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ANDREW BLAKE sah aus wie ein Mensch ... Die Besatzung eines Raumschiffs fand ihn hilflos im All treibend in einer Rettungskapsel. Die Retter erweckten ihn aus jahrhundertelangem Kälteschlaf und brachten ihn zur Erde zurück. Noch weiß niemand, wer oder was Andrew Blake wirklich ist – auch Blake selbst nicht, denn er hat sein Gedächtnis verloren. Nachforschungen werden angestellt, und Blake beginnt sich zu erinnern. Unheimliche Veränderungen gehen in ihm vor – und die Menschen fürchten Blake, als die Wahrheit bekannt wird: Andrew Blake ist kein Mensch. Andrew Blake ist ein Produkt des Geheimprojekts Werwolf.
CLIFFORD D. SIMAK
MANN AUS DER RETORTE Utopischer Roman
Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE-BUCH Nr. 3126 im Wilhelm Heyne Verlag, München
Titel der amerikanischen Originalausgabe THE WEREWOLF PRINCIPLE Deutsche Übersetzung von Wulf H. Bergner
Copyright © 1967 by Clifford D. Simak Printed in Germany 1968 Umschlag: Atelier Heinrichs & Bachmann, München Gesamtherstellung: Verlagsdruckerei Freisinger Tagblatt, Dr. Franz Paul Datterer oHG., Freising
1 Das Lebewesen blieb tief zu Boden geduckt stehen und starrte die winzigen Lichtpunkte an, die vor ihm in der Dunkelheit aufleuchte ten. Es winselte erschrocken und unsicher. Die Welt war zu heiß und zu naß, und die Dunkelheit war fast undurchdringlich. Die At mosphäre befand sich in heftiger Bewegung, so daß die viel zu große Vegetation ächzte und schwankte. Irgendwo weit in der Ferne flamm te für kurze Zeit Licht auf, das die Umgebung jedoch kaum erhellte; wenig später folgte ein dumpfes Grollen. Und hier gab es Leben, viel mehr Leben als einem Planeten zustand – aber fast ausschließlich niedrigste Lebensformen, die nur schwach auf äußere Reize reagierten. Vielleicht, so überlegte das Wesen sich, hätte es nicht so verzweifelte Ausbruchsversuche unternehmen sollen. Vielleicht hätte es mit dem Leben an diesem unbekannten Ort zufrie den sein sollen, an dem es weder eine selbstän dige Existenz noch die Erinnerung daran gab, sondern nur das unerklärliche Wissen, daß dieser Zustand möglich war. Dieses Wissen und andere bruchstückhafte Informationen
hatten dazu beigetragen, die Flucht erstrebens wert zu machen, denn nur in der Freiheit konnte es ein Eigenleben führen und vielleicht erfahren, warum es hier war und wie es hier hergekommen war. Und nun? Es duckte sich und winselte. Wie konnte es soviel Wasser auf einmal ge ben? Und so viele Pflanzen und diesen Aufruhr der Naturgewalten? Wie konnte ein Planet so wirr und ungeordnet sein? Es war einfach nicht richtig, daß es hier Wasser in derartigen Mengen gab, daß es in Strömen über die Erde floß oder Pfützen und Lachen bildete. Und nicht nur das, sondern es war sogar in der At mosphäre vorhanden, und der Wind trieb große Wassertropfen vor sich her. Was hatte dieses Gewand zu bedeuten, das an seiner Kehle befestigt war und über den Boden schleifte? Sollte es vor den Unbilden der Witte rung schützen? Das war unwahrscheinlich, denn das Lebewesen hatte früher nie einen Schutz benötigt. Sein silbergrauer Pelz genügte für diesen Zweck. Früher? fragte es sich. Es erinnerte sich un deutlich an eine durchsichtig klare Landschaft mit trockener Luft, Schneestaub und Sand, an einen Himmel voller Sterne und an Nächte, in
denen das Land im goldenen Schein der Mon de lag. Und es glaubte sich an das Verlangen zu erinnern, zu den Sternen vorzudringen und ihre Geheimnisse zu enträtseln. Aber war das eine Erinnerung – oder nur ein phantastischer Traum? Das Lebewesen wußte es nicht. Es streckte zwei Arme aus, raffte das Gewand zusammen und hielt es an sich gedrückt. Was ser tropfte daraus zu Boden und platschte in die Wasserlachen, die sich dort gebildet hat ten. Diese Lichtpunkte dort vorn? Jedenfalls kei ne Sterne, denn sie waren zu dicht am Boden, und außerdem leuchteten in dieser Nacht kei ne Sterne. Schon das war unvorstellbar, denn es hatte immer Sterne gegeben. Das Lebewesen spürte dem Lichtschein vor sichtig nach und stellte fest, daß im Hinter grund noch etwas anderes zu erkennen war – ein Mineral in so regelmäßiger Form, daß es sich nicht um eine natürliche Gesteinsformati on handeln konnte. Weit in der Ferne zuckte es wieder hell über den Himmel, dann folgte erneut das Rumpeln und Grollen. Sollte es weiterschleichen und die Lichter umkreisen? Sollte es sie aus der Nähe erkun
den? Oder sollte es in entgegengesetzter Rich tung davonlaufen, um die Leere zu suchen, aus der es entkommen war? Allerdings war schlecht zu beurteilen, wo dieser Ort lag. Als es ausgebrochen war, hatte es den Ort nicht mehr gesehen, und seit dem Ausbruch war es weit umhergeirrt. Und wo waren jetzt die beiden anderen, die sich ebenfalls an diesem Ort aufgehalten hat ten? Waren sie ebenfalls ausgebrochen – oder waren sie zurückgeblieben, weil sie gespürt hatten, wie erschreckend fremdartig hier draußen alles war? Wo mochten sie jetzt sein? – Wer mochten sie sein? Warum hatten sie nicht geantwortet? Oder hatten sie die Frage nicht gehört? Eigentlich merkwürdig, überlegte sich das Lebewesen, daß man seine Existenz mit zwei anderen We sen teilte, ohne sich mit ihnen verständigen zu können. Es zitterte innerlich, obwohl die Nacht warm war. Nein, es konnte nicht hierbleiben. Es konnte aber auch nicht ewig wandern. Es mußte einen Unterschlupf finden. Allerdings wußte es noch nicht, wie ein Unterschlupf auf diesem ver rückten Planeten aussehen würde. Die Lichter? fragte es sich. Sollte es die Lich
ter untersuchen oder ...? Der Himmel schien zu explodieren. Die Welt stand in bläulichen Flammen. Das Wesen duckte sich erschrocken und wollte in seiner Verwirrung einen durchdringenden Schrei ausstoßen. Aber der Schrei brach ab, das Licht erlosch plötzlich.
2 Regen klatschte Andrew Blake ins Gesicht, und der Boden unter seinen Füßen schien leicht zu schwanken, während unmittelbar über ihm der Donner verklang. Es roch deut lich nach Ozon, und er spürte kalten Schlamm zwischen seinen Zehen. Was hatte er hier zu suchen – mitten im Ge witter, ohne entsprechende Kleidung, ohne Sandalen und mit völlig durchnäßtem Gewand. Er war nach dem Abendessen vors Haus ge treten, um einen Blick auf die Gewitterwolken zu werfen, die von Westen heranzogen – und eine Sekunde später stand er bereits in diesem Gewitter. Der Wind pfiff durch die Bäume, und Blake hörte irgendwo vor sich Wasser talabwärts strömen. Jenseits des Baches schien Licht aus Fenstern. Mein Haus? fragte er sich verwirrt. Aber in der Umgebung seines Hauses gab es weder Hü gel noch einen Bach. Dort gab es auch weniger Bäume, und er hätte andere Häuser sehen müssen. Der Regen, der für kurze Zeit nachgelassen hatte, klatschte ihm jetzt wieder ins Gesicht.
Blake wandte sich dem Haus zu. Bestimmt nicht seines, aber immerhin ein Haus, in dem ihm jemand erklären konnte, wo er sich be fand und ... Unsinn! Vor einer Sekunde war er noch zu Hause gewesen. Das Gewitter war heraufgezo gen, aber es hatte nicht geregnet. Offenbar träumte er. Oder er litt unter Hallu zinationen. Aber der strömende Regen wirkte echt, und es roch deutlich nach Ozon. Wie soll te das in einem Traum möglich sein? Er setzte sich in Bewegung, ging auf das Haus zu und stieß sich den rechten Fuß an einem Stein an. Als er vor Schmerz auf dem linken Bein herumhüpfte, rutschte er aus und saß plötzlich im Schlamm. Jetzt wußte er, daß er nicht träumte. Im Traum wäre er nicht so dumm gewesen, sich den Zeh anzustoßen. Irgend etwas war geschehen. Irgend etwas hatte ihn in Sekundenschnelle hierherge bracht, wo ein nächtliches Gewitter tobte. Bla ke richtete sich langsam auf und belastete den verletzten Fuß. Er konnte einigermaßen gehen, wenn er nur mit der Ferse auftrat. Er stolperte und rutschte hügelabwärts, durchquerte den Bach, dessen Wasser ihm bis zu den Knöcheln reichte, und stieg dann zu
dem Haus hinauf. Wetterleuchten erhellte den Horizont, und Blake sah einen Augenblick lang das massive Gebäude mit schweren Kaminen und kleinen Fenstern. Ein Steinhaus, dachte er überrascht. Ein Ana chronismus! Ein bewohntes Steinhaus ... Er stieß gegen einen Zaun, verletzte sich je doch nicht, da er nur langsam ging. Er tastete sich daran weiter und erreichte ein Tor. Zehn Meter vor ihm zeigte ein schwacher Licht schein an, wo sich die Tür befinden mußte. Er spürte Steinplatten unter den Füßen und folgte ihnen. In der Nähe der Tür ging er noch langsamer. Vielleicht begannen hier Stufen, und er wollte sich seinen verletzten Zeh nicht ein zweitesmal anstoßen. Vier Stufen führten zur Tür hinauf. Er blieb unentschlossen stehen und suchte vergebens nach dem Klingelknopf. Dann suchte er weiter und fand einen Türklopfer. Einen Türklopfer? Natürlich – zu einem Haus dieser Art gehörte ein Türklopfer. Zu einem Haus in der Vergangenheit ... Er hatte plötzlich Angst. War er etwa nicht durch den Raum, sondern durch die Zeit trans portiert worden? Er betätigte den Türklopfer. Er wartete. An
scheinend war er nicht gehört worden. Er griff nochmals nach dem Klopfer. Hinter ihm wurden Schritte hörbar, dann flammte ein Lichtstrahl auf und hielt ihn ge fangen. Blake drehte sich danach um, und das Licht blendete ihn. Er glaubte die schemenhaf ten Umrisse eines Mannes zu erkennen – ein dunklerer Schatten vor dem nachtdunklen Hintergrund. Dann wurde die Tür von innen aufgerissen. Aus dem Haus fiel Licht, und Blake sah jetzt einen Mann mit Kilt, Schafspelz und einem Metallgegenstand in der rechten Hand, den Blake für eine Pistole hielt. »Was geht hier vor?« fragte der Mann scharf, der die Tür geöffnet hatte. »Der Kerl hier wollte ins Haus eindringen, Senator«, antwortete der Mann mit der Ta schenlampe. »Er muß sich irgendwie an mir vorbeigeschlichen haben.« »Du hast ihn nicht gesehen«, sagte der Sena tor, »weil du dich untergestellt hattest, um nicht naß zu werden. Wenn ihr schon Leib wächter spielen müßt, könntet ihr wenigstens aufpassen.« »Es war stockfinster«, wandte der Mann ein, »und er ist geschlichen ...« »Das bezweifle ich«, meinte der Senator. »Er
ist zur Tür gegangen und hat geklopft. Hätte er sich einschleichen wollen, hätte er nicht ge klopft. Er ist als ganz normaler Besucher ge kommen, und du hast ihn nicht gesehen.« Blake drehte sich langsam nach dem Mann auf der Schwelle um. »Tut mir leid, Sir«, sagte er. »Das habe ich nicht gewußt. Ich wollte kein Aufsehen erre gen. Ich habe nur das Haus gesehen ...« »Und das ist noch nicht alles, Senator«, un terbrach ihn der Leibwächter. »Heute nacht geht es wirklich verrückt zu. Vor einigen Minu ten habe ich einen Wolf gesehen ...« »Hier gibt es keine Wölfe«, stellte der Senator fest. »Schon seit Jahrhunderten nicht mehr.« »Aber ich habe einen gesehen«, beteuerte der andere. »Drüben auf dem Hügel. Es hat ge blitzt, und ich habe deutlich einen Wolf er kannt.« »Tut mir leid, daß Sie wegen dieses Unsinns im Regen stehen müssen«, sagte der Senator zu Blake. »Das Wetter ist wirklich scheußlich.« »Ich muß mich verirrt haben«, erklärte Blake ihm und bemühte sich, nicht mit den Zähnen zu klappern. »Wenn Sie mir sagen, wo ich bin, und mir den Weg zeigen ...« »Mach endlich die Lampe aus«, befahl der Se nator dem Leibwächter, »und geh auf deinen
Posten zurück.« Die Lampe erlosch. »Ausgerechnet Wölfe!« murmelte der Sena tor irritiert. Zu Blake sagte er: »Wollen Sie nicht herein kommen, damit ich die Tür zumachen kann?« Blake trat über die Schwelle, und der Senator schloß die Tür. Blake sah sich um. Er stand in einer geräumi gen Diele. Rechts und links von ihm waren Tü ren in die Wände eingelassen; vor ihm öffnete sich ein gewölbter Durchgang. Dahinter sah er einen riesigen Kamin, in dem ein großes Feuer brannte. Der Raum war mit alten Möbeln ein gerichtet, deren Polster in bunten Farben leuchteten. Der Senator betrachtete ihn nachdenklich von Kopf bis Fuß. »Ich heiße Andrew Blake«, sagte Blake, »und ich mache Ihren Fußboden schmutzig, fürchte ich.« Sein Gewand tropfte, so daß kleine Pfützen auf dem Boden entstanden, und mehrere nasse Fußabdrücke führten vor der Tür in die Diele. Der Senator war groß und hager, mit kurzge schnittenem weißem Haar und grauem Schnurrbart, unter dem ein energischer Mund lag. Er trug eine weiße Robe, deren unterer
Rand ornamental bestickt war. »Sie sehen wie eine nasse Kanalratte aus«, sagte der Senator, »wenn sie den Ausdruck entschuldigen wollen. Und Sie haben Ihre San dalen verloren.« Er drehte sich um und öffnete eine der Türen in der Diele, die zu dem eingebauten Kleider schrank führte. Er suchte darin herum und zog eine dicke braune Robe heraus. »Hier«, sagte er und gab sie Blake. »Das müß te genügen. Echte Wolle. Ich nehme an, daß Ih nen kalt ist.« »Nicht sehr«, log Blake, der das Zähneklap pern kaum noch unterdrücken konnte. »Wolle wärmt Sie wieder«, versicherte ihm der Senator. »Sie ist heutzutage selten gewor den. Man sieht fast nur noch Kunstfasern. Ich bekomme sie von einem verrückten alten Mann, der in den Hügeln von Schottland haust. Wir denken in vieler Beziehung ähnlich – wir sind davon überzeugt, daß es sinnvoll ist, die alten Realitäten nicht als überholt abzutun.« »Sie haben bestimmt recht«, sagte Blake. »Nehmen Sie zum Beispiel dieses Haus«, fuhr der Senator fort. »Dreihundert Jahre alt und solid wie am ersten Tag. Aus Holz und Stein er baut. Von ehrlichen Handwerkern gebaut ...« Er starrte Blake an. »Du lieber Himmel, ich
halte hier Reden, während Sie langsam erfrie ren. Gehen Sie dort drüben die Treppe hinauf. Die erste Tür links ist mein Zimmer. Im Klei derschrank finden Sie Sandalen, und ich neh me an, daß Ihre Hosen ebenfalls durchnäßt sind ...« »Allerdings«, stimmte Blake zu. »Im Kleiderschrank liegt alles, was Sie brau chen. Das Bad schließt ans Schlafzimmer an. Vielleicht nehmen Sie ein heißes Bad – das wärmt am schnellsten. Elaine kann inzwischen für Kaffee sorgen, und ich mache eine gute Fla sche Cognac auf ...« »Übertreiben Sie bitte nicht«, wehrte Blake ab. »Sie haben mir schon soviel geholfen ...« »Durchaus nicht«, antwortete der Senator. »Ich freue mich, daß Sie vorbeigekommen sind.« Blake nahm die braune Robe unter den Arm, stieg die Treppe hinauf und verschwand im er sten Zimmer links. Durch die offene Tür sah er eine weiße Badewanne aufblitzen. Die Idee mit dem Bad war eigentlich nicht schlecht. Er ging ins Bad und legte die braune Robe auf den Wäschekorb. Dann zog er sich sein nasses Gewand über den Kopf und ließ es zu Boden fallen. Er sah überrascht an sich herab. Er runzelte
verblüfft die Stirn, denn er war splitternackt. Irgendwie hatte er es fertiggebracht, seine Un terhose zu verlieren.
3 Als Blake in den großen Raum mit dem Ka minfeuer zurückkehrte, erwartete ihn der Se nator bereits dort. Auf der Lehne seines Klub sessels saß eine dunkelhaarige junge Frau. »Na«, sagte der Senator, »da sind Sie endlich, junger Mann. Sie haben mir Ihren Namen schon gesagt, aber ich habe ihn wieder verges sen, fürchte ich.« »Ich heiße Andrew Blake.« »Entschuldigen Sie«, bat der Senator. »Mein Gedächtnis läßt anscheinend in letzter Zeit nach. Das hier ist meine Tochter Elaine, und ich bin Chandler Horton. Der schwatzhafte Narr dort draußen hat Ihnen ja bereits verra ten, daß ich Senator bin.« »Ich weiß die Ehre zu schätzen, Senator«, versicherte Blake ihm. »Freut mich, Ihre Be kanntschaft zu machen, Miß Elaine.« »Blake?« sagte die junge Frau. »Den Namen habe ich kürzlich mehrmals gehört. Sagen Sie, wofür sind Sie berühmt?« »Ich kann mir nichts vorstellen«, antwortete Blake. »Aber Ihr Name ist in allen Zeitungen er wähnt worden. Und im Fernsehen – in der
Nachrichtensendung. Jetzt fällt es mir ein! Sie sind der Mann, der von den Sternen zurückge kommen ist ...« »Was du nicht sagst!« Der Senator erhob sich. »Wie interessant! Mister Blake, der Ses sel dort drüben ist sehr bequem. Sozusagen der Ehrenplatz. Dicht am Feuer und so weiter.« »Daddy«, sagte Elaine zu Blake, »neigt dazu, sich als Landedelmann aufzuspielen, wenn wir Gäste haben. Das darf Sie nicht stören.« »Der Senator ist ein äußerst liebenswürdiger Gastgeber«, versicherte Blake ihr. Der Senator nahm eine Karaffe vom Tablett und griff nach Gläsern. »Sie werden sich daran erinnern«, sagte er, »daß ich Ihnen einen Cognac versprochen habe.« »Loben Sie ihn auf jeden Fall, selbst wenn Sie ihn ungenießbar finden«, warnte Elaine. »Und falls Sie später eine Tasse Kaffee möchten, können wir auch damit dienen. Ich habe unse ren Automatenkoch ...« »Macht der Koch schon wieder Schwierigkei ten?« warf Horton ein. Elaine schüttelte den Kopf. »Nicht besonders. Der Kaffee ist ganz in Ordnung – aber er hat auch Rühreier mit Schinken geliefert.«
Sie sah zu Blake hinüber. »Möchten Sie Rühreier mit Schinken? Sie sind noch warm, glaube ich.« »Nein, vielen Dank«, lehnte Blake ab. »Der verdammte Automat«, sagte der Sena tor, »ist seit Jahren übergeschnappt. Eine Zeit lang konnte man auf jeden beliebigen Knopf drücken und bekam trotzdem nur Roastbeef.« Er verteilte die Gläser und nahm wieder in seinem Sessel Platz. »Deswegen gefällt mir die ses Haus«, sagte er. »Es ist unkompliziert und zweckmäßig. Es ist vor dreihundert Jahren von einem Mann erbaut worden, der vernünftig ge nug war, Steine und Holz zu benützen, weil diese Materialien auf seinem Grundstück be reits vorhanden waren. Er hat es vermieden, der Umgebung sein Haus aufzuzwingen; er hat es zum Bestandteil dieser Umgebung gemacht. Sieht man von dem Automatenkoch ab, enthält das Haus keinerlei neuzeitliche Einrichtungs gegenstände.« »Wir sind eben altmodisch«, meinte Elaine entschuldigend. »Trotzdem besitzt das Haus einen gewissen Reiz«, sagte Blake. »Es fühlt sich solid und si cher an.« »Das kann man wohl sagen«, stimmte der Se nator zu. »Hören Sie sich an, wie der Wind ein
zudringen versucht. Und der Regen!« Er schwenkte den Cognac in seinem Glas. »Natürlich fliegt es nicht«, fügte er hinzu, »und es kann nicht sprechen. Aber wer will schon ein Haus, das fliegt und ...« »Daddy!« mahnte Elaine vorwurfsvoll. »Sie entschuldigen hoffentlich«, sagte der Se nator. »Das ist eines meiner Lieblingsthemen, und ich denke manchmal nicht daran, daß es anderen gleichgültig sein könnte ... Meine Tochter hat davon gesprochen, daß Sie auf dem Bildschirm zu sehen waren.« »Du paßt einfach nicht auf, Daddy«, warf sie ihm vor. »Deine biotechnischen Hearings neh men dich so in Anspruch, daß du keine Zeit für andere Dinge hast.« »Aber die Hearings sind wichtig, meine Lie be«, antwortete der Senator. »Die Menschheit muß sich bald entscheiden, was sie mit den vie len neuentdeckten Planeten anfangen will. Und ich sage dir, daß nur Schwachsinnige eine Terranisierung vorschlagen können. Du brauchst nur zu überlegen, wieviel Zeit und Geld das erfordern würde.« »Oh, ich wollte dir übrigens noch ausrichten, daß Mutter angerufen hat«, sagte Elaine. »Sie kommt heute nicht nach Hause. Sie hat von dem Sturm gehört und bleibt in New York.«
Der Senator nickte. »Wie war es in London? Hat sie etwas davon erzählt?« »Die Vorstellung hat ihr gefallen.« »Varieté«, erklärte der Senator Blake. »Wie derbelebung einer alten Kunstform. Ziemlich primitiv, habe ich gehört. Meine Frau schwärmt dafür. Sie ist eben künstlerisch ver anlagt.« »Schrecklich«, murmelte Elaine. »Keineswegs«, widersprach der Senator. »Aber bleiben wir lieber bei der Biotechnik. Vielleicht haben Sie etwas dazu zu sagen, Mi ster Blake?« »Nein«, antwortete Blake. »Ich bin nicht ganz auf dem laufenden, muß ich sagen.« »Richtig, das hätte ich fast vergessen!« Der Senator nickte. »Die Sache mit den Sternen. In einer Kapsel eingeschlossen, soweit ich mich erinnere, und von Mineralogen auf einem Asteroiden entdeckt. In welchem System war das?« »In der Gegend von Antares. Ein kleiner Stern – nur eine Zahl, kein Name. Aber ich weiß nichts davon. Ich bin erst in Washington wiederbelebt worden.« »Sie erinnern sich an nichts?« fragte Elaine. »An gar nichts«, bestätigte Blake. »Für mich hat das Leben erst vor einem Monat begonnen.
Ich weiß nicht, wer ich bin oder ...« »Aber Sie haben einen Namen.« »Weil ich einen annehmen mußte«, erklärte Blake ihm. »John Smith wäre ebensogut gewe sen. Offenbar muß jeder Mensch einen Namen haben.« »Soviel ich gehört habe, erinnern Sie sich je doch teilweise an Ihre Vergangenheit?« »Richtig – und das ist eben so merkwürdig. Ich erinnere mich an die Erde, die Menschen und ihre Lebensweise, aber diese Erinnerun gen sind hoffnungslos veraltet. Deswegen finde ich mich jetzt kaum zurecht.« »Sie brauchen nicht darüber zu sprechen«, warf Elaine leise ein. »Ich wollte Sie keines wegs aushorchen.« »Es macht mir nichts aus«, antwortete Blake. »Ich habe mich mit meiner Lage abgefunden. Vielleicht fällt mir eines Tages ein, wer ich bin und woher ich komme und was dort draußen geschehen ist. Vorläufig bin ich noch ziemlich verwirrt. Zum Glück waren alle sehr nett zu mir. Ich habe ein Haus bekommen. Und ich werde nicht belästigt. Ich lebe in einem kleinen Dorf ...« »In welchem?« fragte der Senator. »Wahr scheinlich ganz in der Nähe.« »Ich weiß leider nicht, wo ich hier bin«, ent
schuldigte Blake sich. »Das Dorf heißt Middle ton.« »Es liegt etwas weiter talauswärts«, erklärte der Senator ihm. »Keine fünf Meilen von hier. Anscheinend sind wir Nachbarn.« »Ich bin nach dem Abendessen vors Haus ge gangen«, sagte Blake. »Das Gewitter kam von Westen heran, war aber noch ziemlich weit entfernt. Und plötzlich stand ich dort draußen auf dem Hügel im Regen und war klatschnaß ...« Er setzte sein Glas vorsichtig ab. »So war es wirklich«, fügte er hinzu. »Ich weiß, daß es komisch klingt.« »Es klingt unmöglich«, sagte der Senator. »Das kann ich mir vorstellen«, meinte Blake. »Übrigens fand die Verschiebung nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich statt. Ich habe das Haus in der Abenddämmerung verlassen und bin nachts dort drüben auf dem Hügel zu mir gekommen.« »Tut mir leid, daß der dumme Leibwächter Sie mit dem Licht belästigt hat«, sagte der Se nator. »Ich verlange keine Leibwache und will auch keine, aber Genf besteht darauf, daß alle Senatoren bewacht werden. Meiner Überzeu gung nach will uns niemand etwas antun – schließlich ist die Erde heutzutage einigerma
ßen zivilisiert.« »Du vergißt die Aufregung wegen der Bio technik«, warf Elaine ein. »Aber dabei handelt es sich doch nur um die Anwendung wissenschaftlicher Methoden«, meinte der Senator. »Deswegen braucht nie mand ...« »Aber die Leute tun es«, sagte Elaine nach drücklich. »Alle Bibelfanatiker, alle Erzkonser vativen und alle Fortschrittsgegner sind ent schlossen, diesen verrückten Plan zu Fall zu bringen.« Der Senator schüttelte den Kopf. »Der Plan ist durchaus nicht verrückt, sondern im Ge genteil recht vernünftig. Wir müßten Billionen Dollar ausgeben, um einen einzigen Planeten zu terranisieren. Unsere Biotechniker würden jedoch weniger Geld und sehr viel weniger Zeit brauchen, um eine menschliche Rasse zu kon struieren, die auf diesem Planeten leben könn te. Anstatt den Planeten zu verändern, damit er für Menschen erträglich ist, verändern wir die Menschen, damit sie den Planeten ertragen ...« »Darum geht es gerade«, warf Elaine ein. »Mit diesem Argument ziehen deine Gegner in den Kampf. Der Mensch soll verändert werden – dagegen setzen Sie sich zur Wehr. Sollte dein
Vorschlag angenommen werden, wären diese Bewohner anderer Planeten keine Menschen mehr.« »Sie hätten vermutlich wenig Ähnlichkeit mit uns«, gab der Senator zu, »aber sie wären trotzdem Menschen.« Elaine wandte sich an Blake. »Sie haben hof fentlich gemerkt, daß ich nicht gegen den Se nator bin. Aber es ist manchmal so schwierig, ihm begreiflich zu machen, was er sich eigent lich vorgenommen hat und wie stark seine Gegner sind.« »Meine Tochter spielt den Advocatus Diaboli, was gelegentlich ganz nützlich ist«, erklärte der Senator Blake. »Aber in diesem Fall ist es eigentlich überflüssig, denn ich weiß, mit wel cher Erbitterung mich meine Widersacher be kämpfen.« Er hob die Karaffe. Blake schüttelte den Kopf. »Nein, vielen Dank. Wie komme ich am besten nach Hause?« »Sie könnten hier übernachten.« »Danke, Senator, aber ich möchte lieber ...« »Natürlich«, sagte der Senator. »Einer mei ner Leute kann Sie begleiten. Am besten benüt zen Sie den Wagen. Für den Schweber ist das Wetter heute nacht zu schlecht.«
»Das wäre sehr freundlich von Ihnen.« »Dadurch kann sich wenigstens einer der Kerle nützlich machen«, stellte der Senator fest. »Auf der Fahrt werden sie wohl kaum Wölfe sehen. Haben Sie übrigens draußen einen beobachtet?« »Nein«, sagte Blake, »ich habe keinen Wolf gesehen.«
4 Dr. Michael Daniels stand am Fenster und sah zu, wie die Bodenmannschaft der Riversi de-Siedlung Häuser einwies. Die schwarzen Fundamente glitzerten im Regen, und der Po tomac dahinter war ein dunkles Band, das die blendende Helle der Landescheinwerfer re flektierte. Die Häuser sanken nacheinander aus dem wolkenverhangenen Himmel herab, schwebten über den zugewiesenen Fundamenten und drehten sich langsam, bis ihre Landekoordina ten mit den Fixpunkten übereinstimmten. Wieder neue Patienten, überlegte Daniels. Oder vielleicht Kollegen, die von einem Urlaub zurückkamen. Oder einfach Touristen, die we der zur einen noch zur anderen Kategorie ge hörten. Washington war überfüllt, da die re gionalen Biotechnik-Hearings demnächst beginnen sollten. Jeder Quadratzentimeter war kostbar, und Häuser von Neuankömmlin gen wurden untergebracht, wo sich noch ein Platz für sie fand. Weit jenseits des Flusses in Old Virginia lan dete ein Schiff auf dem Raumhafen, dessen Scheinwerferbatterien selbst Nebel und Regen
durchdrangen. Daniels verfolgte die Landung und fragte sich, von welchem Stern das Schiff gekommen sein mochte. Und wie lange war es unterwegs gewesen? Er lächelte unwillkürlich. Diese Fra gen stellte er sich jedesmal – eine Erinnerung an seine Jugend, in der er noch entschlossen gewesen war, eines Tages zu den Sternen zu fliegen. Er starrte aus dem Fenster in die Sturmnacht hinaus. Allmählich wurde es Zeit, daß er nach Hause fuhr. Er hätte schon längst fahren sol len. Die Kinder schliefen bereits, aber Cheryl würde auf ihn warten. Im Osten sah er gerade noch die weiße Licht säule, die am Potomac zu Ehren der ersten Astronauten erstrahlte, die vor mehr als fünf hundert Jahren die Erde in primitiven Raketen mit chemischen Triebwerken umkreist hatten. Washington, dachte er, eine Stadt mit unzäh ligen verfallenen Gebäuden und Denkmälern – ein Irrgarten aus Granit und Marmor, den das Moos alter Erinnerungen überwucherte. Über Stein und Metall schien eine ehrwürdige Pati na zu liegen, und die frühere Bedeutung dieser Stadt war noch heute unverkennbar. Ehemals Hauptstadt einer alten Republik, jetzt nur Sitz einer Provinzregierung – aber die vergange
nen Zeiten hatten ihre Spuren zurückgelassen. Und die Stadt wirkte am besten unter diesen Verhältnissen, wenn eine neblige Regennacht die Umrisse verwischte und einen Hintergrund schuf, vor dem sich alte Gespenster bewegen konnten. Die leisen Geräusche eines Krankenhauses zur Nachtzeit drangen ins Zimmer, in dem Da niels am Fenster stand: die Schritte einer Krankenschwester auf dem Flur, das leichte Rumpeln eines Wagens, das Summen im Stati onszimmer gegenüber. Hinter Daniels wurde die Tür geöffnet. Er drehte sich um. »Guten Abend, Gordy«, sagte er. Gordon Barnes, ein Assistenzarzt, schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich dachte, Sie wären längst gegangen«, meinte er. »Ich habe mir den Bericht nochmals angese hen«, sagte Daniels und wies auf den Tisch. Barnes warf einen Blick in den Ordner. »An drew Blake«, murmelte er. »Ein interessanter Fall.« Daniels schüttelte den Kopf. »Nicht nur inter essant, sondern unmöglich«, stellte er fest. »Für wie alt halten Sie diesen Blake? Auf den ersten Blick, meine ich.« »Er könnte dreißig sein, Mike. Aber wir wis
sen natürlich, daß er, chronologisch gesehen, etliche hundert Jahre alt sein kann.« »Falls er dreißig wäre, müßten doch Abnut zungserscheinungen zu erkennen sein, nicht wahr? Der menschliche Körper überschreitet Mitte Zwanzig den Höhepunkt seiner Entwick lung; von da an geht es wieder bergab.« »Ich weiß«, sagte Barnes. »Aber bei diesem Blake ist es anders, was?« »Perfekt«, antwortete Daniels. »In jeder Be ziehung perfekt. Jugendlich. Kein schwacher Punkt am ganzen Körper.« »Und kein Hinweis auf seine Identität?« Daniels schüttelte den Kopf. »Die Raumfahrt behörde hat sämtliche Aufzeichnungen genau überprüft. Blake könnte einer von Tausenden von Leuten sein. Allein in den letzten zweihun dert Jahren sind einige Dutzend Schiffe ver schollen. Man hat nie wieder etwas von ihnen gehört. Er könnte jeder der Männer sein, die an Bord dieser Schiffe waren.« »Jemand hat ihn eingefroren und in die Kap sel gesteckt«, sagte Barnes nachdenklich. »Ist das vielleicht ein Hinweis?« »Sie meinen, er könnte so wichtig gewesen sein, daß er auf diese Weise gerettet werden sollte?« »Richtig«, stimmte Barnes zu.
