Delikte Indizien Ermittlungen
Reihe
Wieder einmal ein Kriminalroman? Jawohl, lieber Leser, denn wieder mal ist da jem...
70 downloads
1163 Views
606KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Delikte Indizien Ermittlungen
Reihe
Wieder einmal ein Kriminalroman? Jawohl, lieber Leser, denn wieder mal ist da jemand ermordet worden, statt einfach einem Herzschlag zu erliegen, wie man eigentlich annehmen müßte, wenn man ihn so daliegen sieht, den Toten, mitten auf dem Bürgersteig, in fast idyllischer Ruhe, romantisch umnebelt vom Aroma seines Lieblingsgetränks, denn dieser Herr befand sich nicht mehr im Zenit der Jugend, genauer gesagt, er ging auf die Sechzig zu, und um sein Herz war’s auch nicht gut bestellt: eine Schwäche für Mastika, leichte Trunkenheit… leichte Übelkeit… das hätte das Ende sein können. War’s aber nicht. Wie gesagt, er wurde ermordet. Und die Spur dieser Tat führt in die Vergangenheit, ins profaschistische Bulgarien, und ist das letzte Glied in einer ganzen Kette von Verbrechen, die alle den Stempel der Vergangenheit tragen. Und wenn Sie diesen Krimi lesen, dann lernen Sie auch einen Mann kennen, der Ihnen sympathisch sein müßte, den Inspektor Antonow. Das ist der, der den Fall aufklärt. Und er tut das souverän, dank seiner großen Kontaktbereitschaft und schnodderigen Zungenfertigkeit und einer gehörigen Portion stoischer Ruhe, nicht zuletzt aber aus wirklicher Liebe zu allen Mitbürgern, die da um ihn herum im heutigen Bulgarien leben.
Delikte Indizien Ermittlungen
Reihe
Bogomil Rainow
Ein Mann aus der Vergangenheit
Verlag Das Neue Berlin
ERSTES KAPITEL
Der Tschekist muß einen kühlen Kopf, reine Hände und ein heißes Herz haben. Dsershinski
Kennen Sie Peter Antonow? Nein? Und Iwan Medarow? Auch nicht? Dann müssen wir also von vorn beginnen. Keine Bange. Wenn ich sage „von vorn“, so heißt das nicht bei Adam und Eva. Ich mag nämlich keine langen Reden. Mit Peter Antonow ist es schnell getan – das bin ich. Medarow allerdings kann ich Ihnen nicht vorstellen. Aus rein „technischen“ Gründen. Gestern nacht gegen zwei Uhr dreißig wurde er in der Krainastraße tot aufgefunden. Wenn ich diese Neuigkeit meiner Tante erzählte, würde sie wie gewöhnlich sagen: „Wäre er zu Haus geblieben… Ich bleibe immer daheim, und mir passiert nichts.“ Und damit wäre die Angelegenheit für sie erledigt. So einfach und schnell kann ich sie nun wieder nicht lösen. Denn ich bin bei der Miliz beschäftigt. Und der Fall wurde ausgerechnet mir zur Klärung übertragen. Alles hätte eigentlich wie bei einem gewöhnlichen Unglücksfall verlaufen können: Bürger Medarow befand sich nicht mehr im Zenit der Jugend, genauer gesagt, er ging auf die Sechzig zu. Um sein Herz war’s auch nicht gut bestellt: eine
Schwäche für Mastika, leichte Trunkenheit… leichte Übelkeit… das war das Ende. Bei der Obduktion der Leiche wurde nichts Verdächtiges festgestellt. Keine Spur von Gewalt-anwendung. In fast idyllischer Ruhe lag der Tote auf dem Bürgersteig, romantisch umnebelt vom Aroma seines Lieblingsgetränks. Trotzdem mußte ich, Ihr neuer Bekannter Peter Antonow, mit Iwan Medarow Verbindung aufnehmen, ungeachtet des Umstands, daß die betreffende Person nicht mehr unter den Lebenden weilte. Bei mir ist das immer so! Ein großer Teil meiner Bekanntschaften sind Menschen, die mir wohl kaum von Nutzen sind, zumindest nicht hier auf der Erde. Dafür habe ich aber gute Verbindungen zu den Toten. Wenn Sie im Jenseits einmal Protektion, Fürsprache und so weiter brauchen sollten, kommen Sie getrost zu mir. Doch wollen wir hier nicht in Mystizismus verfallen. Wenden wir uns lieber wieder den Tatsachen zu. Kaum hatte ich heute morgen meinen Dienst angetreten, als man mir auch schon mitteilte: Zum Chef! Und wenn einen der Chef bestellt, dann meistens nicht, um einem Rosen zu überreichen. Obwohl ich, das nebenbei, gerade heute einen Strauß Rosen gebrauchen könnte. Sie können sich bestimmt denken, daß ich, Ihr ergebener Peter Antonow, weiß, wem ich sie schenken würde, und gar nicht mal einfach so, ohne Anlaß… Doch da ich schon zu so früher Stunde zum Chef kommen sollte, ahnte ich zweierlei im voraus: erstens, er wird mir die Klärung eines neuen Falls übertragen,
und zweitens, das wird kein Pappenstiel sein. Wie sich herausstellte, behielt ich im großen und ganzen recht. Mit lässiger Gebärde wies mein Chef auf den Sessel neben seinem Schreibtisch und nach kurzem Zögern auf ein hölzernes Zigarettenkästchen, was in seiner schweigsamen Art soviel hieß wie ,Nimm Platz; wenn du möchtest, darfst du auch rauchen.’ Der Oberst raucht selbst nicht. Wie’s scheint, hegt er eine leichte Abneigung gegen Tabaksqualm. Andrerseits gehört er durchaus zu jenen, die sich stets in die Lage ihres Gegenübers versetzen können. Ich nahm also Platz und zündete mir eine Zigarette an. Noch ehe ich sie zur Hälfte geraucht hatte, war ich auf dem laufenden. Der Oberst liebt eben keine langen Reden, kurz und bündig wies er mich ein. „Das Unangenehme an der Sache ist“, schloß er und blickte dabei mit seinen grauen Augen ziellos in den Raum, „daß die Genossen des Reviers, wo die Leiche gefunden wurde, der Meinung waren, es handle sich um einen Unglücksfall, und unverzüglich einen Rettungswagen anforderten, der den Toten ins Krankenhaus brachte. Dadurch fehlen uns ein paar frische Spuren in einer Geschichte, in der es von Fragezeichen nur so wimmelt.“ „Nur gut, daß wenigstens die Leiche noch da ist,“ sagte ich mit der Bescheidenheit eines Menschen, der auch mit wenig schon zufrieden ist. „Und wer hat die Leiche eigentlich gefunden?“ „Angehörige der Miliz. Wenigstens in dieser Hinsicht haben wir Klarheit. Nicht ausgeschlossen übrigens, daß
es sich um eine ganz banale Geschichte handelt. Aber so oder so, wir müssen sie genau überprüfen. Schon mal was von einer ,Kometa’ gehört?“ „Nein, in Astrophysik bin ich schwach,“ sagte ich und drückte mit Bedauern meine Zigarette aus, denn ich ahnte, ein zweites Mal würde der Oberst nicht auf sein Holzkästchen deuten. „Das hat nichts mit Astrophysik zu tun,“ antwortete mein Chef trocken. So reagiert er immer, wenn er mir auf meine Versuche zu scherzen begreiflich machen will, daß in unserem Beruf Spaße nicht am Platze seien. Hat ja auch vollkommen recht. Doch wenn die Arbeit so gar nichts Erheiterndes hat, muß man zumindest selbst versuchen, sie ein bißchen von der heiteren Seite zu nehmen. Überhaupt ist das „Geschmackssache“, wie die Katze sagte, als man sie fragte, weshalb sie sich die Pfoten lecke. Mit seinen ruhigen grauen Augen schaute mich mein Chef unterdessen an und sagte monoton: „ ,Kometa’ ist der Name einer Handelsvertretung, gegen die kurz nach dem neunten September neunzehnhundertvierund-vierzig ein Prozeß geführt wurde. Und in ebendiesem Prozeß ist jener Medarow zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt worden. Erst vor knapp drei Monaten hat man ihn aus der Haft entlassen. Die Sache gehört natürlich der Vergangenheit an, doch gibt’s da einige Dinge, derentwegen wir den Fall noch einmal näher untersuchen müssen. Übrigens kannst du dir nun selbst Gedanken darüber machen. Vertief dich in das Material und fang an.“ Mein Chef schmunzelte leicht, was in seiner wort-
kargen Art soviel bedeutete wie ,Mach dir nichts aus dem dienstlichen Ton, wir sind trotzdem Freunde. Aber jetzt sei so gut und troll dich, denn auf mich wartet noch mehr Arbeit!’ Ein langer Gedanke, wie man sieht, der nur in einem kurzen Lächeln zum Ausdruck kam. Ich stand auf, nickte ergeben und schwirrte ab. Da hast du also deine „Rosen“, ging es mir durch den Kopf. Ich zog meinen Mantel an, der noch feucht war vom Regen des Herbstmorgens, und setzte meinen Hut auf, den ich tief in die Stirn drückte, was soviel heißen sollte wie ,Ich stecke tief in Sorgen und habe absolut keine Lust, Twist zu tanzen.’ An die Arbeit, mein Lieber, sagte ich mir und sprang die Treppe hinunter. Ein neuer Tag, eine neue Aufgabe und neue Erfolge. Die Kinder in der Schule hocken jetzt überm Atlas, um die Besonderheiten des Rila- und Rhodopenmassivs kennenzulernen. Architekten beginnen mit der Zeichnung für ein zehngeschossiges Hochhaus. Eine Brigade der kommunistischen Arbeit nimmt die Produktion neuer Drehmaschinen auf. Und Ihr ergebener Peter Antonow rückt einem neuen Fall zu Leibe. Draußen hat sich’s zu meiner Überraschung etwas aufgeklärt. Statt Nebelschwaden ziehen weiße Wolkenfetzen am Himmel. Hin und wieder fallen ein paar Sonnenstrahlen auf die Stadt. Der Wind weht heftig, gerade so, als käme er vom Wärmekraftwerk „Nadeshda“. Und wenn man zu allem noch den Umstand rechnet, daß mir die Begegnung mit einem alten Freund bevorsteht, so kommt man zu dem Schluß: gar nicht so
schlecht dieser morgendliche Saldo. Der erwähnte alte Freund ist ein interessanter Mann und, nebenbei, ein großartiger Mediziner. Daraus sollten Sie jedoch nicht den voreiligen Schluß ziehen, ich würde ihn auch als Hausarzt empfehlen. Ansonsten ist und bleibt er ein Talent, ein Virtuose, ein „Paganini der Autopsie“, außerdem ein angenehmer Mensch, wenn man davon absieht, daß er ständig meine Zigaretten raucht. Eine kurze Straßenbahnfahrt, ein paar Schritte zu Fuß, und schon sind wir im Sektionssaal. Um den zartfühlenden Leser besorgt, überspringe ich hier gleich zwei Seiten mit technischen Details, nicke dem Doktor zu und begebe mich zufrieden in den Korridor. Kaum habe ich den Raum verlassen, macht sich „Paganinis“ Hand an meiner Zigarettenschachtel zu schaffen, seelenruhig, und wühlt so lange darin herum, bis sich eine locker gestopfte, immerhin volle Zigarette findet. „Nun red schon,“ fordere ich ihn auf, um ihn von dieser Beschäftigung abzubringen. Gemächlich beendet „Paganini“ die Autopsie meiner Zigarettenschachtel, steckt sich die Auserwählte zwischen die Lippen und schaut mich vielsagend an. Nicht nur, daß dieser Mensch sich keine Zigaretten kauft, er hat auch niemals Streichhölzer bei sich. Seufzend biete ich ihm Feuer. Dann zünde ich mir selbst eine Zigarette an. Mit sichtlichem Vergnügen zieht „Paganini“ den Rauch ein und sagt anstelle eines Dankes: „Erst bringt ihr alles durcheinander, und dann sagt ihr einfach: ,Red schon.’ Da hättest du mich bereits in der Nacht zum Tatort holen müssen.“
„Ich bin auch nicht dort gewesen.“ „Bravo. Seit wann denn diese Rationalisierung: Überspringen der Untersuchung am Tatort?“ „Was heißt hier ′Untersuchung am Tatort’! Die Leute haben geglaubt, es handele sich um einen Unglücksfall, und den Mann unverzüglich ins Krankenhaus gebracht.“ „Und was hindert dich, es als Unglücksfall anzusehn?“ „Nichts außer meiner Pedanterie – ein Geburtsfehler, für den man nicht kann.“ „Bravo,“ wiederholt der Alte. Dies „Bravo“, mit oder ohne Anlaß, ist das einzig Erheiternde in „Paganinis“ Repertoire. Gierig zieht er wieder an der Zigarette. „Ich bin auch ein Pedant, mein Junge, und kann keine konkreten Schlüsse ziehen, wenn ich nicht mal eine Vorstellung habe, in welcher Lage sich der Körper des Toten befand.“ „Dafür hast du die Leiche!“ „Die kannst du dir an den Hut stecken.“ „Oh, bitte, behalte sie!“ protestiere ich großmütig. „Du hast schon soviel Zigaretten von mir genommen, was bedeutet dagegen eine Leiche. Sag mir lediglich, was du bei der Sektion herausgefunden hast.“ „Das, mein Junge, ist so banal, daß du die Geschichte ruhig zu den Akten legen könntest, wenn du weniger pedantisch wärst…“ „Schon gut, zur Sache!“ „Allem Anschein nach ist die Person einem Herz-
schlag erlegen. Doch da du, wie ich merke, etwas andres suchst, muß ich dir gestehn, Alkohol ist kaum der Grund dafür gewesen. Der über Hemd und Weste des Toten verschüttete Mastika übertrifft bei weitem die Menge, die er getrunken hatte.“ Der Gerichtsarzt verstummt und schaut mich bedeutungsvoll an. „Na und?“ frage ich ungeduldig, weil ich Kunstpausen nicht ertragen kann. „Infarkt ist auch ohne Konsumierung von Alkohol möglich,“ bemerkt der Doktor gleichgültig. „Natürlich.“ Ich nicke. „Wahrscheinlich hat er einen Bekannten getroffen, der ihm eine schreckliche Geschichte erzählte, und dann ist er zusammengesackt. Doch, weshalb mußte der andere ihn mit Mastika übergießen? Vielleicht, um ihn wieder zu Bewußtsein zu bringen, nachdem er seinetwegen zusammengebrochen war.“ „Weshalb… das mußt du sagen.“ „Ja doch, aber jetzt bist du an der Reihe.“ „Wenn’s darum geht, irgendwas zu sagen, nichts leichter als das. Dumm ist nur, daß man’s nicht einwandfrei beweisen kann…“ „Paganini“ zieht nochmals an seinem Zigarettenstummel und wirft ihn dann geschickt durchs offene Fenster. „Und das wäre?“ fordere ich ihn auf. Ich habe das Gefühl, dieser Mensch zieht das Gespräch nicht von ungefähr hinaus, und wie sich herausstellt, habe ich recht. „Wo hast du die Zigaretten versteckt?“ fragt „Paganini“ unzufrieden, als wären’s seine eigenen. Mit
einem zornigen Seufzer hole ich die Schachtel hervor, biete dem alten Freund eine Zigarette an. „Nun spuck schon aus,“ ermuntere ich ihn. „Einiges läßt den Schluß zu, daß der Tod infolge eines elektrischen Schlages eingetreten ist… „ „Paganini“ tut einen kräftigen Zug und schaut mich mit verhaltener Genugtuung an. Aha! Er hat das Gespräch in die Länge gezogen, nicht nur, um noch eine Zigarette zu schlauchen, sondern um mir diese Überraschung zu servieren. „Woran denkst du dabei?“ frage ich. „Du hast doch nicht etwa Spuren von Hautverbrennungen entdeckt? Bei einem elektrischen Schlag muß es charakteristische Spuren geben.“ „Das ist es ja, solche Spuren von Hautverbrennungen fehlen. Doch schließt das diese Version noch nicht aus. Besonders bei einer so dünnen Haut, wie sie unser Patient hatte.“ „Ein elektrischer Schlag… mitten auf der Straße,“ überlege ich laut. „Weshalb wunderst du dich?“ wirft „Paganini“ ein. „Möglich ist es schon. Dein Mann, der mit der schrecklichen Geschichte, hat ihn getroffen, ihm guten Tag gesagt und im Dunkeln anstelle seiner Hand ein nichtisoliertes Kabel gereicht…“ „Bravo,“ sage ich im Ton meines Gesprächspartners und verlasse das gemütliche Haus. Wer mich kennt, sieht mich sicherlich schon im Gewimmel der Stadt untertauchen, auf der Suche nach Beweisen und Spezialisten für Elektrotechnik. Reingefallen. Wie ein verzweifelter Bürohengst hat sich der
Inspektor in seinem Amtszimmer eingeschlossen und in einen Stapel vergilbter Akten vertieft. Will man einen Menschen näher kennenlernen, der nicht mehr unter den Lebenden weilt, so ist der einzige Ausweg, zu seinen Memoiren zu greifen. Aber leider sind die Leute heute sehr beschäftigt und hinterlassen selten welche. So auch Medarow, obwohl gerade er sich kaum über zuviel Arbeit hätte beklagen können. Wenn man zwanzig Jahre Zeit hat und keine Memoiren schreibt, so ist das wirklich eine Schande. Also begnügen wir uns mit der Abschrift einer Gerichtsakte. Die Abschrift in Sachen „Kometa“ ist ziemlich umfangreich, doch die Notizen, die ich mir beim Lesen mache, sind mehr als bescheiden: einige Namen und Anhaltspunkte. Hin und wieder verliert sich die Spur in Unklarheiten. Doch was das Wichtigste ist, wir sind bereits mitten im Geschehen. Ein bißchen Lesen, ein paar Auskünfte per Telefon, und da sind wir auch schon auf der entsprechenden Fährte. Am Morgen fehlte mir jegliche Orientierung. Jetzt verfüge ich bereits über zwei Richtwerte. Um sie nicht durcheinanderzubringen, habe ich ihnen Namen gegeben. Der erste heißt Iliew, der zweite Tanew. Na, dann viel Glück! Ich ziehe meinen nun bereits trocknen Mantel an. Es ist gerade sechs Uhr abends. Feierabend, wenigstens für einige Leute. Der Hinweis, daß ich nicht zu ihnen zähle, ist wohl überflüssig. Um diese Zeit sind die Straßenbahnen so voll, daß ich mich entschließe, mich Schusters Rappen anzuver-
trauen. Ich weiß nicht, ob ich schon gesagt habe: Das Zufußgehen ist mir eine regelrechte Hilfe. Wenn man läuft, gehen gezwungenermaßen auch die Gedanken mit. Überhaupt schafft das eine gute Arbeitsatmosphäre. Einige Leute meinen, unsere Tätigkeit bestehe vorwiegend darin, dem Mörder mit der Pistole aufzulauern, im Dunkeln, aus dem er dann mit verzerrtem Gesicht hervorspringt. Oder mit starken Lupen Fingerabdrücke zu untersuchen. In Wirklichkeit jedoch sind wir Menschen, die viel überlegen müssen und reden, über ganz bestimmte Themen natürlich. Da es mir im Augenblick an Gesprächspartnern mangelt, rede ich mit mir selbst. Gebannt von dieser interessanten Beschäftigung, durchquere ich die Stadt, von der LöwenBrücke bis zu ihrer Adler-Kollegin. Die Entfernung reicht aus, um in meinem Kopf erste Versionen entstehen zu lassen. Es ist bereits dunkel. Die Bäume im Park heben sich unscharf vom Hintergrund des feuchten, von elektrischem Licht durchtränkten Himmels ab. Die Menschen eilen durch die Straßen oder drängeln sich an den Bushaltestellen. Auf der Chaussee bewegen sich die Scheinwerfer der Autos in zwei langen Girlanden – die eine rot, die andere weiß. Die eine verschwindet in der Dunkelheit, die andere kommt immer näher. Ich betrete die halbdunkle Allee zwischen den Girlanden und dem Park und atme mit Behagen den Geruch von frischer Erde und feuchtem Laub ein, gemischt mit dem Aroma der Zigarette, die in meinem Mundwinkel glimmt. Noch einen Kilometer Weg, noch ein paar Details zu meinen Versionen, und da bin ich
auch schon am Ziel. Der Wohnblock ist vollkommen neu. Im Treppenhaus riecht es nach Ölfarbe, und die Kinder sind noch nicht dazu gekommen, die Wände zu bekritzeln. Ein flüchtiger Blick auf die Briefkästen überzeugt mich, ich bin auf dem richtigen Weg, und so steige ich die Treppe hinauf. Überhaupt ist die praktische Arbeit für mich sehr oft mit Adressensuchen, Treppensteigen, Läuten an Wohnungstüren und dem Aufsagen so stereotyper Sätze verbunden wie ′Sind Sie Herr Sowieso? – Sehr angenehm. Ich bin von der Miliz.’ Leider beruht das „Sehr angenehm“ nicht immer auf Gegenseitigkeit. Aber das sind Kleinigkeiten. Ich glaube, äußerlich sehe ich wie ein Kassierer aus. Nur mit dem Unterschied, daß ich mich für die Verpflichtungen der Leute nicht im Hinblick auf den Stromverbrauch, sondern auf die Einhaltung der Gesetze interessiere. Doch im vorliegenden Fall ist beides aufschlußreich. Dritte Etage, links. Neben der Klingel der Lichtknopf. Ein neuer Standardschalter, vollkommen in Ordnung. Ich drücke, um zu sehen, ob er funktioniert, und um nicht im Dunkeln stehn zu müssen. Danach mache ich den gleichen wissenschaftlichen Versuch mit der Klingel. Kurz darauf wird geöffnet. Im Türrahmen erscheint ein mittelgroßer Herr, etwas älter als ich. Erlernen auch Sie die Sprache der Türen! Wenn sich eine Tür kaum einen Spalt breit auftut, so daß der Hausherr gerade seine mißtrauische Nase durchstecken kann, dann heißt das, nicht nur die betreffende Person
ist mißtrauisch, sondern es gibt noch andere verdächtige Sachen. Geht die Tür etwas weiter auf, handelt es sich um angeborene Vorsicht. Wer dagegen die Tür ganz weit aufmacht, hat ein weites Herz und ist im allgemeinen großzügig. Etwa so: ′Bitte, treten Sie näher, was darf ich Ihnen anbieten?’ Ich werde wirklich eingelassen und zeige, der Form halber, flüchtig meinen Ausweis. Der Hausherr wirft, ebenso flüchtig, einen Blick auf das Dokument und behält seinen höflichen Gesichtsausdruck bei, in den Grenzen des Möglichen. Eine gemütliche Diele, zwei rosa Sessel, zwei Hocker in der gleichen Farbe. Ein niedriger, polierter Tisch, darauf ein Kristallaschenbecher und ein Porzellantier, Kreuzung zwischen Hund und Pferd. An der Wand ein Bild mit violettem Flieder. In der Ecke Radioapparat und Fernseher. Rot und blau gemusterter Teppich. Die Übergardinen haben große gelbe Blumen. Alles ist neu. Um die Beschreibung perfekt zu machen, sei hinzugefügt, daß von der Diele drei Türen abgehen. Vor der einen hält ein Milizionär seit heute nacht Wache. Ich öffne und befinde mich in einem kleinen Schlafgemach. Auch hier ist alles neu, mit Ausnahme eines großen Sportplakats an der Wand überm Bett. „Der Verstorbene scheint eine Leidenschaft für Sport gehabt zu haben,“ bemerke ich und weise auf das Plakat. „O nein,“ erwidert der Hausherr, der unentschlossen in der Tür steht. „Dies ist das Zimmer meines ältesten Sohnes. Er ist jetzt bei der Armee. Deshalb hatte sich Medarow bei uns einquartiert.“
Ich schaue mich um im Zimmer. Es ist aufgeräumt. Alles befindet sich an seinem Platz. „Schön sauber und ordentlich….“ murmele ich. „Ich hoffe, Sie haben das nicht nach Medarows Tod gemacht.“ „Wie sollten wir….“ erwidert der Hausherr und lächelt schief. „Ihre Leute sind seit heute nacht hier.“ Daß unsere Leute seit heute nacht hier sind, ist mir bekannt. Ich weiß auch, was im Zimmer und in den Taschen von Medarow alles gefunden wurde. Übrigens besteht der Zweck meines Besuchs gar nicht darin, alles in Augenschein zu nehmen. Aber ein paar persönliche Eindrücke sind nie von Schaden. Und schließlich muß man irgendwo beginnen. Wir kehren in die Diele zurück. „Sie sind hübsch eingerichtet,“ bemerke ich, setze mich in einen Sessel und zünde mir eine Zigarette an. „Ja, wenn meine Frau nicht wär,“ entgegnet Iliew und tritt von einem Bein aufs andere, als überlege er, ob er sich setzen oder stehen bleiben soll. „Wegen der vielen Arbeit bleibt mir keine Zeit, an die Wohnung zu denken, aber eine Hausfrau kann gar nicht anders.“ „Medarow scheint einen ausgeprägten Ordnungssinn gehabt zu haben,“ sage ich und weise auf die Tür zu Medarows Zimmer. „Das ist wahr,“ stimmt mir der Hausherr unwillig zu. Unentschlossen tritt er näher. „Ich hab ganz vergessen, Ihnen was anzubieten. Was möchten Sie trinken?“ „Gar nichts. Man könnte das als Bestechung auslegen.“
„Wie Sie wünschen,“ entgegnet der Mann und lächelt verlegen. „Und was trank der Verstorbene?“ frage ich, bloß um etwas zu sagen. „Mastika, nur Mastika.“ „Soso… Na, und Frauen, Trinkgelage oder andere Vergnügungen?“ „Nein, zu der Sorte Menschen gehörte er nicht. Hundert Gramm Mastika vor dem Mittagessen und hundert Gramm vor dem Abendbrot, das war sein ganzes Vergnügen.“ Bei diesen Worten entschließt sich der Hausherr endlich, im anderen Sessel Platz zu nehmen, denn er hat sicher begriffen, daß er mich so schnell nicht los wird. „Na, hundert Gramm zum Mittagessen und hundert zum Abendbrot sind nicht übermäßig viel,“ bemerke ich immer noch gutmütig. „Obwohl, jeden Tag… Doch wollen wir nicht weiter in seinem Privatleben wühlen. Und sonst, war er ein geselliger Mensch?“ „Wie meinen Sie das?“ fragt der Mann mit leichtem Unbehagen. „Ob er Gäste empfangen hat oder manchmal ausging.“ „O nein. Ganz selten ist er weggegangen, und wenn, vorwiegend in die Schenke hier gegenüber, wo er seinen Mastika trank.“ „Mit wem?“ „Allein, immer allein. Und daß ihn jemand besucht hätte, daran erinnere ich mich überhaupt nicht.“ „So…“ Ich nicke. „Und weshalb ist er gerade zu Ih-
nen gezogen?“ „Wie soll ich Ihnen das erklären… Ich war Kraftfahrer bei ihm, vor dem neunten September… genauer gesagt, in der ,Kometa’….“ ,,Kometa“? Was ist das?“ „Das war eine Handelsfirma, eine Gesellschaft… Sie wurde von drei Personen geleitet: Kostow, Medarow und Tanew. Aus den Anfangssilben ihrer Namen entstand ,Kometa’.“ „Ach so… Kostow ist spurlos verschwunden, das wissen wir. Medarow ebenfalls, obwohl nicht so spurlos. Und Tanew? Wo ist Tanew, der dritte?“ „Na, wo schon….“ murmelt Iliew und zuckt die Achseln. „Hier irgendwo in Sofia. Vor Jahren hab ich ihn zufällig getroffen…“ „Und in letzter Zeit?“ Mein Gesprächspartner schüttelt den Kopf. „Hab ihn lange nicht mehr gesehen.“ „Und wissen Sie, ob sich Medarow mit Tanew getroffen hat?“ Wieder Kopfschütteln. „Keine Ahnung.“ Eine kurze Pause tritt ein. Ich persönlich bin an Pausen gewöhnt. Der Hausherr fühlt sich ein bißchen unwohl in seiner Haut. „Woll’n wir nicht doch was trinken….“ schlägt er vor, um das Schweigen zu unterbrechen. „Lassen wir das Trinken,“ entgegne ich, schweige weiter und mustere den Hausherrn. Das Gesicht des Mannes sieht gutmütig aus, trotz seiner mürrischen Miene. Das rührt sicher daher, daß er ständig auf den Drehstahl starren muß. Also berufsbedingt. Ansonsten hat das Gesicht etwas Weichherzi-
ges, sogar Kindliches, trotz der ergrauenden Haare und der steilen Falte zwischen den Augen. „Herr Iliew,“ sage ich, ohne den Blick von ihm zu wenden, „soweit mir bekannt ist, sind Sie Meister im Autoreparaturwerk?“ Der Mann nickt zustimmend. „Und dazu sehr tüchtig… Das ist übrigens aus Ihrem Lohn ersichtlich…“ Ich werfe einen flüchtigen Blick auf die Einrichtung und wende mich wieder an den Hausherrn. „Menschen wie Sie sind gewöhnlich auch gute Zeugen… die besten Helfer des Staates…“ Iliew lächelt verlegen. „Und deshalb“, fahre ich fort, „zähle ich besonders darauf, was ich von Ihnen erfahren werde…“ „Aber gern….“ erwidert Iliew mit dem gleichen Lächeln. „Alles, was ich weiß…“ „Ich dachte dabei an Tanew….“ belehre ich ihn. „Von Tanew hab ich nichts gehört…“ „Überhaupt nichts?“ „Gar nichts.“ „Welche anderen Verbindungen hatte Medarow noch? Bekannte, Verwandte…“ „Er hatte eine Schwester….“ besinnt sich Iliew, sichtlich zufrieden, daß er trotzdem eine Auskunft geben kann. „Sie ist, glaub ich, seine einzige Verwandte. Als er aus dem Gefängnis kam, ging er zu ihr, um dort zu wohnen. Aber es hielt ihn nicht lange. Hat sich mit ihnen nicht verstanden: weniger mit ihr als mit ihrem Mann, einem gewissen Sirakow.“ „In welcher Beziehung haben sie sich nicht verstan-
den?“ „Danach hab ich ihn nicht gefragt. Er erzählte nur, er und Sirakow könnten sich nicht ausstehn. Er hatte gehört, mein Sohn sei bei der Armee und ich hätte ein Zimmer frei, und deshalb…“ „Hm….“ mache ich, was die verschiedensten Bedeutungen haben kann. Und weil sich meine Antwort darin erschöpft, fährt Iliew fort: „Es stimmt, einige Zeit hatt’ ich das Zimmer frei, obwohl auch schon andere Leute deswegen hier waren. Sie verstehn, nicht wahr… Aber als Medarow so bettelte, hab ich eben eingewilligt.“ „Trotzdem sehe ich nicht ein, weshalb Sie sich verpflichtet fühlten zuzustimmen.“ „Nicht, daß ich verpflichtet gewesen war….“ murmelt Iliew unwillig. „Ich war ihm nichts schuldig. Es ging einfach nicht anders, schließlich war er ein alter Bekannter… Was sollte ich machen… Die Miete, sagte er, spiele gar keine Rolle.“ „Wovon lebte er übrigens?“ „Weiß der Teufel. Er hatte Geld. Kann sein, daß er’s bei seiner Schwester versteckt gehalten hat.“ „Geld ist wirklich in seinem Zimmer gefunden worden… Nicht wer weiß wieviel, aber… Übrigens, was haben Sie da von der ,Kometa’ erzählt? Um was für eine Gesellschaft handelte es sich eigentlich?“ „Das war ‘ne einzige Gaunerei,“ erklärt Iliew, wieder zufrieden, Auskunft geben zu können. „Nichts Besonderes: ein Appartement mit drei Büros für die drei Chefs und ein Zimmer für die Buchhaltung. Das war die ganze ,Kometa’. Aber unsaubere Geschäfte mach-
ten sie haufenweise. Alles mit den Deutschen. Hitlerdeutschland lieferte Flugzeuge und Ersatzteile für unsere Armee. Die Lieferungen wurden über die ,Kometa’ abgewickelt. Sie war so was wie eine Vertretung. Die ganze Sache drehte sich darum, die drei Prozent abzusahnen. Was drei Prozent bei Lieferungen für Milliarden bedeuten, können Sie sich wohl vorstellen. All diese Dinge wurden schon seinerzeit im Prozeß aufgedeckt. Und deshalb wurde Medarow zu langer Gefängnishaft verurteilt.“ „Stimmt. Wie war es eigentlich möglich, daß Tanew mit Bewährung davonkam?“ „Na, weil sein Name, außer in der Firmenbezeichnung, nirgends zu finden war. Kostow und Medarow hatten alle Dokumente unterzeichnet, so daß Tanew als zweitrangig galt.“ „Obwohl er’s nicht war.“ Ich starre meinen Gesprächspartner an. Iliew rudert umständlich mit den Armen. „Schon möglich. Woher soll ich das wissen. Ich war bloß einfacher Chauffeur: ,Bring das dorthin! Fahr mich hierhin!’„ „Verstehe, obwohl Kraftfahrer gewöhnlich viel mitbekommen. Allein die Gespräche während der Fahrt…“ „Ha, die wußten, worüber sie reden konnten und worüber nicht. Füchse waren’s. Natürlich hab ich dies und das aufgeschnappt. Aber das hab ich damals alles dem Untersuchungsrichter erzählt. Darüber gibt’s Protokolle.“
„Soso,“ sage ich wie zu mir selbst. „Zwei Kompagnons sind also verschwunden, und der dritte ist auch nicht da. Saubere Arbeit. Wo ist übrigens Kostow seinerzeit abgeblieben?“ „Kostow?“ Der Hausherr tut überrascht ob meines Interesses für einen längst Vergessenen. „Keine Ahnung. Medarow und Tanew dachten, er sei am siebenten September neunzehnhundertvierundvierzig, in der Nacht, mit einem deutschen Flugzeug geflohen.“ „Warum allein? Warum nicht die ganze ,Kometa’?“ „Um sich das Geld unter den Nagel zu reißen. Angeblich soll er die ganze Pinke mitgenommen haben.“ Die Antwort scheint erschöpfend zu sein. Aber ich bohre weiter: „Weshalb gerade einen Sack voll FilowBanknoten?“ Iliew will gerade antworten, als eine Tür geöffnet wird. In die Diele tritt ein etwa fünfzehnjähriger Junge. Er trägt einen neuen Mantel, unter dem Arm einen Geigenkasten. Er grüßt wie ein gut erzogener junger Mann. „Vati, ich gehe zum Unterricht,“ sagt er, als er unser ernsthaftes Gespräch bemerkt, und verläßt die Wohnung. „Ja… was wollte ich sagen?“ Der Hausherr runzelt die Stirn. „Von den Banknoten war die Rede.“ „Ach ja, die waren nicht viel wert. Das gesamte Geld wurde gegen Gold eingetauscht. Deshalb konnten seinerzeit, während des Prozesses, keine Bankeinlagen der ,Kometa’ ermittelt werden. Kostow soll die ganze Kassette mit Gold entwendet haben.“
„Solche Kompagnons waren das?“ „Schöne Kompagnons….“ sagt Iliew leicht verächtlich. „Wie Hund und Katze… nur vor den Leuten hielten sie zusammen…“ „Weshalb haben sie dann Kostow das gesamte Gold anvertraut?“ „Meiner Meinung nach haben sie’s nicht getan. Alle drei waren evakuiert. Nach Sofia-Knjashewo, in Kostows Haus. Dort scheinen sie ein gemeinsames Versteck für ihre Wertsachen gehabt zu haben. In der Nacht zum achten September hat Kostow es heimlich geleert und ist mit Andreew zum Flugplatz gefahren.“ „Mit welchem Andreew?“ „Dem Kraftfahrer. Andreew war bei Kostow Chauffeur. Zusammen mit Kostow verschwand auch Andreew.“ „Wohl auch nach Deutschland geflohen, wie?“ „Wahrscheinlich.“ Iliew zuckt die Achseln. „Glauben Sie das?“ „Weiß der Teufel…“ Der Hausherr sieht mich unschlüssig an. „So haben sie’s jedenfalls erzählt.“ „Hätten Sie das Weite gesucht?“ „Ich? Warum denn?“ „Und weshalb sollte sich Andreew aus dem Staube gemacht haben? Schließlich hatte er Frau und Kind. Aus welchem Grunde sollte er das alles im Stich lassen und sich nach Deutschland absetzen?“ „Keine Ahnung… So haben sie’s erzählt, damals.“ „Wie dem auch sei. Kehren wir in die Gegenwart zurück. Hatte Medarow irgendein Leiden? Hat er sich vor
irgendwas gefürchtet?“ „Er klagte über Herzbeschwerden, an was andres entsinne ich mich nicht,“ entgegnet Iliew. „Einerseits hatte er’s mit dem Herzen, anderseits ließ er nicht vom Mastika. Wenn auch nur zweihundert Gramm pro Tag, es ist schädlich. Eines Tages macht das Herz nicht mehr mit. So ist es auch gekommen.“ „So ist das….“ pflichte ich bei, „allgemein gesehen. Wenn auch nicht ganz…“ Ich starre den Hausherrn unverwandt an und sage in anderem Ton: „Hör’n Sie, Iliew. Was Medarow betrifft, da haben Sie zweifellos recht. Der Mann ist tot. Was das übrige angeht, so fürchte ich, Ihre Version deckt sich nicht mit den Fakten. Medarow ist keinem Herzschlag erlegen. Er wurde ermordet.“ „Ermordet?“ „Ja.“ Ich nicke. „Sie werden doch nicht erst jetzt diese Möglichkeit erwägen?“ Iliew stiert mich an, als verstünde er nicht. „Sie wollen doch nicht behaupten, bis jetzt nicht daran gedacht zu haben, Medarow könnte auch umgebracht worden sein?“ „Wie sollte ich?“ Iliew schaut mich erschrocken an. „Warum nicht?“ entgegne ich. „Weshalb würden wir sonst das Zimmer bewachen lassen? Weshalb hätten wir eine Haussuchung durchgeführt? Weshalb würde ich hier mit Ihnen plauschen? Meinen Sie, weil jemand einen Herzschlag bekommen hat? Jetzt reicht’s aber. Sie sind doch kein Kind mehr.“ „Mit keiner Silbe hab ich daran gedacht, wirklich!“ „Vielleicht haben Sie eine solche Möglichkeit erwo-
gen, waren sich allerdings nicht ganz sicher?“ „Aber nicht doch,“ beharrt Iliew. „Ich dachte mir, es hängt noch mit Medarows Haft zusammen…“ Ich versuche, den Blick des Mannes zu erhaschen, doch Iliew stiert gedankenlos die braune Porzellanfigur auf dem kleinen Tisch an. Vielleicht lügt er… Vielleicht versteht er wirklich nichts von Ermittlungsformalitäten. Ich stecke mir eine neue Zigarette an und warte. Zu welcher von diesen zwei Möglichkeiten werde ich mich durch das Verhalten des Hausherrn entschließen? Er sitzt immer noch so da, stiert blicklos auf die Kreuzung zwischen Hund und Pferd. „Ja….“ breche ich schließlich das Schweigen. „Von Ihnen hatte ich die meiste Hilfe erwartet.“ „Warum gerade von mir?“ Iliew kommt plötzlich zu sich. „Warum? Weil Sie Arbeiter sind. Weil dieser Staat Ihr Staat ist. Weil Menschen wie Sie seine sicherste Stütze sind.“ „Ich hab immer getan, was ich konnte,“ entgegnet Iliew müde. „Ich will mich nicht loben. Aber im Werk stellt man mich als Vorbild hin. Alles, was ich besitze, verdank ich dem Staat… Deshalb geb ich auch, was ich kann…“ Er schweigt, ich ebenfalls. Mechanisch zähle ich das Ticken der Wanduhr, im Sekundenabstand. Ich bin bei zehn angelangt. Der Mann wendet den Blick von der Porzellanfigur. Er sieht mich an. In seinen Augen lese ich Erregung, Leid, Flehen. „Was hab ich mir zuschulden kommen lassen? Seit vielen Jahren bin ich Bestarbeiter. Hab ‘ne Wohnung. Der eine Sohn hat bereits das Abitur und leistet jetzt seinen
Dienst bei der Armee. Der andere ist Klassenbester. Er nimmt auch Geigenunterricht… Geige… Ich in seinem Alter kannte nur ein Instrument – den ‚Franzosen‛. Und er… Na, Sie haben ihn ja gesehen. Die Kinder wachsen heran. Wir arbeiten. Leben wie Menschen… Und plötzlich taucht da einer von früher auf, nistet sich bei mir ein und bringt alles wieder durcheinander. Sagen Sie bitte, wessen ich mich schuldig gemacht habe, außer daß ich so dumm gewesen bin, ihn aufzunehmen?“ Der Mann sieht mich an, als erwarte er eine Erklärung von mir. Doch mein Beruf besteht darin, Erklärungen zu suchen, anstatt zu geben. Iliews Klage scheint wirklich aufrichtig zu sein. Das Wort „scheint“ ist allerdings ein dehnbarer Begriff. „Sehn Sie, Iliew, ich behaupte nicht, Sie seien schuldig. Nur hab ich auf Sie gezählt: Sie könnten sich an einiges erinnern, auf einige Details hinweisen, die Sie damals womöglich bei den Ermittlungen vergessen haben.“ „Was ich wußte, hab ich gesagt. Kann sein, ich hab was vergessen. Wie soll ich das noch wissen. Zwanzig Jahre sind seitdem vergangen… Alte Kamellen…“ „Das stimmt, aber das Alte ist manchmal schwer kleinzukriegen. Urteilen Sie selbst: Man denkt, alles ist vorbei. Plötzlich kehrt ein Mann aus der Vergangenheit zurück. Wie schon Lenin sagte, kann man das Alte nicht wie eine Leiche in einen Sarg packen und vergraben. In seinem Verwesungsprozeß verpestet es manchmal die Luft. Dann müssen sich Leute wie ich ans Desinfizieren machen. Lassen wir die Verallge-
meinerungen. Wenden wir uns lieber den kleinen Dingen des Alltags zu. Ist die ferne Vergangenheit aus dem Gedächtnis entschwunden, begnügen wir uns mit der nahen. Was hat Ihr Untermieter gestern alles angestellt?“ Bei dieser unverhofften Wende des Gesprächs scheint Iliew zu schauern. Der Mann ist überhaupt ziemlich schreckhaft. „Gestern?“ fragt er, um Zeit zu gewinnen und sich zu sammeln. „Och, gestern hat er nichts Besonderes gemacht. Er war den ganzen Tag zu Hause, wie mir meine Frau erzählte.“ „Und wann hat er das Haus verlassen?“ „So gegen acht Uhr abends. Denn ich war kurz zuvor heimgekommen. Das ist gewöhnlich um halb acht.“ „Hat er nicht gesagt, wo er hingeht?“ „Nein, er war nicht sehr gesprächig.“ „Ist Ihnen etwas Besonderes an seinem Verhalten aufgefallen?“ bohre ich weiter. „Nein. Er schloß seine Tür ab – das tat er immer – und verließ die Wohnung.“ „Und Sie?“ „Was heißt ,ich’?“ fragt Iliew mißtrauisch. „Sind Sie gestern abend nicht fortgewesen?“ Das Mißtrauen meines Gesprächspartners verwandelt sich in Unruhe. „Nein.“ „Schön“, sage ich und stehe auf. „Soviel für heute. Obwohl ich, offen gestanden, erwartet hatte, mehr von Ihnen zu erfahren.“ Iliew erhebt sich ebenfalls. „Ich möcht Ihnen schon nützlich sein. Aber mehr
weiß ich nicht. Die Sirakows, denk ich, werden Ihnen mehr sagen können. Denen hat er vielleicht was erzählt. Wer bin ich schon? Ein ehemaliger Chauffeur… Dafür hielt er mich noch immer…“ „Das bezweifle ich nicht. Aber die Schuld liegt auch bei Ihnen. Sie hätten’s ihm nicht erlauben dürfen. Schon lange sind Sie mehr als der Chauffeur von einem Nichtsnutz, stimmt’s?“ Iliew nickt. Doch auf seinem Gesicht keine Spur von Selbstgefühl. „Gut“, murmele ich und drücke meine Zigarette im Ascher aus. „Ich werde auch die Sirakows aufsuchen.“ Bei diesen Worten breche ich auf, begleitet vom Hausherrn. An der Korridortür hat mich ein neuer Gedanke gefangengenommen. Ich zeige auf den Lichtschalter und verfolge mit den Augen das herunterhängende Kabel. „Weshalb ist die Installation nicht in Ordnung?“ Ich drehe mich plötzlich zu Iliew um. „Na, weil… weil man vergessen hat, hier in der Diele Licht zu legen… Solche Pannen passieren eben…“ Der Hausherr versucht zu lächeln. Aber sein Herz hüpft nicht gerade vor Freude. „Und wer bringt Ihnen das in Ordnung?“ „Ich selber, wer sonst?“ „Sie verstehen also was davon?“ „Wenn’s um Schalter geht…“ Das Gespräch ist beendet. Das Abschiedszeremoniell will ich nicht beschreiben. Solche Details ziehen das Ganze bloß in die Länge. Um so mehr, als das Lächeln auf beiden Seiten etwas müde wirkt. Es fehlt die Über-
zeugung. Iliew ist ein bißchen verstimmt über meinen Besuch. Ich bin etwas enttäuscht von dem mageren Resultat. Draußen umfängt mich plötzlich die Dunkelheit der Nacht. Poetisch drückt man das wohl so aus. Doch in diesem Fall trügt das Dichterwort. Die Nacht ist hell, von Neonlicht erfüllt. Im Schein der fluoreszierenden Röhren wirken die Scheinwerfer der Autos trübe… Ich schlendre an einem neuen Cafe vorbei. Es befindet sich in der ersten Etage. Das Etablissement ist erleuchtet wie ein fröhlicher Kahn. Drinnen unterhalten sich angeregt junge Leute beiderlei Geschlechts: sicherlich über Kybernetik und die nachlassende Kognakqualität. Die süße Stimme der französischen Sängerin Dalida klingt herüber. Da fällt mir ein, ich habe eigentlich schon Feierabend. Also kann ich den Arbeitstag mit Kaffee und Kognak beschließen, trotz dessen nachlassender Qualität. Zwei Minuten später sitze ich direkt am Fenster, an einem dreieckigen Tischchen, zu dem mich eine sympathische Serviererin geführt hat, zum Leidwesen eines Kavaliers und seiner Dame. „Hoffentlich stör ich nicht“, murmele ich beinahe ohne Schadenfreude den beiden zu. Die jungen Leute würdigen mich keines Blickes. In schweigender Harmonie beschließen sie, sich so zu verhalten, als wäre lediglich ein leerer Stuhl an den Tisch gestellt worden. „…Wenn du Freud nicht gelesen hast, sage ich zu ihm, weshalb redest du dann von Tiefenpsychologie“, setzt der Kavalier das Gespräch mit seiner Dame fort.
