelroboter hätte beinahe katastrophal geendet. Für genauso wichtig wie die Suche nach Karua halte ich die Nachforschung, woher das Flugwesen kam - und wie es plötzlich beim Goldenen auftauchte. Da muß ein weiteres Geheimnis dahinterstecken, das im und unter dem Goldenen verborgen ist.« »Das ist richtig - und eminent wichtig«, fiel Petain ein. »Und das mit den Kugelrobotem...« begann Henk. »Ich bin darüber informiert«, unterbrach ihn Appeldoorn. »Oberst Petain hatte mir darüber berichtet.« Er wandte sich an den Militärkommandanten. »Wir haben erst gestern eine Sendung von der Erde bekommen, zu der leistungsstarke Analysegeräte und tragbare Hyperfunkgeräte gehören. Geben Sie ihm davon, was er braucht, Oberst - und teilen Sie ihm ein paar Ihrer besten Leute aus Ihre Eliteeinheit zu!« »Und das schnell!« ergänzte Henk. Oberst Petain schaute ihn kurz und prüfend an, dann nickte er, schaltete ein in die Multiprojektionsplatte integriertes Funkgerät ein und erteilte ein paar Befehle. »In ein paar Minuten steht unten am Portal dieser Pyramide ein Schweber mit den notwendigen Geräten und drei unserer
besten Spezialsoldaten bereit, de Groot. Wollen Sie auch Ngade mitnehmen?« •< »Selbstverständlich, Sir!« versicherte Henk de Groot. »Und meine beiden Techniker.« »Einverstanden«, erklärte Petain. »Ich drücke Ihnen die Daumen.« Als Henk de Groot und seine Begleiter aus dem Hauptportal des Regierungssitzes kamen, warteten bereits zwei Schweber auf sie: 184 ein gepanzerter Mannschaftstransportschweber und eine Antigrav-plattform mit einem Frachtcontainer. Im Schweber saßen drei Männer in den Tarnkampfanzügen der kleinen Truppe von Babylon - und eine hübsche junge Frau mit blonder Pferdeschwanzfrisur, bei deren Anblick es Henk beinahe den Atem verschlug. »Charlize!« rief er überrascht. »Ich bin es tatsächlich, Henk«, antwortete die Frau ironisch. »Freust du dich denn nicht?« Henk de Groot schluckte und lächelte ein wenig verzerrt. »Natürlich freue ich mich, dich zu sehen. Du willst dich von mir verabschieden... ?« »Keineswegs. Ich will dich begleiten. Weißt du nicht mehr? Ich bin dein Maskottchen. Ohne mich rennst du geradewegs in dein Unglück.« »Aber das hier wird ein Einsatz, der sich als sehr gefährlich entpuppen könnte, Mädchen!« protestierte der Systemingenieur. »Außerdem würde Petain deine Teilnahme niemals erlauben.« »Was du nicht sagst!« spottete Charlize - und die Lachfältchen um ihre wasserblauen Augen wurden sichtbar. »Aber keine Sorge. Ich habe seinen Segen. Er weiß, daß du ein großes Kind bist, das einen Schutzengel braucht. Und ich bin dein Schutzengel.« Sie nickte zu den drei Einsatzspezialisten. »Außerdem passen diese Männer der Baby Force perfekt auf uns auf. Darf ich vorstellen? Baby Force steht übrigens für Special
Forces Babylon. Klar?« Sie deutete mit einer Handbewegung auf einen athletisch gebauten Mann mit den Rangabzeichen eines Majors. »Major Frank Bötticher, vielfach kampferprobt.« Ihre Hand zeigte auf einen - ebenfalls athletisch gebauten Schwarzen mit dichtem Wollhaar, breitem Gesicht und platter Bo-xernase. »Leutnant Harun Fellow, ebenfalls kampferprobt und narbenbedeckt.« Harun Fellow verneigte sich grinsend. Dabei verzerrte sich die 185 entstellende Brandnarbe auf seiner linken Gesichtshälfte. Charlize nickte dem dritten Einsatzspezialisten zu. »Sergeant Noghe Buschido, vielfach dekorierter Kämpfer, bei den letzten Kämpfen auf Babylon schwer verwundet und wegen seiner Tapferkeit gegenüber den Grakos ausgezeichnet.« Buschido führte die zusammengefalteten Flächen seiner Hände vor die Brust und verneigte sich mit höflichem, etwas starren Lächeln. »Ich opfere mich für dich, schöne Frau!« sagte er in einem Tonfall, der an der Ernsthaftigkeit seines Versprechens nicht die Spur eines Zweifels aufkommen ließ. »Wo bin ich hier eigentlich?« rief Henk in komischer Verzweiflung. »In einem Irrenhaus?« Er wandte sich um, als er schräg hinter sich ein paar Klicklaute hörte - und er sah, daß Ngade Sans Augen zu lodern schienen, während er mit ausgestrecktem Arm in Richtung des Goldenen zeigte. »Du bist hier, um zu handeln!« erklärte der Khoisanide mit gutturaler Stimme. »Um die Hetzjagd auf das Ungeheuer zu beginnen, das meinen Sohn entführte.« Es war dunkel und absolut lautlos. Er irrte durch eine Art Traumwelt. In ihr herrschten Leere und Kälte. Nur hier und da strahlten die stechend weißen
Punkte von Zwergsonnen. Manche beleuchteten mit mattem Schein die schlackenartig verkrusteten Oberflächen kugelförmiger Objekte, die sich träge und leblos um sich selbst drehten und mit unendlicher Langsamkeit die ersterbenden Göttinnen umkreisten, die einst die seltsamsten Erscheinungsformen organisierter Materie hervorgebracht und später wieder ausgelöscht hatten. Manchmal drangen Laute an sein erstarrtes Bewußtsein, die wie Schluchzen klangen. Dann krümmte er sich vor Schmerzen, obwohl er körperlos zu sein schien. In ganz wenigen, nur kurz aufflammenden Phasen geöffneter Bewußtseinsinhalte ahnte er, was wirklich geschah: daß er unter den Trümmern einer explodierten Pyramide lag und daß sich ganz in der Nähe der Überrest eines Bewußtseins befand, das in winzigen klaren Momenten Impulse aussandte, die seine wahre Natur verrieten. Die Natur eines Ungeheuers - oder die Natur eines gefallenen Engels. Wer konnte das schon beurteilen. Aber wie auch immer: Die anderen seiner Art würden den uralten Krieg für sich entscheiden und alles andere auslöschen. Es sei denn - dies war nur eine von vielen möglichen Zukünften... Der Suchtrupp hatte sich mit Waffen und Material aus dem Container ausgestattet und war in den Vitrinensaal im Sockel des Goldenen eingedrungen. Die Ausrüstung trugen sie in voluminösen Rucksäcken, die speziell für Risikoeinsätze konstruiert waren. Henk de Groot übernahm die Führung, weil er sich hier am besten auskannte. Kim Boran, der »die Stellung gehalten« hatte, eilte zu ihm. »Hier hat sich nichts gerührt. Henk«, berichtete er. »Gut!« erwiderte der Ingenieur. »Als erstes überprüfen wir den Vitrinensaal mit den entsprechenden Meßgeräten auf die subenergetischen Spuren, die eine Transmitter-Aktivierung immer hinterläßt. Als nächstes werden wir dann in dem Kontrollraum nachsehen, den John Brown entdeckte. Vielleicht finden wir dort einen Anhaltspunkt. Die bekannten Transmitter scheiden wohl aus. Ihre Gegenstationen sind
relativ nahe. Kim und Ladislaw, ihr bleibt hier! Wenn es für uns gefährlich wird, geben wir euch Bescheid. Dann holt ihr Hilfe!« Ich hätte Karua gespürt, wenn er in einer nahen Gegenstation 187 rematerialisiert wäre«, warf Ngade ein. Henk nickte, winkte den Gefährten zu, ihm zu folgen und ging weiter. Gemeinsam mit Ngade San und Charlize prüften sie den Boden zwischen den Vitrinen auf die Reststrahlung, die nach der Aktivierung und Deaktivierung eines Transmitterfeldes für längere Zeit meßbar blieb. Nach einer knappen Viertelstunde wurden sie fündig. Zwischen zwei der größten Vitrinen schlugen ihre Meßgeräte ziemlich stark aus. »Hier hat sich vor ungefähr einer Stunde ein Transmitterfeld aufgebaut«, stellte Ngade fest, nachdem er die Anzeigen seines Meßgeräts studiert hatte. »Es war etwa zehn Sekunden lang aktiv und entwickelte hohe Abstrahlwerte. Demnach muß sich die Gegenstation in mindestens zehntausend Millionen Kilometern Entfernung befinden.« »Unglaublich!« flüsterte Henk de Groot. »Das wäre ja nicht auf Babylon, sondern sogar noch außerhalb dieses Sonnensystems.« »Auf was für ein Geheimnis sind wir da bloß gestoßen?« fragte Charlize mit bebenden Lippen. »Auf ein Geheimnis von ungeahnter Bedeutung«, warf Major Bötticher ein. »Eigentlich müßten wir zuerst Petain berichten, bevor wir weitersuchen.« »Das tun wir, sobald wir ihm konkrete Angaben machen können«, erwiderte Henk. »Von hier aus können wir das Transmitterfeld sowieso nicht aktivieren.« »Aber womit hat ihn dann der Flugsaurier aktiviert?« wandte Charlize ein. »Oder willst du unterstellen, er sei ein intelligentes Wesen mit supermoderner technischer Ausrüstung?« »Keineswegs«, widersprach Henk. »Ein wirklich intelligentes Wesen hätte sich nicht derart auffällig verhalten
und dadurch unsere Aufmerksamkeit auf seine Existenz gelenkt. Es sei denn absichtlich, was ich nicht glaube. Wahrscheinlicher sind automatische Schaltungen, die sich hier irgendwo verbergen und manchmal 188 willkürlich aktivieren. Wir wissen ja immer noch so gut wie nichts über die subplanetarischen Anlagen unter dem Goldenen. Gehen wir also in den Kontrollraum und forschen dort nach!« Als er den kleinen Kontrollraum betrat, den Brown entdeckt und in dem er damals mit beinahe schlafwandlerischer Sicherheit unzählige Schaltungen vorgenommen hatte* Henk kam es vor, als wäre das erst gestern gewesen leuchteten die unzähligen Kontrollanzeigen stetig von den Schaltwänden. Außer einem leisen Summen war jedoch nichts zu hören. »Was ist das?« fragte Major Bötticher leise. »Wahrscheinlich der Hauptkontrollraum zur Steuerung der Produktionsanlage kugelförmiger Defensivroboter«, antwortete Henk. »Eine Mysteriousanlage. Sie ist brandgefährlich, aber wahrscheinlich unentbehrlich zur Aktivierung des Transmitters, durch den das Tier entkam.« »Gute Nacht!« sagte Bötticher. »Hier herumzuschalten, dürfte schlimmer sein als Russisches Roulette.« Henk de Groot nickte und sah sich genauer in dem Kontrollraum um. Charlize wich dabei nicht von seiner Seite und hielt ihn jedesmal fest, wenn er die Hand nach einem Schalter ausstreckte. »Das hier könnten Transmitterkontrollen sein«, erklärte Ngade San und deutete auf die Sensorpaneele vor einer schwarzen Projektionswand. »Aber sie scheinen in Verbindung mit den Schaltungen zu stehen, mit denen Brown damals die Produktion der Kugelroboter aktivierte«, sagte Henk und deutete auf eine Sensorplatte neben den von Ngade bezeichneten Schaltungen. »Setzen wir doch einen von unseren Suprasensoren ein. Mit dieser Wundertüte voller künstlicher Intelligenz lassen sich die beiden Funktionseinheiten trennen oder zusammenschalten, je nach Bedarf!« schlug Harun Fellow
vor und setzte den Geräterucksack ab, den er bisher getragen hatte. Er enthielt eine ganze Menge technisches Superspielzeug aus dem Container. »Eine gute Idee!« rief Ngade. »Ich helfe ihm dabei.« Während die beiden Männer arbeiteten, sahen sich Henk und seine Begleiter genauer in dem Kontrollraum um. Wie schon so oft fragte sich der Ingenieur auch diesmal, ob Menschen jemals die Mysterioustechnik in allen ihren Zusammenhängen begreifen würden. Sie war einfach viel zu kompliziert. Es war für sie ungefähr so, als würden Schimpansen versuchen, sinnvoll mit den Kontrollen in einem Fusionskraftwerk umzugehen. Auch sie würden ständig am Abgrund einer vernichtenden Katastrophe entlangtaumeln. Dabei mußten sie von Glück sagen, wenn sie nicht begriffen, was sie alles anrichten konnten, denn sonst würde ihr Verstand unheilbaren Schaden nehmen. »Ich denke, jetzt haben wir's!« verkündete Harun Fellow nach etwa einer halben Stunde. Er hielt eine Hand in der Schwebe über einer hellblau leuchtenden Schaltplatte. »Soll ich? Wenn es schiefgeht, aktiviert Ngade den Suprasensor.« Henk de Groot zögerte. Das Risiko war groß. Aber da sah er das Gesicht Ngades - und der gequälte Ausdruck darin erinnerte ihn an die Not des Vaters angesichts des Ungewissen Schicksals seines Sohnes. Und er nickte. Haruns Hand senkte sich auf die Schaltplatte. Im nächsten Augenblick geschah genau das, was Henk schon einmal erlebt hatte. Ganz in der Nähe brüllten Aggregate auf, der Boden und die Wände vibrierten, die Anzeigen von Kontrollen veränderten sich. »Die Roboter!« rief Henk de Groot. »Ihre Produktion läuft wieder an! Ngade!« Er machte eine befehlende Handbewegung. Der Khoisanide nickte und schaltete den Suprasensor ein. 190 Nichts geschah!
»Scheiße!« schimpfte Bötticher.
»Mitkommen!« befahl Henk und stürmte nach draußen. Er hatte keineswegs die Absicht zu fliehen - noch nicht. Sondern er eilte durch eine der Öffnungen, die Brown damals geschaltet hatte und die nicht wieder geschlossen worden waren. Wie damals kam er auf eine Galerie, die eine große, von grellem Blaulicht erfüllte Halle in einiger Höhe umlief. Und unten in dieser Halle standen riesige Aggregate aus MFer-tigung. Sie arbeiteten auf Hochdruck und erzeugten dabei jenes technische Brüllen und Vibrieren, das die Menschen erschreckt hatte. Kontrollanzeigen und Zahlensymbole der Mysterious leuchteten auf, veränderten sich ständig und wechselten unablässig ihre Farben. Das alles aber lag unter einem Intervallfeld, das sich allerdings nur indirekt bemerkbar machte, durch ein kaum sichtbares Flimmern der Luft, das von einem Lichtbrechungsphänomen hervorgerufen wurde. Sekunden später loderten zwischen mehreren Aggregaten grelle Energiebahnen auf - und aus dem Intervallfeld drangen Roboter hervor! Kugelförmige, zirka fünfzig Zentimeter durchmessende Objekte aus Unitall taumelten aus dem Intervallfeld und schienen zur Galerie hinauf schweben zu wollen. Verdammt! Geht das jetzt schon wieder los? durchfuhr es den Ingenieur siedendheiß. »Ngade!« rief er. »Hauen Sie weiter drauf!« »Tue ich doch!« rief der Khoisanide verzweifelt zurück. »Seht euch genau um!« schrie Major Bötticher. »Es muß doch auch bei den Mysterious so etwas wie eine Notbremse geben!« »Nein!« schrie Henk zurück. Bei dem Maschinenlärm war normales Sprechen sinnlos. »Dann hätte Brown sie damals sofort aktiviert.« Er zuckte zusammen, als einer der Kugelroboter feuerte. Dabei stieß er versehentlich Charlize um. Die Strahlbahn zuckte lichtschnell und sonnenheiß vorbei. Ihr Kommen war nicht zu sehen; sie stand plötzlich da. Ein heißer Luftschwall fuhr über die
Menschen. Henk de Groot rappelte sich wieder auf und spähte erneut über die Brüstung der Galerie. Er sah, daß immer mehr der Roboter ihre schwenkbaren Waffenarme ausführen. Abermals blitzten Strahlbahnen auf. Doch sie gingen entweder ins Leere oder sinnlos in irgendwelche Wände. Es war völlig klar, daß die Roboter wie letztes Mal unter Anlaufschwierigkeiten litten. Deshalb bewegten sie sich auch nicht zielstrebig. Aber das würde sich ändern. Henk wußte das aus leid voller Erfahrung. Sobald die Kugelroboter ihre Anlaufschwierigkeiten überwunden hatten, stellten sie absolut tödliche Waffen dar. Im Vollbesitz ihrer Reaktionsfähigkeiten wären sie dann jedem organischen Wesen haushoch überlegen. Noghe Buschido warf sich neben Henk an die Brüstung und nahm mit seinem Hochenergie-Blaster die Roboter unter Beschuß. Jeder Schuß von ihm traf und bedeutete das Ende für eine Kampfmaschine. Aber jeder Schuß heizte auch die Luft mehr und mehr auf. Sehr schnell wurde die Hitze unerträglich. Plötzlich wirbelten kühle Luftmassen herein; eine starke Klimaanlage hatte sich automatisch aktiviert. »Sie haben es auf Eva abgesehen!« schrie er Henk ins Ohr. »Eva?« fragte Henk verständnislos. »Sie meinen Charlize, Sergeant?« »Eva, Charlize - egal!« blaffte der Japaner zurück und schoß die nächsten drei Roboter ab. »Nun kämpfen Sie schon, de Groot!« Harun Fellow und Major Bötticher rückten zu Buschido vor und eröffneten ebenfalls gezieltes Blasterfeuer auf die aus dem Intervallfeld taumelnden Roboter. Sie waren überaus erfolgreich, aber nur, was die Zahl der Abschüsse anging, denn was bedeutete das schon, wenn für jeden abgeschossenen Roboter zehn neue anrückten. 192 Und die Maschinen überwanden ihre Anlauf Schwierigkeiten. Immer näher kamen ihre Blasterschüsse den Verteidigern. Es war nur eine Frage der Zeit - und zwar von
sehr wenig Zeit - bis ihr Feuer tödlich würde. Henk de Groot packte Charlize am Arm und zog die Widerstrebende brutal mit sich - hinein in den Raum, in dem Ngade San wieder und wieder verzweifelt auf die Schaltplatte des Suprasensors einhieb. »Nicht aurhören!« rief er dem Khoisaniden zu. Er hastete zu der Schaltung, mit der Bötticher die Anlage aktiviert hatte und sah, daß die ehedem hellblau leuchtende Platte jetzt dunkelgelb flackerte. Einer Eingebung folgend wartete er ab, bis Ngade wieder zum Schlag auf die Sensorplatte ausholte, dann hieb er mit geballter Faust auf die Aktivierungsplatte, genau zeitgleich mit Ngades Schlag. Im nächsten Moment wurde es so still, daß die Menschen sich vor Furcht duckten, weil sie eine neue Teufelei erwarteten. Aber es blieb still - und dann riefen die drei Soldaten von der Galerie, daß die Invasion der Roboter beendet sei. »Sie blieben einfach stehen und rührten sich nicht mehr«, berichtete Bötticher eine Minute später. »Und es kommen keine weiteren Roboter mehr. Das Intervallfeld hat sich abgeschaltet.« Henk de Groot konnte sich wenig später selber davon überzeugen. Zwischen den zirka dreißig zerschossenen Kugelrobotern lagen rund achtzig weitere reglos herum. Ihre Waffenarme waren allesamt eingefahren, was den Schluß zuließ, daß die Deaktivierung kein Zufall, sondern Teil eines Sicherheitsprogramms war. »Glück gehabt!« konstatierte Major Bötticher erleichtert. »Was machen wir jetzt, de Groot? Sprengen wir die gesamte Anlage in die Luft, damit die Gefahr endgültig beseitigt wird? Genug Sprengsätze haben wir in unserem Gepäck.« »Nein!« rief Ngade aufgebracht. »Wir müssen den Transmitter finden, durch den die Roboter gekommen sind und wir müssen 193 ihn umpolen, damit wir das Ungeheuer verfolgen können, das meinen Sohn geraubt hat.«
Harun Fellow schüttelte den Kopf. »Nicht wir, Ngade«, erklärte er. »Dazu brauchen wir eine Spezialeinheit - und die braucht wahrscheinlich Wochen, um den Transmitter und vor allem seine Schaltanlagen zu finden.« »Wir brauchen nur ein paar Minuten«, entgegnete der Khoisanide selbstsicher. »Indem wir nämlich den RoboterAusstoß wieder aktivieren. Dann sehen wir sofort, woher sie kommen.« »Und sie werden uns verkohlen«, prophezeite Bötticher zynisch. »Einmal hatten wir Glück. Beim nächsten Mal nicht.« »Wir wissen jetzt, wie wir die Sicherheitsschaltung aktivieren -und deaktivieren können«, erklärte Henk. »Und wir nehmen an, daß die Roboter nur ein Nebenprodukt der Anlage sind, die in erster Linie der Energieerzeugung für den Intervallschutz und als Betankungsanlage dient. Das Risiko dürfte also gering sein. Ngade, schalte die Anlage ein und gehe danach an die Schaltung des Suprasensors! Ich werde dann an der Aktivierungsschaltung aufpassen. Charlize bleibt bei mir! Die anderen gehen auf der Galerie in Stellung, schießen aber erst dann auf Kugelroboter, wenn sie angreifen!« Gesagt, getan! Anderthalb Minuten später sprang die Anlage erneut an. Kurz danach erschienen die ersten Kugelroboter aus dem Intervallfeld. Sie taumelten ebenfalls unsicher durch die Gegend, eröffneten aber nicht das Feuer. Diesmal sahen die Menschen deutlich, daß die Robots aus der hausgroßen Mündung eines Korridors kamen, dessen Tiefe im Dunkeln lag. Und die zuerst gekommenen Roboter blieben deaktiviert! Auf ein Kopfnicken Henks aktivierten er und Ngade die Sicherheitsschaltung. Daraufhin wurden die neu eingetroffenen Roboter deaktiviert - und der Zustrom weiterer Kampfmaschinen hörte auf. Auch das Intervallfeld wurde deaktiviert. Vermutlich stellen irgendwelche verborgenen Sensoren fest, daß das galaktische Strahlungsniveau nicht länger
bedrohlich ist, mutmaßte Henk. Bevor er sich überlegt hatte, in welcher Reihenfolge sie weiter vorgehen sollten, handelt Ngade San bereits. Er schwang sich an einem Glasfaserseil, das er blitzschnell am Geländer befestigt hatte, über die Galerie und stürmte zu der Stelle der Maschinenhalle, von der ausdie Kugelroboter zuerst zu sehen gewesen waren. Dabei vollführte er willkürlich Sprünge zu beiden Seiten. »Was tust du?« rief Henk. »Ich lese die Fährte!« rief der Khoisanide über die Schulter zurück, nachdem er kurz stehen geblieben war »Und Fährtenlesen ist wie Tanzen - weil dein Körper glücklich ist. Es ist, als würdest du mit Gott sprechen.« Er lachte grimmig. »Blödsinn! Ich versuche nur, eventuellen Minen auszuweichen.« Er lief, hüpfte und sprang weiter. »Du bist verrückt!« schrie der Ingenieur. »Warte gefälligst auf mich!« »Er tut das einzig Richtige!« raunte Noghe Buschido - aber so laut, daß es im Umkreis von hundert Metern zu hören war. »In der Spezialtruppe gehört das zur Ausbildung für die Fortbewegung in Feindesland. Vorwärts! Kämpft den Feind nieder!« Mit einem gewaltigen Satz schnellte er sich über die Brüstung der Galerie und rannte hinter Ngade her. »Kämpft den Feind nieder?« fragte Henk voller Sarkasmus. »Habe ich es hier mit Irren zu tun?« »Wenigstens ist schönes Wetter«, sagte Charlize schmunzelnd. »Das würde jedenfalls mein PsychotherapieAusbilder sagen.« Henk de Groot stöhnte dumpf, doch blieb ihm nichts weiter übrig, als sich den vorwärtsarbeitenden Gefährten anzuschließen, um erstens nichts zu verpassen und um zweitens helfen zu können, falls es nötig sein sollte. Und daß es nötig sein würde, davon war er überzeugt. Anfangs waren sie auf das doch ziemlich begrenzte Licht ihrer mitgebrachten Lampen angewiesen, doch nach ein paar Minuten flammte plötzlich bläuliche Helligkeit an der Decke des riesigen Ganges auf, in dem sie sich befanden. Sie blieben unwillkürlich stehen.
»Ein Tunnel«, stellte Major Bötticher trocken fest. »Eher ein Korridor«, erklärte Charlize und deutete geradeaus nach vorn. Henk de Groot nickte. Es sah tatsächlich einem Korridor ähnlich, wie es sie in den technischen Anlagen vieler Völker gab. Der Boden bestand aus ünitall, das fugenlos verlegt war. Die Breite von Wand zu Wand betrug zirka zehn Meter, die Höhe schätzte Henk auf den gleichen Wert. Zwei niedrige Galerien zogen sich an jeder Seitenwand entlang. Was sich dahinter verbarg, war nicht zu erkennen. An der Decke befand sich ein meterdickes Gitterwerk aus armdicken Trägern, die miteinander verschachtelt waren. Von dort her wehte ein schwacher, stetiger Luftzug - und von dort oben kam auch die bläuliche, aber nicht blendende Helligkeit. Der Unitallboden wurde von einer Art meterhohem und ebenso breitem T-Träger in zwei Hälften geteilt. Dieser Träger bestand aus einem spiegelglatten, völlig farblosen Material, das das Dek-kenlicht nur deshalb nicht blendend reflektierte, weil es von einem dichten Muster unzähliger Risse durchzogen war. Ngade San strich mit zwei Fingern leicht über die Fläche des Trägers. »Absolut glatt und fugenlos«, stellte er fest. Seine Stimme klang belegt. »Mir wird ganz komisch.« Er atmete durch den Mund; ein Beweis für seine hochgradige Erregung. »Ein rein optisches...« Henk de Groot blinzelte, dann schüttelte er verwirrt den Kopf. »Wo bist du, Ngade?« rief er, denn von einem Moment auf den anderen war der Khoisanide verschwunden. 196 »Also doch kein rein optisches Phänomen«, stellte Sergeant Bu-schido fest. Er lief dorthin, wo Ngade verschwunden war - und berührte den Träger. Und verschwand nach wenigen Sekunden ebenfalls. »Halt!« rief Charlize, als Henk zu der Stelle laufen wollte, wo die beiden Männer verschwunden waren. Sie hielt ihren
Freund am Arm fest. »Sei nicht leichtsinnig! Zwei Verschwundene reichen.« »Schon gut!« sagte der Ingenieur. Er blickte die junge Frau an und sah die Sorgenfalten auf ihrem sonst glatten Gesicht. »Ich bleibe ja bei dir.« Er lächelte beruhigend. »Die beiden werden schon nicht gefressen worden sein.« Im nächsten Moment tauchte Ngade San wieder auf. Er bewegte sich unsicher, als stünde er auf schwankendem Boden - und er blickte verwundert um sich. »Das ist eigenartig«, flüsterte er. »Wo ist Noghe?« rief Bötticher. »Neben mir«, antwortete Ngade. »Jedenfalls war er das eben noch. Vielleicht ist er in den Waggon geklettert.« »In welchen Waggon?« fragte Bötticher. »Sprechen Sie nicht in Rätseln, San!« Ngade San kauerte sich auf den Boden und rückte dabei ein Stück von dem Träger ab, als fürchtete er sich vor einer Berührung. Dann grinste er zur allgemeinen Verblüffung und wedelte geringschätzig mit einer Hand in Richtung des TTrägers. »Das Ding frißt niemanden«, erklärte er beruhigend. »Es tut auch niemandem weh. Es ist nur so etwas wie ein Ladungsumpo-ler.« Er räusperte sich. »Um bei dem Waggon zu bleiben: Das Ding sah so aus wie ein Bahnwaggon. Wie der Waggon einer Magnetschwebebahn, wie es sie auf der Erde gibt. Aber es war keiner, bestimmt nicht. Ich nehme an, es handelte sich um einen Hyper-feldgenerator, wie er zur Komprimierung und Ausrichtung von Transmitterfeldbögen verwendet wird. Aber etwas daran ist anders. Als hätte er noch mehr Funktionen.« 197 »Sind Sie von einem Transmitter abgestrahlt worden?« fragte Bötticher erregt. »Weder abgestrahlt noch wiederverstofflicht«, erklärte der Khoisanide. »Wenn ich es mir genau überlege, hat der Hyperfeld-generator eine Fehlfunktion. Das dürfte alles sein.« Er stand auf und reckte sich. »Kein Grund, sich zu fürchten. Es kommt zu subatomaren Ladungsumpolungen
und den entsprechenden Verschiebungseffekten, das ist alles.« »Das ist alles?« fragte Charlize aufgebracht. »Ladungs... äääh - Dimensionsverschiebungen? Und ich dachte immer. Dimensionsverschiebungen würden zu chaotischen Verhältnissen führen, weil sich keine Zusammenhänge zwischen Ursachen und Wirkungen mehr erkennen ließen.« »Wir reden aneinander vorbei«, sagte Ngade. »Es kommt nicht zu Verschiebungen von einer Dimension in eine andere, sondern zu einer dimensionalen Verschiebung von einer Existenzebene mit einem bestimmten Energiegehalt in eine andere mit einem abweichenden Energiegehalt. Din^e oder Personen vollführen bildlich gesprochen dimensionale Sprünge, je nachdem, welcher Art Fehlfunktion der erwähnte Hy perfeldgenerator unterworfen ist.« »Wie weit sind diese Sprünge?« wollte Harun Fellow wissen. »Keinen Millimeter weit«, antwortete der Khoisanide. »Es handelt sich nicht um echte Sprünge, sondern um bildlich gesprochene, wie ich schon sagte. Die verschiedenen Energieebenen existieren nicht räumlich voneinander entfernt.« Er taumelte, als unmittelbar neben ihm Sergeant Buschido wie aus dem Nichts auftauchte. Der Japaner stieß einen gellenden Schrei aus und starrte mit verzerrtem Gesicht und blutunterlaufenen Augen um sich. Er hielt seinen Blaster mit beiden Händen umklammert und schwenkte ihn ziellos hin und her. Die Abstrahlmündung der Waffe glühte grell blauweiß. »Verdammt!« entfuhr es Bötticher. »Sichern Sie Ihre Waffe-Sergeant!« 198 »Was?« schrie Buschido total verwirrt und schwenkte die Waffe herum, so daß die Mündung genau auf das Gesicht des Majors zeigte. Leutnant Fellow reagierte blitzschnell und trat dem Japaner die Waffe aus den Händen. Dafür kassierte er einen noch
schnelleren Konterstoß mit dem Ellenbogen ins Gesicht, der ihn zu Boden schleuderte, wo er zusammenbrach. Blut quoll aus seinen Nasenlöchern. Im gleichen Moment fing sich Buschido wieder. Verblüffend schnell sogar. »Tut mir leid, Harun«, sagte er, streckte die Hand aus und half dem Leutnant auf. »Es war ein reiner Reflex.« »Und - daß Sie mir die entsicherte Waffe vors Gesicht hielten, war das auch ein Reflex, Sergeant?« fuhr Bötticher ihn an. Noghe Buschido schüttelte den Kopf, hob seine Waffe auf, sicherte sie und schob sie ins Gürtelhalfter zurück. »Ich wußte nicht, wo ich mich befand, Sir.« »Harte Bräuche haben Sie!« sagte Henk vorwurfsvoll. Bötticher seufzte schwer. »Ein Ergebnis unseres Kampftrainings. Wir müssen schneller reagieren als denken.« »Das übliche erst schießen, dann fragen«, erklärte Charlize sarkastisch. »Ich dachte, ich wäre woanders«, erklärte Buschido mit seltsam flacher Stimme. »Sie sind übermächtig.« »Wer ist übermächtig, Sergeant?« fragte Charlize sanft. Der Japaner lächelte und verneigte sich vor der jungen Frau. »Selbstverständlich beschütze ich Sie«, versprach er. »Als ich den Waggon sah, glaubte ich für einen Moment, unsere Feinde wären übermächtig. Aber das sind sie natürlich nicht.« Er zuckte die Schultern. »Es war ja auch kein Waggon, sondern der Hyper-teldgenerator des gesuchten Transmitters. Habe ich recht, Ngade?« Der Khoisanide nickte. »Des Transmitters, den wir gesucht haben«, bestätigte er. »Und 199 durch den wir gehen müssen - und zwar sofort.« »Nicht ohne eine Vorsichtsmaßnahme«, wandte Henk de Groot ein. »Erstens müssen wir den Transmitter umpolen, damit er vom Empfänger zum Sender wird und der bisherige Sender zum Empfänger - und dann schicken wir einen unserer Hypersender durch. Wenn wir ihn danach mit
unserem anderen Hypersender anpeilen, können wir feststellen, wie weit er von uns entfernt ist - und vielleicht lassen sich sogar die genauen Koordinaten seines Standorts errechnen.« Nachdem sie alle ein paar Sekunden wie ratlos herum gestanden hatten, zuckte Ngade resignierend mit den Schultern. »Dann muß ich wohl etwas ausholen«, erklärte er so bedächtig, als legte er jedes einzelne Wort auf die Goldwaage. »Inzwischen dürfte uns allen klar sein, daß wir an den besagten Hyperfeldgene-rator heranmüssen, wenn wir etwas erreichen wollen. Das geht natürlich nur, wenn wir auf die Existenzebene gehen, auf der er sich befindet. Das ist einfach, weil wir dafür nur körperlichen Kontakt mit dem Ladungsumpoler beziehungsweise mit der Dimensions schiene herstellen müssen, wie ich den T-Träger der Einfachheit wegen nenne. Sie erledigt dann die Umpolung sozusagen in Nullzeit.« »Vielleicht kannst du uns noch mal erklären, wie sich das mit den Existenzebenen verhält!« forderte ihn Charlize aufund zog fröstelnd die Schultern hoch. »Wenn ich daran zu denken versuche, dreht sich mir alles von innen nach außen.« »Das ist nur Voreingenommenheit«, behauptete der Transmitter-techniker. »In Wirklichkeit ist alles ganz simpel. Der Begriff Exi-stenzebene ist der Terminus für den Energiegehalt der maximalen Wahrscheinlichkeit, der für die erkennbare Existenz von Materie schlechthin maßgebend ist. Um den Begriff Existenzebene zu verstehen, muß man wissen, daß jedes Atom eine bestimmte Ladung besitzt, einen bestimmten Energiegehalt, der in der Regel bei allen Atomen eines Elements gleich ist. Doch gibt es Atomarten, deren Kerne zwar die gleiche Protonenzahl, aber verschiedene Neutro 200 nenzahlen und damit verschiedene Massen haben, also Isotope sind; physikalisch unterscheiden sie sich von normalen Atomen außer in ihrer Masse auch im Kernvolumen, dem Spin, also dem Eigendrehimpuls, und im magnetischen Moment. Isotope sind zwar eine normale
Erscheinung, in unserem Universum überwiegen jedoch die >normalen< Atome, denn der bestehende Zustand beruht auf dem Energiegehalt mit der größten Wahrscheinlichkeit des natürlichen Auftretens. Nun kann man mit künstlichen Mitteln den Energiegehalt von Materie - also auch von Lebewesen - verringern oder erhöhen, wodurch die betreffenden Objekte beziehungsweise Subjekte aus der normalen Existenzebene verschwinden, da sie nunmehr einer anderen Existenzebene angehören. Das ist jedoch weder mit einer Orts- noch einer Zeitveränderung verbunden. Die betreffenden Dinge bewegen sich weder durch den Raum noch durch die Zeit. Dennoch könnten wir, die wir auf der normalen Existenzebene bleiben, sie weder sehen noch fühlen noch auf andere Art und Weise wahrnehmen - es sei denn, wir wechselten ebenfalls auf ihre Existenzebene, indem unsere Atome den Energiegehalt dieser Existenzebene annähmen.« »Puuuh!« machte Frank Bötticher. »Um das zu verstehen, muß man wahrscheinlich Dimensionsphysik studiert haben.«. »Irrtum!« korrigierte ihn der Khoisanide. »Das ist heute Stoff des siebten Schuljahres.« Sein Blick verdunkelte sich. »Aber was halte ich da für Reden! Mein Karua ist in der Gewalt einer Bestie! Tun wir endlich etwas!« »Wir sind seit langem dabei«, erwiderte Henk de Groot. »Bei Jetzt fassen wir alle gleichzeitig die Schiene an - und verwandeln uns damit in Bestandteile dieser anderen Existenzebene! Aber sobald wir dort ankommen, lassen wir die Schiene los und berühren nicht wieder, bevor ich es sage! Jetzt!« 10. Er hatte gewußt, daß er die Veränderung weder sehen noch fühlen würde, dennoch registrierte er mit Verwunderung, daß sich anscheinend absolut nichts geändert hatte. Bis auf den Waggon, der mit seinem blanken, energieabneh menden Boden wenige Zentimeter über der Oberkante des TTrägers schwebte... Selbstverständlich war es kein Waggon und auch kein anderes Beförderungsmittel einer Magnetschienenbahn. Es
sah nur auf den ersten Blick so ähnlich aus: rechteckig, etwa 30 Meter lang, fünf Meter hoch und vier Meter breit mit abgerundeten Ecken und Kanten, metallisch und schwarz, mit je einer kreisrunden Öffnung an Bug und Heck, hinter der hellgraue metallische Gebilde schimmerten, die an die Mündung von Protonenbeschleunigem erinnerten. Ansonsten sah der Korridor nicht anders aus als auf der Exi stenzebene, deren Bestandteile die eine Frau und die fünf Männer gewesen waren, bevor die Dimensionsschiene ihren Energiegehalt verändert hatte. Ehe jemand etwas sagen konnte, nieste Charlize so heftig, daß es sie beinahe zerriß. Sie nieste wohl ein Dutzend Mal; danach war sie durchgeschwitzt. Ihre Augen waren stark gerötet und tränten. »Was ist mit dir?« fragte Henk besorgt und ergriff Charlizes Hände. Die Frau lächelte gequält, dann schüttelte sie den Kopf, daß ihr blonder Pferdeschwanz im Nacken herumflog. »Mein Hals kratzte schon, bevor wir zum Goldenen aufbra chen«, erklärte sie und schniefte. Abermals nieste sie. Diesmal nicht ganz so schlimm wie vorher. »Aber erst hier ist der Schnupfen zum Durchbruch gekommen.« »Wahrscheinlich durch die Ladungsumpolung beschleunigt«, versuchte Major Bötticher eine scherzhafte Erklärung zu finden. »Vielleicht fühlen sich die Schnupfenviren auf dieser Existenzebene besonders wohl.« »Hat niemand Virostatika dabei?« erkundigte sich Sergeant Bu-schido besorgt. Er ergriff Charlizes beide Unterarme und fühlte mit geübten Griffen aller seiner Fingerkuppen mehrere Stellen ober- und unterhalb der Handgelenke, wobei er zwei Finger suchend bewegte. »Chinesische Pulsdiagnostik«, erklärte er dabei. »Hm! Der Yin-Anteil ist etwas zu stark. Überfunktion infolge Infektabwehr.« Noghe Buschido verbeugte er sich tief in Richtung Charlize. Henk de Groot verfolgte es irritiert. Ngade San schaltete geistig wieder total um. Ihn bewegte sowieso nur die Sorge um das Schicksal seines Sohnes. Folglich suchte er aus ihren technischen Mitbringseln alles zusammen, was er zur Untersuchung und Manipulierung des
Hyperfeldgenerators brauchte. Schließlich hatte er ein Konglomerat aus Schaltbatterien, Kontrollen, Sensoren und Abstrahlantennen zusammengebastelt. Auf ein Handzeichen von ihm traten die Gefährten hinter ihn. Danach richtete er die Abstrahl antennen auf die vordere Mündung des Hyperfeldgenerators und bewegte seine Fingerkuppen über ein Feld von Sensorleisten. Die Menschen hielten gleichzeitig den Atem an, als die Ab strahlantennen bläulich aufglommen und ein Knistern wie von elektrischen Entladungen zu hören war. Sekunden später glühte die vordere Mündung des Hyperfeldgenerators zuerst rötlich, dann grellweiß. Gleichzeitig erscholl ein dumpfes Dröhnen, »Was geschieht jetzt?« flüsterte Charlize und preßte sich eine Hand vor Mund und Nase, weil sie einen neuen starken Nießreiz verspürte. Mit lautem Implosionsknall verschwand der Hyperfeldgenerator sowie jener Teil des T-förmigen Ladungsumpolers, über dem er bisher geschwebt hatte. Dort, wo das zirka dreißig Meter lange T-Stück verschwunden war, klaffte eine rechteckige Öffnung im Boden: 30 Meter lang, zehn Meter breit - und unendlich tief. 203 Die Tiefe war selbstverständlich nur zu erahnen - und auch das nur, weil irgendwo dort im Abgrund eine gitterförmige, dunkelrot glühende Konstruktion von rund vier Metern Durchmesser hing, eingehüllt von einem Halo aus blaugrünem, stechendem Licht, dessen Anblick Beklommenheit hervorrief. »Was ist denn hier der Transmitter?« fragte Henk beklommen. »So etwas habe ich noch nie gesehen. Wir kennen nur die Kugelbeziehungsweise Ringtransmitter der Mysterious.« »Ich auch«, gab der Khoisanide zurück. » Aber noch steht der Transmitter nicht. Wir müssen es auf einen Versuch ankommen lassen. Ich bin allerdings optimistisch, daß es irgendwie klappt. Wenn meine Kontrollen mich nicht
täuschen, steht der Transmitter auf Senden. Wer hält das Hyperfunkgerät bereit?« »Das mache ich«, antwortete Henk, der das zylindrische, mattgraue Gerät von Unterarmlänge aus seinem Geräterucksack geholt hatte und in einer Hand wog, denn es war nur zirka l ,5 Kilogramm schwer. »Die neueren Konstruktionen werden auch immer kleiner. Bald sieht man sie nur noch mit einer Lupe.« »Also, gut!« sagte Ngade San. »Ich schalteteden Transmitter ein -jetzt !« Erneut strich er mit den Fingern über die Sensorleisten. Die Menschen schrien erschrocken, als der Abgrund explosionsartig emporschoß und sie zu verschlingen drohte. Doch auf gleicher Höhe mit ihnen stoppte er und bekam eine feste schwarze Oberfläche, auf der die gitterförmige Konstruktion aus dunkelrot glühenden Elementen stand. Ihr Inneres verblaßte allmählich, bis es völlig durchsichtig war und sich zum Hohlraum innerhalb der Konstruktion wandelte. Und innerhalb des Hohlraums baute sich lautlos und blitzartig ein ultrahell wabernder Ring von zirka drei Metern Durchmesser auf. »Also doch ein Ringtransmitter - jedenfalls im Prinzip«, stellte Ngade fest. »Nein, nein!« rief er, als Henk sich in Bewegung setzte. »Nicht selber hineingehen! Wirf!« 204 Der Ingenieur blieb stehen, überlegte mit geschlossenen Augen eine Sekunde lang - und schleuderte dann das Hyperfunkgerät in den Transmitterring. Außer einem kurzen Flackern war nichts zu sehen. Das Gerät aber war verschwunden. Henk de Groot kehrte zu seinem Rucksack zurück, ging in die Hocke und packte ein zweites Hyperfunkgerät aus. Nachdem er es auf Senden geschaltet hatte, ließ er es den Kode ausstrahlen, der das erste Gerät ebenfalls auf Senden schaltete, dann schaltete er sein Gerät auf Empfangen um. »Was passiert jetzt?« erkundigte sich Major Bötticher nach einer Weile.