»Trotzdem kann ich nicht recht daran glau ben«, sagte Daniels. »Welche Chancen hätte ein Mann, der auf diese Weise gerettet werden sollte? Eine Milliarde zu eins? Eine Billion zu eins? Ich weiß es nicht. Der Weltraum ist groß und leer.« »Aber Blake ist gefunden worden ...« »Ja, ich weiß. Seine Kapsel ist in einem Son nensystem aufgetaucht, das erst vor hundert Jahren kolonisiert worden war, und ein For schungsteam von Mineralogen hat ihn gefun den. Die Kapsel kreiste um einen Asteroiden und wäre in einigen Jahrzehnten auf dessen Oberfläche zerschellt. Rechnen Sie sich also selbst aus, wie groß Blakes Chancen waren.« Barnes kam ebenfalls ans Fenster. »Ich bin völlig Ihrer Meinung«, sagte er. »Wirklich seltsam, wie der Zufall diesem Mann immer wieder zu Hilfe gekommen ist. Nach dem er gefunden worden war, hätte jemand die Kapsel aufbrechen können. Die Mineralo gen wußten, daß sie einen Menschen enthielt. Die Kapsel war transparent; sie konnten Blake also sehen. Jemand hätte auf die Idee kommen können, ihn herauszuholen und aufzutauen. Vielleicht hätte sich die Mühe gelohnt, und Blake hätte ihnen nach seiner Wiederbelebung wertvolle Informationen liefern können.«
»Nein, das hätte ihnen nichts genützt«, stellte Daniels fest. »Blake kann sich nur an Bruch stücke seiner Vergangenheit erinnern. Er be sitzt etwa den Wortschatz, die Lebensphiloso phie und das Wissen eines Mannes, der vor zweihundert Jahren auf der Erde gelebt hat. Aber das ist alles. Er weiß weder, was ihm zu gestoßen sein könnte, noch wer er war oder woher er stammt.« »Steht wirklich fest, daß er ursprünglich von der Erde kam? Nicht von einem der kolonisier ten Planeten?« »Daran scheint es keinen Zweifel zu geben. Nach der Wiederbelebung wußte er, wo Wa shington liegt und was die Stadt früher gewe sen ist. Für ihn war sie noch immer die Haupt stadt der Vereinigten Staaten. Und er wußte unzählige andere Einzelheiten, die seine Her kunft bewiesen. Sie können sich vorstellen, daß wir ihn getestet haben.« »Wie kommt er jetzt zurecht?« »Offenbar ganz gut. Ich habe noch nicht von ihm gehört. Er lebt in einer kleinen Siedlung westlich von hier. Draußen in den Bergen. Wir waren uns darüber einig, daß er zunächst aus spannen sollte. Er brauchte Ruhe, um überle gen zu können. Unterdessen fällt ihm vielleicht allmählich ein, wer und was er gewesen ist.«
»Glauben Sie, daß er es Ihnen dann erzählt?« »Ich weiß es nicht«, gab Daniels offen zu. »Ich hoffe es allerdings sehr. Aber ich versuche nicht etwa, ihn ständig unter Kontrolle zu hal ten. Das wäre bestimmt ungeschickt. Er soll seinen eigenen Weg gehen. Sobald er Schwie rigkeiten hat, meldet er sich bei uns. Davon bin ich überzeugt.«
5 Blake stand auf der Veranda und sah den hellroten Schlußleuchten des Wagens nach, die rasch kleiner wurden. Es regnete nicht mehr, und am Nachthimmel waren bereits wieder einzelne Sterne sichtbar. Die Häuser entlang der Straße waren dunkel; nur die Lampen über den Türen waren einge schaltet. In seinem eigenen Haus brannte noch Licht in der Diele – ein Zeichen, daß das Haus ihn erwartete. Blake drehte sich um, ging über die Veranda und näherte sich der Tür. Die Tür öffnete sich vor ihm, und er trat über die Schwelle. »Guten Abend, Sir«, sagte das Haus. Dann fügte es tadelnd hinzu: »Sie scheinen aufgehal ten worden zu sein.« »Mir ist etwas zugestoßen«, erklärte Blake. »Du weißt nicht zufällig, was geschehen ist?« »Sie haben die Veranda verlassen«, antworte te das Haus spitz. »Ihnen ist natürlich be kannt, daß wir außerhalb der Veranda nicht mehr zuständig sind.« »Ja«, murmelte Blake. »Das ist mir klar.« »Sie hätten uns mitteilen sollen, daß Sie aus gehen wollten«, sagte das Haus streng. »Sie
hätten mit uns in Verbindung bleiben können. Wir hätten für entsprechende Kleidung ge sorgt. Wie ich sehe, tragen Sie jetzt eine andere Robe als zuvor.« »Ein Freund hat sie mir geliehen«, sagte Bla ke. »Während Ihrer Abwesenheit ist eine Nach richt für Sie gekommen«, fuhr das Haus fort. »Sie ist noch auf dem Hellschreiber.« Der Hellschreiber stand links in der Diele. Blake trat darauf zu und zog das Papier aus der Maschine. Die Nachricht war mit energischer Hand geschrieben und lautete: Sollte Mr. Andrew Blake es für richtig hal ten, sich gelegentlich mit Mr. Ryan Wilson in Willow Grove in Verbindung zu setzen, könnte er etwas zu seinem Vorteil erfahren. Blake drehte das Papier in den Fingern. Das war unglaublich – fast melodramatisch. »Willow Grove?« fragte er. »Wir schlagen es nach«, sagte das Haus. »Bitte«, murmelte Blake. »Ein Bad ist gleich eingelassen«, sagte das Haus. »Wünschen Sie zu baden?« »Es gibt auch gleich Essen«, rief die Küche dazwischen. »Was wünscht der Herr zu
essen?« »Keine schlechte Idee«, meinte Blake. »Rührei mit Schinken und Toast.« »Warum nicht etwas anderes?« fragte die Kü che. »Hühnersuppe? Forelle blau? Pfannku chen?« »Rührei mit Schinken«, wiederholte Blake. »Wie steht es mit der Dekoration?« fragte das Haus. »Allmählich wäre es Zeit, wieder die Ta pete zu wechseln.« »Nein«, wehrte Blake müde ab. »Laß alles, wie es ist.« »Wie Sie wünschen, Herr«, sagte das Haus. »Zuerst das Abendessen, dann ein Bad und dann ins Bett«, sagte Blake. »Puh, das war ein anstrengender Tag.« »Und die Nachricht?« »Das ist nicht so eilig. Damit können wir uns morgen beschäftigen.« »Die Stadt Willow Grove«, erklärte das Haus ihm, »liegt nordwestlich von hier. Fünfund siebzig Meilen. Wir haben nachgeschlagen.« Blake durchquerte das Wohnzimmer, betrat das Eßzimmer und setzte sich an den Tisch. »Sie müssen es selbst holen«, jammerte die Küche. »Ich kann es Ihnen nicht bringen.« »Das weiß ich«, sagte Blake. »Du brauchst mir nur zu sagen, wann es fertig ist.«
»Aber Sie sitzen am Tisch!« »Der Mann kann sitzen, wo es ihm gefällt!« tadelte das Haus. »Jawohl, Sir«, sagte die Küche. Das Haus schwieg, und Blake hockte todmüde auf seinem Stuhl. Er sah, daß die Tapete leben dig geworden zu sein schien. Allerdings han delte es sich nicht um eine Tapete im her kömmlichen Sinn. Das hatte ihm das Haus schon am ersten Tag erklärt. Die Wand zeigte eine Waldlichtung, über die ein kristallklarer Bach im Sonnenschein floß. Ein Hase kam zwischen den Bäumen hervor und knabberte am zarten Gras auf der Lich tung. Das Wasser glitzerte im Sonnenschein; ein Vogel kam von links und setzte sich auf einen Ast. Er begann zu singen, aber der Ton fehlte vorläufig. »Soll ich den Ton einschalten?« fragte das Eß zimmer. »Nein, vielen Dank. Ich möchte mich nur aus ruhen. Vielleicht später.« Er wollte nur sitzen und nachdenken, ange strengt nachdenken. Er mußte irgendwie her ausbekommen, was ihm zugestoßen war, wie es ihm zugestoßen war und weshalb es ihm zu gestoßen war. Und er mußte feststellen, wer er war, was er gewesen war und was er im Augen
blick sein mochte. Alles erinnerte ihn an einen Alptraum – aber er war dabei hellwach, ob wohl er körperlich erschöpft war. Er bewegte sich auf seinem Stuhl. »Wieviel Uhr ist es?« fragte er. »Wie lange bin ich fort gewesen?« »Es ist fast zwei Uhr morgens«, antwortete das Haus. »Sie sind gegen acht Uhr verschwun den.« Sechs Stunden, überlegte er, und ich habe nur zwei erlebt. Was war in diesen anderen vier Stunden geschehen, und warum konnte er sich nicht daran erinnern? Weshalb konnte er sich übrigens auch nicht an die Zeit im Raum und die Zeit davor erinnern? Warum begann sein Leben mit der Sekunde, in der er in einem Krankenhausbett in Washington die Augen ge öffnet hatte? Es mußte eine andere Zeit und andere Jahre gegeben haben; er hatte einen Namen und eine persönliche Geschichte beses sen – und was war geschehen, um das alles auszulöschen? Der Hase hatte genug und hoppelte davon. Der Vogel saß noch auf dem gleichen Ast, sang aber nicht mehr. Ein Eichhörnchen sprang von Baum zu Baum. Wie an einem Fenster, dachte Blake, während er diese Szene beobachtete. Die Perspektive
stimmte, und die Farben waren so echt, als be finde er sich wirklich im Freien. Das Haus verblüffte und störte ihn noch im mer; gelegentlich war es ihm sogar unheim lich. Seine Erinnerungen halfen ihm nicht wei ter, denn er war darauf nicht vorbereitet gewesen. Er konnte sich nur unsicher daran erinnern, daß jemand in grauer Vorzeit das Geheimnis der Schwerkraft enträtselt hatte, und daß die Sonnenenergie zu allen möglichen Zwecken nutzbar gemacht wurde. Aber das Haus bezog seine Energie nicht nur von einem Sonnenkraftwerk und war nicht nur wegen seiner Schwerkraftreduktoren beweg lich, sondern war erheblich mehr. Es war ein Roboter – ein Roboter mit dem Komplex, all zeit ein treuer Diener zu sein, und dieser Kom plex grenzte fast an einen Mutterkomplex. Das Haus umsorgte die Menschen, die es beher bergte. Es konzentrierte sich ausschließlich auf ihr Wohlergehen. Es sprach mit ihnen und bediente sie, es erinnerte sie und bevormunde te sie und machte ihnen Vorwürfe und ver wöhnte sie. Es war Haus und Diener und Ge fährte in einem. Blake konnte sich vorstellen, daß ein Mann sein Haus im Laufe der Zeit als treuen und anhänglichen Freund betrachtete. Das Haus tat alles für seinen Besitzer. Es füt
terte ihn, wusch seine Wäsche, brachte ihn zu Bett und hätte ihm am liebsten auch die Nase geputzt. Es wachte über seinen Besitzer, las ihm jeden Wunsch von den Augen ab und war manchmal sogar lästig, wenn es allzuviel tun wollte. Es verwirklichte eigene Ideen, die sei nem Besitzer vielleicht gefallen würden – wie die lebendige Tapete mit dem Hasen und dem singenden Vogel. Aber daran mußte man sich erst gewöhnen. Wer in Häusern dieser Art aufgewachsen war, brauchte keine Eingewöhnungszeit. Aber wer wie Blake von den Sternen zurückkam und in dieses Haus gesteckt wurde, mußte sich all mählich daran gewöhnen. »Das Essen kann abgeholt werden!« rief die Küche. »Rührei mit Schinken ist fertig!«
6 Es kam an einem Ort zu sich, den es noch nie zuvor wahrgenommen hatte – eine seltsame Umgebung mit Artefakten aus Holz, Metall und Geweben. Es reagierte instinktiv. Es ging zur Verteidi gung über und schirmte sich ab. Es bildete eine Pyramide und konstruierte eine kugelförmige Abschirmung. Es suchte nach Energie, die es brauchte, um zu leben und zu denken, und die Energie war vorhanden, obwohl ihn die Quelle verborgen blieb. Es stellte fest, daß es nun denken konnte. Die Gedankenprozesse waren klar und durchsich tig, seine Logik glich einer scharfen Klinge. Die Pyramidenform seiner Körpermaße bildete eine stabile Hülle, in der Denkvorgänge ablau fen konnten. Es konzentrierte sich auf die Lösung eines verblüffenden Problems – wie es möglich war, daß es nach so langer Zeit plötzlich wieder frei und funktionsfähig sein konnte. Es suchte nach einem Anfang, aber es schien keinen deutlichen Beginn zu geben, obwohl es keinen Winkel seines Geistes ununtersucht
ließ. Aber vielleicht spielte das keine große Rolle, denn der Anfang brauchte nicht weiter wichtig zu sein. Hatte es jemals einen Anfang gegeben, fragte es sich, oder war es immer auf der Suche nach einem Bezugspunkt im Laby rinth seines Verstandes gewesen? Natürlich waren weder Anfang noch Ende unbedingt er forderlich, aber irgendwo mußte es etwas ge ben, das einen Anfang und einem Ende unge fähr entsprach. Vielleicht handelte es sich eher darum, ob es eine Vergangenheit gab, und es wußte sicher, daß es eine Vergangenheit geben mußte, denn es erinnerte sich undeutlich an Bruchstücke von Informationen aus dieser Zeit. Es gab sich Mühe, diese Bruchstücke zusammenzusetzen, aber das gelang nicht, denn sie schienen nicht zu passen. Daten, überlegte es erschrocken – früher hat te es stets Daten gegeben. Es mußte welche ge geben haben. Früher hatte sein Verstand mit diesem Material arbeiten können. Und viel leicht waren die Daten jetzt nur verborgen ... Es behielt seine Pyramidenform bei und lauschte dem Leerlauf seines Verstandes – ein fähiger Verstand, der aber keine Daten zur Verfügung hatte, mit denen er hätte arbeiten können, so daß er zu phantasieren begann.
Es suchte wieder die spärlichen Informatio nen ab, die bruchstückhaft aus der Vergangen heit auftauchten, und fand die Erinnerung an ein felsiges, unwirtliches Land, in dem ein massiver Zylinder, so schwarz wie das Gestein selbst, in den grauen Himmel aufstrebte, bis einem schwindlig wurde, wenn man ihm mit den Augen folgte. Und in diesem Zylinder, das wußte es ganz bestimmt, verbarg sich etwas Unvorstellbares, etwas so Großes und Wun derbares, daß der Verstand davor zurück schrak. Es suchte nach der Bedeutung, nach irgendei nem Hinweis, aber es fand nur dieses Bild: schwarzes, felsiges Land, aus dem ein dunkler Zylinder zum Himmel aufragte. Es trennte sich widerstrebend von diesem Bild und konzentrierte sich auf das nächste Bruchstück. Diesmal handelte es sich um ein weites Tal, und der Talboden war eine blühen de Wiese mit Millionen von Blumen. Musik lag in der Luft, und zwischen den Blüten bewegten sich Lebewesen. Auch darin lag eine Bedeu tung, das ahnte es, aber die Informationen lie ßen keinen Schluß auf diese versteckte Bedeu tung zu. Früher einmal hatte es einen anderen gege ben. Es hatte ein anderes Lebewesen gegeben,
und dieses Wesen hatte die Bilder aufgenom men und bewahrt und weitergeleitet – und nicht nur die Eindrücke, sondern auch die da zugehörigen Daten. Die Bilder waren durch einandergeworfen, aber immerhin noch vor handen, während die ebenso wichtigen Daten irgendwie verschwunden waren. Es duckte sich tiefer und massiver in seine Pyramidenform und versuchte die ungewisse Vergangenheit mit dem Geist zu durchdringen und dieses andere Lebewesen zu finden, das Bilder und Daten geliefert hatte. Aber es fand nichts. Es war nicht imstande, mit diesem anderen Wesen Verbindung aufzu nehmen. Und es weinte vor Einsamkeit – laut los und ohne Tränen, denn es konnte weder schluchzen noch Tränen vergießen. Und in seinem Kummer drang es noch tiefer in die Vergangenheit ein und entdeckte dort einen Zeitpunkt, an dem es kein Lebewesen ge geben hatte, an dem es nur mit Daten und ab strakten Vorstellungen gearbeitet hatte, die auf Daten beruhten. Aber die Daten und seine eigene Vorstellungskraft waren nicht farbig ge wesen, und die auf diese Weise entstandenen Bilder waren steif und kalt und manchmal so gar erschreckend. Es hat keinen Zweck, dachte es enttäuscht.
Der Versuch war zwecklos. Es funktionierte nicht richtig, weil dazu noch etwas fehlte, und es konnte unmöglich zufriedenstellend arbei ten, solange es kein Material besaß, das eine Voraussetzung für sein Funktionieren war. Es spürte die Dunkelheit herabsinken und setzte sich nicht dagegen zur Wehr. Es blieb und war tete und ließ die Dunkelheit kommen.
7 Blake wachte auf, und das Zimmer schrie ihn an. »Wo sind Sie gewesen?« schrie es. »Wohin sind Sie gegangen? Was ist mit Ihnen gesche hen?« Er hockte mit untergeschlagenen Beinen auf dem Fußboden. Das war nicht richtig, denn er hätte im Bett liegen müssen. Das Zimmer begann wieder. »Wo sind Sie ge wesen?« fragte es laut. »Was ist ...« »Ach, halt's Maul«, sagte Blake. Das Zimmer schwieg. Blake sah sich um und stellte fest, daß sich nichts verändert hatte. Allerdings schien jetzt die Morgensonne durchs Fenster. »Was ist überhaupt passiert?« fragte er. »Sie sind verschwunden!« klagte das Zimmer. »Sie haben eine Mauer um sich errichtet ...« »Eine Mauer!« »Ein Nichts«, erklärte ihm das Zimmer. »Einen Klumpen Nichts.« »Du spinnst«, sagte Blake. »Unmöglich!« Aber er wußte, daß das Zimmer recht hatte. Es konnte nur Phänomene schildern, die es wahrgenommen hatte und es besaß keine Vor
stellungskraft. Es war nur eine Maschine – al lerdings eine äußerst komplizierte Maschine –, die weder Aberglauben noch Sagen noch Mär chen kannte. »Sie sind verschwunden«, beteuerte das Zim mer. »Sie haben sich in dieses Nichts ein gehüllt und sind einfach verschwunden. Aber vorher haben Sie sich noch verwandelt.« »Wie soll ich das können?« »Ich weiß es nicht, aber Sie haben es jeden falls getan«, antwortete das Zimmer. »Sie sind zusammengeschrumpft, haben eine andere Form angenommen – und haben sich dann eingehüllt.« »Und du konntest mich nicht mehr wahrneh men? Hast du deshalb geglaubt, ich sei fortge gangen?« »Für mich waren Sie plötzlich verschwunden«, erwiderte das Zimmer. »Das Nichts war undurchdringlich.« »Nichts?« »Einfach ein Nichts«, sagte das Zimmer. »Ich konnte es nicht analysieren.« Blake stand langsam auf, zog sich die Hose an, die neben seinem Bett lag, und griff nach der Robe über der Stuhllehne. Er hielt sie in der Hand – sie war schwer und braun und aus Wolle, und er erinnerte sich plötzlich an die
vergangene Nacht und das merkwürdige Stein haus und den Senator und dessen Tochter. Er hatte sich verwandelt, behauptete das Zim mer. Er hatte sich verwandelt, bevor er sich in ein geheimnisvolles Nichts zurückgezogen hat te. Aber er konnte sich nicht im geringsten dar an erinnern. Ebensowenig wußte er, was sich letzte Nacht ereignet hatte, nachdem er sein Haus verlas sen hatte. Mein Gott, was geht hier vor? dachte er. Er setzte sich plötzlich aufs Bett und behielt die Robe auf den Knien. »Weißt du das bestimmt, Zimmer?« fragte er zögernd. »Ganz bestimmt«, antwortete das Zimmer. »Hast du irgendeinen Verdacht?« »Sie wissen recht gut, daß ich keine Vermu tungen anstelle«, erwiderte das Zimmer. »Nein, natürlich nicht ...«, murmelte Blake. »Vermutungen«, sagte das Zimmer, »sind un logisch.« »Du hast selbstverständlich recht«, stimmte Blake zu. Er stand auf, legte die Robe an und ging zur Tür. »Mehr haben Sie nicht dazu zu sagen?« er kundigte das Zimmer sich mißbilligend.
»Was sollte ich sagen?« fragte Blake. »Du bist besser informiert als ich.« Er schloß die Tür hinter sich und ging den Balkon entlang. Als er die Treppe erreichte, be grüßte ihn das Haus so fröhlich wie jeden Mor gen. »Guten Morgen, Sir«, zwitscherte es. »Drau ßen scheint die Sonne; der Sturm ist vorüber, und der Himmel ist wolkenlos. Das Wetter wird voraussichtlich schön und warm. Die Temperatur beträgt elf Grad Celsius und dürf te mittags fünfundzwanzig Grad erreichen. Ein herrlicher Herbsttag hat begonnen, und alles ist wunderbar. Darf ich mich nach Ihren Wün schen erkundigen, Sir? Wie steht es mit der Ausschmückung? Wie steht es mit der Einrich tung? Wie wäre es mit Musik?« »Frag ihn«, warf die Küche ein, »was er zum Frühstück will.« »Und was wünschen Sie zum Frühstück?« sagte das Haus. »Hmm, vielleicht Haferflocken?« »Haferflocken!« jammerte die Küche. »Im mer nur Haferflocken. Oder Rührei mit Schin ken. Oder Pfannkuchen. Warum nicht aus nahmsweise etwas Besonderes? Warum nicht ...« »Haferflocken«, wiederholte Blake.
»Der Mann will Haferflocken«, sagte das Haus. »Okay«, murmelte die Küche niedergeschla gen. »Eine Portion Haferflocken.« »Sie dürfen sich nicht von der Küche stören lassen«, empfahl das Haus Blake, »denn sie ist etwas durcheinander. Ihre Programmierung umfaßt über tausend erstklassige Rezepte, und unsere Küche beherrscht sie wirklich ausge zeichnet, hat jedoch nur selten Gelegenheit, ihre Kunst zu zeigen. An Ihrer Stelle würde ich vielleicht ...« »Haferflocken«, sagte Blake. »Oh, selbstverständlich, Sir. Die Morgenzei tung liegt im Hellschreiber. Aber heute mor gen gibt es kaum interessante Nachrichten.« »Wenn es dir nichts ausmacht«, sagte Blake, »werfe ich selbst einen Blick in die Zeitung.« »Natürlich, Sir. Wie Sie wünschen, Sir. Ich wollte Sie nur informieren.« »Sieh dich vor, daß du nicht des Guten zuviel tust«, warnte Blake. »Tut mir leid, Sir«, antwortete das Haus. »Ich werde darauf achten.« Blake ging in die Diele, griff nach der Zeitung und steckte sie unter den Arm. Dann warf er einen Blick aus dem Fenster. Das Nachbarhaus war verschwunden. Die
Fundamente standen leer. »Sie sind heute morgen abgereist«, sagte das Haus. »Etwa vor einer Stunde. Ein kurzer Ur laub, soviel ich gehört habe. Wir sind alle froh ...« »Wir?« »Ja, natürlich. Alle übrigen Häuser, Sir. Wir sind froh, daß sie nur für kurze Zeit verreisen und bald zurückkommen. Sie sind so gute Nachbarn, Sir.« »Du scheinst viel über sie zu wissen. Ich habe kaum mit ihnen gesprochen.« »Oh«, sagte das Haus, »nicht die Leute, Sir. Ich habe nicht die Leute gemeint, sondern viel mehr das Haus selbst.« »Ihr Häuser betrachtet euch als Nachbarn?« »Ganz recht, Sir. Wir besuchen uns gegensei tig. Wir unterhalten uns.« »Nur zum Informationsaustausch.« »Selbstverständlich«, sagte das Haus. »Aber wie steht es mit der Innenausstattung?« »Gerade richtig.« »Aber sie ist schon seit Wochen unverändert.« »Nun«, meinte Blake nachdenklich, »du könntest die Tapete im Eßzimmer umgestal ten.« »Es ist keine Tapete, Sir.«
»Das weiß ich. Trotzdem habe ich es allmäh lich satt, immer nur einen Hasen Gras fressen zu sehen.« »Was wünschen Sie statt dessen?« »Irgend etwas – aber ohne Hasen.« »Sie haben die Wahl unter Tausenden von Möglichkeiten, Sir«, sagte das Haus vorwurfs voll. »Was dir Spaß macht«, antwortete Blake. »Aber ich will keine Hasen mehr sehen.« Er trat vom Fenster zurück und ging ins Eß zimmer hinüber. Von den Wänden starrten ihn Augen an – Tausende von Augen, Augen ohne ein einziges Gesicht, Augen aus vielen, vielen Gesichtern, die jetzt an der Wand hin gen. Einige waren paarweise angeordnet, aber die meisten standen allein. Und alle beobach teten ihn. Blake sah blaue Kinderaugen, die ihn un schuldig anblickten, blutunterlaufene Augen, lüsterne Augen und die wäßrigen Augen alter Menschen. Und sie alle kannten ihn, wußten genau, wer er war, und sie starrten ihn entsetz lich persönlich an, und wenn zu diesen Augen Lippen gehört hätten, wären sie alle in Bewe gung gewesen, um auf ihn einzuschreien, mit ihm zu reden und ihn zu beschimpfen. »Haus!« schrie er.
»Sir?« »Diese Augen!« »Aber Sie haben doch gesagt, Sie wollten nur keine Hasen sehen, Sir. Ich dachte, die Augen seien eine neuartige ...« »Weg damit!« rief Blake. Die Augen verschwanden. An ihrer Stelle er schien ein weiter Sandstrand, der zum Meer hinabführte. Grüne Wogen schäumten land einwärts, brachen und fluteten zurück. Über der Brandung schwebten Möwen und kreisch ten um die Wette, während sie herabstießen und wieder emporsegelten. Das ganze Zimmer roch plötzlich nach Sand, Tang und Meerwas ser. »Besser?« fragte das Haus. »Vielen Dank«, antwortete Blake. »Wesent lich besser.« Er saß wie verzaubert und starrte die Szene an, die von der Wirklichkeit nicht zu unter scheiden war – er hätte ebensogut am Strand sitzen können. »Gerüche und Geräusche sind eingeblendet«, fuhr das Haus fort. »Sie können aber auch et was Wind haben.« »Nein«, sagte Blake. »Das genügt mir.« Die Wogen brachen sich schäumend am Strand, und die Vögel segelten kreischend dar
über hinweg, und am Himmel zogen dunkle Wolken landeinwärts. Blake fragte sich, ob es überhaupt etwas gab, das sein Haus nicht auf dieser Wand reproduzieren konnte. Tausende von Kombinationen, hatte es vorhin gesagt. Er brauchte nur einen Wunsch zu äußern – das Haus würde ihn erfüllen. Ein Haus, dachte er. Was war ein Haus? Wie hatte es sich entwickelt? Zu Beginn der menschlichen Geschichte war es kaum mehr als ein Schutz vor Wind und Wetter gewesen, ein Unterschlupf, in dem Menschen sich zusammendrängten und ver steckten. Diese Definition war im Grunde ge nommen noch immer richtig, aber die Men schen wollten sich heutzutage nicht nur zusammendrängen und verstecken – sie woll ten in ihrem Haus leben. Vielleicht kam später einmal der Tag, an dem sie ihre Häuser nicht mehr zu verlassen brauchten, weil sie ihre Abenteuerlust auf andere Weise befriedigen konnten. Dieser Tag war vielleicht schon näher als er wartet, denn ein Haus war längst mehr als nur ein Unterschlupf oder eine Wohngelegenheit. Es war Diener und Gefährte zugleich, und sein Besitzer fand in seinen eigenen vier Wänden alles, was er sich wünschen konnte.
Neben dem Wohnzimmer lag ein kleinerer Raum, der das Fernsehgerät enthielt. Dieser Apparat war eine logische Weiterentwicklung der Geräte, die Blake vor zweihundert Jahren gekannt hatte. Heutzutage starrte man jedoch nicht ein dreidimensionales Bild an, sondern nahm selbst an den gezeigten Ereignissen teil. Man betrat den Raum, schaltete das Gerät ein und befand sich plötzlich in Gegenwart der Handelnden, ohne selbst gesehen zu werden. Man nahm nicht nur Geräusche, Düfte, Ge schmack, Temperatur und andere Einzelheiten wahr, sondern nahm auf unerklärliche Weise an den Ereignissen teil, anstatt sie nur zu se hen, und verstand sie deshalb um so besser. Und in einer Ecke des Wohnzimmers war die Bibliothek eingerichtet, die in ihren elektroni schen Speichern die gesamte überlieferte Lite ratur der Menschheit enthielt. Das menschliche Haus hatte sich in den ver gangenen zweihundert Jahren erstaunlich wei terentwickelt. Und es war noch nicht fertig. Vielleicht machte die Entwicklung in den näch sten zwei Jahrhunderten ebenso große Fort schritte. War überhaupt ein Ende abzusehen? Blake warf einen Blick in die Zeitung. Das Haus hatte recht gehabt, es gab wirklich nicht viel Neues.
Drei Männer waren für den Intelligenzspei cher nominiert worden und würden sich nun zu den anderen Auserwählten gesellen, deren Gedanken und Persönlichkeiten, Wissen und Intelligenz in den vergangenen dreihundert Jahren in der riesigen Gehirnbank gespeichert worden waren, in der die Überzeugungen und Gedanken der intelligentesten Menschen auf bewahrt wurden. Das nordamerikanische Wet teränderungsprojekt war endlich dem Ober sten Gerichtshof in Rom zur Begutachtung vorgelegt worden. Der Streit um die Fischerei rechte vor Florida dauerte an. Ein Vermes sungsschiff war nach zehnjährigem Flug glück lich in Moskau gelandet, nachdem es bereits als verschollen gegolten hatte. Und die regio nalen Biotechnik-Hearings würden morgen in Washington beginnen. Der Artikel über die Hearings war mit Foto grafien der Senatoren Chandler Horton und Solomon Stone illustriert. Blake begann den Artikel zu lesen. WASHINGTON, NORDAMERIKA – Die bei den Senatoren von Nordamerika haben mor gen bei der Eröffnung des Hearings über das vieldiskutierte Biotechnikprogramm erstmals Gelegenheit, ihre Standpunkte öffentlich zu
verteidigen. Beobachter erwarten heftige Aus einandersetzungen, denn es hat in den ver gangenen Jahren keinen derartig umstritte nen Vorschlag mehr gegeben. Nordamerikas zwei Senatoren vertreten wie der einmal diametral entgegengesetzte Auf fassungen, wie sie es im Verlauf ihrer Karrie re als Politiker meistens getan haben. Senator Chandler Horton befürwortet das Projekt, das Anfang nächsten Jahres einer weltweiten Ab stimmung unterworfen wird. Senator Solo mon Stone ist ebenso entschieden dagegen. Daß diese beiden Männer anderer Meinung sind, ist nichts Neues, aber in diesem Fall er halten ihre Meinungsverschiedenheiten da durch größere Bedeutung, daß hier die Ein stimmigkeitsregel in Kraft tritt. Sie besagt im Grunde genommen nur, daß die Ergebnisse ei ner Volksabstimmung auch im Senat in Genf gültig bleiben müssen. Sollten die Wähler sich also für das Projekt entscheiden, müßte Sena tor Stone sich bereit erklären, in Genf dafür zu stimmen. Wäre er dazu nicht bereit, müßte er zurücktreten; sein Nachfolger würde un mittelbar darauf gewählt und müßte seiner seits vor der Wahl die gleiche Versicherung abgeben, um überhaupt für den frei werden den Sitz kandidieren zu können.
Sollten die Wähler gegen das Projekt stim men, befände Senator Horton sich in ähnli cher Lage. In früheren Jahren haben bestimmte Senato ren ihren Sitz dadurch behalten, daß sie für den Vorschlag stimmten, den sie zuvor abge lehnt hatten. Die meisten Beobachter sind sich darüber einig, daß Stone oder Horton diesen Ausweg nicht benützen würden. Beide setzen diesmal ihre politische Karriere aufs Spiel, und ihre persönliche Antipathie ist im Laufe der Jahre eher größer als ... »Entschuldigen Sie, Sir«, unterbrach ihn das Haus, »aber ich höre eben, daß Sie etwas Merkwürdiges erlebt haben. Es geht Ihnen doch hoffentlich wieder gut?« Blake sah auf. »Ja«, sagte er, »mir fehlt nichts.« »Wäre es nicht besser, wenn Sie zu einem Arzt gingen?« schlug das Haus vor. Blake legte die Zeitung fort. »Vielleicht hast du recht«, sagte er langsam. Schließlich ließ sich nicht leugnen, daß er in den letzten vier undzwanzig Stunden zweimal seltsame Erleb nisse gehabt hatte. »In Washington gibt es einen netten Arzt. Er heißt Daniels, glaube ich.«
»Doktor Michael Daniels«, bestätigte das Haus. »Du weißt seinen Namen?« »Unser Informationsspeicher ist ziemlich vollständig«, antwortete das Haus. »Wie könn ten wir sonst unsere Aufgabe erfüllen? Soll ich ihn anrufen?« »Bitte«, sagte Blake. Er stand auf und setzte sich ans Visorphon. Der Bildschirm flimmerte kurz und zeigte dann den Kopf des jungen Arz tes. »Andrew Blake. Erinnern Sie sich noch an mich?« »Natürlich«, antwortete Daniels. »Ich habe erst gestern an Sie gedacht. Wie geht es Ihnen?« »Körperlich bin ich in Ordnung«, erklärte Blake ihm. »Aber ich habe ... nun, man könnte Halluzinationen dazu sagen.« »Aber Sie sind eigentlich davon überzeugt, daß es sich um Halluzinationen handelt?« »Ziemlich«, sagte Blake. »Könnten Sie hierherkommen?« fragte Da niels. »Ich würde Sie gern untersuchen.« »Gerade das wollte ich vorschlagen, Doktor.« »Washington platzt fast aus den Nähten«, sagte Daniels, »aber hier gegenüber ist viel leicht noch Platz. Wollen Sie warten, während
ich mich erkundige?« »Ich kann warten«, antwortete Blake. Daniels verschwand vom Bildschirm. »Der Haferbrei ist fertig«, trompetete die Kü che. »Außerdem Toast, Rührei mit Schinken und Kaffee.« »Unser Herr telefoniert«, sagte das Haus streng. »Außerdem hat er nur Haferflocken be stellt.« »Vielleicht überlegt er es sich anders«, ant wortete die Küche. »Vielleicht ist er hungriger, als er dachte. Du willst dir doch nicht nachsa gen lassen, daß er bei uns hungern muß.« Da niels erschien wieder auf dem Bildschirm. »Im Augenblick ist kein Platz frei«, sagte er, »aber ich habe ein Fundament für morgen früh reservieren lassen. Hat es solange Zeit?« »Bestimmt«, antwortete Blake. »Ich wollte nur mit Ihnen sprechen.« »Das könnten Sie jetzt.« Blake schüttelte den Kopf. »Ich verstehe«, sagte Daniels. »Gut, wir sehen uns morgen gegen eins. Was haben Sie heute vor?« »Nichts.« »Warum gehen Sie nicht angeln? Das lenkt ab und beruhigt. Sind Sie Fischer?« »Ich weiß es nicht. Vielleicht, denn der Sport
kommt mir bekannt vor. Ich erinnere mich oft an Dinge, die ich früher gekannt haben muß.« »Schön, amüsieren Sie sich gut und kommen Sie morgen zu mir«, sagte Daniels. »In Ihrer Gegend muß es Forellenbäche geben. Suchen Sie sich einen.« »Wird gemacht, Doktor.« Der Bildschirm wurde dunkel. Blake sah auf. »Sobald Sie gefrühstückt haben, steht der Schweber vor der Veranda«, begann das Haus. »Das Angelzeug liegt im zweiten Schlafzimmer, der als Lagerraum dient, und die Küche berei tet einen Picknickkorb vor. Inzwischen suche ich einen guten Forellenbach heraus und er kläre Ihnen ...« »Hör endlich auf!« kreischte die Küche. »Das Frühstück wird kalt!«
8 Blake steuerte seinen Schweber an den idylli schen Waldbach heran und schaltete die Schwerkraftreduktoren aus. Er blieb noch einen Augenblick sitzen, hörte das Wasser lei se rauschen und sah die Sonne durch das hohe Blätterdach blitzen. Dann stieg er ab und schnallte den Essenskorb los, um an sein An gelzeug zu kommen. Er stellte den Korb neben sich ins Gras. Vor ihm in den dürren Ästen am Ufer raschel te etwas. Blake kniff die Augen zusammen. Ein Paar schwarze Augen beobachteten ihn wach sam. Ein Marder, dachte er. Oder ein Otter. Neu gierige kleine Tiere. »Hallo, Kleiner«, sagte Blake. »Stört es dich, wenn ich hier mein Glück versuche?« »Hallo«, antwortete der Marder-Otter mit heller Piepsstimme. »Welches Glück wollen Sie hier versuchen? Drücken Sie sich bitte genauer aus.« »Wa – was ...«, brachte Blake nur hervor. Der Marder-Otter kam aus seinem Versteck gekrochen. Dabei zeigte sich, daß er weder Marder noch Otter war, sondern ein Zweibei
ner, der geradewegs aus einem Kinderbuch zu stammen schien. Das seltsame Nagetier war etwa einen halben Meter groß, hatte niedliche Pinselohren, eine hohe Stirn und weichen, dunkelbraunen Pelz. Es trug hellrote Hosen mit aufgenähten Taschen, und seine Arme lie fen in schlanke Hände mit zarten Fingern aus. Jetzt hob es die Nase und schnüffelte. »Haben Sie zufällig etwas zu essen in Ihrem Korb?« fragte es mit seiner hellen Stimme. »Ja, natürlich«, antwortete Blake. »Hast du Hunger?« Alles war natürlich absurd. Innerhalb der nächsten Minute – vielleicht sogar schon frü her – würde diese Kinderbuchillustration ver schwinden, so daß er seine Angel auswerfen konnte. »Ich bin fast verhungert«, sagte die Illustrati on. »Die Leute, die mich sonst versorgen, sind in Urlaub gefahren. Seitdem muß ich mir das Essen zusammenbetteln. Haben Sie schon ein mal in Ihrem Leben betteln müssen?« »Nein«, antwortete Blake, »ich kann mich je denfalls nicht daran erinnern.« Das Tier verschwand nicht. Es blieb da und war offensichtlich fest entschlossen, diese Ge legenheit zu nützen. Großer Gott, dachte Blake, schon wieder!
»Wenn du Hunger hast, packen wir am be sten gleich aus«, sagte er. »Hast du besondere Vorlieben?« »Ich esse alles, was der Homo sapiens zu sich nimmt«, erklärte ihm das Wesen. »Ich bin nicht im geringsten wählerisch. Mein Metabo lismus entspricht zum Glück dem der Erdbe wohner.« Sie wandten sich dem Korb zu, und Blake hob den Deckel ab. »Mein Auftauchen scheint sie nicht zu stören«, stellte das Wesen fest. »Nun, es geht mich schließlich nichts an«, er widerte Blake und versuchte gelassen zu wir ken. »Wir haben hier Sandwiches, Kuchen, ein Glas Kartoffelsalat, Gurken, Tomaten und har te Eier.« »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, esse ich ein paar Sandwiches.« »Bitte sehr«, sagte Blake lächelnd. »Wollen Sie mir nicht Gesellschaft leisten?« »Danke, ich habe erst vorhin gefrühstückt.« Das Wesen nahm je ein Sandwich in beide Hände und begann gierig zu essen. »Sie müssen meine schlechten Manieren ent schuldigen«, sagte es zu Blake, »aber ich habe seit fast zwei Wochen nicht mehr richtig geges sen. Wahrscheinlich bin ich zu verwöhnt. Die
se Leute, die für mich sorgen, geben mir im mer, was sie gerade essen. Nicht nur eine Schüssel Milch – wie manche Leute.« Es verschlang die beiden Sandwiches, wollte nach einem dritten greifen und sah zu Blake auf. »Darf ich?« »Selbstverständlich«, sagte Blake. Es kaute nachdenklich auf dem dritten Sand wich herum. »Entschuldigen Sie eine Frage«, sagte es dann, »aber zu wievielt sind Sie eigent lich?« »Wie viele es von mir gibt?« »Ganz recht.« »Natürlich nur einen«, antwortete Blake überrascht. »Wie könnten es mehr sein?« »Ein Irrtum meinerseits«, entschuldigte sich das Wesen, »aber auf den ersten Blick hätte ich geschworen, daß Sie nicht allein seien.« Es aß das Sandwich auf und wischte sich die Krümel von den Schnurrbarthaaren. »Ich danke Ihnen«, sagte es ernsthaft. »Bitte, gern geschehen«, antwortete Blake. »Möchtest du wirklich kein Sandwich mehr?« »Vielleicht kein Sandwich – aber wenn Sie et was Kuchen hätten ...« »Bitte«, sagte Blake. Das Wesen bediente sich.
»Du hast mir eine Frage gestellt«, fuhr Blake fort. »Würdest du eine Gegenfrage für fair hal ten?« »Natürlich«, antwortete das Wesen. »Fragen Sie nur.« »Ich wüßte gern«, sagte Blake, »wer und was du eigentlich bist.« »Du lieber Himmel, das hätte ich nie gedacht«, meinte das Wesen überrascht. »Ich wäre nie auf die Idee gekommen, Sie könnten mich nicht erkennen.« Blake schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber ich habe keine Ahnung.« »Ich bin ein Brownie«, sagte das Wesen und verbeugte sich.