„Um zu wissen, was Positivismus ist, meinte er, braucht man nicht Auguste Comte zu verschlingen.“ „Gut gekontert“, urteilt die Dame – so nebenbei, kaum älter als achtzehn. Der Kavalier ist bedeutend reifer. Er steuert auf die Zwanzig zu. Sein würdiges Alter wird von so was wie einem Bart, wenn auch recht mickrig, unterstrichen, der die untere Hälfte des Gesichts einrahmt. „Quatsch…“, protestiert der Kavalier, indem er die Zigarette auf den Tisch klopft, die er seit geraumer Zeit anzünden will. „Auguste Comte braucht man nicht zu lesen, zu seinen Auffassungen besteht bereits eine feste Meinung. Bei Freud ist das was anderes. Er wird auch künftig diskutiert werden. Wenn du also mitreden willst, mußt du ihn gelesen haben.“ „Hast recht“, stimmt ihm die Dame zu. „Obwohl ich persönlich weiß, was ich von dem Freudschen Gewäsch zu halten habe.“ „Warum ihn dann lesen?“ fragt die Dame. „Weil…“ „Bitte“, unterbricht die Serviererin. Sie bringt mir Kaffee und Kognak. Um mir eine Ecke des Tisches frei zu machen, der mit Tassen, Tellern und Damenutensilien bepflastert ist, muß das Pärchen für kurze Zeit aus der Isolierung auftauchen. Kaum hat sich die Serviererin entfernt, bin ich für die beiden schon wieder nicht mehr da. Von neuem beherrscht Freud das Gespräch. Ich nippe von dem altgoldfarbenen Getränk. Sein Geschmack ist gar nicht so übel. Zerstreut werfe ich einen Blick durch das breite Fenster. Unter mir Tausende
flimmernder Lichter, erleuchtete weiße Hochhausfassaden. Die Autos auf den Straßen bilden bunte Lichtgirlanden. Als Schulkinder haben wir mit unserer Lehrerin einen Ausflug in eines der heutigen Neubauviertel gemacht. Die Gegend war damals von der Zivilisation noch unberührt: grasbewachsene Hügel, Krokusse, Heckenrosen mit Dornen und sauren roten Früchten, deren Härchen die Kehle reizten; Schafherden, denen wir uns nicht nähern durften wegen der bösartigen Hunde; herbstgelbe Sträucher, in denen womöglich Indianer lauerten. Ja, die Zeiten ändern sich, wie es bei den alten Philosophen aus dem Lateinunterricht heißt. Heute singt hier Dalida, man plaudert über Freud. Damals stolperte Ihr ergebener Peter Antonow als letzter durch das unebene Gelände, das unbekannte Gefahren barg. Ich bildete immer das Schlußlicht, um nicht das schöne Bild zu stören, denn ich war am schlechtesten angezogen, von allen Kindern. Meine Kleidung war immer aus Vaters alten Sachen geschneidert. Da er sie bis zum letzten guten Faden tragen mußte, der Umstände halber, waren schon meine neuen Anzüge geflickt. Mutter machte das, so gut sie’s konnte. Unweigerlich sicherte sie mir damit den Platz am Ende der Reihe. Ich persönlich war mit ihm sehr zufrieden. Hinten wird man nämlich nicht behelligt, kann ungestört seinen Gedanken nachhängen. Was ich auch tat. In jener Zeit, von der hier die Rede ist, war mein Sinnen und Trachten vorwiegend darauf gerichtet, Torwart der Nationalmannschaft zu werden. Ich malte mir aus,
wie ich der ganzen Welt zeigen würde, was ein richtiger Torhüter ist. Mein Plan war kühn, aber einfach: In dem Augenblick, da der gegnerische Sturm den Ball auf mein Tor zuspielen würde, wollte ich ihn mit dem Fuß annehmen, blitzschnell über das ganze Spielfeld sausen und dem Gegner einen unhaltbaren Ball zwischen die Pfosten knallen. Davon sollten noch kommende Generationen in den Fußballbüchern lesen. Leider konnte ich mein Projekt nicht realisieren, obwohl es ganz simpel war; nicht nur deswegen, weil ich nicht in die Nationalmannschaft kam. Niemals hatte ich ein richtiges Leder vor den Füßen. Nur Herrensöhnchen konnten sich diesen „Luxus“ leisten. In unserem Wohngebiet spielten die Kinder mit Bällen aus Lumpen. Obwohl sie schwer waren und nicht sprangen, erfüllten sie ihren Zweck. Aber nicht bei internationalen Spielen. Ich genehmige mir noch einen Schluck Kognak und lasse auch den Kaffee nicht unberührt, er ist schon kalt geworden. Das Mädchen am Tisch, beruhigt von meiner abwesenden Miene, hat das Gesprächsthema gewechselt – von Freud zum Problem des Geschlechtstriebs oder der Libido im besonderen. „Mir ist schleierhaft, womit dich diese Wessa so bezirzt hat“, flüstert die Dame halblaut. „Mit gar nichts… Sie ist eben ein gebildetes Mädchen…“, wispert der Freudgegner zurück. „Gebildet! Sieh mal einer an! Sobald ein Mädchen ‘nen großen Busen hat, haltet ihr sie für gebildet.“ „Ach, du…“, protestiert der Halbrasierte und legt beruhigend seine Hand auf die der Dame. Mit der mir
eigenen Diskretion gucke ich wieder durchs Fenster. Meine Gedanken kehren zur Vorgeschichte des Peter Antonow zurück. Dem Fußballspleen folgte der Musikfimmel. Natürlich im Zusammenhang mit einer Schubertserenade. Im Schülerkino lief ein Film darüber. Die Karten waren erschwinglich. Der Hauptheld in der Rolle des Franz Schubert spielte auf der Geige. Unterm Fenster der Angebeteten. Das Zelluloid war so zerkratzt, als wäre der Film bei strömendem Regen gedreht worden. Dabei regnete es gar nicht. Im Gegenteil. Der Mond schien. Geheimnisvoll schimmerte der See. Die Geige klagte. Mir tat sogar das Herz weh. Zu meiner Rechtfertigung: Ich war gerade im Stimmbruch, ein Alter, da sich viele im Versemachen versuchen. Meine Musikbegeisterung war unschuldiger als die Gedichte. Aus einem einfachen Grund: Ein solches Instrument war für mich unerschwinglich. „Eine Geige? So ein Blödsinn!“ meinte meine Mutter. „Hast du überhaupt ‘ne Vorstellung, was so ein Ding kostet? Das können sich nur Reiche leisten.“ „Ja, ich hab verstanden!“ flüstert in diesem Moment die Dame neben mir und entzieht dem Kavalier ihre Hand. „Hör endlich auf, mich mit dieser Wessa zu langweilen.“ „Hast ja selbst davon angefangen“, rechtfertigt sich der Opponent des Freud. „Stimmt nicht. Und überhaupt, ich bin der Meinung, es ist an der Zeit, daß du dir klar wirst über deine Beziehungen. Wessa oder ich.“ Um dem Bärtigen die Möglichkeit zu geben, sich
gleich und für alle Ewigkeit zu entscheiden, lege ich die Summe, die ich zu bezahlen habe, auf den Tisch und breche auf. Um so mehr, als das Kognakglas leer ist. Ich schlendre durch das von Jugendlichen bevölkerte Cafe und denke: Diese Schwäche für den Kognak, wenn auch nur hundert Gramm am Abend, wird zu einer schlechten Gewohnheit. Werde damit Schluß machen müssen und … eine andere Wahl treffen. Vielleicht Mastika. Wie der verblichene Medarow. Mit diesem asketischen Entschluß verlasse ich das Etablissement. Die nächtliche Neonbeleuchtung nimmt mich wieder auf.
ZWEITES KAPITEL In der Heiligen Schrift steht richtig geschrieben: Da ward aus Abend und Morgen der andere Tag. Eins haben die Verfasser allerdings nicht bedacht: Obwohl der zweite Tag schon angebrochen ist, sind meine Ergebnisse noch gleich Null. Die erste Spur mit Namen Iliew verlief im Sande. Wir müßten uns also der zweiten zuwenden, genannt „Tanew“. Das ist eine Zeitfrage. Nimmt eine Version in deinem Kopf Gestalt an, dann mußt du einen bestimmten Zeitplan einhalten. Beim Verfolgen der Spuren. Kurz, mit Tanew hat’s noch Zeit. Weil ich noch Zeit habe, muß ich sie irgendwie
totschlagen. Manche Leute gehen in solchen Fällen ins Kino. Ich mache lieber einen Besuch. Auf dem Schild an der Tür, vor der ich stehe, der Name „Sirakow“. Schön geschwungene Handschrift. Ein Zeichen von Kultur, nicht? Ob jemand zu Hause ist? Erst nach dem dritten Läuten wird die Tür vorsichtig geöffnet. Im Türspalt eine ältliche weibliche Physiognomie, bißchen verschlafen. „Frau Sirakowa?“ „Was wünschen Sie?“ „Ich möchte Sie gern sprechen“, sage ich und zücke meinen Dienstausweis. In ihrem Gesicht vage Anzeichen von Erwachen. „Treten Sie näher! Mit wem möchten Sie sprechen, mit mir oder meinem Gatten?“ „Egal, kann auch mit beiden sein.“ „Ja gleich“, entgegnet die Frau und führt mich durch verschiedene dunkle, enge Räume, vollgepfropft mit scharfkantigen Möbelstücken. „Hier entlang, geben Sie acht, nicht stoßen… Wir hatten uns hingelegt… Nach dem Essen ‘n kleines Nickerchen. Ist so unsere Gewohnheit…“ Mit blauen Flecken, sie rühren von zwei Büfetts und drei Kleiderschränken her, tauche ich wieder im Tageslicht auf. Ich befinde mich in einem Zimmer mit direkter Beleuchtung. Offensichtlich kommt ihm die Ehre eines Gastzimmers zu. Plötzlich verschwindet die Hausherrin, die immer noch ihr „Ja gleich“ brummelt, und von Angesicht zu Angesicht stehe ich einem jungen Mann gegenüber: widerspenstiger Haarschopf, selbstsicherer Gesichtsausdruck. Der
Mann steckt in einem Rahmen. Seine Visage ist retuschiert und erinnert an ein rohes Ei. Die große Fotografie ruht auf einem kleinen Ecktisch, zusammen mit einem Strauß Papierblumen. Daneben eine alte Klubgarnitur: Sofa mit vier Sesseln. Auf den Sofalehnen je ein Aschenbecher. Das bringt mich auf den Gedanken zu rauchen. Ich zünde mir eine Zigarette an und mache mir’s bequem. Wir sind mal wieder zu Besuch. Sähe mich jetzt meine Tante, würde sie bestimmt in Ohnmacht fallen. „Treibst dich bei fremden Leuten rum, aber um deine Tante hast du dich seit zwei Jahren nicht gekümmert. Ich muß wohl erst sterben, damit du mein Haus betrittst.“ Oh, ich fürchte, auch dann nicht. Außer: gewaltsamer Tod. In diesem Augenblick nimmt mein musikalisches Gehör, immerhin das eines verhinderten Geigers, im Nebenzimmer Gemurmel wahr. Ziemlich laut. Zwei Stimmen – eine männliche und eine weibliche. Die Worte sind nicht zu verstehen. Sicherlich ein Zusammenprall der Charaktere. Familienangelegenheiten. Ehepsychologie. Kurz darauf wird die Tür geöffnet, und Frau Sirakowa tritt ins Wohnzimmer, gefolgt von ihrem Gatten. Er ist ein paar Jährchen älter als seine Frau, in dem undefinierbaren Alter zwischen fünfzig und sechzig. Große Statur, leicht gebeugt. Lichtes Haar. Finsteres Gesicht. Höchstwahrscheinlich ist schlechte Laune bei ihm ein Dauerzustand. „Mein Gatte.“ Frau Sirakowa lächelt. Sie will liebenswürdig erscheinen. Die Hausherrin möchte meine dienstliche Visite zu
einem offiziellen Besuch erheben. Der Hausherr scheint zu solchen Spielchen nicht geneigt: „Dein Gatte!“ Mit tödlicher Verachtung fixiert er die Gefährtin seines Lebens. Und als er mir flüchtig die Hand gegeben hat: „Sie sehen, Herr Inspektor, zwanzig Jahre freies Leben reichen nicht aus, um die Besitzerinstinkte mancher Menschen zu töten. Ich bin eben ihr Gatte!“ „Was hab ich Schlimmes gesagt?“ fragt die Frau des Hauses mißtrauisch. „Machen Sie sich nichts draus, Herr Inspektor, meiner ist nun mal so. Bei jeder Lappalie geht er hoch. Na, und heute hat er Migräne … deshalb hütet er das Haus … Ist eben ein komischer Kauz.“ Sirakow hievt sich schwerfällig in einen Sessel, den Blick starr auf die Fotografie in der Ecke gerichtet. „Was soll das, Kosta …“, sagt seine Frau mit weinerlicher Stimme und läßt sich in den anderen Sessel fallen. „Blamier mich nicht vor den Leuten.“ „Vielleicht ein unpassender Moment“, bemerke ich. „Wie’s scheint, habe ich eine familiäre Auseinandersetzung unterbrochen…“ „Keine Bange“, entgegnet Sirakow. „Sie währt schon über ein Vierteljahrhundert.“ „Also zwecklos, das Ende abzuwarten?“ „Eben … Zumal zwischen uns“, bei diesen Worten zeigt Sirakow gestikulierend auf sich und seine Frau, „ein Toter liegt!“ „Ein Toter?“ „Ja“, nickt Sirakow finster. „Und wer ist es? Pardon, aber das fällt irgendwie in
meine Branche…“ Zackig, sogar etwas theatralisch, zeigt Sirakow mit seinem langen Arm auf die Fotografie: „Der dort!“ „Aha…“, murmle ich und beuge mich vor. „Und wer ist das?“ „Da siehst du’s!“ schreit der Hausherr seiner Frau fast feierlich ins Gesicht. „So weit hast du’s gebracht! Nicht mal ein Kriminalinspektor erkennt mich!“ Hier wendet sich Sirakow mir wieder zu und weist auf das Porträt, als schwinge er den Säbel. „Das ist Kosta Sirakow. Wissenschaftler und Philosoph. Tot, vernichtet. Und der Mann vor Ihnen“, er sticht sich die imaginäre Waffe in die Brust, „ist Kosta Sirakow, die Ruine. Sirakow, der Buchhalter. Trauriger Rest einer toten Vergangenheit…“ „Schwierig“, seufze ich. „Doch bringt uns das gewissermaßen dem Grund meines Besuchs näher. Interessiere mich ebenfalls für einen Verblichenen. Iwan Medarow.“ „Waaas?“ schluchzt die Hausfrau und schiebt ihre volle Gestalt vor. „Ja, Bürgerin“, sage ich in dienstlichem Ton, den ich mir für solche Fälle vorbehalte. „Peinlich, daß gerade ich Ihnen das mitteilen muß: Ihr Bruder weilt nicht mehr unter den Lebenden.“ Frau Sirakowa ist dem Heulen nahe, begnügt sich allerdings unter dem drohenden Blick des Gatten damit, ein paar Tränen zu zerdrücken. Ich zünde mir eine neue Zigarette an, erleichtert, die delikate Angelegenheit erledigt zu haben. In diesem Augenblick brummelt
der Hausherr zänkisch: „So peinlich ist’s auch wieder nicht…“ „Kosta, schäm dich!“ mischt sich seine Frau ein. „Mit Ihrem Respekt gegenüber dem Toten scheint’s nicht weit her zu sein“, bemerke ich. „Respekt?“ entgegnet Sirakow. „So einer verdient das nicht, denn…“ Er blickt zu seiner Frau und verstummt. „Genieren Sie sich nicht“, ermutige ich ihn. „Spucken Sie’s getrost aus. Sie wollen also sagen…“ „… daß er’s nicht anders verdient hat“, brummt der Hausherr von neuem. „Klingt wie ein Todesurteil…“ „Wenn’s nach mir gegangen wär … ohne mit der Wimper zu zucken.“ „Kosta…!“ jammert die Sirakowa. „Schweig!“ schneidet der Mann ihr das Wort ab. „Ich hätt’s ihm verpaßt. Hätte ich nur das Recht dazu gehabt.“ „Der das Urteil über Medarow verhängte und es wahrscheinlich auch vollstreckte, hatte ebenfalls keine gesetzliche Handhabe. Ich hoffe, Sie hätten nicht auf eigene Faust gehandelt.“ „Natürlich nicht… Ich bin überhaupt kein Mensch der Tat, Inspektor! Das ist meine Tragödie! Kosta Sirakow ist eine zu zarte Pflanze für diese rauhe Welt.“ Seine Stimme zittert vor verhaltenem Pathos. „Macht nichts“, besänftige ich den Leidgeprüften. „In diesem Fall ist es von Nutzen. Könnten Sie vielleicht Ihr kritisches Verhalten gegenüber dem Verstorbenen näher erklären?“
„Gegenüber dem Gangster, wollen Sie sagen?“ „Kosta!“ läßt sich die tränenerstickte Stimme der Sirakowa vernehmen. „Schweig!“ unterbricht ihr Mann. „Haben Sie mal was von der ,Kometa’ gehört?“ wendet er sich an mich. „Glaube, ja.“ „Gangsterbande, das war die ,Kometa’. Und einer von diesen Banditen war ihr verehrter Herr Bruder!“ Bei diesen Worten führt er eine Attacke gegen seine Frau, mit imaginärem Säbel. „Lieber Inspektor, als ich, unter dem Druck des Fortpflanzungsinstinkts, der jedem Individuum innewohnt, die hier Anwesende heiratete, wissen Sie, was dieser Wolf in Menschengestalt da fertigbrachte? Entzog ihr jegliche Unterstützung! Jegliche! Nicht bloß aus Geiz. Wegen eines ganz perfiden Ziels: den stolzen und unabhängigen Geist Kosta Sirakow in die Knie zu zwingen!“ Hier zieht er ein wenig den Kopf ein und schweigt, als überlege er, welchen Effekt seine Worte auf mich gemacht haben. „Ja…“, murmele ich. „Unangenehm…“ „Unangenehm? Tragisch, Herr Inspektor! Erpreßt von einem Halsabschneider, attackiert von einer spießbürgerlichen Frau… den lieben langen Tag…“ „Hab es doch fürs Kind getan, Kosta…“ „Halt den Schnabel!“ Ohne sie eines Blickes zu würdigen, fährt er fort: „In die Enge getrieben, von zwei Seiten, hat es Kosta Sirakow nicht ausgehalten und kapituliert… Die zarte Blume ward in den Dreck getreten, von der Walze einer brutalen Zeit… Schluß mit dem Studium der Philosophie, Schluß mit den Träu-
men von einer wissenschaftlichen Karriere. Statt dessen Buchhalter in der ,Kometa’, für einen Bettellohn…“ „Hm…“, ist meine Antwort. Sie kann alles mögliche heißen. „Haben Sie von anderen verbrecherischen Handlungen des Unternehmens Kenntnis? Außer dem Betrug an Ihrer Person…“ „Der ganze Betrieb war ein Verbrechen“, schreit Sirakow. „Wie meinen Sie das?“ „Na, überlegen Sie mal selbst: Millionen und aber Millionen Lewa Einnahmen, ohne faktisch einen Finger dafür zu krümmen. Lediglich Prozente auf phantastische Kriegslieferungen! Weshalb gaben die Vertreter der Hitlerarmee solche immensen Summen gerade den Gaunern von der ,Kometa’, wie?“ „Sie wissen das wohl besser.“ „Und ob ich’s weiß!“ Hier beugt sich der Hausherr vertrauensvoll zu mir, ohne die Stimme zu senken, und brummt mir ins Ohr: „Gestapofiliale. Das war die ‚Kometa’. Wenn Sie mich fragen, Herr Inspektor!“ „Und warum haben Sie das nicht damals, während des Prozesses, gesagt?“ Sirakow winkt verächtlich ab. „Wozu, wenn man’s nicht beweisen kann. Das Dreigestirn war nicht von gestern: hatten alle Unterlagen und Spuren beseitigt. Aber Sirakow ist nicht auf den Kopf gefallen: Kommen und Gehen hitlerfaschistischer Oberste als Techniker und Instrukteure, Geflüster in den Büros, Ko-
stows und Tanews ständige Reisen durch das Land – war alles sonnenklar, speziell mir…“ „Wer war Ihrer Meinung nach der Kopf?“ „Kostow natürlich“, entgegnet Sirakow, ohne zu überlegen. Nach einer Weile – er kratzt sich quer über den Schädel: „Obwohl… In letzter Zeit hatte Tanew die Fäden in der Hand. Er war der Jüngste und Rücksichtsloseste in der Bande. Meistens verhandelten sie in seinem Büro. Medarow, ja selbst Kostow haben vor ihm gezittert.“ „Gezittert?“ „Ja! Auch bei Gangstern gibt’s verschiedene Abstufungen.“ „Hm…“ Wieder dieser vielsagende Einwurf. „Und wie war’s möglich, daß Kostow im letzten Moment entkam?“ „Keine Ahnung. Sie waren nach Knjashewo evakuiert. Ich wurde noch Soldat, hier in Sofia. Hab sie nicht wieder gesehen. Wegen des Gehalts hatte ich meine Frau geschickt. Unschwer zu erraten, wie’s passiert ist: Tanew mag gefährlich gewesen sein, mit seiner Pistole am Gürtel. Der größere Fuchs war allerdings Kostow. Hat gerochen, da tut sich was, hat mit den Nazis seine Flucht klargemacht und ist auf und davon…“ „Mit dem ganzen Zaster…“, füge ich hinzu. „Selbstverständlich. In den letzten zwei Jahren, mit zunehmender Inflation, haben sie ihre gesamten Bankeinlagen gegen Gold eingetauscht.“ „Da wir gerade von Gold reden: Wovon hat Ihr Bruder in letzter Zeit gelebt?“ wende ich mich an die
Hausfrau. „Na…“, setzt sie an, verstummt aber wieder und guckt ängstlich zu ihrem Mann. „Sprechen Sie nur!“ ermuntere ich sie. „Hier muß man alles sagen. Wie beim Arzt.“ Frau Sirakowa schluckt, mit ängstlichem Blick auf ihren Mann. „Eine Kassette hatte mir mein Bruder damals gegeben. Sollte sie ihm verwahren…“ Sirakows Rechte holt wieder zur Fechtbewegung aus und zielt auf die üppige Figur seiner Frau, das empörte Gesicht mir zugewendet: „Mit so was leb ich unter einem Dach!“ Ein vernichtender Blick auf die Gefährtin seines Lebens: „Verräterin! Judas Ischariot!“ „War immerhin mein Bruder, Kosta…“, rechtfertigt sie sich greinend. „Familienandenken waren drin, Mutters alte Ketten…“ „Und wie sah die Kassette aus?“ frage ich. „Viereckig. Aus Stahl.“ Mit den Händen versucht sie, die Größe zu zeigen. „Wo früher die Krämer tagsüber ihr Geld aufbewahrten… genau so eine.“ „Haben Sie die Kassette nicht mal aufgemacht? Familienandenken haben immer was Unwiderstehliches.“ „Wie sollte ich? Das Ding ließ sich nur mit einer Chiffre öffnen. Sonst hätte sie mir Iwan, mißtrauisch wie er war, kaum anvertraut.“ „Jaaa… den Liebesdienst, den Sie Ihrem Bruder erwiesen haben, nennt man Begünstigung einer strafbaren Handlung. Gut, daß Sie gestanden haben. Wäre interessant, was die Kassette enthalten hat…“ „Weiß nicht.“ Die Sirakowa zuckt ihre vollen Schultern. „Vor mir hat er sie nicht geöffnet…“
„Sie haben doch sicherlich mal geschüttelt, um zu hören, wie Mutters Ketten so klappern?“ „Nichts hat geklappert. Er hatte die Kassette ausgestopft, war allerdings ziemlich schwer.“ Das letzte Detail scheint Sirakows Phantasie anzuregen, weil er wieder seine Frau angeifert: „Verräterin! Judas!“ „Kosta! Er war mein Bruder.“ Und an mich gewendet: „Sie haben die Kassette bestimmt gefunden… Er bewahrte sie immer in seinem Koffer auf…“ „Bis jetzt noch nicht“, sage ich. „Wir würden Ihnen Bescheid zukommen lassen… Warum ist Ihr Bruder eigentlich weggezogen?“ „Rausgeschmissen hat er ihn!“ jammert die Sirakowa. „Weshalb langes Federlesen machen!“ läßt sich finster der Gatte vernehmen. „Meinen leiblichen Bruder vor die Tür zu setzen, stell’n Sie sich das vor“, erläutert Medarows Schwester händeringend. „Gangster im Haus, das fehlte mir noch“, geifert er weiter. „Und wie hat er sich aufgeführt, solange er hier war?“ frage ich. „Hier?“ ruft Sirakow aus. „Nie gewesen. Als ich ihn kommen sah, hab ich angeordnet, ihn auf den Boden zu verfrachten.“ „So hat er’s gemacht, hat man da Töne!“ ergänzt die Hausfrau. „Meine Tochter hat oben ihr Atelier, und er,
mein Mann, stellen Sie sich das mal vor, zwang meinen Bruder, mit der Nebenkammer vorliebzunehmen.“ „Ich bin nicht ‚deiner’, kapier das endlich!“ bricht es fast wie ein Schrei aus ihm. „Schon gut, machen Sie das unter vier Augen aus.“ Dann wende ich mich an die Ehefrau: „Ich hoffe, Sie haben sich mit dem Verstorbenen wenigstens unterhalten?“ „Was denn sonst!“ „Und worüber?“ „Wie soll ich mich noch erinnern, Herr…“ Die Frau starrt mich hilflos an, mit traurigen Augen. „Hat er Tanew erwähnt?“ versuche ich nachzuhelfen. „Und ob. Ihn beschäftigte nur eins: herauszubekommen, wo sich Tanew verkrochen hat.“ „Wo ist das Versteck?“ „Ja, wo wohl. Tanew schuldete ihm noch Geld, und nachdem der erfahren hatte, Iwan sei aus der Haft entlassen, hat er sich aus dem Staube gemacht, um sich vor seinen Schulden zu drücken.“ „Schulden!“ mischt sich Sirakow ein und winkt verächtlich ab. „Wollten halbe-halbe machen, von dem Gestohlenen. Die Gauner kenn ich.“ „Was denn? Hat Ihr Bruder in Erfahrung gebracht, wo sich Tanew versteckt hält?“ wende ich mich erneut an die Sirakowa. „Nein, das ist’s ja grade“, seufzt sie. „Ist ihm nur gelungen, Iliew, ihren ehemaligen Chauffeur, ausfindig zu machen. Gleich am nächsten Tag ist er zu ihm gezogen.“
„Also haben Sie Medarow, im Grunde genommen, gar nicht fortgejagt?“ sage ich zu Sirakow. „Na, Gewalt hab ich nicht angewandt“, brummt er. „Bin ‘ne sensible Natur. Delikat. Hab ihn mit meinem Haß vergrault. Durch mein Schweigen. Durch meines edlen Geistes Verachtung für diesen erbärmlichen Kerl!“ „Hm… Immerhin was.“ „Nach dem Alten Testament hätt ich ihn vernichten müssen.“ „Meiden Sie die Mosaischen Gesetze“, rate ich ihm. „Seit geraumer Zeit sind sie nicht mehr in Kraft.“ „… Hätt ihn vernichten sollen“, wiederholt der Hausherr, „ebenso, wie er es einst mit dem Philosophen Kosta Sirakow tat. Bei diesem großartigen Prozeß, der sich heute in unserm Leben vollzieht, zugucken zu müssen und nicht in der Lage zu sein, daran teilzunehmen, stell’n Sie sich das vor!“ „Weshalb nicht?“ Ich gebe meiner Verwunderung Ausdruck. „Wer hindert Sie daran?“ „Wer? Aber als was soll ich mich denn an diesem historischen Geschehen beteiligen? Etwa als Buchhalter?“ „Nicht alle können Meisterwerke schreiben“, lenke ich versöhnlich ein. „Wer soll das lesen?“ „Alle nicht“, stimmt mir der Hausherr zu. „Aber ich hätte es gekonnt. Sehn Sie…“ Er zwängt seinen massigen Körper zwischen den Sesseln durch. Wühlt in den unterm Tischchen aufgestapelten alten Zeitschriften. Zieht triumphierend ein vergilbtes, zerknittertes Manu-
skript vor. Nicht umfangreich. Hebt es in Augenhöhe. Hält es entsprechend weit von sich ab, wegen seiner Weitsichtigkeit. Mit Rührung in der Stimme fängt er an zu lesen: „Descartes oder die Vereinigung der Materie mit dem Geist.“ „Na schön“, beeile ich mich, ihn zu unterbrechen. Solange noch Zeit ist. „Apropos, was halten Sie von Vereinigung mit elektrischem Strom?“ Sirakow sieht mich entgeistert an, wegen der unverhofften Frage. Auf seinem Gesicht betonte Verachtung. „Herr Inspektor, ich hab mich über die Geheimnisse der geistigen Phänomene ausgelassen, nicht der physikalischen… Die erste, leider auch einzige Arbeit des jungen Sirakow…“ Wieder hebt er das Manuskript fast pathetisch, als suche er die für seine Weitsichtigkeit passendste Entfernung. Ich stehe rasch auf, murmele liebenswürdig: „Na, denn… Obwohl, strenggenommen…“ Zwei Minuten später habe ich es schon auf eine ungefährliche Distanz zwischen mir und dem Philosophen gebracht: Ich befinde mich im Dachgeschoß des Hauses. Auf dem Schild an der frisch gestrichenen grauen Tür lese ich: Lida Sirakowa – Malerin. Keine Klingel. Daher der Hinweis: „Stark klopfen!“ Ich komme der Aufforderung nach. Die Tür wird weit geöffnet. Auf der Schwelle eine junge Frau. „Sind Sie der Elektriker?“ „Nicht ganz. Ich bin von der Miliz.“ „Ach so. Treten Sie näher!“ Die junge Frau scheint weniger verwirrt als vielmehr neugierig. Gastfreundlich führt sie mich in einen großen Raum, sehr hell und
kunstvoll in seinem Durcheinander. In einer Ecke Leinwandstapel. An den Wänden Landschaften, deren künstlerischen Wert ich nicht beurteilen kann. Außer: die leuchtenden Farben. In der Mitte des Ateliers eine Staffelei, mit großer Leinwand bespannt. Auf dem Fußboden Paletten, farbbekleckste Glasscherben, Tuben, Pinsel, Fläschchen. Eine Atmosphäre, die gewisse Lücken in meinem Kunstverständnis füllen könnte. Andere Lücken machen mir aber im Augenblick mehr zu schaffen. „Nehmen Sie Platz“, fordert mich Lida einladend auf. Sie nimmt die bunten Trachtenschürzen vom Stuhl und bemerkt meinen fragenden Blick. „Ich male gerade eine Landschaft und versuche, mich vom Kolorit dieser Schürzen inspirieren zu lassen…“ „Aha.“ Ich nicke. „Und wenn Sie Schürzen entwerfen, gehen Sie von den Farben der Landschaft aus, ja?“ „Möglich.“ Lida lächelt. „Ich entwerfe allerdings keine Schürzen, sondern male Landschaften. Es gibt nämlich Dekorationsmaler und Kunstmaler. Ich gehöre zur zweiten Kategorie.“ „Aha“, wiederhole ich, nehme Platz und gucke mich um. „Und nirgends das Porträt Ihres Untermieters.“ „Fast erraten.“ Lida lächelt wieder. „Ich wollte ihn wirklich porträtieren, arbeite aber gerade an zwei Landschaften. Macht nichts, hat ja Zeit.“ „Zeit hat’s noch, stimmt. Nur ein bißchen kompliziert, ohne das Modell.“ Die Malerin starrt mich an. Ich sie ebenfalls und nicke. „Ja, mit ihm ist es vorbei.“
„Schade…“ „Um das Porträt? Oder…“ „Sie sind gut…“ Lida verzieht ihr Gesicht. „Um den Menschen natürlich. Obwohl…“ Sie verstummt. Sicher ist ihr die alte Regel eingefallen: über Tote entweder Gutes oder nichts. „Was heißt ,obwohl’?“ frage ich. „Obwohl er zu dem Schlag Menschen gehörte, die weniger Mitleid erwecken als vielmehr so was wie Angst einflößen.“ „Angst?“ „Ja, wenn ich ihn so schweigend in der Ecke sitzen sah – langer Hals, hervorspringender Adamsapfel, erloschener, doch irgendwie lauernder Blick, Hakennase. Immer dachte ich an einen Aasgeier aus dem Zoologischen Garten… So wollt ich ihn auch malen. Er sollte einem gealterten, müden Raubvogel gleichen…“ „Interessant… Allerdings nicht sehr attraktiv. Hat er oft hier bei Ihnen gesessen?“ „Jeden Tag. Die Kammer da drüben hat keinen Ofen, und weil’s schon empfindlich kühl ist, hab ich dem alten Mann gesagt, er könne sich hier im Warmen aufhalten. Er kam. Setzte sich auf den Stuhl dort in der Ecke. Verweilte so stundenlang, fast unbeweglich.“ „Ideales Modell. Und wovon sprach er in den Pausen?“ Lida kraust verächtlich die Nase. „Worüber schon… Ein Mann, aus der Vergangenheit gekommen… Das Bild sollte den Titel kriegen: ,Der Mann aus der Vergangenheit’. Seltenes Exemplar einer Sippschaft, die sich nur von Diebstahl ernährte und fast
ausgestorben ist… Kannten Sie ihn persönlich?“ „Wir haben Bekanntschaft geschlossen. Ganz flüchtig. Im Sektionssaal.“ Lida runzelt die Stirn. „Hier hätten Sie ihn sehen müssen. Wie er krumm auf seinem Stuhl hockte, als döse und lauere er gleichzeitig. Ein Mensch, für den das Rauben keinen Sinn mehr hat. Der auch nicht weiß, was er rauben soll. Der keine Kraft mehr dazu hat. Bei dem aber der Reflex des Raubens erhalten geblieben ist.“ „Hm… Sie neigen zu Analysen. Sicher auf Grund Ihres Berufs. Meiner stellt bescheidenere Anforderungen. Und worüber haben Sie sich mit dem Räuber unterhalten?“ „Worüber kann man mit so einem Konversation machen“, entgegnet Lida fast ärgerlich. „In seinem Kopf drehte sich alles ums liebe Geld. Nahm ich neue Leinwand, pflegte er zu fragen, ob Leinwand teuer sei, ob man sehr viel Farbe für ein Bild brauche. Wieviel ein Bild einbringe. Einmal arbeitete ich gerade an einem Landschaftsbild, da wollte er wissen, wem ich’s verkaufen werde. Als ich ihm sagte, speziell dieses würde ich wohl nicht verkaufen, ich male, weil es mir Spaß macht, hat er verständnislos den Kopf geschüttelt.“ „Wirklich interessant.“ Ich versuche, mir nicht anmerken zu lassen, wie ich das Gähnen unterdrücke. „Und was berichtete er über sich?“ „Nichts. Nur ein einziges Mal kam die Rede auf die Zeit im Gefängnis. Er hätte lange gesessen, meinte er, aber verdient.“
„Kluge Einsicht.“ „Ja, allerdings hatte er dabei an was andres gedacht: Jede Dummheit wird bestraft. Seine Dummheit wäre es gewesen, am fünften September nicht das Weite gesucht zu haben. Worüber wollen Sie sich mit einem Menschen unterhalten, der nicht mal einsieht, daß sein ganzes Leben eine einzige Dummheit war.“ „Verhängnisvolle Dummheit“, präzisiere ich. „Für die er nicht allein bezahlt hat.“ „Sicher“, stimmt Lida zu. Kurze Pause. Das gibt ihr die Möglichkeit, sich ihrer Gastgeberpflichten zu erinnern. „Was darf ich Ihnen anbieten?“ fragt sie. Und um Riesenansprüchen entgegenzuwirken, fügt sie hinzu: „Eigentlich hab ich nur Kognak.“ Das einzige, was ich trinke, wäre ich beinahe herausgeplatzt. Rechtzeitig besinne ich mich des dienstlichen Charakters meines Hierseins. „Danke, ich hab was gegen Alkohol. Würde gern rauchen. Wenn Sie erlauben und alle diese Fläschchen nichts Explosives enthalten…“ „Bitte. Sie können mir auch eine anbieten.“ Wir zünden an. Lida setzt sich auf den Hocker neben der Staffelei und zieht ungeschickt an ihrer Zigarette. „Offen gestanden, ich rauche gar nicht, aber es soll interessant machen… Wie denken Sie darüber?“ „Über diese Frage hab ich noch nicht nachgedacht. In dieser Beziehung bin ich ein bescheidener Empiriker. Was ist Ihnen an Medarow sonst aufgefallen?“ „Was? – Was mich am meisten verwunderte, war