»Jetzt müßte ich damit den vorprogrammierten Kodeimpuls des Hyperfunkgeräts empfangen, das wir fortgeschickt haben«, antwortete Henk. »Aber es kommt nichts herein«, stellte Bötticher fest. »Absolut nichts«, bestätigte de Groot. »Der Sendeimpuls müßte aber stark genug für zwanzig Lichtjahre sein.« »Dann ist die Transmitter-Gegenstation weiter als zwanzig Lichtjahre entfernt?« entfuhr es Charlize. »Oder die Störungen des Galaktischen Hyperraumnetzes lassen keine überlichtschnelle Funkverbindung zu«, sagte Ngade San tonlos. »Vielleicht haben wir es noch immer mit Reststrahlung des manipulierten Schwarzes Loches aus dem galaktischen Zentrum zu tun. Wir wissen auch nicht, ob unser Kodeimpuls, der das erste Gerät auf Senden schalten sollte, durchgekommen ist. Wie auch immer, hier hilft nur eines.« »Was?« fragte Henk ahnungsvoll und spürte, wie seine Nackenhaare sich vor Grauen sträubten - denn das, was auf sie zukam, barg möglicherweise unvorstellbare Schrecken. »Wo Geräte versagen, muß der Mensch seinen Fuß hinsetzen«, erklärte der Khoisanide entschlossen. »Beziehungsweise, wenn die Beförderung von Energie versagt, muß Masse eingesetzt werden. Sie hat wahrscheinlich den stärkeren Durchdringungs-impuls. In 205 übertragenem Sinne selbstverständlich. Anders läßt es sich Laien nicht erklären. Niemand muß mich begleiten. Aber wer mitkommen will, ist mir willkommen.« »Ich komme selbstverständlich mit«, hörte Henk sich wie aus weiter Ferne sagen. Er konnte nicht anders, obwohl sich alles in ihm dagegen sträubte, mitzumachen. Zu undurchschaubar war das alles. »Charlize, du solltest hierbleiben und...« »Wo du hingehst, da will auch ich hingehen!« dozierte seine Verlobte. Es sollte spöttisch klingen, aber ihre leicht schwankende Stimme verriet ihren wahren Gemütszustand. »Schließlich bin ich dein Schutzengel.« »Und ich bin dein Schutzengel!« versicherte Noghe Buschido nachdrücklich und verneigte sich abermals vor der
Frau. Henk musterte den Japaner durchdringend, verkniff sich aber jede Bemerkung, die als eifersüchtige Reaktion ausgelegt werden konnte. Das wäre auch zu dumm gewesen, denn er war absolut nicht eifersüchtig. Nur zweifelte er immer stärker daran, daß mit Noghe Buschido alles in Ordnung war. »Wir werden alle gehen«, erklärte Major Bötticher. Demonstrativ rückte er seinen Waffengurt zurecht. »Dafür sind wir ja da.« Ngade klemmte sich das selbstgebaute Kombigerät zur Trans-mittersteuerung unter einen Arm, nickte den Gefährten zu und trat entschlossen in den Ringtransmitter. Die anderen sahen, wie er verschwand, dann folgten sie ihm. Das zweite Hyperfunkgerät ließ Henk zurück, nachdem er eine bestimmte Schaltung daran ausgeführt hatte. Praktisch im selben Augenblick standen sie innerhalb eines ultrahell wabernden Ringes, der eine dunkelrot glühende Konstruktion ausfüllte. Nacheinander verließen sie den Ring, dann deaktivierte der Khoisanide den Transmitter. Henk de Groot hob einen hellgrauen Zylinder auf, der vor seinen Füßen lag: das erste Hyperfunkgerät. »Es arbeitet einwandfrei«, stellte er nach kurzer Prüfung fest. Er schaltete daran. »Aber es empfängt den Kodeimpuls des zweiten 206 Geräts nicht.« »Und ich spüre nichts von Kama«, sagte Ngade mit einem Unterton von Verzweiflung. Er schaltete an seinem kombinierten Transmittersteuergerät. »Aber wir bekommen damit auch zu keinem anderen Transmitter Kontakt als zu dem auf Babylon. Zwischen beiden Stationen existiert nur diese eine fixe Verbindung. Es geht entweder hin oder her.« »Wo befinden wir uns eigentlich?« wandte Sergeant Buschido ein. »Ich meine, auf welchem Planeten, denn das kann ja niemals Babylon sein?« »Hm, das frage ich mich auch«, sagte Ngade. »Die Schwerkraft ist deutlich geringer als auf Babylon. Entweder
haben wir es hier mit einem Himmelskörper mit geringerer Gravitation zu tun - oder wir befinden uns in einem Objekt mit künstlicher Schwerkraft.« Henk de Groot sah sich erst jetzt genauer um. Er stellte fest, daß sie sich wieder in einer Art Korridor befanden - wie unterhalb des Goldenen auf Babylon - daß es hier aber weder T-Schienen noch Waggons gab, sondern in einem fugenlosen Boden aus durchsichtigem Metall oder Metallplastik ein System von mehrfarbigen Linien, die ins Material des Bodens eingebettet waren. »So etwas habe ich schon einmal gesehen!« rief er den Gefährten zu. »Auf Videos einer ehemaligen Raumstation der Giants. Die Linien waren dort Leitlinien, die von den Hangars der Beiboote zu ihren Abschußtuben führten.« »Durchsucht dieses Objekt!« sagte Ngade San aufgeregt. »Vielleicht gibt es hier nicht nur Tubenhangars für Raumboote, sondern auch andere Transmitter. Irgendeiner muß dorthin führen, wohin es meinen Jungen verschlagen hat.« Er rannte los, bevor Henk mit ihm argumentieren konnte. Sein Kombigerät schleppte er dabei mit. Es schien ihn nicht zu behindern. »Okay!« resignierte Henk de Groot schließlich. »Suchen wir "üt. Aber nicht länger als eine Stunde. Danach sammeln wir uns wieder auf diesem Fleck!« Er zweifelte daran, daß sie auf diese 207 Art und Weise eine Spur von Ngades Jungen finden würden. Schließlich war Karua von einem Tier geraubt worden - und ein Tier konnte unmöglich eine ganze Kette von Transmittern benutzen. Sie liefen los, als hätten sie alle nur auf diesen Zuspruch gewartet. Eine Weile bewegten sie sich alle in eine Richtung. Doch dann kam eine kuppeiförmige Halle, von der drei gleichartig aussehende Korridore ausgingen und die Menschen teilten sich willkürlich auf. Eigentlich hatte Henk angenommen, Charlize würde an seiner Seite bleiben. Deshalb sah er sich nicht einmal nach ihr
um, als sie sich in drei Gruppen aufteilten. Erst als ihm ein scheunentorgroßes Schott den Weg versperrte, wandte er sich um. Und sah sich nur Ngade San gegenüber. »Charlize?« fragte er verblüfft. »Wo ist Charlize?« »Woher soll ich das wissen?« erwiderte der Khoisanide. »Sie wird schon nicht verlorengehen.« Er musterte das dunkelgraue Schott von oben bis unten. »Das sieht irgendwie wichtig aus.« »Leider haben wir keine technische Ausrüstung, um es zu öffnen«, erklärte der Ingenieur. . »Vielleicht gibt es eine bessere Möglichkeit«, meinte der Khoisanide, setzte sein Steuergerät ab und ging davor in die Hocke. Dann deutete er auf eine Sensortastatur an der Seite. »Diese Tastatur ist separat. Man bedient damit den Suprasensor, den ich dazu-geschaltet habe, als ich das Konglomerat zusammenbaute.« »Probiere es!« sagte Henk. Er stellte sich neben Ngade, zog seinen Blaster aus dem Gürtelhalfter und blickte geradeaus auf die Stelle im Schott, an der er die Trennlinie der beiden Hälften vermutete. Immer vorausgesetzt, dachte er dabei, daß meine Vorstellung der Konstruktion an die Wirklichkeit herankommt. Etwas machte klick, dann bildete sich genau an der Stelle, die Henk im Auge behalten hatte, ein Spalt, der sich so langsam wie in Zeitlupe verbreiterte. »Es geht doch nichts über einen Old-Compu... - äääh Suprasensor«, flüsterte Ngade San. 208 Henk de Groot kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, denn aus der Schottöffnung drang blendende Helligkeit. Je weiter die Hälften auseinanderglitten, desto mehr merkte der Ingenieur aber, daß die Helligkeit auf der anderen Seite nicht die Augen blendete. Es war nicht die Lichtstärke, sondern die Lichtfülle, die ihn so sehr beeindruckt hatte. Das Licht kam von einem weißgelben Sonnenball, der scheinbar einsam in einem seltsam wirkenden All schwebte.
Wenn Henk nur die Sonne betrachtete, konnte er denken, die Sonne der Erde zu sehen - Größe und Entfernung schienen identisch zu sein. Aber irgend etwas war anders. Etwas behinderte die weitere Aussicht ins All. Es schien, als wäre weit hinter dem Sonnenball eine Art Netz aufgespannt, das die Sonnenstrahlung teilweise reflektierte und streute und gleichzeitig den Ausblick in das weiter entfernte Weltall versperrte. Das alles nahm Henk de Groot im ersten Augenblick - und das war in etwa die Zeit von drei Sekunden - wahr, dann löste sich sein Blick von der dominanten Wahrnehmung, und er sah die transparente Wandung eines Außenschotts zwischen sich und der Sonne - und davor einen Hangarschacht, in dem ein beschädigter Raumjäger lag. Der Raumjäger lag mit der Bugnase voran im Hangar; sein Heck zeigte auf das Außenschott. Der Bug war teilweise aufgerissen. Unter der Abdeckung kam komprimierte Elektronik zum Vorschein. Die Pilotenkanzel dahinter fehlte. Anscheinend hatte sich der Pilot mit ihr abgesprengt, bevor sein havariertes Fahrzeug in den Hangar gerauscht war. »Wer weiß, wo er gelandet ist - wenn überhaupt!« sagte Ngade leise. »Wäre er im Fahrzeug geblieben, hätte er mit Sicherheit überlebt.« »Er würde trotzdem heute nicht mehr leben«, erwiderte Henk und trat näher an den Raumjäger heran. »Siehst du die Elektro-nikmodule? Sie sind korrodiert. Dabei bestehen sie offenbar aus korrosionsfreien Materialien. Nur über Jahrtausende kann sich 209 eine solche Alterspatina bilden.« Er schob seinen Blaster ins Gürtelhalfter zurück, ging an dem Raumjäger vorbei und schaute durch das transparente Außenschott. Nach einer Weile trat er ganz dicht an das Schott heran und spähte nach oben und unten sowie nach den Seiten. Was er sah, ließ eine Ahnung vergangener Größe in ihm aufkeimen, denn sein Blick schweifte über hellgrau metallische Module, die offenkundig genormt und so gewaltig waren, daß Tausende von Großraumfrachtern
notwendig gewesen sein mußten, um sie zu transportieren. Er schätzte jede einzelne ihrer Oberflächen so groß ein wie die Oberfläche des irdischen Kontinents Australien. Wahrschein lich aber hatten die Konstrukteure keine Raumschiffe für die Fortbewegung dieser Module gebraucht, denn der Ingenieur sah an mehreren Stellen der Bauteile unverkennbar die Aggregate von Düsen- und Antigrav antrieben. Allerdings befanden sich zwischen den Modulen große bis gigantische Lücken, als wäre das, was hier gebaut worden war, unfertig geblieben. Eine Serie von Saug- und Schnalzlauten erinnerte ihn wieder daran, daß er nicht allein war. Er drehte sich um und sah den Khoisaniden beinahe andächtig auf die technischen Hinterlassenschaften Unbekannter schauen. »Was sagst du dazu, Ngade?« fragte er. »Ich bin erschüttert«, erwiderte der Transmittertechniker. »Das sieht danach aus, als wäre es - als wäre es...« Er traute sich anscheinend nicht weiter zu sprechen. »Als wäre es eine Dyson-Sphäre gewesen«, beendete Henk den Satz. »Beziehungsweise, als hätte es eine Art DysonSphäre werden sollen.« Er erinnerte sich noch genau an die Uni-Vorlesungen, in denen hochkarätige Wissenschaftler über die Theorie der sogenannten Dyson-Sphäre doziert hatten. Demnach war eine Dyson-Sphäre eine riesige, undurchlässige Kugel um eine Sonne, deren Innenseite exakt eine Astronomische Einheit von ihrer Sonne entfernt war und damit ideale Bedingungen für menschliches Leben bot. 210 Hergestellt wurde eine solche Kugelschale aus genormten Bauteilen, die wiederum aus der ingenieurtechnisch aufbereiteten Materie aller Planeten, Monde und Asteroiden eines Sonnensystems hergestellt worden waren. »Irgend eine Zivilisation war dabei, ihre ureigene DysonSphäre fertigzustellen, als etwas geschah, das alle ihre hochfliegenden Pläne zunichte machte«, fuhr er fort. »Wahrscheinlich sind die Erbauer ausnahmslos ums Leben gekommen, so daß wir es nur noch mit einer Geistersphäre zu
tun haben.« Ngade San leckte sich über die Lippen. »Was sind wir Menschen nur für Wesen?« sagte er grübelnd. »Wir fühlen uns als die Herren der Schöpfung, dabei sind wir nichts anderes als Ratten, die in den Abfällen untergegangener Zivilisationen wühlen.« Henk de Groot nickte seufzend, dann ballte er die Fäuste, daß die Knöchel weiß hervortraten. »Wir können nichts dafür, daß wir zu spät geboren wurden«, flüsterte er zornig. »Aber vielleicht sind wir die Erneuerer, die aus den Trümmern der alten Zivilisationen alles tausendmal schöner wieder aufbauen.« Als der Khoisanide nicht antwortete, drehte er sich nach ihm um. Ngade schien seine letzten Worte gar nicht gehört zu haben. Er hockte wieder vor seinem Kombigerät, fuhr mit den Fingerspitzen über Sensortasten und beobachtete konzentriert zahllose Anzeigen. »Es muß in dieser Sphäre Tausende von Transmittern geben«, erklärte er nach einer ganzen Weile. »Ich fange ganz schwache Reststrahlungen ihrer Steuersysteme auf, zu schwach, um sie anzupeilen oder um sich mit eigenen Steuersignalen hinein zu hängen.« Plötzlich hob er den rechten Arm. »Halt!« Henk hielt unwillkürlich den Atem an und beobachtete das Mienenspiel des Transmittertechnikers. Es verriet ihm, daß Ngade 211 einer ganzen Skala widersprüchlicher Gedanken und Gefühle ausgesetzt war. Langsam senkte Ngade den Arm und drehte sich halb nach links. »Aus dieser Richtung kamen eben ein paar Energieimpulse, die mir verraten haben, daß jemand einen Transmitter zu aktivieren versucht«, erklärte er - heiser vor Erregung. »Es muß einer dieser Uralt-Transmitter sein. Aber wenn die Träger dieser Zivilisation nicht mehr leben...« »Dann war es einer von uns!« rief Henk. »Kannst du mich
hinführen? Wir müssen verhindern, daß vielleicht nur einer versehentlich durch einen Transmitter geht - und das mit unbekanntem Ziel.« Er dachte dabei an Charlize. Ngade San sprang auf, packte sein Gerät und lief einfach los, ohne auf die Worte Henks einzugehen. Es war offenkundig, daß er von dem Gedanken beherrscht war, seinen Sohn zu suchen und zu finden. Etwas anderes zählte nicht für ihn - und Henk verstand das. Er eilte ihm nach. Da er aber unablässig an seine Verlobte dachte, aktivierte er sein Armbandfunkgerät und rief nach Charlize - wieder und wieder. Charlize allerdings antwortete nicht. Dafür meldeten sich nacheinander Bötticher und Fellow. Es stellte sich heraus, daß die beiden Soldaten beisammengeblieben waren. Henk sagte ihnen Bescheid, worum es ging und beschrieb ihnen die Richtung, nachdem er ihre Position funkmeßtechnisch angepeilt hatte. Ein paar Minuten lang kamen sie gut voran - und die beiden Suchtrupps schlössen allmählich auf. Als Ngade abermals Schaltversuche an einem Transmitter anmaß, stellte er fest, daß die Entfernung nicht mehr als nur noch zweihundert Meter betrug. Doch dann erlosch schlagartig die Beleuchtung. Es wurde dunkel. Die Menschen hasteten weiter. Dabei riefen sie sich gegenseitig über Funk an und gaben sich Hinweise auf das Ziel. Ihre Handlampen hatten sie inzwischen eingeschaltet. 212 plötzlich stieß Henk beinahe mit Leutnant Harun Fellow zu sammen. Der Afrikaner war plötzlich aus einer Schottöffnung aufgetaucht und hatte den Ingenieur ebenfalls zu spät gesehen. Hinter ihm humpelte Major Frank Bötticher heran. Er hatte sich einen Fuß vertreten, aber es war nicht schlimm. »Haben Sie Charlize gesehen?« fragte Henk, nachdem er die Überraschung überwunden hatte. »Ich dachte, sie wäre dorthin gelaufen«, erwiderte Fellow und deutete in die Richtung, aus der er und Bötticher gekommen waren. »Aber ich bin nicht sicher. Anfangs hörte ich Schritte, dann nichts mehr.«
Seltsame Geräusche kamen aus der Dunkelheit. Es klang wie Scharren und Stampfen und tönte aus derselben Richtung wie vorher Fellow und Bötticher. »Charlize!« schrie Henk. Etwas wie halbersticktes Rufen ertönte. Der Ingenieur glaubte Charlizes Stimme zu erkennen, war sich aber nicht sicher. »Dort muß sie sein!« rief er, richtete den Lichtkegel seiner Handlampe in die betreffende Richtung und stürmte los. »Kommen Sie!« Er hatte kaum hundert Meter zurückgelegt, da sah er schemenhafte Gestalten, die miteinander zu ringen schienen. Keuchen war zu hören. Henk lief schneller. Charlize schien sich in Gefahr zu befinden. Anscheinend war sie von etwas angegriffen worden. Plötzlich explodierte eine grellweiße Lichtfülle, entwickelte sich zu ultrahellem Wabem und bildete einen torgroßen Ring. In dem Ring standen Charlize und eine humanoide Gestalt und rangen offensichtlich miteinander. R Sergeant Buschido!« schrie jemand. on links tauchte Major Bötticher auf und stürmte auf den Iiansmitter zu. Gleichzeitig kam von rechts der Khoisanide. »Raus aus dem Transmitter!« schrie Ngade. irenausogut hätte man einen Magnetschienenzug mit der bloßen 213 Hand stoppen können. Henk, Bötticher, Ngade, Fellow und Bu-schido prallten in dem wabernden Ring gegeneinander und gleichzeitig mit Charlize zusammen. Der Khoisanide rutschte halbbetäubt mit dem Rücken an einer Wand des Transmitters hinunter. Es ließ ihn offenbar kalt. Er war ganz auf sein Gerätekonglomerat konzentriert und ließ seine Finger hektisch über Sensorleisten gleiten. Im selben Moment flackerte der Transmitterbogen - und fiel dann in sich zusammen, ohne daß eine Transmission stattgefunden hätte. Das Gitterwerk des Projektionsaggregats leuchtete schwach von innen heraus.
»Verdammt!« schrie Henk außer sich, als er sah, daß der Japaner seine Freundin umklammert hielt. »Was hatten Sie mit Charlize vor. Sie Schwein?« Er stürzte sich auf Buschido, hatte aber gegen den Samurai kämpfer keine Chance. Noghe setzte ihn mit einem Leberhaken außer Gefecht. Er brach haltlos zusammen und konnte keinen Finger mehr rühren. Nur seine Beine zuckten sekundenlang unkontrolliert. , »Ich versuchte. Ihre Braut zu retten. Sie Narr!« schrie der Japaner. Erst jetzt sahen die Anderen, daß seine linke Gesichtshälfte blutüberströmt war. »Etwas hatte sie angegriffen. Es hieb auch auf mich ein und traf mich so hart, daß ich für eine Sekunde geistig weggetreten war.« »Was hat Sie angegriffen?« fragte Bötticher. Als Buschido nur mit den Schultern zuckte, wiederholte der Major die Frage - an Charlize gerichtet. »Ich habe niemanden außer diesem Verrückten gesehen«, antwortete die Frau und deutete auf Buschido. »Und Sie konnten ihn abwehren?« fragte der Major mit beinahe inquisitorischer Strenge. »Ja...«, erwiderte Charlize, aber es klang unsicher. »Dann glaube ich dem Sergeanten«, erklärte Bötticher und half Henk auf die Beine. »Niemand wehrt Noghe erfolgreich ab, wenn 214 er nicht halbtot ist. Er muß also von einem mindestens gleichwertigen Gegner angegriffen worden sein, bevor Charlize glaubte, sich gegen ihn wehren zu müssen. Natürlich hat sie wirklich geglaubt, er hätte sie überfallen. Was aber ein Irrtum war. Für Noghe lege ich meine Hand ins Feuer. Seine Samurai-Ehre würde keine unmoralische Handlung zulassen. Was tun wir jetzt?« »Wir benutzen diesen Transmitter«, schlug Ngade vor und schaltete bereits. »Ich bin sicher, daß er uns in die Unterwelt von Babylon zurückbringt. Wer hat vorhin eigentlich schon einmal den Transmitter aktiviert?« : Buschido und Charlize schüttelten fast synchron die Köpfe. »Keine Ausflüchte!« sagte der Khoisanide. »Ich habe doch Schaltversuche angemessen - und ich konnte gerade noch
verhindern, daß die Entmaterialisierungsschaltung ansprach. Die Werte, die ich dabei gelesen habe, waren irrsinnig. Das Gerät war auf die Überwindung einer Strecke von mindestens siebentausend Lichtjahren justiert.« »Das kann nur das Fremde gewesen sein«, erklärte der Japaner. »Ich nehme an, es wollte Charlize entführen. Deshalb schlug es mich nieder.« Das klang plausibel, so daß sich Ngade damit zufrieden gab. E Henk wußte, daß er sich bei Buschido entschuldigen sollte, konnte sich aber nicht dazu durchringen. Beinahe haßte er sich deswegen - aber nur beinahe, denn er spürte tief in seinem Innern, daß etwas an der Geschichte nicht stimmte. Der Transmitterbogen waberte, dann flammte er abermals ultrahell auf. Bevor sie alle entmaterialisiert wurden, sah Henk de Groot den | vorspringenden Rahmen links von Buschido. Neben ihm befand sich eine Art Schalttafel. Etwas Rotes klebte daran - etwas Blutrotes...
215 Warum ist es mißlungen? Warum war er stärker als ich? Ich habe gekämpft und hatte beinahe schon gesiegt, als er mich mit dem Kopf gegen den Rahmen der Schalttafel rammte, an der ich den Transmitter justiert hatte. Siebentausend Lichtjahre weiter - und wir wären in Sicherheit gewesen, in einer Heimstatt, in der das Leben eine neue Chance bekommen hätte. Was heißt hätte? Es wird sie bekommen. Ein Versuch ist kein Versuch. Die Entscheidung wurde nur verschoben. Das Böse wird siegen, aber es wird ein Pyrrhussieg sein. Denn der Geist ist stärker als die Ausgeburt des mißratenen Sohnes namens Satan... In einem Ring aus ultrahellem Wabern standen die Frau und die fünf Männer des Suchtrupps und warteten darauf, daß der
Transmissionsvorgang abgeschlossen war. Als der Transmitterbogen flackerte und dann in sich zusammenbrach, leuchtete nur noch das schwarze Gitterwerk des Projektionsaggregats schwach von innen heraus. Die Menschen hatten ihre Handlampen eingeschaltet, waren aber von dem gleißenden Wabern der multidimensionalen Energien noch so geblendet, daß sie absolut noch nichts von ihrer Umgebung außerhalb des Projektionsaggregates sahen. Allmählich erst schälten sich aus der sie umgebenden Finsternis schemenhaft die Konturen riesiger, quaderförmiger Gebilde heraus - Maschinen wahrscheinlich. Nach ihrer Größe zu urteilen standen die Maschinen in einer wahrhaft gigantischen Halle. »Babylon!« flüsterte Charlize. Henk de Groot nickte. Auch er fühlte an der gewohnten Schwerkraft, daß sie sich auf Babylon befanden - mit großer Wahrscheinlichkeit. »Karua!« sagte Ngade San mit gedämpfter Stimme. »Ich spüre seine Nähe. Er kann nicht weiter als zehn Kilometer entfernt sein 216 und er lebt.« »Ruhe!« flüsterte Major Bötticher. »Ich höre etwas! Etwas oder jemand nähert sich!« Er richtete den Lichtkegel seiner Handlampe geradeaus in die Dunkelheit - und das Licht wurde mit metallischem Glitzern reflektiert. Eine ganze Kohorte der bekannten Kugelroboter schwebte dort, kaum fünfzig Meter entfernt. Weitere Lichtkegel schnitten durch das Dunkel und enthüllten immer mehr der Kugelroboter. Es mußten Hunderte von ihnen sein - und sie hatten den Transmitter umzingelt. »Fort hier, Ngade!« befahl Buschido. Doch der Khoisanide reagierte nicht. Entweder unterschätzte er die Gefahr - oder er war nur von dem Willen beseelt, seinem Sohn zu helfen, koste es, was es wolle. Im nächsten Augenblick war es zu spät.
Henk de Groot ahnte es, als er das Gefühl hatte, sich nicht mehr rühren zu können, während rings um ihn und seine Gefährten alles mit wachsender Geschwindigkeit ablief. Was ist das? mühte sich ein Gedanke unendlich langsam durch kristallisierendes Eis. Als der Eisblock taute, in dem sein Bewußtsein eingefroren war und seine Denkprozesse wiederkehrten, war es längst zu spät. Da befanden sich seine Gefährten und er in einer völlig anderen Umgebung. Die Kugelroboter waren verschwunden und mit entnervend hallendem Krachen schlug ein Portal zu. »Was ist passiert?« fragte eine Stimme, die der Ingenieur als die seiner Verlobten erkannte. »Ganz ruhig!« sagte er und richtete den Lichtkegel seiner Handlampe, der senkrecht nach oben strahlte, nach vorn. »Leuch-^t doch mal die Umgebung ab, Leute!« 217 Auch die anderen fünf Lichtkegel, die genau nach oben gezeigt hatten, fingerten nun suchend herum. Nach und nach wurde klar daß die Roboter sie in eine andere Halle verfrachtet hatten - allerdings in eine, in der es keine technischen Gebilde gab. Es handelte sich eher um eine Höhle, wenn auch um eine riesige, aber eine Höhle im Naturzustand der Urzeit. Die weitentf ernten Wände waren von einem weißlichen, schleimigen Pflanzengewirr überzogen und ließen nicht mehr erkennen, ob sie aus Metall oder aus gewachsenem Fels bestanden. Der Boden war mit Geröll, grobem Schotter ähnlich, bedeckt. Nur dort, von woher die Menschen anscheinend gebracht worden waren, befand sich ein technisches Relikt: ein riesengroßes Panzerschott. »Was war los?« fragte Bötticher. »Die Kugelroboter haben uns in diese Höhle geworfen, aber warum konnten wir uns nicht dagegen wehren?« »Ich denke, es war ein Stasisfeld«, antwortete Henk. »Ein Feld, in dem die Zeit stillstand. Es hüllte uns ein und verurteilte uns so zu absoluter Starre gegenüber der Umgebung. Für uns verging keine Zeit, ja, für uns gab es
keine Zeit, während außerhalb des Feldes zirka zwanzig Minuten vergangen sein müssen.« »Das ist teuflisch«, stellte Charlize erschaudernd fest. »Zu unserem Glück scheint der Stasisprojektor - oder was immer den Zeitstillstand verursacht - fest installiert zu sein. Nicht auszudenken, wenn die Kugelroboter einen mobilen Projektor besäßen und ihn bei ihrem Angriff an der Oberfläche eingesetzt hätten.« »Wir wären wehrlos gegen sie gewesen«, stellte Henk trocken fest. Er wandte sich dem Khoisaniden zu, der mit gesenktem Kopf dastand und in sich hineinzulauschen schien. »Spürst du etwas von Karua, Ngade?« Ngade erwachte aus seiner Versenkung, nickte und antwortete: »Ja, er ist gegenwärtig.« »Gegenwärtig...!« echote Harun Fellow ironisch. »Sind wir hier in einem Gelehrtenzirkel oder was?« »Gelehrtenzirkel!« entgegnete der Khoisanide bitter. »Wenn ich 218 gegenwärtig sage, dann meine ich gegenwärtig. Ich spüre seine Anwesenheit, aber ich kann ihn nicht auf eine begrenzte Stelle lokalisieren. Aber er ist vorhanden, sozusagen überall zugleich, also ist er gegenwärtig. Es scheint hier unten etwas zu geben, das geistige Impulse zerstreut, so daß sich die Quelle nicht bestimmen läßt. Aber ich weiß, daß mein Junge da ist - und ich werde ihn finden.« »Demnach lebt er - und das ist die Hauptsache«, stellte Henk de Groot fest. »Ich weiß, daß in unserem Gepäck Nachtsichtgeräte sind. Packen wir sie also aus und erkunden diese seltsame Höhlenwelt. Es würde mich nicht wundern, wenn wir hier auf urzeitli-che Flugsaurier treffen würden.« »Sollten wir nicht zuerst versuchen, die Höhle zu verlassen?« wandte Harun Fellow ein. »Wir dürfen uns doch nicht in ihr gefangenhalten lassen.« »So leicht kommen wir nicht heraus«, entgegnete der Ingenieur. »Das Panzerschott läßt sich nicht von innen öffnen. Ich habe das bereits mit meinem Energietaster versucht. Seine Impuls gehen nicht aus dieser Höhle hinaus.
Ich vermute, sie ist von einem Intervallfeld umgeben.« »Demnach sind wir hier gefangen«, stellte Charlize fest. Ein schriller Schrei gellte auf. Er war so grauenhaft, daß die Menschen dachten, ihr Blut würde in ihren Adern gefrieren. Plötzlich brach er mit einer noch grauenhafteren Dissonanz ab. Dann war es wieder still - totenstill. Aber nichts war mehr wie vorher, wie vor dem Schrei. Er hatte allen Menschen mitgeteilt, daß die Urwelt in ihrer Höhle kein Garten Eden war, sondern ein Ort der Verdammnis. Schweigend holten sie ihre Nachtsichtgeräte aus dem Gepäck und legten sie an. Die Geräte ähnelten in der Länge sehr kompakten Ferngläsern. Sie waren an Haltegurten befestigt, die sowohl über Schutzhelmen als auch direkt auf dem Kopf getragen werden konnten und wurden je nach Bedarf über die Augen gestreift beziehungsweise hochgeschoben. Sie waren nur 200 Gramm schwer 219 und verstärkten in erster Linie das Restlicht. War kein Restlicht vorhanden, konnten die integrierten InfrarotIlluminierer zugeschaltet werden. Energie lieferten Kompaktbatterien; die Reichweite betrug 500 Meter, die Erkennungsreichweite 370 Meter. Mit gemischten Gefühlen sah Henk, wie Charlize die Kopf wunde des Japaners reinigte und mit einem Spray verband versah. Aber er sagte nichts. Schließlich war sie Krankenschwester. Deshalb war es logisch, daß sie Buschidos Wunde versorgte. Und ohne Verband hätte ihm sein Nachtsichtgerät auf der offenen Wunde Schmerzen bereitet. »Handlampen aus!« befahl Major Bötticher, als er sah, daß alle Gefährten die Geräte angelegt hatten. »Ich denke, daß ich das Kommando übernehmen sollte. Wir von den Spezialtruppen kennen uns mit diesen hochentwickelten Nachtsichtgeräten aus. Also: Geräte ein, aber noch kein Infrarot!« Henk de Groot gehorchte, wie alle anderen auch. Nachtsichtgeräte waren nicht neu für ihn, aber in einem Extremfall wie diesem hielt er es für richtig, sich auf einen kampferprobten Mann zu verlassen.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis die Augen sich an die ungewohnten Sichtverhältnisse gewöhnt hatten. Zuerst erschien alles Grau in Grau, dann traten an den Höhlenwänden und an der durchschnittlich zwölf Meter hohen Decke hellere und dunklere Flächen auf. Die Luft schien von den helleren Flächen angestrahlt zu werden. »Objektiveinstellung unbegrenzt!« ordnete Bötticher an. »Für kurze Zeit auf maximale Vergrößerung einstellen! Dasselbe mit Restlichtverstärkung!« Henk kniff unwillkürlich die Augen zusammen, als seine Rest-lichtverstärkung eine besonders helle Fläche an der linken Höhlenwand förmlich aufflammen ließ. Als er etwas zurückschaltete, normalisierte sich dieser Eindruck wieder. »Es sieht aus, als wären Teile der Wände und der Decke mit einer grünlich leuchtenden Substanz bedeckt«, sagte Harun Fellow. 220 »Pilze!« erklärte Ngade San. »Es sind Pilze.« »Aber Pilze leuchten doch nicht!« rief Charlize. »Und ob!« gab der Khoisanide zurück. »Es gibt viele selbst leuchtende Pilzarten. Leider nicht bei uns in Namwana, aber in Indonesien beispielsweise stecken sich noch heute junge Mädchen solche Pilze in die Haare, um des Nachts attraktiver zu erscheinen. Allerdings sind Pilze auf die Aufnahme organischen Materials angewiesen, weil sie keine Nährstoffe selbst synthetisieren können -schon gar nicht ohne Sonnenlicht. Folglich muß es hier tote Tiere oder Pflanzen geben, auf deren verwesenden Körpern sie siedeln.« Er bewegte sich hektisch und schaltete an seinem Kombigerät. Dabei gab er in schneller Folge verschiedene Klicks von sich. »Das hatte ich befürchtet!« flüsterte er nach einer Weile. »Ich kann nicht die mindeste energetische Aktivität anmessen: weder von Transmittem noch von Klimageräten oder irgendwelchen Maschinen. Wir sind hier unten von der technischen Umwelt außerhalb der Höhle abgeschnitten, wie Henk bereits vermutete. Deswegen konnte ich die Position meines Sohnes nicht aufspüren. Diese Abschirmung ist von der Art, die nicht nur geistige Impulse zerstreut.«
»Und was bedeutet das?« fragte Henk de Groot. »Ich muß meinen uralten Spürsinn benutzen, um die Fährte meines Sohnes zu finden und zu verfolgen!« stieß der Khoisanide verzweifelt und grimmig entschlossen hervor. »Und nichts wird mich daran hindern.« Er schnellte sich hoch und rannte geduckt ins Innere der Höhlenwelt hinein. Sein Kombigerät ließ er achtlos liegen. Es war nutzlos für ihn geworden, wie er annahm. »Rufen Sie ihn zurück. Henk!« befahl Bötticher. »Nein!« entschied der Ingenieur. »Wenn ich er wäre, ich würde mich von niemandem zurückhalten lassen. Er ist ein verzweifelter Vater auf der Suche nach seinem Sohn und tut alles, um dessen Leben zu retten. Da hört man auf nichts mehr.« »Auch nicht auf die militärische Pflicht?« fragte der Major 221 streng. »Man pfeift darauf!« erklärte Henk - und lief ebenfalls los, in die Richtung, in die sich Ngade bewegte, t Für kurze Zeit hörte er noch die Rufe von Major Bötticher, der ihn zurückzuhalten versuchte. Dann wurde es still. Der Major hatte anscheinend eingesehen, daß seine militärische Autorität in dieser Lage keinen Pfifferling wert war. Henk de Groot war sich darüber klar, daß er den Zusammenhalt der Gruppe gefährdete. Er hielt es aber für wichtiger, den Kontakt zu Ngade zu halten. Der Khoisanide war natürlich kein Wilder wie seine Vorfahren, aber in ihm steckten noch die alten Instinkte und Verhaltensweisen seines Volkes. In einer urweltlichen Umgebung wie dieser war das für sie alle von unschätzbarem Vorteil - vielleicht sogar überlebenswichtig. Nach einer Weile tauchte von hinten eine andere Gestalt auf und holte schweratmend auf: Charlize. Sie wischte sich mit dem Ärmel immer wieder über die Nase. Henk wandte den Kopf und lachte aufmunternd. Er verstummte aber, als er dicht neben seiner Verlobten den Japaner entdeckte. Erneut erwachte sein Argwohn. Doch er
schwieg. Prinzipiell verhielt sich Sergeant Buschido richtig. Irgendwo in dieser Urwelt lauerten unbekannte Gefahren. Die Überlebenschancen für Leute, die nichts davon wußten, stiegen mit der Größe einer Gruppe. Natürlich nur bis zu einer gewissen Grenze. Bei einem Überschreiten einer bestimmten Anzahl sanken die Überlebenschancen rapide ab. Ein paar Minuten liefen sie nebeneinander durch die Dunkelheit, die hauptsächlich von ihren Nachtsichtgeräten aufgehellt wurde. Das Pilzgeflecht der Höhlenwände und der Decke erzeugte genug Wärme und Licht, um mit den Restlichtverstärkern eine brauchbare Übersicht zu bekommen. Aber es waren keine Spuren von tierischem Leben zu sehen. 222 Das schläferte die Wachsamkeit der Menschen allmählich ein. ^ Sie stürmten beinahe sorglos vorwärts - bis sie etwa hundert Meter voraus ein schemenhaftes Hindernis sahen, das sich quer von einer Seite der Höhle zur anderen hinzog. Buschido hob die Hand mit seinem Blaster. »Keine Gefahr!« rief jemand von dem Hindernis aus. Ngades Stimme. »Kommt her! Ich spüre zwar fremde Gefühlsimpulse, aber sie sind wirr und ungeordnet.« Die dunkle Gestalt des Khoisaniden richtete sich auf. Sie liefen darauf zu und standen kurz darauf bei Ngade San. »Es ist ein technisches Relikt«, sagte Buschido und deutete auf das Hindernis. Das hatte Henk inzwischen auch erkannt. Das Hindernis schien der Überrest eines einst hochwertigen technischen Gebildes zu sein. Eines Bauwerks oder einer Maschine oder einer Kombination fe. von beidem. »Zirka fünfhundert Meter lang«, erklärte Ngade mit weit ausgebreiteten Armen. »Durchschnittlich drei Meter hoch und fünf Meter breit. Das Material scheint hochwertiges Metallplastik zu sein, allerdings durch Hitzeeinwirkung teilweise ausgeglüht, zusammengeschrumpft und kaum noch zu rekonstruieren.« »Voller Löcher wie ein Schweizer Käse«, spottete
Charlize. »Absichtlich funktionsunfähig gemacht?« fragte Henk. Niemand antwortete darauf. »Gibt es noch funktionsfähige Segmente?« erkundigte sich Noghe Buschido. »Transmitter vielleicht?« »Sieht nicht so aus«, meinte der Khoisanide. »Doch!« rief jemand anderer. Major Frank Bötticher näherte sich von links entlang des Hindernisses. Er trug das Kombigerät, das Ngade zurückgelassen hatte. »Ich habe weiter drüben eine transmitterähnliche Struktur entdeckt«, erklärte er. »Keinen Transmitter, aber eine Art Automatik, die wahrscheinlich dazu diente, Transmitter einund auszuschalten.« Sie alle zuckten erschrocken zusammen, als sich etwa hundert Meter hinter ihm krachend ein turmstarker Lichtbogen bildete und einen Ausschnitt des Hindernisses mit einem Punkt an der Gewölbedecke verband. Er brach sofort wieder zusammen, doch er hatte gezeigt, daß hier noch Relikte von uralten Kräften schlummerten - und von Zeit zu Zeit erwachten. Die folgende Stille wurde von einer Serie grauenhafter Schreie durchbrochen. Sie schienen Angst, Entsetzen, Panik und Wildheit auszudrücken und jagten den Menschen eiskalte Schauer über die Rücken. »Da!« rief Buschido und deutete tiefer in den Hintergrund der Höhlenwelt. »Infrarot-Illuminatoren ein!« Die Menschen richteten sich auf und spähten in die angegebene Richtung. Henk schaltete den Infrarotstrahler seines Gerätes auf maximale Leistung. Sofort wurde das Bild hell, klar und deutlich. Ein Wackeln war unmöglich; dafür sorgte das Stabilisatorsystem. Unwillkürlich hielt der Ingenieur den Atem an, als er vor den Pilzkolonien an der linken Höhlenwand Dutzende von menschenähnlichen, knochenbleichen Gestalten sah, deren Haut größtenteils mit selbstleuchtenden Farben beschmiert war. Humanoide von ungefähr Menschengröße, mit zwei Armen und zwei Beinen, großen, eiförmigen, haarlosen Schädeln mit riesigen ovalen Augen, in denen sich das grelle
Infrarotlicht der Nachtsichtgeräte spiegelte. »Aliens!« hauchte Charlize. Natürlich Aliens! dachte Henk de Groot, bevor er begriff, wie sie das gemeint hatte. Sie hatte an die Beschreibungen von Menschen früherer Zeitalter gedacht, die von Begegnungen mit UFO-Insassen berichteten. So ungefähr sahen die Fremdwesen aus - doch da endete die Ähnlichkeit auch schon. An ihnen war nichts von der Zartgliedrig-keit dieser intelligenten Aliens; sie sahen eher aus wie wilde Tiere - mit den weit vorspringenden schnauzenartigen Kieferpartien, 224 großen gebleckten Reißzähnen, mit den klauenartigen Händen und Füßen, die mit ihren scharfen, gebogenen Krallen an irdische Raubsaurier erinnerten - und den langen, geschuppten Schwänzen. »Bestien!« raunte Buschido und hob die Hand mit dem Blaster. »Nicht schießen!« befahl Bötticher scharf. »Nur, wenn sie uns angreifen!« Henk ließ seinen Blick von links nach rechts schweifen und zog unwillkürlich die Schultern hoch, als er sah, mit welcher Übermacht sie es zu tun hatten. »Es sind Hunderte«, flüsterte er. »Wenn sie gleichzeitig angreifen, haben wir keine Chance.« »Sie haben nur Zähne und Krallen!« entgegnete der Japaner verächtlich. »Also müßten sie uns auf den Pelz rücken. Das schaffen sie niemals.« Er zuckte zusammen, bewegte sich aber so schnell, daß der heranfliegende Stein nur sein Nachtsichtgerät streifte. Das Püing klang dennoch bedrohlich. Praktisch im selben Moment reagierte er So, wie es einem zum Töten dressierten Einzelkämpfer antrainiert worden war. In einem reinen Reflex feuerte er seinen Blaster ab. Ein Salventakt von grellweißen Energiestrahlen löschte den Steinewerfer und ein halbes Dutzend der Aliens an seinen Seiten aus. Die übrigen Gestalten rasten mit gellenden Angst- und Wut schreien davon und waren Minuten später im dunklen
Hintergrund der Höhlenwelt untergetaucht. »So macht man das!« stellte Buschido grimmig fest. »Die werden sich hüten, uns noch einmal anzugreifen.« »Jedenfalls nicht offen«, erklärte Henk tadelnd. »Nächstes Mal werfen sie ihre Steine aus dem Hinterhalt.« Er kam wieder hoch, denn er hatte sich wie die Gefährten geduckt, als der Stein gekommen war. Zum Glück war nur der eine Stein geflogen, denn außer dem Japaner hatte niemand schnell genug reagiert. »Es war Notwehr«, verteidigte Major Bötticher den Japaner. »Hätte der Sergeant nicht so gute Reflexe, wäre er jetzt tot. Der 225 Stein kam mit solcher Wucht, daß er seinen Schädel zerschmettert hätte.« Henk winkte ab. Er wollte in ihrer Lage keine theoretische Auseinandersetzung über Strategie und Taktik. Alles ließ sich begründen - alles ließ sich widerlegen - und für alles gab es gute Gründe. »Diese Aliens sind keine Flugsaurier«, stellte Ngade San fest. »Also hat keiner von ihnen meinen Sohn entführt.« »Aber die Flugsaurier müssen ebenfalls in dieser Höhlenwelt leben«, wandte Charlize ein - und nieste unterdrückt. »Mit den Aliens zusammen?« »Das denke ich nicht«, erwiderte der Khoisanide. »Die Aliens sind zu aggressiv, als daß Angehörige anderer Völker mit ihnen zusammenleben könnten. Ich nehme an, die Flugechsen hausen irgendwo weit hinten in der Höhle. Wir müssen zu ihnen durchstoßen.« »Und zwar blitzartig«, ergänzte Harun Fellow entschlossen. »Bevor sie sich zum Angriff gegen uns oder zur Verteidigung formieren können.« »Wirst du uns rühren, Ngade?« wandte sich Henk an den Khoi-saniden. Ngade San nickte und gab ein paar Klicklaute von sich. Er richtete sich auf, lief aber nicht sofort los, sondern wandte sich in die Richtung, in der sich der Lichtbogen entladen hatte. »Was überlegen Sie?« fragte Bötticher.