9 Dr. Michael Daniels saß an seinem Schreib tisch, als Blake hereingeführt wurde. »Wie fühlen Sie sich heute morgen?« wollte Daniels wissen. Blake grinste. »Trotz der vielen Tests einiger maßen. Haben Sie noch etwas vergessen?« »Hmm, wenn Sie meinen – wir haben noch zwei oder drei in Reserve«, sagte Daniels. »Nein, vielen Dank.« »Nehmen Sie Platz«, forderte Daniels ihn auf. »Wir haben einiges zu besprechen.« Er wartete und schlug dann einen dicken Ordner auf. »Ich kann mir vorstellen, daß Sie einige Nachforschungen angestellt haben«, sagte Bla ke. »Mit Erfolg?« Daniels schüttelte den Kopf. »Bisher noch nicht. Wir haben sämtliche Passagier- und Mannschaftslisten verschollener Schiffe über prüft. Die Raumfahrtbehörde hat es getan, denn sie ist an Ihrem Fall sehr interessiert.« »Passagierlisten sind nicht viel wert«, meinte Blake. »Nur Namen, und niemand weiß, ob ich ...« »Richtig«, stimmte Daniels zu, »aber es gibt auch Finger- und Stimmabdrücke. Nur Ihre
nicht.« »Irgendwie bin ich in den Raum gelangt ...« »Ja, das wissen wir. Und irgend jemand hat Sie eingefroren. Man müßte feststellen kön nen, warum jemand sich diese Mühe gemacht hat – das würde uns einen großen Schritt wei terbringen. Aber wenn ein Schiff verlorengeht, sind natürlich auch alle Aufzeichnungen verlo ren.« »Ich habe mir selbst Gedanken darüber ge macht«, sagte Blake. »Bisher haben wir ange nommen, ich sei eingefroren worden, um auf diese Weise überleben zu können. Wäre es nicht auch möglich, daß ich in diesem Zustand ausgestoßen worden bin, weil die Besatzung nichts mehr mit mir zu tun haben wollte – weil ich etwas verbrochen hatte oder weil die Leute vor mir Angst hatten?« »Hmm«, meinte Daniels, »daran habe ich bis her nicht gedacht. Ich habe mir nur überlegt, daß Sie vielleicht nicht der einzige Eingefrore ne waren, sondern nur der einzige, der gefun den worden ist. Vielleicht haben wir eine gute Chance, auch andere in gleicher Lage zu ret ten.« »Bleiben wir lieber bei der Möglichkeit, von der ich gesprochen habe. Warum sollte jemand sich die Mühe machen, mein Leben zu erhal
ten, wenn ich mich als so unerträglich erwie sen hatte, daß die Besatzung mich um keinen Preis mehr an Bord haben wollte?« Daniels schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht einmal vermuten. Denken Sie daran, daß wir hier nur Theorien aufstellen. Vielleicht er fahren wir nie, was eigentlich geschehen ist. Ich hatte gehofft, Sie würden sich allmählich an die Vergangenheit erinnern können, aber es ist Ihnen nicht gelungen, und Sie sind viel leicht nie dazu imstande. Später ist eine psych iatrische Behandlung vielleicht nützlich. Ich muß Ihnen allerdings ganz offen sagen, daß sie unter Umständen nicht hilft.« »Soll ich also aufgeben?« »Nein. Ich sage Ihnen nur die Wahrheit. Wir versuchen es weiter, solange Sie mitmachen. Aber Sie müssen sich darüber im klaren sein, daß wir vielleicht nie eine Antwort finden.« »Einverstanden«, sagte Blake. »Wie war es neulich beim Angeln?« fragte Da niels. »Schön«, antwortete Blake. »Ich habe sechs Forellen gefangen und bin den ganzen Tag im Freien gewesen. Das sollte ich schließlich, nicht wahr?« »Wieder Halluzinationen gehabt?« »Ja, eine«, sagte Blake. »Ich wollte Ihnen ur
sprünglich nichts davon erzählen. Aber was bedeutet schon eine Halluzination mehr oder weniger? Ich habe einen Brownie getroffen.« »Oh«, sagte Daniels. »Haben Sie mich nicht richtig verstanden? Ich habe einen Brownie getroffen. Ich habe mit ihm gesprochen. Er hat den größten Teil mei nes Mittagessens verzehrt. Sie wissen be stimmt, was ich meine: einer dieser kleinen Männer, die in Kinderbüchern dargestellt wer den. Mit spitzen Ohren und einer hohen Schirmmütze. Dieser eine hatte allerdings kei ne Mütze. Und er sah wie eine Mischung zwi schen Marder und Otter aus.« »Sie haben Glück gehabt. Nicht viele Leute bekommen einen Brownie zu Gesicht. Und noch weniger sprechen mit ihm.« »Die Brownies gibt es also wirklich?« »Ja, natürlich – ein Wandervolk von den Co onskin Sternen. Sie sind allerdings nicht sehr zahlreich. Ein Forschungsschiff hat sie vor hundert oder hundertzwanzig Jahren mitge bracht. Die Brownies sollten eine Weile auf der Erde leben – eine Art Kulturaustausch, soviel ich weiß – und dann wieder in ihre Heimat zu rückkehren. Aber sie wollten lieber auf der Erde bleiben und zogen in die Wälder; dort le ben sie in Erdhöhlen, unter Felsvorsprüngen
und in hohlen Bäumen.« Er schüttelte nachdenklich den Kopf. »Eine merkwürdige Rasse. Die Brownies ha ben fast alle materiellen Vorteile abgelehnt, die ihnen angeboten wurden. Sie wollten nichts mit unserer Zivilisation zu tun haben und ließen sich durch unsere Kultur nicht be eindrucken. Nur die Erde scheint ihnen zu ge fallen – solange sie hier leben können, wie es ihnen Spaß macht. Wir wissen nicht allzuviel von ihnen. Sie sind offenbar hochzivilisiert, aber auf andere Weise als wir; sie sind intelli gent, besitzen jedoch andere Ideale. Soviel ich weiß, schließen sie sich manchmal Familien an, die für ihre geringen Bedürfnisse sorgen. Das ist ein merkwürdiges Verhältnis, denn die Brownies sind keineswegs die Haustiere dieser Leute – man könnte sie eher als Talismane be zeichnen.« »Komisch«, murmelte Blake. »Sie haben den Brownie für eine weitere Hal luzination gehalten?« »Ja, natürlich. Ich dachte, er würde sich gleich in Nichts auflösen, aber er tat es nicht. Er saß da, verschlang meine Sandwiches und sagte mir, wo ich die Angel auswerfen sollte. Irgendwie schien er zu wissen, wo die Forellen standen.«
»Damit wollte er sich für das Essen erkennt lich zeigen. Er hat Ihnen Glück gebracht.« »Glauben Sie, daß er wirklich wußte, wo die Forellen standen? Ich meine, er schien es zu wissen, aber ...« »Durchaus möglich«, sagte Daniels. »Wie ge sagt, wir kennen die Brownies nicht allzu gut. Wahrscheinlich sind sie in mancher Beziehung begabter als wir.« Er sah nachdenklich zu Bla ke hinüber. »Sie hatten noch nie von Brownies gehört?« »Nein«, antwortete Blake. »Wieder ein Hinweis«, stellte Daniels zufrie den fest. »Wären sie damals auf der Erde ge wesen, hätten Sie bestimmt davon gehört.« »Vielleicht kann ich mich nur nicht mehr dar an erinnern.« »Das glaube ich nicht. Die Ankunft der Brow nies muß damals eine große Sensation gewe sen sein, denn alle Zeitungen waren voll da von. Sie könnten sich bestimmt daran erinnern.« »Es gibt noch andere Hinweise auf die Zeit«, sagte Blake. »Dieser Aufzug mit Robe und San dalen ist mir völlig neu. Zu meiner Zeit trugen die Männer lange Hosen und enganliegende Kittel. Und die Schiffe mit ihren Schwerkraft reduktoren sind mir ebenfalls neu.«
»Ich kann mir vorstellen, daß Ihnen an unse rer Zivilisation einiges neu war«, sagte Da niels. »Zum Beispiel die Häuser ...« »Sie haben mich anfangs fast zum Wahnsinn getrieben«, gab Blake zu. »Aber ich bin froh, daß es die Brownies wirklich gibt. Damit ist wenigstens ein Zwischenfall zufriedenstellend erklärt.« »Sie meinen die Halluzinationen. Ihrer Auf fassung nach sind es keine, nicht wahr? Das haben Sie gestern selbst gesagt.« »Ich kann mir nicht vorstellen, wie es Hallu zinationen sein sollen«, antwortete Blake. »Ich erinnere mich bis zu einem gewissen Zeitpunkt an alle Einzelheiten, dann folgt die große Lee re, und schließlich komme ich wieder zu Be wußtsein. Ich kann mich an nichts erinnern, obwohl sich irgend etwas ereignet haben muß.« »Beim zweitenmal haben Sie geschlafen«, stellte Daniels fest. »Richtig. Aber das Zimmer hat bestimmte Er scheinungen wahrgenommen, die längere Zeit andauerten.« »Welches Haus haben Sie?« »Ein Norman-Gilson 258.« »Modern, zweckmäßig und praktisch idioten sicher, wenn Sie den Ausdruck entschuldigen«,
sagte Daniels. »Recht unwahrscheinlich, daß es versagt haben sollte.« »Ich glaube nicht, daß es versagt hat«, ant wortete Blake. »Meiner Überzeugung nach hat das Zimmer die Wahrheit gesagt. Ich bin auf dem Fußboden aufgewacht ...« »Aber Sie haben erst vom Zimmer erfahren, was inzwischen geschehen war. Sie können sich auch nicht vorstellen, weshalb diese Dinge passieren?« »Nein. Ich hatte gehofft, Sie würden eine Er klärung finden.« »Tut mir leid, damit kann ich nicht dienen«, erwiderte Daniels. »Aber mir sind zwei Tatsa chen aufgefallen, die ich ... nun, verwirrend finde. Zum Beispiel Ihre körperliche Verfas sung. Sie sehen wie ein Mann von dreißig, fünfunddreißig Jahren aus. Ihr Gesicht ist nicht mehr faltenlos; es wirkt gereift. Und trotzdem haben Sie den Körper eines Jugendli chen. Nirgendwo sind Schwächen oder Anzei chen beginnender Schwächen festzustellen. Sie sind in geradezu idealer Verfassung. Warum sehen Sie dann wie ein Dreißigjähriger aus?« »Und die andere Tatsache? Sie haben doch zwei erwähnt.« »Die andere? Nun, Ihr Enzephalogramm zeigt ein seltsames Bild. Man könnte fast glauben, in
Ihrem Fall seien die eigentlichen Gehirnströ me von anderen überlagert. Nicht allzu deut lich, aber immerhin wahrnehmbar.« »Was soll das heißen, Doktor?« fragte Blake irritiert. »Daß ich geistig nicht ganz in Ord nung bin? Das würde natürlich die Halluzina tionen erklären – sie wären dann tatsächlich Halluzinationen und nichts anderes.« Daniels schüttelte den Kopf. »Nein, das wollte ich nicht sagen. Die Erscheinung ist merkwür dig, zeigt aber keine Störungen und Funktions fehler an. Ihr Gehirn ist offenbar gesund und normal wie Ihr ganzer Körper. Aber man könnte fast glauben, Sie hätten mehr als nur ein Gehirn, obwohl Röntgenaufnahmen selbst verständlich nur eines zeigen.« »Wissen Sie bestimmt, daß ich ein Mensch bin?« »Ihrem Körper nach ganz sicher. Warum fra gen Sie danach?« »Ich weiß nicht recht«, murmelte Blake. »Ich bin draußen im Raum gefunden worden, ich komme von dort ...« »Aha«, sagte Daniels. »Schlagen Sie sich das aus dem Kopf. Wir haben keinen Beweis dafür, daß Sie etwas anderes als ein Mensch sind.« »Und was nun? Soll ich wieder nach Hause gehen und abwarten, ob ...«
»Nicht so hastig«, warf Daniels ein. »Wir würden Sie gern noch einige Tage hierbehal ten, wenn Sie einverstanden sind.« »Weitere Untersuchungen?« »Vielleicht. Ich möchte Sie mit einigen Kolle gen bekanntmachen. Es könnte ja sein, daß ih nen etwas einfällt. Und ich möchte Sie unter Beobachtung halten.« »Falls ich wieder Halluzinationen habe?« »So ähnlich«, gab Daniels zu. »Die Sache mit den Gehirnströmen beunru higt mich«, sagte Blake. »Mehr als einer, sagen Sie ...« »Nein. Das Enzephalogramm enthält nur un deutliche Hinweise. An Ihrer Stelle würde ich mir deswegen keine Sorgen machen.« »Gut, dann mache ich mir keine«, versprach Blake. Aber was hatte der Brownie gefragt? Wie vie le von Ihnen gibt es? Ich hätte auf den ersten Blick schwören können, daß es mehr als einer ist. »Doktor, dieser Brownie ...« »Ja?« »Ach, das ist nicht weiter wichtig«, sagte Bla ke mit einer abwehrenden Handbewegung. »Es spielt wirklich keine Rolle.«
10 Auszug aus dem Protokoll der Senats-Hea rings (Washington, Nordamerika) über ein vorgeschlagenes biotechnisches Projekt als Grundlage der Kolonisierung anderer Son nensysteme. M. PETER DOTY, Rechtsberater des Komi tees: Ihr Name ist Austin Lukas? DR. LUKAS: Jawohl, Sir. Ich wohne in Tenaf ly, New Jersey, und arbeite bei Biologics, Inc., in Manhattan, New York City. MR. DOTY: Sie leiten die Entwicklungsabtei lung dieser Firma, nicht wahr? DR. LUKAS: Ich bin für eines ihrer For schungsprogramme verantwortlich. MR. DOTY: Und dieses Programm ist biotech nisch orientiert? DR. LUKAS: Richtig, Sir. Im Augenblick be fassen wir uns mit der Entwicklung eines land wirtschaftlichen Allzwecktieres. MR. DOTY: Erläutern Sie bitte diesen Begriff. DR. LUKAS: Gern. Wir wollen ein Tier ent wickeln, das verschiedene Sorten von Milch gibt und Wolle, Haar oder Pelz liefert – viel leicht alle drei. Es könnte – das hoffen wir je
denfalls – die vielen spezialisierten Tiere erset zen, die der Mensch seit der Neolithischen Re volution züchtet. SENATOR STONE: Und soviel ich gehört habe, Doktor Lukas, besteht Grund zu der An nahme, daß Ihr Team damit Erfolg haben wird. DR. LUKAS: Das kann man allerdings sagen, den die grundlegenden Probleme sind gelöst. Wir haben sogar schon eine Herde dieser Tiere und befassen uns nun mit Verbesserungen. Unser Ziel ist ein neues Tier, das sämtliche an deren ersetzen kann, die bisher in der Land wirtschaft verwendet werden. SENATOR STONE: Und Sie glauben, daß sich dieses Problem ebenfalls lösen läßt? DR. LUKAS: Wir haben allen Grund dazu. SENATOR STONE: Darf ich fragen, wie das bisher entwickelte Tier heißt? DR. LUKAS: Wir haben ihm keinen Namen gegeben, Senator. Darüber haben wir nicht einmal nachgedacht. SENATOR STONE: Es wäre keine Kuh, nicht wahr? DR. LUKAS: Nein, nicht völlig. Es hätte nur bestimmte Eigenschaften einer Kuh mitbe kommen. SENATOR STONE: Auch kein Schaf? Oder ein Schwein?
DR. LUKAS: Nein, weder noch, sondern mit Eigenschaften beider Tiere. SENATOR HORTON: Ich halte diese langen Vorreden für überflüssig. Mein verehrter Kol lege möchte von Ihnen wissen, ob dieses Tier völlig neuartig ist – sozusagen eine syntheti sche Lebensform – oder ob es trotz aller Ver änderungen weiterhin mit den bekannten na türlichen Formen verwandt ist. DR. LUKAS: Das ist eine äußerst schwierige Frage, Senator. Ich kann nur wahrheitsgetreu antworten, daß die jetzt bekannten natürlichen Formen beibehalten worden sind und als Mo dell gedient haben. Das Ergebnis ist jedoch eine grundsätzlich neue Tierart. SENATOR STONE: Ich danke Ihnen, Sir. Und ich möchte auch meinem hochverehrten Kolle gen danken, der so rasch erkannt hat, in wel che Richtung meine Fragen zielten. Wir haben es also mit einer neuartigen Lebensform zu tun, die entfernt mit Kühen, Schweinen, Scha fen und vielleicht auch anderen Tieren ver wandt ist. DR. LUKAS: Richtig, auch mit anderen. Ver mutlich gibt es irgendwo eine Grenze, aber wir haben sie noch nicht erreicht. Bisher fügen wir immer neue Lebensformen zu einem Ganzen zusammen, ohne auf bedeutende Hindernisse
zu stoßen. SENATOR STONE: Und je weiter Sie in dieser Richtung vordringen, desto mehr entfernt sich die entstehende Lebensform von allen bisher bekannten Tierarten? DR. LUKAS: Ja, das kann man wohl sagen, obwohl ich es vielleicht anders ausdrücken würde. SENATOR STONE: Sprechen wir lieber über den gegenwärtigen Stand der Wissenschaft, Doktor. Mit Hilfe dieser biotechnischen Ver fahren züchten Sie neue Tiere. Ließe sich die Biotechnik auch auf Menschen anwenden? DR. LUKAS: O ja, Sir. Selbstverständlich. SENATOR STONE: Sie vermuten also, daß man im Labor neuartige Menschen heranzüch ten könnte. Vielleicht sogar zahlreiche Typen. DR. LUKAS: Daran zweifle ich nicht im ge ringsten. SENATOR STONE: Würde diese neue menschliche Rasse, die Sie damit geschaffen hätten, sich in dieser neuen Form fortpflan zen? DR. LUKAS: Das steht außer Frage, Sir. Unse re neuen Tiere pflanzen sich alle reinrassig fort. Bei Menschen wäre es bestimmt nicht an ders. Es handelt sich nur darum, das ur sprüngliche Material zu verändern. Damit ist
eigentlich schon alles getan, wissen Sie. SENATOR STONE: Wirklich interessant. Neh men wir also an, Sie hätten einen neuen Men schen entwickelt – würde dieser Mensch mit seinen Artgenossen andere Menschen des glei chen Typs zeugen? DR. LUKAS: Selbstverständlich. Dabei gäbe es allerdings winzige Mutationen und Evolutio nen, die jedoch auch in der Natur auftreten. Schließlich hat sich so alles Leben weiterent wickelt. SENATOR STONE: Und nehmen wir einmal an, Sie hätten einen neuen Menschen geschaf fen. Zum Beispiel einen Menschen, der unter wesentlich höherer Schwerkraft leben, eine anders zusammengesetzte Luft atmen und Nahrung aufnehmen könnte, die für uns giftig wäre – würden Sie ihn ... Nein, lassen Sie mich eine andere Frage stellen. Wäre es Ihrer Mei nung nach möglich, einen Menschen dieser Art im Labor zu erzeugen? DR. LUKAS: Sie fragen natürlich nur nach meiner persönlichen Meinung als Fachmann? SENATOR STONE: Ganz recht. DR. LUKAS: Nun, ich glaube, daß diese Mög lichkeit durchaus besteht. Man müßte zuerst alle notwendigen Faktoren berücksichtigen, dann einen biologischen Bauplan erstellen und
... SENATOR STONE: Aber es wäre jedenfalls möglich? DR. LUKAS: Zweifelsohne. SENATOR STONE: Sie könnten ein Lebewe sen konstruieren, das auf verschiedenen Pla neten unter Verhältnissen existieren könnte, die kein Mensch ertragen würde? DR. LUKAS: Senator, ich möchte feststellen, daß ich persönlich nicht dazu imstande wäre. Biotechnische Mutationen von Menschen ge hören nicht zu meinem Fachgebiet. Aber unse re Wissenschaft hat solche Fortschritte ge macht, daß diese Möglichkeit durchaus denkbar ist. Einige der Männer, die an diesem Problem arbeiten, konnten derartige Aufgaben bestimmt lösen. Vorläufig besteht noch kein Anlaß, wirklich neue Menschen hervorzubrin gen, aber die grundlegenden Probleme sind meines Wissens bereits gelöst. SENATOR STONE: Auch die Verfahrensfra gen? DR. LUKAS: Ja, soviel ich weiß auch die Ver fahrensfragen. SENATOR STONE: Und diese Männer, die sich mit diesen Problemen befassen könnten ein Lebewesen konstruieren und erzeugen, das unter allen vorstellbaren Bedingungen lebens
fähig wäre? DR. LUKAS: Nun, nicht ganz so umfassend, Senator. Nicht unter allen Bedingungen. Viel leicht im Laufe der Zeit, aber nicht schon jetzt. Und es gibt natürlich Bedingungen, die mit kei ner Art Leben vereinbar sind. SENATOR STONE: Aber es wäre möglich, eine menschliche Lebensform zu erzeugen, die unter gewissen Bedingungen existieren konn te, die jetzige Menschen nicht oder nicht lange ertragen würden. DR. LUKAS: Gegen diese Feststellung ist wohl nichts einzuwenden. SENATOR STONE: Beantworten Sie mir eine Frage, Doktor – wäre diese Lebensform noch immer menschlich? DR. LUKAS: Sie würde dem biologischen und intellektuellen Vorbild des Menschen weitge hend entsprechen. Das wäre unbedingt erfor derlich. Schließlich braucht man einen Aus gangspunkt. SENATOR STONE: Würde sie wie ein Mensch aussehen? DR. LUKAS: In vielen Fällen nicht. SENATOR STONE: Aber vielleicht in den mei sten. Habe ich recht, Doktor? DR. LUKAS: Das hängt nur von den Umwelt bedingungen ab, denen dieses neue Lebewesen
ausgesetzt wäre. SENATOR STONE: In einigen Fällen wäre es ein Ungeheuer, nicht wahr? DR. LUKAS: Senator, diesen Ausdruck müß ten Sie näher definieren. Was ist Ihrer Auffas sung nach ein Ungeheuer? SENATOR STONE: Gut, ich will mich deutli cher ausdrücken. Für mich ist ein Ungeheuer eine Lebensform, deren Anblick in Menschen Entsetzen und Abscheu hervorrufen muß. Eine Lebensform, in der kein menschliches Wesen eine Verwandtschaft mit sich erkennt. Eine Le bensform, die Menschen erschrocken oder an gewidert betrachten würden. DR. LUKAS: Die Reaktion des menschlichen Betrachters würde zum größten Teil von seiner eigenen Persönlichkeit und Intelligenz abhän gen. Bei entsprechender Geisteshaltung ... SENATOR STONE: Lassen wir die Geisteshal tung vorläufig. Sprechen wir lieber von ge wöhnlichen Männern und Frauen, wie sie hier im Saal sitzen. Würden einige dieser Leute Ihre hypothetische Schöpfung mit Abscheu und Entsetzen betrachten? DR. LUKAS: Das ist durchaus wahrscheinlich. Und ich möchte Sie verbessern, Senator. Sie haben von einem Ungeheuer gesprochen. Das ist jedoch nicht mein Ungeheuer, sondern Sie
haben etwas heraufbeschworen ... SENATOR STONE: Aber manche Menschen würden dieses Lebewesen als Ungeheuer be trachten? DR. LUKAS: Einige bestimmt. SENATOR STONE: Vielleicht viele? DR. LUKAS: Ja, vielleicht viele. SENATOR STONE: Ich danke Ihnen, Doktor. Das waren vorläufig alle Fragen. SENATOR HORTON: Nun, Doktor Lukas, be trachten wir diesen künstlichen Menschen et was genauer. Ich weiß, daß der Ausdruck nicht genau zutrifft – aber mein verehrter Kollege freut sich vielleicht darüber. SENATOR STONE: Richtig, ein synthetischer Mensch. Andere Planeten sollen nicht von Menschen besiedelt werden, sondern von syn thetischen Kreaturen, die keine Ähnlichkeit mit menschlichen Wesen hätten. Mit anderen Worten – wir würden eine Horde von Unge heuern auf die Galaxis loslassen. SENATOR HORTON: Nun, das muß sich erst herausstellen. Doktor Lukas, Sie und ich wol len in diesem Punkt mit Senator Stone über einstimmen und annehmen, ein Wesen dieser Art sei schrecklich anzusehen. Aber der äußere Eindruck ist meines Erachtens ganz unwichtig. Entscheidend ist nur, was dieses Wesen ist.
Finden Sie das auch? DR. LUKAS: Ich bin völlig Ihrer Meinung, Sir. SENATOR HORTON: Wäre dieses Lebewesen Ihrer Auffassung nach trotz aller sichtbaren Unterschiede ein Mensch? DR. LUKAS: Natürlich, Senator. Die Körper form wäre in diesem Fall nicht entscheidend. Wichtig ist nur das Gehirn, das die Verhaltens weisen und Reaktionen bestimmt. SENATOR HORTON: Und dieses Gehirn wäre ein menschliches Gehirn? DR. LUKAS: Jawohl, Sir. SENATOR HORTON: Deshalb würde das Le bewesen wie jeder Mensch reagieren und han deln? DR. LUKAS: Allerdings, Sir. SENATOR HORTON: Und deshalb wäre es trotz unterschiedlicher Körperform durchaus menschlich? DR. LUKAS: Ja, menschlich. SENATOR HORTON: Doktor, ist Ihres Wis sens je ein Lebewesen dieser Art erzeugt wor den? Unter Lebewesen verstehe ich natürlich einen künstlichen Menschen. DR. LUKAS: Ja, vor etwa zweihundert Jah ren. Es hat sogar zwei gegeben. Aber der Un terschied bestand daraus, daß ... SENATOR STONE: Augenblick! Sprechen Sie
von dem Gerücht, das man ... DR. LUKAS: Es ist kein Gerücht, Senator. SENATOR STONE: Können Sie Ihre Behaup tung beweisen? DR. LUKAS: Nein, Sir. SENATOR STONE: Was soll das heißen? Wie können Sie hier Behauptungen aufstellen und den Beweis schuldig bleiben? SENATOR HORTON: Ich kann sie beweisen. Ich werde die entsprechenden Dokumente zur rechten Zeit vorlegen. SENATOR STONE: Vielleicht sollte der Sena tor in den Zeugenstand treten ... SENATOR HORTON: Keineswegs. Ich bin mit diesem Zeugen durchaus zufrieden. Sie haben von einem Unterschied gesprochen, Sir, der ... SENATOR STONE: Augenblick. Ich bezweifle, daß der Zeuge kompetent ist. SENATOR HORTON: Nun, das läßt sich doch feststellen. Doktor Lukas, unter welchen Um ständen sind Sie zu dieser Information ge langt? DR. LUKAS: Als ich vor etwa zehn Jahren Ma terial für eine Veröffentlichung sammelte, habe ich um Genehmigung gebeten, bestimmte Akten der Raumfahrtbehörde einsehen zu dür fen. Ich wollte diesem sogenannten Gerücht nachgehen, Senator. Es ist nicht allzu vielen
Leuten bekannt, aber ich hatte davon gehört und wollte eigene Nachforschungen anstellen. Ich bat also um Genehmigung ... SENATOR HORTON: Und Sie erhielten sie? DR. LUKAS: Nicht sofort, denn die Raum fahrtbehörde war ... nun, man könnte es zu rückhaltend nennen. Ich berief mich schließ lich darauf, daß eine zweihundert Jahre alte Affäre keiner Geheimhaltung mehr unterlie gen könne, da sie inzwischen historische Be deutung erlangt habe. Trotzdem war es nicht leicht, dieses Argument überzeugend genug vorzutragen. SENATOR HORTON: Aber schließlich hatten Sie doch Erfolg? DR. LUKAS: Ganz recht. Allerdings nur mit wirksamer Unterstützung von oben, möchte ich hinzufügen. Die Akten waren früher mit höchster Geheimhaltungsstufe gelagert wor den, die theoretisch noch immer galt. Ich hatte einige Mühe, die Unsinnigkeit dieses Verfah rens überzeugend darzulegen ... SENATOR STONE: Augenblick, Doktor. Noch eine Frage, bevor Sie fortfahren. Sie haben von Unterstützung gesprochen, nicht wahr? Könn te ein beträchtlicher Teil dieser Unterstützung Senator Horton zuzuschreiben sein? SENATOR HORTON: Da die Frage mich be
trifft, möchte ich sie selbst beantworten, wenn Doktor Lukas einverstanden ist. Ich gebe gern zu, daß ich ihn unterstützt habe. SENATOR STONE: Schön, mehr wollte ich nicht wissen. Das genügt mir. SENATOR HORTON: Fahren Sie bitte fort, Doktor Lukas. DR. LUKAS: Die Akten zeigten, daß vor zwei hunderteinundzwanzig Jahren – also 2266, um es genau zu sagen – zwei synthetische Lebewe sen hergestellt worden waren. Sie hatten Men schenkörper und Menschengehirne, waren je doch für einen besonderen Zweck konstruiert worden. Sie sollten mit Lebewesen auf ande ren Planeten in Verbindung treten und an Bord von Forschungsschiffen mitgeführt wer den, um neuentdeckte Planeten und ihre Le bensformen zu erforschen. SENATOR HORTON: Lassen wir vorläufig die Details, Doktor Lukas. Können Sie uns sagen, wie dieser Auftrag erfüllt werden sollte? DR. LUKAS: Ich weiß nicht, ob ich es ver ständlich genug ausdrücken kann, aber ich will es versuchen. Diese synthetischen Menschen waren höchst anpassungsfähig. Man könnte sie sogar – ein besserer Ausdruck fällt mir nicht ein – als plastisch bezeichnen. Ihre Konstrukti on war dadurch bemerkenswert, daß sie fast
unbegrenzt ausbau- und erweiterungsfähig war. Sie wissen vielleicht, was ich meine – voll ständig und doch in gewisser Beziehung un vollständig. Die Aminosäuren ... SENATOR HORTON: Vielleicht genügt es vor läufig, wenn Sie uns schildern, was diese Lebe wesen tun sollten, ohne ihre Konstruktions prinzipien zu erwähnen. DR. LUKAS: Sie meinen nur die beabsichtigte Funktionsweise? SENATOR HORTON: Ja, bitte. DR. LUKAS: Nach der Landung eines For schungsschiffes auf einem neuen Planeten soll te ein Exemplar der dominierenden Rasse ein gefangen und abgetastet werden. Der biologische Abtastvorgang ist allgemein be kannt, nehme ich an. Körperstruktur, chemi sche Prozesse in den Zellen, der gesamte Meta bolismus und alle anderen Charakteristiken dieses Lebewesens sollten genau bestimmt werden. Sämtliche Informationen sollten dann auf den synthetischen Menschen übertragen werden, der wegen seiner besonderen Kon struktion in der Lage sein mußte, die Gestalt des so beschriebenen Lebewesens anzuneh men. Dieser Vorgang kann nicht lange gedau ert haben, denn jede Verzögerung wäre fatal gewesen. Es muß unheimlich gewesen sein,
wie sich ein Mensch in Sekundenbruchteilen in ein anderes Wesen verwandelte. SENATOR HORTON: Sie sagen, daß der Mensch sich in dieses andere Wesen verwan delt hätte. In dieser Beziehung? Oder ... DR. LUKAS: Der Mensch wäre jenes andere Wesen geworden, Senator. Nicht eines dieser Wesen, verstehen Sie, sondern eine genaue Nachbildung des ursprünglichen Modells. Er besäße die Erinnerung dieses Wesens, dächte wie das Vorbild und könnte an seine Stelle tre ten. Es könnte das Schiff verlassen, sich zu den Artgenossen des untersuchten Lebewesens ge sellen und dort seinen Auftrag durchführen ... SENATOR HORTON: Soll das heißen, daß es weiterhin menschlich denken könnte? DR. LUKAS: Nun, das ist schwer zu sagen. Der menschliche Verstand und alle Erinnerun gen wären noch immer vorhanden, aber natür lich völlig überdeckt. Der Verstand würde die Rolle des Unterbewußtseins übernehmen, das eine bestimmte Reaktion hervorrufen kann. Dieses ehemals menschliche Wesen würde da durch gezwungen, nach Ablauf einer festgeleg ten Zeit ins Schiff zurückzukehren, wo die Ver wandlung rückgängig gemacht würde. In menschlicher Gestalt würde es sich dann an das andere Leben erinnern und dadurch wert
volle Informationen liefern, die anders nicht zu beschaffen wären. SENATOR HORTON: Und welchen Erfolg hat das alles gehabt? DR. LUKAS: Das ist schwer zu sagen, Sir. Es gibt keine Erfolgsmeldung. Die beiden sind ge startet, das steht fest. Aber mehr wissen wir nicht. SENATOR HORTON: Sie vermuten also, daß irgend etwas nicht geklappt hat? DR. LUKAS: Richtig, Sir. Aber ich kann mir keinen Grund vorstellen. SENATOR HORTON: Hatte es vielleicht mit den imitierten Menschen zu tun? DR. LUKAS: Ja, das ist möglich, aber nicht bewiesen. SENATOR HORTON: Vielleicht haben sie nicht funktioniert? DR. LUKAS: Oh, daran besteht kein Zweifel. Die beiden müssen einfach funktioniert haben. Sie konnten gar nicht anders. SENATOR HORTON: Ich stelle diese Fragen nur, weil mein verehrter Kollege sie sonst stel len würde. Nun noch eine eigene: Könnte man heutzutage einen imitierten Menschen dieser Art bauen? DR. LUKAS: Da die Konstruktionspläne noch vorhanden sind, wäre es leicht, weitere zu bau
en. SENATOR HORTON: Aber Ihres Wissens sind keine weiteren gebaut worden? DR. LUKAS: Ganz recht, Sir. SENATOR HORTON: Möchten Sie eine Ver mutung darüber anstellen? DR. LUKAS: Nein, Senator, dazu möchte ich mich lieber nicht äußern. SENATOR STONE: Sie erlauben hoffentlich, daß ich unterbreche, hochverehrter Kollege. Doktor Lukas, gibt es einen allgemeinverständ lichen Ausdruck für dieses biotechnische Ver fahren, das Sie eben geschildert haben? Einen Sammelbegriff für die Herstellung künstlicher Menschen zu dem von ihnen beschriebenen Zweck? DR. LUKAS: Ja, das Verfahren hat einen für Laien verständlichen Namen. Wir bezeichnen es als Werwolfprinzip ...
11 Andrew Blake lag auf der Dachterrasse des Krankenhauses in der Sonne, als eine Schwe ster an seinen Liegestuhl kam. »Mister Blake«, sagte sie aufgeregt, »Sie ha ben Besuch.« Blake stand auf und drehte sich um. Am Fahr stuhl stand eine junge Frau – groß, dunkelhaa rig, in blaßgrüner Robe. »Ah, Miß Horton«, murmelte er. »Das ist aber nett.« Sie kam auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen. »Ich war gestern nachmittag in Ihrem Dorf«, sagte sie dabei, »und habe erfahren, daß Sie bereits nach Washington umgezogen waren.« »Tut mir leid, daß ich nicht mehr dort war«, entschuldigte Blake sich. »Nehmen Sie doch bitte Platz.« Sie setzte sich in einen Liegestuhl, und Blake blieb am Geländer stehen. »Sie haben also Ihren Vater nach Washington begleitet«, sagte er. »Die Hearings ...« Elaine Horton nickte. »Sie haben heute mor gen begonnen.« »Und Sie wollen zumindest einige miterle
ben?« »Ja«, antwortete sie, »obwohl es mir nicht leichtfallen wird, die Niederlage meines Vaters zu verfolgen. Ich bewundere natürlich, daß er für seine Überzeugung eintritt, aber er sollte gelegentlich eine Sache unterstützen, die in der Öffentlichkeit Anklang findet. Das ist je doch bisher noch nie der Fall gewesen – er steht immer auf der falschen Seite, soweit es die Öffentlichkeit betrifft. Und diesmal kann er sich dadurch wirklich schaden.« »Sie meinen die Einstimmigkeitsregel, nicht wahr? Ich habe neulich einen Artikel darüber gelesen. Nicht sehr sinnvoll, finde ich.« »Vielleicht haben Sie recht«, antwortete Elai ne Horton, »aber daran läßt sich nichts än dern. Auf diese Weise ist dafür gesorgt, daß die Mehrheit hundertprozentig Sieger bleibt. Der Senator würde entsetzlich darunter leiden, wenn er sich aus dem öffentlichen Leben zu rückziehen müßte.« »Ich finde Ihren Vater sehr sympathisch«, sagte Blake. »Er erinnert mich irgendwie an das Haus, in dem Sie leben.« »Sie meinen bestimmt altmodisch.« »Nein, Sie dürfen mich nicht mißverstehen. Er wirkt irgendwie solid, und er ist trotzdem begeisterungsfähig und kämpft für das, was er
als richtig erkannt hat.« »Richtig, er kämpft dafür«, meinte Elaine, »und ich weiß, daß viele Leute ihn deswegen bewundern. Aber er versteht es auch, viele Leute dadurch zu irritieren, daß er ihre Fehler aufdeckt.« Blake lachte. »Das ist natürlich der sicherste Weg, um die Leute zu irritieren.« »Vielleicht«, sagte Elaine und wechselte das Thema. »Wie kommen Sie zurecht?« »Recht gut«, erklärte er ihr. »Ich weiß gar nicht, weshalb ich hier im Krankenhaus bin. Aber ich entdecke täglich neue Dinge, die mir bisher völlig unbekannt waren. Erst vor weni gen Tagen bin ich einem Brownie begegnet.« Elaine klatschte begeistert in die Hände. »Ei nem Brownie! Wirklich?« Blake nickte. »Er hat mit mir gegessen.« »Oh, wie nett! Die meisten Leute bekommen nie einen zu Gesicht.« »Ich habe ihn für eine Halluzination gehal ten«, gab Blake zu. »Wie damals, als Sie zu uns gekommen sind?« »Richtig. Ich weiß noch immer nicht, was da mals passiert ist. Es gibt keine Erklärung da für.« »Die Ärzte ...«
»Die Ärzte sind so verblüfft wie ich. Vielleicht hat der Brownie doch nicht so unrecht gehabt.« »Der Brownie? Was hat er damit zu tun?« »Er hat mich gefragt, wie viele es von mir gebe, denn er war auf den ersten Blick offen bar davon überzeugt, mehr als einen vor sich zu haben. Zwei Männer in einem, drei in einem ... Er hat nur ›mehr als einer‹ gesagt.« »Aber jeder Mensch hat doch mehrere Seiten, Mister Blake«, wandte sie ein. Er schüttelte den Kopf. »Ich habe viel dar über nachgedacht und bin davon überzeugt, daß der Brownie etwas anderes gemeint haben muß.« »Haben Sie Ihrem Arzt davon erzählt?« »Nein, noch nicht. Der arme Kerl hat schon genügend Sorgen. Das wäre nur eine zusätzli che Belastung.« »Aber vielleicht wichtig.« »Das kann ich nicht beurteilen«, sagte Blake. »Sie benehmen sich, als legten Sie gar keinen Wert darauf, Ihr rätselhaftes Schicksal geklärt zu wissen«, stellte Elaine Horton fest. »Oder fürchten Sie sich vielleicht davor?« Blake starrte sie an. »Daran habe ich noch nicht gedacht«, meinte er nachdenklich, »aber Sie könnten recht haben ...«
12 Angst dröhnte durch den Tunnel. Es roch nach fremden Düften; unverständliche Laute ertönten von allen Seiten. Licht brach sich an den Wänden, und der Boden war hart wie Fels. Das Lebewesen duckte sich winselnd zusam men. Alle Muskeln waren angespannt, alle Nerven vor Entsetzen wie gelähmt. Der Tunnel ging endlos weiter, und es gab kein Entkommen. Es saß in der Falle. Und es konnte sich nicht vorstellen, wo es gefangen war. Jedenfalls an einem unbekannten Ort, den es nie freiwillig aufgesucht hätte. Es war urplötzlich hier abgesetzt worden, ohne den Grund dafür zu erkennen. Der Tunnel besaß in regelmäßigen Abständen Öffnungen. Aus einer dieser Öffnungen trat jetzt ein schreckliches Wesen, wandte sich in seine Richtung und kam näher. Dann schrie es auf, ließ etwas krachend zu Boden fallen und lief rasch davon. Das Lebewesen setzte sich in Bewegung und verschwand durch die nächste Öffnung. Seine Krallen rutschten auf dem harten Bodenbelag aus. Es suchte nach einem Ausweg, sah keinen und war dankbar, als die große Dunkelheit
wieder herabsank. Blake blieb schweratmend neben seinem Bett stehen und fragte sich im gleichen Augenblick, weshalb er rannte und weshalb sein Schlafan zug auf dem Fußboden lag. Und in dieser Se kunde schien in seinem Gehirn ein Knoten zu platzen, und er erinnerte sich an den Tunnel und das Entsetzen und die beiden anderen, die mit ihm vereint waren. Er ließ sich aufs Bett fallen und atmete er leichtert auf. Nun war er endlich wieder ganz: Er war nicht allein, sondern in Gesellschaft der beiden anderen. »Hallo, Freunde«, flüsterte er, und sie antworteten lautlos. Er verstand sie trotzdem so deutlich, als hätten sie gespro chen. Ein Händedruck und Brüderschaft. Klare, kalte Sterne über einer Wüste aus Sanddünen und Schneewehen. Ein Verstand, der Informa tionen von anderen Sternen einholt, die das Auge nicht mehr erkennt. Der feuchtwarme, dampfende Sumpf. Die langwierige Auswer tung der Daten im Innern der Pyramide, die ein biologischer Computer war. Die rasche und vollständige Verschmelzung der Gedan ken dreier Lebewesen. Selbständige Wesen, die gemeinsam überlegten und planten. Es hat mich gesehen und ist fortgelaufen, sag
te Sucher. Jetzt kommen bestimmt andere. Dies ist dein Planet, Wechsler. Du mußt wis sen, was zu tun ist. Richtig, Denker, sagte Wechsler, mein Planet. Aber unser Wissen ist ein Wissen. Aber du kannst rascher entscheiden. Unser Wissen ist zu groß. Wir folgen dir, aber etwas langsamer. Denker hat recht, sagte Sucher. Die Entschei dung liegt bei dir. Vielleicht erkennen sie nicht gleich die Wahr heit, meinte Wechsler. Jedenfalls nicht sofort. Wir haben noch etwas Zeit. Aber nicht zuviel. Nein, Sucher, nicht zuviel. Und das stimmte, dachte Blake. Sie hatten wirklich nicht viel Zeit. Die schreiend durch die Gänge rennende Krankenschwester würde Alarm schlagen – dann kamen Assistenzärzte, andere Schwestern, Hauspersonal, Ärzte, Krankenpfleger und sogar die Leute aus der Küche. In wenigen Minuten würde das Kran kenhaus einem aufgestörten Ameisenhaufen gleichen. Das Dumme ist nur, sagte er, daß Sucher ei nem Wolf so ähnlich sieht. Deine Definition bedeutet ein Lebewesen, das andere frißt, warf Sucher ein. Du weißt genau,
daß ich nie ... Nein, versicherte Blake sich selbst. Nein, das würdest du natürlich nie tun, Sucher. Aber die anderen werden es glauben. Wenn sie dich se hen, werden sie dich für einen Wolf halten. Wie der Leibwächter des Senators, der dich während des Gewitters beobachtet hat. Und weil er einige Märchen kannte, in denen Wölfe vorkommen, hatte er ganz automatisch rea giert. Und was würden sie von Denker halten, wenn sie ihn zu Gesicht bekämen? fragte Sucher. Was ist mit uns geschehen, Wechsler? Ich bin zweimal ausgebrochen – einmal war es naß und dunkel, beim zweitenmal hell und einge engt. Ich habe mich einmal losgelöst, warf Denker ein, aber ich konnte nicht funktionieren. Darüber denken wir später nach, antwortete Wechsler. Jetzt sitzen wir in der Falle. Wir müssen fliehen. Wechsler, vorläufig müssen wir in deiner Ge stalt bleiben, sagte Sucher. Falls es später auf Geschwindigkeit ankommt, kann ich rennen. Und ich, fügte Denker hinzu, kann notfalls al les sein. »Ruhig!« sagte Blake laut. »Ruhig. Laßt mich nachdenken.«
Draußen im Korridor näherten sich rasche Schritte, dann rief eine Stimme: »Es ist hier verschwunden. Kathy hat es hier zuletzt gese hen.« Die Schritte verlangsamten sich, dann ström ten weißgekleidete Männer – Ärzte, Kranken pfleger und Assistenzärzte – ins Zimmer. »Mister«, fragte einer von ihnen laut, »haben Sie einen Wolf gesehen?« »Nein«, erwiderte Blake, »ich habe keinen Wolf gesehen.« »Verdammt komische Sache«, stellte einer der Männer fest. »Kathy erzählt doch keine Märchen. Sie hat etwas gesehen, sonst wäre sie nicht ...« Der erste Mann kam bedrohlich näher. »Mister, wenn Sie uns hereinlegen wollen, wenn das ein Witz sein soll ...« Entsetzen überflutete die beiden anderen Ge hirne und rief unvorhersehbare Auswirkungen hervor. Unsicherheit, Mangel an Verständnis, falsche Bewertung der Tatsachen ... »Nein!« rief Blake. »Nein! Nein, warte noch ...« Zu spät. Der Wechsel war eingeleitet und nicht mehr aufzuhalten. Sucher hatte voreilig die Initiative ergriffen. Ihr Narren! rief Blake den beiden anderen zu.