seine vollkommene Entfremdung gegenüber der Umwelt. Einmal traf ich ihn um die Mittagszeit, er kam gerade aus der Schenke… Um diese Stunde pflegte er seinen Mastika zu trinken… Langsam ging er, den Kopf gesenkt… Stock, schwarzer Überzieher. Ein Schatten der Vergangenheit, durch einen dummen Zufall ins wirkliche Leben gefallen. In das Licht eines Sonnentages mit seinem Trubel. Ein Mann ohne Beziehung zur Gegenwart, vollkommen isoliert…“ Lida verstummt. Sie ist keine Schönheit. Aber ihr reines, blasses Gesicht und die großen braunen Augen sind nicht ohne Reiz. Überhaupt, eine sympathische Gesprächspartnerin, abgesehen von ihrer Gewohnheit, ins Psychologische abzuschweifen. „Interessant“, sage ich und denke das Gegenteil. „Ich persönlich würde mir so ein Bild nicht an die Wand hängen… Wie aufschlußreich es auch sein mag.“ Lida lächelt herablassend. „Bilder werden nicht nur gemalt, um Zimmer zu schmücken. Es sind auch humanistische Dokumente…“ „In unseren Archiven wimmelt’s von solchen Dokumenten. Wozu auch die Leute damit strapazieren?“ „Ihre Bemerkung verdient Beachtung.“ Lida blickt mich flüchtig an. „Was halten Sie vom Abstraktionismus? Mich interessiert die Meinung eines Laien.“ „Da fragen Sie am besten Ihren Vater.“ „Meinen Vater!“ Lida drückt die Zigarette aus, an der Staffelei. „Für ihn gibt es nur ein Thema: der Leidensweg des Kosta Sirakow. Sicherlich hat er Sie schon eingeweiht.“
„Fürchte, ja. Warum unternehmen Sie eigentlich nichts, um die Beziehungen zwischen Ihren Eltern ins Lot zu bringen?“ „Weil ich meine Eltern liebe. Ich will sie nicht verlieren.“ „Kapier ich nicht.“ „Na, gelänge mir’s, sie zu versöhnen, würden sie auf der Stelle sterben. Noch am selben Tag.“ „Was Sie nicht sagen!“ „Aber ja! Nähme man meinem Vater das Gehabe eines Märtyrers und meiner Mutter das Gejammer, machte man ihr Leben zur Hölle. Sie würden beide eingehen. So wahr ich hier sitze.“ „Na, schön. Sie kennen sie besser. Ist auch nicht meine Angelegenheit.“ Ich erhebe mich, um die Zigarette in einem Tongefäß oder was Ähnlichem auszudrücken. Weil ich einmal aufgestanden bin, beschließe ich zu gehen. „Sie haben mir immer noch nicht gesagt, wie Sie über den Abstraktionismus denken“, meint Lida, als ich mir den Mantel zuknöpfe. „Ich bin gerade beim Präzisieren. Doch was halten Sie von der daktyloskopischen Expertise?“ „Überhaupt nichts…“ Lida zuckt die Achseln. „Außerdem sehe ich da keinen Zusammenhang…“ „Fällt Ihnen nicht auf, daß ein Fingerabdruck fast wie ein abstraktes Bild ist? Mit dem Unterschied: Der Fingerabdruck ist zu etwas nütze.“ „Ach so… also haben Sie doch ‘ne Meinung. Übrigens, manche malen mit Händen und Füßen.“ „Interessant“, gestehe ich, „besonders, wenn sie’s mit
den Zehen tun. Aber die Kunst ist ein weites Feld, und ich bin jetzt in Eile. Andermal…“ Ich gehe zwei, drei Schritte rückwärts zur Tür, hebe die Hand zum Abschied. Da ruft die Künstlerin warnend: „Vorsicht, das Kabel!“ Na, endlich, zuckt’s durch meinen Kopf. Ein Blick auf meine Füße. Ich stehe auf einem von der Wand herabhängenden Stromkabel, dessen nichtisolierte Enden harmlos auf dem Fußboden liegen. Vorsichtig heb ich’s auf und betrachte die zusammengeringelten Drähte. „Da schließ ich meinen Kocher an“, erklärt Lida und lächelt über meine Zweifel. „Die Steckdose ist kaputt, deshalb… Ich warte auf den Elektriker. Er soll noch einen Anschluß legen. Kommt aber keiner…“ „Damit können Sie einen Menschen töten“, sage ich trocken und lege das Kabel vorsichtig wieder hin. „Sicherlich…“ Lida lächelt. „Nur, weshalb soll ich denn jemand umbringen?“ In der Regel beantworte ich nicht Fragen. Vielmehr stelle ich welche. Die Ärmste weiß das nicht. Ich mustere sie. Manche Leute sind naiv. Andere stellen sich naiv. Der Unterschied zwischen beiden Gruppen ist nicht immer deutlich. „Wer, außer Ihnen, hat noch einen Schlüssel zu diesem Zimmer?“ „Mein Vater. Einen Zweitschlüssel.“ Ich wiederhole meine vorhin unterbrochene Abschiedsgeste, verlasse die Welt der Bilder. Hinter mir die freundliche Stimme der Gastgeberin: „Beehr’n Sie
mich wieder!“ Kann schon möglich sein, sage ich mir und springe die Stufen hinab. Obwohl ich’s mir nicht wünsche. Es knabbert an der Berufsehre. Unterhält man sich zwei – oder dreimal mit ein und denselben Zeugen, heißt’s gewöhnlich, man hätte das erste Gespräch mit ihnen nicht tiefgründig genug geführt. Entweder wurde man das erste Mal an der Nase herumgeführt, also ist ein zweiter Besuch unausbleiblich, um sie zu informieren. Zum Beispiel über die Folgen falscher Aussagen. Draußen scheint die Nachmittagssonne, ziemlich enthusiastisch für einen Herbsttag. Auf der Straße Jugendliche. Bestimmt haben sie ihre Schulaufgaben für morgen noch nicht gemacht. Ich kenne meine Aufgabe auch noch nicht. Deshalb benutze ich meine Freizeit für einen Abstecher in die Dienststelle. Nach dem üppigen Sonnenschein auf den Straßen kommt mir mein Büro schattig vor. Gesunde sachliche Atmosphäre. Frei von den Verführungen des Nichtstuns. Ich werfe den Mantel über den Stuhl und mache mich ans Telefonieren. Ich brauche ein paar nüchterne Auskünfte über Personen und ihren bürgerlichen Stand, Adressen. Eine Art „Klebstoff“, damit die bereits vorhandenen spärlichen Details zusammenhalten. Die Gespräche dauern nicht lange. Daraus können Sie ersehen: Die Zahl der Angaben ist noch verschwindend gering. Einst, zu Beginn meiner Laufbahn, hat mich dieser langsame, quälende Start regelrecht zur Verzweiflung gebracht. Wie bei einem Lauf im Traum: Man spannt all seine Kräfte an und kriegt die Beine
nicht vom Erdboden los. Habe mich dran gewöhnt. Präziser: Ich begriff, in unserer Branche hat’s keinen Zweck, unnötig die Nerven zu strapazieren. Ist eben Arbeit. Kein Wettkampf mit dem unsichtbaren, hinterlistigen Gegner. Wo gibt’s schon so ein Kräftemessen? Der Starter hebt die Flagge: „Auf die Plätze, fertig, los!“ Du schaust dich um, doch außer dir ist niemand auf der Bahn. „Und der andere Läufer?“ fragst du. „Längst vorbei“, erwidert der Starter, ohne zu sagen, wie lange schon. Deshalb ist uns jener „andere“ immer voraus. Vor allem in puncto Zeit. Er hatte nicht nur die Möglichkeit, in aller Gemütsruhe sein Verbrechen bis ins kleinste auszutüfteln und auszuführen, sondern auch sämtliche Vorkehrungen zu überlegen und zu treffen, um es zu vertuschen. Dann darfst auch du an dem Geschehen teilnehmen. Auf den ersten Blick ein hoffnungsloses Unterfangen. Allerdings nur für Leute ohne Geduld und Nerven. Denn der „andere“ kann, nachdem er sein Vorhaben ausgeführt hat, nur noch passen. Er ist nicht in der Lage, weder was zu korrigieren noch einen Fehler auszumerzen, den er gemacht hat. Jetzt hast du Zeit zum Handeln und die Möglichkeit, alle Bahnen zu probieren, Hauptsache, du hast gelernt, eine Nasenlänge voraus zu sein. Ich gucke durchs Fenster. Klarer Himmel. Es wird schon kühler. Ein Zeichen, daß der Tag sich seinem Ende zuneigt. Einige Leute haben’s gut. Sie gehen um diese Zeit nach Hause. Eine Bekannte von mir packt jetzt einen Stapel Schulhefte in ihre Tasche und begibt
sich heimwärts. Sie wohnt in Pernik. Ich weiß nicht, ob ich’s Ihnen erzählt habe. Katzensprung von hier. Angesichts der modernen Transportmittel. Hätte ich nicht verschiedene Dinge um die Ohren, würde ich ab und zu mal einen Abstecher dorthin machen. Übrigens passiert das auch. Es war vergangenes Jahr um diese Zeit. Ich hatte gerade einen Fall abgeschlossen. Der Zeitpunkt schien mir geeignet, das hatte auch mit einer rein persönlichen Geschichte zu tun. Nicht, um meine Tante zu besuchen; können Sie sich wohl denken. Ich ging zum Bahnhof. Als ich am Leninplatz auf die Straßenbahn wartete, bemerkte ich einen Blumenladen. Mir fiel ein: kein Besuch mit leeren Händen. Besonders in bestimmten Fällen. Ich betrat den Laden und zeigte auf eine Blumensorte: „Einen schönen Strauß, bitte.“ Dienstbeflissen schickte sich die Verkäuferin an, die Blüten auszuwählen. „Ist ein Bekannter von Ihnen gestorben?“ fragte sie teilnahmsvoll. Ich hasse Menschen, die ständig Fragen stellen. Es gibt Berufe, bei denen es nicht anders geht. Blumenbinder gehören, glaube ich, nicht dazu. Außerdem: Weshalb spricht jeder mit mir über Tote? „Nein“, antwortete ich. „Muß denn unbedingt jemand gestorben sein?“ „Es war nur eine Frage“, entgegnete das Mädchen. „Kalla werden nämlich meistens für Begräbnisse gekauft.“ „Hm… Ich brauche Blumen für eine junge Dame, lebendig und ganz gesund.“
„Dann nehmen Sie lieber Gladiolen…“ Sie lächelte. „Das überlasse ich Ihnen. Hauptsache, sie sind schön und ich bekomme sie noch, bevor es dunkel wird.“ Der Strauß war wirklich außergewöhnlich, vor allem in puncto Größe. Ich zitterte bei dem Gedanken, ein Kollege könnte mich mit dieser ganzen Flora auf dem Bahnhof sehen. Ich hielt den Strauß wie einen Säugling. Mit professioneller Gewandtheit stieg ich in den Zug und erreichte Pernik inkognito. Hier erwartete mich allerdings eine neue Prüfung. „Sie ist nicht da“, sagte die Wirtin und musterte neugierig meine in Zellophan eingewickelten Blumen. „Wissen Sie, wo sie ist?“ „Sie hat mir nichts gesagt. Entweder ist sie in der Schule oder schnell mal nach Sofia gefahren, zu ihrer Mutter.“ „Gut, ich werde zur Schule gehen. Sollte sie inzwischen kommen, teilen Sie ihr mit, daß ein Herr Antonow hier war und wieder vorbeischaut. Wo ist übrigens die Schule?“ Bereitwillig erklärte es mir die Wirtin und guckte neugierig auf das „Baby“ in meinem Arm. Man hätte meinen können, sie sähe zum erstenmal Gladiolen. In der Schule war meine Dame nicht. Und zu Hause auch noch nicht, als ich in ihre Wohnung zurückkehrte. Das klügste wäre gewesen, heimzufahren. Na schön, aber das Bukett? Mir schauderte bei dem Gedanken, dieses Riesending wieder in Zug und Straßenbahn mitschleppen zu müssen. Ich hätte es natürlich wegwerfen können. Wäre mir aber kleinmütig, fast verbrecherisch vorgekommen. Der Strauß war für je-
manden bestimmt. Also durfte ich nicht nach Belieben darüber verfügen. Ich setzte mich in eine Konditorei und ließ den Weg zum Bahnhof nicht aus den Augen. Die jungen Leute ringsum gafften neugierig, teils mit Schadenfreude, wie mir schien: ,Er wartet, der Tropf, aber sie kommt nicht.’ Ich ging hinaus, lief durch die Straßen und gab mir den Anschein, als wollte ich die Stadt kennenlernen – berühmtes Zentrum eines heldenhaften Bergbaugebiets. Doch die Blumen machten alles zunichte: Wer studiert das Bergarbeiterleben mit so einem Strauß im Arm? Es wurde Mittag. Das erleichterte die Sache ein bißchen. Ich betrat ein Restaurant und wollte die Blumen an der Garderobe abgeben. Aber wie sich herausstellte, gab es keinen geeigneten Platz dafür. Also „blühten“ sie an meinem Tisch. Die gleichen vielsagenden Blicke, Schmunzeln, besonders als die Zeit fortschritt. Erneut wechselte ich meinen Standort. Dritte Kontrolle im Hause der Verschwundenen, dritter Mißerfolg. Ich schlenderte wieder durch die Straßen und studierte erneut das Treiben in der Stadt. Jetzt kannte mich ganz Pernik, dessen war ich gewiß. Der Milizionär auf dem Platz warf mir einen argwöhnischen Blick zu. Komm mich nur was fragen…. dachte ich. Wut stieg in mir auf. Es begann zu dunkeln. Die Nacht nahm mich Ärmsten auf. Was das Wichtigste war: Sie verbarg das Bukett vor den Blicken der Neugierigen. Mehr noch, ich wählte den dunkelsten Teil der Straße. Nach einer letzten, ergebnislosen Kontrolle im Haus der fraglichen Person ging ich zum Bahnhof.
Er war hell erleuchtet. Zu allem Unglück ergoß sich aus dem gerade eingelaufenen Zug ein Menschenstrom. Mit den Augen suchte ich einen abgelegeneren Winkel. Da vernahm ich eine bekannte Stimme: „O Gott, Peter!“ „Ja, ich bin’s.“ „Du Armer. Bist du schon lange hier?“ „Aber nein, erst seit heute morgen.“ In diesem Augenblick bemerkte sie das „Baby“ in meinem Arm. „Was für schöne Blumen…“, sagte meine Bekannte, obwohl die Gladiolen inzwischen welken Salatköpfen ähnelten. „Sie sind für dich.“ Als ich sie ihr geben wollte, merkte ich, mein Arm war steif geworden. Meine Bekannte schien gerührt, obwohl sie’s nicht sagte. Ich war ihr sehr dankbar. Sie konnte immer noch nicht fassen, daß ich vor ihr stand, auf dem Bahnhof von Pernik. Nicht aus übertriebenem Mißtrauen. Monate waren nämlich vergangen seit dem Tag, da ich versprochen hatte, sie in der nächsten Woche zu besuchen. Nach kurzer Beratung beschlossen wir, im Restaurant Abendbrot zu essen. Der Rückweg zum Bahnhof war für mich ein kleiner Triumph. Ich brauchte die erleuchteten Plätze nicht mehr zu meiden, auch nicht mehr die Blicke der Einheimischen. Im Gegenteil. Glotzt nur. Wie ihr seht, hat das Rendezvous noch stattgefunden. Bei diesem Gedanken, der nicht frei ist von Genugtuung, wandert mein Blick zum Fenster. Es wird bald dämmern. Auf mich wartet noch Arbeit. Ich schaue auf
die Uhr, hieve mich hoch, ziehe den Mantel an und drücke den Hut tief in die Stirn; denn ernste Dinge stehen bevor, keine sentimentalen Exkursionen in die Vergangenheit. Ich begebe mich auf die zweite Spur: „Tanew“.
DRITTES KAPITEL Draußen ist es noch hell. Von der nahenden Dämmerung schimmert die Atmosphäre bläulich. Nun ist jene geheimnisvolle Stunde des Abends nicht mehr weit, die manche Dichter „Kognakzeit“ nennen. Ich laviere mich durch die dichte Menschenmenge auf der Gcorgi-Dimitroff-Straße und komme endlich vor dem Mausoleum heraus. Einst war hier eine enge Straße, die die städtischen Grünanlagen vom Schloßpark trennte. Dann eine scharfe Biegung, hinter welcher der Boulevard „Zarja“ begann, mit dem schmalen Fenster des Restaurants „Elite“, dessen traditionelle Dekoration aus einem gebratenen Ferkel mit einer Zitrone in der Schnauze bestand. Wie es drinnen aussah, blieb für mich ein Rätsel, weil es mir niemals gelungen war, hinter die Glastür zu blicken, die diskret mit weißen Gardinen verhängt war. Meine Vorstellungen von der „high society“, die ich als Junge hatte, stammen aus Kaffeehäusern, deren Fenster weit geöffnet waren, für die Blicke der Passan-
ten. Darauf beruhte der Erfolg dieser Etablissements. Denn die Leute wollten gesehen werden. Im Abstand von weniger als zweihundert Metern befanden sich alle luxuriösen Cafes der Stadt, genau vier an der Zahl; zuerst „Bulgaria“, dann „Savoy“, „Sofia“ und gegenüber „Zar Oswoboditel“. Auf diese Weise vervollständigte ich meine Kenntnisse von der Gesellschaft. Nicht nur ohne die mir fehlenden Mittel, sondern auch ohne Zeitvergeudung. Hinter den Fenstern saßen die typischen Vertreter der oberen Zehntausend. Vor ausgetrunkenen Tassen, in denen der Kaffeesatz schon eingetrocknet war, schmiedeten im „Bulgaria“ vorwiegend Politikaster und Abenteurer ihre Pläne. Hier zeigten sich gewöhnlich auch ausländische Gäste, die dem Stadtklatsch etwas Exotisches verliehen. Meistens ein paar berühmte, gerade heisere Tenöre oder Spione, die als Redner den Orient bereisten. Manchmal, wenn der Eintritt für solche Veranstaltungen frei war, packte mich jugendliche Neugier. Einmal sprach ein amerikanischer Philosoph über „die christliche Ethik oder den Weg der Erlösung“. Ein andermal ein Hauptmann der Reserve vom Intelligence Service über „John Milton oder die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies“. Damit meinte er sicherlich den verlorenen englischen Einfluß im Orient. Das Publikum im „Savoy“ war viel eklektischer. Das zarte Geschlecht war stark vertreten. Die Damen saßen ungezwungen, in eleganter Pose, an den Tischen. Ihre übereinandergeschlagenen Beine steckten in seidenen Strümpfen, orangefarben und glänzend, als wären sie
aus Kupfer gegossen und sorgfältig geputzt. Dafür waren die Gesichter der Damen geradezu unwahrscheinlich weiß, weil zu jener Zeit nicht mit Puder gespart wurde. Von diesem mehlähnlichen Teint stachen die knallroten Lippen in Herzform a la Martha Eggerth oder eines anderen UFA-Sterns schrecklich ab. Das „Sofia“ hatte drei Etagen. Hier überwog die Jugend: Herrensöhnchen und höhere Töchter. Eine Kapelle spielte, es wurde getanzt. Im „Zar Oswoboditel“ dagegen nichts als gähnende Langeweile: Schriftsteller, Künstler und alle Arten Intellektueller, von denen einige offenbar den Vormittag dazu benutzten, Geld zusammenzukratzen für eine Tasse Kaffee, an der sie die ganze übrige Hälfte des Tages nippten. Leben herrschte nicht nur hinter den Fenstern, sondern auch auf dem Boulevard. Die Jugend der Metropole bewegte sich in zwei Richtungen. Man musterte einander kritisch. Hie und da rief man sich zu: „Was machst du heut abend?“ - „Pump mir fünf Lewa, bis morgen.“ – „Guck mal die da!“ Unter die Menge mischten sich halbwüchsige Zeitungsverkäufer, deren Stimme sich fast überschlug: „Selbstmord von zwei Verliebten auf der Goinobansker Chaussee.“ – “Ab morgen neue Rationierung für Öl und Zucker.“ An den Bürgersteigen glitten die von der Benzineinschränkung unabhängigen Mercedes-Wagen der Neureichen und die graugrünen Opel der deutschen Offiziere vorbei. Ich biege in die Rakowskistraße ein und
wundere mich über die Retrospektive in meinem Kopf. Bestimmt liegt’s daran, daß ich mich auf dem Weg zu einem Helden dieser Vergangenheit befinde, zu Lasar Tanew. Vermutlich hat die betreffende Person längst ihren früheren Glanz verloren. Genauso wie die ehemalige Maxim-Bar mit ihren importierten Animierdamen, heute prosaische Kantine für Angestellte. Ich geh nämlich gerade hier vorbei. In der zunehmenden Dämmerung und der immer dichter werdenden Menge von Jugendlichen, die die umwälzende Historie der Straße wenig interessiert, auf der ich mich befinde, setze ich meinen Weg fort. Der erwähnte Tanew ist offenbar ein Fuchs, und ich begebe mich zu ihm, ohne genügend Beweismaterial über seine Schläue zu besitzen. Durch solche improvisierten Begegnungen erreicht man meist das Gegenteil. Statt den Befragten zu einem Geständnis zu bewegen, macht man ihn hellhörig, und er wird versuchen, soviel wie möglich zu verbergen. Leider hab ich keine andere Wahl. Steht auf der Speisekarte nur Bohnensuppe, braucht man nicht zu fragen, ob Goldbroiler mit oder ohne Chips serviert wird. Der Fuchsbau Tanews befindet sich in einem soliden viergeschossigen Haus, unweit des Stadtzentrums. Der „Fuchs“ bewohnt eine der beiden Wohnungen im Hochparterre, zudem in Damengesellschaft. An der Tür ein Schild: Lasar Tanew – 1 X klingeln, Wera Tanewa – 2 X klingeln, Mimi Petrowa – 3 X klingeln. Ich läute einmal. Gleichzeitig untersuche ich den Lichtschalter. Altmodisches, wackliges Ding, aber sonst in
Ordnung. Keine Gefahr, Opfer eines elektrischen Schlags zu werden. Um so mehr Gefahr einer Erkältung, bis man eingelassen wird, denn im Treppenhaus zieht’s wie Hechtsuppe. Das veranlaßt mich, nochmals den Klingelknopf zu drücken. Beeilung, Herr Tanew. Tanew denkt nicht dran. Merkwürdig. Dabei schuldet er mir ja kein Geld, er schuldet mir überhaupt nichts, außer ein paar Erklärungen natürlich. Aber er öffnet nicht. Sieh mal einer an. Macht nichts, klingeln wir schön der Reihe nach. Ich läute zweimal hintereinander. Kurz darauf Klappern von Damenabsätzen, das Klicken eines Sicherheitsschlosses. Auf der Schwelle ein hübsches junges Mädchen. „Fräulein Tanewa?“ Sie nickt und starrt mich verwirrt an, womöglich weil in diesem Moment die Flurbeleuchtung ausgegangen ist und meine Physiognomie im Dunkeln beunruhigend wirkt. Ich zücke meinen Dienstausweis. „Lediglich ein paar Auskünfte…“ „In welcher Angelegenheit?“ „Kann ich nicht reinkommen?“ „Weshalb nicht, bitte!“ Obwohl ihr Gesicht dabei nicht gerade strahlt vor Begeisterung. Mechanisch befühle ich mein Kinn. Keine Bartstoppeln. Hätte gern gewußt, was der Dame an mir nicht gefällt. Wir betreten eine geräumige Diele. Ein Teil ist durch einen olivgrünen Samtvorhang abgetrennt. Im übrigen Raum stehen verstreut teure, schwere Möbel aus den dreißiger Jahren, deren Politur damals ebenfalls olivgrün gewesen sein muß, jetzt allerdings eine undefi-
nierbare Farbe hat. Der Kristalleuchter an der Decke ist dunkel und mit Staub bedeckt. In der Ecke spendet eine Lampe trübes Licht. Ihr in rosa gehaltener riesiger Schirm hat ein bräunliches Stockfleckenmuster. An den sich gegenüberliegenden Wänden zwei große Alpenlandschaften mit Gletschern, vom Sonnenuntergang in knalliges Rot getaucht. Alles schrecklich geschmacklos und abgenutzt, irgendwie faul. Als hätte sich hier der Geruch von bürgerlicher Sattheit, einstigem Saus und Braus abgelagert. Die Tanewa führt mich in ein hell erleuchtetes ‘Zimmer, von der Diele nur durch eine Tür getrennt. Beim Überschreiten der Schwelle scheint man in eine andere Klimazone zu gelangen. Die Ursache für diese Empfindung ist nicht nur darin zu suchen, weil es hier wegen der Heizsonne schön warm ist. Das Zimmer ist frisch renoviert, die Wände sind hellgrün gestrichen. Große gerahmte Reproduktion mit Sonnenblumen; soweit meine Kenntnisse reichen und man dem Signum Glauben schenken kann: ein van Gogh. Niedriger Kleiderschrank, Bett, kleiner Schreibtisch und vier Hocker, alles in hell, die gesamte Einrichtung. Hier läßt sich’s leben. Auf dem Schreibtisch ein großer Strauß weißer Chrysanthemen und aufgeschlagene Bücher. Im Aschenbecher glimmt eine Zigarette. Diese Details und die saure Miene der Gastgeberin erleichtern mir des Rätsels Lösung. „Kaum hat man sich an die Arbeit gesetzt, kommt so ein Idiot und stört… So etwa, nicht wahr?“ Wera schmunzelt. Das Eis beginnt zu schmelzen. „So ungefähr. Abgesehen von dem Epitheton.“ Sie bemerkt
mein Interesse für die Möbel. „Gefallen sie Ihnen? Ich gebe Ihnen die Adresse der Herstellerfirma, auch ohne Verhör.“ „Die Möbel gefallen mir. Bis auf die Hocker.“ „Wieso denn? Sie sind gut gepolstert.“ „Darum geht’s gar nicht. Aber was für ein Sitzmöbel, wenn man sich nicht mal anlehnen kann!“ „Dafür nehmen sie weniger Platz ein. Und was das Wichtigste ist, sie sind billig.“ „Am billigsten ist es“, sage ich, „sich im Türkensitz auf den Fußboden zu kauern.“ „Im Gegenteil. Das ist schrecklich teuer.“ Die Tanewa lächelt wieder. „Dazu braucht man nämlich einen weichen Teppich.“ Sie nimmt ihre Zigarette vom Ascher und eilt zur Tür. „Entschuldigen Sie mich einen Augenblick… Das Wasser kocht sich tot…“ Allein geblieben, nähere ich mich dem Schreibtisch, werfe diskret einen Blick auf die Bücher und lasse mich auf einem dieser abscheulichen Dinger nieder, die sich Hocker nennen. Ach ja, die Leute lesen. Medizinische Bücher. Wie ich einst. Ich weiß nicht, ob ich’s Ihnen erzählt habe. Nach Fußball und Geige wurde Medizin mein dritter Berufswunsch. Um Haaresbreite war er in Erfüllung gegangen, ganz wie die beiden ersten. „Ich möchte Medizin studieren“, erklärte ich, als man mir vorschlug, in die Kriminalistik einzusteigen. Der Mann, der sich mit mir unterhalten hatte, musterte mich. „Weshalb gerade Medizin?“
„Ich möchte Menschen heilen… ihnen nützlich sein…“ „Dann ist ja alles in Ordnung: das können Sie bei uns auch.“ „Sie beschäftigen sich aber mit Verbrechen“, widersprach ich ungläubig. „Eben deshalb. Nur werden Sie keinen einzelnen Patienten kurieren, sondern sich um die Hygiene einer ganzen Gesellschaft kümmern und sie vor dem Tumor des Verbrechens bewahren. Erweist er sich als eine bösartige Geschwulst, werden Sie helfen, diese zu entfernen.“ Die Worte des Mannes klangen gut, meine Medizin noch besser. „Mir scheint, Sie heilen nicht“, warf ich unsicher ein, „vielmehr sanktionieren Sie.“ „Der Chirurg sanktioniert ebenfalls.“ Der Mann lächelte. „Was ihn nicht daran hindert, Arzt zu sein. Außerdem hängt das Spezifikum eines Berufes auch davon ab, wer und wie er ihn ausübt. Spezialisten, die einfach billigen, haben wir mehr als genug. Überbleibsel der Vergangenheit. Sie verfügen über technische Kenntnisse und Erfahrungen, die Ihnen zum Beispiel fehlen. Vorbildliche Kriminalisten, allerdings bürgerlicher Herkunft. Was wir brauchen, sind nicht Kriminalisten, die den Verbrechern nur gefährliche Fallen stellen, sondern Menschen mit einer neuen Moral, die ,heilen’ möchten.“ Ich machte noch zwei, drei Versuche zu entkommen. Allmählich merkte ich, wie ich immer mehr nachgab. „Könnte ich nicht vielleicht erst mal die Übungen be-
suchen?“ fragte ich schließlich. Mir wurde klar, diese Frage kam einer Kapitulation gleich. „Ich sehe keinerlei Hindernisse“, entgegnete der Mann lächelnd. „Außer denen, die zu Ihrer Berufsausübung gehören. Sollten Sie die Kraft haben, beides unter einen Hut zu bringen, um so besser…“ In seinem Lächeln lag etwas Ungläubiges. Ich begriff das erst ein paar Tage später. Als ich mich zum Gehen anschickte, stand der Mann hinter seinem Schreibtisch auf und drückte mir die Hand. „Ich persönlich bezweifle, daß Sie sich für Medizin entscheiden. Wie mir scheint, ist die Frage der Berufswahl für Sie schon entschieden. Trotzdem, vergessen Sie niemals: Sie wollten Arzt werden.“ Seitdem sind an die zwanzig Jahre vergangen. Damals war ich zwanzig. In diesem Alter prägt sich einem alles noch stark ein. So wurde auch aus meinem dritten Wunsch nichts. Schade. Manchmal reißt die Wunde wieder auf. Wenn ich zum Beispiel auf einem Schreibtisch aufgeschlagene medizinische Fachbücher sehe. Es kann was für sich haben. Wie im Fall Sirakow. Anstatt Arzt, wenn auch nur ein mittelmäßiger, zu sein, würde ich ein Leben lang damit hadern, daß ich um ein Haar ein genialer Chirurg geworden wäre, der Herzen verpflanzt und Menschen zehn Stunden nach Eintritt des Todes zum Leben erweckt. „Entschuldigen Sie“, sagt Wera Tanewa, die in diesem Moment mit einem Tablett ins Zimmer zurückkehrt. „Ich hatte Teewasser aufgesetzt. Sie trinken doch eine Tasse mit, nicht wahr?“
„Eine Tasse Tee?“ entgegne ich erschrocken. „Mache ich etwa den Eindruck eines Kranken?“ Wera stellt behutsam das Tablett auf den Schreibtisch. „Trinken Sie bloß Tee, wenn Sie krank sind?“ „Nein, um ganz ehrlich zu sein. Aber gießen Sie getrost ein. Wir müssen dem Rat des Arztes folgen, nicht wahr?“ Wera nickt bestätigend und füllt die Tassen. Der erste Eindruck hat nicht getrogen: Die Gastgeberin ist eine hübsche Frau, ruhiges, klares Gesicht, ihre Bewegungen ohne Koketterie, sie hat viele äußere Vorzüge. „Wieviel Zucker nehmen Sie?“ Wera hebt den Blick. Die Frage bringt mich in Verlegenheit. „Soviel Sie mir geben. In dieser Disziplin hab ich keine Erfahrung, wie ich schon sagte. Und wohin, meinen Sie, hat sich Ihr Onkel begeben?“ „Er ist nicht mein Onkel.“ „Schön. Also Lasar Tanew“, korrigiere ich mich und rühre mechanisch den Tee um. „Ich vermute, er hält sich in der Provinz auf.“ Wera setzt sich an den Schreibtisch, rührt ebenfalls ihren Tee um und trinkt mit viel Genuß. „Weshalb ,vermuten’ Sie das?“ frage ich und rühre weiter. „Weil er es gesagt hat.“ „Und trotzdem sind Sie nicht sicher?“ Der Zucker wird sich aufgelöst haben. Das beruhigt mich. Also kann ich die Tasse einen Moment aufs Tablett stellen und mir eine Zigarette anzünden. „Nehmen Sie alles für bare Münze, was Ihnen die Leute sagen?“ entgegnet Wera und verfolgt meine un-
geschickten Manöver mit der Tasse. Als sie sieht, daß ich die Zigarettenschachtel hervorhole, reicht sie mir eilfertig den Ascher und nimmt wieder ihre Tasse. Man muß staunen, mit welchem Vergnügen sich manche Leute über „heißes Wasser“ beugen. „Sprechen wir nicht von mir“, lenke ich ab und stecke mir eine Zigarette an. „Bei mir ist das Rauchen eine berufsbedingte Deformation. Aber eine Medizinerin… zumal Kinderärztin…“ „Kinderärzte sind keine Kinder.“ „Akzeptiert. Ihr Onkel hat gesagt, er fährt in die Provinz. Sie sind sich dessen nicht sicher. Können Sie mir sagen, worauf Ihr Mißtrauen zu einem so nahen Verwandten beruht?“ „Sie ziehen Ihre Schlüsse ziemlich schnell.“ Wera scheint zu lächeln. „Habe ich nicht recht?“ „Natürlich. Aber Sie stellen Fragen nach sehr komplizierten Dingen. Wie kann ich Ihnen mit zwei Worten sagen, woher ein Mißtrauen kommt, das sich im Laufe von Jahren herausgebildet hat?“ „Wer zwingt Sie, mit zwei, drei Worten zu antworten? Heute verfüge ich zufällig über genügend Zeit. Sie können in Ruhe erzählen, was Sie über Ihren Onkel wissen: seit wann Sie bei ihm wohnen, welche Lebensgewohnheiten er hat, wann und weshalb er verreist ist und so weiter…“ Bei diesen Worten hole ich, um dem bevorstehenden Gespräch ein freundschaftlicheres Gepräge zu verleihen, wieder die Zigarettenschachtel
vor und biete der Tanewa davon an. Wera stellt die leere Tasse aufs Tablett, nimmt eine Zigarette und zündet sie an. Sie mustert mich prüfend: „Er ist doch nicht etwa in irgendeine schmutzige Sache verwickelt?“ „Wieso?“ „Woher soll ich das wissen. Wenn Sie sich hierherbemühen, um Auskünfte einzuholen, muß ich doch so etwas beinahe annehmen.“ „Jedenfalls hat es seine Gründe, die einer bewußten Bürgerin genügen sollten, ihre Pflicht zu erfüllen. Also?“ „Ich weiß nicht, was Sie im einzelnen interessiert. Vor drei Jahren, ein Jahr vor dem Examen, bin ich zu ihm gezogen. Vorher kannte ich meinen Onkel nur vom Hörensagen. Bin auch gar nicht auf die Idee gekommen, ihn aufzusuchen. Meine Mutter und er sind seit vielen Jahren verzankt. Eines Tages tauchte er bei mir auf. Er hätte ein Zimmer frei und wollte es mir ablassen, ohne Miete, damit man ihm keine fremden Leute reinsetze. Meine Mutter wohnt in Widin und ist Rentnerin. Sie konnte mich nicht unterstützen… Ich lebte nur von meinem Stipendium. Deshalb erschien mir Tanews Vorschlag lukrativ. Ich fragte mich nicht mal, woher diese unerwartete Fürsorge für eine arme Verwandte kam. Bald ging mir ein Licht auf. Er liebe die Jugend’, meinte er. Häufig waren Kommilitoninnen bei mir. Dann kam Tanew rüber, erheiterte uns mit seinen Witzen aus der Zeit vor dem Krieg, bot Pralinen und Kognak an, bis ich ihm einmal versuchte
klarzumachen: ich sei nicht hergezogen, um ihm ‚angenehme Stunden’ zu bereiten, sondern um zu studieren. Wenn er Gäste haben möchte, solle er sie zu sich einladen. Er schien das erwartet zu haben. Seit dieser Zeit lud er meine Freundinnen zu sich ein…“ Ich drücke meine Zigarette aus. Nach kurzem Zögern zünde ich eine neue an. „Charmanter Mann also…“, bemerke ich. „Daß ich nicht lache. Kennen Sie ihn?“ „Nur vom Foto.“ „Sein Charme ist das Geld. Mit den Damen ist er immer großzügig, bewirtet sie, legt Schallplatten auf… Es gibt Mädchen, die dafür empfänglich sind. Ich kann mich allerdings nicht entsinnen, daß eine darauf reingefallen wäre. Außer vielleicht Mimi…“ „Mimi? Die Frau, deren Name an der Tür steht?“ Wera nickt zustimmend. „Sie ist Apothekerin, kein schlechtes Mädel… Was heißt übrigens Mädel… Sie geht auf die Dreißig zu. Aber sie ist ein bißchen…“ Hier macht die Gastgeberin eine vielsagende Handbewegung. „Nicht alle Tassen im Schrank…“, helfe ich nach. Erneutes Nicken. „Außerdem wirkt sie auf alte Männer. Wie die biblische Susanne.“ „Sie müssen entschuldigen“, sage ich, „doch auf diesem Gebiet bin ich schwach. Da hab ich in der Schule immer gefehlt.“ „Die gleiche Susanne, die von lüsternen alten Männern beim Bade überfallen wurde. Nur, unsere Susanne wartet nicht, bis man sie überfällt, sondern handelt
