Neal Davenport Coco und der
Dämon von Venedig
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Neal Davenport Coco und der
Dämon von Venedig
ERICH PABEL VERLAG KG-RASTATT/BADEN DÄMONEN-KILLER-Buch erscheint vierwöchentlich im Erich Fabel Verlag KG, Pabelhaus, 7550 Rastatt Copyright © 1979 by Neal Davenport Titelillustration: Nikolai Lutohin Vertrieb: Erich Fabel Verlag KG Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck Verkaufspreis inkl. gesetzl. MwSt. Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden; der Wiederverkauf ist verboten. Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich: Pressegroßvertrieb Salzburg, Niederalm 300 A-5081 Anif NACHDRUCKDIENST: Edith Wöhlbier, Burchardstraße 11, 2000 Hamburg 1, Telefon (0 40) 3 01 96 29, Telex 02.161.024 Printed in Germany Juli 1979
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Prolog Die schmächtige Gestalt in der grauen Kutte verschmolz mit dem Regen. Zielstrebig schritt sie auf ein zweistöckiges Gebäude zu, das am Ende der Straße lag. Vor dem Haus blieb sie stehen und musterte das palastähnliche Gebäude aufmerksam. Nur das laute Plätschern des Regens war zu hören, in das sich das Rauschen des nahen Meeres mischte. Nach ein paar Augenblicken öffnete der kleine Mann die hohe Tür und trat ein. In der Halle war es stockfinster, doch der Schmächtige schien in der Dunkelheit sehen zu können. Ohne zu zögern durchquerte er die Halle und wich geschickt einem Kandelaber aus. Kurz bevor er den breiten Treppenaufgang erreichte, blickte er sich nochmals lauschend um. Im Haus war es völlig ruhig. Ein süßlicher Duft nach Räucherstäbchen und verbranntem Wachs hing in der Luft. Gemächlich stieg der Mann die Steinstufen hoch und blieb im ersten Stockwerk stehen. Zwei grün glühende Augen blitzten ihn an und kamen rasch näher. Der Kuttenmann hob langsam die rechte Hand, und die Katze, die ihn beobachtet hatte, kam schnurrend näher und strich um seine Beine. Es störte sie nicht, daß seine Kutte klitschnaß war. Der Mann wandte sich nach rechts. Er 3
verlangsamte schließlich seine Schritte und blieb vor der dritten Tür stehen. Seine Hände bewegten sich in Schlangenlinien. Geräuschlos, wie von Geisterhänden bewegt, öffnete sich die Tür. Die Katze lief an ihm vorbei ins Zimmer und miaute leise. Langsam trat der Mann ein und blieb wieder stehen. Das Wasser tropfte aus seiner Kutte, und innerhalb weniger Sekunden bildete sich um ihn herum eine große Lache. Lautes Schnarchen war zu hören, das von einem schweren Baldachinbett herkam. Die Katze sprang auf das Bett und wandte dem Mann ihre leuchtenden Augen zu. Der Schmächtige bewegte wieder die Hände. Drei Kerzen, die in einem hohen Goldleuchter steckten, flammten auf und tauchten den spartanisch eingerichteten Schlaf räum in mattes Licht. Eine Truhe stand neben dem Bett, eine weitere war an der rechts liegenden Wand zu sehen, neben der ein Stuhl stand, auf den der Schlafende seine Kleider gelegt hatte. An den Wänden hingen Gobelins, und auf dem schimmernden Boden lagen orientalische Teppiche. Auf der breiten Liegestatt schlummerte ein grobknochiger Mann. Sein Gesicht war bleich, das volle kastanienfarbene Haar zerwühlt, und der gleichfarbige Vollbart hing aus dem Bett und fiel fast bis auf den Boden. Der Mann schob die Kapuze in den Nacken. 4
Sein Kopfhaar war schneeweiß und seine Haut fast durchsichtig. Schneeweiß war auch sein dichter Bart, der zum größten Teil von der Kutte verdeckt wurde. Die Katze schlug mit der rechten Pfote spielerisch nach dem Gesicht des Schlafenden, der unwillig brummend die Augen öffnete und die Katze verjagte. „Mistvieh“, murmelte er verärgert und hob ein wenig den Kopf. Nun sah er den Alten. „Wer seid Ihr?“ fragte er und setzte sich verwundert auf. „Mein Name ist unwichtig“, sagte der Alte. „Du bist Tiziano Vecellio, besser bekannt als Tizian.“ „Ja, der bin ich“, sagte der Maler selbstgefällig. „Steh auf, Tizian“, sagte der Alte im Befehlston. „Aber ich möchte doch…“ Die Augen des Alten glühten gespenstisch. Tizian konnte den Blick nicht abwenden. Einen Augenblick lang schien sein Körper in sich zusammenzufallen. Er schlug die Decke zur Seite und kroch aus dem Bett. Bekleidet war er mit einem kunstvoll bestickten Nachthemd. „Führe mich in dein Atelier, Tizian!“ befahl der Alte. Der berühmte Maler griff nach dem Kerzenhalter. Ein paar Minuten später betraten sie das riesige Atelier. 5
„Woran arbeitest du gerade, Tizian?“ erkundigte sich der Alte und blickte sich interessiert um. Tizian wies auf eine Staffelei. „Ich habe eben erst begonnen“, erklärte der Maler und schritt auf die Leinwand zu. Der Alte folgte ihm. Die Leinwand war rötlichbraun getönt, und die Umrißlinien einer weiblichen Gestalt waren zu sehen, die mit verdünnter schwarzer Farbe aufgetragen waren. „Wann wirst du mit diesem Bild fertig sein, Tizian?“ „Ich weiß es nicht“, sagte der Maler. „Du wirst in genau vier Wochen mit dem Bild fertig sein“, sagte der Alte. „Das ist der 15. Mai 1535!“ Tizian nickte. Der Alte griff in eine Tasche seiner Kutte und holte einen Goldring hervor, in dem sich ein kugelförmiger Stein befand, der leicht bläulich schimmerte. „Wie ist der Name deines Modells, Tizian?“ „Elenora Gonzala.“ „Sie ist eine Spanierin?“ „Ja, Herr.“ „Du schenkst ihr diesen Ring“, sagte der Alte. „Und du wirst sie mit diesem Ring malen. Hast du mich verstanden?“ „Ja, Herr, ich habe Euch verstanden.“ Der Alte warf ihm den Ring zu, und Tizian fing ihn geschickt auf. Dann trat der Alte an das Bild heran und 6
strich mit dem rechten Zeigefinger über die Leinwand. Er murmelte etwas Unverständliches, und seine Hände huschten rasch hin und her. „Du vergißt meinen Besuch, Tizian“, sagte der Alte. „Und nun geh zurück in dein Schlafgemach!“ Der Alte wartete, bis Tizian gegangen war. Die Katze, die ihnen gefolgt war, kam nun schnurrend näher. Der Alte bückte sich, strich der Katze über den Kopf und raunte ihr Worte in einer längst vergessenen Sprache zu. Die Katze setzte sich nieder, und es schien, als würde sie die Worte des Alten verstehen. Etwas später richtete er sich auf, verschränkte die Hände vor der Brust, flüsterte ein paar Worte und verbeugte sich vor der Leinwand. Bald darauf verließ der Alte das Haus und verschwand im Regen…
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1.
Während des ganzen Fluges von London nach Wien hatte ich über die Botschaft nachgedacht, die mir Oirbsen gestern übermittelt hatte. Meine Freundin Rebecca und ich waren kaum eine Stunde im Haus in der Park Lane, als der gnomenhafte Bursche mit dem Nußknackergesicht auch schon auftauchte. Wie üblich war der undurchsichtige Bursche mit Frack und Zylinder bekleidet. „Ich habe eine Botschaft von Merlin erhalten“, sagte er, ohne sich lange mit einer Vorrede aufzuhalten. „Du sollst nach Wien fahren.“ „Das gefällt mir aber gar nicht“, entgegnete ich enttäuscht. „Tja, ich kann es nicht ändern.“ Der Kleine grinste und hob die Schultern. „Und was soll ich in meiner Heimatstadt tun?“ erkundigte ich mich gespannt. „Es hört sich vielleicht alles ziemlich merkwürdig an“, sagte der Gnom. „Du sollst genau um Mitternacht das Kunsthistorische Museum betreten. Kennst du dieses Gebäude?“ „Natürlich“, sagte ich. „Dort soll ein Bild von Tizian hängen“, sprach Merlins Vertrauter weiter. „Es ist als Mädchen im Pelz’ bekannt. Hast du schon mal was davon gehört?“ Ich nickte. „Ja, ich kenne dieses Bild.“ 8
„Dann ist ja alles prächtig. Du gehst hin und vollführst den ersten Teil der Beschwörung, mit der du dich normalerweise mit Merlin in Verbindung setzt. Alles Weitere wirst du dann aus dem Bild erfahren.“ Mehr hatte mir Oirbsen nicht sagen können – oder nicht sagen wollen. Ein paar Stunden später hatte ich mich über eine magische Kugel mit meinen Eltern in Verbindung setzen wollen, aber keinerlei Kontakt mit ihnen herstellen können. Sie befanden sich offenbar nicht in unserem Haus in Wien. Daraufhin hatte ich zum Telefon gegriffen und zu Hause angerufen. Mein Bruder Georg hatte sich gemeldet, den ich auf meinen Besuch vorbereitet hatte. Merlin hatte mir zweimal geholfen, und als ich wieder einmal von ihm Hilfe benötigte, hatte er mich wissen lassen, daß er sich selbst in Gefahr befände. Dann war die Verbindung mit ihm abgebrochen. Einige Zeit später hatte sich Oirbsen bei mir gemeldet, der sich als Merlins Bote ausgegeben hatte. Wenn ich Merlin helfen wolle, müsse ich sieben Siegel an mich bringen. Zwei hatte ich bereits gefunden: den geheimnisvollen Signatstern, der meine magischen Fähigkeiten verstärkte, und den Armreifen, mit dem ich die Zeit schächte lenken konnte. Aber nicht nur die Suche nach Merlin, die mir sogar richtigen Spaß machte, bewegte mich. Ich wußte, daß mir Asmodi nach dem Leben 9
trachtete, und das war schlimm. Einer seiner engsten Vertrauten, der unheimliche Dämon Zakum, hatte mir in Irland eine Falle gestellt, in die ich auch prompt geraten war. Ein unbedeutender Dämon, der aber über die Fähigkeit verfügte, jede beliebige Gestalt anzunehmen, hatte mich getäuscht. Er hatte sich als Oirbsen ausgegeben, mich zu einem Zeitschacht in Irland gelockt und mich in den Schacht ge stoßen. Ich hatte mich in der Vergangenheit wiedergefunden, aber mit Hilfe des Signatsternes und einiger Freunde alle bedrohlichen Situationen meistern können. Ja, es war mir sogar gelungen, in Merlins Versteck, einer Spiegelhöhle, einzudringen und den Armreifen an mich zu nehmen. Ich war in die Gegenwart zurückgekehrt und hatte den falschen Oirbsen unschädlich gemacht. Nun erhob sich die Frage, was Asmodi und Zakum wußten. War ihnen bekannt, daß ich mich in der Vergangenheit befunden hatte? Ich hoffte, daß sie diese Zeitreise nicht bemerkt hatten. In meiner ersten Freude hatte ich Rebecca alles von meinen Abenteuern in der Vergangenheit berichtet. Das war ein Fehler gewesen, und mir war keine andere Wahl geblieben, als ihr die Erinnerung an meine Erzählungen wieder zu nehmen. Ich durfte keinerlei Risiko eingehen, denn es war durchaus denkbar, daß sich Zakum an Rebecca wenden würde. Aber da würde er nun nicht mehr viel erfahren, denn 10
Rebecca würde ihm einfach erzählen, daß ich den falschen Oirbsen entlarvt und in den Zeitschacht gestoßen hatte. Meine Gedanken beschäftigten sich mit all diesen Dingen, als ich das Flugzeug verließ und die Abfertigungshalle betrat. Als ich meinen Koffer vom Transportband genommen hatte und durch die Sperre ging, kam mir Georg lächelnd entgegen. Auch er darf nichts davon wissen, daß ich das Geheimnis der Zeitschächte kenne, dachte ich. Dieses Wissen könnte ihm möglicherweise gefährlich werden. „Hallo, Schwesterchen“, sagte er leise. „Ich freue mich, daß du noch am Leben bist.“ „Was gibt es Neues, Georg?“ fragte ich. Er nahm mir den Koffer ab. „Nichts“, meinte er leichthin und schritt dem Ausgang zu. „Alles ist verdächtig ruhig.“ Ich wartete mit weiteren Fragen, bis wir seinen Wagen erreicht hatten. Georg legte den Koffer auf die Rücksitze des knallroten Jaguars, und wir stiegen ein. „Der Wagen ist magisch gesichert“, sagte er. „Niemand kann uns abhören.“ „Wo sind unsere Eltern?“ fragte ich, während er startete und langsam losfuhr. „In Salzburg“, antwortete er. „Sie kommen erst in zwei, drei Tagen zurück. Sie hielten es für besser, sich einige Zeit außerhalb Wiens aufzuhalten.“ „Lydia ist in London“, stellte ich fest. „Wo stecken unsere Brüder?“ 11
„Adalmar und Volkert sind bei Onkel Ingvar auf Castello della Malizia.“ Ich warf Georg einen flüchtigen Blick zu. Kein Mensch kommt auf die Idee, daß er ein Dämon ist. Er sieht ziemlich durchschnittlich aus. Sein Gesicht ist nicht unhübsch, aber einfach nichtssagend. Man hat es nach wenigen Augenblicken bereits vergessen. „Hast du etwas von Asmodi gehört?“ Georg grinste. „Nein, aber ich kann mir denken, daß er vor Wut schäumt und auf Rache sinnt. Ich bin sicher, er ist davon überzeugt, daß ich Gedda Rauthir tötete, mit der er mich vermählen wollte.“ „Hm… Mich wollte Zakum töten!“ „Erzähle!“ „Er lockte mich in eine Falle. Aber ich konnte mich befreien.“ „Das möchte ich ganz genau hören, Coco.“ „Nein“, sagte ich entschieden. „Es ist besser, wenn du keine Einzelheiten weißt.“ „Das mußt du entscheiden“, sagte er ein wenig eingeschnappt. „Aber demzufolge droht uns beiden große Gefahr. Hat Zakum in Asmodis Auftrag gehandelt?“ „Das habe ich nicht in Erfahrung bringen können, doch es ist anzunehmen. Zakum würde sich nicht ohne Rückendeckung von Asmodi an uns heranwagen.“ „Wir müssen vorsichtig sein. Weshalb bist du nach Wien zurückgekommen?“ „Ich suche nach Merlin, das weißt du ja.“ Er nickte. 12
„Auch darüber kann und will ich dir nicht viel erzählen. Ich bin in Merlins Auftrag nach Wien gekommen. Ich muß um Mitternacht ins Kunsthistorische Museum gehen.“ Georg lachte. „Dorthin würde ich nicht gehen“, meinte er. „Es hängen zu viele Heiligenbilder dort. Diese Ausstrahlung dürfte dir nicht gut bekommen.“ „Ich werde es überleben“, sagte ich zuversichtlich. „Aber ich möchte mir kurz das Museum bei Tag ansehen. Fahr mich bitte hin.“ „Du hast seltsame Wünsche“, entgegnete er kopfschüttelnd. Die Straße, die vom Flughafen Schwechat nach Wien führt, war ziemlich stark befahren. Rechts tauchten die Ölraffinerien auf. Wir schwiegen. Ich hing meinen Gedanken nach. Ich bin eine Hexe, eine Dämonin, die zur Schwarzen Familie gehört, in der sich unzählige Dämonen, Vampire, Werwölfe und ähnliche schauerliche Geschöpfe zu sammengeschlossen haben. Unsere Familie, die zur Zamis-Sippe gehört, ist nicht besonders bedeutend. Und das Oberhaupt der Dämonen, der Herr der Finsternis, wie er sich nennt, ist Asmodi, der uns feindlich gesinnt ist. Besonders mich schätzt er überhaupt nicht. Ich bin ein paarmal mit ihm zusammengestoßen und kann mich glücklich schätzen, daß ich noch am Leben bin. Ich blickte aus dem Fenster. Die Straße nach Wien war alles andere als erfreulich. Nach den 13
scheußlichen Raffinerien schloß sich auf der linken Seite der Zentralfriedhof an. Die Ausstrahlung der Grabkreuze wirkte betäubend. Georg nahm die Ausstrahlung ebenfalls wahr. Sein Gesicht war verzerrt, Schweißtropfen perlten über seine Stirn. Er trat stärker aufs Gaspedal und überholte rücksichtslos einige Autos, deren Fahrer wütend hupten und ihm einige Freundlichkeiten zubrüllten. Erleichtert atmeten wir auf, als der riesige Friedhof hinter uns lag. Ein paar Minuten später passierten wir einen weiteren Friedhof, doch hier war die Ausstrahlung nicht so stark zu spüren. „Wir müssen endlich ein Mittel gegen diese Kreuze finden“, sinnierte mein Bruder. „Adalmar arbeitet doch an einem Talisman, der die Ausstrahlung eindämmen soll“, entgegnete ich. „Aber bis jetzt hat er keinen Erfolg damit gehabt. Ich finde es entwürdigend, daß uns Kreuze, Kirchen und Weihrauch so schwach machen. Es gibt einfach keine vernünftige Erklärung dafür, und doch bekomme ich Schweißausbrüche, wenn ich ein Kreuz sehe.“ Georg hatte recht. Es ist völlig widersinnig, daß die meisten Dämonen eine panische Angst vor Kreuzen haben. Wir fuhren die schnurgerade Simmeringer Hauptstraße entlang und erreichten schließlich den Schwarzenbergplatz. Georg bog nach 14
links in den Ring ein und fuhr an der Oper vorbei. Das Kunsthistorische und das Naturhistorische Museum lagen vor uns. In der Burg fand Georg einen Parkplatz. „Ich warte hier auf dich, Coco.“ Ich stieg aus, überquerte den Ring und betrat den Maria-Theresien-Platz. Es war ein warmer Frühlingstag. Der Platz war von Touristen belagert, die eifrig die beiden Museen und das in der Mitte des Platzes befindliche Maria-Theresien-Denkmal fotografierten und filmten. Langsam stieg ich die Stufen hoch, die zu drei hohen Toren führen. An dem in der Mitte hing ein Schild: Eingang. Ich trat ein und blieb überwältigt stehen. Vor mir lag ein gewaltiger Treppenaufgang, riesige Säulen in einer gewaltigen Kuppel, die mit einem Gemälde verziert ist. Ich löste eine Karte und stieg die Stufen hoch. Einer Löwenfigur warf ich einen flüchtigen Blick zu, dann starrte ich am Ende der Stufen den Theseus an, der den Zentauren besiegt. Ich wandte mich nach links und ging an der Büste Kaiser Franz I. vorbei. Wieder führten Stufen hoch. Der Marmorboden war weiß mit schwarzen Mustern. An einem Stand kaufte ich einen Plan des Museums und studierte ihn kurz. Die Gemäldegalerie nimmt den ganzen ersten Stock ein. Nach kurzem Suchen hatte ich den Saal gefunden, in dem sich die Tizian 15
Gemälde befinden. Neben der Tür eine Plastik von Gandolfi: Jakob und Rahel am Brunnen. Ich sah mir die Eingangstür genauer an. Sie war aus Holz und mit einem Zylinderschloß versehen, das ich mit Hilfe meiner magischen Fähigkeiten leicht öffnen konnte. Rechts neben der Tür war ein Schild befestigt: Italienische Maler der Renaissance. Ich öffnete die Tür und trat ein. Rechts hing ein Feuerlöscher, darüber eine Tafel: Verhalten im Brandfall. Langsam wanderte ich weiter und blieb verblüfft stehen. Genau der Tür gegenüber hing „Das Mädchen im Pelz“. Rasch sah ich mich in dem großen Raum um. Die kuppelartige Glasdecke war kunstvoll verziert, die Wände waren grau, und in der Mitte standen um zwei Öfen, in denen sich auch Luftbefeuchter befanden, graue Sitzgruppen. Ich hatte nur Blicke für die Wand, an der das Mädchen im Pelz hing. Vor dem Bild blieb ich stehen. Inventar Nr. 89 stand auf einer kleinen Tafel. Um es ehrlich zu sagen, das Bild gefiel mir nicht sonderlich. Ich hatte schon Abbildungen davon gesehen, es mir aber größer vorgestellt. Es zeigte eine junge Frau, die in einen dunklen Pelz gehüllt war und ihre rechte Brust entblößte. Den rechten Unterarm hatte sie um den Bauch gelegt; er schien den Pelz zu halten, der linke Arm lag quer zwischen ihren Brüsten, und die Hand hielt ebenfalls 16
den Pelz. Der Daumen war nicht zu sehen. Die Frau war mit Schmuck behangen: ins aufge steckte Haar waren Perlenketten geflochten, eine Perlenkette hing um ihren Hals, Ohrringe, ein Ring am linken Ringfinger und dazu noch ein Armband. Ich studierte das Bild lange und prägte mir die Gesichtszüge der Frau ein. Dann blickte ich mich nochmals im Saal um. Der Parkettboden knirschte unter jedem meiner Schritte. Ich warf einen kurzen Blick auf die beiden Bilder, die neben dem Pelzmädchen hingen. Beide waren von Tizian: Isabella d’Este und Diana und Callisto. Eigentlich hätte ich mir gern die Gemäldegalerie genauer angesehen, aber ich wollte meinen Bruder nicht zu lange warten lassen. Ich machte einen raschen Rundgang, der aber auch fast eine Stunde dauerte. Ziemlich beeindruckt verließ ich das Museum. Beim Hinausgehen inspizierte ich das Schloß des Eingangstores. Es sollte mir auch keine Schwierigkeiten bereiten. Aber vermutlich war das Museum mit irgendwel chen Sicherheitseinrichtungen ausgestattet, und wahrscheinlich wurde es auch während der Nacht bewacht. Georg war sichtlich mißvergnügt, daß ich ihn so lange hatte warten lassen. „Was willst du eigentlich im Museum, Coco?“ fragte er, als er losfuhr. „Ein Bild stehlen?“ Ich lachte. „Nein“, sagte ich. „Ich bekomme 17
um Mitternacht einen Hinweis, wie ich Merlin helfen kann. Mehr kann ich dir auch nicht sagen, denn mehr weiß ich nicht.“ Er brummte verärgert.
18
2.
Das Haus meiner Eltern liegt in einem der Nobelbezirke von Wien, in der Ratmannsdorfgasse in Hietzing, dem 13. Bezirk. Es steht auf einem Eckgrundstück und liegt mindestens hundert Meter von der Straße entfernt in einem riesigen Garten, der von einer zwei Meter hohen Steinmauer umgeben ist. In diesem Haus bin ich zur Welt gekommen und habe viele Jahre meines Lebens verlebt, aber glücklich bin ich hier nie gewesen. Schon seit meiner frühesten Kindheit bin ich anders als meine Geschwister. An ihren Vergnügungen habe ich nie Spaß gefunden, und meine Schwester Vera, die jetzt schon über ein Jahr tot ist, habe ich aus tiefstem Herzen gehaßt. Sie war eine typische Hexe der Schwarzen Familie: bösartig, grausam, hinterlistig und voller teuflischer Späße. Ich bin eine Außenseiterin, das weiße Schaf in einer Familie, die aus lauter pechschwarzen Wölfen besteht. Schaudernd stieg ich die Treppe hoch. Der Hüter des Hauses begrüßte mich. Bei seinem Anblick krampfte sich mein Herz zusammen. So oft ich ihn sehe, fallen mir die Ereignisse vor zwei Jahren ein. Damals war er noch nicht das Monster, das er heute ist. Er war ein hübscher, lebenslustiger Junge, den ich sehr liebte. Und das wurde ihm zum Verhängnis. Ich selbst bin gezwungen worden, ihn in das 19
scheußliche Ungeheuer zu verwandeln. Jetzt ist er kaum einen Meter groß. Sein Körper ist schwarz und geschlechtslos. Das grauenvolle Gesicht ist hinter einer Holzmaske verborgen, aus deren Augenschlitzen auch diesmal ein unwirkliches Leuchten hervordrang. Ich eilte auf mein Zimmer. Alles war so, wie ich es vor einigen Wochen verlassen hatte. Rasch mixte ich mir einen Drink, trank einen Schluck und zündete mir eine Zigarette an. Dann stellte ich mich vors Fenster und blickte in den Garten. Meine Gedanken wanderten zurück ins alte Irland, in dem ich mich noch vor drei Tagen befunden hatte. Ich schloß die Augen und gab mich ganz der Erinnerung an Catbath, Pwyll und Manannan mac Lir hin. Ich konnte jederzeit zurückkehren, was ich auch si cherlich tun würde. Das Leben im 20. Jahrhundert bietet keinerlei Reiz für mich. Hier gibt es, mit Ausnahme von Rebecca vielleicht, keinen Dämon und keinen Menschen, dem ich etwas bedeute, und umgekehrt trifft das auch auf mich zu. Die Wochen, die ich im alten Irland verbracht hatte, waren aufregend und faszinierend gewesen. Oder hatte ich das alles nur so empfunden, da ich dort einen Mann wie Manannan mac Lir kennen und lieben gelernt hatte? Wenn ich so einen Mann in dieser Zeit kennenlernen würde, vielleicht würde sich dann auch einiges bei mir ändern… Ich wurde aus meinen süßen Erinnerungen 20
gerissen, als der Hüter des Hauses ins Zimmer trat. „Dein Bruder läßt fragen, ob du besondere Wünsche für das Abendessen hast“, sagte er mit dumpfer Stimme. „Nein“, sagte ich rasch. „Du bist verändert, Coco“, sagte das Ungeheuer. „Irgend etwas stimmt mit dir nicht. Ich spüre es.“ „Laß mich allein“, sagte ich heftig. Das Leuchten in den Augenschlitzen wurde stärker. Der Hüter des Hauses starrte mich ein paar Sekunden lang an, dann verließ er das Zimmer, und ich ließ mich erleichtert in einen Stuhl fallen. Nach ein paar Minuten glaubte ich, daß mir die Decke auf den Kopf fallen würde. Fast fluchtartig verließ ich das Zimmer und lief in den Garten. Neben dem Schwimmbecken blieb ich stehen und schlüpfte aus den Kleidern, die ich einfach fallen ließ. Dann sprang ich in das angenehm temperierte Wasser. Ich schwamm ein paar Bahnlängen, kletterte heraus und legte mich in einen Liegestuhl. Ich blinzelte in die tiefstehende Sonne und griff nach dem geheimnisvollen Signatstern, den ich immer trug. Er hing an einer uralten Kupferkette, die mir Oirbsen gegeben hatte. Der Kristall bestand aus einem mir unbekannten Material, doch angeblich sollte sich Antimon in ihm befinden. Daher wird dieser Signatstern auch „gestirnter König, Stern der Weisen und stella 21
antimoni“ genannt. Der magische Stein war ungeschliffen, und wenn man ihn aus einer ganz bestimmten Position betrachtete, konnte man ein glänzendes Gebilde erkennen, das die Form eines Sterns hatte. Dieser geheimnisvolle Kristall barg in sich Kräfte, die ich noch nicht ganz erforscht hatte. Durch ihn konnte ich aber meine magischen Fähigkeiten verstärken, was mir schon ein paarmal recht wertvoll gewesen war. Mit seiner Hilfe ver stand ich jede Sprache und konnte mich auch in der betreffenden Sprache unterhalten. Das war besonders wichtig, wenn ich mich in der Vergangenheit aufhielt, wo ich unter Umständen mit Sprachen konfrontiert wurde, die heute kein Mensch mehr spricht. An meinem linken Handgelenk trug ich einen einfachen Goldreifen, der keinerlei Verzierungen aufwies und so dick wie mein Daumen war. Dieser magische Reifen, den ich aus Merlins Höhle geholt hatte, war mit meinem Körper verschmolzen. Ich konnte ihn nicht abnehmen. Zusammen mit dem Signatstern verhalf mir der Armreifen zur Beherrschung der Zeitschächte. Nach ein paar Minuten war mein Körper trocken. Die Sonne ging langsam unter, und es wurde rasch kühl. Ich lief zurück ins Haus, trocknete mein Haar und wählte passende Kleidung für meinen nächtlichen Ausflug: Jeans, einen eng anliegenden Pulli und einfache Basketballschuhe. 22
Danach schob ich alle magischen Gegenstände in meine Handtasche, die ich für die Beschwörung benötigte. Es war schon dunkel, als ich das Eßzimmer betrat. Georg blickte auf, sein Gesicht sah im Schein der Kerzen seltsam bleich aus. Ich trat an den achteckigen, wuchtigen Holztisch heran, zog einen der schweren geschnitzten Stühle zurück und nahm an meinem Stammsitz Platz. Ich saß Georg genau gegenüber. „Weshalb so feierlich?“ erkundigte ich mich und blickte mich um. Üblicherweise brannte die Deckenbeleuchtung, doch Georg hatte einen der uralten Kerzenleuchter auf den Tisch gestellt, in dem acht verschiedenfarbige Kerzen brannten. „Mir war danach“, sagte er. „Ist doch sehr stimmungsvoll, oder?“ Ich nickte langsam. Der Tisch war festlich gedeckt. Schwere Porzellanteller und das Silberbesteck, das ich nicht schätzte. Aufmerksam blickte ich meinen Bruder an. „Es ist schon seltsam“, meinte er. „Ich glaube, es ist das erstemal, daß wir beide hier ohne irgendein anderes Familienmitglied sitzen.“ Ich nickte. „Eigentlich ist es schade, daß wir so wenig Kontakt miteinander haben, Coco.“ Mein Mißtrauen erwachte. Was wollte er von 23
mir? Er war mein Bruder, aber dafür konnten wir beide nichts. „Du warst schon immer eine Außenseiterin“, fuhr er fort und starrte mich durchdringend an. „Ich habe viel über dich nachgedacht, Schwester. Ich versuchte mich in deine Situation zu versetzen, und nun verstehe ich auch manche deiner Reaktionen. Wir sind für dich bösartige Monster.“ „Hm, so würde ich es nicht sagen“, meinte ich vorsichtig. „Es ist aber so“, stellte er überzeugt fest. „Vater wollte dich ändern, doch es gelang ihm nicht. Aber du hast dich in den vergangenen Wochen geändert, du bist viel selbstsicherer geworden. Mich würde nun interessieren, worauf sich deine Sicherheit stützt.“ Ich schwieg. Er lächelte schwach. „Dahinter steckt dieser Merlin“, brummte er. „Durch ihn hast du verschiedenes gelernt. Du brauchst nicht zu antworten, aber ich spüre, daß du verändert bist. Von dir geht nun eine so starke magische Ausstrahlung aus, die verdächtig ist. Du solltest sie beherrschen lernen, sonst wird jeder Dämon mißtrauisch, dem du über den Weg läufst.“ „Danke für den Hinweis“, sagte ich. „Gern geschehen.“ Er grinste. „Du kannst noch einmal sehr wichtig für unsere Sippe sein, Coco.“ „Wie soll ich das verstehen?“ „Wir haben einige Pläne, die aber noch nicht 24
spruchreif sind.“ Ich überlegte einen Augenblick. Die Andeutung war ziemlich klar gewesen. Irgendwann einmal mußte sich unsere Sippe gegen Asmodi auflehnen. Und ich war sicher, daß sich unsere Eltern aus diesem Grund in Salzburg aufhielten. Sie nahmen Kontakte mit befreundeten Clans auf und versuchten die derzeitige Stimmung unter den Dämonenfamilien zu ergründen. „Irgendwann wird es zum Kampf kommen“, sagte Georg ernst. „Bei den Wiener Sippen werden wir nicht viel Unterstützung finden. Sie fürchten und gehorchen uns, aber ich kann nicht behaupten, daß sie uns mögen. Wir müssen uns andere Verbündete suchen, und das wird einige Zeit dauern. Das war auch einer der Gründe, weshalb dich Vater auf die Weltreise geschickt hat, die du vorzeitig abbrechen mußtest.“ Das hatte ich bereits vermutet. Georg hatte mir nichts Neues erzählt, doch es wunderte mich, daß er mich in die Pläne der Familie einweihte. Das war neu. Die Kerzen flackerten. Ich wendete den Kopf und blickte zur Tür. Ein junges Mädchen trat ein, das ich nie zuvor gesehen hatte. Sie schob einen Servierwagen herein. „Das ist Dagmar Rohrer“, sagte mein Bruder. Das Mädchen war in meinem Alter, etwa achtzehn Jahre alt. Sie war außergewöhnlich hübsch. Das blonde Haar fiel weit über ihre Schultern. Unter der dünnen Bluse zeichneten 25
sich feste Brüste ab. Sie war hypnotisiert worden, eine Sklavin, die willenlos jeden Wunsch meines Bruders erfüllen würde. Ich verzog den Mund verächtlich, und mein Bruder kicherte. „Ich habe Dagmar vor ein paar Tagen kennengelernt“, sagte er. „Gefällt sie dir?“ „Du weißt, wie ich darüber denke“, sagte ich verärgert. Das Mädchen griff lächelnd nach meinem Suppenteller. „Ach ja, ich habe vergessen, daß du etwas gegen willenlose Menschen hast.“ „Danke“, sagte ich, als Dagmar den Teller vor mich hinstellte. Ich wartete, bis Georg seinen Teller gefüllt bekommen hatte, dann löffelte ich die Suppe. Georg merkte meine Wut. Normalerweise hätte er sie weiter geschürt, doch heute schwieg er einfach. Innerhalb der Schwarzen Familie war es üblich, daß man irgendwelche Menschen zu willenlosen Dienern machte, etwas, womit ich mich nie hatte abfinden können. Schweigend aßen wir weiter. Das Essen war ganz normal – im Unterschied zu anderen Clans, bei denen Speisen serviert wurden, bei deren Anblick mir bereits übel wurde. Ich konnte mich eigentlich glücklich schätzen, daß unsere Sippe nicht aus Ghoulen bestand. „Ich bringe dich zum Museum, Coco“, sagte Georg, als wir mit dem Essen fertig waren. „Das ist nicht notwendig“, erwiderte ich. „Ich 26
kann mir ein Taxi nehmen.“ Er schüttelte entschieden den Kopf und füllte die Gläser nach. „Nein, das kommt nicht in Frage. Wir müssen vorsichtig sein.“
27
3.