Ihr Narren! Ihr Narren! Die Männer in den weißen Kitteln flüchteten erschrocken auf den Flur hinaus. Sucher kauerte sprungbereit vor ihnen. Sein gesträubter Pelz leuchtete im Licht der Deckenlampen silbern auf. Als er leise knur rend die Lefzen hochzog, wurden blitzende Reißzähne sichtbar.
13 Sucher duckte sich und knurrte wieder. Er hatte Angst. In einer Falle ohne Ausweg gefangen. Nir gends eine Fluchtmöglichkeit. Nur die Öffnung vor ihm – aber dort standen die fremdartigen Zweibeiner. Sie stanken, und aus ihren Gehir nen strömte eine Welle aus Haß und Abscheu und Entsetzen, die Sucher fast körperlich emp fand. Er bewegte sich langsam vorwärts, und die Horde wich erschrocken zurück. Als Sucher diese Bewegung sah, knurrte er triumphie rend, als sei plötzlich die Erinnerung an längst vergangene Zeiten in ihm wach geworden, in der seine Vorfahren todesmutige Kämpfer wa ren. Er warf den Kopf zurück und heulte laut. Die Zweibeiner flohen panikartig. Sucher folgte ihnen in den Gang hinaus und wandte sich nach rechts. Eines der fremden Wesen sprang hinter seinem Rücken aus einer Türnische und hielt eine Waffe schlagbereit er hoben. Sucher warf sich herum, schnappte ein mal zu und spürte weiches Fleisch zwischen den Zähnen. Der Angreifer fiel schreiend zu Boden.
Die Horde wollte sich auf Sucher werfen, aber er kam ihr zuvor. Seine Krallen hinterlie ßen tiefe Spuren im Bodenbelag, als er einen Zweibeiner nach dem anderen anfiel und seine Wut mit den Zähnen an ihnen ausließ. Die Angreifer flohen entsetzt. Vier oder fünf blieben auf dem Boden liegen, aber auch diese bemühten sich davonzukriechen, obwohl sie heftig bluteten. Sucher kümmerte sich nicht weiter um sie, sondern warf erneut den Kopf zurück und stieß einen Triumphschrei aus – einen Siegesruf, wie er in uralter Zeit auf sei nem Heimatplaneten ertönt sein mußte, als die Sucher mit schuppigen Lebewesen um die Vor herrschaft auf dieser Welt gekämpft hatten. Aber dann wurde ihm plötzlich bewußt, wo er sich befand, und er starrte seine Umgebung unsicher an. Die fremdartigen Gerüche, die quälende Enge und das allzu helle Licht, das von den Wänden reflektiert wurde, riefen ihm seine verzweifelte Lage ins Gedächtnis zurück. Der Gang vor ihm war frei, aber hinter ihm tauchten wieder Zweibeiner auf. Wechsler! Die Treppe, Sucher. Du mußt die Treppe er reichen. Treppe? Die Tür. Die geschlossene Öffnung. Du er
kennst sie an dem Schild darüber. Ein kleines Rechteck mit roten Schriftzeichen. Ich sehe sie. Aber die Tür ist massiv. Du mußt sie aufstoßen, dann öffnet sie sich. Benütze deine Arme, nicht den Körper. Denk daran – mit den Armen! Du benützt sie so sel ten, daß du sie fast vergißt. Sucher sprang auf die Tür zu. Die Arme, du Narr! Die Arme! Sucher prallte gegen die Tür. Sie gab nach, und er schlüpfte hindurch. Er stand vor einer schräg nach unten führenden Rampe, die in viele Absätze unterteilt war. Das mußte die Treppe sein. Er tastete sich vorsichtig abwärts und kam schneller voran, als er merkte, wor auf er achten mußte. Dann erreichte er den er sten größeren Absatz, an dem eine neue Trep pe begann. Wechsler? Weiter die Treppe hinunter bis zum dritten Absatz. Dort gehst du durch die Tür in einen großen Raum mit vielen Zweibeinern. Du ver läßt ihn durch die breite Tür links und bist dann im Freien. Im Freien? Auf der Oberfläche dieses Planeten. Außer halb der Höhle, in der wir uns jetzt befinden. Und dann?
Dann rennst du! Warum löst du mich nicht ab, Wechsler? Du bist wie diese Zweibeiner. Du kannst einfach hinausgehen. Unmöglich! Ich habe keine Kleidung. Die Hüllen? Die künstlichen Häute? Richtig. Aber das ist unsinnig. Kleidung ... Hör zu, du kannst die Zweibeiner überra schen. Im ersten Augenblick sind sie bestimmt vor Schreck erstarrt. Du siehst einem Wolf ähnlich, und sie ... Das hast du schon einmal gesagt. Der Gedan ke gefällt mir nicht. Ich ahne etwas Schmutzi ges ... Der Wolf ist ein inzwischen ausgestorbenes Tier, das Menschen erschrecken konnte. Sie haben bestimmt Angst, wenn sie dich sehen. Schon gut. Was hältst du davon, Denker? Ich kann euch nicht helfen, denn ich habe kei ne Unterlagen, antwortete Denker. Wir müs sen uns auf Wechsler verlassen. Dies ist sein Planet, und er kennt sich hier aus. Einverstanden. Achtung, es geht los! Sucher schlich die Treppe hinab und blieb vor der Tür stehen. Ist das die richtige? Ja. Diesmal benützt du hoffentlich die Arme,
um sie zu öffnen. Sucher kauerte sich sprungbereit zusammen. Nach links, Wechsler? Die Öffnung links? Richtig. Etwa zehn Körperlängen. Sucher warf sich gegen die Tür und drückte sie mit ausgestreckten Armen auf. Er sah er schrockene Zweibeiner, die schreiend vor ihm zurückwichen, und erkannte links eine Öff nung. Als er sie schon fast erreicht hatte, nä herte sich draußen ein weiteres Rudel Zweibei ner, die jedoch andere künstliche Häute trugen. Sie schrien ebenfalls und hoben die Hände, in denen sie schwarze Gegenstände hielten, die jähe Flammen und beißenden Ge stank verbreiteten. Etwas traf dicht neben ihm auf Metall und surrte pfeifend davon, etwas anderes blieb im Fußboden vor ihm stecken. Dann warf Sucher sich auf die Angreifer, durchbrach die Reihen und rannte an der Vorderseite der großen Höhle entlang, die zum Himmel aufragte. Hinter ihm knallte es mehrmals, und einige kleine, aber schwere Gegenstände, die sehr schnell flogen, bohrten sich in den Boden, auf dem er davonlief, und rissen Splitter los. Dann bog er um die Ecke der Höhle, die zum Himmel aufragte, und rannte weiter, denn Wechsler hatte ihm gesagt, er müsse rennen.
Und es machte ihm sogar Spaß, nach langer Zeit endlich wieder seine Muskeln spielen las sen zu können. Nun hatte er erstmals Gelegenheit, seine Um gebung eingehend zu betrachten. Sie war in vieler Beziehung verblüffend, denn wie konnte es einen Planeten geben, der überall einen fe sten Bodenbelag aufwies? Der Fußboden er streckte sich nach allen Richtungen, so weit das Auge reichte, und überall ragten dunkle Höhlen mit leuchtenden Öffnungen zum Nachthimmel auf, an dem viele Sterne glitzer ten. Sucher stellte fest, daß nur wenige Zweibei ner zwischen den Höhlen unterwegs waren; vorläufig hielten sie sich noch weit entfernt auf. Aber in seiner Nähe bewegten sich rasch metallische Dinge mit gelben Augen; sie schwebten fast lautlos an Sucher vorbei und stießen dabei einen starken Luftstrom an der Unterseite aus. Er glaubte in ihnen Lebewesen zu spüren, die jedoch in vielen Fällen mehr als nur ein Gehirn zu besitzen schienen – und die Ausstrahlungen dieser Gehirne waren sanft und friedlich, nicht haßerfüllt und er schrocken, wie es bei den Zweibeinern in der Höhle der Fall gewesen war. Eine seltsame Erscheinung, aber Sucher
überlegte sich, daß es noch seltsamer wäre, wenn es auf diesem Planeten nur eine Lebens form gäbe. Bisher kannte er die Wesen, die auf den Hinterbeinen gingen und protoplasma tisch waren, und die anderen Wesen, die aus Metall bestanden und sich rasch bewegten, wo bei ihre Augen glühten. Die zweite Art schien mehrere Gehirne zu besitzen. Sucher erinnerte sich auch an die feuchtwarme Nacht, in der er zahlreiche andere Lebensformen gespürt hat te, die aber zumeist nicht intelligent waren. Der Planet könnte ganz interessant sein, wenn die Atmosphäre nicht so feuchtwarm und bedrückend wäre, dachte er. Vorläufig ist alles noch ziemlich verwirrend. Sucher. Was gibt es, Wechsler? Nach rechts. Die Bäume. Die großen Pflan zen. Sie heben sich vom Himmel ab. Lauf dort hin. Wir müssen uns verstecken. Wechsler, was tun wir dann? fragte Denker. Ich weiß es nicht. Wir müssen gemeinsam überlegen. Die Zweibeiner verfolgen uns? Ich nehme es an. Wir dürfen keine Geheimnisse voreinander haben. Sucher und ich müssen wissen, was du weißt.
Das kommt noch, versprach Wechsler ihm. Wir haben noch keine Zeit gehabt. Wir sind immer wieder abgelenkt worden. Sobald wir die Bäume erreicht haben, sind wir in Sicher heit. Sucher verließ den Schatten der großen Höh le, die zum Himmel aufragte, überquerte einen breiten Streifen Boden und lief auf die Bäume zu. Aus der Dunkelheit tauchte mit glühenden Augen eines der Metallwesen auf und kam rasch näher. Sucher rannte davon. Seine Beine wirbelten durcheinander, seine Ohren lagen am Kopf an, und seine buschige Rute wehte ausgestreckt hinter ihm her. Wechsler spornte ihn an. Lauf, du sehniger Wolf!
14 Der Chefarzt war im allgemeinen ruhig und gelassen. Aber jetzt schlug er mit der Faust auf seinen Schreibtisch. »Ich möchte nur wissen, welcher Trottel die Polizei angerufen hat!« knurrte er. »Wir wären auch allein zurechtgekommen. Wir hätten die Polizei nicht gebraucht.« »Ich könnte mir vorstellen, Sir«, warf Micha el Daniels ein, »daß der Anrufer sich dazu be rechtigt fühlte. Schließlich lagen genügend Verletzte im Korridor.« »Wir hätten sie versorgen können«, sagte der Chefarzt. »Das ist unser Handwerk. Dann hät ten wir alles Weitere veranlassen können – aber etwas ordentlicher.« »Die Leute waren natürlich sehr erregt«, meinte Gordon Barnes. »Ein Wolf im ...« Der Chefarzt brachte ihn mit einer Handbe wegung zum Schweigen und wandte sich an die Krankenschwester. »Miß Gregerson, Sie haben die Entdeckung zuerst gemacht.« Die Schwester war noch immer blaß. »Ich bin aus einem Zimmer gekommen und hatte das
Tier plötzlich vor mir. Es war ein Wolf. Ich ließ das Tablett fallen und lief fort. Ich war so er schrocken und ...« »Wissen Sie sicher, daß es ein Wolf war?« »Ganz bestimmt, Sir.« »Woher wollen Sie das wissen? Es hätte auch ein Hund sein können.« »Es spielt keine Rolle, ob es ein Wolf oder ein Hund war, Doktor Winston«, stellte Daniels fest. Der Chefarzt warf ihm einen scharfen Blick zu und machte eine ungeduldige Handbewe gung. »Schon gut«, sagte er. »Schon gut. Sie können jetzt gehen. Doktor Daniels, ich möchte noch mit Ihnen sprechen.« Die beiden warteten, bis die anderen den Raum verlassen hatten. »Kommen Sie, Mike«, forderte der Chefarzt Daniels auf, »nehmen Sie Platz und erzählen Sie mir, was Sie von der ganzen Sache halten. Blake war Ihr Patient, nicht wahr?« »Richtig. Sie kennen seinen Fall, Doktor Win ston. Der Mann aus dem All. In einer Kapsel eingefroren.« »Ja, ich weiß«, antwortete der Chefarzt. »Was hat er mit dieser Sache zu tun?« »Ich kann es nicht beschwören«, sagte Da
niels, »aber ich glaube, daß er der Wolf war.« Winston verzog das Gesicht. »Hören Sie, soll ich das wirklich glauben? Halten Sie Blake etwa für einen Werwolf?« »Haben Sie die Abendzeitungen gelesen?« wollte Daniels wissen. »Nein, aber was hat das mit unserem Pro blem zu tun?« »Vielleicht nichts«, gab Daniels zu. »Ich ver mute jedoch, daß ...« Er schwieg unsicher, weil ihm der Gedanke zu phantastisch erschien. »Was vermuten Sie, Mike? Sie dürfen Ihre In formationen nicht für sich behalten. Ihnen ist doch hoffentlich klar, was das für uns bedeu tet? Die Vorgänge werden bestimmt sensatio nell aufgebauscht, und ein Krankenhaus kann keine Sensationen brauchen. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was die Zeitungen und das Fernsehen darüber bringen werden! Die Poli zei untersucht bereits eifrig, und die Raum fahrtbehörde macht uns die Hölle heiß, wenn Blake nicht wieder auftaucht. Soll ich ihr etwa erzählen, daß er sich in einen Wolf verwandelt hat?« »Nicht in einen Wolf, Sir, sondern in ein fremdartiges Lebewesen, das an einen Wolf er innert. Die Polizisten haben ausgesagt, daß das Tier an den Schultern Arme besessen habe.«
Der Chefarzt runzelte die Stirn. »Sonst scheint das niemand aufgefallen zu sein. Die Polizisten waren erschrocken. Deshalb haben sie auch wie Verrückte um sich geknallt. Sie wissen selbst nicht mehr, was sie gesehen ha ben.« Er starrte Daniels an. »Was haben Sie vorher von einem fremdartigen Lebewesen er zählt?« Daniels holte tief Luft. »Heute nachmittag hat ein gewisser Doktor Lukas bei den BiotechnikHearings als Zeuge ausgesagt. Er scheint alte Berichte ausgegraben zu haben in denen zwei künstliche Menschen erwähnt werden, die vor über zweihundert Jahren erzeugt wurden. Die Berichte waren in Akten der Raumfahrtbehör de enthalten und ...« »Warum gerade dort?« fragte Winston. »Augenblick«, sagte Daniels, »lassen Sie mich erst ausreden. Bei den beiden handelte es sich um ergänzungsfähige Androiden ...« »Großer Gott!« rief Winston aus. »Das alte Werwolfprinzip! Ein Organismus, der jede be liebige Form annehmen kann. Dem Gerücht nach ...« »Offenbar handelt es sich um mehr als nur ein Gerücht«, stellte Daniels fest. »Zwei Andro iden dieses Typs starteten mit Forschungs schiffen.«
»Und Blake ist Ihrer Meinung nach einer der beiden?« »Ganz recht. Lukas hat heute ausgesagt, daß zwei gestartet sind. Mehr ist nicht bekannt. Sie scheinen nie zurückgekehrt zu sein.« »Das verstehe ich nicht«, protestierte Win ston. »Menschenskind, vor zweihundert Jah ren! Hätte es damals gute Androiden gegeben, gäbe es heute noch bessere. Man stellt doch nicht nur zwei her und läßt dann das Projekt fallen.« »Doch«, widersprach Daniels, »wenn die bei den versagen. Nehmen wir einmal an, nicht nur die Androiden, sondern auch ihre Schiffe seien spurlos verschollen. Dann wäre die Pro duktion eingestellt worden, und die Berichte wären irgendwo vergraben worden. Schließ lich hätte die Raumfahrtbehörde kein Interes se daran, die Sache an die Öffentlichkeit zu bringen.« »Aber wer könnte beurteilen, ob die Andro iden für das Verschwinden der Schiffe verant wortlich waren? Selbst heutzutage gehen noch Schiffe verloren.« Daniels schüttelte den Kopf. »Wenn zwei Schiffe verschwinden, die beide einen Andro iden an Bord hatten, liegt der Schluß klar auf der Hand, daß die Androiden etwas mit diesem
Verschwinden zu tun hatten ...« »Das gefällt mir nicht«, klagte der Chefarzt. »Ich möchte keine Schwierigkeiten mit der Raumfahrtbehörde. Und außerdem verstehe ich nicht, was das alles damit zu tun hat, daß Blake sich Ihrer Meinung nach in einen Wolf verwandeln kann.« »Nicht in einen Wolf«, wiederholte Daniels geduldig, »sondern in ein fremdartiges Lebe wesen, das einem Wolf gleicht. Nehmen wir einmal an, das Werwolfprinzip sei nicht in der geplanten Form zu verwirklichen gewesen. Der Androide sollte sich in ein anderes Lebewesen verwandeln und für einige Zeit als dieses ande re Wesen existieren. Dann sollten die Informa tionen wieder gelöscht werden, so daß der An droide sich in seine menschliche Gestalt zurückverwandelte. Aber wenn ...« »Aha«, meinte Winston. »Nehmen wir einmal an, es sei nicht möglich gewesen, diese Infor mationen wieder zu löschen. Nehmen wir ein mal an, der Androide sei daraufhin menschlich und fremdartig – zwei Wesen in einem.« »Genau das habe ich mir auch überlegt, Sir«, sagte Daniels. »Mir ist noch etwas anderes auf gefallen. Blakes Enzephalogramm sieht ganz merkwürdig aus – als habe er mehr als einen Verstand. Die Schatten zeichnen sich kaum
merklich ab.« »Soll das heißen, daß er mehr als einen zu sätzlichen Verstand haben könnte?« Daniels zuckte mit den Schultern. »Das kann ich nicht sagen. Dazu sind die Spuren nicht deutlich genug.« Winston starrte ihn an. »Hoffentlich haben Sie unrecht«, sagte er langsam. »Ich bin davon überzeugt, daß Sie sich irren. Die Idee ist ver rückt!« »Aber immerhin ist es eine Erklärung«, ant wortete Daniels ungerührt. »Trotzdem können wir damit nicht alles er klären. Blake ist in einer Kapsel gefunden wor den. Kein Mensch hat das Schiff oder dessen Trümmer gesehen. Was sagen Sie dazu?« »Gar nichts«, versicherte Daniels ihm, »denn dafür gibt es keine logische Erklärung, die uns Laien einfallen könnte. Das müssen wir Fach leuten überlassen.« Winston ging unruhig auf und ab. Dann setzte er sich wieder und streckte die Hand nach dem Visorphon aus. »Wie heißt dieser Zeuge?« »Lukas. Doktor Lukas. Ich kann mich nicht an seinen Vornamen erinnern, aber er steht bestimmt in den Zeitungen. In der Vermittlung liegt wahrscheinlich eine herum.«
»Hmm, am besten verständigen wir auch die beiden Senatoren«, meinte Winston nachdenk lich. »Sie und Lukas, das müßte genügen.« »Wie steht es mit der Raumfahrtbehörde, Sir?« Der Chefarzt schüttelte den Kopf. »Nein, wir brauchen Beweise, bevor wir es mit ihr auf nehmen.«
15 Der Schlupfwinkel war nur eine flache Vertie fung unter einem Felsvorsprung. Über ihm stieg der felsige Boden steil an; unter ihm fiel er fast senkrecht zum Fluß hin ab, der über Felsbrocken zu Tal rauschte. Das Geröll drohte abzurutschen, als Sucher die Halde schräg überquerte, aber er krallte sich fest und er reichte mühsam das Versteck. Hier fühlte er sich endlich halbwegs sicher, da er an drei Seiten geschützt war, aber er wußte, daß diese Sicherheit nur eine Illusion war. Die Lebewesen dieses Planeten suchten vielleicht schon jetzt nach ihm und würden früher oder später auch dieses Gebiet durch kämmen. Ganz bestimmt hatte ihn das metalli sche Wesen mit den glühenden Augen gesehen, dem er nur mit knapper Not entkommen war. Er zuckte bei der Erinnerung daran zusammen und entspannte sich dann ganz bewußt, wäh rend er seine Umgebung in sich aufnahm. Ein unordentlicher Planet, dachte Sucher – mit zuviel Leben und Wasser, mit zu dichter Atmosphäre und zu heißem Klima. Hier schien es weder Ruhe noch Sicherheit zu geben, son dern nur das Gefühl ständiger Bedrohung von
allen Seiten. Die Bäume ächzten leise, und er fragte sich, ob das Ächzen von den Bäumen selbst oder von der in Bewegung geratenen At mosphäre kam, die durch die Zweige strich. Und während er sich noch fragte, wußte er plötzlich, daß der Wind dieses Geräusch verur sachte, daß die Bäume selbst keine Möglichkeit zur Geräuscherzeugung hatten, daß die Bäume und alle anderen Pflanzen dieses Planeten, der Erde hieß, ohne Intelligenz und Sinnesorgane lebten. Und daß die Höhlen Gebäude waren, daß die Menschen nicht unabhängige Einzel wesen waren, sondern daß sie Gemeinschaften bildeten, die Familien genannt wurden, und daß jede Familie ihr eigenes Heim bewohnte. Alle diese und unzählige andere Informatio nen überfluteten ihn so plötzlich, daß er im er sten Augenblick wie betäubt war. Und als er sich endlich aufraffte, um dagegen anzusch wimmen, war die Flutwelle bereits verebbt. Aber er wußte, daß er nun sämtliche Informa tionen über diesen Planeten besaß, über die Wechsler verfügte. Tut mir leid, sagte Wechsler. Ich hätte dir gern länger Zeit gelassen, aber es war nicht an ders möglich. Ich mußte dir alles auf einmal geben. Sucher überprüfte rasch, was er aufgenom
men hatte. Er schrak unwillkürlich davor zu rück. Ein Teil dieses Wissens ist veraltet, fügte Wechsler hinzu. Ich möchte nochmals beto nen, daß es unvollständig und teilweise wertlos ist. Inzwischen war Sucher bereits damit be schäftigt, das Netzwerk, mit dem er Informa tionen einholte, zu vervollständigen und wei ter auszudehnen. Je mehr er aufnahm, je besser er die dominierende Rasse dieses Pla neten kennenlernte, desto entsetzlicher fand er es, vielleicht für immer hier gefangen zu sein. Was ist aus meinem anderen Körper gewor den, Sucher? fragte er. Ich meine den anderen Körper, in dem ich lebte, bevor ihr Menschen kamt. Ihr habt ihn gefangen, das weiß ich noch. Was habt ihr damit getan? Nicht ich! Ich habe ihn nicht gefangen. Ich habe nichts mit ihm getan. Bitte keine fadenscheinigen Ausreden! Du vielleicht nicht allein. Du vielleicht nicht selbst, aber ... Solche Überlegungen darfst du nicht zulas sen, Sucher, warf Denker ein. Wir drei sitzen in der gleichen Falle – wenn es eine Falle ist. Ich glaube fast, daß er sich nicht um eine Falle,
sondern eine einzigartige Situation handelt, aus der wir alle unseren Vorteil ziehen kön nen. Wir teilen uns einen Körper, und unsere Gedanken sind einander näher als je zuvor. Wir dürfen uns nicht streiten; wir dürfen nicht verschiedener Meinung sein, denn das können wir uns nicht leisten. Wir müssen unbedingt zusammenarbeiten und miteinander harmo nieren. Sollte es wirklich Meinungsverschie denheiten geben, müssen sie sofort bereinigt werden. Genau das habe ich vor, antwortete Sucher. Ich möchte wissen, was aus meinem ersten Körper geworden ist. Er ist Molekül für Molekül zerlegt und analy siert worden, erklärte Wechsler ihm. Anschlie ßend ließ er sich leider nicht wieder zusam mensetzen. Du hast mich also ermordet, wolltest du sa gen. Wenn du es so nennen willst ... Und Denker ebenfalls? Denker zuerst. Denker, fragte Sucher, hast du nichts dage gen? Was wäre damit geholfen? Das ist keine Antwort, Denker! Ich kann es nicht bestimmt sagen, meinte
Denker. Natürlich ist jede Gewaltanwendung zu verdammen. Aber ich betrachte diesen Wechsel eher als Verwandlung. Wäre es nicht dazu gekommen, hätte ich nie Verbindung mit dir aufgenommen. Alle Informationen, die ich dir zu verdanken habe, waren für mich verlo ren gewesen. Wären die Menschen anderer seits nie zu euch gekommen, hättest du weiter Bilder von den Sternen eingesammelt, ohne ihre Bedeutung auch nur zu ahnen. Du hättest dich dabei vergnügt, aber ich kann mir nichts Tragischeres vorstellen als ein Lebewesen, das vor Geheimnissen steht und nicht einmal den Versuch macht, sie auch zu enträtseln. Vielleicht wäre ich dabei trotzdem glücklicher gewesen, meinte Sucher. Aber siehst du nicht, welche Chance sich uns hier bietet? fragte Denker. Wir sind alle drei deutlich verschieden. Du, Sucher, der Rauf bold und Bandit, dann Wechsler, der listige Ränkeschmied, und schließlich ich, der ... Und du, sagte Sucher, der Allweise, der Vor ausschauende, der ... Der bescheidene Wahrheitssucher, verbes serte Denker ihn. Falls ihr darauf besteht, bitte ich euch im Na men der Menschheit um Entschuldigung, teilte Wechsler ihnen mit. In vieler Beziehung ist sie
mir ebenso unsympathisch wie euch. Das ist kein Wunder, meinte Denker, denn du bist kein Mensch. Die Menschen haben dich ge schaffen, und du bist ihr Werkzeug. Trotzdem muß ich irgend etwas sein, sagte Wechsler. Ich möchte lieber ein Mensch als gar nichts sein. Man kann nicht allein existieren. Du bist nicht allein, stellte Denker fest. Wir sind bei dir. Trotzdem bestehe ich darauf, ein Mensch zu sein, wiederholte Wechsler. Das begreife ich nicht, gab Denker zu. Vielleicht kann ich es dir erklären, warf Su cher ein. Vorhin im Krankenhaus habe ich einen Stolz wahrgenommen, den seit Jahrtau senden kein Sucher mehr empfunden hat. Ich war plötzlich stolz darauf, meiner Rasse anzu gehören und ein Kämpfer zu sein. Ich vermute, daß meine Rasse früher ebenso aggressiv und vorwärtsstrebend wie Wechslers war, und kann deshalb verstehen, was er meint. Den kers Artgenossen haben diese Art Stolz ver mutlich nie gekannt. Mein Stolz sähe in der Tat anders aus, versi cherte Denker ihnen, denn er hätte andere Gründe. Aber ich will nicht bestreiten, daß es verschiedene Motive gibt. Ruhig! sagte Sucher plötzlich.
Er schickte seine Spürer aus, nahm schwache Anzeichen auf und analysierte sie. Zuerst nur drei Menschen, dann viele, die in einer langen Reihe durch den Wald kamen. Und er wußte, was sie dort suchten; er spürte, daß sie Angst hatten, aber auch wütend waren – und daß das Jagdfieber sie erfaßt hatte. Sucher nahm seine Kräfte zusammen und wollte aufspringen und davonlaufen. Seiner Überzeugung nach konnte er den Jägern nur dadurch entkommen, daß er rannte und rann te. Warte, sagte Denker. Sie sind gleich hier. Noch lange nicht. Sie bewegen sich langsam. Es muß etwas anderes geben. Wir können nicht immer fliehen. Wir haben einen Fehler gemacht, der sich nicht wiederholen darf. Welchen Fehler? Wir hätten nicht deine Gestalt annehmen dürfen. Wir hätten Wechsler bleiben müssen. Aber das haben wir nicht gewußt. Wir haben nur auf die Gefahr reagiert. Wir sind schließ lich bedroht worden ... Ich hätte mich hinausreden können, sagte Wechsler. Aber vielleicht ist es doch besser so. Sie waren bereits mißtrauisch und hätten mich vielleicht eingesperrt, um mich zu beobachten.
Jetzt sind wir wenigstens frei. Aber nicht lange, warf Denker ein, wenn wir auf der Flucht bleiben. Hier gibt es zu viele Menschen. Wir können uns nicht vor allen ver stecken. Wir können nicht vor allen davonlau fen. Unsere Chance ist theoretisch so gering, daß man sie gar nicht als Chance bezeichnen kann. Hast du etwas vor? fragte Sucher. Wir könnten meine Gestalt annehmen, schlug Denker vor. Ich kann mich in einen Fels brocken verwandeln, der nicht auffällt. Augenblick! warf Wechsler ein. Die Idee ist nicht schlecht, aber dabei gibt es Schwierigkei ten. Schwierigkeiten? Darauf hättest du selbst kommen müssen. Dieser Planet ist zu warm für Sucher, aber viel zu kalt für dich, Denker. Kälte ist Mangel an Wärme? Richtig. Mangel an Energie? Genau. Ich muß mich erst an deine Terminologie ge wöhnen, meinte Denker entschuldigend. Aber ich kann auch Kälte ertragen. Wenn es ums Gemeinwohl geht, halte ich viel Kälte aus. Es handelt sich nicht darum, ob du die Kälte
ertragen kannst. Das bezweifle ich gar nicht. Aber dann brauchst du große Energiemengen. Damals im Haus ... Damals hattest du die Energiequelle des Hau ses zur Verfügung. Hier gibt es nur Wärme, die in der Atmosphäre gespeichert ist. Aber seit Sonnenuntergang hat sie sich ständig verrin gert. Du mußt mit dem Energievorrat deines Körpers auskommen. Aha, meinte Denker. Aber ich kann doch die Energie mit meinem Körper umschließen. Be komme ich alle Energie mit, die der Körper enthält? Das ist anzunehmen. Der Wechsel kostet ver mutlich Energie, aber nicht allzuviel. Wie fühlst du dich, Sucher? Mir ist heiß, antwortete er. Das meine ich nicht. Du bist doch wach, oder? Kein Energiemangel? Alles in Ordnung, sagte Sucher. Wir warten, bis sie fast hier sind, entschied Denker. Dann nehmen wir meine Gestalt an, und ich bin nur ein unscheinbarer Klumpen in einer Ecke der Höhle. Vielleicht sehen sie die Höhle gar nicht, mein te Wechsler hoffnungsvoll. Wir dürfen nichts riskieren, sagte Denker. Ich bleibe so kurz wie möglich in meiner Ge
stalt. Wenn du recht hast, muß ich mich an schließend sofort zurückverwandeln, bevor zu viel Energie verlorengeht. Du kannst es selbst ausrechnen, schlug Wechsler vor. Du hast meine Informationen und brauchst sie nur auszuwerten. Richtig, die Informationen, Wechsler. Aber mir fehlen einige Voraussetzungen – ich bin es nicht gewöhnt wie du, zu rechnen oder univer sale Gesetzmäßigkeiten rasch zu erfassen. Aber du bist unser Denker ... Ich denke anders. Laßt endlich das Geschwätz, verlangte Sucher ungeduldig. Wir wissen, was wir zu tun haben. Sobald die Jäger an uns vorbeigegangen sind, nehmen wir wieder meine Gestalt an. Nein, sagte Wechsler, meine. Aber du bist nackt. Das spielt hier draußen keine Rolle. Deine Füße sind empfindlich. Hier gibt es Äste und Steine. Und du siehst nachts schlecht. Sie sind fast hier, warnte Denker. Richtig, stimmte Sucher zu. Sie kommen den Hügel herab.
16 In einer Viertelstunde begann ihr Lieblings programm im Fernsehen. Elaine Horton freute sich bereits den ganzen Tag darauf, denn Wa shington war unendlich langweilig. Sie sehnte sich nach dem alten Steinhaus in den Hügeln von Virginia zurück. Sie blätterte in einem Magazin, als der Sena tor hereinkam. »Was hast du den ganzen Tag getrieben?« fragte er lächelnd. »Ich habe mir einen Teil der Hearings ange sehen«, antwortete Elaine. »Gute Unterhaltung?« »Ziemlich interessant. Ich verstehe nur nicht, weshalb du dieses alte Zeug ausgegraben hast.« Senator Horton grinste. »Nun, vor allem woll te ich Stone verblüffen. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber ich nehme an, daß ihm die Augen aus den Höhlen gequollen sind.« »Er war sichtlich wütend«, berichtete sie. »Du wolltest vermutlich beweisen, daß die Bio technik keine neue Wissenschaft mehr ist?« »Nicht nur das, sondern auch, daß schon vor zweihundert Jahren auf diesem Gebiet beacht
liche Ergebnisse erzielt wurden. Wir haben uns einmal ins Bockshorn jagen lassen, aber das darf nicht wieder passieren. Stell dir nur den Zeitverlust vor – zwei Jahrhunderte ver geudet! Meine anderen Zeugen werden das ebenfalls betonen.« Elaine Horton nickte verständnisvoll. »Ist deine Mutter gut weggekommen?« er kundigte der Senator sich. »Ja, mit dem Flugzeug um elf.« »Diesmal ist es Rom, nicht wahr? Filme oder Gedichte oder was?« »Filme. Irgendwelche alten Kopien aus den Jahren um 1980, glaube ich.« Der Senator seufzte. »Deine Mutter ist eine intelligente Frau. Sie hat Sinn für derartige Dinge; mir fehlt er völlig. Du hättest sie doch begleiten sollen – vielleicht wäre es interessant gewesen.« »Du weißt genau, daß es nicht interessant ge wesen wäre«, sagte Elaine. »Du bist ein alter Heuchler. Du gibst vor, Mutters Spleen zu be wundern, aber in Wirklichkeit ist er dir völlig gleichgültig.« »Vermutlich hast du recht«, gab er zu. »Was gibt es heute abend im Fernsehen?« »Ich warte auf Horatio Alger. Die Sendung beginnt in zehn Minuten.«
»Horatio Alger – wer ist das?« fragte der Se nator. »Ein Schriftsteller zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, der einen Haufen Bücher ge schrieben hat. Nach Meinung der Kritiker wa ren sie miserabel, und ich kann mir vorstellen, daß die Kritiker recht hatten. Aber viele Leute haben sie begeistert gelesen, weil sie das ent hielten, was sich jeder in seinen Träumen wünscht. In allen setzte sich nämlich ein armer Junge trotz aller Hindernisse im Leben durch und hatte schließlich großen Erfolg.« »Auf die Dauer langweilig«, meinte der Sena tor. »Kann sein, aber die Drehbuchautoren haben die gesellschaftskritische Tendenz dieser Ro mane deutlich herausgearbeitet und den gan zen Hintergrund der damaligen Zeit bis ins De tail rekonstruiert. Bei manchen Szenen läuft es einem kalt über den Rücken ...« Das Visorphon auf dem Schreibtisch summte. Senator Horton stand auf und durchquerte den Raum. Elaine lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Die Sendung begann in fünf Minuten. Und diesmal wollte der Senator ihr Gesellschaft leisten. Hoffentlich wurde er nicht davon abgehalten – zum Beispiel durch diesen Anruf. Sie blätterte
eine Illustrierte durch, ohne auf das Gespräch zu achten. Der Senator kam zurück. »Ich muß für eine Weile fort«, sagte er. »Dann versäumst du Horatio.« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann mir die nächste Sendung ansehen. Eben hat John Win ston angerufen.« »Aus dem Krankenhaus! Ist etwas nicht in Ordnung?« »Niemand verletzt, niemand krank, falls du das meinst. Aber Winston war schrecklich auf geregt und hat mich gebeten, sofort zu ihm zu kommen. Allerdings wollte er keinen Grund nennen.« »Hoffentlich dauert es nicht zu lange«, mein te sie besorgt. »Du brauchst deinen Schlaf, so lange die Hearings andauern.« »Ich komme so schnell wie möglich zurück«, versprach er ihr. Sie begleitete ihn zur Tür und winkte ihm nach. Dann ging sie ins Wohnzimmer zurück. Aus dem Krankenhaus, überlegte sie. Das ge fiel ihr nicht. Was hatte der Senator mit Krankenhäusern zu schaffen? Krankenhäuser machten sie ner vös. Sie war erst heute nachmittag in St. Bar nabas gewesen, hatte sich überwinden müssen
und war jetzt doch froh, daß sie den Besuch ge macht hatte. Der arme Kerl, der nicht wußte, wer er war ... Sie betrat den Fernsehraum neben dem Wohnzimmer und schaltete das Gerät ein. In der nächsten Sekunde befand sie sich auf einer Straße der Innenstadt. »... noch niemand erklären, was hier vor we niger als einer Stunde geschehen ist«, sagte eine Stimme von irgendwoher. »Es gibt etliche Versionen, aber keine Erzählung stimmt ganz mit anderen überein. Im Krankenhaus scheint sich die größte Aufregung allmählich zu legen. Einem Bericht nach soll ein Patient ver schwunden sein, aber diese Meldung ist bisher weder bestätigt noch dementiert worden. Nach Zeugenaussagen ist ein Tier – einige wollen es als Wolf identifiziert haben – durch die Gänge gerast und hat jeden angefallen, der ihm im Weg stand. Eigenartigerweise soll die ser Wolf, falls es wirklich einer war, an den Schultern Arme gehabt haben. Als die Polizei eintraf, wurde sie von diesem rätselhaften Tier angefallen und machte von der Schußwaffe Ge brauch, ohne jedoch ...« Elaine hielt den Atem an. St. Barnabas! Der Reporter stand vor St. Barnabas. Dort hatte sie Andrew Blake besucht, und ihr Vater war gera
de jetzt auf dem Weg dorthin ... Sie wollte aufspringen und blieb doch sitzen. Der Senator würde allein zurechtkommen; er war nicht auf ihre Hilfe angewiesen. Und die ses Tier, das im Krankenhaus gewütet hatte, war offenbar verschwunden. Wenn sie noch et was wartete, konnte sie miterleben, wie ihr Va ter aus dem Wagen stieg und das Krankenhaus betrat ...