selbst…“ „Ihre Überlegungen haben was Verallgemeinerndes“, bemerke ich. „Also scheint der Alte nicht das einzige Opfer gewesen zu sein…“ „Eben“, nickt Wera. „Es gibt ein zweites, es heißt Medarow.“ „So hieß es“, berichtige ich. „Über Tote spricht man gewöhnlich in der Vergangenheit.“ Sie starrt mich erschrocken an. „Sie meinen…“ „Was ich schon sagte. Fahren Sie getrost fort.“ „Ermordet?“ „Wie kommen Sie darauf?“ „Nur so eine Frage.“ „Man fragt niemals nur so“, entgegne ich. „Immer mit einer bestimmten Absicht. Was veranlaßt Sie also zu der Annahme, Medarow sei Opfer eines Verbrechens?“ „Nichts Besonderes. Die Menschen sterben entweder eines natürlichen Todes oder eines gewalttätigen. Was nimmt’s da wunder, wissen zu wollen, welche der beiden Arten Medarow ereilt hat?“ „Lassen Sie diese Syllogismen. Die passen höchstens in ein Lehrbuch für formale Logik. Von zehntausend Menschen sterben neuntausendneunhundertneunundneunzig eines natürlichen Todes und nur einer eines gewalttätigen. Wieso kommen Sie auf die Idee, dieser eine sei Medarow?“ „Keine Idee, eine Art Vorgefühl“, entgegnet Wera verwirrt. „Ah, Sie spielen aufs Unterbewußtsein an. Alle diese
wissenschaftlichen Exkurse sind natürlich nützlich. Bei Gelegenheit würde ich Sie auch mit der Meinung eines zufälligen Bekannten über die Freudsche Lehre vertraut machen. Wir können unsere Plauderei aber nicht bis morgen früh ausdehnen, obwohl ich Ihnen sagte, ich hätte ein bißchen Zeit. Fräulein Tanewa, von Leuten wie Sie erwarten wir eine aktive Unterstützung und keine zusätzlichen Schwierigkeiten. Ihre Vorgefühle in Ehren, uns interessieren jetzt Fakten.“ „Was ich weiß, ist nicht sensationell. Bei meinen Begegnungen mit Medarow hatte ich immer das Gefühl, er fürchte sich vor etwas.“ „Wovor?“ „Keine Ahnung.“ „Fräulein Tanewa…“ Ich schlage einen drohenden Ton an. „Jaja, Sie erwarten Hilfe von einer bewußten Bürgerin“, unterbricht mich Wera ärgerlich. „Begreifen Sie doch, ich weiß nichts Bestimmtes.“ „Als bescheidener Mensch gebe ich mich auch mit was Unbestimmtem zufrieden, wenn’s aufrichtig ist.“ „Vor Tanew fürchtete er sich. Der Alte hat in meiner Gegenwart bloß von Tanew gesprochen, weil die beiden irgendwelche alten Rechnungen zu begleichen hatten, so schien’s wenigstens. Ich hatte den Animus, Medarows Unruhe hänge mit dem Gedanken an Tanew zusammen.“ „Das klingt schon bestimmter. Welche Rechnungen hatte Medarow mit Ihrem Onkel zu begleichen?“ Wera schaut mich unzufrieden an: „Ich nenne ihn ,Tanew’
und Sie hartnäckig ,Ihr Onkel’…“ „Was denn? Er ist doch Ihr Onkel, oder?“ „Mag er’s sein. Ich persönlich lege keinen Wert darauf. Zu Ihrer Information: Seit langem habe ich beschlossen, hier auszuziehen. Wenn Sie mich noch in dieser Wohnung antreffen, so nur deshalb, weil ich keine andere gefunden habe.“ „Wann entstand diese Feindschaft zu Ihrem Onkel, Pardon, zu Tanew? Aus welchem Anlaß?“ „Wegen seiner Vergangenheit und zum Teil auch wegen der Gegenwart…“ Wera steht auf, entnimmt der Schreibtischlade eine Schachtel Zigaretten und zündet sich eine an. Dann setzt sie sich wieder. Ich warte geduldig. Unterhält man sich mit Leuten, muß man nicht nur fragen, sondern auch warten können. Droht die Pause endlos zu werden, kann man sich eine Zigarette anstecken, was ich nun tue. „Als ich hierherzog“, beginnt Wera, „wußte ich fast nichts über Tanews Vergangenheit, außer, daß er einst ein reicher Mann gewesen sein und Handel getrieben haben soll. Erst später, in den Ferien, erfuhr ich von meiner Mutter, die ungehalten über meinen Umzug war, sein Gewerbe sei gar nicht so sauber gewesen, er habe Beziehungen zur Hitlerarmee unterhalten, nach dem neunten September sei er sogar bedingt verurteilt worden. Eines Tages, ungefähr vor drei Monaten, tauchte nun Medarow auf. Tanew sei in die Provinz gefahren, sagte ich ihm, und würde längere Zeit fortbleiben. Trotzdem stellte er sich wieder ein, jeden Abend. Kaum war ich aus der Poliklinik heimgekom-
men, klingelte er. Tanew sei nicht da. Der Alte glotzte, als verstünde er mich nicht. Er wollte reinkommen und auf ihn warten. Am andern Tag das gleiche Spiel. Dann, ich weiß nicht, wie’s ihm gelang, Mimis Bekanntschaft zu machen, sah ich ihn eines Tages in der Diele sitzen. Seitdem kreuzte er jeden Tag auf, gegen Abend. Sie tranken zusammen. Mimi hatte immer eine Flasche Mastika, speziell für ihn, des Alten Leib-undMagen-Getränk. Natürlich von Medarows Geld. Dann verschwand er plötzlich auf Nimmerwiedersehen.“ „Wann war das?“ Wera hebt den Blick, als denke sie nach. „Vor einem Monat ungefähr.“ „Und ist nicht noch einmal aufgetaucht?“ „Nein. Hab sogar Mimi gefragt, wo ihr Alter abgeblieben sei. Sie zuckte nur die Schultern.“ „Hat sich nicht wenigstens Tanew mal sehen lassen?“ „Auch nicht.“ „Vielleicht, wenn Sie im Dienst waren.“ „Möglich, glaub ich aber nicht.“ „Weshalb?“ „Wär er in meiner Abwesenheit hiergewesen, ich hätt’s gemerkt. Ich hab ‘ne gute Nase. Er benutzt nämlich ein widerlich starkes Parfüm, Mischung zwischen Flieder und Jodtinktur. Wo er hinkommt, duftet’s den ganzen Tag.“ „Wenn er das Parfüm nun zeitweise nicht verwendet?“ „O nein. Tanew hat seine festen Gewohnheiten.“ „Sie scheinen ihn gut zu kennen. Aber… Ich habe Sie
wohl unterbrochen. Es ging um Medarows Angst vor Tanew…“, erinnere ich sie. „Ach, ja. Von Medarow wollte ich was über ihre ,Kometa’ und Tanews Geschichten mit den Nazis rausbekommen. War nichts zu machen. Nur einmal, als Mimi in die Küche gegangen war, hielt er nicht mehr an sich: Mein Onkel sei gefährlich, äußerst gefährlich… das solle ich niemals vergessen.“ „Was war der Anlaß dafür?“ „Weshalb man ihm dreißig Jährchen aufgebrummt habe, während Tanew straflos ausgegangen sei, hatte ich ihn gefragt. Medarow schwieg, wie gewöhnlich. Ob er ihn etwa gedeckt habe, bohrte ich weiter. Da plötzlich beugte sich Medarow zu mir und konnte einfach nicht mehr an sich halten.“ „Wie denken Sie darüber?“ Wera zuckt die Achseln. „Mir gegenüber war Tanew vollendeter Kavalier und freundlicher Wirt. Kognak und Kalauer gab’s gratis… Trotzdem werd ich das Gefühl nicht los: Er war imstande, jemand umzubringen. Ohne mit der Wimper zu zucken. Hauptsache, es springt was dabei raus.“ „Wovon hat Tanew eigentlich gelebt?“ „Hab ich mich auch gefragt… Während des Prozesses wurde sein Vermögen konfisziert. Nach dem Tod seines Vaters hat er diese Wohnung und ein Haus am Stadtrand geerbt, übrigens völlig zerstört durch Bombenangriffe. Der ,Alte’, sein Vater, hätte ihm noch eine ,Kleinigkeit’ hinterlassen, hat er mir erzählt. Ob’s stimmt und wieviel, weiß allein Tanew.“
„Er soll auch einen Wagen haben.“ „Ach, ja. Damit ist er weggefahren. Außerdem läßt er sich seine verschiedenen ,Besucherinnen’ was kosten…“ „Und Mimi?“ „Keine Ahnung. Fragen Sie sie. Ich glaub, sie wird’s Ihnen sagen.“ „Na, schön. Wenn sie gesprächig ist, werden wir uns verstehen.“ Wera mustert mich. „Was denn, taxieren Sie etwa mein Alter?“ Sie lächelt. Keine Antwort. „Unter den schlechten ,Patienten’“, fahre ich fort, „gibt’s zweierlei Typen. Fragt man die einen, wie sie den vergangenen Tag verbracht haben, fangen sie beim Urschleim an, wie sie laufen gelernt haben. Den anderen dagegen muß man jedes Wort aus der Nase ziehen.“ „In meinem Beruf das gleiche“, bemerkt Wera. „Deshalb habe ich mich für Pädiatrie entschieden.“ „Recht klug“, gebe ich zu. „Bei den Kindern hab ich leider nichts zu suchen.“ „Und die Jugendkriminalität?“ „Mein Ressort sind Morde.“ Wera sieht mich verdutzt an. „Das heißt…“ „… gar nichts. Denken Sie an Ihre Arbeit, das andere überlassen Sie mir. Und bitte, zu niemand ein Wort, daß ich hiergewesen bin.“ „Keine Bange. Bei mir geben sich die Besucher nicht die Klinke in die Hand.“
„Das glaube ich.“ Ich erhebe mich von dem verflixten Hocker, im Rücken die erwarteten Schmerzen. Nach einem Blick auf den riesigen Chrysanthemenstrauß auf dem Schreibtisch: „So frische Blumen… Als wären sie gerade geschnitten… Kaufen Sie sich die Blumen selbst, oder schenkt Ihnen die jemand?“ „Oh, Inspektor…“ „Pardon. Ein berufsbedingter Defekt: Die Gewohnheit, Fragen zu stellen, treibt einen manchmal weiter als notwendig. Ihre Susanne – oder Mimi, ob sie zu Hause ist?“ „Kaum. Ihre Anwesenheit ist immer von Musik begleitet. Also ist sie noch nicht heimgekommen.“ „Soll ich warten, was meinen Sie?“ „Mein Gott, seit einiger Zeit will hier jeder warten. Aber meinetwegen. Sie werden bloß kein Glück haben, jetzt ,lebt’ sie nämlich!“ „Und wir? Befinden wir uns etwa in Agonie?“ „Wir vegetieren, sie lebt. Sie geht aus, tanzt, ihr entgeht kein Programmwechsel in den Bars. Sie nimmt sich ihren Teil.“ „Aha! Na, in dem Falle…“ Ich vollende den Satz nicht, weil in diesem Moment ein Klappern an der Tür zu hören ist und kurz darauf eine melodische Frauenstimme eine bekannte Schlagermelodie summt. „ ‚Susanne’ ist da“, sagt Wera. „Dann werde ich die Pause benutzen, bevor sie wieder anfängt ,zu leben’“, murmele ich und nehme mei-
nen Hut. „Sie haben Ihren Tee nicht ausgetrunken…“ „Werde ich gleich tun. Ich warte immer, bis er ein bißchen abgekühlt ist, dann kippe ich ihn hinter. Das erhöht die Wirkung.“ Nachdem ich meine Art des Teetrinkens vorgeführt habe, hebe ich freundlich die Hand zum Gruß und gehe in die Diele. „Susannes“ Anwesenheit ist in der Tat musikalisch untermalt. Nach dem Summen eines Schlagers tritt nun der Plattenspieler hinter dem olivgrünen Vorhang in Aktion, was Sherlock Holmes, den ewigen Zweifler, sicherlich zu der gesuchten Person geführt hätte. Ich nähere mich Mimis Boudoir. Hier stoße ich auf ein unerwartetes Hindernis: Wie soll ich bei ihr anklopfen. „Fräulein Petrowa?“ frage ich. Anstelle einer Antwort dringt die heisere Stimme von Johnny Holliday an mein Ohr. „Fräulein Petrowa“, rufe ich noch mal, schon bedeutend lauter. „Ja doch! Was wünschen Sie?“ höre ich sie hinter mir. Ich drehe mich um und erblicke „Susanne“. Sie kommt offenbar aus der Küche, weil sie einen elektrischen Kochtopf, von dem Wasser tropft, in der Hand hat. „Ich würde gern ein paar Worte mit Ihnen wechseln“, erkläre ich ihr. „Bitte sehr!“ „Susanne“ geht an mir vorbei, zieht den Vorhang beiseite, und wir befinden uns in dem abgetrennten Teil der Diele. Hier sind die grauen Wände so gut wie möglich gesäubert. Die Möbel, aus verschiedenen Stilepo-
chen, stehen fast übereinander. Zu den alten Sachen Tanews hat Mimi offenbar ihre eigenen gestellt. Neben dem Sofa, auf einem Tischchen, der Plattenspieler. Diese Nachbarschaft verrät die Lieblingsbeschäftigung der Untermieterin. „Man legt sich hin und hört Musik, nicht?“ frage ich gutmütig. „Würden Sie auch tun, stünden Sie den ganzen Tag in der Apotheke. Setzen Sie sich doch!“ fordert mich Mimi auf und dreht dabei den Plattenspieler leiser. Suchend schaue ich mich um, finde aber nichts. Die einzige Sitzgelegenheit sind zwei schwere Plüschsessel, auf denen Strümpfe, Damenwäsche und Schallplatten liegen. „Augenblick, ich mach Ihnen Platz“, murmelt sie, zieht den Stecker des Plattenspielers heraus, schließt ihn an einen Doppelstecker an und setzt dadurch gleichzeitig den Elektroofen und den Wassertopf in Betrieb. „Sie sind wohl Elektriker, was?“ „Ach! Wenn’s so wäre, würde ich mir noch eine Steckdose legen und nicht warten, bis unser Pascha sich herabläßt.“ „Paschas gibt’s hier auch?“ „Na klar…“ Mimi nimmt rasch die Sachen von dem einen Sessel und wirft sie auf den anderen. „Übrigens, was führt Sie zu mir?“ „Ein paar Auskünfte.“ Ich mache es mir bequem. „Bin von der Miliz.“ „Von der Miliz?“ wiederholt Mimi erschrocken. „Da
sind wir ja schön eingebrochen!“ „Was soll das heißen?“ frage ich neugierig. „Der ist doch nicht etwa gestorben?“ Mimi starrt mich an. „Doch.“ „Ach…“, und sie legt vor Schreck die Hand auf den Mund. „Er ist gestorben“, wiederhole ich. „Unwiederbringlich. Wen meinen Sie eigentlich?“ „Na, den, dem Shoro ‘ne Kopfnuß verpaßt hat, mit ‘ner Flasche.“ „Davon weiß ich nichts. Da müssen Sie sich an eine andere Stelle wenden. Ich spreche von Medarow.“ „Ist Medarow denn auch gestorben?“ fragt Mimi ganz verdutzt. „Mein Gott, was ist denn bloß in die Menschen gefahren! Alle sterben sie.“ „Keine Bange, auch wir werden’s eines Tages tun.“ „Nicht wahr?“ erwidert Mimi unerwartet lebhaft. „Das sag ich auch immer. Deshalb will ich wenigstens, solange ich am Leben bin, was davon haben. Wie oft erzähle ich das Wera! Aber sie: Ich hätte keine ernsthafte Einstellung zum Leben. Sie nennt mich jetzt sogar ,Susanne’. Bestimmt hat sie’s Ihnen gegenüber erwähnt.“ Ich weiche einer Antwort aus. „Weshalb ,Susanne’?“ „Weil sich die Alten angeblich immer an mich hängen. Möchte wissen, welche Alten. Der Pascha ist erst Anfang Fünfzig. Und Medarow war weder mein Verlobter noch mein Freund…“ „Trotzdem hat er Sie oft besucht.“ Mimi hat sich wieder über den Wassertopf gebeugt.
Sie gibt Kaffee und Zucker hinein aus den Tüten, die mindestens seit gestern abend auf dem Fußboden stehen. Das Geplärr vom Plattenspieler ist verstummt. Statt dessen schluchzende Tangoklänge. „Schöner Besuch. Lauerte bloß auf die Rückkehr des Paschas.“ „Meinen Sie Tanew?“ „Na klar. Ich nenne ihn eben Pascha.“ „Glauben Sie, das klingt sehr schmeichelhaft?“ „Ich hab’s nicht ausgedacht, damit es schmeichelhaft klingt, sondern weil er keinen Finger krumm macht.“ „Der Mann ist eben gewohnt, daß man ihn bedient.“ „Und ob. Aber nicht bei mir! Hab’s ihm auch gesagt: Er soll sich das nicht einbilden. Für dieses Loch hier! Ich komme abgespannt nach Hause, und er: ,Mimi, bring mir dies, Mimi, bring mir das.’ – PaschaAllüren!“ „Wirklich unangenehm“, pflichtete ich ihr bei. „Wozu brauchte Medarow Tanew?“ „Hab ich ihn auch gefragt. Wenn er vom Pascha irgendwie Hilfe erwarte, sagte ich zu dem Alten, irre er sich gewaltig! Das sei nicht meine Sache, meinte er. Ich solle ihm lediglich helfen, Tanew aufzustöbern. Dann wolle er mich vergolden.“ Der Schaum im Kaffeetopf ist beängstigend gestiegen. Mimi springt auf, zieht den Stecker raus, nimmt zwei Tassen vom Tisch, wischt sie mit einem Tuch aus und gießt Kaffee ein. „Ein großzügiges Versprechen“, murmele ich und verfolge die Handgriffe der Gastgeberin. „Pech, daß sie selten in Erfüllung gehen.“
„Oh, ich habe ihm geglaubt!“ entgegnet Mimi und reicht mir eine Tasse Kaffee. Sie setzt sich aufs Sofa, neben den Plattenspieler, und trinkt ihren Kaffee mit Genuß. „Wo hält sich Tanew versteckt?“ frage ich. „Ich glaube, in Bankja.“ „Haben Sie das Medarow gesagt?“ „Kein Stück.“ „Und weshalb nicht?“ Anstatt einer Antwort schaut sich Mimi um, als suche sie was. „Hier lagen doch irgendwo Zigaretten… Ach, diese Unordnung!“ Ich stelle die Kaffeetasse auf den Fußboden und hole meine Zigarettenschachtel hervor. „Weshalb räumen Sie dann nicht auf?“ Ich biete ihr von meinen Zigaretten an. „Seit drei Tagen will ich hier Ordnung schaffen… Immer wieder verschiebe ich’s. So bin ich eben.“ Mimi zündet sich eine Zigarette an. Aus Gesellschaft ich auch. „Na, haben Sie sich die Antwort überlegt?“ „Was für eine Antwort?“ Mimi zieht die Brauen hoch, setzt eine Unschuldsmiene auf. „Außer Pharmazie scheinen Sie auch Schauspielerei studiert zu haben. Ich hatte Sie gefragt, weshalb Sie Medarow nicht sagten, wo sich Tanew versteckt hält. Sie erinnern sich…“ „Meine Güte, wie mißtrauisch Ihr von der Miliz alle seid“, seufzt Mimi kapriziös. „Ihr Kollege ebenfalls: Wie ich behaupten könne, der Verletzte hätte als erster
geschlagen. Aber so war’s: Shoro wurde angegriffen und hat aus Notwehr gehandelt. Ich wolle nur meinen Freund decken, hieß es, als ich das sagte.“ „Interessant.“ Mit einer Handbewegung bringe ich Mimi zum Schweigen. „Wenn Sie möchten, können Sie mir die ganze Affäre erzählen. Dieser Shoro scheint ein Bonbon zu sein. Aber wir wollen erst mal unsere Angelegenheit zum Abschluß bringen: Weshalb haben Sie Medarow nicht gesagt, wo sich Tanew verborgen hält? Oder hat er sich gar nicht verkrochen?“ „Doch. Kurz vor Medarows Erscheinen machte er sich aus dem Staub. Das war kein Zufall. Dessen bin ich sicher.“ „Woher wissen Sie, daß er sich in Bankja aufhält?“ „Von ihm selbst. Er kam zu mir in die Apotheke…“ „Wann war das?“ „Wann?“ Mimi bläst dichten Rauch gegen die Decke. „Vielleicht zwei Wochen nach seinem Verschwinden…“ „Und?“ „Er erzählte mir, er sei in Bankja. Ich könne ihn, falls erforderlich, bei seinem Vetter erreichen. Der wohnt dort. Dann fragte er mich über Medarow aus. Ich sagte ihm nichts Bestimmtes, lediglich: Er komme hin und wieder und trinke einen Mastika. Der Pascha wollte es genauer wissen: wann er auftauche, was er erzähle, wo er wohne, mit wem er sich treffe und verschiedenes andere…“ „Haben Sie Medarow informiert, daß sich Tanew für ihn interessiert?“
„Natürlich nicht. Ich hab Ihnen das schon mal gesagt, nicht wahr?“ „Weshalb, frage ich mich.“ „Weil… Na, weil ich das Gefühl hatte, wenn sich die beiden treffen, würde was Schreckliches passieren.“ „Es ist bereits geschehen“, rufe ich ihr ins Gedächtnis, „also kein Grund mehr zur Heimlichtuerei. Wie oft war Tanew bei Ihnen?“ „Sagte ich Ihnen doch!“ „Ja, aber mir scheint, etwas übereilt. Überlegen Sie jetzt gut, und antworten Sie präzise.“ Mimi drückt nervös die Zigarette aus. Das gibt ihr lediglich fünf Sekunden Aufschub. Ein Blick zu mir, dann zum Plattenspieler: „Himmel, was seid Ihr nur für welche… Tanew habe ich zweimal gesehen… jenen Abend mitgerechnet, dreimal…“ „Schildern Sie diese drei Besuche. Wo und wann haben Sie sich getroffen, was hat Tanew zu Ihnen gesagt, und was haben Sie geantwortet. Ohne Auslassungen.“ Mimi will etwas erwidern, wie ,Himmel, was seid Ihr für welche’. Aber als sie von meinem Gesicht abliest, daß ich nicht zum Scherzen aufgelegt bin, senkt sie den Blick auf ihre schicken schwarzen Schuhe. Mirni ist, das nebenbei, eine elegante Frau, die sich geschmackvoll zu kleiden versteht, im Gegensatz zu der sie umgebenden Einrichtung. Ihre Figur, verglichen mit der gegenwärtigen Modelinie, ist zu mollig, womöglich gefällt sie gerade deswegen alten Männern. Hübsches Gesicht, ohne besondere Kennzeichen. Abgesehen von dem Ausdruck leichter Müdigkeit, die manchmal an
Apathie grenzt, unausbleiblich, wenn man „lebt“… „Wie ich schon erwähnte, wollte er beim ersten Besuch alles über Medarow wissen. Er käme jeden Abend, sagte ich, frage nach ihm, trinke ein oder zwei Gläschen Mastika, schweige dann wie ein Stück Holz und ziehe wieder ab. Wo er wohnt, mit wem er sich trifft, wußte ich nicht. Ich sollte es in Erfahrung bringen, meinte der Pascha. Als er das zweite Mal aufkreuzte, hat er überhaupt nicht mehr danach gefragt…“ „Kam er wieder in die Apotheke?“ „Nein. Er hatte mich angerufen, aus einer Telefonzelle am Gerichtsgebäude. Dort trafen wir uns. Ob sich Medarow am Abend sehen lassen würde, interessierte ihn. Als ich das bejahte, hat mir der Pascha ein Fläschchen mit einer Flüssigkeit gegeben, die ich dem Alten in den Mastika tun sollte, damit er einschlafe. Er müßte unbedingt rauskriegen, was der Kerl in seiner Brieftasche habe. Als ich ablehnte, hat mir Tanew einen Blick zugeworfen, daß ich das Fläschchen doch nahm. Sobald Medarow eingeschlafen sei, sollte ich ihn holen, den Pascha. In der .Goldenen Traube’ wollte er auf mich warten. Das war unser zweites Treffen…“ „Wann genau?“ „Na, vor ungefähr vier Wochen… Ja, länger als einen Monat ist’s her… Wir hatten gerade Gehalt bekommen…“ Mimi verstummt und schaut sich wieder um. Ich nehme meine Zigaretten. Wir zünden an. „Und dann?“ Mimi zieht gierig den Rauch ein. „Am Abend kam Medarow wirklich. Ich bot ihm Mastika an. Hatte im-
mer eine Flasche, speziell für ihn. Für mich ist Mastika das reinste Brechmittel. Natürlich habe ich nicht im Traum dran gedacht, ihm das ,Schlafmittel’ zu verabreichen. Woher sollte ich denn wissen, wie lange er schlafen und ob er überhaupt wieder aufwachen würde. Schließlich bin ich Apothekerin. Mit diesen Dingen scherzt man nicht. Medarow gegenüber hatte ich angedeutet, sein Leben wäre in Gefahr, und es sei in seinem eigenen Interesse, diese regelmäßigen Besuche einzustellen. Ob ich Tanew zu Gesicht bekommen hätte, wollte der Alte wissen. Ich hätte ein komisches Gefühl, antwortete ich ihm. Medarow schien zu verstehen oder zumindest hellhörig zu werden, bei seinem ständigen Argwohn, mit dem er überall Gefahr witterte. Seit jenem Abend hat er seinen Fuß nicht mehr hierhergesetzt.“ „Und Tanew?“ Mirni macht zwei Züge und drückt die Zigarette im Aschenbecher aus. „Den hab ich hinters Licht geführt. Ich fand ihn in der ‚Goldenen Traube’ und machte ihm weis, Medarow hätte Lunte gerochen, weil er nicht einmal an dem Glas nippen wollte und schnell wieder abgezogen wäre.“ „Hat Tanew das geglaubt?“ „Weiß der Teufel. Jedenfalls hat er nichts gesagt und mich fortgeschickt. Seitdem hab ich ihn nicht mehr gesehen.“ „Sind Sie sicher?“ „Vollkommen.“
„Und was haben Sie mit dem Fläschchen gemacht?“ „Hier irgendwo muß es sein…“ Mimi beugt sich vor und beginnt unter dem kleinen Tisch zu suchen, auf dem der Plattenspieler steht und gerade einen feurigen Cha-Cha-Cha von sich gibt. Kurz darauf fördert sie aus einem Haufen Kleinkram ein Fläschchen mit einer durchsichtigen Flüssigkeit zutage. „Hoffentlich haben Sie den Inhalt nicht ausgewechselt“, brummele ich und stecke es in meine Jackentasche. „Diese Ermittlungsbeamten! Da erzählt man Ihnen schon alles, und Sie…“ „Schon gut…“, unterbreche ich sie. „Sie haben den Eindruck, Medarow und Tanew waren sich spinnefeind?“ „Und wie! Zwei Besessene, an deren Verstand Bosheit plus Arteriosklerose genagt haben, zumindest was Medarow betrifft… Sie haben einander regelrecht aufgelauert und nur auf den passenden Moment gewartet…“ „Um sich gegenseitig auszurotten?“ „Um alte Rechnungen zu begleichen… hat Medarow ständig behauptet. Tanew wiederum suchte etwas in Medarows Taschen…“ „Aber wie erklären Sie sich, daß Medarow so schnell die Segel strich?“ „Er hatte seine Besuche eingestellt“, sagt Mimi. „Dafür kam ein anderer.“ „Konkreter bitte. Ich bin ein bißchen begriffsstutzig!“ „Ihr von der Miliz tut nur so. Bis Ihr uns alles aus der
Nase gezogen habt. Wera kann Ihnen mehr darüber erzählen. Sie waren doch bei ihr, nicht wahr? Sie hat geschwiegen und Sie zu mir geschickt.“ „Macht nichts“, sage ich in meiner sprichwörtlichen Gutmütigkeit, „vielleicht ist’s gut so. Sie sind eine sympathische junge Dame…“ Mimi beugt sich zu mir. „Als Medarow wegblieb, erschien ein gewisser Andreew. Ich war allein zu Haus. Er wollte Herrn Tanew sprechen. Weshalb er nicht, wie es an der Tür steht, einmal klingele, hatte ich ihn gefragt. Tanew sei nicht da, hätte er gehört. Und wann er zurückkehre? Keine Ahnung, habe ich ihm zu verstehen gegeben. Überhaupt solle er dreimal klingeln, wenn er zu mir persönlich möchte. Dann habe ich ihm die Tür vor der Nase zugemacht. Zwei Tage später sah ich ihn aus Weras Zimmer kommen: Herr Andreew, Elektroingenieur – so hat sie ihn mir vorgestellt.“ „Elektroingenieur?“ „Ja, was ist daran verwunderlich?“ Mimi zieht die Brauen hoch. „Elektroingenieur, sagte ich, nicht Kosmonaut.“ „Und dann?“ „Nichts weiter. Ich wette, Medarow hat ihn geschickt. Er geht immer zu Wera.“ „Sind Sie etwa eifersüchtig?“ „Das fehlte noch!“ Mimi verzieht verächtlich den Mund. „Männer widern mich an.“ „Schicken Sie sie zum Teufel“, rate ich ihr. „Fangen Sie mit Ihrem Pascha an.“ „Dachte ich auch… Manchmal kommt mir was ande-
res in den Sinn… Wir haben nur ein Leben, müssen aber irgendwie damit fertig werden…“ „Warum irgendwie’? Warum nicht gut?“ „Ach…“ Mimi sieht mich mit Märtyrermiene an. „Weiß man denn, was gut ist und was nicht…“ „Selbstverständlich!“ „Ich scheinbar nicht. Und Sie?“ „Natürlich weiß ich’s. Übrigens, Sie auch. Sie haben es bloß vergessen. Schon in der Schule hat man’s Ihnen beigebracht.“ „Ach ja, in der Schule!“ Mimi lächelt herablassend. „Dort eignet man sich die elementarsten Wahrheiten an… sie behalten ihre Gültigkeit.“ „Ich hoffe, Sie rufen mir ein paar ins Gedächtnis…“ Das gleiche herablassende Lächeln. „Wenn Sie’s wünschen, warum nicht?“ In unterweisendem Ton beginne ich: „Zum Beispiel ist es gut, regelmäßig das Zimmer aufzuräumen und nicht in solcher Unordnung zu leben. Unordnung ist überhaupt nicht ratsam, weder im Zimmer noch anderswo. Gut ist es auch, die Freizeit angenehm zu verbringen; ermüdet das allerdings über Gebühr, so ist es schlecht. Es ist gut, einen Freund zu haben, aber einen vernünftigen… Soll ich fortfahren?“ Mimi schweigt, den Kopf gesenkt. Der Plattenspieler dudelt einen Foxtrott. „Jaaa“, lasse ich mich vernehmen, um die Pause abzukürzen. „Das Leben ist keine Bagatelle. Vor allem, wenn man bedenkt: Ein zweites gibt es nicht.“ Mimi schweigt weiter, auf ihre schicken Schuhe starrend. „Sie sind beispielsweise hundertprozentig über-
zeugt von Ihrer Ehrenhaftigkeit, weil Sie’s nicht fertigbringen, jemandem Gift ins Glas zu tun. Und zu sich selbst, sind Sie da ehrlich? Haben Sie mal an das Gift gedacht, mit dem Sie sich vergiften? Typen vom Schlage Shoros, Flaschen – alles gut und schön. Aber dann?“ Mimi sitzt in der gleichen Pose. Der Foxtrott ist zu Ende. Die Langspielplatte auch. Der Saphir kratzt. Man nimmt keine Notiz davon. „Aber“, füge ich hinzu, „wir wollen den Rahmen der Ermittlung nicht sprengen. Auf Wiedersehen!“ Vom nebenstehenden Sessel nehme ich meinen Hut und stehe auf. Mimi sieht mich müde an. „Sie haben Ihren Kaffee nicht ausgetrunken…“ „Ich lasse ihn mir für den Schlußakkord“, erkläre ich. „Meine persönliche Note: warten, bis der Kaffee abgekühlt ist, und dann auf einen Zug.“ Bei diesen Worten bücke ich mich, nehme die Tasse vom Fußboden und demonstriere es. Zum Abschied hebe ich freundlich die Hand. „Auf Wiedersehen, Inspektor…“, höre ich Mimis müde Stimme hinter mir. Auf der Platte kratzt noch immer der Saphir.
VIERTES KAPITEL „Hm…“, sage ich. „Elektroingenieur…“ Keine Ant-
wort. „Hm…“, wiederhole ich. „Elektroingenieur, ja?“ Erneutes Schweigen. Eine Antwort ist eigentlich nicht möglich. Die einzigen lebenden Gegenstände im Zimmer sind ich und die Uhr. Von der Uhr eine Äußerung zu erwarten ist schwierig, außer auf die Frage: Wie spät? Auch hier kann man betrogen werden. Vor allem, wenn man vergessen hat, seinen „Gesprächspartner“ aufzuziehen. Ich befinde mich also in Gesellschaft meines alten Weckers und spreche über bestimmte Dinge. Nur die Verrückten führen Selbstgespräche, könnte da jemand sagen. Meine Sache. Im Moment bin ich nämlich nicht im Büro, sondern in meiner Privatwohnung. Da kann ich tun und lassen, was mir gefällt. Hm. Eigentlich kann ich’s gar nicht. Sonst wäre ich womöglich nach Pernik gefahren, diesmal ohne Blumen. Heute ist Sonntag, sehr geeignet für einen Ausflug. Aber dieser Elektroingenieur macht mir einen Strich durch die Rechnung. Werde mir den Burschen ansehen müssen. Elektroingenieure sind in unserer Republik angesehene Leute. Ich persönlich habe auch nichts gegen sie. Wurde allerdings jemand umgebracht, durch elektrischen Schlag, man weiß nicht wie, und taucht im Dunkel der Ermittlung plötzlich ein Elektroingenieur auf, dann, werden Sie mir zustimmen, ist ein Besuch sinnvoll, zumindest für eine Konsultation. Gemächlich beende ich meine Toilette, stülpe meinen alten, getreuen Hut auf, nehme meinen Mantel und mache mich erneut auf den Weg. Draußen ist es, entgegen dem Kalender, fast Früh-
ling. Spaziergänger bevölkern den Boulevard, Kinder mit Luftballons, Mütter mit Kinderwagen und Ihr ergebener Peter Antonow, den Mantel überm Arm, mit nicht überprüften Versionen im Kopf. Es ist an der Zeit, mir erneut eine Übersicht zu verschaffen, nicht gedanklich – das tue ich ununterbrochen – , vielmehr in schriftlicher Form, wie es die Kriminalromanautoren machen: kleine Episode, dann legt der Held auf zehn Seiten seine tiefsinnigen Betrachtungen dar, entweder vor sich selbst oder vor seinem Chef; andere Episode, Wiederholung des Berichts über die gleiche Version mit ein paar Abänderungen; dritte Episode, dritte Wiederholung der Version. Und so weiter – bis zum Schluß des Romans. Auf diese Weise kann der Leser anschaulich verfolgen, wie sich die Fassungen verändern und Gestalt annehmen. Und der Autor hat die Möglichkeit, einen dicken Roman zu schreiben, aus einem Histörchen, das ohne die Wiederholungen kaum mehr als zwanzig Seiten hergeben würde. Natürlich, im Leben kommt’s immer anders als in Romanen. Denn schwerlich wird sich so ein Nichtstuer und Schwätzer finden, der unaufhörlich, von A bis Z, seine Lieblingsversion wiederholt, wenn auch mit kleinen Präzisierungen. Im Grunde genommen hat eine Ermittlung ein bißchen mit dem Entwickeln von Filmen gemein, falls Sie was vom Fotografieren verstehen. Im Laufe der Untersuchung beginnen sich auf dem weißen Papier gewisse Umrisse abzuzeichnen. Dieser Prozeß kann unterschiedlich sein, wie in der Fotografie, je nach Belichtungszeit und Stärke des
Entwicklers. Manchmal wird fast das ganze Bild sichtbar, nur da und dort fehlen an den hellen Stellen die Details. Ein andermal ist’s genau umgekehrt: Einzelheiten treten hervor, aber es ergibt kein zusammenhängendes Bild. Und schließlich gibt’s Situationen, da kommt gar nichts zum Vorschein, besonders wenn das Papier von der nicht emulgierten Seite belichtet wurde. In unserem Fall scheint das Ganze schon Gestalt anzunehmen. Der eine oder andere könnte auch fragen: „Weshalb verhaftet Antonow Tanew nicht?“ Nur ein Laie würde das tun. Eine dunkle Gestalt zu verhaften heißt noch lange nicht, sie zum Geständnis ihrer dunklen Machenschaften zu bewegen. Außerdem hinken Vergleiche immer. Beim Entwickeln kann das allmähliche Sichtbarwerden der Einzelheiten nicht das eigentliche Bild verändern. Bei uns geht manchmal, mit Hervortreten eines winzigen Details, leider das ganze Bild, das man gezeichnet hat, zum Teufel. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen. So gehe ich den Boulevard entlang, in Richtung Russisches Denkmal. Gedanklich bereite ich mich auf die Untersuchung des Details „Andreew“ vor. Ein Neuling würde an meiner Stelle vor Freude einen Luftsprung machen bei der Vorstellung von einer baldigen Schürzung des Knotens. ,Sie sind Elektroingenieur?’ frage ich in Gedanken. Ja’, murmelt Andreew verlegen. ,Und ich bin von der Miliz. Ich hoffe, dies sagt Ihnen was…’ Andreew erbleicht: ,So?’ ‚Ja’, ich nicke, ‚alles ist aufgedeckt.’