Wir fuhren die Mariahilferstraße entlang. Vor dem Messepalast fand Georg einen Parkplatz. Als ich ausstieg, schien es mir, als würde mich jemand beobachten. Aufmerksam blickte ich mich um, bemerkte aber nichts Verdächtiges. Ein eng umschlungenes Pärchen, das sich während des Gehens eifrig küßte und nur Augen füreinander hatte, kam an uns vorbei. Zwei Betrunkene unterhielten sich lautstark und begannen nach wenigen Augenblicken zu streiten. Wir überquerten die Straße und betraten den Maria-Theresien-Platz. Die Gebäude wurden angestrahlt. Nur wenige Leute waren zu sehen. Und wieder hatte ich das Gefühl, daß mich jemand ansah. Ich reagierte augenblicklich und wandte die Spezialität unserer Sippe an: den rascheren Zeitablauf. Für mich lief die Zeit normal weiter, doch für die Menschen stand sie still. Rasch drehte ich mich um, und da sah ich es. Ein winziges magisches Auge hing etwa zwanzig Schritte hinter uns in der Luft. Meinen Bruder hatte ich mit in die andere Zeitebene gerissen. „Siehst du das magische Auge, Georg?“ Er nickte. „Ich werde es ausschalten.“ „Warte“, sagte ich. „Ich möchte es mir 28
ansehen.“ Ich packte das Auge, das kaum erbsengroß war. Es war undurchsichtig und fühlte sich wie Hartgummi an. Ich versuchte es mit dem Fingernagel zu ritzen, was mir aber nicht gelang. „Ein ganz normales magisches Auge“, stellte Georg sachkundig fest. „Kannst du irgend etwas Besonderes feststellen?“ Mißmutig schüttelte ich den Kopf, bewegte meine Finger und die Kugel verschwand im Nichts. Wir blieben in der anderen Zeitebene. Schnell liefen wir die Stufen zum Eingang hoch. Georg hielt meine linke Hand, so konnten wir unsere Kräfte verschmelzen. Das Schloß bot keinerlei Schwierigkeiten. Ich strich einmal mit der Hand darüber, und die Tür ließ sich öffnen. Wir betraten das Museum, eilten an einem Nachtwächter vorbei, der wie eine Statue dastand und liefen die Stufen hoch. Dann öffneten wir die Tür, die zur Gemäldegalerie führte. „Du wartest draußen auf mich, Georg“, sagte ich. „Versetzen wir uns in die normale Zeit.“ Wir taten es, und ich betrat den Saal. Meine Augen hatten sich bereits an die Dunkelheit gewöhnt. Zielstrebig ging ich auf das Bild zu und blickte auf die Uhr. Mir blieben noch fünf Minuten Zeit, um meine Vorbereitungen zu treffen. 29
Ich öffnete die Handtasche und holte die notwendigen Utensilien heraus, die ich für die Beschwörung benötigte. Mit dem Pinsel, den ich in magische Tinte getaucht hatte, zog ich einen Kreis um mich, der aber die Wand berührte, an der das Bild hing. Dann malte ich die vorgeschriebenen Runenzeichen in den Kreis. Abschließend pinselte ich mir das Zeichen des Silbers auf die Stirn. Punkt zwölf Uhr begann ich mit dem Sprechen der Zauberformeln. „Spiritus dei ferbatur super quas“, sagte ich leise. Das Bild begann langsam zu leuchten. Dann erschienen rotglühende Zeichen auf der Brust der Frau, die sich verformten, und schließlich konnte ich die Zeichen lesen: Venedig, 15. Mai 1535. Nach wenigen Sekunden verschwanden die Buchstaben und Zahlen. Das Leuchten des Bildes wurde schwächer. Nun war es wieder dunkel, doch dann begann der Ring zu glühen. Er leuchtete mich tiefblau und unwahrscheinlich intensiv an. „Ich danke dir, meine Tochter, daß du gekommen bist“, hörte ich plötzlich Merlins Stimme, die immer lauter und deutlicher zu verstehen war. Das Bild war nun in weißes Licht getaucht, und ich sah, daß sich die Lippen des Pelzmädchens bewegten. Ich wußte, daß es sinnlos war, wenn ich etwas sagen würde, denn Merlin konnte mich 30
nicht hören. Er hatte das Bild vor langer Zeit zu einem magischen Tonband umfunktioniert; wie er das zustande brachte, konnte ich mir nicht erklären. „Sieh dir das Mädchen genau an, meine Tochter“, sprach der große Magier weiter. „Und betrachte den Ring. Er ist wichtig. Ihn mußt du holen, meine Tochter. Geh zu Tizian nach Venedig. Sobald du den Ring hast, kehrst du in deine Zeit zurück.“ Das hörte sich ziemlich einfach an, war es aber nicht, wenn er mir nicht einen Zeitschacht in der Nähe von Venedig verriet. Ich hatte diesen Gedanken noch nicht fertig gedacht, als er weitersprach. „In der Nähe von Pederobba befindet sich ein Zeitschacht, den du benützen kannst. Der Schacht befindet sich in einem Wald und ist gut gesichert. Ganz in der Nähe liegt die Ruine einer kleinen Kapelle. Ich hoffe, du hast alles verstanden, meine Tochter.“ Unwillkürlich nickte ich. „Noch etwas, meine Tochter. In Tizians Haus wirst du einen Verbündeten finden.“ Merlin kicherte leise. „Sollte es notwendig sein, dann wird er sich dir zu erkennen geben. Vielen Dank für deine Hilfe, meine Tochter.“ Von einem Augenblick zum anderen war das Leuchten verschwunden. Ich blieb ein paar Sekunden im magischen Kreis stehen. Meine Gedanken wirbelten. Die Vorstellung, daß ich in das Italien der Renaissance gehen sollte, faszinierte mich. 31
Bedächtig verwischte ich die Spuren der Beschwörung und verließ den Saal. „Hat es geklappt, was immer du getan hast?“ fragte Georg leise. „Ja“, flüsterte ich. „Gab es Schwierigkeiten?“ „Ein Nachtwächter kam auf mich zu, doch ich konnte ihn hypnotisieren. Können wir gehen?“ Ich nickte. Wir versetzten uns wieder in die andere Zeitebene, sperrten die Tür zu und stiegen die Stufen hinunter. Ein paar Minuten später standen wir auf dem Maria-Theresien-Platz. Als wir im Auto saßen, bestürmte mich Georg mit Fragen, doch ich wich ihm aus. Ich sagte nur, daß ich nach Venedig müsse. Er wollte unbedingt mit mir nach Venedig fliegen, doch auf der Heimfahrt konnte ich ihm diesen Plan ausreden.
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4.
Venedig bezauberte mich vom ersten Augenblick an. Nicht einmal der faulige Gestank, der aus all den engen Kanälen strömte, konnte meine Begeisterung erschüt tern. Ich kam mir wie ein kleines Mädchen vor, das ins Märchenland gelangt ist. Gierig wie ein ausgetrockneter Schwamm saugte ich die neuen Eindrücke in mich hinein, doch es waren zu viele, um sofort verarbeitet werden zu können. Mein Hotel befand sich in der Nähe der Rialto-Brücke, und die Fenster gingen auf den Canale Grande hinaus. Nachdem ich mich umgezogen hatte, verließ ich das Hotel, ging einige Zeit den Canale Grande entlang und steuerte auf ein paar Gondeln zu. Ich handelte mit dem Gondoliere, bis ich den Preis auf die Hälfte gedrückt hatte, und dabei hatte er mich sicherlich über’s Ohr gehauen. Auf den Knien hatte ich einen Stadtplan ausgebreitet und betrachtete fasziniert die vielen Paläste. Der Gondoliere öffnete nur den Mund, wenn irgendein Boot in die Nähe kam, und da stieß er schaurig klingende Schreie aus. Der Lärm auf dem Canale Grande war ohrenbetäubend: da war das Hupen der kleinen Motorboote, das Heulen der Sirenen der großen Barkassen und das durchdringende 33
Knattern der Außenbordmotore, in das sich noch die Schreie der Gondoliere mischte. Der Anblick der prächtigen Gebäude ließ mich aber den Lärm vergessen. Der Kanal wand sich wie eine Schlange. Zu beiden Seiten waren schmale Seitenkanäle zu sehen. Ich richtete mich etwas auf, als ich den hohen Turm erblickte, der von orientalisch aussehenden Kuppeln umgeben ist. Und dann war der Dogenpalast zu sehen, als wir an der Kirche Santa Maria della Salute vorbeifuhren. Am Molo San Marco verließ ich die Gondel, reihte mich in den Strom der Touristen ein und ließ mich am Herzogspalast und der Markuskirche vorbei auf den Markusplatz treiben. Tausende von Tauben flogen umher; sie waren so zutraulich, wie ich es erwartet hatte. Ich setzte mich in eines der Cafes, trank einen gelben Grappa, rauchte eine Zigarette und schaltete völlig ab. Später wanderte ich ziellos durch die schmalen Gassen und erreichte gegen Abend wieder den Canale Grande. Aufgeputscht, doch müde betrat ich mein Hotel und war glücklich, daß ich meine Schuhe ausziehen durfte. Ich warf mich aufs Bett und griff nach den Büchern, die ich mir noch in Wien besorgt hatte. Ein Buch, das sich mit Tizian beschäftigte, hatte ich während des Fluges ausgelesen. Ein Werk, das sich mit dem Leben in der Renaissance beschäftigte, interessierte mich 34
besonders. Diesmal war ich in der glücklichen Lage, zu wissen, wohin meine Reise in die Vergangenheit ging. Ich konnte mich darauf einstellen, was mich erwarten würde. Bei den Reisen durch die Zeit konnte ich keine Gegenstände des 20. Jahrhunderts mitnehmen. Ich würde nackt in der Vergangenheit landen, und sicherlich würde es einige Zeit dauern, ^is ich meine magischen Kräfte voll einsetzen konnte. Aber ich hatte mir einen Plan in groben Umrissen zurechtgelegt, den ich nun nochmals überdachte und für gut befand. Mein Bruder Georg hatte seine Beziehungen spielen lassen, und es war ihm gelungen, einige Dukaten zu besorgen, die im 15. Jahrhundert geprägt worden waren. Diese Geldstücke konnte ich auf meiner Zeitreise mitnehmen. In der Vergangenheit wollte ich mich als Freiin Cornelia von Hohenstein ausgeben. Freiin, auch Freifräulein, war die Anrede für eine unverheiratete Tochter eines Freiherrn, gelegentlich wurde sie auch als Baronesse angesprochen, was aber nicht richtig war. Soweit ich wußte, hat es nie einen Freiherrn von Hohenstein gegeben. Ich wollte als Bekannte Karls V. auftreten, der mit Tizian gut bekannt war. Kurz nach neun Uhr betrat ich den schwach besuchten Speiseraum des Hotels, nahm an einem Tisch am Ende des Saales Platz und studierte die umfangreiche Speisenkarte. 35
Nach ein paar Sekunden hatte ich den Eindruck, als würde mich jemand beobachten. Unauffällig blickte ich mich um, konnte aber nichts Verdächtiges feststellen. Auch die charakteristische Ausstrahlung eines Mitglieds der Schwarzen Familie war nicht zu spüren. Das magische Auge, das mich in Wien verfolgt hatte, ließ mich vorsichtig sein. Irgend jemand schien sehr an allem interessiert zu sein, was ich tat. Ich bestellte orata, einen Fisch, der mit Muscheln und Krebsen gekocht wird, und danach fegato alla veneziana, stark gepfefferte, mit Zwiebeln gebratene Kalbsle ber. Dazu trank ich eine Karaffe roten Merlot. Das Essen war hervorragend gewesen. Ich fühlte mich wohlig satt und angenehm schläfrig. Doch dieser Zustand änderte sich schlagartig, als ich eine Dämonenausstrahlung bemerkte. Irgend jemand näherte sich dem Speisesaal. Gespannt blickte ich zur Tür. Meine Anspannung löste sich, als ich den Dämon erkannte, der eintrat und auf mich zukam. Es war Pietro Salvatori, den ich erst vor wenigen Wochen auf Lympne Castle wiedergesehen hatte. Er gehörte einer Sippe an, die in Italien ziemlich mächtig ist und Asmodi bedingungslos folgte. Die Erinnerungen, die mich mit Pietro Salvatori verbanden, waren alles andere als erfreulich. Vor meinem Tisch blieb er stehen, deutete 36
eine Verbeugung an und setzte sich mir gegenüber nieder. Er war ein schmächtiger Vampir, von dem ein ekelhafter, fauliger Geruch ausging, der für viele Vampirwesen charakteristisch ist. Sein hageres Gesicht mit der vorspringenden Geiernase war ungewöhnlich bleich, und die Haut war fast durchscheinend. Das schwarze Haar glänzte ölig und fiel auf seine knochigen Schultern herab. „Ich kann nicht sagen, daß dein Anblick mein Herz erfreut“, sagte ich spitz. „Das habe ich auch nicht erwartet“, nuschelte er und fletschte die blutleeren Lippen. Gewaltige Vampirzähne kamen zum Vorschein. „Zwischen uns gibt es noch eine offene Rechnung zu begleichen, Coco.“ Ich blickte ihn gelangweilt an. Eine Zeitlang hatte sich Pietro zusammen mit meiner Schwester Vera und mir auf dem Schloß meines Patenonkels Cyrano von Behemoth aufgehalten. Dort hätte er eine ordentliche Ausbildung der magischen Kräfte erhalten sollen, doch er war zu dämlich gewesen, um auch nur die einfachsten Grundbegriffe der Schwarzen Magie zu lernen. Damals, vor über drei Jahren, hatte ich ihn pfählen wollen, doch mein Onkel war dazwischengetreten und hatte mein Vorhaben verhindert. „Ich habe geschworen, daß ich mich rächen werde, Coco“, sagte er grimmig und beugte sich vor. „Nach den Regeln der Familie übermittle ich dir eine Kampfansage.“ 37
Ich trank einen Schluck und lehnte mich bequem zurück. Innerhalb der Schwarzen Familie gibt es verschiedene Kampfansagen, eine hatte ich schon persönlich kennengelernt. Damals hatte die Sippe der Winkler-Forcas der unseren den Kampf angesagt, aber wir waren aus dieser Auseinandersetzung siegreich her vorgegangen. „Gegen wen richtet sich die Kampfansage?“ fragte ich. „Nur gegen dich, Coco Zamis“, sagte Pietro breit grinsend. „Wer hat der Kampfansage zugestimmt?“ „Asmodi!“ erwiderte er. In seine großen Augen war ein rotes Glühen getreten. „Und wie lautet die Ansage?“ „Kampf auf Leben und Tod“, sagte er rasch. „Ohne Sippenhaftung, aber mit allen erlaubten Mitteln.“ Das hörte sich gar nicht gut an. Alle Mitglieder seiner Sippe durften ihm helfen, doch er mußte mich höchstpersönlich töten. Natürlich konnte ich auch meine Familie zu Hilfe rufen, doch ich dachte nicht daran. Ein weiterer Dämon betrat den Speisesaal. Es war Skarabäus Toth, einer der Schiedsrichter der Familie, der sich als Rechtsanwalt tarnte. Toth war groß und dürr wie der wandelnde Tod. Seine Haut war runzelig und gelb – wie mumifiziert. Er blieb vor unserem Tisch stehen. „Ich bin von Asmodi bevollmächtigt worden, den Kampf zwischen dir, Coco Zamis, und dir, 38
Pietro Salvatori, zu überwachen“, sagte er mit seiner raschelnden Stimme. „Der Kampf beginnt im Morgengrauen und endet erst, wenn einer von euch beiden tot ist. Seid ihr über die Bestimmungen des Kampfes unterrichtet?“ „Ja“, sagte Pietro. „Ich weiß Bescheid“, sagte ich. „So möge der Kampf beginnen“, sagte er schwulstig. „Und der Bessere möge siegen.“ Damit verschwand der unheimliche Bursche. „Ich freue mich auf den Kampf“, zischte Pietro. „Ich werde dich jagen und dann… Ich habe etwas Besonderes mit dir vor, Coco, das verspreche ich dir.“ Ich lachte spöttisch. „Das Lachen wird dir noch vergehen, meine Hübsche. Ich wünsche dir eine angenehme Nacht. Genieße sie.“ Er stand auf und verließ mich grußlos. Ich bestellte noch eine Karaffe Wein und trank in kleinen Schlucken. Diese Kampfansage paßte überhaupt nicht in mein Konzept. Pietro Salvatori war mir völlig gleichgültig. Ich ahnte, daß er von Asmodi dazu aufgestachelt worden war und sicher nicht fair kämpfen würde. Vermutlich würde ihm Zakum oder irgendein anderer mächtiger Dämon helfen, auch wenn das gegen die Re geln verstieß. Und ich war sicher, daß Skarabäus Toth großzügig beide Augen zudrücken würde, sollte es zu einem 39
Regelverstoß durch Salvatori kommen. Mir blieb keine andere Wahl, als mich zum Kampf zu stellen. Natürlich hätte ich die Kampfansage zurückweisen können, doch damit wäre ich automatisch aus der Schwarzen Familie ausgestoßen worden und hätte mein weiteres Leben als Freak fristen können. Und das wollte ich keinesfalls. Ich mußte Pietro Salvatori töten. Der Gedanke erschreckte mich nicht, denn er war ein Vampir, eines jener scheußlichen Geschöpfe, die den Menschen das Blut aussaugen und sie dadurch in Schattengeschöpfe verwandeln. Er war also nichts anderes als ein Raubtier, das zufällig eine menschenähnliche Gestalt hatte. Kein Mensch hatte Skrupel, einen tollwütig gewordenen Hund zu erschießen, und auf dieser Stufe stand für mich ein Vampir. Ursprünglich hatte ich die Absicht gehabt, morgen ein Taxi zu nehmen, nach Pederobba zu fahren und den Zeitschacht zu suchen. Das kam nun nicht in Frage, denn nach Sonnenaufgang würde sich Pietro Salvatori auf die Suche nach mir machen. Und ich wollte ihn keineswegs nach Pederobba führen. Verärgert stand ich auf. Ich mußte meinen Plan umstoßen und noch während der Nacht nach Pederobba fahren. Ich wollte zuerst meinen Auftrag in der Vergangenheit ausführen und mich erst nach meiner Rückkehr Pietro Salvatori zum Kampf stellen. Der Hotelportier versprach, ein Taxi zu 40
besorgen. Ich ging auf mein Zimmer und nahm die Golddukaten an mich. Mit einem Motorboot fuhr ich zum Parkhaus, wo das Taxi bereits auf mich wartete. Dem Fahrer sagte ich, daß ich nach Treviso wollte. In Treviso stieg ich aus dem Taxi, trank einen Kaffee und fuhr mit einem anderen Taxi weiter. Nach ein paar Minuten hypnotisierte ich den Fahrer, legte mich zurück und schlief augenblicklich ein.
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5.
Als wir Pederobba erreicht hatten, weckte mich der Fahrer. Alle Häuser waren finster. Es war weit nach Mitternacht. Der Zeitschacht sollte sich in einem Wald befinden. Ganz in seiner Nähe sollte die Ruine einer Kapelle sein. Der Fahrer kannte sich in Pederobba nicht aus. „Fahren Sie langsam in Richtung Possagno weiter“, befahl ich ihm. Er gehorchte augenblicklich. Bald lagen die Häuser hinter uns, und vor uns schlängelte sich eine schmale Straße auf den Monte Grappa zu. Zu beiden Seiten der Straße lagen dichte Mischwälder. Ich kurbelte die Fenster herunter und starrte angestrengt in die Dunkelheit. Die Straße schien in die Unendlichkeit zu führen. Immer wieder drehte ich den Kopf hin und her und versuchte die typische Ausstrahlung des Zeitschachtes aufzuschnappen, doch nichts war davon zu bemerken. „Drehen Sie um“, sagte ich. Wir fuhren zurück nach Pederobba, und dann ging es die Straße nach Feltre entlang, die sich direkt neben der Piave befindet. Rechts gurgelte der Fluß durch die Nacht, links waren Wälder zu sehen. Wir waren noch nicht einmal einen Kilometer gefahren, als ich zusammenzuckte. Ganz schwach nahm ich die Ausstrahlung des 42
Zeitschachtes wahr. „Fahren Sie noch langsamer“, sagte ich. Der Fahrer schaltete, und der Wagen kroch nun langsam wie eine Schnecke die sanft ansteigende Straße hoch. Nach ein paar Metern wurde die Ausstrahlung stärker, um dann wieder schwächer zu werden. „Bleiben Sie stehen.“ Ich öffnete die Handtasche, holte ein Bündel Banknoten heraus und gab dem Fahrer ein paar Zehntausendlirescheine. „Sie haben mich nie gesehen“, sagte ich beschwörend. „Sobald Sie Treviso erreicht haben, vergessen Sie mich. Sie haben einen alten Mann nach Vittorio gebracht. Haben Sie mich verstanden?“ „Ja, ich habe Sie verstanden“, sagte er tonlos. Ich stieg aus dem Auto und wartete, bis der Wagen in Richtung Pederobba verschwunden war. Hier in dem schmalen Tal zwischen den Bergen war es kühl. Mir war kalt. Ich hängte mir die Tasche über die Schulter, überquerte die Straße und ging den Waldrand entlang. Ein leichter Wind brachte die Blätter zum Rascheln. Irgendwo schrien ein paar Nachtvögel. Der Himmel war sternenklar. Nur das Geräusch meiner Schritte war zu hören. Gelegentlich zerbrach ein Ast unter meinen Füßen, und das klang so laut wie ein Pistolen schuß. 43
Mit jedem Schritt kam ich dem Zeitschacht näher. Ich betrat den Wald und knipste die Taschenlampe an. Kurze Zeit darauf kam ich an der verfallenen Kapelle vorbei, und dann begann ich den Boden abzusuchen. Nach ein paar Minuten hatte ich den Zugang zum Zeitschacht entdeckt. Ich zerrte eine Steinplatte zur Seite. Vor mir lag ein kreisrunder Tunnel. Rasch schlüpfte ich aus meinen Kleidern. Es war sinnlos, wenn ich mit ihnen den Schacht betrat, da sie sich im Zeitstrom auflösen würden. Als ich völlig nackt war, zündete ich mir eine Zigarette an, die letzte für einige Tage, und rauchte sie langsam. Ich drückte den Stummel gewissenhaft aus und holte das Säckchen mit den Golddukaten aus der Tasche. Ich stapelte die Dukaten übereinander und nahm sie in die linke Hand. Dann kniete ich nieder und rutschte in den schmalen Tunnel hinein. Es ging steil abwärts. Ich riß mir Knie und Ellbogen auf, achtete aber nicht darauf. Die unerklärliche Kraft, die vom Zeitschacht ausging, wurde immer stärker, dann war auch der Sog zu spüren, der mich tiefer in den Tunnel riß. Der Armreifen flammte plötzlich auf und eine wohlige Wärme schlug von ihm auf meinen Körper über. Ein geheimnisvolles Leuchten hüllte meinen Körper ein, der im stärker 44
werdenden Sog schwerelos geworden war. Danach fiel ich kopfüber in den dunklen Schacht. Die mir nur zu gut bekannte undurchdringliche Schwärze war um mich herum. Deutlich konnte ich meine leuchtenden Arme sehen. Ein paar Sekunden ließ ich mich in der fremden Dimension treiben und genoß die Schwerelosigkeit meines Körpers. Ich schloß die Augen und stellte mir vor, in welcher Zeit ich landen wollte. Am 15. Mai 1535 sollte ich in Venedig sein. Es mußte genügen, wenn ich zwei Tage vorher auftauchte. Ich dachte, daß ich am 13. Mai 1535 um achtzehn Uhr landen wollte. Kaum hatte ich das gedacht, als ich mich im engen Tunnel wiederfand. Mein Körper war noch immer in das geheimnisvolle gelbe Licht getaucht. Rasch kroch ich den Tunnel hoch. Das Leuchten meines Körpers wurde immer schwächer, und mir wurde immer kälter. Es schien endlos lange zu dauern, bis ich endlich ins Freie gelangte. Ich setzte mich nieder und blickte mich um. Es war hell, und es regnete leicht. Die Ruine der Kapelle war nicht zu sehen, aber wahrscheinlich, ja sogar sicher war die Kapelle noch nicht gebaut worden. Die Golddukaten hatten sich nicht aufgelöst, wie ich befriedigt feststellte. Ich stand auf und lief auf den Waldrand zu. Als ich ihn erreicht 45
hatte, blieb ich stehen und blickte über eine Wiese zur Piave hin. In etwa dreihundert Meter Entfernung sah ich ein Bauerngehöft. Unweit des Gebäudes grasten ein paar weiße Kühe, die sich vom Regen nicht stören ließen. Aus dem Schornstein des Hauptgebäudes stieg ein dünner Rauchfaden in den grauen Himmel. Ich lief auf den Bauernhof zu. Das feuchte Gras tat meinen Füßen gut. Eine Kuh hob den Kopf und blickte mich blöde an, wackelte kurz mit den langen Ohren und graste weiter. Ich riß die Tür auf und trat ein. Sechs überraschte Augenpaare starrten mich stupide an. Eines gehörte einem etwa dreißigjährigen Mann, der wie ein Wurzelmann aussah. Das zweite gehörte einer verhärmt aussehenden Frau, die wie eine Vogel scheuche aussah. Und die restlichen vier Augenpaare gehörten zu unglaublich dreckigen Kindern, die zwischen drei und acht Jahren alt waren. Keuchend zog ich die Tür zu und blieb mitten im Raum stehen. Die Vogelscheuche bekreuzigte sich, und mir rannen eisige Schauer über den Rücken. Der Wurzelmann klappte hörbar den Mund zu und hob die Hände. Die Kinder versteckten sich hinter der Mutter, nur ein kleines Mädchen schien keine Angst vor mir zu haben. Auf diese einfachen Leutchen mußte ich wie ein Wesen von einem anderen Stern wirken. 46
Mein hüftlanges Haar war offen und hüllte mich wie ein Schleier ein. „Keine Angst“, sagte ich rasch. „Ich will euch nichts tun. Meine Begleiter und ich wurden von Straßenräubern überfallen. Nur ich kam mit dem Leben davon.“ Überfälle waren in dieser Zeit etwas Alltägliches. Man nahm sie hin, wie man sich an Läuse und Flöhe gewöhnt hatte. Sofort änderte sich die Atmosphäre in der ärmlichen Hütte, denn anders konnte ich dieses Gebäude kaum bezeichnen, das nur aus einem einzigen Raum bestand, in dem sich das ganze Leben der Familie abspielte. Der Mann stand auf. „Ich bin Carlo Capilupi“, stellte er sich vor. „Und das ist mein Weib Teresa.“ „Baronesse Cornelia von Hohenstein“, sagte ich. Der Bauer verbeugte sich ehrerbietig. „Es ist mir eine große Ehre, Euch in meiner kümmerlichen Behausung begrüßen zu dürfen“, sagte er. Ich holte eine kleine Goldmünze aus meiner linken Hand und legte sie auf den Tisch. Frau und Herr Capilupi bekamen große Augen. „Ich hätte gern etwas zum Anziehen“, sagte ich. Sofort schrie er seiner Frau etwas zu, die aufsprang und auf eine bemalte Truhe zustürzte, sich niederkniete und die Truhe öffnete. 47
Sekunden später bekam ich ein überraschend sauberes Tuch, mit dem ich mich abtrocknete, dann reichte mir die Frau einen bodenlangen Kittel und eine grobgewebte Bluse. Beide Kleidungsstücke waren mir viel zu groß, doch ich band mir den Rock mit einer Schnur zusammen und steckte die Dukaten in eine der aufgenähten Taschen. Dann bekam ich einfache Holzpantoffeln und einen blauen Umhang, den ich mir um die Schultern warf. „Wollt Ihr etwas zu essen oder zu trinken?“ erkundigte sich Carlo Capilupi. Ich schüttelte den Kopf. „Nein, danke“, sagte ich rasch. „Ist eine Ortschaft in der Nähe?“ „Ja“, sagte er eifrig. „Pederobba.“ „Du führst mich hin“, sagte ich befehlend, und er nickte zustimmend. Die Kinder hatten ihre Angst überwunden, kamen neugierig näher und starrten mich fasziniert an. „Komm, gehen wir, Carlo“, sagte ich. Seine Frau bedankte sich überschwenglich für die Goldmünze, die ich ihnen geschenkt hatte. Für diese armen Leute stellte sie ein gewaltiges Vermögen dar. Ich war froh, als ich die Dankesbezeugungen und den Abschied hinter mich gebracht hatte und ins Freie treten durfte. Der Regen war stärker geworden. Ich stülpte mir den Umhang über den Kopf und folgte dem Bauer. Nachdem wir etwa zehn Minuten gegangen 48
waren, tauchten die ersten Häuser des Dorfes auf, die alle wenig einladend aussahen. „Ich bringe Euch zum Bürgermeister, edle Dame“, sagte Carlo. Das war mir ganz recht, denn in einem Gasthof wollte ich nicht übernachten. Ich hatte einige Berichte über die Gasthöfe der Renaissance gelesen, und die waren alles andere als erfreulich gewesen. Je näher wir dem Zentrum des Ortes kamen, um so hübscher wurden die Häuser. Die meisten waren einstöckig und aus Holz gebaut, doch vereinzelt waren auch zweistöckige, aus Ziegeln erbaute Gebäude zu sehen. Ein paar Leute standen in den Arkaden zusammen und glotzten uns neugierig an. Carlo schritt auf ein zweistöckiges weißes Haus zu. Im Erdgeschoß befand sich ein Laden. Eine Außentreppe führte in den ersten Stock. „Das ist das Haus des Bürgermeisters“, sagte Carlo. „Ich werde ihn verständigen.“ Ich blieb unter den Arkaden stehen, und er verschwand im Laden. Ein paar junge Leute kamen neugierig näher. Fremde waren in Pederobba vermutlich sehr selten. Es dauerte nur wenige Augenblicke, dann stürmte ein kleiner dicker Mann aus dem Laden, der farbenprächtig wie ein Papagei aussah. Rote Strümpfe, die in gelben Schuhen steckten, eine buntbestickte blaue Weste und 49
darüber ein goldfarbener Rock. „Gestattet, daß ich mich vorstelle“, sagte er und verbeugte sich. „Francesco Piombo, Tuchhändler und Bürgermeister von Pederobba.“ Ich nickte ihm huldvoll zu. „Ich habe von Eurem Unglück gehört“, sagte er eifrig und seine Schweinsäuglein blinzelten mich verschlagen an. Vermutlich hatte ihm Carlo von den Golddukaten erzählt, die ich bei mir hatte. „Tretet bitte ein, edle Dame.“ Ich trat in den Laden, der vollgestopft war mit Woll- und Seidenstoffen, Samt, Leinen und Kattun. „Carlo hat mir erzählt, daß Ihr überfallen wurdet, Baronesse“, sagte er und zog die Tür hinter sich zu. „Es sind schlimme Zeiten. Niemand ist mehr seines Lebens sicher. Die Banditen werden immer unverschämter.“ „Ich bin froh, daß ich mit dem Leben davongekommen bin“, sagte ich leise. „Die Banditen töteten alle meine Begleiter und rissen mir die Kleider vom Leib, doch mir gelang die Flucht.“ „Da habt Ihr Glück gehabt, Baronesse“, meinte er und legte seine Stirn in Falten. „Ich hätte gern ein Lager für die Nacht“, sagte ich. „Und anständige Kleidung. Außerdem hätte ich gern ein Pferd.“ „Ihr könnt bei mir übernachten“, sagte er rasch. „Und meine Frau wird euch ein passendes Kleid anfertigen. Doch in ganz Pederobba gibt es kein Pferd.“ 50
„Wo kann ich ein Pferd kaufen?“ „In Montebelluna. Wir haben nur Esel.“ Nach Montebelluna waren es fast zwanzig Kilometer. Ich überlegte kurz. „Kannst du jemanden nach Montebelluna schicken, der mir ein Pferd kaufen kann?“ Der Dicke zögerte. „Es wird bald dunkel, Baronesse. Und während der Nacht wagt sich niemand aus dem Dorf hinaus.“ Da würde mir wohl nichts anderes übrig bleiben, als morgen auf einem Esel nach Montebelluna zu reiten. Das warf meinen ganzen Plan über den Haufen. Ich hatte erwartet, daß ich bald ein Pferd bekommen konnte, doch da hatte ich mich getäuscht. Wenn ich morgen weiterreiste, dann kam ich erst gegen Mittag in Montebelluna an, und von dort aus waren es noch gut sechzig Kilometer bis Venedig. Ich hätte unbedingt ein paar Tage früher in diese Zeit kommen sollen, aber jetzt konnte ich es nicht mehr ändern. Der Bürgermeister hatte eifrig auf mich eingesprochen, doch ich hatte nicht zugehört. Aus der Werkstatt kamen die Frau des Bürgermeisters und eine seiner Töchter. Seine Frau war eine üppige Matrone, die sich äußerst geziert benahm. Lucia, die Tochter, war etwa in meinem Alter und schien ein recht lustiges Mädchen zu sein. Sie legten mir verschiedene Stoffe vor, nahmen Maß und schlugen mir verschiedene Kleider vor. Schließlich entschied ich mich für ein einfaches Kleid. 51
Danach führte mich der Bürgermeister in den ersten Stock, in dem sich der Wohnraum und die Küche befanden. Hier spielte sich das Leben der Familie ab. Im zweiten Stockwerk lagen die Schlafzimmer. Jetzt erst merkte ich, wie müde ich war. Mir fiel es schwer, die Augen offen zu halten. Auf das Abendbrot verzichtete ich. Ich wollte nur schlafen.
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6.