»Transmitterähnliche Strukturen...«, sagte Ngade nachdenklich. »Etwas, das Transmitter ein- und ausschalten kann, wie Sie vermuten. Nur dadurch kann der Flugsaurier hier heruntergekommen sein. Hat er nun bewußt gehandelt oder ist er mehr zufällig in ein Transmitterfeld geraten?« »Bewußt gehandelt?« spottete Bötticher. »Ein Tier?!« »Wir alle leben im Bewußtsein des Universums - und das Bewußtsein des Universums ist in allen lebenden und unbelebten Dingen«, sagte der Khoisanide sanft. »Nehmen Sie das Kombigerät mit, Major, bitte!« Er lief geduckt los, und die Gefährten folgten ihm, einer hinter dem anderen... 11. Wieder blieb Ngade San stehen - und wieder folgten die Gefährten seinem Beispiel. Mit einer halbkreisförmigen Armbewegung richtete der Khoisanide ihre Aufmerksamkeit auf die Veränderung ihrer Umgebung. Die Höhlenwelt weitete sich sowohl in der Höhe als auch in der Breite. Der Durchmesser von Wand zu Wand betrug am Standort der Menschen etwa fünfhundert Meter und verbreiterte sich allmählich bis auf tausend; die Höhlendecke hing zirka hundert Meter über ihren Köpfen. Das aber war es nicht, was die Aufmerksamkeit der Menschen sofort auf sich zog. Es war der Boden. Hatte ihn bisher grober Schotter bedeckt, so lag hier teilweise blauviolettes Metall frei, das allerdings größtenteils von Sand und Staub bedeckt war. Einzelne Verwehungen ragten sogar an die vier Meter empor. »Unitall!« rief Fellow und strich mit den Fingerspitzen über eine freie Fläche in seiner Nähe. »Vom Staub verweht...!« resümierte Charlize und kniete nieder, um mit der Hand etwas Sand beiseite zu wischen. Erstaunt hielt sie inne. »Es ist fest«, erklärte sie. »Feucht und fest. Irgend etwas hat hier Wurzeln geschlagen und sich ausgebreitet. Aber es ist kein Gras.« »Es werden Pilze sein«, sagte Ngade und ging neben der Frau in die Hocke. Er buddelte sekundenlang mit den Händen, nahm etwas hoch und roch daran. Ein verstehendes Lächeln glitt über sein sonnengebräuntes Gesicht.
Als Charlize ihn fragend ansah, hielt er ihr mit der flachen Hand ein paar gelbbraune Bröckchen unter die Nase. Die Frau roch daran, dann zog sie scharf die Luft ein. Ihre Augen leuchteten auf, und ein Strahlen verklärte ihr Gesicht, gefolgt von einem verlegenen Lächeln. »Was hat der Wildbeuter mit dir gemacht?« fragte Henk scherz 228 haft und unsicher zugleich. »So kenne ich dich doch nur, wenn...« »Pssst...!« mahnte seine Verlobte. »Warte mal!« Sie buddelte mit den Händen im Boden, dann warf sie Henk eine gelbbraune Knolle zu. Er fing sie auf, roch daran, schob sie sich vorsichtig in den Mund und kaute darauf herum, biß zu - und mampfte das Gebilde anschließend kräftig durch. Heller Saft rann ihm aus den Mundwinkeln. Plötzlich stockte er, seine Augen weiteten sich - und er spie und würgte den Brei zornig heraus. »Das ist vielleicht ein Teufelszeug!« schimpfte er. »Im Europa des Mittelalters würde Charlize jetzt als Hexe verbrannt«, stellte Ngade fest. »Bei uns Buschmännern wäre sie damals eine Heilerin gewesen.« »Kann mir mal jemand erklären, worum es hier geht?« fragte Major Bötticher. Der Khoisanide lächelte. »Um Pheromone«, sagte er. »Sexuallockstoffe. Das gibt es auf Terra auch, daß sich unterirdisch wachsende Pilze den Sexualtrieb der Tiere zunutze machen, indem sie Pheromone produzieren. Die Tiere graben dann die Knollen aus und fressen sie. Mit dem Kot scheiden sie später die unverdauten Sporen aus und tragen so zur Weiterverbreitung der Pilze bei. Da die Pheromone der Menschen und Tiere sich teilweise verblüffend ähneln, wurden solche Pilze auf Terra auch als Aphrodisiakum verwendet.« »Schweinkram!« schimpfte Bötticher. Doch er grinste dabei. »He, Samurai, was hältst du davon? Steh' nicht herum wie ein Ölgötze!« Noghe Buschido machte ein ernstes Gesicht und erwiderte
dornig: »Mayaku da to omoimasu! (Ich glaube, daß es Rauschgift ist).« »Mayaku ja arimasen«, sagte Harun Fellow lächelnd. »Es ist nicht Rauschgift.« »War das Japanisch?« erkundigte sich Bötticher. »Und du 229 sprichst Japanisch, Harun al Raschid?« »Ein Kalif kann alles«, gab der Leutnant scherzhaft zurück. Ernst fügte er hinzu: »Meine erste Frau war Japanerin.« »Die beim Untergang der ARUBA starb?« fragte Bötticher mitfühlend. Harun Fellow nickte, beobachtete dabei aber Buschido und machte ein besorgtes Gesicht. Gerade, als er etwas fragen wollte, prasselte ein Steinhagel auf die Menschen nieder. Henk de Groot und Frank Bötticher wurden an Armen und Beinen getroffen. Sie ließen sich fallen, wo sie gerade standen, dann robbten sie in die Deckung des nächsten Sandhügels. Ihre Gefährten halfen ihnen dabei. Während Charlize sich um die Verletzten kümmerte, feuerten Fellow und Buschido mit ihren Blastern auf die Angreifer. Sie hatten ihre Waffen allerdings auf Betäuben eingestellt. Ungefähr dreißig Höhlenbewohner hatten sich in der Sichtdeckung eines Hügelkammes bis auf etwa dreißig Meter angeschlichen und dann mit Steinen geworfen. Die Entfernung war glücklicherweise zu groß für treffsichere Direktwürfe. So kamen die Steine relativ kraftlos in ballistischen Flugbahnen. Dennoch wurde die Lage schnell kritisch. Obwohl die Aliens reihenweise betäubt zu Boden sanken, drängten immer mehr nach - und sie kamen von allen Seiten. Innerhalb weniger Minuten erhielt jeder der Menschen mehrere Treffer. Die Angriffe stockten, als alle Menschen sich an der Abwehr beteiligten. Aber die Lücken der Angreifer waren rasch aufgefüllt - und der nächste Massenansturm kam mit entnervendem Gebrüll. Den Menschen blieb nichts anderes übrig, als ihre Waffen
wieder auf Töten zu schalten. Die sonnenheißen Energieentladungen zogen auch die Aliens in Mitleidenschaft, die nicht direkt getroffen wurden. Und sie erzeugten abschreckende Wirkung. Feuer war schon immer die wirksamste Waffe gewesen. Innerhalb einer Viertelstunde stoben die überlebenden Angreifer 230 voller Panik zurück. Sie hinterließen kochende, brodelnde, verschlackende Erde und tonnenweise verbranntes Fleisch. Der Gestank wurde unerträglich. Ngade San sah sich die Verletzungen seiner Gefährten an. Keine Verwundung war lebensgefährlich oder behinderte die Fortbewegung erheblich. Kurz entschlossen übernahm der Khoisanide das Kommando. »Wir gehen geradeaus weiter vor, immer den Flüchtenden nach!« ordnete er an. »Jeder achtet auf den anderen; niemand darf zurückbleiben. Auf die Fliehenden wird nicht geschossen, solange sie nicht erneut angreifen! Dann aber nehmt keine Rücksicht! Es geht für uns nicht um Sieg, sondern ums nackte Überleben. Vorwärts!« Er sprang so leichtfüßig davon, als befände er sich auf einem Fitneßpfad. Doch dabei achtete er mit Argusaugen auf seine nähere und fernere Umgebung. Ab und zu gab er einen B lasterschuß ab, wenn er sah, daß sich Aliens zu neuen Angriffen zusammenrotteten. Doch manchmal lief er auch zu einem der toten, aber nur wenig verstümmelten Angreifer und drehte den Körper suchend hin und her. Eine halbe Stunde später erreichten die Menschen eine primitive, ungefähr zwölf Meter hohe Pyramide aus grob aufgeschichteten, roh behauenen Steinen. Dort blieb der Khoisanide stehen und hob die Hand. »Ich spüre meinen Sohn immer stärker«, teilte er den Gefährten mit. »Manchmal glaube ich sogar die Richtung zu erkennen, aus der seine geistige Ausstrahlung kommt.« »Aber er bleibt unerreichbar für uns - oder?« gab Fellow zu bedenken. »Ich meine, die Flugsaurier halten sich bestimmt von den Aliens fern und werden sich weiter zurückziehen,
wenn wir die Bleichen vor uns hertreiben. Es handelt sich ja um ganz verschiedene Arten, die deshalb wahrscheinlich verfeindet sind.« »Es sind zwei Unterarten ein- und derselben Art«, entgegnete Ngade. »Ich habe mehrere tote Aliens untersucht. Sie haben aus 231 nahmslos Rudimente von Flughäuten an ihren Armen und Beinen. Deshalb denke ich, daß sie mit den Geflügelten gemeinsame Vorfahren und eine gemeinsame Heimat haben: die Höhlenwelt - die außerdem vor langer Zeit technologisch hochwertig ausgerüstet gewesen sein muß.« »Wie kommst du darauf?« fragte Henk de Groot. »Wegen des Unitallbodens?« »Das auch«, erwiderte Ngade. »Aber auch wegen der Pilze. Es ist unwahrscheinlich, daß sie sich in einer ehedem sterilen technischen Höhlenwelt selbständig entwickelt haben. Sie müssen hereingebracht worden sein, vielleicht als Nahrungsgrundlage für die Aliens.« »Du redest, als wären diese Wesen früher einmal wie Tiere eingesperrt gewesen - wie in einer Art Zoo«, sagte Henk. »Oder wie in einem Laboratorium«, erklärte Ngade bedeutungsvoll. »Was hast du jetzt vor?« erkundigte sich Henk. »Du hattest doch einen Grund, ausgerechnet bei dieser Pyramide anzuhalten.« »Logisch«, antwortete der Khoisanide. »Die Bleichen sind zu primitiv, als daß sie diese Pyramide gebaut haben könnten, auch wenn die ebenfalls nur primitiv ist. Folglich waren es vielleicht die Geflügelten. Außerdem spüre ich, daß mein Sohn ganz in der Nähe ist.« »Ich begreife nicht, daß er noch lebt«, meinte Noghe Buschido kalt. »Flugsaurier sind ja auch nur Raubtiere. Sie halten sich ihre Beute nicht als Haustiere.« »Wie kann man nur so gefühllos und zynisch sein!« schimpfte Charlize und blickte den Japaner strafend an. »Schon gut!« sagte Ngade mit einer Sanftheit, die verdächtig an einen anschleichenden Leoparden mahnte. »Karua ist zwar erst zwölf Jahre alt, aber ein gewitzter
G'tarongh-Kämpfer. Die Tatsache, daß er noch lebt, beweist mir, daß ich ihn bisher unterschätzt hatte. Vielleicht hat er irgendwie Eindruck bei seinem Entführer geschunden.« 232 »Bei einem Tier?« spottete Buschido. Der Khoisanide blickte ihn sekundenlang prüfend an, dann zuckte er die Schultern und begann damit, die auf einer Seite der Pyramide lose aufgeschichteten Steine wegzuräumen. Henk de Groot und Charlize halfen ihm dabei, während die drei Soldaten Wache hielten. Doch keiner der Aliens ließ sich blicken. Anscheinend hatten sie sich in irgendwelche Höhlen zurück gezogen. Nach etwa zehn Minuten wurde hinter den weggeräumten Steinen eine Öffnung in der Pyramide erkennbar. Ngade San schaltete seine Handlampe an und trat vorsichtig ein. Henk folgte ihm. Auch er schaltete seine Handlampe an, da es innerhalb der Pyramide kein Restlicht gab und sie die Batterien der Nachtsichtgeräte schonen mußten. Die Wände waren aus nacktem Gestein, der Boden schien aus Metallplatten zu bestehen, die in einem bestimmten Muster angeordnet waren. Der Khoisanide ging in die Hocke, hielt plötzlich ein kleines Messer in der rechten Hand und kratzte über den Boden. Eine gelbweiß glänzende Spur blieb zurück. »Kein Unitall - Gold!« stellte Ngade fest. »Vielleicht war die Pyramide ein Heiligtum.« Er leuchtete einen Kubus von etwa drei Metern Kantenlänge an, der genau im Mittelpunkt des Höhlenbodens stand. Als Henk an ihm vorbei zu dem Gebilde gehen wollte, versperrte er ihm mit ausgestrecktem Arm den Weg. »Gefahr!« hauchte er. »Wieso Gefahr?« wollte Charlize wissen. »Das ist ein schwarzer Würfel, sonst nichts.« »Eben«, erwiderte der Khoisanide. »Er ist schwarz wie die Nacht - und so immateriell wie die Nacht. Nein, eigentlich ist die Nacht gegen ihn wie kompakte Materie.« Harun Fellow steckte den Kopf von außen durch die Öffnung. »Auf Terra gibt es so etwas im Großformat«, erklärte er.
»Still!« beschwor Ngade ihn. »Das auf Terra ist ein Heiligtum und einmalig im Universum; das hier ist aber gänzlich unheilig, 233 sogar unheimlich. Es hat nichts mit der Kaaba zu tun.« Er nahm einen kleinen würfelförmigen Gegenstand - von zirka Taubeneigröße - aus einer seiner Gürteltaschen und warf ihn gegen den Kubus. Er verschwand - aber der Khoisanide lächelte triumphierend, denn auf einem seiner Meßgeräte erschien der Ortungsimpuls des Gegenstandes als blinkendes grünes Leuchten. »Was war das für ein Ei?« fragte Henk. »Ein Simultane!«, antwortete Ngade. »Ein SimultanNetzwürfel, um genau zu sein. Mehr eine Spielerei Karuas, aber in manchen Fällen nützlich. Dieser zeigt an, daß Gegenstände, die von außerhalb kommen, innerhalb des Würfels schweben. Auf sie wirkt keine Schwerkraft. Aber der Netzwürfel ist in einem solchen Winkel gegen die Energiewandung gestoßen, daß er ganz langsam nach unten sinkt.« »In die Unterwelt?« fragte Fellow. »In eine tiefere Etage«, erwiderte Ngade. Ich werde mich diesem Antischwerkraftfeld anvertrauen, weil ich annehme, daß irgendwo dort unten mein Sohn ist.« Er wartete kein Einverständnis ab, sondern sprang einfach mit beiden Füßen voran so gegen den Kubus, daß er eine winzige ballistische Kurve beschrieb und exakt in der Mitte des Kubus-Bodens landete. Des immateriellen Bodens...! Henk de Groot zögerte nur sekundenlang, dann folgte er ihm -ohne abzuwarten, wie sich die Gefährten entscheiden würden. Allerdings verließ er sich darauf, daß Charlize bei ihm bleiben würde - und er behielt recht. Der Antigravschacht bestand aus purer Energie. Ganz langsam sanken die Menschen in ihm abwärts, weil sie sich entsprechend abgestoßen hatten. Außerhalb des Schachtes schien nichts zu existieren außer einem relativ sanften Gewitter energetischer Entladungen. Rote, grüne und weiße
Schleier leuchtenden Plasmas zogen in schneller Folge vorüber. Es war, als betrachtete man aus einem Turm mit transparenten Wänden heraus das Polarlicht-Feuerwerk eines massiven Sonnensturms. Als er wieder festen Boden unter die Füße bekam, stellte Henk fest, daß sie in einer weiteren Höhle gelandet waren. Sie unterschied sich von der ersten allerdings dadurch, daß alles in ihr aus nacktem Metall war. Die Menschen verließen den Antigravschacht und sahen sich um. »Kein Unitall«, stellte Ngade nach kurzer Prüfung des Bodens fest. »Nur eine Titanlegierung. Allerdings besitzt die Oberfläche einen auf Abstoßung basierenden Selbstreinigungseffekt. Deshalb ist hier alles sozusagen hygienisch rein.« Charlize nieste, schneuzte sich und sagte dann: »Keine Pilze, kein Biolicht, also sind wir ganz auf die Lampen und Nachtsichtgeräte angewiesen - und keine Nahrung für Aliens. Ich denke, hier sind wir allein.« »Das denke ich auch«, erklärte Noghe Buschido. »Vielleicht sollten wir uns aufteilen und nach einem Ausgang suchen.« Er stellte das Gerät, das er getragen hatte, neben sich auf den Boden und berührte wie spielerisch einige Sensortasten. »Vielleicht...!« wiederholte Henk gedehnt und sah sich suchend um. »Wo ist eigentlich Major Bötticher geblieben? Und ist das nicht sein Kombigerät, das da neben Ihnen steht, Sergeant?« »Nicht seines«, korrigierte ihn der Japaner höflich. »Es gehört Ngade San. Allerdings hat der Major es zuletzt getragen. Er gab es "lir, als er sich entschied, nicht mitzukommen.« »Als er sich entschied, nicht mitzukommen?« fragte Charlize verwundert. »Was soll das heißen?« »Ja, was soll das heißen?« schlug Henk in die gleiche Kerbe. Buschido zuckte die Schultern. »Was weiß ich? Als ich in den Schacht stieg, gab er mir das
Ge 235 rät und blieb oben. Er wollte noch etwas überprüfen und dann nachkommen, sagte er mir.« »Er muß verrückt geworden sein!« schimpfte Ngade San. »Ich hatte ausdrücklich gesagt, daß niemand zurückbleiben soll.« Eine steile Falte bildete sich über seiner Nasenwurzel. »Deshalb spüre ich ihn nicht mehr. Wir sind jetzt auf einer anderen Ebene als er. Eigentlich müßte ich ihn wenigstens schwach spüren.« »Energieebene?« fragte Harun Fellow. »Nein, nein, ganz normale Ebene - nur durch den Antigrav räumlich getrennt«, erklärte der Khoisanide. »Und keine Fragen mehr! Ihr vermutet richtig, ich spüre alle Wesen, aber nur ganz schwach. Mein eigen Fleisch und Blut ist eine Ausnahme: Karua spüre ich jetzt ganz stark.« Seine Gefährten hatten ihre Nachtsichtgeräte gleich nach der Ankunft voll aktiviert. Jetzt schalteten sie die InfrarotIlluminatoren dazu, die die Umgebung in warmes Infrarotlicht tauchten. Während sie sich langsam um sich selbst drehten, bemerkten sie, daß die Höhle auf drei Seiten endete. Die vierte Seite verlief in gerader Linie, war etwa zwölf Meter hoch, sechzig Meter breit und schien endlos weit zu führen. Das ließ sich jedoch nicht genau erkennen, da in unterschiedlichen Abständen dünne Metallgitternetze von der Decke hingen, die insgesamt so etwas wie ein Labyrinth bildeten. »Sonar!« flüsterte Harun Fellow. Ngade San eilte an seine Seite und beugte sich über den Multi-Ortungstaster, den der Leutnant benutzte. »Ich habe schon darauf gewartet«, flüsterte er. »Das sind Ultraschallschreie einer Art von Fledermaus. Wir haben es folglich nicht mit einem Raubsaurier zu tun.« »Glück für deinen Sohn«, sagte Henk. »Nähert sie sich?« »Nein«, antworteten Ngade und Fellow wie aus einem Munde. »Die Quelle ist stationär, ungefähr vierhundert Meter entfernt«, ergänzte Fellow. »Was schlägst du vor, Ngade?« fragte Henk.
»Ausschwärmen 236 und vorgehen?« »Ich werde allein gehen«, entschied der Khoisanide. »Der Ortung nach haben wir es nur mit einer Fledermaus zu tun. Wenn wir alle zusammen auf sie zugehen, bekommt sie Angst und reagiert in Panik.« Er richtete sich auf und schritt langsam auf das Labyrinth aus Metallgittemetzen zu - und in es hinein. Er spürte dumpf, wie das Fremde überhand nahm. Das durfte er nicht zulassen, deshalb bot er all seine Energie auf, um er selbst zu bleiben. Doch war ihm klar, daß das Andere stärker war als er, stärker auch als alle anderen Menschen. Und überhaupt: Auch die Artgenossen des Anderen waren stärker als Menschen. Sie würden letzten Endes siegen und die Menschheit ins Verderben stoßen. Es gab keine Rettung mehr. Alle Chancen waren vertan. Alle Chancen...? Nur dann, wenn er sich der Tatsache ver schloß, daß die Menschheit genetisch und moralisch an Schlechtigkeit alle anderen Intelligenzen haushoch übertraf. Sobald er es akzeptierte, wurde die Chance automatisch wiederhergestellt: zwar nur für zwei Personen von Trilliarden, aber mit Zweien hatte schon einmal alles angefangen. Wenn nur das Andere nicht wäre! Es hielt sein Ich manchmal wie ein imaginärer Schraubstock umfaßt, der sich mehr und mehr zudrehte. Dabei war es lange tot und vergangen. Nichts von seiner materiellen Substanz hatte überlebt. Und doch - es gab etwas, das niemals verging. Hatten die Religionen doch recht...? »Halt!« Ngade San blieb stehen. Er hatte die Stimme seines Sohnes erkannt - und er spürte, daß Karua nicht mehr weit vor ihm sein
237 konnte. »Ich warte, mein Sohn!« sagte der Khoisanide. »Schalte bitte den Infrarotstrahler aus, Vater«, sagte Karua. »Dann komm her! Aber langsam - und ohne die Schwingungsfilter zu berühren!« Ngade verstand, daß sein Sohn mit Schwingungsfilter die Gitternetze meinte. Noch langsamer als vorher schritt er voran. Und er schaltete die Infrarotwerfer seines Nachtsichtgerätes aus, denn er konnte sich denken, daß der Geflügelte von ihrem Licht geblendet wurde. Die Gitternetze waren so aufgehängt, daß sie niemals die ganze Höhlenbreite überspannten - und zwischen jeweils zwei Netzen war jeweils ein Abstand von zirka einem Meter. Es war leicht, die Enden zu umgehen, ohne die Netze zu berühren. Ein paar Minuten später glaubte der Khoisanide so etwas wie Schnalz- und Klicklaute zu hören. Er wußte sofort, daß sie von einem Fremdwesen stammten, das sich damit verständlichzumachen versuchte. Und er wußte, daß dieses Fremdwesen von jemandem darin unterrichtet worden war. Von seinem Sohn, nach Lage der Dinge. »Ich verstehe, daß der Fremde uns gegenüber friedlich gesonnen ist«, sagte er und begleitete seine Worte durch die Klicks seines Volkes. »Auch wir kommen in Frieden.« »Wataschi zweifelt daran«, sagte die Stimme Karuas. »Irgend etwas in euch ist nicht rein. Wataschi ist ein mutierter Gurane. Er entführte mich, weil er Kontakt mit uns suchte und Angst davor hatte, offen und verletzlich in Erscheinung zu treten.« »Wir alle haben Angst«, erwiderte Ngade sanftmütig. »Und wir alle kommen in Frieden. Oder doch fast alle, wenn dein Freund recht haben sollte. Ich kann nicht so tief in ihre Seelen blicken, um zu wissen, wer nicht rein ist. Bei mir aber bin ich sicher. Also, darf ich zu euch kommen?« »Du bist willkommen, Vater«, antwortete Karua. Ngade San ging weiter. Er bog noch um fünf Enden von Metallgitternetzen herum, dann stand er seinem Sohn und dem Fremden
238 gegenüber. Einem Lebewesen, das sich an den Füßen aufgehängt hatte und mit dem Kopf nach unten hing - und das von papierdünnen Flughäuten wie von einem Regenmantel eingehüllt wurde... Einer riesigen Fledermaus - oder doch einem Lebewesen, das eine verblüffende Ähnlichkeit mit terranischen Fledermäusen hatte. Und auch eine verblüffende Ähnlichkeit mit Menschen der Erde, wenn man wußte, wie gering die Übereinstimmung der äußeren Erscheinungsform vernunftbegabter Wesen verschiedener Evolu-üonskreise war. Wataschi war nur rund 60 Zentimeter groß, hatte helle Haut, humanoide Hände und Füße (die allerdings scharfe, gebogene Krallen besaßen), einen runden Schädel, der oben mit schwarzem Fell bedeckt war, eine rotbraune Gesichtshaut, eine indianerähnliche Hakennase und eine humanoide Kieferpartie. Er hing mit den Füßen kopfunter in die dunkelbraune Flughaut eingehüllt. Die Augen waren groß, rund und vorstehend. Das Wesen konnte demnach auch im Dunkeln gut sehen, obwohl es ein ausgereiftes akustisches Orientierungssystem besaß. Dazu gehörten auch handtellergroße, schüsseiförmige Ohrmuscheln. Ngades Haltung versteifte sich, als er sah, daß Wataschis Hände unter den Flughäuten hindurch gestreckt waren und sich in die Schultern seines Sohnes verkrallt hatten. Karua hing praktisch in der Luft. »Keine Sorge, Vater!« beschwor Karua ihn und zeigte mit einem leicht verzerrten Lächeln, daß er seine Lage nicht für bedrohlich hielt. »Wataschi traut niemandem vollkommen. Die von oben haben ihm und den anderen Geflügelten immer nach dem Leben getrachtet, weil er aus der Art geschlagen ist.« Ngade atmete tief durch. »In Ordnung, Junge. Du kannst dich offenbar mit ihm verständigen. Sag ihm, er soll dich freilassen, wenn er Kontakt mit uns sucht!« Der mutierte Gurane öffnete und schloß den Mund; dabei waren Klicklaute zu hören, ähnlich jenen, die die Khoisaniden seit Jahrtausenden benutzten.