17 Die Schritte kamen langsam näher. Der Mann rutschte und stolperte über die Geröllhalde vor dem Schlupfwinkel. Ein scharfgebündelter Lichtstrahl fiel in die Höhle. Denker machte sich noch kleiner und redu zierte sein Kraftfeld. Er war sich darüber im klaren, daß ihn dieses Feld verraten konnte, aber es ließ sich unmöglich weiter verringern. Es war ein Teil seiner selbst, und er war darauf angewiesen, wenn er überleben wollte. Beson ders in dieser fremden Umgebung, deren nied rige Temperatur seine Energiereserven aufzuz ehren drohte. Wir müssen wir selbst sein, dachte er. Ich mein Ich, Sucher sein Ich, und Wechsler eben falls sein eigenes Ich. Wir können nicht mehr oder weniger sein, und wir können uns nur all mählich durch eine langwierige Evolution ver ändern – aber wäre es nicht möglich, daß wir im Laufe der Jahrtausende verschmelzen, daß wir schließlich nur noch einen gemeinsamen Verstand besitzen? Und daß dieser Verstand zu Gefühlsreaktionen fähig wäre, die ich erfassen, aber nicht verstehen kann, und daß er die mes serscharfe, eiskalte Logik besäße, mit der ich
im Gegensatz zu meinen Gefährten begabt bin, und den treffsicheren Instinkt Suchers, den weder ich noch Wechsler besitzen? Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß ein bloßer Zufall dazu geführt hat, daß wir zu dritt mit unserem Verstand ein gewisses Quantum toter Materie beleben, das sich in einen belie bigen Körper verwandeln läßt? Blinder Zufall oder Schicksal? Welches Schicksal? Kann es sein, daß dieses Ereignis nur der erste Schritt auf einem vorausgeplanten Weg ist, dessen Endpunkt noch nicht zu erkennen ist? Der Mensch kroch näher. Steine rutschten unter seinen Knien davon und polterten den Abhang hinab. Er mußte sich angestrengt fest halten, und die Taschenlampe in seiner Hand malte zitternde Kringel auf die Höhlenwand. Dann stützte er einen Ellbogen auf und drückte seinen Körper hoch, bis er die Öffnung der Höhle vor sich hatte. Er sog prüfend die Luft ein. »He, Bob, in der Höhle riecht es komisch!« rief er dann. »Hier muß irgend etwas gewesen sein. Erst vor kurzer Zeit.« Denker vergrößerte sein Kraftfeld und stieß es gewaltsam nach draußen. Es traf den Mann wie ein Faustschlag, hob ihn hoch und ließ ihn fallen. Sein Körper verdrehte sich in der Luft
und prallte schwer auf. Der Mann stieß einen entsetzlichen Schrei aus, dann rutschte er bergab. Denker spürte, daß er nach unten rutschte und dabei Geröll und Äste mitriß. Dann hörte das Geräusch plötzlich auf, aber weiter unten platschte es. Andere Männer brachen durchs Unterholz. Das Licht ihrer Taschenlampen fiel auf Büsche und dunkle Baumstämme. Stimmen wurden laut. »Bob, hast du das gehört? Harry muß etwas zugestoßen sein.« »Ja, ich hab' ihn schreien gehört.« »Er ist unten am Bach. Ich glaube, daß er ins Wasser gefallen ist.« Die Männer kletterten bergab. Vom Bach her leuchteten fünf oder sechs Taschenlampen, und einige der Jäger wateten in den Bach hin aus. Auf dem anderen Ufer erschienen eben falls tanzende Lichtstrahlen, als die Suchenden Verstärkung erhielten. In Denkers Verstand bewegte sich etwas. Ja, fragte er, was gibt es? Was tun wir jetzt? knurrte Sucher. Du hast gehört, was er gebrüllt hat. Sie sind jetzt noch zu aufgeregt, aber einer von ihnen wird sich daran erinnern. Irgend jemand kommt be stimmt hier herauf. Vielleicht schießen sie
dann auf uns. Ich bin ganz deiner Meinung, warf Wechsler ein. Sie werden die Höhle untersuchen. Wenn der Mann nicht gefallen ... Gefallen! wiederholte Denker verächtlich. Ich habe ihn gestoßen. Schon gut, meinte Wechsler beruhigend. Die ser Mann hat uns jedenfalls verraten. Viel leicht hat er Sucher gerochen. Ich stinke nicht, sagte Sucher. Das ist lächerlich, stellte Denker fest. Höchst wahrscheinlich besitzen wir alle einen charak teristischen Körpergeruch. Die Höhle kann ohne weiteres nach dir gerochen haben. Vielleicht war es dein Körpergeruch, wandte Sucher ein. Vergiß nicht, daß du ... Aufhören! sagte Wechsler scharf. Es ist völlig unwichtig, wen von uns der Mann gerochen hat. Wir müssen überlegen, was jetzt zu tun ist. Denker, kannst du dich in etwas Langes und Flaches verwandeln und in dieser Gestalt den Hügel hinaufkriechen? Das bezweifle ich. Der Planet ist viel zu kalt. Ich verliere zu schnell Energie. Wenn ich mei ne Körperoberfläche vergrößere, verliere ich sie um so rascher. Mit diesem Problem müssen wir irgendwie fertig werden, meinte Sucher. Es handelt sich
darum, daß wir genügend Energie brauchen. Wechsler muß einfach für drei essen. Sein Körper ist auf die hier erhältlichen Lebensmit tel eingestellt und kann sie verdauen und in Energie umwandeln. Denker findet nicht über all Energiequellen, und ich bezweifle, daß mein Körper sich hier auf natürliche Weise ... Du hast völlig recht, unterbrach Wechsler ihn, aber darüber können wir später nachden ken. Bleiben wir lieber beim ursprünglichen Problem. Können wir deine Gestalt annehmen, Sucher? Meine wäre zu auffällig, denn mein Körper ist weiß. Natürlich können wir meine Gestalt anneh men, erwiderte Sucher. Ausgezeichnet. Du kriechst also aus der Höh le und schleichst den Hügel hinauf. So leise und vorsichtig wie möglich – aber auch so schnell wie du kannst. Die Jäger sind alle dort unten am Bach versammelt, und wenn sie nicht auf dich aufmerksam werden, sind wir sie vorläufig los. Nehmen wir an, ich hätte den Hügel erreicht – was dann? erkundigte Sucher sich. Du folgst einfach der nächsten Straße, erklär te Wechsler ihm. Irgendwo muß eine Visor phonzelle zu finden sein.
18 »Wenn Sie recht haben«, sagte Chandler Hor ton, »müssen wir uns möglichst bald mit Blake in Verbindung setzen.« »Warum glauben Sie, daß wir es noch mit Blake zu tun haben?« fragte der Chefarzt. »Schließlich ist nicht Blake aus dem Kranken haus geflohen. Sollte Daniels mit seiner Theo rie recht behalten, war es ein fremdartiges Le bewesen.« »Aber es war auch Blake«, widersprach Hor ton. »Ein fremdartiges Lebewesen, das sich aber in Blake zurückverwandeln konnte.« Senator Stone lehnte sich in seinen Sessel zu rück und runzelte die Stirn. »Falls jemand auf meine Meinung Wert legt«, warf er ein, »möch te ich betonen, daß ich das alles für Unsinn halte.« »Ihre Meinung interessiert uns natürlich«, antwortete Horton. »Aber Sie könnten aus nahmsweise etwas Konstruktives beisteuern, Solomon.« »Warum ausgerechnet ich?« fragte Stone em pört. »Das Ganze ist eine abgekartete Sache. Ich weiß noch nicht, welchen Zweck sie erfül len soll, aber das ist es jedenfalls. Und ich
möchte wetten, daß Sie dahinterstecken, Chandler. Ich kenne Ihre Tricks! Sie haben die Sache aufgezogen, um irgend etwas zu bewei sen – nur ist vorläufig noch nicht klar, worum es sich handelt. Ich habe gleich gewußt, daß an der Sache etwas faul war, als Sie diesen Witz bold Lukas in den Zeugenstand gerufen ha ben.« »Doktor Lukas, wenn ich bitten darf, Sena tor«, sagte Horton. »Gut, meinetwegen. Doktor Lukas, damit Sie zufrieden sind. Was weiß er davon?« »Fragen wir ihn doch gleich selbst«, schlug Horton vor. »Doktor Lukas, was wissen Sie da von?« Lukas grinste trocken. »Ich kann natürlich nicht beurteilen, was hier im Krankenhaus passiert ist«, stellte er fest. »Aber ich bin da von überzeugt, daß Doktor Daniels mit seiner Theorie recht hat – alles könnte auf seiner An nahme beruhen.« »Aber das ist nur ein Aberglauben«, wider sprach Stone. »Bloßer Aberglauben. Doktor Daniels hat sich eine Erklärung zurechtgelegt. Gut! Ausgezeichnet! Wunderbar! Er besitzt eben eine gute Phantasie. Aber das bedeutet noch lange nicht, daß sich alles so abgespielt haben muß.«
»Ich möchte betonen, daß Blake bei Doktor Daniels in Behandlung war«, sagte der Chef arzt. »Sie glauben also auch an diesen Unsinn?« »Nicht unbedingt. Ich weiß überhaupt nicht, was ich noch glauben soll. Aber wenn jemand eine Meinung haben darf, ist es Daniels hier.« »Betrachten wir die Sache doch ganz nüch tern«, schlug Horton vor. »Ich halte es für überflüssig, auf die Vorwürfe des Senators ein zugehen, der alles für eine abgekartete Sache hält, aber wir sind uns wohl darüber einig, daß sich hier etwas Außergewöhnliches ereignet hat. Ich bezweifle, daß Doktor Winston uns leichtfertig und grundlos alarmiert hat. Er will sich jetzt nicht festlegen, aber ich bin davon überzeugt, daß er das Gefühl hatte, die Angele genheit sei irgendwie besorgniserregend.« »Das habe ich noch immer«, sagte der Chef arzt. »Soviel ich gehört habe, ist dieser Wolf – oder was es auch immer war ...« Solomon Stone schnaubte verächtlich. Horton warf ihm einen eisigen Blick zu. »Oder was es auch immer war«, wiederholte er, »von der Polizei verfolgt worden, über die Straße gelaufen und im Park verschwunden.« »Richtig«, bestätigte Daniels. »Dort draußen
sind jetzt ganze Horden auf der Jagd nach ihm. Irgendein idiotischer Autofahrer hat ihn sogar zu überfahren versucht.« »Dieser Unsinn muß endlich aufhören«, ver langte Horton. »Anscheinend hat hier kein Mensch nachgedacht, sondern alle sind gleich ...« »Sie müssen die Aufregung berücksichtigen«, warf der Chefarzt ein. »Die Leute waren zu kei nem klaren Gedanken fähig.« »Wenn Blake das ist, was Daniels vermutet, müssen wir ihn zurückholen«, stellte Horton fest. »Wir haben bereits zwei Jahrhunderte vergeudet, nur weil die Raumfahrtbehörde glaubte, sie müsse das Projekt totschweigen, da es ein Mißerfolg gewesen zu sein schien. Diese Taktik war übrigens so erfolgreich, daß es völlig in Vergessenheit geriet und nur als unglaubwürdiges Gerücht überlebte. Aber wir wissen jetzt, daß es offenbar doch Erfolg ge habt hat. Der Beweis dafür hält sich vermutlich in dieser Sekunde dort drüben im Wald ver borgen.« »Oh, das Projekt war wirklich ein Mißerfolg«, sagte Lukas. »Es hat jedenfalls nicht so funk tioniert, wie die Raumfahrtbehörde dachte. Ich glaube, daß Daniels richtig vermutet hat. Sobald der Androide die Charakteristika eines
anderen Lebewesens aufgenommen hatte, konnten sie nicht mehr gelöscht werden, son dern wurden zu einem Bestandteil seiner selbst. Der Androide war gleichzeitig ein Mensch und dieses fremde Lebewesen. In je der Beziehung – körperlich und geistig.« »Glauben Sie, daß der Androide eine syntheti sche Mentalität besitzt?« fragte der Chefarzt. »Darunter verstehe ich eine sorgfältig ausgear beitete Mentalität, die ihm eingegeben wurde.« Lukas schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich, denn diese Methode wäre reichlich primi tiv gewesen. In den Berichten, die ich gelesen habe, ist nicht davon die Rede, aber ich vermu te stark, daß das Gehirn des Androiden die ge naue Kopie irgendeines Menschengehirns ist. Selbst damals muß diese Übertragung tech nisch möglich gewesen sein. Wann wurde die erste Gehirnbank eingerichtet?« »Vor etwas über dreihundert Jahren«, sagte Horton. »Folglich war eine Übertragung technisch möglich. Die Konstruktion eines synthetischen Gehirns wäre selbst heutzutage sehr schwierig. Ich bezweifle sogar, daß es uns gelingen wür de, diesen Bestandteil des Menschen vollkom men zu imitieren. Unser künstliches Gehirn würde selbstverständlich funktionieren, aber
ich möchte nicht beschwören, daß es vollstän dig menschlich wäre.« »Sie glauben also, daß Blakes Gehirn die Ko pie des Gehirns eines Mannes ist, der zur Zeit seiner Konstruktion gelebt hat?« fragte Hor ton. »Davon bin ich überzeugt«, antwortete Lukas. »Ich auch«, warf der Chefarzt ein. »Folglich ist er im Grunde genommen ein Mensch – oder hat wenigstens einen menschli chen Verstand?« fragte Horton weiter. »Das ist meines Erachtens die einzig mögli che Lösung«, erwiderte Lukas. »Alles Unsinn«, murmelte Senator Stone vor sich hin. Niemand achtete auf ihn. Der Chefarzt sah zu Horton hinüber. »Sie glauben also, daß wir Blake unbedingt zurück holen müssen?« »Richtig«, bestätigte Horton. »Bevor die Poli zisten eine Dummheit machen und wieder um sich knallen. Bevor sie ihn so erschrecken, daß er monatelang nicht mehr zum Vorschein kommt – wenn überhaupt.« »Ganz meiner Meinung«, sagte Lukas. »Über legen Sie nur, was wir von ihm lernen könnten, was er uns erzählen könnte. Falls in absehba rer Zeit auch Menschen biotechnisch beein
flußt werden sollen, ist Blake ein unschätzba res Studienobjekt.« Der Chefarzt schüttelte verwirrt den Kopf. »Aber Blake stellt doch einen Ausnahmefall dar. Soviel ich gehört habe, ist nicht vorgese hen, derartige Lebewesen zu erzeugen.« »Sie haben natürlich recht, Doktor«, stimmte Lukas zu, »aber jeder Androide ist ...« »Damit vergeuden Sie nur Ihre Zeit«, warf Stone ein. »Es wird nie ein Programm dieser Art geben. Dafür werden ich und einige meiner Kollegen sorgen.« »Solomon«, sagte Horton geduldig, »über die politische Seite dieser Angelegenheit können wir uns später Sorgen machen. Im Augenblick handelt es sich nur darum, daß draußen ein er schrockener Mann versteckt ist, dem wir ir gendwie zeigen müssen, daß wir ihm nichts an tun wollen.« »Und was schlagen Sie also vor?« »Das ist doch ganz einfach. Wir blasen die Jagd ab und veröffentlichen die Nachricht ...« »Glauben Sie, daß ein Wolf Zeitungen liest oder fernsieht?« »Wahrscheinlich würde er nicht lange ein Wolf bleiben«, sagte Daniels. »Ich habe das Ge fühl, daß er sich so schnell wie möglich in einen Menschen zurückverwandeln wird. Stel
len Sie sich nur vor, wie verwirrend die Erde für ein fremdes Lebewesen sein muß.« »Meine Herren«, sagte der Chefarzt. »Ich bit te Sie, meine Herren.« Alle sahen ihn erstaunt an. »Das ist unmöglich!« beteuerte er. »Das wür de unser Krankenhaus in völlig schiefes Licht rücken. So ist es schon schlimm genug – aber diese Werwolfgeschichte! Stellen Sie sich nur die Schlagzeilen vor!« »Aber wenn wir recht haben?« fragte Daniels. »Das ist eben der springende Punkt. Wir wis sen nicht, ob wir recht haben. Wir glauben es, aber das genügt einfach nicht. Bei dieser Sache müssen wir hundertprozentig recht haben – und das können wir nicht behaupten.« »Sie weigern sich also, die Mitteilung zu ma chen?« wollte Horton wissen. »Ich darf mich nicht dazu äußern, sofern es über den Krankenhausbereich hinausgeht. Dazu müßte ich die Genehmigung der Raum fahrtbehörde einholen – aber ohne ihre Zu stimmung darf ich nichts sagen. Selbst wenn ich recht hätte, würde die Raumfahrtbehörde dafür sorgen, daß ich nie wieder auf den Ge danken käme, ihr ins Handwerk zu pfuschen ...« »Selbst nach zweihundert Jahren.«
»Richtig, sogar nach zwei Jahrhunderten. Ist Ihnen nicht klar, daß Blake der Raumfahrtbe hörde gehört, wenn unsere Vermutungen zu treffen? Sie muß entscheiden, was mit ihm ge schehen soll; sie hat damit angefangen und muß jetzt ...« Stone grinste breit. »Lassen Sie sich von ihm nichts einreden, Chandler. Holen Sie die Reporter zusammen und erzählen Sie ihnen die ganze Story. Zeigen Sie uns, daß Sie Mumm in den Knochen haben. Lassen Sie sich nicht in Ihren Überzeugungen beirren. Hoffentlich tun Sie es nicht!« »Darauf können Sie sich verlassen«, sagte Horton. »Ich warne Sie, mein Freund«, fügte Stone hinzu. »Ein Wort davon in der Öffentlichkeit, und ich sorge dafür, daß kein Hund mehr einen Bissen von Ihnen nimmt.«
19 Das leise Summen des Visorphons drang schließlich in den Fernsehraum. Elaine Horton trennte sich nur widerwillig von der lebens echten Illusion vergangener Zeiten. Das Visorphon summte weiter. Der Bild schirm leuchtete regelmäßig auf. Elaine Horton nahm davor Platz und schalte te auf Empfang um. Im schwachen Lichtschein einer Visorphonzelle wurde ein Kopf sichtbar. »Andrew Blake?« rief sie überrascht aus. »Richtig. Hören Sie, ich ...« »Ist etwas passiert? Der Senator mußte sofort ins ...« »Ich habe Schwierigkeiten«, erklärte Blake ihr. »Sie wissen vermutlich, was passiert ist.« »Im Krankenhaus, meinen Sie? Ich habe eini ge Minuten lang zugesehen, ohne wirklich dar aus schlau zu werden. Der Reporter hat von ei nem Wolf gesprochen, und einer der Patienten soll verschwunden ...« Sie holte tief Luft. »Ei ner der Patienten ist verschwunden! Sind Sie das, Andrew?« »Ja. Deswegen brauche ich jetzt Hilfe. Und Sie sind der einzige Mensch, den ich hier in Washington kenne, der einzige Mensch außer
halb des Krankenhauses, den ich um Hilfe bit ten kann ...« »Wie kann ich Ihnen helfen?« fragte sie. »Ich brauche Kleidung«, erklärte er ihr. »Was, Sie haben das Krankenhaus ohne Klei dung verlassen? Draußen ist es kalt ...« »Die Geschichte ist ziemlich lang«, unter brach er sie. »Wenn Sie mir nicht helfen wol len, sagen Sie es bitte gleich. Ich habe Ver ständnis dafür. Ich möchte Sie nicht in die Sache hineinziehen, aber ich erfriere allmäh lich und bin auf der Flucht ...« »Sie sind aus dem Krankenhaus geflohen?« »So könnte man es nennen.« »Was brauchen Sie zum Anziehen?« »Irgend etwas. Ich kann alles brauchen.« Elaine zögerte einen Augenblick. Vielleicht war es besser, zuerst den Senator zu fragen. Aber der Senator war nicht zu Hause. Er war noch immer im Krankenhaus, und sie wußte nicht, wann er zurückkommen würde. »Hören Sie, ich muß wissen, ob ich Sie richtig verstanden habe«, sagte sie. »Andrew, Sie sind also der Mann, der aus dem Krankenhaus ver schwunden ist. Und Sie wollen nicht wieder dorthin zurück. Sie befinden sich auf der Flucht, haben Sie gesagt. Soll das heißen, daß Sie verfolgt werden?«
»Die Polizei war eine Zeitlang hinter mir her«, gab er zu. »Aber jetzt nicht?« »Nein, nicht im Augenblick. Wir sind ihr ent wischt.« »Wir?« »Ich habe mich versprochen. Ich bin der Poli zei entwischt, wollte ich sagen.« Elaine nickte langsam. »Wo sind Sie?« erkun digte sie sich. »Das kann ich nicht genau sagen. Die Stadt hat sich natürlich verändert. Ich vermute, daß ich am Südende der alten Taft-Brücke stehe.« »Bleiben Sie dort«, wies Elaine ihn an. »Ach ten Sie auf meinen Wagen. Ich fahre ganz lang sam und halte nach Ihnen Ausschau.« »Danke ...« »Augenblick! Mir ist eben etwas eingefallen. Sie rufen von einer Visorphonzelle aus an?« »Richtig.« »Der Apparat funktioniert aber nur, wenn man ein Münze einwirft. Woher haben Sie die Münze, wenn Sie unbekleidet sind?« Blake grinste. »Die Münzen fallen in einen Sammelbehälter. Ich habe einen Stein genom men und ...« »Sie haben den Behälter aufgebrochen, um sich eine Münze zu verschaffen?«
»Ich bin eben der geborene Schwerverbre cher«, meinte er lächelnd. »Wirklich? Am besten geben Sie mir die Nummer Ihres Apparats und bleiben in seiner Nähe, damit ich Sie anrufen kann, falls ich Sie nicht sehe – wenn Sie sich doch getäuscht ha ben sollten und gar nicht an der Taft-Brücke warten.« »Augenblick.« Er sah auf das Schild unter dem Bildschirm und las die Nummer ab. Elai ne Horton schrieb sie in ihrem Notizbuch auf und klappte es wieder zu. »Ihnen ist hoffentlich klar, was Sie damit ris kieren, Andrew«, sagte sie noch. »Ich weiß jetzt die Nummer, und die entsprechende Vi sorphonzelle läßt sich ohne weiteres feststel len.« Blake nickte langsam. »Das ist mir natürlich von Anfang an klar gewesen. Aber ich muß es riskieren. Sie sind meine einzige Hoffnung.«
20 Diese Frau? meinte Sucher fragend. Sie ist doch ein Weibchen, nicht wahr? Ja, antwortete Wechsler. Ich finde sie schön, muß ich sagen. Der Begriff ist mir noch nicht ganz klar, warf Denker ein. Einem weiblichen Wesen gegen über kann man Zuneigung empfinden? Auf ge genseitiger Basis, nehme ich an. Und einem weiblichen Wesen kann man trauen? Manchmal, sagte Wechsler. Das hängt von den Umständen ab. Deine Haltung gegenüber Weibchen ist un verständlich, murrte Sucher. Sie sichern nur den Fortbestand der Rasse. Zu bestimmten Jahreszeiten ... Euer System ist umständlich, meinte Denker. Ich sorge selbst für das Fortbestehen meiner Rasse. Aber im Augenblick geht es nicht um die gesellschaftliche oder biologische Bedeutung dieses weiblichen Wesens, sondern nur um die Frage, ob wir ihm trauen können. Ich weiß es nicht, gab Wechsler zu. Aber ich vermute es. Ich baue darauf. Er hockte hinter einem dichten Busch und zit terte vor Kälte. Seine Zähne klapperten laut.
Der Nordwind war um diese Jahreszeit bereits eisig. Er bewegte vorsichtig die wundgelaufe nen Füße. In der Dunkelheit war er auf spitze Steine und abgesplitterte Äste getreten, so daß seine Füße jetzt schmerzten. Fünf Meter von ihm entfernt stand die Visor phonzelle. Ihre Innenbeleuchtung war düster, denn die zweite Leuchtröhre brannte nicht. Rechts und links erstreckte sich die menschen leere Straße. Um diese Zeit waren nur noch wenige Fahrzeuge unterwegs. Alle fuhren schnell, und die Brücke dröhnte, wenn ein Wa gen darüberrollte. Blake duckte sich tiefer und verwünschte sei ne Lage. Der reinste Alptraum! Er hockte hier in der Dunkelheit, war bereits halb erfroren und wartete darauf, daß eine junge Frau, die er nur zweimal im Leben gesehen hatte, ihm Klei dung bringen würde. Und er war nicht einmal überzeugt davon, daß sie es wirklich tun würde ... Er verzog das Gesicht, als er an das Visor phongespräch dachte. Er hatte seinen ganzen Mut zusammennehmen müssen, um es über haupt zu führen, und er hätte Verständnis da für gehabt, wenn Elaine ihm nicht zugehört hätte. Aber sie hatte es getan. Natürlich etwas erschrocken und vielleicht ein wenig mißtrau
isch – aber wer wäre das nicht gewesen? Es war schließlich nicht normal, daß ein Fremder sich mit einem derartigen Hilferuf meldete. Er hatte keinen Anspruch auf ihre Hilfe, das wußte er recht gut. Und die Sache wurde da durch erschwert, daß er nun schon zum zwei tenmal im Haushalt des Senators um Kleidung gebeten hatte. Diesmal würde er jedoch nicht nach Hause zurückkehren. Dort wartete be reits die Polizei; sie würde ihn verhaften, be vor er es betreten konnte. Blake fuhr zusammen und verschränkte die Arme, als könne er dadurch seine Körperwär me konservieren. Er sah auf, als über ihm ein leises Surren ertönte. Ein Haus flog in niedri ger Höhe über die Bäume hinweg und steuerte die Innenstadt an. Sämtliche Fenster waren beleuchtet, und Blake hörte Lachen und Mu sik. Dort oben amüsierten sich glückliche Men schen, während er hier unten erfror. Er sah dem Haus nach, bis es in Richtung Osten verschwand. Und was sollte er nun anfangen? Was sollten sie alle drei tun. Wohin sollten sie sich wen den, sobald er die Kleidung bekommen hatte? Er wußte von Elaine, daß die Öffentlichkeit noch nicht über seine Flucht aus dem Kran kenhaus informiert war. Aber innerhalb der
nächsten Stunden würde sich die Nachricht wie Lauffeuer verbreiten. Dann würde er nicht lange unerkannt bleiben. Folglich mußte Den ker oder Sucher an seine Stelle treten, aber beide würden sich ebenfalls verstecken müs sen. Das Klima war für beide ungünstig – zu kalt für Denker und zu heiß für Sucher. Dazu kam noch, daß er die Energiezufuhr überneh men mußte, wenn sie überleben wollten. Su cher konnte vielleicht irdische Nahrungsmittel verdauen – aber das mußte erst festgestellt werden. Denker konnte dem elektrischen Lei tungsnetz Energie entziehen – aber dabei war die Gefahr entdeckt zu werden besonders groß. Oder sollte er sich mit Daniels in Verbindung setzen? Er verfolgte diesen Gedanken nicht weiter, denn er wußte, daß das nicht in Frage kam. Daniels würde verlangen, daß er ins Krankenhaus zurückkehrte. Und das Kranken haus war eine Falle. Dort würde er eingehend befragt und vielleicht sogar einer psychiatri schen Behandlung unterzogen werden. Im Krankenhaus war er nicht sein eigener Herr, sondern ein unauffällig bewachter Gefangener. Und obwohl er von Menschen konstruiert wor den war, hatte er nicht das Gefühl, ihnen zu ge hören. Nein, er wollte in Freiheit bleiben, woll te er selbst bleiben.
Und wie stand es mit diesem Selbst? Nicht nur mit dem Menschen, sondern auch den bei den anderen Lebewesen? Er hätte sich nicht von ihnen trennen können, denn sie mußten sich diese Ansammlung von Materie teilen, die diese oder jene Körperform annehmen konnte. Aber er hätte sich auch gar nicht von ihnen trennen wollen, wenn er es recht überlegte. Die beiden anderen waren ihm vertraut, sie waren seine Freunde ... nun, vielleicht nicht gerade das, sondern Mitstreiter, die sich einen Körper mit ihm teilten. Und selbst wenn sie weder Freunde noch Mitstreiter gewesen wä ren, hätte er doch aus einem anderen Grund die Verantwortung für sie gehabt. Schließlich war es seine Schuld, daß sie in dieser Klemme saßen, und ihm blieb deshalb nichts anderes übrig, als die Suppe mit ihnen auszulöffeln. Würde sie kommen, fragte er sich, oder wür de sie die Polizei alarmieren? Im Grunde ge nommen konnte er sie nicht einmal tadeln, wenn sie ihn verriet. Woher sollte sie wissen, daß er nicht verrückt war? Sie konnte sich ein bilden, in seinem Interesse zu handeln, wenn sie ihn verriet. Jetzt konnte jeden Augenblick ein Streifenwa gen aus der Dunkelheit auftauchen und eine Ladung Polizisten ausspucken.
Sucher, vielleicht gibt es Schwierigkeiten, sagte Wechsler. Sie braucht zu lange. Es gibt andere Möglichkeiten, antwortete Su cher. Wenn sie uns im Stich läßt, finden wir andere. Falls die Polizei kommt, fuhr Wechsler fort, müssen wir deine Gestalt annehmen. Ich kann nicht schnell genug laufen. Ich bin fast nacht blind, und meine Füße sind ... Jederzeit, unterbrach Sucher ihn. Ich bin be reit. Du brauchst mir nur ein Zeichen zu ge ben. Der Wind strich durch die Bäume. Blake zit terte heftig. Noch zehn Minuten, dachte er. Ich gebe ihr noch zehn Minuten. Wenn sie bis da hin nicht gekommen ist, müssen wir ver schwinden. Und er fragte sich, wie er ohne Uhr feststellen sollte, wann zehn Minuten vergan gen waren. Er blieb geduckt hinter seinem Busch sitzen und fühlte sich unendlich einsam. Ein Frem der, überlegte er sich. Ein fremdartiges Wesen inmitten dieser Menschen, deren Körper er be saß. Gab es denn einen Ort auf diesem Plane ten oder im gesamten Universum, an dem er zu Hause gewesen wäre? Ich bin ein Mensch, hatte er Denker versichert; ich bestehe darauf, ein Mensch zu sein. Aber mit welchem Recht
bestand er darauf? Immer mit der Ruhe, sagte Sucher. Ruhig, ru hig, ruhig. Die Zeit verstrich. Irgendwo in den Bäumen zwitscherte ein Vogel. War er aufgewacht, weil er eine Gefahr spürte? Ein Auto rollte langsam die Straße entlang. Es hielt gegenüber der Visorphonzelle. Eine Hupe ertönte leise. Blake stand hinter seinem Busch auf und winkte. »Hierher!« rief er dabei. Die Wagentür öffnete sich, dann stieg Elaine Horton aus. Sie nahm ein Bündel vom Rück sitz, ging an der Visorphonzelle vorbei und blieb drei Meter von Blake entfernt stehen. »Fangen Sie«, sagte sie und warf ihm das Bündel zu. Blake löste mit vor Kälte steifen Fingern die Verschnürung und zog sich an. Die Sandalen waren fest, die Robe bestand aus schwarzem Wollstoff und hatte eine lange Kapuze. Er kam hinter dem Busch hervor und ging auf Elaine zu. »Vielen Dank«, sagte er. »Ich war schon halb erfroren.« »Tut mir leid, daß es so lange gedauert hat«, sagte sie. »Ich habe Sie wirklich bedauert, weil
Sie es hier draußen aushalten mußten, aber ich hatte das Zeug nicht gleich zur Hand.« »Zeug?« »Was Sie noch brauchen.« »Das verstehe ich nicht«, sagte er. »Sie sind doch auf der Flucht. Dazu brauchen Sie mehr als nur Kleidung. Kommen Sie, wir setzen uns in den Wagen. Ich habe die Heizung angelassen. Es ist gemütlich warm.« Blake trat einen Schritt zurück. »Nein«, wi dersprach er energisch, »das ist ausgeschlos sen. Sie dürfen nicht noch tiefer in den Fall verwickelt werden. Ich bin Ihnen selbstver ständlich dankbar, aber ...« »Unsinn!« sagte Elaine Horton. »Das ist mei ne gute Tat für heute.« Er hüllte sich frierend in seine Robe. »Seien Sie vernünftig«, bat Elaine. »Steigen Sie endlich ein.« Blake zögerte. Ihm war kalt, und der Wagen war geheizt. »Los, kommen Sie«, drängte Elaine. Er ging mit ihr an den Wagen, hielt ihr die Tür auf, bis sie hinter dem Steuer saß, stieg dann an der anderen Seite ein und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Ein heißer Luftstrom traf auf seine Knöchel. Elaine Horton legte den ersten Gang ein und
fuhr an. »Ich kann hier nicht ewig parken«, erklärte sie Blake. »Irgend jemand würde die Polizei holen oder selbst nachsehen. Aber solange ich fahre, kümmert sich niemand um mich. Soll ich Sie irgendwo absetzen?« Blake schüttelte den Kopf. Er hatte sich noch nicht überlegt, wohin er sich wenden sollte. »Vielleicht außerhalb von Washington?« schlug Elaine vor. »Bitte«, sagte er. Außerhalb von Washington war immerhin ein Anfang. »Wollen Sie mir nicht etwas davon erzählen, Andrew?« »Lieber nicht«, antwortete er, »sonst halten Sie womöglich an und werfen mich hinaus.« Sie lachte. »Dramatisieren Sie den Fall nicht überflüssig. Ich drehe jetzt und fahre nach We sten. Einverstanden?« »Natürlich«, sagte Blake. »Dort kann ich mich irgendwo verstecken.« »Wie lange ... ich meine, wie lange müssen Sie wahrscheinlich versteckt bleiben?« »Keine Ahnung«, antwortete Blake wahr heitsgemäß. »Wissen Sie, was ich glaube? Ich bezweifle, daß Sie sich überhaupt verstecken können. Ir gend jemand kommt doch auf Ihre Spur. Es
wäre bestimmt besser, wenn Sie ständig in Be wegung blieben, anstatt auf ein sicheres Ver steck zu vertrauen, das vielleicht doch nicht si cher genug ist.« »Haben Sie lange darüber nachgedacht?« »Nein. Aber das sagt einem der gesunde Men schenverstand. Die Robe, die ich Ihnen mitge bracht habe, ist nicht nur eines der Kleidungs stücke aus Wolle, auf die Daddy so stolz ist, sondern auch das Kostüm der fahrenden Schü ler.« »Fahrende Schüler?« »Oh, das hätte ich fast vergessen. Sie sind noch nicht völlig über unsere Zeit informiert. Dabei handelt es sich nicht um Studenten wie im Mittelalter, sondern um künstlerisch veran lagte Landstreicher. Sie wandern ziellos durch die Gegend, malen Bilder, schreiben Gedichte oder komponieren Musikstücke – Sie wissen schon, was Künstler eben tun. Sie sind nicht gerade zahlreich, aber doch so bekannt, daß je der ihren Typ erkennt. Selbstverständlich wer den sie kaum beachtet. Sie können sich die Ka puze ins Gesicht ziehen, dann weiß kein Mensch, wie Sie aussehen.« »Und Sie glauben, ich sollte als wandernder Schüler durch die Lande ziehen?« Elaine ignorierte die Unterbrechung. »Ich
habe einen alten Rucksack für Sie aufgetrie ben. Das ist ein typischer Ausrüstungsgegen stand. Dazu kommen ein Packen Papier und Bleistifte und drei Bücher, die Sie lesen müs sen, damit Sie wissen, wovon darin die Rede ist. Sie geben sich als Schriftsteller aus. Sobald Sie Gelegenheit dazu haben, kritzeln Sie einige Blätter voll, damit alles authentisch wirkt, falls Sie doch angehalten werden.« Blake kauerte auf dem Sitz und nahm die Wärme mit allen Poren auf. Elaine hatte auf der Straße gewendet und fuhr nach Westen. Vor ihnen ragten gigantische Wohntürme ge gen den Nachthimmel auf. »Öffnen Sie das Handschuhfach«, sagte Elai ne. »Ich habe Ihnen ein paar Sandwiches und eine Thermosflasche voll Kaffee mitgebracht.« Er nahm ein Sandwich aus dem Plastikbeutel und begann sofort zu essen. »Ich bin fast verhungert«, sagte er dabei. »Das habe ich mir gedacht«, meinte Elaine. Der Wagen fuhr weiter. Die Wohntürme blie ben hinter ihnen zurück. Hier und dort stan den dunkle Häuser am Straßenrand. »Ich hätte Ihnen einen Schweber beschaffen können«, meinte Elaine. »Oder sogar einen Wagen. Aber beide tragen Zulassungsnum mern und sind leicht zu verfolgen. Außerdem
achtet kaum jemand auf einen einsamen Fuß gänger. Auf diese Weise sind Sie am sicher sten.« »Warum geben Sie sich meinetwegen solche Mühe, Elaine?« fragte Blake. »Das habe ich nicht von Ihnen verlangt.« »Ich weiß selbst nicht«, antwortete sie. »Weil es Ihnen so verdammt schlecht gegangen ist, nehme ich an. Sie sind gleich nach Ihrer Rück kehr ins Krankenhaus gekommen und dort eingehend untersucht worden. Dann hat man sie eine Weile auf die grüne Wiese geschickt, aber bevor Sie sich von Ihrem ersten Schock erholen konnten, wurden Sie wieder eingefan gen und nochmals untersucht.« »Die Ärzte wollten mir natürlich helfen«, sag te Blake. »Ja, das weiß ich. Aber es war bestimmt nicht angenehm für Sie. An Ihrer Stelle wäre ich auch fortgelaufen, als sich endlich eine Chance bot.« Sie fuhren einige Zeit schweigend weiter. Bla ke aß die Sandwiches und trank etwas Kaffee. »Was war eigentlich mit diesem Wolf?« er kundigte Elaine sich plötzlich. »Wissen Sie et was davon? Im Krankenhaus soll ein Wolf ge wesen sein.« »Soviel ich weiß, ist dort kein Wolf gewesen«,
antwortete Blake. Er tröstete sich damit, daß er nicht wirklich gelogen hatte. Sucher war schließlich kein Wolf. »Die Leute im Krankenhaus waren ziemlich aufgeregt«, berichtete Elaine. »Der Senator sollte sofort kommen.« »Meinetwegen oder wegen des Wolfs?« fragte er. »Das kann ich nicht sagen«, antwortete sie. »Er war noch unterwegs, als ich gefahren bin.« Sie erreichte eine Straßenkreuzung, bremste und fuhr nach rechts auf den Parkstreifen. »Weiter kann ich Sie leider nicht bringen«, erklärte sie Blake, »sonst komme ich zu spät nach Hause.« Er öffnete die Tür, stieg aus und zögerte dann. »Vielen Dank«, sagte er. »Sie haben mir wirklich geholfen. Vielleicht kann ich später ...« »Augenblick, nicht so eilig«, unterbrach sie ihn. »Hier ist Ihr Rucksack. Im vorderen Fach finden Sie etwas Geld.« »Hören Sie, ich ...« »Nein, hören Sie mir zu. Sie brauchen es ganz bestimmt. Es ist nicht viel, aber Sie können ei nige Zeit davon leben. Es ist mein Taschengeld. Sie können es mir später zurückzahlen, wenn Sie unbedingt wollen.«
Er griff nach dem Rucksack und schwang ihn sich auf den Rücken. Seine Stimme war heiser, als er wieder sprach. »Elaine ... Elaine, ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Im düsteren Licht der Wagenbeleuchtung schien sie ihm näher als zuvor zu sein. Ihre Schulter berührte seinen Arm, und er merkte, wie ihre Haare dufteten. Er zog sie an sich und küßte sie. Elaine erwiderte seinen Kuß. Dann trennten sie sich, und sie betrachtete ihn nachdenklich. »Ich hätte Ihnen nicht geholfen, wenn Sie mir unsympathisch gewesen wären«, stellte sie fest. »Ich bin davon überzeugt, daß Sie jetzt al lein zurechtkommen. Und ich glaube, daß Sie nichts tun, dessen Sie sich schämen müßten.« Blake antwortete nicht. »Los, fort mit Ihnen!« sagte sie. »Hinaus in die Nacht! Lassen Sie gelegentlich von sich hö ren, wenn es sich machen läßt.«
21 Der Schnellimbiß stand an der Stelle, wo sich die Straße Y-förmig gabelte. In der ungewissen Dämmerung vor Tagesanbruch leuchteten die roten Neonbuchstaben fast rosa. Blake humpelte etwas rascher. Dort konnte er sich endlich ausruhen, eine Kleinigkeit essen und sich etwas wärmen. Elaines Sandwiches hatten eine Nacht lang vorgehalten, aber jetzt war er wieder hungrig. Bei Tagesanbruch muß te er sich ein Versteck suchen, in dem er schla fen konnte – vielleicht einen Heuhaufen. Er fragte sich, ob es noch Heuhaufen gab. Oder hatte der technische Fortschritt selbst diese einfachsten Dinge beseitigt und überflüssig ge macht? Der Nordwind war eisig, und Blake zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht. Die Rucksackträ ger rieben ihm die Haut auf, und die unge wohnte Last auf seinem Rücken behinderte ihn, so daß er allmählich nervös wurde. Er erreichte schließlich das Lokal an der Stra ße, überquerte den Parkplatz und stieg die fünf Stufen zum Eingang hinauf. Der Raum war menschenleer. Die Theke war auf Hochglanz poliert, und die verchromte Kaffeemaschine
blitzte im Licht der Kugellampen an der Decke. »Wie geht es immer?« fragte der Imbiß mit der heiseren Stimme einer geübten Bedienung, die durch nichts mehr zu erschüttern ist. »Na, junger Mann, was darf's heute morgen sein?« Blake drehte sich erstaunt um, sah niemand und merkte endlich, worum es sich handelte. Das Lokal war vollautomatisiert wie die flie genden Häuser. Er ging an die Theke und nahm auf einem der Hocker Platz. »Pfannkuchen«, bestellte er, »und Schinken toast. Und Kaffee.« Er ließ sich den Rucksack von den Schultern rutschen und stellte ihn neben sich ab. »Ziemlich früh unterwegs, was?« fragte der Imbiß. »Oder sind Sie etwa die ganze Nacht lang marschiert?« »Nein, nicht die ganze Nacht«, antwortete Blake rasch. »Ich bin nur früh aufgestanden.« »Fahrende Schüler sind ziemlich selten ge worden«, meinte das Lokal. »Womit schlagen Sie sich durchs Leben, Freund?« »Ich schreibe«, sagte Blake. »Oder ich versu che es wenigstens.« »Na, dabei kommt man wenigstens herum«, meinte der Imbiß. »Ich muß immer hier an der gleichen Stelle bleiben und höre nur Leute re
den. Aber das ist besser als gar nichts«, fügte er rasch hinzu. »Dabei bleibt man wenigstens auf dem laufenden und ist beschäftigt.« Aus einer Düse fiel eine Portion Butter in die Pfanne; die Düse bewegte sich weiter, gab noch zwei Portionen ab und kehrte dann an ihren Ausgangspunkt zurück. Ein Metallarm neben der Kaffeemaschine entfaltete sich, wurde län ger und betätigte einen Schalter über der Heiz platte. Drei Scheiben Schinken fielen aus einer Öffnung in die Pfanne. Der Arm sank herab, trennte sie und breitete sie nebeneinander aus. »Möchten Sie Ihren Kaffee jetzt?« fragte das Lokal. »Bitte«, sagte Blake. Der Metallarm griff nach einem Plastikbe cher, hielt ihn unter die Kaffeemaschine und drückte ihn nach oben, um den Hahn zu betäti gen. Als der Becher gefüllt war, stellte der Arm ihn vor Blake ab, legte einen Löffel daneben und rückte höflich den Zuckerstreuer näher heran. »Sahne?« fragte der Imbiß. »Nein, danke«, sagte Blake. »Neulich hab' ich eine gute Geschichte ge hört«, vertraute ihm das Lokal an. »Ein Gast hat sie mir erzählt. Stellen Sie sich einen ...« Hinter Blake wurde die Tür geöffnet.