Mein Schlaf war tief und traumlos gewesen. Trotzdem fühlte ich mich kaum erfrischt. Meine Glieder schienen aus Blei zu bestehen, und jeder Gedanke fiel mir schwer. Ich griff nach dem Signatstern, der sich ungewöhnlich kalt und hart anfühlte. Langsam kroch ich aus dem Bett, trat ans Fenster und zog die Vorhänge zurück. Die Sonne stand hoch am Himmel. „Verdammt“, brummte ich verärgert. Ich hatte eigentlich im Morgengrauen aufstehen wollen. Ich schlüpfte in den Rock und in die Bluse und warf mir das Haar über die Schultern. Dann begann ich meine magischen Fähigkeiten zu testen. Aber es war so, wie ich es befürchtet hatte: ich konnte keinerlei Magie anwenden. Es würde einige Zeit dauern, bis sich mein Körper und der Signatstern von den Strapazen der Zeitreise erholt hatten und ich meine magischen Kräfte reaktivieren konnte. Als ich die Außentreppe betrat, kam mir Lucia entgegen, die mich freundlich begrüßte. „Euer Kleid ist fertig, Baronesse“, sagte sie. „Wollt Ihr es gleich probieren, oder wollt Ihr zuerst etwas essen?“ „Das Kleid kann warten“, sagte ich. Sie führte mich in das Wohnzimmer, und ich nahm an dem langen Tisch Platz, der mit einem leinenen Tischtuch bedeckt war. Erst jetzt nahm ich den großen Raum bewußt 53
wahr. Die drei kleinen Fenster waren vergittert und ohne Glasscheiben. An einer Wand hing ein Kruzifix, das aber seltsamerweise auf mich keine Wirkung ausübte. Ein paar Truhen waren zu sehen, ein halbes Dutzend Schemel und Bänke. Auf dem Holzboden lagen ein paar Wollteppiche. Lucia servierte mir das Frühstück. Auf einem Tablett lagen frisches Brot, hartgekochte Eier und ein paar Stück Käse. In einer kleinen Schüssel war eingekochtes Obst. Dazu reichte sie mir einen Becher Milch und stellte einen Krug Rotwein auf den Tisch. Heißhungrig stürzte ich mich über das Essen. Ich ließ nicht einen Bissen übrig. Anschließend gingen wir in die Werkstatt, wo mich Francesco und Maria Piombo freundlich begrüßten. Ich schlüpfte in ein hemdartiges Unterkleid. Das Kleid war aus blauem Samt, bodenlang und mit Seidenbrokat gesäumt. Es war vorn und hinten leicht ausgeschnitten, und das Oberteil lag wie eine zweite Haut um meinen großen Busen. Ich schlüpfte in Schuhe aus weichem Leder, die kunstvoll bestickt waren. Lucia holte eine Schüssel Wasser und wusch mir das Gesicht. Danach bürstete sie ein paar Minuten mein langes Haar und flocht es zu einer kunstvollen Frisur. Als sie damit fertig war, reichte sie mir einen bestickten Umhang, in den ich schlüpfte. Dann bewunderte ich mich kurz in einem Spiegel. Mein Gesicht mit den hohen 54
Backenknochen sah seltsam bleich aus. Unter den Augen hatte ich dunkle Ringe. Das Kleid saß wie angegossen, und der weite Umhang ließ mich fülliger erscheinen, als ich es war. „Ihr seht wunderhübsch aus, Baronesse“, sagte Lucia, und ich lächelte schwach. Sie wollte mir schmeicheln, denn nach dem in dieser Zeit herrschenden Schönheitsideal hätte ich blondes Haar haben und klein und zierlich sein müssen, was ich nun mit meinen 1,70 wirklich nicht war. Auch der Bürgermeister und seine Frau lobten mein Aussehen überschwänglich. Drei Männer würden mich nach Montebelluna begleiten. Ich hatte das Vergnügen, auf einem Esel reiten zu dürfen. Ich gab dem Bürgermeister einen Dukaten, und er zerfloß schier vor Dankbarkeit. Kurze Zeit danach war ich unterwegs. Der Esel war ein verhungert aussehendes Geschöpf, das aber äußerst friedlich und gutmütig war. Ich saß im Damensitz im Sattel, und meine Füße berührten fast den Boden. Die drei Männer, die mich begleiteten, waren kräftig gebaut und mit langen Dolchen und Streitkolben bewaffnet. Es war ein warmer Frühlingstag, die Luft war ungewöhnlich würzig. Dem Esel schien das Laufen Spaß zu machen. Er bewegte sich so rasch, daß die Männer Mühe hatten, uns zu folgen. Das Tal wurde immer breiter. Überall waren 55
fruchtbare Felder und hübsche Bauerngehöfte zu sehen. In Montebelluna sollte ich ohne Schwierigkeiten ein Pferd bekommen. Ich wollte heute noch bis Treviso reiten und morgen zeitig aufbrechen. Wenn es so klappte, wie ich es mir vorstellte, dann konnte ich morgen am späten Nachmittag in Venedig sein. Die schmale Straße führte nun öfters durch kleine Wälder hindurch. Nach zwei Stunden legten wir eine kurze Rast ein, dann ging es wieder weiter. Dem Grautier schien die Rast nicht gut getan zu haben, denn plötzlich wurde es störrisch. Alle hundert Meter blieb es stehen und ließ sich weder durch schmeichelnde Worte noch durch Hiebe zum Weitergehen bewegen. Erst wenn es ihm paßte, bewegte es sich. Langsam begann ich mir Sorgen zu machen. Wenn es in diesem Tempo weiterging, dann würden wir Montebelluna erst bei Einbruch der Dunkelheit erreichen. Als wir wieder einmal ein Wäldchen durchquerten, blieb der Esel ruckartig stehen, und ich rutschte aus dem Sattel, landete aber auf meinen Beinen. Die Männer kicherten unterdrückt, und ich, warf dem Esel einen mißbilligenden Blick zu. Hufgeklapper und das Schnauben von Pferden war zu hören. Sechs Reiter näherten sich uns. Die Männer waren mit Brustharnischen bekleidet. Alle waren mit 56
Schwertern und Streitkolben bewaffnet. Gespannt blickte ich ihnen entgegen. Als ich hinter mir ein Geräusch hörte, sah ich mich rasch um. Meine drei Begleiter ergriffen die Flucht und verschwanden im dichten Unterholz. Da hatte mir der Bürgermeister ja drei tapfere Helden mitgegeben. Ein paar Schritte von mir entfernt zügelten die Reiter ihre Pferde und musterten mich aufmerksam. Einer der Männer, ein verschlagen aussehender Geselle mit einem schwarzen Spitzbart sprang aus dem Sattel und kam geduckt auf mich zu. Zwei Schritte von mir entfernt blieb er breitbeinig stehen und grinste mich spöttisch an. „Nach deinen Kleidern zu schließen, scheinst du vermögend zu sein“, sagte er. „Wo hast du dein Geld und deinen Schmuck versteckt?“ Begehrlich starrte er meinen goldenen Armreifen an, dann blickte er auf meinen Hals, wo ein Stück der Kupferkette zu sehen war, an der sich der Signatstern befand. „Ich wurde schon einmal überfallen“, sagte ich leise. „Nur der Goldreifen ist mir geblieben.“ „Und den wirst du mir geben“, sagte er, trat einen Schritt vor und streckte die rechte Hand aus. Ich wich zurück, und er lachte. „Du entkommst mir nicht. Her mit dem Armreifen!“ „Ich kann ihn nicht abnehmen. Er ist mit meinem Arm verwachsen.“ 57
„Blödsinn“, knurrte er. Er sprang auf mich zu und wollte mich mit beiden Händen packen, doch ich trat einen Schritt zur Seite, packte blitzschnell sein rechtes Handgelenk, verdrehte ihm den Arm und riß ihn hoch. Er fiel auf die Knie, und bevor er sich noch von seiner Überraschung erholt hatte, riß ich sein Schwert aus der Scheide und drückte die Spitze gegen seine Kehle. „Bleibt auf euren Pferden!“ schrie ich den Männern zu. „Wenn einer absteigt oder näherkommt, ist euer Freund verloren.“ Mein Gefangener versuchte seinen Arm zu befreien, doch ich verstärkte die Hebelwirkung des Griffes, und er stöhnte gequält auf. „Bewege dich nicht“, sagte ich zu ihm. Die fünf Männer musterten mich durchdringend. Das Pferd meines Gefangenen war etwas nähergekommen. Ich hatte keine Zeit mehr zu verlieren. Ich ließ das Handgelenk des Banditen los und rannte auf sein Pferd zu. Aber der lange Rock war mir beim Laufen ziemlich hinderlich. Endlich hatte ich das Pferd erreicht. Ich schob den linken Fuß in den Steigbügel und hielt mich mit der rechten Hand an der Mähne des Hengstes fest. Dann schwang ich das rechte Bein hoch, und der verdammte Rock verfing sich irgendwo am Sattel. Das Schwert mußte ich loslassen. Ich ließ mich ganz einfach bäuchlings auf den Rücken des Pferdes fallen und klammerte mich mit beiden Händen in der 58
Mähne fest, und in diesem Augenblick bäumte sich das Tier auf und brutale Hände griffen nach mir und rissen mich zu Boden. Drei Männer warfen sich auf mich und bearbeiteten mich mit ihren Fäusten. Ich bekam einen Schlag auf die Schläfe und kämpfte wütend weiter. Als ich noch einen Schlag bekam, blieb ich halb bewußtlos liegen. Undeutlich nahm ich wahr, daß ich auf den Bauch gedreht wurde. Irgend jemand versuchte den Armreifen von meinem Handgelenk zu lösen, was ihm aber nicht gelang. Hände strichen über meinen Körper und drehten mich dann auf den Rücken. Die Golddukaten, die sich in einem kleinen Lederbeutel befanden, der an meinem Gürtel hing, hatten sie bald gefunden. Dann rissen sie mir die Kette mit dem Signatstern über den Kopf. „Nein, laßt mir die Kette!“ schrie ich und griff nach ihr. Ich bekam einen Fußtritt, Blut rann aus meiner Nase. Die Männer schrien etwas, was ich nur sehr schlecht verstehen konnte. Mit Hilfe des Signatsterns hatte ich sie deutlich verstehen können, doch jetzt war mir ihr Dialekt fast unverständlich. Ich fühlte mich unendlich schwach. Der Signatstern war mehr oder minder zu einem Teil von mir geworden. Oirbsen hatte mich gewarnt, ich durfte den Signatstern nicht ablegen. 59
Ich riß die Augen auf. Breitbeinig stand einer der Männer über mir, das Schwert zum Hieb erhoben. Ein anderer packte meinen linken Arm und riß ihn hoch. „Schlag ihr die Hand ab!“ Ich konnte mich nicht wehren. Hilflos war ich ihnen ausgeliefert. „Warte“, schaltete sich ein Mann ein. „Der Armreif läuft uns nicht davon. Das Mädchen scheint aus einer reichen Familie zu stammen. Wir sollten sie zu Cesare bringen. Ihre Familie wird für sie sicherlich ein Lösegeld zahlen.“ „Das ist eine gute Idee“, stimmte einer der anderen zu. Erleichtert schloß ich die Augen, als der Mann meinen Arm losließ. Danach nahm ich alles wie durch einen Schleier hindurch wahr. Sie banden mir die Hände auf den Rücken, und einer der Männer warf mich vor sich auf den Sattel. Nach ein paar Minuten wurde ich bewußtlos.
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7.
Ich japste nach Luft. Irgend jemand hatte mir Wasser ins Gesicht geschüttet. „Wach auf!“ hörte ich eine tiefe Stimme. Und wieder bekam ich eine Ladung Wasser ins Gesicht. Ich schlug die Augen auf, und es dauerte einige Zeit, bis ich meine Umgebung wahrnehmen konnte. Ich befand mich in einem riesigen, geschwärzten Gewölbe. Ein hochloderndes Feuer tauchte die Folterkammer in glutrotes, flackerndes Licht. An den Wänden hingen Zangen, Geißeln, Peitschen, Schwerter und spitze Stangen, Bein- und Daumenschrauben. „Na, endlich ist sie wach“, sagte der hochgewachsene Mann, der vor mir stand. Sein Haar war kurzgeschnitten und sein Vollbart kohlrabenschwarz. Sein nackter Oberkörper war feucht und mit unzähligen Narben bedeckt. Er stellte einen Kübel auf den nassen Boden und trat einen Schritt zur Seite. Ich versuchte mich zu bewegen, doch es gelang mir nicht. Nun erst wurde mir bewußt, daß meine Handgelenke in Spangen steckten, die mit Eisenketten verbunden waren, die von der Decke hingen. Mein Kleid hatte man ausgezogen. Ich war nur mit dem hemdartigen Unterkleid bekleidet, das über der Brust zerrissen war. Ein schlanker, etwa dreißigjähriger Mann kam langsam auf mich zu und blieb vor mir 61
stehen. Sein dunkles Haar war schulterlang und sorgfältig frisiert. Sein glattrasiertes Gesicht war aufgedunsen und der Mund bösartig verzogen. Die dunklen Augen blickten mich so freundlich wie Kieselsteine an. Seine Kleidung bestand aus einer bestickten Weste, den üblichen langen Strümpfen und einem Rock aus Goldbrokat. In der rechten Hand hielt er ein Weinglas, aus dem er langsam trank. „Wer bist du?“ fragte er mich. Ich war so schwach, daß ich nicht sprechen konnte. „Antworte!“ schrie er mich an. Ich öffnete den Mund, doch nur ein unverständliches Krächzen kam über meine Lippen. „Wasser“, stieß ich hervor. „Gib ihr etwas zu trinken, Angelo.“ Der Vollbärtige reichte mir einen Becher, und ich trank gierig. „Kannst du jetzt sprechen?“ „Ja“, sagte ich kaum hörbar. Ich hatte große Mühe, den Mann zu verstehen. „Also, wie ist dein Name?“ „Cornelia von Hohenstein“, flüsterte ich. „Das nenne ich einen guten Fang. Eine Adelige. Wer ist dein Vater?“ „Freiherr Leopold von Hohenstein“, sagte ich stockend. „Ein Baron“, sagte er enttäuscht. „Da wird nicht viel zu holen sein. Du bist eine Österreicherin. Es wird wohl ziemlich lange 62
dauern, bis ich das Lösegeld bekomme. Wieviel wirst du deinem Vater wohl wert sein? Tausend Dukaten?“ „Ja“, sagte ich keuchend. „Er wird tausend Dukaten zahlen.“ „Vielleicht auch mehr“, sagte er zynisch grinsend. „Wer bist du?“ fragte ich. „Du hast mich mit Euer Gnaden anzureden!“ schrie er mich an. „Ich bin Cesare di Fambio!“ Sein Gesicht konnte ich nur noch undeutlich sehen. Alles verschwamm vor meinen Augen. Rasch schloß ich die Augen. „Sieh mich an, Weib!“ herrschte er mich an. Müde öffnete ich die Augen. Er hatte das Weinglas abgestellt und hielt nun die Kupferkette mit dem Signatstern in der Hand. „Was ist das für ein seltsamer Stein?“ „Ein seltener Stein aus den Alpen. Es werden ihm große Heilkräfte zugeschrieben.“ „Ein Talisman also“, stellte er fest und betrachtete den Signatstern aufmerksam. „Ja, mehr sogar“, flüstert eich. „Er ist unglaublich wirksam.“ Ich mußte den Signatstern bekommen, ohne ihn war ich verloren. „Erzähle mir über seine Wirksamkeit.“ Ich schluckte und mobilisierte all meine Kräfte. Liebend gern hätte ich diesen widerlichen Cesare di Fambio hypnotisiert, doch dazu war ich zu schwach. Aber ich konzentrierte mich auf den Signatstern und versuchte seine Kräfte zu aktivieren. Für einen 63
Augenblick glaubte ich das Muster auf seiner Oberfläche zu sehen. „Der Kristall heilt alle Wunden“, sprach ich weiter. „Es dauert nur wenige Stunden und auch die gefährlichsten Verletzungen sind verheilt.“ „Das glaube ich nicht“, knurrte er. „Sollte das tatsächlich stimmen, dann wärs ja dieser Stein ein Vermögen wert.“ „Er ist es auch, Euer Gnaden. Aber er entfaltet erst seine Wirksamkeit, wenn man ihn mindestens eine Woche an der Brust trägt.“ Wieder betrachtete er den Stern, und ich konzentrierte mich weiter auf ihn. „Hm“, brummte er nachdenklich. „Wie lange hast du diesen Kristall schon getragen?“ „Ein paar Monate“, antwortete ich rasch. Grinsend kam er auf mich zu. „Ich werde prüfen, ob du die Wahrheit gesprochen hast. Du bekommst den Kristall für diese Nacht, und wenn morgen deine Wunden nicht verheilt sind, wirst du fürchterlich bestraft werden.“ Erleichtert schloß ich die Augen, als er mir die Kette über den Kopf zog und ich den Stern auf meiner Brust spürte. „Binde sie los, Angelo“, befahl er. „Nun zu dir, Cornelia von Hohenstein. Du wirst einen Brief an deinen Vater schreiben, den ich dir diktieren werde.“ Angelo schleppte mich in einen Nebenraum. Ich bekam noch ein Glas Wasser zu trinken, dann diktierte Cesare di Fambio das 64
Schreiben, in dem er seine Lösegeldforderungen bekanntgab. Ich mußte den Brief ins Deutsche übersetzen. „Als Beweis, daß ich dich gefangen habe“, sagte er grinsend, „werde ich dir dein Haar abschneiden!“ Darauf kam es nun auch nicht mehr an, obzwar ich ziemlich stolz auf mein langes Haar war. Aber sollte es mir doch gelingen, irgendwann in meine Zeit zurückzukehren, würde ich es wieder zurückerhalten, denn sobald ich in meiner Zeit auftauchte, war ich wieder so, wie ich sie verlassen hatte. Angelo packte mein Haar, und Cesare di Fambio zog seinen Dolch und schnitt es mir knapp unterhalb der Schulter ab. „Das wird deinen Vater überzeugen“, sagte er lachend und warf das Haar auf den Tisch. „Bring sie in eine Zelle, Angelo.“ Angelo packte mich und schleppte mich durch die Folterkammer in einen schmalen Gang. Er stieß mich in eine kleine Zelle und schlug die Tür hinter mir zu. Ich hörte, wie er den Riegel vorschob. In der Zelle roch es modrig. Der Boden war mit halbverfaultem Stroh bedeckt. Von den Wänden und der Decke tropfte Wasser. Ich legte mich auf den Rücken, schloß die Augen und nahm den Signatstern in beide Hände. Nach einiger Zeit spürte ich, daß der geheimnisvolle Kristall langsam warm wurde. Ich konzentrierte mich ganz auf ihn und versuchte immer wieder die in ihm 65
schlummernden Kräfte zu aktivieren. Dann schlief ich irgendwann einmal ein. Als ich erwachte, nahm ich mir sofort wieder den Signatstern vor. Es schien Stunden zu dauern, bis ich endlich spürte, daß er leicht zu pulsieren begann, und ich verstärkte meine Bemühungen. Endlich hatte ich Erfolg! Der Stern schien in meinen Händen zu explodieren, und unerklärliche Kräfte flossen auf mich über. Meine Rückenwunden begannen zu schmerzen, doch nach wenigen Sekunden verschwand der Schmerz, nur ein sanftes Brennen war zu spüren. Und als ich unter das blutverkrustete Unterkleid auf meinem Rücken griff, fühlte sich meine Haut glatt und unverletzt an. Erleichtert ließ ich mich zurücksinken und dachte nach. Ich war noch immer sehr geschwächt, aber ich mußte den Kampf gegen Cesare di Fambio aufnehmen. Sobald er meinen verheilten Rücken gesehen hatte, würde er mir den Signatstern wegnehmen, und das durfte ich keinesfalls zulassen. Nach und nach entspannte ich mich und drängte alle quälenden Gedanken zurück. Ich versetzte mich in einen magischen Tiefschlaf, ein ziemlich gefährliches Unterfangen, da ich für mindestens eine Stunde völlig wehrlos sein würde. Sollte jemand in den nächsten Minuten die Zelle betreten, würde er mich für tot halten. Aber dieser Tiefschlaf war die einzige Möglichkeit, rasch zu neuen Kräften zu 66
gelangen, deren Wirkung aber nur für wenige Stunden anhalten würde. Danach mußte ich unbedingt einige Tage ausruhen. Es hat geklappt, stellte ich glücklich fest, als ich aus dem Tief schlaf erwachte. Sofort stand ich auf, trat an die Tür und strich mit beiden Händen darüber. Ich spürte den Riegel fast körperlich, der die Tür verschloß. Es dauerte nur Sekunden, und der Riegel glitt zurück. Ich konnte die Tür öffnen. Der Gang wurde nur von einer kleinen Öllampe erhellt, die auf einem Schemel stand. Ich betrat die Folterkammer. Nur ein paar Scheite glosten im Kamin. Vor einer Wand blieb ich stehen und suchte mir ein Schwert aus. Als ich Schritte hörte, versteckte ich mich hinter einem Streckbett, das schräg an eine Wand gelehnt war. Angelo ging zum Feuer, packte einen Schürhaken und warf ein paar Holzscheite hinein. Das Feuer loderte hoch, und er legte weitere Holzstücke nach. Geräuschlos trat ich hinter dem Streckbett hervor und ging zielstrebig auf den Henkersknecht zu. „Angelo!“ sagte ich laut. Er wirbelte herum und starrte mich aus großen Augen an. Ich hypnotisierte ihn augenblicklich. „Du wirst mir bedingungslos gehorchen, Angelo“, sagte ich. „Du wirst jeden meiner Befehle widerspruchslos sofort ausführen. 67
Hast du mich verstanden?“ „Ja, ich habe dich verstanden.“ „Wo befinden wir uns?“ „In der Burg Fambio“, antwortete er tonlos. „Das ist in der Nähe von Asolo.“ Ich stellte ihm weitere Fragen, und nach und nach konnte ich mir ein genaues Bild machen. Cesare di Fambio war der letzte seines Geschlechtes, ein verarmter Adeliger, der seit vielen Jahren mit verschiedenen Banditenbanden gemeinsame Sache machte. Er kaufte ihnen die Schmuckstücke und anderen Wertgegenstände ab, die sie erbeutet hatten. Und zu ihm brachten sie reiche Gefangene, für die er Lösegeld verlangte. Aber noch nie hatte er eines seiner Opfer laufen lassen. Gleichgültig, ob die Lösegeldsumme gezahlt wurde oder nicht, er tötete seine Gefangenen. Mit den gefangenen Frauen und Mädchen amüsierte er sich einige Zeit, bevor er sie bestialisch ermordete. Dieser Cesare di Fambio war ein geborener Sadist, der nur an Grausamkeiten Gefallen zu finden schien. Im Augenblick befanden sich außer mir noch drei Gefangene in der alten Burg. Ein junges Ehepaar – Bernardo und Viola Aretino – und ein junger Mann namens Pietro Campano. Sie waren von Venedig nach Bassano unterwegs gewesen, als sie von Banditen überfallen worden waren. Außer Angelo war noch der Bursche da, der mich gegeißelt hatte. Er hörte auf den 68
hübschen Namen Romeo. Dann gab es noch einige Mädchen, die Cesare in seine Dienste gezwungen hatte. „Wo finde ich diesen Romeo?“ fragte ich. „Er muß jeden Augenblick kommen.“ Als Romeo auftauchte, hypnotisierte ich ihn sofort. „Führ mich zu den Gefangenen“, sagte ich. Zuerst befreiten wir Pietro Campano. Sein Körper wies unzählige Wunden auf. Sein Haar war versengt, und er schien nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen. Er konnte es nicht fassen, daß er frei war. Bernardo Aretinos Zustand war noch schlimmer. In seinen dunklen Augen loderte der Wahnsinn. Er war in den Wochen der Gefangenschaft verrückt geworden, und seine Ausstrahlung war fast zu viel für mich. Der Ärmste nahm seine Umgebung nicht mehr wahr. „Cesare di Fambio ist an seinem Zustand schuld“, sagte Pietro Campano leise. „Während Bernardo und ich von diesen beiden Hunden ausgepeitscht wurden, vergewaltigte Cesare, dieses Ungeheuer in Menschengestalt, Viola!“ Ich spürte, wie sich mein Magen zusammenkrampfte und wie hilfloser Zorn über mir zusammenschlug. „Wo ist Viola Bernardo, Angelo?“ „Bei Cesare di Fambio.“ „Führe mich zu Cesare.“ Romeo blieb bei Bernardo Aretino, den wir 69
auf einen Tisch gelegt hatten und in eine Decke einhüllten. Angelo führte Pietro und mich durch lange Gänge, dann ging es breite Stufen hoch. Aus einem Zimmer hörte ich grölendes Lachen. „Zier dich nicht so, mein Täubchen. Denk an deinen Mann, meine Liebe.“ Ich trat in den großen Raum, der von einem Himmelbett beherrscht wurde, das in der Mitte stand. Cesare wälzte sich mit einer nackten Blondine auf dem Bett. Seine Hände strichen über ihren Körper. Pietro wollte an mir vorbei auf Cesare losstürzen, doch ich hielt ihn zurück. „Jetzt ist es aber genug!“ knurrte Cesare ergrimmt. „Hör auf dich zu wehren.“ „Euer Gnaden, darf ich Euch stören!“ sagte ich laut. Cesare ließ von der Blondine ab und vor Schreck fiel ihm die Kinnlade herunter. Langsam ging ich auf ihn zu. Er setzte sich auf und blickte mich furchtsam an. „Euer Gnaden“, sagte ich höhnisch, „Eure Stunden sind gezählt. Euer Gnaden werden heute noch viel Vergnügliches erleben. Euer Gnaden werden einmal die hübschen Geräte am eigenen Leib spüren, mit denen Ihr Eure Gefangenen erheitert habt. Euer Gnaden müssen nämlich meinen Grundsatz kennenlernen: Auge um Auge, Zahn um Zahn!“ 70
Er begann zu zittern, doch dann sprang er auf. Er dachte, daß er mich leicht überwältigen konnte, doch da hatte er sich getäuscht. Die Breitseite des Schwertes traf ihn, und er brach bewußtlos zusammen. „Fesselt das Monster, Pietro“, sagte ich. „Das tue ich gern“, sagte der Junge. „Wer seid Ihr?“ fragte ich die Blondine. „Viola Aretino“, sagte sie schluchzend. „Ihr seid frei, Viola. Auch Euren Mann haben wir befreit, er braucht ganz dringend Eure Hilfe.“ Die hübsche Frau sprang aus dem Bett und lief zu einer Truhe, auf der ein Dolch lag. Neben Cesare kniete sie nieder und holte zum Stich aus. „Wartet, Viola“, sagte ich. Sie blickte mich an. „Cesare di Fambio hat die schwerste Strafe verdient, aber er gehört nicht Euch allein. Zumindest Pietro Campano hat da auch ein Wort mitzureden.“ Viola ließ den Dolch sinken. „Er soll tausend Tode sterben“, sagte sie grimmig. Angelo hob seinen bewußtlosen Herrn hoch und trug ihn hinunter in die Folterkammer. Pietro und Viola folgten ihm. Ich konnte mir denken, was sie mit Cesare di Fambio nun anstellten. Mir lag es fern, mich an seinen Qualen zu ergötzen, daran konnte ich einfach keinen Spaß finden. Aber er mußte 71
seine Verbrechen sühnen, und dieses Zeitalter hatte eine grausame Rechtsprechung. Ich sah mich in der Burg um. Cesare di Fambio hatte im Lauf der Zeit ein gewaltiges Vermögen angehäuft. Ich fand einige Schatullen, die voll mit kostbaren Schmuckstücken waren. In einem Raum entdeckte ich Truhen, die mit Kleidungsstücken angefüllt waren. Ich suchte mir einige passende Kleider aus, nahm aber keine Röcke, die mir für mein Vorhaben zu unpraktisch waren. Ich kleidete mich wie ein Mann. Vor einem Spiegel blieb ich stehen. Ich sah seltsam aus. Das kurze Haar paßte mir aber ganz gut. Eigentlich könnte ich mich als Mann ausgeben… Störend waren nur meine üppigen Brüste. Aber schließlich fand ich auch da eine Lösung. Ich schlüpfte in einen Brustharnisch, der zwar meine Brüste etwas zusammendrückte, was mich aber weiter nicht störte. Mit einem scharfen Messer schnitt ich mein Haar noch kürzer. Ich wußte, daß einige Männer das Haar ganz kurz geschnitten trugen, sie waren Anhänger der französischen Mode. Aus den abgeschnittenen Haaren fertigte ich einen kleinen Schnurrbart, den ich mir probehalber anlegte. Mit meinen nun wieder voll verfügbaren magischen Kräften war es mir ein leichtes, ihn über meiner Oberlippe 72
festzukleben und die Wirkung war verblüffend. Ich sah tatsächlich wie ein außerordentlich hübscher, etwas mädchenhafter junger Mann aus. Als ich mir noch ein Barett aufsetzte, war die Verkleidung perfekt. Mit meiner Stimme hatte ich auch keine Schwierigkeit, sie war schon von Natur aus ziemlich tief und rauh. Ich durchsuchte die Burg und fand drei verschreckte Mädchen, die ich in die Folterkammer schickte. Vielleicht machte es ihnen Spaß, an ihrem ehemaligen Herrn ihr Mütchen zu kühlen. Im Stall fand ich ein halbes Dutzend edler Pferde. Ein reinrassiger Araberhengst begeisterte mich. Als ich eine halbe Stunde später die Burg betrat, kam mir Pietro Campano entgegen, der mich aber nicht erkannte. Auch ihn hypnotisierte ich. „Was ist mit Cesare di Fambio?“ erkundigte ich mich. Sein Gesicht verdüsterte sich. „Dieser Mörder hat die Folter nicht ausgehalten“, sagte er, wie es schien, enttäuscht. „Er bekam nach einer halben Stunde einen Herzschlag.“ „Und was ist mit Angelo und Romeo?“ „Die beiden habe ich geköpft“, sagte er. Mir rannen eisige Schauer über den Rücken. So schlimm konnte es nur in einem Alptraum zugehen. Ich drehte mich um, als ich die Ausstrahlung des wahnsinnig gewordenen Bernardo Aretino 73
spürte. Und fast panikartig ergriff ich die Flucht, als er die Stufen hochwankte. „Komm mit mir, Pietro!“ schrie ich, dann stürmte ich den Gang entlang und verschwand in meinem Zimmer. Ich wußte, daß meine Kräfte höchstens noch drei Stunden anhalten würden. Für mich war es nun eine Lebensnotwendigkeit, einen Ort zu finden, wo ich mich zwei, drei Tage lang ungestört ausschlafen konnte. Dieses Problem war bald gelöst. Pietro hatte Verwandte in Bassano, das nicht einmal zehn Kilometer von der Burg entfernt war. Dort konnte ich einige Zeit ausspannen. Pietro kümmerte sich um Bernardo und Viola, während ich vier Pferde sattelte. Dann kehrte ich in die Burg zurück, nahm einige Dukaten und Schmuckstücke an mich und packte einige Kleidungsstücke zusammen, für die ich später sicherlich Verwendung haben würde. Danach suchte ich mir aus der reichhaltigen Sammlung des toten Cesare ein prächtiges Schwert und einen Dolch aus. Eine Stunde später brachen wir auf. Mir blieb keine andere Wahl, ich mußte auch Viola hypnotisieren und ihre Erinnerung an die Ereignisse der vergangenen Stunden korrigieren. Viola und Pietro glaubten nun, daß ich Conrad von Hohenstein sei, der zufällig an der Burg vorbeigekommen war und sie befreit hatte. Bernardo mußte ich nicht hypnotisieren, denn er hatte von den Vorfällen kaum etwas 74
mitbekommen. Ich ritt mit Pietro voraus. Viola und Bernardo, der immer wieder idiotisch vor sich hinkicherte, hielten einen Abstand von mehr als fünfzig Metern, der genügte, um Bernardos fürchterliche Ausstrahlung für mich er träglicher zu machen. Pietros Onkel bewohnte einen riesigen Palast im Zentrum von Bassano. Die Begrüßung war unwahrscheinlich herzlich. Ich wurde als strahlender Held willkommen geheißen, und alle waren überaus enttäuscht, als ich nur nach einem Bett verlangte. Ich wollte drei Tage lang nicht gestört werden, ein höchst ungewöhnlicher Wunsch, dem ich aber mit Hilfe meiner magischen Fähigkeiten Nachdruck verlieh. Das Zimmer, das ich bekam, war traumhaft eingerichtet, doch ich wankte auf das Bett zu, riß mir die Kleider vom Leib und war schon halb eingeschlafen, als ich mich auf das Bett fallen ließ…
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8.