Natürlich waren sie nicht rein und auch nur teilweise verständlich, aber das war beim Erstkontakt zweier intel ligenter Arten nicht anders zu erwarten. »Ihr Menschen besitzt große technische Potentiale«, verstand Ngade. »Ihr müßt mir und meinen Leuten helfen, nach Guaram zu fliehen, unserer Heimatwelt.« »Es gibt mit Wataschi siebenundzwanzig Guranen in einer Höhle hinter uns«, erklärte Karua. »Vor kurzem waren es noch achtundzwanzig. Einer wurde von den Oberen getötet, als er Pilze holte. Sie haben einen Transmitter, aber das Gerät funktioniert nicht. Wahrscheinlich können sie es nur nicht bedienen.« »Ich denke, so einfach ist das nicht«, erwiderte Ngade. »Es gibt hier unten einen Einfluß technischer Art, der die Höhlen isoliert. Mit großer Sicherheit ein Intervallfeld. Wir konnten zwar mit einem Transmitter hereinkommen, aber umgekehrt ist das vermutlich unmöglich.« Er stutzte. »Moment mal!« rief er. »Wataschi war ja draußen, sonst hätte er dich nicht fangen können. Wie war das möglich? Aber, verdammt, laß endlich meinen Sohn frei!« Der Gurane öffnete die Krallenhände. Karua, der mit den Füßen nur wenige Zentimeter über dem Boden geschwebt hatte, sackte die kleine Spanne durch, schwankte mit schmerzverzerrtem Gesicht ein wenig und stand dann ruhig. »Laß!« sagte Karua, als sein besorgter Vater zu ihm eilen wollte. »Es geht schon wieder. Wataschi hat seine Krallen vorsichtig gebraucht. Und er hat mir sogar meinen Raptor gelassen.« Ngade San nickte kaum merklich, denn er hatte den Hohlkolben der terranischen Miniwaffe schon gesehen, der oben neben dem Nacken seines Sohnes aus dem Rücken der Kombi heraus schaute. Wataschi schien keine Ahnung zu haben, daß die suprasensorgesteuerte Armbrust, dessen Typname sich auf einen gefährlichen terranischen Raubsaurier bezog, alles andere als ein Spielzeug war. Diese Waffe barg den vielfachen Tod, auch wenn sie für Karua in erster Linie ein Erinnerungsstück an seine Mutter war, die vor Jahren auf tragische Art und Weise im Weltraum
umgekommen war. Der Gurane »sagte« etwas - und Ngade verstand: »In der Höhle oben gibt es einen Zauber, der manchmal zu toben beginnt. Dann speit er sichtbares und unsichtbares Feuer. Das unsichtbare Feuer zauberte mich in eure Welt mit der gigantischen Statue - und es holte mich auch wieder zurück. Ich sah eure Macht und eure Herrlichkeit und raubte den Gottessohn, damit ihr Kontakt mit mir aufnehmt.« »Der Zauber ist anscheinend die transmitterähnliche Struktur, die wir entdeckt haben«, schlußfolgerte der Khoisanide, ohne auf die Bemerkung Gottessohn einzugehen, weil er die Verständigung nicht unnötig komplizieren wollte. »Wahrscheinlich aktiviert sie sich völlig willkürlich. In der Unterwelt Babylons spukt es anscheinend an allen Ecken und Enden. Das bedeutet noch viel Ärger für uns Menschen, aber möglicherweise auch viele wertvolle Entdeckungen.« Er atmete tief durch, weil ihm plötzlich bewußt wurde, was Babylon noch an Abenteuern für die Menschen barg - und vor allem für ihn...! »Doch du bist bestimmt nicht zufällig nach oben gekommen, sondern warst so stark motiviert, daß du nur deshalb das immerhin unkalkulierbare Risiko auf dich genommen hast. Antworte mir, Wataschi!« Ngade sah, daß sein Sohn in der unverkennbaren Art eine Braue hob, wie er selber es zu tun pflegte, wenn er in ironischem Tonfall eine Frage stellte, ohne sie auszusprechen. Er antwortete seinem Sohn, indem er den Kopf leicht in Richtung des Geflügelten neigte. Wart 's ab? bedeutete das. Und die Erklärung kam - wie erhofft von Wataschi selbst. »Ich suchte nichts Bestimmtes«, sagte er. »Wir Mutierten waren so verzweifelt, daß wir alles unternehmen wollten, um unsere Lage 241 zu verbessern. Die Animalierten versuchten alles, um uns zu töten. Ihr Geist ist verwirrt und degeneriert immer weiter. Deshalb zogen wir Guranen uns in diesen Höhlenbereich zurück und spannten das Netz. Es ist ein unüberwindliches Hindernis für die Animalierten -oder Animas, wie wir sie kurz nennen - aber es isoliert uns und versperrt uns den Weg
zu den Pilzkolonien, so daß wir uns nur selten unter Lebensgefahr Nahrung beschaffen können und auf Dauer zum Verhungern verurteilt sind. In dieser Lage suchte ich nach irgendeinem Ausweg.« Ngade blickte seinen Sohn fragend an und lächelte, als dieser nickte. Er hatte demnach auch begriffen, warum sein Vater eine Fragestellung gewählt hatte, die vom Antwortenden einen Zugriff auf seinen zivilisatorischen Hintergrund erforderte. Das war wichtig gewesen, um den Geflügelten folgerichtig einstufen zu können. »Wir werden euch helfen, wenn wir eine Möglichkeit dazu finden«, erklärte der Khoisanide. »Aber etwas anderes: Warum sind deine Leute nicht auch hier?« »Sie halten sich weit hinten in der Höhle versteckt«, antwortete sein Sohn an Stelle Wataschis. »Ich war dort. Ihre Zuflucht nennen sie das Heiligtum. Dort steht auch ihr Transmitter.« »Hast du ihn gesehen?« erkundigte sich Ngade. Karua schüttelte den Kopf. »Sie lassen keinen Fremden an ihn heran. Er ist von schwarzen Tüchern verhüllt. Wataschi sagte, seine Leute würden sich selber den Tod geben, wenn Fremde den Transmitter sehen.« »Aber das ist doch absolut unwissenschaftlich!« schimpfte der Khoisanide und raufte sich sein kurzes schwarzes Lockenhaar. »Wie kann man nur einerseits so gebildet sein, daß man mit Begriffen einer technisch orientierten Zivilisation ganz selbstverständlich umgeht - und andererseits an Spuk, Zauberei und sonstwas glauben?« Karua lächelte nachsichtig. »Noch deine Eltern müssen genauso gewesen sein, Dad«, ent-gegnete er ironisch. »Sie spielten mit dem atomaren Feuer, mit 242 Seuchen und genetischen Stümpereien, als wären sie Götter und sie verehrten gleichzeitig alle möglichen Spielzeuge als sogenannte Heiligtümer. Gar nicht davon zu reden, wie aggressiv sie gegenseitig über ihre Religionen herzogen,
obwohl sie wie alle nur den einen Ursprung haben.« Ngade seufzte. »Wenn nur die Eier nicht immer schlauer sein wollten als die Hühner, Junge! Und du nicht ewig über Vergangenes herziehen würdest. Das ist gegessen! Aber vielleicht denkst du auch einmal konstruktiv. Also: Wie können wir den Flugwesen helfen?« »Sie haben davon schon eine bestimmte Vorstellung«, erwiderte Karua eifrig. »Sie denken nämlich, daß die Barriere, womit sie wahrscheinlich das Intervallfeld meinen, von ihrem Transmitter durchbrochen werden kann, wenn er zur selben Zeit aktiviert wird, wie der Zauber in der oberen Höhle. Dann, so hoffen sie, kann er sie zu ihrer Heimatwelt abstrahlen, wo immer die auch sein mag.« »Und falls sie noch existiert«, ergänzte Ngade. Er schloß die Augen und dachte nach. Ihm wurde erst jetzt richtig klar, daß er die Art seines Sohnes, die er oft für altklug gehalten hatte, vorher nie richtig einzuschätzen vermocht hatte. So schien es seit ewigen Zeiten zu sein: Die Generationen redeten aneinander vorbei, weil jede der anderen nicht das gleiche Maß an geistiger Übersicht zugestand wie sich selbst. Ngade war froh darüber, daß er das endlich im richtigen Licht sah: Karua war mit seinen zwölf Jahren, wie die meisten seiner Altersgenossen, ein angefressener Technikfreak und wußte über terranische und artfremde Technik mehr als die meisten Erwachsenen. Vor allem erkannte er ungewöhnlich schnell die Ge meinsamkeiten von terranischen und artfremden Technologien -und er dachte nicht in festgefahrenen Bahnen wie so viele Erwachsene. »Werden wir den Fliegenden helfen?« drängte Karua ungeduldig. Der Khoisanide nickte. 243 »Wir werden es versuchen, Karua. Wenn wir an die Oberfläche Babylons zurückwollen, müssen wir sowieso die Transmitterschal-tung in der oberen Höhle aktivieren. Sonst können wir das Intervallfeld nicht durchdringen. Wenn wir
Wataschi ein Funkgerät hierlassen, können wir ihm Bescheid geben, sobald der Zauber aktiviert ist - falls das überhaupt möglich ist. Dann müssen seine Leute ihren Transmitter aktivieren und sich abstrahlen lassen, wohin auch immer. Aber sag' Wataschi auch, daß es für nichts eine Garantie gibt und daß alles durchaus in einem fürchterlichen Desaster enden kann!« Sein Sohn wandte sich an den Guranen und erläuterte ihm die Planung mit Hilfe der Zeichensprache und Klicks der Khoisaniden Nachdem er noch ein paar zusätzliche Fragen Wataschis beantwortet hatte, erklärte der Gurane sein Einverständnis. Ngade atmete tief durch. Er spürte die Verantwortung körperlich auf seinen Schultern lasten, aber er wußte auch, daß er sie tragen mußte, wenn es für Geflügelte und Menschen eine Chance geben sollte. »Nur eine Frage noch!« erklärte er. »Warum sind die oberen Guranen wie wilde Tiere, während ihr Geflügelten euch offenkundig zivilisiert verhaltet - und warum seid ihr körperlich so verschieden?« »Wir sind mutiert«, antwortete Wataschi. »Aber auch sie sind mutiert. Es soll eine Zeit gegeben haben, da waren wir alle gleich, doch dann veränderten wir uns alle - nur eben in zwei verschiedene Richtungen.« Der Khoisanide hätte gern weitergefragt, aber da meldete sich Henk de Groot über Funk und teilte mit, daß eine Horde Bleicher von oben gekommen sei und sich offenbar darauf vorbereitete, die Menschen anzugreifen. »Mein Sohn und ich kommen sofort«, antwortete Ngade. Er wollte dem Geflügelten sein Funkgerät geben, doch inzwischen hatte sein Sohn ihm seines gereicht und ihm die Funktion erklärt. Wataschi begriff sofort. 244 Als die Energieentladungen von Blastem zu hören waren, verabschiedeten sich Ngade und Karua von Wataschi und eilten durch das Netz, zu den Gefährten zurück... Alles versank im Chaos. Der Überblick ging verloren, denn
es waren mehr als zwei verschiedene Kräfte, die sich gegenseitig bekämpften. Narren, die sie waren! Sie verschlossen ihre Augen vor der Realität und bildeten sich ein, für sich und ihre Gruppe die Lage retten zu können oder wenigstens das Überleben zu sichern. Dabei waren sie alle unwiderruflich dem Untergang geweiht... Und ihm war klar, daß auch ihm Untergang und Tod drohten. Der Feind war nicht nur mächtig; er war übermächtig. Niemand konnte sich auf Dauer gegen ihn stellen. Schließlich hatte er bisher noch alle besiegt - auch ihn. Nur der Ausbruch des allgemeinen Chaos hatte ihn bislang davor bewahrt, seine Seele an Satan zu verlieren. Wenn er jetzt alles einsetzte, was er besaß oder zusam menraffen konnte, gab es vielleicht sogar Rettung. Jetzt, da die Götterdämmerung nahte und alles in der Finsternis von Ragnarök versank, mußte er die Gunst der Stunde nutzen. Kein Opfer durfte ihm zu groß sein. Auch kein Menschenopfer, denn wer immer jetzt starb, starb für die Wiederauferstehung und das Ewige Leben. Und sobald alles vorbereitet war, mußte er das irreguläre Feuer der Sternenstraßen so lange zähmen, bis es ihn zu jener Welt im Stemenstaub gebracht hatte, die zum neuen Garten Eden bestimmt war. Denn wenn er auch nicht alles aus allen Religionen glaubte; das glaubte er, weil es ihm eine letzte Hoffnung ließ... Es war nur eine relativ kleine Horde von Animas, die den Menschen durch den Antigravschacht in die untere Höhle gefolgt war. 245 Sie huschten geduckt in einiger Entfernung hin und her und hatten sich offenbar noch nicht zum Angriff entschlossen. »Sie benehmen sich wie Wölfe«, behauptete Harun Fellow. »Ich habe mal an einer Realanimation teilgenommen, in der mehrere Pferdeschlitten von einem großen Wolfsrudel gehetzt wurden. So ähnlich benehmen sich diese Bestien. Sie rennen scheinbar ziellos herum und verständigen sich durch
Schreie und Geheul. Bestimmt wollen sie uns nur verunsichern,-bis wir uns eine Blöße geben. Dann greifen sie an.« »Ausgeburten der Hölle!« schimpfte Noghe Buschido. Er feuerte mit seinem Blaster auf den Boden dicht vor dem Anführer eines Rudels, das sich bedrohlich genähert hatte. Die Ani-mas stoben heulend vor der auf sie zurasenden Glutspur davon. Die anderen Rudel versammelten sich unterdessen um ein besonders großes Exemplar, das anscheinend das Leittier war. Immer wieder klang Geheul auf. Nachdem Ngade San über den Kontakt mit Wataschi und über die mit ihm getroffene Absprache berichtet hatte - und nachdem Karua von den anderen Menschen begrüßt und bestaunt worden war - übernahm Henk de Groot wieder die Initiative. »Wir haben keine Wahl«, stellte er fest. »Entweder gelingt es uns, die ominöse Transmitterschaltung zu aktivieren und uns in die Vitrinenhalle abstrahlen zu lassen - oder die Bestien massakrieren uns. Oben befinden sich so viele von ihnen, daß wir niemals bis zum Portal durchbrechen können, ganz abgesehen davon, daß es sich wahrscheinlich nicht öffnen läßt.« Er wandte sich an Buschido. »Sie werden sich um das Kombigerät kümmern und es wie Ihren Augapfel behüten, denn nur damit können wir die Transmitterschaltung nutzen. Halten Sie sich also möglichst aus dem Kampf heraus! Ich begreife zwar immer noch nicht, warum der Major es Ihnen übergab und oben blieb, aber er muß sich etwas dabei gedacht haben.« »Vielleicht hat er sich gar nichts dabei gedacht und es mir nur 246 gegeben, weil sonst niemand in der Nähe war«, meinte der Japaner. »Ich werde nie kapieren, warum er oben blieb«, warf Charlize ein. »Wahrscheinlich ist er tot. Als die Bestien dort uns durch den Antigravschacht folgten, hatte er keine Chance, ihnen
auszuweichen oder zu entkommen. Auch wir haben oben keine Chance. Die paar Bestien hier unten können wir uns vom Leib halten, aber oben lauem Hunderte dieser vertierten Wesen auf uns. Sie werden uns zerfleischen.« »Du wirst nicht sterben!« versicherte Buschido ihr feierlich und verbeugte sich tief vor ihr, die Hände vor der Brust zusammengelegt. »Du bist auserwählt für den neuen Anfang.« »Jetzt reicht es mir!« fuhr Henk ihn wütend an. Er wich nicht zurück, als Buschido drohend auf ihn zukam. Obwohl er wußte, daß er dem in zahllosen Kämpfen gestählten Spezialsoldaten unterlegen war, gab er nicht klein bei. »Ich befehle Ihnen, ihre pathetisch-dummen Reden zu unterlassen und sich nur um das Kombigerät zu kümmern!« Der Japaner ballte die Fäuste. Für einen Moment sah es aus, als wollte er sich auf Henk stürzen. »Nehmen Sie Vernunft an, Mann!« schnarrte Henk, als Buschido aulbegehren wollte. »Sie halten sich möglichst aus dem Kampf heraus und tragen die Verantwortung für die Sicherheit des Kombigeräts! Ist das klar?« Buschidos Miene wurde ausdruckslos. »Jawohl, Sir!« sagte er und nahm Haltung an. »Dann los jetzt!« befahl Henk. »Sperrfeuer gegen das Rudel hier unten - und Durchbruch zum Antigravschacht! Oben sammeln und vorbereiten zum gewaltsamen Vorstoß zur Transmitterschaltung!« Seine Anweisungen durchbrachen die Todesfurcht, die drohend über der kleinen Gruppe schwebte. Sie wirkten irgendwie befreiend. Henk, Ngade San und Harun Fellow schössen Dauerfeuer vor die Füße der Animas, während Charlize sich um den jungen Khoisaniden kümmerte und ihn zu beschützen trachtete wie eine Glucke ihr Küken - was er offensichtlich gar nicht mochte. Noghe Buschido wiederum rannte hin und her, umkreiste die junge Frau und wehrte mit einer Hand die von den Animas geschleuderten Steine ab, während er das Kombigerät unter den freien Arm geklemmt hielt. Als die Animas weit genug zurückgetrieben waren, stürmten
die Menschen auf Henks Kommando los und stolperten vor Eifer, in die Antigravröhre zu kommen, über die eigenen Füße. Nur Buschido ließ sich Zeit. Er ging auf ein Knie und eröffnete gezieltes Blasterfeuer auf die zögernd nachrückenden Animas. Er tötete wie im Rausch, bevor Ngade ihn mit verblüffender Leichtigkeit an seinem Schulterkreuzgurt gewaltsam zurückriß. Kaum schwebten die Menschen im Schacht nach oben, wozu ein leichtes Abstoßen mit den Füßen genügte, griffen die Animas mit schauerlichem Geheul an. Doch dicht vor dem Schacht stoppten sie. Aus ihren riesigen Augen starrten sie den Menschen hinterher. »Als triumphierten sie, weil sie uns ihren Artgenossen da oben zugetrieben haben«, bemerkte Charlize erschaudernd. Henk de Groot konnte sich des gleichen Eindrucks nicht erwehren. Doch einen Ausweg gab es nicht. Sie mußten nach oben - und selbst wenn dort die Hölle auf sie wartete, sie hatten keine andere Möglichkeit, als durchzubrechen oder umzukommen. »Aufpassen!« rief er Harun Fellow zu, der das obere Ende des Schachtes als erster erreichte. Der Schwarze stieß sich mit den Füßen von der unsichtbaren Wandung ab, flog mit einer Rolle vorwärts aus dem immateriellen schwarzen Kubus und rollte sich mit schußbereiter Waffe in den Händen über die Schulter ab. Henk sprang als nächster. Er versuchte es Fellow nachzuma chen, schaffte es aber nicht ganz so elegant, sondern prallte ungeschickt auf den linken Oberarm. Der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen. Dennoch sprang er sofort wieder auf die Füße, die Waffe schußbereit in nur einer Hand; die andere Hand hing ih111 248 geprellt und halb betäubt herab. »Alles klar?« fragte er atemlos. »Nicht ganz«, antwortete Fellow mit belegter Stimme. Henk eilte an seine Seite und sah, daß der Leutnant neben der leblosen Gestalt Böttichers kniete. Der Major lag auf der rechten Körperseite, Arme und Beine
seltsam verdreht und das Gesicht gegen den goldenen Boden in der Pyramide gedrückt, als hätte er hier Schutz gesucht. Unter ihm hatte sich eine inzwischen erstarrte rote Lache ausgebreitet. Charlize drängte sich zwischen die anderen, die sich inzwischen um den Toten versammelt hatten, kniete ebenfalls nieder und drehte ihn halb herum. »Seltsam«, murmelte sie. »Er starb nicht durch Steinwürfe. Jemand hat ihm statt dessen ein Messer in die linke Bauchseite gestoßen und einen scharfen Schnitt zur rechten Seite hin geführt. Der Major ist verblutet. Er starb schnell, weil der Schnitt nach rechts die im Bauchraum liegenden großen Gefäße öffnete. Dennoch durchlitt er einen heftigen Todeskampf. Siehe die verdrehten Gliedmaßen!« »Das sieht nach einer Art Opfemtual aus«, meinte Henk de Groot. »Ein Ritual...?« meinte Charlize grübelnd. »Irgendwie kommt es mir so vor, als hätte ich davon schon gehört oder gelesen...« »Oder geträumt«, ergänzte Henk. »Aber ein Ritual sieht den tierhaften Animas gar nicht ähnlich. Nun, ja, wenigstens scheinen sie keine Kannibalen zu sein.« »Ich fürchte doch«, entgegnete Buschido. »Die Animas haben ihn nur deshalb nicht gefressen, weil die Pyramide für sie tabu zu ^in scheint.« »Tabu...?« fragte Fellow zweifelnd. »Sie war nicht tabu für sie, a^ sie ihn hier abschlachteten.« »Sie töteten ihn draußen - und er schleppte sich mit letzter Kraft ^rein«, sagte Noghe Buschido. »Nein, sein ganzes Blut ist hier«, widersprach Charlize. »Der Major wurde hier ermordet. Mit einem Messer...! Hat jemand von euch bei den Animas Messer gesehen?« »Keine Waffen, keine Werkzeuge«, sagte Harun Fellow nachdenklich und blickte Buschido an. »Und auch keine Messer. Nur wir Menschen besitzen Messer. Richtige Nahkampfmesser haben nur du und ich, nicht wahr, Noghe?« »Und der Major«, entgegnete der Japaner und deutete auf das nur unvollständig in der Scheide steckende
Nahkampfmesser des Toten. »Außerdem hatte ich vorhin nicht ganz recht. Die Pyramide ist nicht für alle Animas tabu - nicht für die, die uns nach unten folgten. Sie haben den Major in einer Art Ritual mit seinem eigenen Messer getötet. Danach steckten sie es in die Scheide zurück -unordentlich, wie Wilde nun einmal sind. Das sieht doch jeder.« »Ich habe auch ein Messer - und mein Sohn auch«, erklärte Ngade San. »Aber wir waren natürlich nicht hier, als das pas sierte.« »Na, klar«, murmelte Chariize. Lauter setzte sie hinzu: »Ich muß ihn genauer untersuchen.« »Keine Zeit, Mädchen!« widersprach Henk und zog seine Verlobte an einem Arm hoch. »Wir müssen fort, bevor sich draußen noch mehr Animas zusammenrotten.« Sie drängten zum Ausgang der Pyramide und spähten hinaus. In der Ebene hatten sich zahlreiche Rudel von bis zu dreißig Animas gebildet. Sie stimmten in kurzen Intervallen immer wieder markerschütterndes Geheul an und schienen sich damit gegenseitig anfeuern zu wollen. Wozu, brauchte niemand zu raten. »Dort müssen wir hin!« schrie Buschido und deutete mit ausgestrecktem Arm über die Ebene zu dem in der InfrarotIllumination mit den Nachtsichtgeräten schemenhaft erkennbaren technischen Relikt, das ihnen auf dem Herweg aufgefallen war und in dem der Major transmitterähnliche Strukturen entdeckt hatte. Bevor ihn jemand daran hindern konnte, rannte er los, das Kombigerät unter den linken Arm geklemmt. »Verdammt!« fluchte Henk. »Hinterher, bevor die Animas uns 250 den Weg abschneiden!« Ngade San stürmte an ihm vorbei und schoß im Laufen drei Animas nieder, die Buschido in den Rücken zu fallen drohten. Harun Fellow huschte wie ein Schatten an ihm vorüber. Er trug den toten Major über der linken Schulter. »Lauft, lauft!« schrie Henk Chariize und Karua zu. »Ich
übernehme die Rückendeckung.« Er drehte sich um, ging auf ein Knie und machte sich so klein wie möglich, um ein möglichst kleines Ziel für Steinwürfe zu bieten. Doch nicht ein einziger Stein kam geflogen. Statt dessen hetzten von schräg links und rechts je etwa dreißig Animas heran. Sie hielten faustgroße Steine in den Klauenhänden, warfen sie aber nicht, sondern stürmten blindwütig und dennoch konsequent auf die Menschen zu. Ihre glühenden Augen und ihre gebleckten Zähne zeugten von ungehemmter Mordlust. Der Systemingenieur spürte, wie Todesahnung ihn zu lahmen drohte. Er biß die Zähne zusammen, blitzte die tollwütigen Angreifer mit dem Laservisier an, stellte die Waffe auf Dauerfeuer und beschrieb einen Halbkreis. Mindestens zwanzig Animas verglühten. Sie lösten sich in expandierende Glut auf. Alles ging so schnell, daß sie nicht einmal mehr schreien konnten. Dafür wurde Henk vor Grauen geschüttelt. Es war eine Sache, gezielt mordende Grakos zu töten, und eine andere, Lebewesen zu vernichten, die sich des Bösen ihres Tuns gar nicht bewußt waren. Doch Henk wußte auch, daß ihm keine andere Wahl geblieben war. Er wandte sich um, als er hinter sich Geschrei hörte. Was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Ein Dutzend Animas hatte Harun Fellow, der durch den toten Major behindert war, erreicht und stürzte sich voller Mordlust auf ihn. Der Leutnant schoß, so lange noch Gegner auf Distanz waren, dann wehrte er sich mit seinem Nahkampfmesser. Er tötete mindestens die Hälfte der Angreifer, doch die anderen hätten ihn abgeschlachtet, wenn Chariize und Karua nicht eingegriffen hätten. 251 dem Rücken getragen hatte. Das zierlich wirkende, metallisch glit zernde Gerät verschoß fingerlange Bolzen mit hochbrisanten Sprengköpfen, die ihre Opfer buchstäblich zerfetzten. Und die Waffe schien mit Hilfe eines integrierten Suprasensors wie ein Roboter zu arbeiten. Henk de Groot holte aus sich heraus, was er konnte, um eingreifen zu können, aber als er die Kämpfenden erreichte, waren die Angreifer schon tot.
Inzwischen war Ngade San umgekehrt, weil er bemerkt hatte, daß sein Sohn in tödlicher Gefahr war. Henk winkte ihm, wegzubleiben, denn er wurde hier nicht mehr gebraucht. Statt dessen sollte er sich lieber um den Japaner kümmern, der unterdessen mit dem Kombigerät weitergerannt war und sich bereits dicht vor der düsteren Mauer aus einer wahnwitzigen Fülle von Relikten einer Hochtechnologie befand, in der Major Bötticher auf dem Herweg die transmitterähnlichen Strukturen entdeckt hatte. Während Charlize sich um Karua kümmerte, dem das Töten einen Schock versetzt hatte, der ihn stumm und steif werden ließ, rappelte sich Harun Fellow auf und versuchte, den toten Major wieder aufzuheben. Er schaffte es nicht. Stöhnend sackte er neben dem Leichnam zusammen. Aus mehreren Kopfplatzwunden rann ihm hellrotes Blut über Gesicht und Hände. Kurz entschlossen wuchtete sich der Ingenieur den Toten mit der rechten Hand auf die linke Schulter, riß Fellow am Schulterkreuzgurt hoch und stieß ihn hart vorwärts. Irgendwann merkte er, daß er Flüche, Beschimpfungen und Verwünschungen hinausschrie, um den Leutnant anzutreiben. Er lachte, als er es merkte; aber es war ein Lachen an der Grenze zum Wahnsinn. Endlich erreichten sie das halb ausgeglühte, teils verrottete, teils aber verblüffend gut erhaltene Relikt einer technologisch einstmals hochstehenden Zivilisation. Es baute sich vor ihnen wie eine finstere, unüberwindlich erscheinende Mauer von drei Metern Höhe auf etwas, das eine Zäsur zwischen dem Lande des Todes und dem Lande des Lebens zu sein schien. Noghe Buschido torkelte mit unsicheren, teilweise parkinsonoid anzusehenden Bewegungen auf der zerschrundenen, von Rissen, Spalten und kleinen Kratern zemarbten, durchschnittlich fünf Me-.ter breiten Oberkante umher. Er hielt dabei das Kombigerät mit beiden Armen umklammert und murmelte ununterbrochen etwas, das sich wie eine Litanei von Gebeten, Beschwörungen und Flüchen anhörte. »Haben Sie die transmitterähnlichen Strukturen gefunden, Sergeant?« rief Henk de Groot. Er mußte die Frage dreimal wiederholen und zuletzt brüllen, be-, vor Buschido darauf reagierte. »Ich bin dicht davor«, rief der Japaner zurück, knickte ein, ckte zusammen, rappelte sich wieder auf und torkelte weiter. Das Gerät hat sie aufgespürt. Kommt hoch! Aber schickt zuerst die
Frau!« >Was soll ich machen?« wandte sich Charlize an ihren Verlobten?“ >Warte!« flüsterte Henk. »Ich steige zuerst hoch.« Er traute dem Japaner nicht, denn dessen Verhalten hatte sich in den letzten Minuten noch mehr als zuvor undurchschaubar verändert. Das Gesicht wirkte maskenhaft starr, obwohl es doch vor körperlicher Anstrengung verzerrt sein sollte - und die schwarzen Augen schienen durch seine Mitmenschen hindurch zu sehen. Oben hatte Buschido angehalten. Langsam sank er auf die Knie, während er das Kombigerät noch immer umschlungen hielt. »Hier ist die Stelle!« lallte er und schwankte wie ein Rohr im Wind. »Ich schalte das Werkzeug der Vorsehung ein. Es wird das zur Straße nach Eden auf stoßen. Eva, wo bist du?« Er wußte jetzt genau, was er zu tun hatte. Alles war exakt vorgezeichnet - nicht erst seit gestern und heute, sondern schon in den Zeiten vor Äonen. Gott schuf Himmel und Erde, er schuf den Garten Eden und er schuf Adam - und durch eine winzige Genmanipulation ließ er den Klon aus Adams' Rippe zu einem weiblichen Menschenwesen werden. Das war der erste Versuch. Er war gescheitert, denn als das Menschenpaar vom Baume der Erkenntnis aß, entglitt es der gött lichen Lenkung und maßte sich an, selbstherrlich zwischen Gut und Böse zu entscheiden. Obwohl es gar nicht fähig war, Gut und Böse zu unterscheiden, denn es war sowohl gut als auch böse, weil Gott den Fehler begangen hatte, die Menschen zu seinem Ebenbilde zu machen. Aber das war Vergangenheit, erkannte er, der so lange als Samurai gelebt und nun endlich zu seiner Bestimmung gefunden hatte, indem er die Lehre Buddhas verwarf, die da lautete: »Lerne Gutes zu tun, höre auf zu schaden, kontrolliere den Geist und nutze anderen.« Die Kinder des ersten Menschenpaares waren verdorben und mußten vergehen. Er hatte in den Grakos das Werkzeug geschaffen, sie zu vernichten. Und nur wenn das vollendet war, würde er auch die Grakos wegwerfen, so wie man gebrauchtes Werkzeug wegwarf, und der Weg zu einem neuen Anfang wäre frei. Und Er hatte ihm die Chance gegeben, einen neuen Anfang zu machen. Das Sternentor öffnete sich und gab die Straße zum Neuen Garten Eden frei, in dem Adam und Eva eine neue Chance bekamen, das Menschengeschlecht nach Seinem Willen zu formen.
Das Alte verging - und das Neue kam.. ABER DAS WAR FALSCH! WER EINMAL GEIRRT HATTE, WÜRDE
IMMER IRREN- WIEDER UND WIEDER.
ES GING NICHT UM RECHT ODER UNRECHT - ES GING
DARUM, WAS ZÄHLTE UND WAS DEN WAHREN WERT AUS
MACHTE.
NUR DIE LIEBE ZÄHLT!
Diese Stimme aus der Ewigkeit weckte etwas, das bisher von dem Fragment eines entarteten Geistes unterdrückt worden war, von dem Geistesfragment eines sterbenden Grakos - etwas, das hoch über dem stand, was von diesem unfaßbar Bösen eingegeben worden war. Etwas, das mit seiner Grundnatur und der Grundnatur des Universums zu tun hatte. Des Pulsierenden Universums, in dem das Sein nur eine Episode innerhalb des Ewigen war: von Werden und Vergehen, von Tod und Wiedergeburt, von Wachen und Träumen wie im Höchsten Joga Tantra. Und aus der Dunkelheit schälte sich das klare Licht der Erkenntnis heraus, daß alles Eins ist, weil alles aus Einem geboren wurde und in Einem vergehen und wiedererstehen wird - von Ewigkeit zu Ewigkeit... 72. Henk schüttelte zornig den Kopf, als Charlize nach Griffen in der Mauer suchte, um auf das Relikt zu steigen. Er wollte nach ihr greifen, bekam aber den geprellten linken Arm nicht hoch genug. Im nächsten Moment knallte ein Stein gegen seinen Hinterkopf. Er sah plötzlich nur noch Sterne und spürte, wie sein Bewußtsein schwand. Seltsamerweise fühlte er keinen Schmerz. Energieschüsse entluden sich mit schmetterndem Krachen und rissen ihn aus dem Land der Träume zurück. »Sie greifen wieder an!« hörte er Fellow schreien. Erneut krachten Entladungen. Dazwischen waren Explosionen zu hören: wahrscheinlich Armbrustpfeile. Schreie von Menschen mischten sich mit tierhaftem Gebrüll. Es gelang dem Ingenieur, die Betäubung abzuschütteln. Er wußte, daß er jetzt nicht schlappmachen durfte. Seine Leute brauchten ihn. Charlize brauchte ihn. Sie mußten fliehen. Eigentlich sollte Buschido
jetzt den Transmitter aktivieren - falls das überhaupt so möglich war,
wie sie sich das vorstellten.
»Komm!« rief Charlize.
Eine Detonation betäubte ihn fast. Er biß die Zähne zusammen.
Fliehen! Aber nicht ohne Bötticher! Er packte den Toten mit der rechten Hand an den Schultergurten, aber seine Finger waren steif und gefühllos. Sie glitten ab. Er versuchte es wieder und wieder, bis schließlich er von anderen starken Händen ergriffen und hochgezogen wurde - fort von der sterblichen Hülle des Majors. Wie durch rote Nebelschlieren mußte er mit ansehen, daß die ersten Animas sich auf den Leichnam stürzten. Sie zerfetzten ihn mit Faustkeilen und Krallen und schlangen gierig ganze Fetzen blutigen Fleisches in sich hinein. Und sein steinernes Gesicht schien zu lächeln... Eine Zeit lang war er wohl bewußtlos gewesen, während seine Freunde ihn fortschleppten, denn seine nächste Wahrnehmung be 256 stand darin, daß sich Charlize über ihn beugte und ihm Wasser übers Gesicht schüttete. Sie bewegte die Lippen dabei, doch er verstand kein Wort, weil ringsum ein Gewitter energetischer Entladungen tobte und die Umgebung mit blendendem, zuckendem Licht und explosionsartigen Geräuschen erfüllte. »Die Animas!« schrie er. »Wo sind die Bestien?« •ICharlizes Gesicht kam dicht auf seines herab. ' »Sie haben sich zurückgezogen«, verstand er. »Die Energieausbrüche flößen ihnen panische Furcht ein.« Es wurde etwas leiser, und Henk konnte sich mit Charlizes Hilfe aufsetzen. Er sah Ngade San und Karua neben sich und Charlize hocken. Ihre Gesichter waren rauchgeschwärzt und blutverschmiert. »Was ist mit dem Transmitter - und Buschido und Fellow?« fragte er. »Der Japaner versucht anscheinend immer noch, die Transmit terschaltung zu aktivieren«, erklärte Ngade. »Alles, was er bisher l erreichte, waren diese furchtbaren Energiegewitter. Wir mußten uns fluchtartig von den transmitterähnlichen Strukturen zurückziehen.« »Und - was jetzt?« fragte der Ingenieur. »Wo ist eigentlich Fellow?« »Unterwegs zu Buschido«, erklärte Charlize. »Er sagte, er müßte ihn von einer Dummheit abhalten. Buschido war während der letzten
Kämpfe mit den Grakos verschüttet worden - zusammen mit den verbrannten Überresten eines Grakos. Er konnte sich nur vage daran erinnern, aber offenbar hat er ein schweres Trauma zurückbehalten. Fellow sagte, Buschido hielte sich für ein Werkzeug Gottes. Er muß irgend etwas Schlimmes vorhaben.« »Ein Werkzeug Gottes?« wiederholte Henk. »Aber Buschido ist Buddhist, also auch Atheist, jedenfalls in dem Sinne, daß er nicht an den einen Gott glaubt.« »Er scheint sich einzubilden, daß er an Gott glaubt, wie er ihn sich vorstellt«, erklärte Ngade San. »Harun Fellow vermutet, ein fünfdimensionaler Hauch vom Bewußtsein des verschmorten Gra-kos hätte sein Bewußtsein infiltriert. Der Leutnant will versuchen, ihn umzustimmen, indem er ihm klarmacht, daß er Buddhist ist.« Sie sagte noch etwas, aber das ging im auflebenden Donner von Explosionen und Energieentladungen unter. Schlagartig wurde alles von einem höllischen Geräusch wie beim Weltuntergang übertönt - und in zirka hundert Metern Entfernung stand plötzlich ein ultraheller, turmstarker Lichtbogen zwischen einem Punkt der uralten Mauer und der Gewölbedecke. Er blieb auch dann noch stehen, als es totenstill wurde. Ngade San schaltete sein Funkgerät ein und reichte es seinem Sohn, der daraufhin mit den für Buschmänner typischen Klicks »hineinsprach«. »Er teilt den Geflügelten mit, daß sie jetzt ihren Transmitter aktivieren sollen«, erklärte Ngade. »Wenn alles klappt, können sie zu ihrer Heimatwelt zurückkehren.« »Und Buschido?« rief Henk. Plötzlich sprach sein Funkgerät an. »Hier spricht Noghe Buschido!« tönte es verständlich für alle, da das Gerät auf maximale Lautstärke geschaltet war. »Mein Geist ist jetzt frei. Freunde. Es tut mir leid, daß ich euch in Angst und Schrecken versetzte. Mein Bewußtsein war zeitweise von dem Bewußtseinsfragment eines toten Grakos überlagert, das sich in Böttichers Bewußtsein eingenistet hatte. Er selber ahnte nichts davon, aber irgendwann erriet er es. Deshalb blieb er allein in der Pyramide zurück. Er bildete sich in seinem Wahn ein, ein Samurai zu sein und beging Selbstmord durch Seppuku, um zu sühnen und seine persönliche Ehre wiederherzustellen. Damit ebnete er gleichzeitig den Weg zu meiner geistigen Befreiung. Ursprünglich wollte ich als ein
zweiter Adam mit einer zweiten Eva per Transmitter zu einer fernen Welt fliehen, um dort den Grundstein für ein neues Menschengeschlecht zu legen - denn unter dem Einfluß des Grakofragments glaubte ich, die Menschheit sei zum Untergang verurteilt. Das war ein Irrtum. Die Grakos sind nicht unbesiegbar. Sagt das allen anderen Menschen! Mit Hilfe Haruns gelang es mir jetzt, die transmitterähnlichen Strukturen zu aktivieren - und mit Hilfe von Ngades Kombigerät baue ich ein Transmittertor auf. Es wird Harun und mich verschlingen, aber es wird auch die Animas auslöschen, denn von ihm geht ein unwiderstehlicher Lockruf aus, dem kein lebendes Wesen widerstehen kann. Also schließt eure Augen, Ohren und eure Herzen, damit ihr nicht demselben Lockruf erliegt, Freunde. Lebt wohl und denkt daran: Es gibt immer eine Wiederkehr, also auch ein Wiedersehen - wo und wann und in welcher Form auch immer.« Es ist wunderschön. Das also ist das wahre Wesen der Sterne...! Der ultrahell wabernde Ring aus dimensional übergeordneter Energie erlosch. Die vier Menschen standen auf der festen .schwarzen Oberfläche des Transmitters innerhalb eines tunnelähnlichen Korridors. Sie wagten kaum zu atmen, denn sie wußten, daß sie entweder schon bald zu Hause sein würden oder wahrscheinlich niemals. Alles sah so aus, wie sie es in Erinnerung hatten: ein Tunnel, der einer Art Korridor ähnlich sah, wie es sie bei zahllosen technischen Anlagen vieler Völker gab. Der Boden bestand aus Unitall. Die Breite von Wand zu Wand betrug zirka zehn Meter, die Wandhöhe hatte etwa den gleichen Wert. Zwei niedrige Galerien zogen sich an jeder Seitenwand entlang. Was sich dahinter verbarg, war nicht zu erkennen. An der Decke hing ein meterdickes Gitterwerk aus armdicken Trägern, die miteinander verschachtelt waren. Daraus wehte ein schwacher, stetiger Luftzug - und von dort oben kam die bläuliche, aber nicht blendende Helligkeit. Die Menschen schalteten ihre Nachtsichtgeräte aus, die ohnehin nur noch schwach arbeiteten, weil ihre Batterien fast leer waren. Henk de Groot musterte die Gesichter seiner Gefährten. Sie sahen ebenso müde, grau, verfallen und blutverschmiert aus wie sein eigenes. Ngade San lächelte verloren. Sein Sohn Karua, der übrigens kein Nachtsichtgerät trug, lehnte sich an Charlize, die ihren rechten Arm um ihn gelegt hatte. Er schlief halb - und im Halbschlaf wirkte sein Gesicht so kindlich, daß man nicht glauben mochte, wie er
tief unten und weit weg in einem Höhlengewölbe mit seinem Raptor getötet hatte. Der Systemingenieur seufzte tief - und erntete dafür einen auf munternden Blick seiner Verlobten. Was war denn nur in der einen Woche geschehen: hier unten, in zigtausend Lichtjahren Entfernung, in Tausenden Kilometern Ent fernung und hier oben, das noch nicht ihr ureigenstes Hier-Oben war...? Nachdem Bötticher Selbstmord begangen hatte und nachdem Noghe Buschido und Harun Fellow das Transmittertor ins Nirgendwo aktiviert hatten und die bestienartigen Animas ihnen ins Verderben oder in den sogenannten Himmel gefolgt waren, hatten sie, die Überlebenden der Odyssee in der Unterwelt, endlich zu dem Panzerschott zurückkehren können, durch das sie von Robotern in das Höhlengewölbe geworfen worden waren. Nach längerem Suchen fanden und deaktivierten sie die tödlichen Defensiveinrichtungen, die die Mysterious einst hinterließen, und öffneten das Panzerschott. Da sie diesmal von innen kamen, wurden sie von den auf der anderen Seite wartenden Robotern als zugangsberechtigt eingestuft und nicht behelligt. Sie inspizierten eine etwa einen Kilometer durchmessende Halle voller Maschinen, in der die typische blaue Beleuchtung der My sterious aufflammte. Henk fand die Steuerzentrale und stellte fest, daß der Komplex rund zehn Kilometer unter der Oberfläche Babylons lag. Gemeinsam mit dem Transmittertechniker San gelang es ihm, die Steuerung der Anlage zu durchschauen, die offenbar dazu diente, jede Menge der kugelförmigen Roboter zu produzieren. Die Menschen nahmen sich vor, ihren Vorgesetzten vorzuschlagen, die Produktion der Kampfroboter so zu modifizieren, daß sie der Kolonie als Arbeitsroboter dienen konnten. Anschließend ging es um das Problem, den Heimweg zu finden. Sie waren über eine Transmitterverbindung gekommen und wußten, daß diese zu einem wahrscheinlich galaxisweiten Netz von Transmitterstraßen gehörte, von denen die meisten vermutlich durch den galaktischen Blitz* zerstört worden waren. Unter diesen Umständen war es fraglich, ob sie den Weg zurück an die Oberfläche von Babylon finden würden - beziehungsweise in die Vitrinenhalle im Inneren des Goldenen Menschen. Das war auch jetzt noch fraglich, obwohl sie ihrem Ziel wahr
scheinlich so nahe waren, daß es sowohl räumlich wie auch zeitlich keine Distanz dazu gab. Fraglich war nur, ob der Rückweg so reibungslos funktionierte wie der Hinweg. Um das zu erfahren, gab es nur eine Möglichkeit. »Fangen wir an!« sagte Henk. »Jetzt!« Sie beugten sich vor und faßten alle gleichzeitig die Dimensi onsschiene an, über der an einem Ende der Waggon schwebte, der in Wirklichkeit der Hyperfeldgenerator des Transmitters war. Sie konnten die Veränderung weder sehen noch fühlen - wenn man davon absah, daß es hier keinen Waggon gab - und daß dort, wo der Korridor in eine beleuchtete Halle mündete, zahlreiche Kugelroboter standen. Sekundenlang schrien die vier Menschen voller Jubel, Erleichterung und Frust darüber, daß drei Gefährten nicht mehr dabei waren. Dann aber packte sie das Heimweh so stark, daß sie einfach alle zugleich losrannten, dorthin, wo der Korridor anfing, durch den sie vor einer Woche gekommen waren. Und blieben stehen, als seien sie gegen eine unsichtbare Mauer gerannt, denn vor ihnen standen in einem weiten Halbkreis min destens fünfzig Männer in gepanzerten Kampfanzügen und mit schußbereiten Blastem in den behandschuhten Fäusten. Eine Weile starrten sich die Raumsoldaten und die vier Menschen schweigend an, dann trat einer aus der Reihe der Soldaten heraus und hob die Hand. Oberst Petain! »Willkommen daheim!« rief der Militärkommandant von Babylon. »Ihr sehtj'a böse aus - und seid auch nicht vollzählig. Na, ich denke. Sie haben mir viel zu berichten. Henk!« Henk de Groot lächelte - unendlich erleichtert. »Sehr viel, Sir«, antwortete er leise. »Verdammt viel.« 13. »Ihre Identifikationsnummer lautet M-40-20-02-2002-U. Sie wurden am 26. Januar 2058 bei Wallis Industries hergestellt. In Ihrer ersten Funktion waren Sie als Hausangestellter tätig. Inzwischen sind Sie Bestandteil des S-Kreuzers POINT OF, welcher der Terranischen Flotte angehört.« »Falsch, du Pappnase! Du hast keine Ahnung von Tuten und Blasen.« »Ich bin durchaus in der Lage, Geräusche verschiedener Art zu
erzeugen, darunter mehrere Versionen von Tutlauten. Zudem kann ich die unterschiedlichsten Blasinstrumente nachahmen. Allerdings wurde das noch nie von mir verlangt. Die von Ihnen abgerufenen Informationen zu Ihrer Person haben einen Wahrheitsgehalt von einhundert Prozent.« »Meine Frage wurde trotzdem unzureichend beantwortet.« »Der Begriff >unzureichend< ist nicht gleichbedeutend mit >falsch<. Unzureichende Informationen brauchen lediglich ergänzt zu werden. Hingegen müßte man falsche Informationen löschen und durch richtige Angaben ersetzen.« »Du bist ein echter Klugscheißer, nicht wahr? Jetzt paß mal gut auf! Erstens redet mich niemand mit meiner Identifikationsnum-tmer an, sondern mit meinem Namen - und der lautet Artus. Zweitens ist mein Herstellungsdatum nur von geringem Interesse. Viel wichtiger ist die Nacht vom 18. auf den 19. September 2058, als ich im Brana-Tal zum Leben erwachte. Drittens bin ich nicht Bestandteil dieses Raumschiffs, ich zähle zur Mannschaft, klar? Der Commander der Planeten höchstpersönlich hat mir eine ID-Karte ausgestellt, die mich als Besatzungsmitglied der POINT OF ausweist und mir überall auf dem Raumschiff Zugang gewährt. Und wo wir gerade von diesem Schiff sprechen... die POINT OF gehört nicht der Terranischen Flotte an - sie ist die Terranische Flotte!« »Habe ergänzende Hinweise wörtlich gespeichert. Den Satzteil >zum Leben erwachte< habe ich gekennzeichnet. Mit 99prozentiger Wahrscheinlichkeit handelt es sich dabei um eine Metapher zur sprachlichen Auflockerung des ergänzenden Herstellungsprozesses. Soll ich weitere Informationen aufnehmen?« »Ja, du seelenloser Chipaufbewahrungsbehälter. Meine erste
Programmierung lautete nicht > Hausangestellten, sondern >Butler<.
Hast du das verstanden?«
»Akustisch ja. Dennoch ist mir Ihre Kritik unverständlich. Ein Butler
ist ein Hausangestellter.«
»Wieder falsch. Butler sind die Hausangestellten schlechthin. Man
kann einen Butler nicht mit einem Dienstmädchen oder einem Koch
vergleichen.«
»Warum nicht? Soweit mir bekannt ist, haben Sie für Ihren früheren
Besitzer auch geputzt und gekocht.«
»Sieh mal einer an! Du kennst nicht mal meinen Namen, weißt aber,
welche Tätigkeiten ich für meinen Schöpfer Echri Ezbal ausgeübt habe. Ich möchte zu gern wissen, nach welchen Gesichtspunkten man dich gefüttert hat.« »Wenn Sie >gefüttert< näher definieren würden, könnte ich Ihr Wissen in diesem Punkt möglicherweise erweitem.« »Du und mein Wissen erweitern? Daß ich nicht lache! Ohne Menschen, die dich fortwährend mit weiterbildenden Programmen vollstopfen, besäßest du gar kein Wissen. Derlei Programme besitze ich zur Genüge. Zudem kann ich mich jederzeit in fremde Rechner einklinken und mich aus deren Speichern nach Herzenslust bedienen. Darüber hinaus erweitere ich meinen geistigen Horizont anhand von Beobachtungen und persönlichen Erlebnissen sowie durch Nachdenken und Analysieren. Eigene Erfahrungen sind durch nichts zu ersetzen, insbesondere unangenehme. Aber ich erwarte nicht, daß du das begreifst. Schließlich bist du nur eine Maschine.« »Zutreffend. Ich bin eine Maschine - so wie du.« »Schon wieder falsch. Ich bin keine Maschine. Ich bin ich!« Mit diesen drei abschließenden Worten unterbrach ich die Verbindung zu dem Suprasensor in meiner Kabine. Offenbar stand es ziemlich schlimm um mich, wenn ich mich schon so weit herabließ, mich mit einem leblosen Gerät herumzustreiten. Ein Gerät, daß in meinem Quartier eigentlich überflüssig war. Ich brauchte es nicht, schließlich war ich so was wie mein eigener Suprasensor und konnte jederzeit mit jedem Rechner an Bord Kontakt aufnehmen. ' Oberflächlich betrachtet war die Feststellung, ich sei eine Maschine, natürlich korrekt. Ich war ein Roboter, eine Erfindung des Konstrukteurs Robert Saam, eine Billigproduktion aus dem Hause Wallis Industries - ein sogenannter Blechmann halt. i Dennoch war ich anders. Seit mir Echri Ezbal zu Versuchszwek-ken einen Nexus aus vierundzwanzig miteinander vemetzten Pro grammgehirnen in meinen Kopf eingepflanzt hatte, lebte ich. An geblich aufgrund eines Fehlers, über den man nichts Exaktes hatte \m Erfahrung bringen können, da er im Nanobereich lag. Doch was wußten die Forscher schon Konkretes über Geburt und Tod? Über die biologischen Vorgänge sind umfangreiche Ab handlungen geschrieben worden. Den Ursprung des Lebensfunkens konnten die Menschen allerdings genauso wenig erklären wie den Verbleib ihres Ichs nach Einstellung der körperlichen Funktionen. Alles, was bisher darüber »herausgefunden« worden war, beruhte auf
Spekulationen und zweifelhaften Experimenten. Konkrete Erkenntnisse gab es nicht, geschweige denn fundierte wis senschaftliche Beweise. Die Weiterexistenz nach dem Tod war eines der letzten großen Geheimnisse des Universums. Die gesamte Stammbesatzung hatte die POINT OF verlassen. Ich fühlte mich ein bißchen einsam, trotz Anwesenheit der aus Nach wuchskräften bestehenden Bodenmannschaft. Einerseits war Einsamkeit kein schönes Gefühl, gelinde gesagt. Andererseits war ich froh, überhaupt fühlen zu können, denn genau das machte den Unterschied zwischen mir und einer normalen Maschine aus. Den Suprasensor, mit dem ich mich gerade |»unterhalten« hatte, konnte man jahrelang in eine finstere Kellerecke stellen, ohne daß er dabei etwas empfand. Mindestens einen denkenden und fühlenden Computer gab es auf der Welt - besser gesagt, es hatte ihn gegeben. Ich hatte auf dem Mars seine zweifelhafte Bekanntschaft machen müssen, als ich Roy Vegas aus seinen eigensüchtigen Fängen rettete. Seither waren Roy und ich Freunde. Vielleicht sollte ich ihm einen Besuch abstatten... Ach nein, er war ja derzeit mit der SPECTRAL auf Patrouillenflug. Hoffentlich teilte man ihm bald eine wichtigere Aufgabe zu -und ein größeres Raumschiff. Fast jeder, der die POINT OF verlassen hatte, kannte jemanden, der ihn sehnsüchtig erwartete oder sich zumindest über einen Besuch freute. Nur ich war hier zurückgeblieben, weil ich nicht so recht wußte, wohin. Ab ins Brana-Tal? Ezbal würde sich bestimmt über mein Auftauchen freuen. Viel Zeit für Gespräche blieb uns meist leider nicht, er war ein vielbeschäftigter Mann. Das Brana-Tal war gewissermaßen mein Zuhause. Verglichen mit meinem nach praktischen Gesichtspunkten eingerichteten Bordquartier, das ich schon fertig vorgefunden hatte, war mein Dreißig-Quadratmeter-Zimmer in Ezbals Haus das reinste Erleb nisparadies. Schilfmustertapete, aufblasbare Plastiksessel, Nieren tisch, zierliche Renaissanceanrichte, klobiger Bauernschrank - der Alptraum eines jeden Innenarchitekten, aber mir gefiel es. Vielleicht sollte ich in meiner Kabine ein paar Umbauten vor nehmen... Ach nee, das wäre mit zuviel geistiger Anstrengung verbunden. Meine
Energien sparte ich mir lieber für sinnvollere Tätigkeiten auf.