Andreew steht einen Moment wie gebannt, reibt sich die Hände und verspricht unter Tränen, er wolle es nie wieder tun. Neulinge haben’s leicht, zumindest solange sie beim Überlegen sind. Was mich betrifft, so bin ich fast sicher; ein Mörder, der sein Verbrechen raffiniert durch einen Unglücksfall zu tarnen versteht, hätte keinesfalls ein todbringendes Mittel gewählt, das mit seinem Beruf zusammenhängt. Obwohl… Ach ja, obwohl, sage ich zu mir und spinne meine Version weiter. Als ich das Krankenhausviertel erreicht habe, fällt mir ein, daß meine Tante hier wohnt. Eigentlich müßte ich der alten Frau einen Besuch abstatten, sie würde sich freuen und einen Kaffee brühen, gemischt mit Zichorie, um das Herz zu schonen. Womöglich würde sie ein Gläschen Kognak anbieten, zwanzig Gramm, nicht mehr. Was darüber ist, wäre für meine Tante schon eine Orgie. Wir würden über dies und jenes plauschen: die Tugenden meines seligen Onkels, den Kalbfleischpreis. Es würde amüsant zugehen. Aber o weh, im Augenblick steht mir ein anderer Besuch bevor. Das Haus, das ich suche, befindet sich in der Nähe des Parks. Die kahlen Äste der Bäume recken sich schwarz und unbeweglich in den blauen Himmel. Das Gras hat schon vor der Zeit wieder zu grünen begonnen. Hie und da sonnen sich Menschen auf den Bänken, eine Zeitung in der Hand. Auf den Parkwegen spielen Kinder. An einem so schönen Tag, in einer so ruhigen Umgebung erscheint die Existenz von Leuten meines Berufs fast unwahrscheinlich. Ich setze mich auf eine
leere Bank, um die würzige Luft einzuatmen und das Aroma einer bulgarischen Zigarette. Optimistisch nehme ich den Hut vom Kopf und starre geradeaus. Nummer neun, erste Etage links. Das Haus hat eine schmale Fassade, auf jeder Etage nur zwei Fenster. Also gehört zu Andreews Wohnung das linke Fenster, das breit ist und modern. Wie ein Schaufenster. Plötzlich gewahrt mein Adlerauge einen Verstoß gegen die Ordnung. Pardon, was machen denn die zuständigen Milizstreifen? Schlafen sie? Trotz des großen Verbotsschildes hat ein Kind, es kann kaum laufen, den Rasen betreten und rollt einen großen Ball vor sich her. Mit beiden Ärmchen versucht es, den Ball zu umfassen, er entgleitet ihm, rollt weiter. Glückliche Ordnungshüter der städtischen Parkanlagen. Sie haben sich mit Vergehen rumzuschlagen, denen man mit gefalteten Händen zusehen kann, ohne Gewissensbisse. Und meine „Patienten“? Nicht mal am Sonntag lassen sie mich in Ruhe. Ja, Nummer neun, erste Etage links. An der Tür ein Schild: „Wassil Andreew – Elektroingenieur.“ Ich klingele und werfe dabei einen flüchtigen Blick auf den Lichtschalter, obwohl es auf der Treppe hell genug ist. Von drinnen ruft eine dumpfe Männerstimme: „Herein!“ Ich drücke auf die Klinke und stelle zu meiner Überraschung fest, die Tür ist wirklich aufgeschlossen. Geräumige Junggesellenwohnung. Genau das Richtige für mich. Aber leider… Die Tür zum Wohnzimmer ist weit geöffnet. Man hört das Rauschen von fließendem Wasser. „Wer ist
da?“ fragt jemand. Ende der einstudierten Introduktion. Bange Frage, rauhe Antwort, unerwarteter Blick. „Ich komme wegen einer Auskunft.“ „Ja, gleich… Sind Sie etwa von der Miliz?“ Blitz und Donner! Das war übrigens zu erwarten. Wera hat den Mund nicht gehalten. Andreew erscheint in der Tür. Er trocknet sich gerade das frisch rasierte Gesicht mit einem weißen flauschigen Frottiertuch. Der Elektroingenieur wird etwa dreißig Jahre alt sein, aber sein Gesicht hat etwas Jungenhaftes: blaue, gutmütige Augen, gebogene Nase, kastanienbraunes Haar. „Ihre Freundin Wera“, bemerke ich, „erweist sich als indiskret.“ „Der Indiskrete bin in diesem Fall ich.“ Andreew lächelt verlegen. „Es ist mir einfach so herausgerutscht…“ „Wie dem auch sei“, winke ich ab. „Daß man Sie gewarnt hat, ist nicht schlimm. Freue mich, Sie anzutreffen.“ „Ganz meinerseits…“, murmelt Andreew, verschwindet einen Augenblick im Bad, kommt wieder zurück, Schipullover und Kamm in der Hand. „Gehn Sie bitte hinein!“ Nach ihm betrete ich das Zimmer. Durchs Fenster sieht man die Bäume im Park. Direkt am Fenster ein Arbeitstisch mit Zeichnungen und aufgeschlagenen Büchern. Ringsherum schlichte Möbel aus hellem Holz, wie bei Wera. Mir hat sie die Adresse der Herstellerfirma nicht gegeben. Auch hier Hocker. Ich wer-
de mich nicht setzen. Andreew zeigt einladend auf eins der schrecklichen Sitzmöbel, streift den Pullover über, kämmt mit ein paar schnellen Bewegungen sein Haar. Wir nehmen Platz. „Darf man bei Ihnen rauchen?“ frage ich. „Natürlich. Leider kann ich Ihnen nichts anbieten, bin nämlich Nichtraucher.“ Dann wirst du aber Unannehmlichkeiten mit deiner Wera kriegen, denke ich und zünde mir eine Zigarette an. Laut sage ich: „Widerliche Angewohnheit, aber sonst angenehm.“ Andreew lächelt. „Für mich ist das eine Frage des Geschmacks und nicht der Prinzipien. Von der ersten Zigarette ist mir schlecht geworden. Deshalb war’s auch die letzte.“ „Und was halten Sie vom Mord durch elektrischen Schlag?“ Der Hausherr sieht mich erstaunt an. „Sie sind doch Elektroingenieur, nicht wahr?“ „Ja… Allerdings Spezialist für die technische Seite und nicht für die kriminalistische…“ „Vom Tod Ihres Freundes Medarow haben Sie offenbar schon erfahren. Was Sie womöglich nicht wissen: Im Verlauf der Ermittlung hat sich herauskristallisiert, daß der Tod durch Gewaltanwendung eingetreten ist. Medarow wurde ermordet.“ „Ermordet?“ „Ja. Durch elektrischen Schlag. Sind Sie überrascht?“ Der Mann starrt mich ungläubig an. Dann bekommt sein Gesicht einen feindseligen Ausdruck. „Wahrhaftig“, sagt Andreew trocken. „Und noch
eins: Erstens, Medarow ist nicht mein Freund, zweitens, ich bin nicht der Mörder. Ich fürchte, Sie zu enttäuschen, aber es ist die Wahrheit.“ „Keine Bange“, beruhige ich ihn lächelnd. „Mich enttäuscht man nicht so leicht. Außerdem hab ich Sie nicht des Mordes beschuldigt.“ „Sie machen Anspielungen…“ „Das kommt Ihnen so vor. Ich bin nicht hier, weil ich Sie für den Mörder halte, sondern weil ich hoffe, Sie helfen mir, ihn zu fassen.“ Andreews Gesicht nimmt ein bißchen von seiner früheren Freundlichkeit an. „Ich würde es gern tun. Hätte ich nur die erforderlichen Angaben.“ „Bei solchen Ermittlungen verfügt lediglich der Mörder über die notwendigen Indizien. Wir müssen uns mit lückenhaftem Material begnügen. Allerdings nicht weiter tragisch: Mimi wird was sagen, ich meinerseits werde einiges hinzufügen, Sie ebenfalls, auch Wera wird ein Quentchen beisteuern. Und Stück für Stück nimmt das Bild Gestalt an. Wie beim Entwickeln von Filmen, sollten Sie sich mit diesem Hobby mal beschäftigt haben.“ Andreew hört mir ruhig zu, die gutmütigen Augen weit aufgerissen. „Also“, fahre ich fort, „beginnen wir mit einigen simplen Dingen. Was hat Ihnen Wera über meine Person mitgeteilt?“ „Gar nichts… das heißt, nichts Besonderes…“ „Sehn Sie, Andreew… Ich warne Sie a priori. Den-
ken Sie nicht, wir spielen hier Versteck. Zugegeben, ein schöner Sport, in jungen Jahren hab ich ihn ebenfalls betrieben – allerdings niemals in Verbindung mit dem Gesetz. Ihre Freundin hatte ich gebeten: zu niemand ein Sterbenswörtchen über meinen Besuch bei ihr. Sie machte auf mich den Eindruck eines ehrenhaften Menschen. Wenn sie sich Ihnen trotzdem anvertraut hat, dann sicherlich aus triftigen Gründen und nicht bloß, um sich mitzuteilen. Also, weshalb hat sie’s Ihnen erzählt und was?“ „Jemand von der Miliz sei bei ihr gewesen, habe sie über Tanew ausgefragt… Medarow sei gestorben… Vielleicht sogar ermordet… Der Mann von der Miliz würde bestimmt auch zu mir kommen, weil er sich mit Mimi unterhalten und sie ihm höchstwahrscheinlich von mir erzählt habe…“ „Warum hat Sie Wera über alles unterrichtet?“ „Warum? Na, um mich zu warnen. Deshalb.“ „Und weshalb müssen Sie unbedingt gewarnt werden? Etwa, damit Sie keinen Herzschlag bekommen, wenn Sie mir die Tür öffnen?“ Andreew schweigt. „Andreew, wenn die Sperenzchen schon jetzt losgehn, kriege ich auf Ihrem Hocker ein steifes Kreuz. Eben boten Sie noch Ihre Hilfe an, und jetzt… Welche Beziehungen haben Sie eigentlich zu Medarow und Tanew?“ „Zu Tanew überhaupt keine.“ „Was wollten Sie dann von ihm?“ „Es war Medarows Wunsch. Bedenken Sie, ich kenne Medarow erst seit kurzem…“
„Kein Wunder… Es sei denn, Sie haben im Gefängnis gesessen.“ „Medarow hat mir von seiner Haft erzählt, ebenfalls einiges über die Tätigkeit der ,Kometa’, wo auch mein Vater gearbeitet hat…“ „Als was war Ihr Vater in dem Unternehmen tätig?“ „Nicht als Aktionär“, sagt Andreew trocken. „Er war Chauffeur von Kostow, dem Chef. Seit dem Verschwinden von Kostow fehlt auch von meinem Vater jede Spur.“ „Ja, habe so was gehört. Na, und…?“ „Kostow soll mit einer hitlerdeutschen Maschine nach Deutschland geflogen sein, schon möglich. Solch Gesindel reißt aus wie die Ratten von einem sinkenden Schiff. Aber mein Vater hatte mit ihren faschistischen Machenschaften nichts gemein. Er war Arbeiter, über die Befreiung hätte er sich nur freuen können. Außerdem hatte er eine junge Frau und ein kleines Kind, er liebte sie.“ „Hat Ihre Mutter nichts erzählt?“ „Von meiner Mutter wußte ich, Vater sei im Krieg gefallen. Nichts weiter. Als sie allerdings vor fünf Jahren schwer erkrankte und spürte, daß es dem Ende zugeht, sagte sie: ,Mein Sohn, du sollst wissen… diese Banditen von der ,Kometa’ haben Vater umgebracht. Vergiß es nicht. Wenn du die Möglichkeit hast, zahl es ihnen eines Tages heim.’“ Andreew verstummt, den Kopf gesenkt. Ich schweige ebenfalls und gucke zerstreut aus dem Fenster, auf die schwarzen Bäume im Park.
„Ich habe mir diese Worte gemerkt. Aber wozu? So viele Jahre waren verstrichen. Natürlich hatte ich von dem Prozeß in Sachen .Kometa’ erfahren und… daß nichts über das Verschwinden meines Vaters herausgekommen war. Da kreuzte kürzlich unverhofft ein zorniger Alter bei mir auf und sagte, er sei Medarow, der zweite Aktionär des Unternehmens…“ „Wann war das?“ „Vor einem Monat ungefähr. Sie können sich vorstellen, wie perplex ich war. Ich bat den Alten herein, und er sagte gleich, er suche jemand, der auch für mich von Interesse wäre, weshalb er auf meine Unterstützung hoffe. Es handele sich um Tanew, den dritten Mann von der ,Kometa’. Der sei der Mörder meines Vaters. Beweisen könnte er’s nicht, aber er sei sich ziemlich sicher. Hätte er Indizien, würde er nicht zu mir kommen, sondern zur Miliz gehen.“ „Glauben Sie, Medarow wäre zur Miliz gegangen?“ frage ich und wende den Blick vom Fenster auf Andreew. „Nein, aber das interessierte mich in diesem Fall nicht. Ich wollte Beweise in die Hand bekommen, für Tanews Mord an meinem Vater. Angenommen, wir finden ihn, habe ich Medarow gefragt, wie werden wir ihn zu einem Geständnis bringen? Das würde sich irgendwie ergeben, hat er gemeint, man müsse ihn erst mal haben. Er hätte Beweise gegen ihn. Wenn Tanew davon erführe, würde er weich wie Wachs. Sie hätten irgendwelche Rechnungen zu begleichen – materieller Natur, nicht so wie ich. Sowohl er als auch ich könnten mit Tanew nur abrechnen, falls wir ihn fänden und
gemeinsam handelten. Sonst käme nichts dabei raus.“ „Schöner Komplize…“ „Ach wo“, entgegnet Andreew. „Für mich war er ein Mittel, den Mörder meines Vaters ausfindig zu machen.“ „Medarow hat Sie ebenfalls als Mittel benutzt.“ „Schon möglich. Mir war klar: Einer wie Medarow, hätte er mich nicht gebraucht für seine eigennützigen Absichten, wäre nicht zu mir gekommen. Aber meinen Sie nicht, zwei verschiedene Menschen, die zwei verschiedene Ziele verfolgen, könnten gemeinsame Interessen haben, zumindest zu einem gegebenen Zeitpunkt?“ „Durchaus möglich. Das Schlechte an der Sache ist nur: Eine solche Zusammenarbeit birgt eine Menge Unannehmlichkeiten technischer Natur. So weiß man nicht genau, wann dieser Zeitpunkt zu Ende ist. Und ehe man’s gemerkt hat, spürt man was anderes, zum Beispiel ein Messer im Rücken.“ „Solche Dinge passieren heutzutage nicht mehr.“ Andreew lächelt. „In der Regel nicht. Wo es allerdings naive Menschen gibt, dort wohl. Natürlich meine ich das ganz allgemein, fühlen Sie sich deshalb nicht angesprochen. Aber erzählen Sie weiter.“ Andreew schaut mich unzufrieden an. „Wie ich den Reden des Alten entnommen habe, hat sich Tanew, als er spitzbekommen hatte, Medarow würde aus dem Gefängnis entlassen, sogleich verkrümelt. Wahrscheinlich, um sich vor dem Begleichen der Rechnung zu
drücken und in aller Ruhe einen Aktionsplan zu überlegen…“ „Dazu hatte er zwanzig Jahre Zeit.“ „Trotzdem, Medarows Entlassung kam für Tanew unerwartet. Wäre die letzte Amnestie nicht gewesen, hätte er noch ein paar Jährchen im Gefängnis gesessen. Wie dem auch sei. Mit Hilfe der Beweise glaubte der Alte, Tanew zu einer Erklärung zwingen zu können. Auf einem diskret installierten Tonband sollte Tanew, ohne es zu ahnen, gegen sich selbst aussagen…“ „Naiv…“ „Medarow war nicht so naiv…“ „Ich meinte nicht Medarow.“ „In diesem Fall beleidigen Sie mich schon zum zweitenmal.“ Der Unwille meines Gesprächspartners verstärkt sich. Was ist der Hauptgrund dafür? Natürlich habe ich nicht die Absicht, jemand zu beleidigen. Aber er muß ein bißchen durchgeschüttelt werden, damit er nicht gar zu selbstsicher auftritt, an der Richtigkeit seines bisherigen Verhaltens zweifelt und in Zukunft mehr auf der Hut ist. „Ich beleidige Sie?“ murmele ich. „Habe ich überhaupt nicht bemerkt.“ „Aber ich.“ „Das kommt Ihnen nur so vor. Was ist daran beleidigend, wenn ich Ihre Pläne auf einem Sektor für naiv halte, wo Sie nicht verpflichtet sind, Experte zu sein, nämlich in der Kriminalistik. Oder Sie müßten tatsächlich entweder ein Verbrecher oder ein Kriminalist sein. Ich hoffe, Sie sind weder das eine noch das andere.“
„Sie haben’s so gedreht, daß ich wieder schuld bin…“ „Bilden Sie sich ein. Fahren Sie fort.“ „Na ja, im großen und ganzen ist das alles, denn weil Tanew vor Medarow geflohen ist, mußte an seiner Stelle ein anderer Tanews Rückkehr verfolgen. Dieser andere war ich. Tanew ließ sich allerdings nicht sehen. Und nun ist auch Medarow verschwunden.“ „Im Grunde genommen ist die ganze ,Kometa’ verschwunden“, sage ich. „Zu wem, außer Ihnen, hatte Medarow noch Kontakt?“ „Soweit mir bekannt, ist er früher des öfteren zu den Tanews gegangen. Genauer gesagt: zu Mimi. Aber gerade deshalb wandte er sich an mich, damit er diese Besuche einstellen konnte. Seiner Meinung nach wußte Tanew davon und hielte sich gerade deshalb von zu Hause fern.“ „Und andere Verbindungen Medarows?“ „Davon weiß ich nichts… es sei denn seine Beziehung zu Iliew, bei dem der Alte wohnte. Er war zu Iliew gezogen, weil er glaubte, dieser verkehre mit Tanew.“ „ ,Glaubte’ er, oder war er sicher?“ „Er war sicher. Gerade durch Iliew hatte er versucht, Tanew wissen zu lassen, daß er Beweise gegen ihn hat.“ „Wann haben Sie Medarow das letzte Mal gesehn?“ Andreew überlegt einen Augenblick. „Am Donnerstag… Und wann wurde Medarow ermordet?“
„Fragen stelle ich“, sage ich trocken. „Um welche Zeit am Donnerstag?“ „Ich erinnere mich nicht genau. Es war am Abend.“ „Denken Sie mal scharf nach.“ Andreew überlegt. „Es war zwischen acht und neun Uhr, exakter: gegen neun. Als er klingelte, hörte ich gerade im Radio die Nachrichten, sie beginnen halb neun.“ „Jetzt besinnen Sie sich mal genau, was von dem Augenblick an geschah, als Sie die Tür öffneten, bis zu dem Moment, da Sie Medarow wieder hinausbegleiteten.“ „Überhaupt nicht schwierig. Medarow war nur einige Minuten hier. Er sagte mir, er sei Tanew auf der Spur. Ich solle mich bereit halten. Wir müßten eine Zeit vereinbaren, zu der er, Medarow, mich in den nächsten Tagen, sobald wir zu Tanew gehen könnten, zu Hause antreffe, auf alle Fälle. Wir vereinbarten zwischen sieben und acht Uhr abends. Damit endete unser Gespräch, und der Alte ging wieder.“ „Wie hat sich Medarow benommen?“ „Wie immer…“ Andreew denkt nach. Dann hebt er den Kopf und blickt mich an. „Übrigens fällt mir jetzt ein, er hatte es sehr eilig, sein Gebaren hatte was Gespanntes. Ja, er muß ziemlich in Eile gewesen sein. Er kam nicht ins Zimmer. Wir unterhielten uns im Korridor. Medarow trat von einem Bein aufs andere, als war ihm kalt. Ein- oder zweimal schaute er auf die Uhr, und sobald wir eine Zeit vereinbart hatten, brach er auf.“
„An dem Abend ist Ihnen diese Hast nicht aufgefallen?“ „Eben. Ich nahm einfach an, der Alte wolle schnell nach Hause, weil’s schon ein bißchen spät war und er, wie er mir erzählt hatte, am anderen Ende der Stadt wohnte.“ „Hat Medarow nicht davon gesprochen, Tanew könnte eventuell bei Ihnen aufkreuzen?“ Andreew sieht mich verdutzt an. „Woher hätte denn Tanew von meiner Existenz wissen sollen?“ „Lassen Sie diese Versionen“, unterbreche ich ihn. „Das ist meine Sache. Beantworten Sie meine Frage. Überlegen Sie gut.“ „Was gibt’s da zu überlegen. Davon war gar nicht die Rede.“ „Was für Beweise hatte Medarow gegen Tanew?“ Andreew schaut mich wieder erschrocken an. „Keine Ahnung.“ „Haben Sie sich nicht dafür interessiert?“ „Natürlich, aber Medarow wünschte nicht darüber zu sprechen. Er hat mich regelrecht gewarnt: Wenn ich nicht alles verderben wolle, müßte ich den Mund halten.“ „Und deswegen sind Sie nicht zur Miliz gegangen.“ Andreew nickt bestätigend und senkt wieder den Kopf. „Gnade uns Gott vor solchen Leuten, die alles selbst machen wollen“, murmele ich mit einem Seufzer. „Zu diesen Leuten gehöre ich nicht“, bemerkt Andreew verdrießlich. „Ich weiß sehr gut, die Miliz hat ihre Aufgaben, ich die meinen. Und ich bin weit davon ent-
fernt, immer mißtrauisch zu sein. Alles, was ich heute bin, verdanke ich unserem Staat. Er gab mir Brot, Ausbildung und Erziehung. Allerdings weiß ich auch was anderes: Es genügt nicht, davon überzeugt zu sein, daß jemand ein Mörder ist, damit er seine verdiente Strafe bekommt. Man muß es auch beweisen können. Die Tatsache, daß beispielsweise Tanew bis zum heutigen Tag auf freiem Fuße ist…“ „Andreew“, sage ich in dienstlichem Ton, den ich speziell für solche Fälle parat habe, „behalten Sie diese Überlegungen für sich. Nicht von ungefähr habe ich ein paarmal versucht, Ihnen beizubringen, daß Sie sich wie ein Dilettant benommen haben. Sogar auf die Gefahr hin, Sie könnten es als Verletzung Ihres Ehrgefühls betrachten. Unseriöses Vorgehen in so ernsten Fällen ist gefährlich. Sie haben sich von einem Verbrecher ausnutzen lassen. Anstatt Ihre Schuld einzusehen, suchen Sie Motive für eine Rechtfertigung…“ „Ich rechtfertige mich nicht“, unterbricht mich Andreew. „Um so schlimmer, also sind Sie noch immer von der unerschütterlichen Richtigkeit Ihres Tuns überzeugt. Ist es Ihnen gar nicht in den Sinn gekommen, sich zu fragen, ob vielleicht nicht Tanew, sondern vielmehr Medarow selbst der Mörder Ihres Vaters ist?“ Andreew schaut mich ungläubig an. „Dadurch hätte der Mörder Ihres Vaters auch Ihr Mörder werden können, sei es indirekt… Oder: Womöglich hat Kostow Ihren Vater ermordet, und Medarow benutzte Sie nur als Gehilfen?“
„Ich habe das Gefühl, Tanew ist der Mörder meines Vaters.“ „Kann durchaus sein. Nur, daß man solche Dinge nicht mit ,Gefühl’ errät. Außerdem verfügen Sie über keinerlei Beweise, die diese Vermutungen bestätigen. Und das Schlimmste an der Sache: Der Miliz vertrauen Sie nicht, aber einem Verbrecher.“ Andreew schickt sich an, etwas zu entgegnen. Ich winke ab. „Lassen Sie das, Andreew. Ich weiß, was Sie sagen wollen. Ich kann Ihnen lediglich den Rat geben: Belasten Sie sich nicht mit Aufgaben, die Ihnen niemand aufgebürdet hat und auch niemand aufbürden will.“ „Herr Inspektor“, sagt Andreew leise. „Diese Aufgabe hat mir meine verstorbene Mutter übertragen. Was würden Sie tun, hätte man Ihren Vater umgebracht?“ „Das gleiche wie jetzt. Am besten rächen wir die Ermordeten, indem wir unserer Arbeit nachgehen, jeder an seinem Platz. Sie an Ihrem, ich an meinem und so weiter.“ Andreew schaut mich an, als wolle er was sagen. „Vergessen Sie nicht“, füge ich hinzu, „daß jeder Mörder meistens irgendeines Menschen Vater umbringt! Und wenn Morde bei uns seit langem eine Seltenheit sind, so nicht durch die Rache der Waisen. Sonst würden sich die Verbrechen ja verdoppeln anstatt abnehmen. Sicherlich haben Sie mal was von Blutrache gehört…“ „Zu Ihrer Information, ich habe nicht die Absicht, jemanden umzubringen…“ „Das bezweifle ich nicht. Aber sind Sie sich sicher,
daß es nicht vielleicht jemand darauf anlegt, Sie umzubringen?“ In diesem Augenblick ist, wie zur Bestätigung meiner Worte, das ganze Zimmer vom Geräusch klirrenden Glases erfüllt. Jemand muß durch das breite moderne Fenster irgendeinen Gegenstand geworfen haben. Fast gleichzeitig springen Andreew und ich hoch. Ich gebe Andreew ein Zeichen, an seinem Platz zu bleiben, und eile zum Fenster. Ein paar Jungs nehmen Reißaus in Richtung Park. „Ihr Rüpel!“ rufe ich ihnen nach. „Werd’s euch schon zeigen…“ Ermittlung wegen zerschlagener Fensterscheiben, das hat mir gerade noch gefehlt. Der gefährliche Gegenstand rollt in eine Ecke des Zimmers: ein Tennisball. Das Attentat ist vorbei. Auch mein Besuch bei Andreew nähert sich dem Ende. „Wissen Sie was“, sage ich beim Abschied, „hier ist meine Telefonnummer. Sollte Ihnen noch was einfallen oder etwas passieren, rufen Sie mich an. Ich habe das Gefühl, wie Sie sich auszudrücken pflegen, es war nicht unsere letzte Begegnung.“ Andreew schmunzelt. Er schreibt sich meine Telefonnummer auf. Ein Besuch ohne besonderes Resultat, denke ich bei mir und gehe durch den Park, diesmal in entgegengesetzter Richtung. Aber in unserem Beruf liegen die Ergebnisse nicht immer auf der Hand. Hin und wieder bringt ein Gespräch, das manch einer für leeres Gerede halten könnte, eine Menge interessanter Dinge mit
sich: seien es nur neue Fragen, die sich einem plötzlich stellen. Von den vielen Dingen, die ich im Kopf habe, ist jetzt eins am dringlichsten: Wo werde ich zu Mittag essen? Dieses schwierige Problem wird plötzlich von der Route des Transportmittels entschieden. Die Straßenbahn bringt mich direkt zum Leninplatz. Ich steige in die Bierhalle hinunter. Finde einen freien Platz, aber keinen freien Kellner. Ein Glück, daß ich viel zu überlegen habe, so kann ich die Zeit nutzen. Endlich erscheint der Ober, um mir fast freudig mitzuteilen: außer Würstchen vom Grill nichts weiter da. „Wollte ich auch bestellen…“ Der Mann verschwindet schnell. „Und einen Salat“, rufe ich ihm nach. Er dreht sich nicht mal um. „Und eine Karaffe Wein…“ Der Kellner ist bereits im Begriff, den Raum zu verlassen. Stellen Sie sich meine Überraschung vor, als nach fünfzehn Minuten alles serviert wird. Meisterleistung. Wie im Fluge nimmt er die kompliziertesten Bestellungen auf und vergißt nichts. Das Essen ist fast kalt, allerdings für einen wie mich, der nur an talgige Gerichte gewöhnt ist, beinahe heiß. Ich kaue mit Appetit und mache meine Kombinationen. Was mich am meisten beschäftigt, ist die Sache mit den Beweisen. Es ist fast sicher, daß Medarow wirklich welche gegen Tanew besaß. Beinahe ebenso sicher: Es handelte sich dabei um Papiere, die wahrscheinlich während Medarows jahrelanger Abwesenheit vom bürgerlichen Schauplatz in der kleinen Kassette aufbewahrt waren. Leider sind sowohl Stahlkäst-
chen als auch Korpus delikti im Moment außerhalb unserer Reichweite. Vielleicht für immer. Sind die Beweise demjenigen in die Hände gefallen, der am lebhaftesten daran interessiert ist, dann ist jegliche Suche vergeblich. Es gibt aber eine zweite Möglichkeit: Medarow kann sie einem seiner Bekannten zeitweise zur Aufbewahrung gegeben haben. Eigentlich sehr wahrscheinlich. Vor allem, wenn man bedenkt: Tanew war für Medarow „gefährlich“. Beim Liquidieren der Beweisstücke kann dieser Kerl auch den beseitigen, der sie bei sich trägt, aus Versehen. Umgekehrt: Der Besitzer des geheimnisvollen Papiers befindet sich in relativer Sicherheit, wenn der „Gefährliche“ weiß, das Dokument wurde einer ihm unbekannten dritten Person anvertraut. Alles in allem eine gut organisierte Erpressungsmaschinerie. Ich zahle meine bescheidene Zeche und erhebe mich, mit dem dunklen Vorgefühl, wohl nicht ins Kino gehen zu können. Gott sei Dank, daß Medarow nur einen kleinen Bekanntenkreis hatte. Und so hoffe ich, sie an einem Nachmittag alle aufzusuchen. Da Andreew bereits von der Liste gestrichen ist, begebe ich mich zu den Sirakows. Apropos Andreew. Gestrichen oder nicht, werden wir gleich sehen. Auch wenn Ihr Gesprächspartner unschuldige blaue Augen hat, müssen Sie nicht jedes seiner Worte für bare Münze nehmen. Die Sonne hat’s noch immer nicht eilig mit dem Untergehen. Wahrscheinlich wegen des Fußballspiels zwischen „Slawija“ und „Lewski“. Nach der Menschenmenge zu urteilen, die sich zum Stadion wälzt,
wird das Match gut besucht sein. Ich hingegen muß mir mein eigenes Spiel ansehen, leider. Ohne Publikum, ohne Ovationen. Was aber nicht heißt, daß es im Falle einer Niederlage etwa keine Pfiffe gibt. Zwar stumm vielleicht, dafür um so schmerzlicher. Da ist auch schon Sirakows Haus. Zur Abwechslung beginnen wir unseren Besuch im Dachgeschoß. „Ach, Sie sind’s?“ Lida lächelt, als sie mir öffnet. „So ein Zufall… Gerade hab ich an Sie gedacht.“ „Sehr lieb, hoffentlich nichts Schlechtes.“ „Im Gegenteil, Sie sollen mir als positiver Held dienen.“ „Hm…“ Mit meinem Lieblingseinwurf auf den Lippen betrete ich das Atelier. „Ganz ausgefallenes Angebot.“ „Im Zusammenhang mit Medarow kam mir die Idee.“ „So ein Zufall. Ich habe auch an Sie gedacht, auch in Verbindung mit Medarow…“ „Sie erinnern sich doch“, fährt Lida fort, ohne mir zuzuhören, „ich wollte Medarow porträtieren. Dann erzählten Sie mir von seinem Tod. Aber der Gedanke an dieses Raubvogelgesicht läßt mich nicht los. Ihrer Meinung nach haben solche Typen keinen besonderen Nutzen. Da ist was Wahres dran. Die Gestalt allein kann nicht Gegenstand eines Kunstwerks sein. Da kam mir die Idee, sie lediglich als Gegenspieler zu verwenden…“ „Interessant“, murmele ich und schaue auf die Uhr. „Ich habe mich für eine konfliktreiche Komposition
entschieden, die auf zwei Figuren basiert – dem Neuen und dem Alten, Sie und Medarow…“ „Hm… und an welche Situation dachten Sie? Er und ich sollen uns wohl unterhalten? Oder?“ „Da liegt eben die Schwierigkeit. Sie könnten mir vielleicht einen Tip geben.“ „Kaum. In unserer Dienststelle existiert zwar ein Malzirkel, aber, ehrlich gesagt, ich hab mich noch nicht angemeldet.“ „Ich dachte an Ihren Rat als Praktiker…“ „Gut.“ Ich nicke. „Ich werd mir’s überlegen. Doch jetzt würde ich gern Ihre Hilfe in Anspruch nehmen.“ Lida starrt mich fragend an. „Medarow“, fahre ich fort, „ist oft zu Ihnen gekommen. Sie haben sich mit dem Raubvogel gut gestanden, es ist also anzunehmen, er hatte ebenfalls ein gutes Verhältnis zu Ihnen. Wahrscheinlich eine gewisse Dosis Vertrauen…“ Schweigend mustere ich meine Gesprächspartnerin. „Kann sein“, sagt Lida. „Aber was soll das?“ „Ich könnte mir vorstellen, Medarow hätte diesem Vertrauen Ausdruck verliehen… Ihnen, sagen wir, einen Gegenstand zum Aufbewahren gegeben, irgendein Dokument oder was andres dieser Art?“ „Nein“, entgegnet Lida ohne Zögern. „Er hat mir nichts dagelassen.“ „Das wollte ich nur wissen. Wie war übrigens Medarows Verhältnis zu Ihrer Mutter? War es getrübt durch den Haß Ihres Vaters?“ „Nein. Meine Mutter empfand so was wie ein
Schuldgefühl wegen der Grobheit meines Vaters, und deshalb war sie immer freundlich zu Medarow. Sie ging zu ihm hinauf, brachte ihm Essen…“ „Wunderbar. Ich will Sie nicht weiter stören. Wie ich sehe, arbeiten Sie…“ Ich zeige auf die Staffelei. Nebenbei, die Landschaft befindet sich in dem gleichen Zustand wie bei meinem letzten Besuch, soweit ich das beurteilen kann. „Eben nicht, das ist ja das Schlimme“, entgegnet Lida. „Ununterbrochen denke ich an die Komposition und komme nicht zum Arbeiten. Ich hatte gehofft, zumindest Sie -würden mir helfen…“ Und ich hatte die leise Hoffnung, du würdest mir helfen, aber Pustekuchen, denke ich bei mir. Laut sage ich: „Jaja, unsere Tätigkeit ist arm an malerischen Situationen. Pistolen sind, wie sie wissen, längst nicht mehr Mode. Übrigens, wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Wechseln wir das Thema…“ „Ach“, seufzt Lida und begleitet mich zur Treppe, „so ist das immer. Kaum hat man ein schönes Sujet gefunden, springt ein Detail heraus, und alles ist hin.“ „Nicht nur bei Ihnen ist das so“, besänftige ich sie. „Bei mir ebenfalls.“ Wonach ich erleichtert drei Etagen hinunterhopse und bei Sirakows klingele. Wir schlängeln uns durch dunkle, mit Möbeln vollgepfropfte Räume und gelangen schließlich ins Wohnzimmer. Trotz der Aufforderung, Platz zu nehmen, bleibe ich stehen. Um dem ernsten Blick zu entrinnen, den mir der verhinderte Philosoph von der Fotografie
zuwirft, kehre ich der Reliquie den Rücken und frage die Frau des Hauses: „Hat Ihnen Ihr Bruder etwas zum Aufbewahren gegeben, vielleicht aus seiner Kassette? Wohlgemerkt, Geld und Wertsachen interessieren mich in diesem Fall nicht.“ „Nein“, antwortet die Sirakowa mit lauter Stimme, deren trauriger Klang sich von meiner Einstellung zu Geld und Wertsachen unterscheidet. „Als mir mein Bruder das Kästchen damals anvertraut hatte, versprach er mir eine Kleinigkeit. Hab allerdings nichts bekommen. So war er: nur im Versprechen großzügig…“ „Es handelt sich nicht um Geld“, erinnere ich sie, „vielmehr um irgendeinen Gegenstand, ein Dokument, ein kleines Päckchen oder was Ähnliches.“ „Er hat mir nichts dagelassen“, entgegnet die Hausherrin ebenso traurig, weil sie vermutlich daran denkt, was sie nicht bekommen hat. „Er hatte mir reichen Lohn versprochen. Und ich habe ihm geglaubt. Aber er war nur in Worten nobel.“ Ich bemühe mich hinaus, so schnell ich kann, bevor der Descartesschüler aufwacht. Bis hierher also nichts außer der Tatsache: Die Zahl der Besuche hat sich verringert. Nächste Etappe: Tanews Wohnung. Ich läute, der Reihe nach. Einmal. Keine Antwort. Zweimal. Das gleiche Ergebnis. Dreimal kurz hintereinander. Im Türrahmen erscheint Mimi. „Ach, so ein Glück. Sie habe ich gesucht.“ „Machen Sie das jemand anders weis“, entgegnet Mimi und läßt mich ein. „Zuerst haben Sie bei Tanew
geklingelt, dann bei Wera, und da niemand aufmachte, haben Sie sich an mich erinnert.“ Diese Frauen. Nichts entgeht ihnen. „Ich wollte nur die Lage sondieren, mit Ihnen möchte ich sprechen.“ „Sie sind doch nicht etwa verliebt“, fragt Mimi und führt mich durch die düstere Diele. „Fast erraten. Ich bin’s. Bloß nicht in Sie. Wofür Sie natürlich nichts können. Das ist eben eine Frage der Chronologie.“ „Sie brauchen sich nicht zu rechtfertigen“, unterbricht mich die Gastgeberin. „Wie ich Ihnen bereits sagte, hängen mir die Männer zum Hals raus. Ich hab eine andere Seite aufgeschlagen.“ Die Atmosphäre hinter dem olivfarbenen Vorhang bestätigt Mimis letzten Satz. Das Zimmer ist bedeutend freundlicher, sogar geräumiger geworden, da jetzt jeder Gegenstand an seinem Platz liegt. Vom Plattenspieler klingt, soweit ich das zu beurteilen vermag, eine brasilianische Samba herüber. „Womit kann ich Ihnen dienen?“ fragt Mimi. „Mit einer kleinen Auskunft. Hat Ihnen Medarow was zum Aufbewahren gegeben?“ „Nichts, außer einer Flasche Mastika und einer Flasche Kognak. Letzterer ist bereits alle.“ „Warum nicht umgekehrt? Schade. Ich mag auch keinen Mastika, obwohl ich vor kurzem damit beginnen wollte. Im Moment interessieren mich allerdings keine Getränke. Hat der Alte nicht ein Päckchen, ein Dokument, ein Notizheft, einen Brief oder irgend so
was bei Ihnen gelassen?“ „Och, was seid Ihr nur für welche“, seufzt Mimi. „Dann hätte ich’s Ihnen schon vergangenes Mal gesagt. So einfältig bin ich nun nicht.“ „Bezweifle ich nicht, nur manchmal vergißt man in der Eile… Hm… Wie ich sehe, haben Sie aufgeräumt…“ „Ich befolge Ihre Ratschläge“, entgegnet Mimi trocken. „Schließlich muß man ,gut’ und nicht ,irgendwie’ leben…“ „Eben. Aber der Rat kommt diesmal nicht von mir, sondern von Ihnen. Sie scheinen’s satt zu haben, ,irgendwie’ zu leben.“ „Ja“, pflichtet Mimi teilnahmslos bei. „Wenn ich nicht vor Langeweile umkomme…“ Ich wollte aufbrechen, aber die letzte Bemerkung veranlaßt mich, noch eine Zigarette zu rauchen. Ich hole die Schachtel hervor und halte sie Mimi hin. Wir zünden an. „Die erste Bedingung, um nicht vor Langeweile zu sterben, ist, ihr zu entrinnen. Ich kenne das aus Erfahrung.“ „Das weiß man auch ohne Erfahrung.“ „Stimmt. Verzichtet man auf gewisse Dinge, muß man sie durch andere ersetzen. Andernfalls räumt man das Zimmer auf, mit der Absicht, ein neues Leben zu beginnen, und weil man nichts mehr zum Aufräumen hat, legt man sich dann nieder und geht aus Langeweile zugrunde. Oder man kehrt zum alten Leben zurück, was wahrscheinlicher ist.“ „Sie sollten nicht bei der Miliz arbeiten, sondern in
einem Kindergarten. Sie erklären alles so simpel… Mit Worten ist wirklich alles unkompliziert…“ „Auch sonst ist’s nicht wunder wie schwierig. Die eine Art von Vergnügungen ersetzt man durch andere. Von dem einen Bekannten trennt man sich und findet andere – dies ist das ganze Geheimnis. Und das Wichtigste: vom Leben keinen endlosen Feiertag erwarten. Selbst im Kalender sind sie wöchentlich nur einmal verzeichnet…“ „Also gut“, sagt Mimi, „ich werde Sie als Konsultanten vormerken.“ „Ganz in der Nähe haben Sie einen: ihre Freundin Wera. Sollten Sie noch nicht miteinander befreundet sein, so kann es werden. Wenn sie Sie auch ,Susanne’ nennt… Das ist schließlich Ihre Sache.“ Ich drücke die Zigarette im Ascher aus und setze meinen Hut auf, vielleicht ein bißchen tief in die Stirn. „Ach, fast hätte ich’s vergessen. Wegen der anderen Angelegenheit habe ich einen Kollegen angerufen. Wie sich herausstellte, hat Ihr Juwel Shoro den ersten Schlag ausgeteilt. Um ihm zu helfen, haben Sie gelogen, zu seinen Gunsten. Man wird Sie nicht weiter behelligen, weil es das erste Mal war. Auf Wiedersehen, bei besserer Laune.“ „Auf Wiedersehen, Inspektor.“ Erneut bin ich auf der Straße. Der Trubel auf dem Bürgersteig und die Richtung, welche die meisten Leute einschlagen, zeigen an: Das Match ist zu Ende. Das Resultat kenne ich nicht. Ich weiß nur eins: bisher gleich Null. Außer ein paar Veränderungen in der Le-
bensweise eines Menschen. Langsam und schwierig. Was meine Mission betrifft, so besteht die Veränderung darin: Von vier Objekten ist nur eins übriggeblieben, dafür allerdings ziemlich weit entfernt. Dorthin haben wir einst mit der Lehrerin einen Ausflug gemacht. Egal, wir fahren mit dem Trolleybus. Iliews Heim. An der Wand das Bild mit dem Flieder. Sehr realistisch. Nicht nur dem Aussehen, auch dem Aroma nach. Das ganze Zimmer ist von Fliederduft geschwängert. Ein prüfender Blick auf den Hausherrn: Sein unrasiertes Gesicht, nach sonntäglichem Brauch, läßt allerdings erkennen, er hat sich nicht mit Eau de Cologne eingerieben. „Wie denn? Haben Sie sich parfümiert?“ „I bewahre!“ Iliew lächelt verlegen. „Meine Frau ist ausgegangen, sicherlich hat sie Kölnischwasser benutzt.“ „Tanew war wohl nicht hier?“ „Nein, hab ihn nicht gesehen… Nehmen Sie Platz.“ Geigenklänge. Allem Anschein nach schwierige Übungsstücke. Ein Glück, daß ich als Kind nicht in diese Hölle geraten bin. „Keine Zeit zum Setzen. Ich gehe ins Theater: ,Schuld und Sühne’, womöglich haben Sie’s gesehen. Wenn nicht, der Inhalt ist ja bekannt: falsche Aussagen, Mord und so weiter. Ich bin lediglich vorbeigekommen, Sie zu fragen, ob Medarow Ihnen vielleicht was zum Aufbewahren gegeben hat – eine Kassette, ein Dokument oder irgendwas anderes.“ „Nein.“
Iliews Stimme klingt aufrichtig. Viele Lügen klingen so. Allerdings mag ich keine voreiligen Anschuldigungen. Der Gebrauch von Parfüm ist nicht verboten, nach dem Gesetz. Auch dann nicht, wenn es einen widerlichen Duft hat: Mixtur zwischen Flieder und Jodtinktur. Draußen dunkelt es bereits. Schluß mit Fußballspielen und Spaziergängen, Ende des Sonntags, des „verlorenen Wochenendes“, wie ein alter Film hieß. Bleibt das Theater, könnte jemand sagen. Leider auch das nicht. Denn diese Geschichte hatte ich mir ausgedacht, um die Zeit totzuschlagen. Ich gehe die Straße entlang, unter weißem Neonlicht. Instinktiv richten sich meine Schritte auf jenes Gebäude hier in der Nachbarschaft, wo ich unlängst Näheres über Freud erfahren habe. Das Etablissement ist überfüllt. Etliche stehen sogar. Nichts für mich, nachdem ich den ganzen Tag auf den Beinen war. Ich ziehe die Horizontale vor, in Gesellschaft meines alten Gesprächspartners, der Uhr. Bißchen langweilig, das stimmt. Aber man braucht wenigstens nicht zuzuhören. Da bin ich also in meiner häuslichen Gemütlichkeit. Nicht sonderlich behaglich, aber ein Bett ist vorhanden. Ich schalte die Heizsonne ein. Damit es schneller geht, ziehe ich nur die Pyjamajacke an, streife die Schuhe ab und strecke mich aus. Einen Augenblick lang schwanke ich, ob ich mir was zum Lesen nehme. Dann beschließe ich, mit leeren Händen einzuschlafen. Ich werde Ihnen nicht erzählen, was ich geträumt habe. Ein so fanatischer Anhänger von Freuds Lehre bin ich auch wieder nicht geworden. Ich wache auf mit
dem dumpfen Gefühl, mich zur Arbeit verspätet zu haben. Im Zimmer schrillt es durchdringend: nicht der Wecker, sondern das Telefon. Ich strecke die Hand aus, zum Nachttisch, nehme den Hörer ab. „Ja, ich… Ach, der Diensthabende… Wie bitte? – Wer, Andreew? Im Dienst? – Er soll warten, komme sofort.“ Theater wird uns nicht erspart bleiben. Wenn auch speziellerer Natur. Ich ziehe mich rasch an, stülpe den Hut auf – der Situation gemäß – und spurte hinaus. Andreew, der mich im Korridor der Dienststelle erwartet, sieht recht entmutigt aus. „He, was gibt’s Neues?“ frage ich, so munter ich kann. „Es passieren seltsame Dinge.“ „Zum Beispiel?“ „Gegen Abend hab ich die Wohnung verlassen, kehre vor einer Weile zurück und sehe von der Straße Licht im Zimmer…“ „Na und?“ „Ich wagte nicht raufzugehen und bin hierhergekommen.“ „Wer hat noch einen Schlüssel zur Wohnung – außer Ihnen?“ „Niemand.“ „Haben Sie beim Weggehen vielleicht vergessen, das Licht auszuschalten?“ „Ausgeschlossen. Es war auch keine Stromsperre, daß ich aus Versehen auf den Schalterknopf gedrückt hätte…“ „Schon gut“, unterbreche ich ihn. „Unterwegs mehr darüber.“
Wir besteigen einen Dienstwagen, nach fünf Minuten sind wir in der Straße am Park. Das linke Fenster in der ersten Etage ist wirklich erleuchtet. „Mysteriös…“, murmelt Andreew, während wir gemeinsam mit einem Milizionär die Treppe hinaufsteigen. Mysteriös, aber durchsichtig, antworte ich im Geist. Den ganzen Tag lauf ich mir die Hacken ab, um schließlich zum Ausgangspunkt zurückzukehren. Ich lasse mir von Andreew den Schlüssel geben, schließe geräuschlos auf und öffne die Tür mit einem Ruck. Stille. In der Wohnung scheint niemand zu sein. In der Stille sprechen andere Dinge: die toten Gegenstände. Ebenso wie in den Fabeln moderner Autoren, bei denen sich Schirm und Galoschen über ihr schweres Los beklagen. Die Wohnstube sieht noch einigermaßen aus. Der Schlafraum dagegen ist völlig durchwühlt – von den Matratzen bis zum Kleiderschrank, dessen Inhalt auf dem Fußboden verstreut liegt. Weder das Nachtschränkchen, der Teppich, das gerahmte Bild an der Wand noch die Gardinen wurden bei der gründlichen, aber fieberhaften Durchsuchung verschont. „Sehen Sie irgendwelche Anzeichen, ob jemand hiergewesen ist?“ frage ich den hinter mir stehenden Andreew. „Sie als Spezialist können das besser einschätzen“, antwortet er trocken. „Woher soll ich das wissen. Wenn ich mein Zimmer verlasse, liegt immer alles bunt durcheinander, wie nach einer Razzia.“ „Bei mir ist immer aufgeräumt, wie Sie’s gesehen
haben, als Sie das erste Mal hier waren.“ „Bemerken Sie nicht irgendeinen Geruch?“ frage ich. „Vom Bohnerwachs.“ Im Zimmer stinkt es wirklich nach Parkettpflegemittel. „Heute morgen hat’s nicht gerochen“, bemerke ich. „Meine Reinemachefrau kam nach Ihnen und hat gebohnert“, erklärt Andreew verwundert, weil ich dem Bohnerwachs soviel Aufmerksamkeit schenke. Im Türrahmen steht der Milizionär. „Sie dürfen gehen“, sage ich. „Den Wagen brauche ich auch nicht mehr.“ Grüßend verläßt er die Wohnung. „Es ist doch nicht etwa Ihre Freundin Wera gewesen?“ „Weshalb denn?“ „Mit einem Dietrich hat sie aufgeschlossen und absichtlich alles durcheinandergeworfen, damit Sie begreifen, wie schwer es für einen Junggesellen ist, die Wohnung in Ordnung zu halten.“ „Weshalb treiben Sie Ihren Scherz mit ernsten Dingen?“ Andreews Ton ist ruhig, doch kennen wir die Ruhe einer aufsteigenden Erregung. „Ihre Frage ist berechtigt. Bloß müssen Sie sie sich selbst stellen.“ „Wieso?“ „Hören Sie, Andreew!“ Meine Stimme hat alles Scherzhafte verloren. „Greifen Sie in Ihre Jackettasche und geben Sie das, was Sie versteckt halten, her!“ Bei diesen Worten strecke ich meine Hand aus. Andreew starrt mich erschrocken an. Die Erregung ist offenbar einer Verwirrung gewichen.