Ich wachte am 18. Mai 1535 gegen Mittag auf. Vor drei Tagen hätte ich bei Tizian in Venedig eintreffen sollen, doch es war ganz anders gekommen. Aber das sollte eigentlich nichts ausmachen, denn ich würde jetzt auch ohne Schwierigkeiten den Ring bekommen. Ein paar Minuten lang blieb ich noch in dem mit einem Baldachin geschmückten Bett liegen, dann stand ich auf und trat zum Fenster, zog den Vorhang zur Seite und blickte in einen kleinen Garten. Überall waren blühende Bäume zu sehen. Die Luft war warm und betäubend süßlich. Ich starrte meine Kleider an und überlegte, ob ich weiterhin die Rolle als Conrad von Hohenstein spielen sollte. Und ich entschied mich dafür. Als Mann konnte ich mich viel leichter in dieser Zeit bewegen, als Frau hatte ich mit unzähligen Schwierigkeiten zu kämp fen, die ich vermeiden wollte. Mein Plan stand fest. Ich wollte noch heute weiterreiten und bis nach Treviso kommen. Dort wollte ich übernachten und morgen meine Reise nach Venedig fortsetzen. Tizian gegenüber wollte ich als Cornelia von Hohenstein auftreten. Passende Frauenkleider und Schmuckstücke hatte ich aus der Fambio-Burg mitgenommen. Aber ich mußte mir eine Perücke besorgen, denn mit meinem kurzen Haar wäre ich eine zu auffällige und ungewöhnliche Erscheinung 76
gewesen. Ich kleidete mich rasch an. Der Harnisch war schwer und unhandlich, doch für meine Verkleidung war er unumgänglich. Das Schwert lag gut in der Hand, sein Griff war aus Elfenbein. Die Scheide bestand aus Holz, die mit Leder überzogen war. Der Dolch, besser gesagt der Cortelaccio war besonders kunstvoll ausgeführt. Der Griff war aus Gold und mit Edelsteinen verziert, die Klinge war goldtauschiert. Als ich in den Gang trat, kam mir Pietro Campano entgegen. Er sah sichtlich erholt aus. Sein versengtes Haar hatte er unter einer Kappe verborgen. „Ich bin glücklich, Euch zu sehen, Baron“, sagte er strahlend. „Mein Onkel kann es kaum erwarten, Euch zu danken.“ „Wie geht es Bernardo?“ Pietros Gesicht verdüsterte sich. „Sehr schlecht“, sagte er leise. „Wir haben die besten Ärzte zu Rate gezogen, aber sie haben nur wenig Hoffnung, daß sich sein Zustand bessern wird.“ Die beliebteste Methode in dieser Zeit, einen Geisteskranken zu heilen, war, einen Aderlaß an ihm vorzunehmen. Dabei wurden Blutegel an seiner Stirn befestigt. Wie nicht anders zu erwarten, war diese Heilmethode nur in den seltensten Fällen wirksam. „Hat sich Viola schon von den Schrecken erholt?“ „Ihr geht es den Umständen nach ganz gut“, 77
sagte Pietro. „Aber es wird noch viele Monate dauern, bis sie die fürchterlichen Erlebnisse vergessen haben wird.“ Um Viola machte ich mir nicht viele Sorgen. Sie schien eine ziemlich robuste Frau zu sein. Ihr Mann war viel schlimmer dran. Pietro brachte mich zu seinem Onkel. Nun hatte ich Gelegenheit, das Innere des Palastes zu betrachten. Die Decken waren verziert, in jedem Raum fand sich mindestens ein reich ornamentierter Kamin, auf dessen Sims hauptsächlich antike Amphoren und kostbare Vasen standen. An den Wänden hingen prachtvolle Tapisserien, für die Möbel, hauptsächlich geschnitzte Truhen, Stühle und Marmortische, hätte man im 20. Jahrhundert ein Vermögen bekommen. Lattanzio Campagno war ein schlanker Mann im Greisenalter, der aber noch vor Lebenslust sprühte. Er war überraschend einfach und fast farblos gekleidet. Seine Frau Antonia mußte in ihrer Jugend eine Schönheit gewesen sein. Einiges davon hatte sie noch ins hohe Alter retten können. Selten zuvor hatte ich ein edler geschnittenes Gesicht und so schöne Hände gesehen wie die ihren. Pietro und Lattanzio waren bestürzt, als ich ihnen sagte, daß ich noch am Nachmittag nach Treviso aufbrechen wollte. Sie bestürmten mich, daß ich einige Tage ihr Gast sein sollte, doch ich blieb bei meinem Entschluß. Das Essen, man konnte es ruhig als 78
Festmahl bezeichnen, war nicht unbedingt nach meinem Geschmack. Da gab es versilberte Störe, Zitronenkompott, frische Mandeln und Junggänse, Rebhühner, dazu verschiedene Kuchen. Weine aus Italien, Spanien und Portugal wurden getrunken. Obzwar ich von den einzelnen Gängen nur wenig gekostet und mich auch beim Trinken zurückgehalten hatte, konnte ich mich kaum bewegen, als ich von der Familie Campano Abschied nahm. Der Ritt nach Treviso verlief ohne Zwischenfälle. Der Araberhengst war sanft und gutmütig und unwahrscheinlich ausdauernd. In der Nähe von Castel-franco legte ich eine kurze Rast ein, dann ritt ich wei ter. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit hatte ich Treviso erreicht und quartierte mich für die Nacht in einem einfachen Gasthof ein. Am nächsten Tag besuchte ich den Markt von Treviso. Da war alles zu bekommen, was man sich nur vorstellen kann. Mützen, Schürzen, Kinderkleidung, Gürtel und Geldbeutel, Fächer und falsche Zöpfe. Ich kaufte eine Perücke. Das Haar war blond und gut einen Meter lang. Dementsprechend hoch war auch der Preis. Dann ritt ich los. Ich wollte bis kurz vor Venedig reiten und mich dann in ein junges Mädchen zurückverwandeln. Auf den ersten Blick schien mir Venedig nicht anders zu sein, als ich es aus meiner Zeit in Erinnerung hatte. Natürlich gab es noch nicht 79
die Ponte della Liberta, und das scheußliche Parkhochhaus stand auch noch nicht. Wo sich später einmal die Bahnstation Santa Lucia befinden sollte, waren jetzt schöne Bürgerhäuser zu sehen. Am Auffallendsten war das Fehlen der lauten Motorboote. Und die Häuser und Paläste waren viel bunter als im 20. Jahrhundert, aber sonst bemerkte ich nicht viele Veränderungen. Die Leute waren anders gekleidet, aber an die derzeitige Mode hatte ich mich ja bereits gewöhnt. Mein Pferd hatte ich in einem Mietstall gelassen. Mit einer Gondel war ich nun unterwegs zu Tizian. Der Gondoliere kannte das Haus des auch schon 1535 berühmten Künstlers. Es lag im Bezirk der Birri. Aus dem Buch, das ich über Tizian gelesen hatte, wußte ich, daß seine Frau Cecilia vor fünf Jahren gestorben war. Seine Schwester Orsa sollte ihm nun den Haushalt führen. Er hatte vier Kinder, von denen eine Tochter bald nach der Geburt gestorben war. Seine Söhne hießen Pomponio und Orazi, seine Tochter Lavinia. Angeblich wurde Tizian 1488 geboren, demnach war er jetzt etwa 47 Jahre alt. Nach kurzer Fahrt bog der Gondoliere in einen der unzähligen Nebenkanäle ein und fuhr in Richtung Norden weiter. Etwa fünfzehn Minuten später hatten wir Tizians Haus erreicht, das direkt am Meer lag und von dem man einen prächtigen Blick auf die Insel Murano hatte. Der Gondoliere brachte mein Gepäck zum 80
Haus, und ich entlohnte ihn. Ich betätigte den Türklopfer, und Sekunden später blickte ich in das bärtige Gesicht eines Bediensteten, der mich interessiert betrachtete. „Ich bin Cornelia von Hohenstein“, stellte ich mich vor. „Eine Verwandte des Kaisers“, log ich unverschämt. „Ich möchte zu Tiziano Vecellio.“ Der Bedienstete verbeugte sich tief. „Tretet ein, Baronesse.“ Ein halbwüchsiger Bursche schleppte mein Gepäck ins Haus. „Nehmt bitte Platz, Baronesse“, sagte der Diener und wies auf ein paar unbequem aussehende Stühle. „Ich verständige den Meister.“ Ich nickte ihm huldvoll zu und ließ mich auf einen der Sessel nieder. Tizian mußte recht gut verdienen. Sein Haus war eher ein Palast. Die Eingangshalle war fast so groß wie ein Fußballfeld. Der Boden und die Säulen bestanden aus Marmor, die Decke war aus ge schnitztem Holz. Ich mußte nur wenige Minuten warten, dann wurde eine der hohen Holztüren geöffnet, und ein imposanter Mann trat ein. Seine Bewegungen und sein Schritt waren kraftvoll. Auf dem Kopf trug er ein braunes Käppchen. Der braune Vollbart war zerzaust, die Nase überraschend groß und fleischig, und die dunklen blitzenden Augen lagen tief in den Höhlen. Bekleidet war er mit einem blauen 81
Samtmantel, einem gelben Seidenhemd und dunkelblauen Strumpfhosen. Seine Füße steckten in eigenwillig geformten Schnabelschuhen. Tizian blieb vor mir stehen und verbeugte sich tief. Ich reichte ihm meine Hand. „Herzlich willkommen in meinem Haus, Baronesse“, sagte er mit rauchig klingender Stimme. „Ich bin wirklich glücklich, Euch zu sehen, verehrter Meister“, entgegnete ich. „Mein Onkel, seine kaiserliche Hoheit, gab mir ein Empfehlungsschreiben an Euch mit, doch ich wurde vor ein paar Tagen von Banditen in der Nähe von Udine überfallen. Sie raubten all meine Kleider, meinen Schmuck und auch die für Euch bestimmten Geschenke.“ „Ihr müßt Böses erlebt haben, Baronesse“, sagte er sanft. „Mein Haus ist Euer Haus.“ Wieder verbeugte er sich leicht. „Herzlichen Dank für die freundliche Aufnahme“, sagte ich lächelnd. „Dino wird Euch Euer Zimmer zeigen, Baronesse.“ „Darf ich dann später Euer Atelier sehen?“ erkundigte ich mich. „Es wird mir eine große Freude sein, Euch dort begrüßen zu dürfen, Baronesse.“ Ich schloß die Augen einen Moment, als er die Halle verließ. Dann schüttelte ich den Kopf. Hätte mir jemand vor ein paar Wochen erzählt, daß ich einen der berühmtesten Maler der Renaissance persönlich kennenlernen 82
würde, ich hätte ihn für verrückt gehalten. Und nun war das Unwahrscheinliche eingetroffen. Als der bärtige Dino auf mich zukam, stand ich rasch auf. Er packte mein Gepäck und stieg die Stufen hoch, dann ging es einen breiten Korridor entlang. Das Zimmer war überraschend groß, doch ziemlich spartanisch eingerichtet. Ein Fenster führte auf das Meer hinaus, das schmale Himmelbett sah wenig einladend aus. Ein kleines Tischchen, eine bunt bemalte Truhe, zwei Schemel und ein „rastello“ waren die ganze Einrichtung. Das „rastello“ war ein merkwürdiges Möbelstück. Es bestand aus einem Spiegel und einem kleinen Tischchen mit Haken, an denen man Perücken und alle möglichen anderen Toilettengegenstände aufhängen konnte. In einem Nebenraum befand sich eine der sogenannten Waschgarnituren, die aus einem Eimer, einem Krug und einem Becken bestand. Hier gab es auch die Toilette, die aber nur wenig Ähnlichkeit mit einem Wasserklosett des 20. Jahrhunderts hatte. Badezimmer waren noch nicht allgemein bekannt. Leonardo da Vinci hatte für Beatrice d’Este ein Badezimmer für ihr Schloß in Mailand entworfen, und alle Damen Italiens sprachen davon und wollten auch eines haben. Ich schlüpfte aus den Kleidern und wusch mich gründlich, dann legte ich meine Habseligkeiten in die große Truhe und kleidete 83
mich an. Mein Kleid war aus Satin, reich mit Gold und Silber verziert und ziemlich offenherzig ausgeschnitten. Ich hob den Kopf, als ein junges Mädchen das Zimmer betrat. „Ich bin Bianca, Baronesse“, stellte sie sich vor. „Kann ich Euch behilflich sein?“ Ich begrüßte das Mädchen freundlich. Sie war sehr hübsch. Das volle blonde Haar trug sie aufgesteckt. Ich schätzte, daß sie kaum vierzehn Jahre alt war. Sie war mir eine große Hilfe. Ohne ihr Mittun hätte ich niemals eine ordentliche Frisur geschafft. Sie knotete, flocht und rollte das Haar der Perücke so zusammen, daß innerhalb weniger Minuten unter ihren geschickten Händen eine kunstvolle Turmfrisur entstand, die sie mit Ketten und Bändern schmückte. Meine Brauen und Wimpern schminkte ich so, daß sie nun nicht mehr schwarz waren, sondern braun. Die blonde Perücke stand mir gar nicht übel. Sie veränderte mein Gesicht, ließ es länger erscheinen. Bianca holte aus der Schmuckschatulle Ketten, Ringe und Ohrgehänge hervor. Ich kam mir so behängt wie ein Christbaum vor. Als ich aufstand und mich vor dem Spiegel bewunderte; war ich über meinen Anblick überrascht und kam mir wunderschön vor. Mein Dekollete war überaus offenherzig. Die einfache Kupferkette mit dem Signatstern 84
wollte nicht so ganz zu den anderen Schmuckstücken passen, aber dagegen konnte ich nichts tun. „Ihr habt einen wunderschönen Busen, Baronesse“, sagte das Mädchen bewundernd. Einen Augenblick glaubte ich schon, es mit einer von Sapphos Anhängerinnen zu tun zu haben, doch da irrte ich mich. In dieser Zeit schätzte man es eben, einen wohlgeformten Busen zu haben, den man auch offenherzig zur Schau stellte. Und Mutter Gene hatte mich großzügig mit einem fast zu üppigen Busen ausgestattet. Bianca führte mich in Tizians Atelier, das einen großen Raum und mehrere Nebenräume umfaßte, aber auch Teile des prächtigen Gartens einschloß. In den Räumen herrschte geschäftiges Treiben. Ein Dutzend Lehrlinge und Gesellen waren mit den verschiedensten Arbeiten beschäftigt. Einige zerrieben Farben und rührten sie an, andere säuberten Pinsel, zwei waren damit beschäftigt, eine Leinwand zu befestigen. Im Augenblick schien Tizian an zehn Bildern zu arbeiten. Einige waren schon fast fertig, doch die meisten befanden sich erst im Stadium der Planung. Das alles bildete für mich ein heilloses Durcheinander. Tizian begrüßte mich freundlich. Die Lehrlinge und Gesellen warfen mir verstohlene Blicke zu. Tizian führte mich herum, zeigte mir seine Skizzen und sprach über die halbfertigen 85
Bilder. Einige von ihnen waren mir bekannt. Das Bildnis des Alfonso d’Este war fast fertig, halbfertig waren die später unter den Namen „La Bella“ und die „Venus von Urbino“ bekannt gewordenen Gemälde. Endlich blieben wir vor „Dem Mädchen im Pelz“ stehen. „Eine hübsche Frau“, sagte ich. Tizian nickte. „Elenora Gonzala“, sagte er. Dann senkte er etwas die Stimme. „Sie ist eine der berühmtesten Kurtisanen der Stadt. Ein Verehrer wollte unbedingt ein Bild von ihr. Er wird es morgen abholen.“ „Eine Kurtisane?“ fragte ich überrascht. Ein leichtes Lächeln lag um seine Lippen. „So werden diese Frauen seit einigen Jahren bezeichnet. Sie sind gute Gesellschafterinnen, die aber auch noch andere Qualitäten aufweisen, die einen Mann erfreuen können.“ „Ich verstehe“, sagte ich. „Sie sind Mätressen.“ „So kann man es auch sagen.“ „Ich würde diese Elenora Gonzala gern kennenlernen“, sagte ich leichthin und ging ein paar Schritte weiter. „Das läßt sich leicht machen“, meinte Tizian und begann mir das nächste Bild zu erklären. Anhand von verschiedenen Skizzen, halbfertigen Bildern und fast fertigen Bildern erklärte er mir seine Maltechnik, und ich hörte fasziniert zu, als er von Untermalung und Lasuren erzählte und mir das alles genau demonstrierte. Ich glaube, ein Kunsthistoriker 86
hätte ein paar Jahre seines Lebens hergeschenkt, hätte er an meiner Stelle neben Tizian stehen dürfen. Als es zu dämmern begann, wurden Öllampen gebracht. Die Lehrlinge und Gesellen verließen das Atelier. Tizian hatte in mir eine aufmerksame und interessierte Zuhörerin gefunden, und er fing langsam Feuer und erging sich immer mehr in Details. „Es ist spät geworden“, sagte er schließlich. „Hoffentlich habe ich Euch nicht gelangweilt, Baronesse.“ „Ganz im Gegenteil“, sagte ich und lächelte ihn herzlich an. „Es war faszinierend, Euch zuzuhören.“ Er lächelte geschmeichelt, und wir verließen das Atelier. „Ich erwarte zwei meiner besten Freunde zum Abendessen“, sagte er, als wir die Halle betraten. „Ich hoffe, daß Ihr uns Gesellschaft leisten werdet.“ „Gern“, sagte ich. „Wer sind Eure Freunde?“ „Pietro Aretino“, antwortete er, „der ein bekannter Dichter ist, der aber eine scharfe Zunge führt. In Venedig ist er auch unter dem Spitznamen ,Geißel der Fürsten’ bekannt.“ „Ich habe von Aretino gehört“, meinte ich. „Er war in einige Skandale verwickelt und mußte aus Rom fliehen.“ „Ihr seid gut unterrichtet, Baronesse. Und mein zweiter Freund ist Iacopo Tatti, der den Beinamen Sansovino angenommen hat, im 87
Angedenken an seinen berühmten Lehrer. Er ist Bildhauer und Baumeister. Im Augenblick wird die Markusbibliothek nach seinen Entwürfen gebaut.“ Und ich könnte dir noch ein paar Bauwerke nennen, die Sansovino erbauen wird, dachte ich. „Ich freue mich, die Bekanntschaft dieser beiden berühmten Männer zu machen.“ Der Tisch war in einem Teil des Gartens gedeckt worden, von dem man einen wunderbaren Blick über die Lagune hatte. Ich war sehr gespannt auf Tizians Freunde, von denen Aretino der jüngste war. Er war um sechs Jahre jünger als „Il Sansovino“ und um vier Jahre jünger als Tizian. In Venedig galten die drei als unzertrennliche Freunde, die den Beinamen „das Triumvirat“ erhalten hatten. Als erster erschien Pietro Aretino. Von ihm gibt es einige Bilder, die Tizian gemalt hat. Auf seine Art sah er gut aus. Nur der gewaltige Vollbart, der weit auf die Brust fiel, störte mich etwas. Er sah farbenfroh wie ein Pfau aus; auf teure, aber nicht immer sehr geschmackvolle Kleidung legte er großen Wert. In seiner Begleitung befanden sich zwei junge Frauen, die stark geschminkt waren und wie eine Parfumfabrik rochen. Aber ich mußte zugeben, daß beide ausgesprochen hübsch und freundlich waren. Nach der Begrüßung ließ sich Aretino in einen Stuhl fallen und fixierte mich. „Ihr seid allein gereist, Baronesse?“ 88
erkundigte sich Pietro Aretino. „Ja“, antwortete ich. „Nur ein paar Bedienstete befanden sich bei mir, die aber alle von den Banditen niedergemetzelt wurden.“ „Die Männer in Österreich müssen blind sein“, brummte er. „In Venedig würden sich hundert Männer darum reißen, Euch auf einer Reise begleiten zu dürfen.“ „In Wien wollte mich der ganze Hof begleiten“, sagte ich ernst, „aber der Kaiser legte sein Veto ein.“ Pietro begann wiehernd zu lachen. „Gut geantwortet, Baronesse. Ihr gefallt mir. Ich hoffe, daß wir lange Zeit Eure erfreuliche Gesellschaft genießen werden.“ „Ich fürchte, daß ich nicht lange bleiben werde.“ „Verzeiht mir, daß ich das bezweifle, meine Dame. Venedig wird Euch faszinieren, denn es ist die schönste Stadt der Welt. Es wird Euch hier gefallen, die Menschen sind vergnügt und lebenslustig, bei uns geht es nicht so steif wie am Hof zu.“ „Hütet Euch vor Pietro, Baronesse“, warf Tizian an. „Er ist ein…“ Wovor er mich warnen wollte, bekam ich nicht mehr zu hören, denn in diesem Augenblick traf „Il Sansovino“ in Begleitung einer traumhaft schönen Frau ein. Sansovinos Haar und Bart waren brandrot, trotz seiner fast fünfzig Jahre bewegte er sich leichtfüßig wie ein Jüngling. Die Frau in seiner 89
Begleitung ließ mich nicht aus den Augen. Sie hieß Nana Graziani und war, wie ich später erfuhr, eine der umworbensten Kurtisanen der Stadt. Die beiden nahmen Platz, und zwei Jünglinge brachten kostbare Gläser und ein paar Karaffen Wein. Ich beteiligte mich nur sehr selten an der Unterhaltung. Die lokalen Verhältnisse, Machtkämpfe und Intrigen waren mir unbekannt. Aber über Aretinos beißenden Spott, seinen Sarkasmus und seinen sehr ät zenden Zynismus mußte ich oft herzlich lachen. Das Essen dauerte ein paar Stunden. Begonnen wurde mit Obst und einem süßen Gebäck, das „berlingozzo“ hieß. Dann gab es Kalbfleisch mit stark gewürzten Würstchen, gebratene Täubchen, die in einer unge wöhnlich schmeckenden Sauce serviert wurden. Einige der Eintopfgerichte waren für meinen Geschmack fast ungenießbar. Sie bildeten eine Mischung aus Gewürzen, die einfach schauderhaft war. Knoblauch, Zimt, Honig, Nelken, Zwiebel und Safran waren Gewürze, die ich normalerweise gern mochte, wenn man sie sparsam verwendete. Doch in der Renaissance wurden sie vermischt und zu fast jeder Speise gereicht. Zum Schluß wurde würzig schmeckender Käse und Obst serviert. Aretino und Sansovino hatten unwahrscheinliche Mengen gegessen, und ihr Durst schien wie ein Faß ohne Boden zu sein. 90
Nur im alten Irland hatte ich Männer erlebt, die ähnlich trinkfest wie die beiden gewesen waren. Aber auch die drei Mädchen griffen ordentlich zu, und beim Trinken hielten sie sich auch nicht zurück. Nur Tizian aß wenig und trank mäßig. Die Unterhaltung wurde immer lauter. Aretino führte das große Wort. Er machte sich über die Dogen der früheren Jahre lustig, aber sein liebstes Angriffsziel waren die Päpste, an denen er kein gutes Haar ließ, obzwar Leo X. und Clemens VII. eine Zeitlang zu seinen Gönnern gehört hatten. Sein besonderer Haß galt aber Giovanmatteo Giberti, der ein einflußreicher vatikanischer Beamter gewesen und sein größter Todfeind war. Giberti hatte ihn vor ein paar Jahren überfallen lassen. Dabei war Aretino niedergestochen worden. Er erholte sich von seinen Verletzungen, doch er behielt eine verkrüppelte rechte Hand als Andenken an den Anschlag zurück. Etwas später spotteten Sansovino und Aretino über einige einflußreiche venezianische Familien, und dann wurde ordentlich geklatscht. Langsam wurde ich müde. Ich lauschte der Unterhaltung nur mit halbem Ohr, doch plötzlich hörte ich gespannt zu. „Wißt ihr schon das Neueste?“ fragte Aretino. „Elenora Gonzala wurde vergangene Nacht entführt!“ Diese Neuigkeit schlug wie eine Bombe ein. 91
Die Mädchen wurden sichtlich blaß und nervös. Sansovino und Tizian wechselten einen mißbilligenden Blick. Vermutlich war es ihnen nicht recht, daß Aretino davon zu sprechen begonnen hatte. „Wie ist das geschehen?“ fragte Nana Graziani gespannt. „Angeblich sollen drei maskierte Männer in den Palazzo eingedrungen sein. Sie schlugen Luisa, die Dienerin, nieder und fesselten Elenora Gonzala. Danach plünderten sie den Palast und nahmen alle Wertgegenstände an sich. Ein Arbeiter soll gesehen haben, wie sie die gefesselte Elenora in eine Gondel trugen und dann in einem der kleinen Kanäle verschwanden.“ „Jetzt ist man nicht einmal mehr in seinem Haus sicher“, sagte Nana leise. „Das ist nun schon die achte Frau, die in den vergangenen drei Monaten entführt wurde“, sagte Bella, eines der Mädchen, das Aretino mitgebracht hatte. „Wann wird endlich der Rat der Zehn etwas dagegen unternehmen?“ fragte Rosa mit bebender Stimme. „Der Rat der Zehn ist nicht mehr das, was er einmal war“, sagte Aretino verächtlich. „Wurden Lösegeldforderungen gestellt?“ fragte ich neugierig. Nun blickten mich alle an. „Nein“, sagte Sansovino schließlich. „Das ist ja eben das Geheimnisvolle.“ „Wer waren die anderen Frauen, die entführt 92
wurden?“ „Mädchen wie Eleonora und ich es sind“, sagte Nana. „Alle waren jung und hübsch.“ „Irgend jemand in unserer Stadt scheint etwas gegen Kurtisanen zu haben“, meinte Aretino. „Und deshalb fühlt sich auch der Rat der Zehn nicht dafür zuständig“, sagte Nana verbittert. „Wie wurden die anderen Frauen entführt?“ „Auf dem Weg zu ihren Heimen“, antwortete Tizian. „Ihre Begleiter wurden niedergeschlagen und in einigen Fällen auch brutal erschlagen. Von den verschwundenen Mädchen hat man nie mehr etwas gehört.“ Ich lehnte mich zurück. Das Verschwinden Elenoras war nicht nur für das Mädchen unangenehm, sondern auch für mich. Ich mußte sie finden, denn sonst würde ich niemals den Ring erhalten, den ich unbedingt brauchte, um Merlin helfen zu können. Wäre ich, wie ich geplant hatte, am 15. Mai eingetroffen, dann hätte ich schon seit ein paar Tagen zurück in meiner Zeit sein können… Aber es war völlig sinnlos, wenn ich mir jetzt nutzlose Vorwürfe machte. Nun wollte keine rechte Stimmung mehr aufkommen. Tizian bestand darauf, daß seine Freunde und die Mädchen in seinem Haus übernachteten. Ich zog mich auf mein Zimmer zurück und wanderte ruhelos auf und ab. 93
Ich mußte Elenora Gonzala finden, aber wie sollte ich das bewerkstelligen? Die Stadt war mir fremd, die Sitten und Gebräuche waren mir nur wenig geläufig, und außerdem hatte ich das Handicap zu tragen, daß ich eine Frau war. Ich konnte mich nicht frei bewegen. Mir würde wohl nichts anderes übrig bleiben, als mich wieder gelegentlich als Mann zu verkleiden.
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9.
Nana Graziani blieb zum Mittagessen. Ich hatte Gelegenheit, mich mit ihr ein paar Stunden ungestört zu unterhalten. Sie war vor drei Jahren aus Siena nach Venedig gekommen, und es hatte nicht lange gedauert, da hatte sie ein paar reiche Freunde gefunden. Im Augenblick hatte sie fünf feste Liebhaber. Für jeden reservierte sie wöchentlich eine Nacht. Tagsüber empfing sie andere Gäste. Ihre Geschäfte gingen gut, sie hatte ein schönes Haus in der Nähe der RialtoBrücke gemietet und es kostbar eingerichtet. Bereitwillig erzählte sie mir alles, was sie über die Entführungen ihrer Kolleginnen wußte, doch es war nicht allzu viel. Es schien, als hätten die maskierten Banditen immer in der Nähe der Häuser der Kurtisanen auf das Eintreffen der Mädchen gewartet. Seit diese Entführungen zugenommen hatten, traute sich kaum noch eine Kurtisane während der Nacht aus dem Haus. Und derjenige, der hinter den Entführungen steckte, schien nun seine Taktik geändert zu haben. Unverständlich war für Nana und auch für mich das Motiv für die Entführungen. Einige Liebhaber der geraubten Mädchen wären sicherlich bereit gewesen, Lösegeld zu zahlen, doch nie wurden solche Forderungen gestellt. Zu allen Zeiten hat es Männer gegeben, die aus verschiedenen Motiven heraus Jagd auf Prostituierte gemacht haben und sie 95
ermordeten. Vielleicht gehörte der Kidnapper zu diesen Männern. Jedenfalls stand ich vor keiner leichten Aufgabe. Ich mußte den Kurtisanen-Räuber finden. Aber wie sollte ich das schaffen? Nach dem Essen begleitete ich Nana. Ihr Haus war klein, aber mit viel Geschmack eingerichtet. Ich blieb eine halbe Stunde bei ihr, dann nahm ich mir eine Gondel und ließ mich in die Nähe des Palazzo Grimani bringen. Nach kurzem Suchen hatte ich Elenora Gonzalas Haus gefunden. Es war zweistöckig und ziemlich schmal, aber die Fassade war kostbar verziert. Ich betätigte den Glockenzug, und es dauerte einige Zeit, bis endlich die winzige Klappe in der Tür geöffnet wurde. Ein schwarzhaariges Mädchen, dessen rechtes Auge verschwollen war, beäugte mich mißtrauisch. Innerhalb weniger Sekunden hatte ich sie hypnotisiert. Sie öffnete die Tür, und ich trat ein. „Wer bist du?“ fragte ich.
„Luisa“, antwortete sie.
„Du bist Elenora Gonzalas Dienerin?“
Sie nickte.
„Führe mich durch das Haus, Luisa.“
Ich sah mir alle Räume ganz genau an. Dann
ließ ich mir von Luisa alles erzählen, was am Tag des Kidnapping geschehen war. Elenora hatte auf einen ihrer Liebhaber gewartet, für den sie die Nacht reserviert hatte. Doch Aldo 96
Pecci hatte einen Diener geschickt, der Luisa gesagt hatte, daß er nicht kommen könne. Daraufhin war Elenora schlafen gegangen. Ein paar Minuten später hatte es geläutet. Ein Mann war vor der Tür gestanden, der behauptet hatte, von Aldo Pecci geschickt worden zu sein. Daraufhin hatte Luisa geöff net, und der Mann habe sie sofort angefallen und niedergeschlagen. Als sie aus ihrer Bewußtlosigkeit erwacht war, waren die Männer verschwunden gewesen. Sie war in das Schlafzimmer ihrer Herrin gerannt. Das Bett war zerwühlt gewesen, und alle Truhen und Schränke waren offen gewesen. Die Entführer hatten allen Schmuck und zahlreiche Goldstücke mitgenommen. Ich fragte Luisa nach dem Ring, den ich suchte. Sie behauptete, daß ihre Herrin den Ring von Tizian geschenkt bekommen habe, und er solle Elenora so gefallen haben, daß sie ihn fast täglich getragen hatte. Natürlich suchte ich das ganze Haus nach dem Ring ab, doch ich konnte ihn nicht finden. Dann fragte ich nach den Liebhabern der Kurtisane. Bereitwillig teilte mir das Mädchen alle mit. Elenora hatte sechs Hauptliebhaber gehabt, wenn man so sagen darf, und einige andere, die sie gelegentlich am Nachmittag besucht hatten. Ziemlich nachdenklich verließ ich Elenoras Haus. Es dämmerte bereits, als ich bei Tizian eintraf. So sehr es mir in Tizians Palast gefiel, ich 97
durfte nicht länger bleiben. Ich mußte mir ein Haus mieten, nur so konnte ich ungestört meine Pläne verwirklichen. Während des Abendessens teilte ich Tizian meinen Entschluß mit. Er bedauerte es anscheinend ehrlich, daß ich nicht länger seine Gastfreundschaft in Anspruch nehmen wollte. Aber ich versprach ihm, daß ich ihn öfter besuchen würde. Pietro Aretino war mir behilflich. Er kannte alle einflußreichen Leute von Venedig, und er wußte, welche Häuser zu verkaufen oder zu mieten waren. Drei der Häuser, die ich besichtigte, entsprachen nicht meinen Vorstellungen. Das vierte war für meine Zwecke ideal. Es lag in der Galle dei Fabri, ganz in der Nähe des Markusplatzes, und hatte zwei Eingänge. Der eine führte auf die Straße, der zweite in einen kleinen Kanal. Das Haus stand schon über ein halbes Jahr leer. Der letzte Bewohner hatte seine Frau erschlagen und dann Selbstmord begangen. In so einem Haus wohnte man nicht gern, aber mich störte es nicht. Die Möbel waren alt und schäbig und die Räume in einem erbärmlichen Zustand. Aretino riet mir ab, dieses Haus zu mieten, doch ich bestand darauf. Er verschaffte mir auch ein Diener- Ehepaar. Marco und Albina Angelini hieß das Paar. Er war ein rotgesichtiger, einfältiger Hüne, kräftig wie ein Bulle, der seine um gut zwei Köpfe kleinere Frau anbetete. Sie war resolut und voller 98
Arbeitseifer und erinnerte mich an ein Barockengelchen. Die beiden versprachen, daß sie zusammen mit einigen Freunden das Haus bis morgen auf Hochglanz gebracht haben würden. Und sie hielten ihr Versprechen. Als ich am späten Vormittag des nächsten Tages mit meinem wenigen Gepäck eintraf, funkelten die Zimmer vor Sauberkeit. Um keine unliebsamen Überraschungen zu erleben, hypnotisierte ich die beiden. Albina war einigermaßen verwundert, als ich ihr meine Vorstellungen von einem guten Essen unterbreitete, doch sie hielt sich strikt an meine Anweisungen und verwendete Gewürze nur sehr sparsam. Mit Marco hatte ich einen guten Griff getan. Er war keine Geistesgröße, aber ein geschickter Handwerker und vor allem ein hervorragender Gondoliere. Ich beauftragte ihn, eine Gondel zu kaufen und mir verschie dene Dinge zu besorgen. Ich schlief ein paar Stunden und aß dann ein leichtes Nachtmahl, das mir ausgezeichnet schmeckte. Dann holte ich die Männerkleidung hervor und nahm die Perücke ab. Marco hatte mir einen buschigen Schnurr- und Spitzbart besorgt, die ich mir vorsichtig aufklebte. Ich amüsierte mich königlich über mein verändertes Aussehen, als ich in voller Verkleidung vor den Spiegel trat. Nicht einmal mein Bruder Georg hätte mich in dieser 99
Aufmachung erkannt. Ich wartete noch eine Stunde, dann verließ ich das Haus durch den Kanaleingang, trat auf den schmalen Steg und sprang in die Gondel. Marco folgte mir, löste die Gondel und stieß ab. Die schmalen Kanäle waren dunkel. Nur gelegentlich kamen wir an einem Haus vorbei, in dem einige Fenster schwach erhellt waren. Es war eine düstere Nacht. Der Himmel war von dunklen Wolken bedeckt, und nur höchst selten lugte der Mond ein paar Sekunden hervor. Für mich war es verwunderlich, wie sich Marco bei dieser Finsternis zurecht fand. Aber er schien Katzenaugen zu haben. Unser Ziel war der Palazzo Pecci. Ich wollte mich einmal mit Aldo Pecci unterhalten. Vielleicht konnte er mir weiterhelfen. Nach ein paar Minuten hatte Marco den Canale Grande erreicht. Hier herrschte noch reger Verkehr. Aus einigen der hellerleuchteten Paläste drang laute Musik und Lachen. „Blickt nach rechts, Herr“, sagte Marco plötzlich. „Das ist der Palazzo Pecci.“ Ich hatte Marco befohlen, daß er mich auf unseren nächtlichen Fahrten als Mann betrachten sollte. Käme irgend jemand auf die Idee, ihm Fragen zu stellen, dann sollte er sagen, daß ich Cosimo Zoppino sei und im Haus der Baronesse von Hohenstein wohnte. Der Palast war dunkel. Marco legte an, und 100
ich stieg aus und blickte mich aufmerksam um. Der Palazzo war groß und imposant. Aldo Pecci war ein reicher Kaufmann, der hauptsächlich mit Gewürzen handelte. Er war seit zehn Jahren verheiratet und hatte fünf Kinder. Doch das hinderte ihn nicht daran, mit einigen der schönsten und teuersten Kurtisanen der Stadt innige Beziehungen zu pflegen. Ich mußte ziemlich lange warten, bis ich endlich schlurfende Schritte hörte und mir ein verschlafenes Gesicht entgegenblickte. „Ich möchte den Marchese sprechen“, sagte ich. „Und wen darf ich melden?“ fragte er unwirsch. „Cosimo Zoppino“, sagte ich mit tiefer Stimme. „Und in welcher Angelegenheit wollt Ihr den Marchese sprechen?“ „Das werde ich ihm selber sagen.“ Die Klappe wurde zugeschlagen. Die Schritte entfernten sich. Es dauerte fast fünf Minuten, bis der Bursche wiederkam. „Der Marches kennt Euch nicht“, sagte er boshaft grinsend. „Ihr sollt morgen wiederkommen.“ „Sagt ihm, daß ich wegen Elenora Gonzala komme. Es ist äußerst dringend.“ Diesmal war er nach einer Minute zurück. Ich trat in die schwach erhellte Halle ein und folgte ihm durch einen kleinen Raum in einen düsteren Korridor. Eine hohe Tür wurde 101
geöffnet, und ich trat in eine Art Bibliothek ein. Ein schmalschultriger, bärtiger Mann saß an einem Tisch und blickte mich höchst miß vergnügt an. Er war etwa fünfunddreißig Jahre alt, und sein Gesicht war aufgedunsen. „Was wollt Ihr von mir, Messer?“ Mit „Messer“ sprach man die gemeinen Dienstboten an. Ich wartete, bis die Tür geschlossen war, dann ging ich langsam auf ihn zu. „Ihr seid doch einer von Elenoras Liebhabern, Marchese Aldo?“ „Euer Ton gefällt mir gar nicht, Bursche“, erwiderte er ungehalten. Ich hätte ihn hypnotisieren können, doch das wollte ich nicht. Mein Plan sah anderes vor. „Ihr hättet doch die Nacht vom 18. bis 19. Mai in den Armen Elenoras verbringen sollen. Weshalb seid Ihr nicht hingegangen, Marchese?“ Ein Muskel begann unter seinem linken Auge zu zucken, und seine Schläfen schienen zu pulsieren. Voller Wut sprang er auf. „Hinaus mit dir, Schurke!“ brüllte er mich an. „Ich warte noch immer auf eine Antwort, Marchese“, sagte ich sanft. Er ging um den Tisch herum und ballte die Hände zu Fäusten. „Seit über einem Jahr wart Ihr von den Reizen der schönen Elenora so angetan, daß Ihr sie jede Woche besucht habt. Weshalb habt Ihr sie vor drei Tagen nicht mit Eurer Anwesenheit erfreut?“ 102
Er sprang mich mit vorgestreckten Händen an, doch ich wich geschickt zur Seite und versetzte ihm einen Fußtritt. Er versuchte das Gleichgewicht zu halten, doch es gelang ihm nicht. Er fiel auf den Bauch und rappelte sich wild schimpfend hoch. Bevor er aber noch ganz in der Höhe war, versetzte ich ihm einen Stoß, und er fiel auf sein Hinterteil. „Genug der Scherze“, sagte ich, riß mein Schwert hervor und drückte die Spitze an seine Brust. Seine dunklen Augen blickten mich ängstlich an. „Wer seid Ihr?“ fragte er fast unhörbar. „Das hat Euch nicht zu interessieren, Marchese. Ich will nur eine Antwort auf eine einfache Frage. Weshalb seid Ihr nicht zu Elenora gegangen?“ „Ich fühlte mich nicht besonders wohl. Ich hatte etwas Schlechtes gegessen.“ „Ihr werdet Euch gleich noch schlechter fühlen“, sagte ich grimmig, „wenn ich Euch mein Schwert zu kosten gebe!“ „Ich – ich habe die Wahrheit gesagt“, stammelte er. „Das glaube ich nicht, Marchese.“ Ich riß ihm den Mantel über der Brust auf. Er begann kläglich zu wimmern. „Die Wahrheit, Marchese. Ich will die Wahrheit hören.“ „Ich wurde dazu gezwungen“, keuchte er. „Ein Mann, den ich nie zuvor gesehen hatte, kam zu mir und bedrohte mich. Er sagte, daß 103
ich sterben müsse, sollte ich zu Elenora gehen. Der Kerl zwang mich, etwas zu trin ken. Mir wurde so übel, daß ich auch nicht zu ihr gegangen wäre, hätte er mich dazu nicht aufgefordert.“ Etwas Ähnliches hatte ich vermutet.