Aber welche Freizeitbeschäftigung war sinnvoll für einen lebenden,
denkenden und fühlenden Roboter? Ursprünglich hatte man
mich ausschließlich fürs Arbeiten erschaffen. Vielleicht sollte ich
Galaxoschach spielen gegen mich selbst... Ach was, ich würde eh nur jedes Spiel gewinnen. Ich beschloß, auf der Brücke nach dem Rechten zu sehen. Möglicherweise brauchten die Bodenkräfte meine Hilfe. Doch in der Zentrale lief alles ab wie am Schnürchen. Die Ausbilder hatten ihre unerfahrene Mannschaft fest im Griff. Niemand | fragte mich etwas, ich wurde kaum beachtet. Diejenigen, die mich nicht genau ansahen, hielten mich wahrscheinlich für einen ganz normalen Arbeitsroboter. 1 Im großen und ganzen verlief der Lernbetrieb ruhig. Lediglich ein übergewichtiger, leicht cholerischer Ausbilder strapazierte fortwährend seine Stimme. Offenbar vertrat er die Devise: Unwis sende lernen am besten, wenn man sie ordentlich anschreit. | Ich blieb vor dem Checkmaster stehen, jenem überirdischen Supercomputer, von dem es hieß, er habe eventuell eine biologische Komponente. Von Anfang an hatte er mich fasziniert. Allerdings betrachtete ich ihn nicht mit blinder Bewunderung, sondern mit einer gehörigen Portion Skepsis. War er wirklich so unendlich klug wie behauptet wurde? Oder war er mir genauso unterlegen wie die übrigen Geräte an Bord? Bin ich wirklich nur skeptisch - oder auch ein bißchen neidisch? | fragte ich mich selbstkritisch. »Bilde dir ja nicht zuviel ein. Schweinchen Oberschlau«, flüsterte ich dem Checkmaster angriffslustig zu. »Mit dir nehme ich es noch allemal auf.« »Laß ja deine Blechfinger vom Bordcomputer!« rief der korpulente Ausbilder zu mir herüber. »Anstatt Selbstgespräche zu halten, solltest du dich lieber nützlich machen. Du begibst dich jetzt aufs Maschinendeck und...« »Negativ«, fiel ich ihm ins Wort, ohne mich zu ihm umzudrehen. »Wenn es was auf dem Maschinendeck zu erledigen gibt, dann tu es gefälligst selbst. Speckbacke. Oder schick einen deiner Azubis. Ich habe jedenfalls keine Lust, für dich den Laufburschen zu spielen.« Klugscheißer, Schweinchen, Speckbacke... was für einer Aus drucksweise befleißigte ich mich eigentlich? Normalerweise redete ich höflicher mit meinen Gesprächspartnern - immerhin verfügte
ich nicht nur über ein perfektes Benimmprogramm, ich besaß obendrein eine überaus angenehme Stimme. Die anderen Blech männer hörten sich an, als stünden sie beim Sprechen weit hinten in einem Bergwerk. Der Dicke schnaufte wie eine vorsintflutliche Dampflokomotive (ich hatte mal eine im Verkehrsmuseum gesehen und mir per Kopfhörer die Fahrgeräusche vorspielen lassen). Ich wandte mich um und begab mich Richtung Ausgang. Kaum erblickte er mich von vorn, stellte er sein Schnaufen ein und nahm eine zackige Haltung an. Sein verändertes Benehmen hing vermutlich mit meinem schwarzen Stirnband zusammen, in das der Goldbuchstabe A eingestickt war. Ich war stolz darauf, ein Roboter zu sein und hätte mich niemals in einen Menschen verwandeln wollen. Aber am meisten stolz war ich auf die Tatsache, daß ich ein Roboter mit Verstand war - und das wurde durch mein Stirnband auch nach außen hin dokumentiert. Schlagartig fiel mir ein, wer sich garantiert über einen Besuch von mir freuen würde... Warum war ich nicht gleich darauf gekommen? In meiner Kabine nahm ich vor meinem Suprasensor Platz und setzte mich mittels Funksignal mit dem weltweiten Rechnernetz in Verbindung - ohne das Gerät zu berühren. Na, Checkmaster, kannst du das auch? feixte ich in Gedanken. Selbstverständlich, Artus, vernahm ich wie aus weiter Feme die Antwort. Wahrscheinlich hatte ich mir das nur eingebildet. Ab und zu ging meine Phantasie mit mir spazieren. AufTerra gab es unscheinbare Frauen, durchschnittliche Frauen und überaus bemerkenswerte Frauen. Aber kaum eine war auch nur annähernd so kolossal wie Jamie Savannah. 'Jamie war sechsundfünfzig Jahre alt und von großer, korpulenter Statur. Mit ihrem breitkrempigen Cowboyhut auf dem Bürsten haarschnitt-Kopf (es hieß, sie würde den Hut nicht einmal im Bett ablegen) und ihrer o-beinigen, wippenden Gangart wirkte sie beim Weggehen wie ein ausgewachsener Kerl mit einem Pferdehintem. Doch sobald sie sich umdrehte, wurde jedermann klar, daß sie eine Frau war - und was für eine! Kein Bodybuilder hätte einen so an sehnlichen Brustumfang vorweisen können.
Wäre sie einen guten halben Meter größer gewesen und hätte ihr Kopf die Form einer Riesenbirne gehabt, man hätte Jamie glatt mit einer Ratekin verwechseln können. Allerdings verfügte sie über keinen Kranz aus Facettenaugen und schon gar nicht über vier Münder - nur über einen stechenden Blick und eine große Klappe. Fürchten mußte sich niemand vor ihr. Ihre warmen, weichen Gesichtszüge zeugten von einem großen Herz. Jamie Savannah war Fernfahrerin und besaß einen eigenen schweren Lastenschweber, einen nigelnagelneuen mit allen modernen Schikanen. Ihr früherer Schweber war von Gangstern ge-schreddert worden, doch die Versicherung hatte ihn ihr anstandslos und schnell ersetzt. Möglich machte das eine unabhängige Kontrollbehörde, die vor mehr als drei Jahrzehnten ins Leben gerufen worden war. Damals hatte man der gängigen Praxis vieler Versicherungsuntemehmen, die Schadensbegleichung mittels Ausfüllen von Formularbergen und durch langwierige Untersuchungen absichtlich hinauszuzögern, ein für allemal einen Riegel vorgeschoben. Bis dahin hatten die Versicherungen zwar tüchtig Werbung damit gemacht, daß sie ihren Kunden im Notfall schnell und reibungslos helfen würden, doch nach Eintritt des Schadensfalls hatte es meist anders ausgesehen. Vorliegende Fälle waren grundsätzlich im Schneckentempo bearbeitet worden, und berechtigte Forderungen hatte man so lange gerichtlich angefochten, bis der betreffende Kunde die Nerven verloren und sich mit einer Teilsumme zufriedengegeben hatte. Aber nicht nur den Versicherungsuntemehmen klopfte die Kon trollbehörde auf die Finger. Versicherte, die glaubten, sich auf Kosten aller Einzahler eine goldene Nase verdienen zu können, wurden mit der ganzen Strenge des Gesetzes verfolgt. Schon für kleinere Vergehen konnte man hart bestraft werden. Seither waren die ausufernden Betrügereien um rund neunzig Prozent zurückgegangen. Und die Versicherer arbeiteten nicht nur fixer, sie langten bei den Beiträgen auch nicht mehr so kräftig hin. Jamie war keine Betrügerin. Sie leistete ehrliche Arbeit für ehrliches Geld. Kein leichtverdientes Geld, aber ihr machte die Tätigkeit Spaß. Als selbständige Unternehmerin war sie unabhängig. Auf den weitverzweigten Landstraßen des nordamerikanischen Kontinents fühlte sie sich frei wie ein Adler. Derzeit war sie in Arizona unterwegs, mit einer Fuhre neuartiger
Geräte, den Sensoriae. Wofür ein Sensorium nützlich war, hatte ihr bei der Beladung im Golfhafen niemand gesagt, und es war ihr auch egal. Die Ware war fest und sicher in bruchsicheren Behältern verpackt und mußte nach New York gebracht, also quer durch Amerika transportiert werden. Das war Jamies Aufgabe, und sie würde ihre Ladung heil und »gesund« zustellen. Seit Stunden war ihr in der kargen Wüstenlandschaft kein anderer Schweber begegnet. Sie erinnerte sich an düstere Zukunftsprognosen, die in ihrer Jugend die Runde gemacht hatten. Eines Tages würde die Erde eine einzige riesige Stadt sein, hatte es damals geheißen. Ach ja? Wo denn? dachte Jamie Savannah. Weit und breit gibt es hier kein Haus. Früher hatte sie unterwegs an diversen Fernfahrerkneipen Rast machen können, doch seit die zwölf spurigen Schweberbahnen mit perfekten Verkehrsleitsystemen ausgestattet waren, gab es nur noch wenige unverwüstliche Trucker, die die abgelegenen Landstraßen benutzten. Selbst Jamie mußte manchmal aus Zeitgründen auf gewohnte und geliebte Umwege verzichten. Diesmal nicht. Heute hatte sie Zeit en masse. Ihr Auftraggeber hatte ihr am Vipho klargemacht, daß es ihm in erster Linie nicht auf Pünktlichkeit ankam, sondern auf die unbeschädigte Ablieferung der Ware. Die Mittagssonne stand hoch am Himmel. Glücklicherweise war Jamies geräumige Fahrerkabine mit einer Klimaanlage ausgestattet. Seit dem frühen Morgen ertönten aus dem Bordempfänger uralte Rock- und Schmuseaufnahmen, die mittlerweile als Raritäten ge handelt wurden, darunter Songs von Pat Boone, Tommy Roe, El-vis Presley und Status Quo. Natürlich durfte auch das traurige Lied des einsamen amerikanischen Fernfahrers nicht fehlen, der sich fern seiner Heimat nach einem Countrysänger namens Dave Dud-ley sehnt, den aber keiner der erreichbaren Sender kennt. Bei diesem Song mußte Jamie jedesmal ihre Tränen zurückhalten. Unterbrochen wurde die Musik regelmäßig von den Weltnachrichten sowie einer aktuellen Fahndungsmeldung, die alle halbe Stunde ausgestrahlt wurde. Darin war von einem Mann aus Phoenix die Rede, der seinen Geschäftspartner aus dem Fenster eines Hochhauses gestoßen und sich der Festnahme durch Flucht entzogen hatte. Über einen speziellen Kode konnte man eine Fotografie des Mörders per Vipho abrufen.
Jamie hatte den Kode angewählt. Sie hatte erwartet, mit einem bösen, finsteren, hundsgemeinen Typen konfrontiert zu werden. Statt dessen war auf ihrem Minibildschirm ein spindeldürres Stück Mensch erschienen, das mit Sicherheit beim ersten starken Nieser aus den Socken fiel. Sah so ein Mörder aus? Andererseits trugen Verbrecher keine Mützen mit der Aufschrift: »Ich habe gerade diesen und jenen umgebracht!« Wäre das so einfach, wozu brauchte man dann noch die Ermittlungsbehörden? Die »Mordsache dünner Mann« beschäftigte Jamie die ganze Fahrt über. Was brachte einen Menschen dazu, einen anderen Menschen zu töten? Habgier? Verzweiflung? Hatte er die Tat geplant oder geschah sie im Affekt? In der Feme erblickte Jamie eine hagere Gestalt am Straßenrand, die offensichtlich mitgenommen werden wollte. Der Anhalter streckte den Arm vor und trat einen Schritt auf die Fahrbahn. Jamie wußte sofort, mit wem sie es zu tun hatte. »Ich fresse einen Besen, wenn er es nicht ist«, murmelte sie leise und drosselte ihre Geschwindigkeit. »Kaum zu glauben, wie klein doch die Welt ist.« Ihre Vermutung erwies sich als zutreffend. Sie öffnete per Knopfdruck die Tür und ließ den Hageren einsteigen. Gepäck hatte er keines bei sich. Wozu auch? Als Roboter benötigte man weder Proviant noch Kleidung. Das einzige Kleidungsstück des Anhalters war ein schwarzes Stirnband mit einem goldenen A darauf. Jamie Savan-nah hatte es ihm einst geschenkt, als Erinnerung an ihre erste Begegnung in den Shenandoah Mountains und die gemeinsam erlebten Abenteuer in den endlosen Prärien westlich von Kansas City. »Ich habe dich schon von weitem erkannt, Artus«, begrüßte Jamie Savannah ihren metallenen Freund. »Was führt dich in diese einsame Gegend? Ein wichtiger Auftrag?« »Die Langeweile«, gab Artus offen zu. »Ich habe Urlaub, weiß damit aber nichts Gescheites anzufangen. Übers Rechnemetz fand ich heraus, auf welcher Tour du dich gerade befindest. Zwar kannte ich nicht die genaue Strecke, dafür aber deine Vorliebe für einsame Landstraßen. Nachdem ich deinen Bordcomputer angepeilt hatte, wußte ich, wo ich Position beziehen mußte.« »Heißt das, du willst mich nach New York begleiten?« freute sich Jamie. »Prima, dann lernst du gleich meinen Neffen kennen. Sobald
ich die Ladung abgeliefert habe, statte ich ihm einen mehrtägigen
Besuch ab. Du kommst natürlich mit.«
»Gern, Savannah, wenn dein Anverwandter nichts dagegen hat.«
»Bestimmt nicht. Er ist ein lieber Kerl, der keiner Fliege was zuleide
tut. Ganz im Gegenteil, er ist froh, wenn die Fliegen ihn in Frieden
lassen. Ein bißchen mehr Mumm könnte ihm nichts schaden.
Probleme löst er, indem er ihnen möglichst aus dem Weg geht.
Meistens nutzt ihm das wenig. Er hat nämlich die Begabung, von
einem Schlamassel in den nächsten zu geraten.« »Wie heißt dein
Neffe?« »Frank. Frank Buscetta.«
Mindestens einmal in seinem Leben geriet jeder gestandene Mann in eine brenzlige Situation, die so aussichtslos war, daß er sich wünschte, den Termin beim Notar nicht immer wieder verschoben zu haben. Frank Buscetta war kein gestandener Mann, und er hatte nur wenig zu vererben. Schwierigkeiten zog er an wie eine Straßenlaterne die Mottenschwärme. Doch obwohl er Kummer gewohnt war, konnte er sich nicht erinnern, sich jemals in einer derart ausweglosen Lage befunden zu haben. i Von der einen Seite waren mehrere Lasergewehrläufe auf ihn gerichtet, von der anderen Seite her starrte ihn ein freßgieriges grünes Monster aus blutunterlaufenen Augen an. Frank wünschte sich weit weg. Das funktionierte leider nicht. Ob es ihm paßte oder nicht - er stand mittendrin. 0 mein Gott! schoß ihm ein verzweifelter Gedankenfunke durch den Kopf, obwohl er eigentlich Atheist war. Seine innere Panik erreichte innerhalb von Sekundenbruchteilen einen Punkt, an dem der Verstand entweder völlig durchdrehte -oder aus reiner Notwehr anfing, blitzschnell rationale Entscheidungen zu treffen. Zwischen den Fronten zu stehen war so ungefähr das mieseste, was einem passieren konnte. Was lag da näher, als umgehend einen Platzwechsel vorzunehmen? Und zwar schleunigst! sandte Franks Gehirn einen Befehl an Franks Körper aus. Innerhalb von einem Bruchteil eines Augenblicks wurde diese Anweisung in die Tat umgesetzt. Frank stieß sich mit den Füßen vom Fußboden ab, schnellte nach vom, ließ sich fallen, rollte sich auf der Schulter ab, überschlug sich
mehrmals... ... und schaffte das Unglaubliche! Es gelang ihm, sich hinter einem aus der Bodenverankerung gerissenen, umgekippten Tisch in Sicherheit zu bringen. Kaum eine Zehntel Sekunde war es her, daß Frank die Gefahrenzone verlassen hatte, da brach das Inferno los. Aus den Gewehrläufen der behelmten, schwarzgekleideten Polizisten jagten Laserstrahlen auf den Grünen zu. Eben noch hatte Frank Buscetta keinen halben Dollar mehr auf sein Leben gegeben - auf das des »Hulk« hätte er nicht mal einen Viertelcent verwettet. Und wieder geschah etwas, das so unfaßbar war, daß es jeder Verleger von Abenteuerromanen im Manuskript seines Autors rigoros ausgestrichen hätte. Der grüne Gigant brachte sich in Sicherheit, indem er Franks gewagte Flucht nachahmte. Er stieß sich vom Boden ab, schnellte nach vom, ließ sich fallen... Dort, wo der Koloß eben noch gestanden hatte, zischten die La serstrahlen durch die Luft und vollendeten die Zerstörung des Lokals. Was der Hüne von der Einrichtung noch übriggelassen hatte, verging im Strahleninfemo der Schutztruppe. Franks rettender Sprung, ausgeführt mit dem Mut der Verzweiflung, hatte schon nach zwei Metern ein jähes Ende gefunden. Den Schmerz des Aufpralls hatte er ignoriert und sich voll aufs Abrollen konzentriert. Der Monströse hingegen übersprang problemlos mehrere Meter, und von der Aufprallwucht spürte er so gut wie nichts. Alle anderen Anwesenden schon. Boden und Wände erzitterten wie bei einem Erdbeben. Obwohl im Lokal eigentlich kein Regal mehr neben dem anderen stand, fiel irgendwo massenweise Geschirr heraus und zerschellte mit maschinengewehrartigem Scheppern. Mehrere Polizisten riß es ruckartig von den Füßen, so als hätte ihnen jemand den Teppich darunter weggezogen. Der Gigant vollzog die nächste Fluchtphase und rollte sich auf der Schulter ab, wie er es bei seinem neuen Freund gesehen hatte... 'Ein mächtiger Felsbrocken, der mit viel Getöse einen Abhang herabdonnerte und dabei alles mit sich riß, was ihm in die Quere kam, hätte kaum weniger Schaden angerichtet. Wer von den Polizisten noch auf den Beinen stand, wurde von dem Grünen umgestoßen und niedergewalzt. Nicht einmal beim Bowling wurden so viele Kegel mit
einem einzigen Treffer zu Fall gebracht. Der Schweber, mit dem die Polizisten mitten durch die Glastüren gekracht waren, bremste den Lauf der gewaltigen grünen Kugel. Das Monster sprang auf. In seinem massigen Körper steckten zahlreiche Splitter und scharfkantige Scherben. Es schien den Schmerz nicht zu spüren und schüttelte die Glasreste ab, als seien sie nur lästige Schuppen. Ein Teil der Schutztruppe war außer Gefecht gesetzt. Tote hatte es keine gegeben, dafür aber jede Menge Verletzte. Die wenigen Polizisten, die noch halbwegs unversehrt waren, griffen fast auto matisch erneut zu den Waffen, um dem Koloß ein für allemal den Garaus zu machen. Aber er war nicht mehr da. Fortgerannt konnte er nicht sein, das hätten die Männer gemerkt. Also versteckte er sich. Aber wo? Als plötzlich der Polizeischweber in Bewegung geriet, beantwortete sich diese Frage von selbst. Wie von Geisterhand hob sich das Heck in die Höhe, und die Bugspitze bohrte sich in den Lokalfußboden. Für einen Augenblick stand der Schweber senkrecht, dann schlug er nach vornüber und landete mitten in der Truppe. Dreck wirbelte auf. Inmitten der Staubwolke sah man den Grün häutigen stehen, der den Schweber mit seinen gewaltigen Kräften hochgehoben und umgestoßen hatte. Wie durch ein Wunder gab es auch weiterhin keine Toten. Die gut ausgebildeten Polizisten, die immer dann gerufen wurden, wenn ihre Kollegen überfordert waren, hatten ihre verletzten Kameraden rechtzeitig aus dem Gefahrenbereich gezogen. Ein gleichmäßiges, allmählich verschwindendes Wummern deutete darauf hin, daß der Gigantische mit großen Schritten das Weite suchte. Die Verfolgung war vermutlich aussichtslos. Während einer der Beamten die Zentrale vom wenig ruhmreichen Ausgang des Einsatzes unterrichtete, schaute sich ein junger Polizist den Trümmerhaufen an, der noch vor kurzen ein Schnellrestaurant war. Die Bedienung mit der tätowierten Glatze saß perplex in einer Ecke und hatte noch gar nicht so richtig begriffen, was geschehen war. Von ihrem Standort aus konnte man durch die zersplitterte Tür nach draußen sehen. »Haben Sie etwas beobachtet?« fragte sie der Polizist. »Sahen Sie den
Täter weglaufen? In welche Richtung entfernte er sich? Hat er irgendwas Wertvolles mitgehen lassen?« Es war sein erster Einsatz bei der Elitetruppe, und er wollte nichts falsch machen. Bei der Ausbildung hatte man ihm beigebracht, sich auch in Krisensituationen immer aufs Wesentlichste zu konzentrieren. Verwischte Spuren und Gedächtnislücken bei den Zeugen ließen sich später nur unter Schwierigkeiten wieder rekonstruieren. »Soweit ich das überblicke, hat er lediglich etwas völlig Wertloses mitgenommen«, antwortete die Frau tonlos, »nämlich diesen Typen, der ihn angeschleppt hat. Der Große hat ihn sich einfach unter den Arm geklemmt und ist mit ihm weggerannt.« »Hatten Sie den Eindruck, daß der Mann freiwillig mitgegangen ist?« »Ich glaube nicht. Der arme Kerl sah aus wie eine zappelnde Bockwurst. Wahrscheinlich verschlingt ihn sein grüner Freund zum Nachtisch. Meinen Segen hat er. Wohl bekomm's!« Gordon Savage vom 63. Revier hatte sich weder selbst an dem Einsatz im Schnellrestaurant beteiligt, noch hatte er Männer dafür abgestellt. Die Jagd auf den grünen Hünen war von einer Elitetruppe durchgeführt worden. Dennoch war Savage derzeit einer der gefragtesten Männer bei der Polizei. Immerhin war es sein Revier, auf dem die erste Meldung über den »Hulk« eingegangen war. Zu seinem Pech hatte er Buscetta nicht ernstgenommen. Der Polizeipräsident höchstpersönlich erteilte ihm deswegen übers Vi-pho eine Rüge und drohte ihm eine Strafversetzung an. Der Revierleiter nahm's gelassen hin - er fühlte sich mit dem Dreiund-sechzigsten schon bestraft genug. Jede Versetzung wäre eine Verbesserung. Theoretisch hätte Savage Frank Buscettas Besuch einfach unter den Tisch kehren können, wie Sergeant Baxter es ihm in einem Vieraugengespräch angeraten hatte. Doch er war zu sehr Polizist, als daß er sich darauf eingelassen hätte. Kaum hatte er Kenntnis von den Vorfällen im nahegelegenen Schnellrestaurant bekommen, hatte er sich mit der nächsthöheren Dienststelle in Verbindung gesetzt und um Unterstützung gebeten. Bei diesem Gespräch hatte er seinen Fehler von vornherein offen zugegeben. Nach der Flucht des Giganten rätselte man, ob Frank nun Opfer oder Komplize war. Sechs Polizisten lauerten seither in Brooklyn auf seine Heimkehr. Verdeckt natürlich. Der Säufer auf der Bank gegenüber, das knutschende Pärchen am Gartenzaun, der gemütliche
Spaziergänger im Trachtenlook, die dralle Blondine mit der Schweberpanne, die Großmutter mit Kinderwagen - alles getarnte Beamte. Nur die beiden wichtigsten Mitglieder fehlten noch im Klub: Frank Salvatore Buscetta und sein Grünling. Um die Mittagszeit herum näherte sich ein Lastenschweber, besetzt mit zwei Personen. Im Führerhaus saß eine massige Gestalt neben einer hageren. Die Polizisten in Zivil gaben sich unauffällig Zeichen. »Hier stimmt etwas nicht«, sagte Jamie Savannah zu ihrem Begleiter aus Metall. »Ich habe ein ungutes Gefühl. Wahrscheinlich ist hier irgendwo am Straßenrand ein Geschwindigkeitsmeßgerät versteckt, dafür habe ich ein Gespür. Diese heimtückischen Dinger melden jede Übertretung sofort an das für meine Adresse zuständige Polizeirevier. Beim letzten mal fand ich bei meiner Heimkehr gleich zwei Protokolle. Zu viele davon könnten mich die Fahrerlaubnis und meine Konzession kosten. Besser, ich fahre streng nach Vorschrift.« »Das tust du doch immer«, entgegnete der Roboter. »Ich kenne niemanden, der so gemütlich über die Straßen zuckelt wie du. Die Erfinderin des Begriffs >Tempo< bist du ganz sicher nicht.« Jamie stoppte ihren Laster. Er war leer, die Ladung hatte sie mittlerweile zur vollsten Zufriedenheit ihres Kunden abgeliefert. Im Bordradio liefen gerade die Mittagsnachrichten. Der dünne Mörder aus Phoenix hatte sich der Polizei gestellt. Jamie Savannah stieg vor dem Haus ihres Neffen aus. Auch Artus verließ das Fahrzeug. Beide staunten nicht schlecht, als sie plötzlich von harmlos er scheinenden Bürgern eingekreist wurden, die Paraschocker in ihren Händen hielten. Artus hätte alle sechs mit Leichtigkeit außer Gefecht setzen können, doch er wollte zunächst abwarten, wie sich das ganze weiterentwickelte. Er sah die Bedrohung, ohne sich jedoch wirklich bedroht zu fühlen. Der »Säufer«, der den Einsatz leitete, musterte Jamie von Kopf bis Fuß. »Ehrlich gesagt, ich habe mir das Monster ganz anders vorgestellt. Es ist überhaupt nicht grün im Gesicht.« »Was würdest du davon halten, wenn dir das Monster langsam die Kehle zudrückt?« erwiderte die Fernfahrerin erbost. »Blau ist schließlich auch eine hübsche Gesichtsfarbe.« »Es ist wohl besser, wir fordern keine Verstärkung an«, meinte die »Großmutter«, setzte ihre Perücke ab und warf sie in den Kin
derwagen - zu ihrer »Enkelin« Mi-Ra (Mini-Raketenwerfer). »Ich denke auch, es ist nicht nötig, wegen der zwei harmlosen Figuren gleich die Alarmglocken zu läuten«, pflichtete ihr der »Spaziergänger« bei. »Man schießt nicht mit Kanonen auf Spatzen.« »Das würde uns auch schlecht bekommen«, erwiderte die »Oma«. »Hast du dir die Stirn des Blechmanns mal genauer ange sehen? Das ist der weltberühmte Artus. Er soll auf dem Mars im Alleingang eine Armee von zwölftausend Kampfrobotern in ihre Einzelteile zerlegt haben.« »Jedesmal, wenn ich die Geschichte höre, sind es ein paar Tausend mehr«, bemerkte Jamie Savannah und schaute ihren Freund grinsend an. »Wie viele waren es denn nun wirklich?« »II 999«, antwortete Artus bierernst. »Einen habe ich überseien, er saß gerade auf dem Klo.« Artus, mein Bester, das hast du wieder einmal perfekt hinbekommen! Zugegeben, ich neigte manchmal dazu, mich selbst zu loben. Aber das machte nichts, es hörte ja außer mir keiner zu. Savannahs Neffen zu finden war eine meiner leichtesten Aufgaben, so etwas erledigte ich fast im Schlaf. Über den Suprasensor der 63. Wache vernetzte ich mich mit sämtlichen Rechnern der Stadt. Mittels einer Überwachungskamera machte ich problemlos den Aufenthaltsort von Buscetta und seinem »großen grünen Männchen« ausfindig. Ohne den Giganten an seiner Seite hätte ich Buscetta gar nicht erkannt. Zwar hatte mir seine Tante Fotos von ihm gezeigt, doch darauf trug er langes Haar und einen wild wuchernden Bart. Beides hatte er inzwischen geschoren. Lag wahrscheinlich in der Familie. Bei meiner letzten Begegnung hatte Savannah wesentlich längeres Haar getragen - jetzt sah ihr Kopf aus wie das Stachelkleid eines Igels. Wie ein Entführungsopfer wirkte ihr Neffe auf mich nicht. Vielmehr kümmerte er sich rührend um seinen grünhäutigen Begleiter, der trotz seiner Muskelberge einen bemitleidenswerten Eindruck auf mich machte. Offensichtlich ging es ihm bescheiden. Savannah und ich hielten uns im Büro des Revierleiters Savage auf, zusammen mit Bück Gassus, dem Befehlshaber jener Elitetruppe, die in der New Bronx vergebens versucht hatte, den Grünen außer Gefecht zu setzen. Man hatte meine Freundin und mich inzwischen ausführlich über die »Zerlegung« des Schnellrestaurants und den fatalen Ausgang des Einsatzes informiert.
»Die beiden befinden sich auf einem stillgelegten Fabrikgelände«, informierte ich die Anwesenden, ohne genaue Ortsangabe. »Der Besitzer hat dort von einem privaten Wachdienst versteckte Überwachungskameras installieren lassen, vermutlich, um Wanda lismus vorzubeugen.« »Ich werde das Gelände von meinen Männern umstellen lassen«, kündigte Gassus an. »Im Lokal hatte ich nur einen Teil meiner Truppe eingesetzt. Diesmal feuern wir aus allen Rohren!« Damit war ich ganz und gar nicht einverstanden. »Bevor ich euch hinführe, müßt ihr mir euer Ehrenwort geben, daß ihr mich die Sache regeln laßt«, sagte ich zu den beiden Polizeibeamten. »Erst wenn sich herausstellt, daß ich nicht allein mit dem Grünen fertigwerde, greift ihr ein. Tödliche Gewalt darf dabei jedoch nicht angewendet werden.« »Wie stellst du dir das vor?« knurrte Bück Gassus. »Die grüne Bestie ist brandgefährlich. Wenn wir gezwungen sind, werden wir ihn töten, und für Buscetta gilt dasselbe.« »Von meinem Neffen droht euch keine Gefahr«, versicherte Savannah ihm. »Frank ist ein Warmduscher, kein Staatsfeind.« »Ist Ihre Truppe ausschließlich mit schweren Waffen ausgerüstet?« wandte sich Gordon Savage an Gassus. »Was denn sonst?« fragte der Einsatzleiter unfreundlich zurück. »Wir sind eine Eliteeinheit, die immer dann alarmiert wird, wenn andere mit der Situation überfordert sind. Glauben Sie, wir greifen ein Monster von diesen gewaltigen Ausmaßen mit Wasserpistolen an?« »Von einer Eliteeinheit erwarte ich, daß sie mit den modernsten Defensivwaffen ausgestattet ist«, konterte der Revierleiter. »Ein Fesselfeld würde vollends genügen, um den Hünen in seine Schranken zu verweisen.« »Viel zu umständlich«, erwiderte Gassus. »Es würde uns niemals gelingen, die unförmigen Geräte, die zum Aurbau des Feldes benötigt werden, nahe genug an den Grünen heranzubringen. Noch bevor wir sie einschalten könnten, hätte er sie mit der bloßen Faust zermalmt.« Ein uniformierter Polizeisergeant betrat den Raum. Er stellte sich uns kurz als Ned Baxter vor und flüsterte dann Savage etwas ins Ohr. Der Revierleiter schien regelrecht erleichtert zu sein, so als ob er die ganze Zeit über auf eine bestimmte Nachricht gewartet hätte. Was ich erst später erfuhr: Baxter hatte in Polizeikreisen den Spitznamen »Organisator«. Angeblich gab es nichts auf der Welt, was
er nicht beschaffen konnte. Allerdings durfte man ihn nie fragen, wie
er das gemacht hatte und woher die Sachen stammten.
Savage lehnte sich entspannt auf seinem Stuhl zurück.
»Schon mal was von tragbaren Fesselfeldgeneratoren gehört?« fragte
er Gassus gedehnt. »Um die Jahreswende herum wurde eine ganz
neue Generation entwickelt. Man kann sie bequem und unauffällig am
Gürtel tragen.«
Bück Gassus nickte. »Diese Erfindung ist noch verhältnismäßig neu
am Markt. Ich habe bereits eine ansehnliche Anzahl für meine Truppe
beantragt, doch bis der Antrag genehmigt und die Auslieferung erfolgt
ist, müssen wir uns mit der Ausrüstung begnügen, über die wir
verfügen. Sie wissen ja sicherlich, wie langsam bei den Behörden
gearbeitet wird, vor allem dann, wenn Kostenentscheidungen
getroffen werden müssen.«
»Es heißt, einige besonders wichtige Eliteeinheiten wurden bereits mit
den neuen Geräten ausgerüstet«, streute Savage genüßlich Salz in die
Wunden des Truppleiters.
Gassus zuckte mit den Schultern. »Kann schon sein. Dann gehören
meine Leute und ich eben nicht zu den Privilegierten. Trotzdem sind
wir immer noch besser ausgerüstet als Ihr popeliges, mitten im
Schmuddelviertel angesiedeltes Revier.«
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»Soll das heißen, Sie verzichten darauf, sich einen unserer neuartigen,
tragbaren Fesselfeldwerfer auszuleihen?« entgegnete S avage
schmunzelnd. »Zu schade, aber ich möchte Ihnen nichts aufnötigen.«
Bück Gassus schluckte gleich zweimal. »Wie bitte? Wollen Sie mich
verarschen? Wie viele von den Dingern haben Sie?«
Savage blickte Baxter an.
»Drei«, antwortete der Sergeant anstelle seines Vorgesetzten. »So
viele braucht man, um ein wirklich stabiles Energiegefängnis zu
erstellen.«
»Sind beschlagnahmt«, entschied Gassus. »Wo sind sie?«
Baxter griente ihn frech an. »Habe ich vergessen. Ja, ja, man wird
alt.«
»Ich sorge dafür, daß Sie vom Dienst suspendiert werden!« schimpfte
Gassus und schaute abwechselnd von Baxter zu Savage. »Beide!«
»Mit welcher Begründung?« fragte Baxter mit Unschuldsmiene.
»Versagen von Amtshilfe.«
»Mit unserer Unterstützung können Sie jederzeit rechnen«, sicherte ihm Savage zu. »Baxter und ich werden Sie persönlich begleiten, ausgestattet mit den tragbaren Geräten. Das dritte bekommt Artus, für den Fall, daß der Grüne nicht mit sich reden läßt.« »Abgelehnt!« erwiderte der Truppleiter. »Ich brauche nur die Geräte, keine zusätzlichen Mitarbeiter. Mir stehen genügend bewaffnete, gut ausgebildete Leute für die Gefangennahme des Monsters zur Verfügung und...« »Ursprünglich waren es weitaus mehr«, fiel ich ihm ins Wort. »Leider hat die erste Truppe, die du losgeschickt hast, nichts ausrichten können, Gassus, und den anderen wird es vermutlich genauso ergehen. Darum sollten wir es zunächst mit meiner Methode versuchen. Ich schlage vor, Savage stellt dir das dritte Gerät zur Verfügung, denn ich benötige keines. Sollte es mir nicht gelingen, den Koloß zu besänftigen, schleicht ihr euch von drei Seiten an ihn 'heran und baut um ihn herum ein Fesselfeld auf.« Ich hatte es mir angewöhnt, meine Gesprächspartner mit einem vertraulichen Du und beim Nachnamen anzureden. Das verlieh mir irgendwie eine persönliche Note. Unterschiede machte ich keine, ganz gleich, ob ich mit einem Bettler oder dem Commander der Planeten redete. In meinen Augen waren alle Menschen gleich wichtig - auch wenn sich einige überhebliche Zeitgenossen für wichtiger als andere hielten. »Und was ist mit meiner Truppe?« entgegnete Gassus gereizt. ' »Die Jungs stehen in Alarmbereitschaft. Soll ich sie in Urlaub schicken?« »Deine Leute ziehen einen weiten Ring um die Fabrik, damit der Grüne nicht entwischen kann. Solange er keinen Durchbruchsversuch unternimmt, darf keiner auf ihn schießen, darauf gibst du mir hier und jetzt dein Wort.« »Und auf Frank darf schon gar keiner schießen«, warf Savannah ein. »Wehe, er bekommt auch nur einen Kratzer ab!« »Ich an deiner Stelle würde mich nicht mit ihr anlegen«, sagte ich zu Gassus und hielt ihm meine ausgestreckte Hand hin. »Schlag lieber ein.« Gassus ließ Dampf ab und nahm meine Hand. »Also gut, ich bin mit allem einverstanden. Ihr habt mein Ehrenwort.« Es war Nachmittag, als wir am Eingang zur stillgelegten Fabrik zu
viert aus dem Schweber stiegen - Gordon Savage, Ned Baxter, Bück
Gassus und ich. Jamie Savannah hatten wir aus Sicherheitsgründen
auf dem Revier zurückgelassen, gegen ihren ausdrücklichen Protest.
Am niedergewalzten Tor hatten sich mehrere Mitarbeiter des
Unternehmens versammelt, das für die Kameraüberwachung des
Geländes zuständig war. Die Männer wußten nicht so recht, wie sie
sich verhalten sollten. Man bezahlte sie dafür, Randalierer zu
vertreiben. Von grünen Monstren war in ihren Verträgen offenbar
keine Rede.
Savage schickte sie heim. Dagegen hatten sie nichts einzuwenden, sie
schienen sogar erleichtert zu sein.
Gemäß unserer Vereinbarung betrat ich das Gelände zunächst allein.
Meine drei Begleiter würden mir nach kurzer Zeit folgen, aber außer
Sichtweite bleiben.
Ich wußte, wo ich als erstes suchen mußte. Buscetta und sein
grünschimmeliger Freund hatten sich zuletzt in einer Gasse zwischen
einer der Werkshallen und dem langgestreckten Verwaltungsgebäude
aufgehalten. Es war allerdings nicht auszuschließen, daß sie sich
inzwischen nach drinnen zurückgezogen hatten, wegen der
Januarkälte und weil es allmählich anfing, zu dämmern.
Ein eisiger Wind pfiff um die Häuser und trug eine heisere Stimme zu
mir herüber. Ich richtete meine akustischen Sensoren darauf aus.
»Huuunnngggeeerrr!«
Immer wieder wurde dieses eine Wort wiederholt. Es klang nicht
fordernd, eher flehend. Die Kreatur, die es fortwährend ausstieß,
schien starke Schmerzen zu haben.
Schmerzen - und entsetzlichen Hunger.
Hunger, der nicht auf normale Weise gestillt werden konnte. Dieses
bedauernswerte Wesen war mit quälendem Hunger geboren worden
und würde ihn wahrscheinlich erst verlieren, wenn es tot war.
Der Tod kann auch Erlosung sein. Vor einiger Zeit war ich durch Zufall auf diese einprägsame Zeile gestoßen. Jemand hatte die sechs Worte in eine Grabstelle eingemeißelt. Erst jetzt verstand ich sie wirklich. Noch zog ich jede andere Lösung der Er-Lösung des Gequälten vor. Bevor nicht alles Robotermögliche versucht worden war, durfte ich ihn nicht seinem Schicksal überlassen oder womöglich selbst Schicksal spielen. Ich hatte die Gasse noch nicht ganz erreicht, da erblickte ich
Frank Buscetta. Er sah mich ebenfalls und zog sich mit erschrok-kener Miene gleich wieder zwischen die Häuser zurück. Wahrscheinlich hielt er mich für einen Polizeikampfroboter. Wozu, zum Kuckuck, trug ich eigentlich mein Stirnband!? Würden die Menschen ihr Umfeld nicht immer nur oberflächlich betrachten, bliebe mir so manches Mißverständnis erspart. Ich nahm an, daß Frank seinen Freund warnen und mit ihm die Flucht ergreifen würde - zur anderen Seite der Gasse hinaus. Doch das Gegenteil war der Fall. Das riesenhafte Untier ging in die Offensive. Kaum hatte ich einen Metallfuß in die Gasse gesetzt, wurde es finster um mich herum. Wie ein wütendes Nashorn raste der Koloß auf mich zu und stürzte sich mit einem gewaltigen Sprung auf mich. Sein massiger Körper begrub mich vollständig unter sich. Ich lag auf dem Rücken und fühlte mich, als wäre ich unter einen Schwall grüne Bohnensuppe geraten. Ein riesengroßer Topf voll - mit einem mächtigen Fleischklops darin. 14. Das war's! Eben noch fühlt man sich stark und unbesiegbar, und von einem Augenblick auf den nächsten muß man erkennen, daß es immer einen gibt, der stärker ist als man selbst. Sicherlich eine überraschende Erfahrung... ... für ein Monstrum von der Größe des Grünen. Er war groß! Er war kräftig! Er war kolossal! Aber er war nicht unbesiegbar. Das Gewicht des Giganten war enorm. Jeder seiner Schritte ließ den Boden erzittern. Und trotzdem... Hätte sein Gewicht tatsächlich seinen gewaltigen Ausmaßen ent sprochen, hätte er sehr viel schwerer sein müssen. In diesem Fall hätte nur ein leichtes Aufstampfen seines breiten Fußes für einen Erdriß quer durch das ganze Stadtviertel ausgereicht. Wie ein Kamikazeflieger hatte sich der Hüne auf mich fallen lassen, und theoretisch hätte er mich zu einem Blechteller zusammendrücken können. Zwar fühlte ich mich wie das, was sich zwischen Amboß und Schmiedehammer befand, doch platt war ich höchstens vor Staunen. Ein tonnenschweres grünes Etwas war auf mich herabgeplumpst,
ohne daß mein Metallkörper nennenswerte Beschädigungen aufwies. Dazu fiel mir nur eines ein: mehr Schein als Sein. Die linke Handfläche drückte ich gegen die muskelübersäte Brust des Giganten, die Finger meiner rechten Hand verkrallten sich in seinem fleischigen Bauch. Dann streckte ich langsam die Arme nach oben. Schade, daß gerade kein Kameramann anwesend war. Von der Seite her hätte man ein paar phantastische Aufnahmen von mir und dem Grünen machen können. Ein auf dem Rücken liegender Roboter, der ein gigantisches Monstrum in die Höhe stemmt - das ideale Titelbild für jedes Sensationsblatt. 286 Doch mit Sicherheit würde niemand über meine sagenhafte Leistung berichten. Bück Gassus' Truppe gab gut acht, daß sich kein Journalist ins Sperrgebiet verirrte. Ich zog meine Knie an und bugsierte meine Fußflächen in den Bereich zwischen Monsterbrust und Monsterbauch. Jeder Jogi wäre bei diesem Anblick vor Neid erblaßt. Anschließend ließ ich beide Beine vorschnellen. Wie von einer riesigen Sprungfeder abgeschossen erhob sich der mächtig gewaltige Kampfkoloß mindestens zwei Meter in die Luft. Reflexartig griff er nach irgendwas, an dem er sich festhalten konnte. Wie hätte ich ahnen können, daß seine fette grüne Pranke ausge rechnet mein Handgelenk umklammem würde? Mit einem massiven Ruck wurde mir die linke Extremität komplett aus dem Schultergelenk gerissen. Der Gigant hatte sich daran festgehalten, als ginge es um sein Leben - alles übrige hatte der durch mich verursachte Schwung besorgt, sprich: Ich hatte tatkräftig dabei mitgeholfen, mir den linken Arm auszureißen. Was für eine Glanzleistung! Diesmal hatte ich keinen Anlaß, mich selbst zu loben. Der Hüne war gelenkiger als er aussah. Sicher landete er auf den Füßen. Kein Wunder, sie waren ja groß genug. Auch ich kam wieder auf die Beine. Meiner Aufforderung »Gib mir den Arm zurück!« kam der Koloß sofort nach. Er holte aus und warf den Metallarm mit voller Wucht in meine Richtung. Ich wich keinen Millimeter zurück. Nur den Oberkörper bewegte ich, damit ich meinen linken Arm mit meiner rechten Hand auffangen konnte.