„Haben Sie gehört? Heraus damit!“ Ich bewege die Finger hin und her. „Bißchen dalli. Mir tut schon die Hand weh!“ Andreew entschließt sich endlich. Er knöpft sein Sakko auf, öffnet die Sicherheitsnadel, mit der er die Innentasche zugesteckt hat, und zieht ein kleines quadratisches Päckchen heraus, so groß wie eine Zigarettenschachtel. Ich stecke das Päckchen ein. „Wirklich eine glänzende Idee! Samt Sicherheitsnadel und Jackett, ja samt Ihrem ganzen Hab und Gut könnten Sie jetzt irgendwo liegen, den Blick gebannt, aber leblos auf die Geheimnisse des Kosmos gerichtet. Wie Sie sehen“, ich zeige auf das Tohuwabohu ringsum, „hätte sich der Betreffende einen Dreck draus gemacht. Er hatte vermutet, Sie haben das Gesuchte in Ihrer Wohnung versteckt und nicht bei sich. Das war Ihr Glück. Er hatte Ihren Leichtsinn glatt unterschätzt…“ „Sie behandeln mich wie ein Kind“, meint Andreew beleidigt. „Dafür können Sie mir dankbar sein. Denn anderenfalls müßte ich Sie zur Verantwortung ziehen, wegen falscher Aussage. Und nun erzählen Sie mal, was sich heute nachmittag zugetragen hat.“ Ich setze mich auf einen dieser unseligen Hocker neben dem Bett und zünde mir eine Zigarette an. Andreew legt sich eine herausgenommene Matratze zurecht und läßt sich ebenfalls nieder. „Um vierzehn Uhr war ich mit Wera verabredet. Ich hatte Kinokarten. Danach, gegen sechzehn Uhr, machten wir einen Spaziergang, bis zum Park. Dann kehrten
wir im Restaurant ,Berlin’ ein. Anschließend brachte ich Wera nach Hause und ging wieder zurück.“ „Wann war das?“ „Gegen neunzehn Uhr dreißig…“ „Und weiter.“ „Als ich die Tür aufschloß, klingelte das Telefon. Bis ich in der Wohnung war, hatte es aufgehört. Ich ging in die Küche, um Teewasser aufzusetzen, und da läutete es wieder. Ich lief in die Wohnstube, verwundert, denn ich bekomme wenig Anrufe, vor allem sonntags. Es meldete sich eine unbekannte Stimme. Ein Mann wollte in einer dringenden Angelegenheit mit mir sprechen, aber nicht am Telefon. Auf die Frage, um was es sich handele und wer er eigentlich sei, sagte er, ich würde ihn nicht kennen und über die betreffende Angelegenheit könnte man am Telefon nicht sprechen. Es handele sich um was Persönliches. Ich sollte um zwanzig Uhr dreißig an der Bushaltestelle in Knjashewo sein. Dort würde er mir alles erklären. Als ich fragen wollte, weshalb er nicht zu mir nach Hause komme, hatte der Unbekannte bereits aufgehängt. Das ist alles.“ „Um welche Uhrzeit kam der Anruf?“ „Etwa viertel vor acht.“ „Und der Treff war für halb neun vereinbart… Exakte Zeitkalkulation. Sie hätten keine Möglichkeit gehabt, irgendwelche Vorkehrungen zu treffen. Und dann haben Sie sich auf den Weg nach Knjashewo gemacht?“ „Klar. Schließlich wollte ich wissen, worum es ging…“
„Weshalb nicht… Wissen Sie auch, was das Päckchen enthält, das Sie mir gegeben haben?“ „Das ist es ja gerade. Ein in Leder gebundenes Notizheft mit etwa zwanzig Namen und verschiedenen Ziffern dahinter. Keine Anzeichen von Beweisen.“ „Lassen Sie den Kopf nicht hängen. Indizien sind manchmal zunächst ziemlich undurchsichtig. Ein Messer beispielsweise kann für Leute wie Sie ein Gerät zum Brotschneiden sein. Liegt allerdings der gleiche Gegenstand auf dem Tisch des Untersuchungsrichters, bringt er irgend so ein Individuum zum Zittern… Besinnen Sie sich lieber, was Sie bei unserem morgendlichen Gespräch noch verheimlicht haben.“ „Nichts weiter“, antwortet Andreew. „So hatte ich’s auch beschlossen: alles zu erzählen, außer der Sache mit dem Notizheft.“ „Und weshalb?“ „Weil Wera und ich Tanew damit ein Geständnis entlocken wollten. Mir persönlich ist nicht klar, was für Indizien das Heftchen enthalten könnte. Doch wenn Medarow es wie seinen Augapfel gehütet hat, sollte man es annehmen: vielleicht mit Geheimtinte geschrieben oder im Einband verborgen, weiß der Teufel… Wera und ich hatten beschlossen, Tanew einen Tausch anzubieten und in ihrem Zimmer vorher unsichtbar ein Magnetophon zu installieren. Auf dem Gebiet bin ich versiert…“ „Ein Aschenbecher würde uns jetzt größere Dienste leisten“, bemerke ich und zünde mir eine neue Zigarette an.
Andreew schaut sich um. Das einzige, was mir der Hausherr in dem Durcheinander anbieten kann, ist eine leere Tasse. „Also ein Tonbandgerät?“ rufe ich ihm ins Gedächtnis. „Raffiniert…“ „Na ja. Was immer Tanew „erzählt hätte, um uns das Beweisstück abzuluchsen, es wäre wertvolles Material für eine Ermittlung gegen ihn gewesen. Die Aufzeichnungen, die wir machen wollten, waren eigentlich für Sie bestimmt…“ „Sehr liebenswürdig.“ Ich nicke und blase Zigarettenrauch in den Raum. „Denn aus so einem wie Tanew bekommen Sie nichts heraus. Von Ihnen hätte er für seine ‚Offenheit’ nur das Todesurteil zu erwarten. Wir dagegen könnten ihm was anbieten, worauf er scharf ist: das Notizbuch, wenn er auspackt, wer meinen Vater ermordet hat.“ „Ja, er wird sich mit beiden Händen die Haare raufen und schluchzend gestehen, ihn umgebracht zu haben. Schlau ausgedacht.“ Andreew, bemüht, meinen Hohn zu überhören, zweifelt offenbar selbst bis zu einem gewissen Grade an der Klugheit seines Plans. Und wie zur eigenen Rechtfertigung: „Damit für ihn etwas herausspringt, hätte er nur zuzugeben brauchen, daß er bei dem Mord dabei war. Um an das begehrte Stück heranzukommen, hätte er nicht was X-Beliebiges gestehen können mit der Absicht, später zu leugnen, was immer er gestanden.“ „Und während dieser Zeit hätte das versteckte Tonbandgerät seine schicksalhafte Aufzeichnung gemacht.
Gnade uns Gott vor Amateurkriminalisten! Ihre Geschäfte mit der Verbrecherwelt öden mich an. Was für eine Stimme hatte der Mann, der Sie heute abend anrief?“ „Bißchen tief, ziemlich undeutlich.“ „Sonnenklar. Er hatte ein Tuch über die Muschel gelegt. Würden Sie die Stimme wiedererkennen?“ „Kaum.“ Ich mustere Andreew nachdenklich. „Als reichte es nicht schon! Jetzt muß ich mich auch noch mit Ihrer Sicherheit befassen.“ „Denken Sie nicht…“ „Als würden Sie nicht denken! Da derjenige, der hier alles durchwühlte, nichts gefunden hat und offensichtlich ein abgefeimter Bursche ist, muß man logischerweise erwarten: Es wird weitergesucht. Spielen Sie Belote?“ „Nicht besonders“, murmelt Andreew und guckt ein bißchen dumm aus der Wäsche wegen der unerwarteten Frage. „Dann werden Sie verlieren. Aber besser beim Belote, als daß Ihnen was anderes zustößt. Für heute nacht schicke ich Ihnen einen Belotebruder. Morgen früh wird Sie ein anderer Genosse zur Arbeit begleiten. Kann ich mal bei Ihnen telefonieren?“ „Das Telefon ist im Wohnzimmer…“ „Ich weiß.“ Ich erhebe mich. „Eigentlich war das Ihr erster Fehler. Wenn Sie wieder mal erzählen, jemand vom anderen Ende der Stadt hätte Sie besucht, um Ihnen irgendwelche Bagatellen zu berichten, dann ver-
stecken Sie als erstes Ihren Apparat, weil man Ihnen sonst nicht glauben wird. Übrigens auch keine Lösung, Ihre Nummer steht im Telefonbuch…“ Nach dieser belehrenden Bemerkung begebe ich mich ins Wohnzimmer, und Andreew schickt sich an, Ordnung zu schaffen. „Man hat mich bestohlen!“ ruft er nach einer Weile. In seiner Stimme schwingt Erleichterung mit. „Mein neuer Anzug fehlt. Und das Geld…“ „Wieviel?“ „Kein Vermögen: fünfzig Lewa, aber immerhin. Schließlich läuft alles bloß auf einen ganz gewöhnlichen Diebstahl hinaus.“ „Das zu beurteilen, überlassen Sie getrost Leuten, die etwas davon verstehen“, bemerke ich und gehe zum Telefon. Ich nehme den Hörer ab. Kein Zeichen. Ich puste ein-, zweimal in die Muschel, lege den Hörer hin und ziehe an der Schnur. Ohne besondere Anstrengung habe ich sie in der Hand. „Man hat Ihren Anschluß unterbrochen, mein Lieber“, sage ich zu Andreew, der im Türrahmen des Schlafraumes steht. „Wie denn…“ Ich zeige ihm die herausgerissene Schnur. „Ziemlich solide Vorsichtsmaßnahmen, um fünfzig Lewa zu stehlen.“ Bei diesen Worten hebe ich die Hand zum Gruß, überlasse Andreew der Unordnung und seinem schlechten Gewissen. Von der nächsten Telefonzelle rufe ich in meiner Dienststelle an und erteile die notwendigen
Anweisungen, um dem Elektroingenieur einen fröhlichen Partner zu verschaffen. Damit sind meine dienstlichen Obliegenheiten beendet, für heute. Nicht zu früh, wenn man bedenkt, der Uhrzeiger geht auf dreiundzwanzig zu. Auf den Straßen fast keine Menschenseele. Die Restaurants sind geschlossen. Ein Glück, im Zentrum gibt’s Ausnahmen. Ich setze meinen Weg ins Stadtinnere fort, wobei ich kurz meine Version rekapituliere. Für eine dreitägige Ermittlung sind die Ergebnisse nicht entmutigend, reichen allerdings auch nicht aus, um die Untersuchung abzuschließen. Obwohl jemand sagen könnte: Weshalb wartet er denn noch und steckt den Tanew nicht einfach ins Kittchen. Schön ruhig bleiben, mein Lieber. Wir arbeiten nach Plan. Das Restaurant im Hotel „Rila“ ist noch geöffnet. Ich setze mich an einen Tisch ganz nahe beim Orchester. Nicht aus Liebe zur Musik, sondern weil in diesem Bereich ein Freund von mir bedient. Flink nimmt er die Bestellung entgegen und kommt ebenso rasch auf das heutige Fußballmatch zu sprechen. Ich unterbreche ihn genau in dem Augenblick, als er beschreibt, wie man „unseren Jungs“ das schicksalhafte Tor zwischen die Pfosten geknallt hat. „Schrecklich“, sage ich. „Was aber noch schlimmer ist, ich habe einen Mordshunger.“ „Ach, entschuldige“, besinnt sich mein Freund, läuft in die Küche und überläßt mich meinen Versionen. Übrigens nicht ganz, weil gerade in dieser Minute das Orchester neben mir donnernd einsetzt. Bin ohnehin
nicht für Csardas, zudem auf leeren Magen. In kluger Voraussicht habe ich Gebratenes bestellt, nichts vom Grill, so daß das Gedudel nicht gar zu lange meinen hungrigen Magen strapaziert. Ich verzehre das Mahl und bestelle als Nachtisch einen Kognak. „Wie wünschst du ihn, mit Kaffee?“ mutmaßt mein Freund. „Wenn’s sein muß.“ Kognak mit Kaffee – das bedeutet für mich, ihn mir zu höherem Preis einzuverleiben, ohne jede Qualitätsverbesserung. Mein Freund ist allerdings Kellner und versteht deshalb mehr von diesen Dingen. Übrigens war schon verschiedentlich von Fliederduft die Rede. Bei Iliew hat’s stark danach gerochen. In Andreews Wohnung habe ich nichts Derartiges bemerkt. Kein Wunder, bei dem widerlichen Bohnerwachsgeruch ist solch ein zarter Frühlingsduft schwer auszumachen. Ach, diese Ermittlung mit ihren Düften von Mastika, Flieder, Bohnerwachs – und jetzt noch Kognak – bringt mich noch zur Verzweiflung. Ich kippe die Quelle des letztgenannten Duftes hinter, höre versöhnt den Bericht über den Schluß des Fußballspiels und bitte um die Rechnung. „Wir haben also verloren“, sage ich teilnahmsvoll, obwohl ich selbst mit keiner von beiden Mannschaften irgendwie sympathisiere. Apropos Mannschaft… So was hätte ich gebraucht, als ich früher vergeblich versuchte, ein Weltklassetorwart zu werden. „Wir haben verloren“, brummt mein Freund, „wegen
eines einzigen Tors.“ „Mach die Rechnung, aber ohne Prozente für die Musik. Ich tanze nämlich nicht.“ Ich zahle, murmele Trostworte, daß wir es ihnen doppelt und dreifach heimzahlen würden, und verlasse das Lokal. Nacht. Sofioter Nacht, um genau zu sein. Die Neonlampen werfen ihr grelles Licht auf den Asphalt. Hell erleuchtete Schaufenster. Pelzmäntel. Damenwäsche. Porzellan und Souvenirs aus Kristall. Genau hier habe ich zu Beginn meiner Laufbahn einmal einen Motorradunfall gebaut. Die von den Bombenangriffen aufgerissenen Straßen waren kaum in Ordnung gebracht, die Läden erinnerten noch an schwarze, verlassene Löcher. Mancherorts hatten Privatbesitzer aus Brettern und Glas so was wie Schaufenster gezimmert und verkauften Igelitknöpfe, Gummiband. Die Luft war noch von Brandgeruch geschwängert. Heute dagegen gehe ich über Asphaltstraßen, unter Neonlicht und an hell erleuchteten Geschäften vorbei und denke an Vergangenheit und Gegenwart dieser Stadt. Meine Stadt, wie manche Dichter zu sagen belieben. Weshalb deine und zum Beispiel nicht meine? Weil du ihr lichtes Antlitz besingst? Aber ich gehöre auch zu denen, die auf ihre Sauberkeit achten. Wie gut, daß wir keine Ambitionen haben. Unser Beruf erfordert das. Wir suchen keine Anerkennung. Wir bewegen uns gewissermaßen im Dunkeln, sozusagen am Ende der Straße, in der Stille der Nacht.
FÜNFTES KAPITEL Da ward aus Abend und Morgen der vierte Tag. Diesen vierten Tag beginne ich in meinem Dienstzimmer, wie es sich auch für einen schönen Montagmorgen gehört. Schluß mit den vielen Besuchen. Ein bißchen schriftliche Arbeit. Sonst könnten mich die Kollegen auslachen. Kein Wunder, wenn sie mich Kassierer nennen und nicht Inspektor. Trotzdem habe ich nicht vor, meine Gewohnheiten zu ändern. Sprich mit den Leuten in der für sie vertrauten Umgebung – das ist meine Devise. Oder, wie die Journalisten sagen, meine persönliche Note. Die gewohnte Umgebung, das sind nicht nur die Möbel. Nein, es ist mehr. Alles zusammen wirkt sozusagen wie eine Kaderunterlage. Man muß nur zu lesen verstehen. Außerdem fand ich dort manchmal den Duft von Fliederparfüm. Im Moment wird meine Aufmerksamkeit aber, wie gesagt, von schriftlicher Arbeit in Anspruch genommen: Überprüfung von Talons und Dokumenten, Recherchen, Expertisen. Telefongespräche wegen einer Auskunft mit dieser und jener Dienststelle, überhaupt eine Menge Bürokram, bis alle Felder des „Kreuzworträtsels“ ausgefüllt sind. Ich weiß nicht, ob ich es schon sagte: Unsere Arbeit hat nichts von der beflügelnden
Romantik amerikanischer Kriminalisten. Dort arbeitet man mit Elan: Der Kommissar wirft sich in den Strudel der Unterwelt, schlägt Nasen und Kinnladen ein, wird selbst wie eine Quetschkartoffel zugerichtet, schießt mit Revolvern um sich. Er wird mehrmals tödlich verwundet. Das hindert ihn nicht, schließlich und endlich alle Mörder zu entlarven und sie, gleichsam wie am Schnürchen, seinem Chef zu präsentieren, der bereits mit einer Beförderung wartet. Bei uns wäre so was undenkbar. Statt Alleingang, Schießerei, Heldentum – Büroarbeit. Eigentlich kostet mich dieser schriftliche Kram nicht mehr als zwei Stunden. Kaum habe ich dies und das erledigt, da ruft mich der Leutnant zum Chef. Auch diesmal wird es keine Rosen geben, möglicherweise aber wenigstens eine Zigarette. Meine Hoffnung erweist sich als begründet. Der Chef bietet mir den Sessel neben dem Schreibtisch an. Nach kurzem Überlegen eine zweite Geste – zum Holzkästchen. Ich zünde an. „Was Neues?“ Das Neue weiß er gewöhnlich im voraus, allerdings nicht immer. Nach der Aufmerksamkeit zu urteilen, mit der er mir zuhört, handelt es sich hier offensichtlich um die zweite Variante. Ich mißbrauche natürlich nicht das hervorgerufene Interesse und versuche, mich so kurz wie möglich zu fassen. „So weit, so gut“, wie jener Mann sagte, der ohne Fallschirm vom Eiffelturm fiel, schließe ich bescheiden meine Ausführungen. Meinen außerdienstlichen Bemerkungen schenkt der
Chef kein Gehör, wie gewöhnlich. Er erhebt sich, macht einige Runden durchs Zimmer und scheint im Geiste mein bisheriges Vorgehen zu analysieren. „Dein Andreew verdient eine kleine Lektion“, bemerkt er schließlich und bleibt vor meinem Sessel stehen. „Vollkommen richtig. Allerdings hat der Mann in guter Absicht gehandelt…“ „Na schön, du willst ihn jetzt verteidigen.“ „Nicht im geringsten“, widerspreche ich vorsichtig und denke das Gegenteil. „Ganz objektiv ergibt sich folgendes: Im Grunde genommen hat er uns einen Dienst erwiesen, denn er hat die Rolle des Köders gespielt…“ „Hätte er sie allerdings bis zu Ende gespielt und wäre dabei zum Teufel gegangen, wäre die Schuld an uns hängengeblieben.“ Auf solch eine Feststellung gibt es nichts zu erwidern, deshalb konzentriere ich meine Aufmerksamkeit auf das brennende Ende meiner Zigarette. Der Chef schweigt ebenfalls. Kannst dich bedanken, Andreew. Es ist noch mal gut gegangen, alter Junge, sage ich mir, weil ich das Schweigen meines Chefs zu deuten weiß. „Na, und weiter?“ fragt er und nimmt wieder hinterm Schreibtisch Platz. Ich lege kurz meinen Plan dar. An einigen Stellen nickt er, an anderen macht er Bemerkungen. Dann steht er auf. Das ist auch für mich das Zeichen. „Melde dich morgen wieder“, sagt der Chef. „Anto-
now, du bist kein schlechter Mitarbeiter, hast aber manchmal eine unerklärliche Schwäche für eigene Methoden.“ Ich nicke zum Gruß und bemühe mich hinaus. Wenn Ihnen ein Chef wie meiner sagt, Sie seien kein schlechter Mitarbeiter, kommt das fast einer Ordensverleihung gleich. Nur gut, daß wir nicht zu den Ehrgeizigen gehören, wie ich bereits sagte. In meinem Zimmer klingelt anhaltend das Telefon. Ich mache drei große Sprünge und nehme den Hörer ab. Wie zu erwarten, meldet sich mein alter Freund, der Gerichtsarzt. „Ach, du bist’s… Na, was hat uns ,Paganini’ heute anzubieten? – Dein Repertoire ist dürftig… Phanodorm, so? – Konzentrierte Lösung, sagst du… Reicht für uns beide… Danke, kein Bedarf, kannst du für dich behalten.“ Ich lege auf, um Paganini die Möglichkeit einer Erwiderung zu nehmen. Soll sich an schnellere Repliken gewöhnen. Nach einer Weile läutet es wieder. „Ja… Antonow… Aha, wegen der Recherchen. Wie? – Dreimal? Welche genauen Daten und zu welcher Zeit? – Gut, danke.“ Ich lege den Hörer auf. Hole mein Merkheft hervor und mache mir ein paar Notizen. Solche Sachen also. Hm… Es klopft. Der Leutnant tritt ein und legt ein Blatt Papier auf meinen Schreibtisch: „Die Auskünfte…“ Ich werfe einen flüchtigen Blick auf den Zettel und gebe ihn zurück. Der Leutnant grüßt und geht hinaus. Ja, Schreibtischarbeit. Aber die Maschinerie läuft ohne
Erbarmen. Da werden Ordner gewälzt, Analysen, Expertisen gemacht, Fotos aufgenommen von Dingen, die kaum jemand erwartet hat, Erkundigungen eingezogen – hier und dort und wer weiß wo überall. Was die Verdienste betrifft, da werden wir uns nicht streiten, sie vielmehr brüderlich teilen. Alle zusammen kommen dann dem Staat zugute. Genug der Monologe. Nach der schriftlichen Arbeit tut ein bißchen Bewegung gut. Ich nehme meinen Mantel, stülpe den Hut auf und ziehe los: auch diesmal nicht zu meiner Tante. Gara Iskyr ist ein kleiner malerischer Bahnhof am Stadtrand von Sofia. Einst, als Kinder, haben wir hier Fische gefangen. Unter uns: Nur selten biß einer an. Heute befinden sich an dieser Stelle viele Betriebe. Mich interessiert besonders einer von ihnen – das Autoreparaturwerk. Mühelos finde ich es, betrete das große Gebäude und begebe mich zur mechanischen Abteilung. Drehmaschinen, ohrenbetäubender Lärm, was mich aber nicht von der richtigen Spur abbringen kann. Eine Minute später klopfe ich bereits einem Mann im öligen Arbeitsanzug, der sich gerade über eine Drehbank beugt, auf die Schulter. Iliew hebt den Kopf und starrt mich verdutzt an. Der Mann hat recht. Freundschaft hin, Freundschaft her, in letzter Zeit übertreibe ich ein bißchen. Wenn Sie mich fragen: Eigentlich übertreibt er, sei’s drum. Ich deute vielsagend auf meine Ohren, was bedeuten soll, mir platzt hier fast das Trommelfell. Dann zeige ich zum Ausgang. Iliew schaut mich zweifelnd an, überläßt dann einem jungen Arbeiter, der neben der Maschine steht, seinen Platz
und folgt mir. In bezug auf Landschaftsbeschreibungen bin ich schwach, deshalb vergaß ich, das schöne Wetter zu erwähnen. Sonnenschein. Möglicherweise auch Vogelgezwitscher. Habe nicht Obacht gegeben. Die Gartenanlage vor dem Direktionsgebäude hat die gelben Farben des Herbstes angenommen. Deshalb haben wir eine bequeme, einsame Bank für uns allein. Nach all der Qual auf verschiedenen Hockern kommt mir diese Bank wie eine Erholung vor. Ich setze mich und schicke einen verschleierten Blick zur Sonne, die mit 60-Watt-Stärke auf uns niederscheint. „Reine Luft… Sonne… und ein bißchen Feuchtigkeit, damit der Rheumatismus nicht arbeitslos wird… Angenehm, nicht?“ Iliew antwortet nicht. Er setzt sich unwillig und irgendwie hölzern auf das eine Ende der Bank. Meine lyrischen Anwandlungen scheinen ihn kaltzulassen. „Der Nebel steigt…“, fahre ich fort mit meinen Erinnerungen an einige Sätze aus einem Lesebuch fürs zweite Schuljahr. „Der Himmel klärt sich auf… auch andere Dinge. Trotz des Bestrebens gewisser Leute, sie nach Möglichkeit noch mehr zu vernebeln.“ Bei diesen Worten mache ich die Augen auf und richte den Blick gutmütig auf meinen Gesprächspartner. „Zum Beispiel Sie, lieber Iliew. Da kommt jemand von der Miliz zu Ihnen, mit Vertrauen, wie zu einem Freund, in der Hoffnung, Sie bringen ihn auf die richtige Fährte. Und was tun Sie? Dirigieren ihn in die entgegengesetzte Richtung. Bestimmt, um ihn nicht nur von der Spur wegzulotsen, sondern auch von sich selbst. Sie schi-
cken den Mann zu Sirakows, diese ihn wiederum zu Fräulein Tanewa. Sie adressiert ihn weiter an irgendeine Mimi. Mimi ihrerseits bemüht ihn zu Andreew. Dieser schließlich verweist ihn erneut an Iliew. Und nun befindet sich der Mann wieder vor Ihnen, was ein übriges Mal beweist, die Erde ist rund. Der Teufelskreis hat sich geschlossen.“ Nachdem ich eine Weile geschwiegen habe, sage ich: „Ich hoffe, es handelt sich nicht um die Schlinge für Ihren unglücklichen Hals.“ Iliew schaut verwirrt drein. „Ich begreife nicht, was Sie meinen.“ „Wir beide scheinen uns überhaupt nicht zu verstehen. Entgegen meinen Erwartungen. Ich habe noch ein paar Zentimeter Geduld und werde versuchen, es Ihnen zu erklären. Und noch eins: Ich mache das nicht, weil ich es für meine Arbeit brauche, vielmehr weil ich Ihnen helfen möchte, solange es noch nicht zu spät ist.“ Iliew blickt zur Seite, hört offenbar gespannt zu. Für einen Moment tut er mir ein bißchen leid, denn trotz seines äußeren Gleichmuts lese ich auf seinem Gesicht Hilflosigkeit, Angst. Vor einer Weile hat er noch ruhig an seiner Drehbank gearbeitet, dann ist plötzlich einer in schwarzem Hut und Mantel aufgetaucht. Nun sitzt er vor mir, der stille und fleißige Mann, wie in einen Käfig gesperrt. Fragt sich, wer ist schuld? Der mit dem schwarzen Hut oder der Stille, Fleißige selbst? „Hör’n Sie, Iliew: Bei meiner Rundreise, die ich unternommen habe, nachdem Sie mich auf den Holzweg führten, konnte ich einiges feststellen. Im Detail darauf
einzugehen, werde ich mir verkneifen, damit Sie mir nicht das Wasser abgraben. Ein Geheimnis allerdings will ich Ihnen verraten…“ Ich beuge mich zu meinem Gesprächspartner vor und sage halblaut: „Mein lieber Iliew, Sie haben falsch ausgesagt.“ Der Mann versucht, etwas zu erwidern. Mit einer Geste schneide ich ihm das Wort ab und füge ebenso vertraulich hinzu: „Wer falsche Aussagen macht, wird gemäß Paragraphen zweihundertzweiundzwanzig Artikel eins des Strafgesetzbuches zur Verantwortung gezogen.“ „Aber, Herr Inspektor, welches Interesse sollte ich denn haben…“ „Das müssen Sie mir sagen. Obwohl ich in dieser Frage schon meinen Standpunkt habe.“ Iliew schweigt. Ich stehe „auf, zünde mir eine Zigarette an, setze einen Fuß auf die Bank und stelle, zu Iliew gewandt, fest: „Sie haben gelogen. Nicht bloß in einem Punkt. Zum Beispiel hätten Sie Tanew seit Jahren nicht gesehen… Stimmt das?“ Iliew schweigt. Starrt zu Boden. „Erst vor ungefähr einem Monat haben Sie Tanews Auto zur Durchsicht gefahren. Von wem hatten Sie den Wagen? Wie haben Sie ihn bekommen?“ „Tanews Cousin hat ihn gebracht“, murmelt Iliew. „Sie lügen. Tanew selbst. Und wer war gestern nachmittag bei Ihnen, der Cousin oder Tanew persönlich?“ „Niemand…“ „Sie lügen wieder. Sie setzen Ihre falschen Aussagen fort. Zu Ihrer Information: Ich habe noch andere auf-
schlußreiche Sachen herausbekommen. So hat Tanew vor gut einem Monat einen ersten Versuch unternommen, Medarow zu liquidieren, und zwar durch eine dritte Person. Tanew agiert überhaupt nicht gern mit bloßen Händen. Aller Wahrscheinlichkeit nach ließ er den zweiten, erfolgreichen Mordanschlag auch durch einen Dritten ausführen. Da niemand von den verbleibenden Helden, die in diese Angelegenheit verwickelt sind, dafür in Frage kommt, richten sich die Indizien gegen Sie… Iliew hebt ruckartig den Kopf, glotzt mich angsterfüllt an. „Mit Medarows Tod hab ich nichts gemein. Gar nichts…“ „Schon möglich, werden wir gleich feststellen. Aber denken Sie ja nicht, daß es so leicht sein wird, sich aus dem Lügennetz wieder herauszuwinden.“ „Mit Medarows Tod hab ich nichts gemein“, wiederholt Iliew, immer noch verstört. „Ob das wahr ist, werden die Fakten zeigen, Los, erzählen Sie, solange Sie noch ungesiebte Luft atmen.“ Iliew hebt wieder den Blick. Zwei Augen starren mich an. „Ich habe Angst!“ Mit einem Seufzer breite ich die Arme aus. „Auf einmal! Vor wem fürchten Sie sich, Mann? Vor mir? Vor uns? Vor dem Staat?“ „Vor Tanew“, sagt Iliew und blickt sich um. „Sie wollen sich wohl vergewissern, ob er auch nicht im Gebüsch lauert, stimmt’s? Da gibt’s also Leute, die nach zwanzig Jahren immer noch nichts begreifen. Sie sind frei und haben nichts zu befürchten.“ Iliew hört
mir zu, blickt sich dabei unruhig um. „Ja, sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Auf der einen Seite stehen wir, der Staat, Ihr Staat, auf der anderen irgendeine Kreatur wie Tanew… Und Sie zittern vor ihr!“ „Er ist nicht allein“, erklärt Iliew. „Immer wieder hat er mir das gesagt – schon damals während des Prozesses –, wenn ihm meinetwegen was passierte, würde mich einer von seinen Leuten auf der Stelle liquidieren… Ständig verkehrt er mit dunklen Gestalten… Schon vor dem neunten September…“ An meiner Zigarette verbrenne ich mir die Finger. Ich werfe den Stummel weg und zünde eine neue an. „Wir wissen sehr gut, wann und mit wem Tanew Umgang hatte und hat. Wir haben auch eine Aufstellung seiner Leute: zum großen Teil Tote… oder Typen, die nichts mehr zu sagen haben, und hie und da auch ein paar ehemalige ,Helden’, die sich jetzt in Mauselöcher verkrochen haben; sie sind stiller als der See, ducken sich… Tanew steht allein. Begreifen Sie das endlich, allein! Deshalb braucht er einen Naivling wie Sie, den er durch Angst paralysieren und für seine Ziele ausnutzen kann.“ „Tanew hat mich nicht ausgenutzt“, sagt Iliew mechanisch. „Ich bin nicht Tanews Mann…“ „Tanew war aber gestern bei Ihnen, stimmt’s? Das haben Sie mir verschwiegen. Ihre Frau hätte sich parfümiert!“ „Ja…“, murmelt Iliew so leise, daß ich ihn kaum verstehe.