„Wie sah der Mann aus?“
„Er war dunkel gekleidet. Sein Gesicht war
schmal, das Haar schulterlang und pechschwarz. Er trug einen Knebelbart.“ „War er ein Venezianer?“ „Ja, sein Dialekt war unverkennbar.“ „Womit hat er Euch bedroht?“ „Er sagte, daß er mein Lagerhaus anzünden würde. Außerdem drohte er mir, daß er meine Kinder töten würde.“ Ich schob das Schwert in die Scheide und verließ den Palazzo. „Wohin fahren wir jetzt, Herr?“ fragte Marco, als ich die Gondel bestieg. „Bring mich in eine Kneipe, in der sich alles mögliche arbeitsscheues Gesindel herumtreibt.“ Marco legte ab, überquerte den Canale Grande und bog dann in einen schmalen Seitenkanal ein. Nach wenigen Minuten waren keine schönen Häuser mehr zu sehen, hier waren sie klein und niedrig, und der Gestank wurde immer penetranter. Aldo Pecci war der erste von vielen reichen Männern Venedigs, die ich besuchen wollte. Und ich wollte dabei nicht heimlich vorgehen, denn vielleicht würde der unbekannte 104
Kidnapper von meinen Nachforschungen er fahren und nervös werden. Ich wollte versuchen, ihn zu provozieren. Daß ich dabei selbst als Lockvogel diente, störte mich nicht sonderlich. Mein Diener führte mich durch einige schmale Gassen. Wir blieben vor einer Gaststätte stehen, die „Zum grünen Anker“ hieß. Bei meinem Eintritt verstummte die Unterhaltung. Zwei Dutzend Augenpaare waren auf mich gerichtet, die meisten taxierend. Meine Kleidung war teuer, und vermutlich alle dachten daran, mich auszurauben. Als dann Marco neben mir auftauchte, löste sich die Spannung etwas. Wir nahmen an einem Tisch neben der Eingangstür Platz. Ich konnte so das ganze Lokal überblicken, und was ich zu sehen bekam, war nicht nach meinem Geschmack. Selten zuvor hatte ich auf einem Fleck so viele Galgenvögel versammelt gesehen. Einige grell geschminkte Frauen waren auch zu sehen, die schon seit Ewigkeiten ihre guten Zeiten hinter sich hatten. Sie waren schmutzig, halbnackt und betrunken. Der Wirt brachte uns einen Krug Wein und zwei Becher, die seit Marco Polos Zeiten nicht mehr gewaschen worden waren. Marco schien das nicht zu stören, denn er sprach dem Wein eifrig zu, während ich meinen Becher nicht einmal angriff. „Was wollt Ihr hier, Herr?“ fragte Marco 105
leise. „Das wirst du gleich erfahren“, antwortete ich. Ein paar Minuten wartete ich noch, dann stand ich langsam auf. „Hört mir mal alle gut zu“, sagte ich laut. Langsam wurde es ruhig. „Was ihr getrunken und gegessen habt, geht auf meine Rechnung“, sagte ich und warf dem Wirt ein Goldstück zu, das er geschickt auffing und sofort prüfend hineinbiß. Als er feststellte, daß die Münze echt war, verklärte ein Lächeln seine häßlichen Züge. Minutenlang brüllten alle durcheinander und ließen mich hochleben. Endlich konnte ich mir wieder Gehör verschaffen. „Ich brauche ein paar Männer für eine wenig anstrengende Tätigkeit, und ich zahle gut.“ Dabei klopfte ich demonstrativ auf meinen wohlgefüllten Geldbeutel. Im Nu war ich von einem Dutzend der wilden Gestalten umringt, die wissen wollten, was ich von ihnen verlangte. Ich erklärte es ihnen. Sie sollten verschiedene Häuser überwachen und beobachten, wer sie betrat und wer sie verließ. Besonders sollten sie aufpassen, ob ein schwarzgekleideter Mann mit einem Knebelbart auftauchte. Nana Graziani hatte mir sehr geholfen. Von ihr wußte ich die Namen ihrer Liebhaber, aber auch die Namen von Männern, die die Dienste anderer Kurtisanen in Anspruch nahmen. Die acht bis jetzt entführten Kurtisanen 106
gehörten zur Elite ihres Berufsstandes. Alle waren jung und schön gewesen. In einer Stadt wie Venedig gab es natürlich viele Kurtisanen, aber nur wenige, die aus der Masse hervorstachen. Und auf diese hatte es der Unbekannte anscheinend abgesehen. Ich hatte mir fein säuberlich die Namen der schönsten Kurtisanen Venedigs aufgeschrieben und bei jeder ihre Liebhaber vermerkt. Von den meisten der Männer wußte ich, an welchem Tag sie ihre Dienste in Anspruch nahmen. Nun engagierte ich vierzehn dieser Tunichtgute, von denen jeder morgen einen Palazzo beobachten sollte. Mein Plan war simpel, doch er erschien mir durchaus logisch. Der Unbekannte war ziemlich einfallslos. Die ersten sieben Entführungen waren nach dem gleichen Schema verlaufen. Und ich vermutete nun, daß er in Zukunft so vorgehen würde, wie er Elenora Gonzala geraubt hatte. Irrte ich mich, dann mußte ich mir einen neuen Plan einfallen lassen. Die Männer sollten nach Einbruch der Dunkelheit in die Kneipe kommen, wo Marco auf sie warten würde. Von ihm sollten sie dann auch das restliche Geld erhalten, und er würde ihnen sagen, wen sie am nächsten Tag beobachten sollten. Ich war froh, als ich die Kneipe verlassen durfte. Die Luft im Freien war zwar auch kaum atembar, aber es stank wenigstens nicht so 107
ekelhaft nach saurem Wein und Schnaps.
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10.
Es war noch dunkel, als ich erwachte. Ich setzte mich im Bett auf und starrte zum Fenster hin. Der Vorhang bewegte sich leicht. Und nun erinnerte ich mich an den Traum, der sich immer wiederholt hatte. Ich stand im Kunsthistorischen Museum und starrte das Tizian-Bild an. „Noch etwas, meine Tochter“, hörte ich Merlins unverkennbare Stimme. „In Tizians Haus wirst du einen Verbündeten finden.“ Dann war sein Kichern zu vernehmen. „Sollte es notwendig sein, wird er sich dir zu erkennen geben.“ Langsam glitt ich aus dem Bett. Der Vorhang vor dem Fenster bewegte sich wieder. Ruckartig riß ich den Vorhang zurück. Zwei gelbgrüne Augen glühten mich an. Einen Augenblick glaubte ich es mit einem Monster zu tun zu haben, doch dann lächelte ich, als ich einen riesigen Tigerkater erkannte, der leise miaute und mit einem Satz auf die Straße hinuntersprang und in der Dunkelheit verschwand. Ich blieb am Fenster stehen und wartete, bis es hell geworden war. Ein trüber Morgen dämmerte über der Lagunenstadt hoch. Die ersten Menschen waren in der schmalen Gasse zu sehen. Ich kroch zurück ins Bett und döste vor mich hin. Dabei dachte ich an Merlins Worte und fragte mich, wer wohl der Freund in Tizians 109
Haus sein und ob er sich mir zu erkennen geben würde. Mein Entschluß stand fest, ich würde noch heute Tizian besuchen. Mit diesem Gedanken schlief ich nochmals ein. Während des Frühstücks erschien ein Bote von Pietro Aretino, der mich zu einem kleinen Abendessen unter Freunden einlud. Ich sagte mein Kommen zu. Es begann leicht zu regnen, als ich bei Tizian eintraf. Der berühmte Maler begrüßte mich überschwänglich. Ich sah ihm bis zum Mittagessen bei seinen Arbeiten zu. Diesmal leistete uns auch Orsa, Tizians Schwester, bei der Mahlzeit Gesellschaft. Sie war eine hagere Frau, die durch ihr herzliches Wesen ihre Häßlichkeit vergessen ließ. Wie üblich wurden während des Essens Knochen und Speisereste einfach auf den Boden geworfen, um die sich dann unzählige Hunde und Katzen balgten. Diese Haustiere waren so alltäglich, daß ich ihnen bisher kei nerlei Beachtung geschenkt hatte. Doch diesmal war es anders. Ein großer Tigerkater weckte meine Aufmerksamkeit. Er lag vor dem Kamin und beteiligte sich nicht an der Rauferei um die Leckerbissen. Die Ohren hatte er gespitzt, und seine großen Augen waren auf mich gerichtet. Stirnrunzelnd blickte ich wieder zu dem Tier hin. Er erinnerte mich sehr an den Kater, den ich heute morgen vor meinem Fenster gesehen hatte. 110
Tizian bemerkte meinen Blick. „Dieser Kater ist ziemlich seltsam, Baronesse“, sagte er. „Er kommt, wann es ihm beliebt. Oft ist er tagelang verschwunden. Die anderen Tiere scheinen ihn zu meiden.“ Der Kater schien gemerkt zu haben, daß wir über ihn sprachen. Träge erhob er sich, streckte sich und machte einen hübschen Buckel, dann schlich er geduckt auf uns zu, sprang los und landete neben mir auf der Bank. Ich hielt ihm ein Stück Fleisch hin, und er schlug verspielt mit der Pfote danach, packte das Fleisch, roch daran und ließ es zu Boden fallen. Ich starrte in seine Augen, die sich nur für einen Sekundenbruchteil änderten. In diesem Augenblick hatten mich nicht Katzenaugen angeblickt, sondern Menschenaugen! Verwirrt aß ich weiter. Merlin hatte von einem Verbündeten gesprochen und dabei seltsam gekichert. Es konnte doch nicht möglich sein, daß ein Kater mein Verbündeter sein sollte. Aber einiges sprach dafür. „Der Kater scheint Gefallen an Euch gefunden zu haben, Baronesse“, sagte Orsa. „Wenn Ihr wollt, könnt Ihr ihn mitnehmen.“ Der Kater legte den Kopf schief, als würde er auf meine Antwort warten. Das Tier wurde mir unheimlich. „Herzlichen Dank für das Geschenk“, hörte ich mich gegen meinen Willen sagen, und der Kater begann zufrieden zu schnurren. „Hat er 111
einen Namen?“ „Tizian hat ihn Leonardo getauft“, sagte Orsa lächelnd. „Leonardo“, sagte ich leise, und der Kater schmiegte sich an mich. Als ich das Haus verließ, folgte mir Leonardo, als wisse er ganz genau, daß er von nun an zu mir gehörte. Sein buschiger Schwanz stand steil hoch. Ohne zu zögern folgte er mir in die Gondel, schnüffelte ein wenig herum, ließ sich mir gegenüber auf dem Boden nieder und begann sich ungeniert zu putzen. Mir fielen verschiedene Märchen ein, in denen irgendein Prinz in ein Tier verwandelt worden war. Und wenn die schöne Prinzessin dann den häßlichen Frosch küßte, verwandelte er sich in einen strahlenden Prinzen. Jetzt geht aber die Phantasie mit dir durch, Coco, rief ich mich zur Ordnung. Einen Menschen in eine Katze verwandeln, das kann nicht einmal Merlin. Albina und Marco akzeptierten den Kater sofort als neuen Hausgenossen; sie waren mit Katzen und Hunden aufgewachsen, und zu jedem Haus in Venedig gehörten ein paar Tiere. Ich beobachtete den Kater. Neugierig inspizierte er das Haus, ließ mich aber immer nur für wenige Sekunden allein. Als ich mein Schlafzimmer betrat, rannte er an mir vorbei und sprang aufs Bett. „Kannst du mich verstehen, Leonardo?“ fragte ich, nachdem ich die Tür geschlossen 112
hatte. Es schien mir, als würde er nicken. „Wenn du mich tatsächlich verstehen kannst; dann schließe die Augen.“ Und er schloß sie. Das konnte ein Zufall gewesen sein, obzwar ich davon nicht überzeugt war. „Hm, der Sache werden wir auf den Grund gehen“, brummte ich und setzte mich Leonardo gegenüber auf einen Stuhl. „Sieh mich an, Leonardo!“
Seine gelbgrünen Augen schienen stärker zu
leuchten. „Schließ deine Augen!“ Er gehorchte wieder. Nun war ich davon überzeugt, daß er mich verstehen konnte. „Hör mir mal gut zu, Leonardo. Ich glaube, daß du mich tatsächlich verstehen kannst. Wie das möglich ist, kann ich zwar nicht begreifen, aber ich will es einmal akzeptieren. Ich werde dir nun ein paar einfache Fragen stellen, die du mit ja oder nein beantworten kannst. Willst du nein sagen, dann schließt du die Augen. Willst du mit ja antworten, dann beginnst du zu schnurren. Weißt du keine Antwort auf meine Frage, dann richtest du deinen Schwanz auf. Hast du mich verstanden, Leonardo?“ Er begann wie eine Nähmaschine zu schnurren. „Kennst du Merlin?“ Sein Schwanz hob sich. „Hast du vor einiger Zeit einen alten Mann in 113
Tizians Haus gesehen, der sich auch mit dir beschäftigt hat?“ Ein Schnurren kam als Ja-Antwort. „Sollst du mir helfen?“ Wieder das Schnurren. „Weißt du, wer ich bin?“ Er bejahte meine Frage. Dieses Frage- und Antwortspiel war ziemlich ermüdend, doch nach und nach fand ich doch einiges heraus. Ein verzauberter Mensch war Leonardo ganz sicher nicht, aber eine ungewöhnlich intelligente Katze, die sich in verschiedenen Dingen von ihren Artgenossen unterschied. Merlin mußte vor etwa fünf Wochen in Tizians Haus gewesen sein, und bei dieser Gelegenheit hatte er den Kater verhext. Für mich war es einfach unfaßbar, wie es der alte Magier geschafft hatte, daß Leonardo die menschliche Sprache verstehen konnte. Aber der Beweis befand sich bei mir im Zimmer. Ich fragte ihn nach Elenora Gonzala, die er kannte. Doch er wußte nicht, wer sie entführt hatte. Eine große Hilfe war der Kater ja gerade nicht, aber trotzdem beeindruckte er mich stark. Vielleicht konnte er mir doch irgendwann einmal behilflich sein. Im Mittelalter hatte man geglaubt, daß zu einer Hexe unbedingt eine Katze gehörte, was natürlich totaler Unsinn war. Ich bin eine Hexe, und nun hatte ich auch eine Katze, noch dazu eine, die mich verstehen konnte. Eingehend erkundigte ich mich nach seinem 114
Lieblingsessen. Es war ziemlich einfallslos: Fische in jeder Form und leicht gesüßte Milch. Aus Mäusen und Ratten machte sich der Bursche überhaupt nichts. Das waren wohl schon die ersten Erscheinungen der Zivilisa tion… Als es zu dämmern begann, zog ich mich mit Albinas Hilfe um. Ich wählte ein Kleid, das meine Reize überdeutlich zum Ausdruck brachte. Wer hat, der hat, dachte ich amüsiert. Als wir mit der Toilette fertig waren, traf Marco ein, der im „Grünen Anker“ gewesen war. Die Galgenvögel, die ich mit den Palastbeobachtungen beauftragt hatte, konnten keine interessanten Meldungen machen. Marco hatte ihnen die Paläste be kannt gegeben, die sie morgen nicht aus den Augen lassen sollten.
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Aretinos Haus lag – wie konnte es auch anders sein – am Canale Grande. Er hatte es vor sechs Jahren leer gemietet, und nun war es vollgestopft mit Schränken, Truhen, Betten, Pulten, Stühlen und Wandbehängen. Gläser, Vasen und andere Ziergegenstände gab es in solchen Mengen, daß ich nach kurzer Zeit den Überblick verloren hatte. All diese Gegenstände waren Geschenke, boshafte Zungen behaupten auch, daß es sich dabei schlicht und einfach um Bestechungen handelte, mit denen man seine spitze Feder zum Schweigen bringen wollte. Aretino war wohl die erste Klatschtante der neueren Zeitrechnung. Eitel und eingebildet war er nicht wenig. Eine Büste und zwei Tizian-Bilder von ihm waren im Vordereingang zu sehen, der in eine glasgedeckte Empfangshalle führte, in der die Wände mit Briefen von hochgestellten Persönlichkeiten bedeckt waren. Das kleine Abendessen unter Freunden war die Untertreibung des Jahrhunderts! Fast alles was Rang und Namen in Venedig hatte, war hier in Aretinos Haus versammelt. Da wimmelte es nur so von Mitgliedern des Großen Rates, von Herzögen und Fürsten und ihren schönen Frauen, alle bedeutenden Künstler waren anwesend. Sogar zwei Mitglieder des Rates der Zehn waren er schienen, was noch vor einigen Jahren völlig 116
undenkbar gewesen wäre. Ich lernte einige der mächtigsten Familien der Republik kennen, und nach wenigen Minuten war ich von einem Kreis von feurigen Bewunderern umgeben, von denen jeder versuchte, den anderen auszustechen. Eine Band, die hier noch Musikkapelle hieß, spielte für meine Ohren fremdartige Melodien. Oboen, Trommeln, Pfeifen und auch Geigen waren die Instrumente, die ich erkannte. Ich muß gestehen, daß mir die Aufmerksamkeit, die mir so viele gutaussehende und charmante Männer schenkten, gut tat, so daß ich den Abend wirklich genoß. Sogar der Doge, ein alter, knochiger Asketentyp, schaute auf eine halbe Stunde vorbei. Sein Blick, den er eingehend auf mein Dekollete heftete, war nicht vom Alter verklärt. Ich ahnte, welche Gedanken da so durch sein verkalktes Gehirn jagten. Aber die gleichen Gedanken mochten wohl durch viele Hirne der Männer geistern, denn um es mit einem Begriff des 20. Jahrhunderts zu beschreiben: es war schon eine tolle Fleischbeschau. Das Essen übertraf alles, was ich bisher erlebt hatte. Aretinos Köche mußten tagelang die Vorbereitungen getroffen haben und mindestens eine Woche nicht aus der Küche gekommen sein. Leider waren die Gerichte für meinen Geschmack nur schön anzusehen, für 117
meinen Gaumen schmeckten sie scheußlich. Mein prosaischer Geschmack sehnte sich mehr nach einem ordentlichen Schweinebraten mit Klößen und Sauerkraut. Zwerge und Narren unterhielten die Gesellschaft. Dazwischen traten auch ein paar Sänger auf, die wehmutsvolle Lieder auf der Laute begleiteten. Und dann wurde zum Tanz aufgespielt. Ich kann wirklich nicht behaupten, daß ich sonderlich musikalisch bin, daher war ich auch voller Skepsis, als ich mit den edlen Damen einen Reigen, eine sogenannte „carola“, tanzen mußte. Aber anscheinend hatte ich meine Tanzfähigkeiten gewaltig unterschätzt, es klappte auf Anhieb. Dann kam der Wachteltanz dran, und ich geriet ins Schwitzen. Ganz lustig fand ich den „Brande“, da bewegte man sich mal ruckartig, um wenige Augenblicke später wie ein wild gewordenes Känguruh herumzuspringen. Einer der anwesenden Dichter ließ es sich nicht nehmen, ein Gedicht vorzutragen, in dem er meine Schönheit über den grünen Klee lobte. Aber der Beifall der Herren schien zu bestätigen, daß er ihren Geschmack getroffen hatte. Für die nächsten Tage bekam ich mindestens fünfzig Einladungen, die ich aber alle höflich ablehnte. Ich wollte mich einfach nicht festlegen, denn das Vergnügen konnte warten. Wichtig war nur, daß ich Elenora Gonzala und den Ring fand… 118
Aber auch das schönste Fest geht irgendwann einmal zu Ende. Und dieses war für mich im Morgengrauen vorbei. Meine Füße waren geschwollen und mein armes Hexenhirn vom vielen Wein benebelt. In meiner Heimatstadt hätte man gesagt, daß ich einen leichten Schwips hatte, ein Zustand, der mich leicht verwirrte, den ich aber nicht als unangenehm empfand. Meine Zunge schien verknotet zu sein, und der Boden bewegte sich heimtückisch unter meinen Füßen. Ein Dutzend Männer prügelten sich fast darum, wem ich die Ehre gewähren würde, mich heimzubegleiten. Da mir dieses Problem herzlich gleichgültig war und sie sich nicht einigen konnten, winkten sie einen mit Melonen vollgestapelten Lastkahn heran, kauften dem Besitzer seine Fracht ab und warfen die Melonen in den Canale Grande. Dann trugen sie mich auf den Kahn, und mit großem Hallo begleiteten sie mich alle zu meinem Haus. Irgendwann am späten Nachmittag erwachte ich. Leonardo lag auf dem Fenster und genoß die Sonne. Als ich den Kopf hob, merkte ich, daß auch Magie nicht viel gegen einen Kater hilft. Mein Gaumen fühlte sich an, als wäre er aus Schmirgelpapier, meine Zunge war ausgetrocknet wie ein Schwamm, der drei Wochen in der Sonne gelegen hatte. Meine Augen brannten, und in meinem Kopf schien sich eine Gruppe Trommler eingenistet zu 119
haben, die wie verrückt auf ihre Instrumente eindrosch. Ich gab irgendwelche unverständlichen Laute von mir, die Leonardo mißtrauisch zu mir blicken ließen, kroch aus dem Bett und griff gierig nach einer Wasserkaraffe, die ich auf einen Zug austrank. Als ich einen Blick in den Spiegel warf, zuckte ich entsetzt zurück. Ich sah aus, als wäre ich eben einem Grab entstiegen. Mein kurzgeschnittenes Haar war verklebt, meine Augen waren rotunterlaufen wie die eines Vampirs, und die dunklen Ringe unter den Augen betonten das Waschmittelweiß meines Gesichtes. Leonardo schien mein Anblick auch zu mißfallen, denn demonstrativ wandte er mir nun sein Hinterteil zu. „Nie mehr trinke ich“, versprach ich. In diesem Augenblick wurde die Tür leise geöffnet, und Albina steckte ihr hübsches Köpfchen ins Zimmer. Als sie bemerkte, daß ich munter war, trat sie ein. In der rechten Hand hielt sie eine Schüssel, aus der Dampf aufstieg. „Trinken Sie das, Baronesse“, sagte sie und stellte die Schüssel auf einen Tisch. „Was ist das?“ fragte ich mißtrauisch. „Eine Spezialität meiner Familie“, sagte sie geheimnisvoll. „Meine Brüder tranken oft einen über den Durst. Wenn sie diese Suppe getrunken hatten, dann waren sie innerhalb kürzester Zeit wieder frisch und munter.“ 120
Ich kostete die Suppe und rang nach Luft. Es war, als hätte mir jemand eine lodernde Fackel in den Mund gesteckt. Das Zeugs rann wie flüssiges Blei meinen Schlund hinunter. „Ja, ja“, sagte Albina mitfühlend. „Die Suppe ist ein wenig scharf. Aber trinkt nur, sie wird Euch gut tun.“ Mit Todesverachtung trank ich weiter. Nach ein paar Minuten wurde das Brennen in meinem Mund schwächer, dafür war nun in meinen Gedärmen der Teufel los. Da brodelte, zischte und dröhnte es wie in einer Alchemistenküche. Leonardo schien von dem Theater genug zu haben, denn er sprang vom Fenster herunter und stapfte aus dem Zimmer, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Ich tupfte mir den Schweiß von der Stirn und lächelte Albina schwach zu. „Ihr werdet sehen, in kurzer Zeit geht es Euch viel besser.“ Sie sollte recht behalten. Zehn Minuten später waren die Kopfschmerzen verschwunden, und ich hatte die Herrschaft über meine Zunge wiedergewonnen. Dann plapperte sie los. Das Fest bei Aretino war das Tagesgespräch von Venedig. Und die ganze Stadt schien von der schönen österreichischen Baronesse zu sprechen. Das Haus sollte mit Blumen, Konfekt und kostbaren Geschenken angefüllt sein, die meine Verehrer durch Diener hatten abgeben lassen. 121
Ich hatte geglaubt, daß sie nach echt italienischer Manier ein wenig übertrieben hatte, doch es war nicht so. Ich kam mir wie in einem Blumenladen vor, als ich das Erdgeschoß betrat. Ich sah mir die Schreiben an. Einige waren recht amüsant, ein paar enthielten mehr oder minder eindeutige Anträge, doch die meisten waren höflich und reserviert. Ich aß altbackene Brötchen und ein Stück Käse und trank einen bitter schmeckenden Kräutertee dazu. Die Aufmerksamkeit, die mir geschenkt wurde, war mir äußerst unangenehm. Sie behinderte meinen Plan, denn nun konnte ich sicher sein, daß jeder meiner Schritte ganz genau beobachtet werden würde. Das war wieder einmal eine der Gelegenheiten, wo ich mich selbst mit wenig freundlichen Namen belegte. Ich, das Fräulein Wichtig, hatte mich ja in Szene setzen müssen. Und nun hatte ich die Bescherung. Ich würde es wohl nie lernen. Ziemlich bedrückt schlich ich in mein Schlafzimmer zurück, warf mich aufs Bett und dachte angestrengt nach. Ich wurde von Marco aus meinen Gedanken gerissen, der dämlich grinsend ins Zimmer trat und eine Öllampe auf den Tisch stellte. Leonardo war ihm gefolgt und ließ sich vor mir auf dem Boden nieder. „Gute Nachrichten, Baronesse“, sagte Marco. Rasch setzte ich mich auf und blickte ihn 122
gespannt an. „Liconello hat einen schwarzgekleideten Mann gesehen, der einen Knebelbart hatte.“ Ich spürte, wie meine Erregung stieg. „Mach es nicht so spannend, Marco!“ „Liconello beobachtete den Palazzo des Conte di Ficino“, sprach Marco weiter. „Der schwarzgekleidete Mann blieb nur kurze Zeit im Haus, stieg dann in eine Gondel und fuhr damit in Richtung Rialto-Brücke fort.“ „Sehr gut“, sagte ich erfreut. Marsiglio di Ficino war das Oberhaupt einer der einflußreichsten und mächtigsten venezianischen Familien. Sein Ruf als hervorragender Liebhaber war allgemein bekannt. Er unterhielt gleichzeitig zu fünf der schönsten Kurtisanen Venedigs Beziehungen, darunter auch zu Nana Graziani, die für ihn die heutige Nacht reserviert hatte. Das traf sich ganz ausgezeichnet, denn Nanas Haus kannte ich bereits. Ich freute mich wie ein kleines Kind über ein schönes Geschenk. Mein Plan schien aufzugehen. Der unbekannte Gegner war in der Tat sehr einfallslos. Sofort setzte ich mich an den Tisch und schrieb einen Brief an Nana Graziani, in der ich sie warnte und ihr die Dienste Cosimo Zoppinos ans Herz legte, der sie beschützen würde. Das Schreiben unterzeichnete ich mit Cornelia von Hohenstein. Ich wollte mich in Nanas Haus als Cosimo Zoppino einquartieren und auf das Auftauchen 123
der Banditen warten. Mit meinen magischen Fähigkeiten sollte ich keine Schwierigkeiten haben, die Männer zu überwältigen. Und von ihnen würde ich dann erfahren, wer ihr Auftraggeber war. Als ich die Gondel bestieg und Marco ablegte, sah ich einen grauen Schatten, der von einem der Fenster im ersten Stock sprang und geschickt in der Gondel landete. Es war Leonardo, der sich sanft schnurrend an mich drängte. „Was hast du vor, du alter Halunke?“ Seine glühenden Augen funkelten mich an, und er begann stärker zu schnurren, als ich ihn sanft streichelte. In der Nähe von Nanas Haus legte Marco an. „Du wartest hier auf mich, Marco“, sagte ich. „Leg dich nieder und stelle dich schlafend. Beobachte aber das Haus. Alles verstanden?“ Er nickte eifrig. „Es kann ziemlich lange dauern, bis ich zurückkomme. Du verläßt unter keinen Umständen die Gondel.“ Wieder nickte er. Als ich ausstieg, folgte mir Leonardo. Ich beugte mich zu ihm hinunter. „Du bleibst hier, Leonardo“, sagte ich leise. Er setzte sich nieder und blickte mir nach. Ein paar junge Leute kamen mir lachend entgegen, die mich aber nicht beachteten. Als sie nicht mehr zu sehen waren, ging ich auf Nanas Haus zu. Daniela, Nanas Dienerin, öffnete die Türklappe und musterte mich forschend. 124
„Dieses Schreiben ist für deine Herrin“, sagte ich und reichte ihr den Briefumschlag durch die Klappe. Ich lehnte mich an die Wand und blickte über den Canale Grande, von dem ich aber nur ein kleines Stück sehen konnte, da sich der Hauseingang in einer Seitengasse befand. Marco hatte sich auf den Boden der Gondel gelegt, und Leonardo schnupperte an einer Hausecke herum. „Tretet ein, Herr“, sagte Daniela ein paar Minuten später und öffnete die Tür. Nana Graziani stürmte mit wogendem Busen auf mich zu. Sie war schon auf den Besuch des Grafen vorbereitet. In ihrem aschblonden Haar schimmerten Ketten und Edelsteine. Ihr Taghemd war tief ausgeschnitten und ließ mehr als nur die Ansätze ihrer hohen Brüste sehen. Ein bestickter Gürtel betonte die schlanke Taille und die langen Beine, die bei jedem Schritt bis zu den halben Oberschenkeln entblößt wurden, da das Hemd in der Mitte geschlitzt war. Ihre kleinen Füße steckten in goldbestickten Pantoffeln. Ich verbeugte mich tief und sah sie dann aufmerksam an. Sie erkannte mich nicht. In der rechten Hand hielt sie den Brief. „Ich kann es noch immer nicht fassen, daß ich das nächste Opfer des Entführers sein soll“, sagte sie aufgeregt. „Seid Ihr sicher, daß kein Irrtum vorliegt?“ „Ich bin sicher, Donna Nana. Und auch Ihr werdet bald den Beweis erhalten, denn 125
sicherlich wird der Conte di Ficino bald einen Boten senden, der Euch mitteilen wird, daß er heute keine Zeit für Euch hat.“ „Kommt mit, Herr“, sagte sie. Nana führte mich in ihr Boudoir, wo auch schon alles für den Besuch des Grafen vorbereitet war. Kleine Leckerbissen lagen auf einem Silbertablett und verschiedene Weinkaraffen waren zu sehen. Ein Teil der Wände war mit Goldstoff behängt. Auf dem Kamin standen prachtvolle Vasen aus Serpentin und Alabaster. An den Wänden standen Kommoden und kostbare Truhen. In der Mitte des Raumes stand ein runder Tisch, auf dem eine grüne Samtdecke lag. Die Sessel waren mit grünem Samt bezogen, auf dem Boden lagen ein halbes Dutzend farbenfroher Teppiche. „Nehmt Platz“, sagte sie und zeigte auf einen Stuhl. Ich setzte mich, und sie stellte zwei Gläser auf den Tisch und schenkte dunkelroten Wein ein. Dann nahm sie mir gegenüber Platz. Es dauerte einige Zeit, bis sie sich von dem Schock erholt hatte, daß sie als nächstes Opfer ausgewählt worden war. Als sie sich endlich beruhigt hatte, besprach ich mit ihr meinen Plan, dem sie sofort zustimmte. Um ihre Dienerin nicht unnötig in Gefahr zu bringen, würde sie selbst die Tür öffnen, und ich würde mich in der Eingangshalle hinter einem Vorhang verstecken, der den Zugang zum Keller verbarg. 126
Sie zuckte zusammen, als das Bimmeln des Glockenzuges zu hören war. Wir traten auf den Gang hinaus und hörten Danielas Stimme, konnten aber nicht verstehen, was sie sagte. Nana lief ihrer Dienerin entgegen, als sie die Treppe hochstieg und entriß ihr einen Briefumschlag, den sie ungeduldig öffnete. Ich sah, wie die Kurtisane bleich wurde. Als sie mich erreicht hatte, hielt sie mir das Schreiben hin, das ich rasch las. Der Conte di Ficino bedauerte es, daß er sie nicht besuchen konnte, doch unaufschiebbare Geschäfte machten sein Erscheinen unmöglich. „Es ist also wahr“, sagte Nana und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Ihre Hände zitterten, als sie nach dem Weinglas griff. Sie verschüttete etwas Wein auf der Tischdecke, dann trank sie das Glas auf einen Zug leer und schenkte sofort nach. Nun begann das Warten. Nana hatte Daniela schlafen geschickt. Das Mädchen konnte uns nicht helfen. Die Unruhe der Kurtisane wurde von Minute zu Minute größer. Langsam bekam ich Angst, daß sie nicht in der Lage sein würde, ihre Aufgabe durchzuführen. Ich hypnotisierte sie, und sie beruhigte sich nun. Ich befahl ihr, sich umzuziehen. Sie legte ihren Schmuck ab und schlüpfte in ein einfaches Kleid, das ihrer Dienerin gehörte. Ihr prachtvolles Haar verbarg sie unter einem Tuch. Die Banditen sollten glauben, es mit 127
Nanas Dienerin zu tun zu haben. Kurz vor Mitternacht wurde der Glockenzug heftig betätigt. Ich zog mein Schwert und versteckte mich hinter dem Vorhang. Dann öffnete Nana die Türklappe. „Wer seid Ihr?“ fragte Nana. „Ich bin ein Bediensteter vom Conte di Ficino. Ich habe Donna Nana eine Botschaft von ihm zu übermitteln. Laßt mich ein.“ „Meine Herrin schläft schon“, sagte Nana. „Dann weckt sie auf, es ist dringend. Es geht um Leben oder Tod. So öffnet doch endlich!“ Die Stimme des Mannes hatte drängend geklungen. Ich hörte das Zurückziehen des Riegels und das Knarren der sich öffnenden Tür, dann einen unterdrückten Aufschrei und feste Männerschritte. Fünf Sekunden wartete ich noch. Als ich das Zuschlagen der Tür vernahm, riß ich den Vorhang zur Seite und sprang in die Eingangshalle. Ein schwarz gekleideter Mann hatte Nana gepackt. Seine rechte Hand lag über ihrem Mund. Zwei weitere Männer waren zu sehen, einer betrat gerade die Treppe, der andere eilte seinem Kumpan zu Hilfe, um die wild um sich schlagende Nana zu bändigen. Schon beim Eintreten der Männer war mir irgend etwas seltsam vorgekommen. Ich hatte eine Ausstrahlung verspürt, die sehr charakteristisch war. Eine Ausstrahlung, die 128
nach Dämonen und Schwarzer Magie roch. Und nun wußte ich es: Die drei Männer waren Dämonendiener. Bevor sie mich noch bemerkt hatten, schlug ich demjenigen, der Nana gepackt hatte, die Flachseite des Schwertes über den Kopf. Er ließ das Mädchen los und ging in die Knie. Der zweite wirbelte herum, riß seinen Degen hervor und drang sofort auf mich ein. Ich konnte seinen Stich parieren und zog nun auch meinen Dolch. Der dritte Mann war aufmerksam geworden und stieg die Treppe herunter. In seiner Hand blitzte nun auch ein Schwert. Ich versuchte meinem Gegner meinen Willen aufzuzwingen, doch es gelang mir trotz aller Anstrengungen nicht. Und nun nahm ich auch den fauligen Gestank wahr, der von den drei Gestalten ausging, und mir dämmerte die schreckliche Wahrheit. Die drei waren Untote! Früher einmal waren sie normale Menschen gewesen, die aber das Unglück gehabt hatten, einem Dämon in die Hände zu fallen, der ihnen das Leben aussaugte und sie tötete, um sie nach ihrem Tod durch Schwarze Magie zu einem unmenschlichen Leben zu erwecken. Aus Erfahrung wußte ich, daß es für diese Untoten möglich war, auch die schwersten Verletzungen hinzunehmen. Sie zu vernichten, war durch das Feuer möglich. Ich mußte ihre Kleider anzünden oder sie enthaupten. Meine Magie half mir bei ihnen nicht viel. Ich hätte 129
nur etwas mit Magie gegen sie ausrichten können, wenn mir der Ritus bekannt gewesen wäre, mit dem sie zum unmenschlichen Leben erweckt worden waren. Den ersten Gegner hatte ich mit meinem Schwert durchbohrt, doch das störte ihn nicht. Unbeirrt ging er auf mich zu. Ich schwang das Schwert. Die rechte Hand fiel von ihm ab. Kein Blut drang aus der Wunde. Das Monster bückte sich und griff mit der linken Hand nach seiner Waffe. Und nun drangen auch die beiden anderen auf mich ein. Ich mußte zurückweichen und kam ganz schön ins Schwitzen, als ich ihre machtvollen Hiebe und Stiche abwehrte. So kam ich nicht weiter. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie mich überwältigt haben würden. Ich mußte meine Fähigkeiten zu Hilfe nehmen. Ich ließ den Dolch fallen, zog den Türriegel zurück und öffnete die Eingangstür. Neben der Tür stand eine schwach brennende Öllampe, eine andere befand sich unweit des Kellereinganges. Übergangslos versetzte ich mich in den rascheren Zeitablauf, eine Fähigkeit, die ich nun perfekt beherrschte. Ich konnte mich normal bewegen, während für meine Umwelt die Zeit stehenblieb. Ich packte die Öllampe neben der Tür und leerte das Öl über die Kleidung des nächststehenden Untoten, dann packte ich die zweite Lampe und schüttete deren Inhalt über 130
einen weiteren Untoten. Den dritten Untoten, dem ich die rechte Hand abgeschlagen hatte, wollte ich mir vornehmen. Von ihm wollte ich erfahren, wer der Auftraggeber war. Rasch packte ich die beiden Untoten, deren Kleidung ich mit Öl getränkt hatte und stieß sie vor das Haus, dann glitt ich zurück in die normale Zeit. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis die Kleider der beiden Untoten Feuer fingen. Sie versuchten die Flammen zu löschen. Ich wartete, bis der dritte Untote mit seinem Degen nach mir stach, parierte den Schlag und drang auf ihn ein. Ich ergriff sein linkes Handgelenk und entwand ihm den Degen, dann drehte ich seinen Arm auf den Rücken. Aber der Untote entwickelte Kräfte, denen ich nichts entgegenzusetzen hatte. Er setzte mir nach und ballte die linke Hand zur Faust. Ich sah die Bewegung, versuchte mich zu ducken, doch ich war zu unsicher auf den Beinen. Seine Faust knallte mit voller Wucht an mein Kinn, und ich hörte alle Engel singen. Vor mei nen Augen schien alles zu explodieren. Ich fiel rücklings zu Boden und wälzte mich blitzschnell zur Seite, da ich erwartete, daß der Untote sich auf mich stürzen würde. Es dauerte nur wenige Augenblicke, dann konnte ich wieder klar sehen. Doch der Untote war nicht mehr da. Ich stand auf. „Wo ist der Kerl hingegangen?“ fragte ich Nana. „Er ist aus dem Haus gerannt.“ Ich lief los. Vor dem Haus sah ich die beiden 131
Untoten, die lichterloh brannten. Einer taumelte auf den Kanal zu und plumpste hinein. Der zweite fiel zu Boden, und die Flammen erloschen langsam. Aber der dritte Untote war nirgends zu sehen. Ich lief auf meine Gondel zu. „Marco!“ schrie ich. Mein Diener hob den Kopf. „Einer der schwarzgekleideten Kerle ist aus dem Haus gekaufen. In welche Richtung wandte er sich!“ „Er ist nach rechts in den Seitenkanal gerannt“, sagte Marco rasch. Ich versetzte mich in die andere Zeitdimension und lief den schmalen Kanal entlang. Der Untote konnte noch nicht weit gekommen sein. Ich suchte mehr als eine Viertelstunde lang, konnte ihn aber nicht entdecken. Dann war ich wieder in der normalen Zeit. Verärgert kehrte ich zu Nanas Haus zurück. Von dem Untoten, der in den Kanal gefallen war, war nichts mehr zu sehen, der andere war völlig verbrannt. Von ihm waren nur ein paar verkohlte Kleidungsreste und ein Aschenhaufen übrig geblieben, den der leichte Wind verwehte. „Du kannst nach Hause fahren, Marco“, sagte ich. „Ich bleibe bei Donna Nana.“ Marco stand auf. „Wo ist Leonardo?“ fragte ich, da ich den Kater nirgends sehen konnte. „Er ist dem Mann gefolgt, der aus dem Haus 132
rannte“, sagte Marco. Verblüfft blickte ich ihn an. Dann grinste ich. Noch war nicht alles verloren. Kopfschüttelnd ging ich zu Nanas Haus. Merlin hatte mir anscheinend doch einen tüchtigen Helfer ausgesucht. Der Kater konnte dem Untoten unauffällig folgen. Nana war einer Ohnmacht nahe. Ich führte sie in ihr Schlafzimmer und nahm in der Halle Platz. Möglicherweise würde der Unbekannte nochmals versuchen, sie zu entführen, obzwar mir das ziemlich unwahrscheinlich vorkam. Im Morgengrauen weckte ich Daniela, die von den Ereignissen der vergangenen Nacht nichts mitbekommen hatte. Möglicherweise hatte irgend jemand aus einem der Nachbarhäuser Teile des Kampfes gesehen, doch zu Hilfe war mir niemand gekommen. Marco und Bianca waren bereits auf den Beinen, als ich zu Hause eintraf. Leonardo war noch nicht gekommen. Ich ging schlafen und sagte den beiden, daß sie mich sofort wecken sollten, sobald Leonardo im Haus war.