... meinen linken Arm mit meiner rechten Hand auffangen... Hätte ich diesen seltsamen Satz in einer Zeitung gelesen, ich hätte ihn für einen Druckfehler gehalten. Fehlte nur noch die Unterzeile: Ich behandelte den Arm so sorgsam, als war's ein Teil von mir. Mit derlei Spitzfindigkeiten hatte ich schon so manchen Ge sprächspartner fast in den Wahnsinn getrieben. Leider war jedwede verbale Verständigung mit dem zornigen Giganten unmöglich. »Hunger!« war das einzige Wort das er beherrschte - ein bißchen wenig für eine halbwegs intelligente Diskussion. Vergebens redete Buscetta beschwichtigend auf seinen tobenden Freund ein. Der Grüne schob ihn sanft, aber bestimmt beiseite und suchte nach weiteren Gegenständen zum Werfen. Am Eingang zur Gasse lagen zahlreiche große Steine am Boden; er bückte sich danach. Ich warf mich mit dem Arm unter dem Arm hinter einer Bodenmulde in Deckung. Ein wahrer Hagel von Steingranaten schoß über mich hinweg. Glücklicherweise wurde die Treffsicherheit des Monstrums durch seinen unbändigen Zorn beeinträchtigt. Allmählich packte auch mich die Wut. Ich hatte dem Grünen keinen Grund zur Feindseligkeit gegeben, aber wenn er unbedingt wollte... Das war einer der Augenblicke, in denen ich voller Entsetzen feststellte, wie ähnlich ich den Menschen doch war. Anstatt die Si tuation entspannt und emotionslos zu analysieren, wie es jeder andere Roboter getan hätte, ließ ich mich von den fortwährenden Attacken provozieren. Ich war nun einmal nicht wie jeder andere Roboter. Und ich war auch kein Cyborg, der unerwünschte Emotionen in den Griff bekam, indem er aufs Zweite System umschaltete. Ich war ich - und ich hatte genauso ein Recht darauf, wütend zu werden, wie mein außergewöhnlicher Gegner. Vielleicht gelang es mir, ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Der Steinhagel hatte abrupt aufgehört. Wahrscheinlich suchte mein Widersacher nach frischer Munition. Ich nutzte die Gunst der Sekunde, sprang aus dem »Schützengraben« und sammelte zwei, drei Steine auf. Die Rache des Einarmigen würde furchtbar sein! Der Hüne hatte jedoch Besseres zu tun, als sich mit mir zu beschäftigen. Drei neue Gegner hatten ihn eingekreist. Drei Fingerkuppen strichen sanft über drei Sensorschalter. Drei Sekunden
brauchte das Fesselfeld, um sich aufzubauen. Drei sich ineinander verhakende schwebende Ringe hüllten den Grünen ein und erschufen um ihn herum ein eigenes Kontinuum. Und dreimal verspürte ich einen merkwürdigen Impuls. Eins meiner vierundzwanzig Programmgehirne meldete sich. Es kam zu keinem wirklichen Funkkontakt, lediglich zu einer Art Rückkopplungseffekt, den ich mir zunächst nicht erklären konnte... ... bis mir plötzlich die Erleuchtung kam! (So hätte es wohl mein Freund Ezbal ausgedrückt, von dem ich ständig dazulemte.) Wie heftig er auch mit den Fäusten um sich schlug, es gelang dem Grünen nicht, aus dem Fesselfeld zu entkommen. Dafür hätte er die Energiewand, die ihn umhüllte, treffen müssen. Das war jedoch unmöglich. Die Wand zuckte vor jeder seiner Berührungen zurück wie eine unnahbare Jungfrau. »Zu schade, ich lief gerade so richtig zur Hochform auf«, behauptete ich, war aber insgeheim froh, nicht mehr gegen den Koloß zu Felde ziehen zu müssen. Nach allem, was ich soeben über ihn erfahren hatte, brachte ich es nicht fertig, ihm weh zu tun. Möglicherweise war er mein Vater. Savage und Baxter konnten ihre tragbaren Fesselfelderzeuger ausschalten. Zum Aufbau des Feldes wurden drei Geräte benötigt - für die Aufrechterhaltung genügte eines. Gassus bestimmte von nun an die Richtung, in die sich der Gigant bewegte. Ich sammelte meinen Arm auf, den ich in der Erdmulde abgelegt hatte, und folgte den beiden. Baxter und Savage gingen hinter uns her. Buscetta hatten sie in die Mitte genommen. Wie ein gehorsames Hündchen trottete er mit, weshalb Handschellen nicht nötig waren. Auf der Polizeiwache setzte ich mich von einem Nebenraum aus mit Ezbal in Verbindung. Ohne daß jemand mithören konnte, schilderte ich ihm, was ich in Erfahrung gebracht hatte. »Und du bist ganz sicher, daß der dreimalige Impuls nicht aus schließlich durch den Aufbau des Fesselfelds ausgelöst wurde?« fragte er mich, nachdem ich geendet hatte. »Möglicherweise wurde der Rückkopplungseffekt durch die neuen tragbaren Geräte noch verstärkt«, entgegnete ich. »Aber der ungewöhnliche Impuls ging garantiert nicht von ihnen aus. Ich habe
ein Cyborg-Programmgehirn erfühlt, da bin ich mir hundertprozentig sicher. Weder Savage noch Baxter sind Cyborgs, und Gassus mit Sicherheit ebenfalls nicht. Bleibt also nur noch der Grüne übrig.« »Und welcher meiner Jungs ist es?« »Ich konnte seine wahre Identität bisher nicht ermitteln und kenne auch nicht den Grund für seine Verwandlung. Kannst du ihn heilen, Ezbal?« »Ich weiß es nicht, Artus, wirklich nicht. Möglicherweise haben wir alle viel zu leichtsinnig mit dem Feuer gespielt - und jetzt kommen die Cyborgs darin um.« Derweil unterzog Savage Buscetta einem Verhör. Savannah durfte zunächst mit dabeibleiben, mischte sich aber ständig ein, so daß sie aus dem Zimmer geschickt wurde. Wir begegneten uns im Flur. Sie trank einen Kaffee. Ich war gerade damit beschäftigt, meinen verlorenen Arm mit einem geliehenen Schraubenzieher notdürftig an meinem Körper zu befestigen. Noch baumelte er lose an mir herab. »Tut's weh?« fragte sie mich besorgt. »Ein echter Indianer kennt keinen Schmerz«, zitierte ich eine Redewendung aus einem Winnetou-Roman. »Und ein echter Roboter schon gar nicht. Allerdings werde ich so bald wie möglich eine bessere Befestigung für meine Gliedmaßen konstruieren, damit sie nicht bei jedem winzigen Ruck...« In diesem Moment betrat eine Truppe bewaffneter Männer das Polizeirevier. Männer mit Sonderausweisen am Revers. Männer, die sich von niemandem aurhalten ließen. »Der Teufel soll Bück Gassus holen!« fluchte Savannah. »Er will Frank und den Grünen für sich.« Meine Freundin irrte sich. Die Männer, die das 63. Polizeirevier betraten, gehörten nicht zu Gassus' Elitetruppe. Es war ein New Yorker GSO-Kommando. Offensichtlich hatte Ezbal den Chef der Galaktischen Sicher heitsorganisation benachrichtigt, der sich daraufhin mit seiner New Yorker Niederlassung kurzgeschlossen hatte. Das Tempo, das die GSO bei ihren Aktionen an den Tag legte, faszinierte mich immer wieder aufs neue. Mein Gespräch mit Ezbal lag erst wenige Minuten zurück. Ausbremsung durch Bürokratie gab es in diesem Verein
offenbar nicht. Manieren leider auch nicht. Zwei Mann postierten sich links und rechts von mir und befahlen mir, mitzukommen. Obwohl Savannah nun wirklich nicht zu übersehen war, behandelte man sie, als wäre sie Luft. Hinter der Polizeistation lag ein Hof. Dort bewachten Gassus und mehrere Polizisten den im Fesselfeld befindlichen Grünen. Sie wurden angewiesen, ihn an die GSO zu übergeben. Baxters tragbare Geräte benötigten sie für die Übernahme nicht - die GSO-Leute hatten eigene dabei. Niemand hielt es für nötig, den Revierleiter von der »Entführung« zu benachrichtigen. Im Verhörzimmer vernahm Savage die Schritte von Kampfstiefeln auf dem Flur und kam nach draußen. Frank folgte ihm voller Neugier. Der GSO-Einsatzleiter hielt Savage ein Schriftstück unter die Nase, aus dem hervorging, daß er berechtigt war, mich und den Großen zum nächsten Transmitter und von dort aus ins Brana-Tal zubringen. »Ich möchte auch mit«, verlangte Frank. »Ich bin der einzige, dem der Grüne nichts tut. Er ist mir irgendwie ans Herz gewachsen, deshalb will ich nicht, daß ihm etwas zustößt.« »Wo mein Neffe hingeht, da gehe auch ich hin«, machte sich Savannah bemerkbar. »Ich bin nicht kilometerweit gefahren, um mich gleich wieder von ihm zu verabschieden.« »Wofür halten Sie das ganze hier?« zischte sie der Einsatzleiter an. »Für ein Familienkaffeekränzchen? Wir haben Befehl, das grüne Monstrum und den Roboter mitzunehmen - und sonst niemanden.« »Wenn Savannah und Buscetta nicht mitkommen, bleibe ich auch hier«, warf ich ein. Einer der beiden Männer, die mich in ihre Mitte genommen hatten, ergriff mich am linken Arm. »Das hast du nicht zu entscheiden!« herrschte er mich an. »Mach bloß keinen Streß, Kumpel«, erwiderte ich. »Hat man euch nicht darüber informiert, was passiert, wenn ich mich zu sehr aufrege? Dann falle ich auseinander.« Eine leichte Drehbewegung mit dem Körper genügte, schon löste sich mein notdürftig befestigter Metallarm aus der Verankerung. Der GSO-Mann starrte darauf, als hätte ich ihm eine Giftschlange in die Hand gedrückt. Den Arm einfach fallen zu lassen traute er sich nicht. »Seht ihr?« mimte ich den Erschrockenen. »Es geht schon los! Was
wird euer oberster Boß dazu sagen, wenn ihr mich in lauter
Einzelteilen im Brana-Tal abliefert?«
Wie gewohnt setzte ich meinen Willen durch.
Das meterlange Hybridwesen schrie. Es war ein stummer Schrei - ein Schrei, den man sehen, aber nicht hören konnte. Dennoch war es ein eindrucksvoller Schrei, der Eidschiro Mifune und den übrigen Männern vom Spezialein satzkommando, die sich nach und nach eingefunden hatten, durch Mark und Bein ging. Der biologische Bastard hatte den mit Haifischzähnen bewehrten Rachen in seinem Menschenkopf weit aufgerissen und schrie sich völlig lautlos die Seele aus dem Leib. Sein Schlangenkörper zuckte und vibrierte. Nicht vor Schmerz, sondern vor Wohlgefühl. Die gewaltigen Energien, die das Alptraumwesen voller Gier in sich aufnahm, hätten ausgereicht, um eine Elefantenherde mit einem Schlag auszulöschen. Es fraß den Starkstrom und die Kampfstrahlen regelrecht in sich hinein. Plötzlich war Schluß damit. Die Polizisten stellten das Blasterfeuer ein. Sie hatten erkannt, daß sie das Untier durch ihren Beschuß nur noch stärker machten. Gleichzeitig sorgte ein Kurzschluß in der Verteilerstation für einen Zusammenbruch der Stromzufuhr - in der gesamten zweiten Subebene. \. Jokohama, Kawasaki, Funabaschi und Tschiba bildeten weltweit eines der größten städtischen Siedlungsgebiete Terras. Ihr Zusam menwachsen war nur möglich geworden, weil sich in ihrer Mitte die mächtigste Stadt Japans befand: Tokio. Tokio - das Zentrum des größten industriellen japanischen Bal lungsgebietes. Tokio - wichtiger Handelsplatz mit vielbefahrenen Hafenanlagen. Tokio - eines der einflußreichsten Finanzzentren der Welt. Ein totaler Energieausfall in einer derart bedeutungsvollen, riesigen Stadt war kein Unglück. Es war eine Katastrophe! U-Bahnen und Züge standen still. Verkehrsleitsysteme und Ampeln schalteten sich ab. Büros und Kaufhäuser lagen im Dunkeln. Fahrstühle blieben zwischen hochgelegenen Stockwerken stecken. Antigravschächte fielen aus. (Zum Glück entfalteten sich die per
Federdruck aktivierten Rettungsnetze.) Lebenserhaltende Ret tungsmaßnahmen in Krankenhäusern waren nicht mehr möglich. Suprasensoren und sonstige Geräte hatten keinen »Saft« mehr... Von einer Minute auf die andere schien die Stadt in die Steinzeit versetzt worden und komplett von der Außenwelt abgeschnitten zu sein. Und wie auf ein geheimes Signal hin kamen die Ratten aus ihren Löchern! Keine putzigen grauen Vierbeiner, sondern zweibeinige Ratten. Lichtscheues Gesindel, das offenbar sein ganzes Leben damit ver bracht hatte, auf diesen einen einzigen Moment der Schwäche zu warten. Jetzt endlich konnten sie zubeißen, dort, wo es Tokio und seinen Bürgern am meisten wehtat. Plünderung, Raubmord, Vergewaltigung... Unter der Erde bekam man von alledem nichts mit. Die zu frischen Kräften gekommene Schlangenbestie war auf die dritte Subebene zurückgekehrt und machte gnadenlos Hatz auf die Polizisten der Sondereinsatztruppe. Mit glühenden Augen verfolgte sie die Männer durch die Kanalisation. Zu den ersten Opfern zählten die, die stehenblieben und hektisch versuchten, ihr im Anzug befindliches Antischwerkraftmodul zu aktivieren. Noch bevor sie abheben konnten, hatten sie ihren letzten Atemzug getan. Aber es erwischte auch diejenigen, denen der Start gelang. Bei der Flucht durch unbeleuchtete Tunnel half einem die Aufhebung der Schwerkraft nur wenig. Schon gar nicht, wenn der Verfolger ein phantomschnelles Schlangenungeheuer war, das mit tödlicher Lautlosigkeit an den Wänden und unter der Decke entlanggleiten konnte. Ein Polizist schwebte direkt in den weit aufgerissenen Schlund des Untiers hinein. Das Schlangenmonster verschlang seine Opfer nicht - es biß sie tot, spie die blutigen Überreste aus und machte dann Hatz auf den nächsten Fliehenden. Jedem Todesschrei ging ein bedrohliches Fauchen voran, sozusagen das Angriffssignal des Ungeheuers. Wer es in seiner Nähe hörte, war schon so gut wie entseelt. Um ihre Überlebenschance zu erhöhen, verteilten sich die Polizisten wahllos in den weitverzweigten Gängen. Außerdem schalteten sie ihre Handlampen aus.
Die Bestie konnte nicht jeden verfolgen. Sie traf eine Entscheidung. Warum gerade ich? fragte sich Eidschiro Mifune, der in einen Nebentunnel abgebogen war und sich schon gerettet geglaubt hatte. Warum hat sie keinen der anderen ausgewählt? Und plötzlich wußte er es. Einmal hatte ihn die Schlangenbestie verschont. Anstatt ihm mit ihren diamantenartig funkelnden Zähnen den Kopf vom Leib zu reißen, hatte sie sich durch den Beton gefressen, hinauf zur Ebene Nummer zwo, wo sich die Hochspannungskabel befanden. Den finalen Todesbiß hatte sie nur aufgeschoben. Jetzt würde sie das Versäumte nachholen. Kopflos rannte Mifune weiter, mitten hinein in die Dunkelheit. Das letzte, was er in seinem Leben hörte, war das furchteinflößende Fauchen des Scheusals... Das Ungetüm war noch nicht zufrieden. Es wollte mehr. Mehr Energie. Energie, die es hier unten nicht gab. Mit seinen riesigen Haifischzähnen fraß es sich durch die beiden darüberliegenden Ebenen. Und dann brach das Unheil über Tokio herein. Eine Megakatastrophe, die den Stromausfall bei weitem übertraf. Seit Godzilla hatten die Japaner keinem mächtigeren Feind gegenübergestanden. Und Godzilla hatte nur in den Kinos getobt... Nach wie vor war die Weltregion Indien noch vor China der volkreichste Landstrich der Erde - und noch immer stellte das Be völkerungswachstum eines der größten Probleme dar. Zwar war es der Weltregierung in den vergangenen Jahren gelungen, die Armut in einigen indischen Gebieten einzudämmen, doch bis zur völligen Beseitigung der Mißstände war es noch ein weiter Weg. Erfolge, die schon vor der Giant-Invasion hatten erzielt werden können, waren durch die großßächige Zerstörung der Erde wieder zunichtegemacht worden. Man hatte ganz von vom anfangen müssen. Zu früheren Zeiten hatte es in Indien eine soziale Absicherung nur für Staatsbeamte gegeben, und für eine fundierte berufliche Aus- und Weiterbildung hatte man (unter der Hand) nicht unerhebliche Summen hinblättern müssen. Aufgrund der Einflüsse der Regierung Dhark/Trawisheim hatte sich in diesen Bereichen seither einiges zum Positiven geändert, doch wer sein Dasein in Armut fristete, für den waren die Aufstiegschancen weiterhin gering. Ein Umdenken des
besser betuchten Teils der Bevölkerung war dringend vonnöten, und das wiederum erforderte mühselige politische Kleinarbeit. Auch in Patna - nicht weit von der nepalesischen Region entfernt lebten viele Stadtbewohner unterhalb des Existenzmini-mums. Am schlimmsten hatten es die Bewohner des nördlichen Stadtrands getroffen. »Verbrecherviertel« nannte man die langgestreckte Siedlung desolater Hütten, von denen nicht einmal jede zehnte aus solidem Stein bestand. Ein Großteil der Häuser besaß keine Fensterscheiben, so daß es bei jedem Unwetter durch sämtliche Ritzen pfiff. Wer nach hierhin abgeschoben wurde, weil er sich keine bessere Behausung leisten oder seine horrenden Mietschulden nicht mehr bezahlen konnte, gehörte fortan zu den Verlorenen. Dieses von der Welt vergessene Viertel verließ man nur noch liegend, mit den Füßen voran. Kein Wunder, daß es Diebe, Schläger und anderes Gesindel wie magisch anzog. Wo die Justiz das Handtuch geworfen hatte, konnten sich eigene Gesetze ungehindert ausbreiten. Gesetze des Schreckens. Das Faustrecht des Stärkeren. Wer hier überleben wollte, mußte sich den Gegebenheiten anpassen. Schutz vor gewalttätigen Übergriffen gab es nicht, es sei denn, man »erkaufte« ihn sich - durch Hurendienste oder Gefälligkeiten. Niemand schaute hier auf eine Frau herab, die ihren Körper einsetzte, um sich Vorteile zu verschaffen. Oder auf einen Mann, der sich erniedrigte, indem er für einen rabiaten Nachbarn den Laufburschen spielte und sonstige niedere Arbeiten verrichtete. Das gehörte zur täglichen Normalität. Sich an die Polizei zu wenden wäre einem Selbstmord gleichgekommen. Nur selten ließen sich die Justizbehörden im »Verbrecherviertel« blicken. Wurden Bewohner der Siedlung leblos aufgefunden, waren sie - laut Totenschein - immer eines natürlichen Todes gestorben. Für ungeklärte Begleitumstände erfanden die Ermittlungsbeamten notfalls haarsträubende Begründungen, denn kein Polizist verspürte Lust, ausgerechnet in diesem Teil der Stadt eine Morduntersuchung durchzuführen. Das hätte auch wenig Sinn gehabt. Selbst als die Todesrate im »Verbrecherviertel« innerhalb weniger Tage abrupt anstieg, kümmerten sich die zuständigen Ämter nicht darum. Man glaubte behördlicherseits an einen Bandenkrieg und hielt es für ratsamer, sich nicht einzumischen. Ganz im Gegenteil, die neue Entwicklung wurde sogar positiv gesehen. »Vielleicht fängt das Gesocks endlich an, sich gegenseitig aus
zurotten«, bemerkte der zuständige Polizeipräsident auf dem Weg zu einer Prominentenparty. »Zeit war's«, pflichtete ihm sein schmuckbehangenes Frauchen bei, das neben ihm im Schweber saß. »Man traut sich ja kaum noch auf die Straße.« Doch alles ließen die Armen nicht mit sich machen. Sie verlangten Schutz - nicht von der Polizei, sondern von denen unter ihnen, die sie laufend auf schäbigste Weise ausnutzten. Die Krisensitzung wurde im einzigen Gasthof der Siedlung ab gehalten, dem ständigen Treffpunkt der Verlorenen. Hier wurden regelmäßig Erörterungen durchgeführt und allgemeine, meist vom Alkohol geprägte Entscheidungen getroffen. Mitspracherecht hatte theoretisch jeder. In der Praxis waren es jedoch stets dieselben, die das Wort führten und das Sagen hatten. Der stämmige Wirt des Gasthofs - falls man das schäbige Loch, in dem er seine Kneipe betrieb, überhaupt so nennen konnte - war einer der ständigen Wortführer. »In der letzten Nacht ist der Dämon gleich in zwei Häuser ein gedrungen und hat die Bewohner auf bestialische Weise umgebracht!« hielt ihm eine alte Frau aufgebracht vor. »Wann unternehmt ihr endlich was dagegen?« »Hör mir doch auf mit der Dämonengeschichte!« erwiderte er barsch. »Mir ist das Biest noch nirgendwo begegnet.« Sofort meldeten sich etliche Einwohner zu Wort, die das fellbehaarte, mit Krallen bewehrte Ungeheuer mit eigenen Augen gesehen haben wollten. Die Schwächeren forderten lauthals von den Stärkeren, Sicherheit und Ordnung im Viertel wiederherzustellen, beziehungsweise das, was man hier unter Sicherheit und Ordnung verstand. Die Versammlung drohte auszuufem. Als die ersten Stühle zu Bruch gingen, ordnete der Wirt an, die Schankstube zu räumen. Die Protestierer beugten sich der Gewalt ihrer sogenannten Beschützer, machten ihnen aber klar, daß sie nicht eher Ruhe geben würden, bis das Problem vom Tisch war. Protest, Ungehorsam, Gegenwehr... mit dieser unüblichen Situation kam die »Fraktion der Starken« nicht klar. Die gewohnten Zustände mußten unbedingt wiederhergestellt werden, wollte man nicht alle Privilegien verlieren. Schon in der nächsten Nacht gingen sie auf Streife - die, die immer
nur genommen hatten, ohne zu geben. Die Bewaffnung reichte vom Knüppel übers Kampfmesser bis hin zum illegal beschafften Paraschocker, den man für Notfälle unter den Fußboden-brettem versteckt hatte. Keiner der Streifengänger hatte den vermeintlichen Dämon jemals zu Gesicht bekommen, deshalb glaubte auch niemand so richtig an ihn. Unlust breitete sich aus, verbunden mit Müdigkeit. War es wirklich nötig, um diese Unzeit draußen herumzulaufen? Wäre man nicht besser im Bett geblieben? Letztlich hielten sich die Männer mit Zigaretten und Schnaps bei Laune, so daß dieser erste Wachrundgang mehr einem fröhlichen Nachtausflug glich. Noch wurden Witze über die überängstlichen Anwohner und das angeblich schreckliche Aussehen des Untiers gerissen. Noch... Die New Yorker GSO-Truppe hatte nur einen kurzen Auftritt im Brana-Tal. Kaum waren Eylers' Männer mit Artus, Jamie Savan-nah, Frank Buscetta und dem Grünen eingetroffen, wurden sie auch schon wieder fortgeschickt. Der Azteke Ember To Yukan, der die Gruppe in Empfang nahm, machte sich nicht einmal die Mühe, ihnen für ihren raschen Einsatz zu danken, so aufgeregt war er beim Anblick des Giganten im Fesselfeld. »Du hattest recht, Artus«, sagte er auf dem Weg zum Labortrakt. »Der dreifache Impuls, den du empfangen hast, ging von einem Cyborg aus. Dieser grüne Koloß ist niemand geringerer als der ehemalige rätoromanische Landwirt Bram Sass.« »Wie kannst du dir deiner Sache so sicher sein, To Yukan?« fragte ihn der Roboter. »Ich erkenne die Jungs, die ich ausgebildet habe und mit denen ich tagtäglich trainiere«, erwiderte der Wissenschaftler. »Glaub mir, es ist Sass, der Ladiner, daran gibt es für mich nicht den geringsten Zweifel.« Also keiner meiner Väter, dachte Artus erleichtert. Als »Vater« betrachtete er nicht allein Echri Ezbal, sondern auch die vier Cyborgs, die sich seinerzeit maßgeblich an seiner »Erweckung« beteiligt hatten: Jan Burton, Ule Cindar sowie die Zwillingsbrüder George und Charly Snide.
Jamie und Frank hatten Mühe, Ember und Artus zu folgen. Man hatte sie am Transmitter noch ein Weilchen aufgehalten und ein Schriftstück unterschreiben lassen, daß sie in der Eile nur flüchtig überflogen hatten. Außerdem hatte man Buscettas noch nicht ab bezahlte Ringkamera konfisziert. Frank gähnte. Ungefähr gegen neunzehn Uhr war man in New York aufgebrochen und hatte die kürzeste Transmitterverbindung gewählt. Hier war es jetzt sechs Uhr morgens. Elf Stunden fehlten plötzlich der Schlaf einer ganzen Nacht. Jamie verkraftete das besser als er. Als Femfahrerin war sie extreme Arbeitszeitschwankungen gewohnt. Der Grüne alias Bram Sass mußte vorerst im Fesselfeld verbleiben. Mittlerweile hatte er sich bis zur Erschöpfung ausgetobt und hockte im Schneidersitz wie apathisch innerhalb der Ringe. Im Labor wurden Geräte aufgestellt, die es möglich machten, das Feld bei Bedarf zu deaktivieren und es im Notfall in einer Sekunde wieder aufzubauen. Echri Ezbal bereitete zwar eine starke Betäubungsinjektion vor, mußte aber damit rechnen, daß Sass in seinem jetzigen Zustand das Mittel wirkungslos absorbierte. Ember To Yukan übernahm es freiwillig, dem Hünen die Injektion zu verabreichen. Sass wehrte sich nicht dagegen. Er bewegte nur kurz den Kopf und schaute seinen Trainer mit verlorenem Blick an. Vielleicht erkannte er ihn, vielleicht war er aber auch nur zu schwach zum Aufbegehren. Artus, der dabei zusah, verspürte erneut einen Impuls, etwas schwächer als zuvor. »Mutiert?« Ezbal beantwortete die Frage To Yukans mit einem stummen Kopfnicken. »Es handelt sich um eine andere Art der Mutation als bei Car-rell«, kam ich To Yukans nächster Frage zuvor, »und es gibt auch keine Parallelen zu Alsops mutierten Viren. Wir haben es hier offensichtlich mit drei verschiedenen Fällen zu tun.« »Nein, nein und nochmals nein!« ereiferte sich Ezbal - was sehr ungewöhnlich für ihn war, denn normalerweise war er die Selbst beherrschung in Person. »Es muß eine Parallele geben! So was passiert nicht zufällig fast zeitgleich dreimal hintereinander. Und das
ist wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs. Sechsundvier-zig Cyborgs sind spurlos verschwunden. Um was wollen wir wetten, daß auch ihre Phant-Viren mutiert sind? Carrell hat ihre Schmerzimpulse empfangen, bevor sie das Brana-Tal fluchtartig verlassen haben.« Um was wollen wir wetten...? Noch Wochen nach meiner »Geburt« hatten mir derartige Floskeln schwer zu schaffen gemacht. Mittlerweile hatte ich jedoch begriffen, daß nicht jede spontane Wettaufforderung ernstgemeint war. Selbst in meinen kühnsten Phantasien konnte ich mir den hundertjährigen Brahmanen nicht beim Verhandeln mit einem Buchmacher vorstellen. Nachdem ich meinen linken Arm wieder vollständig befestigt hatte, hatte Ezbal mich beauftragt, dem bewußtlosen Sass die Virenprobe zu entnehmen. Ein komisches Gefühl hatte mich dabei befallen schließlich war es noch nicht lange her, daß ich selbst auf dem Labortisch gelegen hatte, zwecks diverser Experimente. Bei der späteren Untersuchung der Probe hatte ich Ezbal assistieren dürfen. Eine große Ehre, die nicht jedem zuteil wurde. Mein Schöpfer war bei der Auswahl seiner persönlichen Assistenten überaus pingelig. Meistens ließ er sich von den Cyborgs helfen, galten sie doch als unfehlbar. Bis heute. Jetzt sah alles danach aus, als müßte die Geschichte der Cyborg forschung völlig neu geschrieben werden. To Yukan, Ezbal und weitere wissenschaftliche Kapazitäten dis kutierten im kleinen Konferenzraum heftig über die Ursache der Mutationen, gelangten aber zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis. Ich hörte lediglich zu und beteiligte mich so gut wie gar nicht am Gespräch. Akademiker im Rederausch reagierten oftmals empfindlich, wenn sie von halbgebildeten Laien unterbrochen wurden. Dabei hatte ich die ganze Zeit über das Gefühl, daß die Lösung des Mutationsrätsels greifbar nahe war. Doch gerade das Nächstliegende wurde meistens übersehen. Es wurden weitere Untersuchungen und Nachforschungen betrieben. Man verglich Ergebnisse, holte Auskünfte ein, eröffnete die nächsten Gesprächsrunden... Bald stellte sich heraus, daß auch bisher noch nicht für Cyborgs eingesetzte Vorräte der Phant-Virenkulturen von Bittan Mutationen aufwiesen. Diese Erkenntnis wurde zum neuen Diskussionszündstoff. Ich half überall tatkräftig mit, war jedoch bei den Unterredungen stets
nur stiller Zuhörer. Zwischendrin schaute ich des öfteren nach Savannah und Buscetta, die sich auch ohne mich zu beschäftigen wußten. Im Brana-Tal gab es für sie jede Menge Interessantes zu entdecken -obwohl ihnen nicht überall der Zugang erlaubt wurde. Man hatte ihnen nebeneinanderliegende Apartments zugeteilt, mit einer Zwischentür, schließlich hatten sie sich lange nicht gesehen und sich jede Menge zu erzählen. Buscetta hänselte seine Tante manchmal wegen ihres Bürstenkopfes, in aller Freundschaft natürlich. Sie ließ sich das nicht gefallen und zog ihn wegen seines eigenen Kurzhaarschnitts und seines spitz zulaufenden Künstlerbärtchens am Kinn auf. Manchmal gingen die beiden getrennte Wege. Buscetta besuchte dann seinen grünen Freund. Auf seine Bitte hin wurde das Fesselfeld kurz abgeschaltet, damit er ihn berühren konnte. Gefahr drohte ihm vom verwandelten Bram Sass nicht - die Ärzte kontrollierten die Tobsuchtsanfälle mit starken Beruhigungsmitteln. Savannahs liebster Aufenthaltsort war die Personalkantine. Un befangen unterhielt sie sich mit den Anwesenden über deren Arbeit und Lebensziele oder über ihre eigenen alltäglichen Erlebnisse. Da sie sich perfekt darauf verstand, ihre Fernfahrerabenteuer wortreich auszuschmücken, waren die Zuhörer meist mucksmäuschenstill. All die klugen Köpfe hingen dann voller Faszination an ihren Lippen wie Kinder, denen man vorm Einschlafen Gruselgeschichten erzählte. Anbiedern mußte sich Savannah bei niemandem. Viele Branä-TalBewohner suchten von sich aus das Gespräch mit ihr und luden auch schon mal ihren privaten Frust bei ihr ab. Für jedermann hatte sie einen guten Ratschlag oder wenigstens ein tröstendes Wort übrig. »Was soll bloß aus den Leuten hier werden, wenn du nicht mehr da bist?« frozzelte Buscetta nachmittags beim Kaffeetrinken. »Ohne dich werden sie sich in ihren Pausen zu Tode langweilen. Und ihre Alltagsproblemchen müssen sie dann wieder allein lösen.« »Das kriegen sie schon irgendwie hin«, entgegnete seine Tante zuversichtlich. »Statt dauernd über dieses und jenes zu klagen, sollten sie froh sein, daß ihre großen und kleinen Probleme überhaupt noch vorhanden sind. Wäre die Regierungsexpedition ins Galaktische Zentrum ergebnislos verlaufen, hätten wir bald alle keine Sorgen und Nöte mehr - sie würden sich spätestens mit dem dann unvermeidlichen Untergang dieser Galaxis von selbst erledigt haben.«
Ich saß mit den beiden in Buscettas Apartment zusammen, als es mich wie ein Blitz durchfuhr. Konnte es sein, daß ich soeben die gemeinsame Ursache für die verschiedenartigen Mutationen gefunden hatte? Genaugenommen hatte mich Savannah darauf gebracht, ohne sich dessen auch nur annähernd bewußt zu sein. Ich sprang auf und eilte aus dem Zimmer. Mein Ziel war der kleine Konferenzraum, in welchem wieder einmal angeregt erwägt und erörtert wurde. Endlich konnte auch ich der wissenschaftlichen Unterredung etwas beitragen. 25. »Mutation, ausgelöst durch intensive Strahlung - davon habe ich schon gehört.« Die Stirn des sechzigjährigen Wissenschaftlers, der dem Team von Echri Ezbal angehörte, legte sich in Falten. »Aber Mutation durch Wegfall von Strahlung?« »Strahlung kann heilen, aber auch töten«, sinnierte ein anderer Forscher, der mit am Konferenztisch saß. »Kommt ganz auf die Art der Strahlung an und natürlich auf die Dosis. Was die galaktische Strahlung betrifft, sind mir keine positiven Auswirkungen bekannt. Im Gegenteil, sie richtete nur Schaden an. Viele Völker gaben auf der Flucht vor der Strahlung ihre Heimat auf und flohen zu anderen Planeten, so lange, bis es keinen Ort in der Milchstraße mehr gab, der nicht von ihr bedroht wurde.« »Glücklicherweise gehört das alles der Vergangenheit an«, warf ein dritter Kollege ein. »Im galaktischen Zentrum gibt es jetzt nur noch ein ganz gewöhnliches überschweres Schwarzes Loch, und das galaktische Strahlungsniveau ist auf normale Werte gesunken. Hyperfunkverkehr und To-Funk sind nicht länger gestört. Und was noch viel wichtiger ist: Die gesamte Milchstraße kann wieder be siedelt werden. Jedes Volk kann dort hinziehen, wo es sich zu Hause fühlt. Wir sind nicht länger gezwungen, alle auf einem Fleck zu hocken.« »Wissen Sie eigentlich, wie viele Parsec dieser Fleck durchmißt?« entgegnete der Sechzigjährige schmunzelnd. »Auch ich weine der galaktischen Strahlung keine Träne nach - nur der Galaxis Drakhon. Was hätten wir dort nicht alles erforsch...« »Wie war's, wenn wir wieder zurück zum Thema kommen?«
unterbrach ich ihn. »Falls meine Theorie zutrifft, gab es zumindest
eine positive Auswirkung der galaktischen Strahlung. Sie hinderte die
Phant-Viren daran, zu mutieren. Seit die Strahlung weggefallen ist,
hält nichts mehr den Mutationsprozeß auf.«
»Hast du Beweise?« fragte mich eine Wissenschaftlerin mittleren
Alters.
»Könntet ihr jede Theorie jedesmal sofort beweisen, brauchte man die
Forschung nicht, und ihr wärt alle arbeitslos«, konterte ich. »Es ist
eure Aufgabe, nach Fakten zu suchen und Gutachten zu erstellen,
nicht meine.«
»Fakt ist, daß die Viren der Snide-Zwillinge nicht mutiert sind«,
erwiderte die Frau. »Und damit wäre deine schöne Theorie hinfällig.«
»Es sei denn, wir finden heraus, warum George und Charly die
Ausnahme bilden«, meldete sich Ezbal zu Wort. »Lassen Sie uns
zurück in die Labore gehen und weiterforschen. Carrell und all die
anderen Cyborgs sitzen auf der Schippe des Todes. Es liegt an uns, ob
wir sie rechtzeitig von dort wieder herunterbekommen. Sie verlassen
sich auf uns, schließlich haben wir ihnen das alles eingebrockt.«
»Sie wußten genau, was sie taten, als sie sich freiwillig meldeten«,
wies ein junger Forscher alle Schuld von sich.
Ein mahnender Blick von To Yukan brachte ihn zum Schweigen.
Ich erhob mich von meinem Platz und verließ mit den anderen den
kleinen Konferenzraum. Ezbal bat mich, ihm wieder zu assistieren.
Selbstverständlich erfüllte ich ihm seine Bitte, denn das Schicksal der
Cyborgs lag auch mir am Herzen.
Die Uhr hing nicht nur im Labor an der Wand, sie saß uns allen auch
im Nacken. Trotz des enormen Zeitdrucks arbeitete jeder so präzise
und zuverlässig wie immer.
Die Feinstanalysen der Snide-Viren übernahm Ezbal höchstper
sönlich. Zu seiner Unterstützung hatte er den besten Assistenten der
Welt an seiner Seite: mich.
Wir kamen zu einem Ergebnis, das überaus erstaunlich war. Die
Phant-Viren, die man George und Charly Snide eingepflanzt hatte,
waren ebenfalls mutiert - aber keiner hatte es gemerkt.