„Was wollte er?“ „Er fragte mich, wo Medarow sei.“ „Hm… Wußte er nicht, daß Medarow tot ist?“ Iliew verneint. „Was haben Sie ihm geantwortet?“ „Das Zimmer sei durchsucht worden und Medarow an Herzschlag gestorben.“ „Das haben Sie gesagt?“ „Ja.“ „Und weiter?“ „Dann fragte Tanew, ob jemand von der Miliz dagewesen sei. Ich verneinte. Tanew bat mich nochmals, auf keinen Fall auszuplaudern, daß ich ihn in den letzten Monaten gesehen habe. Bevor er ging, schüchterte er mich wieder mit seinen Freunden ein.“ „Und deshalb haben Sie mich weiter belogen und Tanew gedeckt!“ „Ich bin nicht Tanews Mann…“ „Wären Sie’s, würden wir an anderer Stelle mit Ihnen reden. Aber er hat Sie ausgenutzt, gar nicht mal so naiv, wie Sie annehmen… Und nicht nur, um seinen Wagen reparieren zu lassen.“ „Mit Tanews Schweinereien hab ich nichts zu tun…“, stammelt Iliew mechanisch. „Auch wenn Sie nicht direkt beteiligt waren, Ihr Schweigen genügt schon. Schweigen, Iliew, kann manchmal Gold sein. In einigen Fällen allerdings ist es nichts weiter als ein belastendes Moment. Sie müssen das wiedergutmachen. Deshalb reden Sie! Und zwar von Anfang an!“
„Vom Prozeß an?“ fragt Iliew ängstlich. „Nein, ganz von vorn. Gewöhnlich beginnen wir mit dem neunten September. Aber Sie fangen etwas früher an, bei der ,Kometa’.“ Nach dieser Unterweisung setze ich mich wieder auf die Bank. „Von der ,Kometa’ hab ich Ihnen schon erzählt…“ „Dreißig Prozent. Mich interessiert der Rest, das Wichtigste. Und damit Sie im Bilde sind: Meine Geduld ist fast zu Ende. Also los!“ „Chef der ,Kometa’„ , beginnt Iliew dumpf, „war Kostow. Er hatte das meiste Geld und die besten Verbindungen nach oben und zu den Hitlerdeutschen. Tanew war anfangs wirklich nur eine untergeordnete Figur, weitläufiger Verwandter von Kostow, den man lediglich dazu benutzte, um dem Unternehmen den Anstrich einer Gesellschaft zu geben und dadurch die Steuern zu drücken. In den letzten drei Jahren haben die Vertreter der Hitlerarmee allerdings immer häufiger mit Tanew zusammengearbeitet…“ „Was heißt ‚gearbeitet’?“ „Na, die ganze ,Kometa’ diente doch nur dazu, die dunklen Geschäfte der Gestapo zu decken. Tanew wurde ihr Hauptverbindungsmann. Durch ihn warben sie Agenten an. Er war von den dreien der Wendigste und Unverfrorenste. Kostow und Medarow bekamen langsam Angst vor ihm. Ein Zeichen, daß Tanew ein wichtiges Mosaiksteinchen geworden war. Er verfügte auch über viel Geld… Dann kam die Geschichte mit Kostows Flucht… Danach…“
„Denken Sie an meine letzte Warnung, Iliew. Sollten Sie noch immer Angst vor Tanew haben, so lassen Sie sich eins sagen: Sie fürchten den Falschen. Ich…“ Angsterfüllt starrt er mich an. „Berichten Sie von Kostows Flucht! Ganz ausführlich! Sie waren schließlich dabei!“ Den letzten Satz bringe ich mit einer solchen Überzeugung hervor, als wäre ich meiner Worte wirklich sicher. Manchmal muß man mit Hypothesen arbeiten. Iliew senkt schuldbewußt den Kopf und flüstert fast: „Ja…“ Mehr Druck ist nicht nötig. Ich lehne mich auf der Bank zurück und lüfte erleichtert meinen Hut. Um uns herum nimmt der Fabrikalltag seinen Lauf. Lastkraftwagen fahren vorbei. Aus dem Direktionsgebäude kommen Leute, die sich angeregt unterhalten. Einige scharen sich um ein riesiges, auf der Erde ausgebreitetes Plakat mit der Aufschrift „Wir haben den Plan einen Monat vorfristig erfüllt“. Bestimmt soll es an der Fassade des Direktionsgebäudes angebracht werden. Keine leichte Arbeit. Von irgendwoher werden zwei Leitern gebracht. Währenddessen berichtet Iliew über Dinge ganz anderer Art: „Es war am siebenten September, in der Nacht, Fliegeralarm. Wir begaben uns in den Luftschutzkeller. Kostow hatte den Keller der Villa befestigen lassen. Tanew schloß auf. Als wir eintraten, begriffen wir: Kostow war geflohen. Der Panzerschrank, in dem die drei ihr Geld aufbewahrten, war leer. Er konnte nur mit drei verschiedenen Schlüsseln gleich-
zeitig geöffnet werden, und jeder des Dreigestirns verfügte über einen. Kostow hatte allein gehandelt. Also schien er einen zweiten Satz Schlüssel gehabt zu haben! ,Der Schweinehund hat uns reingelegt’, hatte Tanew gebrüllt und sofort angeordnet, ich solle vorfahren. Ich holte den Mercedes aus der Garage. Medarow und Tanew standen auf dem Hof und sprachen über etwas. Dann stiegen sie ein, und Tanew befahl: ,Auf kürzestem Weg nach Boshurischte, über Bankja. Und ein bißchen fix.’ Ohne Scheinwerfer könne ich nicht schnell fahren, hatte ich erwidert. Dann solle ich sie einschalten. Man wird uns beschießen, gab ich zu bedenken. Ich möge tun, wie mir geheißen, sonst würde Tanew schießen. Was blieb mir übrig! Wir preschten los. Wie ich dem Gespräch der beiden entnahm, glaubten sie, Kostow wolle mit einem deutschen Flugzeug fliehen. Wirklich, in den letzten Tagen war nur die Rede davon gewesen: fliehen oder noch abwarten und wie die Flucht mit den Deutschen auszuhandeln sei… Wir fuhren durch Gorna Banja, in Richtung Bankja. Auf der Chaussee unzählige Schlaglöcher. Tanew stieß mich immer in den Rücken, ich solle schneller fahren. Wir erreichten Bankja. Als wir aus dem Dorf herausfuhren, will’s der Teufel, gewahrten wir in der Ferne Scheinwerferlicht. Wenn es Kostows Opel sei, den würden wir einholen, sagte Tanew. Ich müsse Gas geben. Als wir die Steigung genommen hatten, war mir klar: Vor uns fuhr Kostow. Spielend holte der Mercedes den Opel ein. Ich sollte überholen und den Weg blockieren. So geschah es auch. Kaum hatte ich ge-
halten, sprangen die beiden heraus. Nicht gleich so scharf, versuchte Medarow Tanew zu bremsen. Man brauche ihm keine Lehren zu erteilen, hatte Tanew gebrummt und war an den Opel getreten. Da hatte ich erst gesehen, daß er die Maschinenpistole bei sich trug…“ Ein Arbeiter im verwaschenen Arbeitsanzug kommt an uns vorbei. „Was ist denn mit dir? Hast wohl keine Lust mehr, die Norm überzuerfüllen, daß du hier ein Schwätzchen machst“, ruft er Iliew zu. Iliew antwortet nicht. Der Arbeiter geht weiter. Drüben, auf der Leiter, haben zwei Männer das Plakat hochgehievt, während der dritte ihnen mit lauten Zurufen Anweisungen gibt, damit sie es gerade anbringen. Eine Gruppe Kinder, immer hübsch zu zweit, zieht vorbei, voran die Lehrerin, die sie hierhergeführt hat, um ihnen das Werk zu zeigen. Ich zünde mir eine Zigarette an und setze mein Gesicht wieder der 60-WattSonne aus. Iliew fährt in seinem Bericht fort: „Tanew öffnete die Tür des Opels und schrie Kostow an, der zusammengekauert im Fond saß, er solle aussteigen. Wie ein geprügelter Hund kroch Kostow aus dem Auto. In dem gleichen Ton forderte er Andreew, den Chauffeur, auf, den Wagen zu verlassen. Dabei fuchtelte er mit der Maschinenpistole herum und brüllte weiter auf Kostow ein: ,Deine Kompagnons sollte wohl der Teufel holen? Wozu brauchst du sie denn noch. Ihr Geld hast du ja schon!’ Kostow schwieg. Was sollte er auch sagen. Alles war sonnenklar. Dann fügte Tanew hinzu: .Schwamm drüber. Du sollst merken, daß wir humaner
sind als du. Und damit du klarsiehst, wir fahren zusammen. Denn sobald der alte Fuchs den Bau verläßt, ist es Zeit aufzubrechen, gemeinsam!’ Kostow, als ob ihm ein Riesenstein vom Herzen gefallen wäre, drängte nur zur Eile. Wann das Flugzeug starte, um was für eine Maschine es sich handele und ob sie sie auch nicht irgendwo hinter die Frontlinie bringe, wollte Tanew wissen. Kostow erzählte, es sei ein Transportflugzeug, das hohe deutsche Offiziere ausfliege, direkt nach Berlin. Auf Tanews Frage, wer sie auf den Flugplatz lassen würde, antwortete Kostow, ein gewisser Hauptmann Kirchner erwarte sie. ,Ach, so ist das’, meinte Tanew und tötete ihn mit einem kurzen Feuerstoß aus der Maschinenpistole. Kostow sackte zusammen. Tanew mußte erbrechen und wandte sich dann dem Fahrer zu, der neben dem Auto saß. Andreew war ihm seit geraumer Zeit ein Dorn im Auge. Er solle ihn nicht so anglotzen, schrie Tanew, sondern lieber etwas singen. Andreew war nämlich ein fröhlicher Mensch. Wenn er seinen Wagen wusch, hatte er stets ein Lied auf den Lippen – und immer eins unserer Volkslieder. Andreew stand schweigend neben seinem Wagen. Ob er etwa das Lied von Katjuscha nicht kenne. Andreew bejahte, aber auf Kommando singe er nicht. Dann eben kein Lied, antwortete Tanew und mähte ihn mit einem erneuten Feuerstoß aus der Maschinenpistole nieder. Andreew ging in die Knie, fiel aber nicht hin. Starrköpfiger Kommunist, brummte Tanew und schoß das Magazin leer…“ Iliew verstummt und blickt zu Boden. Ich werfe mei-
nen Zigarettenstummel auf die Erde und trete ihn aus. Irgendwo, auf einem Prüfstand, heult ein Motor. „Als erstes holten Tanew und Medarow die Koffer aus dem Opel und verstauten sie im Mercedes, nahmen wieder im Wagen Platz, und Tanew befahl: ,Zum Flughafen, aber dalli. Sonst muß ich dich auch noch opfern. Es wär ein Aufwasch!’ Ein Glück, daß weder er noch Medarow chauffieren konnten, sonst hätte er mich sicherlich abgeknallt. Als wir Boshurischte erreicht hatten, hob sich gerade die letzte Maschine von der Piste. Es war das Transportflugzeug. Tanew spie Gift und Galle. Auch Medarow hielt nicht an sich: ,Wenn du für die Verhöre und Exekutionen nicht so viel Zeit vergeudet hättest, würden wir in der Maschine sitzen.’ Worauf Tanew erwiderte, er solle lieber schweigen, nun sei ohnehin alles umsonst. Es gelte jetzt, die Spuren zu beseitigen, und dann würde man schon sehen. Wir fuhren wieder zurück. Zu jener Stelle. Ich sollte helfen. Ich sagte, mir wäre übel. Tanew fluchte, bestand aber nicht auf seinem Befehl. Er war in Eile. Gemeinsam mit Medarow packten sie die Leichen in den Opel, übergossen sie mit Benzin und entfernten sich. Tanew wickelte einen Stein in eine Zeitung, zündete sie an und warf das Ganze gegen den Opel. Der Wagen ging in Flammen auf, wie eine Fackel. Nach einer Weile explodierte der Tank. Zur gleichen Zeit wurde Entwarnung gegeben…“ Iliew verstummt wieder. Ich zünde eine Zigarette an und mustere den Mann neben mir. Er sitzt noch in der gleichen Haltung, mit gesenktem Blick. „Und dann?“
„Wir fuhren zurück. Sie ließen mich den Wagen in die Garage bringen und verschwanden mit den Koffern. Vorher hatte mir Tanew angedroht, mir würde das gleiche widerfahren, wenn ich das Geschehene nicht vergäße.“ „Und deshalb haben Sie seitdem geschwiegen wie das Grab.“ „Ja… Was hätte es denn für einen Sinn gehabt zu sprechen. Beweise gibt’s nicht. Als der Prozeß begann, waren sogar die Reste des Opels verschwunden. Mit eigenen Augen hab ich mich davon überzeugt. Lediglich Brandspuren, weiter war nichts zu sehen. Bestimmt wieder Tanews Werk… Während des Prozesses drehte sich die ganze Anklage um die dunklen Geschäfte der ,Kometa’. Andere Beweise wurden nicht erbracht, weder für Mord noch für die Machenschaften mit der Gestapo… Medarow hätte Tanew ordentlich reinlegen können, hat’s absichtlich nicht getan. Ausgekocht waren sie alle beide. Gesetzt den Fall, der Alte hätte ausgepackt, man hätte ihn nicht laufenlassen. Im Gegenteil, es hätte die Sache noch kompliziert, falls herausgekommen wäre, daß sie mit der Gestapo zusammengearbeitet haben. Und so hatte Medarow Tanew immer in der Hand. Sollte dieser ruhig das Gold bis zu dem Tag aufbewahren, da er freigelassen würde und seinen Anteil in Empfang nehmen könnte…“ „Ich denke, er hat sein Teil bekommen“, werfe ich ein. „Bleibt nur noch, auch Tanew zu seinem zu verhelfen. Aber lassen wir vorläufig die materiellen Interessen. Wie steht es denn mit den neuesten Ereignis-
sen? Hier gibt es auch was nachzutragen.“ „Mein Schicksal ist bereits besiegelt“, murmelt Iliew, „außer wenn es Ihnen gelingt, Tanew zu fassen, bevor er mir den Schädel einschlägt.“ „So schnell schießen die Preußen nicht… Die Zeiten sind vorbei. Sie brauchen keine Angst zu haben…“ „Was ich Ihnen das erste Mal sagte, hat gestimmt. Bloß zwei Kleinigkeiten hab ich ausgelassen… An dem Abend, als Medarow die Wohnung verließ, sagte er mir, er sei mit Tanew verabredet.“ „Ach, und das soll eine Bagatelle sein! Wo wollten sie sich treffen?“ „In dem zerstörten Haus, wo Tanew seinen Wagen abstellt.“ „Und wie haben sie sich über den Treffpunkt geeinigt?“ „Na, Medarow hat mich doch ständig gefragt, ob ich Tanew gesehen, ob er sich nicht gemeldet hätte. Seit dem Tag, da er mir seinen Wagen zur Durchsicht brachte, hatte ich ihn nicht zu Gesicht bekommen. Wenn Medarow zu mir käme wegen eines Zimmers, sagte er mir damals, müßte ich ihn aufnehmen und im Auge behalten. Medarow allerdings dachte, ich sähe Tanew jeden Tag. Fortwährend lag er mir in den Ohren, ich solle Tanew ausrichten, das braune Notizbuch sei bei ihm, und falls er sich noch lange verkrieche, würde er auspacken. Wenn Tanew ihn sprechen wolle, ich wüßte ja, wo er zu finden sei – in der Schenke. Dort werden sie sich bestimmt getroffen haben.“ „Sie haben’s Tanew also bestellt?“
„Natürlich. In den vier Wochen ist er wirklich bloß einmal aufgekreuzt. Er wollte mich über Medarow ausfragen: was er mache, wohin er gehe, wer zu ihm komme, worüber er spreche. Deshalb erzählte ich ihm haarklein, was mir Medarow aufgetragen hatte und tagein, tagaus wiederholte.“ „Wie reagierte Tanew?“ „Schwieg und zog wieder ab.“ „Wann war das?“ „Letzten Sonnabend, bevor Medarow verschwand.“ „Wo hatten Sie sich verabredet?“ „Auf dem Bahnhof. Tanew erwartete mich dort.“ „Na, schön. Und welches war die zweite Bagatelle, die Sie mir verheimlicht haben?“ „Der Abend, als Medarow nicht zurückkehrte.“ „Was geschah da?“ „Kurz vor Mitternacht klingelte es. Ich dachte, es sei Medarow. Als ich jedoch öffnete, stand Tanew vor mir. Er wollte wissen, wo Medarow stecke, er hätte ihn versetzt und wollte deshalb in seinem Zimmer auf ihn warten. Ich gab zu bedenken, daß ich doch nicht einfach ein fremdes Zimmer aufschließen könne. Tanew winkte jedoch ab. Ich sollte mich ein bißchen beeilen, er hätte keine Zeit. Da Leute vom Schlage Tanews nicht viel Federlesens machen, suchte ich den Schlüssel und öffnete die Tür zu Medarows Zimmer. Tanew trat ein und schloß hinter sich ab. Er blieb eine Weile drinnen; als er rauskam, trug er etwas unterm Mantel. Er sagte, ich solle das Zimmer aufräumen, er hätte beim Suchen nach einem Notizbuch, das Medarow ihm
gestohlen habe, einiges durcheinandergebracht. Und wehe, drohte er, ich plauderte aus der Schule. Zu Medarow könnte ich getrost sagen, er sei gewaltsam eingedrungen. Wenn er wolle, könne der Schlauberger von ihm Genugtuung fordern. Dann verließ er die Wohnung. Die ganze Zeit war er in Eile.“ „Und Sie haben alles wieder an seinen Platz gelegt, das heißt, die Indizien beseitigt…“ Iliew schweigt. „Eigentlich müßte ich Ihnen einen Denkzettel verpassen“, sage ich, „damit Sie kapieren, wann man schweigen muß und wann nicht. Seien Sie froh, daß ich so gutartig bin. Trotzdem werde ich mich für Sie verwenden, das ahne ich schon.“ Iliew schaut mich an mit einem Ausdruck zwischen Furcht und Hoffnung. „Gehn Sie jetzt“, sage ich. „Ihr wollt schließlich den Plan übererfüllen.“ Ich stehe auf, hebe die Hand zum Gruß und verlasse das Werk. In der Kantine meiner Dienststelle erwartet mich eine angenehme Überraschung: Bohnensuppe und anschließend Buletten, zwei Gerichte, die man auch in kaltem Zustand mit Appetit verzehren kann. Damit aber die Mahlzeit nicht ganz so kühl vonstatten geht, zünde ich mir als Nachtisch noch eine Zigarette an. Dann begebe ich mich wieder zum Bahnhof. Es war überhaupt ein Tag langer Reisen. Nach Gara Iskyr ist das malerische Bankja mein nächstes Ziel. Zu dieser Stunde bin ich ganz allein im Abteil. Gewöhnlich verleitet mich Einsamkeit zum Träumen. Ich weiß nicht, ob ich es schon
erwähnte: Ich bin sentimental. Nur gut, daß es von Zeit zu Zeit gelingt, das zu überspielen. Da ich allerdings im Moment allein bin, gestatte ich mir eine kleine sentimentale Orgie. Ohne zu übertreiben: Meine ganze Phantasie beschränkt sich darauf, daß mich der Zug statt nach Bankja nach Pernik bringt. Bescheiden, nicht wahr? Doch meine erste Fahrt in jene Stadt, mit dem schon erwähnten Blumenstrauß, blieb auch die letzte. Dafür hat sich meine Lehrerin mit einem Besuch revanchiert, und zwar aus einem ganz sachlichen Anlaß. Wir wollten heiraten. Sie kam an einem Sonnabend, und am Sonntag sollte die bescheidene Zeremonie des Zusammenschreibens stattfinden. Wir grasten die Geschäfte ab, machten Einkäufe. Wir kehrten auch ein, im Warenhauscafe. Es war ein herrlicher Polterabend. Ein Pech nur, daß der Festtag nicht folgte. Kaum waren wir zu Hause angekommen – ich wollte meiner Lehrerin gerade zeigen, wo sie künftig wohnen wird –, schrillte das Telefon, durchdringend. Wenn es so klingelt, ist das bestimmt keine Einladung zu einer Partie Belote. Ich müßte sofort nach Plowdiw fahren, wegen einer zweifelhaften Angelegenheit… Ja, sagte ich, bei mir gibt es allerdings auch so eine Geschichte: Ich will heiraten. Ich solle es verschieben, brummte es im Hörer. Es wäre niemand weiter da, den sie schicken könnten. Ich müßte mich sofort auf den Weg machen. „Dieses Telefon“, sagte ich zu meiner Lehrerin, „ist dein Schicksal. Es gibt einem die letzte Chance, einer unglücklichen Ehe zu entsagen.“ Das Mädchen lächelte, heldenhaft bemüht, seine
wahre Stimmung zu verbergen. „Ich bin’s nicht gewohnt, meine Entscheidungen so schnell zu ändern. Doch eine Woche früher oder später, was macht das schon? Das ganze Leben liegt noch vor uns, nicht?“ „Selbstverständlich, allerdings nur zum Teil. Hin und wieder kann es passieren, daß ich ein oder zwei Monate nicht zu Hause bin.“ „Macht nichts, dann schreiben wir uns eben.“ Ein leichtgläubiges Wesen. Zwei Wochen später war ich wieder in Sofia. Natürlich gab ich eine ansehnliche Summe für ein Telefongespräch mit Pernik aus, des Inhalts, daß ich zur Verfügung stünde. Und meine Lehrerin kam wieder angereist. Übrigens erst vor kurzem, an einem wunderschönen Sonntag. Wir sahen irgendeinen Film, ich erinnere mich bloß noch an den Titel. Dann der traditionelle Waldspaziergang mit einem kurzen Abstecher ins Restaurant „Tanuschew“. Abendessen im „Bulgaria“, Tanz. Welch eine Qual. Ich hoppelte einen Tango. Ich muß von allen guten Geistern verlassen gewesen sein, mich darauf einzulassen. Eben das bei solchen Anlässen übliche Programm. Eigentlich ohne Bedeutung. Wichtig ist der Partner, falls Sie sich in diesen Dingen auskennen. Was das Wesentlichste war: Die Zeremonie auf dem Standesamt legten wir für den ersten Januar fest, mit der Erwägung, ich müßte ein großer Pechvogel sein, wenn zum Neujahrsfest dienstlich was dazwischenkommt. Warten wir also auf die Feiertage und träumen wir von Pernik. Pernik wiederum denkt an Sofia. Wenn Städte Freundschaft schließen, warum soll
es dann keine Eheschließung zwischen ihnen geben? Diese ganze Problematik und das Schaukeln des Zuges muß mich in den Schlaf gewiegt haben, weil ich bei einem energischen Ruck des Waggons kaum merke, daß wir Bankja erreicht haben. Das Häuschen steht links auf dem Hügel. Nicht groß, aber es scheint noch zu wachsen. Drei Handwerker, zwei in Wattejacken, der dritte in einem beigefarbenen Pullover, machen sich an dem neuen, noch nicht verputzten Bau zu schaffen. Ringsum Obstbäume, Gemüsebeete, Junghühner und andere Naturschönheiten. Wie sich herausstellt, ist der Mann im Pullover Tanew, genauer: der Cousin Tanew. Denn der andere, der mir ständig entwischt, ist wieder nicht da. „Vor einer knappen halben Stunde ist er mit dem Wagen weggefahren“, erklärt der Cousin Tanew und blickt, Bestätigung erheischend, zu den Männern in den Wattejacken. Doch sie schweigen und bleiben weiter mit ihrer Arbeit beschäftigt. „Weshalb ist er eigentlich zu Ihnen gezogen?“ „Er ist nur zu Besuch. Aus gesundheitlichen Gründen. Die Ärzte haben ihm Bäder angeraten. Unsere Bäder hier sind berühmt.“ Cousin Tancw spricht ruhig und mit der inneren Überzeugung eines Menschen, der nicht zum erstenmal lügt. Er ist klein, gedrungen, wie ein alter Schrank, der aber noch seinen Zweck erfüllt. Sein Gesicht ist gerötet – von der frischen Luft und vom Alkohol. Die Augen sind ohne Ausdruck, als schliefen sie, doch mit einem
Widerstand, der meinen Blick kommentarlos abweist. „War Ihr Cousin immer hier, seitdem er zu Ihnen zog?“ „Sie sind doch nicht etwa von der Miliz?“ interessiert er sich auf einmal, obwohl ihm das von Anfang an vollkommen klar war. Wortlos zeige ich meinen Dienstausweis und warte die Reaktion des Mannes ab. Seine schwarzen Augen mit dem vom Alkohol gelb gewordenen Weiß mustern mich mit dreister Gelassenheit. „Sie überlegen aber ziemlich lange“, sage ich. „Ach, Sie kommen wegen meines Cousins?“ sagt Tanew, als hätten wir bis zu diesem Augenblick über den Orion geplaudert. „Er ist fortgefahren, vor etwa einer halben Stunde.“ „Weiß ich bereits, und vorher? Ist er da auch schon mal weggewesen?“ „Ach, das wollen Sie wissen? Nein, er war immer hier.“ „Sieh einer an! Da haben Sie hier drei Monate lang Däumchen gedreht, wie?“ Reglos fixieren mich die dunklen, entzündeten Augen. „War er die letzten Tage auch bei Ihnen?“ „Natürlich. Weshalb sollte er woanders hingehen. Wir verbringen unsere Zeit angenehm, gehen spazieren.“ „Ach so, gestern nachmittag war er also auch da?“ Der Cousin schweigt. In seinem Blick nicht der leiseste Schimmer von Verwirrung. Er ist noch unentschlossen, was er über gestern nachmittag sagen soll. Die Instruk-
tionen scheinen älteren Datums zu sein. „Gestern war er auch hier in der Gegend.“ „Wie ist dieses ,hier in der Gegend’ aufzufassen? Ist die am Rande von Bankja gelegene Hauptstadt mit einbegriffen? Oder nur das Ljulin- und Witoschagebirge?“ „Keine Ahnung, ob er auf dem Witoscha war. Hier in der Gegend hat er sich jedenfalls aufgehalten.“ „Bravo“, sage ich, „und am Donnerstag?“ Die Frage nach dem Donnerstag scheint der Mann erwartet zu haben. Damit kann ich ihn nicht aus dem Konzept bringen. „Ach, am Donnerstag haben wir einen gehoben, wie in jungen Jahren. Fast bis zum frühen Morgen.“ „Bravo“, billige ich erneut, wobei ich das Lieblingswort meines Freundes, des Gerichtsarztes, benutze. „Und wo fand das Gelage statt? Unten in der Kneipe?“ „Hier natürlich.“ „Und auf wessen Kosten?“ Der Mann mustert mich mit schwerem Blick. „Von meinem Cousin die Getränke, von mir das Essen.“ „Aha. Und dieser Bau? Auch von Ihrem Cousin?“ „Wie soll ich das verstehen?“ „Hat er Sie damit für Ihre Lügen bezahlt?“ Neugierig schauen die beiden Männer in Wattejacken zu uns herüber. „Wie?“ Er glotzt mich frech an, als hätte ich nichts gesagt. „Was trinken Sie? Rakija?“ frage ich. „Ja“, bestätigt Tanew. „Versuchen Sie’s mal mit Wein“, rate ich. „Von Ra-
kija wird man dumm.“ Einer der Männer lacht heiser. Der Cousin läßt sich jedoch nichts anmerken. Er tut so, als hätte er mich nicht verstanden. Die aufdringlichen Augen schauen ruhig drein, als wollen sie sagen: ,Vor solchen wie du haben wir Tanews keine Angst. Sie kümmern uns einen Dreck. Auch heute.’ Die Miete von diesem Bau, den du hier einrichtest, wirst du nicht zu sehen bekommen, mein Lieber. Wir werden dich woandershin schicken, zur Erholung, antworte ich in Gedanken, weil Einschüchterungen nicht erlaubt sind. Ich schlage einen Bogen und gehe den Berg hinunter. Noch ein „Held“ aus der Vergangenheit. Ein geeignetes Sujet für unsere Bekannte, die Künstlerin. Heute morgen habe ich gerade seine Biographie studiert: ehemaliger Politiker, Kreisrat, Spekulant mit Raritäten. Ehemals auch ein Mensch, möchte ich hinzufügen, bezweifle aber, daß er es je gewesen ist. Dein Alibi, teurer Lasar Tanew, ist recht schwach: Ein Zeuge, dessen einziges darin besteht, dein Cousin zu sein, gilt nicht. Als ich auf dem Bahnhof ankomme, sehe ich nur noch das Schlußlicht des Zuges. Die Wartezeit bis zum nächsten Anschluß überbrücke ich mit einem Spaziergang. Streng vertraulich: Diese Spaziergänge hängen mir zum Halse heraus. Dienstliche Dialoge, außerdienstliche Monologe. Außerdem Spaziergänge und nochmals Spaziergänge durch malerische Winkel, die man in der Fachsprache Ermittlungen an Ort und Stelle nennt. Am Himmel ziehen vom Ljulingebirge her dichte
schwarze Wolken auf, es beginnt zu regnen. Der Regen verstärkt sich. Befindet man sich allerdings auf einem Spaziergang, so geht man einfach weiter. Ich schlage den Mantelkragen hoch und ziehe den Hut ins Gesicht. Das Wasser braucht einem nicht gerade auf die Nase zu tropfen. Ich gehe durchs Dorf, komme an der Chaussee heraus und mache einige hundert Schritte durch die verlassene Landschaft. Seit 1944 hat sie sich bestimmt sehr verändert. Die Straße ist von überflüssigen Kurven befreit und asphaltiert. Aber in dem grauen Licht dieses Herbstnachmittags rekapituliere ich unter den schrägen Strippen des zunehmenden Regens deutlich jenen Vorfall, der sich dort, hinter den schwarzen kahlen Bäumen, abgespielt hat: Ich sehe zwei Autoscheinwerfer, die mit gespenstischem Licht die Stoppelfelder anleuchten, sehe den Opel, an den Grabenrand gedrängt, und das dunkle Ungeheuer des Mercedes, sehe die Gestalt des Kraftfahrers neben seinem Wagen stehen. Kennst du das Lied von Katjuscha?
SECHSTES KAPITEL „Ach, Sie sind’s?“ „Ganz recht“, sage ich. „Weshalb nehmen Sie nicht Platz? Übrigens vergaß ich: Sie sind immer in Eile.“ „Nicht immer, nur manchmal“, präzisiere ich und
setze mich an Lidas Tisch. Trotz der frühen Stunde ist das Cafe im Hotel „Bulgaria“ ziemlich voll. Es fehlt nur die Person, wegen der ich gekommen bin. Dafür ist Lida hier. Ich bestelle zwei Tassen Kaffee und zwei kleine Kognaks. „Ich denke, Sie können Alkohol nicht ausstehen?“ fragt Lida taktlos. „Stimmt.“ Ich nicke. „Aber inzwischen hat mich einer meiner Freunde, Kellner von Beruf, aufgeklärt: Kenner trinken Kognak immer mit Kaffee oder umgekehrt.“ „Ich dachte, Sie wären kein Snob.“ Lida ist enttäuscht. „Ich war selbst überrascht, als ich diesen Zug an mir entdeckte.“ „Sie trüben den guten Eindruck, den ich von Ihnen habe“, bemerkt die Künstlerin lächelnd. „Wissen Sie, das Bild, über das wir sprachen, ist in meinem Kopf schon fertig. Ich werde es ,Verhör’ nennen.“ „In Zeitschriften hab ich schon viele Reproduktionen von Vernehmungen gesehen“, werfe ich delikat ein, „wenn auch ältere.“ „Eben, inquisitorische Verhöre. Aber niemandem ist bisher in den Sinn gekommen, das Bild einer Vernehmung in unserer Zeit zu schaffen, bei der nicht Gewalt und Inquisition herrschen, sondern die moralische Überlegenheit des Neuen über das Alte.“ Zum Glück bringt in diesem Augenblick die Serviererin die Bestellung. Ich biete Lida eine Zigarette an, die sie nach kurzem Zögern ungeschickt anraucht. Aus
Gesellschaft stecke ich mir auch eine an. „Interessant“, murmele ich und nippe an meinem Kognak, „obwohl ich mir, offen gestanden, Ihr Bild nicht recht vorstellen kann.“ „Oh, ich sehe es so deutlich vor mir, als wäre es bereits fertig. Der neue Mensch wird Ihnen ähnlich sehen und der alte dem Iwan Medarow. Sie stellen Ihre schicksalsschwere Frage, stehend, während er auf einem Stuhl sitzt, zusammengekauert, ängstlich, getroffen von Ihrer moralischen Überlegenheit…“ „Solche Typen sind selten furchtsam…“, erlaube ich mir einzuwerfen. „Macht nichts, Hauptsache, er ist entlarvt, entwaffnet.“ „Na schön, versuchen Sie’s. Man weiß vorher nie, was am Ende herauskommt.“ „Ich wollte Sie bitten“, sagt Lida, „mir Modell zu sitzen, vielleicht zwei-, dreimal.“ „Sie scherzen…“ „Sie sind der erste, der das von mir annimmt. Alle meinen, ich hätte kein bißchen Humor.“ „Wenn Ihr Ansinnen kein Scherz war, sind Sie recht naiv.“ „Ach, Sie haben wohl Angst?“ bemerkt Lida. „Es handelt sich lediglich um zwei, drei Sitzungen, etwa je eine Stunde.“ „Ausgeschlossen. Das ist nicht erlaubt. Wie Sie wissen, handeln Leute wie ich nicht in ihrem eigenen Namen, sondern im Namen des Gesetzes. Da ist das Gesicht ganz ohne Bedeutung.“
„Das stimmt nicht“, beharrt Lida. „Für Sie als Künstlerin ist es natürlich wichtig, aber im Prinzip ist es ohne Bedeutung.“ „Schade“, seufzt Lida. „Werd ich also wieder meine Phantasie walten lassen müssen.“ „Eben. Machen Sie’s wie die alten Ikonenmaler. Christus ist auch nicht vom Himmel gestiegen, um Ihnen Modell zu sitzen. Überhaupt, Heilige und Milizangestellte muß man nach seinem Vorstellungsvermögen malen.“ Ich leere das Kognakglas, lege das Geld für meine Zeche auf den Tisch und erhebe mich. „Sie haben Ihren Kaffee nicht ausgetrunken“, bemerkt Lida. „Absichtlich hab ich ihn mir aufgehoben, um den Kognakgeschmack zu veredeln.“ In Gedanken verdamme ich die weibliche Beobachtungsgabe. Ganz nach meiner Gewohnheit kippe ich das widerliche Getränk hinter, winke grüßend mit dem Arm und begebe mich hinaus. Wieder befinde ich mich vor der Tür mit den drei Namen. Zum zweitenmal an diesem Morgen. Ich schwanke noch, wie oft ich klingeln soll, als drinnen Krach zu hören ist. Tanew, dieser Verbrecher, ist also endlich nach Hause gekommen und geht mit den Seinen zu Gericht. Es wird heftig geöffnet, in der Tür steht Wera, unerwartet, mit zwei Koffern und einem Packen Bücher. Kurz darauf taucht hinter ihr Andreews Physiognomie auf. Der Elektroingenieur trägt ebenfalls Gepäck. „Meine Güte, Sie ziehen um?“ Ich lächle erleichtert.