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12.
Ich hatte nur wenige Stunden geschlafen, als ich durch einen sanften Prankenhieb gegen meine Wange aufgeweckt wurde. Verschlafen öffnete ich die Augen und gähnte. Auf meiner Brust hockte Leonardo, und seine glühenden Augen starrten mich durchdringend an. „Na, du alter Herumtreiber“, sagte ich lächelnd und strich sanft über sein Fell. „Was hast du mir alles zu erzählen?“ Doch der Bursche zierte sich. Zuerst einmal mußte ich ordentlich mit ihm herumschmusen, dann hatte er plötzlich genug davon, löste sich aus meiner Umarmung, huschte auf den Boden, und sprang auf einen Stuhl und blickte mich mit schiefem Kopf an. „Du bist dem Mann gefolgt, der aus Nanas Haus lief?“ Schnurrend beantwortete er meine Frage mit ja. „Kannst du mich zu ihm führen, Leonardo?“ Wieder antwortete er mit ja. „Das ist ja herrlich“, sagte ich zufrieden und sprang aus dem Bett. Eine Stunde später waren Marco, Leonardo und ich unterwegs. Leonardo hatte mit großem Appetit einen Fisch verspeist und eine große Schüssel Milch getrunken. Scheinbar ziellos lief der Kater durch die schmalen Gassen und überquerte winzige Brücken. Marco und ich unterhielten uns leise 134
und schenkten dem Kater kaum Aufmerksamkeit. Niemand, der uns verfolgt hätte, wäre auf die Idee gekommen, daß wir einem Kater folgten. Die Gegend, in die uns der Kater führte, war mir völlig unbekannt. Vor einem prächtigen Palast, der inmitten eines kleinen Gartens lag, blieb Leonardo stehen und gab mir das vereinbarte Zeichen. Einen Augenblick stand sein Schwanz steil hoch, dann ließ er sich nieder und begann sich zu putzen. „Weißt du, wem dieses Haus gehört, Marco?“ Mein Diener nickte bedächtig. „Das Haus gehört Carlo Tribolo. Ein mächtiger Mann.“ Dann flüsterte er fast: „Er soll angeblich zum Rat der Zehn gehören, ja er soll sogar einer der Capi sein.“ Wir gingen am Haus vorbei und bogen in eine winzige Gasse ein. Ich wartete kurz, bis Leonardo uns folgte. Nach ein paar Minuten hatten wir einen Kanal erreicht, wo ich eine Gondel mietete. Ich brauchte nun unbedingt Informationen, und wer eignete sich dafür besser als Pietro Aretino? Von ihm würde ich alle gewünschten Auskünfte erhalten. Ich befahl dem Gondoliere, daß er mich zu Aretinos Haus bringen sollte. Marco und Leonardo schickte ich nach Hause. Pietro Aretino war hocherfreut, mich zu sehen. Er war nicht allein, einer seiner jungen Freunde war bei ihm zu Besuch. Es war Paolo 135
Molza, ein junger Kaufmann und Kapitän, den ich während des Festes in Aretinos Haus kennengelernt hatte. Er war etwa fünfund zwanzig Jahre alt. Sein Gesicht war glattrasiert und braungebrannt. Für die Männer jener Zeit war er überraschend groß und kräftig. Auch er hatte zum Kreis meiner Verehrer gezählt, hatte sich aber nicht so unverschämt wie die meisten anderen vorgedrängt. Ein Diener brachte Kuchen und Wein. „Ich bin froh, daß ich Euch noch einmal sehen darf, Baronesse“, sagte Paolo Molza und blickte mich verträumt an. „Er sticht morgen in See“, warf Aretino ein. „Wohin fahrt Ihr, Conte?“ „Nach Kreta“, sagte er, „und Euer Bild wird mich auf meiner Reise begleiten.“ Die spöttische Bemerkung, die mir auf der Zunge lag, schluckte ich hinunter. Der junge Graf meinte seine Worte ehrlich. „Werdet Ihr lange ausbleiben, Conte?“ fragte ich. Die beiden Männer wechselten einen raschen Blick. „Das hängt von verschiedenen Umständen ab“, antwortete Molza ausweichend. „Ihr seid wohl in einer speziellen Mission unterwegs?“ fragte ich beiläufig. Ich merkte, wie er zusammenzuckte. „Nein“, sagte er entschieden. „Es ist eine simple Kaufmannsfahrt.“ Ich glaubte ihm kein Wort. Bevor ich die 136
Zeitreise angetreten hatte, war ich bemüht gewesen, mir ziemlich viele Informationen über das Jahr 1535 zu beschaffen. Und einiges davon hatte ich mir gemerkt. 1534 hatte Chair Ad Din, ein islamisierter Grieche, der in Suleymans Diensten stand, Tunis erobert. Seine Piratenflotte war Kaiser Karl V. ein Dorn im Auge. Die Überfälle auf italienische Städte hatten in den vergangenen Monaten zugenommen, und mir war bekannt, daß Karl V. eine große Flotte sammelte, die unter der Leitung Andrea Dorias stehen würde. Ich wußte, daß es in etwa zwei Monaten zur Entscheidungsschlacht bei Goletta kommen würde. Und Karl V. würde siegen und Tunis erobern und 20.000 christliche Sklaven befreien. Vermutlich war Paolo Molza im Auftrag des Kaisers unterwegs. Wahrscheinlich würde er im Mittelmeer spionieren, und es war nur zu verständlich, daß er mir gegenüber davon nicht sprechen wollte. „Die Lage scheint ja immer ernster zu werden“, meinte ich unbefangen. „Stimmt es, daß der Kaiser eine Strafexpedition gegen Chair Ad Din plant?“ „Woher habt Ihr das erfahren, Baronesse?“ fragte Aretino verwundert. „Am Hof in Wien hat man davon gesprochen“, antwortete ich. „Sprecht darüber lieber nicht, Baronesse“, sagte Paolo ernst. „Man könnte Euch leicht für eine Spionin halten.“ 137
Ich lachte. „Das ist doch absurd.“ „Sagt das nicht“, flüsterte Paolo. „In Venedig soll sich angeblich ein Spion befinden, der die geheimsten Informationen an die Türken liefert“, sagte Aretino. „Das ist sehr unangenehm.“ „Und was tut der Rat der Zehn dagegen?“ fragte ich erfreut, da sich das Gespräch in genau die Richtung entwickelte, die ich wollte. „Der Rat der Zehn wird immer schwächer.“ „Könnt Ihr mir Genaueres über diesen Rat erzählen? In Wien wird der Rat als die dämonischen Zehn’ bezeichnet.“ „So wird er auch von einigen Bürgern unserer Stadt genannt“, stellte Paolo fest. „Im Jahre 1335“, begann Aretino mit seinen Erklärungen, „wurde der ,Consiglio dei Dieci’, der Rat der Zehn, zum immerwährenden Gerichtshof erklärt. Er sollte die Verfassung der Republik schützen. Doch bald wurde der Rat zum mächtigsten Instrument der Stadt. Der Doge war nur noch eine Repräsentationsfigur, und der Große und der Kleine Rat wurden immer unbedeutender. Der Rat der Zehn und vor allem seine drei Vor steher, die Capi, beherrschten den Dogen und seine hilflosen Räte. Der Rat der Zehn wurde alle Jahre neu besetzt, und keine der großen Familien durfte mit mehr als einem Mitglied im Rat vertreten sein.“ „Bekamen die Ratsmitglieder vom Staat ein Salär?“ fragte ich, als Aretino nach seinem Weinglas griff. 138
„Nein“, schaltete sich Paolo ein. „Es war unentgeltlicher Dienst an der Republik. Die Ratsmitglieder durften an keinen Festen des Adels teilnehmen, den Capi war es sogar verboten, Spaziergänge in der Stadt zu unternehmen, und der Besuch von Gaststätten war ihnen untersagt.“ „Heute ist das schon etwas anderes“, schaltete sich wieder Aretino ein. „Früher war der Rat der Zehn unbestechlich und objektiv. Das kann man jetzt nicht mehr von ihm behaupten.“ „Wofür ist der Rat eigentlich zuständig?“ „Das weiß niemand mehr so ganz genau“, knurrte Aretino. „Er griff bei Hochverrat ein, bei Korruption und Konspiration gegen die Republik und war für die Aufklärung jeglicher Kriminalität in Adelskreisen zuständig. Folterungen waren und sind noch immer üb lich.“ „Und was ist mit dem Bocca di Leone?“ „Dieses Löwenmaul, das sich am Dogenpalast befindet, wird hauptsächlich von anonymen Denunzianten benützt. Da kann jedermann seine Verleumdungen loswerden. Der Rat der Zehn überprüft dann die An schuldigungen. Früher tat er das sehr gewissenhaft, doch jetzt…“ „Bei Eurem Fest waren doch zwei Mitglieder des Rates anwesend, die beiden schienen mir recht freundliche Männer zu sein.“ Aretino verzog den Mund, preßte dann aber die Lippen zusammen. Da hatte ich wohl einen 139
Punkt berührt, der so heikel war, daß er darüber nicht sprechen wollte. „Ich kam gestern an einem Haus vorbei“, plapperte ich unbekümmert weiter und kicherte leicht, „da benahm sich mein Diener plötzlich merkwürdig. Er blickte das Haus scheu an, bekreuzigte sich, und auf meine Fragen sagte er mir, daß dort ein Capo wohne. Er hatte sichtlich Angst.“ „Hat er einen Namen genannt?“ erkundigte sich Paolo. „Carlo Tribolo“, sagte ich. Aretino rümpfte angewidert die Nase, und Paolo blickte angeregt das Tischtuch an. „Es stimmt“, quetschte schließlich Aretino hervor. „Tribolo gehört dem Rat an. Und er ist wegen seiner unerbittlichen Strenge in der Stadt verhaßt. Aber sprechen wir lieber über etwas Erfreulicheres, Baronesse.“ Aretino war sichtlich froh, als einer seiner Bediensteten kam und meldete, daß das Mittagessen serviert werden könne. Ich blieb zum Essen. Aretino lief zu großer Form auf. Diesmal war der Doge das Ziel seines Spottes. Er bezeichnete ihn als einen vertrottelten Lustgreis, der sicherlich in den Armen eines jungen Mädchens den Tod finden würde. Marco wunderte sich über die Gegenstände, die er mir beschaffen sollte. Zu meiner großen Freude konnte er alle besorgen. Ich bedauerte, daß es noch keine geeigneten Handfeuerwaffen gab. Die wenigen, die 140
bereits existierten, waren unhandlich und meist für den Schützen gefährlicher als für seinen Feind. Immer wieder versuchte ich herauszufinden, wie ich meinen Feind, den unbekannten Dämon, einstufen konnte. Vermutlich war Carlo Tribolo mein Gegner, aber ich konnte mich auch täuschen. Ein Vampir war er sicherlich nicht, denn dann wären die Untoten ganz anders gewesen. Ich vermutete, daß er zu jener Art von Mitgliedern der Schwarzen Familie gehörte, die den Menschen das Id, die Lebenskraft, aussaugten und damit ihr unmenschliches Leben verlängerten. Eine Handgranate wäre eine wirksame Waffe gegen so einen Dämon gewesen, leider verfügte ich über keine. Aber es gab auch andere Methoden, mit denen man solche Monster besiegen konnte… Ich war in der Wahl meiner Mittel nicht wählerisch. Unter den Dämonen gab es auch eine Art Ehrenkodex, der es ganz einfach verbot, gewisse Waffen anzuwenden. Tat man es doch, und es blieb nicht verborgen, dann konnte es dazu führen, daß man aus der Schwarzen Familie ausgestoßen wurde und vom Herrn der Finsternis in einen Freak verwandelt wurde. Aber das sollte nicht meine Sorge sein. Die einfachste Methode war Gift. Ich blieb über eine Stunde in der Küche. Ein bestialischer Geruch zog durch das Haus. Ich bereitete eine teuflische Mischung, die für 141
jeden Dämon tödlich war. Das war ein uraltes Familienrezept, das mir mein Bruder Adalmar vor einiger Zeit verraten hatte. Mein Schwert hielt ich ein paar Minuten ins hochlodernde Feuer, dann steckte ich es in den Kessel mit der stinkenden Brühe. Innerhalb weniger Sekunden war die Scheide mit einem glänzen den Film überzogen, der hart wie Glas wurde. Marco hatte mir ein paar einfache Wurfpfeile gebastelt, die ich auch präparierte. Gegen dieses wirkungsvolle Gift gab es kein Gegenmittel. Da ich auch damit rechnen mußte, daß mir in Tribolos Haus ein paar wenig freundlich gesinnte Untote über den Weg laufen würden, begann ich mit Marcos Hilfe ein paar Waffen zu basteln. Es waren Wurfspieße, deren Spitzen mit Pech getränkt waren. Ich rieb ein magisches Pulver darüber. In der Spitze befand sich ein einfaches Schwarzpulver, das aus Salpeter, Schwefel und Kohle bestand. Als der erste der Wurfspieße fertig war, testete ich ihn. Ich schleuderte ihn gegen eine Holztür, neben der Marco mit zwei Kübeln Wasser bewaffnet stand. Mit Hilfe des Signatsterns beeinflußte ich den Flug des Geschosses, das mit der Spitze voraus auf die Tür zuschoß und sich etwa fünf Zentimeter tief ins Holz bohrte. Das magische Pulver entzündete sich, ließ das Pech aufflammen und das Schwarzpulver explodieren. Die Wirkung war verblüffend. Es 142
dauerte kaum fünf Sekunden, bis die Tür lichterloh brannte. Marco hatte einige Mühe die Flammen zu löschen. Zehn solcher Spieße fertigten wir an, die ich in der Innenseite meines Mantels in Schlaufen befestigte, die Albina angenäht hatte. Ich schlüpfte in den Mantel, und der Test funktionierte prächtig, ich konnte die Spieße leicht aus den Schlaufen ziehen. Als ich mit meinen Vorbereitungen fertig war, ging ich schlafen.
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13.
Kurz vor Mitternacht verließ ich das Haus. Es war eine wundervolle sternenklare Nacht. Lieber wäre es mir gewesen, wenn der Himmel mit Wolken bedeckt wäre. Zu dieser Zeit waren nur Ratten und Katzen unterwegs, von denen es unzählige in Venedig gab. Als ich den Palazzo Tribolo erreichte, blieb ich ein paar Minuten in einer Arkade stehen und beobachtete das Haus. Eine hohe Mauer schirmte die Fenster im Erdgeschoß und im ersten Stock vor neugierigen Blicken ab. Die Fenster im zweiten Stock waren dunkel. Einen Plan hatte ich nicht entworfen, da ich nicht wissen konnte, was mich im Haus erwarten würde. Nur eines wollte ich auf jeden Fall: vorsichtig sein. Kein unnötiges Risiko eingehen, das war meine Devise. Ich lief auf die Gartenmauer zu, sprang hoch, ergriff mit beiden Händen das Mauerdach und zog mich hinauf. Einen Augenblick blieb ich ruhig auf der Mauer liegen und starrte zum Haus. Ein paar Katzen waren im Garten zu sehen. Ich sprang in den Garten und huschte geräuschlos auf das Haus zu. Die Katzen blickten mich kurz an, ignorierten mich aber dann. Ein paar Stufen führten zur hohen Eingangstür hoch, die mit geflügelten Löwen verziert war. Lauschend preßte ich mein rechtes Ohr an die Tür. Im Hausinneren war 144
es ruhig. Nun setzte ich meine magischen Kräfte ein. Die Tür war innerhalb weniger Sekunden offen, und ich lugte neugierig in die Halle, die stockfinster war. Aus meinem Mantel zog ich nun einen Spieß, den ich wurf bereit in die rechte Hand nahm. Nun wandte ich einen Zauber an, den mir der alte Druide Catbath beigebracht hatte. Vom Signatstern ging eine gelbliche Strahlung aus, die mich in ein geheimnisvolles Licht tauchte und sich kreisförmig um mich ausbreitete. Ich konzentrierte mich auf das Licht und bündelte es. Es war nun so, als würde ich eine starke Taschenlampe auf der Brust tragen. Die Halle war groß, Boden, Wände und Decke bestanden aus Marmor. Überall standen Büsten auf Säulen, die finster blickende Männer darstellten. Ich blieb stehen, als ich die charakteristische Ausstrahlung spürte, die von rechts kam. Ich wirbelte herum. Ein Untoter stürzte auf mich zu. Sofort schleuderte ich ihm den Wurfspieß entgegen und brachte ihn zur Explosion. Der Untote brannte lichterloh. Kein Laut kam über seine toten Lippen. Aber er mußte irgendwelche Geräusche von sich gegeben haben, die für mich nicht hörbar waren, denn plötzlich öffneten sich zwei Türen und vier Untote stürmten in die Halle, darunter auch der Bursche, mit dem ich gestern 145
zusammengekracht war. Ich arbeitete wie eine Maschine. Drei meiner Würfe fanden ihr Ziel, ein vierter gelang mir nicht so gut. Der Spieß blieb in einer Tür stecken, doch ich brachte ihn nicht zur Explosion. Der nächste Wurf war wieder ein Volltreffer. Schaudernd lief ich an den brennenden Untoten vorbei, die sich die Kleider vom Leib rissen und gegenseitig bemüht waren die Flammen zu ersticken. Der Anblick war vor allem für mich so grauenvoll, weil kein Laut über ihre blutleeren Lippen kam. Als ich Schritte hörte, drehte ich mich um und blickte zur Treppe hin. Ein kleines, schmächtiges Männchen, dessen Kopf völlig kahl war, blieb stehen, als das Licht auf ihn fiel, er schloß geblendet die Augen. Er schien schon geschlafen zu haben, denn er war nur mit Mantel und Pantoffeln bekleidet. „Wer seid Ihr?“ fragte ich. Der häßliche Gnom hatte sich an das Licht gewöhnt, und seine Froschaugen starrten mich wütend an. „Ich bin Carlo Tribolo!“ sagte er mit überraschend tiefer Stimme. Ich war bitter enttäuscht. Er war keinesfalls ein Dämon, von ihm ging die typische Ausstrahlung nicht aus. Aber es war doch etwas zu spüren, vermutlich war er vom Dämon beeinflußt worden. Doch das ließ sich leicht feststellen. Rasch betrat ich die Stufen und versuchte 146
ihn zu hypnotisieren, doch er hielt meinem Blick stand. Das war für mich der Beweis, daß er schon früher von einem Dämon zu einem willenlosen Sklaven gemacht worden war. Ich warf den Untoten einen Blick zu. Drei waren zu Asche verbrannt, zwei rollten sich noch auf dem Marmorboden hin und her. Als ich mich Tribolo zuwenden wollte, spürte ich endlich die Dämonenausstrahlung. In die linke Hand nahm ich einen Wurfspieß und in die rechte einen der vergifteten Pfeile. Ich sprang die Stufen hinunter und blickte nach rechts an den sich windenden Untoten vorbei auf einen Vorhang, der langsam zurück gezogen wurde. Dahinter lauerte der Dämon. Ein wunderschönes Mädchen trat hervor. Ihr rotblondes Haar floß wie ein Schleier über ihren Rücken. Ihr Puppengesicht war schneeweiß. Die Augen waren leicht schräg gestellt und von einem unwahrscheinlichen Blau. Die Nase war klein und frech aufgeworfen, der Mund herzförmig und kirschrot. Ein halbdurchsichtiges Kleid schmiegte sich wie eine zweite Haut um ihren schlanken Körper und betonte die aufreizenden Rundungen. Ich war sicher, daß die meisten Männer sie mit offenem Mund anstarrten und ihr augenblicklich verfallen waren. Aber ich war kein Mann, ihre Schönheit beeindruckte mich nur wenig, da ich sicher war, daß sie nur Maske war, hinter der sich ein abscheuliches Ungeheuer verbarg. Ich kannte die Tricks der Dämonen, gehörte ich 147
doch selbst zu ihnen. Ich war mir nicht sicher, ob die Dämonin spürte, daß ich eine aus der Schwarzen Familie war. Der Signatstern änderte meine Ausstrahlung, wie mir Rebecca gesagt hatte. „Dieser Wahnsinnige ist hier eingedrungen“, sagte Carlo Tribolo, „und hat unsere Diener getötet!“ „Ich weiß“, sagte die Dämonin mit einschmeichelnder Stimme. Sie bewegte sich geschmeidig wie eine Raubkatze. Ihr Kleid rauschte bei jedem Schritt. Sie lächelte mich an und entblößte dabei makellose Zähne. „Wer seid Ihr?“ fragte ich sie.
„Xenia Tribolo“, antwortete sie.
„Sie ist mein Weib“, sagte Carlo Tribolo.
Xenia lächelte stärker, und ich bemerkte nun
das von innen kommende gelbliche Leuchten in ihren Augen. Und dann schienen ihre Augen zu explodieren. Sie mußte über ungewöhnlich starke Hypnosefähigkeiten verfügen, denen wahrscheinlich kein Sterblicher etwas entgegenzusetzen hatte. Doch bei mir verpuffte ihr Angriff wirkungslos. Ich hielt ihren glühenden Augen stand. Verblüfft trat sie einen Schritt zurück. Alle Freundlichkeit war aus ihrem Gesicht gewichen. „Wer bist du?“ fragte sie drohend. Nun war es an mir, ihre Abwehrkräfte zu testen. Über den Signatstern bündelte ich meine Hypnosefähigkeiten und schleuderte sie 148
ihr entgegen. Darauf war sie nicht gefaßt, denn ihre Augen begannen seltsam zu flimmern, und sie duckte sich, als hätte sie einen gewaltigen Hieb bekommen. Ich verstärkte meine Kraft, und einen Augenblick lang glaubte ich schon, daß ich ihr meinen Willen auf zwingen könnte. Doch sie mobili sierte zusätzliche Kräfte, freilich um einen hohen Preis; denn sie mußte für ein paar Sekunden ihre menschliche Maske fallen lassen. Carlo Tribolo stieß einen durchdringenden Entsetzensschrei aus, als er die wahre Gestalt seiner Frau sah. Ihr Kopf war schlangenartig und mit winzigen Schuppen bedeckt, die ein fremdartiges Muster bildeten. Aus dem breiten Maul züngelte eine gespaltene Zunge, und in ihrer Stirn war ein einziges Auge zu sehen, ein typisches Schlangenauge, das gelbrot leuchte te. Die ellipsenförmige Pupille war vertikal und unbeweglich. Der Körper war menschenähnlich, doch die Beine und Arme waren tentakelartig. Und das alles war mit Schuppen bedeckt, die rot, braun und gelb waren und sternenförmige Muster bildeten. Es hatte kaum zehn Sekunden gedauert, dann nahm sie wieder ihre menschliche Gestalt an, die eine perfekte Maske war. Ich war wie gelähmt. Von diesen Schlangendämonen hatte ich zwar schon gehört, doch in meiner Zeit gab es sie kaum mehr. Angeblich sollten sie von einer 149
anderen Welt gekommen sein. „Du verfügst über mächtige Kräfte, Unbekannter“, sagte sie lauernd und kam gemächlich auf mich zu. Hinter mir hörte ich ihren Mann wimmern. Ihre Furchtlosigkeit begann mich zu beunruhigen. Sie mußte sich ihrer Kraft ziemlich sicher sein. Ich konnte nicht einmal ahnen, welche Kräfte sich in diesem fremdartigen Körper verbargen. Ich wollte kein Risiko eingehen und schleuderte ihr den vergifteten Pfeil entgegen, der aber anscheinend völlig wirkungslos von ihrem Körper abprallte. „Damit kannst du mich nicht töten, Unbekannter, der du in Wirklichkeit eine Frau bist. Vermutlich bist du eine aus der Schwarzen Familie, mit der ich gelegentlich Kontakt pflege.“ Fünf Schritte vor mir blieb sie stehen. Sie sah so hübsch aus, daß ich es nicht glauben konnte, daß sich hinter der Maske ein schlangenartiges Geschöpf verbarg, dessen Gedankengänge und Begierden mir unverständlich waren. Ich riß mein Schwert aus der Scheide, und sie lachte mich spöttisch aus. „Damit kannst du meine Haut nicht einmal ritzen, Kleine“, sagte sie verächtlich. „Ich werde dich gefangennehmen und dich genau studieren. Vielleicht wird das ganz interessant werden.“ „Du steckst hinter den Entführungen der 150
Kurtisanen, nicht wahr?“ fragte ich und versuchte meine Stimme fest klingen zu lassen. Sollte es mir tatsächlich nicht gelingen, sie zu töten, dann blieb mir noch immer die Flucht. Ich glaubte nicht, daß sie meine Fähigkeiten richtig einschätzen konnte. Und sie war sich ihrer Sache zu sicher, ein Fehler, den ich schon oft begangen und der sich immer bitter gerächt hatte. „Ja, du hast richtig vermutet, Mädchen. Ich ließ die Kurtisanen rauben. Sie sind als Geschenke für einen Freund bestimmt, der eine Schwäche für schöne weißhäutige Mädchen hat, die blond sind. Mit dir hätte er nur wenig Freude, da dein Haar pechschwarz ist. Deshalb werde ich dich auch nicht zu ihm schicken, sondern dich nach einer eingehenden Untersuchung töten.“ „Wer ist dein Freund?“ „Du kennst ihn nicht, meine Liebe. Ein Muselmane, der über ein kleines Reich herrscht, dem ich aber sehr zu Dank verpflichtet bin. Ich liefere ihm alle paar Wo chen ein paar Mädchen, die er in seinen Harem aufnimmt. Erst heute nacht geht ein Transport an ihn ab. An Bord des Schiffes befinden sich drei Kurtisanen, über die mein Freund sehr erfreut sein wird.“ „Und was ist mit dem Schmuck, den du geraubt hast?“ „Den habe ich den Mädchen gelassen, ich 151
brauche ihn nicht. Sie sollen doch hübsch für meinen Freund sein.“ „Mit welchem Schiff sind sie fortgebracht worden?“ „Du fragst viel zu viel, mein Täubchen. Das brauchst du nicht mehr zu wissen, denn du kannst ihnen nicht mehr helfen, da du das Haus nicht lebend verlassen wirst. Gib mir dein Schwert.“ Sie griff danach, und ich schlug mit aller Kraft zu. Ich hatte gut getroffen. Die Klinge prallte auf ihrem Kopf auf und zersprang, als wäre sie aus Glas gewesen. Verblüfft starrte ich den Elfenbeingriff an, den ich ihr entgegenschleuderte. Sie stand breitbeinig vor mir und lachte. „Siehst du nun, daß du verloren bist?“ fragte sie. Als sie nach mir griff, wich ich zurück. Ich stieß gegen ihren Mann, packte ihn und schleuderte ihn ihr entgegen. Sie fing ihn spielerisch auf und stellte ihn auf den Boden, dann folgte sie mir. Ich glitt in den anderen Zeitstrom und war glücklich, daß mir das gelungen war. Ein paar Sekunden starrte ich das Ungeheuer an, das sich so hervorragend getarnt hatte. Es schien unverletzbar zu sein… Eine Möglichkeit fiel mir ein, wie ich es unschädlich machen konnte. Rasch zog ich die Wurfpfeile hervor, brach die vergifteten Spitzen ab und ging auf das Scheusal zu. Sein Mund stand halb offen. Ich 152
krallte meine linke Hand in den Nacken, packte fest zu und drückte den Kopf zurück. Es fühlte sich wie ein normaler Mensch an, doch ich schauderte, als ich ihn mit der Pfeilspitze stach. Wenn meine Maßnahmen ihm nicht den Tod brachten, blieb mir nur noch die Flucht… Ich lief die Stufen hoch, und als ich die letzte erreicht hatte, schob ich mich in die normale Zeit und brachte sofort das magische Pulver zur Explosion. Die Wirkung war genauso, wie ich es erhofft hatte. Für einen Sekundenbruchteil war sie noch in menschlicher Gestalt zu sehen, dann erschütterten mehrere Explosionen ihren Kopf und den Leib, und sie nahm ihre richtige Gestalt an. Vor Grauen wandte ich mich ab. Nach ein paar Sekunden wagte ich es, dorthin zu blicken, wo sich das Ungeheuer befunden hatte. Mir wurde übel. Carlo Tribolos Blick war glasig. Er starrte die Überreste des Monsters an und keuchte und stöhnte. Ich zitterte am ganzen Leib, als ich die Stufen hinunterstieg. Minutenlang war ich zu keinem klaren Gedanken fähig. Ich packte den wimmernden Mann und zog ihn in einen Raum. Dann steckte ich zwei Öllampen an und ließ mich auf einen Stuhl fallen. So elend hatte ich mich nie zuvor gefühlt. 153
Nie hätte ich es für möglich gehalten, daß sich ein Monster aus einer anderen Welt so gut tarnen konnte. Nie würde ich erfahren, wie viele Menschen sie ins Unglück gerissen und wie vielen sie den Tod gebracht hatte. Ich konnte nur hoffen, daß sich nicht noch mehr von ihrer Sorte auf der Erde befanden. Nach und nach beruhigte ich mich. Carlo Tribolo lag auf dem Boden und wand sich, als hätte er Krämpfe. Das gnomenhafte Ratsmitglied tat mir leid. Nur zu gut konnte ich mir vorstellen, was in ihm vorging. Die magische Abhängigkeit, die ihn mit dem Scheusal verbunden hatte, war nun verschwunden, und er konnte wieder normal denken. Nun mußte ihm nach und nach bewußt werden, wer seine schöne Frau in Wirklichkeit gewesen war. „Sieh mich an, Carlo Tribolo!“ sagte ich laut. Er hob den Kopf, stöhnte und erwiderte meinen Blick. Ich wollte ihm helfen, das war mit ein Grund, weshalb ich ihn hypnotisierte. Sofort beruhigte er sich. Wir gingen in sein Arbeitszimmer. Er holte einen scharfen Kräuterschnaps und zwei Gläser. Dann begann er langsam zu erzählen. Xenia hatte er vor einem halben Jahr auf Kreta kennengelernt. Die Insel gehörte in dieser Zeit zu Venedig. Er war rasend nach ihr gewesen, und sie hatte seinen Heiratsantrag sofort angenommen. Noch auf Kreta hatten sie geheiratet, und kaum in Venedig angelangt, 154
war er in den Rat der Zehn aufgenommen worden. Seine Frau hatte tagsüber das Haus nie verlassen, erst nach Einbruch der Dunkelheit war sie lebendig geworden. Er wußte nicht, wo sie sich da herumgetrieben hatte. Sie hatte ihm verboten, den Keller zu betreten, die Untoten, die im Haus gewesen waren, hatte er als normale Bedienstete betrachtet. Von den entführten Kurtisanen wußte er nichts. Nun wurde ihm auch bewußt, daß Xenia ein besonderes Interesse an seiner Tätigkeit als Ratsmitglied gezeigt hatte. Er hatte ihr über alles ganz genau berichten müssen, und sie hatte alles gewissenhaft mitgeschrieben. Mehr konnte er mir nicht sagen. Zuerst sah ich mir den Keller an. Es war mehr oder minder ein Gefängnis. Ich entdeckte einige Zellen. Hier waren vermutlich die geraubten Mädchen gefangen gehalten worden. Dann betrat ich die Räume, die Xenia bewohnt hatte und die Carlo niemals betreten durfte. Ich fand einige Kleider, aber überhaupt keinen Schmuck. Das war ziemlich ungewöhnlich, da sie sich ja als Frau ausgegeben hatte. In dieser Zeit trugen alle Frauen viel Schmuckstücke. In einer Truhe entdeckte ich eine Schlangenhaut. Xenia mußte sich demnach wie eine echte Schlange gehäutet haben. Schaudernd warf 155
ich den Deckel zu. Dann fand ich in einer Schatulle einige Briefe in griechisch, die ich nicht verstand. Aber ich erinnerte mich daran, daß ich mit Hilfe des Signatsterns alle Sprachen verstehen konnte. So sehr ich mich freilich bemühte, die Schrift konnte ich nicht entziffern. Ich nahm die Briefe an mich und ging zu Carlo Tribolo, der verzweifelt in seinem Arbeitszimmer saß und mich anstarrte. „Kannst du griechisch, Tribolo?“ „Ja“, sagte er mit schwerer Zunge. „Ich kann sogar ihre verdammte Schrift lesen.“ „Fein“, sagte ich, „dann lese mir diese Briefe vor.“ Er begann zu lesen und wurde bleich. Seine Hände zitterten. „Das ist ja grauenvoll“, flüsterte er. „Xenia war eine Spionin. Diese Briefe sind von Chair Ad Din, der Xenia als liebste Freundin anspricht!“ Das hatte ich vermutet. Stockend las mir der Gnom die Briefe vor. Sie waren alle sehr ähnlich. Der Eroberer von Tunis bedankte sich immer zuerst herzlich für die hübschen blonden Mädchen, an deren Reizen er sich täglich erfreute, dann kam ein Lob für die prächtigen Informationen, die er durch Xenia erhalten hatte. Den Abschluß bildete die Vereinbarung eines Treffpunktes, wo Xenias Schiff auf die Galeere des türkischen Admirals oder seines Vertreters warten sollte. 156
Xenias Schiff, eine venezianische Karracke, die „Santa Catarina“ hieß, sollte am 29. Mai 1535 in einer Bucht in der Nähe der Ortschaft Otranto auf das Türkenschiff warten. Heute war der 25. Mai, ich hatte also genügend Zeit, um die „Santa Catarina“ einzuholen, die ja nach Xenias Angaben vor wenigen Stunden in See gegangen war. Ich nahm die Briefe an mich. Dann sah ich mich nochmals in Xenias Zimmer um. Ich suchte nach Hinweisen, die mir einen Anhaltspunkt über ihre Herkunft gegeben hätten. In einer Lade fand ich ein rundes Plättchen, das mich irgendwie an einen Jeton erinnerte, wie man ihn in Spielkasinos verwendet. Er war halb durchsichtig, karminrot, und fühlte sich angenehm warm an. Völlig unverständliche Zeichen waren auf beiden Seiten zu sehen. Ich steckte das Plättchen ein und suchte weiter. Ich entdeckte noch etwas: Ein Bild, das Xenia in ihrer wirklichen Gestalt zeigte. Sie war mit einem merkwürdigen Anzug bekleidet, und im Hintergrund war ein bizarr geformtes Gebäude zu sehen, das aus einem SF-Film zu stammen schien. Das Material des Bildes war mir unbekannt. Irgendwie fühlte es sich wie eine Alufolie an. Ich faltete eine Ecke und strich sie glatt. Keine Falzstelle war mehr zu sehen. Ich knüllte das Bild zusammen und glättete es wieder. Kopfschüttelnd steckte ich auch das Bild ein. 157
Über eine Stunde suchte ich weiter, doch ich fand nichts Interessantes. Als ich Carlo Tribolos Zimmer betrat, sah ich, daß der Gnom zu Boden gefallen war. Als ich mich über ihn beugte, bemerkte ich die Blutlache, in der sein Oberkörper lag. Ich wälzte ihn auf den Rücken. Sein Gesicht war entspannt. Ein paar Sekunden starrte ich in das Gesicht des Toten, der mit den Ereignissen nicht fertig geworden war und freiwillig aus dem Leben geschieden war. „Armer Kerl“, sagte ich leise. Ich löschte die Öllampen aus und verließ das Haus durch den Hintereingang. Auf dem Weg nach Hause überlegte ich mir meine nächsten Schritte. Als ich mein Schlafzimmer betrat, hatte ich meinen Plan mehrmals geändert und ging ihn nun nochmals durch.