»Nein! Nein!« kreischte der Imbiß. »Ver schwinde gefälligst! Wie oft muß ich dir noch sagen, daß du hier nichts zu suchen hast, so lange Gäste da sind?« »Ich bin aber gekommen, um mit deinem Gast zu sprechen«, piepste eine helle Stimme. Blake drehte sich verblüfft um. Auf der Schwelle stand ein Brownie. Über der spitzen Schnauze glitzerten dunkle Augen, und die Pinselohren bewegten sich leicht. Der Brownie trug grünrosa gestreifte Hosen. »Ich füttere ihn«, jammerte das Lokal. »Ich ertrage ihn, weil es heißt, daß Brownies Glück bringen – aber dieser hier macht mir immer nur Schwierigkeiten. Er spielt mir dumme Streiche. Er ist unverschämt. Er hat keinen Re spekt vor mir ...« »Weil du dich wie ein Mensch aufführst«, warf ihm die Brownie vor, »und dabei vergißt, daß du kein Mensch, sondern nur Ersatz für einen Menschen bist. Du nimmst Menschen einen ehrlichen Job weg. Soll ich deshalb Re spekt vor dir haben?« »Du bekommst keinen Bissen mehr zu essen!« sagte das Lokal aufgebracht. »Ich lasse dich nicht mehr hier schlafen, wenn es drau ßen kalt ist. Du bekommst gar nichts mehr. Jetzt habe ich die Nase voll!«
Der Brownie achtete nicht darauf. Er näherte sich Blake und machte eine tiefe Verbeugung. »Guten Morgen, ehrenwerter Herr. Ich hoffe, daß Sie sich zufriedenstellend befinden.« »Danke, ausgezeichnet«, antwortete Blake amüsiert und unbehaglich zugleich. »Willst du nicht mit mir frühstücken?« »Gern«, sagte der Brownie und kletterte auf den nächsten Hocker. Dort blieb er sitzen und schlenkerte mit den Beinen. »Ich esse, was Sie essen, Sir«, fügte er noch hinzu. »Es ist sehr großzügig und höflich, mich einzuladen, denn ich habe großen Hunger.« »Du hast gehört, was mein Freund sagt«, wandte Blake sich an das Lokal. »Er bekommt, was ich bekomme.« »Und Sie bezahlen für ihn?« fragte das Lokal mißtrauisch. »Selbstverständlich.« Der mechanische Arm schoß nach vorn, wen dete die Pfannkuchen und machte Platz für weitere. Aus der Butterdüse quollen drei neue Portionen. »Eine regelrechte Mahlzeit ist eine erfreuli che Abwechslung«, vertraute der Brownie Bla ke an. »Meistens bekomme ich nur Reste zu es sen. Wer hungrig ist, darf natürlich keine Ansprüche stellen, aber man sehnt sich doch
nach etwas mehr Aufmerksamkeit.« »Lassen Sie sich nicht einwickeln«, warnte das Lokal Blake. »Laden Sie ihn in Gottes Na men zum Essen ein, aber trennen Sie sich rechtzeitig von ihm, sonst saugt er Sie aus.« »Maschinen sind zu keiner Empfindung fä hig«, sagte der Brownie. »Sie vernachlässigen die feineren Instinkte. Sie haben kein Mitleid mit den Menschen, denen sie dienen sollen. Und ihnen fehlt eine Seele.« »Du hast auch keine, du heidnischer Frem der!« warf ihm das Lokal vor. »Du bist ein Schmarotzer und ein Schnorrer und ein Blut sauger. Du nützt die Menschen aus und bist undankbar und kennst dabei kein Ende.« Der Brownie sah zu Blake hinüber und breite te resigniert die Hände aus. »Es ist trotzdem wahr«, beteuerte das Lokal. »Jedes einzelne Wort ist leider wahr!« Der Arm schob die drei ersten Pfannkuchen auf einen Teller, legte den Schinkentoast dane ben und ließ geschmolzene Butter über die Pfannkuchen tropfen. Dann stellte er den Tel ler vor Blake ab, griff unter die Theke und hol te einen Siruptopf hervor. Der Brownie schnüffelte begeistert. »Riecht wunderbar«, meinte er. »Hier wird nicht geschnorrt!« kreischte das
Lokal. »Du wartest gefälligst, bis deine fertig sind!« Irgendwo in der Ferne ertönte eine Sirene. Der Brownie stellte die Ohren auf. Wieder die Sirene – ein langgezogenes, kla gendes Heulen. »Schon wieder einer!« rief das Lokal. »Dabei sollen sie uns doch rechtzeitig warnen, anstatt einfach zu kommen. Und du, du nichtsnutziger Schmarotzer, sollst draußen aufpassen, ob einer kommt! Dafür ernähre ich dich schließlich!« »So früh war der nächste nicht zu erwarten«, antwortete der Brownie ungerührt. »Er dürfte erst am späten Abend kommen. Sie sollen doch verschiedene Routen benützen, damit nicht eine Straße alles abbekommt.« Das Heulen kam noch näher und wurde von den Hügeln zurückgeworfen. »Was ist das?« fragte Blake. »Ein Klipper«, antwortete der Brownie. »Ei ner dieser großen seetüchtigen Frachter. Er hat eine Ladung aus Europa oder Afrika an Bord, ist vor einer Stunde an Land gekommen und folgt jetzt der Straße.« »Soll das heißen, daß er auch über Land fährt?« erkundigte Blake sich verwundert. »Warum denn nicht?« meinte der Brownie. »Er bewegt sich auf einem Luftkissen vorwärts
und braucht sich nicht darum zu kümmern, ob er Land oder Wasser unter dem Kiel hat. Nach der Landung folgt er einfach der nächsten Straße.« Metall bewegte sich kreischend über Metall. Blake sah, daß sich schwere Stahlplatten vor die Fenster schoben. Aus der Wand kamen massive Klammern zum Vorschein, legten sich gegen die Tür und hielten sie fest. Das klagende Heulen erfüllte nun den Raum, und aus weiter Ferne näherte sich ein er schreckendes Brausen, als bewege sich ein gi gantischer Wirbelsturm übers Land. »Schiff klar zum Gefecht!« Das Lokal mußte brüllen, um sich überhaupt noch verständlich machen zu können. »Ihr beiden nehmt lieber auf dem Boden Deckung. Das scheint ein großer Kahn zu sein.« Das Gebäude zitterte heftig, und der Lärm er goß sich wie ein gewaltiger Wasserfall in den Raum, bis dieser überzulaufen schien. Der Brownie hatte sich unter dem Hocker versteckt und hielt sich dort mit beiden Hän den an den Querstreben fest, während er die Füße gegen die Schrauben stemmte, mit denen der Hocker am Boden befestigt war. Sein Mund stand offen, und er rief Blake etwas zu, aber die helle Stimme ging in dem Heulen un
ter, das sich entlang der Straße näherte. Blake rutschte von seinem Hocker und warf sich zu Boden. Er wollte sich dort festhalten, aber der Fußbodenbelag bestand aus hartem Plastikmaterial, an dem seine Finger abglitten. Das Gebäude schien förmlich zu schwanken, und das Heulen des Klippers war fast uner träglich. Blake spürte, daß er über den Boden rutschte. Dann wurde das Heulen schwächer. Auch das Brausen nahm ab, und schließlich blieb nur ein klagender Laut, der allmählich in der Fer ne verklang. Blake stand mühsam auf. Auf der Theke stand eine Kaffeepfütze, wo sein Becher gestanden hatte; der Becher selbst war nicht zu sehen. Der Teller, auf dem die Pfannkuchen und der Schinkentoast gelegen hatten, war auf dem Fußboden zerschellt. Die Pfannkuchen klebten auf der Sitzfläche des Hockers, der Toast war ebenfalls verschwun den. Die Pfannkuchen des Brownies lagen noch in der Pfanne, aber sie waren angebrannt und rauchten heftig. »Ich backe neue«, sagte das Lokal. Der Metallarm griff nach der Spachtel, schab te die verkohlten Pfannkuchen aus der Pfanne und warf sie in den Müllschlucker.
Blake sah über die Theke und stellte fest, daß dahinter nur zerbrochenes Geschirr lag. »Ja, sehen Sie sich das an!« kreischte das Lo kal. »Dagegen müßte es doch ein Gesetz geben! Aber ich benachrichtige den Chef, und er ver klagt die Bande auf Schadenersatz – damit hat er immer Erfolg. Wollen Sie vielleicht auch klagen? Schreiben Sie einfach geistige Grau samkeit oder so ähnlich. Ich habe die nötigen Formulare hier, falls Sie ...« Blake schüttelte den Kopf. »Wie steht es ei gentlich mit Autofahrern?« wollte er wissen. »Was tun sie, wenn sie diesem Ding auf der Straße begegnen?« »Haben Sie die Bunker am Straßenrand gese hen?« fragte das Lokal. »Ja, natürlich.« »Der Klipper schaltet seine Sirene ein, sobald er das Wasser verläßt. Wer sie hört, fährt in den nächsten Bunker und nimmt dort Deckung.« Die Düse bewegte sich über der Pfanne und verteilte wieder Butter. »Noch nie was von Klippern und Bunkern ge hört, Mister?« fragte das Lokal. »Sie kommen wohl aus der Provinz, was?« »Das geht dich nichts an«, sagte der Brownie, bevor Blake antworten konnte. »Sieh lieber zu,
daß unser Frühstück fertig wird.«
22 »Ich begleite Sie noch ein Stück weit«, sagte der Brownie, als sie den Schnellimbiß verlie ßen. Hinter ihnen ging die Morgensonne über den Hügeln auf, und ihre langen Schatten tanzten vor ihnen her. Blake stellte fest, daß der Stra ßenbelag brüchig und uneben war. »Früher wurden die Straßen besser in Ord nung gehalten«, meinte er nachdenklich. »Nicht mehr notwendig«, antwortete der Brownie. »Keine Räder mehr. Da kein Kontakt stattfindet, ist keine glatte Oberfläche erfor derlich. Die Wagen fahren alle auf Luftkissen. Straßen dienen nur zur Richtungsbestimmung und damit der Verkehr sich an festgelegte Bah nen hält. Wenn heutzutage eine neue Straße gebaut wird, besteht sie nur aus Markierungs pfählen in zwei Reihen, nach denen sich die Fahrer richten können.« Sie gingen langsam, denn sie hatten es nicht eilig. Links von der Straße stieg ein Schwarm schwarzer Vögel aus einem Baum auf. »Aha, die Stare sammeln sich bereits«, mein te der Brownie. »Dann fliegen sie bald nach Süden. Die Stare sind gar nicht dumm. Nicht
wie Lerchen oder Rotkehlchen.« »Kennst du die wilden Tiere gut?« »Wir leben mit ihnen«, antwortete der Brow nie einfach, »deshalb verstehen wir sie auch. Mit manchen kann man fast sprechen. Aller dings nicht mit Vögeln. Vögel und Fische sind dumm. Aber Waschbären und Füchse, Bisam ratten und Nerze – das sind alles vernünftige Leute.« »Ihr lebt draußen im Wald, habe ich gehört.« »Überall im Freien. Wir passen uns der Öko logie an. Wir nehmen die Dinge, wie wir sie finden. Wir kommen mit allen Lebewesen gut aus und haben mit niemand Streit.« Blake versuchte sich an das zu erinnern, was Daniels ihm erzählt hatte. Eigenartige kleine Wesen von einem anderen Planeten, denen es auf der Erde gefiel – allerdings nicht wegen der Menschen, sondern wegen des Planeten selbst. Vielleicht fanden sie in den Wäldern un ter den wenigen wildlebenden Tieren die Freunde, die sie suchten. Jedenfalls bestanden sie darauf, unabhängig zu leben und sich in keiner Weise beeinflussen zu lassen – und trotzdem waren sie Bettler und Schnorrer mit lockeren Bindungen zu den Menschen, die ihre geringen Bedürfnisse befriedigten. »Ich habe neulich einen von euch getroffen«,
sagte Blake. »Du entschuldigst hoffentlich, daß ich danach fragen muß, aber bist du etwa ...« »Nein, nein«, versicherte ihm der Brownie, »das war ein anderer. Er hat uns auf Sie auf merksam gemacht.« »Warum?« »Nun, er war der Meinung, wir sollten auf Sie achten. Er hat uns mitgeteilt, daß Sie vermut lich bald Schwierigkeiten haben würden. Des halb sollten wir Sie im Auge behalten.« »Offenbar versteht ihr eure Sache«, meinte Blake. »Ihr habt nicht lange gebraucht, um mich ausfindig zu machen.« »Wenn wir uns etwas vornehmen«, antworte te der Brownie stolz, »schaffen wir es auch.« »Und ich? Was ist mit mir?« »Ich weiß es selbst nicht genau«, sagte der Brownie. »Wir sollen auf Sie achten. Mehr brauchen Sie nicht zu wissen. Sie können auf uns zählen.« »Danke«, murmelte Blake. »Vielen Dank.« Und mehr brauchte er wirklich nicht, über legte er sich – diese verrückten kleinen Kerle würden schon auf ihn achten. Sie marschierten schweigend weiter, dann fragte Blake: »Dieser eine Brownie, dem ich begegnet bin, hat euch also mitgeteilt, daß ihr mich im Auge behalten sollt ...«
»Richtig«, sagte der Brownie. »Würdest du mir vielleicht erklären, wie er euch alle informiert hat?« fuhr Blake fort. »Oder vielleicht ist das eine dumme Frage. Schließlich gibt es Briefe und Visorphone.« Der Brownie schüttelte energisch den Kopf. »Derartige Hilfsmittel kommen für uns nicht in Frage«, stellte er fest. »Das wäre gegen un sere Prinzipien und außerdem völlig überflüs sig. Wir verständigen uns auch so.« »Ihr seid also telepathisch«, meinte Blake. »Hmm, das weiß ich nicht einmal, wenn ich ganz ehrlich sein soll. Wir können nicht mit einander sprechen, falls Sie das meinen. Aber wir stehen miteinander in Verbindung. Das ist nicht leicht zu erklären.« »Natürlich«, stimmte Blake zu und wechselte das Thema. »Gibt es viele Leute, die ihr im Auge behaltet?« Das sähe den Brownies ähnlich, dachte er da bei. Eine Horde naseweiser Streber, die sich um anderer Leute Angelegenheiten kümmerte. »Nein, keine anderen«, sagte der Brownie. »Jedenfalls nicht im Augenblick. Er hat uns er zählt, daß Sie mehr als nur einer sind ...« »Was hat das damit zu tun?« »Das ist doch überhaupt der springende Punkt«, meinte der Brownie erstaunt. »Wie oft
findet man ein Lebewesen, das eigentlich aus mehreren besteht? Würden Sie mir vielleicht verraten, wie viele ...« »Wir sind drei«, sagte Blake. Der Brownie nickte triumphierend. »Das habe ich gewußt«, piepste er. »Ich habe mit mir gewettet, daß es drei sind. Einer von euch ist warm und zottig und wird schrecklich leicht wütend. Stimmt das?« »Ja«, antwortete Blake. »Das kann man wohl sagen.« »Aber der andere verblüfft mich wirklich«, fuhr der Brownie fort. »Willkommen im Klub«, sagte Blake. »Mich verblüfft er auch.«
23 Als Blake den höchsten Punkt des Hügels er reichte, sah er das Tal vor sich, wo das Land eine Meile weit flach war, bevor der nächste Hügel begann. Auf dem Talboden lag ein gigan tisches schwarzes Ding, das die Hälfte der Ebe ne bedeckte – eine Art Schildkrötenpanzer ohne Kopf und Beine. Blake starrte es verwundert an. Er hatte noch nie einen Klipper gesehen, zweifelte jedoch keine Sekunde daran, daß er hier den giganti schen Frachter vor sich hatte, der an dem Schnellimbiß vorbeigekommen war. Der Brownie hatte sich vor einer Stunde ver abschiedet, und er war auf der Suche nach ei nem geeigneten Schlafplatz weitergewandert. Aber zu beiden Seiten der Straße erstreckten sich nur abgeerntete Felder in den typischen gelben und braunen Herbstfarben. Hier und da waren einzelne Häuser zu sehen, die jedoch stets einige hundert Meter von der Straße ent fernt standen. Blake fragte sich, ob dies eine Vorsichtsmaßnahme angesichts der Klipper und anderer Großfahrzeuge war oder ob es einen anderen Grund für dieses Zurückwei chen von der Straße gab.
Im Südwesten ragten fünf oder sechs schim mernde Türme auf – vermutlich ein Wohn komplex, dessen Bewohner in der Nähe von Washington leben, aber nicht auf die Vorteile des Landlebens verzichten wollten. Blake marschierte weiter ins Tal hinab und erreichte schließlich den Klipper, der aus der Nähe noch gewaltiger wirkte. Er hatte neben der Straße angehalten und ruhte jetzt auf zahl reichen stämmigen Beinen, die ihn zwei Meter über dem Boden hielten, so daß er insgesamt fünfundzwanzig Meter hoch aufragte. Am Vorderende hockte ein Mann auf der Treppe, die zum Steuerhaus führte. Er sonnte sich und hatte eine ölverschmierte Mechani kerkappe tief in die Stirn gezogen. Auch seine Robe war ölig. Blake blieb vor ihm stehen. »Guten Morgen, Freund«, sagte er. »Sie scheinen Schwierigkeiten zu haben.« »Gott zum Gruß, Bruder«, sagte der Mann mit einem Blick auf Blakes Aufmachung und den Rucksack. »Sie haben richtig gesehen. Was kann man schon machen, wenn eine Düse aus brennt? Es hätte schlimmer sein können.« Er spuckte aus. »Aber jetzt sitzen wir hier fest und müssen warten. Ich habe über Funk eine neue Düse und ein Reparaturteam angefor
dert, und die Kerle lassen sich natürlich Zeit.« »Sie haben ›wir‹ gesagt.« »Wir sind zu dritt«, erklärte ihm der Mann. »Die beiden anderen pennen dort oben.« Er wies mit dem Daumen auf die Kabine hin ter dem Steuerhaus. »Dabei sind wir sogar pünktlich«, fuhr er fort. »Deswegen ist es besonders schade. Die Überfahrt war eine Kleinigkeit – gutes Wetter und kein Nebel an der Küste. Aber bis wir nach Chicago kommen, haben wir ein paar Stunden Verspätung. Dafür gibt es natürlich Überstun denbezahlung, aber wer will schon Überstun den machen?« »Sie sind nach Chicago unterwegs?« »Ja. Diesmal. Immer wieder andere Zielorte. Nie die gleichen.« Er rückte sich die Kappe zurecht. »Ich denke immer an Mary und die Kinder«, sagte er. »Ihre Familie? Sie können Ihrer Frau doch mitteilen, was passiert ist?« »Ich wollte, aber anscheinend ist kein Mensch zu Hause. Schließlich habe ich bei Freunden angerufen, damit sie Mary ausrich ten, daß ich später komme. Wissen Sie, wenn ich auf dieser Straße unterwegs bin, sind sie immer am Straßenrand und winken mir zu,
während ich vorbeifahre. Die Kinder freuen sich, daß ihr Vater dieses Ungeheuer lenken kann.« »Sie leben also hier in der Nähe«, stellte Bla ke fest. »In einer Kleinstadt«, erklärte ihm der ande re. »In einer verschlafenen kleinen Stadt etwa hundert Meilen von hier. Dort ist noch alles wie vor zweihundert Jahren. Oh, natürlich be kommen die Gebäude an der Hauptstraße ab und zu eine neue Fassade, oder jemand läßt sein Haus umbauen, aber ansonsten hat sich eigentlich nichts verändert. Dort gibt es keine Appartementkomplexe und Wohntürme wie sonst überall. Die Häuser sind alt, aber dafür läßt es sich darin gemütlich leben. Niemand hat es eilig. Wir haben nicht einmal eine Han delskammer. Niemand will unbedingt reich werden. Wer vorankommen oder aufsteigen will, bleibt nicht lange dort.« Er sah zu Blake auf. »Sie verstehen schon, was ich meine.« Blake nickte. »Die Stadt heißt übrigens Willow Grove«, sag te der Mann. »Schon mal davon gehört?« »Nein«, antwortete Blake. »Ich glaube nicht, daß ich ...« Aber dann fiel ihm ein, daß er doch schon da
von gehört hatte. Willow Grove! Als er damals nach seinem nächtlichen Ausflug nach Hause gekommen war, hatte eine Nachricht im Hell schreiber gelegen, in der Willow Grove er wähnt wurde. »Anscheinend haben Sie schon mal davon ge hört«, stellte der Mann fest. »Kann sein«, antwortete Blake. »Ja, ich glau be, irgend jemand hat davon gesprochen.« »Dort lebt man noch gemütlich«, versicherte ihm der andere. Wie hatte die Nachricht gelautet? Er sollte sich mit jemand in Willow Grove in Verbin dung setzen, wenn er etwas zu seinem Vorteil erfahren wollte. Der Name dieses Mannes war ebenfalls angegeben gewesen. Wie hieß er noch gleich? Blake versuchte sich daran zu er innern, aber der Name fiel ihm nicht ein. »Ich muß jetzt weiter«, sagte er. »Hoffentlich kommt die Reparaturmannschaft bald.« Der Mann spuckte aus. »Oh, sie kommt be stimmt – wenn es ihr paßt.« Blake wanderte weiter auf den sanft abfallen den Hügel zu, der sich über dem Tal erhob. Der Hügelrücken war bewaldet, und die Bäume zeichneten sich deutlich vom Horizont ab. Vielleicht fand er irgendwo im Wald ein gutes Versteck.
Er versuchte sich an die Ereignisse der ver gangenen Nacht zu erinnern, die ihm noch im mer wie ein unwirklicher Traum erschienen. Blake sah sie deutlich vor sich – aber vom Standpunkt eines Unbeteiligten, der nur regi striert, was einem anderen zustößt. Die Jagd ging selbstverständlich weiter, aber er schien im Augenblick erfolgreich unterge taucht zu sein. Daniels würde inzwischen ver muten, wie es zu diesem Zwischenfall gekom men war, so daß die Verfolger jetzt auch nach Blake, anstatt nur nach einem Wolf suchen würden. Er erreichte den höchsten Punkt des Hügels und sah Bäume vor sich; nicht nur hier und dort eine vereinzelte Baumgruppe, sondern einen geschlossenen Wald, der sich auch über die nächsten Hügel erstreckte, während auf den Talsohlen Felder angelegt waren. Blake ging weiter und glaubte am Waldrand eine leichte Bewegung zu erkennen. Er beob achtete die Stelle aufmerksam. Es hätte ein Vo gel sein können, der von einem Ast zum ande ren hüpfte, oder ein Eichhörnchen, das im Unterholz nach Nüssen suchte. Aber er sah keine Bewegung mehr. Nur die bunten Blätter bewegten sich leise, als der Wind durchs Herbstlaub strich.
Als er den Waldrand erreichte, wurde er plötzlich angesprochen. Er blieb stehen und starrte angestrengt ins Unterholz. »Hierher!« flüsterte eine hohe Stimme. Er sah nun auch den Brownie, dessen dunkler Pelz und grüne Hosen sich kaum von der Um gebung abhoben. Schon wieder einer, dachte er. Du lieber Him mel, schon wieder einer – und diesmal kann ich nichts anbieten. Er sprang über den Straßengraben und trat unter die Bäume. Der Brownie war kaum zu erkennen, bis er dicht vor ihm stand. »Ich habe hier auf dich gewartet«, sagte der Brownie. »Ich habe gehört, daß du müde bist und dich ausruhen möchtest.« »Ganz recht«, bestätigte Blake, »aber bisher habe ich nur Felder gesehen.« »Ich möchte dich in mein bescheidenes Heim einladen«, fuhr der Brownie fort, »wenn es dir nichts ausmacht, es mit einem bedauernswer ten Lebewesen zu teilen, dem ich meine Hilfe angeboten habe.« »Keineswegs«, sagte Blake. »Um welches Le bewesen handelt es sich denn?« »Es ist ein Waschbär, der mit knapper Not ei ner Hundemeute entkommen ist«, antwortete der Brownie. »Wie du vielleicht weißt, werden
hierzulande Waschbären mit Hunden gehetzt – das ist ein beliebter Sport der Menschen.« »Ja«, sagte Blake, »ich habe schon davon ge hört.« »Ich habe dem Waschbären zu erklären ver sucht, daß du als Freund kommst«, fuhr der Brownie fort, »aber ich weiß nicht, ob er es be griffen hat. Er ist nicht allzu intelligent und lei det natürlich unter dem Schock.« »Ich bin ganz vorsichtig«, versprach Blake, »und mache keine plötzlichen Bewegungen. Haben wir denn alle Platz?« »Oh, bestimmt«, erwiderte der Brownie. »Mein Heim ist ein hohler Baum. In seinem In nern ist viel Platz.« Großer Gott, dachte Blake, ist das wirklich möglich? Stehe ich hier am Waldrand, werde in einen hohlen Baum eingeladen und soll ihn mit einem Waschbären teilen? Und warum kann ich mich so deutlich an eine Waschbärenjagd mit Hunden erinnern? Hab' ich tatsächlich selbst an dieser Jagd teilgenom men? Das ist doch unmöglich! Ich bin ein syn thetischer Mensch, der nur einen bestimmten Daseinszweck zu erfüllen hatte – folglich ist es äußerst unwahrscheinlich, daß ich je Wasch bären gejagt habe. »Wenn du mir folgen willst«, sagte der Brow
nie, »führe ich dich zu meinem Baum.« Er ging auf einen schmalen Pfad voraus, der sich kaum erkennbar durch den Wald schlän gelte. »Hier ist es hübsch«, meinte der Brow nie. »Der Herbst ist die schönste Jahreszeit, finde ich. Auf dem alten Heimatplaneten hat es keinen Herbst gegeben.« »Wißt ihr noch etwas von eurer ehemaligen Heimat?« »Selbstverständlich«, sagte der Brownie. »Die alten Geschichten werden weitererzählt. Aber im Laufe der Zeit geraten sie wohl in Verges senheit, denn wir betrachten die Erde als unse re Heimat. Aber vorläufig stehen wir noch mit der alten Welt in Verbindung.« Sie erreichten einen riesigen Baum, eine mächtige Eiche mit über zwei Meter Durch messer, an deren Stamm silbrige Flechten leuchteten. Hier wuchsen überall dichte Farne, die der Brownie auseinanderbog. »Hier hinein«, sagte der Brownie. »Es tut mir leid, aber du mußt auf Händen und Füßen krie chen. Der Eingang ist nicht für Menschen ge dacht.« Blake ließ sich auf Hände und Knie nieder. Das Farnkraut strich weich an seinem Gesicht vorbei, als er auf den Stamm zukroch; dann be fand er sich plötzlich in einer kühlen Dunkel
heit, die nach feuchtem Holz roch. Von oben her fielen einzelne Lichtstrahlen durch die Dunkelheit. Er drehte sich langsam um und setzte sich vorsichtig. »Deine Augen müssen sich erst an die Dun kelheit gewöhnen«, sagte der Brownie, der ne ben ihm stand. »Dann siehst du wieder bes ser.« »Ich erkenne schon etwas«, versicherte Blake ihm. »Es ist nicht stockfinster.« »Das Licht kommt durch Astlöcher weiter oben«, erklärte der Brownie ihm. »Der Baum stirbt an Altersschwäche und ist nur noch eine leere Hülle. Vor vielen Jahren hat hier ein Waldbrand gewütet, und die Eiche hat so dar unter gelitten, daß sich die Fäule in ihrem In nern ausbreiten konnte. Aber wenn kein ge waltiger Sturm kommt, steht der Baum noch viele Jahre. Unterdessen dient er uns als Be hausung, und weiter oben lebt eine Eichhörn chenfamilie. Und hier nisten auch viele Vögel – aber jetzt im Herbst sind die Jungen längst ausgeflogen. Im Laufe der Jahre ist der alte Baum unsere Heimat geworden.« Blake sah sich im Innern der Eiche um, denn seine Augen hatten sich an die Dunkelheit ge wöhnt. Die Wände waren verhältnismäßig
glatt; das verfaulte Holz war offenbar entfernt worden. Der hohle Stamm ragte über ihm auf, und Blake sah vereinzelte helle Punkte, wo Ast löcher etwas Licht hereinließen. »Hier kannst du dich ungestört ausruhen«, sagte der Brownie. »Ich bin nicht allein, son dern habe zwei Gefährtinnen bei mir. In der Sprache der Menschen würde man sie wohl als Frauen bezeichnen. Aber die beiden fürchten sich vor Menschen. Und hier leben natürlich auch unsere Kinder.« »Das tut mir wirklich leid«, beteuerte Blake. »Ich mochte nicht, daß ...« »Es braucht dir nicht leid zu tun«, unterbrach ihn der Brownie. »Die Frauen können sich in zwischen nützlich machen und Nüsse und Wurzeln sammeln. Und die Kinder sind ohne hin nur selten hier. Sie haben im Wald so viele Freunde, daß sie meistens unterwegs sind.« Blake sah sich um. Der hohle Stamm war völ lig leer. »Keine Möbel«, stellte der Brownie gelassen fest. »Keine irdischen Güter. Wir haben sie nie gebraucht; wir benötigen sie auch jetzt nicht. Unser einziger Besitz sind Nüsse und Buch eckern und Korn und Wurzeln, die wir für den kommenden Winter gesammelt haben. Mehr besitzen wir nicht, aber ich hoffe, daß du uns
nicht nur danach beurteilst.« Blake schüttelte den Kopf. Diese Bewegung ersetzte eine Antwort und drückte gleichzeitig seine Verwunderung aus. In einem dunklen Winkel rührte sich etwas, und Blake drehte den Kopf. Lebhafte Augen starrten ihn aus ei nem Gesicht an, dessen unterschiedlich ge färbter Pelz wie eine Maske wirkte. »Unser anderer Freund«, erklärte der Brow nie ihm. »Er scheint keine Angst vor dir zu ha ben.« »Ich tue ihm nichts«, versicherte Blake un aufgefordert. »Hast du Hunger?« fragte der Brownie. »Ich kann dir ...« »Nein, danke«, wehrte Blake ab. »Ich habe heute morgen mit einem deiner Artgenossen ausgiebig gefrühstückt.« Der Brownie nickte. »Er hat mir gesagt, daß du kommen würdest. Deshalb habe ich am Waldrand auf dich gewartet. Er konnte dir kei nen Schlafplatz anbieten; seine Höhle ist viel zu klein für Menschen.« Er wandte sich ab. »Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll«, meinte Blake. »Du hast uns bereits gedankt«, sagte der Brownie. »Du hast uns akzeptiert und unsere
Hilfe angenommen. Und das ist sehr wichtig, mußt du wissen, denn normalerweise nehmen wir die Hilfe der Menschen in Anspruch. Des halb sind wir glücklich, wenn wir uns revan chieren können.« Blake sah sich nach dem Waschbären um. Das Tier beobachtete ihn weiter mit feurigen Augen. Als er sich umdrehte, war der Brownie verschwunden. Blake griff nach seinem Rucksack, zog ihn zu sich heran und untersuchte erstmals den In halt. Eine dünne und trotzdem erstaunlich warme Decke, die eigenartig metallisch glänz te; ein Jagdmesser in einer Lederscheide; eine Klappaxt; ein Satz Aluminiumkochtöpfe, die genau ineinander paßten; ein Benzinkocher, ein Feuerzeug und ein kleiner Benzinkanister; eine zusammengefaltete Karte; eine Taschen lampe ein ... Eine Karte! Blake entfaltete sie, nahm die Taschenlampe zu Hilfe und beugte sich darüber, um die klein gedruckten Ortsnamen entziffern zu können. Willow Grove war etwa hundert Meilen weit entfernt, hatte der Steuermann des Klippers gesagt. Richtig, hier war es auf der Karte einge zeichnet – sein nächstes Ziel. Endlich hatte er einen Bestimmungsort in dieser Welt gefun
den, in der es für ihn keine Fixpunkte zu geben schien. Ein Ziel auf der Karte und ein Mann, an dessen Namen er sich nicht erinnern konnte, der aber wertvolle Informationen zu besitzen schien. Blake legte die Decke neben sich und packte alles andere wieder in den Rucksack. Er sah, daß der Waschbär etwas näher heran gekommen war. Offenbar hatten die seltsamen Dinge, die Blake ausgepackt hatte, seine Neu gier erregt. Blake streckte sich aus, breitete die Decke über sich und schloß die Augen. Die Decke paßte sich seinem Körper an und war trotz ih res geringen Gewichts behaglich warm. Er schlief ein und hatte das Gefühl, sein Be wußtsein sinke in eine tiefe Grube hinab – und am Boden dieser Grube warteten seine beiden anderen Persönlichkeiten auf ihn, um sich mit ihm zu einem einzigen Ganzen zu vereinen. Und er hatte das Gefühl, nach langer Abwesen heit heimzukehren und alte Freunde zu tref fen, die er sehnlich vermißt hatte. Alles gesch ah wortlos, aber dazu waren auch keine Worte erforderlich, denn er war willkommen und be gegnete Verständnis und wurde eins mit den anderen und war nicht mehr Andrew Blake, war nicht einmal mehr menschlich, sondern
ein Wesen, für das es keinen Namen gab, das aber größer als Andrew Blake oder jeder Mensch war. Aber er genoß dieses wunderbare Gefühl nicht lange, denn eine Überlegung drängte sich in den Vordergrund seines Bewußtseins. Er kämpfte, und er wurde freigelassen und war wieder er selbst – aber nicht Andrew Blake, sondern Wechsler. Sucher, wenn wir aufwachen, ist es deutlich kälter. Können wir die Wanderung in deiner Gestalt fortsetzen? Du kommst schneller vor an, du siehst nachts ausgezeichnet und ... Natürlich können wir das. Aber was soll aus deiner Kleidung und dem Rucksack werden? Dann bist du wieder nackt ... Du kannst das Zeug tragen. Du hast Arme und Hände, oder? Du vergißt immer, daß du Arme und Hände hast. Schon gut! sagte Sucher. Schon gut! Ich weiß schon! Willow Grove, erklärte Wechsler ihm. Klar, meinte Sucher. Wir haben die Karte mit dir gelesen. Er wollte endlich einschlafen, aber dann be rührte etwas seinen Arm, und er öffnete noch mals die Augen. Der Waschbär war noch näher herangekro
chen und lag jetzt dicht neben ihm. Er hob die Decke und legte sie auch über den kleinen Bären. Dann schlief er endgültig ein.