305 Die Mutation hatte allerdings nicht in diesen Tagen, sondern
unmittelbar nach dem Erstkontakt mit ihren Körpern stattgefunden -
also noch zur Zeit der harten galaktischen Strahlung. Das machte sie immun gegen den Wegfall der Strahlung und die damit verbundenen todbringenden Veränderungen. Ihre resistenten Viren veränderten sich nicht mehr und ermöglichten weiterhin das Phanten. Warum die Viren der Snides schon sehr viel früher mutiert waren, darüber konnten wir nur spekulieren. Wir - das waren Ezbal, To Yukan, ihr wissenschaftliches Kollegium... und ich. Diesmal beteiligte ich mich mit demselben Forschereifer am nachfolgenden Kolloquium, und ich ließ mir von niemandem den Metallmund verbieten, Laie hin, Laie her. Viel kam bei dem Gespräch leider nicht heraus. Vor ihrer Umwandlung in Cyborgs waren die Snide-Zwillinge aufgrund eines Gendefekts geisteskrank gewesen. Ihre Krankheit hatte sie gegen die Strahlung der Giants immun gemacht. Möglicherweise hatte sich bei der damaligen Bestrahlung unbemerkt ihre Körperchemie verändert, was dann später zur verfrühten Mutation der Phant-Viren führte. Eine Mutation, dessen Auswirkung nicht gleich erkennbar war und sich erst jetzt bemerkbar machte. »In diesem Fall hätten wir es den Giantbestien zu verdanken, daß die Snides heute als einzige immun sind«, konstatierte To Yukan, der sich mit dieser Theorie nur schwer anfreunden konnte. »So kann es gewesen sein, muß es aber nicht«, bemerkte Ezbal. »Ebensogut könnte die Heilung von George und Charly diesen Effekt hervorgerufen haben oder die damit verbundene Umwandlung in Übermenschen. Auch der Umstand, daß sie ohne jedes Hilfsmittel Robonen erkennen und entlarven konnten, hängt vielleicht damit zusammen. Es ist jetzt nicht die Zeit für eine genauere Analyse, darum können wir uns ein andermal kümmern. Viel wichtiger ist, zu entscheiden, was wir als nächstes unternehmen wollen.« Ratloses Schweigen breitete sich aus. »Die Phant-Viren müssen ausgeschaltet werden«, sprach ich das aus, was sich niemand am Tisch zu sagen traute. »Sofort, rigoros und ohne Wenn und Aber.« »Wir dürfen sie nicht vernichten!« entrüstete sich ein leitender Labormitarbeiter mit Professorentitel. »Weißt du eigentlich, wie viele Jahre harter Forschungsarbeit in der Entwicklung der Phant-Viren stecken. Blechkopf?« »Und weißt du eigentlich, wie viele Menschenleben auf dem Spiel stehen, Eierkopf?« entgegnete ich im gleichen Tonfall. »Die Cyborgs
sind doch keine Versuchsobjekte, die man einfach sterben läßt, nur weil sie nicht mehr richtig funktionieren.« »Artus hat recht«, sprach Ezbal ein Machtwort. »Ich habe mich schon vor langer Zeit mit diesem Problem auseinandergesetzt und mich auf den Fall der Fälle vorbereitet.« »Heißt das, Sie haben damit gerechnet, daß die Phant-Viren eines Tages das Leben der Cyborgs gefährden könnten?« fragte ihn To Yukan irritiert. »Ich habe es zumindest nicht ausgeschlossen«, antwortete ihm der Brahmane. »Selbst wenn man sich einer Sache noch so sicher ist, kann es nichts schaden, sich auf eventuell auftretende Schwierigkeiten vorzubereiten. Deshalb habe ich spezielle Killerviren gezüchtet.« »Killerviren?« »Virus caedes. Sie sind in der Lage, die Phant-Viren zu töten.« »Worauf warten wir dann noch?« ermunterte ich ihn. »Uns bleiben noch knapp fünf Tage, um aus den Killerviren ein Heilmittel herzustellen und die Cyborgs zu retten.« »Virus caedes wurde noch nicht erprobt«, verpaßte Ezbal meinem Eifer einen Dämpfer. »Zudem gibt es ein weiteres Problem. Mal angenommen, mein Plan funktioniert, und die Phant-Viren werden von den Killerviren umgebracht. Dann würde sich am Schluß enorm viel abgestorbene Virenmasse in den Körpern der Cyborgs befinden.« »Wenn wir schnell genug sind, stellt sich dieses Problem erst garnicht«, sagte der Professor, der kurz zuvor noch gegen den Plan war. »Wir müssen die Körper nur rasch und effektiv entgiften.« Noch am selben Tag wurden Sass, Carrell und Alsop Proben entnommen. Danach ging die Arbeit erst richtig los. Die Freßviren (wie ich sie nannte - weil mir »Virus caedes« zu wissenschaftlich klang und die Bezeichnung »Killerviren« besser in einem Gruselfilm aufgehoben war) mußten genetisch auf die mutierten Phant-Viren abgestimmt werden. Kein leichtes Unterfangen, immerhin war jede Mutation eine andere. Wir benötigten daher für drei Cyborgs drei verschiedene Kulturen von Freßviren. Und das war erst der Anfang, schließlich befanden sich noch sechsundvierzig Cyborgs außerhalb des Brana-Tals. Um es noch einmal zu betonen: Mich befielen während dieser Arbeit
laufend seltsame Gefühle. Labors waren nichts Neues für mich, allerdings kannte ich sie vor allem aus der Sicht desjenigen, der zu Versuchszwecken auf dem Labortisch lag. Jetzt war ich es, der danebenstand und Experimente am lebenden Objekt vollzog. Carrell war der erste, der an die Reihe kam. Die Verabreichung der Injektion übernahmen präzise ausgerichtete medizinische Geräte, doch Ezbal überwachte jeden Vorgang mit Argusaugen. Aufgrund seiner Gedankeniesefähigkeit wußte Carrell, was der indische Genius mit ihm vorhatte - und er war mehr als einverstanden damit. In seinem Gesicht lag ein Ausdruck von verzweifelter Hoffnung. Ihm war bewußt, daß dieser Rettungsversuch seine letzte Überlebenschance war. Plötzlich ging alles sehr schnell. Carrell verfiel in einen Schockzustand und rührte sich nicht mehr. Wie tot lag er auf dem Operationstisch. Die Geräteanzeigen signalisierten jedoch keine Lebensgefahr. Die Freßviren verrichteten ihr gnadenloses Werk. Alle Beteiligten, die sich freimachen konnten, verfolgten den Fortschritt des gefährlichen Experiments an den Apparaten mit. Anschließend mußte schnell gehandelt werden. Kaum war das letzte Phant-Virus vernichtet, begannen die Ärzte mit dem Entgif tungsprozeß. Es war ein Kampf gegen die Zeit. Schon die geringste Verzögerung konnte den Patienten das Leben kosten. Eine Stunde nach seiner gründlichen Entgiftung erwachte Mark Carrell. Einst war er der erste Cyborg, der durch Bittan-Viren der FGruppe in den Phant-Zustand gelangt war. Jetzt war er der erste Cyborg, dessen Körper wieder von den Phant-Viren befreit wurde. Ezbal wurde hinzugerufen. Ich begleitete ihn ins Krankenzimmer. Eine Schwester kümmerte sich um den noch halb benebelten Patienten. Er war zu schwach, um aufrecht sitzen zu können. »Tag Alterchen, hallo Blechmann«, begrüßte er uns mit schwankender Stimme, als er uns erkannte. »Sagt mal was. Es ist so still hier.« »Das liegt daran, daß Sie Ihre Fähigkeit, die Gedanken anderer Menschen zu erfassen, verloren haben«, erklärte Ezbal ihm. »Gott sei Dank«, krächzte Carrell. »Das war keine Fähigkeit -das war ein Fluch. Wie geht es den anderen?«
»Bei Holger Alsop verlief alles weitgehend problemlos, so wie bei Ihnen, Mark«, antwortete ihm der Inder. »Nur mit Bram Sass haben wir noch größere Schwierigkeiten. Die genetische Abstimmung von Virus caedes auf seine mutierten Phant-Viren war keine einfache Angelegenheit, was aller Wahrscheinlichkeit nach mit seiner Verwandlung zusammenhängt. Unser Ärzteteam ist derzeit vollauf mit ihm beschäftigt. Artus und ich müssen gleich wieder zurück in den OP, um die Vorgänge zu überwachen.« Artus und ich. Hört sich prima an, Herr Kollege! »Typisch Bram«, konnte sich Carrell eine Bemerkung nicht ver kneifen, obwohl ihm das Sprechen schwerfiel. »Der Ladiner macht wieder mal nichts als Ärger.« Als Ezbal und ich in den Operationssaal zurückkehrten, waren bereits erste Erfolge sichtbar. Sass' grüne Hautfarbe war fast völlig verblaßt. Die abnormen Körperformen, die das Monstrum noch größer und schwerer erscheinen ließen als es ohnehin schon war, normalisierten sich allmählich. Sass bekam von alledem nichts mehr mit. Er war ins Koma gefallen, nachdem die Freßviren mit ihrer Arbeit begonnen hatten. »Es ist so weit«, sagte einer der Mediziner. »Die Phant-Viren sind vernichtet. Sollen wir mit der Entgiftung warten, bis die körperliche Rückverwandlung vollständig abgeschlossen ist?« »Kommt nicht in Frage«, entschied Ezbal. »Wir beginnen sofort damit. Später könnte m spät sein!« Sass' Rückverwandlung und die Entgiftung seines Körpers fanden fast zeitgleich ihren Abschluß. Der aus Südtirol stammende Patient erwachte jedoch nicht aus dem Koma. »Wie ich ihn einschätze, wird er unsere Geduld auf eine harte Probe stellen«, bemerkte To Yukan in einem abschließenden Gespräch im kleinen Konferenzraum. »Bram Sass hatte schon immer seinen eigenen Kopf.« »Genau wie ich«, räumte Ezbal ein. »Von klein auf wollte ich stets mit dem Kopf durch die Wand. Und als ich erwachsen war, habe ich alle Warnungen meiner wissenschaftlichen Kollegen in den Wind geschlagen, wenn es darum ging, ungewöhnliche Projekte durchzuboxen. So lange ich zurückdenken kann, bin ich gegen den Strom geschwommen - und habe fast immer recht behalten.«
Er schwieg eine Weile, dachte nach. Niemand störte ihn dabei, alle am Tisch warteten geduldig ab, bis er weiterredete. »Aber ich bin nicht Gott«, fuhr er schließlich fort. »Ich bin ein unzulängliches Lebewesen wie ihr - ein Mensch. Und Menschen machen nun einmal Fehler. Aus Fehlem nicht zu lernen, wäre ein Weiterer Fehler. Darum habe ich beschlossen, in Zukunft keine Cyborgs mehr mit Phant-Komponente zu erschaffen. Es muß ein anderer Weg gefunden werden, um die Leistungsfähigkeit zu steigern Falls das nicht möglich ist, wird sich diese Welt nötigenfalls daran gewöhnen müssen, künftig ohne Cyborgs auszukommen!« Alle im Zimmer waren entsetzt. Ohne die Cyborgs wäre so manche Auseinandersetzung mit Fremdvölkern weniger glimpflich verlaufen, und die Weiterentwicklung der Menschheit hätte sich in den vergangenen Jahren nicht in einem solchen Tempo vollzogen. Stand es Ezbal wirklich zu, das Handtuch zu werfen und dadurch den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt in dieser ent scheidenden Phase abrupt auszubremsen? »Die Behandlung der drei befallenen Cyborgs hat uns einen vollen Tag gekostet«, erklärte Ezbal mit ruhiger Stimme, so als habe er gerade nichts Außergewöhnliches gesagt. »Uns bleiben jetzt noch knapp vier Tage, um die übrigen sechsundvierzig infizierten Cyborgs zu finden und zu heilen. Maximal die Hälfte der Tage steht uns für die Suche zur Verfügung, die restlichen zwei werden für die Analyse ihres mutierten Virenstammes und das Züchten des darauf abgestimmten Killervirus benötigt.« »Damit wäre das Schicksal der verschwundenen Cyborgs besiegelt«, ließ To Yukan seiner Hoffnungslosigkeit freien Lauf. »Wir schaffen es niemals, alle innerhalb von achtundvierzig Stunden zu finden und ins Brana-Tal zu bringen.« »Um das Transportproblem müßt ihr euch schon selbst kümmern«, warf ich ein. »Doch die Suche könnt ihr getrost mir überlassen.« »Übernimm dich nicht, Artus«, sagte Ezbal zu mir. »Man hat mir berichtet, wie schnell du Sass gefunden hast. Aber es ist leichter, eine Großstadt nach bestimmten Personen abzusuchen als einen ganzen Planeten.« »New York, Rio, Tokio - Amerika, Rußland, Indien... wo auch immer sich die Cyborgs augenblicklich herumtreiben, ich werde sie finden«, versicherte ich ihm. Ezbal kannte mich besser als jeder andere. Dennoch unterschätzte
auch er meine Fähigkeiten des öfteren. Ich würde meine Väter und all die anderen Cyborgs auf die gleiche Weise finden wie Savannah durch Kontaktaufnahme mit dem planetenumspannenden Rechnemetz. Heutzutage gab es kaum noch Plätze, an denen man sich vor der Welt verbergen konnte. Nur wenn sich jemand in einem Erdloch ohne Klo verkroch, tief im Wald, weitab jeglicher Zivilisation, hatte er gute Aussichten, nicht entdeckt zu werden - es sei denn, der Hund des zuständigen Revierförsters spürte ihn auf. Für die Suche nach den Cyborgs benötigte ich keinen Hund, sondern meine neuentdeckte Fähigkeit, ihre Programmgehime mittels Rückkopplungseffekt zu orten. »Patnas Bretterbude« wurde der einzige Gasthof im »Verbre cherviertel« selbstironisch von seinem Betreiber genannt. Eine Konzession besaß der Wirt nicht - es hatte ihn auch nie jemand danach gefragt. Sein bester Freund war der Alkohol. Der zweitbeste hieß Kunda Birman, war vierzig Jahre alt und einer der gefürchtetsten Schläger in der Siedlung. Nicht nur ihr Alter hatten beide gemeinsam, sie glaubten auch beide nicht an den Dämon - und wußten beide nichts von dem blutigen Vorfall in der Nähe von Katmandu, geschweige denn von den Vorkommnissen in Brana-Tal. Auch sonst litten sie unter erheblichen Wissenslücken. Hätten Kunda Birman und der Wirt geahnt, daß es im »Verbrecherviertel« einen Zusammenschluß alter Männer gab, die es sich in den Kopf gesetzt hatten, dem Treiben derer, die sich ihre Beschützer nannten, ein Ende zu setzen, dann hätten die aufmüpfigen Greise schon lange in einer speziell für sie ausgehobenen Grube gelegen. Aber Mucha Magandi und seine Anhänger waren schlau und vorsichtig. Ihren unergründlichen Mienen war nie anzumerken, was sich hinter ihren faltigen Stirnen verbarg. Um beim Ränkeschmieden und den Vorbereitungen auf den Umsturz nicht erwischt zu werden, trafen sich die Alten einmal in der Woche in einer leerstehenden, abbruchreifen Scheune außerhalb der Stadt. »Revolution« nannten sie ihren Treffpunkt - was (im Gegensatz zum Namen des Gasthofes) in keiner Weise ironisch gemeint war. Die Greise waren fest entschlossen, die erbarmenswürdigen Zustände am nördlichen Stadtrand von Patna zu ändern. Wenn es sein mußte, mit
Gewalt. Die Gerüchte über den Dämon, den unter ihnen noch keiner leibhaftig zu Gesicht bekommen hatte, kamen ihnen gerade recht. Dadurch wurde die sogenannte Beschützerfraktion in Zugzwang versetzt. Jetzt mußten der schurkische Gastwirt, sein brutaler Freund Birman und all die anderen Schläger und Mörder etwas unternehmen, wollten sie nicht an Glaubwürdigkeit und Macht verlieren. Nicht nur die verhaßten Starken gingen nachts auf Streife. Auch die greisen Revoluzzer durchstreiften zur Schlafenszeit die von der zivilisierten Welt gemiedene Stadtrandsiedlung - allerdings ohne alkoholische Muntermacher und mit mehr Gewissenhaftigkeit und Ernsthaftigkeit als die anderen Wachgänger, die nichts von ihrer Anwesenheit ahnten. Seit Beginn der Streifengänge hatte es keine nächtlichen Dämo nenüberfälle mehr gegeben. Der Gastwirt und seine Gefolgschaft sahen darin ein Zeichen dafür, daß einige der Viertelbewohner zuviel Phantasie besaßen. Für den gestohlenen Schlaf würde man sich an ihnen schadlos halten. Die verängstigten Siedlungsbewohner hatten eine andere Sicht der Dinge. Für sie stand nun fest, daß der Dämon einer von ihnen war ein Verfluchter, der seine Blutgier zurückhielt, bis die Streifengänge wieder eingestellt wurden. Sobald sich nachts keine Bewaffneten mehr auf der Straße befanden, dessen war man sich völlig sicher, würde sich der Betreffende erneut verwandeln und zuschlagen. Beide Parteien hatten unrecht. Die Gefahr war weder gebannt, noch wartete sie ab - sie hatte sich nur für ein Weilchen ausgeruht. Der Abendhimmel war von schwarzen Wolken verhangen, als die gefürchtete »Bestie von Patna« ihr Versteck in einem Kohlenkeller verließ und sich wieder ins Freie begab. Die letzten Morde hatten ihr eine gewissen Ruhe und Befriedigung verschafft, doch jetzt war die Zeit wieder gekommen... Die Zeit des Tötens. Als Kunda Birman die große dunkle Gestalt die Hauptstraße hochkommen sah, fiel ihm als erstes der fette Poet aus dem Eckhaus ein, ein Herumtreiber, der es in seinem neunzigjährigen Leben zu nichts Gescheitem gebracht hatte und letztlich dort gelandet war, wo sich alle Verlorenen zusammenfanden. »Guck mal, da kommt der alte Ganesch«, raunte er dem Gast
hofbesitzer zu und knuffte ihm den Ellbogen in die Rippen. »So wie er schwankt, scheint er nicht allein zu sein. Offenbar hat er einen >kleinen Rhesusaffen< bei sich.« »Seit wann kann sich der Alte Schnaps leisten?« erwiderte der Wirt leise. »Und wo hat er ihn eigentlich gekauft? Bei mir bestimmt nicht.« »Fragen wir ihn doch«, schlug Birman grinsend vor. »Bei der Gelegenheit könnten wir mal nachsehen, ob er in seinen Taschen noch überflüssiges Kleingeld mit sich herumträgt. Ein Greis wie er sollte nicht mehr so schwer tragen müssen.« Beim Näherkommen überkam die beiden Männer langsam, aber sicher ein mulmiges Gefühl. Irgend etwas stimmte mit Ganesch nicht. Obwohl er beim Gehen eine leicht gebeugte Haltung eingenommen hatte, wirkte er wesentlich größer als sie ihn in Erinnerung hatten. Was waren das für hornartige Auswüchse an seinem Kopf? Und warum hielt er seinen Unterarm vors Gesicht, so als ob ihn etwas blendete? Oder als ob er nicht wollte, daß jemand sein Gesicht zu früh er kannte... Nicht das Ziel, sondern der Pfad ist die Erleuchtung, hatte mal ein weiser Mann gesagt. Kunda Birman und der Wirt erkannten die schreckliche Wahrheit erst, als ihr Lebenspfad zu Ende war. Ein kräftiger Krallenhieb teilte Birmans rundes Mondkuchengesicht wie eine Wassermelone exakt in der Mitte. Sein Begleiter wollte wohl noch etwas sagen, aber er brachte lediglich gurgelnde Geräusche zustande. Mehr konnte man von einem Mann mit zertrümmertem Kehlkopf nicht erwarten. Zwei gewissenlose Männer hatten das erbärmliche Ende gefunden, das sie verdient hatten. Im »Verbrecherviertel« würde ihnen niemand eine Träne nachweinen - und anderswo ebenfalls nicht. Auch der alte Ganesch weinte nicht über den Tod der beiden. Vielmehr verspürte er ein Gefühl unendlicher Erleichterung. Kein Stein fiel ihm vom Herzen - es war eine ganze Felslawine. Er hatte die grausige Szene aus nächster Nähe beobachtet, verborgen hinter einer Hausecke. Hätte er jetzt ein Vipho bei sich gehabt, hätte er umgehend die übrigen greisen Möchtegern-Revolutionäre benachrichtigt. Doch in Patnas Armenviertel konnte sich keiner ein Vipho leisten. Ganesch hatte nur einen einzigen »Wertgegenstand« bei sich. Den
verbarg er an seinem Körper, verdeckt von seinem teils zerrissenen Hemd. Auch seine Mitverschwörer waren damit ausgestattet. In dieser Nacht hielt der Tod im »Verbrecherviertel« reichlich Ernte. Der Dämon zog durch die Straßen und streckte wahllos jeden nieder, der ihm über den Weg lief. Wer sich zu Hause aufhielt, verbarrikadierte sich so gut es ging. Das Ungeheuer machte sich diesmal erst gar nicht die Mühe, in die verwahrlosten Hütten einzudringen, um die armseligen, wehrlosen Gestalten herauszuholen. Draußen gab es genügend ausgewachsene Männer zum Töten. Männer, die vor verschlossenen Türen standen, weil ihnen niemand im Viertel Schutz gewähren wollte. Keines der grobschlächtigen Muskelpakete konnte es an Körperkraft mit dem Dämon aufnehmen. Messerklingen richteten bei ihm nicht mehr aus als Mückenstiche, und die Parastrahlen kitzelten ihn nur. Der Clan der greisen Verschwörer beobachtete das Gemetzel aus sicherer Entfernung von verschiedenen Standorten aus. Erst als der Dämon sein blutiges Werk zur Zufriedenheit der Alten verrichtet hatte, stellten sie sich ihm auf dem leeren mondbeschienenen Marktplatz entgegen. Von mehreren Seiten wurde das Ungeheuer eingekreist. Es hatte für diese Nacht genug gemordet und wollte nicht mehr kämpfen. Doch die neuen Gegner ließen ihm keine Wahl. Mucha Magandi und Ganesch griffen fast gleichzeitig unter ihre Oberbekleidung. Die anderen Greise folgten ihrem Beispiel. Mehrere schwere Blaster wurden auf den Dämon gerichtet und entfachten ein tödliches Strahlenfeuerwerk. Der angstvolle Aufschrei, den das Untier gen Himmel ausstieß, hätte einen mächtigen Steinbrocken erweichen können. Doch die Herzen der greisen Blasterschützen waren härter als nackter Fels. Obwohl sie dem Dämon eigentlich hätten dankbar sein müssen -immerhin hatte er sie von jahrelangem Terror befreit - empfanden sie für ihn genauso wenig Mitleid wie für ihre ehemaligen Peiniger. Zuviel Leid hatte er verursacht, als daß man ihm hätte verzeihen können. Im Angesicht des Todes erinnerte sich der Dämon an alles,was er in den vergangenen Tagen getan hatte. Die ermordeten Pilger bei Katmandu, die Irrfahrt im Jeep, der Unfall in der Nähe des Armen viertel s, die getöteten Männer und Frauen in den Hütten...
VERGEBUNG!!! schrie alles in ihm auf. Ich konnte doch nichts dafür! Er erinnerte sich daran, einmal ein friedliebender Mensch gewesen zu sein. Ein Mensch mit Zielen und Idealen. Ein Mensch, der sich geschworen hatte, stets für Recht und Gerechtigkeit einzustehen. Ein Mensch mit dem Namen Rok Nassis. Das Zischen und Fauchen der B lasterstrahlen verstummte. Poli zeisirenen waren zu hören. Und die ungelenken Schritte weglaufender alter Männer. In den vergangenen Jahren hatten sich die Greise über dunkle Kanäle nach und nach illegal Waffen verschafft, teils ausgesonderte Modelle, die nur noch Restenergien erhielten, aber ihren Zweck erfüllten. Bis zu ihrem heutigen Einsatz hatten die Blaster in einem sicheren Versteck gelegen. Dorthin brachte man sie jetzt auch zurück. Anschließend würden sich die Alten ins Bett legen und für ihre Familien wie gewohnt den harmlosen, gebrechlichen Opa spielen. Als die Polizei eintraf, war der Marktplatz wie leergefegt. In keinem Haus brannte Licht. Die Bürger dieser Siedlung schienen den Schlaf des Gerechten zu schlafen. Alles wirkte still und friedlich. Eine Nachtidylle - wären da nicht die blutüberströmten Leichen in den Straßen gewesen. Und das verbrannte Ungeheuer mitten auf dem Platz. Der grausige Todeskampf des Dämons war beendet. Von seiner Rückverwandlung in einen Menschen bekam Rok Nassis nichts mehr mit; sie vollzog sich außerhalb seines Bewußtseins als eine Art Reflex. »So etwas... habe ich noch nie gesehen«, stammelte ein Polizist verwirrt. »Ich auch nicht«, gab der indische GSO-Mann zu, der kurzfristig die Einsatzleitung übernommen hatte. Bernd Eylers persönlich hatte ihn über Funk beauftragt, sich an den nördlichen Stadtrand von Patna zu begeben und dort ein entartetes Lebewesen einzufangen. »Lebend!« hatte der GSO-Chef angeordnet. »Es handelt sich um einen erkrankten Soldaten, der dringend von Echri Ezbal behandelt werden muß.« Nun konnte man nur noch den verbrannten Leichnam des Mannes ins Brana-Tal überführen. Das Skurrile an der Sache war, daß das Vipho am linken Handgelenk des Toten nahezu unversehrt war.
Rok Nassis hatte es die ganze Zeit über bei sich getragen, verdeckt vom Fell. Beim Verlassen seines Kellerverstecks war er mit dem Arm gegen einen Balken gestoßen und hatte das Vipho versehentlich aktiviert. »Nur keine Aufregung, Sir. Wenn Ihre Identitätskarte in Ordnung ist, bekommen Sie sie sofort zurück und können weiterfahren.« Hai Hanson zwang sich zu einem Lächeln. Viel lieber hätte er den unfreundlichen Schweberfahrer genauso herablassend behandelt wie er sich benahm, doch Freundlichkeit war für einen englischen Verkehrspolizisten auch noch im dritten Jahrtausend oberstes Gebot. Das galt insbesondere für einen jungen Beamten, der beruflich weiterkommen wollte. »Beeilen Sie sich gefälligst«, schnarrte ihn der bärtige Fahrer an. »Ich bin ein vielbeschäftigter Geschäftsmann und kann es mir nicht leisten, nur zum Spaß auf den Landstraßen herumzufahren -so wie Sie.« »Wir tun lediglich unsere Pflicht«, griff Hansons älterer Kollege Peckett ein. Beide befanden sich mit ihren Kataks auf Überiandstreife. Das Wetter war sonnig, die Morgenluft angenehm warm, und die Schweberfahrer, die sie sporadisch überprüften, hatten durchweg gute Laune. Bis auf diesen einen, aber Ausnahmen bestätigten ja bekanntlich die Regel. Das Katak war die Weiterentwicklung des früheren schweren Polizeimotorrads. Es bot zwar nur einer Person Platz, war dafür aber wesentlich leichter und dreimal so schnell. Wie bei fast allen modernen Fahrzeugen waren die Räder längst durch Prallfelder ersetzt worden. Das unterhalb des Lenkers angebrachte Armaturenbrett hätte aus einem Jett stammen können, so viele Funktionen hatte es aufzu weisen. Hanson schob die Identitätskarte des ungeduldigen Schweberfahrers in einen Schlitz und wartete ab. Es dauerte nicht einmal fünfzehn Sekunden, schon hatte er alle gewünschten In formationen. »Richard Grieg«, las er leise die wichtigsten Passagen mit. »Alter fünfzig Jahre. Betreibt Handel mit Unterhaltungssoftware im Außendienst. Keine Vorstrafen.« »Wird das bald was?« rief Grieg ungeduldig zu ihm herüber. »Glaubt ihr beiden uniformierten Figuren eigentlich, ich habe meine Zeit geklaut?« Peckett stieg von seinem Katak und begab sich zum Schweber.
»Wie ich schon sagte, Sir, wir tun nur unsere Pflicht«, sprach er den Fahrer so höflich wie möglich an. »Es gibt Hinweise auf geplante Anschläge in dieser Region, deshalb führen wir stichprobenartig Personenüberprüfungen durch. Das geschieht zum Schutz aller Bürger unseres Landes, zu denen auch Sie zählen. Deshalb wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie uns die Arbeit nicht unnötig erschweren würden. Vielen Dank.« Der Fahrer nuschelte irgend etwas Unverständliches und sagte dann keinen Ton mehr. Na also, geht doch, dachte der Beamte zufrieden. Er ging zurück zum Katak, atmete tief durch und ließ seinen Blick über die Wiesen und Felder am Straßenrand schweifen. Plötzlich hielt er inne. Quer über einen brachliegenden Acker kam ein athletisch gebauter Mann auf ihn zu. »Ein Landwirt ist das mit Sicherheit nicht«, bemerkte sein junger Kollege. »Wohl kaum«, entgegnete Peckett. »Es sei denn, die Bauern tragen neuerdings Smoking.« Daß der Fremde nicht von hier war, sah man ihm sofort an. Sein Gesicht wies mongolische Züge auf, die leicht dunkle Hautfarbe ließ allerdings eher auf einen gebürtigen Afrikaner schließen. Das Ungewöhnlichste an ihm waren seine Augen. Mal schimmerten sie bernsteinfarben, mal flackerten sie im Wechsel zwischen Rot und Grün. Das elegante Outfit täuschte nicht darüber hinweg, daß es ihm
offensichtlich schlechtging. Er sah aus, als würde er gerade eine
schwere Krankheit auskurieren. War er aus einer Klinik ausgebro
chen?
»Einen wunderschönen guten Tag, meine Herren«, begrüßte er die
Uniformierten manierlich. »Könnten Sie mir vielleicht sagen, wo ich
hier bin?«
»Sie wissen nicht, wo Sie sich befinden?« wunderte sich Han Hanson.
»Wie ist Ihr Name, Sir?«
Der Unbekannte zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich leider auch
nicht. Ich besinne mich nur noch daran, daß ich vor dem Spiegel stand
und den Smoking anprobierte. Wahrscheinlich wollte ich auf ein Fest,
aber ich erinnere mich nicht, wann und wo es stattfinden sollte.«
»Wo wohnen Sie?«
»Wenn ich das wüßte... ich war die ganze Nacht zu Fuß unterwegs,
kann Ihnen aber beim besten Willen nicht sagen, wo ich hergekommen bin. Ich glaube, ich bin aus einem Transmitter ge sprungen...« »Könntet ihr euer Plauderstündchen auf ein andermal verschieben?« machte sich Richard Grieg bemerkbar. »Ich will endlich weiterfahren, zum Kuckuck!« Hanson wollte zu ihm gehen und ihm seine Karte zurückgeben. Doch Peckett hielt ihn unauffällig am Ärmel fest. »Nicht so eilig«, raunte er ihm zu. »Der Bursche hat uns derart geringschätzig behandelt, da können wir ihn ruhig noch ein Weilchen warten lassen.« »Haben Sie eine Identitätskarte bei sich?« fragte er den Mann ohne Gedächtnis. »Ich habe noch nicht nachgeschaut«, erhielt er zur Antwort. »Wo könnte sie denn sein?« »Darf ich?« fragte Peckett und faßte seinem Gegenüber in die Innentasche des Jacketts. In den vergangenen Jahrzehnten hatte sich die Herrenmode nur unwesentlich verändert. Männer bewahrten ihre persönlichen Papiere nach wie vor an der gleichen Stelle auf, und sie hockten noch immer mit der Pobacke auf ihren Kleingeldportemonnaies. »Na bitte«, bemerkte Peckett grinsend, während er die gesuchte Karte mit zwei Fingern aus der Innentasche zog. »In ein paar Sekunden wissen wir...« In diesem Moment leuchteten die Augen des Fremden dunkelrot und hellgrün auf. Gleichzeitig zitterte er am ganzen Körper. Seine Stirn war schweißnaß, und er krümmte sich leicht vor Schmerz. »Was ist los mit dem Typen?« fragte der Schweberfahrer mit panischer Stimme. »Hat er eine ansteckende Krankheit? Gebt mir meine Papiere, verdammt noch mal! Ich will weg von hier!« Der Mann im Smoking hob den Kopf und schaute ihn so durch dringend an, als würde er ihm bis auf den Grund seiner Seele blikken. »Sie rauchen zu viele filterlose Zigaretten, mein Bester«, sagte er zu ihm, obwohl es ihm sichtlich Mühe bereitete, zu sprechen. »Der Tumor in Ihrer Lunge muß so bald wie möglich entfernt werden. Eine Kleinigkeit für die heutige Medizin.« »Ich weiß, ich habe bereits einen Operationstermin«, erwiderte Grieg verblüfft. »Aber woher wissen Sie...?« »Ich kann in Sie hineinschauen wie durch Glas«, beantwortete der
Unbekannte die unausgesprochene Frage. »Auch Ihr Schweber ist für mich völlig durchsichtig. Was haben Sie mit den schweren Blastern und den Mi-Ra im Kofferraum vor? Sind Sie Waffenhändler, oder wollen Sie einen Krieg anfangen?« Die Polizisten horchten auf - und Richard Grieg startete durch. Han Hanson schwang sich auf sein Katak und nahm mit einge schalteter Sirene die Verfolgung auf. Peckett reagierte besonnener und ließ per Funk die gesamte Umgebung abriegeln. Aufgrund der befürchteten Anschläge standen überall bewaffnete Beamte mit ihren Fahrzeugen in Bereitschaft. Der Flüchtende würde nicht weit kommen. Der Gedächtnislose war inzwischen zusammengebrochen. Unter immer stärkerwerdenden Schmerzen wand er sich am Straßenrand. Peckett wollte Erste Hilfe leisten und beugte sich über ihn. »Diese gottverfluchten Anfälle!« keuchte der Mann. »So geht das schon seit Stunden! Helfen Sie mir!« Seine rotgrünen Augen fixierten den Beamten und schienen ihn regelrecht zu durchbohren. »Mit dem richtigen Waschmittel bekommen Sie die hartnäckigen Flecken aus Ihrem Unterhemd bestimmt heraus«, krächzte er. »Bitte entschuldigen Sie, aber kann nicht anders. Irgendwas in mir zwingt mich, Dinge zu sehen, die ich gar nicht sehen will. Was ist los mit mir? Ich brauche Hilfe.« Peckett sprang auf und eilte zu seinem Katak-Funk. Ein Kran kenschweber mußte her und zwar schnell. Der Fremde beruhigte sich allmählich. Schweratmend lag er auf dem Rasenstück an der Straße. Seine Augen nahmen wieder Bemsteinfarbe an. Peckett überprüfte anhand der Karte die Identität des Fremden -und staunte nicht schlecht. Kaum hatte er die Karte in den Schlitz gesteckt, meldete sich seine Dienststelle übers Rechnemetz. »Sein Name ist Jan Burton, und es wird weltweit nach ihm ge fahndet«, erfuhr Peckett von seinem Vorgesetzten. »Lassen Sie ihn ins Krankenhaus von Walesham bringen, und schirmen Sie ihn unbedingt vor der Öffentlichkeit ab. Man wird ihn dort abholen.« »Man?« hakte Peckett nach. »Wer ist man?« »Das hat uns nicht zu interessieren. Die Anweisung kommt von der Regierung. Führen Sie den Befehl umgehend aus und bewahren Sie Stillschweigen über den Vorfall.«
Azzim El Kasar landete seinen Rettungsschweber links vom ab gestürzten Jett, sein Sohn Tagid setzte rechts davon im Wüstensand auf. Beide stiegen aus und gingen zunächst einmal um die Maschine herum. Zwei Europäer hatten sie in Madrid gechartert, um damit nach Dschanet zu fliegen. Über der Sahara war sie dann aus unerfindlichen Gründen vom Himmel gestürzt. Die beiden Tuaregs waren auf derlei Rettungseinsätze spezialisiert. Wann immer in diesem Teil Algeriens jemand spurlos in der riesigen Wüste verschwand, wurden sie von den hiesigen Behörden beauftragt, ihn zu suchen. Sie kannten jeden Stein, jeden verdorrten Strauch in dem Gebiet. Bisher hatten sie noch jeden Verirrten gefunden - leider nicht immer lebendig. Sandstürme und die sengende Sonne forderten oftmals ihren Tribut. Auch diesmal sah es nicht so aus, als wären Azzim und Tagid rechtzeitig gekommen. Kein Laut drang aus dem Jett, der mit der »Schnauze« voran in eine Sanddüne gestürzt war. Offenbar waren die beiden Insassen nicht mehr am Leben. Vor allem der vordere Teil der Maschine war stark beschädigt. Im hinteren Teil befand sich der Laderaum, ausgerüstet mit ein paar Notsitzen. Nur wenn sich die Piloten rechtzeitig nach dorthin zurückgezogen hatten, waren sie vielleicht mit Verletzungen da vongekommen. Azzim El Kasar hatte vorab Erkundigungen über die beiden Piloten eingezogen und nach dem Grund des Fluges gefragt. Laut Auskunft der Madrider Charterfirma hatten die Männer, die einen leicht verwirrten Eindruck gemacht hatten, keine Ladung mitgenommen. Anfangs seien sie sich nicht einmal über das genaue Ziel einig gewesen, hätten sich dann aber auf Dschanet geeinigt. Es gelang Tagid, den Seiteneinstieg zu öffnen. Sein Vater und er verfügten über eine Rettungsausrüstung, die technisch immer auf neuesten Stand war. Für das verbogene Schott hatte allerdmgs gute alte Brechstange ausgereicht. Vater und Sohn betraten den fensterlosen Laderaum. In der hintersten Ecke blinkte das kleine, aber leistungsstarke Gerät, welches nach dem Aufprall automatisch das Notsignal ausgelöst hatte. Es konnte von jedem Rechner aufgefangen werden, der sich in Reichweite des Gerätes, das in einer bruchsicheren Wandhalterung steckte, befand.
Azzim und Tagid schalteten ihre Handlampen ein. Sie entdeckten die Piloten auf dem Boden des Laderaums, nicht weit voneinander entfernt. Einer lag auf dem Bauch, der andere auf der Seite. Die Kleidung der beiden war stellenweise zerrissen und blutbefleckt. Die gut aufeinander eingespielten Retter brauchten keine Worte, um sich zu verständigen. Tagid öffnete den mitgebrachten Ver bandskasten. Sein Vater drehte derweil die reglosen Männer auf den Rücken... ... und erstarrte vor Schreck! Die Körper der Europäer wiesen keine ungewöhnlichen Verän derungen auf, wenn man von Schrammen und Hämatomen absah. Aber ihre Gesichter waren völlig deformiert. Vater und Sohn schauten sich stumm an, nickten sich zu. Beide waren sich darüber im klaren, daß es sich bei den eigenartigen Verformungen mit Sicherheit um keine normalen Ab stürz Verlet zungen handelte. Einer der bewußtlosen Männer hatte sehr schmale Augenschlitze, die sich bis ans äußerste Ende der Schläfen entlangzogen. Wo sich einst seine Nase befunden hatte, gab es nur ein von feinen Härchen überwuchertes Loch. Der Mund war gar nicht mehr vorhanden, so als hätte es nie einen gegeben. Die Gesichtszüge des zweiten Mannes waren zwar noch komplett vorhanden, wirkten aber nur bedingt menschlich. Sie wiesen unnatürliche Schwellungen, Verzerrungen und Verfärbungen auf, wie bei einem Mandrill, einer besonders angriffslustigen Riesen-324 pavianart. In Gedanken rekonstruierten El Kasar senior und El Kasar junior die möglichen Vorkommnisse an Bord. Sie gelangten zu unter schiedlichen Schlußfolgerungen. Beide Piloten waren krank an Geist und Körper, als sie die Maschine charterten, überlegte Azzim. Ein festes Ziel hatten sie nicht, sie entschieden sich im Fieberwahn eher wahllos für Dschanet. Während des Fluges brach ihre Krankheit vollständig aus, so daß sie nicht mehr in der Lage waren, den Jett zu steuern. Als es abwärts ging, zogen sie sich instinktiv nach hinten zurück. In Tagids Überlegungen lag die Ursache für das unheimliche Aussehen der beiden Europäer in einem verbotenen, schiefgelaufenen Experiment.
Die Veränderungen waren nicht mehr aufzuhalten. Um sich unnötige Schmerzen zu ersparen, beschlossen sie, ihrem Leben durch einen Absturz über der Wüste ein Ende zu setzen. Unterwegs machte einer von ihnen jedoch einen Rückzieher, wollte umkehren. Es kam zu einer Schlägerei, die sich bis in den Laderaum fortsetzte. Weil niemand mehr in der Kanzel saß, stürzte die Maschine ab. El Kasar der Ältere ergriff den Mann mit dem Paviangesicht unter den
Armen. El Kasar der Jüngere packte die Füße des Bewußtlosen.
Wortlos trugen sie ihn nach draußen.
Der Jett war von Polizeischwebern umzingelt. Uniformierte Beamte
standen neben ihren Dienstfahrzeugen.
Eine junge Frau in Zivil trat vor und wies sich als GSO-Mitar-beiterin
aus.
»Von jetzt an übernehmen wir«, sagte sie zu den beiden Tua-regs.
»Wir kümmern uns um die bewußtlosen Absturzopfer. Und Sie
vergessen am besten, was passiert ist. Für Ihre Aufwendungen wird
man Sie großzügig entschädigen.«
Azzim und Tagid schauten sich kurz an. Beide dachten in diesem
Augenblick dasselbe.
Was für eine Schwätzerin. 16. Noch vor knapp drei Jahrzehnten hatten die Weltstädte Singapur und Braunschweig versucht, sich gegenseitig den Rang als sauberste Stadt der Erde abzulaufen. Mittlerweile waren viele andere Großstädte ihrem Beispiel gefolgt und belegten selbst kleinere Umweltsünden mit saftigen Bußgeldern, frei nach der Devise: »Das Geld liegt auf der Straße.« Achtlos weggeworfenes Kaugummi, auf Grünflächen herumliegende Bierdosen, ausgetretene Zigarettenkippen, Hundekot in der Fußgängerzone, in Hecken versteckte Einmal Verpackungen, auf dem Bürgersteig entsorgte Papiertaschentücher, die Verrichtung »kleiner Geschäfte« in Hauseingängen... wann immer die Verursacher auf frischer Tat ertappt wurden, machte die zuständige Gemeinde aus Dreck Geld. Sogenannte Müllsheriffs (Arbeitsplatzbeschaffung!) kassierten gleich an Ort und Stelle ab. Das stieß nicht immer auf Gegenliebe, doch das ansehnliche Stadtbild entschädigte für so manches Ärgernis.
Anderswo hatte man den Versuch, umwelterzieherisch auf seine Mitbürger einzuwirken, längst aufgegeben. In einem im Chiemgau gelegenen Wintersportort sorgten Roboter und selbständig arbeitende Reinigungsmaschinen für die nötige Sauberkeit in den Straßen und auf den Pisten. Hier konnten sich die Touristen noch wie die Ferkel benehmen, ohne befürchten zu müssen, daß plötzlich jemand neben ihnen stand und die Hand aufhielt. Genau der richtige Ort zum Wohlfühlen für Dirty. Wie er wirklich hieß, wußte keiner. Den Namen Dirty hatte man ihm aufgrund seines ungepflegten Äußeren verpaßt. Seine Jacke war an mehreren Stellen eingerissen, das Hemd war voller Flekken, seine Stiefel wiesen Riesenlöcher auf wie nach einem Tau sendkilometermarsch, und die verdreckte Hose hätte man nach dem Ausziehen aufrecht hinstellen können. In seinem verfilzten Bart schleppte er die Essensreste mehrerer Mahlzeiten mit sich herum. Waschen war ein Fremdwort für ihn. Morgens suchte er den Krämer auf, legte ein paar Münzen auf den Tresen und kaufte eine Flasche Schnaps. Abends kehrte er in einem der anheimelnden Gasthöfe ein, wo er die Theke meist für sich hatte. Nachts schlief er irgendwo im Freien. Offensichtlich war er immun gegen die Kälte. Obwohl Dirty keiner Fliege etwas zuleide tat, war er den Ein heimischen ein Dom im Auge. »Der Penner muß weg«, forderte der Bürgermeister auf der Poli zeistation. »Er vergrault uns die ganzen Touristen. Wenn er die Schankstube betritt, verlangt die Hälfte der Gäste sofort nach der Rechnung. Und wenn er über die Skipisten stapft, riecht man ihn schon zehn Meilen gegen den Wind.« »Wie praktisch«, meinte der leitende Polizeibeamte, ein Ge mütsmensch durch und durch. »Dann sind die Skifahrer rechtzeitig gewarnt und stoßen nicht mit ihm zusammen. Im übrigen treibt sich der Kerl gerade mal vier Tage bei uns herum. Bestimmt zieht er bald weiter.« Als ihn der wütende Blick des Bürgermeisters wie ein Laserstrahl durchbohrte, versprach er ihm, umgehend etwas zu unternehmen. Dirty kam es gar nicht in den Sinn, weiterzuziehen. Es gefiel ihm hier. Er mochte die Gegend, er mochte die Leute - und er mochte dieses freie Leben ohne Pflichten und Zwänge. So lange er zurückdenken konnte, hatte er heimlich davon geträumt, sich einmal so richtig
gehenlassen zu dürfen.