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14.
Ich war ziemlich sicher, daß mir Paolo Molza weiterhelfen konnte. Er schien über die notwendigen Verbindungen zu verfügen, die mir nun von Nutzen sein würden. Mit Albinas Hilfe verwandelte ich mich rasch in die schöne Baronesse Cernelia von Hohenstein. Marco begleitete mich zu Molzas Haus, das wir schneller zu Fuß als mit der Gondel erreichen konnten. Kein Mensch war um diese Zeit – es war etwa drei Uhr – unterwegs. Mein Diener betätigte einige Male den Türklopfer, und nach kurzer Zeit war eine keifende Stimme zu hören, die wilde Verwünschungen ausstieß, als die Türklappe geöffnet wurde. „Hör mit dem Fluchen auf“, sagte ich scharf. „Ist der Conte di Molza zu Hause?“ „Ja“, sagte der Diener. „Ja.“ „Melde ihm, daß Cornelia von Hohenstein ihn sprechen will.“ Der Bursche riß die Tür auf, verbeugte sich und bat mich einzutreten. Ich nahm auf einem Sessel Platz. Marco blieb neben mir stehen und gähnte ungeniert. Der Diener rannte die Treppe hoch, und kurze Zeit später erschien Paolo Molza. Sein Haar war zerrauft, doch er sah überraschend frisch aus. Er mußte sich blitzschnell angezogen haben, denn seine Kleidung war korrekt. 159
„Guten Abend, Baronesse“, sagte er freundlich. „Was verschafft mir die Ehre Eures Besuches zu dieser ungewöhnlichen Stunde?“ Ich stand auf. „Ich muß dringend mit Euch sprechen, Conte.“ „Kommt bitte mit“, sagte er. Wir betraten einen kleinen Raum. Der Diener entzündete einige Öllampen, und wir nahmen Platz. „Versteht Ihr griechisch, Conte?“ „Ja, ich kann es auch gut lesen.“ „Dann seht Euch einmal diese Briefe an“, sagte ich. Während er den ersten Brief las, trat der Diener ein und stellte ein Tablett mit Kuchen, Brötchen, Käse und kaltem Huhn auf den Tisch. Dann brachte er Wein, Wasser und eine Schüssel Suppe. Ich blickte Molza an. Der junge Graf begann immer rascher zu lesen. Sein Gesicht blieb unbewegt, nur einmal hob er den Kopf und blickte mich verwirrt an, las aber sofort weiter. „Diese Briefe erklären einiges, Baronesse“, sagte er und legte sie auf den Tisch. „Woher habt Ihr sie?“ „Das ist eine lange Geschichte“, sagte ich. „Bitte greift zu, Baronesse“, sagte er und wies auf das Tablett mit den Speisen. „Darf ich Euch ein Glas Wein einschenken?“ „Ein Glas Wasser wäre mir lieber.“ Er reichte mir ein Glas, und ich trank einen Schluck. 160
„Wer seid Ihr wirklich?“ fragte er und blickte mich gespannt an. Ich lächelte schwach. Nun mußte ich ihm einige Lügen auftischen. Natürlich hätte ich ihn hypnotisieren können, aber das half mir in diesem Fall nicht. Ich mußte ihn auch so überzeugen können, daß ich die Wahrheit sprach. „Ich will ehrlich zu Euch sein“, sagte ich, „und ich erwarte das gleiche von Euch, Conte.“ Er nickte. „Ich bin eine Spionin“, sagte ich. „Das habe ich vermutet“, meinte er. „Ich bin im Auftrag Karl V. unterwegs“, log ich. Diese Behauptung konnte er kaum überprüfen. „Es ist bekannt, daß verschiedene geheime Angelegenheiten den Türken mitgeteilt wurden. Im Rat der Zehn muß sich ein Verräter befinden. Es war meine Aufgabe, diesen Verräter zu finden. Um es ehrlich zu sagen, ich entdeckte ihn zufällig. Ihr wißt, an wen die Briefe von Chair Ad Din gerichtet sind?“ „An Xenia, Carlo Tribolos Weib.“ „Richtig. Xenia bekam von Tribolo alle geheimen Informationen, die im Rat besprochen wurden. Sie war über alle Pläne der Republik bestens informiert und gab diese Nachrichten an den türkischen Admiral weiter. Sie ließ die Kurtisanen rauben, die sie Chair Ad Din als Geschenk zukommen ließ.“ „Wie habt Ihr das in so kurzer Zeit erfahren 161
können?“ wunderte er sich. „Das ist im Augenblick unwichtig, Conte. Carlo und Xenia Tribolo stellen keine Gefahr mehr da, denn beide sind tot.“ „Tot? Aber das ist doch…“ „Glaubt Ihr an Dämonen, Conte?“ „Was soll diese Frage, Baronesse?“ „Beantwortet mir meine Frage!“ „Ich habe auf meinen Reisen einige seltsame Dinge erlebt und Geschöpfe gesehen, die mir äußerst unheimlich waren. Wenn Ihr wollt, dann kann ich Eure Frage mit Einschränkungen bejahen.“ „Xenia war eine Dämonin“, sagte ich. „Mir blieb keine andere Wahl, als sie zu töten. Wenn Ihr in Tribolos Haus gehen werdet, dann findet Ihr den Beweis für meine Behauptung. Carlo Tribolo schied freiwillig aus dem Leben. Er konnte die Schande nicht verkraften.“ Ein paar Sekunden starrte mich Paolo Molza schweigend an. „Ich würde vorschlagen, Conte“, sagte ich schließlich, da mir sein Schweigen auf die Nerven ging, „daß Ihr ein paar Ratsmitglieder verständigt und mit diesen dann zu Tribolos Haus geht.“ „Das werde ich sofort tun, Baronesse.“ „Einen Moment noch, Conte. Ihr wollt heute in See stechen. Wohin soll die Reise nun wirklich gehen?“ „Ihr vermutet richtig, Baronesse. Ich soll auf eine Erkundungsfahrt gehen und die Türken beobachten.“ 162
„Was habt Ihr für ein Schiff, Conte?“ „Eine venezianische Karracke. Sie ist das modernste Schiff Venedigs.“ „Könntet Ihr Xenias Schiff, die ,Santa Catarina’, einholen?“ Er lächelte. „Das dürfte keine Schwierigkeit bereiten. Ich verstehe, worauf Ihr hinauswollt. Ich soll dem Schiff folgen und die Mädchen befreien.“ „Ich würde sogar noch weitergehen, Conte. Ihr sollt nicht nur die Mädchen befreien, sondern auch das türkische Schiff vernichten, das die Mädchen an Bord nehmen soll.“ Er runzelte kurz die Stirn, dann lächelte er wieder. „Euer Vorschlag ist sehr interessant. Ich werde ihn dem Rat vorlegen und ihn unterstützen.“ „Noch eines, Conte. Ich möchte auf Eurem Schiff mitfahren.“ „Das ist ein ungewöhnlicher Wunsch, Baronesse. Es wird zu einem Kampf kommen, der…“ „Ich bin an Kampf gewöhnt“, sagte ich. Er blickte mich zweifelnd an. „Habt Ihr vom Entführungsversuch von Nana Garziani gehört, Conte?“ „Ja, da hattet Ihr auch die Hände mit im Spiel. Ihr schicktet der Kurtisane einen Söldner. Er hieß Cosimo Zoppino, wenn ich nicht irre.“ „Richtig, Conte. Dieser Cosimo Zoppino war ich!“ „Das ist doch…“ 163
Mit einem Ruck riß ich mir die Perücke vom Kopf. Seine Augen weiteten sich vor Überraschung, und seine Kinnlade fiel herunter. „Ich verkleidete mich als Mann“, sagte ich und zog den Bart hervor, den ich mir aufklebte, dann stand ich auf und drückte mir ein Barett auf den Kopf, das auf einem Sessel lag. Einen Augenblick ruhte sein Blick auf meinem gewaltigen Busen. „Mein Busen war ein Problem“, sagte ich nun mit veränderter Stimme, „das ich aber auch löste. Ich versteckte ihn hinter einem Brustharnisch!“ „Das ist ja unglaublich“, sagte er, als ich den Bart und das Barett abnahm und mir die blonde Perücke aufsetzte. „Ich hoffe, Ihr seid nun davon überzeugt, daß ich an Kampf gewöhnt bin. Und nun geht, Conte.“ Während sich Paolo Molza zu den Ratsmitgliedern begab, traf ich meine Vorbereitungen für die Reise. Ich würde als Cornelia von Hohenstein auftreten, doch ich hatte keine Lust, an Bord des Schiffes in den schweren und äußerst unhandlichen Kleidern herumzulaufen. Die Männermode war da viel praktischer. Die Strumpfhosen hatte ich zu schätzen gelernt, als ich mich als Mann verkleidet hatte. Ich wollte einige mitnehmen, dazu noch Wamse, Hemden, Westen und Mäntel. 164
Mein Schwert war bei dem Kampf mit Xenia in Trümmer gegangen, ich mußte mir ein neues besorgen. Ich schickte Marco zu einem Waffenschmied. Nach einer halben Stunde erschien mein Diener mit einer gewaltigen Kollektion von Schwertern und Degen, und ich suchte mir ein schmales, prachtvoll verziertes Schwert aus, das gut in der Hand lag. Danach kleidete ich mich für die Fahrt zum Schiff an. Ich war ganz sicher, daß mich Paolo Molza mitnehmen würde. Eine Stunde nach Sonnenaufgang kam Paolo Molza in Begleitung eines älteren Mannes zu mir, der Patrizio Varchi hieß und ein Capo des Rats der Zehn war. „Ich bin gekommen, Baronesse“, sagte Varchi, „um Euch im Namen der Republik zu danken für alles, was Ihr getan habt.“ „Habt Ihr das Monster in Tribolos Haus gefunden?“ „Ja“, sagte Molza. „Es war grauenvoll.“ „Wir wären Euch sehr verbunden, Baronesse“, sprach das Ratsmitglied weiter, „wenn Ihr darüber schweigen würdet, daß Xenia ein – Ungeheuer war.“ „Ich werde darüber schweigen“, versprach ich. Ich war froh, als Varchi endlich ging. „Nun, Conte, hat Euch der Rat erlaubt, mich auf Eure Reise mitzunehmen?“ „Ja, ich habe die Erlaubnis dazu. Wollt Ihr wirklich mitkommen?“ 165
„Natürlich“, antwortete ich. „Ich habe schon meine Sachen gepackt. Wann fahren wir los?“ „Wir können sofort losfahren. Eine Gondel wird uns zum Markusplatz bringen, und von dort geht es dann mit einer Barkasse weiter.“ Marco trug mein Gepäck in die Gondel. Leonardo wollte unbedingt mitkommen, doch ich verbat es dem Kater. Beleidigt verschwand er in der Küche.
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15.
Mit einer von zwanzig Männern geruderten Barkasse fuhren wir zum Lido. Von dort aus ging es mit einer Kutsche weiter zum Ostufer, wo sich damals der Hafen befand. Ein paar Handelsschiffe waren zu sehen. Auf den Kais türmten sich die Waren aus dem Osten, die Venedigs Reichtum begründet hatten. Aber ich wußte, daß es nicht mehr lange dauern würde, und Venedigs Reichtum und Macht würden schwächer werden. Aber noch war es nicht soweit. Wir bestiegen ein kleines Boot und wurden zu Paolo Molzas Schiff, der „Campania“, gerudert. Ich verstand überhaupt nichts von Segelschiffen, fand die Karracke aber wunderschön. Sie war etwa dreißig Meter lang und vielleicht zehn Meter breit. Später erklärte mir Paolo Molza einiges, und ich erfuhr, daß die „Campania“ ein Toppsegel, Sprietsegel und einen weiteren Besan, den Bonaventura-Besan, hatte. Sie war auf jeder Seite mit 24 Geschützen bewaffnet, die ziemlich klein und leicht waren. Jedes ve nezianische Schiff mußte mit einem Überfall der türkischen Piraten rechnen, deshalb waren alle stark bemannt und bewaffnet. Fasziniert blickte ich mich um, als ich an Bord kletterte. Die Seeleute waren einfach gekleidet mit Hosen und Blusen, und die meisten waren barfuß. Es waren grimmig 167
aussehende Gestalten, die mich ziemlich lü stern anstarrten. Der Conte brüllte den Männern einige Worte zu. Ein paar der Wörter verstand ich, doch es waren einige darunter, deren Bedeutung ich nicht kannte. Interessiert sah ich den Männern zu, die das Schiff zum Auslaufen klar machten. Dann wurde der Anker gelichtet, und der Graf brüllte weiter seine Befehle, die vollgespickt mit Fachausdrücken waren, die mir überhaupt nichts sagten. Segel wurden gesetzt, und das schwere Schiff setzte sich in Bewegung. Die Segel blähten sich, und das Schiff sprach auf den Windzug an und glitt aufs offene Meer hinaus. Ich drehte mich um und starrte zurück zum Hafen, der rasch kleiner wurde. Molza beobachtete nun das Kielwasser und die Segel, nickte zufrieden und kam zu mir. „Der Wind ist stetig“, sagte er zufrieden. „Ich zeige Euch jetzt Eure Kabine, Baronesse.“ Ich bewegte mich unsicher. Das Schlingern und Stampfen des Schiffes war höchst ungewöhnlich für mich. Hoffentlich wurde ich nicht seekrank. „Ihr dürft nicht viel erwarten, Baronesse“, sagte er, als er mich zur Kajüte führte, „es ist alles sehr einfach, ja fast primitiv an Bord.“ Es dauerte ein paar Minuten, bis ich mich an das düstere Licht in der Kajüte gewöhnt hatte, die überaus klein war. Ein festgeschraubter Tisch, eine Seekiste, ein Spiegel und darunter 168
ein Waschbecken, eine Schwingkoje, das war die einfache Einrichtung. Irgend jemand hatte bereits mein Gepäck in die Kajüte gebracht. „Hoffentlich seid Ihr nicht zu enttäuscht, Baronesse“, meinte er besorgt. Ich lächelte. „Ich finde es sehr hübsch. Nun laßt mich aber bitte allein, ich möchte mich umziehen.“ Als er gegangen war, verstaute ich meine Kleider in der Seekiste. Dann schlüpfte ich aus meinem Kleid und legte Männerkleidung an. Am liebsten hätte ich die Perücke abgenommen, aber ich genierte mich ein wenig wegen meines schlecht geschnittenen kurzen Haares. Als ich auf Deck erschien, eilte der Conte auf mich zu. Dann stellte er mir einige seiner Offiziere vor, die mich alle neugierig betrachteten. Meine Kleidung war für eine Frau ganz und gar ungewöhnlich, und ich hörte, wie die Matrosen miteinander tuschelten, kicherten und mir scheue Blicke zuwarfen. „Männerkleidung steht Euch ausgezeichnet, Baronesse“, sagte der Conte grinsend. „Vor allem ist sie an Bord eines Schiffes bequemer als die langen Röcke.“ Ich blickte über das Meer. Ein paar Möwen begleiteten uns. Der stärker auffrischende Wind zerrte an meiner Perücke. Nun hatte ich mich auch schon an das merkwürdige Schlingern des Schiffes gewöhnt und war höchst zufrieden, daß sich mein Magen nicht 169
rührte. Meine Angst vor der Seekrankheit war anscheinend unbegründet gewesen. Molza zeigte mir voller Stolz das Schiff. Er erklärte mir alles detailliert, doch zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich mir nicht viel davon merkte. Das Mittagessen wurde in der Offiziersmesse serviert. An Bord mußten sich ein paar gute Köche befinden, denn das Essen war ausgezeichnet, vor allem, da es viel weniger als normal gewürzt war. Anfangs war die Stimmung eher gedrückt. Keiner der Offiziere wußte so richtig, wie er sich mir gegenüber verhalten sollte. Doch nach kurzer Zeit änderte sich das. Sie legten ihre Zurückhaltung ab. Nach dem Essen betrat ich das Achterdeck und spazierte hin und her. Molza war mit seinen Offizieren noch in der Messe geblieben. Er wollte ihnen sagen, was er vorhatte und mit seinen Leuten einen Plan entwickeln. Danach gesellte sich Paolo zu mir. Und nun bestürmte er mich mit Fragen. Ich mußte ihm alles ganz genau schildern. Meist hielt ich mich an die Wahrheit, doch einige Dinge unterschlug ich ihm. Über den Kampf mit dem schlangenartigen Monster sagte ich nur wenig. Aber ich warnte ihn vor den Untoten, denn möglicherweise befanden sich ein paar auf der „Santa Catarina“. Wir blieben den ganzen Nachmittag auf dem Achterdeck. Ich genoß die würzige Luft und die Sonne. Nach dem Abendessen blieb ich nur kurze 170
Zeit in der Messe, da jede Faser meines Körpers nach Schlaf gierte.
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16.
Das Wetter blieb weiterhin gut. Für mich waren es schöne Stunden. Die Strapazen der vergangenen Tage waren fast zu viel für mich gewesen, doch jetzt hatte ich mich wunderbar erholt. Nur Paolo Molzas Verhalten und das seiner Offiziere ging mir ein wenig auf die Nerven. Sie schlichen wie liebeshungrige Kater um mich herum und überschütteten mich mit Komplimenten, die ich anfangs ja als recht vergnüglich empfunden, von denen ich aber jetzt die Nase voll hatte. Aber sonst fand ich keinen Grund zur Klage. Das Essen war gut, und an meine kleine Kajüte hatte ich mich auch gewöhnt. Am frühen Nachmittag des 28. Mai 1535 erreichten wir die Straße von Otranto und segelten an Brindisi und San Cataldo vorbei. Nun waren alle Offiziere an Deck versammelt. Alle starrten angestrengt zur Küste hin. Molzas Plan war höchst einfach. Er wollte die Küste entlangsegeln und hoffte die Bucht zu entdecken, in der die „Santa Catarina“ in der Nacht das Schiff der Dämonin überfallen würde. Auch ich lehnte nun an der Reling und blickte zur Küste hinüber. Das Schiff verlangsamte seine Fahrt. Und dann sahen wir die „Santa Catarina“! Sie lag in einer kleinen Bucht vor Anker. Sie 172
war um einiges kleiner als die „Campania“ und über zwanzig Jahre älter. Sie war nur mit wenigen Geschützen ausgerüstet und eher unterbemannt. Ein paar Minuten später war der kleine Ort Otranto zu sehen, vor dem wir vor Anker gingen. Molza schickte ein Beiboot an Land. Ein paar seiner Leute sollten in die Bucht schleichen, in der die „Santa Catarina“ lag und die Karracke beobachten. Molza schickte die Männer schlafen, die während der Nacht den Überfall auf die „Santa Catarina“ durchführen sollten. Er hatte sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, daß ich an dieser nächtlichen Expedition teilnahm, doch schließlich hatte er sich umstimmen lassen. Auch ich ging in meine Kajüte und schlief ein paar Stunden. Die Stimmung unter der Mannschaft und den Offizieren war gut. Alle gierten dem Kampf entgegen. Ihr Haß auf die Besatzung der „Santa Catarina“ war mir verständlich. Die Türken waren seit vielen Jahren die Todfeinde Venedigs. Immer wieder war es zu Ausein andersetzungen mit ihnen gekommen. Noch war nicht entschieden, wer die Herrschaft über das Mittelmeer behalten würde. Ich hätte es ihnen sagen können. Die gewaltige Seeschlacht im Jahr 1571 vor Lepanto brachte die Wende. Diese Schlacht wurde zum Wendepunkt der Geschichte 173
Europas. Eine Flotte unter der Führung Don Juans de Austria, die Schiffe aus Spanien, Venedig und dem Kirchenstaat vereinte, traf am 7. Oktober auf die Flotte der Türken unter Ali Pascha. Die Türken wurden vernichtend geschlagen. Aber wie gesagt, im Augenblick war noch nichts entschieden. Die Türken schienen im Augenblick die stärkste Flotte im Mittelmeerraum zu haben. Die Besatzung der „Santa Catarina“ wurde noch verächtlicher als die Türken betrachtet, waren sie doch Verräter an ihren eigenen Landsleuten. Ich wußte, daß es für die Leute der „Santa Catarina“ keine Gnade geben würde. Ich war bei der Abschlußbesprechung in der Messe zugegen, an der auch einige Bootsleute teilnahmen, die dann ihre Leute informieren sollten. Der Angriff sollte eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang beginnen. Es wurde geschätzt, daß wir etwa eine Stunde brauchen würden, bis wir die „Santa Catarina“ erreichten. Kurz vor Sonnenaufgang sollte die „Campania“ die Anker lichten, zur Bucht fahren und in den Kampf eingreifen, falls es notwendig sein sollte. Nach der Besprechung ging ich in meine Kajüte. Das Schwert und den Dolch befestigte ich am Gürtel, dann trat ich auf Deck. Die ersten Boote wurden ins Wasser gesetzt. Die Männer waren hauptsächlich mit 174
Streitkolben und Krummschwertern bewaffnet. Strickleitern und Taue wurden in die Boote geworfen. Ich kletterte die Strickleiter hinunter, und feste Hände griffen nach mir und zogen mich in das Boot, in dem bereits Paolo Molza und acht Männer Platz genommen hatten. Ich ließ mich auf den Bodenbrettern nieder. Als alle Boote bemannt waren, erteilte Molza den Befehl zum Ablegen. Die Männer legten sich in die Riemen, und das Boot schoß über das ruhige Meer. Es war eine zauberhafte Frühlingsnacht, der Himmel war blauschwarz und wolkenlos. Die Sicht war gut, viel zu gut für unser Vorhaben. Kurz bevor wir die Bucht erreichten, legten wir eine kurze Pause ein. Die Männer umwickelten die Ruder mit Tüchern. Dann ging es weiter. Kein Wort war zu hören, nur das Knirschen der Boote und das Eintauchen der Riemenblätter war zu vernehmen. Ich hob den Kopf und blickte angestrengt über das Wasser. Dann sah ich die „Santa Catarina“. Rasch wurde das Schiff größer. Die Ruderer bemühten sich, nun keinerlei Geräusche zu verursachen. Schließlich hatten wir das Schiff erreicht, auf dem alle zu schlafen schienen. Ein paar Männer kletterten geschickt wie Affen die Ankerkette hoch, andere turnten, von einer Verzierung zur anderen greifend, wie Kletterer in einer Bergwand hoch. 175
Und dann fielen die ersten Strickleitern herunter. Ich stand auf und griff nach einer, zog mich hoch und begann zu klettern. Ich schwang ein Bein über die Galerie und glitt über die Reling an Bord des Schiffes. Ein paar dunkle Gestalten waren zu sehen, das waren unsere Männer. Immer mehr Männer strömten an Deck. Ein paar glitten auf das Heck zu. Irgendwo schien sich aber doch ein Wachtposten befunden zu haben, denn ich hörte einen lauten Warnschrei. „Alarm!“ brüllte eine Stimme. „Wir werden…“ Ein Schrei hallte schaurig über das Deck. Einige Männer stürmten aus den Kajüten. Die ersten Kämpfenden waren zu sehen. Immer lauter wurde das Geklirr der aufeinanderprallenden Waffen. Stöhnen und wilde Schreie waren zu hören. Ich hatte mein Schwert gezogen und arbeitete mich zu den Kajüten hin, aus denen immer mehr Männer stürmten. Und dann bemerkte ich die charakteristische Ausstrahlung. Unter der Besatzung der „Santa Catarina“ befanden sich einige Untote. Geduckt lief ich weiter. Ich wunderte mich, daß die Kämpfenden zwischen Feind und Freund unterscheiden konnten. Ein dunkel gekleideter Untoter vertrat mir den Weg. In seiner rechten Hand funkelte ein Schwert. Ich wehrte seinen Hieb ab, wirbelte herum und versuchte, ihn am Kopf zu treffen, doch der Untote duckte sich geschickt, und mein Hieb traf nur seinen linken Oberarm. 176
Nun stach er nach mir, und im letzten Augenblick konnte ich sein Schwert zur Seite stoßen. Ein dunkler Schatten erschien plötzlich hinter dem Untoten, ein Krummschwert trennte ihm den Kopf vom Rumpf. Ich sprang über den endgültig Toten hinweg und erreichte die Kajüte. Ich hatte Angst um die drei gefangenen Kurtisanen. Möglicherweise hatte der Kapitän den Befehl gegeben, die Mädchen zu töten, damit sie nichts mehr ausplaudern konnten. Als mir wieder ein Untoter den Weg verstellte, huschte ich in die andere Zeitdimension, lief an ihm vorbei und betrat die schmale Treppe, die ins Schiffsinnere führte. Ich kam an drei Mannschaftskajüten vorbei, die leer waren. Am Ende des schmalen Ganges sah ich einen Lichtschimmer, der aus einer offenstehenden Tür fiel. Die drei gesuchten Mädchen waren in der Kajüte. Ihre Handgelenke steckten in eisernen Spangen, die, mit Ketten verbunden, in der Wand befestigt waren. Eines der Mädchen erkannte ich sofort. Es war Elenora Gonzala. Die beiden anderen waren mir unbekannt. Vor der nackten Elenora stand ein Untoter, der seine linke Hand in ihr Haar verkrallt hatte. In der rechten hielt er einen gekrümmten Dolch, zum Stoß erhoben. Meine Vermutung war richtig gewesen, ich war gerade noch rechtzeitig gekommen. 177
Ich verblieb noch immer in der anderen Zeitebene und trat an den Untoten heran. Ich packte ihn und zerrte ihn ein paar Meter zurück. Danach postierte ich mich genau hinter ihm und rutschte in die normale Zeitebene. Ich hörte Elenora schreien, als der vom Schwert getroffene Untote zu Boden stürzte. Die Mädchen starrten mich verblüfft an. „Danke, wer immer Ihr seid“, keuchte Elenora Gonzala. „Ihr habt uns das Leben gerettet.“ Ich nickte ihr flüchtig zu und sah mir die Ketten an, die nicht sonderlich stark waren. Mit drei Schwerthieben schlug ich sie auseinander, dann befreite ich auch die anderen Mädchen von ihren Fesseln. „Haltet still“, sagte ich und kniete neben Elenora nieder. Ich strich über die Spangen, und Sekunden später ließen sie sich öffnen. „Danke“, hauchte sie wieder. „Danke.“ Sie streckte mir die Hände entgegen. Den Ring, den ich suchte, trug sie nicht. Als ich die anderen Spangen gelöst hatte, griff ich nach dem Schwert und stand auf. „Ihr bleibt hier“, sagte ich und verließ die Kajüte. Ich trat an Deck. Langsam wurde es hell. Der Kampf war aber noch immer nicht zu Ende. Vor allem die Untoten setzten sich erbittert zur Wehr. Ich kehrte zu den Mädchen zurück, die hemmungslos schluchzten. Eines der Mädchen 178
wurde von einem Weinkrampf geschüttelt. „Wo befindet sich Euer Schmuck, Donna Elenora?“ „Ihr kennt mich?“ fragte sie verwundert. „Ich habe Euer Bild bei Tizian gesehen. Wo ist Euer Schmuck?“ „Ich weiß es nicht. Der Kapitän hat ihn an sich genommen.“ Als ich Schritte hörte, lief ich zur Tür. Zwei von Molzas Leuten kamen auf mich zu. „Hier ist alles in Ordnung“, rief ich ihnen zu. „Geht zurück auf Deck.“ Ich folgte ihnen und blieb auf der schmalen Treppe stehen. Der Kampf war vorüber. Die Sonne ging strahlend auf, und ich blickte über das Deck und wandte mich schaudernd ab. Molzas Leute hatten unbarmherzig unter der Besatzung der „Santa Catarina“ gewütet. Paolo Molza kam auf mich zu. Sein Wams war zerrissen, er blutete aus einer Schulterwunde, und Blut war an seinem Schwert. „Ich habe die Mädchen befreit“, sagte ich. „Sie sind unverletzt. Besorgt mir einige Kleider für sie, denn sie sind alle drei nackt.“ Die Kleider der Kurtisanen fanden sich in einer Truhe in der Kapitänskajüte. Zwei Seeleute schleppten die Truhe zu den Kajüten hinunter. „Zieht euch an“, sagte ich. Ihre Dankbarkeitsbezeugungen machten mich nervös. Eines der Mädchen ergriff meine Hand und küßte sie. Rasch verließ ich den 179
Gang und betrat die Kapitänskajüte, in der sich bereits Molza und zwei seiner Offiziere befanden, die alle Laden, Schränke und Tru hen durchsuchten. Molza fand das Schreiben Kenias, das an Chair Ad Din adressiert war. Er brach das Siegel auf, las den Brief und schob ihn dann in seinen Gürtel. Einer der Offiziere stellte eine Schmuckkassette auf den Tisch und öffnete sie. Gespannt trat ich näher. Unwillkürlich atmete ich erleichtert auf, als ich den Ring sah, den ich suchte. Der intensiv leuchtende Stein war unverkennbar ein Lapislazuli. „Das dürfte der Schmuck der Mädchen sein“, sagte ich möglichst gleichgültig. „Nehmt den Schmuck an Euch, Baronesse“, sagte der Graf. Ich griff nach der Schatulle und verließ die Kajüte. Die Seeleute warfen die Toten ins Wasser. Nun war auch die „Campania“ zu sehen, die rasch näherkam. Die drei Kurtisanen betraten das Deck und liefen auf mich zu. Deutlich waren ihnen die Schrecken der vergangenen Wochen anzumerken. „Sagt uns endlich Euren Namen“, bat Elenora Gonzala. „Ich bin Cornelia von Hohenstein. Euch kenne ich bereits, Donna Elenora.“ „Das ist Alteria Gentile“, sagte Elenora und 180
blickte ein Mädchen an, das klein und zierlich war. „Flavia Sala“, stellte sich die andere selbst vor. Auch sie war blond, doch ein ganz anderer Typ, eher dem einer strammen Germanin entsprechend. „Ich glaube, daß in dieser Schatulle Euer Schmuck ist.“ Ich hielt Elenora das kleine Kästchen hin und öffnete den Deckel. „Ja, das ist er“, sagte sie. „Ich schenke ihn Euch, Baronesse.“ „Meinen könnt Ihr auch haben“, sagte Alterina. „Meine Schmuckstücke gehören auch Euch, Baronesse“, sagte Falvia rasch. „Das kann ich nicht annehmen“, erwiderte ich entschieden. „Bitte“, sagte Elenora, „Ihr habt uns das Leben gerettet, Baronesse. Wenn ihr nicht gekommen wärt, dann…“ „Ich mache mir nichts aus Schmuck, meine Lieben“, sagte ich. Sie blickten mich enttäuscht an. „Aber ich werde mir ein Schmuckstück aussuchen, das mich an Euch immer erinnern wird.“ Ich wühlte in den Ringen, Armreifen, Ohrgehängen, Broschen und Ketten herum. Dann zog ich den Ring mit dem unwahrscheinlich blauen Stein hervor. „Diesen Ring nehme ich als Andenken an mich“, sagte ich, reichte Elenora die 181
Schmuckschatulle und steckte mir den Ring an den rechten Ringfinger. Er paßte, als ob er für mich angefertigt worden wäre. Paolo Molza wurde von den Mädchen herzlich begrüßt. Auch einige seiner Offiziere kannten sie. Vermutlich hatten einige der Herren intime Beziehungen zu den Mädchen gehabt, die Begrüßung sprach dafür. Ich trat zur Seite und betrachtete den Ring, dessentwegen ich in das Italien der Renaissance gekommen war. Es war viel schwieriger gewesen, ihn zu erhalten, als ich erwartet hatte. Aber nun hatte ich ihn trotz aller Schwierigkeiten bekommen, und ich konnte ins 20. Jahrhundert zurückkehren. Molza riß mich aus meinen Gedanken. Wir mußten an Bord der „Campania“ gehen. Jeden Augenblick konnte die türkische Galeere auftauchen. Ein Teil von Molzas Besatzung sollte auf der „Santa Catarina“ bleiben und den Feind in eine Falle locken. Die „Santa Catarina“ würde aus der Bucht herausfahren und in der Nähe des Ufers vor Anker gehen, während die „Campania“ sich in der Bucht verstecken soll te. Sobald die Galeere sich auf Schußweite der „Santa Catarina“ genähert hatte, würde der Kampf beginnen. Ich kletterte in ein Boot, und die Kurtisanen folgten mir. „Erzählt, wie es Euch ergangen ist, Donna Elenora“, bat Paolo Molza, der als letzter ins Boot gestiegen war. „Ich wurde in meinem 182
Haus überfallen“, berichtete sie. „Aber das ist ja bekannt. Die Männer fesselten und knebelten mich und trugen mich zu einer Gondel. Ich erkannte das Haus, in das sie mich brachten. Es war der Palazza von Carlo Tribolo. Ihn bekam ich nie zu Gesicht, doch seine Frau besuchte mich im Keller. Ich flehte sie an, daß sie mich freilassen solle, doch sie lachte mich nur aus. Ich bot ihr mein Vermögen an, doch an Geld war sie nicht interessiert. Dann sagte sie mir, was sie mit mir vorhatte. Ich sollte im Harem eines Türken landen. Sie wollte mich ihm zum Geschenk machen. Vor ein paar Tagen kam sie wieder, und zwei ihrer unheimlichen Diener fesselten mich und steckten mich in eine große Kiste. An Bord des Schiffes angekommen, holten sie mich aus der Kiste heraus und ketteten mich an. Dann kamen auch Flavia und Alteria. Kurz nachdem sich das Schiff auf See befand, kam der Kapitän zu uns. Er war ein Sadist, der uns verhöhnte und sich an unserer Furcht weidete. Es bereitete ihm ein teuflisches Vergnügen, zuzusehen, wenn sich seine Leute mit uns vergnügten. Gelegentlich kam er auch allein, verspottete uns und schilderte detailliert, was uns im Ha rem des Türken erwarten würde. Die vergangene Nacht trieben er und seine Leute es ganz besonders arg mit uns, Heute hätten wir ja an den Türken übergeben werden sollen, und sie wollten nochmals ihren Spaß mit uns haben.“ 183
Sie senkte den Kopf und atmete schwer. Ich konnte mir leicht vorstellen, was die Männer alles mit den drei Mädchen getan hatten. Als Kurtisanen mußten sie sicherlich einiges gewöhnt sein. Aber das, was sie in dieser Nacht erlebt hatten, war sogar für abgehärtete Dirnen zu viel gewesen. „Ich bin froh, daß sie alle tot sind“, sagte Flavia und begann zu weinen. „Sie waren Bestien, nichts Menschliches war an ihnen“, stieß Alteria hervor. „Sie haben den Tod tausendfach verdient.“ Wieder einmal, wie schon so oft, wunderte ich mich über die Menschen. Ich konnte sie nicht verstehen. Mir war es völlig unerklärlich, weshalb sie sich nicht vertrugen. Früher hatte ich vermutet, daß daran die Schwarze Familie schuld sei, doch das traf nur teilweise zu. Viele Menschen waren auch ohne den Einfluß von Dämonen zu Monstern geworden, denen es den größten Spaß bereitete, andere Menschen zu demütigen, zu quälen und auf die grausamste Art zu töten. Gerade in dieser Zeit begann die Inquisition Macht zu ge winnen. Und die Grausamkeiten, die im Namen Gottes begangen wurden, sprachen der christlichen Religion Hohn. Ich schreckte aus meinen trüben Gedanken hoch, als das Boot die „Campania“ erreichte. Wir kletterten daran hoch. Müde ging ich in meine Kajüte. Meine Müdigkeit war nicht körperlicher Natur – nein, mein Geist schien wie gelähmt zu sein. Ich 184
starrte den blauen Stein an und fragte mich, ob die Müdigkeit von ihm verursacht wurde. Als ich eine Stunde später an Deck ging, sah ich, daß bereits alles zum Kampf vorbereitet worden war. Die Geschütze waren feuerbereit, und die „Santa Catarina“ hatte die vereinbarte Position eingenommen. Alle warteten gespannt auf das Signal der „Santa Catarina“, mit der das Eintreffen der Galeere signalisiert werden sollte. Aber das ließ noch zwei Stunden auf sich warten. Nun begann eine hektische Betriebsamkeit an Bord. Männer liefen anscheinend völlig sinnlos hin und her. „Geht lieber in Eure Kajüte, Baronesse“, sagte Molza. Ich schüttelte den Kopf. Der Kampf interessierte mich nicht sonderlich, aber ich hätte es nicht einmal eine Minute in der Kajüte ausgehalten. Die „Campania“ glitt langsam aus der Bucht heraus und auf die „Santa Catarina“ zu. Von der türkischen Galeere konnte ich nichts sehen. Vermutlich wurde sie von der „Santa Catarina“ verdeckt. Doch dann waren die ersten Kanonenschüsse zu hören. Die „Santa Catarina“ war in Rauch gehüllt und schien sich auf die Seite legen zu wollen. Weitere Schüsse waren zu hören. Die „Campania“ erreichte das offene Meer, und nun erblickte ich auch die Galeere. Sie war schmal und überraschend lang. Die Geschütze der „Santa Catarina“ hatten einen 185
Teil der Aufbauten der Galeere zerstört, und fast alle Ruder waren zerbrochen. Auf dem Deck des Türkenschiffes lagen unzählige Tote. Wieder krachte eine Breitseite in die Galeere. Holz und Menschen flogen hoch. Das schwer beschädigte Türkenschiff wollte fliehen, doch da war die „Campania“ heran und griff in den ungleichen Kampf ein. An Deck der Galeere sah ich Türken hin und her rennen, die alle mit farbenprächtigen Mänteln und Turbanen bekleidet waren. Molza brüllte einige Befehle, und die „Campania“ drehte bei. Dann bebte das Schiff. Eine Breitseite zerschmetterte die Galeere. Das Krachen der einschlagenden Kugeln, in das sich die Todesschreie der Türken mischten, war überlaut zu hören. Die „Campania“ bebte wieder. Rauchfetzen zogen zu mir her. Pulverträger rannten über Deck. Aber diese Hast war unnötig. Die Galeere war bewegungsunfähig und leck geschossen. Meiner Meinung nach konnte es nur wenige Minuten dauern, bis sie sinken würde. Doch die Geschütze schwiegen nicht. Schuß um Schuß wurde von der „Santa Catarina“ und der „Campania“ auf den hilflosen Feind abgegeben. Einige Türken sprangen ins Wasser und versuchten das rettende Ufer zu erreichen. Doch auch dieses Vorhaben wurde vereitelt. Ein paar Boote wurden den verzweifelt um ihr Leben schwimmenden Türken nachgeschickt. 186
Ich wandte mich ab. Diese sinnlose Metzelei wollte ich nicht mitansehen. Der Galeere warf ich noch einen kurzen Blick zu. Sie versank rasch im Meer. Das Gedröhne der Geschütze war verstummt, dafür waren laute Jubelschreie zu hören. Angeekelt wandte ich mich ab.