24 Wechsler hatte gesagt, es müsse kühler sein, und es war auch kühler, aber noch immer so heiß, daß man nicht richtig laufen und gut vor ankommen konnte. Aber als Sucher den Hü gelrücken erreichte, brauste ein kalter Nord wind heran, der ihn etwas erfrischte, so daß er eine Weile an der gleichen Stelle blieb, um wie der Atem zu schöpfen. Der Himmel über ihm war sternenklar, aber Sucher hatte das Gefühl, hier seien weniger Sterne als von seinem Heimatplaneten aus zu erkennen. Und hier auf diesem Hügel konnte man stehen und Bilder von den Sternen heran holen. Aber er wußte von Denker, daß es nicht nur Bilder waren, wie er früher geglaubt hatte, sondern kaleidoskopische Eindrücke anderer Rassen, Kulturen und Zivilisationen, aus de nen sich Informationen ableiten ließen, die ei nes Tages zur Erkenntnis der Wahrheit des Universums führen würden. Sucher fuhr zusammen, als er daran dachte, daß sein Verstand und seine Sinne imstande waren, über unzählige Lichtjahre hinweg die Früchte anderer Bemühungen zu ernten. Er fuhr zusammen und wußte gleichzeitig, daß
Denker an seiner Stelle nicht zusammenfahren würde, selbst wenn er körperlich dazu imstan de gewesen wäre. Denn es gab nichts, absolut nichts, das Denker verblüffte; für ihn gab es keine Geheimnisse oder Rätsel, sondern nur eine Anhäufung von Daten und Informationen, die er verarbeitete, sobald sie ihm zugänglich waren. Aber für mich, dachte Sucher, ist alles ge heimnisvoll. Für mich gibt es keinen Anlaß, vernünftig zu denken, Tatsachen nüchtern zu beurteilen und logisch auszuwerten. Er stand auf dem Hügelrücken, hatte die bu schige Rute gesenkt und hob dem Nordwind die silbergraue Schnauze entgegen. Ihm genüg te es, daß das Universum voller Wunder und voll Schönheit war, und er hatte nie mehr ver langt – aber jetzt wußte er, daß es sein sehn lichster Wunsch war, diese Wunder und diese Schönheit für immer erhalten zu wissen. Oder waren sie bereits in Gefahr? Befand er sich in der Lage, immer neue Wunder suchen zu müssen und zugleich zu erkennen, daß er damit nur Material für Denker lieferte, dessen eiskalter Verstand die logische Erklärung aus arbeiten würde? Er stellte diesen Gedanken auf die Probe, aber vorläufig erschienen ihm die Wunder des
Universums noch so geheimnisvoll wie zuvor. Hier auf diesem nächtlichen Hügel unter glit zernden Sternen spürte er unzählige Geheim nisse und Rätsel, die ihn unwillkürlich er schauern ließen. Das Tal zwischen ihm und dem nächsten Hü gel schien keine Bedrohung zu enthalten. Links im Hintergrund bezeichneten einzelne Lichtpunkte Fahrzeuge auf der Straße durch die Hügel. Im Tal lagen hier und dort mensch liche Behausungen, die Licht und die eigenarti gen Vibrationen ausstrahlten, die von der Elektrizität herrührten. In den Bäumen hockten schlafende Vögel, und ein Tier schlich durchs Unterholz. Mäuse kuschelten sich in ihren Höhlen zusammen und unzählige Käfer bewegten sich zwischen abgefallenem Herbstlaub und verfaulenden Blättern. Sucher trabte leise den Hügel hinab, durch querte den Wald, beobachtete aufmerksam nach allen Seiten, katalogisierte und bewertete alle größeren Tiere, war stets auf einen plötzli chen Überfall gefaßt und fürchtete nur, daß er eine Gefahr übersehen würde, weil er sie nicht kannte. Der Wald war zu Ende, und Sucher hatte das Tal mit seinen Feldern und Straßen und Häu
sern vor sich. Hier blieb er nochmals stehen, um den Weg zu überprüfen, den er einschlagen wollte. Ein Mann ging dort am Fluß mit seinem Hund spazieren, und ein Auto fuhr langsam die Pri vatstraße zu einem alleinstehenden Haus ent lang. Auf einer Weide schliefen zehn oder elf Kühe, aber ansonsten schien es hier keine grö ßeren Tiere zu geben. Sucher setzte sich wieder in Bewegung und trabte fast lautlos durchs Tal. Er lief den näch sten Abhang hinauf, blieb diesmal nicht ste hen, sondern rannte gleichmäßig weiter. Der Rucksack unter seinem linken Arm war sperrig, denn er enthielt nun auch Wechslers Kleidung. Das Gewicht störte ihn, denn es zog ihn nach links, so daß er es ausgleichen mußte, und er war schon mehrmals an Zweigen hän gengeblieben. Sucher hielt an, ließ den Rucksack zu Boden fallen und zog den linken Arm ein, der unter dem Pelz an der Schulter verschwand. Er nahm den Sack mit dem rechten Arm auf und setzte die Wanderung fort. Vielleicht war es besser, wenn er von Zeit zu Zeit wechselte; dann machte sich die Last weniger bemerkbar. Er durchquerte das nächste Tal, lief einen Ab hang hinauf und erreichte den Hügelrücken,
wo er wieder kurz ausruhte. Willow Grove, hatte Wechsler gesagt. Hun dert Meilen. Er konnte es bei Tagesanbruch er reichen, wenn er nicht langsamer wurde. Was erwartete sie in Willow Grove? Schwer zu sa gen – aber sie würden es bald erfahren. Sucher wollte aufbrechen, blieb stehen, horchte aufmerksam und drehte sich langsam um. Wieder das gleiche Geräusch – ein leises Kläf fen. Ein Hund, sagte er sich. Ein Hund, der eine Spur aufgenommen hat. Er trabte rasch ins Tal hinab, beobachtete vorsichtig nach allen Seiten und blieb am Waldrand stehen. Das Tal war menschenleer, und Sucher durchquerte es ohne noch einmal anzuhalten. Nun spürte er zum erstenmal eine gewisse Müdigkeit. Die Nacht war verhältnismäßig kühl, aber er konnte sich nicht an das wärmere Klima der Erde gewöhnen. Er hatte sich zu sehr beeilt, um Willow Grove auf jeden Fall vor Tagesanbruch zu erreichen. Jetzt sah er ein, daß er seine Kräfte besser einteilen mußte. Er kletterte den nächsten Hügel hinauf und nahm sich vor, erst etwas auszuruhen, bevor er in das andere Tal hinablief. Auf halber Höhe
hörte er wieder das Bellen, aber der Wind machte es ihm unmöglich, Richtung und Ent fernung zu bestimmen. Als er den Hügelrücken erreichte, war das Bellen noch lauter geworden, und Sucher wuß te jetzt, daß es mehrere Hunde waren – minde stens vier, vielleicht sogar fünf oder sechs. Das Bellen kam den Abhang herauf, und es kam erstaunlich rasch näher. Die Hunde kläff ten und winselten erregt. Sie schienen eine heiße Spur aufgenommen zu haben. Eine heiße Spur! Sucher rannte los, als das erregte Kläffen nur noch hundert Meter von ihm entfernt war. Er hatte geglaubt, die Meute verfolge einen Waschbären, aber jetzt war ihm plötzlich klar, daß die Hunde ein anderes Wild hetzten. Er raste hügelabwärts, durchs Tal und den nächsten Anhang hinauf. Die Hunde blieben zurück, aber Sucher spürte wieder die Müdig keit und wußte, wie die Jagd schließlich enden würde – er konnte schneller laufen als seine Verfolger, aber die Hunde würden ihn einho len, sobald er sich müde gerannt hatte. Vielleicht war es besser, einen geeigneten Platz zu suchen und die Verfolger dort zu er warten? Aber dann stand er allein gegen fünf oder sechs Hunde. Zwei oder drei ... Sucher
war davon überzeugt, daß er zwei oder drei Hunden gewachsen war. Aber es waren mehr als drei. Er konnte auch den Rucksack fortwerfen, um dadurch etwas schneller zu werden. Aber da durch war nicht viel zu gewinnen und er hatte Wechsler versprochen, auf den Rucksack zu achten. Wechsler würde sich ärgern, wenn er ihn verlor. Wechsler ärgerte sich bereits dar über, daß er manchmal vergaß, daß er Arme und Hände hatte. Sucher trabte weiter, aber langsamer als zu vor; der Abstand schien sich nicht zu verrin gern, aber er wußte, daß er diesen Vorsprung nicht mehr allzulange halten konnte. Natürlich brauchte er nur Wechsler an seine Stelle treten zu lassen. Vielleicht würden die Hunde die Verfolgung aufgeben, wenn sie plötzlich eine Menschenspur vor sich hatten – sie würden den Menschen jedenfalls nicht an greifen. Aber Sucher hielt nichts von dieser Möglichkeit. Er wollte die Krise selbst mei stern, ohne Wechsler um Hilfe zu bitten. Er sah das nächste Tal vor sich und erkannte am Waldrand ein alleinstehendes Haus mit ei nem beleuchteten Fenster. Bei diesem Anblick hatte er eine Idee. Nicht Wechsler, sondern Denker. Das müßte
eigentlich klappen! Denker, kannst du einem Haus Energie ent ziehen? Ja, natürlich. Ich habe es schon einmal getan. Auch von außen? Wenn ich dicht genug herankomme. Gut, einverstanden! Sobald ich ... Nur weiter, unterbrach ihn Denker. Ich weiß, was du vorhast. Sucher trabte den Hügel hinab, ließ die Hun de absichtlich näher herankommen, rannte dann schneller weiter und lief auf das Haus zu. Die Hunde kläfften jetzt nicht mehr, sondern sammelten ihre Kraft zu einer letzten Anstren gung. Das Opfer war in Sicht; die Jagd ging dem Ende zu ... Dann kläfften die Hunde plötzlich wieder los, aber diesmal war es ein anderer Laut, der aus ihren Kehlen drang – ein blutrünstiges Bellen, das vom Hügel widerhallte. Das Haus war nicht mehr weit entfernt, und als die Hunde erneut zu kläffen begannen, wurde es hinter sämtlichen Fenstern hell. Über dem Eingang war ein Scheinwerfer mon tiert, der die Zufahrt beleuchtete, und dieser Scheinwerfer flammte jetzt ebenfalls unerträg lich hell auf. Das heisere Bellen mußte die Hausbewohner geweckt haben.
Ein niedriger Zaun begrenzte den zum Haus gehörigen Garten. Sucher setzte mit einem Sprung darüber hinweg und landete im Scheinwerferlicht; er raste weiter, erreichte das Haus und blieb an die Mauer gedrückt sit zen. Jetzt! rief er Denker zu. Jetzt!
25 Es war bitterkalt. Die Kälte war wie ein physi scher Schlag, der Körper und Verstand zu gleich ins Wanken brachte. Der Satellit des Planeten schwebte über den unregelmäßig ge zackten Umrissen großer Pflanzen, das Land war steril und trocken, und über das Hinder nis, das die Menschen Zaun nannten, sprangen wütende Tiere, die als Hunde bezeichnet wur den. Aber irgendwo in der Nähe befand sich eine Energiequelle, und Denker griff danach – in fast panischer Angst. Und er nahm viel Energie auf, wesentlich mehr Energie, als er eigentlich brauchen konnte. Das Haus wurde dunkel, und der Scheinwerfer erlosch. Die Kälte war plötzlich nicht mehr zu spüren, und sein Körper glühte von innen heraus, wäh rend er sich in eine Pyramide verwandelte. In formationen standen in langen Reihen ge brauchsfertig vor ihm. Sein Verstand arbeitete so gut wie schon lange nicht mehr, und er sah ein, daß er ihn allzusehr vernachlässigt hatte, anstatt ... Denker! rief Sucher. Laß den Unsinn! Die Hunde! Die Hunde!
Er hatte natürlich recht. Die Hunde gehörten zu Suchers Plan, und dieser Plan funktionier te. Die Hunde warfen sich herum, klammerten sich am Boden fest und winselten und jaulten kläglich, als der Wolf, den sie eben noch ge hetzt hatten, sich in diese leuchtende Erschei nung verwandelte. Die Energiemengen waren viel zu groß, wur de Denker plötzlich klar. Derartige Mengen war er nicht gewachsen. Darauf war er nicht vorbereitet gewesen. Er befreite sich davon. Er flammte auf. Grelle Lichtblitze zuckten, und das ganze Tal war einen Augenblick lang taghell beleuchtet. Die Farbe an der Hauswand warf Blasen, wur de schwarz und blätterte ab. Die Hunde, die wieder über den Zaun spran gen, jaulten verzweifelt auf, als die Blitze mit glühenden Fingern nach ihnen griffen. Sie ra sten mit eingezogenen Schwänzen davon, ohne sich Zeit zu nehmen, ihre Brandwunden zu be lecken.
26 Blake bildete sich ein, Willow Grove irgend wann in der Vergangenheit gekannt zu haben. Aber das war selbstverständlich unmöglich. Vielleicht hatte er von einer sehr ähnlichen Stadt gelesen oder ein Bild davon gesehen – aber er war nie selbst hier gewesen. Als er jedoch frühmorgens in Willow Grove an einer Straßenecke stand, drängten alte Er innerungen an die Oberfläche, und er nahm Einzelheiten wahr, die seinen Vorstellungen genau entsprachen – die seltsame kleine Trep pe, die zum Eingang der Bank hinaufführte, und die mächtigen Ulmen am Rand des Parks am unteren Ende der Straße. Blake wußte, daß dort ein Denkmal stand, und er erinnerte sich an den zumeist trockenen Springbrunnen und die alte Kanone aus dem Bürgerkrieg. Aber seine Erinnerungen entsprachen nicht immer der neuen Wirklichkeit. Er stellte fest, daß in dem Geschäft an der Ecke nicht mehr Haushaltwaren, sondern Lebensmittel ver kauft wurden, daß der Friseursalon eine neue Fassade bekommen hatte, daß die ganze Stadt leicht verstaubt und altertümlich wirkte. Das war ihm damals noch nicht aufgefallen, als er
Willow Grove zuletzt gesehen hatte. Zuletzt gesehen hatte! Konnte es sein, fragte er sich, daß er diese Stadt jemals gesehen hatte? Wie hätte er das vergessen können? Theore tisch wußte er alles wieder, was er in seinem früheren Leben getan und erlebt hatte. Aber warum fehlte dann ausgerechnet die Erinne rung an Willow Grove? Eine alte Stadt – keine fliegenden Häuser auf vorgefertigten Fundamenten, keine giganti schen Wohntürme in den Außenbezirken. Statt dessen massive Gebäude aus Holz und Ziegel steinen, die seit Jahrhunderten an der glei chen Stelle standen und sich erst vom Fleck be wegen würden, wenn der Eigentümer sie eines Tages abbrechen und durch ein neues Gebäude ersetzen ließ. Blake ging langsam die Straße entlang und sah überall kleine Dinge, die neue Erinnerun gen heraufbeschworen. Der Bankier war Jake Woods gewesen, und Jake Woods lebte be stimmt nicht mehr, denn falls Blake diese Stadt jemals gesehen hatte, waren seitdem zweihundert Jahre vergangen. Und dort hatte früher Breens Supermarkt gestanden, wo jetzt eine Fabrikvertretung für Schweber eingerich tet war. Blake erinnerte sich an Charly Breen,
den rothaarigen Sohn des Besitzers, mit dem er so oft Schule geschwänzt hatte, um zum An geln zu gehen. Er erreichte eine Bank am Straßenrand und nahm darauf Platz. Um diese Zeit waren noch wenige Leute unterwegs, und diese wenigen starrten ihn im Vorbeigehen neugierig an. Bla ke war nicht müde, obwohl Sucher in der ver gangenen Nacht hundert Meilen zurückgelegt hatte. Vielleicht war daran Denkers gestohlene Energie schuld, die Denker an Sucher und ihn weitergegeben hatte. Er nahm den Rucksack ab und lehnte sich zu rück. Überall wurden jetzt die Geschäfte geöff net. Ab und zu fuhr ein Auto vorbei. Blake las die Namen über den Geschäften, ohne einen wiederzuerkennen. Die Fenster im ersten Stock des Bankgebäudes trugen in Goldbuch staben die Namen von Ärzten, Zahnärzten und Rechtsanwälten: Dr. med. Alvin Blank, Dr. med. dent. H. H. Oliver! Dr. jur. Ryan Wilson; Wm. Smith ... Halt! Zurück! Ryan Wilson – das war es! Ryan Wilson war der Mann, der ihm die Nachricht zugeschickt hatte. Dort oben über der Bank be fand sich die Kanzlei des Mannes, der Blake et was Wichtiges mitzuteilen hatte. Auf der Uhr über dem Bankeingang war es
fast neun. Wilson war vielleicht schon da oder würde jedenfalls bald kommen. Falls die Kanz lei noch geschlossen war, konnte Blake vor der Tür auf ihn warten. Blake stand auf, überquerte die Straße und betrat das düstere Treppenhaus des Bankge bäudes. Er stieg die knarrenden Stufen hinauf, suchte im ersten Stock nach Wilsons Kanzlei und sah, daß die Tür offen war. Er stand im Vorzimmer und sah sich um. Im Büro nebenan saß ein Mann in Hemdsärmeln und arbeitete an einem überladenen Schreib tisch. Der Mann hob den Kopf. »Herein«, sagte er. »Sie sind Ryan Wilson?« Der Mann nickte. »Meine Sekretärin ist noch nicht hier. Was kann ich für Sie tun?« »Sie haben mir eine Nachricht geschickt. Ich heiße Andrew Blake.« Wilson lehnte sich zurück und warf ihm einen erstaunten Blick zu. »Na, das ist aber eine Überraschung«, meinte er schließlich. »Ich dachte, Sie würden sich nie blicken las sen.« Blake schüttelte verwirrt den Kopf. »Haben Sie heute noch keine Zeitung gelesen?« fragte Wilson. »Nein«, antwortete Blake.
Wilson breitete die Morgenzeitung auf sei nem Schreibtisch aus und hielt sie hoch, damit Blake die Schlagzeile lesen konnte: IST DER MANN VON DEN STERNEN EIN WERWOLF? DIE JAGD NACH BLAKE GEHT WEITER! Blake erschrak, als er darunter ein Bild von sich erkannte. Dann spürte er, daß Sucher sich bewegte. Nein, nein! rief er ihm zu. Damit werde ich al lein fertig! Sucher beruhigte sich wieder. »Wirklich interessant«, sagte Blake zu Wil son. »Das wußte ich noch gar nicht. Ist schon eine Belohnung ausgesetzt?« Wilson faltete die Zeitung zusammen und leg te sie auf den Schreibtisch zurück. »Sie brauchen nur anzurufen«, erklärte Blake ihm. »Das Krankenhaus hat folgende ...« Wilson schüttelte den Kopf. »Das geht mich nichts an, Mister Blake. Meinetwegen können Sie gehen, wie Sie gekommen sind. Aber wenn Sie bleiben, soll ich Ihnen zwei Fragen stellen, und falls Sie die richtige Antwort wissen ...« »Fragen?« »Ja. Nur zwei einfache Fragen.«
Blake zögerte noch. »Ich handle im Auftrag eines Klienten«, teilte Wilson ihm mit. »Er ist schon seit hundert fünfzig Jahren tot, aber mein Urgroßvater hat damals den Auftrag übernommen, und ich möchte ihn jetzt endlich ausführen.« Blake nickte langsam. »Einverstanden«, sagte er. »Stellen Sie Ihre Fragen.« Wilson nahm zwei Briefumschläge aus dem Wandtresor hinter sich, öffnete den ersten und faltete ein Blatt Papier auseinander. »Fertig, Mister Blake?« wollte er wissen. »Schön, dies ist die erste Frage: Wie hieß Ihre Lehrerin in der ersten Klasse?« »Hmm, sie hieß ...«, sagte Blake. »Sie hieß ...« Er suchte nach der Antwort und fand sie plötzlich. »Sie hieß Jones«, sagte er. »Miß Jones. Ada Jones, glaube ich. Es ist schon so lange her.« Aber dann hatte er das Gefühl, alles sei erst gestern gewesen. Er sah Miß Jones vor sich – eine grauhaarige alte Jungfer mit strengem Gesichtsausdruck. Und sie hatte eine purpur rote Bluse getragen. Wie hatte er die purpurro te Bluse vergessen können? »Okay«, sagte Wilson. »Was haben Sie und Charley Breen mit Diakon Wabons Melonen angestellt?«
»Nun, wir ...«, begann Blake. »Hören Sie, wie haben Sie das herausbekommen?« »Das spielt hier keine Rolle«, meinte Wilson. »Beantworten Sie einfach die Frage.« »Nun, das war eigentlich ein boshafter Streich«, sagte Blake. »Wir haben uns beide so geschämt, daß wir nie davon gesprochen ha ben. Charley hatte seinem Onkel eine Injekti onsspritze geklaut – sein Onkel war Arzt, wie Sie vielleicht wissen.« »Ich weiß gar nichts«, stellte Wilson fest. »Wir haben die Spritze mit Petroleum gefüllt und jeder Melone eine Kleinigkeit injiziert.« Wilson griff nach dem zweiten Briefum schlag. »Sie haben den Test bestanden«, sagte er. »Folglich gehört das hier Ihnen.« Er gab Blake den Umschlag. Blake starrte die altmodisch geschwungenen Buchstaben an, die sich zu Worten zusammen setzen ließen: An den Mann, der meinen Verstand hat Eine Zeile tiefer folgte die Unterschrift: Theodore W. Roberts
Blakes Hand zitterte heftig, obwohl er sich zu beherrschen versuchte. In diesem Augenblick erinnerte er sich wie der – jetzt kannte er alles, brauchte nicht mehr wie ein Blinder umherzutasten und hatte end lich wieder eine Vergangenheit. »Das bin ich«, sagte er mit gepreßter Stimme. »Das war ich. Teddy Roberts. Ich bin nicht An drew Blake.«
27 Er kam an das große schmiedeeiserne Tor, das verschlossen war, und benützte den un scheinbaren Nebeneingang des Friedhofs. Er folgte dem kiesbestreuten Weg, ging langsam an der Kapelle vorbei, deren weißer Turm die Zypressen, Trauerweiden und Pinien überrag te, und stieg den Hügel hinauf. Unter ihm lag Willow Grove ausgebreitet, aber er achtete nicht darauf, sondern ging weiter auf die Stelle zu, an der er einen Grabstein mit dem Namen Theodore Roberts finden würde. Blake zögerte und blieb stehen. Warum wollte er das Grab besuchen? Weil dort sein Körper lag? Nein, nicht sein Körper, sondern der Körper des Mannes, dem er sei nen Verstand verdankte. Aber welche Rolle spielte dieser Körper, wenn der Verstand noch lebte – wenn er sogar zweimal lebte? Er war eine leere Hülle, deren letzte Ruhestätte ihn nicht zu kümmern brauchte. Blake drehte sich um, wollte den Friedhof verlassen und kam an der Kapelle vorbei. Dort setzte er sich auf die Treppe am Eingang. Was soll ich tun? fragte er sich. Was gibt es
noch zu tun? Seitdem er endlich wußte, wer er war, brauchte er nicht mehr zu fliehen. Nun hatte er wieder festen Boden unter den Füßen, aber auch das nützte nichts mehr. Er nahm den Brief aus der Tasche, faltete ihn auseinander und begann zu lesen: Sehr geehrter Herr! Diese Anrede erscheint Ihnen vielleicht selt sam und umständlich. Ich habe es mit ande ren versucht, die jedoch alle falsch klangen, so daß ich mich für diese entschieden habe, die zwar etwas steif, aber wenigstens nicht würdelos klingt. Sie wissen natürlich unterdessen, wer ich bin, und wer Sie sind; ich brauche Ihnen des halb unser Verhältnis nicht zu erklären, das bisher auf der Erde einmalig und für uns bei de etwas peinlich ist. Ich habe immer gehofft, Sie würden eines Ta ges zurückkehren, und wir beiden könnten mit einem Drink in der Hand unsere Erfah rungen austauschen. Nun fürchte ich jedoch, daß Sie vielleicht nie zurückkommen werden, weil Sie schon so lange fort sind – aber selbst wenn Ihre Rückkehr bevorstünde, würde ich sie vielleicht nicht erleben, denn meine Tage
sind gezählt. Meine Tage sind gezählt, habe ich geschrie ben, aber das ist nicht ganz wahr. Mein Kör per hat nicht mehr lange zu leben, aber mein Verstand wird auch in Zukunft in der Gehirn bank existieren und dort gemeinsam mit an deren oder allein bestimmte Funktionen erfül len. Ich habe die Ernennung nur zögernd ange nommen. Mir ist natürlich klar, welche Ehre damit verbunden ist, aber ich zweifle noch heute daran, ob das dahinterstehende Prinzip zum Besten der Menschheit und zu meinem Besten dient. Ich kann mir nicht vorstellen, daß man als Mensch ohne Körper bequem exi stieren soll, und ich befürchte, daß die Menschheit sich allmählich allzusehr auf das gesammelte Wissen der Gehirnbankiers ver läßt. Sollte es jemals dazu kommen, daß die Menschheit nur noch das Wissen der Vergan genheit gelten läßt – die menschliche Ge schichte kennt genügend Beispiele dieser Art –, wären wir nur hinderlich und lästig. Ich weiß nicht, weshalb ich Ihnen das alles schreibe. Aber schließlich sind Sie der einzige Mensch, dem ich dies schreiben kann, denn Sie sind in vieler Beziehung ich. Es ist seltsam, daß ein Mann innerhalb von
wenigen Jahren zweimal fast gleiche Ent scheidungen treffen mußte. Als die Wahl auf mich fiel, und Sie meinen Verstand bekommen sollten, war ich nicht ohne weiteres damit ein verstanden. Ich hatte das Gefühl, daß mein Verstand in vieler Beziehung für diesen Zweck ungeeignet sei. Meine Überzeugungen und Vorurteile waren zu ausgeprägt und konnten sich später als hinderlich erweisen. Seitdem habe ich mich oft gefragt, ob mein Verstand Ihnen gute oder schlechte Dienste erwiesen hat. Im Laufe der Jahre habe ich oft an Sie ge dacht und mir überlegt, wie es Ihnen ergan gen sein mochte, ob Sie noch lebten und wann Sie zurückkommen würden. Ich vermute, daß Sie inzwischen erkannt haben, daß Ihre Er schaffung für viele der Beteiligten – vielleicht sogar für die meisten – nur eine biochemische Aufgabe war, die es zu lösen galt. Ich kann nur hoffen, daß diese freimütige Feststellung Sie nicht erschüttert; sind Sie jedoch der Mann, für den ich Sie halte, werden Sie diese Tatsache akzeptieren, ohne daran zu zerbre chen. Aber ich habe Sie immer für einen Mit menschen gehalten, der mir näher stand als Freunde und Verwandte. Wie Sie wissen, habe
ich keine Geschwister gehabt. Ich habe mich oft gefragt, ob ich Sie für den Bruder halten sollte, den ich nie gehabt habe. Aber in den letzten Jahren glaube ich die Wahrheit zu er kennen. Sie sind kein Bruder. Sie stehen mir näher als ein Bruder. Sie sind mein zweites Ich, das dem ersten in keiner Weise unterle gen und in jeder Beziehung gleichwertig ist. Ich schreibe diesen Brief in der Hoffnung, daß Sie nach Ihrer Rückkehr mit mir Verbin dung aufnehmen werden, selbst wenn ich zu diesem Zeitpunkt bereits physisch tot sein sollte. Ihre Erlebnisse und Ihre Gedankengän ge interessieren mich aufrichtig, denn ich er hoffe mir davon eine nachträgliche Erweite rung meines geistigen Horizonts, für die es nie zu spät wäre. Ob Sie mit mir Verbindung aufnehmen wol len oder nicht, muß ich jedoch Ihrem eigenen Urteil überlassen. Ich bin selbst nicht hun dertprozentig davon überzeugt, daß wir mit einander sprechen sollten, obwohl mich die Vorstellung natürlich reizt. Ich überlasse die Entscheidung Ihnen und vertraue darauf, daß Sie die richtige treffen werden. Ich beschäftige mich im Augenblick mit der Frage, ob es richtig ist, den Verstand eines Menschen über Jahrhunderte hinweg funkti
onsfähig zu erhalten. Dabei drängt sich mir die Erkenntnis auf, daß der Verstand zwar einen großen Teil des Menschen ausmacht, daß der Mensch aber nicht nur aus Verstand besteht. Dazu gehört mehr als Wissen und Ge dächtnis und die Fähigkeit, Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten. Kann ein Mensch sich in dem Niemandsland orientie ren, in dem er sich wiederfindet, wenn nur sein Verstand überlebt? Er bleibt natürlich ein Mensch, aber hier handelt es sich um seine Menschlichkeit. Wird er menschlicher oder unmenschlicher? Falls Sie es für richtig halten, mit mir Ver bindung aufzunehmen, könnten wir vielleicht auch darüber sprechen. Aber falls Sie es für besser halten, nicht mit mir zu sprechen, beruhigt es Sie vielleicht, daß ich auch dafür Verständnis hätte, wenn ich irgendwie von Ihrer Rückkehr erfahren sollte. Und in diesem Fall möchte ich Ihnen al les Gute für die Zukunft wünschen, die nicht leicht sein wird. Ihr Theodore Roberts Blake faltete den Brief zusammen und steckte ihn wieder ein. Ich bin noch immer Andrew
Blake, dachte er, und nicht Dr. Theodore Ro berts, der bekannte Physiker. Vielleicht der junge Teddy Roberts, aber bestimmt nicht Theodore Roberts. Und wenn er jetzt ans nächste Visorphon ging und die Nummer der Gehirnbank wählte? Was sollte er sagen, wenn die Verbindung mit Theo dore Roberts hergestellt wurde? Was hatte er eigentlich zu sagen? Was konnte er überhaupt sagen? Nein, er hatte nichts zu bieten. Roberts und er wären nur zwei Männer, die einander um Hilfe baten, obwohl sie genau wußten, daß der andere ihnen nicht helfen konnte. Blake könnte sagen: Ich bin ein Werwolf – so steht es jedenfalls in den Zeitungen. Ich bin nur teilweise menschlich, bin nur zu einem Drittel Mensch, das Ihnen ewig unverständlich bleiben müßte, selbst wenn ich es Ihnen zu er klären versuchte. Ich bin kein Mensch mehr, und hier auf der Erde gibt es für mich keinen Platz. Ich gehöre nicht hierher. Ich bin ein Un geheuer, eine Mißgeburt, und ich verletze nur jeden, der mit mir zu tun hat. Und das war leider die Wahrheit. Er verletzte jeden, mit dem er in Verbindung trat. Elaine Horton, die er geküßt hatte – eine junge Frau, die er vielleicht bereits liebte, obwohl er sie nur mit einem Drittel seiner selbst – mit dem
menschlichen Drittel – lieben konnte. Und ih ren Vater, diesen bewundernswerten alten Mann mit den eisernen Grundsätzen. Und auch Dr. Daniels, der sein erster Freund in die ser fremden Umgebung gewesen war. Er konnte sie alle verletzen. Er würde sie alle verletzen, es sei denn ... Richtig, es mußte eine andere Möglichkeit ge ben, die er bisher übersehen hatte. Er wußte plötzlich, daß er irgend etwas tun sollte, daß er eine bestimmte Aufgabe zu erfül len hatte. Er suchte in seinem Gedächtnis danach, ohne sie jedoch zu finden. Er stand auf, ging langsam zum Tor, kehrte wieder um, betrat die Kapelle und schritt den Mittelgang hinab. Das Innere der kleinen Kirche war dunkel und still. Die elektrischen Altarkerzen reichten kaum aus, um das Dunkel zu erhellen, und durch die bunten Seitenfenster fiel kaum ein Lichtstrahl in die Kapelle. Ein Ort, an dem man nachdenken konnte. Ein Ort, an dem man planen, an dem man sich in Ruhe selbst erforschen konnte. Ein Ort, an dem man die Lage kritisch beurteilen und wei tere Entschlüsse fassen konnte. Er blieb neben der ersten Bankreihe stehen,
anstatt Platz zu nehmen. Hier hatte er den ent scheidenden Punkt erreicht, an dem jede wei tere Flucht zwecklos war. Er hatte bisher einen Grund für seine Flucht gehabt, aber nun war diese impulsive und unkomplizierte Reaktion sinnlos geworden, denn er hatte sein vorläufi ges Ziel erreicht. Wenn er jemals wieder flie hen wollte, brauchte er zunächst ein neues Ziel. Hier in dieser Stadt hatte er erfahren, wer und was er war. Aber Willow Grove war eine Sackgasse für ihn. Der ganze Planet war eine Sackgasse, denn für ihn würde es nie einen Platz auf der Erde geben, weil er weder Mensch noch Tier war. Er war ein Team, ein Team aus drei verschie denen Lebewesen. Dieses Team hatte Gelegen heit und vielleicht sogar die Möglichkeit, das grundlegende universale Problem zu lösen. Dabei handelte es sich jedoch nicht um ein Problem, das in erster Linie die Erde oder de ren Bewohner betraf. Er konnte nichts für die Menschen tun, und die Menschen konnten ihm nicht helfen. Auf einem anderen Planeten, wo es weder Störungen noch eine Kultur noch kulturelle Ablenkungen gab, hätte er vielleicht funktio nieren können – er, das Team; nicht der
Mensch, sondern er, die Kombination aus drei Lebewesen. Er dachte wieder an die praktisch unbegrenz ten Fähigkeiten dieser drei Gehirne, die viel leicht im Laufe der Zeit zu einem einheitlichen Ganzen zusammenwachsen würden. Sollte es jemals dazu kommen, würde seine Mensch lichkeit keine Rolle mehr spielen – sie würde im gleichen Augenblick verschwinden. Dann hätte er nichts mehr mit der Erde und den Zweibeinern zu schaffen, die sie bewohnten, sondern wäre endlich frei. Dann könnte er sich ausruhen und alles vergessen. Und wenn er vergessen hatte, wenn er kein Mensch mehr war, konnte er beginnen, die Grenzen seines kombinierten Verstandes zu erforschen. Er war aus der Menschlichkeit herausge wachsen, die ihm seine Schöpfer mitgegeben hatten, und dieses Wachsen schmerzte. Er fühlte sich müde und leer, spürte aber selbst in seiner Verzweiflung, daß die Sympathie, die ihm die beiden anderen entgegenbrachten, nicht das war, was er jetzt wollte. Er setzte sich dagegen zur Wehr, weil er die Falle erkannte, aber die beiden ließen in ihren Anstrengungen nicht nach, und er hörte die Worte, die sie untereinander und zu ihm spra chen, obwohl er sie nicht verstand.
Dann griffen sie nach ihm und hielten ihn fest und sicher und warm. Und er versank in einer lichten Dunkelheit, in der nur Platz für ihn und die beiden anderen war.
28 Ein kalter Dezemberwind pfiff über die Hügel und riß das letzte Laub von den Bäumen. Dunkle Wolken zogen über den Himmel und trugen den ersten Schnee mit sich. Am Fried hofstor standen zwei unbewegliche Gestalten in blauen Uniformen mit glänzenden Messing knöpfen. Links neben den Posten hatten sich einige Touristen versammelt, die durch die Ei senstäbe die weiße Kapelle anstarrten. »Heute sind es nicht viele«, erklärte Ryan Wilson Elaine Horton. »Bei gutem Wetter wa ren es an Wochenenden ganze Zuschauermas sen.« Er schüttelte mißbilligend den Kopf. »Sie dürfen nicht glauben, daß ich damit einver standen gewesen wäre. Für mich ist das dort oben weiterhin Theodore Roberts – auch in dieser Gestalt.« »Doktor Roberts war in Willow Grove ziem lich beliebt, habe ich gehört«, warf Elaine Hor ton ein. »Ganz recht«, stimmte Wilson zu. »Die Stadt ist stolz auf ihn, denn er war der einzige be rühmte Bürger, den Willow Grove jemals ge habt hat.« »Und Sie sind dagegen?« Ihre Handbewegung
umfaßte die beiden Posten und die Touristen. »Das kann man nicht behaupten. Solange al les würdevoll zugeht, haben wir nichts dage gen. Aber es stört uns, wenn ein Jahrmarkt daraus gemacht wird.« »Vielleicht hätte ich nicht kommen sollen«, meinte Elaine Horton. »Aber je mehr ich dar über nachgedacht habe, desto mehr fühlte ich mich dazu verpflichtet.« »Sie waren mit ihm befreundet«, stellte Wil son fest. »Deshalb ist es Ihr Recht, ihn hier aufzusuchen. Er hatte nicht viele Freunde, ver mute ich.« Die Touristen wandten sich ab und gingen in Richtung Willow Grove davon. »An einem Tag wie heute gibt es nicht viel zu sehen«, sagte Wilson. »Deshalb bleiben sie nicht lange. Bei gutem Wetter steht die Tür der Kapelle offen, so daß die Erscheinung deutlich sichtbar ist. Zu Anfang war nichts zu erken nen, nur eine graue Masse – vermutlich eine Art Abschirmung –, aber im Laufe der Zeit kam das Leuchten zum Vorschein, das jetzt zu sehen ist.« »Glauben Sie, daß ich eingelassen werde?« fragte Elaine. »Bestimmt«, versicherte Wilson ihr. »Ich las se den Captain ans Tor bitten. Man kann die
Raumfahrtbehörde eigentlich nicht dafür ta deln, daß sie so strenge Sicherheitsbestim mungen erlassen hat. Immerhin trägt sie die Verantwortung, denn sie hat das Projekt vor zweihundert Jahren begonnen. Was geschehen ist, hätte sich ohne das Projekt Werwolf nicht ereignet.« Elaine fuhr zusammen. »Entschuldigen Sie«, sagte Wilson. »Das hät te ich nicht sagen sollen.« »Warum nicht?« fragte sie. »Schließlich ist es der allgemein übliche Name.« »Ich habe Ihnen von seinem Besuch in der Kanzlei erzählt«, fuhr Wilson fort. »Er war ein netter junger Mann.« »Er war ein entsetzter Mann, der vor der Welt davonlaufen wollte«, verbesserte Elaine ihn. »Hätte er mir nur erzählt, daß ...« »Vielleicht hat er es damals noch nicht ...« »Er hat gewußt, daß nicht alles in Ordnung war. Der Senator und ich hätten ihm geholfen. Doktor Daniels hätte ihm geholten.« »Er wollte Sie nicht hineinziehen, um Ihnen keine Unannehmlichkeiten zu bereiten. Und er wollte sich Ihre Freundschaft bewahren. Ver mutlich hatte er Angst, Sie würden sich von ihm abwenden.« »Ich kann mir vorstellen, daß er sich das ein
gebildet hat«, gab Elaine zu. »Und ich bedaure, daß ich keinen Versuch gemacht habe, ihm sein Geheimnis zu entreißen. Aber ich wollte ihn nicht verletzen. Er sollte eine Chance ha ben, selbst die Antwort zu finden.« Die Touristen kamen den Hügel herab, gin gen an ihnen vorbei und folgten der Straße nach Willow Grove.
29 Die Pyramide stand im Mittelgang zwischen den vordersten Bankreihen. Sie leuchtete von innen heraus, pulsierte leicht und war verblüf fend durchsichtig. »Gehen Sie nicht zu dicht heran«, warnte der Captain. »Sie könnten es erschrecken.« Elaine gab keine Antwort. Sie starrte die Py ramide entsetzt und erstaunt zugleich an. »Sie können zwei oder drei Bankreihen wei tergehen«, fügte der Captain hinzu. »Noch nä her ist vielleicht gefährlich. Wir wissen es selbst nicht.« Elaine konnte wieder sprechen. »Er schrecken?« fragte sie nur. »So benimmt es sich jedenfalls«, erklärte ihr der Captain. »Erschrocken oder mißtrauisch – oder vielleicht nur ablehnend. Früher war es kaum zu sehen, als fürchte es sich sogar vor neugierigen Blicken.« »Und jetzt weiß er, daß wir ihm nichts tun?« »Er?« »Andrew Blake.« »Sie haben ihn gekannt, Miß? Mister Wilson hat etwas davon gesagt.« »Ich habe ihn dreimal getroffen«, antwortete
sie. »Vielleicht haben Sie recht«, meinte der Cap tain. »Einige der Wissenschaftler sind Ihrer Auffassung. Hier waren schon ganze Massen, die es ... Entschuldigung, Miß Horton – die ihn studieren wollten. Aber sie haben alle nicht viel herausbekommen. Das Studienobjekt ist nicht sehr ergiebig.« »Woher wissen sie überhaupt, daß es Andrew Blake ist?« fragte Elaine. »Dort drüben an der rechten Seite der Pyra mide liegt der Beweis«, erklärte der Captain ihr. »Die schwarze Robe!« rief sie überrascht. »Die schwarze Robe, die ich ihm gegeben habe.« »Richtig. Er hat sie an dem bewußten Morgen getragen. Jetzt liegt sie dort am Boden.« Elaine trat einen Schritt vor. »Nicht zu nahe«, warnte der Captain. Sie ging noch einen Schritt weiter. Das ist unsinnig, dachte sie. Wenn er hier ist, weiß er alles. Dann weiß er, daß er mich nicht zu fürchten braucht. Er muß erkannt haben, daß ich ihn liebe. Die Pyramide pulsierte fast unmerklich. Aber vielleicht weiß er es nicht, sagte sie sich. Vielleicht hat er sich völlig von der Welt abge
schlossen, und wenn er das getan hat, muß er einen guten Grund dafür gehabt haben. Wie muß es sein, fragte sie sich, mit dem Wis sen zu leben, daß man den Verstand eines an deren besitzt – einen geliehenen Verstand, weil man keinen eigenen hat, da die menschli che Erfindungsgabe nicht ausgereicht hat, auch noch einen Verstand zu erschaffen? Sie war groß genug für Knochen und Fleisch und ein Gehirn, aber nicht für den Verstand. Und wieviel schlimmer mußte es vielleicht sein, mit zwei anderen im Geist zusammenleben zu müssen – mit mindestens zwei anderen. »Captain?« fragte sie. »Ja, Miß Horton.« »Können die Wissenschaftler schätzen, wie viele Wesen in dieser Pyramide vereint sind? Vielleicht mehr als nur drei?« »Anscheinend sind sie sich nicht darüber im klaren«, antwortete der Captain. »Vielleicht gibt es gar keine Grenze nach oben.« Kein Limit, dachte sie. Platz für unendlich viele nebeneinander, für alle Gedankenrich tungen des Universums. Ich bin hier, sagte sie unhörbar zu dem We sen, das sie als Andrew Blake kannte. Ich bin hier. Merkst du nicht, daß ich gekommen bin? Wenn du mich jemals brauchst, wenn du dich
jemals in einen Menschen zurückverwandelst ... Aber warum sollte er sich in einen Menschen zurückverwandeln? Vielleicht hatte er die Form einer Pyramide angenommen, damit er kein Mensch zu sein brauchte, damit er von der Menschheit befreit war, die ihn nicht als gleichwertig anerkennen wollte. Sie drehte sich um, ging zögernd zum Aus gang und sah noch einmal zurück. Die Pyramide leuchtete sanft von innen her aus, und sie wirkte so friedlich und zurückge zogen, daß Elaine Horton unwillkürlich Trä nen in die Augen traten. Nein, ich weine jetzt nicht, nahm sie sich vor. Ich weine nicht, denn um wen sollte ich wei nen? Um Andrew Blake? Um mich selbst? Um die verwirrte Menschheit? Er ist nicht tot, dachte sie. Aber vielleicht war dieses Schicksal schlimmer als der Tod. Wäre er ein Mensch und tot gewesen, hätte sie von ihm Abschied nehmen können. Früher einmal hatte er sie um Hilfe gebeten. Nun konnte sie ihm nicht mehr helfen; nun konnte ihm kein Mensch helfen. Vielleicht war er schon zu weit von der übrigen Menschheit entfernt. Sie wandte sich ab.