So lange er zurückdenken konnte...
Wie lange war das eigentlich? So sehr sich Dirty auch anstrengte, er
konnte sich nur an die letzten paar Tage erinnern. Daran, daß er von
irgendwoher über die Berge gekommen war. Und an das unendliche
Glücksgefühl, daß ihn ständig wie ein guter Freund begleitete.
Die ganze Welt hätte er umarmen können. Gestern, heute, immer!
Wenn nur diese unsäglichen Schmerzen nicht wären...!
Sie tauchten in immer dichteren Schüben auf und verschlimmerten
sich von Tag zu Tag. Manchmal hatte er das Gefühl, als würde es ihn
innerlich zerreißen. Irgend etwas war in ihm, das dort nicht
hingehörte. Aber er konnte es nicht loswerden, denn es war ein Teil
von ihm.
Der Alkohol linderte den Schmerz. Allerdmgs benötigte er von Mal
zu Mal mehr davon.
Das Trinken schadete ihm erheblich. Mit jedem Schluck tötete er
gleich mehrere Hundert Gehirnzellen ab. Wenn das so weiterging,
würde er sich bald nicht mehr weiter als bis zur vergangenen Nacht
zurückerinnern.
Die vergangene Nacht... Dirty fiel ein seltsames Erlebnis ein, das er
nach dem Aufwachen gleich wieder verdrängt hatte.
Er hatte in einem Viehstall geschlafen. Im Halbschlaf war das Bild
eines unscheinbaren, blassen Mannes vor seinem inneren Auge
aufgetaucht. Eines Mannes, der mausgraue Anzüge trug, der stets
achtgab, nirgendwo anzuecken und der nur selten aus sich herausging.
Ein Schwächling wie er im Buche stand, dieser Ule Cindar.
Ule Cindar?
Woher kannte er seinen Namen?
Wessen Namen?
Dirty verschwendete keinen Gedanken mehr an die letzte Nacht.
Dafür war der Tag viel zu schön.
Die Sonne stand hoch am Himmel. Bergwanderer erklommen die
Aussichtsplattformen. Skifahrer wedelten die Hänge herunter. Kinder
spielten mit ihren Motorschlitten.
Um diese Jahreszeit kroch die Dämmerung schon früh aus den Tälern
und beendete das turbulente Treiben an den Hängen und Pisten.
Genau die richtige Zeit für ein heißes Getränk. In Scharen strömten
die Wintersportler in die Gasthöfe.
Auch Dirty begab sich hinunter in den Ort und freute sich bereits auf
die netten Leute in der Schankstube. Zwar wollte dort niemand mit ihm reden, doch es genügte ihm, einfach nur dazusitzen und zuzuhören. Am Ortsrand wurde er von einem dicken Polizisten abgefangen. Dirty fand ihn sehr sympathisch. Seiner Aufforderung, in den Schweber zu steigen und mit aufs Revier zu kommen, folgte er mit einem freundlichen Lächeln. Zweifelsohne war der Beamte Frischluftfanatiker. Nach der Fahrt ließ er die Türen des Schwebers weit offenstehen. Und im Büro öffnete er sofort alle Fenster. Mit gerümpfter Nase durchsuchte der Polizist Dirty s Taschen. Eine Identitätskarte oder sonstige Papiere hatte der ungepflegte Mann nicht bei sich. Nur Bargeld, allerdings nicht mehr sonderlich viel. »Ein Vermögen ist das nicht«, bemerkte der Beamte. »Für einen guten Schluck reicht es noch«, entgegnete Dirty. »Wenn nichts mehr da ist, bettele ich mir halt ein bißchen was zusammen.« »Schon mal an Arbeit gedacht?« »Das Leben ist zu kurz, als daß man es mit Arbeiten verschwenden sollte. Ich hatte mal einen Job, glaube ich. Einen verdammt harten und gefährlichen sogar. Doch ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern.« »An dein letztes Bad erinnerst du dich bestimmt auch nicht mehr«, erwiderte der Polizist. »Ich gehe nach nebenan und lasse dir eine Wanne ein. Du ziehst dich inzwischen aus.« »Aber dann bin ich ja nackt.« »Ja und? Wolltest du angezogen baden? Deine Klamotten verbrennen wir. Du kriegst von mir was zum Anziehen, ein paar Kleidungsstücke, die mir schon lange zu eng sind.« Der Beamte verließ das Vernehmungszimmer und begab sich in seinen Wohntrakt. Dirty entkleidete sich, wie man es ihm aufgetragen hatte. Sein Blick fiel auf den Suprasensor, der auf dem Büroschreibtisch stand. In seinem Gedächtnis flackerte etwas auf. Dirty fiel ein, daß er sich mit solchen Geräten gut auskannte. Er schaltete es ein. Kurz darauf saß er vor dem Bildschirm und surfte voller Begeisterung kreuz und quer durch die Datenbahnen. Die Welt war ja so groß und herrlich, und überall stieß er auf nette Menschen, mit denen man ein kleines Schwätzchen halten konnte. Nicht nur mit Menschen traf er im weltweiten Datennetz zusammen.
Auch ein Roboter hatte sich zur Kommunikation eingefunden. Ein liebenswertes Blechkerichen, das ihn Vater nannte. Dirty hielt das für einen Scherz. Wie hätte er eine Maschine zeugen sollen? »Hier ist es zehn Uhr abends«, teilte ihm der Roboter mit - of fensichtlich wurde er im Bereich der Zeitansage eingesetzt. »Demnach stehen die Uhren im Chiemgau auf ungefähr fünf Uhr nachmittags; es ist bereits dunkel bei euch. Ich werde dir so schnell wie möglich ein GSO-Team schicken, daß dich abholt, okay? Zieh dir bis dahin was an. Du bist übrigens der vorletzte, den wir zurückholen. Nur Oshuta fehlt noch.« Der Roboter verschwand vom Bildschirm des Polizeicomputers. Als der Beamte sein Büro betrat, hatte Dirty das Gerät schon ausgeschaltet. »Ich habe gerade mit meinem Sohn gesprochen«, erzählte er freimütig. »Wissen Sie, was ein Oshuta ist?« Fünfundvierzig. So viele mutierte Cyborgs hatte ich bisher angepeilt, und genauso viele waren inzwischen ins Brana-Tal gebracht worden, teils ohne großen Widerstand, teils gegen ihren Willen in Fesselfeldern. Die Mediziner und Wissenschaftler arbeiteten auf Hochtouren, denn für jeden neuen Patienten mußten individuell abgestimmte Freßviren gezüchtet werden. Dreiunddreißig Cyborgs waren inzwischen vollständig entgiftet und somit außer Lebensgefahr. Es gab berechtigte Hoffnungen, auch die elf anderen durchzubringen. Für einen war jede Hilfe zu spät gekommen. Rok Nassis war nur noch als Leiche ins Brana-Tal zurückgekehrt. Nummer sechsundvierzig fehlte noch. Der dreiundzwanzigjäh-rige, ein Meter und neunundsechzig große Japaner Lati Oshuta. Offensichtlich konnte sich ein Winzling wie er besonders gut ver stecken, denn trotz aller Mühen blieb mir sein Aufenthaltsort ver borgen. War er in ein Mauseloch gefallen? Leider war niemand da, den ich um Rat fragen konnte. Ezbal, To Yukan und all die anderen Supergehirne waren vollauf mit den eingelieferten Cyborgs beschäftigt. Buscetta und Savannah fielen mir ein. Vielleicht konnten sie mir weiterhelfen. Hoffentlich schliefen sie noch nicht, denn es war bereits Mittemacht.
Ich traf die beiden in Buscettas Apartment vor dem Bildschirm an. Der Nachrichtenkanal spulte gerade die übelsten Katastro phenmeldungen der vergangenen Tage ab, darunter auch einige Berichte über Schäden und Tote, für die die Cyborgs verantwortlich waren. Bisher brachte sie niemand direkt damit in Verbindung. Die GSO-Leute vor Ort verdrehten mit viel Geschick und gezielt ausgestreuten Falschinformationen die Tatsachen. Wahrscheinlich würde mal wieder Trawisheim darüber befinden müssen, wieviel Wahrheit die Bevölkerung vertragen konnte. Ein Dauerbrenner in den Nachrichten war derzeit das meterlange Schlangenungeheuer, das ganz Tokio lahmgelegt hatte. Ich hatte bei meinen Recherchen im Weltrechnernetz davon erfahren. Japans riesige Metropole war mittlerweile zur Hälfte evakuiert worden. Die andere Hälfte hockte verängstigt in ihren vier Wänden und hoffte, daß die Bestie vorüberziehen und beim Nachbarn »anklopfen« würde. Rund um Tokio hatten regionale Streitkräfte einen Ring gezogen. Nicht nur wegen des betonzermalmenden Untiers. Man wollte auch verhindern, daß Plünderer mit ihrer Beute die Stadt verlassen konnten. Innerhalb der Stadt patrouillierten Soldaten in Vierergruppen. Die TF hatte einen 100-Meter-Raumer der Wolf-Klasse zur Un terstützung geschickt. Mittlerweile wußte man, daß sich die entartete Riesenschlange von Energie ernährte. In Tokio würde sie nicht finden, was sie suchte, nicht einmal einen eingeschalteten Transmitter. Was aber, wenn sie einen Ausbruch riskierte? Wie sollte man etwas stoppen, das weder beschossen noch bombardiert werden durfte? Nicht einmal mit Fesselfeldem war dem meterlangen Monstrum beizukommen. Sobald die Geräte eingeschaltet wurden, saugte es sämtliche Energien begierig in sich auf und verhinderte dadurch von vornherein den Aufbau des Feldes. Selbstverständlich hatte ich die Möglichkeit in Betracht gezogen, daß es sich bei der Monsterschlange um Oshuta handeln könnte - trotz der enormen Ausmaße, die so überhaupt nicht zu ihm passen wollten. Aber mein Programmgehirn hatte geschwiegen. Ein Impulskontakt war nicht zustandegekommen. »Vielleicht mußt du nur näher herangehen«, meinte Buscetta, nachdem ich Savannah und ihm mein Problem geschildert hatte. »Nicht alles läßt sich aus der Feme bewältigen.«^ Aus der Feme... wenn ich mich ins weltweite Rechnemetz einklinkte,
schmolz die Welt für mich zusammen. Tokio war dann nicht Tausende von Kilometern entfernt, es lag quasi um die Ecke. »Ich könnte mir gut vorstellen, daß es Oshuta wie magisch in seine Heimatregion gezogen hat, als ihn die ersten Schmerzen und Wahnvorstellungen befielen«, sagte Savannah. »Theoretisch könnte er das Ungeheuer sein - und praktisch schadet es nichts, nach Tokio zu reisen, um dort nach dem Rechten zu sehen. Die Stadtbewohner wären dir für deine Hilfe bestimmt dankbar.« Meine Freundin hatte recht. Hier wurde ich augenblicklich eh nicht gebraucht. Wahrscheinlich war ich so schnell wieder zurück, daß Ezbal mein Verschwinden nicht einmal bemerken würde. Tokio war doch nur einen Katzensprung entfernt, vorausgesetzt, man benutzte einen Transmitter, einen rasanten Jett oder eine Katze, die enorm weit springen konnte. Ich bedankte mich bei meinen Freunden für den Rat und wollte das Zimmer verlassen. Zu meiner Überraschung standen sie auf, um mich zu begleiten. »Wo wollt ihr hin?« fragte ich sie verwundert. »Mitkommen«, antwortete Savannah entschlossen. »Allmählich haben wir hier alles gesehen, zumindest das, was man uns sehen läßt. Höchste Zeit, zu neuen Abenteuern aufzubrechen.« »So einfach geht das nicht«, wies ich ihr Anliegen zurück. »Das Brana-Tal ist so etwas wie ein Hochsicherheitstrakt. Es darf nicht jeder ein- und ausgehen wie es ihm gefällt. Ich habe durchgesetzt, daß ihr mich nach hierher begleiten durftet, entgegen allen Vorschriften. Bevor man euch wieder fortläßt, werdet ihr noch einer gründlichen Sicherheitsprüfung unterzogen, die vermutlich längst in die Wege geleitet wurde. Außerdem werden eure Finger- und Ohrabdrücke gespeichert und andere untrügliche Erkennungsmerkmale wie die exakten Abmessungen eurer Iris. Zu guter Letzt wird man euch genetische Proben entnehmen.« »Tut das weh?« fragte Savannah erschrocken. »Bei der Blutentnahme piekt es ein bißchen, habe ich mir sagen lassen«, erwiderte ich. »Ansonsten läuft alles ganz harmlos ab. Die Speichelprobe wird dir mit einem Wattestäbchen entnommen, und für die Haarprobe benötigt man lediglich eine Schere. Abschließend urinierst du in ein Glas und...« »Wie bitte?« warf Buscetta ärgerlich ein. »Man verlangt uns allen Ernstes eine Urinprobe ab? Was ist das hier? Ein Krankenhaus?«
»Die hiesigen Mediziner wollen nur sichergehen, daß ihr keine gefährlichen Bakterien eingeschleppt oder euch hier welche einge fangen habt«, informierte ich ihn. »Was regt ihr euch auf? Ihr habt euch doch schriftlich mit allem einverstanden erklärt, als wir bei unserer Ankunft von To Yukan am Transmitter in Empfang ge nommen wurden.« »Das nächste Mal schaue ich genauer hin, bevor ich was unter schreibe«, knurrte Savannah. »Ohne eure Unterschrift, die übrigens von einem Graphologen genauestens begutachtet wird, hätte man euch keinen Meter wei tergehen lassen«, erklärte ich ihr. »Für euren nächsten Besuch genügt eine kurze Personenabfrage - es sei denn, jemand verschlampt eure gespeicherten Daten und die Untersuchungen müssen wiederholt werden.« Das war einer jener Augenblicke, in denen ich froh war, kein Mensch zu sein. Als Roboter wurde man nicht ständig von Ärzten gepiesackt. Ich mußte Bernd Eylers nicht aus dem Bett holen - in Alamo Gordo war gerade Mittagszeit. Aber selbst zu später Stunde hätte ich den Leiter der Galaktischen Sicherheitsorganisation vermutlich hellwach vorgefunden. Angesichts der dramatischen Ereignisse wurde nicht nur in Brana-Tal, sondern auch bei der GSO rund um die Uhr gearbeitet. Ich informierte Eylers über mein Vorhaben und bat ihn um Un terstützung. Er brauchte nicht lange darüber nachzudenken. Selbstverständlich hatte die GSO in der Region Japan eine Nie derlassung - ich hatte auch gar nichts anderes erwartet. Eylers sagte mir zu, sich mit seinen Leuten dort in Verbindung zu setzen und sie anzuweisen, mich nach allen Kräften zu unterstützen. »Ich werde ihnen mitteilen, daß ich dir die Leitung der Aktion übertragen habe«, sagte er. »Für die Dauer des Einsatzes bist du ein leitender freier Mitarbeiter unserer Organisation.« Ich fühlte mich geehrt. Zuerst Ezbals persönlicher Assistent, dann Einsatzleiter innerhalb der GSO... was für ein Aufstieg! Dagegen konnte »Schweinchen Oberschlau« nicht anstinken. Ich kam auf der ganzen Welt herum. Gestern Mars - heute Himalaja morgen Japan... Und der Checkmaster? Seine Herrschaft endete am Einstiegsschott der POINT OF. Zwar drang er mit dem Flaggschiff der Terranischen Flotte bis in ferne Galaxien vor, dennoch war er dazu verdammt, auf ewig im Raumschiff zu verbleiben. Fast konnte er einem leid tun.
Kurz vor meiner Abreise suchte mich Ezbal auf. Er hatte gehört, daß ich das Brana-Tal verlassen wollte und erkundigte sich nach dem Grund. Als er erfuhr, was ich vorhatte, gab er mir die letzten beiden intakten Cyborgs als Geleitschutz mit. Im Morgengrauen trafen George und Charly Snide sowie meine Wenigkeit am Stadtrand von Tokio ein. Am Himmel über dem BranaTal würde noch etwa drei Stunden die Dunkelheit regieren. Hier breitete sich längst der Schrecken aller gardinenwaschenden Hausfrauen aus: Grauschleier. Feine Nebelschwaden hingen über den Dächern und in den Straßen. Zwischen den Wolken stand der Kugelraumer der TF. Von dort aus wurde der Weg der Monsterschlange wachsam verfolgt, so daß die patrouillierenden Soldaten jederzeit wußten, wo sie sich gerade aufhielt und in welche Richtung sie sich weiterbewegte. Auf diese Weise konnten gefährdete Bürger rechtzeitig in Sicherheit gebracht werden. »Wir nennen es die Strategie der ruhigen Hand«, berichtete uns ein japanischer Kommandeur. »Die Zahl der Toten und Schwerverletzten ist seither drastisch zurückgegangen. Manchmal erwischt die Bestie den einen oder anderen Plünderer, Mörder, Vergewaltiger... die Soldaten sehen dann hoffentlich weg.« Ich konnte und wollte nicht glauben, was ich da hörte. Angloter, die aus dem Englischen hervorgegangene künstliche Einheitssprache der Terraner, trug wesentlich zur allgemeinen Völkerverständigung bei. Eine tolle Sache. Manchmal wünschte ich mir jedoch, nicht alles verstehen zu können, was an Unüberlegtheiten ausgesprochen wurde. »Ist es nicht die Aufgabe deiner Truppe, jeden Menschen in dieser Stadt zu schützen, unabhängig von seinem Stand und Ansehen?« fragte ich ihn scharf. »Stell dieselbe Frage den Opfern der Verbrecher«, erwiderte er mit harter Miene. »Denen, die noch in der Lage sind, zu antworten.« Zwölf GSO-Männer trafen ein, ausgestattet mit leichter Bewaffnung und GSO-Armbandviphos. Auch ich erhielt eins. Alle waren auf dieselbe Frequenz eingestellt. Nach einer kurzen Lagebesprechung tauchten wir mit wendigen Personenschwebem in die nebel verhangene Großstadt ein. Die grauen Schleier senkten sich herab, als würden sie von einer unsichtbaren Hand ganz langsam zu Boden gedrückt. Allmählich
lösten sie sich auf.
Heller wurde es trotzdem nicht. Im Gegenteil. Täuschte ich mich, oder
verdunkelte sich der Himmel tatsächlich?
»Auch das noch«, murmelte George Snide, der neben mir im
Schweber saß. »Ein Gewitter zieht auf.«
»Wir müssen das Ungeheuer töten, bevor das Unwetter losbricht«,
vernahm ich Charlys Stimme vom Rücksitz. »Sonst wird es so stark,
daß es unbesiegbar ist.«
Töten? durchzuckte es mich. Und falls es sich wirklich um Oshuta
handelt... ?
Charly schien meine Gedanken zu erraten. »Vorher werden wir
natürlich versuchen, das Biest lebend einzufangen«, sagte er.
Die Stille um uns herum war nahezu gespenstisch. Menschenleere
Straßen hatten etwas Unheimliches an sich.
Unsere Schweber standen mit dem Kugelraumer in ständigem
Funkkontakt. Das Schiff war sozusagen unser Verkehrsleitsystem. Mit
Hilfe der Anweisungen von oben kreisten wir das Ungeheuer
allmählich ein.
In diesem Augenblick öffnete der Himmel seine Pforte zur Hölle. Das
»Stakkato infernal« begann. Blitz und Donner wechselten sich in
schneller Reihenfolge ab.
Der Lärm verstummte. Die Lichtblitze verlöschten. Für eine
Zeitlang war es wieder ganz still um uns herum.
War das die berühmte Ruhe vor dem Sturm? Die Snides und ich
rechneten jede Sekunde mit einem gehörigen Wolkenbruch.
»Ausgerechnet jetzt, wo wir aussteigen müssen«, schimpfte Charly.
»Stell dich nicht so an«, entgegnete sein Bruder. »Oder bist du aus
Marzipan?«
Nicht nur wir verließen unseren Schweber. Auch die GSO-Leute
stiegen aus. Wir konnten es nicht riskieren, zu dicht an das
Schlangenmonstrum heranzufahren. Noch durfte es unsere Anwe
senheit nicht einmal erahnen.
Einen bombensicheren Plan hatte ich nicht. Ich war so ratlos wie der
Rest meiner Truppe. Allerdings ließ ich mir das nicht anmerken. Als
Chef mußte man immer leuchtendes Vorbild sein.
Das Ungeheuer kroch die Harumi Dori entlang, in Richtung des
Kabuki-Theaters. Auf der zum Tsukidschi-Fischmarkt führenden
Kreuzung hielt es inne. Spürte es, daß wir es eingekreist hatten?
»Was machen wir jetzt?« fragte mich ein GSO-Mann über Arm
bandfunk. »Ruhe bewahren«, erwiderte ich - eine Antwort, die immer paßte. Die Riesenschlange bewegte sich keinen Millimeter mehr. Hatte sie der Energiemangel schon so sehr geschwächt, daß sie jetzt angreifbar war? Oder hielt sie lediglich ein Schönheitsschläfchen? »Sieht aus, als würde sie auf irgendwas warten«, meinte George. »Wenn es nur nicht so still wäre. Die Lautlosigkeit tötet mir noch den letzten Nerv.« Weder er noch Charly hatten bislang aufs Zweite System umge schaltet. Dafür gab es noch keinen Anlaß. Das Problem mit der Lautlosigkeit erledigte sich mit einem Schlag, im wahrsten Sinne des Wortes. Plötzlich zuckten wieder Blitze am Himmel, gefolgt von krachenden Donnerschlägen. Und dann passierte, was niemals hätte geschehen dürfen: Ein Blitz schlug mitten in das meterlange Monstrum ein! Jede normale Schlange wäre auf der Stelle getötet worden. Dieses außergewöhnliche Reptil labte sich jedoch an den himmlischen Energien wie am biblischen Manna. Jetzt war es praktisch unbe siegbar. Das Untier richtete seinen massigen Oberkörper auf und reckte seinen häßlichen, deformierten Schädel in die Höhe. Ich glaubte, über dem Haifischrachen Oshutas Gesichtszüge zu erkennen, war mir dessen aber nicht sicher. Um nicht entdeckt zu werden, zogen wir uns alle rückwärtsge-'hend tiefer in die Seitenstraßen zurück. Ich gab nicht acht und fiel beinahe in eine breite, langgestreckte Baugrube. Die Straße war fast komplett aufgerissen. Rechtzeitig ergriff ich Georges helfende Hand. »Danke, Snide«, sagte ich. »Gern geschehen«, entgegnete Charly gedankenverloren. Das Trockengewitter setzte sich in sporadischen Abständen fort. Stürmischer Wind pfiff uns um die Ohren. Der erwartete Regen blieb vorerst aus, wofür wir nicht undankbar waren. »Wie wäre es, wenn wir die Bestie in die Baugrube locken?« überlegte George laut. »Und dann?« fragte ihn sein Bruder. »Willst du sie lebendig be graben? Das Biest wäre in Nullkommanix wieder frei, schließlich kann es sich sogar durch Beton fressen.« »War ja nur so eine Idee«, brummelte George und deutete in die
Grube. »Schade, daß Hochspannung der Schlange nichts ausmacht. Dort unten liegen die dicken Hauptkabel für die Stromversorgung. Eins davon ist aus blankem Kupfer. Die Ummantelung ist stellenweise aufgerissen. Wahrscheinlich soll es ausgetauscht werden; das könnte der Grund für die Bauarbeiten sein. Als die Stadt evakuiert wurde, flüchteten die Arbeiter in Panik und ließen alles stehen und liegen.« »Du spinnst«, meinte Charly. »Kupferkabel gibt es doch seit der Antike nicht mehr. Die Dinger gehören längst ins Museum.« Er schaute in die Tiefe und hielt verblüfft inne. »Du hast recht, George, das ist tatsächlich eines der letzten Kup ferkabel.« »Sag ich doch. Augenblicklich ist es tot, genau wie die anderen. Würde man Strom durchfließen lassen, könnte man Nilpferde am Spieß darauf grillen. Leider wirkt das bei der Monsterschlange nicht.« Ich trat ebenfalls an den Rand der Grube - und hatte prompt eine Idee. »Ein Käfig wird das Untier bändigen«, bemerkte ich nachdenklich, mehr zu mir selbst als zu den Snides. »Es gibt keinen Käfig auf der Welt, aus dem es nicht ausbrechen könnte«, war George überzeugt. »Einen schon«, widersprach ich. Wieder meldete sich ein GSO-Mann am Funkgerät. »Wie werden wir vorgehen?« wollte er wissen. »Wir improvisieren«, lautete meine Antwort. »Hört mir jetzt alle gut zu...« Erste dicke Regentropfen klatschten auf den Straßenasphalt. Die Monsterschlange hatte ihren Platz nicht verlassen. Nach wie vor reckte sie ihren Oberkörper in die Höhe. Sie wartete auf einen weiteren Blitz, der ihre Kräfte noch mehr aufladen und sie noch mächtiger machen würde. Als sie einen Mann sah, der hinter einem Haus hervorgelaufen kam, ruckte ihr häßlicher Kopf wie bei einer Kobra ruckartig herum. Rasch verschwand der Mann hinter einem zweiten Haus. Dafür tauchte eine weitere Gestalt aus einer anderen Richtung auf und brachte sich genauso schnell wieder in Sicherheit. Plötzlich schien es überall von Menschen nur so zu wimmeln. Mal waren sie da, mal dort... Sie bewegten sich derart flink, daß sich die Schlange auf keinen richtig konzentrieren konnte. Das machte sie wütend. Unendlich wütend!
An einer Straßenecke blieb endlich einer von ihnen stehen. Alle übrigen zogen sich zurück. Die Riesenschlange fixierte den Stehengebliebenen und kroch langsam auf ihn zu. Er war anders als die übrigen Zweibeiner. Durch seinen metallenen Körper floß kein Blut - sondern Energie. Nur wenig, verglichen mit den Energiemengen, die das Monster schon intus hatte. Doch auch ein »Appetithäppchen« verschmähte es nicht. Plötzlich drehte sich der Metallene um und rannte los, hinein in eine der vielen Seitenstraßen. Das Ungeheuer setzte ihm nach. Die anderen Zweibeiner hatte es entkommen lassen, der hier würde nicht entwischen... Himmel, legte das Ungetüm ein Tempo vor! Zwar besaß es die Eleganz eines Hängebauchschweins, doch die Geschwindigkeit, mit der es mich verfolgte, glich der eines Geparden. Die GSO-Männer hatten es nervös gemacht, und ich hatte dann seine Aufmerksamkeit auf mich gelenkt. Mein Plan war, es zur Baugrube zu locken. Ob ich dort jemals heil ankommen würde, war allerdings fraglich. Obwohl ich wie ein Hase ständig Haken schlug, blieb das Untier dicht hinter mir. Es vollzog jede meiner Bewegungen nach, als hätte ich einen Schlangenmagneten am Hintern. Im Holokino wurden spannende Verfolgungsjagden meist von dramatischer Musik begleitet. Unsere musikalische Begleitung be stand aus dem Grollen und Krachen des Donners, und für die farbliche Untermalung sorgten grelle Blitzlichter zwischen dunklen Wolken. Nur mit der Erfrischung für die Zuschauer haperte es. Der Regen tröpfelte lustlos vor sich hin und kam noch nicht so richtig in die Gänge. Im Gegensatz zu mir. Und wie ich in die Gänge kam! Als mir meine Sensoren meldeten, daß der Odem des japanischen Drachen bereits mein Metall beschlagen ließ, mobilisierte ich sämtliche Energien. Ich bog in die Seitenstraße mit der Baugrube ein, rannte darauf zu und
stieß mich am Rand der Grube mit den Füßen ab.
Diesen kolossalen Weitsprung hätte mir so leicht keiner nachgemacht.
Ich flog viele Meter weit durch die Luft. Kein Wunder, bei diesem
Anlauf. Als ich ungefähr die Grubenmitte erreicht hatte, ging es abwärts. Mit den Füßen landete ich zielsicher auf dem dicken blanken Kupferkabel. Beinahe wäre ich abgerutscht und der Länge nach hingeschlagen... Aber eben nur beinahe. Ich balancierte mich mit den Armen aus und stand letztlich kerzengerade auf dem Kabel. Im Schulsportunterricht hätte ich dafür vermutlich die Note eins bekommen - bei der Olympiade hätte man mich ausgebuht. Alles im Leben war relativ. Ich richtete meine Optik auf den oberen Seitenrand der Grube. Etwas Großes, Dickes strich dort entlang. Etwas, das auf der Suche nach mir war. Der Regen wurde allmählich stärker. Steine lösten sich vom brüchigen Rand und kullerten herab. Ich rührte mich trotzdem keinen Zentimeter vom Fleck - denn ich wollte unter allen Umständen gefunden werden. Wie ich es gehofft hatte, hatte das Biest erst gar nicht versucht, meinen Sprung nachzuvollziehen. Statt dessen war es auf den Bürgersteig ausgewichen. Jeden Moment konnte es mich von oben angreifen. Jetzt hing mein Leben von den Snide-Brüdem ab. Ich hatte sie mit einer Arbeit betraut, für die eine mittelständische Elektrofirma mindestens eine Woche benötigt hätte. Den Snides hatten nur knapp dreißig Minuten zur Verfügung gestanden - und ihr Zweites System. Obwohl ich auf die Attacke vorbereitet war, kam sie doch irgendwie überraschend. Mit raketenartigem Tempo jagte der weit aufgerissene Rachen der Haischlange auf mich zu, von oben her, wie ich es erwartet hatte. Die Kiefer, falls sie überhaupt welche besaß, schnappten zu. Die spitzen Reißzähne zerrissen und zermalmten alles, was sich in diesem Augenblick zwischen ihnen befand: nichts. Die Zähne krachten mit solcher Wucht aufeinander, daß einige von ihnen zersplitterten. Ich hatte mich mit meiner rechten Hand oberhalb des Rachens im Gesicht des Schlangenmonstrums verkrallt, und mit der linken Hand unterhalb des Rachens hart zugefaßt. Mit aller Macht drückte ich ihm das Riesenmaul zu. Artus, die lebende Schraubzwinge. Um sich zu befreien, setzte das meterlange Ungetüm sämtliche elektrischen Energien ein, die es gespeichert hatte... Und ich stand mit den Füßen auf blankem Kupfer! Fest und sicher wie ein Fels in der Brandung. Die Energie floß aus dem Ungeheuer ab und über meinen Me
tallkörper in das Kabel hinein. Meine Innereien wurden davon nicht beeinträchtigt. Dafür sorgte das Prinzip des Faraday sehen Käfigs. Fachmännisch ausgedrückt: Die elektrisch leitende Umhüllung eines Raumes, welche gegen äußere elektrische Einflüsse abschirmt. Einfacher gesagt: Ein Geflecht aus Blech und Drähten, das vor elektrischen Feldern schützt. Die ausgestoßene Energie verpuffte wirkungslos irgendwo im Nirgendwo. Die Snides hatten mehrere Meter Kabel entmantelt und es geerdet. Die Schlangenbestie zuckte und zappelte und versuchte verzweifelt, sich aus meinem festen Griff zu befreien. Ich spürte das Reißen und Zerren an meinen Gelenken. Wieder einmal nahm ich mir vor, stabilere Haltemngen für meine Gliedmaßen zu konstruieren. Mittlerweile hatte ein Mann, den die Menschen Petrus nannten, die Himmelsschleusen weit geöffnet. Gnadenlos prasselte der Regen auf mich herab. Auf mich und - Lati Oshuta. Ja, er war es, daran gab es für mich keinen Zweifel mehr. Ich hatte soeben den Impuls deutlich gefühlt. Sämtliche Energie, die dem Ungeheuer innewohnte, in das er sich verwandelt hatte, floß über meine Hülle ab in das Kupferkabel und dann in die Erde. Der gewaltige Kurzschluß heizte meine metallene Hülle auf, aber mein Innenleben wurde nicht beeinträchtigt. »... und dann lag er im Krankenzimmer, schwach und hilflos, als könne er kein Wässerchen trüben«, beendete ich meinen Bericht. »Kaum zu glauben, daß sich ein Zwerg wie er in einen solchen Riesen verwandeln konnte.« »Wahrscheinlich war er innen hohl«, scherzte Savannah. »Wie habt ihr das bewußtlose Riesenviech hierhergebracht?« »Eingehüllt von einem Fesselfeld, wie bei Sass«, erklärte ich ihr. »Diese Vorsichtsmaßnahme erwies sich zum Glück als unnötig, denn Oshuta wachte unterwegs nicht auf. Auch nach der Rückverwandlung und der anschließenden Entgiftung änderte sich an seinem komatösen Zustand nichts. Wir sind jedoch guter Dinge, daß er bald erwachen wird. Vermutlich kann er sich dann an nichts mehr erinnern und fragt Ezbal und To Yukan Löcher in den Bauch, so wie die anderen Patienten.« »Ich habe in meinem Leben schon so einiges erlebt, aber das hier
übersteigt meine bisherigen Erfahrungen bei weitem«, bemerkte Buscetta. »Am laufenden Band wurden die seltsamsten Gestalten eingeliefert, aus allen Teilen der Welt, und jetzt sind sie wieder alle normal und gesund.« »Noch nicht so ganz«, widersprach ich ihm. »Zwar befinden sich alle Cyborgs außer Lebensgefahr, hoffe ich jedenfalls, doch bis sie wieder einsatzbereit sind, vergehen sicherlich noch viele Wochen.« Er, Savannah und ich saßen in meinem geschmackvoll eingerichteten Dreißigquadratmeterzimmer zusammen und ließen die vergangenen aufregenden Ereignisse Revue passieren. Ich schilderte den beiden das, was ich als zur Verschwiegenheit verpflichteter Insider für vertretbar hielt. Die nächste Frage verblüffte mich allerdings. »Können die Cyborgs überhaupt jemals wieder eingesetzt werden?« erkundigte sich Savannah. »Wie ich hörte, soll es zukünftig gar keine mehr geben.« »Du hast deine Ohren wirklich überall«, staunte ich. »Offensichtlich sind einige Mitarbeiter in deiner Gegenwart geschwätziger als sie es sein dürften. Oder lauscht ihr heimlich an den Türen? Ihr beide werdet mehr und mehr zu Geheimnisträgern. Eine Rückkehr in euer bisheriges Leben halte ich daher für ziemlich unwahrscheinlich. Ich befürchte, man wird euch erschießen müssen.« »Ich hätte nichts dagegen, hierzubleiben«, sagte Buscetta. »Außerhalb des Brana-Tals gibt es nichts, was ich vermissen würde. Abgesehen natürlich von meinen Comics, aber die dürfte ich mir bestimmt holen.« »Kein Problem«, entgegnete ich belustigt. »Die hauseigene Spionageabwehr müßte sie zwar alle lesen, bevor man sie dir aus händigt, doch ein bißchen Bildung schadet den guten Leuten gewiß nichts.« »Vergiß es, Frank«, sagte Savannah zu ihrem Neffen. »Was sollten sie hier mit dir schon groß anfangen?« »Hast du die gut ausgestatteten Werkstätten gesehen?« stellte ihr der junge Mann die Gegenfrage. »Allein beim Anblick der Werkzeuge juckt es mich in den Fingern. Daheim habe ich nur einen kleinen schäbigen Werkzeugkasten, voll mit minderwertigem Material.« Bis zu diesem Moment hatte ich angenommen, Buscetta würde nur Spaß machen, so wie ich. Allmählich wurde mir jedoch klar, daß es
ihm damit sehr ernst war. »Dein Talent für Mechanik in allen Ehren«, erwiderte Savannah. »Im Zeitalter der Elektronik kommst du mit handwerklichen Fähigkeiten leider nicht sonderlich weit.« Das sah ich anders. »Gute Handwerker haben heutzutage Sel tenheitswert. Laut Statistik wollten in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr Menschen studieren und immer weniger einen Beruf ergreifen, bei dem man sich die Hände schmutzig macht. Ich kann ja mal mit Ezbal reden, Buscetta, vielleicht hat er einen Job für dich. Viel Hoffnung würde ich mir an deiner Stelle allerdings nicht machen. Nur auserwählte Personen werden in die Gemeinschaft des Brana-Tals aufgenommen, und das auch nur nach harten, schwierigen Tests.« »Ich kann darauf gut und gern verzichten«, stellte Savannah sogleich klar. »Meine Freiheit ist mir wichtig. Ich gehöre auf die Landstraße. Hier würde ich mich nur eingesperrt fühlen.« »Um noch mal auf die Cyborgs zurückzukommen«, wechselte ich das Thema. »Was man dir zugetragen hat, Savannah, ist nur zum Teil richtig. Es wird auch weiterhin Cyborgs geben, allerdings keine mehr mit Phant-Variante. Zumindest nicht, wenn es nach Ezbal geht. Der weitere Einsatz von Phant-Viren erscheint ihm zu gefährlich.« <, »Verstehe ich nicht«, bekannte meine Freundin. »Nach allem, was ich inzwischen über Cyborgs in Erfahrung bringen konnte, sind sie ohne die Viren nichts weiter als normale Menschen.« »Das trifft nur zum Teil zu«, klärte ich sie auf. »Sie verfügen in jedem Fall über ein Programmgehirn und künstlich enorm gesteigerte Körperkraft. Der Phantzustand wird durch Aktivierung des P-Virus ausgelöst. Es bindet sämtliche Gase und Flüssigkeiten im Körper eines Cyborgs. Das ist unabdingbar für Tätigkeiten, die einen normalmenschlichen Organismus überf ordern. Cyborgs, die nicht auf den Phant-Modus umschalten können, sind weniger leistungsfähig. Ohne Phanten vollbringen sie Großtaten - mit Phan-ten wahre Wunder.« Ich brach meine Ausführungen abrupt ab, denn plötzlich stand Ezbal im Zimmer. Keiner von uns hatte ihn kommen hören. Mit düsterer Miene schaute er uns nacheinander an. 346 Ich ahnte, warum er so sauer war. Immerhin hatte ich mit Savannah
und Buscetta über Geheimnisse gesprochen, die unbedingt innerhalb der Grenzen des Brana-Tals verbleiben mußten. Eigentlich durften die beiden nicht einmal von der Existenz dieser Institution wissen. Gerade wollte ich mich für meine Freunde verbürgen, da wandte er sich Frank zu und übergab ihm eine kleine Papiertüte. Es klapperte leise darin. »Was ist das?« fragte Buscetta. »Die Überreste Ihrer Ringkamera«, antwortete Ezbal. »Besser gesagt: Die Überreste der Imitation einer Ringkamera. Mit diesem Kinderspielzeug hätten Sie nicht einmal ein zweidimensionales Schwarzweißfoto schießen können. Es wieder zusammenzusetzen lohnte sich nicht. Reine Zeitverschwendung.« »Verdammter Halunke!« schimpfte Jamies Neffe. »Nicht Sie, Herr Ezbal. Damit meine ich den Kerl, der mir die Kamera verkauft hat. Angeblich handelte es sich um Qualitätsware. Na warte, Bursche! Keine einzige Rate kriegt er mehr von mir.« »Das hat er sicherlich auch gar nicht erwartet«, meinte Savannah und schmunzelte. »Mit deiner Anzahlung ist er vermutlich mehr als zufrieden.« Sie schaute Ezbal an. »Sie machen ein ziemlich verdrießliches Gesicht, mein Lieber. Welche Laus ist Ihnen denn über die Leber gelaufen?« Typisch Savannah, dachte ich. Immer gleich drauflosfragen, ohne jedes Fingerspitzengefühl. Ich rechnete damit, daß mir Ezbal Vorwürfe wegen meines lok-keren Mundwerks machen würde, doch der Grund für seine düstere Miene war nicht ich. Es war sehr viel schlimmer. »Mark Carrell fühlt sich hundsmiserabel«, informierte er uns. »Wir haben ihn sofort untersucht und festgestellt, daß seine Körperzellen eine solch innige Symbiose mit den Phant-Viren eingegangen sind, daß...« Er hielt inne, mußte sich erst einmal sammeln. »... daß er ohne die Viren sterben wird«, beendete er den Satz. »Er allein?« fragte ich - obwohl ich die Antwort lieber nicht wissen wollte. Ezbal schüttelte den Kopf. »Carrell wurde als erster mit Virus caedes behandelt, deshalb machen sich die Symptome bei ihm auch zuerst bemerkbar. Ich bin überzeugt, die übrigen siebenundvierzig Cyborgs werden bald mit demselben Problem zu kämpfen haben, einer nach dem anderen. Wenn nicht ein Wunder geschieht, gibt es nur noch
eines, was wir für die Jungs tun können - sie in achtundvierzig Leichentücher hüllen.« REN DHARK Drakhon-Zyklus Band 14 Weiter denn je erscheint Mitte Oktober 2002