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17.
Am nächsten Tag war ich mit der „Santa Catarina“ unterwegs nach Venedig. An Bord befanden sich die drei Kurtisanen und etwa zwanzig Seeleute, die unter Eraldo Pisanos Kommando standen. Paolo Molza hatte seine Erkundungsfahrt fortgesetzt. Er wollte die Türken beobachten und versuchen zu erfahren, was sie vorhatten. Ich teilte mit Elenora Gonzala, mit der ich mich ein wenig anfreundete, eine Kajüte. Ihre Ansichten waren für mich manchmal höchst seltsam, aber recht interessant. Sie machte sich so ihre Gedanken über die Zeit, in der sie lebte, über die Menschen, die sie kannte, und sie sprach viel über Männer und ihre oft absonderlichen Wunschvorstellungen. Ich hörte ihr aufmerksam zu. Von ihr erfuhr ich in den paar Tagen, die wir zusammen auf dem Schiff verbrachten, mehr über die Re naissance, als ich es je aus Büchern hätte lernen können. Ihr Wissen, das sie an mich weitergab, nützte mir im Augenblick zwar nichts, aber vielleicht konnte es mir irgendwann einmal helfen. Flavia und Alteria hatten sich tadellos erholt, als wir in Venedig eintrafen. Mit einer Barkasse fuhren wir zum Markusplatz. Unser Eintreffen war bereits angekündigt worden, und eine große Menschenmenge erwartete uns.
In der Menge entdeckte ich einige bekannte
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Gesichter. Ein paar meiner Verehrer waren anwesend, und dann kam Pietro Aretino breit grinsend auf mich zu. Es war ein Spießrutenlauf. Hunderte Hände streckten sich uns entgegen, und Tausende Fragen wurden gestellt. Ich verabschiedete mich von den Mädchen und von Eraldo Pisano und atmete erleichtert auf, als ich Aretinos Gondel betrat. „Über Euch habe ich ja tolle Dinge gehört, Baronesse“, sagte er lächelnd. „Eure Abenteuer sollten eigentlich geheim bleiben, aber sie sind in aller Munde. Alles spricht von der mutigen Baronesse, die wie ein Mann zu kämpfen versteht und die Stadt von einem Dämon befreit hat.“ „Das ist alles sicherlich übertrieben.“ „Wie Ihr meint, Baronesse.“ Er lachte vergnügt. „Aber mich könnt Ihr nicht täuschen, ich weiß Bescheid, und ich muß Euch gestehen, daß Ihr einer der wenigen Menschen seid, der mir Bewunderung ab ringt.“ „Das will bei Euch einiges heißen“, sagte ich lächelnd, „da Ihr doch an keinem Menschen etwas Gutes laßt.“ Er hob abwehrend die Hände. „So bösartig bin ich nun auch wieder nicht. Ich bin froh, daß Ihr gesund zurückgekommen seid. Aber um es ehrlich zu sagen: ich platze vor Neugier. Wenn Ihr mich nicht sterben lassen wollt, dann gebt mir einen kurzen Bericht über Eure Erlebnisse, liebste Baronesse.“ 189
„Ihr seid neugierig wie ein altes Marktweib, Pietro“, stellte ich fest, dann mußte ich über sein erwartungsvolles Gesicht lachen. „Aber ich finde Euch trotz Eurer widerlichen Neugier nett. Und da ich Euch in mein Herz geschlossen habe, werde ich Euren Wunsch erfüllen, denn ich fürchte, daß es mir nicht gefallen würde, Euch platzen zu sehen.“ Ich gab ihm einen kurzen Bericht, und er hörte begierig zu. „Phantastisch“, sagte er mit leuchtenden Augen, als ich meine Erzählung beendet hatte. „Gestattet mir, Baronesse, daß ich Euch für heute abend zu einem kleinen Essen einlade?“ „Bei dem wieder halb Venedig versammelt sein wird?“ Er versuchte zerknirscht zu blicken, was ihm aber nicht gelang. „Ihr werdet der Ehrengast sein, verehrte Baronesse.“ Ich blickte ihn forschend an, dann erinnerte ich mich daran, wie sehr ich das Fest damals bei ihm genossen hatte. Warum sollte ich mir nicht noch einmal eine Freude bereiten, bevor ich in meine Zeit zurückkehrte? „Ich komme, Pietro“, sagte ich. In seinem Gesicht ging die Sonne auf. Albina und Marco begrüßten mich voller Freude. Leonardo reagierte bei meinem Auftauchen äußerst kühl. Er war noch immer beleidigt, da ich ihn nicht mitgenommen hatte. Doch als ich ihm beteuerte, wie sehr ich ihn vermißt hatte, spitzte er die Ohren, und 190
als ich dann noch davon sprach, daß es auf dem Schiff keine gezuckerte Milch gegeben hatte und auch keine Fische, war er schon halb versöhnt. Und als ich ihm dann versicherte, daß er der schönste Kater der Welt sei, hatte ich seine Zuneigung wieder gewonnen. Meine Zimmer waren voll mit Geschenken. Ein wenig war ich schon gerührt über die Zuneigung, die mir von allen Seiten zuströmte. Das war für mich etwas höchst Ungewöhnliches, denn im 20. Jahrhundert war ich innerhalb meiner Familie alles andere als beliebt. Besonders freute ich mich über ein prachtvolles Kleid, wie ich es nie zuvor gesehen hatte, das von Nana Graziani als Geschenk für mich ausgesucht worden war. Dieses Kleid wollte ich heute abend tragen. Ein anderes Geschenk gefiel mir ebenfalls. Es war eine besonders schöne Perücke, die mir höchst willkommen war, da die meine kaum mehr zu tragen war. Ich freute mich auf das Fest bei Pietro und benahm mich im Augenblick ziemlich albern und kindisch. Ich sang vergnügt und tanzte im Schlafzimmer herum. Albina half mir beim Ankleiden. Unter ihren geschickten Händen verwandelte sich die Perücke in ein kunstvolles Gebilde, in das sie Ketten und bunte Schleifen flocht. Als ich mich im Spiegel erblickte, kam ich mir umwerfend schön vor. 191
Es war schon dunkel, als Marco vor Aretinos Haus anlegte. Es war festlich erleuchtet, Musik und Gelächter waren zu hören. Zwei protzig gekleidete Diener halfen mir aus der Gondel und geleiteten mich zum Haus. Pietro empfing mich in der glasgedeckten Halle. Er sah farbenprächtig wie ein Pfau aus. Zu meiner Begrüßung kniete er fast nieder und drückte einen angedeuteten Kuß auf meine rechte Hand. Die meisten der Gäste kannte ich bereits. Ich freute mich sehr, daß auch Tizian und II Sansovino anwesend waren. Dann stürzte Nana Graziani auf mich zu, und ich bedankte mich für das Kleid. Auch Elenora Gonzala, Flavia Sala und Alteria Gentile waren erschienen und hübsch herausgeputzt. Aber ich lernte noch andere Kurtisanen kennen, die zur ersten Garnitur der Stadt gehörten. Für mich war es sehr verblüffend zu sehen, daß diese Dirnen – denn etwas anderes waren sie ja nicht – von den Frauen der reichen Adeligen und Kaufleute anstandslos akzeptiert wurden. In dieser Beziehung war Venedig ein Sonderfall. Akrobaten und meist maskierte Musikanten erfreuten die Gäste, und dann begann das Abendessen. Die Gerichte wurden unter Trompetenklängen hereingetragen. Zwischen den einzelnen Gängen traten Schauspieler und Sänger auf, und es wurden auch fleißig Reden geschwungen, die aber glücklicherweise sehr kurz gehalten waren. Ich stand im Mittelpunkt 192
der Ehrungen, unzählige Male wurde auf mich getrunken. Danach wurde getanzt, viel getrunken und viel gelacht. Irgendwann im Morgengrauen artete das Fest aber in eine ziemlich wüste Orgie aus. Einige der Mädchen hatten ihre Kleider abgelegt und tanzten nackt, und als ich die ersten Pärchen sah, die sich ungeniert liebkosten und sich der körperlichen Liebe hingaben, war es Zeit für mich zu gehen. Mein Kopf war schwer, als ich allein durch die stillen Gassen ging, und ich fühlte mich seltsam leer. Es wurde Zeit, daß ich in meine Zeit zurückkehrte…
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18.
Drei Tage blieb ich noch in Venedig. Die meisten der zahllosen Einladungen schlug ich aus. Am letzten Tag besuchte ich Tizian noch einmal. Ich blieb den ganzen Tag bei ihm. Seine ruhige Art und seine Schaffensfreude gefielen mir. In seiner Gesellschaft fühlte ich mich wohl. Ich ließ all meine Habseligkeiten in dem kleinen Haus in der Calle dei Fabri. Die Miete hatte ich für ein Jahr im voraus bezahlt. Marco und Albina bekamen von mir fast mein ganzes Geld, nur wenige Münzen behielt ich für mich. Ich sagte ihnen nicht, wohin ich gehen würde. Sollte ich nicht innerhalb eines Jahres zu rückgekommen sein, sollten sie alles verkaufen und den Erlös für sich behalten. Es war noch dunkel, als ich das Haus verließ. Wieder einmal hatte ich mich als Mann verkleidet. Leonardo folgte mir zur Gondel. Ich streichelte ihn ein letztesmal. Seine glühenden Augen sah ich noch lange. Er schien zu ahnen, daß es ein Abschied für immer war. Als es hell wurde, hatten wir den Mietstall erreicht, in dem ich den stolzen Araberhengst untergebracht hatte. Ich ließ ihn satteln und verabschiedete mich von Marco. Ein paar Minuten lang blickte ich zurück zur faszinierenden Stadt, in der ich soviel erlebt und so viele Freunde gewonnen hatte. Dann schwang ich mich in den Sattel und ritt 194
los, ohne mich noch einmal umzublicken. In der Nähe von Treviso legte ich eine Rast ein, gab dem Pferd zu fressen und ließ es aus einem Bach trinken. Ich übernachtete in einem kleinen Gasthaus in Montebelluna. Merlins Auftrag hatte ich erfüllt. Ich hatte das dritte Siegel beschafft. Ich vermutete, daß der Ring ein Geheimnis barg, das ich aber nicht lüften konnte. Oft hatte ich mir den Ring mit dem blauen Stein angesehen, aber nichts Seltsames entdecken können. Das Bild des Schlangendämons und das runde Plättchen hatte ich mitgenommen. Ich wollte sie meinem Bruder Adalmar zeigen. Und da war ich auch schon mit den Problemen konfrontiert, die mich in meiner Zeit erwarten würden. An die Kampfansage hatte ich nicht mehr gedacht. Pietro Salvatori sollte keine große Gefahr für mich darstellen. Er war ohne besondere magische Begabung. Aber er konnte mit der Hilfe seiner Sippe rechnen. Je länger ich darüber nachdachte, um so mißtrauischer wurde ich. Pietro Salvatori war mir sehr selbstsicher erschienen. Meine Fähigkeiten hatte ich zu verbergen gesucht, doch einige waren allgemein bekannt. Außer dem war ich sicher, daß irgend jemand aus Salvatoris Sippe mit Asmodi gesprochen hatte, und der Herr der Schwarzen Familie wußte einiges über mich. Und trotzdem hatte es Pietro gewagt, mir eine Kampf ansage zu 195
überbringen. Irgend etwas war da faul. Ich rief mir das Zusammentreffen mit Pietro Salvatori zurück ins Gedächtnis. Er hatte etwas ganz besonderes mit mir vor, und mein Tod würde grauenvoll sein… Damals hatte ich das als leere Drohungen betrachtet, doch nun änderte ich meine Meinung. Ich mußte vorsichtig sein. Wenn ich von der Vergangenheit in mein Jahrhundert zurückkehrte, war ich auch etwas geschwächt und konnte meine Fähigkeiten nur beschränkt einsetzen. Das war der Augenblick wo mich Pietro leichter erwischen konnte. Ich versuchte mich an alles zu erinnern, was ich über Pietro Salvatori wußte. Er war ein Vampir und ziemlich scharf auf Blut. Früher hatten sich die Vampire nur während der Nacht herumgetrieben. Sonnenlicht war für sie tödlich gewesen. Doch im Lauf der Jahr hunderte hatten sie sich verändert. Die meisten echten Vampire störte das Sonnenlicht nun nicht mehr, aber sie liebten es auch nicht. Auch gegen die meisten der klassischen Abwehrmittel waren sie immun geworden. Knoblauch, Silber und Kreuze halfen nicht immer. Aber ich wußte, daß Pietro silberne Kreuze gar nicht schätzte. Doch damals war er um ein paar Jahre jünger gewesen. Vielleicht störten ihn Kreuze nicht mehr. Das, was ich über Pietro wußte, half mir auch nicht viel weiter. Ich brauchte unbedingt mehr Informationen 196
über Pietro und seine Sippe. Vielleicht kann mir Onkel Ingvar helfen, dachte ich. Er besaß ein Haus in L’Auila, doch die meiste Zeit hielt er sich mit seiner Familie im Castello della Malizia in den Abruzzen auf. Mein Bruder Adalmar hatte dort sein Labor. Onkel Ingvar muß über die italienischen Clans gut informiert sein. Er wird mir sicherlich helfen können. Dann wanderten meine Gedanken wieder zu Pietro Salvatori. Der Kampf sollte im Morgengrauen beginnen. Nach den Regeln durfte er erst im Morgengrauen nach mir zu suchen beginnen. Plötzlich grinste ich spitzbübisch. Mir war eine Möglichkeit eingefallen, wie ich Salvatori nervös machen konnte. Und je länger ich darüber nachdachte, desto besser gefiel mir diese Möglichkeit… Nach einem ausgiebigen Frühstück ritt ich los. Als ich durch Pederobba ritt, strömten die Bewohner zusammen und blickten mich verwundert an. Doch ich beachtete sie nicht. Nach wenigen Minuten sah ich den Bauernhof und steuerte den Hengst auf den Waldrand zu. Ich stieg ab, klopfte ihm freundlich auf den Hals und verschwand im Unterholz. Es dauerte nicht lange, da hatte ich den Zeitschacht gefunden. Ich legte die Waffen ab und schlüpfte aus meinen Kleidern, die ich unter ein paar Ästen versteckte. Das Bild des Schlangendämons 197
und das Plättchen nahm ich mit. Vor dem Zeitschacht kniete ich nieder. Dann rutschte ich in den engen Tunnel. Deutlich war die fremdartige Kraft zu spüren, die vom Zeitschacht ausging. Der starke Sog riß mich in die Tiefe, und ich ließ mich einfach fallen. Der Armreifen begann zu glühen, und die wohlbekannte Wärme hüllte meinen Körper ein. Ich schloß die Augen und ließ meinen schwerelos gewordenen Leib im Schacht schweben. Als ich die Augen öffnete, sah ich das unheimliche Leuchten, das mich einhüllte und die vertraute Schwärze war um mich herum. Ich ließ mich einfach treiben. Mein Plan war ganz einfach. Natürlich hätte ich wenige Minuten, nach dem ich den Zeitschacht im 20. Jahrhundert betreten hatte, wieder auftauchen können. Das wollte ich aber nicht, denn ich hatte mir aus gerechnet, daß ich die Strecke von Pederobba bis nach Castello della Malizia keinesfalls bis zum Sonnenaufgang schaffen konnte. Ich wollte eine Woche später auftauchen! In dieser Woche würde mich Pietro Salvatori und seine Sippe verbissen suchen. Für sie mußte es ein Rätsel sein, wohin ich verschwunden war. Und ich war sicher, daß meine Familie in der Zwischenzeit von der Kampfansage gehört hatte. Die geheimnisvollen Kräfte des Schachtes rissen mich durch die Zeiten und Dimensionen. 198
Ich kletterte den Tunnel hoch. Als ich ins Freie gelangte, blieb ich ein paar Minuten ruhig sitzen. Es war angenehm warm. Meine Kleider lagen noch immer dort, wo ich sie hingelegt hatte. Ich stand auf, als das Leuchten meines Körpers aufgehört hatte und griff nach meiner Armbanduhr. Es hatte tadellos geklappt. Ich war eine Woche nach meinem Verschwinden aufgetaucht, und es war fünf Minuten nach zehn Uhr. Mit beiden Händen griff ich nach meinem Haar. Es war so lang, wie ich es gewohnt war. Dann kleidete ich mich rasch an, schritt an der Ruine vorbei und erreichte die Straße nach Pederobba. Zehn Minuten später betrat ich ein Espresso, bestellte einen Kaffee und griff nach dem Telefon, das auf der Theke stand. Ich wählte die Nummer von Castello della Malizia, die in keinem Telefonbuch stand. Nach dem vierten Läuten wurde der Hörer abgehoben, und ich hörte einen durchdringenden Summerton. „Simaz!“ sagte ich laut. Der Bursche hinter der Theke stellte den Kaffee vor mich hin, und ich nickte ihm dankbar zu. Beim Abheben des Hörers hatte sich in der Burg ein magischer Telefonzerhacker eingeschaltet, der es unmöglich machte, festzustellen, woher ich anrief. Ein magischer Stimmenidentifizierer hatte meine Stimme erkannt. 199
„Du kannst sprechen, Coco“, vernahm ich die Stimme meines Onkels. „Habt ihr von der Kampfansage gehört?“ fragte ich auf deutsch. „Ja, du bist in großer Gefahr. Wo hast du gesteckt? Wir haben dich schon verzweifelt gesucht.“ „Das werde ich dir später erzählen. Ich brauche Hilfe.“ „Das kann ich mir denken. Wo bist du?“ „In der Nähe von Treviso.“ Er stieß einen wüsten Fluch aus. „Ich komme dir entgegen. Fahre bis Arezzo. Wir treffen uns im Bahnhofsrestaurant. Beeile dich. Es kommt auf jede Minute an. Wir können nur hoffen, daß dich die Salvatoris nicht aufspüren. Versetz dich auf der Fahrt in einen tranceartigen Zustand und denke keinesfalls an Pietro Salvatori.“ „Kannst du mir sagen, was los ist, Onkel?“ „Das nützt dir auch nichts. Sei vorsichtig.“ Damit unterbrach er die Verbindung. „Kann ich hier ein Taxi bekommen?“ wandte ich mich an den Barkeeper. „Im Ort haben wir keines, aber ich könnte Ihnen eines aus Asolo rufen.“ Zwei junge Männer hatten zugehört. „Wohin wollen Sie denn, Signorina?“ fragte der eine. „Nach Treviso“, antwortete ich. „Genau dorthin wollen mein Freund und ich. Sie können mit uns fahren.“ „Danke“, sagte ich herzlich. 200
Ich trank den Kaffee und zahlte, dann folgte ich den beiden zu einem brandneuen Alfa Romeo. Ich glitt auf den Beifahrersitz und schlug die Tür zu, da schoß der Wagen schon wie eine Rakete davon. Der Bursche fuhr gut, das mußte ihm der Neid lassen. Nach wenigen Minuten raste er durch Montebelluna und trat das Gaspedal stärker durch. Nach etwa zehn Kilometer Fahrt, bremste er scharf ab, riß den Wagen nach rechts und bog in einen schmalen Weg ein. „Was soll das?“ fragte ich überrascht. Er grinste, und sein Freund begann zu kichern. „Wir dachten an eine kleine Belohnung fürs Mitnehmen“, sagte der Fahrer lüstern grinsend. Für solche Scherze hatte ich schon normalerweise nichts übrig und heute schon gar nicht. Er bremste ab und griff nach mir. Meine magischen Fähigkeiten waren durch die Zeitreise geschwächt, aber doch noch so stark, so daß ich den Burschen und seinen Freund innerhalb weniger Augenblicke hypnotisiert hatte. Ein paar Minuten später waren wir wieder auf der Straße nach Treviso. Als Strafe ließ ich mich bis nach Ferrara bringen, dort wechselte ich in ein Taxi über. Der Fahrer war über die schöne Fuhre sichtlich erfreut, doch er quasselte für meinen 201
Geschmack zu viel. Ich hypnotisierte ihn und befahl ihm, daß er den Mund halten sollte. Dann versetzte ich mich, so wie es mein Onkel gewünscht hatte, in einen tranceartigen Dämmerzustand, in dem mir jeder Gedanke schwerfiel. Und meine Gedanken kreisten um ein völlig unverbindliches Thema: die italienische Küche. Von der Fahrt und meiner Umgebung bekam ich nichts mit. „Signorina!“ hörte ich dann die Stimme des Fahrers. „Hören Sie mich, Signorina?“ Träge schlug ich die Augen auf. „Ja, ich höre Sie“, sagte ich mit schläfriger Stimme. „In wenigen Minuten haben wir den Bahnhof erreicht.“ Nun wurde ich wach. Rasch blickte ich mich um. Arezzo war mir fremd. Vor dem Bahnhof blieb er stehen. Ich zahlte und stieg aus. Im Restaurant sah ich mich vergeblich nach meinem Onkel um. Ich bestellte eine Pizza und eine halbe Flasche Rotwein. Als ich nach den Zigaretten griff, spürte ich plötzlich einen durchdringenden Schmerz in meiner rechten Hand. Es war, als würde mir jemand eine glühend heiße Nadel durchs Fleisch stoßen. Der Schmerz wurde immer stärker. Ich mobilisierte meine Kräfte und schaltete sogar den Signatstern dazwischen, doch ich konnte nur den Schmerz mindern, aber nicht zum Verschwinden zu bringen. Für 202
mich stand fest, daß der Schmerz durch Schwarze Magie ausgelöst wurde. Die Pizza wurde serviert, doch mir war der Appetit vergangen. Nach ein paar Bissen ließ ich das Essen stehen, trank einen Schluck Wein und starrte zur Tür. Der bohrende Schmerz war noch immer da. Die Schmerzen kamen in Wellen. Immer noch versuchte ich mich dagegen zu wehren, doch ich war anscheinend machtlos dagegen. Erleichtert atmete ich auf, als Onkel Ingvar und mein Bruder Adalmar das Restaurant betraten. Ingvar sah meinem Vater sehr ähnlich. Sein Haar war lang und schlohweiß. Adalmar war ein finster blickender Bursche, der einen gewaltigen Vollbart trug. „Komm sofort mit“, sagte Ingvar heftig. Er warf einen Geldschein auf den Tisch, und ich stand auf. „Hast du irgendwelche Beschwerden, Coco?“ fragte mein Bruder, als wir das Lokal verließen. „Ja“, antwortete ich. „Ich spüre ein ganz seltsames Stechen in meiner rechten Hand.“ „So etwas Ähnliches habe ich befürchtet“, knurrte er wütend. „Wollt ihr mir nicht endlich erklären, was los ist?“ Vor einem weißen Mercedes blieb Ingvar stehen, und wir stiegen ein. Die Schmerzen wurden schwächer, und nach ein paar Sekunden waren sie verschwunden. 203
„Die Schmerzen sollten nun aufgehört haben“, meinte Adalmar und blickte mich an. „Ja, das stimmt. Wie hast…“ „Das Auto ist gegen fast alle magischen Angriffe gesichert“, sagte Ingvar. „Pietro Salvatori setzt einen Zauber gegen dich ein, der ziemlich stark ist. Das haben wir von befreundeter Seite gehört. Du hast nur eine Chance, wenn wir das Schloß vor den Salvatoris erreichen, und das wird schwierig sein, da die Kerle die Straße abgesperrt ha ben. Sie vermuteten ganz richtig, daß du dich früher oder später mit uns in Verbindung setzen würdest. Und als wir das Schloß verließen, folgte uns ein Wagen, den wir aber abschütteln konnten.“ „Was habt ihr nun vor?“ Adalmar grinste. „Schon vor vielen Jahren haben wir für alle möglichen Notfälle vorgesorgt.“ „Willst du mir das nicht näher erklären?“ „Ingvar und ich können nicht behaupten, daß du uns sonderlich ans Herz gewachsen bist, Coco. Du paßt nicht in unseren Clan, aber wir müssen uns damit abfinden, daß du zu uns gehörst, und deshalb werden wir dir auch helfen.“ „Für euch ist es eine Prestigeangelegenheit“, sagte ich verbittert. Auf diesen Vorwurf ging er nicht ein. „Wir fahren jetzt nach Monterchi.“ „Und was werden wir dort tun?“ Adalmar blickte mich an. „Vor ein paar 204
Jahren suchte ich die Umgebung von Castello della Malizia ab. Das Schloß war schon seit eh und je im Besitz von Dämonen, und ich hatte in alten Aufzeichnungen einen Hinweis gefunden, daß sich ein sogenanntes ,Tor der Dämonen’ in der Nähe befinden mußte. Ich entdeckte das Dimensionstor und aktivierte es. Dann betrat ich es und kam bei einem anderen Tor heraus, das sich in der Nähe von Monterchi befindet. Du wirst das Tor betreten und nahe des Schlosses herauskommen. Kannst du dich noch an die magischen Fallen erinnern, die das Schloß umgeben.“ „Ja, ich habe sie nicht vergessen.“ „Dann ist es gut. Versetze dich sofort in die andere Zeitebene, sobald du das Dimensionstor verläßt.“ „Und was macht ihr?“ „Wir werden ein wenig spazierenfahren und die Salvatori-Sippe verwirren.“ Fünfundzwanzig Minuten später hatten wir Monterchi erreicht, und vor dem Dimensionstor hielt Ingvar. Ich stieg aus und lief auf die dunkle Öffnung zu. Diese „Tore der Dämonen“ waren eine Art Materietransmitter, von denen man oft in SFRomanen lesen kann. Vor der flimmernden Öffnung blieb ich einen Moment stehen, dann trat ich hindurch. Ich spürte überhaupt nichts. Ich kam auf einer Felsplatte heraus. Unter mir war das Castello della Malizia zu sehen. Es war achteckig angelegt, hatte einen Innenhof 205
und oktogonale Türme an den äußeren Ecken. Es wies keinerlei Verzierungen auf. Die Türme und Wände waren völlig glatt. Es bereitete mir einige Mühe, in die andere Zeitebene zu gleiten. Instinktiv wich ich den unzähligen magischen Fallen aus. Ich war total erschöpft, als ich das Haupttor des Schlosses erreicht hatte und in die normale Zeit zurückglitt. Endlich öffnete sich das Tor, und ich trat ein. Erleichtert atmete ich auf, als ich das Schloß betrat. Hier war ich nach den Worten meines Bruders in Sicherheit. Ich hob die rechte Hand hoch, doch die Schmerzen kamen nicht wieder. Aber das Problem war nicht gelöst, wenn ich mich vor Pietro Salvatori versteckte. Ich mußte mich ihm zum Kampf stellen, und das wollte ich auch tun, sobald ich mich erholt hatte.
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