»Ich gehe jetzt«, sagte sie. »Begleiten Sie mich bitte hinaus, Captain.« Er nahm ihren Arm und führte sie ins Freie.
30 Wechsler kämpfte verzweifelt. Er mußte hinaus. Er mußte entkommen. Er wollte nicht für immer in dieser schweigenden Dunkelheit begraben sein. Er wollte nicht kämpfen. Er wäre lieber am gleichen Ort geblieben, ohne seine Gestalt zu verändern. Aber er fand keine Ruhe, denn er glaubte ... nein, er wußte bestimmt, daß er nicht länger bleiben durfte. Draußen gab es et was zu tun, und er mußte es zu Ende führen, denn er war der einzige, der diese Aufgabe er füllen konnte, die es draußen zu lösen gab. Ruhig, ruhig, mahnte Sucher. Hier bist du gut aufgehoben. Draußen leidest du nur. Draußen? fragte er sich. Und dann erinnerte er sich. Die Außenwelt wirkte undeutlich und verschwommen. Aber er wußte, daß sie dort war. Ihr habt mich eingesperrt! rief er. Laßt mich frei! Aber Denker achtete nicht auf ihn. Denker überlegte und kombinierte weiter. Denker konzentrierte sich ganz auf die Auswertung und Verknüpfung aller Informationen, die er jemals aufgenommen hatte. Denker versuchte
die Geheimnisse des Universums zu ergrün den. Seine Kraft und seine Entschlossenheit ließen nach, und er sank in die schweigende Dunkel heit zurück. Sucher, sagte er. Nein, antwortete Sucher. Denker arbeitet an gestrengt. Er blieb ruhig und wütete im stillen gegen die beiden anderen. Aber auch das nützte nichts. Ich habe sie besser behandelt, sagte er sich. Ich habe immer auf sie gehört. Ich habe sie nicht einfach eingesperrt. Er lag still und ruhte sich aus und überlegte, ob es nicht besser sei, in dieser Ruhe und Stille zu bleiben. Welche Rolle spielte schon die un gewisse Aufgabe, die ihn draußen erwartete? Was kümmerte ihn die Erde? Das war es – die Erde! Erde und Menschheit. Und beide waren un endlich wichtig. Vielleicht nicht für Sucher oder Denker, obwohl es sie alle betraf, wenn es einen von ihnen betraf. Er kämpfte, aber seine Kraft reichte nicht aus. Deshalb ruhte er wieder und sammelte Kraft und Geduld. Sie waren seinetwegen besorgt, überlegte er
sich. Sie hatten sich darauf geeinigt, ihn erst wieder freizulassen, wenn er von seiner Ent täuschung geheilt war. Er versuchte sich an diese Enttäuschung zu erinnern, weil er hoffte, daß sie ihm Kraft und Entschlossenheit geben wurde. Aber er war nicht dazu imstande. Sie war ausgelöscht. Er sah sie schemenhaft vor sich, ohne sie jedoch erfassen zu können. Er bemühte sich, seine Situation in der richti gen Perspektive zu sehen, aber es wollte ihm nicht gelingen, einen festen Standpunkt zu be halten. Die Zeit war ein Schattengespinst, die Wirklichkeit war eine Nebelwand, und aus die sem Nebel bewegte sich ein Gesicht auf ihn zu. Dieses Gesicht bedeutete ihm zuerst wenig, dann erschien es ihm bekannt, und schließlich sah er, daß es das Gesicht war, das er in Ge danken ständig vor sich hatte. Die Lippen bewegten sich, und er verstand nicht, was sie sagten; aber das war gar nicht nötig, denn er kannte auch die Worte auswen dig. Laß gelegentlich wieder von dir hören, sag ten die Lippen. Und das war ein Grund, überlegte er. Sie war tete auf ihn. Er mußte ihr mitteilen, was ihm zugestoßen war.
Er tauchte aus der Dunkelheit empor und achtete nicht auf die empörten Protestrufe der beiden anderen. Zunächst hatte er nur das Ge fühl einer Bewegung, ohne etwas zu erkennen. Aber dann sah er plötzlich wieder. Er stand in der Friedhofskapelle und hörte draußen die Pinien rauschen. Dann rief jemand etwas, und er sah einen Sol daten davonlaufen, während ein anderer mit schußbereitem Gewehr in der Tür stehenblieb. »Captain! Captain!« rief der Davonlaufende. Der andere Soldat trat einen Schritt vor. »Langsam, Sohn«, sagte Blake. »Ich laufe nicht weg.« Er spürte etwas an den Knöcheln, sah dort seine Robe und zog sie nach oben über die Schultern. Ein Mann mit den Rangabzeichen eines Cap tains betrat die Kapelle und ging auf Blake zu. »Ich bin Captain Sanders von der Raumfahrt behörde, Sir«, sagte er. »Wir haben Sie be wacht.« »Bewacht?« fragte Blake. »Beschützt – oder vielmehr beobachtet?« Der Captain lächelte. »Vielleicht beides«, gab er zu. »Ich möchte Ihnen gratulieren, Sir, weil Sie jetzt wieder ein Mensch sind.« Blake hüllte sich enger in seine Robe. »Sie ir
ren sich, Captain«, sagte er. »Sie müssen un terdessen erkannt haben, daß diese Ansicht falsch ist. Ich bin kein Mensch – nicht hundert prozentig wie Sie.« »Wir haben gewartet«, sagte der Captain. »Wir haben gehofft ...« »Wie lange?« fragte Blake. »Wie lange haben Sie hier Wache gehalten?« »Fast ein Jahr«, antwortete der Captain. Ein Jahr! dachte Blake. Für ihn war die Zeit so rasch vergangen, als seien es nur Stunden gewesen. Wie lange hatte er in der Dunkelheit gewartet, bevor er erkannte, daß er ausbre chen mußte? Oder hatte er sich vom ersten Au genblick an dagegen gewehrt? Er wußte es nicht. »Und nun?« fragte er. »Ich habe den Auftrag, Sie nach Washington ins Hauptquartier der Raumfahrtbehörde zu bringen, sobald es ohne größere Schwierigkei ten möglich ist«, erklärte ihm der Captain. »Wir können gleich abfahren«, meinte Blake. »Ich mache Ihnen keine Schwierigkeiten.« »Darum handelt es sich nicht«, sagte der Cap tain. »Die Zuschauer machen mir eher Sor gen.« »Was soll das heißen – die Zuschauer?« »Diesmal ist es eine Gruppe von Anbetern. Es
gibt offenbar Sekten, die in Ihnen einen zwei ten Messias sehen, der die Menschheit erlösen wird. Und es gibt andere Gruppen, die Sie als Ungeheuer ansehen ... Entschuldigen Sie, Sir, ich habe mich vergessen.« »Und mit diesen beiden Gruppen haben Sie gelegentlich Schwierigkeiten?« fragte Blake. »Gelegentlich«, sagte der Captain. »Manch mal sogar ernstliche Schwierigkeiten. Deshalb müssen wir unbemerkt verschwinden.« »Wäre es dann nicht besser, einfach vor den Leuten zu erscheinen? Dann hätte der ganze Spuk ein Ende.« »Leider ist die Situation nicht ganz so ein fach«, meinte der Captain seufzend. »Ich will ganz offen mit Ihnen sein, Sir. Nur ich und ei nige meiner Männer erfahren, daß Sie nicht mehr hier sind. Die Posten bleiben vorläufig, und ...« »Die Leute sollen also glauben, ich sei noch immer hier?« »Ganz recht. So ist es einfacher.« »Aber eines Tages ...« Der Captain schüttelte den Kopf. »Nein. Wir sorgen dafür, daß Sie ungesehen bleiben. Wir haben ein Schiff startbereit, damit Sie fortflie gen können – wenn Sie wollen.« »Damit die Menschheit mich los ist.«
»Vielleicht«, sagte der Captain. »Aber auf die se Weise sind Sie auch uns los.«
31 Die Erde wollte ihn loswerden, fürchtete sich vielleicht vor ihm, fand ihn vielleicht nur ab stoßend und hielt ihn für ein unerwünschtes Nebenprodukt menschlicher Phantasie und Er findungsgabe, das möglichst rasch beseitigt werden mußte. Auf der Erde gab es keinen Platz für ihn, aber er war das Ergebnis menschlicher Erfindung, und die Menschheit mußte sich bis zu einem gewissen Ausmaß für ihn verantwortlich fühlen. Blake hatte darüber nachgedacht, als er die Kapelle verließ, und als er nun vom Fenster seines Zimmers aus die Straßen von Washing ton betrachtete, wußte er, daß er recht gehabt hatte, daß er die Reaktion der Menschheit rich tig eingeschätzt hatte. Er konnte allerdings nicht beurteilen, ob diese Haltung nur inner halb der Raumfahrtbehörde oder allgemein vorherrschte. Für die Raumfahrtbehörde war er nur ein alter Fehler, der sich nicht mehr un auffällig korrigieren ließ, so daß andere Me thoden angebracht waren. Je schneller er ver schwand, desto lieber war es den Verantwortlichen in Washington. Er stand am Fenster und sah auf die sonnen
warme Straße hinunter, beobachtete die weni gen Fahrzeuge und folgte den Spaziergängern mit den Augen. Die Erde, dachte er, die Erde und ihre Bewohner – Menschen, die eine Fa milie hatten, zu der sie heimkehrten, die Auf gaben und Hobbys hatten, die Sorgen und klei ne Triumphe und Freunde und Bekannte hatten. Diese Menschen bildeten eine Gemein schaft, von der er ausgeschlossen war. Aber selbst wenn die Möglichkeit bestünde, darin aufgenommen zu werden – würde er sie nüt zen können? Er durfte nicht nur an sich allein denken. Aber wie sollte er es ertragen, als Ausgestoße ner durchs All zu irren? Das Schiff wartete auf ihn. Es war fast fertig gestellt, und er mußte sich entscheiden – er konnte fortfliegen oder bleiben. Die Raum fahrtbehörde ließ allerdings keinen Zweifel daran, daß er lieber morgen als übermorgen starten sollte. Hinter ihm wurde an die Tür geklopft. Blake drehte sich um und sah einen Mann ins Zim mer treten. Er ging auf ihn zu. »Wie nett von Ihnen, daß Sie gekommen sind, Senator«, sagte er. »Das hatte ich nicht erwar tet.« »Warum sollte ich nicht kommen?« fragte
Horton. »Sie wollten mich doch sprechen.« »Ich dachte, Sie würden nichts von mir wis sen wollen«, erklärte Blake ihm. »Schließlich hat mein Fall den Volksentscheid erheblich be einflußt.« »Ganz recht«, stimmte Horton zu. »Stone hat Sie als abschreckendes Beispiel hingestellt. Ich muß zugeben, daß er äußerst geschickt argu mentiert hat.« »Tut mir leid, daß alles so ausgegangen ist«, sagte Blake. »Das wollte ich Ihnen selbst mit teilen. Ich wäre deswegen zu Ihnen gekom men, aber ich stehe hier unter Hausarrest.« »Nun, vielleicht finden wir ein anderes The ma«, meinte Horton. »Sie können sich wahr scheinlich vorstellen, daß ich nicht gern über den Volksentscheid und seine Folgen spreche. Ich habe erst neulich meinen Rücktritt erklärt und kann mich nur schlecht daran gewöhnen, plötzlich nicht mehr Senator zu sein.« »Wollen Sie nicht Platz nehmen?« fragte Bla ke. »Darf ich Ihnen einen Cognac anbieten?« »Ich nehme mit Vergnügen an«, sagte Horton und ließ sich in einen Sessel fallen. »Als Sie da mals in mein Haus kamen, habe ich Ihnen ebenfalls Cognac angeboten. Soviel ich mich erinnere, war es eine besonders gute Flasche.« Er sah sich um.
»Sie sind nicht schlecht untergebracht«, stell te er fest. »Immerhin eine Offiziersunter kunft.« »Und ein Posten vor der Tür«, sagte Blake. »Wahrscheinlich haben sie etwas Angst vor Ihnen.« »Vielleicht, aber sie ist jedenfalls unbegrün det.« Blake nahm eine Flasche und zwei Gläser aus dem Schrank. Er setzte sich Horton gegenüber. »Ich habe gehört, daß Sie bald starten wollen«, sagte Horton. »Das Schiff ist fast fer tig, nicht wahr?« Blake nickte und schenkte zwei Gläser voll. »Das Schiff ist mir noch ein Rätsel«, gab er zu. »Keine Besatzung. Nur ich allein an Bord. Vollautomatisch. Und alles in nur einem Jahr ...« »Oh, nicht in einem Jahr«, widersprach Hor ton. »Hat Ihnen niemand erklärt ...« Blake schüttelte den Kopf. »Ich kenne nur die technischen Einzelheiten, die ich wissen muß, um das Schiff steuern und darin leben zu kön nen. Ich habe natürlich gefragt, aber keine Antwort bekommen.« »Aha, wieder das alte Spiel«, meinte Horton verständnisvoll. »Ein Überbleibsel aus alten Tagen. Dienstwege und so weiter, nehme ich
an. Und wahrscheinlich ihre längst überholten Sicherheitsvorschriften.« Er bewegte den Cognac in seinem Glas und warf Blake einen nachdenklichen Blick zu. »Sie können unbesorgt mit dem Schiff starten. Es ist keine Falle, wie Sie vielleicht denken. Ver lassen Sie sich darauf, es funktioniert ein wandfrei.« »Das freut mich«, sagte Blake nur. »Dieses Schiff ist nicht gebaut werden, son dern beinahe selbst gewachsen«, erklärte Hor ton. »Es ist vor mehr als vierzig Jahren auf den Reißbrettern der Konstrukteure entstanden und immer wieder umkonstruiert worden. Es ist bereits unzählige Male getestet worden, denn es sollte das perfekte Raumschiff wer den. Es hat Milliarden gekostet und war eigent lich immer fast fertig, weil die sogenannten Verbesserungen keine mehr waren. Dieses Schiff bleibt unendlich lange betriebsbereit, und ein Mensch wie Sie kann unbegrenzt lange darin leben und seine Aufgabe erfüllen.« Blake runzelte die Stirn. »Richtig – aber warum sollte er sich die Mühe machen?« »Mühe? Das verstehe ich nicht.« »Sie haben natürlich recht. Das seltsame We sen, dessen ein Drittel ich bin, kann mit die sem Schiff durchs Universum streifen. Aber
was versprechen Sie sich davon? Was hat die Menschheit davon? Glauben Sie etwa, wir wür den eines Tages zurückkommen und unser neuerworbenes Wissen vor den Menschen aus breiten?« »Vielleicht ist das der Hintergedanke«, ant wortete Horton. »Vielleicht tun Sie es sogar. Vielleicht sind Sie menschlich genug, um zu rückzukommen.« »Das bezweifle ich«, sagte Blake. »Nun, darüber brauchen wir nicht zu spre chen«, meinte Horton. »Wir sind uns darüber im klaren, daß Ihre Arbeit sehr lange dauern wird, und die Menschheit ist nicht so dumm, sich etwa einzubilden, sie werde ewig beste hen. Bis Sie Ihre Antwort gefunden haben, gibt es vielleicht keine Menschen mehr.« Blake nickte langsam. »Haben Sie auch daran gedacht, daß die Menschheit Ihnen vielleicht diese Möglichkeit gibt, obwohl sie genau weiß, daß sie selbst nie davon profitieren wird?« fuhr Horton fort. »Vielleicht handelt sie in dem Bewußtsein, daß Ihre Antwort einer anderen Rasse intelligenter Lebewesen nützlich sein könnte.« »Daran habe ich noch nicht gedacht«, gab Blake zu, »und ich kann nicht recht daran glau ben.«
»Sie sind ziemlich verbittert, nicht wahr?« »Ich weiß es nicht«, sagte Blake. »Ich weiß nicht, was ich fühle. Ich bin ein Mensch, der nach Hause kommt und nicht bleiben darf, sondern fast augenblicklich fortgeschickt wird.« »Sie müssen natürlich nicht fort. Ich dachte, Sie wollten fort. Aber wenn Sie bleiben wollen ...« »Wozu?« rief Blake aus. »Um mir mein Leben von Beamten vorschreiben zu lassen? Um überall angestarrt zu werden? Um Dummköp fen Gelegenheit zu geben, vor meinem Käfig niederzuknien, wie sie es in Willow Grove ge tan haben?« »Ganz recht«, stimmte Horton zu. »Draußen im All haben Sie wenigstens eine Aufgabe ...« »Noch etwas«, warf Blake ein. »Woher wissen Sie soviel über mich? Wie haben Sie das alles herausbekommen?« »Unsere Wissenschaftler sind nicht gerade auf den Kopf gefallen«, antwortete Horton. »Aber ohne die Brownies hätten wir des Rät sels Lösung erst später gefunden.« Ah, schon wieder die Brownies, dachte Blake. »Sie waren sehr an Ihnen interessiert«, sagte Horton. »Sie interessieren sich offenbar für alle Lebewesen – sogar Menschen. Man könnte
sie als Psychologen bezeichnen, aber ihre Fä higkeiten gehen weit über unsere Psychologie hinaus.« »Ich war natürlich nicht interessant«, meinte Blake. »Nicht als Andrew Blake.« »Richtig, denn Andrew Blake war für sie nur ein gewöhnlicher Mensch. Aber sie sind oft bei Denker gewesen und haben ihn stundenlang beobachtet. Ich vermute allerdings, daß sie ihn nicht nur beobachtet haben ...« »Menschen und Brownies haben also gemein sam das Rätsel gelöst?« »Nicht vollständig«, gab Horton zu. »Aber wir wissen seitdem, welche Fähigkeiten Sie besit zen und was Sie damit tun können. Uns ist klar, daß diese Fähigkeiten nicht ungenutzt bleiben dürfen. Sie mußten Gelegenheit erhal ten, sie entsprechend anzuwenden. Und wir vermuteten, daß Sie diese Fähigkeiten nicht auf der Erde einsetzen können. Deshalb hat sich die Raumfahrtbehörde entschlossen, Ih nen das Schiff zu überlassen.« »Das ist also der wahre Kern der Sache«, sag te Blake. »Ich habe einen Auftrag zu erfüllen. Ob es mir paßt oder nicht – ich habe einen Auf trag zu erfüllen.« »Sie können natürlich ablehnen«, stellte Hor ton fest.
»Ich habe mich nicht für diesen Auftrag ge meldet.« »Ganz recht«, stimmte Horton zu, »das haben Sie nicht. Aber ich kann mir vorstellen, daß Sie der Umfang dieser Aufgabe befriedigt.« Sie saßen einander schweigend gegenüber. Beiden war unbehaglich zumute, seitdem ihr Gespräch diese Richtung genommen hatte. Horton leerte sein Glas und stellte es auf den Couchtisch. Blake griff nach der Flasche. Horton schüttelte den Kopf. »Nein, vielen Dank, ich muß bald gehen. Nur noch eine letzte Frage: Was erwarten Sie dort draußen zu fin den? Was wissen Sie bereits?« »Was wir erwarten, kann ich nicht sagen«, antwortete Blake. »Was wir wissen, ist nicht leicht zu erklären – unzählige Einzelheiten, die zusammen ein Nichts ergeben.« »Kein Hinweis? Keine Ahnung, wie das End ergebnis aussehen könnte?« erkundigte Hor ton sich gespannt. »Es gibt einen Hinweis. Es ist nicht allzu deut lich, aber trotzdem klar genug. Es gibt einen Universalgeist.« »Sie meinen einen Geist, der das Universum lenkt? Der auf alle notwendigen Knöpfe drückt?« »Vielleicht«, sagte Blake. »Vielleicht so ähn
lich.« Horton seufzte. »Oh, mein Gott!« flüsterte er. »Richtig – oh, mein Gott«, wiederholte Blake mit einem fast spöttischen Lächeln. Horton erhob sich schwerfällig. »Ich muß jetzt gehen«, sagte er. »Nochmals vielen Dank für den Cognac.« »Senator«, sagte Blake, »ich habe Elaine einen Brief geschrieben und keine Antwort be kommen. Sie meldet sich auch nicht, wenn ich sie anrufen will.« »Ja, das weiß ich.« »Ich muß mit ihr sprechen, bevor ich starte. Ich bin ihr eine Erklärung schuldig und ...« »Mister Blake«, unterbrach Horton ihn, »meine Tochter hat nicht die Absicht, mit Ih nen zu sprechen oder Sie gar zu besuchen.« Blake stand langsam auf. »Warum nicht? Können Sie mir den Grund nennen?« »Der Grund müßte selbst Ihnen klar sein, nehme ich an«, sagte Horton und ging zur Tür.
32 Draußen sank die Abenddämmerung herab, aber Blake saß noch immer unbeweglich auf der Couch und dachte über die unfaßbare Tat sache nach, daß Elaine Horton nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Dabei war es die Er innerung an ihr Gesicht gewesen, die endlich bewirkt hatte, daß er aus der Dunkelheit zum Leben aufgetaucht war! Aber wenn der Senator recht hatte, war diese Anstrengung vergebens gewesen, und er hätte Denker nicht zu stören brauchen. Aber hatte der Senator die Wahrheit gesagt? War er nicht wütend auf Blake, dessen Fall den Ausgang des Volksentscheids beeinflußt hatte? Wollte er sich dadurch für seine Enttäuschung rächen? Das war kaum wahrscheinlich, denn der Se nator war Politiker genug, um zu erkennen, daß er ein riskantes Projekt unterstützt hatte. Und sein Auftreten war eigenartig gewesen. Zu Anfang war Horton liebenswürdig und unbe kümmert gewesen, als sei der Volksentscheid nicht weiter wichtig; später war er plötzlich ab weisend und kalt gewesen, als habe er eine Rolle gespielt. Aber das war undenkbar ...
Du hältst dich ausgezeichnet, sagte Denker. Du raufst dir nicht die Haare, knirschst nicht mit den Zähnen und jammerst nicht laut. Ruhe! knurrte Sucher. Laß ihn in Ruhe. Aber ich wollte ihm ein Kompliment machen, erklärte Denker. Er geht das Problem ganz nüchtern an, ohne sich von Gefühlen beein flussen zu lassen, und das ist die einzige Mög lichkeit. Denker seufzte innerlich. Ich muß allerdings zugeben, fuhr er fort, daß mir die Bedeutung des Problems nicht völlig klar ist. Laß dich nicht von ihm beeinflussen, sagte Sucher zu Blake. Mir ist alles recht. Meinetwe gen können wir noch eine Weile auf diesem Planeten bleiben. Das halten wir aus. Oh, natürlich, warf Denker ein. Das wäre kein Problem. Was bedeutet schon eine menschli che Lebensspanne? Du würdest doch nicht län ger bleiben wollen, oder? »Soll ich das Licht einschalten, Sir?« fragte das Zimmer. »Nein«, sagte Blake. »Noch nicht.« »Aber es wird dunkel, Sir.« »Mir gefällt es so«, sagte Blake. »Möchten Sie das Abendessen?« »Danke, später.«
»Die Küche könnte einige Sandwiches herauf schicken«, meinte das Zimmer. »Später«, wiederholte Blake. »Ich habe noch keinen Hunger.« Sie hatten gesagt, er dürfe selbstverständlich auf der Erde bleiben, falls er versuchen wolle, wieder ein Mensch zu werden. Aber welchen Sinn konnte das haben? Warum versuchst du es nicht? fragte Sucher. Vielleicht überlegt sie sich die Sache anders. Das bezweifle ich, sagte Blake mutlos. Ein Summer ertönte. »Das Visorphon, Sir«, sagte das Zimmer. Blake setzte sich davor und schaltete das Ge rät ein. Der Bildschirm blieb dunkel, und eine Frauenstimme sagte: »Dieser Anruf erfolgt ohne Bildübertragung. Nehmen Sie ihn trotz dem entgegen, Sir?« »Ja«, antwortete Blake. »Hier spricht Theodore Roberts' Verstand«, sagte eine mechanisch blecherne Stimme. »Sie sind Andrew Blake, nicht wahr?« »Ja«, erwiderte Blake. »Wie geht es Ihnen, Doktor Roberts?« »Gut. Wie sonst?« »Tut mir leid, das habe ich vergessen.« »Da Sie sich nicht gemeldet haben, wollte ich Verbindung mit Ihnen aufnehmen. Ich finde,
daß wir miteinander sprechen müssen. Sie starten bald, habe ich gehört.« »Das Schiff ist fast fertig«, erklärte Blake ihm. »Sie werden viel sehen und lernen.« »Richtig«, sagte Blake. »Alle drei?« »Wir drei«, stimmte Blake zu. »Darüber habe ich oft nachgedacht, seitdem ich von diesen besonderen Umständen erfah ren habe«, fuhr der Verstand von Theodore Roberts fort. »Eines Tages kommt es natürlich zu einer Verschmelzung dieser drei.« »Das glaube ich auch«, sagte Blake, »aber es wird lange dauern.« »Die Zeit bedeutet uns nichts«, stellte die me chanische Stimme fest. »Sie besitzen einen Körper, der nur durch Gewalteinwirkung ster ben kann. Ich habe keinen Körper und bin des halb in dieser Beziehung nicht gefährdet. Ich kann nur durch ein technisches Versagen ster ben. Auch die Erde bedeutet nichts. Machen Sie sich rechtzeitig mit diesem Gedanken vertraut. Die Erde ist nur ein unwichtiger Punkt des Universums. Es gibt überhaupt wenig, was eine Rolle spielt, und schließlich bleibt nur die Intelligenz übrig. Wenn Sie den gemeinsamen
Nenner des Universums suchen, müssen Sie nach Intelligenz Ausschau halten. Alles andere ist unwichtig.« »Aber Intelligenz allein ...«, begann Blake und sprach nicht weiter. »Was wollten Sie sagen?« »Ich nehme an«, fuhr Blake fort, ohne auf die Frage zu achten, »daß Sie mir das alles erzäh len, weil ...« »Ich erzähle es Ihnen«, sagte Theodore Ro berts, »weil ich mir vorstellen kann, wie sehr Sie leiden und wie verwirrt Sie sind. Und da Sie ein Teil meiner selbst ...« »Ich bin kein Teil von Ihnen«, widersprach Blake. »Sie haben mir vor zweihundert Jahren Ihren Verstand gegeben. Aber dieser Verstand hat sich verändert und ist nicht mehr Ihrer.« »Ich dachte ...«, begann Theodore Roberts. »Ich weiß«, unterbrach Blake ihn, »aber es hat keinen Zweck. Ich muß selbständig werden und auf eigenen Beinen stehen. Mir bleibt kei ne andere Wahl. Ich kann mich nicht zerrei ßen, um jedem das zu geben, was ihm zusteht, weil er an meiner Herstellung beteiligt war.« Er machte eine Pause und fügte dann rasch hinzu: »Das hätte ich vielleicht nicht sagen dürfen. Hoffentlich sind Sie mir deswegen nicht böse.«
»Nein, eher dankbar«, versicherte Theodore Roberts ihm. »Jetzt brauche ich mich nicht mehr zu fragen, ob meine Überzeugungen und Vorurteile Ihnen schaden könnten. Aber ich wollte Ihnen eigentlich etwas anderes mittei len: Es hat einen zweiten synthetischen Men schen gegeben, der ebenfalls mit einem Schiff startete ...« »Ja, das weiß ich«, sagte Blake. »Ich wüßte gern ... Was können Sie mir von ihm erzählen?« »Er ist zurückgekommen«, fuhr Theodore Roberts fort. »Er ist wie Sie zurückgebracht worden ...« »Sie meinen im Kälteschlaf?« »Ja. Das Schiff kam wenige Jahre nach dem Start zurück. Die Mannschaft war erschrocken und ...« »Meine Rückkehr war also keine große Über raschung?« fragte Blake. »Doch, denn niemand hat Sie mit diesem Er eignis in Verbindung gebracht. Selbst die Raumfahrtbehörde scheint sich nicht darüber im klaren gewesen zu sein. Jedenfalls wurde der Verdacht erst laut, als Sie verschwunden waren.« »Und dieser andere? Ist er noch auf der Erde?«
»Das kann ich nicht sagen«, antwortete Theo dore Roberts. »Ich weiß nur, daß er ver schwunden ist ...« »Verschwunden! Sie haben ihn ermordet!« »Ich weiß es nicht.« »Sie müssen es wissen!« rief Blake. »Rücken Sie damit heraus! Ist er im Hauptquartier der Raumfahrtbehörde?« »Nein, er ist nicht mehr dort«, erklärte Theo dore Roberts ihm. »Seit wann nicht mehr?« »Seit mehreren Jahren – noch bevor Sie zu rückgebracht wurden.« »Woher wissen Sie das? Wer hat Ihnen ...« »Hier sind Tausende von Gehirnen, mit de nen ich in Verbindung stehe«, antwortete Theodore Roberts. »Was eines weiß, wissen alle. Dadurch entgeht einem nicht viel.« Blake senkte enttäuscht den Kopf. »Wissen Sie das bestimmt?« fragte er leise. »Ganz bestimmt«, sagte Theodore Roberts. Nach einer kurzen Pause fragte er: »Verlassen Sie die Erde wieder? Haben Sie sich dazu ent schlossen?« »Ja«, antwortete Blake knapp. Er wußte, daß er hier nichts mehr zu suchen hatte. Wenn der andere Mann verschwunden war, brauchte auch er nicht länger zu bleiben.
Elaine Horton weigerte sich, mit ihm zu spre chen, und ihr Vater, der früher so entgegen kommend gewesen war, hatte sich steif und förmlich verabschiedet, und Theodore Roberts war nur eine blecherne Stimme ohne Körper. »Wenn Sie zurückkommen, bin ich noch im mer hier«, sagte Theodore Roberts. »Rufen Sie mich dann bitte an? Kann ich mir darauf ver lassen?« Wenn ich zurückkomme, dachte Blake. Wenn du dann noch existierst. Wenn hier überhaupt noch jemand lebt. Wenn sich die Rückkehr zur Erde lohnt. »Ja«, versprach er. »Ja, ich rufe Sie natürlich an.« Er legte einen Schalter um und trennte die Verbindung. Dann saß er noch lange in der Dunkelheit.
33 Die Erde war hinter ihm zurückgeblieben. Die Sonne wurde kleiner. Das Schiff beschleunigte gleichmäßig und würde bald den Punkt errei chen, an dem sich die Farbe und die Bahnen der Sterne zu ändern schienen, weil das Schiff mit Überlichtgeschwindigkeit flog. Blake saß im Kontrollraum und starrte ins All hinaus. Hier war es so ruhig, so ruhig und friedlich – die Leere zwischen den Sternen wirkte beruhigend auf ihn. Er würde jedoch bald aufstehen und einen Rundgang durchs Schiff machen, um sich davon zu überzeugen, daß alles in Ordnung war, obwohl er wußte, daß er keinen Grund zur Beanstandung haben würde. Dieses Schiff mußte einfach reibungs los funktionieren. Zurück nach Hause, sagte Sucher in ihm. Wieder nach Hause zurück. Aber nicht lange, antwortete Blake. Nur lange genug, um die Informationen aufzunehmen, die du noch nicht erfaßt hast, weil die Zeit zu kurz war. Dann fliegen wir weiter, damit du auch andere Sterne erreichst. Und weiter und weiter, überlegte er, von ei nem Stern zum anderen, damit Denker neues
Material zur Auswertung bekommt. Und was steht am Ende? fragte er sich. Vielleicht die Antwort, die wir bisher vergebens suchen? Sucher hat unrecht, sagte Denker. Wir haben kein Zuhause. Wir können kein Zuhause ha ben. Wechsler hat das gemerkt. Im Laufe der Zeit werden wir erkennen, daß wir kein Zu hause brauchen. Das Schiff ist dann unser Zuhause, warf Blake ein. Nicht das Schiff, widersprach Denker. Eher das Universum, wenn es unbedingt ein Zuhau se geben muß. Das All ist unser Zuhause. Das gesamte Universum. Und das, dachte Blake, war vielleicht die Es senz dessen was Theodore Roberts ihm zu er klären versucht hatte. Die Erde ist nur ein Punkt im Raum, hatte er gesagt. Das traf selbstverständlich auch auf alle übrigen Plane ten und Sterne zu – nur zusammengeballte Materie und Energie. Intelligenz, hatte Roberts gesagt; nicht Leben oder Materie oder Energie sondern Intelligenz, ohne die alles andere be deutungslos bleiben mußte. Trotzdem wäre es gut, in all dieser Leere einen Punkt zu wissen, an dem man zu Hause ist, überlegte er sich – einen Ausgangspunkt, zu dem man eines Tages nach langer Reise zu
rückkehren kann. Er saß in seinem Sessel, starrte ins All hinaus und erinnerte sich an jenen Augenblick in der Friedhofskapelle, in dem er zum erstenmal sei ne Heimatlosigkeit gespürt hatte – daß er we der auf der Erde noch sonstwo zu Hause war, daß er nie zur Erde gehören würde, obwohl er von ihr stammte, und daß er nie ein vollwerti ger Mensch sein würde, obwohl er die Gestalt eines Menschen besaß. Aber er erkannte jetzt auch, daß ihm dieser Augenblick gezeigt hatte, daß er in Zukunft nie wieder einsam sein wür de. Er hatte seine beiden Freunde, und er hatte sogar noch mehr. Ihm gehörte das gesamte Universum mit allen Ideen, die es je hervorge bracht hatte. Die Erde hätte meine Heimat sein können, dachte er; vielleicht wird sie es eines Tages noch. Aber die Erde war nur ein winziger Punkt im Raum, und der Mann des Univer sums mußte sich damit abfinden, sein Leben zwischen den Sternen zu verbringen. Er hörte leise Schritte hinter sich, sprang auf und drehte sich um. Elaine Horton stand in der Tür des Kontroll raumes. Er trat rasch einen Schritt vor und blieb dann wieder stehen.
»Nein!« rief er laut. »Nein! Du weißt nicht, was du tust!« Ein blinder Passagier, dachte er – ein sterbli cher Mensch an Bord eines unsterblichen Schiffes. Aber sie hatte sich doch geweigert, mit ihm zu sprechen; sie hatte ... »Doch, ich weiß, was ich tue«, antwortete Elaine lächelnd. »Ich gehöre hierher.« »Ein Androide«, murmelte er vor sich hin. »Ein nachgeahmter Mensch, der mich bei gu ter Laune halten soll. Während die wirkliche Elaine Horton ...« »Andrew«, sagte sie, »ich bin Elaine.« Er starrte ihr ins Gesicht, und dann lag sie plötzlich in seinen Armen, und er war glück lich, bis sich eine nüchterne Überlegung durchsetzte. »Aber das ist doch unmöglich!« rief er. »Das darfst du nicht! Ist dir nicht klar, worauf du dich einläßt? Ich bin kein Mensch. Ich sehe manchmal anders aus. Ich verwandle mich in andere Dinge.« Elaine hob den Kopf und sah ihm in die Au gen. »Das weiß ich natürlich«, antwortete sie. »Nur du scheinst etwas nicht zu wissen. Ich bin der andere. Der andere von uns.« »Es hat einen zweiten Androiden gegeben«, meinte er verständnislos. »Einen anderen,
der ...« »Keinen zweiten Mann. Eine Frau. Der ande re war eine Frau.« Das hätte ich ahnen müssen, dachte er. Theo dore Roberts hatte von einem anderen Men schen gesprochen ... »Aber Horton?« fragte er. »Du bist Hortons Tochter.« Sie schüttelte den Kopf. »Es hat eine Elaine Horton gegeben, aber sie ist schon lange tot. Sie hat Selbstmord begangen. Ein schreckli cher Skandal, der die Karriere des Senators ruiniert hätte.« »Und du ...« »Ganz recht. Ich wußte natürlich nichts da von. Der Senator war auf meine Spur gesto ßen, als er das Projekt Werwolf ausgrub. Schon damals war ihm die Ähnlichkeit zwi schen mir und seiner Tochter aufgefallen. Da mals lag ich natürlich seit Jahren im Kälte schlaf. Wir waren böse Kinder, Andrew. Wir sind nicht so geworden, wie unsere Konstruk teure es geplant hatten.« »Ich weiß«, sagte er. »Eigentlich bin ich sogar froh darüber. Du hast also von Anfang an ge wußt ...« »Erst seit einiger Zeit«, verbesserte sie ihn. »Der Senator konnte die Raumfahrtbehörde
erpressen, die ängstlich darauf bedacht war, das Projekt Werwolf geheimzuhalten. Als er nach dem Selbstmord seiner Tochter mich als Ersatz verlangte, um seine Karriere zu retten, stieß er kaum auf Widerstand. Ich habe mir eingebildet, seine Tochter zu sein. Ich habe ihn als Vater geliebt. Offenbar bin ich zuvor einer Gehirnwäsche unterzogen worden, denn ich habe nie daran gezweifelt, seine Tochter zu sein.« »Er muß erstaunlich großen Einfluß gehabt haben«, meinte Blake nachdenklich. »Dieser Tausch war bestimmt nicht einfach und ...« »Er hat sich nie von Schwierigkeiten abhalten lassen«, warf Elaine ein. »Er war ein guter Va ter – aber als Politiker war er brutal und rück sichtslos.« »Du hast ihn verehrt.« Elaine nickte. »Richtig, Andrew. In vieler Be ziehung ist er für mich noch immer mein Va ter. Wir können uns beide nicht vorstellen, welche Überwindung es ihn gekostet haben muß, mir die Wahrheit zu gestehen.« »Und du?« fragte er. »Es hat dich auch etwas gekostet.« »Ich konnte nicht bleiben, weißt du«, antwor tete sie. »Als ich die Wahrheit erfahren hatte, stand mein Entschluß bereits fest. Ich wäre wie
du als eine Art Mißgeburt oder Ungeheuer be trachtet worden. Und was wäre später aus mir geworden? Ich hätte den Senator um Jahrhun derte überlebt ...« Er nickte und stellte sich vor, wie sie mit Hor ton über dieses Problem gesprochen hatte. »Außerdem gehöre ich zu dir«, fuhr Elaine fort. »Das habe ich gleich gewußt – schon da mals, als du nachts durchnäßt und frierend in unser Haus gekommen bist.« »Der Senator hat mir aber gesagt ...« »Daß ich dich nicht sehen wollte, daß ich nicht mit dir sprechen wollte, nicht wahr?« »Warum?« fragte er verständnislos. »Warum?« »Sie wollten dich in ihrem Sinn beeinflussen«, erklärte Elaine ihm. »Sie fürch teten alle, du würdest nicht mit dem Schiff starten wollen, sondern lieber auf der Erde bleiben. Deshalb solltest du glauben, die Erde habe dir nichts mehr zu bieten. Der Senator, der Verstand von Theodore Roberts und alle anderen haben dazu beigetragen. Wir mußten einfach starten, weißt du. Wir sind Werkzeuge der Erde, das Geschenk der Erde für das Uni versum. Wenn die Intelligenzen des Univer sums jemals herausbekommen, was geschieht, was geschehen ist, was geschehen wird und
was alles zu bedeuten hat, können wir viel leicht dazu beitragen.« »Wir gehören also der Erde? Die Erde bean sprucht uns noch als ihr Eigentum ...« »Natürlich«, sagte Elaine. »Seitdem die Men schen von unserer Aufgabe wissen, ist die Erde stolz auf uns.« Er hielt sie in den Armen und wußte, daß die Erde endlich für immer seine Heimat war. Daß die Menschheit sie überallhin begleiten würde, denn sie waren Organe der Menschheit, Hand und Geist der Menschheit, die nach den Ge heimnissen der Ewigkeit griffen.