„Und ich habe gedacht, Ihr Onkel malträtiert Sie… Auf diese Weise wird ein Wohnungsproblem eigentlich am besten gelöst.“ „Am Sonntag ist Hochzeit“, sagt Wera, damit ich nicht was anderes denke. Sie stellt für einen Augenblick ihre Last ab. Andreew auch. „Sie sind herzlich eingeladen“, sagt er. „Uns fehlt noch ein Trauzeuge…“, fügt Wera hinzu. „Und wer ist der zweite?“ „Unsere Mimi“, erwidert die Ärztin. „Bis gestern war’s noch ,Susanne’, und nun auf einmal ,unsere Mimi’ „ , sage ich verwundert. „Sie ist keine .Susanne’ mehr. Sie will sogar jegliche Beziehungen zu Tanew abbrechen. Kaum wiederzuerkennen. Sie ist also der eine Trauzeuge, und Sie sollen der zweite sein.“ „Weshalb nicht Trauzeuge von Leuten werden, die falsch ausgesagt haben.“ „Wir wollten Ihnen bloß helfen“, bemerkt Wera. „Um Ihnen fertige Beweise zu liefern…“, fügt Andreew hinzu. „Sie haben mir eine Menge Schwierigkeiten bereitet. Ein Glück, ich bin nicht nachtragend. Vielleicht komme ich. Ich denke, daß man bei solchen Anlässen auch einen Kognak angeboten bekommt.“ „Eine ganze Buddel.“ Wera lächelt. „Lieber nicht. Meine Tante hat mich gelehrt, nur ein Gläschen zu trinken. Familientradition, müssen Sie wissen. Sie füllt das Glas zur Hälfte und schließt die
Flasche wieder, damit man sich keine Alkoholvergiftung holt. Apropos Verwandte. Ihren Onkel konnte ich im ,Bulgaria’ nicht entdecken. Mimi hatte mir allerdings heute morgen gesagt, er sei in der Nacht zurückgekehrt und sicherlich dort zu finden.“ „Er ist wirklich zurückgekommen. Deshalb haben wir auch unseren Umzug beschleunigt.“ „Und wo kann er um diese Zeit sein?“ „Keine Ahnung.“ Wera zuckt mit den Schultern. „Weiß überhaupt jemand, was er macht und wohin er geht?“ „Eben ein unruhiger Alter.“ „Hörte er Sie so reden, er würde’s Ihnen aber geben, von wegen ,Alter’.“ Wera nimmt wieder das Gepäck auf, gefolgt von Andreew. „Wir erwarten Sie am Sonntag!“ erinnert sie mich beim Hinuntergehen. „Gut. Und wohin kann sich Ihr Onkel verkrümelt haben, Pardon, Bürger Tanew?“ „Versuchen Sie’s mal in dem alten Haus, wo er seine Garage hat“, ruft Wera, bereits unten angelangt. „Dort hält er sich häufig auf.“ Das alte Haus. Gut, daß ich für alle Fälle die Adresse des denkmalschutzbedürftigen Gebäudes bei mir habe. Gestern abend bin ich schon mal dort gewesen. Trotz des Gedränges nehme ich die Straßenbahn, weil es wieder regnet. Die unrühmliche Ruine befindet sich nämlich hinter Gorni Losenez. Ich steige an der nächstgelegenen Haltestelle aus und mache mich auf den Weg. Eine Telefonzelle erinnert mich daran, daß
ich noch was zu erledigen habe. Heute morgen habe ich meinem Chef etwas versprochen, und jetzt war ich gerade im Begriff, es nicht einzuhalten. Nach kurzem Zögern betrete ich die Telefonzelle und opfere zwei Stotinki für ein Gespräch mit der Dienststelle. Draußen regnet es jetzt stark. Zum Glück liegt mein Ziel nur zwei Straßen weiter, auf einem Grundstück mit Holzlattenzaun, fünf oder sechs knorrigen Bäumen und einem kaum zu durchdringenden Unkrautdickicht. Im Licht des Regentages wirkt die Behausung erst recht unfreundlich – eine jener Halbruinen, die noch hie und da als Rudimente aus der Zeit der Bombenangriffe in den Himmel ragen. Es ist fast bis zum Erdgeschoß abgerissen, was da noch als Garage benutzt wird. Von der ersten Etage ist nur ein einziges Zimmer übriggeblieben, dessen Fenster mit Brettern vernagelt sind. Offenbar war das Gebäude ausgebrannt. Altes, geheimnisumwittertes Haus… Der Hund von Baskerville. Nein, wollen wir nicht übertreiben, einen Hund gibt es nicht. Ansonsten scheint es unbewohnt, außer vielleicht von Gespenstern. Macht nichts. In Ermangelung anderer Zeugen begnügen wir uns eben mit der Vernehmung solcher Gestalten. Verhör der Gespenster – dieses Thema muß ich meiner Bekannten, der Künstlerin, vorschlagen. Schade, daß es mir nicht eher eingefallen ist. Mit solchen Gedanken nähere ich mich der Garage. An der breiten Doppeltür ein schweres Vorhängeschloß. Von draußen deutet nichts auf ein Auto hin. Langsam gehe ich um das Gebäude herum und finde von der anderen Seite
den Aufgang zur Treppe. Die Tür ist nicht verschlossen, mehr noch, sie fehlt überhaupt. Ich steige die Stufen hinan bis zur ersten Etage. Aufmerksam schaue ich mich um und interessiere mich für solche Details wie den Lichtschalter. An dieser Stelle gähnt eine leere Öffnung, ohne Kabel. Rechter Hand eine einzige Tür, offensichtlich der Eingang zum einzigen Zimmer. Ich komme näher, da wird sie heftig geöffnet. Das erstaunt mich ebenso wie die Tatsache, daß sich in meiner Hand plötzlich eine Pistole befindet. Das ist also der fragliche Tanew. Wir haben das aufregende Treffen überlebt. Aber stellen Sie sich bitte keinen bärtigen Banditen mit einer schwarzen Binde überm rechten Auge vor. Der Mann, der im Türrahmen steht, ist mittelgroß, breitschultrig, fülliger als sein Cousin. Ein Bild der Eleganz: dunkelgrauer Anzug, schneeweißes Hemd, hellgrauer Binder, graumelierte, pedantisch frisierte Haare, glattrasiertes brünettes Gesicht, auf dem die Jahre keinerlei übermäßig brutalen Ausdruck hinterlassen haben. Die Augen zeugen von einer ähnlich dreisten Gelassenheit wie bei Tanews Cousin, schauen allerdings lebhafter und bedeutend anmaßender. Der Blick des Mannes gleitet über mein Gesicht und bleibt fragend an der Pistole hängen. Tanew nickt kaum merklich. „Also hier hat sich der Fuchs verkrochen!“ sage ich etwas freundlicher. „Was sind das für Reden?“ Tanew zieht eine Augenbraue hoch. „Und was für Manieren, mit einer Waffe vor meinem Gesicht herumzufuchteln. Wer sind Sie
eigentlich?“ Ohne die Pistole aus meiner Rechten zu nehmen, hole ich mit der Linken den Dienstausweis heraus und halte ihn dem wißbegierigen Bürger vor die Nase. „Ach so… ich hielt Sie für einen Dieb. Soweit mir bekannt ist, verhört die Miliz seit Jahren friedliche Bürger nicht mehr mit gezogener Pistole.“ „Ganz recht“, nicke ich, „aber bloß, wenn es sich um friedliche Bürger handelt. Sie gehören nicht dazu, wie vor kurzem eine Ihrer Verwandten bemerkte.“ Bei diesen Worten berühre ich Tanew scherzhaft mit ausgestrecktem Zeigefinger, soweit mir das die gezogene Pistole erlaubt. „Ich verstehe Sie nicht…“, murmelt Tanew, ohne auch nur im geringsten aus der Ruhe zu kommen. „Sie werden schon kapieren. Lassen Sie mich mal rein. Auf dieser Zementtreppe holt man sich ja was weg.“ „Weshalb nicht“, stimmt Tanew scheinbar freundlich zu. „Aber mein Wagen ist in der Garage. In einer Minute habe ich ihn rausgefahren, und in fünf Minuten sind wir in meiner Stadtwohnung.“ „Ich möchte Ihnen keine Umstände machen. Wir können uns auch hier unterhalten, zumal hier in Ihrem Zimmer, wie ich sehe, eine Heizsonne brennt. Wir können uns ein bißchen aufwärmen und dabei plaudern. Es handelt sich eigentlich nur um eine Auskunft.“ Da Tanew immer noch keine Anstalten macht, mich hier in seine bescheidene Höhle einzulassen, stoße ich ihn leicht hinein und folge ihm. Im Zimmer ist es wirklich warm. Eine schwache Glühbirne spendet trübes
Licht, die Fenster sind fest mit Holzkistendeckeln vernagelt. Der ganze Raum macht den Eindruck eines Altwarenlagers: an den Wänden Möbelstücke und in Decken eingewickelter Hausrat, in der Mitte ein schwerer Tisch mit abgenutzter Politur, darauf einige Flaschen, Gläser, Zigaretten, ferner zwei Stühle, gerade soviel, wie nötig sind für das bevorstehende Spektakulum. Ich setze mich auf den einen Stuhl und zeige, einladend, mit der Pistole auf den anderen. Tanew nimmt Platz, unwillig, äußerlich aber ganz ruhig. „Warum bieten Sie mir nichts an?“ frage ich ihn. „Sie haben schließlich einen Gast.“ „Was wollen Sie trinken?“ Tanew stellt ein leeres Glas vor mich hin. „Mastika.“ „Wie Sie sehen, hab ich keinen…“, bemerkt Tanew gleichmütig. „Hat denn Medarow den ganzen Vorrat verkonsumiert?“ frage ich mit unschuldiger Miene. „Oder haben Sie den Rest über seine Kleider gegossen?“ „Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.“ „Wo haben Sie die leere Mastikaflasche gelassen?“ fahre ich mit geradezu kindlicher Neugier fort. „Ich verstehe wirklich nicht…“ „Wie bitte? Gefolgsmann der Gestapo gewesen und kapieren die einfachsten Sachen nicht?“ „Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen.“ Tanews dunkle Augen starren mich an, gefühllos, ich kann mir nicht vorstellen, daß diese Augen jemals schamvoll
niedergeblickt hätten. „Na, schön“, sage ich mit einem Seufzer. „Ich hielt Sie für einen sachlichen Menschen, mit dem man sich ohne viel Umstände verständigen kann. Wenn es nicht so ist, müssen wir ganz von vorn beginnen. Wo waren Sie die letzten drei Monate, Tanew?“ „In der Provinz.“ „Die Provinz ist groß, mehr als hunderttausend Quadratkilometer. Wo genau?“ „Hauptsächlich in Bankja.“ „Zu welchem Zweck?“ „Erholung, Bäder.“ „Erholung wovon? Ihre Hauptbeschäftigung, soweit ich informiert bin, ist doch Nichtstun.“ „Früher habe ich gearbeitet.“ „Ich weiß. Bei der Gestapo. Übrigens, wovon leben Sie, wenn ich fragen darf?“ „Mein Vater hat mir eine kleine Erbschaft hinterlassen.“ „Wann ist Ihr Vater gestorben?“ „Vor acht Jahren.“ „Die Erbschaft muß aber ziemlich groß gewesen sein, wenn Sie die ganze Zeit über davon leben konnten.“ „Ich lebe bescheiden.“ „Ist mir bekannt: Auto, Reisen durchs Land, Gelage, Geschenke für Mimi und andere fröhliche Geschöpfe. Das nennen Sie bescheiden, wahrhaftig. Wer hat Ihnen die Goldstücke eigentlich eingetauscht?“ „Was für Goldstücke?“ „Na, die, welche Sie von Ihrem Vater ererbt haben -
oder gibt es noch andere?“ „Ach so…“ Tanew nickt, als handle es sich um eine vergessene Kleinigkeit, an die er sich gerade wieder erinnert. „Mein Vater hat mir wirklich ein bißchen Gold hinterlassen, das meiste allerdings war Familienschmuck. Nach und nach hab ich ihn verkauft, entsprechend meinen bescheidenen Ansprüchen.“ „Hm… Bis hierher haben Sie schon dreimal gelogen. Mal sehen, wie oft Sie noch lügen. Können Sie mir vielleicht erklären, weshalb Ihre Reise ausgerechnet mit Medarows Entlassung aus der Haft zusammenfiel?“ „Ich weiß nicht, wann Medarow entlassen wurde.“ „Von wem und wann haben Sie überhaupt erfahren, daß er nicht mehr im Gefängnis ist?“ „Von Ihnen, gerade in diesem Augenblick“, entgegnet Tanew und schaut mich kaltschnäuzig an. „Ihre Schamlosigkeit ist in der Tat ungewöhnlich“, gestehe ich. „Leider erreicht man damit nichts.“ „Ich hab Ihnen doch gesagt, ich war drei Monate nicht hier“, erwidert Tanew trocken. „Erst gestern bin ich zurückgekommen.“ Mit der Linken hole ich meine Zigaretten hervor, nehme mir eine und zünde umständlich ein Streichholz an. Die Pistole ist im Moment vollkommen überflüssig, aber ich behalte sie in der Hand, damit mein Gesprächspartner sie die ganze Zeit vor Augen hat. Früher hatte der Mann ein Faible für derartige Waffen. Soll er ruhig ein bißchen schwitzen. Ich mache zwei, drei Zü-
ge und mustere das brünette Gesicht vor mir. „Sehn Sie, Tanew, Ihr Plan ist, oberflächlich betrachtet, in seiner Grundidee klug zusammengeschustert. Er hat allerdings einen entscheidenden Mangel. Sobald auch nur ein einziges Glied aus Ihrem Konzept herausbricht, fällt es zusammen. Und ein Glied hat sich schon gelöst: Mimi.“ „Ich verstehe Sie nicht“, beharrt Tanew weiter. „Macht nichts, ich werd’s Ihnen erklären.“ Ich nicke, noch immer geduldig. „Sie scheinen ein Individuum mit übernatürlichen Fähigkeiten zu sein – befinden sich zur Kur in Bankja und gleichzeitig in Sofia. Sie haben sich mit Mimi getroffen, sie nach Medarow ausgefragt und ihr sogar eine doppelte Dosis Phanodorm gegeben, um den Alten einzuschläfern. Wenn ich sage ,Dosis’, so meine ich eine tödliche, denn ein Wiedererwachen war nicht vorgesehen.“ Tanew hört mir aufmerksam, aber völlig teilnahmslos zu. Er beginnt zu sprechen, ohne eine Spur von Erregung: „Falls Sie mit dem, was Sie da sagen, den Versuch jener nichtsnutzigen Person meinen, mich ins Unrecht zu setzen, so muß ich Ihnen antworten, daß es sich um weiter nichts als einen niedrigen Racheakt ihrerseits handelt. Nicht genug, daß ich sie bei mir aufnahm, jetzt möchte sie mir einen Strick drehen. Und weil ich sie nicht heiraten werde, will sie mir’s auf jede mögliche Art und Weise heimzahlen. Hielte man jede Verleumdung für einen Beweis…“ „Keine Bange“, unterbreche ich ihn. „Indizien gibt’s mehr als genug. Zum Beispiel Ihre Behauptung, Sie
seien ununterbrochen in Bankja gewesen. Indes wurde die Nummer Ihres PKW, als er in Sofia einfuhr, einige Male aufgeschrieben.“ „Ich hatte ihn meinem Cousin geliehen. Er ist damit nach Sofia gefahren, zur Arbeit.“ „Außerdem wurde Ihr Wagen vor über einem Monat zur Durchsicht gebracht.“ „Ja, so war es mit meinem Cousin abgesprochen.“ „Hm…“, sage ich, was vielerlei bedeuten kann. „Bis jetzt ist die Zahl Ihrer Lügen auf acht angewachsen. Jede Antwort eine Lüge. Aber fahren wir fort. Die Lügen über das Auto habe ich nicht nur von Ihnen gehört. Sie haben sie auch Ihrem Cousin und Iliew eingebläut. Doch damit Sie Bescheid wissen, Mimi ist nicht das einzige Glied, das sich aus Ihrem Konzept gelöst hat. Es gibt ein zweites – Iliew.“ Ich sehe Tanew unverwandt an. Er hält meinem Blick, besonders in so entscheidenden Momenten, eine Weile stand. Dann schlägt er die Augen nieder. Eins zu null für mich, denke ich. „Ich verstehe Sie nicht“, murmelt Tanew und starrt vor sich hin, auf den Tisch. „Sie verstehen ausgezeichnet. Möglicherweise wollen Sie noch nicht alles wahrhaben, dennoch: Trotz der systematischen Einschüchterungen und der Furcht, die Sie Iliew einjagten, hat er aufgegeben; genauer: seinen Fehler korrigiert. Oder noch genauer: er hat ausgepackt. Und wenn so einer erst auspackt, sagt er alles. Da können Sie Gift drauf nehmen.“ „Er kann ausgesagt haben, was er will“, entgegnet
Tanew. „Es sind Hirngespinste, Iliew haßt mich.“ „Eine Menge Leute scheinen Sie zu hassen.“ „Im Gegenteil, eigentlich nur zwei, und Sie haben sie ausfindig gemacht.“ „Sie sind ja gut. Von wegen nur zwei! Zählen wir bloß noch Medarow hinzu, so sind’s schon drei.“ „Medarow und ich hatten immer gute Beziehungen zueinander. Wir haben zusammen gewohnt, zusammen gearbeitet.“ „Weshalb haben Sie ihn dann ermordet?“ Ich hefte meinen Blick auf ihn, aber er schaut nicht hoch, sagt nur dumpf: „Ich habe niemand umgebracht.“ In seiner Stimme kein Erschrecken, keine Verwirrung, kein positives menschliches Gefühl, nur Starrsinn. „Sie haben also weder Medarow noch Kostow getötet?“ Tanew schweigt. „Auch nicht Andreew?“ „Sie können mir alle bekannt gewordenen oder beabsichtigten Morde der letzten Jahrzehnte anhängen, wenn Sie wollen. Ich habe Ihnen schon gesagt: Verleumdungen reichen nicht aus, Beweise sind nötig. Übrigens, das wissen Sie besser als ich.“ „Natürlich“, gebe ich zu. „Und gerade deshalb habe ich mich bemüht, Ihnen eine reiche Auswahl von Indizien zu servieren. Wenn ich heute hier vorbeigekommen bin, so nur deshalb, um meine Indiziensammlung endgültig zu vervollständigen, und nicht, um mir von Ihnen den Kopf mit Ihrem ,Ich verstehe Sie nicht’ vernebeln zu lassen. Außerdem muß ich Ihnen mitteilen, Tanew, daß Sie sich drehen und wenden können, wie Sie wollen, Sie sind bereits überführt.
Tanew grinst verächtlich. „Wenn Sie statt leerer Verleumdungen echte Beweise in der Hand hätten, würden Sie mich auf der Stelle festnehmen.“ „Unter anderem bin ich deshalb auch gekommen, Tanew.“ Er starrt mich ein bißchen verdutzt an, als wolle er prüfen, ob ich es ernst meine. „Jaja“, bestätige ich, „richtig gehört: um Sie festzunehmen. Denn auch das dritte Glied ist aus Ihrem Konzept herausgebrochen – Medarow.“ „Der Tote kann wohl kaum gegen mich ausgesagt haben.“ Tanew lächelt schief. Er hat seine Ruhe wiedergefunden. „Doch, entgegen der Maxime, daß Tote nicht reden, hat Medarow gesprochen, hier ist seine Aussage!“ Bei diesen Worten ziehe ich mit der Linken ein braunes Notizbuch aus meiner Rocktasche und zeige es Tanew. Für den Bruchteil einer Sekunde ist er hochgradig erregt und bereit, über mich herzufallen. Dann läßt er sich wieder auf seinen Stuhl fallen und stiert den Tisch an. „Sicherlich erinnern Sie sich, was diese ,Re1iquie’ enthält“, sage ich und stecke das Notizbuch wieder in die Tasche. „Unter anderem die Namen der Agenten, die Sie für die Gestapo angeworben haben, sowie die Höhe der Beträge, die Sie dafür erhielten. Alles ist belegt, mit Ihrer eigenen Handschrift.“ Tanews brünettes Gesicht ist noch dunkler geworden. „Allein dieses Beweisstück reicht aus für ein Todesurteil. Fälle von Kollaboration mit der Gestapo gehören al-
lerdings nicht in mein Ressort, damit werden sich andere beschäftigen. Ich muß mich deshalb darauf beschränken, Sie jetzt erst einmal wegen Mord an Iwan Medarow festzunehmen.“ „Aber ich habe ihn nicht umgebracht“, sagt Tanew trocken. „Ich bin sogar in der Lage, ein einwandfreies Alibi für die Zeit zu erbringen, in der Medarow umgebracht worden ist. Sie müssen mir nur sagen, wann es überhaupt geschah, ich weiß es nicht einmal.“ „In dieser Angelegenheit sind Sie der bestinformierte Mann der Welt, obwohl ich inzwischen auch einiges weiß. Was Ihr Alibi betrifft, so erwarten Sie also nicht, daß ich vor Überraschung vom Stuhl falle. Wenn jemand vorsätzlich einen Mord begeht, kalkuliert er gewöhnlich auch das ein, jedenfalls ist mir bisher selten jemand ohne lückenloses Alibi begegnet. Und überhaupt: Auch die Aussage jenes ehemaligen Spekulanten, der noch dazu Ihr Cousin ist, ist keinen Heller wert.“ „Ich habe Medarow nicht umgebracht“, wiederholt Tanew hartnäckig. „Doch. Und die letzten Beweise für den Mord haben Sie mir selbst vor einer Weile geliefert, ohne es zu merken. Trotz Ihres grenzenlosen Selbstgefühls sind Sie nämlich keine Leuchte der Weisheit. Sie haben gegen Ende des Krieges ein scheußliches Verbrechen begangen, das bis vor kurzem nicht aufgedeckt war, und da haben Sie geglaubt, daß Sie nicht gefaßt werden. Bis heute haben Sie sich nun auch noch eingebildet, mit dem Mord an Medarow Ihr zweites Meister-
stück gedreht zu haben. Sie verließen Sofia, um jeglichen Verdacht auszuschließen und damit Medarow Sie nicht aufspüren konnte, dem Sie einen beträchtlichen Teil des Gestohlenen schuldeten. Gleichzeitig standen Sie mit Mimi und Iliew in Verbindung, um jeden Schritt Medarows zu überwachen. Sie zwangen Iliew, Medarow bei sich aufzunehmen, damit Sie den Alten unter Ihre Kontrolle bringen konnten. Und Medarow handelte dümmer als Sie. Kann sein, ich bin ungerecht. Und Sie handelten nach Ihrer Vorstellung durchaus nicht dumm. Doch was sie beide unternahmen, entsprach einfach nicht mehr unserer Zeit, war geboren aus überholten Reflexen, hatte in einer anderen Umgebung Gestalt angenommen. Wie zwei hungrige Löwen, die in ein Vegetarierrestaurant geraten sind, haben Sie beide versucht, Ihre Jagd fortzusetzen, ohne zu bemerken, daß die Situation sich verändert hatte und Sie nicht mehr zum Zuge kamen. Sie und Medarow sind zwei Aasgeier aus der Vergangenheit, wie sich eine meiner Bekannten aus Künstlerkreisen einmal ausdrückte, die sich gegenseitig umbringen wollen. Ihre eigenen Kräfte reichten allerdings nicht aus, und ringsum niemand, der sie unterstützen wollte. Medarow versuchte, bei dem jungen Andreew Hilfe zu finden, aber der ist kein Mann Ihres Schlages. Sie wiederum stützen sich auf Mimi und Iliew; selbst die etwas leichtsinnige Apothekerin war nicht geneigt, zum Werkzeug für Ihre verbrecherischen Machenschaften zu werden. Iliew gehört auch nicht zu Ihresgleichen, und wenn er Ihnen kleine Gefälligkeiten erwies, so nur
deshalb, weil Sie ihn bis auf den Tod eingeschüchtert hatten. Wer unter dem Zwang von Furcht handelt, ist stets ein unsicherer Kantonist, das war Ihnen klar, deshalb waren Sie und Medarow gezwungen, wie zwei Einsiedler zu handeln, isoliert, jeder auf seine eigenen Kräfte vertrauend, die bei weitem nicht dem Grad Ihrer verbrecherischen Bösartigkeit und Habgier entsprachen. Und als Sie, Tanew, schließlich von Iliew erfuhren, daß sich Ihr Notizbuch mit den Beweisen Ihrer Tätigkeit für die Gestapo in Medarows Händen befand, mußten Sie, um Ihren Plan auszuführen, selbst handeln, sozusagen mit bloßen Händen. Als erstes legten Sie einen Treff mit Medarow hier in diesem Zimmer fest…“ Ich schweige einen Moment, wegen des dramatischen Effekts. Stumm, mit innerer Anspannung, hört Tanew zu, die Augen starr auf den Tisch gerichtet. Kritisch betrachte ich unterdessen die Zimmereinrichtung. Eigentlich keine schlechte Auswahl. Sah man von einigem alten Plunder ab, so war der Raum recht gemütlich. Und das Wichtigste, er lag isoliert. Von draußen deutete nichts darauf hin, daß sich hier zwei alte Freunde treffen könnten, um „Erinnerungen“ auszutauschen. „Sie, Tanew, sorgten auch für das bevorstehende Zusammentreffen mit Medarow. Auf der Fahrt von Bankja nach Sofia hielten Sie an und kauften eine Flasche Mastika, weil Sie wußten, daß Medarow nur diese Marke trank. Damit machten Sie aber schon einen winzigen Fehler, der sich später in ein wesentliches Indiz gegen Sie verwandelte. Erstens, weil ein Verkehrspoli-
zist die Nummer Ihres Wagens notierte, der vor einer Gaststätte parkte. Und als der Polizist, um festzustellen, ob der Fahrer des Wagens Alkohol trinkt, das Lokal betrat, bezahlten Sie gerade die Flasche. Sie wurden also beim Kauf beobachtet. Zweitens: Als ich einen Mastika verlangte, entgegneten Sie, weder hätten Sie Mastika im Hause noch tränken Sie welchen. Wo ist also die legendäre Flasche geblieben?“ „Bei Mimi…“ „Noch eine Lüge, ich weiß nicht, die wievielte“, bemerke ich. „Vor einer Weile behaupteten Sie, daß Sie Mimi überhaupt nicht gesehen haben und auch nicht in Sofia gewesen sind… Jetzt stellt sich heraus, Sie haben ihr sogar Alkohol gebracht. Leider mag Mimi auch keinen Mastika. Ich möchte also von Ihnen wissen, ob überhaupt jemand dieses Gesöff zu sich nimmt, ausgenommen der Tote. Also trifft Medarow zur verabredeten Stunde hier ein. Er interessiert sich natürlich für die Goldmünzen, die Sie beide damals versteckt haben, Sie wiederum sind hinter dem Notizbuch her. Der Handel könnte perfekt werden… Aber nicht zwischen zwei Räubern, von denen jeder im voraus beschlossen hatte, zu nehmen ohne zu geben. Sie wollen von Medarow das Notizbuch mit der festen Absicht, den Alten zu liquidieren, sobald Sie das kompromittierende Dokument erhalten haben. Ihr einstiger Komplize Medarow jedoch kennt Sie gut genug und hat sich ebenfalls präpariert. Er warnt Sie, sagt, daß er nicht allein sei, Leute hinter sich habe, die wissen, mit wem er zu dieser Stunde zusammen sei, und daß sich das Notizbuch bei
einer dieser Personen in Verwahrung befinde. Um überzeugender zu wirken, erwähnt er sogar den Namen des Betreffenden – Andreew. Sie allerdings kennen Medarows sprichwörtlichen Argwohn und glauben kein Wort. In diesem Moment hören Sie ein verdächtiges Geräusch oder so was Ähnliches und begeben sich hinaus, auf die Treppe, um das Mordinstrument in Aktion zu setzen. Das geschieht in weniger als einer Minute. Sie nehmen den Lichtschalter heraus, so daß die beiden nichtisolierten Enden der Leitung wie zwei kleine Schlangen herausgucken, bereit zum tödlichen Biß. Dann kehren Sie ins Zimmer zurück, um Medarow zu beruhigen: keine Gefahr. In Wirklichkeit ist sie bereits installiert. Es folgt die endgültige Vereinbarung, von beiden Seiten geheuchelt. Sie versprechen Medarow, ihm einen bestimmten Teil des versteckten Geldes zu geben, sobald er Ihnen das Heft aushändigt. Medarow ist einverstanden, hat allerdings insgeheim beschlossen, Sie bei dem bevorstehenden Treff Andreew gegenüberzustellen, damit Sie sich beide in die Haare kriegen, während er unterdessen das Geld in Sicherheit bringt, ohne das Beweisstück herauszugeben, durch das Sie weiter in seiner Hand sind. Die Fallen, die Sie sich gegenseitig stellen, sind ungefähr gleichwertig, aber Sie haben Zeitvorsprung. Sie verabschieden sich, Medarow verläßt das Zimmer. Sie zeigen ihm geflissentlich noch den Lichtschalter, und eine Weile später ist Ihr Gegner bereits ein toter Mann. Das schwache Herz des Alten, der Zementfußboden, womöglich noch angefeuchtet, all das macht die Ope-
ration noch sicherer. Bestimmt waren Sie von Ihrem Erfolg berauscht…“ „Sie phantasieren“, murmelt Tanew verächtlich, ohne mich eines Blickes zu würdigen. „Ihr Rausch ist sicherlich schnell vergangen, als Sie den toten Medarow sorgfältig durchsuchten und feststellten, daß er das schicksalhafte Dokument tatsächlich nicht bei sich hatte. Nun beginnt der zweite Akt des von Ihnen verfaßten und aufgeführten Schauspiels: Vertuschung des Verbrechens. Sie versuchen, Ihrem Opfer Mastika einzuflößen, um Trunkenheit vorzutäuschen. Der größte Teil davon läuft über die Kleider, aber das verwirrt Sie nicht weiter. Sie verfrachten Medarow in den Wagen und decken ihn zu. Dann begeben Sie sich zu Iliew, weil jetzt Ihre einzige Hoffnung darin besteht, das Notizbuch in der Wohnung des Verstorbenen zu finden. Sie zwingen Iliew, Medarows Zimmer aufzuschließen, und durchsuchen alles, denn Sie fürchten, jemand könnte zufällig die Leiche in Ihrem Wagen finden. Die schnelle Durchsuchung ist für Sie halb Enttäuschung, halb Hoffnung: Das Gesuchte finden Sie nicht, nehmen dafür Medarows verschlossene Kassette mit, die vielleicht das begehrte Stück enthalten konnte. Später, als Sie die Kassette öffnen, deren Schlüssel Sie aus der Tasche des Alten genommen haben, überzeugen Sie sich natürlich, daß Ihre Hoffnung umsonst war. Sie können sich denken, daß sich das Notizbuch früher einmal darin befand. Lange Zeit, fast zwanzig Jahre, lag es in dem Kästchen, bloß ein paar hundert Meter von Ihrem Haus entfernt, in der Woh-
nung von Frau Sirakowa, Medarows Schwester. Immer sucht man an der falschen Stelle. Der weitere Saldo von der Durchsuchung bei Medarow ist ein neues Indiz gegen Sie, weil Iliew darüber genaue Angaben gemacht hat…“ „Angaben? Verleumdungen…“, stößt Tanew hervor. „Und nachdem Sie Medarows Zimmer von unten nach oben gekehrt haben, nehmen Sie sich des Verstorbenen an. Sie fahren mit dem Auto in eine abgelegene Straße, unweit von Iliews Haus, in die Krainastraße, extra ausgewählt wegen ihrer ,günstigen’ Lage, abseits vom Verkehr, und wegen der zu beiden Seiten stehenden blinden Lagermauern. Sie legen die Leiche so auf den Bürgersteig, als hätte der angetrunkene Medarow einen Herzschlag bekommen, auf dem Nachhauseweg. Dann bringen Sie den Wagen wieder hierher, reißen die extra für das Attentat installierten Elektrodrähte heraus, montieren auch den Bakelitschalter ab, nehmen die Mastikaflasche an sich, und nachdem alle Spuren beseitigt sind, begeben Sie sich rasch nach Bankja, um zu überprüfen, was Ihnen der Tote in der Kassette hinterlassen hat.“ Tanew schweigt, hört aber aufmerksam zu. Damit seine Anspannung noch wächst, hole ich erneut meine Zigaretten hervor und wiederhole das Anzünden mit einer Hand. Genießerisch nehme ich zwei Züge zu mir und fahre fort: „In diesem zweiten Teil des Spektakulums gestatten Sie sich allerdings einen fatalen Fehler: Beim Beseitigen gewisser Spuren hinterlassen Sie in der Eile neue. Beim An- und Abmontieren des Schalters haben Sie an einigen Stellen die Wand zer-
kratzt, was auch ohne Lupe zu erkennen ist. Aber dieser Fehler ist noch gering im Vergleich zu Ihrer folgenden Dummheit. Als Sie nämlich das Notizbuch nicht in der Kassette finden, wird Ihnen klar, Medarow hat es wirklich Andreew gegeben. Ihre Vermutung stimmt. Bevor Sie zur Tat schreiten, besuchen Sie Iliew, um für alle Fälle in Erfahrung zu bringen, ob Medarows Tod bei den Staatsorganen etwaige Zweifel hervorgerufen hat. Beiläufig, Ihr Fliederparfüm ist abscheulich. Ich war kurz nach Ihnen bei Iliew und wäre davon fast ohnmächtig geworden. Hier in diesem windschiefen Bau riecht es ebenfalls fürchterlich danach. Wenn Sie am Mordabend auf die Idee gekommen wären, ein oder zwei Fläschchen dieses Parfüms hier zu verschütten, hätte Medarow bestimmt auch ohne elektrischen Strom sein Leben ausgehaucht. Doch was gewesen, ist gewesen. Deshalb sind Sie nach Ihrem Besuch bei Iliew fest überzeugt, Ihr Verbrechen sei unentdeckt geblieben. Nun machen Sie sich schnurstracks an die Verwirklichung der geplanten neuen Torheit. Sie durchsuchen Andreews Wohnung, den Sie vorher, mit Hilfe einer fiktiven Verabredung, weggelotst haben. In Ihrer Unfehlbarkeitsmanie kalkulieren Sie nicht mal ein, daß jemand den Unglücksfall ,Medarow’ mit Ihrer .Durchsuchung’ bei Andreew in Verbindung bringen könnte. Da Sie Medarows Verschlossenheit kennen, waren Sie überzeugt, Andreew hätte keine Ahnung von der Bedeutung des Gegenstandes, den ihm der Alte zur Aufbewahrung gegeben hat. Folglich würde Andreew, wäre das Heftchen plötzlich verschwunden, nicht zur
Miliz gehen und die Durchsuchung als einen vulgären Diebstahl ansehen, zumal aus der Wohnung auch Geld und Sachen mitgenommen wurden. Zu Ihrem Unglück war aber sowohl Andreew als auch der Miliz inzwischen bereits bekannt, wer sich für das Notizbuch interessiert. Und dann, wenn jemand einen Diebstahl inszeniert, der glaubwürdig sein soll, muß er zumindest die elementarsten Kenntnisse darüber besitzen. Sie haben sich zwar Ihr Leben lang vom Diebstahl ernährt, aber er war anderer Natur. Die kleinen Diebe, Tanew, suchen nicht in den Mäuselöchern, wie Sie es getan haben, weil sie nicht gerade ein Notizbuch suchen…“ „Sie phantasieren, haben keinerlei Beweise.“ „Ihr Einschätzungsvermögen scheint gelitten zu haben“, fahre ich herablassend fort. „Was ich Ihnen erzählt habe, enthält dreimal soviel Indizien, wie nötig sind, um mit Ihnen kurzen Prozeß zu machen.“ „Hätten Sie wirklich genügend Beweismaterial, würden Sie nicht so lange reden. Sie wollen mir bloß so etwas wie ein Geständnis entlocken.“ „Da gibt’s nichts mehr zu entlocken“, sage ich. „Mir ist alles, was Sie noch hinzufügen könnten, bereits bekannt.“ „Ich weiß ganz genau, was Sie von mir erwarten“, murmelt Tanew und verzieht seinen Mund zu einem schiefen Grinsen. „Falsch gedacht, Tanew. Weil sich Ihre Gedanken ein Leben lang nur um Gold gedreht haben, bilden Sie sich ein, ich plaudere hier mit Ihnen, damit ich herausbekomme, wo Sie Ihr Geld versteckt haben… Auch ohne
Ihr Geständnis wird sich das Geld anfinden, es ist allerdings das Unwesentlichste in dieser Geschichte.“ „Sie wollen mir doch nicht weismachen, der Tod von Medarow, den Sie bis vor kurzem im Gefängnis festhielten, wäre für Sie das Wichtigste“, sagt Tanew und verzieht wieder das Gesicht. „Wenn Sie sachlich mit mir reden möchten, dann bitte offen. Ich bin ebenfalls ein nüchterner Mensch. Sagen Sie, was Sie wollen und was Sie mir dafür anzubieten haben. Wir können uns darüber auch einigen, ohne daß Sie mir Mitleid mit Medarow vorspielen.“ Ich hebe die Pistole, als betrachte ich sie, umfasse wieder ihr Griffstück und sage leise: „Auch diesmal nicht begriffen, Tanew! Für die Beleidigung müßte ich Ihnen mit diesem Stück Eisen eins über den Kopf geben, aber Sie können mich gar nicht beleidigen. Was jedoch Medarow betrifft, so gäbe ich in der Tat keinen Heller für ihn. Dennoch. Wird jemand ermordet, sei’s auch einer vom Schlage eines Tanew oder Medarow, ist es meine Pflicht, den Mörder zu finden. Wenn ich mich jetzt mit Ihnen unterhalte, dann weder um aus Ihnen herauszubekommen, wo Sie das Geld versteckt haben, noch um Sie zur Bestechung zu zwingen, noch Sie allein für Medarows Tod der gerechten Strafe zuzuführen. Sie vergaßen allerdings den Tod eines anderen Menschen, den Sie in jener Nacht vom siebenten September neunzehnhundertvierundvierzig grundlos erschossen haben und auf den zu Hause eine junge Frau und ein kleines Kind warteten. Wegen des Mordes an diesem Manne habe ich Ihnen alle Ihre Verbrechen ins Gedächtnis gerufen,
damit Sie vor Angst erstarren und sich langsam mit dem Gedanken an das vertraut machen, was Sie erwartet. Und zum Trost singe ich Ihnen was vor. Kennst du das Lied von Katjuscha?“ Tanews Gesicht verfärbt sich. Mit heiserer und, wie ich hoffe, nicht ganz falscher Stimme fange ich an: „Leuchtend prangten ringsum Apfelblüten. Still vom Fluß zog Nebel noch ins Land…“ Da springt Tanew plötzlich hoch, stößt den Tisch um und reißt die Tür auf, während ich ruhig weitersinge: „Durch die Wiesen kam hurtig Katjuscha…“ An der Tür ein Milizionär mit Maschinenpistole. Tanew sieht sich um, wie ein wildes Tier in der Falle, kommt ins Zimmer zurück, zieht etwas aus der Tasche und versucht, es in den Mund zu stecken. Ich bin aber schon hinzugesprungen und schlage es ihm aus der Hand. Mit einem vorwurfsvollen Blick beende ich mein Lied: „Zu des Flusses steiler Uferwand.“ Dann sehe ich mir die kleine Ampulle mit der durchsichtigen Flüssigkeit an, stecke sie ein. „So einfach kommen Sie nicht davon, Tanew. Solche wie Sie haben kein Recht auf einen Tod ohne Formalitäten.“ Ich übergebe ihn dem Milizionär. Damit bin ich wieder frei, auf Zeit natürlich nur. Schade, daß morgen nicht Neujahr ist. Ich setze den Hut auf, etwas weiter nach hinten diesmal, denn im Moment bin ich ja aller Sorgen ledig, und begebe mich hinaus. Das alte Haus blickt mich mit sei-
nen zugenagelten Fenstern feindselig an. Ich reagiere nicht, kehre ihm den Rücken. Der Regen hat nachgelassen. Ich nehme die Losenezer Anhöhe, schaue auf die Stadt unter mir. Die kleine Stadt unserer Jugendjahre, gekrönt vom kahlen Schädel der AlexanderNewski-Kathedrale, hat sich in eine unermeßliche Ebene von Dächern verwandelt. Hie und da ragen die weißen Fassaden der neuen Hochhäuser heraus, blinken rote fünfzackige Sterne. In der Ferne rauchende Fabrikschlote. Eine ganze Welt. Eine friedliche, humane Welt, eingebettet zwischen den Erhebungen der Gebirge. „Meine Stadt“ – wie manche Dichter sagen. Weshalb aber deine und nicht zum Beispiel meine? Na schön, „unsere Stadt“, damit wir uns nicht mißverstehen. Ich werfe noch einen Blick auf unsere Stadt und steige hinunter. Und nun die Hochzeit. Ein schöner Epilog für eine düstere Ermittlungsgeschichte, bei der sich alles zum Guten fügt. Ich beobachte, wie sich Wera und Andreew vor den Tisch der Standesbeamtin postieren, höre mit halbem Ohr die „traditionellen Worte auf den Weg“ und zucke mit den Augen beim Blitzen des Fotografen, der in der Ecke auf die rührenden Augenblicke wartet. Alles gut und schön, nur, was habe ich hier, in diesem Idyll, zu suchen? Ich habe keine Zeit, meine Tante zu besuchen, keine Zeit für meine eigene Hochzeit, und jetzt treibe ich mich auf fremden Hochzeiten herum. Wie paradox ist doch das Leben, könnte jemand sagen.
Meine Gedanken werden von Mimi unterbrochen, die mich zu dem Tisch mit rotem Tuch schiebt. Ich habe nämlich vergessen, daß ich Trauzeuge bin. Doch ganz gut, ich werde Erfahrungen sammeln für das Ereignis, das mir zu Neujahr bevorsteht. Die bescheidene Zeremonie ist zu Ende. Der Fotograf macht den Anwesenden vielsagende Zeichen, mit beiden Händen, damit sie dichter zusammenrücken. „Und jetzt ein Gruppenbild.“ Es blitzt in dem Augenblick, als ich mein Gesicht verdecke, mit meinem alten, treuen Hut. Ich habe die Hand zum Gruß erhoben, das genügt. Auf dem Bild wird ein Gesicht fehlen. Details sind überflüssig. Ich tue das nicht in meinem eigenen Namen, sondern im Namen des Gesetzes. Wenn Sie genauer hinschauen, werden Sie mich an der Kopfbedeckung erkennen. Einen so schönen unmodernen Deckel trägt nur Ihr ergebener Peter Antonow.